100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland 1918-2018: Festschrift für den Bundesfinanzhof [Zwei Bände ed.] 9783504385378

100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland geben einen gewichtigen Anlass für diese Festschrift. 92 führende Experten

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100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland 1918-2018: Festschrift für den Bundesfinanzhof [Zwei Bände ed.]
 9783504385378

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100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland Festschrift für den Bundesfinanzhof

STEUERRECHTSPRECHUNG IN DEUTSCHLAND 1918-2018 FESTSCHRIFT FÜR DEN BUNDESFINANZHOF herausgegeben von

Klaus-Dieter Drüen Johanna Hey Rudolf Mellinghoff

Band I 2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-01898-6 ©2018 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Urheberrechte des Fotos auf S. 2062: euroluftbild.de | Gerhard Launer | SZ Photo Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Geleitwort der Herausgeber Mit Gesetz vom 26. Juli 1918 über die Errichtung eines Reichsfinanzhofs und über die Reichsaufsicht für Zölle und Steuern wurden die Grundlagen für die Steuerrechtsprechung in Deutschland gelegt. Am 8. August 1918 beschloss der Bundesrat, dass der Reichsfinanzhof seinen Sitz in München hat. Der Reichsfinanzhof nahm dann schließlich seine Tätigkeit am 1. Oktober 1918 auf. Das 100-jährige Jubiläum der Steuerrechtsprechung in Deutschland ist Anlass, dem Bundesfinanzhof eine Festschrift zu widmen. Der Plan einer Festschrift ist in den Beratungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V. (DStJG) gereift. Als Herausgeber dieses Werkes haben sich Klaus-Dieter Drüen als Vorsitzender des Vorstands der DStJG, Johanna Hey als (damalige) Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der DStJG und der Präsident des Bundesfinanzhofs Rudolf Mellinghoff als Vorstandsmitglied der DStJG verbunden. Reichsfinanzhof und Bundesfinanzhof sind im Lauf der letzten 100 Jahre bereits zu verschieden Anlässen Festschriften gewidmet worden. Die Festschrift für den Bundesfinanzhof aus Anlass der 100. Wiederkehr der Gründung des höchsten Steuer­ gerichts in Deutschland ist keine beliebige Zusammenstellung thematisch hetero­ gener Beiträge zum Steuerrecht, sondern nach der Konzeption der Herausgeber ein umfassender und abgestimmter Gesamtüberblick über Entwicklung und Stand der Steuerrechtsprechung nach 100 Jahren finanzgerichtlichen Rechtsschutzes. Nicht das Rechtsgebiet als solches, sondern die Perspektive der Steuerrechtsprechung steht im Zentrum des Werkes. Nach einer einleitenden Geschichte des Rechtsschutzes im Steuerrecht behandelt diese Festschrift die dogmatischen Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht. Ein weiterer Abschnitt widmet sich dem Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung, wobei die Bezüge zum Verfassungsrecht, zur nationalen Rechts- und Wirtschaftsordnung, zum Unionsrecht und zum Internationalen Steuerrecht in den Blick genommen werden. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen werden sodann zu einzelnen Bereichen des materiellen Steuerrechts aufgezeigt. Die beiden letzten Kapitel der Festschrift widmen sich dem Steuerverfahrensrecht und dem Rechtsschutz in Steuersachen. Das Vorhaben eines thematisch abgestimmten und sich ergänzenden Gesamtüberblicks zur Steuerrechtsprechung beschneidet natürlich die übliche Freiheit der Autoren von Festschriften, individuell ein Thema auszuwählen und zu Ehren des Jubilars zu behandeln. Zu den Festschriften eigenen Zeitvorgaben, die das Erscheinen des Werks zum fixen Zeitpunkt gewährleisten, haben die Herausgeber auch die Gesamtkomposition, den Aufbau und die Einzelthemen der Beiträge vorgeben. Zur großen Freude der Herausgeber haben sich die Autoren auf diese Zumutungen eingelassen und das große Gesamtwerk zu 100 Jahren Steuerrechtsprechung gewagt. Dafür gebührt an dieser Stelle der herzliche Dank allen Autoren des Werkes. Der Kreis der Autoren setzt sich aus Richterinnen und Richtern der Finanzgerichtsbarkeit sowie Hochschullehrern und -lehrerinnen der Steuerrechtswissenschaft und der Betrieblichen Steuerlehre zusammen. Dabei ist die Schar der Autoren nicht auf Deutschland V

Geleitwort der Herausgeber

begrenzt. Richter und Wissenschaftler aus verschiedenen europäischen Staaten steuern eine nachbarschaftliche Außensicht auf die Steuerrechtsprechung in Deutschland bei. Die Verbindungslinien zur Rechtsprechung anderer Gerichte behandeln die Beiträge von Richtern des Bundesverfassungsgerichts und der deutschen Generalanwältin am Gerichtshof der Europäischen Union sowie aus den Reihen der weiteren obersten Gerichtshöfe des Bundes. Die Rücklaufquote von 100 % der zugesagten Beiträge ist bei Festschriften keineswegs selbstverständlich und zeugt wie auch die hohe Qualität der Beiträge für die besondere Wertschätzung für den Bundesfinanzhof. Neben dem Dank an alle Autoren nutzen die Herausgeber dieses Geleitwort auch, um ihren Dank dem Verlag Dr. Otto Schmidt auszusprechen. Unser Plan einer Festschrift wurde von Beginn an von Herrn Felix Hey und Herrn Thomas Fischer nach Kräften unterstützt. Besonderer Dank gilt Herrn Dominic Hüttenhoff, der diese Festschrift mit großem Einsatz und Umsicht betreut hat. Die Herausgeber freuen sich dank des tatkräftigen Einsatzes der Autorenschaft und des Verlags, dem Gericht und der Steuerfachwelt ein Gesamtwerk vorlegen zu können, das die Steuerrechtsprechung spiegelt, reflektiert und hoffentlich auch befruchten wird. Es soll den seit Langem gepflegten Dialog zwischen Steuerrechtsprechung und Steuerrechtswissenschaft fortsetzen und seinen Zwischenstand nach 100 Jahren dokumentieren. München und Köln, im August 2018

Klaus-Dieter Drüen    Johanna Hey     ­   Rudolf Mellinghoff

VI

Geleitwort der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz Vor 100 Jahren wurde mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Errichtung eines Reichsfinanzhofes und über die Reichsaufsicht für Zölle und Steuern vom 26. Juli 1918 das Fundament für den Aufbau einer einheitlichen und eigenständigen Steuergerichtsbarkeit in Deutschland gelegt. Es ist aus heutiger Sicht bezeichnend, dass die Initiative für dieses Gesetz, das in enger Verbindung mit dem am gleichen Tag verabschiedeten neuen Umsatzsteuergesetz stand, vom Reichstag als dem einzigen demokratisch legitimierten Verfassungsorgan des Kaiserreichs ausging. Der Reichstag war nur bereit, die mit den neu eingeführten Reichssteuern verbundenen Belastungen für die Bevölkerung zu akzeptieren, wenn eine gerechte Verteilung der Steuerlast sowie ein wirksamer und einheitlicher Rechtsschutz in Steuersachen durch die Errichtung eines obersten Steuergerichts auf Reichsebene gewährleistet würden. Dieser Vorgang ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie sehr die Akzeptanz und Stabilität einer Steuerrechtsordnung auf wirksame Rechtsschutzinstitutionen angewiesen ist. Heutzutage erscheint es beinahe selbstverständlich, dass Bürgerinnen und Bürger bei Steuerstreitigkeiten mit den Finanzbehörden Rechtsschutz vor einer eigenständigen Fachgerichtsbarkeit suchen können, die in voller Unabhängigkeit von der Finanzverwaltung steht. Das vorliegende Werk verdeutlicht, indem es in seinem ersten Teil den Blick auf die Geschichte der Steuerrechtsprechung in den letzten 100 Jahren richtet, dass unser heutiger Rechtsschutzstandard das Ergebnis einer langen und auch mühevollen Entwicklung ist, die nicht geradlinig verlief. Tatsächlich waren beispielsweise die im Jahr 1921 als Vorinstanz des Reichsfinanzhofes gebildeten Finanzgerichte noch eng mit der Finanzverwaltung verquickt, da sie den jeweiligen Landesfinanzämtern angegliedert waren. Die noch nicht vollständig vollzogene Trennung zwischen Exekutive und Judikative kam auch in den Bestimmungen der Reichsabgabenordnung von 1919 zum Ausdruck. Denn diese enthielt neben Regelungen über die neue Finanzverwaltung auch solche über die Organisation der Steuergerichte. Während man in der Weimarer Republik bemüht war, den Reichsfinanzhof und die Finanzgerichte in ihrer Unabhängigkeit zu stärken, ging die Unabhängigkeit der Steuerrechtsprechung in der Zeit des Nationalsozialismus verloren. Der Reichsfinanzhof erließ in dieser Zeit in Steuerangelegenheiten jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger Unrechtsurteile, die bis heute einen dunklen Schatten auf seine Geschichte werfen. Erst unter den Bedingungen der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes gelang ein stetiger Wiederaufbau der Finanzgerichtsbarkeit. Dieser führte im Jahr 1950 zur Errichtung des Bundesfinanzhofes als erstem der in Artikel  95 Absatz  1 des Grundgesetzes genannten obersten Gerichtshöfe des Bundes. Seinen Abschluss fand er mit Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung und der Errichtung der von den Finanzbehörden getrennten und unabhängigen Finanzgerichte zum 1.  Januar 1966. Mit dem Übergang der Ressortzuständigkeit für den Bundesfinanzhof vom Bundesfinanzministerium auf das Bundesministerium der Justiz im Jahr 1969 wurde auch für dieses Gericht die klare Trennung von Steuerverwaltung einerseits und Steuerrechtsprechung andererseits endgültig vollzogen. VII

Geleitwort der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz

Die Finanzrechtsprechung hat in der Bundesrepublik die geltende Steuerrechtsordnung maßgeblich geprägt und sich als wichtiger Garant des Rechtsstaates erwiesen. Sie hat sich als spezialisierte und eigenständige Fachgerichtsbarkeit auch angesichts des in den letzten 100 Jahren deutlich komplexer gewordenen Steuerrechts voll bewährt. Wie vielfältig die Bezüge des Steuerrechts und der Steuerrechtsprechung sind, zeigen die Beiträge im zweiten bis fünften Teil dieses Buches. Die Vielfalt der Themen veranschaulicht zugleich die hohen fachlichen Ansprüche, die an Richterinnen und Richter der Finanzgerichtsbarkeit gestellt werden. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass sich die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge nicht darauf beschränken, sich des Erreichten zu vergewissern, sondern den Blick auf die noch zu bewältigenden Aufgaben im Bereich der Steuerrechtsprechung und des materiellen Steuerrechts richten. Diese Aufgaben werden in der Zukunft sicher nicht leichter. Der rasante technische Fortschritt, insbesondere die alle Lebensbereiche erfassende Digitalisierung, bedeutet auch für die Finanzgerichtsbarkeit neue Herausforderungen. Neue finanzbehördliche Eingriffs- und Ermittlungsinstrumente sowie ein erweiterter grenzüberschreitender Datenaustausch führen zu neuen Herausforderungen beim Ausgleich von Effektivität des Steuervollzuges und den Grundrechten der Steuerpflichtigen. Zugleich ist die Finanzgerichtsbarkeit selbst unmittelbar vom technischen Fortschritt betroffen: In den nächsten Jahren wird insbesondere die Umstellung auf elektronische Arbeitsgrundlagen voranschreiten und in der Justiz die Arbeitsweise der Gerichte umfassend verändern. Ich bin mir sicher, dass die Finanzgerichtsbarkeit gut gerüstet und hinreichend flexibel ist, um auch die künftigen Herausforderungen zu meistern.

Dr. Katarina Barley Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz

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Geleitwort des Bundesministers der Finanzen Im Oktober 1918 nahm der Reichsfinanzhof in München seine Tätigkeit auf. Der Bundesfinanzhof kann damit in diesem Jahr auf eine hundertjährige Geschichte zurückblicken. Ein hundertjähriges Jubiläum ist immer ein besonderer Anlass zu feiern. Dies gilt umso mehr, da bereits die Umstände bei der Errichtung des Reichsfinanzhofes nicht unbedingt erwarten ließen, dass der Jubilar dieses ehrwürdige Alter erreichen würde: Seine Geburtsstunde – wenige Wochen vor dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Aufbruch Deutschlands in die parlamentarische Republik durch Philipp Scheidemann im November 1918 – fiel in eine Zeit, in der die politischen Verhältnisse umgewälzt und hergebrachte staatliche Institutionen grundsätzlich in Frage gestellt wurden. Der noch junge Reichsfinanzhof hat dies überstanden. Auch in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland blieb der Reichsfinanzhof als Institution bestehen. Seine Rechtsprechung jedoch stand unter dem unsäglichen Einfluss des NS-Regimes, beispielsweise bei Entscheidungen, die sich gegen jüdische Steuerpflichtige oder gegen die Gemeinnützigkeit kirchlicher Organisationen richteten. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen die Finanzgerichte im besetzten Deutschland ihre Arbeit wieder auf. Mit dem Obersten Steuergerichtshof in München, der zunächst für Bayern und ab 1947 für die gesamte amerikanische Zone Entscheidungen in Steuerangelegenheiten traf, blieb der Gedanke einer höchstrichterlichen Instanz auf diesem Rechtsgebiet lebendig. Und im Jahr 1950, ein Jahr nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, wurde schließlich der Bundesfinanzhof in München errichtet. Das oberste deutsche Finanzgericht überprüft die Rechtsanwendung der Finanzbehörden und stellt allgemeine Grundsätze zur Auslegung und Anwendung der Steuergesetze auf. Der Bundesfinanzhof wirkt oft weit über den Einzelfall hinaus. In nicht wenigen Fällen haben seine Entscheidungen prominente Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und in der Folge Aktivitäten des Gesetzgebers ausgelöst. Es sei nur an die Vermögensteuer, die Erbschaftsteuer und zuletzt die Grundsteuer erinnert. Neue Rechtsnormen, die der Gesetzgeber als Antwort auf eine immer stärker globalisierte Welt und immer häufiger auch infolge europäischer Vorgaben erlässt, werden auch in Zukunft auslegungsbedürftig sein und streitige Rechtsfragen aufwerfen. Der Einfluss des Unionsrechts auf das nationale Steuerrecht wird dabei weiter zunehmen, nicht zuletzt dort, wo die Steuergerechtigkeit gestärkt und Steuerbetrug, Steuervermeidung und Steuerdumping eingedämmt werden sollen. Mit seinen Entscheidungen leistet der Bundesfinanzhof einen zentralen und unverzichtbaren Beitrag für die

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Geleitwort des Bundesministers der Finanzen

Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Die Bürgerinnen und Bürger und ebenso die Steuerverwaltung werden, wie in den vergangenen Jahrzehnten, auch in Zukunft auf die Unabhängigkeit und hervorragende Expertise des Bundesfinanzhofs und der Bundesfinanzrichterinnen und Bundesfinanzrichter vertrauen können.

Olaf Scholz Bundesminister der Finanzen

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Inhaltsübersicht Band I

Seite

Geleitwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Geleitwort der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz . . . . . . VII Geleitwort des Bundesministers der Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX

1. Teil Geschichte des Rechtsschutzes im Steuerrecht A. Entwicklung des Steuerrechtsschutzes in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Christian Waldhoff

B. Steuerrechtsschutz im Wandel der Zeit I. Beginn des Steuerrechtsschutzes in der Weimarer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 21 Andreas Thier

II. Unrechtsurteile der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Simon Kempny

III. Steuerrechtsschutz nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Volker Pfirrmann

IV. Finanzgerichtsbarkeit in der DDR und Aufarbeitung der Wiedervereinigung durch den BFH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Thomas Stapperfend

V. Richterpersönlichkeiten am Bundesfinanzhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Michael Geissler

2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht A. Der BFH und die Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Christian Thiemann

B. Richterliche Rechtsfortbildung und Rechtsprechungsinnovationen . . . . . 151 Andreas Musil

C. Rechtsprechungskontinuität und Rechtsprechungsänderungen – nationale Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Christian Levedag

XI

Inhaltsübersicht

D. Rechtsprechungskontinuität und Rechtsprechungsänderungen – nachbarschaftliche Außensicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Markus Achatz

E. Zusammenspiel von Rechtsprechung und Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . 227 Ekkehart Reimer

F. Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung – nationale Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Michael Schmitt

G. Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung – nachbarschaftliche Außensicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Madeleine Simonek

H. Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als ­Auslegungstopos – Aus Sicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Jürgen Brandt

I. Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als ­Auslegungstopos – Aus Sicht der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Eckehard Schmidt



J. Wissens- und Willenselemente des Steuertatbestandes . . . . . . . . . . . . . . . 341 Heike Jochum

K. Einzelfallgerechtigkeit und Maßstabbildung im digitalisierten ­ Massenfallrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Gregor Kirchhof

L. Missbrauchsabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Susanne Sieker

M. „Dunkelfelder“ der Steuerrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Michael Wendt

N. Auswirkungen der Digitalisierung im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Rudolf Mellinghoff

3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung A. Steuerrecht und Verfassungsrecht I. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Steuerverfassungsrechts . . . 451 Johanna Hey

II. Der Gleichheitssatz im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Michael Eichberger

XII

Inhaltsübersicht

III. Schwerpunkte des Steuerverfassungsrechts im Fokus der ­ Finanzrechtsprechung 1. Reichweite und Grenzen verfassungskonformer Auslegung . . . . . . . . . 519 Nils Trossen

2. Rechtsschutzgewähr und Rechtsfolgeansprüche in der ­verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Franceska Werth

B. Steuerrecht in der nationalen Rechts- und Wirtschaftsordnung I. Steuern und nichtsteuerlichen Abgaben in der höchstrichterlichen ­Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Ferdinand Kirchhof

II. Zusammenspiel von BFH und BGH auf dem Gebiet des Steuerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Henning Radtke

III. Steuerrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts . . . . 587 Klaus Rennert

IV. Besteuerung der Arbeitnehmer aus der Sicht des Bundesarbeitsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Ingrid Schmidt

V. Sozialrecht und Steuerrecht aus der Sicht des Bundessozialgerichts . . . . . 625 Rainer Schlegel

VI. Insolvenzrecht und Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 André Meyer

VII. Steuerrechtsprechung und Betriebswirtschaftliche Steuerlehre . . . . . . . . . 679 Deborah Schanz

C. Steuerrecht und Unionsrecht I. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Europäischen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 Georg Kofler

II. Entwicklungslinien der Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 Juliane Kokott

III. Zukunft des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes durch die Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 Monika Hermanns

XIII

Inhaltsübersicht

IV. Zur praktischen Konkordanz von Grundfreiheiten und EU-Richtlinienrecht auf dem Gebiet der direkten Steuern . . . . . . . . . . . . 781 Roland Wacker

V. Schwerpunkte des Unionsrechts im Fokus der Finanzrechtsprechung 1. Unionsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Alexander Rust

2. Unmittelbare Wirkung von Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815 Michael Schwenke

3. Umgang mit dem unionsrechtlichen Beihilfeverbot a) Begriff und Tragweite von „Altbeihilfen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825 Franz Philipp Sutter

b) Aktuelle Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845 Roland Ismer

4. Praxis der Vorabentscheidungsersuchen in der Finanzgerichtsbarkeit 865 Hans-Friedrich Lange

5. Umsetzung von EuGH-Entscheidungen durch die Finanzrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895 Axel Cordewener

D. Steuerrecht in einer globalisierten Welt I. Internationalisierung des Internationalen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . 923 Wolfgang Schön

II. Schwerpunkte des Internationalen Steuerrechts im Fokus der ­Finanzrechtsprechung 1. Unabgestimmtheit der nationalen Steuerrechtsordnungen – aus Sicht der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949 Martin Kreienbaum

2. Unabgestimmtheit der nationalen Steuerrechtsordnungen – aus Sicht der Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 969 Christian Kaeser

3. Auslegung und Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen . . . 983 Michael Lang

4. Zusammenspiel von Völkerrecht und nationalem Recht . . . . . . . . . . . . 1009 Moris Lehner

5. Betriebsstätte und AOA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027 Dietmar Gosch

6. Missbrauch und grenzüberschreitende Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . 1053 Jürgen Lüdicke

7. Rolle des Außensteuergesetzes in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . 1077 Jens Schönfeld

XIV

Inhaltsübersicht

8. Verluste im grenzüberschreitenden Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1099 Thomas Rödder

9. Grenzüberschreitender Steuervollzug – nationale Sicht . . . . . . . . . . . . . 1113 Thomas Eisgruber/Eva Oertel

10. Grenzüberschreitender Steuervollzug – nachbarschaftliche Außensicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1127 Claus Staringer

Band II 4. Teil Materielles Steuerrecht A. Einkommensteuer I. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Einkommensteuerrechts . . 1145 Hanno Kube

II. Schwerpunkte des Einkommensteuerrechts im Fokus der ­Finanzrechtsprechung 1. Streitanfälligkeit einzelner Bereiche des Einkommensteuerrechts als Indiz für Reformbedarf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181 Stephan Geserich

2. Bedeutung von Einkommensbegriffen und Einkommenstheorien . . . 1197 Paul Kirchhof

3. Einkunftsartenabgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1229 Rainer Wernsmann

4. Gemischte Veranlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1243 Stefan Schneider

5. Subjektives Nettoprinzip im Einkommensteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . 1261 Roland Krüger

6. Kapitaleinkünfte und Abgeltungsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1279 Monika Jachmann-Michel

7. Altersvorsorge im Ertragsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1295 Rolf Möhlenbrock

B. Unternehmenssteuerrecht I. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Unternehmenssteuerrechts 1317 Klaus-Dieter Drüen

XV

Inhaltsübersicht

II. Schwerpunkte des Unternehmenssteuerrechts im Fokus der ­Finanzrechtsprechung 1. Bedeutung des Trennungsprinzips bei der Auslegung des KStG . . . . . 1349 Christian Dorenkamp

2. Grund- und Streitfragen des körperschaftsteuerlichen Einkommensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1373 Andreas Herlinghaus

3. Steuersystematische Einordnung der Gewerbesteuer und ihre Bedeutung für die Auslegung des Gewerbesteuergesetzes . . . . . . . . . . . 1393 Stefan Breinersdorfer

4. Einfluss der Europäisierung und Internationalisierung auf das ­Bilanzsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1411 Joachim Hennrichs

5. Stille Reserven und Buchwertfortführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1433 Christian Graw

6. Maßgeblichkeit des Handelsrechts und außerbilanzielle Korrekturen 1457 Marcel Krumm

7. Gemeinnützige Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1477 Markus Märtens

C. Indirekte Steuern I. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Rechts der indirekten Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1491 Joachim Englisch

II. Schwerpunkte des Umsatzsteuerrechts im Fokus der Finanzrechtsprechung 1. Umsatzsteuer als Verbrauchsteuer in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . 1529 Tina Ehrke-Rabel

2. Umsatzsteuerliche Organschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1551 Bernd Heuermann

3. Umsatzsteuer der öffentlichen Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1569 Marc Desens

4. Gutglaubensschutz im Umsatzsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1591 Christoph Wäger

III. Entlastungen, Ermäßigungen und Befreiungen im Energie- und ­Stromsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1611 Harald Jatzke

D. Sonstige Steuerarten I. Umgang mit den Ergänzungstatbeständen bei der Grunderwerbsteuer . 1637 Matthias Loose

XVI

Inhaltsübersicht

II. Verhältnis von Gesellschaft und Gesellschafter im Erbschaft- und ­Schenkungsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1655 Hermann-Ulrich Viskorf

III. Neues Zollrecht nach dem Unionszollkodex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1671 Ulrich Krüger

IV. Wenig beachtete Steuern aus der Sicht der Finanzgerichtsbarkeit . . . . . . . 1691 Jutta Förster

5. Teil Steuerverfahrensrecht A. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Steuerverfahrensrechts . . . . 1717 Roman Seer

B. Besteuerungsverfahren und Finanzrechtsprechung I. Mitwirkungspflichten im Fokus der Steuerrechtsprechung . . . . . . . . . . . . 1747 Ulrich Schallmoser

II. Indienstnahme Privater im Besteuerungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1761 Christian Seiler

III. Vermeidet die Praxis der Betriebsprüfung die Klärung von ­ Steuerrechtsfragen durch die Finanzgerichtsbarkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1781 Stefanie Beinert

IV. Verzinsung als Hemmschuh richterlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . 1801 Heribert Anzinger

6. Teil Rechtsschutz in Steuersachen A. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Steuerrechtsschutzes . . . . . . 1831 Egmont Kulosa

B. Einzelfragen des gerichtlichen Rechtsschutzes im Steuerrecht I. Die Richterschaft am Bundesfinanzhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1867 Walter Bode

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde als Stolperdraht der Rechtssuchenden? 1889 Eckart Ratschow

III. Beitritt des Bundesministeriums der Finanzen zu Verfahren vor dem ­Bundesfinanzhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1905 Michael Sell

XVII

Inhaltsübersicht

IV. Gutachtentätigkeit von RFH/BFH – Historische Bedeutung und ­rechtspolitische Relevanz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1917 Peter Brandis

V. Vergleich der Verfahrensordnungen der öffentlich-rechtlichen ­ Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1935 Ulrich Palm

C. Steuerrechtsschutz in anderen Rechtsordnungen I. Rechtsschutz in Steuersachen in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1955 Nikolaus Zorn

II. Zweihundert Jahre Steuerrechtsschutz in den Niederlanden . . . . . . . . . . . 1975 Jaap W. van den Berge/Robert Jan Koopmann

III. Rechtsschutz in Steuersachen in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1995 Thomas Stadelmann

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2015 Fotoanhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2047

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Verzeichnis der Autoren Prof. Dr. Markus Achatz Mitglied des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes, Universitätsprofessor, Johannes Kepler Universität, Institut für Finanzrecht, Steuerrecht und Steuer­ politik, Steuerberater, Partner, leitnerleitner, Linz Prof. Dr. Heribert M. Anzinger Universitätsprofessor, Universität Ulm, Institut für Rechnungswesen und ­Wirtschaftsprüfung Dr. Stefanie Beinert Rechtsanwältin, Steuerberaterin, Hengeler Mueller, Frankfurt a.M. Jaap W. van den Berge Raadsheer in buitengewone Dienst Hoge Raad, Den Haag Walter Bode Dipl.-Kfm., Richter am Bundesfinanzhof, München Dr. Peter Brandis Richter am Bundesfinanzhof, München Prof. Jürgen Brandt Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor, Bergische Universität Wuppertal Dr. Stefan Breinersdorfer Ministerialdirigent, Ministerium der Finanzen Rheinland-Pfalz, Mainz Prof. Dr. Axel Cordewener, LL.M. Universitätsprofessor, Katholieke Universiteit Leuven, Rechtsanwalt, Flick Gocke Schaumburg, Bonn Prof. Dr. Marc Desens Universitätsprofessor, Universität Leipzig, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbes. Steuerrecht und Öffentliches Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Christian Dorenkamp, LL.M. Deutsche Telekom AG, Honorarprofessor, Universität zu Köln

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Verzeichnis der Autoren

Prof. Dr. Klaus-Dieter Drüen Universitätsprofessor, Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Steuerrecht und Öffentliches Recht, Richter am Finanzgericht Düsseldorf Prof. Dr. Tina Ehrke-Rabel Universitätsprofessorin, Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Finanzrecht Prof. Dr. Michael Eichberger Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D., Honorarprofessor, Eberhard Karls Universität Tübingen Dr. Thomas Eisgruber Ministerialrat, Bayerisches Staatsministerium der Finanzen, für Landes­ entwicklung und Heimat, München Prof. Dr. Joachim Englisch Universitätsprofessor, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Direktor des Instituts für Steuerrecht Prof. Dr. Jutta Förster Richterin am Bundesfinanzhof, Honorarprofessorin, Universität Osnabrück Dr. Michael Geissler Richter am Bundesfinanzhof, München Dr. Stephan Geserich Richter am Bundesfinanzhof, München Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof a.D., Honorarprofessor, Christian-­ Albrechts-Universität zu Kiel, Rechtsanwalt, Steuerberater, WTS Group, Hamburg Dr. Christian Graw Richter am Finanzgericht Düsseldorf Prof. Dr. Joachim Hennrichs Universitätsprofessor, Universität zu Köln, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Bilanz- und Steuerrecht Prof. Dr. Andreas Herlinghaus Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor, Universität Bonn

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Verzeichnis der Autoren

Monika Hermanns Richterin des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe Prof. Dr. Bernd Heuermann Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor, Ruprecht-Karls-­ Universität Heidelberg Prof. Dr. Johanna Hey Universitätsprofessorin, Universität zu Köln, Direktorin des Instituts für ­Steuerrecht Prof. Dr. Roland Ismer, MSc Econ. (LSE) Universitätsprofessor, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Steuerrecht und Öffentliches Recht Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel Vorsitzende Richterin am Bundesfinanzhof, Honorarprofessorin, Ludwig-­ Maximilians-Universität München Prof. Dr. Harald Jatzke Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor, Eberhard Karls Universität Tübingen Prof. Dr. Heike Jochum Universitätsprofessorin, Universität Osnabrück, Institut für Finanz- und ­Steuerrecht Prof. Dr. Christian Kaeser Siemens AG, Honorarprofessor, Wirtschaftsuniversität Wien Prof. Dr. Simon Kempny, LL.M. Universitätsprofessor, Universität Bielefeld, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Steuerrecht Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Universitätsprofessor (em.), Eberhard Karls Universität Tübingen Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL.M. Universitätsprofessor, Universität Augsburg, Direktor des Instituts für Wirtschaftsund Steuerrecht, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanzrecht und Steuerrecht

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Verzeichnis der Autoren

Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Kirchhof Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D., Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht, Ruprechts-Karls-Universität Heidelberg, Institut für Finanz- und Steuerrecht Prof. DDr. Georg W. Kofler, LL.M. Universitätsprofessor, Johannes Kepler Universität Linz, Institut für Finanzrecht, Steuerrecht und Steuerpolitik Prof. Dr. Juliane Kokott, LL.M., S.J.D. Universitätsprofessorin, Generalanwältin am Gerichtshof der Europäischen Union, Luxemburg Dr. Robert Jan Koopmann Vizepräsident des Hoge Raad, Den Haag Martin Kreienbaum Ministerialdirigent, Bundesministerium der Finanzen, Berlin Dr. Roland Krüger Richter am Bundesfinanzhof, München Ulrich Krüger Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München Prof. Dr. Marcel Krumm Universitätsprofessor, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Steuerrecht, Richter am Finanzgericht Münster Prof. Dr. Hanno Kube, LL.M. Universitätsprofessor, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht Dr. Egmont Kulosa Richter am Bundesfinanzhof, München Prof. Dr. DDr. h.c. Michael Lang Universitätsprofessor, Wirtschaftsuniversität Wien, Institut für Österreichisches und Internationales Steuerrecht Prof. Dr. Hans-Friedrich Lange Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof a.D., Honorarprofessor, Westfälische Wilhelms-Universität Münster XXII

Verzeichnis der Autoren

Prof. Dr. Moris Lehner Universitätsprofessor (em.), Ludwig-Maximilians-Universität München, ­Lehrstuhl für Öffentliches Wirtschafts- und Steuerrecht, Leiter der Forschungstelle für Europäisches und Internationales Steuerrecht Dr. Christian Levedag Richter am Bundesfinanzhof, München Prof. Dr. Matthias Loose Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor, Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Universitätsprofessor, Universität Hamburg, Lehrstuhl für Internationales Steuerrecht, Rechtsanwalt, Steuerberater, PricewaterhouseCoopers, Hamburg Dr. Markus Märtens Richter am Bundesfinanzhof, München Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff Präsident des Bundesfinanzhofs, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D., Honorarprofessor, Eberhard Karls Universität Tübingen Prof. Dr. André Meyer Universitätsprofessor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Steuerrecht, Gesellschafts- und Bilanzrecht Dr. Rolf Möhlenbrock Ministerialdirigent, Bundesministerium der Finanzen, Berlin Prof. Dr. Andreas Musil Universitätsprofessor, Universität Potsdam, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungs- und Steuerrecht Dr. Eva Oertel Oberregierungsrätin, Bayerisches Staatsministerium der Finanzen, für Landes­ entwicklung und Heimat, München Prof. Dr. Ulrich Eugen Palm Universitätsprofessor, Universität Hohenheim, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht Dr. Volker Pfirrmann Richter am Bundesfinanzhof, München XXIII

Verzeichnis der Autoren

Prof. Dr. Henning Radtke Richter des Bundesverfassungsgerichts, Honorarprofessor, Universität Hannover Dr. Eckart Ratschow Richter am Bundesfinanzhof, München Prof. Dr. Ekkehart Reimer Universitätsprofessor, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Honorarprofessor, Universität Freiburg Prof. Dr. Thomas Rödder Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Flick Gocke Schaumburg, Honorarprofessor, Universität zu Köln Prof. Dr. Alexander Rust, LL.M. Universitätsprofessor, Wirtschaftsuniversität Wien, Institut für Österreichisches und Internationales Steuerrecht Dr. Ulrich Schallmoser Richter am Bundesfinanzhof, München Prof. Dr. Deborah Schanz Universitätsprofessorin, Ludwig-Maximilians-Universität München, Vorstand des Instituts für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre Prof. Dr. Rainer Schlegel Präsident des Bundessozialgerichts, Honorarprofessor, Justus-Liebig-Universität Gießen Eckehard Schmidt Ministerialdirigent a.D., Bayerisches Staatsministerium der Finanzen, für ­Landesentwicklung und Heimat, München Ingrid Schmidt Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Erfurt Prof. Dr. Michael Schmitt Ministerialdirigent a.D., Ministerium für Finanzen Baden-Württemberg, ­Honorarprofessor, Universität Mannheim

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Verzeichnis der Autoren

Prof. Dr. Stefan Schneider Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor, Universität ­Mannheim Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön Honorarprofessor, Ludwig-Maximilians-Universität, Direktor am Max-Planck-­ Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, München Prof. Dr. Jens Schönfeld Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Diplom-Kaufmann, Partner, Flick Gocke Schaumburg, Honorarprofessor, Universität Osnabrück Dr. Michael Schwenke Richter am Bundesfinanzhof, München Prof. Dr. Roman Seer Universitätsprofessor, Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Steuerrecht Prof. Dr. Christian Seiler Universitätsprofessor, Eberhard Karls Universität Tübingen, Lehrstuhl für ­Staats- und Verwaltungsrecht, Finanz- und Steuerrecht, Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg Michael Sell Ministerialdirektor, Bundesministerium der Finanzen, Berlin Prof. Dr. Susanne Sieker Universitätsprofessorin, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Steuerrecht und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Madeleine Simonek Universitätsprofessorin, Universität Zürich, Lehrstuhl für Schweizerisches und Internationales Steuerrecht Thomas Stadelmann Dipl. Steuerexperte, Richter am Schweizerischen Bundesgericht, Lausanne Prof. Dr. Thomas Stapperfend Präsident des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg, Honorarprofessor, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Claus Staringer Universitätsprofessor, Wirtschaftsuniversität Wien, Institut für Österreichisches und Internationales Steuerrecht XXV

Verzeichnis der Autoren

Dr. Franz Philipp Sutter Richter am Österreichischen Verwaltungsgerichtshof, Wien Prof. Dr. Christian Thiemann Universitätsprofessor, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Finanz- und Steuerrecht Prof. Dr. Andreas Thier Universitätsprofessor, Universität Zürich, Lehrstuhl für Rechtsgeschichte, ­Kirchenrecht, Rechtstheorie und Privatrecht Dr. Nils Trossen Richter am Bundesfinanzhof, München Hermann-Ulrich Viskorf Vizepräsident des Bundesfinanzhofs a.D., Bad Aibling Prof. Dr. Roland Wacker Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, Honorarprofessor, Universität ­Hohenheim Dr. Christoph Wäger Richter am Bundesfinanzhof, München Prof. Dr. Christian Waldhoff Universitätsprofessor, Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht Michael Wendt Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München Prof. Dr. Rainer Wernsmann Universitätsprofessor, Universität Passau, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, insbesondere Finanz- und Steuerrecht Prof. Dr. Franceska Werth Richterin am Bundesfinanzhof, Honorarprofessorin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Nikolaus Zorn Senatspräsident am Österreichischen Verwaltungsgerichtshof, Universitäts­ professor, Universität Innsbruck, Institut für Unternehmens- und Steuerrecht

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1. Teil Geschichte des Rechtsschutzes im Steuerrecht A.

Entwicklung des Steuerrechtsschutzes in Deutschland Von Christian Waldhoff

Inhaltsübersicht I. Kontextabhängigkeit von Steuerrechtsschutz II. Steuerrechtsschutz in der Frühmoderne – Vorkonstitutionelle Formen des Schutzes vor der Besteuerungsgewalt III. Steuerrechtsschutz im liberalen Rechtsstaat als Teil einer sich ausbildenden Verwaltungsgerichtsbarkeit 1. Entstehung moderner Verwaltungs­ gerichtsbarkeit im 19. Jh. a) Justizstaatliches Modell vs. ­Administrativjustiz b) Anfänge der modernen Verwaltungsgerichtsbarkeit in Baden c) Entwicklung in Preußen d) Weitere Entwicklung und die Rechtslage in den anderen Territorien 2. Steuerrechtsschutz als quantitativer Schwerpunkt von Verwaltungsrechtsprechung – Das preußische OVG als Beispiel

IV. Steuerrechtsschutz im sozialen Rechtsstaat – Entstehung des Reichsfinanzhofs als Beginn eigenständiger Steuergerichtsbarkeit in Deutschland V. Steuerrechtsschutz im Verfassungsstaat – Durchbruch einer vollausgebauten mehrinstanzlichen Steuergerichtsbarkeit unter dem BFH angesichts der Perfektionierung von Rechtsschutz 1. Vom Reichsfinanzhof zum BFH 2. Übergang von verwaltungsinternem zu gerichtlichem Rechtsschutz unterhalb der Revisionsinstanz VI. Steuerrechtsschutz im offenen Verfassungsstaat – nationale und supranationale Kontexte 1. Steuerrechtschutz angesichts einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit und der damit verbundenen Konstitutionalisierung der Steuerrechtsordnung 2. Steuerrechtsschutz und europäische Integration VII. Conclusio

I. Kontextabhängigkeit von Steuerrechtsschutz Rechtsschutz gegen staatliche Steuergewalt ist wie Rechtsschutz allgemein stets von dem ihn umgebenden historischen, politischen, sozialen, ideengeschichtlichen, staatsund steuerrechtlichen Kontext abhängig1. Wem gegen was aus welchem Grund und 1 Vgl. ähnlich Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Hrsg.), Einf. FGO Rz. 8; auf die Entwicklung in anderen Rechtsordnungen kann hier und im Folgenden nicht eingegangen werden; vgl. dazu  – freilich nicht primär in historischer Perspektive  – Ridder, StuW

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Christian Waldhoff

in welchem Umfang Rechtsschutz unter welchen Bedingungen gewährt wird, erweist sich dabei als erstklassiger Indikator für ein staatsrechtliches System wie für ein Gemeinwesen insgesamt. Diese Indizfunktion kann auf die Steuerordnung eines Gemeinwesens erstreckt werden, wie es schon die frühneuzeitliche Sentenz „pecunia nervus rerum“ auf den Begriff bringt2. Anliegen vorliegenden Beitrags aus Anlass des Jubiläums von 100 Jahren Finanzgerichtsbarkeit in Deutschland ist es, nicht nur die Entwicklungsschritte des Steuerrechtsschutzes nachzuzeichnen, sondern diesen zu kontextualisieren und dadurch besser zu verstehen3. Der Schwerpunkt der Darstellung berücksichtigt dabei, dass für die Zeit seit 1918 eigene Beiträge in dieser Festschrift existieren. Steuerrecht ist neben dem Polizeirecht das Hauptgebiet der sog. Eingriffsverwaltung – Eingriffsverwaltung als Massenverwaltung, denn fast jeder Bürger sieht sich der Steuergewalt des Staates gegenüber4. Lange Zeit war die Parallele zum Polizeirecht ausgeprägt5, erst im 20. Jh. folgte eine aus heutiger Sicht ambivalent erscheinende stärkere Separierung und der Beginn eines nicht unproblematischen dogmatischen Eigenlebens des Steuerrechts als sich neu ausbildender rechtswissenschaftlicher Teildisziplin6. Steuerrechtsschutz war und ist daher in der Sache Verwaltungsrechtsschutz. Vor Ausprägung einer eigenen Finanzgerichtsbarkeit bildete sich eine z.T. ausgefeilte Steuerjudikatur der frühen Verwaltungsgerichtsbarkeit aus; heute sind die FG in einem eigenen Rechtszug ausgegliederte besondere VG7.

II. Steuerrechtsschutz in der Frühmoderne – Vorkonstitutionelle ­Formen des Schutzes vor der Besteuerungsgewalt Rechtsbindung von Herrschaftsgewalt und, dem korrespondierend, Rechtsschutzmöglichkeiten der Untertanen gehörten bereits zum Ideen- und Rechtsrepertoir im 1949, 309; Breuers, Die Rechtszüge im französischen Steuerrecht, 1959; Vogel in FS 75 Jahre Reichsfinanzhof  – BFH, 1993, S.  185. Wie der zuletzt zitierte Beitrag eindrucksvoll zeigt ließe sich die hier entfaltete Kontextthese nicht nur im diachronen sondern auch im synchronen (Rechts-)Vergleich eindrucksvoll entfalten; in dieser Festschrift ist auf die Beiträge von Zorn, Koopmann und Stadelmann hinzuweisen. 2 Dazu ausführlich Stolleis, Pecunia nervus rerum, 1983. 3 Allgemein zur Methode der Kontextualisierung für die rechtswissenschaftliche Erkenntnis Lepsius, Relationen: Plädoyer für eine bessere Rechtswissenschaft, 2016, insb. S. 36 ff. m.w.N. 4 Waldhoff in Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd.  3, 3.  Aufl. 2013, Abgabenrecht, § 67 Rz. 1. 5 Vgl. etwa Waldhoff, VVDStRL 75 (2016), S. 373 f. 6 Zur Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd.  3, 1999, S.  220  ff.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 1.  Aufl. 1993, S. 26 ff.; Nachtrag 2. Aufl. 2000, S. 24 ff.; Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S.  375  f.; Reimer/Waldhoff in dies. (Hrsg.), Albert Hensel. System des Familiensteuerrechts und andere Schriften, S.  1 (30  ff.); Waldhoff/Hüttemann in Hüttemann/Waldhoff (Hrsg.), Steuerrecht an der Universität Bonn, 2008, S. 1; Waldhoff, Rechtsgeschichte 19 (2011), 322. 7 Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 1 ff.

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Entwicklung des Steuerrechtsschutzes in Deutschland

Alten Reich8. Neben dem Reichshofrat entschied das 1495 errichtete Reichskammergericht in sog. Untertanenprozessen Streitigkeiten zwischen Untertanten und Obrigkeit im Bereich der natürlichen bzw. „bürgerlichen“ Freiheiten – bei aller Relativität der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht in vorkonstitutioneller Zeit9  – Vorformen modernen Verwaltungs- und damit auch Steuerrechtsschutzes10. Dabei besaßen steuer- und finanzrechtliche Streitigkeiten Bedeutung – Pausch schätzt sie für das Reichskammergericht auf gut 10 % des Geschäftsanfalls11. Die sog. Fiskustheorie12, wonach lediglich Entschädigungen vor den ordentlichen Gerichten hätten eingeklagt werden können, gilt als überholt13. Freilich waren viele Landesherrn durch Privilegien (privilegia de non appellando)14 von der Kontrolle durch diese Reichsgerichtsbarkeit befreit. Die Reichsgerichtsbarkeit fiel mit dem Untergang des Reiches 1806 fort, so dass Rechtsschutz für lange Zeit ausschließlich Angelegenheit der Territorien, nach der Bundesstaatsgründung immer noch lange Zeit nicht Aufgabe der zentralen Ebene war15. Doch wie zeigte sich und welche Bedeutung besaß der Rechtsschutz gegen Steuern vor diesem Hintergrund16? Auf den Geschäftsanfall wurde bereits hingewiesen. ­Neben der Fiskustheorie trat institutionell das Amt des Reichsfiskals zur Durchsetzung finanzieller Interessen des Reiches17. Die Kontextthese lässt sich hier gut demonstrieren: Da die Reichsgerichtsbarkeit neben anderem Steuer- und Finanzprozesse gegen das Reich zuließ, kann diese frühe Form von Gerichtsbarkeit nur als Funktion der Finanzordnung des Reiches in der Frühen Neuzeit verstanden werden18. Von einer „Finanzverfassung“ kann kaum gesprochen werden, denn – unabhängig von zeitgenössischen Kontroversen über die Rechtsnatur desselben sowie un-

8 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen 1749 bis 1842, 1962, S. 23 ff. 9 Lorenz, Verwaltungsprozessrecht, 2000, S.  7; ferner etwa Waldhoff in FS Klippel, 2013, S. 431. 10 Vgl. Sellmann in Külz/Naumann (Hrsg.), Staatsbürger und Staatsgewalt, 1963, S. 25, 29 ff.; Rüfner in Jeserich/Pohl/von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3, 1984, S. 909 f. 11 Pausch in 50 Jahre Deutsche Finanzgerichtsbarkeit, 1968, S. 13 (14). 12 Vgl. m.w.N. Waldhoff in Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 2, 8. Aufl. 2018, Art. „Fiskus“, Sp. 763. 13 Rüfner (Fn. 8), S. 169 ff.; ders., FS Menger, 1985, S. 3; Görlitz, Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland, 1970, S. 20 f. 14 Görlitz (Fn. 13), S. 16; umfassend und differenziert Sydow, Der Staat 41 (2002), 263. 15 Vgl. für die spätere Zeit Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht, 1991, S. 41 ff. 16 Allgemein zur Entwicklung der Besteuerung Thier/Waldhoff in Katz (ed.), The Oxford International Encyclopedia of Legal History, vol. 5, 2009, p. 435; Waldhoff, StuW 2014, 19; Schmoeckel/Maetschke, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, 2.  Aufl. 2016, Kapitel H (Rz. 362 ff.). 17 Vgl. Schulze in FS 75 Jahre Reichsfinanzhof – BFH, 1993, S. 3 (4). 18 Dazu etwa Isenmann, Zeitschrift für historische Forschung 7 (1980), 1 und 129; Schulz, Das System und die Prinzipien der Einkünfte im werdenden Staat der Neuzeit, 1982; Schmid, Der Gemeine Pfennig von 1495, 1989.

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Christian Waldhoff

abhängig von historiographischen Kontroversen19  – handelte es sich beim Alten Reich zumindest nicht um einen Territorialstaat im modernen Sinn. Die Finanzwirtschaft des Reiches war im Mittelalter nicht von der Finanzwirtschaft des Königs zu trennen. Aus dem Königsgut (Reichsgut) und aus seinem Hausgut musste er allfällige Finanzierungen leisten. Zumeist handelte es sich zunächst um Naturalerträge u.Ä. Zunehmende Versuche der Einführung von Reichsabgaben verstärkten sich mit Kriegen und Krisen. Der „gemeine Pfennig“ ist das markanteste Zeugnis vom Wormser Reichstag 1495 als Teil der Reichsreform Maximilians I. Im Zentrum standen freilich Matrikularbeiträge der Territorien des Reiches, die diese nach Eintragung in die Reichsmatrikel an das Reich zu entrichten hatten. Frühe Reichsabgaben und die Einführung bzw. Reform einer Reichsgerichtsbarkeit hängen mithin zusammen. Winfried Schulze spricht vom Reichskammergericht als einem der Orte „an dem die Fäden des Reichsfinanzsystems zusammenliefen“20. Mit dem sog. Kammerzieler diente eine spezielle Abgabe zudem der Finanzierung des Reichskammergerichts. Vor dem Reichskammergericht konnten Stände und Untertanen klagen. Die Stände verklagten ihre Untertanen wegen Steuerverweigerung; Untertanen hatten die Möglichkeit sich gegen Überbesteuerung zu wehren. Auch der Kaiser konnte hier sein Recht in Finanzierungssachen gegen säumige Reichsstände suchen. Letzteres war eine Verrechtlichung von zuvor auf andere Rechtsdurchsetzungswege Angewiesene und fand spätestens in der Reichskammergerichtsordnung von 1555 als sog. Fiskalische Sachen Niederschlag21. Auf Einzelheiten kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden22. Ganz anders verlief die Entwicklung in den Territorien; hier verstärkten sich Rüstung, Besteuerung, Administration auf dem Weg zum modernen frühneuzeitlichen Territorialstaat wechselseitig23. Staatsbildungsprozesse wie Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft begünstigten hier eine beschleunigte Entwicklung, die oftmals als Übergang vom Domänen- zum Steuerstaat beschrieben wird24. Zwar sind die skizzierten frühen Rechtsschutzformen nicht unbeeindruckend; allein wirkliche Vorläufer von Individualrechtsschutz von Steuerpflichtigen kann darin allenfalls teilweise erblickt werden. Individualrechtsschutz im modernen Sinne ist allenfalls in Ansätzen denkbar. Mit alledem hing auch die Ausbildung einer frühen Steuerliteratur zusammen, deren Tradition und Rezeption mit dem Konstitutionalismus mehr oder weniger abriss25.

19 Statt aller nur Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, 2.  Aufl. 2006, S. 116 ff. 20 Schulze (Fn. 17), S. 7. 21 Schulze (Fn. 17), S. 7. 22 Näher Schulze (Fn. 17); ferner Pausch in FS von Wallis, 1985, S. 3 ff. 23 Reinhard, Der Staat 31 (1992), 59; ders., Geschichte der Staatsgewalt, 1999, S. 20 ff.; 24 Vgl. etwa Schmoeckel/Maetschke (Fn. 16), Rz. 374 ff. 25 Ausführlich Schwennicke, „Ohne Steuer kein Staat“, 1997.

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Entwicklung des Steuerrechtsschutzes in Deutschland

III. Steuerrechtsschutz im liberalen Rechtsstaat als Teil einer sich ­ausbildenden Verwaltungsgerichtsbarkeit Die markanteste und langfristig wichtigste Veränderung des Rechtsschutzes gegen die Staatsgewalt entfaltete sich im konstitutionellen Kontext des 19. Jh. Steuerrechtsschutz etabliert sich hier zunächst als Bestandteil von Verwaltungsrechtsschutz. Das geht so weit, dass Steuersachen teilweise und zeitweilig den Schwerpunkt ver­ waltungsgerichtlicher Tätigkeit bildeten. Verwaltungsgerichtsbarkeit und Finanzgerichtsbarkeit fallen in dieser Epoche in bestimmten Ländern zusammen. Die Marksteine der Entwicklung einer modernen Verwaltungsgerichtsbarkeit gelten auch für den Rechtsschutz in Steuersachen. Die zu schildernde Ordnung des Steuerrechtsschutzes folgt der Wahrnehmung des materiellen Steuerrechts als Verwaltungsrecht26. Dafür sei paradigmatisch der Altmeister einer dogmatisch arbeitenden Verwaltungsrechtswissenschaft herangezogen, Otto Mayer (1846 – 1924)27. Seine „verwaltungsrechtliche“ Behandlung der Besteuerung wird als „Unterfall des Besonderen Gewaltverhältnisses“ gesehen28. Die „Finanzgewalt“ erscheint hinter der „Polizeigewalt“ als zweiter Abschnitt des „Besonderen Teils“ in seinem einflussreichen Lehrbuch: „So abgegrenzt bildet die Finanzgewalt mit der geschlossenen Einseitigkeit der Rechtsinstitute das Seitenstück zur Polizeigewalt. Es wiederholen sich die Formen des Befehls  […], der Strafe  […], des Zwanges  […]“29. Wissenschafts- wie legislationsgeschichtlich sind dann die prägnanten ­Begriffsbildungen Mayers von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Seine Steuerdefinition aus der 1. Aufl. des Verwaltungsrechts 1895 ist das Vorbild für die Legaldefinition in § 1 RAO 1919: „Die Steuer ist eine Geldzahlung, welche dem Unterthanen durch die Finanzgewalt nach einem allgemeinen Maßstabe auferlegt ist.  […] denn ihre [der Steuer; C.W.] Auflage geschieht ohne Rücksicht auf irgend welchen rechtfertigenden Zusammenhang; sie geschieht voraussetzungslos […] Dadurch unterscheidet sich die Steuer von einer bedeutsamen Gruppe von Zahlungspflichten, die sonst äußerlich viel mit ihr gemein haben können, von Gebühren und Beiträgen“30. Besteuerung und Besteuerungsverfahren werden dann in die von Mayer maßgeblich entwickelte verwaltungsrechtliche Handlungsformenlehre eingepasst. Diese Identifikation von Steuerrecht als Verwaltungsrecht setzt sich konsequent im Steuerrechtsschutz als Verwaltungsrechtsschutz fort31.

26 Näher Waldhoff (Fn. 6), 324 ff. 27 Allgemein zu ihm nur Forster in Kleinheyer/Schröder (Hrsg.) Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 5. Aufl. 2008, S. 281; Heyen, Otto Mayer, 1981; Hueber, Otto Mayer, 1982. 28 Stolleis (Fn. 6), S. 221. 29 Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 1924, S. 315. 30 Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 1. Aufl. 1895, S. 387. 31 Vgl. auch Nolte, Die Eigenart des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, 2015, S. 39 f.

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Christian Waldhoff

1. Entstehung moderner Verwaltungsgerichtsbarkeit im 19. Jh. Mit dem Aufkommen der modernen Verfassungsbewegung im 18. Jh. wurde die Rechtsbindung staatlichen Handelns als Rechtspostulat wirkmächtiger32. Verknüpfte sich in den westlichen Mutterstaaten der Verfassungsbewegung – USA und Frankreich – dies mit der legitimatorischen Frage, führte der deutsche Konstitutionalismus des 19. Jh. zur spezifisch deutschen Rechtsstaatsidee, welche die Rechtsbindung  – wiederum verbunden mit Rechtsschutz  – unter dem Postulat der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in Abgrenzung zum Polizeistaat in das Zentrum des Interesses stellte33, während mit dem monarchischen Prinzip die Legitimationsfrage wenn nicht ­negiert, so doch in der Schwebe gehalten wurde34. Hinzu kamen die „radikal veränderten Wirkungsbedingungen der Administration nach 1800“, welche die Eingriffshäufigkeit und -intensität der Verwaltung steigerte35. Aufgrund eines besonderen Verständnisses von Gewaltenteilung, welches zu einer strikten Trennung zwischen Justiz und Verwaltung führte36 und durchaus auch in Abwehr liberaler Bestrebungen sollte die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Rechtsschutz durch die Verwaltung selbst, durch organisatorisch und personell gesonderte Spruchkörper, garantiert werden  – die ordentlichen Gerichte wurden so konsequent von der Entscheidung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten fern gehalten, eine Unterordnung der Verwaltung unter die (aus den ordentlichen Gerichten bestehenden) Justiz vermieden37. Insofern wird von Kammerjustiz gesprochen38. Der „Rechtsweg“ war durch den „Verwaltungsweg“ ersetzt39, es handele sich um ein Konzept der „Selbstkontrolle durch verwaltungsinterne Instanzen“, die „Verwaltung war […] Richter in eigener Sache“40. In den konstitutionellen Verfassungen wurden  – nach Vorläufern in Württemberg 1819 und anderen süddeutschen Staaten41 – erst in der zweiten, auf die Julirevolution 1830 folgenden Verfassungswelle explizit oder implizit die Befugnis sich gegen behördliche Akte wehren zu können, eingeräumt42.

32 Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866, 1988, S. 10 ff. 33 Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl. 1928, S. 247; zur Entwicklung der Rechtsstaatskonzeption Böckenförde in ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 143. 34 Grimm (Fn. 32), S. 110 (113 ff.). 35 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd.  2, 1992, S.  240; Görlitz (Fn. 13), S. 24 f.; zu den Entstehenshintergründen insgesamt Sydow, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, 2000, S. 199 ff. 36 Pahlow, Justiz und Verwaltung, 2000; Rüfner (Fn. 10), S. 909 (910). 37 Vgl. auch Henne, Verwaltungsrechtsschutz im Justizstaat, 1995, S.  39  ff.; Lorenz (Fn.  9), S. 8. 38 Sellmann (Fn. 10), S. 35 ff. 39 Vgl. etwa Anschütz, in Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1, 1929, S. 129 (130). 40 Stolleis (Fn. 35), S. 240 (241). 41 Vgl. Sydow (Fn. 35), S. 31 ff. 42 von Unruh, DÖV 1975, 725 (727 f.); Henne (Fn. 37), S. 17 (39 ff.); zu dieser „Verfassungswelle“ näher Grimm (Fn. 32), S. 158 ff., 161 ff.

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a) Justizstaatliches Modell vs. Administrativjustiz Die Diskussion um die Einführung von Verwaltungsrechtsschutz im konstitutionellen System des 19. Jh. kann idealtypisch unter den Schlagworten justizstaatliches Modell und Modell der Administrativjustiz zusammengefasst werden43. Oftmals werden als Protagonisten Otto Bähr für das justizstaatliche44 und Rudolf von Gneist45 für das Modell der Administrativjustiz belegt46  – wobei die Gegensätze teilweise übertrieben werden, denn Bähr ging es vorrangig um die gerichtliche Entscheidung administrativer Streitigkeiten, die Zuständigkeit der überkommenen ordentlichen Gerichte war insofern eine zweitrangige Frage47. Der Unterschied lag vielmehr darin, dass Gneist mit der Einbettung seiner Konzeption des Verwaltungsrechtsschutzes in sein Bild von Selbstverwaltung einem spezifischen staats- und gesellschaftspolitischen Konzept verpflichtet war, während Bähr „klassisch“-liberal argumentierte und auf unabhängige Gerichte setzte. Die liberale Bewegung bevorzugte freilich insgesamt die ordentlichen Gerichte, da es nach ihrer Vorstellung um die Verletzung privater Rechte ging und so die „bürgerliche Justiz“ gegen die monarchische Exe­kutive in Stellung gebracht werden konnte48. Nach dem Untergang der Reichsgerichtsbarkeit 1806 war die sog. Administrativjustiz – an vorkonstitutionelle Übung anknüpfend sowie in Anlehnung an französische Vorstellungen von Gewaltenteilung – als die Selbstkontrolle der Verwaltung auf Antrag des Untertanen/Bürgers üblich und verbreitet (Idee der streitentscheidenden Verwaltung/le contentieux administratif)49. Dies war mehr als bloß eine Art administrativer Petition i.S.e. formlosen Beschwerde an die jeweilige Behörde, sondern bereits eine frühe Form von Rechtsschutz; institutionelle und personelle Unabhängigkeit im modernen Sinn war damit freilich nicht erreicht. Die in vieler Hinsicht vorbildlich wirkende Paulskirchenverfassung normierte in der Verwirklichung liberaler Postulate in ihrem § 182 Abs. 1 „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.“ Dies stellte einen (vorübergehenden) Sieg der justizstaatlichen Bewegung des Verwaltungsrechtsschutzes dar50. Da auch dieser Teil der Reichsverfassung niemals in Kraft trat, waren die 43 Sehr klar von Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, Bd. 1, 3. Aufl. 1866, S. 68 ff.; Fleiner (Fn. 33), S. 237 ff.; Sellmann (Fn. 10), S. 44 ff., 50 ff.; Nolte (Fn. 31), S. 10 ff. 44 Der Rechtsstaat, 1864, v.a. S. 45 ff. 45 Der Rechtsstaat und die VG in Deutschland, 1879; zu seiner Person von Unruh in Jeserich/ Neuhaus, Persönlichkeiten der Verwaltung, 1991, S. 201. 46 Gliss, Die Entwicklung der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit bis zur BVerwGordnung  – unter besonderer Berücksichtigung der Grundpositionen von Bähr und Gneist, Diss. iur., Frankfurt 1962; Stump, Preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit 1875-1914, 1980, S. 21 ff.; Sydow (Fn. 35), S. 11 ff. 47 Stolleis (Fn. 35), S. 242; Sydow (Fn. 35), S. 202 ff. 48 Stolleis (Fn. 35), S. 241. 49 Fleiner (Fn. 33), S. 238; Poppitz, AöR 33 (1943), 158 (163 ff.); Scheuner, DÖV 1963, 714, 717; Trostel, VBlBW 1988, 363 f. 50 Sellmann (Fn. 10), S. 75 ff.; Rüfner (Fn. 10), S. 910; Stolleis (Fn. 35), S. 242; differenziert Sydow (Fn. 35), S. 20 f.

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Auswirkungen der Vorschrift begrenzt51. Verwirklichen sollte sich in der anbrechenden Reaktionsära ein weiterentwickeltes Modell der Administrativrechtspflege, das einerseits vergleichsweise umfassend Rechtsschutz gewährte, in den unteren Instanzen die Verbindung zur Verwaltung beibehielt und in der obersten Instanz ein von der ordentlichen Justiz separiertes Gericht schuf – als Mischform letztlich eine Art bürokratisch-liberaler Kompromiss. b) Anfänge der modernen Verwaltungsgerichtsbarkeit in Baden Das politisch und ökonomisch weit entwickelte liberale Baden war der Pionier der modernen Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland. Nach Ansätzen im Umfeld der Revolution von 1848/4952 wurde in den §§ 15 bis 19 des Gesetzes, die Organisation der inneren Verwaltung betreffend vom 5.10.1863 eine Verwaltungsgerichtsbarkeit mit Modellcharakter für andere Länder installiert. Institutionell und funktionell wurde unter maßgeblicher Mitwirkung des Heidelberger Staatsrechtlers und Mitglied der Kammer Johann Caspar Bluntschli53 das französische Modell fortentwickelt54. Unter dem Enumerationsprinzip waren die beiden Eingangsinstanzen in die Verwaltung integriert, während der mit Berufsrichtern besetzte Verwaltungsgerichtshof schon als vollwertiges Gericht fungierte55. c) Entwicklung in Preußen Die Frage nach einer Verwaltungsgerichtsbarkeit setzt zunächst die Trennung von Justiz und Administration voraus56. Diese wurde in Preußen durch das Ressort­ reglement vom 19.6.1749 sowie durch die Verordnung vom 26.12.1808 geschärft, durch die den Gerichten alle Justizsachen zugewiesen wurden. Demgegenüber war die Kammerjustiz v.a. durch Domänen-, Steuer-, Polizei- und Militärstreitigkeiten geprägt57. Dabei konnte freilich noch nicht von einer Verwaltungsgerichtsbarkeit im modernen Sinne gesprochen werden, denn die Zuständigkeiten waren kasuistisch-pragmatisch gewählt. In der ersten Hälfte des 19. Jh. wurden die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Verwaltungshandeln wieder sukzessive eingeschränkt58. Die moderne Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde in Preußen – ähnlich wie zuvor in Baden – mit einer allgemeinen Verwaltungsreform eingeführt, der Kreisordnung vom 51 Görlitz (Fn. 13), S. 29; Sydow (Fn. 35), S. 23 ff. 52 Eingehend Sydow (Fn. 35), S. 45 ff. 53 Bluntschli, KritV 6 (1864), 257; ders., Denkwürdiges aus meinem Leben, Bd.  3, 1884, S. 34 ff. 54 von Unruh (Fn.  42), 728; zum französischen Vorbild Bluntschli, KritV 6 (1864), 257 (266 ff.). 55 Näher Schühly, DÖV 1953, 613; Rapp in Külz/Naumann, Staatsbürger und Staatsgewalt, 1963, S. 3; Ott in Jeserich/Pohl/von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3, 1984, S. 753 (774 f.); Rüfner (Fn. 10), S. 915 f.; Montag, VBlBW 1992, 194 (391). 56 Dazu insgesamt Pahlow (Fn. 36). 57 Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg-Preußen, 1914, S. 30 ff.; Rüfner, FS Menger, 1985, S. 3, 13 f. 58 Insgesamt zu dieser Epoche Rüfner, DÖV 1963, 719.

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13.12.187259, fortentwickelt durch das Gesetz betreffend die Verfassung der VG und das Verwaltungsstreitverfahren vom 3.7.187560. Durch dieses Gesetz wurde zugleich das Preußische OVG errichtet, dessen richterliche Unabhängigkeit genießenden Mitglieder nicht gewählt, sondern ernannt wurden61. Insgesamt kam zugleich die für Preußen charakteristische enge Verbindung von aktiver Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit deutlich zum Ausdruck62. In Weiterentwicklung der überkommenen Administrativjustiz wurde für jeden Regierungsbezirk ein (Bezirks-)VG als Berufungsinstanz eingerichtet, das freilich nicht vollständig von der Verwaltung getrennt war. Hier wie in den kommunalen Eingangsinstanzen, den Kreisausschüssen, wurden – der Gneist’schen Idee einer Verknüpfung der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit der Selbstverwaltung folgend63 – die Mitglieder von den gewählten kommunalen Vertretungskörperschaften bestimmt64. Damit wurde nur in der obersten Instanz der liberalen Forderungen nach einer Verwaltungskontrolle durch unabhängige Gerichte voll entsprochen; das Gneist’sche Konzept legte keinen entscheidenden Wert auf eine strikte Trennung zwischen Verwaltung und Verwaltungsrechtspflege. Auch die Zweckrichtung dieser Institutionen war bei Gneist offener: Neben dem Individualrechtsschutz trat bei ihm stets auch das Interesse der Allgemeinheit, d.h. die objektive Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns. In der Sache wurde ein kompliziertes und differenziertes Enumerativprinzip verfolgt, für die Anfechtung polizeilicher Verfügung wurde 1883 eine beschränkte Generalklausel eingeführt65. Auch die Überprüfung von Ermessensentscheidungen war letztlich auf polizeirechtliche Fälle beschränkt. Das Preußische OVG (deutlich zurücktretend auch die OVG der anderen Länder) entwickelte sich  – vor allem in Polizei- und Abgabensachen  – neben und wahrscheinlich noch vor der Wissenschaft als wichtigster Faktor der Ausbildung und Dogmatisierung des Verwaltungsrechts66. Auf Dauer hat sich das preußische System insoweit durchgesetzt, als dass die Forderung der Verwaltungskontrolle durch die ordentlichen Gerichte bald verschwand, gleichzeitig aber durch die Lockerung des Verwaltungsrechtsschutzes vom Gedanken der Selbstverwaltung eine – in der obersten Instanz von Anfang an vollzogene – deutlichere Trennung von der aktiven Verwaltung einsetzte.

59 GS, 661. 60 GS, 375. 61 Zu dessen Verfassung und Funktion ausführlich Stump (Fn. 46), S. 101 ff. 62 Rüfner (Fn. 10), S. 922; Steinbömer, DVBl. 1975, 857. 63 Vgl. Meister, Der Kampf der Konservativen und Liberalen um die Begründung der Selbstverwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Kreis und Provinz bei der Gneistschen Verwaltungsreform, Diss. iur., 1929; Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19.  Jahrhundert, 2. Aufl. 1969, S. 623; von Unruh, Jura 1982, 113; Ule, VerwArch. 87 (1996), 535. 64 von Unruh (Fn. 42), 729. 65 von Unruh (Fn. 42), 729; ausführlich Stump (Fn. 46), S. 130 ff. 66 Frege in Külz/Naumann (Hrsg.), Staatsbürger und Staatsgewalt, 1963, S.  131; Stolleis (Fn. 35), S. 242; ferner Pauly, Organisation, Geschichte und Praxis der Gesetzesauslegung des (Königlich) Preußischen OVG 1875-1933, 1987.

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d) Weitere Entwicklung und die Rechtslage in den anderen Territorien Bis zum staatsrechtlichen Umbruch 1918/19 hatten außer den beiden Mecklenburgs sowie Schaumburg-Lippe alle Länder eine Verwaltungsgerichtsbarkeit installiert; in den Hansestädten waren die ordentlichen Gerichte auch mit verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten betraut67. Weniger der unterschiedlich gestaltete Instanzenzug, insbesondere das unterschiedliche Ineinandergreifen von Verwaltungsverfahren und gerichtlichem Verfahren, als vielmehr die Orientierung an einem süddeutschen bzw. preußischen Modell vermag die Einzelausprägungen zu klassifizieren68: Während das süddeutsche Modell, v.a. in Anknüpfung an die Arbeiten Otto von Sarweys69 den Schutz subjektiver Rechte gewährleisten sollte (Baden, Bayern, Württemberg, Sachsen)70, war das preußische Modell stärker objektiv-rechtlich akzentuiert71. Davon unabhängig waren die Differenzen, ob hinsichtlich des Zugangs zum Gericht ein Enumerativsystem oder eine Generalklausel bzw. Mischmodelle galten72. Damit freilich hing die dritte große Streitfrage zusammen: Inwieweit durften die Gerichte das behördliche Ermessen überprüfen73? Je weiter die Generalklausel durchgesetzt war, desto prekärer musste den Zeitgenossen die Ermessenkontrolle erscheinen; je rudimentärer die gesetzlichen Grundlagen des Verwaltungshandelns – etwa im Polizeirecht – waren, desto eher mussten sich die VG zur Ermessensüberprüfung und der Kontrolle unbestimmter Rechtsbegriffe genötigt sehen, sollte überhaupt wirksamer Rechtsschutz gewährt werden. Das spielte freilich für die steuerliche Judikatur allenfalls eine untergeordnete Rolle. 2. Steuerrechtsschutz als quantitativer Schwerpunkt von Verwaltungs­ rechtsprechung – Das preußische OVG als Beispiel Die bereits erwähnte Errichtung des Preußischen OVG im Herbst 1875 bildete in mehrfacher Hinsicht einen eigentümlichen Kompromiss: Zum einen, weil nur in der letzten Instanz ausschließlich unabhängige Richter entschieden, diese Streitigkeiten dann jedoch der ordentlichen Justiz entzogen waren; zum anderen weil eine Mischung aus Enumerativsystem und Generalklausel  – für die Mehrzahl der polizeirechtlichen Fälle – hinsichtlich der Zuständigkeit eingeführt wurde74. Die Zuständigkeiten ergaben sich dabei überwiegend aus den einschlägigen Sachgesetzen und 67 Zu Zuständigkeiten der Justiz im System der Administrativjustiz Henne (Fn. 37), S. 75 ff.; zu den Vorformen Rüfner (Fn. 58). 68 Menger, DÖV 1963, 726 (727); Sydow (Fn. 35), S. 220 ff. 69 Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege, 1880; dazu etwa Heffter (Fn. 63), S.  629  f.; zu seiner Person Jeserich/Neuhaus (Hrsg.), Persönlichkeiten der Verwaltung, 1991, S. 533. 70 Görlitz (Fn. 13), S. 33 ff.; Sydow (Fn. 35), S. 96 ff. 71 Vgl. insgsamt Bühler in Stengel/Fleischmann (Hrsg.), Wörterbuch des deutschen Staatsund Verwaltungsrechts, Bd. 3, 2. Aufl. 1914, S. 741 (744 ff.); ebd., S. 753 ff.; Rüfner (Fn. 10), S. 911 f.; Lorenz (Fn. 9), S. 9 f. 72 Zorn, VerwArch. 2 (1894), 74 (133 ff.). 73 Zorn (Fn. 72), 143 ff.; Sydow (Fn. 35), S. 90 ff. 74 Vgl. insgesamt Pauly (Fn. 66).

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wurden im Lauf der Entwicklung ständig ausgeweitet75. Dass v.a. im Gefolge der für Preußen zentralen Miquelschen Steuerreform Anfang der 1890er Jahre das Preußische OVG als Rechtsmittelinstanz betraut wurde und nicht eine eigene Steuergerichtsbarkeit errichtet wurde, geht auf Rudolf von Gneist, seinerzeit neben zahlreichen anderen Funktionen führender Richter dieses Gerichts, zurück76. In den Debatten des Abgeordnetenhauses lieferte er sich Wortgefechte mit dem den Regierungsentwurf verteidigenden Finanzminister Johannes von Miquel, in denen bis heute nicht irrelevante Aussagen über das Verhältnis der Juristen zum Steuerrecht aufscheinen77. Die Regierungsvorlage zum Einkommensteuergesetz hatte noch einen eigenen Steuergerichtshof vorgesehen78. Dieser sollte sich aus nebenamtlichen Mitgliedern, nämlich Beamten des Finanzministeriums sowie Richtern des KG und des Preußischen OVG, zusammensetzen79. Gneist setzte sich durch, das OVG wurde auch Steuergericht. Enumerativ war ihm im Bereich des Steuerrechts die Zuständigkeit einerseits für die Gemeindeabgaben durch das KAG von 189380, andererseits als Folge der Miquelschen Steuerreform von 189181 für die Einkommen-82, die Ergänzungs-83 und die Gewerbesteuer84 zugewiesen. Hinzu kamen noch Zuständigkeiten in Bezug auf Kirchensteuern85. Auch Streitigkeiten hinsichtlich anderer, d.h. nichtsteuerlicher Geldleistungspflichten waren dem Gericht zugewiesen86. Als Oberbegriff für die Zuständigkeiten fungierte der Begriff der „streitigen Verwaltungssachen“, § 1 VVG vom 3.7.1875, d.h. Streitsachen über Ansprüche und Verbindlichkeiten aus dem öffentlichen Recht (so die Legaldefinition in § 1 VVG i.d.F. vom 2.8.1880). Zu beachten ist, dass der Steuerrechtsschutz in den Unterinstanzen im Steuerrecht charakteristisch vom übrigen Verwaltungsrecht abwich87. 1893 bis 1896 gingen jährlich mehr als 14.000 (!) Steuersachen, jedoch nur gut 2.000 andere verwaltungsrechtliche Streitsachen ein88. 1893 wurde eine eigene Entscheidungssammlung für „Staatssteuersachen“ eingerichtet, die bis 1922 in 19 Bänden erschien89. Dabei dürfte es sich weltweit um die erste Entscheidungssammlung in Steuersachen handeln, die freilich noch der wissenschaftlichen Erschließung harrt. 75 Larenz, DVBl. 1950, 691 (692 ff.); Pauly (Fn. 66), S. 62; einen Eindruck von der dadurch hervorgerufenen Unübersichtlichkeit gibt Bartels, Das Verfahren vor den VG, 1907. 76 Berner, JW 1925, 2401 (2402). 77 Stenographische Berichte über die Verhandlungen der beiden Häuser des Landtages, Haus der Abgeordneten, Bd. 2 vom 29.1.1891 bis 25.2.1891, 1891, S. 991 ff. 78 Pausch (Fn. 11), S. 16. 79 Näher Pausch, DStZ 1968, 281 (286 f.). 80 §§ 69 f. PrKAG 1893; dazu näher Bartels (Fn. 75), S. 61 ff. 81 Dazu ausführlich Thier, Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie, 1999. 82 §§ 43 ff. PrEStG 1891; vgl. auch Bartels (Fn. 75), S. 187 f. 83 §§ 33 ff. PrErgStG 1893; vgl. auch Bartels (Fn. 75), S. 188. 84 §§ 35 ff. PrGewStG 1891; vgl. auch Bartels (Fn. 75), S. 188 f. 85 Näher Bartels (Fn. 75), S. 189 f. 86 Stump (Fn. 46), S. 174 m.w.N. 87 Vgl. Stump (Fn. 46), S. 170, 120. 88 Pausch (Fn. 11), S. 16; weiteres statistisches Material bei Nöll, PrVerwBl. 22 (1900), 73 ff.; Pauly (Fn. 66), S. 62 ff. 89 Larenz (Fn. 75), 693.

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Zunächst stark steigender Geschäftsanfall in Steuersachen führte zur kontinuierlichen Erweiterung um neue Senate90. Diese Veränderung des Gerichts führte auch zu internen Spannungen91. Um die Jahrhundertwende nahm die Zahl steuerrechtlicher Streitverfahren wieder ab, womöglich wegen stärkerer Beachtung der vom Gericht entwickelten Grundsätze durch die Veranlagungsbehörden92. Der überaus starke Geschäftsanfall in steuerlichen Streitigkeiten ließ die Überlegungen, eine eigene Finanzgerichtsbarkeit zu errichten, nicht verschwinden. Mit Errichtung des RFH fielen die zuletzt drei Steuersenate (von dann sechs Senaten insgesamt) fort93. Zwei Senatspräsidenten und zwölf Richter wechselten nach München zum RFH94. Beim Preußischen OVG blieben – neben der Abarbeitung von Altfällen – die Zuständigkeiten für die Reichszuwachs-, die Grundvermögen- und die Gewerbesteuer erhalten. Die steuerliche Judikatur des Preußischen OVG wurde durchaus auch von dem  – freilich in der Summe eher spärlichen  – steuerrechtlichen Schrifttum beachtet95. Während seine Rechtsprechung zu anderen Gebieten wie dem Polizei-96 oder dem Vereins- und Versammlungsrecht97 aufgearbeitet ist und auch Querschnittsuntersuchungen vorliegen98, besteht hinsichtlich seiner steuerrechtlichen Entscheidungen nach wie vor ein Desiderat der Forschung.

IV. Steuerrechtsschutz im sozialen Rechtsstaat – Entstehung des Reichsfinanzhofs als Beginn eigenständiger Steuergerichtsbarkeit in Deutschland Am Anfang war die Umsatzsteuer99 – die Einführung einer eigenständigen Steuergerichtsbarkeit kann auf diese konkrete Veränderung in der Steuerrechtsordnung zu-

90 Berner (Fn. 76), 2402; Jesse in FG 50 Jahre Preußisches OVG, 1925, S. 1 (2 ff.); von Elbe, DVBl. 1950, 689 (690); Pauly (Fn. 66), S. 62 ff. 91 Vgl. Pausch (Fn. 79), 287 f. 92 Nöll, PrVerwBl. 22 (1900), 73 (77). 93 von Elbe (Fn. 90), 691. 94 Jesse (Fn. 90), S. 6. 95 Vgl. v.a. Haußmann, Der Rechtsgrundsatz der Gleichmäßigkeit im Preußischen Kommunalabgabenrecht und seine Verletzung als Ungültigkeitsgrund kommunaler Abgabenordnungen und Steuervereinbarungen, 1917; ferner Bühler in FG 50 Jahre Preußisches OVG, 1925, S. 29. 96 Stump (Fn. 46), S. 177 ff. 97 Wichardt, Die Rechtsprechung des Königlich Preußischen OVG zur Vereins- und Versammlungsfreiheit von 1875 bis 1914, Diss. iur., Kiel 1976. 98 Hempfer, Die nationalsozialistische Staatsauffassung in der Rechtsprechung des Preußischen OVG, Diss. iur., Berlin 1973; Pauly (Fn. 66) zur Methodik der Gesetzesauslegung; starke Berücksichtigung auch bei Remmert, Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen des Übermaßverbots, 1995; Held-Daab, Das freie Ermessen, 1996. 99 Vgl. auch Mersmann, StuW 1969, 26.

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rückgeführt werden100. Der Hauptakteur, Johannes Popitz101, hat eindrücklich geschildert, wie aus den Beratungen der von ihm erfundenen Umsatzsteuer der RFH hervorging102. Die „Geburtsstunde der Finanzgerichtsbarkeit in Deutschland“ war die Errichtung des RFH103. Im 19. Jh. hatte es bereits entsprechende Anläufe, eine eigene Finanzgerichtsbarkeit zu schaffen, gegeben104. Im Zuge der Revolution von 1848 wollte etwa Baden sog. Steuerschwurgerichte einführen, d.h. in der Rechtsmittelinstanz sollte durch Laienbeteiligung die Dominanz der (Steuer-)Verwaltung zurückgedrängt werden105. Der weitere Verlauf der Revolution verhinderte jedoch die Umsetzung dieses Plans; in Preußen wurden Laien in der Rechtsmittelinstanz ab der Mitte des Jh. gutachterlich beteiligt106. Noch in der Miquelschen Steuerreform 1891/93 in Preußen wurde die Einrichtung eines besonderen Steuergerichtshofs erwogen, schließlich wurde jedoch  – wie oben dargelegt  – das Preußische OVG als Rechtsmittelinstanz betraut107. Der Durchbruch einer eigenständigen Finanzgerichtsbarkeit am Ende der verfassungsgeschichtlichen Epoche des Konstitutionalismus ist zugleich vom Übergang vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat gekennzeichnet, denn schon im späten Kaiserreich, endgültig jedoch im Ersten Weltkrieg war ein Transformationsprozess bei den Staatsaufgaben mit Rückwirkungen auf die Staatsfinanzierung wirkmächtig108. Zwischen 1871 und 1918 nahmen – den zentral wahrgenommenen Aufgaben korres100 Zu dieser Einführung Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz, 3.  Aufl. 1928, S.  115  ff.; Franke, Die Geschichte der Reichts-Umsatzsteuer, Diss. rer. pol., 1941; Grabower/Herting/Schwarz, Die Umsatzsteuer, 2. Aufl. 1962; Birkenfeld, UR 1993, 321; Jacobs, DStZ 2006, 654. 101 Zu ihm Herzfeld in FS Hartung, 1958, S. 345; Dieckmann, Johannes Popitz, 1960; Bentin, Johannes Popitz und Carl Schmitt, 1972; Schulz, Der Staat 24 (1985), 485; Bödeker, Der Staat 24 (1985), 513; Voß, Johannes Popitz (1884-1945), 2006; Nagel, Johannes Popitz, 2015. 102 StuW 1928, 971 ff. 103 Herbert in Gräber, 8. Aufl. 2015, Vor § 1 FGO Rz. 1. 104 Zu anderen aus der (allgemeinen) Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgegliederten Streitentscheidungsinstanzen Nolte (Fn. 31), S. 39. 105 Gesetz v. 8.7.1848, die Aufstellung von Kataster und die Errichtung von Steuerschwurgerichten betreffend, RegBl., S.  229; Gesetz v. 12.2.1849, die Steuerschwurgerichte betreffend, RegBl., S. 71. 106 Zum Ganzen m.w.N. Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 13 ff.; Pausch in FS von Wallis (Fn. 21), S. 7 f.; zur Entwicklung der richterlichen Unabhängigkeit in finanzgerichtlichen Verfahren auch in historischer Perspektive Donner, Finanzgerichtsbarkeit und richterliche Unabhängigkeit, Diss. iur., Marburg 1971. 107 Thier (Fn. 81), S. 826 ff.; allgemein zur Entwicklung steuerlicher Rechtsbehelfe Jäger, Die Entwicklung des Rechtsmittelverfahrens des Steuerrechts vom 18.  Jahrhundert bis zum Erlass der Finanzgerichtsordnung v. 6.10.1965, Diss. iur., Marburg 1974; Hoffmann-Fölkersamb, Geschichte und Perspektiven des Rechtsbehelfsverfahrens auf dem Gebiet des Steuerrechts in Deutschland, 1991. 108 Vgl. allgemein Badura, Das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaates, 1967; ders., Verwaltungsrecht im liberalen und im sozialen Rechtsstaat, 1966.

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pondierend – Reichssteuern kontinuierlich in ihrer Bedeutung zu109. Das Reich war, im Gegensatz zu den Ländern, chronisch unterfinanziert, eine Entwicklung, die im Ersten Weltkrieg angesichts der gewaltigen Kriegsausgaben eskalierte110. Zunächst wurden die Reichsabgaben jedoch von den Ländern erhoben, erst im Krieg kam es zu frühen Ansätzen einer Reichssteuerverwaltung. Nicht nur der Steuervollzug war damit durch Ungleichheiten gekennzeichnet, auch der Rechtsschutz war unterschiedlich ausgestaltet, sei es, dass er über die ordentlichen Gerichte zum Reichsgericht, sei es, dass er über Formen der Administrativjustiz zum jeweiligen OVG oder Verwaltungsgerichtshof führte. Der RFH ging schließlich aus den Beratungen zum Umsatzsteuergesetz hervor, durch das Gesetz über die Errichtung eines Reichsfinanzhofs und über die Reichsaufsicht für Zölle und Steuern vom 26.7.1918111 geschaffen und gleichrangig neben dem Reichsgericht verankert112. Er nahm zum 1.10.1918 seine Arbeit in München auf und entfaltete in der Weimarer Republik bedeutsame Wirksamkeit113. Die offene Flanke der Finanzgerichtsbarkeit waren die unteren Instanzen, die noch nicht als voll unabhängige Gerichte ausgestaltet waren114. Das entsprach wiederum der Situation der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit der Zeit, nur dass die FG an die Finanzämter angegliedert waren115. Mit Art. 107 WRV gab es auch wieder eine verfassungsrechtliche Vorgabe für die (Verwaltungs-)Gerichtsbarkeit. Durch die neue Finanzgerichtsbarkeit sollte zugleich die Gleichmäßigkeit der Anwendung der Reichssteuergesetze gewährleistet werden116. Obgleich dies institutionell durchaus als Fortschritt gewertet werden konnte, prägte eine intensive Diskussion über Stellung und Unabhängigkeit der Instanzgerichte die Weimarer Jahre117. An dieser Stelle kann auf den Beitrag von Andreas Thier in dieser Festschrift verwiesen werden118.

109 Zur Finanzordnung insgesamt Hornschu, Die Entwicklung des Finanzausgleichs im Deutschen Reich und in Preußen, 1950; Höfler, Erzbergers Finanzreform und ihre Rückwirkung auf die bundesstaatliche Struktur des Reiches, Diss. phil., Freiburg 1955; Leidel, Die Begründung der Reichsfinanzverwaltung, 1964; Menges, Reichsreform und Finanzpolitik, 1971; zu den Steuern selbst Holtferich in Schultz (Hrsg.), Mit dem Zehnten fing es an, 1986, S. 200; Schulze, ebd., S. 209; Karsten, ZNR 1995, 60. 110 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, 1992/1998, S. 169 ff. 111 RGBl., 959. 112 Die Regelungen gingen in der RAO 1919 auf. 113 Vgl. insgesamt List in FS von Wallis, 1985, S. 15; BFH (Hrsg.), 60 Jahre BFH, 2010, S. 3 ff. 114 Als Überblick Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 37 ff. m.w.N. 115 Einzelheiten bei Koch, StuW 1922, 659. 116 Pausch (Fn. 79), 289. 117 Vgl. nur Strutz, JW 1921, 1565; Popitz, DJZ 1922, 276; Becker, StuW 1925, 547; Hensel, StuW 1927, 207; Leitzsätze des Deutschen Anwaltsvereins zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Steuersachen, StuW 1927, 161 mit Stellungnahmen von Engelhardt, Becker, Hensel und Marcuse; Engelhardt, StuW 1928, 971; Stellungnahme des Reichsverbands der akademischen Finanzbeamten zum Rechtsschutz im Steuerrecht, DStZ 1929, 22; Kraemer, JW 1929, 489; ferner Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 52. 118 Thier, Beginn des Steuerrechtsschutzes in der Weimarer Zeit, 1. Teil II.1.

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Entwicklung des Steuerrechtsschutzes in Deutschland

Steuerrechtsschutz ließe sich auch für die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft kontextualisieren. Das m.E. nach wie vor überzeugende Konzept Ernst Fraenkels, welches das Rechtssystem als einen aus Normen- und Maßnahmenstaat zusammengesetzten „Doppelstaat“ begreift119, dürfte auch für die Finanzgerichtsbarkeit gelten. Die Haltung insbesondere des RFH und auch der unteren Instanzen in der Zeit des Nationalsozialismus ist inzwischen durchaus erforscht; insoweit wird auf den Beitrag von Simon Kempny in dieser Festschrift verwiesen120.

V. Steuerrechtsschutz im Verfassungsstaat – Durchbruch einer ­vollausgebauten mehrinstanzlichen Steuergerichtsbarkeit unter dem BFH angesichts der Perfektionierung von Rechtsschutz Nach Gründung der Bundesrepublik gab es zunächst keinen einheitlichen Steuerrechtsschutz121. Die Finanzgerichtsbarkeit reihte sich ein in die Bemühungen zur Reorganisation der Justiz in der Besatzungszeit122. 1. Vom Reichsfinanzhof zum BFH „Der BFH ist in der Welt einzigartig. Ein oberstes spezialisiertes Steuergericht als Rechtsmittelgericht über einem Kreis von erstinstanzlichen, ebenso spezialisierten Gerichten, nachgeordnet nur dem Verfassungsgericht, gibt es in keinem anderen Staat“123. Die Ereignisgeschichte des unter dem Grundgesetz dann auf Art.  96 und 108 Abs. 6 beruhenden Übergangs vom RFH zum BFH über den zwischenzeitlichen Obersten Finanzgerichtshof wird in dieser Festschrift in einem eigenen Beitrag gewürdigt124. 2. Übergang von verwaltungsinternem zu gerichtlichem Rechtsschutz ­unterhalb der Revisionsinstanz Für die Kontextualisierung des Steuerrechtsschutzes entscheidender sind die Auswirkungen der neuen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung der Finanzgerichtsbarkeit insgesamt. Sowohl die Beteiligung von nicht mit voller richter119 Fraenkel, Der Doppelstaat, 1984 (erstmals erschienen 1941); zum Steuerwesen als Teil des „Normenstaates“ ebd., S. 108. 120 Kempny, Unrechtsurteile der NS-Zeit, 1. Teil II.2.; aus dem zeitgenössischen Schrifttum etwa Zitzlaff, StuW 1935, 991 und 1940, 185; vgl. aus der Lit. etwa Pausch (Fn. 11), S. 21 f.; List in FS von Wallis, 1985, S. 15; Kumpf in Diestelkamp/Stolleis (Hrsg.), Justizalltag im Dritten Reich, 1988, S. 81; ders. in FS 75 Reichsfinanzhof – BFH, 1993, S. 23 (36 ff.); Felix, BB 1993, 1297; Tipke, BB 1993, 1813; Franzen in FS Franz Klein, 1994, S. 1061; Rüping, NJW 2001, 3028; BFH (Fn. 113), S. 9 ff.; Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 53 ff. 121 Herbert (Fn. 102), Vor § 1 Rz. 1. 122 BFH (Fn. 113), S. 17 ff.; Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 68 ff., jeweils m.w.N. 123 Vogel (Fn. 1), S. 185. 124 Pfirrmann, Steuerrechtsschutz nach dem Zweiten Weltkrieg, 1. Teil II.3.; ferner BFH (Fn. 113), S. 17 ff.; Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 80 ff. m.w.N.

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licher Unabhängigkeit ausgestatteten Personen wie auch die Enumeration der Zuständigkeiten geriet sofort in Spannung zur Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4; 92 GG. Der Gesetzgebungsauftrag aus Art. 108 Abs. 6 GG führte über einige Umwege und Verzögerungen zur grundgesetzkonformen FGO125.

VI. Steuerrechtsschutz im offenen Verfassungsstaat – nationale und ­supranationale Kontexte Das Grundgesetz hat, mehr als jede Verfassung davor, das gesamte Rechtsschutzsystem geprägt und überformt126. Zum einen wurde Rechtsschutz insgesamt durch Art. 19 Abs. 4 GG aktiviert und gefördert und durch die Monopolisierung der Rechtsprechungsfunktion bei unabhängigen Richtern auch die Reste von Administrativjustiz beseitigt127; zum anderen bewirken die Konstitutionalisierungstendenzen in der gesamten Rechtsordnung und das Hinzutreten einer voll ausgebauten und selbstbewussten Verfassungsgerichtsbarkeit  – und eines unionalen Gerichtshofs  – eine Mehrdimensionalität von Rechtsschutz im Wechselspiel von Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit bzw. Unionsgerichten. Darauf soll hier der kontextuelle Fokus liegen. 1. Steuerrechtschutz angesichts einer umfassenden Verfassungs­ gerichtsbarkeit und der damit verbundenen Konstitutionalisierung der Steuerrechtsordnung Den größten Impuls hat das Steuerrecht unter der Geltung des Grundgesetzes durch die Aktivierung der Verfassung, insbesondere ihrer Grundrechte, in Bezug auf Besteuerungsvorgänge und hier v.a. auf Steuergesetze erfahren. Beginnend mit der Entscheidung zum Ehegattensplitting von 1955128 und mit durchaus schwankender Intensität wurden vorrangig der allgemeine Gleichheitssatz aber auf Freiheitsrechte sachbereichsspezifisch als Prüfungsmaßstäbe entfaltet und angewendet129. Für unse125 Vgl. näher Salzwedel, Rechtsstaat im Steuerrecht, in: Felix (Hrsg.), Vom Rechtsschutz im Steuerrecht, 1960, S. 1 ff.; BFH (Fn. 113), S. 36 ff.; Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 81 ff. (95 ff.). 126 Vgl. nur Heyde in Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HVerfR, 2. Aufl. 1994, § 33; Papier in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, §§ 176 f.; auf die Finanzgerichtsbarkeit bezogen BFH (Fn.113), S. 22 f. (36 ff.). 127 Vgl. außerhalb des Steuerrechtsschutzes etwa BVerwG v. 13.6.1959 – I C 66/57, BVerwGE 8, 350, wodurch die Beschwerdekammern des Bundespatentamtes zum BPatG umgeformt und ausgelagert wurden. 128 BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 = BStBl. I 1957, 193 = BB 1957, 208 = NJW 1957, 417 = FamRZ 1957 = 82 = JZ 1957, 268 = WM 1957, 359. 129 Darstellung von Phasen der steuerverfassungsrechtlichen Judikatur etwa bei Waldhoff, JöR 59 (2011), 119 (130  ff.); steuerverfassungsrechtliche Entscheidungen stellen quan­ titativ einen Schwerpunkt der Karlsruher Rechtsprechung dar, vgl. die Angaben bei ­Waldhoff, Die Verwaltung 48 (2015), 85: zwischen 2008 und 2014 waren etwa 12 % der in der amtlichen Entscheidungssammlung abgedruckten Entscheidungen steuerlichen Ursprungs.

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re Fragestellung sind die Auswirkungen dieser Entwicklung auf den Rechtsschutz entscheidend und zwar das Zusammenspiel von Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit130. Die Sicherung der Einhaltung verfassungsrechtlicher Maßstäbe war seit 1949/51 nicht beim BVerfG monopolisiert, wegen der umfassenden Geltung der Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG und des Verfassungsrechts insgesamt hat auch jedes FG und der BFH entsprechend zu judizieren131. Verfassungsrechtliche Maßstäbe werden damit potentiell in jedem Steuerstreitverfahren virulent. Die Verfassungsgerichtsbarkeit als anders gearteter Rechtsprechungsebene wird jedoch erst durch ihre Zuständigkeiten und das Verfassungsprozessrecht aktuell: In jeder Lage des Finanzprozesses hat jeder Richter und jedes Gericht die Verfassungskonformität des entscheidungserheblichen Steuergesetzes zu prüfen und ggf. den Weg des Vorlageverfahrens zu wählen; gegen letztinstanzliche steuergerichtliche Entscheidungen steht dem unterlegenen Bürger die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde offen. Dieses Verhältnis ist treffend mit den Schlagworten von der „Aufgabenparal­lelität“ und der „Aufgabensubsidiarität“ einzufangen versucht worden132. Vor der Fragestellung der Entwicklung des Steuerrechtsschutzes ist klar, dass ein solches institutionelles Arrangement die Prozessführung verändert und zu zahlreichen strategischen oder taktischen Möglichkeiten einlädt. Für das hiesige Fragestellung überschreitende  Verhältnis von Steuerrecht und Verfassung kreist die Diskussion im Jubiläumsjahr um die Frage nach Chancen und Gefahren, d.h. nach dem rechten Maß für die Konstitutionalisierung der Steuerrechtsordnung133. 2. Steuerrechtsschutz und europäische Integration Neben dem ausgeprägten Grundrechtsschutz und neben der verfassungsrechtlichen Aktivierung des gesamten Rechtsschutzsystems ist die Öffnung des Staates zum verfassungsrechtlichen Signum der Bundesrepublik geworden – Die Redeweise von der „offenen Staatlichkeit“ ist heute ubiquitär134. Für das Steuerrecht steht hier die Überlagerung durch Unionsrecht ganz im Vordergrund. Im hiesigen Kontext ist das Zusammenspiel zwischen dem (Steuer-)Rechtsschutz auf europäischer und auf nationaler Ebene zu fokussieren. Damit sind weniger die Einwirkungen des Unionsrechts auf 130 Vgl. etwa Schlaich/Korioth, Das BVerfG, 10. Aufl. 2015, Rz. 19 ff. 131 Vgl. nur BVerfG v. 26.1.1978 – 1 BvR 1200/77, BVerfGE 47, 144 (145) = DÖV 1978, 251 = NJW 1978, 1150; v. 18.12.1984 – 2 BvL 22/82, BVerfGE 68, 337 (344 f.); v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107, 395 (414) = MDR 2003, 886 = BRAK 2003, 177 m. Anm. Kirchberg = FamRZ 2003, 995. 132 Schlaich/Korioth (Fn. 130), Rz. 20. 133 Vgl. etwa aus neuerer Zeit Droege, StuW 2011, 105; ders., Eigenheiten der Steuerrechtswissenschaft, 2016; Hey, StuW 2015, 3; Seiler, VVDStRL 75 (2016), S.  333; Waldhoff, ­Demokratie und Freiheit im bundesrepublikanischen Steuerstaat: Finanz- und steuerverfassungsrechtliche Diskurse 1949 bis 2017, erscheint 2018 in einem von Huhnholz herausgegebenen Sammelband der Reihe „Staatsverständnisse“. 134 Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass begriffsprägend hier ein bedeutender Steuerrechtler war: Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, Begriff S. 33; Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998; Rückkopplung auch zum Steuerrecht ders. in FS Vogel, 2000, S. 3.

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das finanzgerichtliche Verfahren, also auf die FGO gemeint135; entscheidend ist, dass mit dem EuGH eine weitere Gerichtsbarkeit für alle diejenigen steuerrechtlichen Streitigkeiten zur Verfügung steht, die im Zusammenwirken mit der mitgliedstaatlichen (Finanz-)Gerichtsbarkeit die unionsrechtlichen Fragen letztverbindlich klärt. Für die FG besteht nach Art. 267 AEUV die Möglichkeit der Vorlage, für den BFH die Pflicht, wenn die Auslegung entscheidungsrelevanten Unionsrechts in Rede steht. Das kann nach Ansicht des EuGH sogar zur Dispensation des FG von Beurteilungen durch den BFH führen, sofern es um die Auslegung von Unionsrecht geht136. Der entscheidende Unterschied zur nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit im Steuerrechtsschutz ist, dass weder das Vorabentscheidungsverfahren noch das Vertragsverletzungsverfahren zum Individualrechtsschutz gerechnet werden können. Der Steuerpflichtige kann nicht selbst Rechtsschutz in Luxemburg suchen, er ist auf die Vorlagebereitschaft der FG angewiesen137. Auf der anderen Seite ist der Versuch, den EuGH zu aktivieren gegenüber dem „Gang nach Karlsruhe“ oftmals deshalb attraktiver, weil in aller Regel sehr viel schneller eine Entscheidung zu erwarten ist.

VII. Conclusio Die große Linie der Kontextualisierung des Steuerrechtsschutzes könnte als Erzählung erfolgen, die Steuerstreitigkeiten mit dem Aufkommen früher Formen und Vorformen von Rechtsschutz gegen die Obrigkeit entstehen lässt, sie im konstitutionellen Zusammenhang des 19. Jh. als Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit auffasst um ab 1918 zum Ausbau eines eigenen Finanzrechtswegs fortzuschreiten. Unter dem Grundgesetz verändert die Finanzgerichtsbarkeit ihre Funktionsweise durch die Einbindung in den Zusammenhang von Verfassung und europäischer Integration, indem neue „Mitspieler“ im Projekt des Steuerrechtsschutzes  – das BVerfG und der Europäische Gerichtshof  – auf den Plan treten und zu einer bisher unbekannten Mehrdimensionalität des Rechtsschutzes führen. Was bedeutet der hier verfolgte Kontextualisierungsansatz für den BFH im Jubiläumsjahr 2018? Verstehen wir ihn anders oder besser? Der BFH dürfte das weltweit spezialisierteste Steuergericht überhaupt sein. Er knüpft an die Entscheidung der Entwicklung von Rechtsschutz in Deutschland an, eine eigene Finanzgerichtsbarkeit zu installieren. In seinen Kompetenzen und in seiner Funktion ist er Ausfluss des durch das Grundgesetz und dort vorrangig durch die Art. 19 Abs. 4; 92; 96 ff.; 108 Abs. 6 entscheidend bestimmten Rechtsschutzsystems, das nicht nur zu lückenlosem und effektivem Rechtsschutz in voller richterlicher Unabhängigkeit geführt hat, sondern zu einer wiederum im diachronen wie synchronen Vergleich einzigartigen Verzahnung von Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit. Seit einigen Jahren, ja Jahrzehnten tritt die europarechtliche Überlagerung auch auf Ebene des Rechtsschutzes hinzu. 135 Dazu etwa Wernsmann, in Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 3. Aufl. 2015, § 30 Rz. 140 ff. 136 EuGH v. 16.1.1974 – 166/73, Slg. 1974, 33 u.a. 137 Fehling in Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, 2015, Rz. 23.41.

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1. Teil Geschichte des Rechtsschutzes in Deutschland … B. I.

Beginn des Steuerrechtsschutzes in der Weimarer Zeit Von Andreas Thier

Inhaltsübersicht I. Einleitung

IV. Die Entstehung des Reichsfinanzhofs

II. Traditionen des Steuerrechtsschutzes in Mitteleuropa

V. Zur Entstehung der Finanzgerichtsbarkeit in Deutschland seit 1919

III. Regelungsansätze eines zentralstaatlichen Steuerrechtsschutzes im Kaiserreich

VI. Schlussbemerkung

I. Einleitung Am 31. Juli 1918 wurde das auf den 26. Juli 1918 datierte „Gesetz über die Errichtung eines Reichsfinanzhofs und über die Reichsaufsicht für Zölle und Steuern“ publiziert1. Gemeinsam mit der „Bekanntmachung, betreffend den Sitz des Reichsfinanzhofs“ vom 8. August 19182 und mit der „Bekanntmachung, betreffend den Erlaß e­iner Reichsfinanzhofordnung“ vom 21. September 19183 bildete dieses Gesetz die Grundlage für die Tätigkeit einer Institution, die, wie es in § 1 hieß, „für Reichsabgabensachen“ als „oberste Spruch- und Beschlußbehörde“ wirken und dabei den „Namen ‚Reichsfinanzhof ‘“ führen sollte. Zum gesetzlich vorgesehenen Eröffnungstermin, am  1. Oktober 1918, nahm der Reichsfinanzhof unter seinem ersten Präsidenten ­Gustav Jahn (1862–1940)4 seine Tätigkeit auf5. Gustav Jahn war es auch, der im Rückblick eine sehr pointierte Beschreibung wesentlicher Momente für die Entstehung des Reichsfinanzhofs formulierte. Denn, so erklärte Jahn in seinen Lebenserinnerun1 RGBl. 1918, 959. 2 RGBl. 1918, 1062. 3 RGBl. 1918, 1119. Zu dieser Verfahrensordnung in der Übersicht (Richard) Kloß, Deutsche Juristen-Zeitung 23 (1918), 673. 4 Johann Heinrich Kumpf, StVj 1990, 199, ders. in FS 75 Jahre RFH–BFH, S. 23. 5 Knappe Hinweise zu der eher nüchtern gehaltenen Eröffnungszeremonie bei Heinrich List in FS von Wallis, S. 15 (16). Näher die Schilderung in den Memoiren von Gustav Jahn, der im Rückblick auf die Eröffnungszeremonie nüchtern feststellte, das Auditorium seiner Eröffnungsansprache habe „aus noch nicht zehn Personen“ bestanden; Kumpf (Fn. 4), S. 27 m. Anm. 33 (Eintrag aus den Lebenserinnerungen Jahns v. 9.6.1938).

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Andreas Thier

gen6, wesentlich sei die Überlegung gewesen, „daß (,) wenn auf der einen Seite den Bürgern immer höhere Steuern auferlegt werden müßten, die Bürger auf der anderen Seite einer Garantie bedürften, daß die Gesetze im ganzen Reich einheitlich angewandt und sie in der Lage sein würden, sich gegen Willkürlichkeiten und vermeidbare Härten in der Auslegung durch die Veranlagungs- und Erhebungsbehörden zu schützen“7. Schlaglichtartig treten in dieser Aussage mehrere historische Entwicklungslinien zutage, die, wie man vielleicht sagen könnte, in der Errichtung des Reichsfinanzhofs ihre institutionelle Verdichtung fanden: Mit dem Zusammenhang zwischen der Erhöhung der Abgabenlast und der Begründung justizförmiger Garantien des Steuerrechtsschutzes ist ein Entwicklungselement der Steuerrechtsgeschichte angesprochen, das sich vor allem seit dem 19. Jahrhundert entfalten sollte (dazu unten II.). Zugleich verwies Jahns Erwähnung der angestrebten Einheitlichkeit der Rechtsanwendung auf Bestrebungen seit der Jahrhundertwende, die Vielfalt der Steuerrechtsanwendung durch zentrale Instanzen zu begrenzen und damit ein Stück des deutschen Steuerföderalismus einzuschränken (näher dazu unten III.). In der Errichtung des Reichsfinanzhofs sollte sich zudem auch eine bemerkenswert starke steuerrechtspolitische Gestaltungsmacht des deutschen Parlaments verwirklichen (dazu unten IV.). Freilich war die hieraus und dann in der Zeit der Weimarer Republik entstehende Finanzgerichtsbarkeit nur begrenzt auf den individualrechtlichen Steuerrechtsschutz ausgerichtet (dazu unten V.).

II. Traditionen des Steuerrechtsschutzes in Mitteleuropa Die Entstehung des sog. „Steuerstaates“ im Übergang zur Frühen Neuzeit, der seine Einnahmen mehr und mehr aus Steuern (anstatt aus Domänen) zog8, und die da­ raus  resultierende Formierung des „Finanzstaates“ seit etwa dem 17.  Jahrhundert, der  gekennzeichnet ist durch die Ausformung einer hoheitlichen Finanzbürokratie9, hat offensichtlich auch erste Ansätze eines Steuerrechtsschutzes hervorgebracht. 6 Knappe Hinweise zu dieser Quelle bei Kumpf (Fn. 4), S. 23. 7 Gustav Jahn, Lebenserinnerungen, Eintragung v. 14.12.1938, abgedruckt bei Kumpf (Fn. 4), S. 24 f. 8 Klassisch: Joseph A. Schumpeter, Die Krise des Steuerstaates (1918), wieder abgedruckt in Hickel (Hrsg.), Die Finanzkrise des Steuerstaats. Beiträge zur politischen Ökonomie der Staatsfinanzen, 1976, S. 329; für die Perspektive des Staatsrechts: Josef Isensee in FS Hans Peter Ipsen, 1977, S. 409. Allgemein zu Konzepten und zur Begriffsgeschichte, die bis zum ausgehenden 19.  Jahrhundert zurückreicht: Werner Heun in Sacksofsky/Wieland (Hrsg.), Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, 14), 2000, S. 10 (11–15), Florian Schui in Becker (Hrsg.), Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20.  Jahrhunderts, 2010, S.  107. Sehr konzise Übersicht zur Tradition der Steuerstaatsdiskurse bei Hans-Peter Ullmann, in Aus Politik und Zeitgeschichte 10–11/2013, online verfügbar: . 9 S. etwa Richard Bonney in ders. (Hrsg.), The Rise of the Fiscal State in Europe, c. 1200–1815, 1999, ND 2004, S. 1 (1–2, 12–14) m.w.N.; für einen Überblick zu den entsprechenden Debatten s. etwa Mark Spoerer in Cardoso/Lains (Hrsg.), Paying for the Liberal State. The Rise of Public Finance in Nineteenth-Century Europe, 2010, S. 103 (127 f.); Andreas Thier, StuW

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Beginn des Steuerrechtsschutzes in der Weimarer Zeit

Er konnte sich manifestieren in der Form eines gerichtsförmigen Verfahrens insbesondere auf der Ebene von Reichskammergericht10 und Reichshofrat11, er wurde aber auch und gerade greifbar in der Rolle des landständischen Steuerbewilligungsrechts. Denn zumindest in der Theorie schützte die Abhängigkeit der Steuererhebung von der Zustimmung der Landstände die Herrschaftsunterworfenen davor, dass, wie es ein Beobachter des Jahres 1588 formulierte, nach der „fürsten freihenen will unnd schlechten arbitrio… stewer ihres gefallens & pro libito auff zulegen“12. Diese individualrechtliche Schutzrichtung des Steuerbewilligungsrechts fand ihre Fortsetzung im frühkonstitutionellen Steuerverfassungsrecht des 19.  Jahrhunderts: Der Gesetzesvorbehalt für die Steuererhebung – umgesetzt durch sog. „Auflagengesetze“ – begrenzte die Herrschaftsmacht der Steuerverwaltung und sicherte zugleich die Mitwirkungsbefugnis der Parlamente bei der Entscheidung über Steuern, die damit ihrerseits regelrecht zum Schutzgaranten der Steuerpflichtigen gegenüber willkürlichen, übermäßigen Abgabenforderungen durch die in der Regel monarchische Verwaltung wurden13. Der Steuerrechtsschutz verwirklichte sich insofern also in ers 2014, 77 (77–79); s.a. Peter Rauscher, Andrea Serles, Thomas Winkelbauer in dies. (Hrsg.), Das „Blut des Staatskörpers“: Forschungen zur Finanzgeschichte der Frühen Neuzeit (Historische Zeitschrift, Beihefte, n.F. 56), 2012, S. 3 (7–9). 10 Alfon Pausch in FS von Wallis, S. 3 (4–7), mit der nach wie vor gültigen Feststellung, es sei „eine von der Steuerrechtswissenschaft noch nicht in Angriff genommene Aufgabe, die Bedeutung des Reichskammergerichts … für die Entwicklung des Steuerrechts im einzelnen (sic) herauszuarbeiten“ (a.a.O., 6 f.); diese Feststellung gilt auch und gerade für die allgemeine Rechtsgeschichte. Grundlegend in diese Richtung aber Winfried Schulze in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 3–22 (v.a. 7–9, 14–19). 11 Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, 1942, Nd. 1970, online , S.  34  f.; für ein praktisches Beispiel s. die Dokumentation eines Rechtsstreits zwischen der Ritterund Landschaft Mecklenburg gegen die Herzöge von Mecklenburg-Schwerin 1672–1711, in Sellert (Hrsg.), Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, Serie II: Antiqua, Bd. 4: Karton 278–424, 2017, S. 242–246 m. Nr. 486; allgemein zum Reichshofrat aus jüngerer Zeit etwa Siegrid Westphal in Auer/Ogris/Ortlieb (Hrsg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, 2007, S. 115. 12 Modestinus Pistoris, Simon Pistoris, Consilia sive Responsa, Bd. 2: Ea continens, quae nomine Collegij Iuridici Lipsiensis conscripsit, 1588, das Exemplar der BSB München - Sign.: 12540329 Regensburg, Staatliche Bibliothek  – 999/2Jur.11(2)  – online verfügbar , hier consilium 9, nota 50, S. 106; dazu Andreas Thier in Kube/Reimer (Hrsg.), Entwicklungslinien der Finanzverfassung, 2016, S. 5, online verfügbar: , hier 11 f.; die dort (S. 11) angegebene Jahreszahl „1599“ beruht auf einem Tippfehler und ist zu berichtigen. S.  weiterhin Andreas Schwennicke, ‚Ohne Steuer kein Staat‘. Zur Entwicklung und politischen Funktion des Steuerrechts in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches (1500–1800), 1996, S. 64 m. Fn. 182. 13 Zu diesem Schutzkonzept: Horst Dreier in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, 1998, S. 59 (69 f.); Klaus Oechsle, Die steuerlichen Grundrechte in der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte, zugleich eine Untersuchung über das historische Verhältnis von Steuerverfassungsrecht und Finanzwissenschaft, 1993, S. 59 f.; Thier, (Fn. 12), S. 14 f.; ders., Steuergesetzgebung und Verfassung

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ter Linie auf der Ebene der Steuergesetzgebung. Das zeigte sich etwa in Preußen in der jahrzehntelangen Auseinandersetzung um die liberale Forderung, die, wie es etwa 1879 formuliert wurde, „Erhebung der Einkommen- und Klassensteuer nach alljährlich durch den Staatshaushaltsetat festzustellenden Monatsraten“ zu regeln14 und damit die Veranlagungsmacht der Steuerverwaltung zu begrenzen. In gewisser Weise die Kehrseite solcher Schutzkonzeptionen bildete bis zum letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts die Ausgestaltung des Individualrechtsschutzes gegen die Steuerveranlagung. Denn, so hat Georg Strutz (1861–1929), Senatspräsident am Reichsfinanzhof und einer der besten Kenner insbesondere des preußischen Verwaltungsrechts15, 1928 plastisch formuliert, lange „hielt die Staatsgewalt andere Beschränkungen ihrer Verfügungsmacht, als durch die Gesetzgebung selbst, und im Verfassungsstaate, durch die parlamentarische Kontrolle am wenigstens für sie tragbar“16. Deswegen war der steuerrechtliche Individualrechtsschutz ursprünglich sehr schwach ausgeprägt und verwirklichte sich nicht über gerichtsförmige Institutionen. Teilweise wurden stattdessen die Steuerpflichtigen selbst in die Veranlagung eingebunden. So hieß es etwa im preußischen Gewerbesteuergesetz von 1820, es sei „zur Erleichterung der Gewerbe angemessen… daß den Steuerpflichtigen selbst bei der Vertheilung der Steuer so viel möglich eine Einwirkung gestattet werde“17. Das bedeutete konkret, dass die Steuererhebung innerhalb von als „Gesellschaften“ bezeichneten „Steuer-Abtheilungen“ erfolgte, die nach „Maaßgabe der Wohlhabenheit und Gewerbsamkeit“ gebildet wurden und die einen entsprechend definierten Steuersatz aufzubringen hatten. Jenseits dieses ständisch-korporativen Erhebungsmechanismus18, in dessen Vollzug die „Gesellschaften“ ihrerseits sog. „Abgeordnete“ für die „Vertheilung der Steuer unter sich“ wählten, standen allerdings lediglich die Bezirksregierung und in letzter Instanz das Finanzministerium19, ohne dass dabei den Steu-

in der konstitutionellen Monarchie. Staatssteuerreformen in Preußen 1871–1893, 1999, S.  674  f.; s.a. Reinhard Mußgnug in Jeserich/Pohl/von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, 1983, S. 95 (104). 14 Vorschlag Robert von Bendas, Vorsitzender der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses, Stenographische Berichte des preußischen Hauses der Abgeordneten, 13.  Legislaturperiode, 3. Session, 1878/79, Anlagen, Bd.  2, Nr.  220, S.  1443–1471, 1443. Zum Kontext Thier, Steuergesetzgebung (Fn. 13), S. 739–741. 15 Vgl. in der Übersicht den Eintrag „Strutz, Georg, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd117677558.html“ m.w.N. 16 Georg Strutz in FS von Schanz, Bd. II, 1928, S. 223 (234). 17 Gesetz wegen Entrichtung der Gewerbesteuersteuer, v. 30.5.1820, GS 1820, S.  147, hier § 26. Zu diesem Gesetz im Überblick Eckart Schremmer, Steuern und Staatsfinanzen während der Industrialisierung Europas: England, Frankreich, Preußen und das Deutsche Reich 1800 bis 1914, 1994, S. 129–131; klassisch Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 3. Auflage 1981, Nd. 1989, S. 600–602, sowie Rolf Grabower, Preußens Steuern vor und nach den Befreiungskriegen, 1932, S. 555–567. 18 Thier, Steuergesetzgebung (Fn. 13), S. 44. 19 Für einen Überblick zur dreigliedrigen Organisation der preußischen Steuer- und Finanzverwaltung nach 1808 s. Ulrike Metzger, Joe Weingarten, Einkommensteuer und Einkom-

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erpflichtigen eine Antragsbefugnis zugesprochen worden wäre20. Eine Rechtsweggarantie billigte die preußische Steuergesetzgebung den Steuerpflichtigen allerdings dort zu, wo ihnen eine Strafe wegen Steuerhinterziehung drohte. In diesem Fall, aber nur in diesem Fall21, konnten die Beschuldigten den Weg eines Gerichtsverfahrens wählen oder aber Rekurs gegen ein „Resolut“ des ermittelnden Steueramts bei der Bezirksregierung und schließlich beim Finanzministerium einlegen22. Auch bei den preußischen Personalsteuern waren seit deren ersten Anfängen 180823 in Form der Veranlagungskommissionen auf der untersten Ebene die Steuerpflichtigen durch gewählte Mitglieder dieser Organe stets an der Einschätzung der Steuern beteiligt24. In der preußischen Personalsteuerreform 185125 wurde diese Gestaltung des Veranlagungsverfahrens endgültig konsolidiert26: In den Veranlagungskommissionen für die klassifizierte Einkommensteuer waren die Steuerpflichtigen nunmehr zu zwei Dritteln durch gewählte Vertreter der Einkommensteuerpflichtigen der Stadt oder Gemeinde vertreten, das letzte Drittel wurde von Vertretern der Gemeindeoder Stadtvertretungen gestellt. Auch die Überprüfung der Steuerfestsetzung aufgrund von „Beschwerden und Reklamationen“ lag mit der „Bezirkskommission“ bei einem Gremium, in dem wiederum zwei Drittel der Mitglieder durch gewählte Steuerpflichtige des Bezirks und das letzte Drittel durch Mitglieder der Provinzialvertretung gebildet wurde. Gegen die Entscheidungen dieser Kommission fand „ein Rekurs nicht statt“, doch konnte der Finanzminister über „Beschwerden“ gegen die Bezirkskommissionen entscheiden. Die Veranlagungskommissionen der Klassensteuer wurden dagegen besetzt durch Personen, die „aus dem Gemeindevorstande und Mitgliedern, die von der Gemeindevertretung gewählt sind“, bestand. Die Ent-

mensteuerverwaltung in Deutschland. Ein historischer und verwaltungswissenschaftlicher Überblick, 1989, S. 82–86. 20 Die Zitate aus dem Gewerbesteuergesetz (vgl. Fn. 17), §§ 26, 28 sowie Beilage B, Nr. 1. Zur Position der Regierungen und des Finanzministeriums s. § 31 des Gewerbesteuergesetzes. 21 Anders offenbar Peter Linzbach, Der Werdegang der preußischen Einkommensteuer unter besonderer Berücksichtigung ihrer kausalen Entwicklungsfaktoren, 1984, S.  145 (allerdings mit Bezug auf die gleichgelagerten Regeln zur Klassensteuer von 1820). 22 Vgl. § 42 Gewerbesteuergesetz i. V. m. Ordnung zum Gesetz wegen Versteuerung des inländischen Branntweins, Braumalzes, Weinmostes und der Tabakblätter, v. 8.2.1819, GS 1819, 102, hier § 93; dazu Deklaration des § 155 der Zoll- und Verbrauchssteuer-Ordnung vom 26sten Mai 1818 etc., betreffend die Provokation auf rechtliches Gehör in Defraudations-Fällen, v. 20.1.1820, GS 1820, 33. 23 Für einen Überblick für die Zeit bis 1851 s. etwa Linzbach, Werdegang (Fn. 21), 68–195. 24 Näher Peter Greim-Kuczewski, Die preußische Klassen- und Einkommensteuergesetzgebung im 19. Jahrhundert. Eine Untersuchung über die Entwicklungsgeschichte der formellen Veranlagungsvorschriften, 1990, S. 259 m. Abb. 3, S. 262 m. Abb. 6, S. 271 m. Abb. 13. 25 Hans Teschemacher, Die Einkommensteuer und die Revolution in Preußen. Eine finanzwissenschaftliche und allgemeingeschichtliche Studie über das preußische Einkommensteuerprojekt von 1847, 1912, S. 70–72. 26 Gesetz, betreffend die Einführung einer Klassen- und klassifizierten Einkommensteuer, v. 1.5.1851, GS 1851, 193.

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scheidung über Beschwerden lag in diesem Fall bei der Regierung27. In diesen Verfahrensgestaltungen schien also der starke Anteil der Selbstverwaltung die Abwesenheit eines gerichtlichen Rechtsschutzes ein wenig zu kompensieren. Wesentlich für die grundsätzliche Akzeptanz des schwachen Steuerrechtsschutzes war allerdings die vergleichsweise geringe Eingriffstiefe der Steuerveranlagung28. Denn der Gesetzgeber hatte nicht allein auf die Einführung von Offenlegungspflichten der Steuerpflichtigen verzichtet, für die klassifizierte Einkommensteuer, die alle Einkünfte ab 1000 Taler umfasste, galt darüber hinaus die Anordnung an die Veranlagungsorgane, es sei „jedes lästige Eindringen in die Vermögens- und Einkommensteuerverhältnisse zu vermeiden“29. 1880 hieß es deswegen auch in einem internen Memorandum des preußischen Finanzministeriums, „Die Warnung vor lästigem Eindringen in die Privatverhältnisse kann nur zur Oberflächlichkeit führen und trägt der angeblich dem germanischen Charakter eigenthümlich Scheu, anderen einen Einblick in die Privatverhältnisse zu gestalten, in unverdientem Maße Rechnung, denn diese Abneigung, seine Vermögensverhältnisse aufzudecken, beruht zu nicht geringem Theile auf dem ziemlich allen Nationen eigenthümlichen Widerwillen, Steuern zu zahlen“30. Es lag in der Konsequenz dieses Befundes, dass die Ausweitung des veranlagungsförmigen Zugriffs auf die Steuerpflichtigen die Frage nach dem Steuerrechtsschutz ungleich brisanter werden lassen musste. Das zeigte sich in der Tat im Zusammenhang mit der preußischen Steuerreform 1891/9331: Vor allem die preußische Einkom­ mensteuerreform32 war geprägt von der Einführung der Steuererklärungspflicht, die verbunden war mit vergleichsweise weitreichenden hoheitlichen Kontrollmöglichkeiten33, zu denen indirekt nicht zuletzt auch die Einführung einer – ebenfalls auf der Selbstdeklarationspflicht aufruhenden – Vermögensteuer in Form der sog. „Ergänzungssteuer“ 189334 zählte. Es war bezeichnend, dass in diesem Zusammenhang von linksliberaler Seite die „Quotisierung“ als zwingende Voraussetzung für die Steuerreform bezeichnet und eindringlich gewarnt wurde vor einer „Politik der Polizei, der

27 Vgl. §§ 26 Abs. 1, 3 sowie 31 und 10a des Gesetzes über die Klassen- und klassifizierte Einkommensteuer 1851 (Fn.  26). Knapper Überblick bei Greim-Kuczewski, Die preußische Klassen- und Einkommensteuergesetzgebung (Fn. 24), S. 117 m. Fn. 2, S. 277 m. Abb. 20. 28 Allgemein dazu Greim-Kuczewski, Die preußische Klassen- und Einkommensteuergesetzgebung (Fn. 24), S. 146 f., 164–166. 29 § 23 des Gesetzes über die Klassen- und klassifizierte Einkommensteuer 1851 (Fn. 26). 30 Denkschrift betreffend die Reform der direkten Steuern in Preußen, vorgelegt am 6.8.1880 an Finanzminister Bitter, GstA PK, I. HA Rep.  151 HB, Nr.  1681, fol. 77r–159r, hier 142v–143r; dazu Thier, Steuergesetzgebung (Fn. 13), S. 64 f. 31 Walter Mathiak, Das preußische Einkommensteuergesetz von 1891 im Rahmen der Miquel­ schen Steuerreform 1891/93: Vorgeschichte, Entstehung, Begleitgesetze, Durchführung, 2011; Thier, Steuergesetzgebung (Fn. 13), S. 432–642. 32 Einkommensteuergesetz v. 24.6.1891, GS 1891, 175. 33 Im Einzelnen Greim-Kuczewski, Die preußische Klassen- und Einkommensteuergesetzgebung (Fn. 24), S. 186–250. 34 Ergänzungssteuergesetz v. 14.7.1893, GS 1893, 134. Zur Entstehung Thier, Steuergesetzgebung (Fn.  13), S.  593–623; ders. in Tiley (Hrsg.), Studies in the History of Tax Law III, 2009, 73 (in einer historischen Längsschnittperspektive).

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Zurückdrängung der Rechte, auf die das Volk und seine Vertretung Anspruch hat“35. Doch die überkommene liberale Konzeption vom Budgetrecht als Schutzinstrument gegen den übermächtigen monarchischen Steuerstaat hatte zu diesem Zeitpunkt kaum mehr Anhänger. Das lag insbesondere daran, dass der federführende Staatsminister, Johannes Miquel (1828–1901)36, von vornherein eine Idee seines Amtsvorgängers aufgegriffen und die Begründung eines von der Finanzverwaltung unabhängigen, hälftig von Finanzbeamten und Mitgliedern des 1875 errichteten preußischen Oberverwaltungsgerichts37 besetzten Steuergerichtshofs vorgeschlagen hatte38. Der Ausweitung der steuerrechtlichen Handlungsmöglichkeiten sollte also eine Ausweitung des Steuerrechtsschutzes entsprechen, was die Kommission des Abgeordnetenhauses auch zur anerkennenden Feststellung veranlasste, „daß in der Schaffung des Steuergerichtshofes in seiner Zusammensetzung eine ausreichende Theorie gegen übermäßiges Hervortreten fiskalischer Tendenzen gegeben sei“39. Im weiteren Verlauf der Gesetzesberatungen rückte das Preußische Oberverwaltungsgericht an die Stelle des Steuergerichtshofs40, so dass auf diese Weise die Unabhängigkeit der Richter nochmals gesteigert und der Steuerrechtsschutz intensiviert wurde. Dem sollte dann auch die Judikatur des Oberverwaltungsgerichts in Steuersachen entsprechen, die jedenfalls bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in mehr als einem Drittel aller Fälle zu Gunsten der Steuerpflichtigen ausfiel41. Auf dieser Linie bewegten sich auch die Entwicklungen in vielen anderen deutschen Bundesstaaten, wo, wie etwa in Baden42, die obersten Verwaltungsgerichte43 den Steuerpflichtigen die Möglichkeit

35 Stenographische Berichte des preußischen Hauses der Abgeordneten, 17. Legislaturperiode, 3. Session, 1890/91, Verhandlungen Bd.  2, 40.  Sitzung v. 23.2.1891, S.  1039 (1042)  – Heinrich Rickert. Dazu auch Thier, Steuergesetzgebung (Fn. 13), S. 821. 36 Andreas Thier in Cordes/Lück/Werkmüller/Haferkamp/Schmidt Wiegand (Hrsg.), unter philologischer Mitarbeit von Bertelsmeier-Kierst, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. III, 2. Aufl. 2016, Sp. 1544. 37 Gesetz, betreffend die Verfassung der Verwaltungsgerichte und das Verwaltungsstreitverfahren, v. 3.7.1875, GS 1875, 375. Ulrich Stump, Preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit 1875 – 1914: Verfassung – Verfahren – Zuständigkeit, 1980. 38 Dazu der Entwurf des Einkommensteuergesetzes in: Stenographische Berichte preußisches Haus der Abgeordneten XVII/3 (Fn. 35), Anlagen, Bd. 1, Nr. 5, S. 201 (208, 239 f.). Zum Kontext und zur Entstehung Thier, Steuergesetzgebung (Fn. 13), S. 825 f. 39 Stenographische Berichte preußisches Haus der Abgeordneten XVII/3 (Fn. 35), Anlagen, Bd. 2, Nr. 75, S. 1251 (1277); dazu Thier, Steuergesetzgebung (Fn. 13), S. 826. 40 Thier, Steuergesetzgebung (Fn. 13), S. 827 f.; ders., (Fn. 12), S. 18 f. 41 Linzbach, Werdegang (Fn. 21), S. 225 m. Übersicht 8; s. a. Ferdinand Noll, Zur Geschichte des Oberverwaltungsgerichts, Preußisches Verwaltungsblatt 22 (1900), 73 (76  f.), sowie Pausch (Fn. 10), S. 9. 42 Metzger, Weingarten, Einkommensteuer (Fn. 19), S. 68 f.; dazu allgemein Ina Bauer in FS 150 Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2014, S. 33. 43 Zur Rechtsprechungspraxis der Verwaltungsgerichtsbarkeit bis 1914 im Zusammenhang des Individualrechtsschutzes allgemein nach wie vor grundlegend Ottmar Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, 1914, S. 261–506, wo allerdings aufgrund der anders gelagerten Erkenntnisinteressen die Rechtsprechung zum Abgabenrecht nicht im Zentrum steht.

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des gerichtlichen Steuerrechtsschutzes bot44. Diese Wechselbeziehung zwischen der Ausweitung von Steuerstaatlichkeit und dem Aufbau von Steuerrechtsschutz sollte auch bei der Entstehung des Reichsfinanzhofs wesentlich werden, auch wenn bald noch andere Faktoren hinzutreten sollten.

III. Regelungsansätze eines zentralstaatlichen Steuerrechtsschutzes im Kaiserreich In der föderalen Finanzverfassung des zweiten deutschen Kaiserreichs war für Reichssteuern ursprünglich nur wenig Raum45. Mit der Einrichtung von Zöllen und später weiteren Reichsabgaben übernahm das Reichsgericht die Funktion einer Rechtsschutzinstanz im Zusammenhang mit diesen Abgaben. Das geschah zunächst im Weg der faktischen richterlichen Selbstermächtigung durch eine, wie es ein informierter Beobachter formulierte, „rechtsschöpferische Tat des Reichsgerichts“46. Denn das Gericht legte den Tatbestand der „bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“ insbesondere in §  13 des GVG von 187747 dahin aus, dass bei „einem im Namen des Staates durch dessen Organ verwirklichten objektiv rechtswidrigen Eingriff in die individuelle Vermögensrechtssphäre“ des Betroffenen ein „Unrecht“ entstehe, das durch Restitution zu beseitigen sei und deswegen ein „Rechtsverhältnis zwischen dem Herangezogenen und dem Staate als Vermögensrechtssubjekten“ entstehen lasse48, zu dessen Entscheidung die ordentliche Gerichtsbarkeit aufgrund ihrer Unabhängigkeit von der Verwaltung aufgerufen sei49. Solche Überlegungen standen ganz in der in der Kontinuität des Konzepts vom „Justizstaat“50, in dem der gerichtliche Rechtsschutz gegen den Staat durch die im Vergleich zu den Verwaltungsgerichten ungleich unab-

44 Zusammenfassend Strutz (Fn. 16), S. 241–243, s. a. Wolfgang Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht. Ein Beitrag zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1991, S. 24–37; eine systematische Analyse steht allerdings noch aus. 45 Für einen Überblick s. Thier, Steuergesetzgebung (Fn. 13), S. 72 f. m.w.N.; grundlegend zur Finanzgeschichte des Reichs nach wie vor Wilhelm Gerloff, Die Finanz- und Zollpolitik des Deutschen Reiches nebst ihren Beziehungen zu Landes- und Gemeindefinanzen von der Gründung des Norddeutschen Bundes bis zur Gegenwart, 1913. 46 Walter Merk in FS 50 Jahre Reichsgericht, Bd. 4, 1929, Nd. 1983, S. 73 (74). 47 Gerichtsverfassungsgesetz v. 27.1.1877, RGBl. 1877, 41. 48 Grundlegend hierzu RG v. 2.2.1884 – Rep. I. 482/83, RGZ 11, 65 (70). 49 Vgl. RGZ 11, 65 (71); s. Anm.  48: Für die Entscheidung über Kontroversen über dieses Rechtsverhältnis und damit über „Vermögensrechtsstreitigkeiten“ seien die ordentlichen Gerichte selbst dann berufen, „wenn zur Entscheidung Normen des öffentlichen Rechtes anzuwenden sind“, seien doch diese Gerichte durch „ihre unabhängige Stellung, Rechtskenntnis und Übung in der praktischen Rechtsanwendung … die denkbar größte Garantie völlig objektiv gehaltener, sachgemäßer Entscheidung in solchen Fällen“. Die Hervorhebung entspricht dem Original. 50 Auf der gleichen Linie Merk (Anm. 46), S. 75. Die Kritik von Pausch (Fn. 10), S. 10, an der Argumentation des Reichsgerichts („von Anfang an problematisch“) ist in diesem Punkt etwas überspitzt.

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hängigeren ordentlichen Gerichte zu verwirklichen war51. Diese Rechtsprechung52 fand seit 1885 Eingang in die Reichsgesetzgebung53, die, wie etwa im Reichsstempelgesetz 191354, insbesondere bei Stempelabgaben den Weg zur ordentlichen Gerichtsbarkeit und damit zum Reichsgericht eröffnete; teilweise wurde allerdings auch auf die einzelstaatlichen Rechtsmittelbehörden verwiesen55. In der Folgezeit entschied sich der Gesetzgeber allerdings nicht dazu, das Reichsgericht insgesamt in die Position eines obersten Finanzgerichts zu versetzen. Das beruhte möglicherweise auf dem Umstand, dass der einzelstaatliche Steuerrechtsschutz, wie angedeutet, nicht selten bei den Verwaltungsgerichten angesiedelt war und der Sprung von hier aus zum Reichsgericht eher groß war. Bezeichnenderweise liefen seit etwa 1910 auch Bestrebungen zur Begründung einer Reichsverwaltungsgerichtsbarkeit, die allerdings nicht bis zur Einbeziehung des Steuerrechtsschutzes reichten56. Die Reichsleitung suchte stattdessen einen anderen Ansatz. Im Zusammenhang der seit 1908 einsetzenden Bemühungen um eine Neuordnung der Reichsfinanzen57 legte die Reichsleitung 1910 den Entwurf eines Zuwachssteuergesetzes vor58. Hiernach sollte der Wertzuwachs von Grundstücken besteuert werden, der sich im Zeitpunkt der Grundstücksveräußerung realisierte59, um so nicht zuletzt auch der Bodenspekulation entgegen zu steuern60. Die Gestaltung des Steuerrechtsschutzes verdeutlichte 51 Allgemein: Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd.  2, 1992, S. 240–243; näher Thomas Henne, Verwaltungsrechtsschutz im Justizstaat: das Beispiel des Herzogtums Braunschweig, 1832–1896, 1995, sowie Kohl, Reichsverwaltungsgericht (Fn. 44), S. 9–24. 52 Im Einzelnen die Übersicht bei Merk (Anm. 46), S. 75 f. 53 Vgl. Merk (Fn. 46), S. 77–79; die Angaben bei Pausch (Fn. 10), S. 10, der auf das Jahr 1906 verweist, sind in dieser Form korrekturbedürftig. 54 Gesetz v. 3.7.1913, RGBl. 1913, 544, hier § 110, wonach die Steuerpflichtigen auf den ordentlichen Rechtsweg verwiesen wurden, der grundsätzlich vor die Handelsgerichte und von hier über die Oberlandesgerichte für die Revision oder Beschwerde gegen oberlandesgerichtliche Entscheidungen zum Reichsgericht führen sollte. Zur Entstehung des Reichsstempelgesetzes s. Matthias H. Gehm, Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 126 (2009), 235 (244 f.). 55 Im Überblick Strutz (Fn. 16), S. 244 f.; s. a. Helmut Cordes, Untersuchungen über Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23. Dezember 1919, 1971, S. 94 f. 56 Kohl, Reichsverwaltungsgericht (Fn. 44), S. 107–160. 57 Rudolf Kroboth, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches während der Reichskanzlerschaft Bethmann Hollwegs und die Geld- und Kapitalmarktverhältnisse (1909–1913/14), 1986; Peter-Christian Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913. Eine Studie zur Innenpolitik des Wilhelminischen Deutschland, 1970, S. 199–327. Für einen instruktiven Überblick s. Hans-Peter Ullmann, Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen, 2005, S. 86–88. 58 Entwurf eines Zuwachssteuergesetzes v. 11.4.1910, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 12. Legislaturperiode, 2. Session 1911, Bd. 275, Nr. 374, S. 1 (2–16) (S. 1951, allerdings ohne Paginierung). 59 Dazu im Überblick die Begründung für den Entwurf eines Zuwachssteuergesetzes (vgl. Fn. 58), S. 17–24 (Grundlagen und Tatbestand der Steuerpflicht). 60 Dazu im Überblick: Kroboth, Finanzpolitik (Fn.  57), S.  383 m. Anm.  87. Zu Entstehung und Inhalten insgesamt näher Gerloff (Fn. 45), S. 496–500.

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allerdings noch einmal exemplarisch die unterschiedlichen Entwicklungspfade der einzelstaatlichen Gerichtsorganisation und die daraus resultierenden legislatorischen Problemstellungen: Grundsätzlich sollte die Veranlagung im Verwaltungsstreitverfahren überprüft werden können, doch sollten dort, wo diese Verfahren nicht bestanden, die ordentlichen Gerichte zuständig sein61. Damit war der Weg zum Reichsgericht faktisch ausgeschlossen, letztinstanzlich zuständig gewesen wären hiernach Instanzen der Bundesstaaten. Um gleichwohl eine einheitliche Anwendung des neuen Gesetzes zu gewährleisten, hatte die Reichsleitung dem Bundesrat die Befugnis zur authentischen Interpretation des Gesetzes zugeschrieben: Durch § 55 der Vorlage sollte nämlich der Bundesrat ermächtigt werden, „die zur Ausführung und An­ wendung dieses Gesetzes erforderlichen Bestimmungen“ zu erlassen, um auf diese Weise, so hieß es in der Begründung, „beim Mangel einer Zentralinstanz die Einheitlichkeit der Gesetzesanwendung zu sichern“62. Dadurch wurde der Bundesrat zu ­einem Steuerungsorgan der einzelstaatlichen Rechtspflege. Zugleich wurde seine verfassungsrechtlich auf die „Ausführung“ von Reichsgesetzen festgeschriebene Kompe­ tenz auf die Kontrolle von deren „Anwendung“ erweitert63, wie auch der Entwurf selbst zugestand. Aber, so hieß es hier, „Indem ihm [scil. dem Bundesrat] neben der Ausführung die Überwachung der Gesetzesanwendung übertragen ist, soll er durch Feststellung von Auslegungsgrundsätzen in einer die Gerichte bindenden Weise für eine einheitliche Veranlagung im ganzen Geltungsbereiche des Gesetzes Sorge zu tragen in der Lage sein, wenn in den Entscheidungen der höchsten gerichtlichen oder Verwaltungsinstanzen abweichende Rechtsmeinungen hervortreten“64. Es war wenig ­erstaunlich, dass der Reichstag dieser offensichtlichen Durchbrechung der Gewaltenteilung nicht zustimmte, stattdessen die Verordnungsermächtigung des Bundesrates zum Erlass von Regeln über die Gesetzesanwendung bereits in den Kommissionsberatungen strich und dafür die Verschiedenheit der einzelstaatlichen Rechtsschutzausgestaltungen in Kauf nahm65. Im Interesse der Gewaltenteilung verzichtete also der Reichstag für das Zuwachssteuergesetz66 – und in der Folgezeit auch für weitere Steu-

61 Vgl. §§ 36, 37 des Entwurfs und dazu die Begründung für den Entwurf eines Zuwachssteuergesetzes (vgl. Fn. 58), S. 30. 62 § 55 Abs. 1 des Entwurfs sowie Begründung für den Entwurf eines Zuwachssteuergesetzes (vgl. Fn. 58), S. 30. Die Hervorhebung entspricht nicht dem Original. Zu diesem Vorstoß s. a. die knappen Hinweise bei Strutz (Fn. 16), S. 244. 63 Vgl. Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 7 Ziff. 2, wonach der Bundesrat zuständig war für „die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen, sofern nicht durch Reichsgesetz etwas Anderes bestimmt ist“; Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches v. 16.4.1871, Bundesgesetzblatt für den Norddeutschen Bund, 1871, S. 83. 64 Begründung für den Entwurf eines Zuwachssteuergesetzes (vgl. Fn. 58), S. 46; die Hervorhebung entspricht nicht dem Original. 65 Vgl. dazu die Übersicht zu den Kommissionsbeschlüssen und den Plenarbeschlüssen zweiter Lesung, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 12. Legislaturperiode, 2. Session 1911, Bd. 278, Nr. 678, S. 3785 (3826 f.); s. weiterhin auch die Zusammenstellung der Beschlüsse dritter Lesung, a.a.O., Nr. 695, S. 3889 (v. 3892). 66 Zuwachssteuergesetz v. 14.2.1911, RGBl. 1911, 33.

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ergesetze des Reichs67 – auf die Gewährleistung von Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht. Erst als die Reichsleitung kurz vor Kriegsende noch einmal den Versuch unternahm, den Bundesrat zum Garanten der Rechtsanwendungsgleichheit zu machen, sollte sich ein anderes Konzept Bahn brechen, wie im Folgenden zu zeigen ist.

IV. Die Entstehung des Reichsfinanzhofs Im Zeichen der fortschreitenden und zunehmend dramatischeren kriegsbedingten Verschlechterung der Reichsfinanzen68 leitete die Reichsleitung im April 1918 dem Reichstag ein ganzes Bündel von Gesetzentwürfen zu, die auf eine weiträumige ­Erhöhung der Steuerlast zielten69. Doch schon bald sollte sich zeigen, dass der Reichstag dieser geradezu beispiellosen Ausweitung der Besteuerungsbefugnisse nicht vorbehaltlos zustimmen würde. Das galt umso mehr, als die Reichsleitung im Zusammenhang mit der geplanten Einführung einer Umsatzsteuer70 noch einmal den Versuch unternahm, dem Bundesrat die Kompetenz zu geben, „Grundsätze zur Auslegung der Vorschriften dieses Gesetzes (…) aufzustellen“, so dass der Bundesrat für eine „einheitliche Handhabung“ „zur authentischen Interpretation ermächtigt“ des künftigen Umsatzsteuergesetzes ermächtigt wurde71. Im Haushaltsausschuss des Reichstags, an den die Umsatzsteuergesetzvorlage am Ende der ersten Plenarberatung überwiesen worden war72, wurde deswegen auch durch die Zentrumsfraktion der Antrag gestellt, die Bevollmächtigung des Bundesrates zu streichen. Doch anders als in der Vergangenheit beließ es das Zentrum nicht hierbei, sondern schlug darüber hinaus vor, „durch die Errichtung eines Steuergerichtshofes eine einheitliche Durchführung der Reichssteuergesetze“ zu gewährleisten73. Zwar gelang es dem Vertreter des Bundesrates mit einiger Mühe, eine Abstimmung über die Beseitigung der Bun67 Dazu die Übersicht bei Strutz (Fn. 16), S. 244; eine detaillierte Analyse ist ein Desiderat der Forschung. 68 Übersicht bei Ullmann, Steuerstaat (Fn. 57), S. 88–96. Allgemein: Konrad Roesler, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, 1967. 69 Dazu das Übersendungsschreiben des Reichskanzlers v. 16.4.1918, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 13.  Legislaturperiode, 2. Session 1918, Bd. 324, Nrn. 1455–1466, hier S. 2168. 70 Zur weiteren Geschichte dieses Umsatzsteuergesetzentwurfs s. Gehm (Fn. 54), 253–258. 71 Entwurf eines Umsatzsteuergesetzes v. 16.4.1918, in: Stenographische Berichte Verhandlungen des Reichstages XIII/2 (vgl. Fn. 69), Bd. 324, Nr. 1461 (mit eigener Paginierung), hier § § 33 UstG-E sowie S. 44 der Begründung. 72 Vgl. Stenographische Berichte Verhandlungen des Reichstages XIII/2 (vgl. Fn. 69), Bd. 312, 153. Sitzung v. 25.4.1918, hier S. 4827 B. 73 Adolf Gröber, 239. Sitzung des Haushaltsausschusses des Reichstags v. 14.5.1918, in: Reinhard Schiffers/Manfred Koch/Hans Boldt (Bearb.), Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd.  4, 1983, S.  2156 (2158). Gröber bezog auf Antrag Nr.  657 der  Drucksachen des Haushaltsausschusses. Zur Biographie Gröbers s. den Eintrag in ­Datenbank der deutschen Parlamentsabgeordneten, unter „Gröber, Adolf “, .

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desratsbevollmächtigung zu vermeiden, doch konnte er nicht verhindern, dass der Antrag über die Errichtung des Steuergerichtshofs einstimmig angenommen wurde74. Es sollte diese Geschlossenheit zunächst des Haushaltsausschusses und dann auch des Plenums des Reichstags sein, die in der Folge wesentlich für die Durchsetzung der parlamentarischen Forderungen wurde, deren Konturen zugleich immer deutlicher wurden. Das zeigte sich bereits knapp drei Wochen nach der ersten Beratung des Zentrumsantrags, als im Haushaltsausschuss des Reichstags am 10. Juni 1918 erneut der Steuergerichtshof zum Thema der Debatte wurde: Der Vertreter des Bundesrats nämlich war zunächst lediglich bereit, den Steuergerichtshof für die Um­ satzsteuer wirksam werden zu lassen, erwartete aber hierfür und für einige andere Zugeständnisse, „daß der Reichstag die übrigen Steuervorlagen der Reichsregierung formell wie inhaltlich annehmen werde“75. Doch dem hielten die Vertreter des Zen­ trums, unterstützt von den anderen Fraktionen, entgegen, „Der Steuergerichtshof müsse für alle in Betracht kommenden Steuergesetze zuständig sein“, wobei „den Bundesstaaten ein Besetzungsrecht beim Steuergerichtshof “ zustehen sollte. Dazu trat noch das Postulat, der künftige Gerichtshof solle „nicht in Berlin, sondern in einer anderen Stadt seinen Sitz haben…, da der Häufung von Reichsstellen in Berlin endlich Einhalt geboten werden müsse“76. Kurze Zeit später erhöhte das Zentrum den Druck noch. Das geschah durch die – in der parlamentarischen Praxis der Zeit von Seiten einer Fraktion eher seltene  – Vorlage eines kompletten Gesetzentwurfs, der das Inkrafttreten der Steuergesetze an das Inkrafttreten des Gesetzes über den Reichsfinanzhof band77. In der Sache stimmten die anderen Fraktionen diesem Junktim in beiden Ausschusslesungen des Gesetzentwurfs zu, bei dessen Beratungen vor allem darüber gestritten wurde, in welchem Umfang Personen mit der Befähigung zum Richteramt oder für den höheren Verwaltungsdient an den Reichsfinanzhof sollten berufen werden dürfen, um dann als Kompromiss für die Hälfte der Mitglieder die Befähigung zum Richteramt festzusetzen78. Es entsprach der geradezu überwältigenden Einigkeit aller Fraktionen, dass die beiden Plenarberatungen über den Kommissionsentwurf sowie über den zur Finanzierung des Reichsfinanzhofs notwendigen Nachtragsetat und die ebenfalls notwendige Änderung des Besoldungsge74 Vgl. Schiffers/Koch/Boldt, Hauptausschuß (Fn. 73), S. 2159. 75 243. Sitzung v. 10. Juni, in: Schiffers/Koch/Boldt, Hauptausschuß (Fn. 73), S. 2170 (2171 – Graf Roedern, Staatssekretär des Reichsschatzamts). 76 243. Sitzung v. 10. Juni, in: Schiffers/Koch/Boldt, Hauptausschuß (Fn. 73), S. 2170 (2171 – Gröber; 2173 – Pfleger). 77 Dazu einerseits die Aufzeichnung der Diskussionen in der 259. Sitzung des Haushaltsausschusses v. 28.6.1918, in: Schiffers/Koch/Boldt, Hauptausschuß (Fn. 73), S. 2227 (2233), andererseits der förmliche Bericht über die Beratungen eines „Entwurf eines Gesetzes über die Errichtung eines Reichsfinanzhofs und über die Reichsaufsicht für Zölle und Steuern“ (Nr.  757 der Drucksachen des Haushaltsausschusses), in: Stenographische Berichte Verhandlungen des Reichstages XIII/2 (vgl. Fn. 69), Bd. 325, Nr. 1765, S. 2737. 78 263.  Sitzung des Haushaltsausschusses, v. 4.7.1918, in: Schiffers/Koch/Boldt, Hauptausschuß (Fn. 73), S. 2255 (2261–2263), 264. Sitzung des Haushaltsausschusses, v. 5.7.1918, a.a.O., S. 2263 (2263–2265); s. im Übrigen die Zusammenstellung der Ausschussbeschlüsse in: Stenographische Berichte Verhandlungen des Reichstages XIII/2 (vgl. Fn. 69), Bd. 325, Nr. 1765, S. 2737 (2746–2748).

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setzes mit je einstimmigen Annahmen der Vorlagen mit Bezug unmittelbar zum Reichsfinanzhof endeten79. So war es lediglich eine Formsache, dass auch die dritte Plenarberatung, am 12. Juli 1918, mit der einstimmigen Annahme der unverändert gebliebenen Vorlage endete80, nachdem zuvor der Bundesratsbevollmächtigte die Situierung des neuen Gerichts in Süddeutschland angekündigt hatte81. Die Ausfertigung des Gesetzes über den Reichsfinanzhof zwei Wochen später82 besiegelte den Erfolg des Reichstagshandelns und belegte dabei nicht zuletzt auch, dass und wie sehr der Reichstag im Vergleich zu den ersten Jahren des Kaiserreichs seine Position gegenüber der Reichsleitung hatte ausbauen können83.

V. Zur Entstehung der Finanzgerichtsbarkeit in Deutschland seit 1919 Etwas weniger als ein Jahr nach der Begründung des Reichsfinanzhofs setzte unter der Ägide von Matthias Erzberger (1875–1921)84 eine gewaltige Transformation der deutschen Finanzverfassung ein85, die mit der 1919 erlassenen Reichsabgabenordnung86 auch Konsequenzen für die Ausgestaltung des Steuerrechtsschutzes haben sollte. Das galt freilich weniger für den Reichsfinanzhof. Ursprünglich für die Besitzund Verkehrssteuern sowie die Kohlenabgabe des Reichs zuständig, wie sich aus § 7 Abs. 1 des Gesetzes von 1918 ergab, wurde seine Kompetenz 1919 allerdings durch 79 Vgl. Stenographische Berichte Verhandlungen des Reichstages XIII/2 (vgl. Fn. 69), Bd. 313, 189. Sitzung v. 11.7.1918, hier S. 6068D–6070A. Die Vorlage für den Nachtragsetat und die Ergänzung des Besoldungsgesetzes, v. 8.7.1918, a.a.O., Bd.  325, Nr.  1737 (ohne Paginierung). 80 Stenographische Berichte Verhandlungen des Reichstages XIII/2 (vgl. Fn.  69), Bd.  313, 190. Sitzung v. 12.7.1918, S. 6131A. 81 Vgl. Stenographische Berichte Verhandlungen des Reichstages XIII/2 (vgl. Fn. 69), Bd. 313, 190. Sitzung v. 12.7.1918, S. 6125A (6125C – Graf von Roedern). 82 Vgl. oben, bei und in Anm. 1. 83 Zur damit angesprochenen Debatte über die Parlamentarisierung des Kaiserreichs s. als Übersicht über den Streitstand Hans-Peter Ullmann, Politik im deutschen Kaiserreich (1871–1918), 2. Auflage 2005, S.  78–97; s.a. Christoph Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung. Einflußgewinn und fehlende Herrschaftsfähigkeit des Reichstags im sich demokratisierenden Kaiserreich, Historische Zeitschrift 272 (2001), 623 (634–648). 84 Klaus Epstein, Erzberger and the Dilemma of German Democracy, 1959, deutsch unter dem Titel „Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie“, 1962 (Nd. 1976). 85 Exzellenter Überblick bei Ullmann, Steuerstaat (Fn. 57), S. 101–105; aus jüngster Zeit Vanessa Y. Olshagen in Seer (Hrsg.), Steuern im historischen Kontext. Ein Ausschnitt der Steuergeschichte anhand ausgewählter Fragestellungen, 2014, S. 57; s. weiterhin Gabriele Höfler, Erzbergers Finanzreform und ihre Rückwirkung auf die bundesstaatliche Struktur des Reiches vorwiegend am bayerischen Beispiel, 1955; Klaus Karsten, Die Reichssteuerpolitik in der Weimarer Republik, ZNR 17 (1995), 60; sowie Heinz Leidel, Die Begründung der Reichsfinanzverwaltung, 1964. Für einen Überblick s.a. Metzger, Weingarten, Einkommensteuer (Fn. 19), S. 122–148, 158–184. 86 Gesetz v. 13.12.1919, RGBl. 1919, 1993. Dazu Cordes, Untersuchungen (Fn.  55), passim; Klaus Tipke, AöR 94 (1969), 224 (224 f.).

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§§ 217–219 RAO auf Verbrauchsteuern und Zölle ausgedehnt. Zudem erstreckte sich seine Jurisdiktion nunmehr nicht mehr lediglich auf Steuerbescheide, sondern auch auf sog. „Finanzbefehle“, mit denen abgabenrechtliche Verpflichtungen durchgesetzt wurden und gegen die sich die Betroffenen mit der Beschwerde und sodann mit der Rechtsbeschwerde an den Reichsfinanzhof wehren konnten, §§ 202, 283 RAO87. Der Gesetzgeber der RAO ging allerdings einen Schritt weiter beim Ausbau des Steuerrechtsschutzes, indem er die Landesfinanzämter im sogenannten Anfechtungsverfahren zu erstinstanzlichen Rechtsschutzinstanzen für die Veranlagung von Zöllen und Verbrauchsabgaben machte, von denen aus der Weg über die Rechtsbeschwerde zum Reichsfinanzhof führte, §§ 217 Nr. 2, 219 RAO. Bei Entscheidungen über alle anderen Steuern im „Berufungsverfahren“ waren sogenannte Finanzgerichte zuständig, §§ 217 Nr. 1, 218 RAO88, die 1921 errichtet wurden89. Diese Finanzgerichte waren auf der Ebene der Landesfinanzämter angesiedelt und in Kammern organisiert. Gerade in den Regeln über die Kammerbesetzung schienen noch einmal die Kontinuitäten zur preußischen Regelungstradition des Veranlagungsverfahrens auf, in der die Mitwirkung der Steuerpflichtigen am Veranlagungsverfahren und auch an der Überprüfung von dessen Ergebnissen so wesentlich gewesen war90: Denn von den jeweils fünf Mitgliedern der Kammern waren jeweils drei ehrenamtlich tätig, wobei „tunlichst eins dem Beruf oder Erwerbszweig des Steuerpflichtigen angehören“ sollte, § 14 Abs. 3 Satz 2 RAO. Auf der gleichen konzeptionellen Linie lag die Errichtung von sog. „Ausschüssen“ zur Mitwirkung bei der Einkommen- und Vermögensteuer (einschließlich der Erbschaftssteuer), die durch § 25 Satz 2 RAO grundsätzlich auch bei der Entscheidung über Einsprüche durch das Finanzamt91 zu beteiligen waren, die sich gegen Steuerbescheide richteten, an denen Ausschüsse mitgewirkt hatten. Bezeichnenderweise war auch „bei der Bildung der Ausschüsse … darauf zu sehen, daß die verschiedenen Arten des Vermögens und Einkommens vertreten sind“, wie es in § 26 Abs. 2 RAO hieß. In diesen Punkten folgte der Gesetzgeber der RAO also einem Steuerrechtsschutzkonzept, das wie bereits in Preußen Rechtsschutz durch Partizipation der Beteiligten verwirklichen wollte und das dabei angesichts der für die Weimarer Republik typischen ausgeprägt korporativen Elemente von Selbstverwaltung und regulierter Selbstregulierung92 vermutlich auch besonders attraktiv erschien. Jenseits dieser Elemente administrativer Teilhabe war die Position der Finanzgerichte allerdings sehr nahe bei der Finanzverwaltung. So hieß es in § 14 Abs. 1 RAO, die Finanzgerichte seien den Landesfinanzämtern „angegliedert“; ihre ständi87 Enno Becker, Reichsabgabenordnung, 7. Aufl. 1930, § 202 Anm. 1, 3. 88 Als Überblick s. Becker, Reichsabgabenordnung (Fn. 87), § 217 Anm. 1. 89 Verordnung über die Bildung der Finanzgerichte, v. 5.8.1921, RGBl. 1921, 1241. Im Überblick: Cordes, Untersuchungen (Fn. 55), S. 101–105; Hartwig Donner, Finanzgerichtsbarkeit und richterliche Unabhängigkeit, 1971, S. 10–14. 90 Dazu oben bei und in Anm.  28. Ähnlich wie hier Cordes, Untersuchungen (Fn.  55), S. 104 f.; Strutz (Fn. 16), S. 249. 91 Allgemein zum Einspruch als Rechtsbehelf in der RAO Cordes, Untersuchungen (Fn. 55), S. 273 f. 92 S. dazu statt vieler Peter Collin, Privat-staatliche Regelungsstrukturen im frühen Industrieund Sozialstaat, 2016, S. 80–100.

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gen Mitglieder und Vorsitzenden wurden vom Reichsfinanzminister „für die Dauer ihres Hauptamts aus den Mitgliedern des Landesfinanzamts“ bestellt, § 15 RAO, waren allerdings – immerhin – im Blick auf die Garantie richterlicher Unabhängigkeit in Art. 102 WRV ihrerseits „als solche unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“, Art. 14 Abs. 4 RAO, genossen also die gleiche Unabhängigkeit wie die Mitglieder des Reichsfinanzhofs aus § 36 Abs. 1 RAO. Doch während die Reichsfinanzhofrichter auf Lebenszeit ernannt wurden, §  34 Satz  1 RAO, und zudem die Garantie persönlicher Unabhängigkeit aus Art. 104 WRV93 ausdrücklich für sie für anwendbar erklärt wurde, Art. 36 Abs. 1 Halbs. 2 RAO, waren die ständigen Mitglieder der Finanzgerichte und deren Kammervorsitzende nicht davor geschützt, auch gegen ihren Willen vom Reichsfinanzminister aus dem Richteramt entfernt zu werden, „indem er sie aus ihrem Hauptamt als Mitglieder des Landesfinanzamts abberuft“, wie das Reichsgericht 1925 unmissverständlich erklärte94. Ganz abgesehen davon waren diese Personen kontinuierlich in die Abläufe des Landesfinanzamts eingebunden. So gesehen war der Ausschluss der ordentlichen Gerichtsbarkeit (und damit ihrer persönlich unabhängigeren Richter) von Steuerrechtssachen in §  227 RAO95 eine Verschlechterung des gerichtlichen Steuerrechtsschutzes für die betroffenen Steuerbürger, auch wenn damit im Blick auf die Position des Steuerrechts in der Gesamtrechtsordnung sicherlich auch ein, wie der Schöpfer der Reichsabgabenordnung, Enno Becker (1869–1940)96, bemerkte, „Abschluß einer eigentümlichen Entwicklung“97 herbeigeführt sein mochte. Tatsächlich hatte der Reichstag auch für die Vorsitzenden der Finanzgerichte die Garantie der persönlichen Unabhängigkeit aus Art. 104 WRV anwenden wollen98, damit aber heftigen Widerspruch von Seiten Erzbergers provoziert99 und schließlich in der dritten Plenarberatung die entsprechende Garantiebestimmung wieder aus § 14 RAO entfernt100. Es war einmal mehr das Konzept eines sehr verwaltungsnahen Steuerrechtsschutzes, das in Erzbergers Begründung seines Widerstandes gegen eine persönliche Unabhängigkeit des Finanzrichters sichtbar wurde. Denn, so erklärte der Reichsfinanzminister im Plenum des Reichs 93 Vgl. insbesondere Art. 104 Abs. 1 Satz 1, 2 WRV: „Die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden auf Lebenszeit ernannt. Sie können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus den Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden.“ 94 RG v. 9.6.1925  – III 1062/23, RGZ 111, 115 (120); s.a. Donner, Finanzgerichtsbarkeit (Fn. 89), S. 10 und Strutz (Fn. 16), S. 249–251. 95 „In Steuersachen ist der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten ausgeschlossen.“ 96 Manuel René Theisen in GS Enno Becker, 1990; Klaus Tipke, StuW 1990, 74. 97 Becker, Reichsabgabenordnung (Fn. 87), § 227 Anm. 1. 98 Vgl. den Bericht des 11. Ausschusses der Nationalversammlung zum Entwurf der RAO, in: Verhandlungen der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung  = Verhandlungen des Reichstags, Bd. 339, Nr. 1460 S. 1386 (1389). 99 Zum Ganzen im Überblick Cordes, Untersuchungen (Fn. 55), S. 102. 100 Dazu der Antrag Burlage u.a., in: Verhandlungen der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung = Verhandlungen des Reichstags, Bd. 340, Nr. 1592, S. 1563. Zur Abstimmung selbst s. Verhandlungen der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung = Verhandlungen des Reichstags, Bd. 331, S. 3817.

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tags, „Sie nützen den Steuerzahlern nichts, denn für diese ist eine enge Fühlungnahme zwischen der Durchführung der Anlage und der Rechtsprechung viel wichtiger als zwei Kategorien der Steuerfinanzbeamten und des Steuerrichters nebeneinanderzusetzen. Das würde zu unhaltbaren Verhältnissen führen und ist von seiten der Finanzver­ waltung nicht zu tragen“101. In dieser Sicht waren also die Finanzgerichte und die Veranlagungsbehörden funktional aufeinander bezogen. Zwar rückte Erzberger die Perspektive der Steuerpflichtigen in den Vordergrund, doch es war weniger ihr individualrechtlicher Schutz, dem die Finanzgerichte dienen sollten. Tragend war vielmehr die Überlegung, dass, wie Enno Becker betonte, „das Rechtsmittelverfahren im wesentlichen (sic) ein erweitertes Festsetzungs- und Veranlagungsverfahren“ war, bei dem die „Rechtsmittelbehörden von Amts wegen dafür zu sorgen“ hatten, „daß dem Reich das, aber auch nur das, was ihm gebührt, zuteil wird“102. Der Steuerrechtsschutz in der Weimarer Republik figurierte also, auch wenn er „durchsetzt mit starken Einschlägen aus dem Verwaltungsstreitverfahren“ war103, vor allem als eine objektivrechtliche Richtigkeitsprüfung der Veranlagung, um auf diese Weise und weniger als individualrechtlicher Rechtsbehelf des Steuerpflichtigen104, weil, so hieß es bei Becker, „nur auf diese Weise die in Steuersachen unbedingt gebotene Gleichmäßigkeit der Besteuerung wenigstens erstrebt werden kann“105. Immerhin war im Verfahren vor dem Reichsfinanzhof die reformatio in peius (seit 1929 nur mehr begrenzt106) ausgeschlossen, während die unteren Rechtsmittelbehörden bezeichnen­ derweise dazu befugt waren, § 228 AO107. Hinzu trat im Blick auf den Reichsfinanzhof die Zielsetzung, „der Bevölkerung das Gefühl der Rechtssicherheit zu schaffen“, wie Johannes Popitz (1884–1945)108 1928 erklärte109. Deswegen war von Anfang an auch die Möglichkeit geschaffen worden, „Fragen der Auslegung der Steuergesetze dem Reichsfinanzhof zur Begutachtung“ vorzulegen, §  43 Satz  1 RAO. Doch das ­änderte nichts daran, dass gegenüber der Rechtssicherheit und der Gleichheit in der  Besteuerung der Individualrechtsschutz der Steuerpflichtigen vergleichsweise 101 Verhandlungen der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung, 116. Sitzung v. 22.11.1919, in: Verhandlungen der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung  = Verhandlungen des Reichstags, Bd.  331, S.  3697D (3698A). Die Hervorhebung entspricht nicht dem Original. 102 Becker, Reichsabgabenordnung (Fn. 87), vor § 217 Anm. 4. 103 Becker, Reichsabgabenordnung (Fn. 87), vor § 217 Anm. 3. 104 Auf der gleichen Linie: Cordes, Untersuchungen (Fn.  55), S.  278  f.; Donner, Finanzgerichtsbarkeit (Fn. 89), S. 11 f. 105 Becker, Reichsabgabenordnung (Fn.  87), vor §  217 Anm.  3. Ähnlich später ders., StuW 1925, 547 (582): Es sei wesentlich, „daß die Besteuerung gleichmäßig durchgeführt wird“, denn „Was die einen zu wenig aufbringen, müssen die anderen mehr aufbringen.“ 106 Dazu die Änderung durch Art. VII Nr. 9 des Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes, v. 22.12.1929, RGBl. 1929 I, 234. Hiernach wurde dem Reichsfinanzhof die Befugnis zur reformatio in peius eingeräumt, wenn Zollauskünfte oder Kontingentbescheide im Streit standen. 107 Im Einzelnen Becker, Reichsabgabenordnung (Fn. 87), § 228 Anm. 1–8. 108 Gerhard Schulz in Lill/Oberreuter (Hrsg.), 20. Juli  – Portraits des Widerstands, 1984, S. 237; s.a. Johann Heinrich Kumpf, Amt und Verantwortung. Ausstellung zur Erinnerung an Johannes Popitz (1884–1945), 1984. 109 Johannes Popitz, StuW 1928, 971 (981).

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schwach ausgeprägt war im konzeptionellen Ordnungsgefüge des Steuerrechtsschutzes in der Weimarer Republik. Zwar wurde die Ausgestaltung vor allem in den frühen Jahren der Weimarer Republik immer wieder kritisiert110. Zudem formulierte der Vorstand des deutschen Anwaltsvereins 1926 programmatische Leitsätze „zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Steuersachen“, in denen insbesondere „die unbedingte Trennung zwischen veranlagender und rechtsprechender Tätigkeit der Steuerbehörden in allen Instanzen“ und darüber hinaus eine Verbesserung der Position des Steuerpflichtigen im Rechtsmittelverfahren verlangt wurden111. Freilich änderte sich durch solche Forderungen, die im vorliegenden Rahmen leider ebenso wenig näher analysiert werden können wie die kontroverse Debatte hierüber112, wenig an der institutionellen Ausgestaltung des Steuerrechtsschutzes. Das beruhte möglicherweise auch darauf, wie insbesondere Enno Becker, seit 1920 selbst am Reichsfinanzhof und seit 1922 Präsident des Senats für Einkommensteuersachen, betonte, dass und wie der Reichsfinanzhof und damit ein unabhängiges Gericht durch seine Judikatur „für die Durchführung des Rechtsschutzes der Einzelnen größere Bedeutung“ hatte als gesetzgeberische Maßnahmen, auch wenn er dabei durchaus zugestand, „vereinzelt mag man wünschen, daß der Gerichtshof in der Durchführung des Rechtsschutzgedankens noch weiter gegangen wäre, als er gegangen ist“113. Im vorliegend gegebenen Rahmen ist es unmöglich, auch nur ansatzweise die komplexe  Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs in den Blick zu nehmen114. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass Enno Becker für seine These eine Fülle von Judikaten anführen konnte, die nicht allein belegen, dass im Rückgriff insbesondere auf die Auslegungsregel in § 4 RAO115 eine regelrechte „Entwicklung des Steuerrechts durch die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs“116 stattfand117, sondern dass dabei auch „der 110 Dezidiert kritisch Strutz (Fn. 16), S. 251 f., ders., JW 1921, 1565; näher Cordes, Untersuchungen (Fn. 55), S. 105 f. mit Blick auf die Finanzgerichte. 111 Leitsätze des Deutschen Anwaltsvereins zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Steuersachen, StuW 1927, 161 (161); einzelne Hinweise dazu auch bei Cordes, Untersuchungen (Fn. 55), S. 106 m. Anm. 86. 112 Immerhin konzedierte ein Vertreter der Steuerverwaltung, Otto Engelhardt, Direktor des Finanzgerichts beim Landesfinanzamt München, in seiner „Stellungnahme zu den Leitsätzen“, es sollten „die beamteten Mitglieder des Finanzgerichts … aus dem Verbande des Landesfinanzamts herausgenommen und ausschließlich dem Finanzgerichte zugeteilt werden“ (StuW 1927, 173 [179]), war aber im Übrigen eher zurückhaltend. In die gleiche Richtung auch die (unbetitelte) Stellungnahme von Albert Hensel, a.a.O., 207, hier v.a. 218, zur Stellung der Mitglieder der Finanzgerichte. 113 Enno Becker, StuW 1927, 189 (hier 195 f.). 114 Wie es scheint, fehlen systematische Untersuchungen zur Judikatur des Reichsfinanzhofs in der Weimarer Republik; für eine vorsichtige summarische Einschätzung s. aus jüngster Zeit Christoph Bräunig, Herbert Dorn (1887–1957). Pionier und Wegbereiter im Internationalen Steuerrecht, 2016, S. 125 f. 115 „Bei Auslegung der Steuergesetze sind ihr Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen.“ 116 Enno Becker, StuW 1928, 855 (858); s. weiterhin ders., StuW 1924, 1005, sowie ders., StuW 1926, 1357. 117 So auch das Votum bei Günther Felix in FS Armin Spitaler, 1956, S. 135 (139): „… eigentlich geistig souverän …“.

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Rechtsschutz durch die ständige  … nach und nach immer festere Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs ausgebaut“118 wurde. Aber, so formulierte es ein führendes Mitglied des Anwaltsvereins nüchtern, „der RFH ist nicht allüberall“, zumal offenbar „die Rechtsprechung des RFH … soweit sie dem Übereifer der Finanzämter Zügel anlegen“ nicht immer „bei den unteren Instanzen die wünschenswerte Resonanz gefunden haben“119. Damit war ein Dilemma beschrieben, das bis zum Ende der Weimarer Republik Bestand haben sollte.

VI. Schlussbemerkung In der Gesamtbetrachtung bleibt damit ein etwas ambivalenter Eindruck. Der Reichsfinanzhof, als Schöpfung des Reichstags ein Parlamentsgericht, verkörperte gegenüber der überkommenen Tradition des Steuerrechtsschutzes eine eindrucksvolle Zäsur. Dagegen zeigt sich im Blick auf die unteren Instanzen, dass und wie sehr andere Kontinuitäten, insbesondere aus der preußischen Steuerrechtstradition, in die Ausgestaltung des Steuerrechtsschutzes in der Weimarer Republik fortwirkten wie etwa in Form der Partizipation der Steuerpflichtigen auch beim Rechtsschutz gegen die Steuerveranlagung. Leider fehlen noch Studien zur Praxis der Finanzgerichte in der Weimarer Zeit, aber zumindest deren vergleichsweise limitierte Unabhängigkeit gegenüber den Finanzämtern und die Ausgestaltung des Rechtsschutzverfahrens als – im Ausgangspunkt – verlängertes Veranlagungsverfahren legen die Vermutung nahe, dass im Zweifel eher zu Gunsten des Fiskus entschieden wurde. Umso wichtiger war die Rolle des Reichsfinanzhofs, dessen Wirken damit zugleich auch sehr nachdrücklich die Bedeutung eines unabhängigen obersten Gerichts gerade für einen effektiven Steuerrechtsschutz unterstreicht. Eine systematische Analyse seiner Rechtsprechung aus rechtshistorischer Perspektive ist schon deswegen ein dringendes Desiderat der Forschung.

118 Enno Becker, StuW 1927, 319 (325). 119 Paul Marcuse, StuW 1927, 223 (hier 227 f.).

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1. Teil Geschichte des Rechtsschutzes im Steuerrecht … B. II.

Unrechtsurteile der NS-Zeit Von Simon Kempny*

Inhaltsübersicht I. Greifbares Unrecht (bei heuristischer Verwendung des Begriffs) II. Überlegungen zum Betrachtungsgegenstand

III. Zwei zur Einordnung als Unrechtsurteile in ­Frage kommende Beispiele 1. Das Urteil III A 200/37 U vom 7.10.1937 2. Das Urteil IV 47/41 S vom 20.11.1941

Das vorgegebene Thema ist vielschichtig: Zweifelsohne fällte der Reichsfinanzhof ab 1933 menschenverachtende Urteile (dazu  I). Dessen ungeachtet wirft der Begriff des  Unrechtsurteils methodische Fragen, zumal aus rechtsgeschichtlicher Sicht, auf (dazu II). Um den historischen Abgrund dennoch (in dem hier möglichen Umfang) ein wenig auszuleuchten, werden zwei Judikate anhand der überlieferten Prozessakten dargestellt, deren Einordnung als Unrechtsurteile jedenfalls in Betracht zu ziehen ist (dazu III).

I. Greifbares Unrecht (bei heuristischer Verwendung des Begriffs) „Am 30. Mai 1933 besetzten 5 Angestellte, die dem Betriebszellenrat1 angehörten, [das] Privatbüro [des Fürther Lebensmittelfabrikanten August Bauernfreund2] und etwa 40 Angestellte die Büro- und Fabrikausgänge. * Für wertvolle Unterstützung bei der Aktensichtung im Bundesarchiv dankt der Verfasser Herrn Wiss. Mit. Malte Reifegerste. Wörtliche Anführungen aus Gründen der Wissenschaftlichkeit (vergleiche Kempny, Die Staatsfinanzierung nach der Paulskirchenverfassung, 2011, S.  14  f. bei und in Fn.  98) grundsätzlich mit den in der jeweiligen Quelle zu findenden Rechtschreib-, Zeichensetzungs- und anderen Fehlern. Hervorhebungen (auch Sperrungen und Unterstreichungen) einheitlich kursiv wiedergegeben. 1 Die Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation (NSBO) war eine zumindest gewerkschaftsähnliche (die Einordnung ist unter Historikern umstritten) Organisation der NSDAP (dazu etwa Mai, Die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation, VfZ 31 [1983], 573 [575 ff.]; Kratzenberg, Arbeiter auf dem Weg zu Hitler? 1987, S. 23 ff.). 2 Dieser war Alleinaktionär der Süddeutsche Lebensmittelwerke August Bauernfreund AG mit Sitz in Fürth. In Folge der geschilderten Ereignisse wanderte er zunächst nach Frank-

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Die fünf Betriebszellenmitglieder stellten folgende Forderungen: 1.) Die jüdischen Angestellten sollten sofort entlassen werden, 2.) etwa acht weitere Angestellte sollten sofort entlassen werden, 3.) Bauernfreund sollte als Direktor sofort zurücktreten. Bauernfreund erklärte sich mit Punkt 3.) einverstanden; im übrigen lehnte er die Forderungen ab. Darauf telefonierte der Wortführer der Eindringlinge mit einer Stelle, der er am Telefon sagte: ‚Jetzt könnt Ihr kommen.‘ Wenige Minuten später kamen unter Führung des Stadtrat Haberkorn in Fürth sechs S.A. Männer im Automobil. Sie stürmten sofort in das Büro des Bauernfreund. Haberkorn rief: ‚Wo ist der Jud?‘, worauf sich Bauernfreund mit seinem Namen vorstellte. Darauf Haberkorn: ‚Packt den Juden‘. Bauernfreund erwiderte: ‚Sie können mich nicht verhaften, das müssen Sie der Polizei überlassen‘. Ehe er sich versah, packten ihn 4 Männer, zerrten ihn in die Treppe hinunter und warfen ihn in ein bereitgehaltenes Automobil. Unterwegs wurde er wiederholt beschimpft und bedroht und dann in die Wirtschaft ‚Zum Buchhändler Palm‘ nach Nürnberg gebracht. Unter Beschimpfungen ordinärster Art und Bedrohungen hielt man Bauernfreund ein vorbereitetes Schriftstück vor, wonach er sich über die Regierung Hitler unliebsam geäussert und ausserdem einen Versicherungsbetrug begangen haben soll. Bauernfreund sollte dieses Schriftstück unterschreiben. Als er sich weigerte, wunden Anstalten getroffen, ­ihn|zu3 erschiessen und er wurde mit feststehenden Messern bedroht. Infolgedessen blieb ihm nur übrig, zu unterzeichnen. Dann wurde Bauernfreund gezwungen, sich auszuziehen, über einen Tisch gelegt und von vier Leuten solange mit Gummiknüppeln misshandelt, bis er bewusstlos vom Tische fiel. Nachdem er sich einigermassen erholt hatte, ­wurde er in das Polizeipräsidium gebracht. Dort musste er – fortwährend bedroht und aufs schwerste beschimpft – sich bei den Passanten mit der Erklärung melden: ‚Ich bin der Rassejude Bauernfreund‘. Weigerte er sich, so wurde er jedesmal erneut misshandelt. Bauernfreund wurde auch polizeilich vernommen und nach 10 Stunden wieder entlassen, da nichts gegen ihn vorlag.“4

Herr Bauernfreund reiste daraufhin, nachdem er am 8. Juni 1933 ein Ausreisevisum erhalten hatte, in Absprache mit dem Aufsichtsrat seines Unternehmens ins Ausland und warb dort um Exportaufträge. Bald darauf wurden die verbliebenen Führungskräfte des Unternehmens zwangsausgetauscht, Herrn Bauernfreunds gesamtes inländisches Vermögen, insbesondere seine Unternehmensanteile, eingezogen und seine Wohnung polizeilich versiegelt. Herrn Bauernfreund wurde die Drohung übermittelt, man warte nur auf seine Rückkehr, um ihn dann ins Konzentrationslager Dachau zu schaffen.5 reich und später in die USA aus. Unter dem Namen Bauer baute er in New York ein neues Lebensmittelunternehmen auf. Er starb 1965 (Der Spiegel 36/1967, 52). 3 Senkrechter Strich von Hand gezogen (Berichtigung des Schreibfehlers [fehlenden Leerzeichens]). 4 So der Bericht seines Rechtsanwalts (BArch, R 37/III A 311/34, Bl. 24r, 25r). 5 So der Bericht seines Rechtsanwalts weiter (BArch, R 37/III A 311/34, Bl. 26r ff.).

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Gegen den unter diesen Umständen nicht Zurückkehrenden erließ das Finanzamt Fürth unter dem 25. Oktober 1933 einen Reichsfluchtsteuerbescheid6 über 210.329 RM, fällig zum 13. Oktober 1933.7 Einspruch und Berufung8 des Herrn Bauernfreund, eingelegt über seine Schwester und seinen Rechtsanwalt, blieben im Wesentlichen9 erfolglos. Die sodann eingelegte Rechtsbeschwerde10 begründete sein Rechtsanwalt unter anderem damit, dass Herrn Bauernfreund die Rückkehr tatsächlich unmöglich gemacht worden sei.11 Ohne dass ihm strafbare Handlungen vorgeworfen würden, sei Schutzhaft-12 und Haftbefehl gegen ihn erlassen worden. Die ihm zugefügten schweren Misshandlungen hätten keine Sühne gefunden, obwohl die Täter bekannt seien. „Der Bf.13 musste“, führte sein Rechtsanwalt weiter aus, „[…] annehmen, dass er bei

einer Rückkehr nach Deutschland rechtlos und […] weiteren Gefährdungen für Leib und Leben ausgesetzt sein würde. [¶] Damit lag eine Situation vor, die dem Ausschluss der freien Willensbestimmung des Bf. gleichzusetzen war.“14 „Bei dieser Sachlage“, ergänzte der Prozessvertreter, „halte ich die Erhebung der Reichsfluchtsteuer für mit Sinn und 6 Zur Perversion der 1931 unter Reichskanzler Brüning im Wege reichspräsidentieller, auf Art. 48 Abs. 2 WRV gestützter Verordnung (siehe Fn. 15) eingeführten Reichsfluchtsteuer durch das NS-Regime Tanzer, Steuerrecht im nationalsozialistischen Staat, in Davy u. a. (Hrsg.), Nationalso­zialismus und Recht, 1990, S. 331 (342); Felix, Der Reichsfinanzhof im „Dritten Reich“, die jü­dischen Deutschen und die unbegrenzte Auslegung, BB 1993, 1297 (1300 f.); Högemann, Das ­deutsche Steuerrecht unter dem Einfluß des Nationalsozialismus (1933–1945), Diss. Münster 1993, S. 85 f.; Mußgnug, Die Reichsfluchtsteuer, 1993, S. 30 ff.; Kumpf, Der Reichsfinanzhof im „Dritten Reich“, DStZ 1994, 65 (65); Felix, Scheinlegalität und Rechtsbeugung – Finanzverwaltung, Steuergerichtsbarkeit und Judenverfolgung im „Dritten Reich“, SteuerStud 1995, 197 (199 f.); Rüping, Justiz und Verwaltung im Führerstaat: Der Reichsfinanzhof als „Gehilfe“ der Reichsfinanzverwaltung, JJZG 3 (2001/2002), 41 (48); Kumpf, Der Reichsfinanzhof und seine Rechtsprechung in steuerlichen Angelegenheiten von Juden, in Friedenberger/Gössel/Schönknecht (Hrsg.), Die Reichsfinanzverwaltung im Nationalsozialismus, 2002, S. 143 (150 f.); Otterbeck, Das Finanzamt Bonn im Nationalsozialismus, 2014, S. 38 f., 80 ff. 7 Das vor dem Bescheiddatum liegende Fälligkeitsdatum erklärt sich dadurch, dass §  5 Abs. 2 der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer (Fn. 15) bestimmte, dass sie bis zum Zeitpunkt der Fälligkeit (das hieß im vorliegenden Falle: der Aufgabe des inländischen Wohnsitzes) ohne besondere Anforderung zu entrichten sei. 8 Zu den seinerzeit gegebenen Rechtsmitteln siehe § 229 AO 1931 (RGBl. I, S. 161), außerdem zum Einspruch §§ 259 ff. AO 1931 und zur Berufung §§ 261 ff. AO 1931. 9 Das Finanzgericht bei dem Landesfinanzamt Nürnberg setzte die Steuer auf 207.203,75 RM und einen rund zwei Monate späteren Fälligkeitstag, den 9. Dezember 1933, fest und wies die Berufung im Übrigen – unter vollständiger Kostenbelastung des Einspruchs- und Berufungsführers – als unbegründet zurück (Urteil vom 27.4.1934 – IV 1/1934, amtliche Abschrift in BArch, R 37/III A 311/34, Bl. 2r ff.). 10 § 229, §§ 285 ff. AO 1931. 11 BArch, R 37/III A 311/34, Bl. 12r. 12 Zynisch-euphemistische amtliche Bezeichnung für regelmäßig aus politischen Gründen ausgesprochene Verhaftungsanordnungen, die keines Haftgrundes im strafprozessualen Sinne bedurften, wogegen es keinen Rechtsschutz gab und die häufig Konzentrationslager auf unbestimmte Zeit bedeuteten. 13 Beschwerdeführer. 14 BArch, R 37/III A 311/34, Bl. 13r.

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Zweck dieses Gesetzes15 unvereinbar. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist die Entscheidung16 der Reichsfluchtsteuerpflicht zwar nur an bestimmte objektive Voraussetzungen geknüpft. Eine dieser Voraussetzungen ist die Aufgabe des Wohnsitzes innerhalb eines gewissen Zeitraumes. Aber diese Aufgabe muss doch, wenn sie die Reichsfluchtsteuerschuld mitbegründen soll, eine freiwillige sein.“17

Die zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde berufenen Mitglieder des zuständigen III. Senats des Reichsfinanzhofs, die Richter18 Seweloh, Kraft, Schrankenmüller, Thümen, Haag und Koch, die alle vorgenannten Schilderungen sowie umfangreiches Substantiierungsmate­rial – auch zu der Verstrickung des Reichswirtschafts- und des Reichsinnenministeriums in den Fall19 – in der Verfahrensakte vorfanden, zeigten sich unbeeindruckt. In der Sitzung vom 27. September 1934 wiesen sie die Rechtsbeschwerde ohne mündliche Verhandlung als un­begründet zurück. Die Urteilsbegründung ist zynisch. „Der Umstand allein, daß der Steuerpflichtige sich nicht freiwillig im

Ausland aufhält, sondern durch die Verhält­nisse (z.B. Furcht vor Belästigungen und dergleichen [!])20 dazu genötigt wird, steht der Erhebung der Reichsfluchtsteuer nicht entgegen […] im vorliegenden Falle kann von einem Ausschluß der freien Willensbestimmung oder einem gleichzubehandelnden Zustand nicht die Rede sein. Die vom Beschwerdeführer angegeben Vorgänge haben sich in der ersten Zeit der politischen Umwälzung abgespielt, als die Leidenschaften noch erregt gewesen und einzelne [!] Übergriffe vorgekommen sein mögen, die von den leitenden Stellen keineswegs gebilligt worden sind [!]. Seitdem haben sich die Gemüter aber wieder beruhigt. Nach […] wiederholten Versicherungen von Regierungsmitgliedern und bei den heute in Deutschland bestehenden Verhältnissen ist nicht anzunehmen, daß dem Beschwerdeführer noch irgendwelches Unrecht zugefügt wird [!]. […] Er hätte deshalb inzwischen unbedenklich zurückkehren können – wenn er seinen früheren Wohnort nicht wieder aufsuchen wollte, an einen anderen Ort in Deutschland21.“22 15 Siebenter Teil Kapitel III Erster Abschnitt der Verordnung vom 8.12.1931, RGBl. I, S. 699 (731), geändert insbesondere durch Vierten Teil der Verordnung vom 23.12.1932, RGBl. I, S. 571 (572), sowie durch Gesetz vom 18.5.1934, RGBl. I, S. 392 (zu Änderungen auch Mußgnug, Die Reichsfluchtsteuer, 1993, S. 30 ff.; Voß, Steuern im Dritten Reich, 1995, S. 147 ff.). 16 Gemeint wohl: Entstehung (vermutlich Fehler der Schreibkraft). 17 BArch, R 37/III A 311/34, Bl. 17r. 18 Die Amtsbezeichnung der Mitglieder des Reichsfinanzhofs unterlag einem Wandel. Bis 1938 hießen sie „Reichsfinanzräte“, dann „Reichsrichter“ (hierzu Kumpf, Die Finanzgerichtsbarkeit im Dritten Reich, in Diestelkamp/Stolleis [Hrsg.], Justizalltag im Dritten Reich, 1988, S. 81 [83]; vergleiche Boethke, Vom inneren Dienstbetriebe des Reichsfinanzhofs, JW 1922, 1643 [1644]; auch die handschriftliche Anpassung des Rubrumsvordrucks in BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 13r). 19 BArch, R 37/III A 311/34, Bl. 69r, 70r. 20 Der offenbar der Urteilsberatung zugrunde liegende Entwurf hatte hier nur „(z.B. Belästigungen)“ (siehe die wohl während der Beratung angebrachten handschriftlichen Ergänzungen auf BArch, R 37/III A 311/34, Bl. 78r). 21 Der Teilsatz ab dem Gedankenstrich scheint während der Beratung hinzugefügt worden zu sein (siehe die handschriftliche Ergänzung auf BArch, R 37/III A 311/34, Bl. 78v). 22 Amtlicher Abdruck des (im RStBl. 1934, S. 1225, veröffentlichten) Urteils, nach Bl. 80 in die Verfahrensakte (BArch, R 37/III A 311/34) geheftet (nicht foliiert). – Dazu, wie die

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Das Urteil ist keineswegs ein Ausreißer, sondern typisch für die Reichsfluchtsteuerrechtsprechung des Reichsfinanzhofs ab 1933.23 Felix bewertet es (ohne weitere Begründung) als „ein krasses Unrechts-Urteil, dem die Menschenverachtung auf der Stirn steht“.24 So sehr ich dem gefühlsmäßig beipflichten möchte, so sehr erscheint es mir im Rahmen eines wissenschaftlichen Beitrags aus methodischen Gründen angezeigt, etwas näher darüber nachzudenken, was uns eigentlich dazu bringt, eine Entscheidung ein Unrechtsurteil zu nennen, und was dieser Begriff leisten kann.

II. Überlegungen zum Betrachtungsgegenstand Was ist ein „Unrechtsurteil“? Vorderhand scheint das einfach: ein Urteil – und damit möchte ich in diesem Beitrag jedwede verfahrensabschließende gerichtliche Entscheidung bezeichnen –, wodurch nicht Recht, sondern Unrecht gesprochen wird. Demnach wären sämtliche Urteile in die Gattungen „Rechts-“ und „Unrechtsurteile“ einteilbar. Aus der Befassung mit gegenwärtiger Rechtsprechung kennen wir den Begriff „Fehlurteil“; auch der Bundesfinanzhof verwendet ihn25. Wer eine Entscheidung so nennt, will damit regelmäßig sagen, dass sie so nicht habe ergehen dürfen, weil das geltende Recht eine andere verlangt habe. Ist jedes „Fehlurteil“ zugleich ein „Unrechtsurteil“? Oder macht nicht jeder Fehler (man denke etwa an eine versehentlich unzutreffend berechnete Rechtsmittelfrist) eine Entscheidung zu einem „Unrechtsurteil“, sondern nur ein schwerer (was auch immer das sei)? Und wer entscheidet überhaupt da­rüber, was „falsch“ sei? Eine gewisse Vagheit der (Gesetzes‑)Sprache ist unvermeidlich26; (schon) deshalb27 können zwei Spruchkörper, ohne dass dies den Schluss auf bösen Willen oder mangelnde Fertigkeit bei auch nur einem von beiden zulässt, bei der Beurteilung eines Sachverhalts zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Wenn der Bundesfinanzhof eine Revision gegen ein finanzgerichtliches Urteil für begründet erachtet, zeiht man das Finanzgericht deswegen üblicherweise noch nicht der Begehung von „Unrecht“, jedenfalls wenn die aufgehobene Entscheidung sich, wie man zu sagen pflegt, „im neuen Machthaber tatsächlich mit ihnen missliebigen Menschen umgingen, etwa Habbe, Himmlers Terrorsystem, Spiegel Special Geschichte 1/2008, S. 76 (77 ff.). 23 Vergleiche etwa RFH v. 20.12.1933 – III A 353/33, RFHE 35, 52 (54 ff.); RFH v. 15.3.1934 – III A 61/34, RFHE 35, 326 (328). Dass in der letztgenannten Entscheidung der Rechtsbeschwerde des Bürgers stattgegeben wurde, darf nicht täuschen: Der Reichsfinanzhof sah sich zwar gezwungen, den angefochtenen Steuerbescheid aufzuheben, regte aber zugleich den Erlass eines neuen an (RFHE 35, 326 [330]), was von der Verwaltung sofort aufgegriffen wurde, wie in der Verfahrensakte zu findender nachlaufender Schriftverkehr zeigt (BArch, R 37/III A 61/34, Bl. 100 ff. [dort auch Korrespondenz zum Wiedergutmachungsverfahren bis in die 1960er Jahre]). 24 Felix, Kurzkommentierte Auswahl-Dokumentation der Juden-Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs, BB 1993, 1597 (1598). 25 Siehe etwa BFH v. 30.7.2009 – VIII B 214/07, BFH/NV 2009, 1824 (1825). 26 Hierzu ausführlich Kluck, Der Wert der Vagheit, 2014, S. 141 ff. 27 Hinzu kommt, dass Gesetzgeber nicht selten absichtlich Gerichten Normkonkretisierungsaufgaben (vergleiche Fn. 30) zuweisen.

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Rahmen des Vertretbaren“ gehalten hat.28 Die Frage nach dem „Unrecht“ auf die nach der „Vertretbarkeit“ zu verlagern mag in der Staatspraxis – etwa in Fällen, wo ein Gericht über das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Tatbeständen wie §  839 (Abs. 2 S. 1) BGB oder § 339 StGB befinden muss –, als gedankliche Abschichtung nützlich sein, löst aber das methodische Problem letztlich nicht, denn eine wissenschaftstheoretisch vollends befriedigende Antwort auf die Frage, was „vertretbar“ sei und was nicht, ist noch nicht gefunden (und wird wohl auch nie gefunden werden).29 Schon, was „Unrecht“ ist – oder besser: inwieweit etwas als „Unrecht“ dargestellt, bezeichnet werden kann –, hängt von Vorverständnissen (dazu zähle ich hier auch den jeweils eingenommenen rechtstheoretischen Standpunkt) und Begriffsbelegungen (‑verwendungen) ab. Beispielsweise dürften Positivisten und Naturrechtler hier kaum jemals einig sein. Bei Urteilen ist überdies noch eine Zurechnungswertung vorzunehmen, nämlich die, inwieweit es dem Gericht anzulasten sei, wenn schon das anzuwendende30 Gesetz „Unrecht“ beinhalte beziehungsweise anordne.31 Kommt es dann auf den Spielraum 28 Zum rechtstheoretischen Hintergrund Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl., 1934, S. 94 ff.; vergleiche Herbst, Die These der einzig richtigen Entscheidung, JZ 2012, 891 (891). 29 Siehe Neupert, Was macht Rechtsauffassungen vertretbar?, JuS 2016, 489 (insbesondere 494: „Ob in einem konkreten Fall eine Rechtsnorm eingreift oder nicht, müssen Rechtsanwender im Kern selbst entscheiden“). 30 Zur rechtstheoretischen Würdigung der rechtsanwendenden, zugleich aber auch rechtserzeugenden Rolle der Gerichte grundlegend Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, JBl 1918, 425/444/463 (426 f.); siehe auch Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960 (Ndr. 1967), S. 237 f., 240. 31 So änderten sich etwa die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anerkennung der Mildtätigkeit im Rahmen des steuerlichen Gemeinnützigkeitsrechts während der NS-Diktatur. Anfangs galt § 10 Abs. 1 KStDV 1926 (RGBl. I, S. 244): „Mildtätig sind solche Zwecke, die darauf gerichtet sind, bedürftige, im Inland befindliche Personen oder bedürftige Volksgenossen im Ausland zu unterstützen.“ Diese Bestimmung wurde zunächst durch § 18 Abs. 1 StAnpG (RGBl. I 1934, S. 925) ersetzt (zum Inkrafttreten der Änderung siehe § 46 Nr. 2 StAnpG): „Mildtätig sind solche Zwecke, die ausschließlich und unmittelbar darauf gerichtet sind, bedürftige, im Inland befindliche Personen oder bedürftige Deutsche Volksgenossen im Ausland zu unterstützen.“ Darin wurden später gemäß § 29 Nr. 4 Buchst. a EinfGRealStG (RGBl. I 1936, S.  961) die Worte „bedürftige, im Inland befindliche Personen oder bedürftige Deutsche Volksgenossen im Ausland“ ersetzt durch die Worte „bedürftige Deutsche Volksgenossen“ (zum Inkrafttreten der Änderung siehe § 32 EinfGRealStG). Der Begriff „Deutsche Volksgenossen“ wurde – Ausdruck des amtlichen Antisemitismus – so verstanden, dass er insbesondere diejenigen ausschließe, welche von den Machthabern als „Juden“ angesehen wurden. – Die Frage ist nun die, ob es für die Bewertung eines Urteils, wodurch einer „Juden“ unterstützenden Körperschaft die Mildtätigkeit im steuerlichen Sinne abgesprochen wurde, darauf ankomme, unter Geltung welcher Gesetzesfassung es ergangen sei. Beispielsweise legte RFH v. 10.12.1936 – III A 194/36, RStBl. 1937, S. 21, der Änderung durch das EinfGRealStG dergestalt Rückwirkung bei, dass sich die Unterstützung von „Juden“ auch in der Zeit vor Erlass des Gesetzes als gemeinnützigkeitsschädlich erwies. Die Verfahrensakte (BArch, R 37/III A 194/36, Bl. 9 ff.) zeigt, dass diese Auslegung den entscheidenden Richtern kaum zwingend erscheinen konnte, hatte doch der Prozessvertreter der Beschwerdeführerin zwei Entscheidungen abschriftlich übersandt, die von ei-

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des Gerichts (der Richter) an? Und, wenn ja, wie ist dieser zu deuten – als eine dogmatische, normwissenschaftlich zu ermittelnde oder als eine faktische, sozialwissenschaftlich zu ermittelnde Größe? Die bisher angeschnittenen Fragen stellen sich bereits bei der Untersuchung gegenwärtiger32 Rechtsprechung. Wenn man stattdessen nun einen rechtsgeschichtlichen Betrachtungsgegenstand vor sich hat, ist es methodisch noch komplexer. Vor allem muss man sich irgendwie zu der in der Rechtsgeschichtswissenschaft umstrittenen33 Frage der „Nachsubsumtion“ verhalten. Es ist nicht selten problematisch, wenn man rückblickend dogmatische Bewertungen vornimmt34 oder sich gar zum besseren Juristen als die seinerzeit handelnden Personen aufschwingt.35 Unreflektiert darf eine „Nachsubsumtion“ keinesfalls geschehen.36 Man muss sich jeweils fragen, welchen wissenschaftlichen Wert es hat, beispielsweise im Jahre 2011 die Vereinbarkeit von Art.  VII des 1801 geschlossenen Friedens von Lunéville mit der seinerzeitigen Reichsverfassung zu verneinen37 oder im Jahre 2013 das 1818 in Wien an dem „Räuberhauptmann“ Grasel vollstreckte Todesurteil für falsch zu erklären38. Je nach wissenschaftlichem Standpunkt, je nachdem, was für Aussagen man treffen will, kann man – wenn man den Begriff überhaupt verwenden mag – als „Unrechtsurteile“ folglich einerseits, historisch-sozialwissenschaftlich vorgehend, solche Gerichtsentscheidungen anführen, die nach dem Verständnis von Zeitgenossen (die sich freilich selten alle einig gewesen sein dürften), soweit die Quellenlage hierüber nem anderen Verständnis zeugten (anders insoweit im Übrigen auch RFH v. 7.4.1936 – I A 227/35, RFHE 39, 202 [209], hierzu BArch, R 37/I A 227/35 S, Bl. 6, 15v ff., 24r). 32 Es sei einmal davon abgesehen, dass, wenn Urteile untersucht werden, die Rechtsprechung immer schon geschehen und insoweit geschichtlich ist. Gemeint ist das Fehlen größerer zeitlicher Abstände und einschneidender Ereignisse (vergleiche Fn. 34). 33 Siehe etwa die Auseinandersetzung zwischen Oestmann und Meissel bei Luminati/Falk/ Schmoeckel (Hrsg.), Mit den Augen der Rechtsgeschichte: Rechtsfälle – selbstkritisch kommentiert, 2008, S. 454 ff., 457 ff. 34 Einer solchen Notwendigkeit sahen sich beispielsweise bundesdeutsche Strafgerichte ausgesetzt, die nach der Wiedervereinigung über Fälle mutmaßlicher Rechtsbeugung durch Richter in der DDR zu urteilen hatten (siehe etwa BGH v. 13.12.1993 – 5 StR 76/93, BGHSt 40, 30; BGH v. 15.9.1995 – 5 StR 713/94, BGHSt 41, 247; BGH, v. 16.11.1995 – 5 StR 747/94, BGHSt 41, 317; ferner [zu damit verwandten Problemen der sogenannten Mauerschützenprozesse] Ambos, Zur Rechtswidrigkeit der Todesschüsse an der Mauer, JA 1997, 983; Dreier, Gustav Radbruch und die Mauerschützen, JZ 1997, 421). 35 Oestmann, Normengeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Praxisgeschichte, Max Planck Institute for European Legal History research paper series No. 2014-06, http://ssrn.com/ abstract=2526811 (abgerufen am 9.10.2016), S. 1, 3, 5 ff. 36 Stolleis in HRG, 2. Aufl., Eintrag „Methode der Rechtsgeschichte“, Bd. III (2016) Sp. 1475 Abschn. 4; Kempny, Die Staatsfinanzierung nach der Paulskirchenverfassung, 2011, S. 13 f. 37 Siehe Uhrig, Die Vereinbarkeit von Art. VII des Friedens von Lunéville mit der Reichsverfassung, Diss. Tübingen 2011, https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/​ 43756 (abgerufen am 9.10.2016), S. 311 ff., 1164. 38 Hierzu Oestmann, [Rezension:] J.G. Grasel vor Gericht, Die Verhörsprotokolle des Wiener Kriminalgerichts und des Kriegsgerichts in Wien, hg. v. Winfried Platzgummer/Christian Zolles, 2013, ZRG GA 132 (2015), 597 (599).

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Aussagen zulässt, (schwer) fehlerhaft waren oder die damals „Unrechtsurteile“ genannt wurden. Andererseits kann man, historisch-dogmatisch vorgehend, überlieferte Richtersprüche selbst bewerten und anschließend als (schwer) fehlerhaft eingestufte herausgreifen. Man sollte dann aber versuchen, den Bewertungsmaßstab so zeitgemäß wie möglich zu wählen, um die immer bestehende Gefahr, dass die getroffenen Aussagen anachronistisch und damit wissenschaftlich unbrauchbar werden, geringzuhalten.

III. Zwei zur Einordnung als Unrechtsurteile in Frage kommende ­Beispiele Angesichts der vorstehenden Überlegungen sollen mit der nun folgenden Vorstellung zweier weiterer, ebenfalls bei stichprobenhafter39 Einsichtnahme in den überlieferten Bestand gefundener Beispiele lediglich Erörterungs- und Bewertungsvorschläge unterbreitet werden. Es soll nicht behauptet werden, dass man diese Entscheidungen als Unrechtsurteile einordnen müsse, sondern nur, dass sie, wenn man den Begriff des Unrechtsurteils denn verwenden wolle, für eine solche Einordnung in Frage kommen. Wenn man den Begriff aus wissenschaftlich-methodischen Gründen (hier oder allgemein) nicht für sinnvoll hält, wird man immerhin Bewertungen wie „von NS-Ideologie geprägt“ teilen können. Während vergleichbare Entscheidungsvorstellungen40 sich bislang meist41 auf die Auswertung von Entscheidungsveröffentlichungen beschränken, soll hier beispielhaft gezeigt werden, welchen historischen Zusatzertrag die (noch ausstehende) systematische Auswertung der Verfahrensakten des Reichsfinanzhofs aus der Zeit der NS-Diktatur, die im Bundesarchiv (Standort Berlin-Lichterfelde) lagern, verspricht.42

39 Stichprobengröße: 50 Entscheidungen. 40 Etwa Felix, Der Reichsfinanzhof im „Dritten Reich“, die jüdischen Deutschen und die unbegrenzte Auslegung, BB 1993, 1297; Felix, Kurzkommentierte Auswahl-Dokumentation der Juden-Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs, BB 1993, 1597; Buchheim/Basta, Steuerrecht und Finanzverwaltung als Instrumente der Judenverfolgung und ‑enteignung im Nationalsozialismus, DStR 2016, 705 (707  f.); Desiderat der Aktensichtung ­anklingend bei Zwilling in Meinl/Zwilling, Legalisierter Raub, 2004, S. 223 (263); Kumpf, Die Finanzgerichtsbarkeit im Dritten Reich, in Diestelkamp/Stolleis (Hrsg.), Justizalltag im Dritten Reich, 1988, S. 81 (100). 41 Verfahrensakten auswertend namentlich schon Kumpf, Der Reichsfinanzhof und seine Rechtsprechung in steuerlichen Angelegenheiten von Juden, in Friedenberger/Gössel/ Schönknecht (Hrsg.), Die Reichsfinanzverwaltung im Nationalsozialismus, 2002, S. 143. 42 Der Bestand, der nach der Bestandsbeschreibung des Bundesarchivs rund 75.000 Akten mit Registern aus der Zeit zwischen 1918 und 1945 umfasst, ist nur notdürftig, durch ein vorläufiges Findbuch von 1975, erschlossen. Aushebungen sind mit der Bestandssignatur „R 37“ und dem Aktenzeichen zu beantragen, wobei die das Eingangsjahr kennzeichnende Jahreszahl hinter dem Schrägstrich in vier Stellen (das heißt mit vorangestellter „19“) anzugeben ist.

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1. Das Urteil III A 200/37 U vom 7.10.1937 Gemäß § 79 Abs. 1 S. 1 RBewG 193443 waren auf den 1. Januar 1935 Einheitswerte festzustellen (von denen wohl kaum ein damals daran Beteiligter dachte, dass sie noch auf Jahrzehnte hinaus von steuerlicher Bedeutung sein würden44). Die Bewertung bebauter Grundstücke richtete sich gemäß § 52 Abs. 1 R­Bew­G 1934 nach vom Reichsminister der Finanzen zu erlassenden Bestimmungen. Für Mietwohngrundstücke sahen diese Durchführungsbestimmungen (RBewDB 193545) vor, dass zur Wertermittlung ein von den Präsidenten der Landesfinanzämter nach den Gegebenheiten der jeweiligen örtlichen Grundstücksmärkte zu bestimmender Vervielfältiger (§  36 Abs.  1 RBewDB 1935) auf die Jahresrohmiete anzuwenden sei (§  33 Abs.  1 RBew­DB 1935). Zur Jahresrohmiete erklärte § 34 Abs. 1 RBewDB 1935 das Gesamt­ entgelt (Miete, Umlagen und sonstige Leistungen abzüglich Heiz- und gewisser anderer Kosten [§ 34 Abs. 2 RBewDB 1935]), das die Mieter auf Grund vertraglicher oder gesetzlicher Bestimmungen nach dem Stand vom Feststellungszeitpunkt, umgerechnet auf ein Jahr, zu ­entrichten hatten (wobei eine etwaige gesetzliche Mietkürzung infolge einer dem Vermieter zugunsten des Mieters gewährten Ermäßigung der  Gebäudeentschuldungsteuer [Hauszinssteuer]46 nicht zu berücksichtigen war [§ 34 Abs. 3 RBewDB 1935]). Von diesem Grundsatz ordnete § 34 Abs. 4 RBewDB 1935 eine Ausnahme an: „Statt des sich aus den Absätzen 1 bis 3 ergebenden Betrages gilt die übliche Miete (eigentliche Miete, Umlagen und alle sonstigen Leistungen abzüglich der nach Absatz 2 zu berücksichtigenden Beträge) als Jahresrohmiete für solche Grundstücke oder Grundstücksteile, 1. die eigengenutzt, ungenutzt, zu vorübergehendem Gebrauch oder unentgeltlich überlassen sind, 2. die der Eigentümer dem Mieter mit Rücksicht auf persönliche (insbesondere verwandtschaftliche) oder wirtschaftliche Beziehungen oder mit Rücksicht auf ein Arbeits- oder Dienstverhältnis zu einem um mehr als 20 vom Hundert von dem üblichen Mietzins abweichenden Entgelt überlassen hat. Die übliche Miete ist in Anlehnung an die Jahresrohmieten zu schätzen, die für Räume gleicher oder ähnlicher Art und Lage regelmäßig vereinbart sind.“ Zu den nach den Wertverhältnissen des 1. Januar 1935 zu bewertenden Grundstücken gehörte auch ein Mietwohngrundstück in der Fischergasse 14 in Breslau. Es gehörte zum (und bildete anscheinend das wesentliche) Vermögen der unselbständigen, von der Synagogengemeinde Breslau in Vollziehung eines Schenkungsvertrages vom 13. Mai 1873 verwalteten Adolf-­und-Berta-Wollenberg-Stiftung. Dem Willen der Stifter gemäß diente es zur Gewährung von Wohnungen an unbemittelte jüdische Familien oder alleinstehende jüdische Personen gegen einen niedrigeren als den 43 RGBl. I, S. 1035. 44 Hierzu Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 16 Rz. 6, 17 f. 45 RGBl. I, S. 81. 46 § 1 des Gesetzes über den Geldentwertungsausgleich bei bebauten Grundstücken (RGBl. I 1926, S. 251).

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ortsüblichen (durchschnittlich 50 bis 60 vom Hundert dessen betragenden) Mietzins.47 Auf Grund eines Gesetzes aus dem Jahre 1847 waren die jüdischen Einwohner Preußens nach ihren Wohnsitzen in „Synagogengemeinden (Judenschaften)“ genannten öffentlichrechtlich gebildeten Zwangs­körperschaften zusammengeschlossen, deren Zuschnitt den Grenzen der Synagogenbezirke folgte.48 Der Synagogengemeinde Breslau gehörten um 1935 noch rund 20.000 Personen an.49 Das Finanzamt Breslau-Mitte bewertete das Mietwohngrundstück Fischergasse 14 unter Zugrundelegung einer üblichen Miete von 2.777 RM unter Hinzurechnung eines Zuschlages von 5  vom Hundert wegen Nichtbelastung mit Gebäudeentschuldungsteuer mit 14.600 RM. Auf den Einspruch der Synagogengemeinde hin griff das Finanzamt zu einer Reformatio in peius50 und erhöhte die als üblich zugrunde gelegte Miete auf 3.471 RM, wodurch sich ein Einheitswert von 18.200 RM ergab.51 Die Berufung führte zu einer Herabsetzung auf 16.400 RM und blieb im Übrigen erfolglos.52 Zu ihrer Begründung hatte der  Synagogengemeindevorstand unter anderem geltend gemacht, die Voraussetzungen des § 34 Abs. 4 RBewDB 1935 lägen nicht vor, deshalb müsse das Grundstück nach der tatsächlichen (niedrigeren) statt nach der üblichen Miete bewertet werden.53 47 Vergleiche BArch, R 37/III A 200/37, Bl. 7r f. 48 Gesetz über die Verhältnisse der Juden vom 23.7.1847, PrGS 1847, S. 263. Dieses bestimmte in seinem Titel II („Kultus- und Unterrichts-Angelegenheiten der Juden“) Abschnitt I („Bestimmungen für alle Landestheile, mit Ausschluß des Großherzogthums Posen“): „§. 35. Die Juden sollen nach Maaßgabe der Orts- und Bevölkerungs-Verhältnisse dergestalt in Synagogengemeinden (Judenschaften) vereinigt werden, daß alle innerhalb eines Synagogenbezirks wohnende Juden einer solchen Gemeinde angehören. §. 36. Die Bildung der Synagogenbezirke erfolgt durch die Regierungen nach Anhörung der Betheiligten. Die Regierungen sind ermächtigt, die in dieser Weise gebildeten Synagogenbezirke nach dem Bedürfnisse abzuändern und die hierauf bezüglichen Verhältnisse, unter Zuziehung der Betheiligten, einschließlich der etwa vorhandenen Gläubiger, zu ordnen. §. 37. Die einzelnen Synagogengemeinden erhalten in Bezug auf ihre Vermögensverhältnisse die Rechte juristischer Personen.“ 49 Zur Zahl der jüdischen Einwohner Breslaus Jersch-Wenzel in Jersch-Wenzel (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Juden in polnischen Archiven, Bd. 2: Ehemalige preußische Provinz Schlesien, 2005, S. XXIII. 50 Beachte hierzu die zum Zeitpunkt des Ergehens der Einspruchsentscheidung, am 26.10.1936 (BArch, R 37/III A 200/37, Bl. 2r), durch § 243 Abs. 3 AO 1931, dessen Verletzung die Berufungsführerin auch rügte (BArch, R 37/III A 200/37, Bl.  3r), gezogenen Grenzen. Zum Zeitpunkt der finanzgerichtlichen Entscheidung, am 26.4.1937 (BArch, R 37/III A 200/37, Bl. 2r), war die Vorschrift dahingehend geändert worden, dass eine Reformatio in peius schrankenlos zulässig war (§ 28 Nr. 54, § 32 EinfGRealStG vom 1.12.1936, RGBl. I, S. 961), worauf das Finanzgericht auch hinwies (BArch, R 37/III A 200/37, Bl. 4r f.). 51 BArch, R 37/III A 200/37, Bl. 2v. 52 Urteil des Finanzgerichts bei dem Oberfinanzpräsidenten Schlesien vom 26.4.1937 – FG. VIII, 133/1936, amtliche Abschrift in BArch, R 37/III A 200/37, Bl. 2r ff. 53 BArch, R 37/III A 200/37, Bl. 2v f.

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Unter dem 30. Juni 1937 legte der Synagogengemeindevorstand Rechtsbeschwerde mit dem Antrag ein, den Einheitswert 1935 unter Zugrundelegung der tatsächlichen Jahresrohmiete vom 1. Januar 1935 von 1.908,08 RM, des Vervielfältigers 5 und eines Zuschlages von 5 vom Hundert wegen Nichtbelastung mit Gebäudeentschuldungsteuer auf 10.000 RM festzusetzen.54 Zur Begründung führte er aus: „Die angefochtene

Entscheidung beruht auf unrichtiger Anwendung des § 34 Abs.4 RBewDB. Dieser sieht die Zugrundelegung einer fingierten üblichen statt der tatsächlichen Rohmiete vor, wenn die Räume den Mietern mit Rücksicht auf persönliche (insbesondere verwandtschaftliche) oder wirtschaftliche Beziehungen, oder mit Rücksicht auf ein Arbeits- oder Dienstverhältnis zu einem billigeren Mietzins überlassen werden. Das Finanzamt erblickt die persönlichen Beziehungen der Vermieterin zu den Mietern in diesem Falle darin[,]55 daß die Mieter Juden sein müssen, und die Vermieterin eine Synagogen-Gemeinde ist, zu deren zweckgebundenem Vermögen die unselbständige Adolf und Berta Wollenberg-Stiftung gehö[rt.] Diese Auffassung ist unzutreffend. Der Begriff ‚persönliche Beziehungen‘, dessen Bedeutung noch durch die Hinzufügung ‚insbesondere verwandtschaftliche‘ erläutert wird, ist sich[t]lich eng auszulegen. Aber selbst wenn man ihn recht weit au[s]legt, ist er keinesfalls anwendbar auf das Verhältnis zwisc[hen] einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft, der auf Grund gesetzlicher Zwangsmitgliedschaft (vgl.das Gesetz über die Verhältnisse der Juden vom 23.Juli 1847, GS.1847 S.263 ff ) fast 20 000 Personen angehören, und ihren Mitgliedern. [¶] Das Finanzgericht hält dieses Ergebnis für unrichtig im Hi[n]blick darauf, daß ein einem Arbeitgeber gehöriges Haus, de[ssen] Wohnungen aus durchaus billigenswerten Erwägungen den Mietern mit Rücksicht auf das Dienstverhältnis zu einem niedr[igen] Mietzins überlassen sind, unter Zugrundelegung der übliche[n] Miete zu bewerten ist. Auch insoweit kann indessen dem Finanzgericht nicht gefolgt werden. In § 34 Abs.4 RBewDB werden die beiden Fälle der persönlichen Beziehungen und des Arbeits- oder Dienstverhältnisses gesondert aufgeführt. Es geht daher nicht an, zur Auslegung des Begriffs ‚persönliche Beziehungen‘ den anderen Fall heranzuziehen. Die Auffassung des Finanzgerichts wäre haltbar, wenn die Durchführungsbestimmungen zum Reichsbewertungsgesetz etwa allgemein vorgesehen hätten, daß die übliche statt der tatsächlichen Jahresrohmiete anzuwenden sei, wenn der Eigentümer dem Mieter die Räume mit Rücksicht auf besondere Umstände zu einem verbilligten Mietzins überlassen hat. Eine solche Bestimmung hat der Gesetzgeber aber nicht getroffen. Die einzelnen Fälle, die er anführt, sind nicht etwa blosse Beispiele eines solchen allgemeinen Grundsatzes, sondern die erschöpfende Aufzählung der Ausnahmen von dem Grundsatze, daß die tatsächliche Rohmiete zu Grunde zu legen ist. Das Finanzgericht übersieht aber auch den wesentlichen Unterschied zwischen dem hier maßgebenden Sachverhalt und dem von ihm zum Vergleich herangezogenen Falle des Arbeitgebers, der seinen Arbeitnehmern mit Rücksicht auf das Dienstverhältnis die Wohnungen verbilligt. Dieser Arbeitgeber tut das nämlich regelmäßig, so sehr dabei auch eine billigenswerte soziale Einstellung mitsprechen mag, im wohlverstandenen eigenen wirtschaftlichen Interesse, sei es, daß er die verbilligte Miete bei der Bemessung des Barlohns berücksichtigt, sei es, daß er nur die Erhaltung eines festen 54 BArch, R 37/III A 200/37, Bl. 5. 55 Einige Zeilenenden auf BArch, R 37/III A 200/37, Bl. 5v sind wegen der Heftung nicht lesbar; die mutmaßlichen Zeichen wurden in eckigen Klammern ergänzt.

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Stammes leistungsfähiger Arbeitnehmer erreichen will. Dieses wirtschaftliche eigene Interesse scheidet aber in dem vorliegenden Falle gänzlich aus.“56

Der zuständige III. Senat des Reichsfinanzhofs zeigte sich unbeeindruckt. Ohne dass eine über Redaktionelles hinausgehende Beratung aus der Akte ersichtlich wäre, wiesen die Richter Seweloh, Kraft, Schrankenmüller, Haag und Koch die Rechtsbeschwerde am 7. Oktober 1937 ohne mündliche Verhandlung als unbegründet zurück.57 Ausdrücklich den (wörtlich zitierten) Ausführungen des Finanzgerichts – dass der Begriff der persönlichen Beziehungen in § 34 Abs. 4 Nr. 2 RBewDB 1935 im Interesse der Gleichmäßigkeit der Bewertung weit auszulegen sei und dass es untragbar erscheine, ein einem Arbeitgeber gehörendes, Belegschaftsangehörigen überlassenes Mietwohngrundstück nach der üblichen Miete zu bewerten, das streitgegenständliche Mietwohngrundstück jedoch nicht – beitretend, bemerkte der Senat: „Der Zusatz zu dem Wort ‚persönliche‘ Beziehungen: ‚insbesondere verwandtschaftliche‘ dient zur Erläuterung und soll offensichtlich nur den nächstgelegenen und häufigsten Fall, aber keineswegs erschöpfend alle Fälle aufführen, die nach dem Willen des Verordnungsgebers in Betracht kommen können. Es ist nicht einzusehen, warum die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft und zu einer Kultusgemeinde nicht auch eine ‚persönliche‘ Beziehung im Sinne der genannten Vorschrift bilden soll. Der Umstand, daß die Zugehörigkeit auf Grund einer gesetzlichen Bestimmung besteht, schließt dies nicht aus.“58

Dem Reichsministerium der Finanzen scheint das Urteil gefallen zu haben; es veröffentlichte es im Reichssteuerblatt 1937, S. 1270 f. Liest man dort weiter, stößt man auf die Entscheidung III A 190/37 vom 14. Oktober 193759, welche zeigt, daß der Reichsfinanzhof auch in anderen Fällen – nicht nur zu Lasten jüdischer Steuerpflichtiger – ein aus heutiger Sicht bemerkenswert weites Verständnis des in § 34 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 RBewDB 1935 niedergelegten Tatbestands hatte. 2. Das Urteil IV 47/41 S vom 20.11.1941 § 34 EStG 193960 bestimmte in seinen Absätzen 1 und 2: „(1) Übersteigt das Einkommen 6000 Reichsmark und sind darin außerordentliche Ein-

künfte enthalten, so ist auf Antrag die Einkommensteuer für die außerordentlichen Einkünfte auf 10 bis 25 vom Hundert der außerordentlichen Einkünfte zu bemessen. Auf die anderen Einkünfte ist die Einkommensteuertabelle anzuwenden. (2) Als außerordentliche Einkünfte im Sinn des Absatzes 1 kommen nur in Betracht: […] 4. Zinsen, die nach den §§ 14, 34 und 43 des Gesetzes über die Ablösung öffentlicher Anleihen vom 16. Juli 1925 […] bei der Einlösung von Auslosungsrechten bezogen werden.“

56 BArch, R 37/III A 200/37, Bl. 5v f. 57 BArch, R 37/III A 200/37, Bl. 7v ff. 58 BArch, R 37/III A 200/37, Bl. 8r; siehe auch S. 2 des Bl. 10 der Akte nachgehefteten (nicht foliierten) Umdrucks der Entscheidung. 59 RStBl. 1937, S. 1271. 60 RGBl. I, S. 297.

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In seiner Einkommensteuererklärung für den Veranlagungszeitraum 1939 erklärte der Breslauer Steuerpflichtige Bankdirektor i. R.61 Justizrat Dr. Friedrich Milch, den das nationalsozialistische Namensrecht zwang, „Israel“ als zweiten Vornamen anzugeben62, den Zufluss von 2981,25 RM Zinsen aus Auslosungsrechten im Sinne des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG 1939 und beantragte dafür gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 EStG 1939 die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes. Bei der Veranlagung entsprach das Finanzamt Breslau-Süd diesem Antrag unter Hinweis auf Abschn.  92 EStR 193963 nicht.64 Diese Richtlinie lautete: „Die Vergünstigungen, die für außerordentliche Einkünfte in den Abschnitten 85 bis 9165 und in besonderen Erlassen vorgesehen sind, gelten nicht für Juden.“

Die Anfechtung des Steuerpflichtigen gegen den Steuerbescheid vom 29. November 1940 wies der Oberfinanzpräsident Schlesien, auf seine Bindung an die Verwaltungsvorschrift, zu deren Erlass der Reichsminister der Finanzen gemäß § 12 AO ermächtigt sei, hinweisend, aber wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Streitsache die Rechtsbeschwerde zulassend66, mit Anfechtungsentscheidung vom 4. Februar 1941 als unbegründet zurück.67 Unter dem 7. Februar 1941 legte der Steuerpflichtige Rechtsbeschwerde ein, die er insbesondere wie folgt begründete: „§12 Abs 1 der Reichsabgabenordnung ermächtigt

den Reichs­minister, zur Durchführung und zur Ergänzung der vom Reich erlassenen Steuergesetze ­Rechtsverordnungen zu erlassen. Er kann insbesondere den Umfang der Befreiungen, Steuerermässigungen und Steuervergütungen näher bestimmen. [¶] Durchführungsbestimmungen setzen begrifflich voraus, dass die Bestimmung bestehen bleibt und Anordnungen über Einzelheiten ihrer Anwendung getroffen werden. Wenn die Richtlinien bestimmen, dass §34 auf Juden keine Anwendung finden soll, so

61 Ob er verfolgungsbedingt (siehe etwa die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12.11.1938, RGBl. I, S. 1580) in den Ruhestand getreten war, geht aus der Akte nicht hervor. 62 § 2 Abs. 1 der Verordnung vom 17.8.1938, RGBl. I, S. 1044; siehe ergänzend Buchst. A sowie Anlage der „Richtlinien über die Führung von Vornamen“ (Runderlass des Reichsministers des Innern v. 18.8.1938 – I d 42 X/38-5501 b, RMBliV. S. 1345). 63 RStBl. 1940, S. 73. 64 Siehe BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 2v. 65 Unter diesen Nummern wurden zunächst eine Grundregel für die Ermessensausübung gegeben (Abschn.  85 Abs.  1 – danach ist die Einkommensteuer für die außerordentlichen Einkünfte in der Regel nach dem Steuersatz zu bemessen, der sich bei der Anwendung der Einkommensteuertabelle auf das übrige Einkommen als durchschnittlicher Hundertsatz ergibt, der Steuersatz beträgt jedoch mindestens 10 und höchstens 25 vom Hundert) und sodann verschiedene Sonderfälle abgehandelt. Abschn. 87 bestätigt, dass Zinsen der fraglichen Art außerordentliche Einkünfte im Sinne des § 34 EStG 1939 seien, und ordnet an, dass die Einkommensteuer dafür „nach Abschnitt 86 Absatz 1 zu bemessen“ sei. Abschn. 86 Abs. 1 EStR 1939 bezieht sich allerdings auf Zwangsveräußerungen von land- und forstwirtschaftlichen Betrieben oder Teilbetrieben und scheint nicht zu passen. Vermutlich liegt ein Druckfehler vor, und Abschn. 85 Abs. 1 war gemeint. Das ergäbe aus heutiger Sicht Sinn. 66 Abschnitt IV Abs. 5 des Erlasses vom 28.8.1939, RGBl. I, S. 1535. 67 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 2.

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ist dies eine Aufhebung und keine Bestimmung über die Art der Anwendung des §34. Dieser § enthält eine Bewertungsvorschrift und zwar eine solche zwingenden Rechts, wie die Fassung„ist“ zu bemessen ergiebt. Im Wege der Durchführungsverordnung könnte nur bestimmt werden, dass in gewissen Fällen der niedrigste, in andern der höchste oder ein mittlerer Satz zwischen 10 und 25% anzuwenden ist. [¶] Als Ergänzung kann die Richtlinie nicht angesehen werden, da eine solche begrifflich eine Lücke im Gesetz voraussetzt.“68

Der Oberfinanzpräsident Schlesien übersandte die bei ihm am 10. Februar 1941 eingegangene Rechtsbeschwerde nebst den Finanzamtsakten unter dem 24. Februar dem Reichsfinanzhof, wo sie am 6. März einging und dem IV. Senat zugewiesen wurde.69 Zum Berichterstatter wurde Richter Fleischmann, zum Mitberichterstatter Richter Zeißig ernannt. Der Berichterstatter legte unter dem 23. April 1941 sein Votum maschinenschriftlich vor. Nach einem knappen, mit dem Satz „Der Pfl.70 ist Jude“ beginnenden Sachbericht gab Richter Fleischmann „zwei Möglichkeiten zur Besprechung. Erste Möglichkeit: Die RB.71 ist unbegründet. Nach Abschn. 92 der EStR 1939 gelten die Vergünstigungen, die für außerordentliche Einkünfte in den Abschnitten 85 bis 91 und in besonderen Erlassen vorgesehen sind, nicht für Juden. Es handelt sich hierbei um Auslegung der Steuergesetze nach den Grundsätzen nat.soz. Weltanschauung. Für die treffende Auslegung des Gesetzes sind im nat.soz. Staat in erster Linie der zuständige Fachminister und der Stellvertreter des Führers befugt. Als dessen Beauftragter zur Wahrung der Grundsätze des Nationalsozialismus in der gesamten Steuergesetzgebung ist der Staatssekretär72 im RFM.73 bestimmt74. In dem Erlaß einer Verwaltungsanordnung durch den Fachminister ist daher 68 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 4r. 69 Siehe BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 1r. 70 [Steuer-]Pflichtige. 71 Rechtsbeschwerde. 72 Fritz Reinhardt (1895–1969). 73 Reichsfinanzministerium. 74 Hier handschriftlicher Zusatz: „(Hinweis auf RStBl 1935 S. 641, 647)“. Dort ist die Rede abgedruckt, die Staatssekretär Reinhardt anlässlich der Einführung des RFH-Präsidenten Mirre (1878–1954) am 13.4.1935 hielt. Auf der in Bezug genommenen Seite sagt Reinhardt: „Die Steuergerichte werden angerufen, um festzustellen, ob die Auslegung durch die Steuerverwaltungsbehörde dem Willen des Gesetzgebers und der nationalsozialistischen Welt­ anschauung entspricht. Gesetzgeber ist der Führer. Ihm zur Seite stehen als seine Vertrauensmänner die einzelnen Fachminister und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, vertreten durch den Stellvertreter des Führers [dies war der Titel Rudolf Heß’ ]. […] Es ist früher wiederholt vorgekommen, daß die Steuergerichte sich auch mit der Frage befaßt haben, ob die Durchführungsverordnung oder Verwaltungsvorschrift mit dem Gesetz in Einklang stehe, und daß sie, wenn sie zur Verneinung der Frage kamen, die Verordnung oder Vorschrift nicht anerkannten. Dazu sind die Steu-

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durch Mitwirkung des Staatssekretärs im RFM. die Zustimmung des Stellvertreters des Führers gegeben. Die durch eine derartige Verwaltungsanordnung erfolgte Auslegung des Gesetzes ist damit die Auslegung, die der Gesetzgeber dem Gesetz gibt. Sie ist als solche für die Steuergerichte bindend. Hieraus ergibt sich im vorl. Fall für den Stpfl,75, daß er als Jude auf Anwendung der Vergünstigungsvorschrift des § 34 EStG keinen Anspruch hat. Diesen Rechtsstandpunkt vertritt auch die VE.76 Die RB. war daher als unbegründet abzuweisen. Zweite Möglichkeit: Die RB. des Pfl. führt zur Aufhebung der VE. Steuerpflichtige haben einen gesetzlichen Anspruch darauf, daß beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 34 EStG die EinkSt.77 für außerordentliche Einkünfte auf 10 bis 25 v.H. der außerordentlichen Einkünfte bemessen wird. Die Festlegung des in diesem Rahmen anzuwendenden Steuersatzes für die außerordentlichen Einkünfte erfolgt bei der Veranlagung nach dem Ermessen des FA.78 Zur praktischen Durchführung der Vorschrift des § 34 hat der RdF.79 den FÄ.80 in Hauptabschn.XV C Abschn.85 bis 92 der EStR für 1939 nähere Verwaltungsvorschriften gegeben, woran die FÄ. bei Ausübung ihres Ermessens gebunden sind. Nach Abschn. 92 dieser Richtlinien gelten die Vergünstigungen, die für außerordentliche Einkünfte in den Abschnitten 85 bis 91 und in besonderen Erlassen vorgesehen sind, nicht für Juden. Das EStG selbst enthält keine Bestimmung, wonach die Vergünstigungsvorschrift des § 34 EStG nicht auch Juden zugutekommt. Hieraus ist zu schließen, daß das EStG 1939, das in anderer Hinsicht (vgl. § 32 Abs.6 EStG81 hinsichtlich Kinderermäßigung und Einordnung in die Steuergruppen) die Besteuerung der Juden erstmalig für das Kalenderjahr 1939 grundlegend geändert hat [mit Bleistift durch-

ergerichte im nationalsozialistischen Staat nicht befugt. Für die treffende Auslegung des Gesetzes sind im nationalsozialistischen Staat in erster Linie der zuständige Fachminister und der Stellvertreter des Führers befugt. Der Erlaß von Verwaltungsverordnungen und Verwaltungsvorschriften durch den zuständigen Fachminister bedarf der Zustimmung des für die Wahrung der nationalsozialistischen Grundsätze bei der Fertigstellung und bei der Auslegung der Gesetze verantwortlichen Stellvertreters des Führers. Dessen Beauftragter zur Wahrung der Grundsätze des Nationalsozialismus in der gesamten Steuergesetzgebung bin ich selbst.“ 75 Steuerpflichtigen (falscher Beistrich [statt Punkt] so in der Quelle). 76 Vorentscheidung. 77 Einkommensteuer. 78 Finanzamts. 79 Reichsminister der Finanzen. 80 Finanzämtern. 81 Die Vorschrift (dazu Voß, Steuern im Dritten Reich, 1995, S. 154 f.) lautete wie folgt: „Juden, die eheliche Abkömmlinge oder Stiefkinder haben, fallen in die Steuergruppe IV, wenn hinsichtlich der Abkömmlinge oder Stiefkinder die Voraussetzungen des Absatzes 5 gegeben sind. Sind diese Voraussetzungen nachträglich weggefallen (z. B. durch Tod des Abkömmlings oder Stiefkinds), so ist die Steuergruppe III anzuwenden. In allen anderen Fällen gilt für Juden die [ungünstigste ] Steuergruppe I.“

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gestrichen und durch die darüber geschriebenen Worte „näher regelt“ ersetzt82; sowohl der Durchstrich als auch die ersetzenden Worte sind mit Tinte nachgezogen worden83], den Juden die Anwendung der Ausgleichungsvorschrift des § 34 EStG nicht grundsätzlich versagen will. Es kann auch der Abschn.92 der EStR 1939, wie dies schon sein Wortlaut besagt, nur in dem Sinne verstanden werden, daß für Juden die Vergünstigungen, die für außerordentliche Einkünfte in den Abschnitten 85 bis 91 und in besonderen Erlassen vorgesehen sind, nicht gelten. Die FÄ. sollen daher bei Ausübung ihres Ermessens hinsichtlich des für außerordentliche Einkünfte festzusetzenden Steuersatzes die ihnen durch die Abschnitte 85 bis 91 gegebenen besonderen Vorschriften nicht auch bei Juden zur Anwendung bringen. Darüber hinaus können aber Juden die Vergünstigungsvorschrift des § 34 EStG ebenfalls für sich in Anspruch nehmen. Die VE., die dies verkannt hat, war wegen Rechtsirrtums aufzuheben. Die Sache ist noch nicht spruchreif. Sie wird an das FA zurückverwiesen, damit dieses auf vorstehender Rechtsgrundlage erneut entscheidet.“84

Der Mitberichterstatter schrieb einen Tag später (handschriftlich, auf das letzte Blatt des Erstvotums): „Ich trete dem Vorschlag II bei, d. h. für den Bf. als Juden gilt nicht die

Anordnung, daß im Fall des §  34 Abs.  2 Ziff.  4 EStG die in EStR für 1939 Abschn.  8685 Abs. 1 bestimmten Sätze anzuwenden sind. Für ihn gilt der in Abschn. 85 für die Regel vorgeschriebene Satz, der im vorl. Fall 25 % beträgt.“86

Eine erste Beratung des Senats scheint am 30. April 1941 stattgefunden zu haben.87 Über deren Ergebnis gibt eine in der Verfahrensakte folgende, handgeschriebene, von beiden Berichterstattern paraphierte Verfügung des Senatsvorsitzenden, des Richters Zülow, vom 3. Mai 1941 Auskunft. Darin wird ein Schreiben an den Reichsminister der Finanzen angeordnet, dem der Erstbericht als Anlage beizufügen sei und das folgenden Wortlaut haben solle: „In der Rb IV 47/41 des Bankdirektors i. R. Dr. Friedrich Israel Milch in Breslau wegen Eink. St. 1939 beabsichtigt der Senat, der in anliegendem Bericht vorgeschlagenen zweiten Möglichkeit zuzustimmen. [¶] Ich bitte um

82 Am Rand Bleistiftanmerkung: „Schon im EStG 1938 [RGBl. I, S. 121; zu den damit eingeführten Benachteiligungen Voß, Steuern im Dritten Reich, 1995, S. 153 f.] findet sich die Bestimmung, daß für Kinder, die Juden sind, keine Kinderermäßigung gewährt wird (vgl. § 32 Ziff. 3 EStG 1938). Z“, wobei das „Z“ das Handzeichen des Senatsvorsitzenden, Zülow, ist. 83 Anscheinend berichtigte der Berichterstatter sein Votum, nachdem er vom Senatsvorsitzenden auf seinen Fehler hingewiesen worden war. Darüber hinaus finden sich, verstreut über den Votumstext, mehrere mit Tinte geschriebene geringfügige Änderungen formaler und stilistischer Art (wohl von der Hand des Berichterstatters); sie sind in dem hier wiedergegebenen Text eingearbeitet. 84 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 5 ff. 85 Vergleiche Fn. 65. 86 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 6r. 87 Siehe die Daten der handschriftlichen Vermerke des Senatsvorsitzenden „Zur Sitzung“ (26.4.) und des (mutmaßlichen) Geschäftsstellenbeamten Böhme (vergleiche BArch, R 37/ IV 47/41 S, Bl. 14av) „vorgem[erkt]“ (29.4.) auf BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 5r sowie des Handzeichens des Berichterstatters auf BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 7r (30.4.).

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Stellungnahme, gegebenenfalls nach Beitritt zum R.B. Verfahren § 287 Ziff. 2 A. O. gemäß.“88

Am 5. Juli 1941 ging ein auf den 30. Juni datiertes Schreiben des Finanzstaatssekretärs beim Reichsfinanzhof ein. Darin schrieb Reinhardt (nach einem knappen Sachbericht): „Ich kann mich damit [das heißt mit der Meinung des Senats] nicht einverstanden erklären. Das Finanzamt und der Oberfinanzpräsident haben den Antrag des Juden, ihm einen ermässigten Steuersatz (§ 34 Absatz 2 Ziffer 4 des Einkommensteuergesetzes) zuzubilligen, mit Recht abgelehnt. Die Ablehnung darf aber nicht so begründet werden, wie es der Bericht des vierten Senats in dem Abschnitt „Erste Möglichkeit“ vorsieht. Es handelt sich bei der Entscheidung, die der Reichsfinanzhof in der Rechtsbeschwerdesache des Juden Friedrich Israel Milch zu treffen hat, nicht um eine Frage der Gesetzesauslegung. Es ist die Frage zu entscheiden, wie der vorliegende Tatbestand nach nationalsozialistischer Weltanschauung zu beurteilen ist. Es würde der gesunden deutschen Volksanschauung widersprechen, wenn einem Juden der ermässigte Steuersatz (§ 34 Absatz 2 Ziffer 4 des Einkommensteuergesetzes) zugebilligt würde. Ich bitte, aus diesem Grund die Rechtsbeschwerde, die der Jude Friedrich Israel Milch eingelegt hat, zurückzuweisen. Ich sehe davon ab, dem Verfahren beizutreten. Ich bitte, die Entscheidung, die der Reichsfinanzhof in dem vorliegenden Fall trifft, in die Amtliche Entscheidungssammlung aufzunehmen und mir Abdrucke der Entscheidung zur Veröffentlichung im Reichssteuerblatt zuzuleiten.“89

Der Berichterstatter, dem das Schreiben des Staatssekretärs noch am Eingangstage mit Akten vorgelegt worden war90, verfasste unter dem 9. Juli 1941 ein neues Votum, welches das Schreiben größtenteils wörtlich übernahm und als dessen einzige eigene dogmatische Leistung die Hinzufügung eines Klammerhinweises auf § 1 Abs. 3 StAnpG91 hinter dem (übernommenen) Satz „Es ist die Frage zu entscheiden, wie der vorliegende Tatbestand nach nationalsozialistischer Weltanschauung zu beurteilen ist“ erkennbar ist.

88 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 7r. – 1938 bemerkte der erste, von 1918 bis 1930 amtierende Präsident des Reichsfinanzhofs, Jahn, rückblickend ein gewaltiges Anschwellen der an das Reichsfinanzministerium gerichteten Beitrittsersuchen seit 1933. Er sah darin ein Zeichen, dass die Unabhängigkeit des Reichsfinanzhofs stark gefährdet sei (Kumpf in FS 75 Jahre Reichsfinanzhof – Bundesfinanzhof, 1993, S. 23 [38 f.]). Vergleiche Zwilling in Meinl/Zwilling, Legalisierter Raub, 2004, S. 223 (262). 89 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 8. 90 Siehe den Stempel der Geschäftsstelle auf BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 8r. 91 Vom 16.10.1934, RGBl. I, S. 925 (insoweit von zwischenzeitlichen Änderungen nicht berührt). Siehe dazu die amtliche Begründung, RStBl. 1934, S.  1398, sowie den nachmals auch im RStBl. 1936, S.  1041, abgedruckten Vortrag Reinhardts, Beurteilung von Tatbeständen nach nationalsozialistischer Weltanschauung, DStZ 1936, 1291 (1293 ff.).

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Der Mitberichterstatter beharrte indes auf seiner Meinung. Er vermerkte tags darauf: „§ 34 ist eine reine Tarifvorschrift, die – soweit das Gesetz nichts anderes besagt – auf

alle Steuerpflichtigen anzuwenden ist. Von einer Steuerbegünstigung kann deshalb bei Anwendung einer solchen Tarifvorschrift nicht die Rede sein. Wenn dem H[errn] R. d. F. die Anwendung des § 34 EStG auf Juden untragbar erscheint, so möchte ihm anheimgegeben werden, das Gesetz zu ändern.“92

In einer zweiten Beratung des Senats am 17. Juli 1941 wurde die Sache vertagt.93 In der Sitzung vom 20. November fiel dann die Entscheidung, und zwar ganz im Sinne des Staatssekretärs: Unter „Gründe“ ist auf dem Urteilsvordruck schlicht eingetragen: „“, womit das (neue) Votum Fleischmanns vom 9. Juli gemeint war; es folgen die Unterschriften der Richter Zülow, Zeißig, Fleischmann, Streitel und Witting.94 Es gab allerdings noch ein Nachspiel. Der bei der letzten Beratung anwesende Richter Schefold war mit dem Ablauf unzufrieden und richtete am folgenden Tage ein Schreiben an den Senatsvorsitzenden: „In Sachen des Bankdirektors a.D. Dr. Friedrich Israel Milch von Breslau wegen ESt95

1939 hat das Reichsfinanzministerium durch Herrn Staatssekretär Reinhardt am 30. Juni 1941 den IV. Senat gebeten, die RB des Pfl. mit bestimmter Begründung zurückzuweisen und das Urteil mit dieser Begründung amtlich zu veröffentlichen. Dass diese Bitten als Weisungen gemeint sind, dürfte einem Zweifel nicht unterliegen. Sie sind so auch überwiegend in der gestrigen Sitzung des Senats aufgefasst worden und haben sich auf die geänderte Einstellung des Senats zur Sache entsprechend ausgewirkt. Ein solches Eingreifen der Verwaltung in einem einzelnen Steuerfall bedeutet einen Eingriff in die Freiheit der richterlichen Betätigung des RFH’s, die nicht zulässig sein kann. Solange der RFH als höchstes Steuergericht besteht,wird auch heute und für ihn als oberstes Verwaltungsgericht als Wille des Führers anzunehmen sein, dass seine Unabhängigkeit von der Verwaltung wenigstens insoweit gewahrt bleiben muss, dass diese nicht entscheidend in die Rechtsprechung für den einzelnen Fall eingreifen kann. Dass das der Wille des Führers ist, wird man auch ohne weiteres aus den Ausführungen des Herrn Reichsministers der Finanzen entnehmen dürfen, die er bei seinem kürzlichen Besuch in München vor dem RFH gemacht hat (vgl. nur den Hinweis auf den berühmten Fall des Müllers von Sanssouci96 in diesem Zusammenhang). Der RFH muss deshalb m.E. zur Erhaltung der in diesem Umfange nötigen Unabhängigkeit und zur Wahrung seines Ansehens nach aussen und innen dagegen Stellung neh92 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 12v. 93 Siehe den Vermerk Fleischmanns auf BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 12r. 94 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 13r. 95 Einkommensteuer. 96 Zu diesem legendenhaften Fall Kugler, Geschichte Friedrichs des Großen, 1856, S. 221.

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men, wenn, wie im Fall Milch von Seiten der Verwaltung die Unabhängigkeit seiner richterlichen Entschliessungen angetastet wird. Aus diesen Gründen bitte ich, anzuregen, dass der Herr Chefpräsident oder nach Besprechung der RFH im Gesamten an den Herrn Reichsminister der Finanzen die Bitte richtet, dafür besorgt zu sein, dass die richterliche Unabhängigkeit des höchsten Steuergerichts gewahrt bleibt, soweit das mit dem Führerprinzip vereinbar ist.“97

Der Senatsvorsitzende, Zülow, vermerkte am 22. November auf dem Schreiben: „Herrn Chefpräsidenten mit Akten vorgelegt.“ Darunter steht, mit grünem Stift (das heißt in der dem Gerichtspräsidenten vorbehaltenen Farbe) geschrieben: „Ges[ehen] M[irre] 24.11.“98 Am Schluss des Schreibens findet sich der abschließende Vermerk Zülows: „In der Finanzakademie [einer Bildungseinrichtung, die Lehrgänge für höhere Finanzbeamte anbot, mit Sitz in Berlin-Tegel99] zusammen mit Herrn Präsidenten Mirre [¶] am 5.12.41 mit Herrn Min.Dirig. Dr. Trapp besprochen [¶] am 6.12.41 Herrn Staatssekretär Reinhardt vorgetragen“.100

An der üblich gewordenen Rolle des Reichsfinanzhofs als Befehlsempfängers101 änderte sich freilich nichts. Und das Urteil IV 47/41 S wurde – wie Staatssekretär Reinhardt „erbeten“ hatte – in der amtlichen Sammlung abgedruckt.102 Den Rechtsbeschwerdeführer erreichte es indes nicht mehr. Nach dem Urteilsabdruck, womit die Verfahrensakten sonst üblicherweise enden, findet sich eine Verfügung der Geschäftsstelle, wonach dem Finanzamt Breslau-Süd Folgendes zu schreiben sei: „Ich übersende hiermit einen für den Juden Dr. Friedrich Israel Milch in Breslau

18, Friedrich Hebbel -Straße 4 (Steuer-Nr. 396/958), bestimmten Brief, der die Urteils­ ausfertigung der vom IV. Senat des Reichsfinanzhofs in der Einkommensteuersache 1939 getroffenen Entscheidung vom 20. 11. 1941 enthält; er konnte nach dem auf der Rückseite des Briefumschlags gemachten Vermerk des zustellenden Beamten dem Steuerpflichtigen nicht ausgehändigt werden, weil er unbekannt wohin verzogen ist. [¶] Ich bitte, falls eine neue Anschrift dort bekannt sein sollte, den Brief mit dieser zu versehen und nochmals an den Pflichtigen abzusenden. Anderenfalls bitte ich um Behandlung § 90 AO. gemäß [das heißt Zustellung durch Anheftung an zu behördlichen Aushängen bestimmter Stelle] und um entsprechende Benachrichtigung des Reichsfinanzhofs.“103 Das Finanzamt Breslau-Süd antwortete unter dem 31. Dezember 1941: „Da der Aufenthaltsort des Steuerpflichtigen nicht bekannt ist, habe ich die Zustellung des an ihn gerichteten Schreibens § 90 AO gemäß bewirkt. Das Schreiben habe ich ungeöffnet den 97 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 14. 98 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 14r. 99 Meinl in Meinl/Zwilling, Legalisierter Raub, 2004, S. 25 (28); Zwilling in Meinl/Zwilling, Legalisierter Raub, 2004, S. 223 (228). 100 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 14v. 101 Vergleiche Caesar/Hansmeyer, Haushalts- und Finanzwesen, in Jeserich/Pohl/von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4, 1985, S. 832 (836); sowie Fn. 88. 102 RFHE 51, 112; der Staatssekretär ließ es außerdem, wie angekündigt, im Reichssteuerblatt veröffentlichen (RStBl. 1941, S. 881). 103 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 17r.

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hier befindlichen Steuerakten beigefügt.“104 – Weder das Gedenkbuch des Bundesar-

chivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945)105 noch die Datenbank der Gedenkstätte Yad Vashem106 verzeichnen einen Friedrich Milch. Vielleicht ist er untergetaucht. Der erste Deportationszug aus Breslau verließ den Bahnhof Breslau-Odertor am 25. November 1941. 1005 Menschen107 wurden in dreitägiger Fahrt mit dem Zug ins litauische Kaunas verbracht und dort allesamt kurz nach der Ankunft erschossen. Nachtrag: Vorstehenden Text verfasste ich im Herbst 2016. Anderthalb Jahre später – zum ­ eitpunkt der Druckfahnenkorrektur – konnte ich in den Beständen des Leo Baeck Z ­Institute New York Folgendes ermitteln (Bestandsnummer AR 3085 – siehe den zweiseitigen maschinenschriftlichen Lebenslauf [daraus, S. II, auch das Zitat]): Dr. Friedrich Milch, geboren am 4. Mai 1870 in Breslau, von 1909 bis 1933 – seine Pensionierung erfolgte aus rassistischen Gründen (dies zu Fn. 61 oben) – Mitglied des Vorstandes der Schlesischen Boden-Credit-Actien-Bank in Breslau, hat tatsächlich überlebt. Nachdem er aus „Verwurzelung in Breslau und im Deutschtum“ lange ausgeharrt hatte, verließ er (im Alter von 71 Jahren) zusammen mit seiner Frau Elisabeth im Oktober 1941 seine schlesische Heimat und wanderte über Kuba in die USA aus. Er ließ sich in Chicago nieder, wo er, zunächst praktisch mittellos – nach Kriegsende wurde ihm Entschädigung aus der Bundesrepublik zuteil –, erst als Buchhalter arbeitete und später Deutsch an der Berlitz School unterrichtete. Er starb am 31. Mai 1966 im Alter von 96 Jahren in Chicago. S. K.

104 BArch, R 37/IV 47/41 S, Bl. 18r. 105 http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/ (abgerufen am 13.10.2016). 106 http://db.yadvashem.org/deportation/search.html?language=de (abgerufen am 13.10.2016). 107 Davon konnten 919 namentlich identifiziert werden: Scheffler/Schulle (Bearb.), Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, Bd. I, 2003, S. 171 ff.; siehe auch ebd. S. 83 ff. und S. 1 ff.

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1. Teil Geschichte des Rechtsschutzes im Steuerrecht … B. III.

Steuerrechtsschutz nach dem Zweiten Weltkrieg Von Volker Pfirrmann

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtsschutz während des Zweiten Weltkrieges

III. Rechtsschutz in der Besatzungszeit 1. Verfahren vor dem Finanzgericht 2. Rechtsmittelverfahren 3. Bewertung des Rechtsschutzsystems

IV. Rechtsschutz nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1. Verfassungsrechtliche und einfach-rechtliche Grundlagen des Steuerrechtsschutzes

2. Verfahren vor dem Finanzgericht 3. Rechtsmittelverfahren 4. Bewertung des Rechtsschutzsystems V. Rechtsschutz nach Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung 1. Verfahren vor dem Finanzgericht 2. Rechtsmittelverfahren VI. Rechtsschutz unter der Geltung des FGO-Änderungsgesetzes vom 21.12.1992 und des 2. FGO-Änderungsgesetzes vom 19.12.2000 VII. Fazit

I. Einleitung Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai 1945 brach in Deutschland eine neue Zeitrechnung an, nicht zu Unrecht hat sich dafür der Begriff „Stunde Null“ eingebürgert. Auch für den Steuerrechtschutz bedeutete der Untergang des Deutschen Reichs nicht lediglich eine Zäsur, sondern einen Neuanfang. Denn zumindest in den letzten Jahren der Nazi-Herrschaft konnte von Rechtsschutz nicht mehr die Rede sein. Mit dem vorliegenden Beitrag soll die Entwicklung des Rechtschutzsystems nicht objektiv, gewissermaßen von „oben herab“ in allen Einzelheiten dargestellt werden, was angesichts mehrerer grundlegender und einer Vielzahl kleinerer Änderungen der normativen Grundlagen auch gar nicht leistbar wäre1. Vielmehr sollen die Möglichkeiten, gegen finanzbehördliche Maßnahmen vorzugehen, schlaglichtartig aus der 1 Ausführliche und lesenswerte Darstellung bei Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Einf. FGO Rz. 1 ff.

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subjektiven Perspektive desjenigen beleuchtet werden, für den dieses System etabliert wurde. Ausgangspunkt der Darstellung wird daher ein fiktiver Steuerrechtsstreit sein, den ein ebenso fiktiver Steuerbürger mit seinem Finanzamt austrägt. Der Fall spielt an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten. Die Zeitpunkte sind dabei so gewählt, dass die großen Veränderungen des Rechtschutzsystems seit 1945 nachgezeichnet werden können. Die Orte sind wichtig, weil die „Güte“ des Rechtsschutzes – leider – manchmal auch vom Wohnsitz des Klägers abhängig war, erfreulicherweise aber nicht mehr ist. Inhaltlich – das ist aber eigentlich unwichtig – streitet der Steuerpflichtige über die Gewährung des ermäßigten Steuersatzes gemäß § 34 des Einkommensteuergesetzes (EStG), eine Regelung, die durchgehend seit 1934 im Einkommensteuerrecht enthalten ist. Es wird unterstellt, dass das zuständige Finanzamt in einer diesbezüglich höchstrichterlich ungeklärten Frage, etwa zum Vorliegen außerordentlicher Einkünfte, einen für den Steuerpflichtigen ungünstigen Rechtsstandpunkt einnimmt. Es erlässt einen entsprechenden Einkommensteuerbescheid. Der Streitwert beläuft sich auf 400 in der jeweils geltenden Währung (Reichsmark, Deutsche Mark, Euro). Für den Kläger stellen 400 Mark viel Geld dar. Diese Information ist wichtig, weil die konkrete Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems stets auch eine soziale Komponente aufweist. Streitwertrevision, Anwaltszwang, Prozesskosten und Prozesskostenhilfe sollen als Stichworte an dieser Stelle genügen. Beginnen wird die Darstellung mit der Kriegszeit. Man mag einwenden, dass das Thema des Aufsatzes damit ein wenig verfehlt wird. Allerdings markiert gerade der Beginn des zu betrachtenden Zeitraumes einen der entscheidenden Wendepunkte im Rechtsschutzsystem, der schon der Anschaulichkeit wegen einen kurzen Rückblick wert ist. Auf die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR wird nicht weiter eingegangen2. Diesem Thema widmet sich ein gesonderter Beitrag in dieser Festschrift. Betrachtet, und das soll jetzt die letzte Vorbemerkung sein, wird ausschließlich der gerichtliche Rechtsschutz. Ungeachtet der Tatsache, dass auch das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren der Reichsabgabenordnung (RAO) und der Abgabenordnung (AO) dem Rechtsschutz des Steuerpflichtigen dient, handelt es sich doch der Sache nach um ein verlängertes Verwaltungsverfahren3. Nicht zuletzt ist die thematische Verengung auch dem Anlass für diese Festschrift geschuldet.

2 Nach dem Krieg wurden auf Anordnung der sowjetischen Besatzungsmacht Verwaltungsgerichte eingerichtet, die auch die Zuständigkeit für Finanzstreitigkeiten besaßen. Doch wurde der gerichtliche Rechtsschutz bereits im Jahr 1952 vollständig durch ein verwaltungsbehördliches Beschwerdeverfahren ersetzt (zu Einzelheiten vgl. Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 79 m.w.N.). 3 Vgl. nur Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 22 Rz. 9; Riewald, RAO, Teil II, 1951, Vorbemerkungen zu den §§ 228 bis 324, S. 410 zur Rechtslage nach der RAO.

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II. Rechtsschutz während des Zweiten Weltkrieges Nach Abschluss seiner Ermittlungen setzte das Finanzamt im Juli 1944 die Einkommensteuer für 1943 gemäß §§ 210 Abs. 1, 210b Abs. 1, 211 Abs. 1 RAO mit schriftlichem Steuerbescheid fest. Der Steuerpflichtige, der in Nürnberg wohnte, erhielt wenige Tage später den Bescheid, der entsprechend §  211 Abs.  2 Nr.  1 RAO eine Belehrung über das zulässige Rechtsmittel enthält. Er möchte die Versagung des ermäßigten Steuersatzes nicht hinnehmen. Gegen einen Einkommensteuerbescheid war nach § 228 Nr. 1 RAO als Rechtsmittelverfahren das Berufungsverfahren gegeben. Dieses Berufungsverfahren galt im Kern auch noch nach dem Krieg bis zum Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung (FGO), weshalb es schwerpunktmäßig im Abschnitt IV. dieses Beitrags darzustellen ist. An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass dem Bürger „an sich“ ein dreizügiges Rechtsmittelverfahren (§ 229 RAO: Einspruch und Einspruchsentscheidung des Finanzamts, Berufung und Urteil des Finanzgerichts, Rechtsbeschwerde und Urteil des Reichsfinanzhofs) zur Verfügung stand und daher seine Aussichten, eine Korrektur des Einkommensteuerbescheids 1943 herbeizuführen, auf den ersten Blick gar nicht so schlecht waren. Tatsächlich hatten die nationalsozialistischen Machthaber aber den gerichtlichen Rechtsschutz praktisch abgeschafft. Kriegsbedingt wurden die Finanzgerichte durch Führererlass vom 28.8.19394 durch die Anfechtungsabteilungen bei den Oberfinanzpräsidenten ersetzt5. Diese Abteilungen waren mit weisungsabhängigen Beamten ­besetzt. Gegen deren Entscheidung konnte zwar Rechtsbeschwerde zum Reichsfinanzhof (RFH) eingelegt werden, doch hing die Zulässigkeit des Rechtsmittels ausnahmslos von der Zulassung durch den Oberfinanzpräsidenten ab6, der dem Weisungsrecht des Reichministers der Finanzen (RMF) unterlag. Dieser wiederum sorgte in der Folgezeit für eine restriktive Zulassungspraxis7. Als Zulassungsgründe nannte der Führererlass die grundsätzliche Bedeutung der Sache oder die besonderen Umstände des Einzelfalles8. Wurde das Vorliegen der insbesondere im Hinblick auf den zweiten Zulassungsgrund völlig unbestimmten Kriterien seitens der Ver­ waltung verneint und die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen, dann war das Rechtsmittelverfahren beendet. Eine Nichtzulassungsbeschwerde oder ein vergleichbarer 4 RGBl. I 1939, 1535. 5 Die Finanzgerichte wurden nicht förmlich abgeschafft. Abschnitt IV. Abs. 4 des Führererlasses v. 28.8.1939 (RGBl. I 1939, 1535) ordnete lediglich an, dass im Anwendungsgebiet der RAO für die Besteuerung das Anfechtungsverfahren gemäß § 230 RAO gegeben war. Damit war das Berufungsverfahren durch das Anfechtungsverfahren ersetzt worden. Im Anfechtungsverfahren war gegen eine Entscheidung des Finanzamts nicht der Einspruch, sondern die Anfechtung gegeben, über die der Oberfinanzpräsident zu entscheiden hatte. Dessen Entscheidung unterlag der Rechtsbeschwerde zum RFH (§ 230 RAO). 6 Abschnitt IV. Abs. 5 des Führererlasses v. 28.8.1939, RGBl. I 1939, 1535. 7 Vgl. Henkelmann, Die Umgestaltung der Steuerverwaltung durch den Nationalsozialismus, 1947, S. 142. Das erklärt auch die seit 1940 ständig fallende Zahl der Entscheidungen des RFH. 8 Siehe Fn. 6.

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Rechtsbehelf existierte nicht. Einer willkürlichen Beschränkung des Rechtsschutzes war somit seit 1939 Tür und Tor geöffnet. Versteht man Verwaltungsrechtsschutz als den Gerichten obliegende Rechtmäßigkeitskontrolle des Verwaltungshandels, dann war der Steuerrechtsschutz seit Kriegsbeginn faktisch liquidiert, weil es ganz im Belieben der zu kontrollierenden Exekutive stand, ob sie sich der Kontrolle durch die Judikative unterwarf oder nicht. Ein aus heutiger Sicht unhaltbarer Zustand. Dem Steuerpflichtigen stand demnach im Wesentlichen die Anfechtung bei der Anfechtungsabteilung des Oberfinanzpräsidenten zur Verfügung, um eine Änderung der Steuerfestsetzung zu erreichen. Auch wenn er es, was ganz im Belieben der Verwaltung stand, mit seinem Fall bis zum RFH geschafft hätte, wären seine Chancen von vornherein eher schlecht gewesen, hatte der RFH doch im Laufe der Zeit die Rolle angenommen bzw. unter politischem Druck annehmen müssen, die ihm von Staatssekretär im RFM Reinhardt 1935 unmissverständlich mit den Worten, der Reichsfinanzhof sei im nationalsozialistischen Staat der Gehilfe des Reichsministers der Finanzen bei der Auslegung der Steuergesetze und bei der Entwicklung des Steuerrechts nach den Grundsätzen der nationalsozialistischen Weltanschauung9, zugedacht worden war10. Und fast mit Gewissheit war der Prozessausgang zu prognostizieren, wenn der Steuerbürger jüdischen Glaubens gewesen wäre, wie das in dieser Festschrift dargestellte Unrechtsurteil gegen Friedrich „Israel“ Milch wegen einer § 34 EStG betreffenden Steuersache drastisch aufzeigt11.

III. Rechtsschutz in der Besatzungszeit Als Stuttgarter lebte der Kläger Mitte des Jahres 1948 in der amerikanischen Besatzungszone als er seinen Einkommensteuerbescheid 1947 in Empfang nahm. Seine Rechtsschutzmöglichkeiten hatten sich gegenüber der Nazizeit erheblich verbessert. Das Ausmaß der Verbesserung hing allerdings entscheidend vom Wohnort des Einkommensteuerpflichtigen ab. Im Einzelnen: 1. Verfahren vor dem Finanzgericht Die Besatzungsmächte hoben 194612 den oben erwähnten Führererlass aus dem Jahr 1939 auf und ordneten die Errichtung von Verwaltungsgerichten und damit auch 9 Reinhardt, RStBl. 1935, 641 (648). 10 Zur RFH-Rechtsprechung im Dritten Reich siehe z.B. Uffelmann, Wie weit ist die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs von 1933–1945 noch anwendbar?, 1949; Kumpf in Diestelkamp/Stolleis, Justizalltag im Dritten Reich, 1988, S. 81; Felix, BB 1993, 1297. 11 Kempny, Unrechtsurteile der NS-Zeit, in FS 100 Jahre BFH, S. 39 ff. Jüdische Kläger konnten faktisch schon lange vor 1944 keine unparteiische Prüfung ihres Begehrens durch den RFH erwarten, wie die zahlreichen zum Nachteil von Juden ausgegangenen RFH-Verfahren zeigen (vgl. die Nachweise in Fn.  10). Wegen der massenhaften Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden ist ein 1944 von einem jüdischen Kläger geführtes Rechtsbeschwerdeverfahren ohnehin nicht vorstellbar. 12 Kontrollratsgesetz Nr. 36 v. 31.10.1946, ABl. des Kontrollrats 1946, 183.

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von Finanzgerichten an. Diese Anordnung wurde in den neu gegründeten deutschen Ländern in sehr unterschiedlicher Weise umgesetzt. Es lassen sich bei zahllosen Unterschieden im Detail zwei Hauptformen der Wiedereinrichtung von Steuergerichten unterscheiden13. In der ersten Gruppe von Ländern wurden mit Landesgesetzen oder auch mit untergesetzlichen Erlassen und Anordnungen Finanzgerichte im Sinne der RAO geschaffen. Es wurde damit im Wesentlichen gerichtsverfassungsrechtlich der Zustand vor 1939 wieder herbeigeführt. Die Finanzgerichte waren organisatorisch nicht selbstständig und mit Beamten der Finanzverwaltung besetzt. Diese waren allerdings in der Ausübung ihrer richterlichen Aufgaben keinen Weisungen unterworfen (vgl. § 48 Abs. 5 RAO: „Die Mitglieder der Finanzgerichte sind als solche unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.“). Zu diesen Ländern gehörten z.B. Baden, Württemberg-Baden, Rheinland-Pfalz sowie ein Teil der sowjetischen Zone14. Andere Länder  – beziehungsweise die Besatzungsmächte  – hoben die das FG be­ treffenden Vorschriften der RAO auf und etablierten selbständige, von der Fi­ nanzverwaltung getrennte Finanzgerichte. So wurde etwa in der gesamten britischen Besatzungszone vorgegangen (Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein). Ähnliches geschah in Hessen und in Bayern, damals ein Teil der amerikanischen Zone15. Diese Situation war nicht nur vorübergehender Natur, sondern bestand im Kern bis zum Inkrafttreten des sog. Vorschaltgesetzes im Jahre 1958 fort16. 2. Rechtsmittelverfahren Die starke Rechtszersplitterung setzte sich auch in der Frage fort, ob die Möglichkeit bestand, das Urteil des jeweiligen FG überprüfen zu lassen. Auch diesbezüglich hing der Rechtsschutz im Wesentlichen vom Wohnort des Steuerpflichtigen ab. Es gab wiederum zwei große Ländergruppen. In den Ländern der amerikanischen Besatzungszone (Bayern, Württemberg-Baden, Hessen und Bremen) gab es eine zweite Instanz. Es war die Rechtsbeschwerde zum Obersten Finanzgerichtshof gegeben.

13 Zu Einzelheiten mit Nachweisen vgl. die Darstellungen von Sunder-Plassmann (Fn. 1), und Seer in Tipke/Kruse, Einf. FGO Rz. 3 ff. 14 Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 73 ff. 15 Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 70 und 72 m.w.N. 16 Mit dem Gesetz über Maßnahmen auf dem Gebiet der Finanzgerichtsbarkeit v. 22.10.1957 (BGBl. I 1957, 1746), sog. Vorschaltgesetz, wurde der gerichtsverfassungsrechtliche Status der Finanzgerichte vereinheitlicht und geklärt (§ 1 „Die Finanzgerichte sind unabhängige, von den Verwaltungsbehörden getrennte Gerichte der Länder.“). Zudem wurde in § 2 die persönliche Unabhängigkeit der beamteten Richter angeordnet.

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Dieses Gericht hatte faktisch die Stellung des RFH eingenommen. Nachdem dessen Rechtsprechungstätigkeit bereits gegen Ende des Dritten Reichs kriegsbedingt17, aber – wegen der oben dargestellten restriktiven Zulassungspraxis der Oberfinanzpräsidenten – auch aus Mangel an Fällen nahezu zum Erliegen gekommen war, setzte der Tag der Kapitulation den Schlusspunkt in der kurzen Geschichte des RFH18. Erstaunlicherweise nahm aber nur wenige Wochen später der Oberste Finanzgerichtshof (OFH) an gleicher Stelle seine Arbeit auf. Die amerikanischen Besatzungsbehörden hatten auf Antrag der Bayerischen Staatsregierung, die eine Treuhandstellung für die Reichsfinanzverwaltung in Anspruch nahm, ihr Plazet gegeben; am 25.7.1945 wurde der frühere Senatspräsident beim RFH Dr. Schmittmann zum Präsidenten des neuen Gerichtshofs ernannt19. Dr.  Schmittmann wurde später der erste Präsident des BFH. Der OFH fungierte in der Folgezeit als Rechtsbeschwerdeinstanz, er nahm also insbesondere die Zuständigkeiten des RFH im Rahmen des Berufungsverfahrens der RAO in Anspruch. Die Rechtsbeschwerdeinstanz des Berufungsverfahrens wird weiter unten näher darzustellen sein. Die örtliche Zuständigkeit des OFH erstreckte sich zunächst nur auf den Freistaat Bayern, später auf die gesamte amerikanische Besatzungszone. Für diesen Teil Deutschlands gab es somit ein oberes Fachgericht, das für die einheitliche Anwendung der Steuergesetze Sorge tragen konnte20. Bei der zweiten Gruppe von Ländern endete der gerichtliche Rechtsschutz beim FG, so z.B. in Rheinland-Pfalz und Württemberg-Hohenzollern, die beide zur französischen Besatzungszone gehörten21. Erst mit der Errichtung des BFH im Jahr 1950 wurde dieser unbefriedigende Zustand beendet. 3. Bewertung des Rechtsschutzsystems Bezogen auf das Jahr 1948 gehörte der Kläger aus Stuttgart also eher zu den Glücklichen. Ort und Zeit seiner Klage waren günstig. Zwar verhandelte in erster Instanz 17 Nach Bombenschäden am Gerichtsgebäude waren einzelne Senate des RFH in ländliche Gebiete ausgelagert worden, vgl. List in FS v. Wallis, 1985, S. 15 (23); FS 60 Jahre Bundesfinanzhof, S.  14. Die letzte in die amtliche Sammlung aufgenommene Entscheidung des RFH datiert v. 1.3.1945 – V 41/43, RFHE 54, 178. 18 Zu dem aus heutiger Sicht eher bizarr anmutenden Streit, ob der RFH im Mai 1945 rechtlich aufgehört hat zu existieren, vgl. List in FS für v. Wallis, 1985, S. 25; FS 60 Jahre Bundesfinanzhof, S. 14, jeweils m.w.N. 19 Einzelheiten, insbesondere auch zum Personal des OFH und zur Entnazifizierung, siehe List (Fn. 17). 20 Die beim OFH anhängigen Verfahren gingen nach Errichtung des BFH nahtlos auf diesen über, vgl. § 7 Abs. 2 Satz 2 BFH-Gesetz. Die obergerichtliche Kontinuität zeigte sich auch in der Veröffentlichungspraxis. Die amtliche Sammlung als Veröffentlichungsmedium ging vom RFH über den OFH an den BFH über (siehe Band 54 der Amtlichen Sammlung, der die letzten Entscheidungen des RFH und die des OFH enthält). 21 Zur Situation in den Ländern der britischen Besatzungszone, vgl. Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 68a und 70.

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das Finanzgericht Stuttgart, das ein Gericht im Sinne der RAO, aber kein unabhängiges Gericht im Sinne des Grundgesetzes war. Allerdings stand ihm noch die Rechtsbeschwerde zum OFH offen. Den maßgeblichen Streitwert von 500 RM22 für die Rechtsbeschwerde erreichte er zwar nicht, aber die Frage war grundsätzlich bedeutsam und er konnte mit der Zulassung gemäß § 286 Abs. 1 Alt. 2 RAO rechnen. Wie zur Weimarer Zeit stand ihm demnach das gesamte dreistufige Rechtsmittelverfahren der Berufung nach der RAO zur Verfügung, um gegen den Einkommensteuerbescheid vorzugehen. Damit war eine wesentliche Verbesserung seines Rechtsschutzes gegenüber der Nazizeit und den ersten Nachkriegsjahren verbunden. Das kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwa ein in Ravensburg wohnhafter Steuerpflichtiger schlechter gestellt war. Bei ihm war mit dem von Beamten der Finanzverwaltung gesprochenen Urteil des Finanzgerichts Tübingen das Ende des Rechtschutzes erreicht23. Insgesamt war daher das Rechtsschutzsystem in der unmittelbaren Nachkriegszeit wegen der erheblichen Rechtszersplitterung und der dadurch ausgelösten Rechtsunterschiede objektiv unbefriedigend ausgestaltet. „Schuldvorwürfe“ an die Landesgesetzgeber sind mit dieser Bewertung angesichts der allgemeinen politischen Situation allerdings nicht verbunden.

IV. Rechtsschutz nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland Ein reiner Freudentag war der 4. Juli 1954 für den Steuerpflichtigen aus Nürnberg dann doch nicht gewesen. Als Fußballfan konnte er zwar den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft durch die deutsche Nationalmannschaft feiern, doch erhielt er aus den Händen seiner Frau die neueste Post, die eine abschlägige Entscheidung des Finanzamts über den von ihm eingelegten Einspruch enthielt. Er ist allerdings zuversichtlich, eine Korrektur der Verwaltungsentscheidung erreichen zu können, haben sich doch seine Rechtsschutzmöglichkeiten seit Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 194924 und nach Errichtung des Bundesfinanzhofs (BFH) signifikant verbessert. 1. Verfassungsrechtliche und einfach-rechtliche Grundlagen des ­Steuerrechtsschutzes In materieller Hinsicht eröffnete Art. 19 Abs. 4 GG dem Steuerbürger den Zugang zu den Gerichten, wenn er durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wurde. Ergänzt wurde diese Rechtsschutzgarantie durch die Regelungen im IX. Abschnitt des Grundgesetzes „Die Rechtsprechung“. Danach wird die rechtsprechende Gewalt 22 § 286 Abs. 1 RAO in der im Jahr 1948 geltenden Fassung (vor der Währungsreform im Juni 1948). 23 Vgl. Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 75. 24 BGBl. I 1949, 1.

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Richtern anvertraut, die persönlich und sachlich unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind (Art. 92, 97 GG). Vorgesehen wurde in Art. 96 GG a.F. außerdem die Errichtung eines oberen Bundesgerichts für das Gebiet der Finanzgerichtsbarkeit25 und in Art. 108 Abs. 5 GG a.F. wurde schließlich angeordnet, dass die Finanzgerichtsbarkeit durch Bundesgesetz einheitlich zu regeln ist (Gesetzgebungsauftrag). Weil der letztgenannte Auftrag vom Gesetzgeber erst mit der Finanzgerichtsordnung (FGO) vom 6.10.196526 erfüllt wurde, waren die Rechtsgrundlagen für das außergerichtliche und das gerichtliche Rechtsschutzverfahren im Jahr 1954 der grundsätzlich fortgeltenden RAO, dem Gesetz über den Bundesfinanzhof vom 29. Juni 195027 (BFH-Gesetz) und – insbesondere was die Verfassung der Finanzgerichte angeht – zahlreichen landesrechtlichen Vorschriften zu entnehmen. Schon diese Aufzählung macht deutlich, dass die im Abschnitt  III. beschriebene Rechtszersplitterung nicht überwunden war. Zudem blieben, was noch schwerer wiegt, die landesrechtlichen Vorschriften und die RAO in mancherlei Hinsicht hinter den verfassungsrechtlichen Vorgaben zurück, weshalb das gesamte Rechtschutzsystem in der Periode zwischen Gründung der Bundesrepublik und Inkrafttreten der FGO hohen rechtsstaatlichen Standards insgesamt noch nicht genügte. Im Einzelnen: 2. Verfahren vor dem Finanzgericht Für die praktisch wichtigsten Steuern, u.a. die Einkommensteuer, sah die RAO in §§ 229, 259 ff. das Berufungsverfahren vor28, das, wie oben bereits ausgeführt, dreistufig mit Einspruch, Berufung und Rechtsbeschwerde ausgestaltet war. Zunächst stand dem Steuerpflichtigen demnach der Einspruch zu, über den das Finanzamt durch Einspruchsentscheidung zu befinden hatte (§ 229 RAO). Ein Blick auf die einschlägigen Normen zeigt, dass das Einspruchsverfahren nach der RAO in seinen ­wesentlichen Grundzügen dem heutigen Rechtszustand ähnelt. Das Einspruchsverfahren war grundsätzlich dem Verfahren vor den Finanzgerichten vorgeschaltet, aus25 Art.  95 Abs.  1 GG  n.F., wonach der Bund für das Gebiet der Finanzgerichtsbarkeit als obersten Gerichtshof des Bundes den Bundesfinanzhof errichtet, wurde erst im Rahmen des Sechszehnten Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes v. 18.6.1968 (BGBl. I 1968, 657) geschaffen. 26 BGBl. I 1965, 1477. 27 BGBl. I 1950, 257. 28 Das Anfechtungsverfahren war das einschlägige Rechtsmittelverfahren für Bescheide, die Zölle oder Verbrauchssteuern betrafen (§ 228 und §§ 299 ff. RAO). Das Rechtmittelverfahren war zweizügig ausgestaltet mit einer Anfechtung, über die der Oberfinanzpräsident zu entscheiden hatte (§§ 299 Abs. 4, 301 RAO), und der Rechtsbeschwerde zum BFH (§ 301 Satz 2, 302 RAO). Mit dem sog. Vorschaltgesetz (siehe Fn. 16) wurde das Anfechtungsverfahren mit Wirkung ab 1.1.1958 abgeschafft. Rechtsschutz gegen Zölle oder Verbrauchssteuern betreffende Bescheide wurde fortan im Rahmen des Berufungsverfahrens gewährt. Es gab schließlich noch das Beschwerdeverfahren als drittes Rechtsmittelverfahren (vgl. §§ 303 ff. RAO). Auch dieses Verfahren war von nicht unerheblicher praktischer Bedeutung, es betraf z.B. die Versagung von Stundungen oder Billigkeitsmaßnahmen sowie die Festsetzung von Verspätungszuschlägen (siehe auch IV. Abschnitt, 4.).

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nahmsweise war mit Zustimmung des Finanzamts eine Sprungberufung zulässig (§ 261 RAO). Weil der Steuerpflichtige bereits die abschlägige Einspruchsentscheidung erhalten hatte und er die Sache nicht auf sich beruhen lassen wollte, legte er fristgerecht (Monatsfrist gemäß § 245 RAO) das dem gesamten Rechtsmittelverfahren seinen Namen gebende Rechtsmittel der Berufung ein. Damit hatte er den Gang zum Finanzgericht angetreten. Gerichtsverfassungsrechtlich war das nach Maßgabe des bayerischen Landesrechts errichtete Finanzgericht Nürnberg kein Finanzgericht im Sinne der RAO mehr. Der Landesgesetzgeber hatte die einschlägigen Vorschriften der §§ 47–51 RAO im Jahre 1948 ausdrücklich aufgehoben29. Für das Verfahren vor dem FG galten indes nach wie vor die Bestimmungen der RAO. Somit war das Berufungsverfahren im Kern kein gerichtliches Rechtsschutzverfahren, sondern ein verlängertes Verwaltungsverfahren30. Für den Kläger waren damit zahlreiche Vorteile, aber auch gewichtige Nachteile verbunden. So hatte er bei der Einlegung der Berufung und dem weiteren Verfahrensgang kaum Formalien zu beachten, was unverkennbar auch den Absichten des RAO-Gesetzgebers entsprach, das Rechtsmittel tunlichst nicht an verfahrensrechtlichen Formalien scheitern zu lassen31. Der Rechtsuchende benötigte keinen fachkundigen Prozessvertreter (kein Anwaltszwang, vgl. § 254 RAO)32, er konnte die Klage formlos schriftlich – sogar ohne Unterschrift (vgl. § 249 RAO) – einlegen oder mündlich zu Protokoll erklären. Eine Klagebegründung war ebenso wenig vorgeschrieben wie die Stellung eines bestimmten Antrages. Auch neue Tatsachen und Beweismittel durfte er formlos vorbringen, wie auch die Beweisaufnahme durch das – von Amts wegen ermittelnde (§ 243 Abs. 1 RAO) – Gericht keinen nennenswerten Formalanforderungen entsprechen musste. Selbst bei einem prozessualen Unterliegen vor dem FG konnte der Kläger ganz ohne sein Zutun sein Rechtsschutzziel doch noch erreichen, war doch der Vorsteher des Finanzamts befugt, zu Gunsten des Steuerpflichtigen Rechtsbeschwerde gegen das klageabweisende Urteil einzulegen (§ 285 Abs. 1 RAO)33. Der letztgenannte Gesichtspunkt ist einer von vielen Belegen dafür, dass das Berufungsverfahren im Kern ein verlängertes Verwaltungsverfahren war, welches der Steuerpflichtige mit seinem Einspruch oder der Berufung lediglich anstieß, das aber sodann seinen eigenen und von ihm nur noch schwer beeinflussbaren Gang nahm. 29 § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung der Finanzgerichtsbarkeit v. 19.5.1948, Bay. GVBl. 1948, 87. §  2 dieses Gesetzes ordnete die Errichtung der Finanzgerichte München und Nürnberg an. Die vom bayerischen Gesetzgeber aufgehobene Bestimmung des § 47 RAO sah vor, dass zur Entscheidung über das Rechtsmittel der Berufung bei den Oberfinanzpräsidien bzw. den früheren Landesfinanzämtern Finanzgerichte angegliedert sind. 30 Riewald (Fn. 3), S. 410. 31 Riewald (Fn. 3), S. 491. 32 Riewald (Fn. 3), S. 502. 33 Auch der verfahrensrechtlich an erster Stelle stehende Einspruch konnte vom Finanzamtsvorsteher zugunsten des Steuerpflichtigen eingelegt werden (§ 233 RAO).

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So bestand im gesamten Berufungsverfahren und damit auch in den Verfahren vor dem Finanzgericht und dem BFH keine Bindung an die Anträge des Steuerpflichtigen (§ 243 Abs. 2 RAO) mit der daraus resultierenden Pflicht sämtlicher Rechtsmittelbehörden einschließlich des BFH zur Verböserung. Ein Verbot der reformatio in peius bestand ausdrücklich nicht (§ 243 Abs. 3 RAO)34. Der drohenden Verböserung konnte der – zuvor anzuhörende – Kläger nur durch rechtszeitige Rechtmittelrücknahme gemäß § 253 RAO entgehen35. 3. Rechtsmittelverfahren Für den Fall der Zurückweisung seiner Berufung durch das Finanzgericht Nürnberg stand dem Kläger noch der Rechtsweg zum BFH offen. Während der gerichtsverfassungsrechtliche Status vieler Finanzgerichte im Jahr 1954 zu verfassungsrechtlichen Zweifeln Anlass gab36, entsprach der BFH dem Bild des Grundgesetzes von der Judikative37. Er war als erster der in Art. 96 Abs. 1 GG a.F. genannten oberen Bundesgerichte errichtet worden. Wie 32  Jahre zuvor wurde München als Sitz des obersten Steuergerichts bestimmt. Dort nahm es am 1. September 1950 seine Arbeit auf38. Da die Qualität eines Rechtschutzsystems ganz erheblich auch von den Menschen abhängt, die im System arbeiten, stellte sich 1950 die bedeutsame Frage, wie das richterliche Personal für den neuen Gerichtshof zu gewinnen war. Wie sich aus den ­Personalakten der RFH-Mitglieder39 ergab, hatten diese im Dritten Reich ihren Richtereid erneuert und dem Führer Treue geschworen. Es gab selbstverständlich auch zahlreiche Mitglieder der NSDAP. Bei der Erstbesetzung des BFH spielte die Frage der politischen Belastung der Richterschaft eine große Rolle, lediglich sieben ehemalige Angehörige des RFH wurden zu Bundesrichtern ernannt40. In sachlicher Hinsicht ordnete das BFH-Gesetz in § 2 grundsätzlich die Anwendung der den RFH betreffenden Vorschriften der RAO und damit auch der Rechtsbeschwerdevorschriften gemäß §§  285  ff. RAO an. Das Rechtsbeschwerdeverfahren war in der Systematik der RAO der dritte und letzte Abschnitt des Berufungsverfahrens. Neben der strikt zu beachtenden Rechtsmittelfrist von einem Monat war das Rechtsbeschwerdeverfahren – wie das Berufungsverfahren insgesamt – von Großzügigkeit in formeller Hinsicht geprägt. Weder musste der Steuerpflichtige einen Rechtsanwalt 34 Vgl. BFH v. 26.8.1966 – VI 248/65, BFHE 86, 783, BStBl. III 1966, 659. 35 Riewald (Fn. 3), S. 498. 36 So z.B. auch das bayerische Recht bzgl. der Finanzgerichte in München und Nürnberg. Deren Richter waren Beamte der Finanzverwaltung, die beamteten beisitzenden Richter konnten zudem vorzeitig abberufen werden, § 2 Abs. 3 und 5 des Gesetzes zur Wiederherstellung der Finanzgerichtsbarkeit v. 19.5.1948, Bay. GVBl. 1948, 87. 37 Vgl. insbesondere §§ 3 und 9 BFH-Gesetz. 38 § 7 Abs. 1 BFH-Gesetz. 39 Einsehbar sind diese im Bundesarchiv in Koblenz. 40 FS 60 Jahre Bundesfinanzhof, S. 31 ff.; List in FS für v. Wallis, 1985, S. 25 f.

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hinzuziehen noch bedurfte es zwingend einer Begründung der Rechtsbeschwerde, weil § 289 RAO diesbezüglich lediglich eine Soll-Vorgabe enthielt41. Damit stellte § 286 Abs. 1 RAO die entscheidende Zulässigkeitshürde für das Rechtsschutzbegehren auf. Die Rechtsbeschwerde hing nämlich davon ab, dass ein bestimmter Streitwert überschritten war oder das Finanzgericht die Rechtsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache in seinem Urteil zugelassen hatte. Die Zu- oder Nichtzulassungsentscheidung des Finanzgerichts war nicht anfechtbar und für den BFH bindend (§ 286 Abs. 2 FGO)42. Da unterstellt wurde, dass die §  34 EStG betreffende Rechtsfrage höchstrichterlich nicht geklärt war, sprach einiges für eine positive Zulassungsentscheidung des Finanzgerichts; im Übrigen lag der Streitwert mit 400 DM zwar knapp unterhalb der in § 286 Abs. 1 RAO genannten Grenze („… höher ist als 500 Deutsche Mark …“), doch kam im fiktiven Streitfall der vorrangige43 § 6 Abs. 2 Satz 2 BFH-Gesetz zur Anwendung, wonach die Streitwertrechtsbeschwerde bereits ab einem 200 DM übersteigenden Wert zugelassen war. Ob solche Streitwerte beim „kleinen Mann“ angesichts des im Jahr 1954 gegebenen durchschnittlichen Bruttomonatsverdiensts von 166 DM44 nicht zu einer zu starken Beschränkung des Rechtsschutzes führte, ist unter sozialpolitischen Gesichtspunkten keine einfach zu beantwortende Frage. Der sachliche Erfolg der Rechtsbeschwerde des Steuerpflichtigen hing allein von der Beantwortung der ungeklärten Rechtsfrage zu § 34 EStG ab. Denn wie im heutigen Revisionsverfahren fand ausschließlich eine auf Rechtsfehler und Gerichtsverfahrensmängel beschränkte Prüfung statt (§ 288 RAO). Der BFH war dabei grundsätzlich an die tatsächlichen Feststellungen des FG gebunden45. 4. Bewertung des Rechtsschutzsystems Abschließend bewertet vermochte das System des finanzgerichtlichen Rechtsschutzes in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in rechtsstaatlicher Hinsicht aus folgenden Gründen noch nicht zu überzeugen: Dem Rechtsmittelverfahren der RAO lag das Enumerationsprinzip zugrunde. Rechtsmittel wurden gesetzlich nur für bestimmte Steuerarten und bestimmte Verwaltungsakte zur Verfügung gestellt. §  237 RAO brachte dies unmissverständlich mit den Worten zum Ausdruck, dass „gegen andere als die in den §§ 228–236 bezeichneten Verfügungen von Finanzbehörden … lediglich die Beschwerde (§ 303) gegeben“ ist. 41 Eine Rügepflicht und damit ein faktischer Kurzbegründungszwang ergab sich lediglich bei einer auf Verfahrensmängeln gestützten Rechtsbeschwerde, vgl. §  290 RAO; Riewald (Fn. 3), S. 560. 42 Riewald (Fn. 3), S. 549. 43 Das BFH-Gesetz war insoweit das spätere („lex posterior“) und das speziellere („lex specialis“) Gesetz. 44 Siehe https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/VerdiensteArbeitskosten/VerdiensteVerdienstunterschiede/Tabellen/Bruttomonatsverdienste.html. 45 Riewald (Fn. 3), S. 553.

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Das Beschwerdeverfahren nach der RAO war aber grundsätzlich46 als verwaltungsinternes Überprüfungsverfahren (Abhilfeverfahren vor dem Finanzamt, Beschwerdeentscheidung des Oberfinanzpräsidenten) ohne weitere Beschwerde (vgl. §  304 Abs. 4 RAO) oder nachlaufendes Gerichtsverfahren ausgestaltet. Zu seinem Anwendungsbereich gehörten z.B. die praktisch nicht unbedeutenden Fälle der Festsetzung von Verspätungszuschlägen, Vorauszahlungen oder der Ablehnung von Erlass- oder Stundungsanträgen47. Damit waren in Anbetracht der umfassenden Rechtschutzgarantie, die Art. 19 Abs. 4 GG gewährte, zahlreiche Probleme verbunden, die den BFH erheblich beschäftigten. So vertrat er schon frühzeitig die Auffassung, dass bei Ermessensentscheidungen der Finanzverwaltung in Abgabensachen (z. B. Stundung) nach Erschöpfung der nach §  237 RAO zulässigen Rechtsbehelfe bei den Verwaltungsbehörden der Finanzrechtsweg aufgrund der Generalklausel des Art. 19 Abs. 4 GG eröffnet sei48. In weiteren Entscheidungen judizierte er, dass Rechtsschutz gegen Vorauszahlungsbescheide trotz §  304 RAO von den Finanzgerichten zu gewähren sei49. Damit hatte die Rechtsprechung zwar aus „eigener Kraft“ punktuell für Verbesserungen des Rechtschutzes gesorgt, aber erst 1961 änderte der Gesetzgeber die §§ 228 und § 237 RAO und eröffnete den Finanzrechtsweg umfassend50. Das FG-Verfahren war im Kern, wie oben dargestellt, ein verlängertes Verwaltungsverfahren. Es ging weniger um den Individualrechtsschutz als um die im objektiven öffentlichen Interesse liegende Rechtmäßigkeitskontrolle des Verwaltungshandelns durch die Verwaltung. Ein solches Verfahren stand aber in latentem Konflikt mit der Rechtsschutzgarantie des Steuerbürgers aus Art. 19 Abs. 4 GG. Insbesondere das fehlende Verbot der reformatio in peius führte im Zusammenspiel mit der Gesetzesbindung der Gerichte zu einer Verböserungspflicht selbst im Gerichtsverfahren. Die fehlende Bindung an das Klagebegehren war mit dem Gedanken des Individualrechtsschutzes nicht zu vereinbaren. Unbefriedigend war die Rechtslage im Jahr 1954 auch aus sozialpolitischer Sicht. So gab es für das kostenpflichtige gerichtliche Verfahren (vgl. § 307 Abs. 1 RAO) kein Armenrecht51, d.h. Minderbemittelte konnten sich den Rechtsschutz möglicherweise 46 Die Ausnahmen (Zulassung der Rechtsbeschwerde zum BFH) regelte §  305 RAO. Diese Vorschrift betraf im Wesentlichen die als sog. Finanzbefehle bezeichneten Maßnahmen des Verwaltungszwangs (§ 202 RAO), vgl. Riewald (Fn. 3), S. 199, 592. 47 Riewald (Fn.  3), S.  446. Vgl. z.B. auch BFH v. 23.2.1951  – IV 15/51 S, BFHE 55, 199, BStBl. III 1951, 75; v. 6.4.1951 – IV 193/50 U, BFHE 55, 274, BStBl. III 1951, 106. 48 Gutachten des Großen Senats des BFH v. 17.4.1951, BFHE 55, 277; BStBl. III 1951, 107. 49 Vgl. die Nachweise in Fn. 47. 50 Art. 17 Nr. 7 und Nr. 10 des Steueränderungsgesetzes 1961 v. 13.7.1961, BGBl. I 1961, 981. 51 BFH v. 16.2.1951 – IV 18/51 S, BFHE 55, 150, BStBl. III 1951, 58; v. 20.12.1961 – III 9/60 U, BFHE 74, 294, BStBl. III 1962, 111. Der BFH begründete seine Entscheidung mit der fehlenden gesetzlichen Regelung und verwies in dem erstgenannten Urteil des Weiteren auf § 319 RAO, der allerdings lediglich den Erlass von Kosten u.a. bei Unbilligkeit vorsah. Ob eine derartige Unbilligkeit bei minderbemittelten Klägern regelmäßig bejaht wurde, dürfte nach dem Inhalt einschlägiger zeitnaher Kommentierungen (z.B. Riewald (Fn. 3), S. 620) zu verneinen sein. Verfassungsrechtlich war und ist eine – wie auch immer im Detail auszugestaltende – Prozesskostenhilfe gemäß Art. 3 Abs. 1 GG auch bei fehlender einzelge-

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gar nicht leisten. Das Fehlen einer Armenrechtsregelung im Steuerprozess als praktisch wenig bedeutsam abzutun52, wirkt aus heutiger Sicht eher befremdlich. Für den „kleinen Mann“ kam erschwerend hinzu, dass die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde, von Fällen mit grundsätzlicher Bedeutung abgesehen, an den Streitwert geknüpft war. Damit war eine Bevorzugung wohlhabender Einzelpersonen, großer Unternehmen u.ä. gegenüber finanziell schlechter gestellten Klägern verbunden, weil Letzteren bei gleicher relativer Bedeutung des Falles der Zugang zur zweiten Instanz erschwert wurde53.

V. Rechtsschutz nach Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung Der Steuerpflichtige war am Montagmorgen noch ganz frustriert, weil Deutschland durch eine Fehlentscheidung des Schiedsrichters das WM-Endspiel am 30.7.1966 verloren hatte. Er dachte an „seinen“ unmittelbar bevorstehenden Termin vor dem Finanzgericht und wurde dabei den unguten Gedanken nicht los, dass auch dieser Richter „Tomaten vor den Augen“ haben könnte. Dem immer komplizierter werdenden Steuerrecht fühlte er sich nicht gewachsen. Deshalb hat er einen Steuerberater engagiert, der für ihn notfalls bis in die letzte Instanz gehen soll. Der Steuerberater beruhigte ihn am Telefon mit den Worten, mit dem Inkrafttreten der FGO sei alles besser geworden. 1. Verfahren vor dem Finanzgericht Nach der neugeschaffenen FGO vom 6.10.196554 war die gegen den Einkommensteuerbescheid 1965 erhobene Klage unproblematisch zulässig. Im Unterschied zur Rechtslage nach der RAO waren das Einspruchsverfahren und das Klageverfahren nicht mehr Bestandeile des einheitlichen Berufungsverfahrens. Vielmehr wurde der gerichtliche Rechtschutz vollständig abgetrennt. In der durch die FGO geänderten Fassung der RAO verblieben nur noch die Vorschriften über das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren (§§ 228 ff. RAO n.F.). Der Finanzrechtsweg stand nach der Generalklausel des § 33 FGO in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten über Abgabenangelegenheiten offen. Nach dem – im Vergleich zum bisherigen Rechtszustand  – ausdifferenzierten Klagesystem der FGO war die Anfechtungsklage gegeben (§  40 Abs.  1 FGO), weil der Steuerpflichtige die Änderung des Einkommensteuerbescheids unter Anwendung des ermäßigten Steuersatzes setzlicher Grundlage geboten (so bereits BVerfG v. 17.6.1953 – 1 BvR 668/52, BVerfGE 2, 336; v. 22.1.1959 – 1 BvR 154/55, BVerfGE 9, 124). Damit wäre der BFH meines Erachtens gehalten gewesen, das Armenrecht im Wege der Analogie zu gewähren. 52 So Becker/Riewald/Koch, RAO, Band  III, 1968, S.  638, ohne nennenswertes Problembewusstsein. 53 Zur rechtspolitischen Diskussion um die Berechtigung der Streitwertrevision im Steuerprozess, vgl. z.B. Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 7 ff. m.w.N. 54 BGBl. I 1965, 1477.

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begehrte. Auch das von § 44 Abs. 1 FGO vorgeschriebene erfolglose Durchlaufen des Vorverfahrens war erfolgt. Das vom Kläger bereits unter der Geltung der geänderten RAO durchgeführte Einspruchsverfahren war mit Einspruchsentscheidung des Finanzamts beendet worden (§ 248 Abs. 1 Satz 1 RAO n.F.) Es war gut, aber gesetzlich nicht vorgeschrieben (§ 62 Abs. FGO), dass er einen Steuerberater zugezogen hatte, weil das Verfahren deutlich formstrenger ausgestaltet war als das Berufungsverfahren nach der RAO. So musste etwa der Streitgegenstand bezeichnet werden und es sollte ein bestimmter Antrag gestellt werden (§  65 Abs.  1 FGO). Bei einer Änderung des angegriffenen Bescheids wurde dieser nur Streitgegenstand, wenn ein entsprechender Antrag gestellt wurde (§ 68 FGO). Im Übrigen hatte der Gesetzgeber für zahlreiche Rechtsschutzverbesserungen gesorgt. So waren nunmehr die Vorschriften der ZPO über das Armenrecht im finanzgerichtlichen Verfahren anzuwenden (§ 142 FGO). Auch musste der Steuerpflichtige im Rahmen der Begründetheitsprüfung seiner Klage nicht mehr eine Verböserung seiner Situation befürchten, weil § 96 FGO die Bindung des Gerichts an das Klagebegehren anordnete. Zu manch anderen ungeregelten Problemfeldern hatte sich der Gesetzgeber nunmehr geäußert. So traf er etwa eine ausdrückliche Regelung für das Problem der verwaltungsseitigen Untätigkeit (§  46 FGO) und gab damit der einschlägigen, rechtsfortbildend tätig gewordenen Rechtsprechung55 einen festen Boden. 2. Rechtsmittelverfahren Obgleich das steuerliche Problem des Klägers von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung war, hatte das Finanzgericht Nürnberg die Revision nicht zugelassen. Der von Anfang an beabsichtigte Gang durch alle Instanzen wurde mit einem entsprechenden Mandat für den Steuerberater in die Wege geleitet. Vorschrieben war die Vertretung durch eine sachkundige Person im zweitinstanzlichen Verfahren nach wie vor allerdings nicht (vgl. § 62 FGO). Zwar wurde die Frage des Vertretungszwangs im Gesetzgebungsverfahren streitig erörtert, musste aber wegen des bevorstehenden Ablaufs der Legislaturperiode zurückgestellt werden56. Der Steuerberater des Steuerpflichtigen traf auf ein Rechtsmittelrecht, das in der FGO vollständig neu regelt worden war. Zunächst hatte er allerdings zu prüfen, wie viele Rechtszüge seinem Mandanten überhaupt noch offenstanden. Er sah sich diesbezüglich in seinen rechtspolitischen Hoffnungen enttäuscht. Denn der politisch am heißesten umkämpfte Punkt in den Beratungen zur FGO betraf den Aufbau der Finanzgerichtsbarkeit. Dieser Streit war die Hauptursache dafür, dass der 55 Vgl. BFH v. 3.3.1959 – I 76/57 S, BFHE 68, 661; BStBl. III 1959, 251. Der BFH ließ bei ungebührlicher Verzögerung der Einspruchsentscheidung die Berufung zum Finanzgericht gemäß § 263 RAO, also der Sache nach die Untätigkeitsklage, unter unmittelbarer Anwendung des Art. 19 Abs. 4 GG zu. 56 Becker/Riewald/Koch (Fn. 52), S. 284.

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Gesetzgebungsauftrag aus Art. 108 GG erst 16 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ausgeführt wurde. Der Bundestag und der Bundesrat, dessen Zustimmung benötigt wurde, einigten sich schließlich im Vermittlungsausschuss auf einen Kompromiss. Anstelle der vom Bundestag beschlossenen Dreistufigkeit mit Oberfinanzgerichten als Mittel- und Berufungsinstanz57 blieb es bei der überkommenen Zweistufigkeit, verbunden allerdings mit einer „Rangerhöhung“ der Finanzgerichte. Diese wurden als obere Landesgerichte (§ 2 FGO) statusmäßig den Mittelinstanzen der übrigen Gerichtszweige (Oberverwaltungsgerichte, Landessozialgerichte u.Ä.) gleichgestellt58. Damit war eine für den Rechtsschutz hochbedeutsame Grundsatzentscheidung getroffen worden, die zu einer dauerhaften Sonderstellung der Finanzgerichtsbarkeit im Vergleich mit den anderen Gerichtszweigen geführt hat. Die damals ausgetauschten Argumente für und wider die Zweistufigkeit59 haben an Gewicht nicht verloren, sollen an dieser Stelle aber nicht wiederholt werden. Fakt ist allerdings, dass der finanzgerichtliche Rechtsschutz gegenüber dem Rechtschutz in den anderen Gerichtszweigen zurückbleibt. Es gibt stets nur eine Tatsacheninstanz und zusätzlich ist der Weg in die zweite Instanz nicht ohne Weiteres freigegeben, sondern beschränkt, wobei die prozessualen Hürden gegenüber der Rechtslage im Jahr 1965 beständig erhöht wurden. Die endgültige Abschaffung der – zulassungsfreien – Streitwertrevision durch das 2. FGO-Änderungsgesetz60 kann als Schlusspunkt dieser Entwicklung von der „Fast-Dreistufigkeit“ zur „Fast-Einstufigkeit“ bewertet werden. Denn in den weitaus meisten Fällen steht dem Steuerbürger nunmehr nur noch eine Gerichtsinstanz zur Verfügung61. Für den Steuerpflichtigen blieb damit nach der Klageabweisung nur der Gang nach München. Das Rechtsmittelverfahren beim BFH als zweiter und letzter Instanz war durch die FGO tiefgreifend umgestaltet worden. So wurde die Rechtsbeschwerde durch die Revision ersetzt und diese durch das Rechtsinstitut der Nichtzulassungsbeschwerde ergänzt. Die Revision war zum einen bei einem Streitwert von mehr als 1000 DM (Streitwertrevision) gegeben, zum anderen bei einer Zulassung der Revision durch das Finanzgericht (§ 115 Abs. 1 FGO). Schließlich war sie auch zulässig, wenn der Rechtsmittelführer die Verletzung bestimmter gewichtiger Verfahrensvorschriften rügte (Verfahrensrevision § 116 FGO). Die Revisionszulassungsgründe waren enumerativ in § 115 Abs. 2 FGO aufgeführt (grundsätzliche Bedeutung, Divergenz, Verfahrensmangel).

57 Vgl. die Begründung des Bundesrates für die Anrufung des Vermittlungsausschusses BTDrucks.  4/3739, 2; Bundestag Plenarprotokoll Nr.  04/198 v. 23.7.1965, Redebeiträge der Abgeordneten Seuffert und Dr. Schmidt. 58 Mündlicher Bericht des Vermittlungsausschusses BT-Drucks. 4/355, 2. 59 Vgl. die Nachweise in Fn. 36. 60 BGBl. I 2000, 1757. 61 Zu Recht kritisch etwa Sunder-Plassmann (Fn. 1), Rz. 6; vgl. auch Kulosa, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Steuerrechtsschutzes, in FS 100 Jahre BFH, S. 1831 ff.

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Als wesentliche Neuerung konnte die Nichtzulassung der Revision durch das Finanzgericht nunmehr mit der Beschwerde angefochten werden. Diese war beim Finanzgericht einzulegen, das über die Abhilfe zu befinden und bei Nichtabhilfe die Sache dem BFH als Beschwerdegericht vorzulegen hatte (§ 115 Abs. 3 und 5 FGO). Weil es im fiktiven Streitfall um einen Betrag von weniger als 1000 DM ging und dem FG Verfahrensverstöße nicht vorzuwerfen waren, blieb dem Kläger lediglich die Nichtzulassungsbeschwerde. Er war damit ein „Opfer“ der deutlichen Anhebung der Rechtsmittelsumme von 200  DM im BFH-Gesetz gegenüber 1000  DM nach der FGO62. In der Beschwerdebegründung hatte er die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache darzulegen, die Divergenzentscheidung oder der Verfahrensmangel mussten bezeichnet werden (§ 115 Abs. 3 Satz 3 FGO). Wenn die Darlegungspflichten damals so streng gehandhabt wurden wie heute, was der Verfasser aus eigener Anschauung nicht zu beurteilen vermag, dann war eine Überprüfung des finanzgerichtlichen Urteils zweifellos nicht leicht herbeizuführen. Als Revisionsgericht prüfte der BFH im Übrigen wie zuvor „lediglich“ die Rechtsanwendung durch das Finanzgericht, an dessen tatsächliche Feststellungen er gebunden war (§  118 Abs.  1 und 2 FGO). Zur Schaffung einer zweiten Tatsacheninstanz und damit zu einer Verbesserung des Rechtsschutzes hatte sich der Gesetzgeber der FGO entgegen dem Votum des Bundestages63 nicht durchringen können.

VI. Rechtsschutz unter der Geltung des FGO-Änderungsgesetzes vom 21.12.1992 und des 2. FGO-Änderungsgesetzes vom 19.12.2000 Häufig verriet bereits die Bezeichnung einiger jüngerer Gesetze, dass nicht das Rechtsschutzinteresse des Steuerbürgers im Vordergrund stand, sondern das staatliche Interesse an der Entlastung der Gerichte. Zu nennen sind an dieser Stelle zunächst das Gesetz zur Entlastung des BFH vom 8.7.197564 und das Gesetz zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 31.3.197865 , sodann die beiden FGO-Änderungsgesetze aus den Jahren 1992 und 200066. Weil 62 Die Erhöhung der Rechtsmittelsumme auf 1000  DM war bereits mit dem Steueränderungsgesetz 1961 v. 13.7.1961, BGBl. I 1961, 981 angeordnet worden. Bei der Bewertung der Anhebung muss berücksichtigt werden, dass der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst von 135 DM im Jahr 1950 über 288 DM im Jahr 1961 auf 403 DM im Jahr 1965 angestiegen war (Nachweis siehe Fn. 44). 63 Bundestag Plenarprotokoll Nr. 04/198 v. 23.7.1965, Redebeiträge der Abgeordneten Seuffert und Dr. Schmidt. 64 BGBl. I 1975, 1861. Wesentliche Inhalte waren die deutliche Anhebung der Revisionssumme von 1.000 auf 10.000 DM, die Einführung des Vertretungszwangs, die Abschaffung der Beschwerde bei Nebenentscheidungen des FG betreffend Kosten und Streitwert, zahlreiche Erleichterungen bei der Begründung der Entscheidungen. 65 BGBl. I 1978, 446. Die Regelungen dieses Gesetzes wurden später weitgehend in die FGO überführt. 66 FGO-Änderungsgesetz v. 21.12.1992, BGBl.  I 1992, 2109; 2. FGO-Änderungsgesetz v. 19.12.2000, BGBl. I 2000, 1757.

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Steuerrechtsschutz nach dem II. Weltkrieg

diese allerdings bereits weitgehend den aktuellen Rechtszustand widerspiegeln, sollen sie im Rahmen dieser rechtshistorischen Abhandlung nur noch am Rande gestreift werden. Von den wesentlichen rechtsschutzrelevanten Maßnahmen des FGO- und des 2. FGO-­ Änderungsgesetzes wäre der fiktive Steuerpflichtige als Kläger insoweit betroffen gewesen, als er bei seiner Klage gegen den Einkommensteuerbescheid möglicherweise auf einen Einzelrichter statt eines Senats gestoßen wäre67. Dessen klageabweisendes Urteil hätte der Kläger auch nicht mehr ohne Weiteres durch den BFH überprüfen lassen können. Denn die Streitwertrevision war vollständig abgeschafft und durch ein ausnahmslos geltendes Revisionszulassungserfordernis ersetzt worden68.

VII. Fazit Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, durfte der Steuerpflichtige seit dem Ende des Krieges zunächst eine stetige Verbesserung des Rechtsschutzes in Steuersachen miterleben. Mit der Einführung der FGO im Jahr 1965 war zweifellos nicht die beste aller „Rechtschutz-Welten“ geschaffen worden69, allerdings markiert dieses Gesetz rechtshistorisch betrachtet gewissermaßen den Höhepunkt der Rechtsentwicklung, wenn man die jüngeren gesetzgeberischen Maßnahmen in den Blick nimmt. Sie haben aus Sicht des Steuerbürgers keine wesentlichen Verbesserungen mehr gebracht, sondern tendenziell die Rechtsschutzstandards zurückgefahren, im Einzelfall bis zum verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaß70: Bei einem auf tatsächlichem Gebiet liegenden Rechtsstreit „erschöpft“ sich der gerichtliche Rechtsschutz im Urteil des gemäß § 6 FGO eingesetzten Einzelrichters am Finanzgericht.

67 Art. 1 Nr. 2 des FGO-Änderungsgesetzes v. 21.12.1992, BGBl. I 1992, 2109. 68 Zur Entwicklung des Rechtsmittelrechts im Einzelnen vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 3 ff. 69 Seer (Fn.  13), Einf. FGO Rz.  50 würdigt die FGO etwas zurückhaltend als brauchbares, wenngleich auch nicht systematisch-terminologisch vorbildliches Gesetz. 70 Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG will Art.  19 Abs.  4 GG Schutz durch den ­Richter, aber nicht vor dem Richter gewährleisten. Deshalb ist es verfassungsrechtlich grundsätzlich auch nicht geboten, dass richterliche Entscheidungen durch die Einrichtung eines Instanzenzuges überprüft werden können (vgl. BVerfG v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107, 395.

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1. Teil Geschichte des Rechtsschutzes im Steuerrecht … B. IV.

Finanzgerichtsbarkeit in der DDR und Aufarbeitung der Wiedervereinigung durch den BFH Von Thomas Stapperfend

Inhaltsübersicht I. Ausgangssituation 1. Herstellung der deutschen Einheit zum 3. Oktober 1990 2. Fortgeltung des Steuerrechts der Deutschen Demokratischen Republik bis zum 31. Dezember 1990 3. Unübersichtlichkeit des fortgeltenden Steuerrechts 4. Mangelnde personelle Ressourcen 5. Fehlender gerichtlicher Rechtsschutz in Steuersachen in der Deutschen Demokratischen Republik II. Aus der Rechtsprechung des Bundes­ finanzhofs 1. Verordnung über die Hilfeleistung in Steuersachen – StBerO – der ­Deutschen Demokratischen Republik vom 27. Juni 1990 a) Prüfungsfreie Bestellung von Steuerberatern b) Zulassung als Helfer in Steuersachen und Steuerbevollmächtigter c) Rücknahme der vorläufigen Bestellung zum Steuerberater d) Zwischenfazit 2. Besteuerung der Produktionsgenossenschaften des Handwerks und ihrer Mitglieder 3. Besteuerung der Einzelhändler und Handwerker 4. Steuerrate 1990

5. Steuervergünstigungen zur Förderung der Privatwirtschaft in den neuen Bundesländern a) Steuerbefreiung für die Neueröffnung eines Betriebes im Beitrittsgebiet nach § 9 Abs. 1 DBStÄndG/DDR b) Akkumulationsrücklage c) Steuerfreiheit von Gewinnen nach § 3 Abs. 1 der 1. DV-ReprivG 6. Aufhebung von Steuerverwaltungsakten der früheren Steuerbehörden der Deutschen Demokratischen Republik a) Art. 19 des Einigungsvertrags als Rechtsgrundlage b) Grundsätzlicher Fortbestand von Verwaltungsakten der Deutschen Demokratischen Republik c) Aufhebung von Verwaltungsakten bei Unvereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen d) Auswirkungen der Rechtsprechung auf die Praxis 7. Grunderwerbsteuer a) Erwerb von Grundstück und Gebäude als selbstständige Eigentumsobjekte b) Unterschiedliche Steuersätze in den neuen und den alten Bundesländern c) Entstehung des Steueranspruchs 8. Kraftfahrzeugsteuer III. Fazit

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I. Ausgangssituation 1. Herstellung der deutschen Einheit zum 3. Oktober 1990 Am 31. August 1990 unterzeichneten der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland Wolfgang Schäuble und der Staatssekretär der Deutschen Demokratischen Republik Günther Krause im Ost-Berliner Kronprinzenpalais den „Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands“ (Einigungsvertrag)1. Art. 1 des Einigungsvertrages bestimmt, dass mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel  23 GG am 3. Oktober 1990 die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland werden. Damit stellte der Einigungsvertrag die staatliche Einheit zwischen der Bundesre­ publik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik her, nachdem die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bereits am 1. Juli 1990 auf der Grundlage des Vertrages vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik2 in Kraft getreten war und insbesondere die Einführung der Deutschen Mark als einheitliche Währung mit sich brachte. 2. Fortgeltung des Steuerrechts der Deutschen Demokratischen Republik bis zum 31. Dezember 1990 Die am 3. Oktober 1990 vollzogene staatliche Einheit hatte gemäß Art. 8 des Einigungsvertrages zur Folge, dass im Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Bundesrecht in Kraft trat. Hiervon abweichend bestimmte Art. 8 i.V.m. Anlage I Kapitel IV Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 14 Abs. 1 des Einigungsvertrages, dass das bundesrepublikanische Recht der Besitz- und Verkehrsteuern einschließlich der Einfuhrumsatzsteuer, der Zulagen und Prämien, auf die Abgabenrecht Anwendung findet, und das Rennwett- und Lotterierecht sowie die bundesrechtlichen Regelungen der Abgabe von Spielbanken in dem Gebiet der früheren Deutschen Demokratischen Republik erst am 1. Januar 1991 in Kraft tritt. Für die vor diesem Zeitpunkt entstehenden Abgaben, Zulagen und Prämien war nach Abs. 2 der zitierten Regelung auf dem Gebiet der früheren Deutschen Demokratischen Republik das dort geltende Recht bis zum 31. Dezember 1990 weiter anzuwenden. Mit dieser gesetzlichen Bestimmung hat der Bundesgesetzgeber im Rahmen seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nach Art. 105 Abs. 2 i.V.m. Art. 106 Abs. 3 GG die Steuergesetze der Deutschen Demokratischen Republik in der Fassung, die sie durch das Gesetz zur Änderung der Rechtsvorschriften über die Einkommen-, Körperschaft- und Ver-

1 Einigungsvertrag v. 31.8.1990, BGBl. II 1990, 889, zuletzt angepasst durch Art. 32 Abs. 3 des Gesetzes v. 27.6.2017, BGBl. I 2017, 1966. 2 Siehe dazu Gesetz zu dem Vertrag v. 18.5.1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik v. 25.6.1990, BGBl. II 1990, 518.

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Finanzgerichtsbarkeit in der DDR

mögensteuer (Steueränderungsgesetz)3 und das Gesetz zur Änderung und Ergänzung steuerlicher Rechtsvorschriften bei Einführung der Währungsunion mit der Bundesrepublik Deutschland (Steueranpassungsgesetz)4 erhalten hatten, als partielles, bis zum 31. Dezember 1990 geltendes Bundesrecht übernommen5 . Diese Fortgeltung stellte nicht nur die meistens aus den alten Bundesländern stammenden Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte vor eine enorme Herausforderung, sondern auch die mit Hilfe von aus dem Westen kommenden Aufbauhelfern neu installierte Finanzverwaltung und nicht zuletzt auch die kurze Zeit später gegründeten Finanzgerichte der Länder Brandenburg6, Mecklenburg-Vorpommern7, Sachsen8, Sachsen-Anhalt9 und Thüringen10 sowie die Senate des Finanzgerichts Berlin, die für die zur früheren Deutschen Demokratischen Republik gehörenden Stadtteile zuständig waren und die die zunächst bei den Bezirksgerichten Dresden, Erfurt, Magdeburg, Potsdam und Schwerin eingerichteten besonderen Senate für Finanzrecht ablösten11. 3. Unübersichtlichkeit des fortgeltenden Steuerrechts Die Rechtsanwender sahen sich in erster Linie mit zwei Problemkreisen konfrontiert: Zum einen basierte das fortgeltende Recht der Deutschen Demokratischen Republik auf einer vollständig anderen Rechts- und Wirtschaftsordnung, sodass zahlreiche Rechtsquellen für den im Westen ausgebildeten Steuerjuristen wie Fremdkörper wirkten, so z.B. das Gesetz zur Änderung der Besteuerung der steuerbegünstigten freischaffenden Intelligenz vom 6. Juni 195812, die Anordnung über steuerliche Maßnahmen für Mitglieder von Produktionsgenossenschaften des Handwerks, private Handwerker und Gewerbetreibende vom 26. Januar 199013 oder der Beschluss des Ministerrates über Grund­sätze zum Verkauf von Waren und Dienstleistungen in der

3 StändG/DDR v. 6.3.1990, GBl. DDR I 1990, 136. 4 StAnpG/DDR v. 22.6.1990, GBl. DDR 1990 Sonderdruck Nr. 1427, 3. 5 BFH v. 22.12.1993 – I R 75/93, BStBl. II 1994, 578 unter Hinweis auf BFH v. 19.5.1993 – II R 29/93, BStBl. II 1993, 630; v. 11.5.1993 – VII R 98/92, BFH/NV 1994, 194 sowie BGH v. 14.10.1992 – VIII ZR 91/91, NJW 1993, 259. 6 Gesetz über die Errichtung der Finanzgerichtsbarkeit und zur Ausführung der Finanz­ gerichtsordnung im Land Brandenburg  – Brandenburgisches Finanzgerichtsgesetz  – BbgFGG – v. 10.12.1992, GVBl. Brandenburg I 1992, 504: Errichtung zum 1.1.1993. 7 Gerichtsstrukturgesetz Mecklenburg-Vorpommern v. 19.3.1991, GVOBl. Mecklenburg-­ Vorpommern 1991, 103: Errichtung zum 24.4.1991. 8 Art. 5 Gesetz über die Organisation der Gerichte im Freistaat Sachsen – Sächsisches Gerichtsorganisationsgesetz – v. 30.6.1992, SächsGVBl. 1992, 287: Errichtung zum 1.7.1992. 9 Gesetz zur Ausführung der Finanzgerichtsordnung für das Land Sachsen-Anhalt  – AGFGO LSA – v. 24.8.1992, GVBl. Sachsen-Anhalt 1992, 654: Errichtung zum 1.9.1992. 10 Thüringer Gesetz zur Ausführung der Finanzgerichtsordnung – ThürAGFGO – v. 18.06.1993, GVBl. Thüringen 1993, 334: Errichtung zum 26.6.1993. 11 Dazu Dürr, DStZ 1990, 586 (587); Dürr DStZ 1991, 651. 12 GBl. DDR I 1958, 453. 13 GBl. DDR I 1990, 27.

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DDR vom 19. Februar 199014. Zum anderen waren die anzuwendenden Rechtsvorschriften insofern unübersichtlich, als sie nicht nur im Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik veröffentlichte Gesetze und Verordnungen betrafen, sondern in nicht unerheblichem Maße unveröffentlichte Beschlüsse des Ministerrats, Anweisungen des Ministeriums der Finanzen sowie Vereinbarungen zwischen dem Ministerrat und den Gewerkschaften15, deren Rechtsqualität zudem vollkommen ungeklärt war16. 4. Mangelnde personelle Ressourcen Erschwert wurde die Situation dadurch, dass nach dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland kaum DDR-Steuerjuristen zur Verfügung standen, die bei der Anwendung des fortgeltenden Steuerrechts hätten behilflich sein können. Dies war zum einen darauf zurückzuführen, dass in der Deutschen Demokratischen Republik ab 1964 private Steuerberater nicht mehr zugelassen waren und das Steuerrecht nicht zur juristischen Ausbildung gehörte17. Zum anderen existierte in der Deutschen Demokratischen Republik keine Finanzverwaltung nach dem Muster der alten Bundesländer. Dies war unter anderem die Konsequenz daraus, dass die Deutsche Demokratische Republik nicht föderalistisch, sondern zentralistisch aufgebaut war. Hinzu kam weiter, dass der Staatshaushalt nur zu etwa 4 % über Steuereinnahmen vornehmlich von Handwerkern und selbstständig Tätigen gedeckt wurde und sich im Übrigen durch Abführungen aus der staatlichen Wirtschaft finanzierte. Diese wurden durch die Abteilungen für Finanzen und Preise verwaltet, die auf der Ebene der Bezirke, Kreise und Städte eingerichtet waren. Lediglich eine Unterabteilung beschäftigte sich mit den Steuern im eigentlichen Sinne, namentlich der Lohnsteuer sowie den Steuern der Genossenschaften, der Handwerker und der Gewerbetreibenden; in ihre Zuständigkeit fiel auch die Betriebsprüfung18. Angesichts der nur untergeordneten Bedeutung der Steuern für die Staatsfinanzierung gab es nur wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit der Verwaltung der Steuern betraut waren. Von ihnen wurden zudem nur wenige in die neu gegründete Finanzverwaltung übernommen.

14 Beschluss ohne Veröffentlichung, siehe dazu DATEV, Steuerrechtssammlung 1990 für die Steuererklärungen in den neuen Bundesländern, 1991, Bd. I Nr. 30. 15 Siehe exemplarisch die Zusammenstellung in DATEV, Steuerrechtssammlung 1990 für die Steuererklärungen in den neuen Bundesländern, 1991. 16 Vgl. dazu Duda, Das Steuerrecht im Staatshaushaltssystem der DDR, 2011, 98; Ernst, Besteuerung privater Industriebetriebe in Mitteldeutschland, 1967, 72 ff.; Schulz, DStR 1990, 306 (308). 17 Duda, Das Steuerrecht im Staatshaushaltssystem der DDR, Frankfurt am Main 2011, 98; Kitsche, Das Steuersystem in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Gelsenkirchen 1960, 55; Schulz, DStR 1990, 306 (308); ausführlich zur Situation der Steuerberater in der DDR auch Mittelsteiner/Pausch/Kumpf, Illustrierte Geschichte des steuerberatenden Berufs, 3. Auflage Augsburg 1999, S. 334 ff. 18 Schulz, DStR 1990, 306 (307).

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5. Fehlender gerichtlicher Rechtsschutz in Steuersachen in der ­Deutschen ­Demokratischen Republik Im Bereich des gerichtlichen Rechtsschutzes scheiterte bei der Anwendung des fortgeltenden Steuerrechts der Deutschen Demokratischen Republik ebenfalls ein Rückgriff auf zuvor mit dieser Materie betraute Richterinnen und Richter, weil in der Deutschen Demokratischen Republik eine gerichtliche Überprüfung in Steuersachen nicht vorgesehen war. Die Abgabenordnung der Deutschen Demokratischen Republik19 enthielt nicht einmal Vorschriften über ein (verwaltungsinternes) Rechtsbehelfsverfahren. Diese Situation wurde allerdings entschärft durch die Verordnung über das Beschwerdeverfahren bei der Erhebung von Steuern und Abgaben vom 4. Januar 197220, die vorsah, dass der Steuerpflichtige innerhalb von vier Wochen nach Zugang eines Steuerbescheides Beschwerde erheben konnte bei der erlassenden Behörde, also dem Rat des Kreises, Abteilung Finanzen, der Stadt oder der Gemeinde. Blieb die Beschwerde ohne Erfolg, so erging die ablehnende Entscheidung über die beim Rat des Kreises eingelegte Beschwerde durch den Leiter der Abteilung Finanzen des Rates des Bezirkes sowie über die beim Rat einer kreisangehörigen Stadt oder einer Gemeinde eingelegten Beschwerde durch das für Finanzen zuständige Ratsmitglied des Rates des Kreises21. Die Entscheidung war abschließend; eine gerichtliche Entscheidung fand nach §§  2, 3 der Verordnung nicht statt. Daran änderte sich im Ergebnis auch durch das am 1. Juli 1989 in Kraft getretene Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen vom 14. Dezember 198622 sowie das Gesetz zur Anpassung von Regelungen über Rechtsmittel der Bürger und zur Festlegung der gerichtlichen Zuständigkeit für die Nachprüfung von Verwaltungsakten vom 14. Dezember 198823 nichts. Der Rechtsweg  zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen war nach §  2 des Gesetzes vom 14. Dezember 198824 nämlich nur zulässig, soweit dies in Gesetzen oder anderen Rechtsvorschriften bestimmt war. Für Steuerbescheide fehlte indes eine entsprechende Regelung, sodass ein gerichtlicher Rechtsschutz nicht eröffnet war25.

19 AO/DDR in der Fassung des Gesetzes v. 18.9.1970, GBl. DDR 1970 Sonderdruck Nr. 681. 20 Verordnung über das Beschwerdeverfahren bei der Erhebung von Steuern und Abgaben v. 4.1.1972, GBl. DDR II 1972, 17. 21 Siehe zum Beschwerdeverfahren auch Duda, Das Steuerrecht im Staatshaushaltssystem der DDR, 2011, 98. 22 Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen v. 14.12.1986, GBl. DDR I 1986, 327. 23 Gesetz zur Anpassung von Regelungen über Rechtsmittel der Bürger und zur Festlegung der gerichtlichen Zuständigkeit für die Nachprüfung von Verwaltungsakten v. 14.12.1988, GBl. DDR I 1988, 329. 24 Gesetz zur Anpassung von Regelungen über Rechtsmittel der Bürger und zur Festlegung der gerichtlichen Zuständigkeit für die Nachprüfung von Verwaltungsakten v. 14.12.1988, GBl. DDR I 1988, 329. 25 Siehe ausführlich hierzu Dürr, DStZ 1990, 586.

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II. Aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs 1. Verordnung über die Hilfeleistung in Steuersachen – StBerO – der ­Deutschen Demokratischen Republik vom 27. Juni 1990 a) Prüfungsfreie Bestellung von Steuerberatern Die ersten Entscheidungen, in denen der Bundesfinanzhof sich mit der Wiedervereinigung beschäftigen musste, betrafen nicht – wie man dies vermuten würde – die Frage der Fortgeltung der Steuergesetze der Deutschen Demokratischen Republik auf der Grundlage von Art. 8 i.V.m. Anlage  I Kapitel IV Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 14 Abs. 1 des Einigungsvertrages26, sondern die Verordnung über Hilfeleistung in Steuersachen der Deutschen Demokratischen Republik vom 27. Juni 199027. So ging es in den ersten beiden vom Bundesfinanzhof am 20. Dezember 1990 erlassenen Beschlüssen28 um die prüfungsfreie Bestellung zum Steuerberater. Dieser Rechtsstreit hatte den folgenden rechtlichen Hintergrund: Nach § 17 Abs.1 Satz 1 StBerO/DDR war ein Bewerber nach bestandener Prüfung oder bestätigter Befreiung von der Prüfung auf Antrag durch die für die Finanzverwaltung zuständige oberste Landesbehörde als Steuerberater zu bestellen. Von der Steuerberaterprüfung zu befreien waren nach § 15 Abs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 1 StBerO/DDR solche Bewerber, die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik waren und –– über einen Abschluss eines rechts- oder wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulstudiums verfügten und mindestens eine sechsjährige hauptberufliche Tätigkeit auf dem Gebiet des Steuerwesens nachwiesen, –– über einen Abschluss eines rechts- oder wirtschaftskundlichen Fachschulstudiums verfügten und mindestens eine zehnjährige hauptberufliche Tätigkeit auf dem Gebiete des Steuerwesens nachwiesen oder –– über einen Facharbeiterabschluss in einem kaufmännischen Beruf verfügten und mindestens eine fünfzehnjährige hauptberufliche Tätigkeit auf dem Gebiet des Steuerwesens nachwiesen. Eine hauptberufliche Tätigkeit auf dem Gebiet des Steuerwesens übten nach §  15 Abs. 2 StBerO/DDR aus: –– praktizierende Helfer in Steuersachen, die über eine Zulassung gemäß § 107 a AO/ DDR29 verfügten, –– ehemalige verantwortliche und leitende Mitarbeiter der VEB Rechnungsführung und Wirtschaftsberatung sowie der Finanzorgane und –– Steuerbevollmächtigte gemäß § 19 StBerO/DDR. 26 Siehe dazu unter I. 2. 27 StBerO/DDR v. 27.6.1990, GBl. DDR 1990, Sonderdruck Nr. 1455. 28 BFH v. 20.12.1990  – VII B 255/90, BStBl.  II 1991, 267; v. 20.12.1990  – VII B 254/90, BFH/ NV 1991, 196. 29 AO/DDR v. 18.9.1970, GBl. DDR 1970 Sonderdruck Nr. 681.

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Eine Konkretisierung der Anforderungen an die prüfungsfreie Bestellung zum Steuerberater nahm der Bundesfinanzhof in den genannten Beschlüssen insofern vor, als er hervorhob, dass nach dem Sinn der Befreiungsregelung des § 15 StBerO/DDR nur solche Personen prüfungsfrei zum Steuerberater bestellt werden sollten, die in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik bereits steuerberatend oder auf ähnlichem Gebiet beruflich tätig gewesen seien30. Eine erweiternde Auslegung der Regelungen komme nicht in Betracht, weil keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass § 15 StBerO/DDR unter anderem den Zweck gehabt habe, dem Mangel an Steuerberatern in der Deutschen Demokratischen Republik durch Gewinnung geeigneter Fachleute aus der Bundesrepublik abzuhelfen31. Darin liege auch keine Verletzung der Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG32. Ebenso bemerkenswert wie die materiell-rechtlichen Ausführungen zur prüfungsfreien Bestellung zum Steuerberater waren in den Beschlüssen vom 20. Dezember 199033 die Ausführungen zum Verfahrensrecht. Nachdem das Finanzgericht den Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn unter Befreiung von der Steuerberaterprüfung vorläufig zum Steuerberater zu bestellen, abgelehnt hatte, hatte der Antragsteller gegen diese Entscheidung unmittelbar Beschwerde zum Bundesfinanzhof erhoben, die seinerzeit nach §  128 FGO34 noch zulässig war. Der Bundesfinanzhof fasste seinen Beschluss vom 20. Dezember 1990, ohne die nach § 130 FGO35 eigentlich erforderliche Nichtabhilfeentscheidung des Finanzgerichts abzuwarten und begründete dies mit der besonderen Eilbedürftigkeit der Entscheidung, weil eine prüfungsfreie Bestellung zum Steuerberater nach Ablauf des 31. Dezember 1990 nicht mehr möglich sein würde, sodass bei weiterem Zuwarten die Gefahr bestehe, dass der gestellte Rechtsschutzantrag ins Leere laufe36. Damit hat der Bundesfinanzhof dem Grundsatz auf effektiven Rechtsschutz im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG Rechnung getragen, was zur Vermittlung des Rechtsstaatsprinzips in den neuen Bundesländern von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Zwei weitere Beschlüsse des Bundesfinanzhofs vom 10. September 199137 und vom 7. April 199238 betrafen die Frage, ob für Streitigkeiten wegen prüfungsfreier Bestellung zum Steuerberater, die nach dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Re­ 30 BFH v. 20.12.1990  – VII B 255/90, BStBl.  II 1991, 267; v. 20.12.1990  – VII B 254/90, BFH/ NV 1991, 196; ebenso v. 1.2.1994 – VII R 27/93, BStBl. II 1994, 822 (824). 31 BFH v. 7.3.1995  – VII R 4/94, BStBl.  II 1995, 421; ebenso v. 9.1.1996  – VII R 16/95, BFH/ NV 1996, 512. 32 BFH v. 20.12.1990  – VII B 255/90, BStBl.  II 1991, 267; v. 20.12.1990  – VII B 254/90, BFH/ NV 1991, 196. 33 BFH v. 20.12.1990  – VII B 255/90, BStBl.  II 1991, 267; v. 20.12.1990  – VII B 254/90, BFH/ NV 1991, 196. 34 FGO in der Fassung v. 20.12.1974, BGBl. I 1974, 3651. 35 FGO in der Fassung v. 6.10.1965, BGBl. I 1965, 1477. 36 BFH v. 20.12.1990  – VII B 255/90, BStBl.  II 1991, 267; v. 20.12.1990  – VII B 254/90, BFH/ NV 1991, 196. 37 BFH v. 10.9.1991 – VII B 143/91, BStBl. II 1991, 896. 38 BFH v. 7.4.1992 – VII B 215/91, BFH/NV 1993, 273.

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publik anhängig geworden sind, der Rechtsweg zu den Finanzgerichten oder – wie dies der Senat für Finanzrecht beim Bezirksgericht Dresden als Vorinstanz entschieden hatte – zu den Verwaltungsgerichten eröffnet ist. Der Bundesfinanzhof räumte zwar ein, dass die Zuweisung dieser Streitigkeiten zu den Finanzgerichten nicht unmittelbar ausgesprochen worden sei. Eine ausdrückliche gesetzliche Zuweisung an die Finanzgerichte liege aber auch dann vor, wenn sich der dahin gehende Wille des Gesetzgebers aus dem Grundgehalt einer Regelung und dem Sachzusammenhang in Verbindung mit der Sachnähe der betroffenen Materie hinreichend deutlich und logisch zwingend ergebe. Diesen Willen des Gesetzgebers leitete der erkennende Senat daraus ab, dass nach Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 28 b des Einigungsvertrages das Recht der Bundesrepublik Deutschland anzuwenden sei, wenn das fortgeltende Recht der Deutschen Demokratischen Republik – wie im konkreten Fall die Steuerberaterordnung  – auf Vorschriften verweise, die keine Anwendung mehr finden würden. Dies sei hinsichtlich der Abgabenordnung/DDR der Fall, weil diese seit dem 3. Oktober 1990 durch die bundesrepublikanische Abgabenordnung abgelöst worden sei, sodass seit diesem Tag § 33 Abs. 1 Nr. 3 FGO mit der Rechtswegzuweisung für berufsrechtliche Streitigkeiten zu den Finanzgerichten anzuwenden sei. Zur weiteren Untermauerung seiner Argumentation führt der Bundesfinanzhof aus, dass „er sich bei der Anwendung der oben dargestellten Auslegungsgrundsätze auch von der außergewöhnlichen geschichtlichen Situation leiten [lasse]39, in der sich der Gesetzgeber bei der Ausarbeitung des Einigungsvertragsgesetzes befand“40. Dabei entnimmt der erkennende Senat der generellen Regelung des Einigungsvertrages, dass mit dem Wirksamwerden des Beitritts in dem Beitrittsgebiet das Bundesrecht in der zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung in Kraft treten soll, einen allgemeinen, auf Rechtssicherheit gerichteten Willen des Gesetzgebers, in den Fällen, in denen das Recht der Deutschen Demokratischen Republik nicht mehr anwendbar ist, Regelungen zu treffen, die den bundesdeutschen Regelungen entsprechen. Sofern das Einigungsvertragsgesetz beim Anlegen des üblichen Maßstabs Regelungsdefizite enthalte, so dürften bei der Auslegung die außergewöhnlichen Umstände, unter denen das Einigungsvertragsgesetz zustandegekommen sei, nicht außer Betracht bleiben, die sich aus dem enormen, nahezu die gesamte Rechtsordnung umfassenden Umfangs des Gesetzgebungswerks und dem bestehenden Zeitdruck ersehen ließen. Damit spricht der Bundesfinanzhof im Ergebnis zwei für die Auslegung des Steuerrechts der Deutschen Demokratischen Republik wesentliche Gesichtspunkte an, nämlich zum einen den Umstand, dass im Zweifel eine Auslegung vorzunehmen ist, die mit den bundesrepublikanischen Vorschriften im Einklang steht und zum anderen dass insbesondere Versäumnisse des Gesetzgebers durch eine großzügige Gesetzesauslegung in diesem Sinne zu heilen sind. Diese von großem Pragmatismus geprägte Auffassung war angesichts der Handhabbarkeit sowohl der unterschiedlichen steuerrechtlichen Normen als auch der Einzelregelungen des Einigungsvertrages zu begrüßen. 39 Ergänzung durch Verfasser. 40 BFH v. 10.9.1991 – VII B 143/91, BStBl. II 1991, 896 unter I. 2 b.

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b) Zulassung als Helfer in Steuersachen und Steuerbevollmächtigter Weitere Streitfälle zum Berufsrecht betrafen die Zulassung als Helfer in Steuersachen und Steuerbevollmächtigter. Dies hing damit zusammen, dass das ab dem 1. Januar 1991 auch in den neuen Bundesländern geltende Steuerberatungsgesetz41 eine Bestellung als Helfer in Steuersachen oder Steuerbevollmächtigter nicht mehr vorsah. Anders war dies nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik. Art. 107 a AO/DDR42 sah diese Möglichkeit noch vor. Diese Regelung trat allerdings am 1. Juli 1990 außer Kraft43. § 19 Abs. 1 StBerO/DDR vom 27. Juni 199044 bestimmte stattdessen, dass bereits vor dem Inkrafttreten am 27. Juli 1990 bestellte Steuerbevollmächtigte auch weiterhin kraft Gesetzes als solche bestellt waren. Vor diesem Zeitpunkt bestellte Helfer in Steuersachen waren zudem nach § 19 Abs. 2 StBerO/DDR ebenfalls als Steuerbevollmächtigte bestellt, wenn sie über eine Zulassung gemäß § 107 a AO/DDR verfügten45. § 19 Abs. 3 StBerO/DDR sah ferner die Möglichkeit der Bestellung von ehemaligen verantwortlichen Leitern und leitenden Mitarbeitern der VEB Rechnungsführung und Wirtschaftsberatung sowie der Finanzorgane zu Steuerbevollmächtigten vor46. Für die Prüfung und Bestellung von Steuerbevollmächtigten galt nach § 70 Abs. 1 StBerO/DDR die Anordnung des Ministers der Finanzen vom 7. Februar 1990 über die Zulassung zur Ausübung der selbstständigen Tätigkeit als Helfer in Steuersachen sowie die Registrierung von Stundenbuchhaltern bis zum 31. Dezember 1990 fort. Wie auch schon hinsichtlich der prüfungsfreien Zulassung von Steuerberatern versagte der Bundesfinanzhof im Urteil vom 11. Mai 199347 eine ausweitende Auslegung der Vorschriften auf Personen, die die ausdrücklich genannten Voraussetzungen für die Bestellung zum Steuerbevollmächtigten nicht erfüllten. Die Beschränkung auf einen eng umschriebenen, auf die beruflichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik bezogenen Personenkreis sei um so mehr gerechtfertigt, als in den alten Bundesländern nach dem StBerG der Zugang zum Beruf des Steuerbevollmächtigten bereits seit Jahren geschlossen sei. Damit stellt der Bundesfinanzhof erneut einen Vergleich zum bundesdeutschen Recht her, den er zur Untermauerung seines Auslegungsergebnisses nutzte. In den Urteilen

41 Steuerberatungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 4.11.1975, BGBl.  I 1975, 2735. 42 AO/DDR v. 18.9.1970, GBl. DDR 1970 Sonderdruck Nr. 681. 43 Siehe §  19 Abs.  1 und Abs.  2 Nr.  1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung der DDR – AO/DDR 1990 – v. 22.6.1990, GBl. DDR 1990 Sonderdruck Nr. 1428. Damit war auch der vom Minister der Finanzen erlassene Anordnung v. 7.2.1990, die u.a. die Voraussetzungen der Zulassung als Helfer in Steuersachen bestimmte, die Grundlage entzogen. 44 StBerO/DDR v. 27.6.1990, GBl. DDR 1990 Sonderdruck Nr. 1455. 45 Das galt nach BFH v. 7.3.1996 – VII R 61, 62/95, BStBl. II 1996, 334 auch dann, wenn die Zulassung zum Helfer in Steuersachen rechtswidrig war. 46 Siehe dazu auch BMF, Schreiben v. 12.10.1990 – IV A 4-S 0869-102/90, BStBl. I 1990, 732 und Schreiben v. 26.11.1990 – IV A 4-S 0869-130/90, BStBl. I 1990, 777. 47 BFH v. 11.5.1993 – VII R 98/92, BFH/NV 1994, 194.

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vom 4. November 199348 und vom 1. Februar 199449 arbeitete der Bundesfinanzhof unter Hinweis auf die bis zum 31. Dezember 1990 fortgeltende Anordnung des Ministers der Finanzen vom 7. Februar 1990 schließlich weiter heraus, dass sich aus den Regelungen in § 19 Abs. 2 und Abs. 3 StBerO/DDR ebenso wie aus den für Steuerberater geltenden Zulassungsregelungen in §§ 14, 15 und 19 StBerO/DDR ersehen lasse, dass sich die geforderten praktischen Berufserfahrungen auf das Steuerrecht der Deutschen Demokratischen Republik beziehen mussten und nicht auf das bundesrepublikanische Steuerrecht50. Dies war insbesondere für solche Bewerber von Bedeutung, die erst im Laufe des Jahres 1990 ihren Wohnsitz in der Deutschen Demokratischen Republik nahmen und kurz vor der Wiedervereinigung die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik annahmen. c) Rücknahme der vorläufigen Bestellung zum Steuerberater Mitte der 1990er Jahre musste sich der Bundesfinanzhof mit einer weiteren Fragestellung zum Berufsrecht auseinandersetzen, die sich als Folge aus der prüfungsfreien Zulassung zum Steuerberater nach §§ 14, 15 und 17 StBerO/DDR ergeben hatte. Es ging dabei um die Rücknahme von vorläufigen Bestellungen zum Steuerberater. § 46 Abs. 1 Satz 2 StBerG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 199251 sah vor, dass eine vorläufige Bestellung zum Steuerberater im Sinne von § 40 a StBerG zurückzunehmen ist, wenn sie rechtswidrig war und der Begünstigte die Umstände kannte oder kennen mußte, die die Rechtswidrigkeit begründen, oder wenn die Bestellung von einer sachlich unzuständigen Behörde ausgesprochen wurde und die zuständige Behörde die Bestellung nicht hätte aussprechen dürfen. Als vorläufig bestellt galten nach § 40 a Abs. 1 Satz 1 StBerG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 199252 Steuerberater und Steuerbevollmächtigte aus dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet, die nach dem 6. Februar 1990 auf Grund des Steuerberatungsrechts der Deutschen Demokratischen Republik bestellt worden waren. Damit hatte der Gesetzgeber die Möglichkeit geschaffen, die unter der Geltung von §§ 14, 15 und 17 StBerO/DDR ausgesprochenen Ernennungen zu Steuerberatern zu überprüfen und gegebenenfalls zurückzunehmen. Die Notwendigkeit für diese Regelung sah er dabei in der Zulassungs- und Bestellungspraxis der Behörden der Deutschen Demokratischen Republik nach dem bis zum 31. Dezember 1990 im Beitrittsgebiet geltenden Steuerberatungsrecht53.

48 BFH v. 4.11.1993 – VII R 26/93, BFH/NV 1994, 663. 49 BFH v. 1.2.1994 – VII R 27/93, BStBl. II 1994, 822, die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG, v. 20.12.1994  – 1 BvR 901/94, HFR 1996, 38. 50 Zur Zulassung als Steuerberater: BFH v. 7.3.1995 – VII R 4/94, BStBl. II 1995, 421 unter 1. a und ebenso v. 9.1.1996 – VII R 16/95, BFH/NV 1996, 512. 51 StÄndG 1992 v. 25.2.1992, BGBl. I 1992, 297. 52 StÄndG 1992 v. 25.2.1992, BGBl. I 1992, 297. 53 So die Gesetzesbegründung in BT-Drucks 12/1108, 86.

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Im Urteil vom 27. Juni 199454 stellte der Bundesfinanzhof zunächst klar, dass die genannten Vorschriften nicht gegen Art. 19 Einigungsvertrag55 verstießen, weil Art. 19 Einigungsvertrag nur klarstellen solle, dass die Wirksamkeit von Verwaltungsakten, die von Behörden der Deutschen Demokratischen Republik erlassen worden seien, grundsätzlich nicht mit dem Wegfall der Körperschaft endeten, die den Verwaltungsakt erlassen habe. Einen erhöhten Bestandsschutz für Verwaltungsakte der Behörden der Deutschen Demokratischen Republik begründe die Vorschrift nicht, wie sich dies aus Art. 19 Satz 3 Einigungsvertrag ableiten lasse, wonach die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten unberührt blieben. Damit sei für die Rücknahme der vorläufigen Bestellung zum Steuerberater nur entscheidend, ob die Voraussetzungen von § 46 Abs. 1 Satz 2 StBerG erfüllt seien und nicht auch, ob die Bestellung auch nach dem früheren Recht der Deutschen Demokratischen Republik hätte zurückgenommen werden können56. Darüber hinaus erteilte der erkennende Senat der Argumentation des Klägers eine Absage, dass die Rücknahme gegen das aus dem in Art.  20 Abs.  3 GG normierten Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Rück­ wirkungsverbot verstoße. Ein solches grundsätzliches Rückwirkungsverbot bestehe nur bei Gesetzen, deren Rechtsfolgen für einen vor Verkündung der Norm liegenden Zeitpunkt einträten, d.h. Gesetzen, durch die nachträglich ändernd in bereits abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingegriffen werde57. §  46 Abs. 1 Satz 2 StBerG knüpfe hingegen nur an in der Vergangenheit verwirklichte Tatbestände an, um bei Erfüllung eines solchen Tatbestandes für die Zukunft bestimmte Maßnahmen, nämlich die Rücknahme der vorläufigen Bestellung zum Steuerberater, vorzuschreiben. Eine solche unechte Rückwirkung sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur dann nicht zulässig, wenn eine Güterabwägung zwischen der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl und dem Ausmaß des durch die Gesetzesänderung verursachten Vertrauensschadens ergebe, dass das Individualinteresse Vorrang habe. Dies sei bei der Rücknahme der vorläufigen Bestellung zum Steuerberater nicht der Fall, weil das allgemeine Interesse an der Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes überwiege58. Einen Verstoß gegen die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Freiheit der Berufswahl und Berufsausübung verneinte der Bundesfinanzhof in seiner späteren Rechtsprechung ebenfalls, weil die Zulassung zum Beruf des (vorläufig bestellten) Steuerberaters in der StBerO/DDR geregelt gewesen sei und § 46 Abs. 2 Satz 2 StBerG lediglich sicherstelle, dass die dort genannten Zulassungsvoraussetzungen auch verwirklicht würden. Der Gesetzgeber habe sowohl durch die Regelung in § 15 StBerO/DDR zur prüfungsfreien Bestellung als auch in § 46 Abs. 2 Satz 2 StBerG zur zwingenden Rücknahme der Bestellung den

54 BFH v. 27.6.1994 – VII R 110/93, BStBl. II 1995, 341. 55 Siehe dazu auch unter II. 5. 56 BFH v. 27.6.1994 – VII R 110/93, BStBl. II 1995, 341 unter 2. b. 57 So genannte echte Rückwirkung: BFH v. 27.6.1994 – VII R 110/93, BStBl. II 1995, 341 unter 2. c. 58 BFH v. 27.6.1994 – VII R 110/93, BStBl. II 1995, 341 unter 2. c; v. 7.3.1995 – VII R 4/94, BStBl. II 1995, 421.

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ihm zustehenden Gestaltungsspielraum ausgenutzt, zumal § 46 Abs. 2 Satz 2 StBerG durch zwingende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sei59. Soweit § 46 Abs. 1 Satz 2, 1. Fall StBerG60 für die Rücknahme der Bestellung als Steuerberater verlangte, dass der Begünstigte die Umstände kannte oder kennen mußte, die die Rechtswidrigkeit begründeten, sprach sich der Bundesfinanzhof im Urteil vom 7. März 199561 gegen eine wortgetreue Auslegung aus und forderte aus Gründen des Vertrauensschutzes und in Anlehnung an andere Rücknahmevorschriften, etwa in § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 und Abs. 3 Satz 2 VwVfG sowie § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO, dass der Begünstigte die Rechtswidrigkeit als solche kannte und nicht nur die ihr zu Grunde liegenden Umstände62. An die Kenntnis oder das Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit stellte der Bundesfinanzhof demgegenüber keine allzu hohen Anfor­ derungen. Stehe die von den Behörden der Deutschen Demokratischen Republik ausgesprochene prüfungsfreie Bestellung zum Steuerberater in einem ohne Schwierigkeiten klar zu erkennenden Widerspruch zu den gesetzlichen Vorschriften, so fehle es an einem schutzwürdigen Vertrauen des Begünstigten, sodass ein belastender gesetzlicher Eingriff auch mit Rückwirkung zulässig sei63. Dabei müsse von einem Bewerber für die Bestellung als Steuerberater erwartet werden, dass er sich über die in § 15 StBerO/DDR klar und eindeutig geregelten gesetzlichen Voraussetzungen für eine prüfungsfreie Bestellung kundig mache64. Der großzügigen Bestellungspraxis des zuständigen Abteilungsleiters im Ministerium der Finanzen der Deutschen Demokratischen Republik maß der erkennende Senat für den Vertrauensschutz des Begünstigten keine Bedeutung bei65. d) Zwischenfazit Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass der Bundesfinanzhof bei seiner Rechtsprechung zum Berufsrecht sehr darauf bedacht war, effektiven und vor allem schnellen Rechtsschutz zu gewähren. Bei der Anwendung der fortgeltenden Regelungen der Deutschen Demokratischen Republik hat er in Zweifelsfällen eine Auslegung gewählt, die sich an den bundesrepublikanischen Vorschriften orientierte, um so ein 59 BFH v. 26.9.1995 – VII R 19/94, BFH/NV 1996,369, die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG, v. 31.1.1996  – 1 BvR 2706/95; ebenso BFH v. 9.1.1996 – VII R 16/95, BFH/NV 1996, 512 unter 3. 60 Siehe zu § 46 Abs. 1 Satz 2, 2. Fall StBerG BFH v. 27.6.1994 – VII R 110/93, BStBl. II 1995, 341 unter 2. d, wonach es bei der Rücknahme wegen der Bestellung durch eine sachlich unzuständige Behörde nicht auf das Kennen oder Kennenmüssen des Begünstigten ankommt. 61 BFH v. 7.3.1995 – VII R 4/94, BStBl. II 1995, 421. 62 Ebenso BFH v. 7.3.1996, VII R 61, 62/95, BStBl. II 1996, 334 zur Zurücknahme der Bestellung als Steuerbevollmächtigter. 63 BFH v. 7.3.1995 – VII R 4/94, BStBl. II 1995, 421 unter 2. b; großzügig allerdings für die Rücknahme der Bestellung als Steuerbevollmächtigter BFH v. 7.3.1996, VII R 61, 62/95, BStBl. II 1996, 334. 64 BFH v. 9.1.1996 – VII R 16/95, BFH/NV 1996, 512 unter 1. b. 65 BFH v. 9.1.1996 – VII R 16/95, BFH/NV 1996, 512 unter 1. b.

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Auseinanderlaufen des Berufsrechts zu verhindern. Zur Wahrung der an den Berufsstand der Steuerberater zu stellenden hohen Anforderungen war die Rechtsprechung zur Rücknahme von vorläufigen Bestellungen sehr restriktiv. Diese Rechtsprechungsgrundsätze haben sicherlich dazu beigetragen, dass sich auch in den neuen Bundesländern eine fachlich hochqualifizierte Steuerberaterschaft entwickeln konnte. 2. Besteuerung der Produktionsgenossenschaften des Handwerks und ihrer Mitglieder Die notwendige Auseinandersetzung mit der vollständig anderen Rechts- und Wirtschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik trat bei der Besteuerung der Produktionsgenossenschaften des Handwerks und ihrer Mitglieder besonders zu Tage. Während des Bestehens der Deutschen Demokratischen Republik richtete sich die Besteuerung der Produktionsgenossenschaften des Handwerks nach dem Gesetz vom 30. November 196266. Dieses wurde indes mit Wirkung ab dem 1. Juli 1990 durch das Steueranpassungsgesetz vom 22. Juni 199067 aufgehoben, sodass die Produktionsgenossenschaften des Handwerks fortan der Körperschaftsteuer unterlagen68. Dabei qualifizierte der Bundesfinanzhof sie allerdings nicht als Kapitalgesellschaften und gewährte daher für ihre Ausschüttungen nicht den nach §  5 Abs.  2 StÄndG/DDR69 für Ausschüttungen von Kapitalgesellschaften vorgesehenen ermäßigten Körperschaftsteuersatz von 36  %70. Ob die Produktionsgenossenschaft des Handwerks allerdings als Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft71 im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 KStG/DDR72 oder als sonstige juristische Person im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 4 KStG/DDR anzusehen war, ließ er indes offen73. Hinsichtlich der Ausschüttungen der Produktionsgenossenschaften des Handwerks legte der Bundesfinanzhof fest, dass diese bei den Mitgliedern auch dann zu steuerpflichtigen Einnahmen aus Kapitalvermögen nach §  20 Abs.  1 Nr.  1 EStG/DDR74 führten, wenn sie im ersten Halbjahr 1990 aus dem Reservefonds der Produktions66 Gesetz v. 30.11.1962 über die Besteuerung der Produktionsgenossenschaften des Handwerks und ihrer Mitglieder, GBl. DDR I 1962, 119 in der Fassung des Gesetzes v. 14.12.1970 zur Ergänzung der Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Besteuerung, GBl. DDR I 1970, 371. 67 StAnpG/DDR v. 22.6.1990, GBl. DDR 1990 Sonderdruck Nr. 1427, 3. 68 BFH v. 22.12.1993 – I R 75/93, BStBl. II 1994, 578. 69 StÄndG/DDR v. 6.3.1990, GBl. DDR I 1990, 136. 70 BFH v. 22.12.1993 – I R 75/93, BStBl. II 1994, 578; v. 14.9.1994 – I R 40/94, BStBl. II 1995, 209. 71 So BGH, v. 19.9.1994 – II ZR 184/93, DStR 1995, 854. 72 KStG/DDR in der Fassung v. 18.9.1970, GBl. DDR 1970 Sonderdruck Nr. 671. 73 BFH v. 1.8.1996 – VIII R 6/95, BFH/NV 1997, 464 unter II. 1. b aa; v. 1.8.1996 – VIII R 76/94, BFH/NV 1997, 564. Siehe auch BFH v. 27.10.1994 – I R 60/94, BStBl. II 1995, 326 und v. 27.3.1996 – I R 112/95, BStBl. II 1996, 480: Umwandlung einer Einkaufs- und Liefergenossenschaft des Handwerks in eine GmbH oder eine eingetragene Genossenschaft ist eine übertragende Umwandlung, so dass die neue Gesellschaft Altverluste nicht geltend machen kann. 74 EStG/DDR in der Fassung v. 18.9.1970, GBl. DDR I 1970 Sonderdruck Nr. 670.

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genossenschaft des Handwerks erfolgt waren75. Die Produktionsgenossenschaften des Handwerks hatten nach §  6 Abs.  1 der Verordnung über das Musterstatut der Produktionsgenossenschaften des Handwerks vom 21. Februar 197376 mehrere dort im Einzelnen aufgeführte Fonds zu bilden. Dem Reservefonds waren dabei alle zur Durchführung einer planmäßigen Fondswirtschaft nicht erforderlichen freien Eigenmittel zuzuführen; der Reservefonds durfte nicht für Konsumzwecke verwendet werden. Erfolgten Ausschüttungen hieraus an die Mitglieder, so waren diese nach der Auffassung des Bundesfinanzhofs als Beteiligungsertrag der Besteuerung zu unterwerfen77. 3. Besteuerung der Einzelhändler und Handwerker Der Bundesfinanzhof musste sich in mehreren Entscheidungen mit der Frage befassen, ob – und gegebenenfalls ab wann – auf dem Gebiet der früheren Deutschen Demokratischen Republik ansässige Einzelhändler und Handwerker der Gewerbesteuer unterfielen. Bis zum 30. Juni 1990 unterlagen Einzelhändler als so genannte Kommissionshändler nach § 2 Abs. 1 der Verordnung über die Besteuerung der Kommissionshändler78 der Steuer des Kommissionshandels; Gewerbesteuer war nach §  3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung nicht zu erheben. Gleiches galt für „individuell arbeitende Handwerker“, die nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Besteuerung der Handwerker vom 16. März 196679 mit ihren Erträgen aus handwerklicher Tätigkeit allein der Handwerksteuer unterlagen, die sich nach § 3 Abs. 1 Satz 1 HdwStG/DDR zusammensetzte aus der Gewinnsteuer, der Umsatzsteuer und der Lohnsummensteuer. Mit Wirkung vom 1. Juli 1990 setzte das Steueranpassungsgesetz vom 22. Juni 199080 sowohl die Verordnung über die Besteuerung der Kommissionshändler als auch das Gesetz über die Besteuerung der Handwerker außer Kraft, sodass ab diesem Zeitpunkt die Besteuerung nach dem fortgeltenden Gewerbesteuergesetz der Deutschen Demokratischen Republik81 erfolgte82. 75 BFH v. 1.8.1996 – VIII R 6/95, BFH/NV 1997, 464 unter II. 1. b aa; v. 26.9.1995 – VIII R 70/94, BStBl. II 1996, 464, wonach dies auch dann gilt, wenn zuvor Beträge in den Prämienfonds umgebucht worden waren und die Ausschüttung hieraus erfolgte. 76 Verordnung über das Musterstatut der Produktionsgenossenschaften des Handwerks v. 21.2.1973, GBl. DDR I 1973, 121. 77 Siehe zum anzuwendenden Steuertarif BFH v. 1.8.1996 – VIII R 71/94, BStBl. II 1997, 483 und v. 1.8.1996 – VIII R 76/94, BFH/NV 1997, 564. 78 KoHStVO/DDR v. 24.12.1959, GBl. DDR I 1960, 19. 79 HdwStG/DDR v. 16.3.1966, GBl. DDR I 1966, Sonderdruck Nr. 537, 71. 80 StAnpG/DDR v. 22.6.1990, GBl. DDR 1990 Sonderdruck Nr. 1427, 3. 81 GewStG/DDR in der Fassung v. 18.9.1970, GBl. DDR 1970 Sonderdruck Nr. 672. 82 Zum Einzelhändler: BFH v. 15.3.1994 – XI R 10/93, BStBl. II 1994, 813 und dem folgend für die Produktionsgenossenschaft des Handwerks wegen der identischen Rechtslage: BFH v. 14.9.1994 – I R 40/94, BStBl. II 1995, 209; zum Handwerker: BFH v. 15.9.1994 – XI R 20/93, BStBl. II 1996, 609; v. 14.12.1994 – XI R 37/94, BStBl. II 1995, 329, zugleich mit der Aussage, dass es nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, dass Kapitalgesellschaften – anders als natürliche Personen und Personengesellschaften – ihren Gewinn zum Zwecke der Gewerbesteuerberechnung nach § 4 b EStG/DDR um die Vergütung an Aktionäre und Ge-

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Mit dem Wegfall der Verordnung über die Besteuerung der Kommissionshändler sowie dem Gesetz über die Besteuerung der Handwerker zum 1. Juli 1990 änderten sich auch die Regelungen über die Gewinnermittlung. Wie sich aus § 53 D-Markbilanzgesetz ergab, mussten die Steuerpflichtigen den im ersten Halbjahr erwirtschafteten Gewinn nach den bisherigen Gewinnermittlungsvorschriften ermitteln, die unter anderem in der Verordnung über die Besteuerung der Kommissionshändler sowie im Gesetz über die Besteuerung der Handwerker enthalten waren. Für das zweite Halbjahr 1990 war die Gewinnermittlung hingegen nach § 4 Abs. 1 und Abs. 3 EStG/DDR vorzunehmen. Da die im ersten und im zweiten Halbjahr anzuwendenden Gewinnermittlungsarten nicht aufeinander abgestimmt waren, konnte es sein, dass erfolgswirksame Geschäftsvorfälle zum Teil doppelt oder auch zum Teil gar nicht der Besteuerung unterlagen. Obwohl entsprechende Korrekturvorschriften nicht existierten, entschied der Bundesfinanzhof im Urteil vom 30. März 199483 ­unter Rückgriff auf die Rechtsprechung zum Wechsel der Gewinnermittlungsart ­zwischen § 4 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 EStG, dass die Gewinnermittlung insofern zu korrigieren sei, dass einerseits eine mehrfache Besteuerung erfolgswirksame Geschäftsvorfälle ausscheide und andererseits sichergestellt sei, dass alle erfolgswirksame Geschäftsvorfälle besteuert würden84. Dieser zweifellos pragmatische Ansatz führte in vielen Fällen dazu, dass es nicht zu der von Gesetzes wegen eigentlich eintretenden Doppelbesteuerung von Geschäftsvorfällen kam. 4. Steuerrate 1990 Hinsichtlich der Steuerfestsetzung bestand in den neuen Bundesländern für das Jahr 1990 eine Besonderheit. In der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik erfolgte die Steuerfestsetzung auf der Grundlage der Selbstberechnungsverordnung vom 19. Januar 196185 im Wege der Selbstberechnung und umfasste in einem einheitlichen Vordruck und Verfahren die Einkommensteuer  – wozu die Handwerksteuer und die Steuer des Kommissionshandels gehörten –, die Gewerbesteuer, die Umsatzsteuer, die Beförderungsteuer, die Vermögensteuer und die Produktionsfondssteuer zuzüglich des Gewinnausgleichs. Das Ergebnis wurde als sogenannte Steuerrate zusammengefasst86. Die Selbstberechnungsverordnung vom 19. Januar 196187 wurde mit Wirkung ab dem 1. Juli 1990 durch die Selbstberechnungsverordnung vom 27. Juni 199088 ersetzt, die auf der Grundlage von Art. 8 i.V.m. Anlage I Kapitel IV Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 14 Abs. 1 des Einigungsvertrages bis zum sellschafter kürzen können. Zur Ermittlung des Gewerbeertrags siehe BFH v. 25.10.1995 – I R 138/94, BStBl. II 1996, 74; v. 26.10.1995 – IV R 23/94, BFH/NV 1996, 550. 83 BFH v. 30.3.1994 – I R 124/93, BStBl. II 1994, 852. 84 So auch BFH v. 26.4.1995 – I R 49/94, BFH/NV 1996, 130. 85 Selbstberechnungsverordnung v. 19.1.1961, GBl. DDR II 1961, 35 mit Durchführungsbestimmung v. 15.12.1972, GBl. DDR II 1972, 857. 86 Dazu insgesamt Förg, FR 1991, 710 (711) und BFH v. 15.03.1994 – XI R 10/93, BStBl. II 1994, 814. 87 Selbstberechnungsverordnung v. 19.1.1961, GBl. DDR II 1961, 35 mit Durchführungsbestimmung v. 15.12.1972, GBl. DDR II 1972, 857. 88 Selbstberechnungsverordnung v. 27.6.1990, GBl. DDR I 1990, 616.

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31. Dezember 1990 galt89. Bei der von dem Steuerpflichtigen abzugebenden Erklärung zur Steuerrate handelte es sich um eine Steueranmeldung, die nach § 168 Satz 1 AO einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht90. Probleme bei der Festsetzung der Steuerrate traten insofern auf, als ab dem 1. Juli 1990 die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hergestellt und die Deutsche Mark als einheitliche Währung eingeführt wurde91. Das hatte nach Kapitel I Art. 1 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zur Folge, dass die auf Mark der DDR lautenden Forderungen und Verbindlichkeiten auf Deutsche Mark umgestellt wurden, indem lediglich die Rechnungseinheit ausgetauscht wurde92. Für die Berechnung der Steuerrate erfolgte hingegen keine Zäsur zum 1. Juli 1990, was darauf zurückzuführen war, dass jedenfalls die Einkommensteuer nach § 2 Abs. 1 EStG/DDR93 eine Jahressteuer war, die nach § 97 a Abs. 2 und Abs. 5 AO/DDR94 mit Ablauf des Kalenderjahres entstand, für das die Veranlagung durchzuführen war95. Auf dieser Grundlage hätte die Steuerrate für das Jahr 1990 eigentlich problemlos in der neuen Währung der Deutschen Mark festgesetzt werden können. Allerdings sah die Finanzverwaltung im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme insofern Erleichterungen für die Steuerpflichtigen vor, als sie die auf das erste Halbjahr 1990 entfallende Steuerrate nur zu  50  % ansetzte, um so dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Erträge und Umsätze noch zu Zeiten der Geltung der Mark der Deutschen Demokratischen Republik angefallen waren96. Im Urteil vom 14. September 199497 entschied der Bundesfinanzhof zunächst, dass die Bescheide über die Steuerrate 1990 in der Regel mehrere anfechtbare Verwal-

89 Siehe zur Fortgeltung der Steuerrate im Beitrittsgebiet auch BFH v. 5.3.1993 – VI R 37/92, BFH/NV 1993, 533: kein Lohnsteuer-Jahresausgleich im Jahr 1990 für Bewohner der neuen Bundesländer; siehe auch BFH v. 22.7.1993  – VI R 23/93, BFH/NV 1994, 97: Beim Lohnsteuer-Jahresausgleich für einen Steuerpflichtigen mit Wohnsitz in den alten Bundesländern sind diejenigen Einkünfte gemäß § 3 Nr. 63 EStG außer Ansatz zu lassen, die der Steuerpflichtige durch eine im Beitrittsgebiet ausgeübte nichtselbständige Tätigkeit erzielt hat. 90 BFH v. 15.3.1994 – XI R 10/93, BStBl. II 1994, 814; v. 11.2.1998 – I R 67/97, BFH/NV 1998, 1197. 91 Siehe dazu Gesetz zu dem Vertrag v. 18.5.1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik v. 25.6.1990, BGBl. II 1990, 518. 92 Dazu Förg, FR 1991, 710 (712). 93 EStG/DDR v. 18.9.1970, GBl. DDR 1970 Sonderdruck Nr. 670. 94 AO/DDR v. 18.9.1970, GBl. DDR 1970 Sonderdruck Nr. 681. 95 BFH v. 14.9.1994  – I R 136/93, BStBl.  II 1995, 382 unter 2. für die Einkommen- und Gewerbesteuer; zur Lohnsummensteuer und die Produktionsfondssteuer siehe BFH ­ v. 24.4.2003 – VII R 3/02, BStBl. II 2003, 739. 96 Siehe dazu BFH v. 14.9.1994 – I R 136/93, BStBl. II 1995, 382; v. 30.3.1994 – I R 124/93, BFHE 175, 46, BStBl. II 1994, 852 unter 2. b gg; v. 8.8.1995 – III R 263/94, BFH/NV 1996, 287. 97 BFH v. 14.9.1994 – I R 136/93, BStBl. II 1995, 382.

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tungsakte zu den einzelnen Steuerarten enthielten98, sodass der Kläger klarstellen müsse, gegen welche Einzelregelungen sich seine Klage richte. Derart eigenständige Verwaltungsakte sah der erkennende Senat unter Hinweis auf den Charakter der Steuer als Jahressteuer allerdings nicht in der rechnerischen Aufteilung der Steuerrate auf das erste Halbjahr 1990 einerseits und auf das zweiter Halbjahr 1990 andererseits, weil dies nur der Berechnung des Betrages der Steuerrate für das erste Halbjahr 1990 diene, den die Finanzverwaltung im Wege einer Billigkeitsmaßnahme lediglich zur Hälfte berücksichtige99. Anders als die Vorinstanz100 lehnte es der Bundesfinanzhof allerdings ab, den im ersten Halbjahr erwirtschaftetem Gewinn ebenfalls nur zur Hälfte anzusetzen, weil sich dafür weder im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion101 noch im Gesetz über die Eröffnungsbilanz in Deutscher Mark und die Kapitalneufestsetzung102 eine Grundlage ergebe103. 5. Steuervergünstigungen zur Förderung der Privatwirtschaft in den neuen Bundesländern a) Steuerbefreiung für die Neueröffnung eines Betriebes im Beitrittsgebiet nach § 9 Abs. 1 DBStÄndG/DDR In mehreren Entscheidungen musste sich der Bundesfinanzhof mit der Steuerbefreiung für die Neueröffnung eines Betriebes im Beitrittsgebiet nach § 9 Abs. 1 Satz 2 Durchführungsbestimmung zum Gesetz zur Änderung der Rechtsvorschriften über die Einkommen-, Körperschaft- und Vermögensteuer vom 16.3.1990104 auseinandersetzen. Diese Regelung sah vor, dass bei Neueröffnung eines Handwerks-, Handelsoder Gewerbebetriebes dem Inhaber eine einmalige Steuerbefreiung für zwei Jahre höchstens bis 10.000 Mark/DDR gewährt wird105. Nach Satz 3 der zitierten Vorschrift wurde die einmalige Steuerbefreiung auch bei der Aufnahme einer hauptberuflichen selbständigen oder freiberuflichen Tätigkeit gewährt. 98 Ebenso BFH v. 15.3.1994 – XI R 10/93, BStBl. II 1994, 814; v. 26.9.1995 – VIII R 70/94, BStBl. II 1996, 464; v. 11.2.1998 – I R 67/97, BFH/NV 1998, 1197. 99 Ebenso BFH v. 8.8.1995 – III R 263/94, BFH/NV 1996, 287. 100 Sächsisches FG, v. 2.6.1993 – 2 K 67/92, EFG 1993, 727. 101 Siehe dazu Gesetz zu dem Vertrag v. 18.5.1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik v. 25.6.1990, BGBl. II 1990, 518. 102 DMBilG v. 31.8.1990, BGBl.  II 1990, 889 als im Beitrittsgebiet fortgeltendes Recht der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, in Kraft gesetzt mit Wirkung ab dem 3.10.1990 nach Anlage II Kapitel III Sachgebiet D Abschnitt I Nr. 1 des Einigungsvertrages und geändert durch Art.  5 Nr.  7 der Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Durchführung und Auslegung des Einigungsvertrages – EinigVtrVbg – v. 18.9.1990, BGBl. II 1990, 1245. 103 BFH v. 30.3.1994 – I R 124/93, BStBl. II 1994, 852; v. 14.9.1994 – I R 136/93, BStBl. II 1995, 382 unter 3; v. 17.12.1997 – III R 194/94, BFH/NV 1998, 838. 104 DBStÄndG/DDR v. 16.3.1990, GBl. DDR 1990, 136. 105 Zur Frage der Berücksichtigung der Steuerbefreiung sowohl im Rahmen des Festsetzungsverfahrens als auch des Abrechnungsverfahrens siehe BFH v. 13.11.1996  – XI R 6/95, BStBl. II 1997, 293 mit weiteren Nachweisen.

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Der Bundesfinanzhof stellte zu dieser Norm klar, dass sie auch für Kapitalgesellschaften gilt, weil ihre Tätigkeit nach § 2 Abs. 2 GewStG/DDR106 in vollem Umfang als Gewerbebetrieb gilt107. Bezogen auf die Neueröffnung eines Betriebes legte der Bundesfinanzhof strenge Maßstäbe an. Diese bejahte er nur dann, wenn der Steuerpflichtige überhaupt einen Betrieb neu eröffnete, wenn er einen bestehenden Betrieb als Rechtsnachfolger übernahm oder wenn der bisherige Betriebsinhaber einen völlig andersartigen Betrieb fortführte108. Die Erweiterung eines bestehenden Betriebes109 genügte demgegenüber ebensowenig wie die Eröffnung einer Betriebsstätte, wohl aber die Neueröffnung eines Teilbetriebs110. Zudem ließ es der Bundesfinanzhof unter Bezugnahme auf § 9 Abs. 1 Satz 3 DBStÄndG/DDR ausreichen, wenn der Steuerpflichtige im Jahr 1990 eine zunächst nebenberuflich ausgeübte Tätigkeit fortan hauptberuflich ausgeübte, weil dadurch – dem Sinn und Zweck der Norm entsprechend – der Überbestand an Arbeitnehmern vermindert werde, die fast ausschließlich in den stark existenzgefährdeten Großbetrieben beschäftigen seien111. Eine Eröffnung nahm der Bundesfinanzhof erst dann an, wenn die Geschäftstätigkeit nach außen in Erscheinung tritt112. Damit wich er für § 9 Abs. 1 Satz 1 DBStÄndG/ DDR von seiner zu § 15 Abs. 2 EStG ergangenen Rechtsprechung ab, wonach die erste Vorbereitungshandlung, die erkennbar darauf gerichtet ist, ein Gewerbe zu betreiben, bereits zur Eröffnung des Gewerbebetriebs führt113. Dies begründete er damit, dass die Bestimmung aus den nicht veröffentlichten Direktiven des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik zur Förderung der Leistungen des Kommissions- und privaten Einzelhandels vom 9. April 1976114 hervorgegangen und durch zwei Direktiven vom 29. März 1984115 auf Kleingewerbetreibende und Handwerksbetriebe erstreckt worden sei. Die Steuerbefreiung sei ab dem Tag der Aufnahme der Tätigkeit gewährt worden, sodass dies auch für die Auslegung von § 9 Abs. 1 Satz 1 DBStÄndG/DDR maßgeblich sei116. Bezogen auf Arztpraxen bedeutete dies, dass 106 Gewerbesteuergesetz v. 18.9.1970, GBl. DDR I 1970 Sonderdruck Nr. 672. 107 BFH v. 27.10.1994 – I R 107/93, BStBl. II 1995, 403. 108 BFH v. 6.12.1995 – X R 136/94, BFH/NV 1996, 400. 109 Dazu BFH v. 6.12.1995 – X R 136/94, BFH/NV 1996, 400. 110 BFH v. 27.10.1994 – I R 107/93, BStBl. II 1995, 403. 111 BFH v. 6.7.1995 – IV R 84/94, BStBl. II 1995, 833 unter 2. b zum Gebäude- und Grundstückssachverständigen; ebenso BFH v. 13.11.1996 – XI R 6/95, BStBl. II 1997, 293. 112 BFH v. 14.12.1994 – XI R 39/94, BStBl. II 1995, 320; v. 13.11.1996 – XI R 6/95, BStBl. II 1997, 293. 113 Siehe dazu BFH v. 9.2.1983 – I R 29/79, BStBl. II 1983, 451; v. 7.4.1992 – VIII R 34/91, BFH/NV 1992, 797. 114 Veröffentlicht in DATEV, Steuerrechtssammlung 1990 für die Steuererklärungen in den neuen Bundesländern, Nürnberg 1991, Bd. II Nr. 95. 115 Veröffentlicht in DATEV, Steuerrechtssammlung 1990 für die Steuererklärungen in den neuen Bundesländern, Nürnberg 1991, Bd. II Nr. 96 und 97. 116 BFH v. 14.12.1994 – XI R 39/94, BStBl. II 1995, 320; siehe auch BFH v. 20.4.1995 – IV R 101/94, BStBl. II 1995, 710 unter Hinweis auf § 58 Abs. 3 EStG in der Fassung v. 23.9.1990, wonach § 9 Abs. 1 DBStÄndG/DDR für solche Steuerpflichtigen weiter anzuwenden war, die vor dem 1.1.1991 in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet eine Betriebsstätte begründet hatten.

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noch im Jahr 1990 mit der Behandlung von Patienten begonnen werden musste; die bloße Herrichtung der Praxis reichte nicht aus117. b) Akkumulationsrücklage Eine weitere Steuervergünstigung sah § 3 Abs. 2 Ständig/DDR vor. Danach konnten Steuerpflichtige, die Einkommen bzw. Gewinn aus Handwerks-, Handels- und Gewerbebetrieben sowie sonstigen selbständigen Tätigkeiten, freiberuflicher Arbeit oder Vermietung und Verpachtung erzielten für Zwecke der Akkumulation eine steuerfreie Rücklage i.H.v. 20  % des jährlichen Einkommens bzw. Gewinns, höchstens ­jedoch 50.000 M/DDR bilden. Streitig war in diesem Zusammenhang, ob diese sogenannte Akkumulationsrücklage auch den Gewerbeertrag minderte, was der Bundesfinanzhof in ständiger Rechtsprechung letztendlich bejahte, weil er davon ausging, dass die Rücklage nicht erst bei der Ermittlung des Einkommens zu berücksichtigen ist, sondern unmittelbar den Gewinn mindert118. c) Steuerfreiheit von Gewinnen nach § 3 Abs. 1 der 1. DV-ReprivG Eine weitere Steuervergünstigung ergab sich aus § 3 Abs. 1 der 1. Durchführungsverordnung zum Reprivatisierungsgesetz vom 8. März 1990119. Danach waren die Gewinne von ehemaligen Betrieben mit staatlicher Beteiligung und von privaten Betrieben, die auf der Grundlage des Beschlusses des Präsidiums des Ministerrates vom 9. Februar 1972 und damit im Zusammenhang stehender Regelungen in Volkseigentum übergeleitet worden waren und die – auf Antrag der ehemaligen privaten Gesellschafter oder Inhaber – in Personengesellschaften, Einzelunternehmen oder Kapitalgesellschaften umgewandelt wurden, für die ersten zwei Jahre der wirtschaftlichen Tätigkeit steuerfrei; gleiches galt für die Einkommen der Gesellschafter. Streitig war in diesem Zusammenhang insbesondere, ob die Steuerbefreiung nur dann eingreifen würde, wenn an den reprivatisierten Unternehmen ausschließlich die Altinhaber oder Altgesellschafter oder deren Erben beteiligt waren. Dies verneinte der Bundesfinanzhof in ständiger Rechtsprechung und begründete dies im Sinne der durch das Reprivatisierungsgesetz beabsichtigten Förderung privater Initiativen zur Entfaltung des Unternehmertums damit, dass es geradezu im Sinne des Reprivatisierungsbestrebens gewesen sei, auch solche Unternehmen zu erfassen, die sich die finanziellen Mittel zur notwendigen betrieblichen Umstrukturierung und Modernisierung durch den Eintritt neuer Gesellschafter verschafften120. Diese Rechtsprechung war zweifels117 BFH v. 20.4.1995 – IV R 101/94, BStBl. II 1995, 710; v. 20.4.1995 – IV R 89/94, BFH/NV 1996, 24. 118 BFH v. 15.3.1994 – XI R 10/93, BStBl. II 1994, 813; v. 16.3.1994 – I R 146/93, BStBl. II 1994, 941; v. 15.9.1994 – XI R 20/93, BStBl. II 1996, 609; v. 26.4.1995 – I R 49/94, BFH/NV 1996, 130; v. 26.10.1995 – IV R 23/94, BFH/NV 1996, 550; v. 26.10.1995 – IV R 8/94, juris. 119 1. DV-ReprivG, GBl. DDR I 1990, 144. 120 BFH v. 13.7.1994  – I R 142/93, BStBl.  II 1995, 133; v. 13.7.1994  – I R 143/93, juris; v. 27.10.1994 – I R 34/94, BStBl. II 1995, 419 zu einer durch Umwandlung einer Produktionsgenossenschaft des Handwerks entstandenen Kapitalgesellschaft, an der nicht nur Altgenossen beteiligt waren.

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ohne im Sinne der Förderung des Privateigentums auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. 6. Aufhebung von Steuerverwaltungsakten der früheren Steuerbehörden der Deutschen Demokratischen Republik a) Art. 19 des Einigungsvertrags als Rechtsgrundlage Zu den Verfahren, die von den Klägern im Rahmen der Aufarbeitung der Wieder­ vereinigung mit den größten Emotionen geführt wurden, gehörten die Rechts­ streitigkeiten betreffend die Aufhebung von Steuerverwaltungsakten der früheren Steuerbehörden der Deutschen Demokratischen Republik. Art.  19 Satz  1 des Einigungsvertrages bestimmte, dass vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik wirksam blieben. Sie konnten nach Satz  2 der zitierten Norm jedoch aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des Einigungsvertrages unvereinbar waren. Im Übrigen blieben nach Satz 3 die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten unberührt. In den diesbezüglichen Verfahren machten die Kläger in der Regel geltend, dass die Steuerbehörden der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik willkürlich überhöhte Steuern festgesetzt hätten, um den ehemals von ihnen geführten Betrieb als Konkurrent von staatlichen Unternehmen zu zerstören. Den Besteuerungsverfahren waren in der Regel Betriebsprüfungen vorausgegangen, die nicht selten in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit durchgeführt wurden. In zahlreichen Fällen wurden parallel Strafverfahren eingeleitet, die oftmals zu langjährigen Haftstrafen führten. b) Grundsätzlicher Fortbestand von Verwaltungsakten der ­Deutschen ­Demokratischen Republik In seiner Rechtsprechung betonte der Bundesfinanzhof, dass Art. 19 Satz 1 des Einigungsvertrages der Gedanke zugrunde liege, dass Verwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik grundsätzlich Bestand haben sollen und nach der in Satz 2 enthaltenen eigenständigen Korrekturvorschrift nur ausnahmsweise aufgehoben werden können121. c) Aufhebung von Verwaltungsakten bei Unvereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen Im Fokus der Prüfung von Art.  19 Satz  2 des Einigungsvertrages stand die Frage, wann ein von Behörden der Deutschen Demokratischen Republik erlassener Verwaltungsakt mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar ist. In einem ersten Be-

121 BFH v. 25.1.1995 – X R 146/93, BStBl. II 1995, 686.

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schluss vom 14. Januar 1994122 vertrat der III. Senat des Bundesfinanzhofs die Auffassung, dass das Merkmal der rechtsstaatlichen Grundsätze nicht dahin verstanden werden könne, dass die Verwaltungsentscheidungen am Maßstab des Rechtsstaates in der rechtlichen Ausgestaltung gemessen werden könnten, die der Rechtsstaatsbegriff durch die Bestimmungen des Grundgesetzes und die auf ihm beruhenden Institutionen gefunden habe123. Es könne vor allem nicht auf die Frage abgestellt werden, ob das Verfahren oder rechtsstaatliche Grundsätze wie der Gesetzesvorbehalt beachtet worden seien, weil die früheren Entscheidungen wegen der Andersartigkeit der staatlichen Ordnung der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik nicht aufgrund eines nach westlichen Vorstellungen gestalteten rechtsstaatlichen Verfahrens und der Beachtung des Grundsatzes, dass der Gesetzgeber verpflichtet sei, in den grundlegenden normativen Bereichen alle Entscheidungen selbst zu treffen, ergangen seien. Maßgeblich sei vielmehr, ob der Steuerverwaltungsakt auch bei Einhaltung eines rechtsstaatlichen Verfahrens unter Berücksichtigung rechtsstaatlicher Grundsätze in der Sache so ausgefallen wäre und z.B. ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Recht auf Gehör oder das Willkürverbot nicht gegeben sei. Der X. Senats des Bundesfinanzhofs entwickelte dies im Urteil vom 25. Januar 1995124 fort. Dabei ging er als Grundlage davon aus, dass einerseits Art. 19 Satz 1 des Einigungsvertrages das Ziel habe, Verwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik grundsätzlich wirksam zu belassen, während andererseits Satz 2 der Norm der Bewältigung des vielfältigen und vielgestaltigen Unrechts der Deutschen Demokratischen Republik dienen solle. Demnach seien jedenfalls solche Verwaltungsakte mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar, die einen Bezug zu einer alltäglichen sozialistischen „Gesetzlichkeit“ nicht mehr erkennen ließen, weil sie in verfahrens- wie materiell-rechtlicher Hinsicht das Willkürverbot verletzten und/oder gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstießen. Das sei vor allem dann anzunehmen, wenn ein Verwaltungsakt an schwerwiegenden Rechtsfehlern leide und konkrete Umstände des Einzelfalles die Annahme einer politisch-sachwidrigen Motivation der Behörden der Deutschen Demokratischen Republik, mithin einen Mißbrauch des Steuerrechts zu sachwidrigen Zwecken, nahelegten. Unter dieser Voraussetzung könne es nicht dem Steuerpflichtigen obliegen nachzuweisen, dass eine vor allem politisch motivierte Willkür tatsächlich ursächlich für eine gesetzwidrige Besteuerung gewesen sei125.

122 BFH v. 14.1.1994 – III B 47/93, BFH/NV 1994, 602. 123 BFH v. 14.1.1994 – III B 47/93, BFH/NV 1994, 602 unter Hinweis auf Dürr, DStZ 1991, 651 (652); ders., Inf. 1993, 408; BMF v. 8.8.1991 – IV A 5-S 0350-22/91, BStBl. I 1991, 793. Siehe dazu auch ausführlich BFH v. 25.1.1995  – X R 146/93, BStBl.  II 1995, 686 unter 4. b ff. 124 BFH v. 25.1.1995 – X R 146/93, BStBl. II 1995, 686. 125 BFH v. 25.1.1995 – X R 146/93, BStBl. II 1995, 686 unter 4. a; im Anschluss daran ebenso BFH v. 6.7.1995 – III B 41/94, BFH/NV 1996, 299; v. 8.5.1996 – XI R 1/95, BFH/NV 1996, 874; siehe auch BFH v. 14.11.1995 – IV B 28/95, BFH/NV 1996, 300: Frage nach der Unvereinbarkeit von Steuerbescheiden der DDR mit rechtsstaatlichen Grundsätzen ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung.

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Eine einfache Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes genüge hingegen nicht für die Aufhebung nach Art. 19 Satz 2 des Einigungsvertrags126. d) Auswirkungen der Rechtsprechung auf die Praxis Der vom Bundesfinanzhof entwickelte Prüfungsmaßstab beruhte zweifellos auf dem dogmatisch zutreffenden Ansatz, dass eine Definition des Begriffs der Unvereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nur auf der Grundlage des von Art.  19 des Einigungsvertrags verfolgten Zwecks erfolgen kann. Insofern war es folgerichtig und sachgerecht, darauf abzustellen, ob die zur Überprüfung anstehenden Verwaltungsakte einen Bezug zu einer alltäglichen sozialistischen Gesetzlichkeit erkennen ließen. Für die praktische Anwendung war dies indes insofern mit Schwierigkeiten verbunden, als insbesondere die als Tatsacheninstanzen fungierenden Finanzgerichte zum einen zu prüfen hatten, wie die „alltägliche sozialistische Gesetzlichkeit“ aussah und ob sich aus den vorhandenen Steuerakten Anzeichen für Verstöße gegen das Willkürverbot oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und damit für einen – gegebenenfalls politisch motivierten – Missbrauch des Steuerrechts ergaben. Diese Feststellungen waren insofern problematisch, als es konkreter Anhaltspunkte127 hierfür bedurfte, sodass bloße allgemeine Ausführungen der Kläger zur ideologischen Ausrichtung und Instrumentalisierung des Steuerrechts der Deutschen Demokratischen Republik und der pauschale Hinweis auf die systematisch betriebene Verfolgung nicht ausreichten128. Hinzu kam, dass den handelnden Steuerbehörden der Deutschen Demokratischen Republik reine Willkürhandlungen in den meisten Fällen nicht nachweisbar waren129. Dies beruhte nicht zuletzt darauf, dass einerseits die Finanzbehörden die von ihnen vorgenommenen Prüfungshandlungen und dabei festgestellte Mängel detailliert dokumentierten und andererseits die Steuerpflichtigen die oftmals gegen sie erhobenen Vorwürfe, Schwarzgeschäfte getätigt zu haben, nicht widerlegen konnten, weil dies – wie sich später in den rechtsstaatlichen Verfahren vor den Finanzgerichten herausstellte  – bedingt durch die Mangelwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik den Tatsachen entsprach130. Damit verblieben für den Anwendungsbereich von Art.  19 Satz  2 des Einigungsvertrags nur wenige Fälle, in denen ein Verstoß gegen die „alltägliche sozialistische Gesetzlichkeit“ tatsächlich angenommen werden konnte, so z.B. bei einer willkürlichen Nichtbeachtung der Verjährungsvorschriften durch die Finanzbehörden der Deutschen Demokratischen Republik131 sowie die vollständige Außerachtlassung der substantiiert vorgebrachten Einwendun126 BFH v. 8.5.1996 – XI R 1/95, BFH/NV 1996, 874. 127 Ausdrücklich BFH v. 8.5.1996 – XI R 1/95, BFH/NV 1996, 874. 128 So ausdrücklich BFH v. 22.3.1996  – III B 145/95, BFH/NV 1996, 822; ähnlich BFH v. 14.1.1994 – III B 47/93, BFH/NV 1994, 602: Hinweis auf Zugehörigkeit zu einer religiösen Organisationen und Besitz eines außergewöhnlichen Kfz reichen nicht aus, um ein willkürliches Verhalten der Finanzbehörden nahezulegen. 129 So auch in dem Verfahren BFH v. 14.1.1994 – III B 47/93, BFH/NV 1994, 602. 130 Siehe dazu auch BFH v. 8.5.1996 – XI R 1/95, BFH/NV 1996, 874. 131 BFH v. 6.7.1995 – III B 41/94, BFH/NV 1996, 299.

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gen des Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren nach Abschluss eines gegen ihn geführten Strafverfahrens132. Den in den Verfahren unterlegenen Betroffenen, die zweifellos in vielfacher Hinsicht starken Repressalien durch die Behörden der Deutschen Demokratischen Republik ausgesetzt waren, war die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs trotz ihrer zutreffenden Herleitung und Begründung im Regelfall nicht zu vermitteln. 7. Grunderwerbsteuer a) Erwerb von Grundstück und Gebäude als selbstständige Eigentumsobjekte Ein weiterer Komplex, mit dem sich der Bundesfinanzhof befassen musste, war die Besteuerung von Grundstückserwerben nach dem nach Art. 8 i.V.m. Anlage I Kapitel IV Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 14 Abs. 1 des Einigungsvertrages fortgeltenden Grunderwerbsteuergesetz der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. September 1970133. Da das Grunderwerbsteuerrecht aufgrund der besteuerten Erwerbsvorgänge stark durch das Zivilrecht geprägt ist, waren bei der Anwendung des fortgeltenden Grunderwerbsteuergesetzes der Deutschen Demokratischen Republik nicht nur die steuerrechtlichen Vorschriften von besonderer Bedeutung, sondern auch diejenigen des Zivilgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik. Dieses sah im Unterschied zum Bürgerlichen Gesetzbuch keine dem § 94 Abs. 1 Satz 1 BGB vergleichbare Regelung vor, wonach zu den wesentlichen Bestandteilen eines Grundstücks die mit dem Grund und Boden fest verbundenen Sachen gehören, insbesondere Gebäude, sowie die Erzeugnisse des Grundstücks, solange sie mit dem Boden zusammenhängen. Das hatte zur Folge, dass nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik Grundstücke und Gebäude jeweils selbstständige Eigentumsobjekte bildeten. Daran änderte sich durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik und dem Inkrafttreten von Bundesrecht mit dem Wirksamwerden des Beitritts in den neuen Bundesländern gemäß Art.  8 des Ei­ nigungsvertrags zunächst nichts, weil nach Art.  231 §  5 Abs.  1 EGBGB  – in der ­Fassung, die die Norm durch Anlage  I Kapitel  III Sachgebiet B Abschnitt  II des ­Einigungsvertrags erhalten hat – Gebäude, die gemäß dem am Tag vor dem Wirksamwerden des Beitritts (3. Oktober 1990) im Beitrittsgebiet geltenden Recht vom Grundstückseigentum unabhängiges Eigentum waren, nicht zu den Bestandteilen eines Grundstücks gehören sollten. § 94 BGB sollte für diese Gebäude nicht gelten; vielmehr sollte vorhandenes selbständiges Eigentum an Gebäuden bestehen bleiben. Für das dem Zivilgesetzbuch der früheren Deutschen Demokratischen Republik eigene selbständige Gebäudeeigentum sowie für solches Gebäudeeigentum, welches aufgrund anderer Rechtsvorschriften134 bestand, sollten nach Art. 233 § 4 Abs. 1 und 3 EGBGB von dem Wirksamwerden des Beitritts an die sich auf Grundstücke beziehenden Vorschriften des BGB gelten135. Bezogen auf die Grunderwerbsteuer hatte 132 BFH v. 25.1.1995 – X R 146/93, BStBl. II 1995, 686. 133 GrEStG/DDR v. 18.9.1970, GBl. DDR 1970 Sonderdruck Nr. 677. 134 Z.B. § 27 Gesetz über die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften – LPG-Gesetz – v. 2.7.1982, GBl. DDR I 1982, 443. 135 Siehe dazu BFH v. 6.3.1996 – II R 45/95, BFH/NV 1996, 639.

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dies zur Folge, dass zwei Erwerbsvorgänge vorlagen, nämlich zum einen der Erwerbsvorgang betreffend das Grundstück und zum anderen der Erwerbsvorgang betreffend das Gebäude. Beide Erwerbsvorgänge konnten dabei einheitlich in einem Vertrag geregelt sein136. b) Unterschiedliche Steuersätze in den neuen und den alten Bundesländern Eine besondere Brisanz erlangte die Fortgeltung des Grunderwerbsteuergesetzes der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. September 1970137 dadurch, dass der Steuersatz für Grundstückserwerbe auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik nach § 13 Abs. 1 GrEStG/DDR 7 % betrug, während er sich für Grundstückserwerbe in den alten Bundesländern nach § 11 Abs. 1 GrEStG in der Fassung vom 17. Dezember 1982138 auf lediglich 2  % belief. Der Bundesfinanzhof hielt dies in seinem Urteil vom 19. Mai 1993139 für verfassungsgemäß. Der Bundesgesetzgeber habe nach Art. 23 Satz 2 GG a.F. die Voraussetzungen für den Beitritt der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik schaffen müssen. Für die damit zwangsläufig verbundenen unaufschiebbaren gesetzgeberischen Aufgaben habe sich eine entsprechende aus der Natur der Sache folgende Gesetzgebungskompetenz ergeben140. Einen Verstoß gegen Art. 3 GG verneinte der Bundesfinanzhof ebenfalls und führte aus, dass der Gesetzgeber nicht von Verfassung wegen verpflichtet gewesen sei, zugleich mit dem Grundgesetz auch das einfache Bundesrecht im Beitrittsgebiet in Kraft zu setzen. So sei insbesondere die erst spätere Einführung des bundesdeutschen Steuerrechts in sachlicher Hinsicht dadurch gerechtfertigt gewesen, dass der Gesetzgeber es habe vermeiden wollen, dass die Staatsbürger und die Behörden auf dem schwierigen Gebiet des Steuerrechts im laufenden Jahr erneut mit grundlegenden Änderungen konfrontiert würden. Auf die Frage, ob dies aber letztendlich auch die Anwendung von unterschiedlichen Steuer­sätzen rechtfertigt, geht der Bundesfinanzhof nicht im Einzelnen ein. Er führte lediglich aus, dass nicht ersichtlich sei, „daß die Belastung mit 7 v.H. der Bemessungsgrundlage als solche gegen das GG verstößt“. Eine Begründung dieser apodiktischen Behauptung wäre wünschenswert gewesen. c) Entstehung des Steueranspruchs Nach §  1 Abs.  1 Nr.  1 GrEStG/DDR unterlag ein Kaufvertrag oder ein anderes Rechtsgeschäft, das den Anspruch auf Übereignung eines auf dem Gebiet der (ehemaligen) Deutschen Demokratischen Republik liegenden Grundstücks begründet, 136 BFH v. 6.3.1996 – II R 45/95, BFH/NV 1996, 639; zur Steuerbefreiung für den Erwerb von Eigenheimen zu Wohnzwecken nach §  15 Abs.  7 DB/EigenheimVO siehe nachstehend unter c. 137 GrEStG/DDR v. 18.9.1970, GBl. DDR 1970 Sonderdruck Nr. 677. 138 GrEStG v. 17.12.1982, BGBl. I 1982, 1777. 139 BFH v. 19.5.1993 – II R 29/92, BStBl. II 1993, 630. 140 BFH v. 19.5.1993 – II R 29/92, BStBl. II 1993, 630 unter Hinweis auf BVerfG, v. 24.4.1991 – 1 BvR 1341/90, BVerfGE 84, 133.

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der Grunderwerbsteuer. Diese Regelung entsprach dem in der Bundesrepublik geltenden Recht. Das Recht der Deutschen Demokratischen Republik sah jedoch insofern eine Besonderheit vor, als die Übertragung des Eigentums an einem Grundstück durch Vertrag nach §  2 Abs.  1 Buchst.  a der Verordnung über den Verkehr mit Grundstücken vom 15. Dezember 1977141 einer Genehmigung durch die Behörden der Deutschen Demokratischen Republik bedurfte. Diese Regelung galt nach Art. 8 i.V.m. Anlage II Kapitel III Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 1 des Einigungsvertrages bis zum 31. Dezember 1990 fort. Aus dieser Genehmigungspflicht folgerte der Bundesfinanzhof im Urteil vom 19. Mai 1993142, dass der Tatbestand des §  1 Abs.  1 Nr.  1 GrEStG/DDR nur dann erfüllt sei, wenn die Genehmigung vorliege143. Seit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches und der damit auch auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik eingeführten Trennung zwischen schuldrechtlichem und dinglichem Geschäft beziehe sich die Genehmigungspflicht zumindest auch auf die schuldrechtliche Verpflichtung zur Eigentumsübertragung. Ohne diese Genehmigung sei der Grundstückskaufvertrag schwebend unwirksam, sodass noch keine Erfüllungsansprüche bestünden, die aber für die Entstehung der Grunderwerbsteuer erforderlich seien. Der Bundesfinanzhof betonte ausdrücklich, dass dem seine frühere Rechtsprechung zum Grunderwerbsteuergesetz 1983 nicht entgegenstehe, wonach ein Erwerbsvorgang im Sinne des §  1 Abs.  1 Nr.  1 GrEStG 1983 bereits dann verwirklicht sei, wenn die Vertragspartner im Verhältnis zueinander gebunden seien, eine erforderliche behördliche Genehmigung aber noch nicht erteilt sei144. Er begründete dies damit, dass sich aus diesen früheren Entscheidungen nicht entnehmen lasse, dass Grunderwerbsteuer auch ohne eine erforderliche behördliche Genehmigung des schuldrechtlichen Geschäfts entstehen könne. Diese doch sehr einzelfallbezogene Argumentation war zweifellos dem Umstand geschuldet, dass der erkennende Senat von seiner früheren Rechtsprechung nicht ausdrücklich abrücken wollte. Als Folge aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zur Notwendigkeit der Genehmigungserteilung ergab sich, dass das bis zum 31. Dezember 1990 fortgeltende Grunderwerbsteuergesetz der Deutschen Demokratischen Republik dann keine ­Anwendung fand, wenn der Grundstückskaufvertrag zwar während des zeitlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeschlossen worden war, die behördliche Genehmigung aber erst nach dem genannten Zeitpunkt erteilt wurde. Auf diese Erwerbsvorgänge war das ab dem 1. Januar 1991 geltende bundesrepublikanische Grunder-

141 Grundstücksverkehrsverordnung v. 15.12.1977, GBl. DDR I 1978, 73. 142 BFH v. 19.5.1993 – II R 23/92, BStBl. II 1993, 628. 143 Ebenso BFH v. 9.6.1993 – II R 90/92, BFH/NV 1994, 400; siehe auch BFH v. 26.1.1994 – II  R 40/92, BFH/NV 1994, 738: Aufhebung von Grunderwerbsteuerbescheid und Einspruchsentscheidung, wenn die Genehmigung erst nach der Einspruchsentscheidung erteilt wird. 144 Siehe dazu BFH v. 17.9.1986 – II R 136/84, BStBl. II 1987, 35; v. 20.12.1989 – II R 31/88, BStBl. II 1990, 234.

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werbsteuergesetz in der Fassung vom 17. Dezember 1982145 anzuwenden146. Dieses verdrängte das Grunderwerbsteuergesetz der Deutschen Demokratischen Republik vollumfänglich, was insbesondere für Steuerbefreiungen von Bedeutung war, die sich bei ab dem 1. Januar 1991 erteilten Genehmigungen weder aus dem Grunderwerbsteuergesetz der Deutschen Demokratischen Republik ergeben konnten147 noch aus anderen fortgeltenden Regelungen der Deutschen Demokratischen Republik. Das galt insbesondere für die Steuerbefreiung nach §  15 Abs.  7 der Durchführungsbestimmung zur Verordnung über den Neubau, die Modernisierung und Instandsetzung von Eigenheimen vom 18. August 1987148. Danach waren Bürger „beim Erwerb eines Eigenheimes zu eigenen Wohnzwecken, eines unbebauten Grundstücks zum Zweck des Baus eines Eigenheimes oder eines Grundstücks mit einem Bauwerk zu Zwecken des Umbaus zu einem Eigenheim“ von der Grunderwerbsteuer befreit149. 8. Kraftfahrzeugsteuer Auf großes Unverständnis in der Bevölkerung der neuen Bundesländer stieß die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zum Nachweis der Entrichtung der Kraftfahrzeugsteuer im so genannten Markenverfahren. Nach dem Kraftfahrzeugsteuerrecht der Deutschen Demokratischen Republik erhielt der Steuerpflichtige nach Entrichtung der Kraftfahrzeugsteuer eine Steuermarke als Zahlungsnachweis. Dieser Zahlungsnachweis war nach §  6 Abs.  1 der Verordnung über die Kraftfahrzeugsteuer vom 16. November 1961150 Bestandteil der Kraftfahrzeugpapiere und auf Verlangen den Organen der Deutschen Volkspolizei und den dazu bevollmächtigten Kontrollorganen vorzuzeigen. Konnte der Fahrzeughalter den Zahlungsnachweis nicht erbringen, so konnte die Kraftfahrzeugsteuer nach Abs. 3 der zitierten Norm für das laufende und das vorangegangene Kalenderjahr nachgefordert werden. Im Falle der Veräußerung eines (gebrauchten) Fahrzeugs trat der Erwerber als weiterer Schuldner der Kraftfahrzeugsteuer für das laufende und das vorangegangene Kalenderjahr neben den Veräußerer. Damit der Erwerber als neuer Fahrzeughalter nicht Gefahr lief, die Steuer für diesen Zeitraum nachzahlen zu müssen, entsprach es ständiger Praxis in der Deutschen Demokratischen Republik, dass der Verkäufer die Steuerkarte gemeinsam mit dem Fahrzeug an den Erwerber übergab, um diesem die Nachweisführung über die Steuerzahlung zu ermöglichen.

145 GrEStG v. 17.12.1982, BGBl. I 1982, 1777. 146 BFH v. 19.5.1993 – II R 71/92, BStBl. II 1993, 633; v. 9.6.1993 – II R 90/92, BFH/NV 1994, 400; v. 26.1.1994 – II R 40/92, BFH/NV 1994, 738. 147 BFH v. 9.6.1993 – II R 69/92, BStBl. II 1993, 682. 148 DB/EigenheimVO v. 18.8.1987, GBl. DDR I 1987, 215. 149 Zur Fortgeltung dieser Vorschrift bis zum 31.12.1990 siehe BFH v. 6.3.1996 – II R 45/95, BFH/NV 1996, 639; siehe auch BFH v. 11.1.1995 – II R 78/93, DB 1995, 858: Steuerbefreiung greift nicht ein beim Erwerb des Eigentums an einem Grundstück, das mit einem Eigenheim bebaut ist, weil der Erwerb eines bebauten Grundstücks nur dann befreit ist, wenn er zum Zwecke des Umbaus zu einem Eigenheim erfolgt. 150 VOKfzSt/DDR v. 16.11.1961, GBl. DDR II 1961, 505 und 532.

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Die Verordnung über die Kraftfahrzeugsteuer vom 16. November 1961151 galt auf der Grundlage von Art.  8 i.V.m. Anlage  I Kapitel  IV Sachgebiet B Abschnitt  II Nr.  14 Abs.  1 des Einigungsvertrages bis zum 31. Dezember 1990 fort. Ab dem 1. Januar 1991 trat das bundesrepublikanische Kraftfahrzeugsteuergesetz in Kraft, und zwar in der Fassung, die es durch die Anlage I Kapitel IV Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 35 Buchst.  g des Einigungsvertrages erhalten hatte. §  12 a dieses Gesetzes bestimmte, dass die Kraftfahrzeugsteuer für Fahrzeuge, die in den neuen Bundesländern zuge­ lassen waren, bis zum 31. Dezember 1992 (weiterhin) durch Steuermarken zu ent­ richten war. Nach Abs. 4 Satz 1 der Norm war die Steuerkarte nach dem Ende der Steuerpflicht der Zulassungsbehörde zur Weiterleitung an das Finanzamt zu überge­ ben. War die Steuer im Markenverfahren nicht oder nicht zutreffend entrichtet wor­ den, so war sie nach § 12 a Abs. 4 Satz 3 gemäß § 12 KraftStG zu entrichten. Diese Rechtslage führte in zahlreichen Fällen dazu, dass die Finanzämter die Kraft­ fahrzeugsteuer rückwirkend neu festsetzen, da die ehemaligen Fahrzeughalter die Steuerkarten nicht vorlegen konnten, weil sie diese entweder  – wie beschrieben  – beim Verkauf ihrer Fahrzeuge an den Erwerber übergeben oder im Falle der Ver­ schrottung mangels Kenntnis der Bedeutung entsorgt hatten. Im Urteil vom 20. Sep­ tember 1994152 erteilte der Bundesfinanzhof der von einigen Finanzgerichten153 vertretenen Auffassung, der Nachweis der Entrichtung der Kraftfahrzeugsteuer kön­ ne auch auf anderem Wege, etwa durch Vernehmung des Erwerbers als Zeuge, ge­ führt werden, eine Absage. Nach seiner Auffassung wurde durch den in §  12 a KraftStG normierten Zeichenzwang das Zeichen zum alleinigen und ausschließli­ chen Beweismittel der steuerlichen Erfassung, die anders als durch das angebrachte Steuerzeichen nicht bewiesen werden könne154. Diese auf das Wesen eines Steuer­ zeichens abstellende Auffassung war aus dogmatischer Sicht folgerichtig, wider­ sprach aber der Handhabung in der Deutschen Demokratischen Republik, sodass die vom Bundesfinanzhof vertretene Auffassung für die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik unverständlich blieb. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn der Bundesfinanzhof insoweit eine pragmatischere Herangehensweise unter Bezugnahme auf die Rechtswirklichkeit in der Deutschen Demokratischen Republik gewählt hätte, wie er sie in anderen Fällen gezeigt hat155.

III. Fazit Betrachtet man die steuerrechtliche Aufarbeitung der Wiedervereinigung rückbli­ ckend, so verwundert es aus heutiger Sicht im positiven Sinne, dass der Übergang vom Steuerrecht der Deutschen Demokratischen Republik auf das Steuerrecht der Bundesrepublik Deutschland letztendlich doch ganz überwiegend völlig reibungslos 151 VOKfzSt/DDR v. 16.11.1961, GBl. DDR II 1961, 505 und 532. 152 BFH v. 20.9.1994 – VII R 29/94, BStBl. II 1995, 79. 153 Siehe etwa FG Brandenburg v. 16.2.1994 – 1 K 411/93 Kfz, EFG 1994, 539. 154 BFH v. 20.9.1994 – VII R 29/94, BStBl. II 1995, 79. 155 Siehe dazu unter II. 1. a und II. 3.

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Thomas Stapperfend

abgelaufen ist. Dies ist zu einem ganz großen Teil auf die durch ein großes Maß an Pragmatismus geprägte Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zurückzuführen, die ganz überwiegend auch die Interessen der Steuerpflichtigen im Blick hatte, wie sich dies insbesondere anhand der Rechtsprechung zu den Steuervergünstigungen zeigt. Dies war in den neuen Bundesländern von besonderer Bedeutung, um den dort lebenden Bürgerinnen und Bürgern die neue rechtsstaatliche Ordnung vermitteln zu können. Getrübt wurden die Erwartungen der Steuerpflichtigen allerdings durch die Rechtsprechung zum Nachweis der Entrichtung der Kraftfahrzeugsteuer im so genannten Markenverfahren, die für die Betroffenen insofern nicht nachvollziehbar war, als sie doppelt zur Kraftfahrzeugsteuer herangezogen wurden, obwohl sie sich entsprechend der zur Zeit des Bestehens der Deutschen Demokratischen Republik bestehenden Gepflogenheiten verhalten hatten. Zutreffenderweise strenge Maßstäbe hat der Bundesfinanzhof schließlich stets dort angelegt, wo ein Missbrauch zu befürchten stand, wie etwa bei der Zulassung von Steuerberatern, was letztlich aber auch der Gewährleistung einer hochqualifizierten Steuerberaterschaft und damit auch dem Schutz der Steuerpflichtigen in den neuen Bundesländern diente. Insgesamt gesehen ist die Aufarbeitung der Wiedervereinigung durch den Bundesfinanzhof gut gelungen.

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1. Teil Geschichte des Rechtsschutzes im Steuerrecht … B. V.

Richterpersönlichkeiten am Bundesfinanzhof Von Michael Geissler

Inhaltsübersicht I. Auswahl II. Lebensläufe 1. Dr. Walter Hübschmann 2. Dr. Fritz Hoffmann 3. Prof. Dr. Wilhelm Hartz 4. Dr. Ludwig Heßdörfer 5. Dr. h.c. Wolfgang Mersmann 6. Prof. Dr. Heinrich List

7. Dr. Dr. h.c. Georg Döllerer 8. Dr. Kurt Meßmer 9. Prof. Dr. h.c. Heinrich Beisse 10. Prof. Dr. Ludwig Schmidt 11. Dr. Ruth Hofmann 12. Prof. Dr. Walter Drenseck III. Schlusswort

I. Auswahl Präsidentinnen und Präsidenten prägen das Gericht, das Gericht und seine Richterinnen und Richter prägen das Recht! Es steht außer Frage, dass die Erstgenannten sowohl nach innen als auch nach außen maßgeblich das Erscheinungsbild des Gerichts bestimmen. Denn sie sind es, die für ihr Gericht repräsentativ die Stimme erheben. Dies gilt selbstredend auch für den Bundesfinanzhof (BFH), den Obersten Gerichtshof des Bundes für Steuern und Zölle, dessen historische Wurzel der 1918 errichtete Reichsfinanzhof (RFH) war1. Das Recht wird hingegen durch die Richterinnen und Richter des Gerichts geprägt. Sie sind es, denen Art.  92 GG die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt anvertraut. Ihre Aufgabe ist es – von Verfassungs wegen garantiert in Unabhängigkeit und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG) – „Recht zu sprechen“. Mit Blick auf diese Funktion liegt es nahe, im Rahmen dieses Beitrags die Richterinnen und Richter auszuwählen, die starken Einfluss auf die Entwicklung des Steuerrechts, insbesondere die Steuerrechtsjudikatur genommen haben. Der vorliegende Beitrag will sich daher mit jenen beschäftigen, die gerade in diesem Bereich besonders „tiefe Fußstap-

1 Der RFH begann seine Tätigkeit am 1.10.1918 (vgl. §  25 des Gesetzes v. 26.7.1918, RGBl. 1918 Nr. 101, 959).

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fen hinterlassen“ haben2. Soweit daher Präsidenten in den Kreis der hier dargestellten Richterpersönlichkeiten aufgenommen werden, geschieht dies in Ansehung ihrer hierfür geleisteten Dienste. Der BFH nahm seine Tätigkeit am 1. September 19503 mit überschaubaren vier Senaten (Spruchkörpern) und insgesamt 19 Richtern auf4. Die Anzahl der Spruchkörper stieg bis 1991 auf elf Senate, die bis heute weiterhin bestehen. Bis einschließlich 2017 sind insgesamt 267 Personen5 zu Richterinnen und Richtern (Mitgliedern) am BFH ernannt worden. Die Amtsbezeichnung der Richterinnen und Richter lautete zunächst „Bundesfinanzrichter“6, dann – durch Erlass vom 11. Februar 1956 – „Bundesrichter beim Bundesfinanzhof “7 und ab dem 1. Oktober 1972 schlicht „Richter am …“8, die Amtsbezeichnung der Vorsitzenden zunächst „Senatspräsidenten“9 und ab dem 1. Oktober 1972 schlicht „Vorsitzende Richter am …“10. Erwähnenswert ist, dass die ersten 104 Mitglieder – gelistet chronologisch nach dem Datum ihrer Ernennung – ausschließlich Männer waren und erst am 1. September 1972 mit Dr. Gisela Niemeyer – dem 105ten Mitglied und der späteren Richterin am Bundesverfassungsgericht – die erste Frau zur Richterin am BFH ernannt wurde11. Damit ist auf die schwierige Frage übergeleitet, wie sich aus diesem großen Kreis überhaupt die herausragenden Richterpersönlichkeiten identifizieren lassen. Zunächst ist klar, dass im Rahmen des begrenzten Umfangs dieses Beitrags nur eine sehr kleine Auswahl getroffen werden kann. Im Einzelnen hat sich der Verfasser hierbei von folgenden Überlegungen leiten lassen: Noch lebende (ehemalige) Mitglieder blieben von vornherein unberücksichtigt, weil zu ihnen der gebotene geschichtliche Abstand fehlt. Eine Ausnahme wurde im Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrags für Herrn Prof. Dr. List – den sechsten Präsidenten – gemacht. Nicht nur sein bereits zu diesem Zeitpunkt biblisches Alter von 103  Jahren, sondern gerade auch seine Bedeutung als Richter war Anlass genug, ihn bei der Auswahl zu berücksichtigen. Leider ist List am 18. Juli 2018 verstorben. Bei den danach verbliebenen Richterinnen und Richtern stellte sich das Problem, wie sich bei einem aus Spruch-

2 In der Reihe der gewürdigten Persönlichkeiten finden sich auch Personen, die bereits während der Zeit des Nationalsozialismus (30.1.1933 – 8.5.1945) u.a. im Steuerrecht tätig waren. Im Rahmen dieses Beitrags kann insoweit allein ihre abstrakte Funktion genannt, nicht aber ihr konkretes Verhalten während dieser Zeit untersucht und bewertet werden. Eine derartige Untersuchung müsste von unabhängigen Wissenschaftlern durchgeführt werden, nicht von Mitgliedern des BFH. 3 § 7 Abs. 1 des Gesetzes v. 29.6.1950 (BGBl. I 1950, 257). 4 Vgl. BFH (Hrsg.), 60 Jahre-Chronik, 2010, S. 31. 5 Vgl. BFH (Fn. 4), S. 505 ff. Seit 2011 bis einschließlich 2017 sind weitere 24 Personen gewählt worden. 6 § 3 Abs. 1 des Gesetzes v. 29.6.1950 (BGBl. I 1950, 257). 7 Vgl. dazu ausführlich BFH (Fn. 4), S. 133. 8 § 10 Abs. 1 FGO i.d.F. des Gesetzes v. 26.5.1972 (BGBl. I 1972, 841). 9 § 3 Abs. 1 des Gesetzes v. 29.6.1950 (BGBl. I 1950, 257). 10 § 10 Abs. 1 FGO i.d.F. des Gesetzes v. 26.5.1972 (BGBl. I 1972, 841). 11 BFH (Fn. 4), S. 512.

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körpern bestehenden Gericht – wie dem BFH12 – Persönlichkeiten erkennen lassen, welche die Rechtsprechung besonders beeinflusst haben. Denn die Spruchkörper entscheiden als Einheit. Hinzu kommt, dass alle Richterinnen und Richter – unabhängig davon, ob Präsident oder dienstjüngstes Mitglied – in dem Senat, dem sie angehören, das gleiche Stimmrecht haben. Ebenso erfährt der Außenstehende im Grundsatz kein Abstimmungsergebnis. Es gibt auch  – anders als beim Bundesverfassungsgericht  – keine veröffentlichungsfähigen Sondervoten überstimmter Mitglieder. Gleichwohl zeigt die Erfahrung, dass einzelne Richterinnen und Richter als bestimmende Personen hervortreten und sowohl nach innen als auch nach außen wirken. Im Wirken dieser repräsentativen Richterinnen und Richter spiegeln sich weite Teile der Entwicklung höchstrichterlicher Steuerrechtsprechung wider; ihr Handeln wird mit der Rechtsprechung des Hauses identifiziert. Diese Persönlichkeiten werden nachfolgend – chronologisch gelistet nach ihrem Ernennungsdatum – dargestellt.

II. Lebensläufe 1. Dr. Walter Hübschmann (5. Juli 1888 – 3. Juni 1966)13 Senatspräsident14 Dr. Walter Hübschmann – das vierte Mitglied15 – war im letzten Jahrzehnt des RFH, in der Übergangszeit am Obersten Finanzgerichtshof (OFH)16 und in den Aufbaujahren des BFH eine gerade die Umsatzsteuer maßgeblich prägende Richterpersönlichkeit. Er wurde am 5. Juli 1888 in Chemnitz (Sachsen) geboren. Der ersten juristischen Staatsprüfung (Referendarexamen) 1912 und den Referendarstationen in Leipzig folgte 1916 die Promotion zum Dr. jur. an der Universität Leipzig. Nach der zweiten juristischen Staatsprüfung (Assessorexamen) 1917 trat er in die sächsische Zollverwaltung ein. 1919 wurde er im neu errichteten Reichsfinanzministerium in Berlin ein Mitarbeiter von Johannes Popitz, dem Schöpfer der deutschen Umsatzsteuer17. Hübschmann blieb 16  Jahre im Reichsfinanzministerium und machte dort  – vom Regierungsrat bis zum Ministerialrat – Karriere. Er leitete u.a. das besonders wichtige Umsatzsteuerreferat. Am 1. Juli 1935 wurde er als Richter an den RFH berufen, dem er knapp zwei Jahre als Reichsfinanzrat18 und sodann ab dem 1. April 1937 als 12 Vgl. § 10 Abs. 2 und 3 FGO. 13 Zur Person vgl. Schmidt/Simons, UR 1963, 141; Eckhardt, UR 1966, 133; o.V., DStZ/A 1963, 194; Beisse in FS 75 Jahre RFH/BFH, 1993, S. 43 (51 f.). Zudem wurde Archivmaterial ausgewertet. 14 So auch die Amtsbezeichnung der Vorsitzenden Richter am RFH (vgl. § 2 des Gesetzes v. 18.7.1918, RGBl. 1918 Nr. 101, 959). 15 BFH (Fn. 4), S. 505. 16 Der OFH entstand schon kurz nach Kriegsende im Juli 1945 in München. Er war im Wesentlichen für die Amerikanische Zone zuständig und lehnte sich eng an die organisatorische und personelle Verfassung des RFH an (vgl. z.B. BFH [Fn. 4], S. 127 f.). 17 Vgl. Pausch, UR 1983, 81. 18 So die anfängliche Amtsbezeichnung der Richter am RFH (vgl. §  2 des Gesetzes v. 26.7.1918, RGBl. 1918 Nr. 101, 959, und § 33 RAO v. 13.12.1919, RGBl. I 1919, 1993).

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Senatspräsident des für Umsatzsteuer, Zölle und Verbrauchsteuern zuständigen V.  Senats angehörte. 1945 durch Anordnung der Militärregierung zeitweise vom Dienst suspendiert, wurde er am 16. September 1947 zunächst beauftragter, 1949 planmäßiger Richter am OFH. Dort wirkte er in der gleichen Materie wie bereits zuvor im Reichsfinanzministerium und am RFH19. Hübschmann wurde am 21. Oktober 1950 zum Bundesfinanzrichter ernannt20. Er war einer der 19 Richter, mit denen der neu errichtete BFH 1950 seine Tätigkeit aufnahm. Zunächst im II. Senat tätig, übernahm er am 15. Februar 1952 als Senatsprä­ sident den Vorsitz des – wieder u.a. für Umsatzsteuer zuständigen – V. Senats. Als Senatspräsident gehörte er  – entsprechend den damaligen gesetzlichen Regelungen21 – kraft Gesetzes dem Großen Senat an. Er trat am 1. Januar 1957 in den Ruhestand. Diese Lebensdaten lassen sehr deutlich erkennen, dass sein gesamtes berufliches Leben eng mit der Umsatzsteuer verknüpft war. Er nahm großen Einfluss auf die hierzu ergangene Rechtsprechung22. Dabei legte er sein Augenmerk immer wieder auf zwei Gesichtspunkte. Zum einen auf die wirtschaftliche Betrachtungsweise, deren wissenschaftliche Begründung jedenfalls für das Gebiet der Umsatzsteuer vornehmlich ihm zu danken ist23. Zum anderen auf die Herausarbeitung klarer Rechtsgrundsätze. Es ist daher unbestreitbar sein Verdienst, auf diesem Gebiet der wirtschaftlichen Betrachtungsweise Geltung verschafft und die vielfach noch bestehende Rechtsunsicherheit beseitigt zu haben24. Daneben war er u.a. Mitherausgeber und Mitautor des Großkommentars zur Abgabenordnung „Hübschmann/Hepp/Spitaler“25 und des Großkommentars zum Umsatzsteuergesetz „Hübschmann/Grabower/Beck/v. Wallis/Schwarz“26. Im Ruhestand führte er den Vorsitz in der vom Bundesministerium der Finanzen im Januar 1959 einberufenen Kommission, welche zur Aufgabe hatte, die technische Durchführbarkeit einer Reihe Vorschlägen zur Reform der Umsatzbesteuerung zu prüfen (sog. Hübschmann-Kommission)27. Er dürfte auch einer der Ersten gewesen sein, denen in Würdigung ihrer Person  – bei ihm anlässlich seines 75.  Geburtstags  – ein Festheft28 überreicht wurde. Seine wissenschaftlichen Arbeiten setzte er bis zu seinem Tod fort. Hübschmann starb am 3. Juni 1966 im Alter von 77 Jahren an seinem Schreibtisch im BFH.

19 Mersmann, UR 1963, 142. 20 Zu seiner Laufbahn am BFH und den Sachzuständigkeiten der einzelnen Senate vgl. auch BFH (Fn. 4), S. 505, S. 545 ff. 21 § 2 des Gesetzes v. 29.6.1950 (BGBl. I 1950, 257) i.V.m. § 66 Abs. 2 RAO. 22 Eckhardt, UR 1966, 133 (134). 23 Mersmann, UR 1963, 142 (143). 24 O.V., DStZ/A 1963, 194. 25 Damals noch Kommentar zur RAO und den Nebengesetzen, 5 Bände, 1951. 26 Damals 3 Bände, 1955. 27 Juretzek, UR 1963, 145. 28 UR 1963, Heft 19. Zum Begriff „Festheft“, vgl. BFH (Fn. 4), S. 194 f.

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Richterpersönlichkeiten am BFH

2. Dr. Fritz Hoffmann (24. Januar 1895 – 10. Juli 1975)29 Vizepräsident Dr. Fritz Hoffmann – das elfte Mitglied30 – prägte besonders die Rechtsprechung der Ertragsteuersenate, vor allem im Bilanzrecht. Hoffmann wurde am 24. Januar 1895 in Nürnberg geboren. Er studierte Rechtswissenschaft in Würzburg und legte Anfang 1920 das Referendarexamen ab. Ende 1920 promovierte er zum Dr. jur. et rer. pol. an der Universität Würzburg. Nach dem Assessorexamen 1922 trat er in die Reichsfinanzverwaltung ein und wurde 1926 Regierungsrat am Landesfinanzamt Rudolstadt (Thüringen). Dort leitete er das Betriebsprüfungsreferat. 1936 kam er als „juristischer Hilfsarbeiter“31 an den RFH, den er bis zum Kriegsende nicht mehr verließ. Er wurde dort 1940 Oberregierungsrat und 1943 Regierungsdirektor. Nach dem Krieg wurde er 1946 „juristischer Hilfsarbeiter“ am OFH, 1949 erhielt er den Rang eines Finanzgerichtspräsidenten. Am 21. Oktober 1950 ist Hoffmann zum Bundesfinanzrichter ernannt worden32. Auch er gehörte zur ersten Riege der am BFH tätigen Richter. Anfänglich war er gleichzeitig Mitglied des I. und IV. Senats. Am 4. Januar 1957 übernahm er als Senatspräsident den Vorsitz im I. Senat (zuständig u.a. für Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer von Körperschaften), den er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Richteramt am 31. Januar 1963 innehatte. Mit dem Vorsitz wurde er auch Mitglied des Großen Senats33. Am 16. Dezember 1960 ist Hoffmann zum Vizepräsidenten ernannt worden. Die vom BFH bis in die 60er Jahre vertretene „dynamische Bilanzauf­ fassung“ ist eng mit seinem Namen verbunden34. Schon beim OFH war er Haupt­ vertreter der Richtung, die wichtige Positionen der von der Betriebswirtschaftslehre entwickelten „dynamischen Bilanzauffassung“ in das Steuerbilanzrecht übertrug. Zudem setzte er sich unter der Herrschaft des Grundgesetzes für eine rechtsstaatliche Verfahrensgestaltung ein. Hoffmanns I.  Senat wurde zu einem Ort, der namhafte Präsidenten und Senatsvorsitzende hervorbrachte, eine Bedeutung, die dem I. Senat noch heute zukommt35. Seine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Steuerrecht setzte er im Ruhestand fort. Das Steuerrecht war ihm, wie er selbst bekannte, zum Lebensinhalt geworden. Am 10. Juli 1975 starb er im Alter von 80 Jahren an den Folgen eines Unfalls auf der Fahrt an „sein“ Gericht. 29 Die Angaben zur Person stützen sich im Wesentlichen auf Beisse (Fn. 13), S. 43 (52 f.). Im Übrigen fehlt es an Schrifttum zu seiner Person. 30 Vgl. BFH (Fn. 4), S. 516. 31 So die damalige Bezeichnung der wissenschaftlichen Mitarbeiter. 32 Zu seiner Laufbahn am BFH und den Sachzuständigkeiten der einzelnen Senate vgl. auch BFH (Fn. 4), S. 506, S. 545 ff. 33 Vgl. Fn. 21. 34 Moxter, BB 1999, 2199. 35 Von den verstorbenen Mitgliedern sind z.B. zu nennen der Präsident Herr v. Wallis (vgl. Fn. 81) und die Senatsvorsitzenden Hartz (vgl. II.3.), Grieger, Döllerer (vgl. II.7.), Meßmer (vgl. II.8.), Beisse (vgl. II.9.), Woerner (vgl. Fn. 96).

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3. Prof. Dr. Wilhelm Hartz (4. Juni 1904 – 9. März 1989)36 Senatspräsident Prof. Dr. Wilhelm Hartz – das 32ste Mitglied37 – verfolgte als Richter das Ziel, die relativ junge Rechtsdisziplin „Steuerrecht“ aus ihrer Isolation herauszuführen. Hartz wurde am 4. Juni 1904 in Duisburg geboren. Er studierte von 1925 bis 1928 Rechtswissenschaft an den Universitäten Münster, Berlin, Köln und legte im Februar 1929 das Referendarexamen ab. Neben der Referendarausbildung war er von 1929 bis 1933 als Assistent an der juristischen Fakultät an der Universität Berlin tätig. 1933 bestand er das Assessorexamen, promovierte an der Universität in Erlangen zum Dr. jur. und trat in die Reichsfinanzverwaltung ein. Er war an mehreren Finanzämtern tätig. Von 1939 bis 1945 war er Lehrer an der Reichsfinanzschule Berlin. Nach dem Krieg kam er 1947 wieder als Regierungsrat zur Steuerverwaltung und wurde 1951 Vorsteher des Finanzamts Düsseldorf-Nord, zuletzt als Regierungsdirektor. Hartz wurde am 17. August 1953 Bundesfinanzrichter38. Er war u.a. über Jahre hinweg gleichzeitig Mitglied des I. und VI. Senats. Am 1. Juni 1961 übernahm er als Senatspräsident den Vorsitz im VI.  Senat (zuständig u.a. für Einkommensteuer und Lohnsteuer sowie Einkünfte aus Gewerbebetrieb von Personengesellschaften) und wurde damit zugleich Mitglied des Großen Senats39. Den Vorsitz behielt er, bis er auf seinen Antrag hin am 1. Januar 1969 in den Ruhestand trat. Das Hauptaugenmerk von Hartz war darauf gerichtet, das Steuerrecht aus seiner Isolation von den übrigen Rechtsdisziplinen herauszuführen. Er sah das Steuerrecht vornehmlich als Konkretisierung des Verfassungsrechts an. Dessen hohe Prinzipien müssten verstärkt in der Steuergesetzgebung, aber auch in der Steuerrechtsprechung umgesetzt werden40. Als Richterpersönlichkeit faszinierte er durch die Fülle seiner die Rechtsfindung befruchtenden Gedanken, die Brillanz seiner Deduktionen und Argumentationen sowie durch seine Überzeugungskraft. Soweit die Besteuerung der Mitunternehmer betroffen war, beschrieb Hartz in einer Anmerkung zu einem Urteil „seines“ Senats41 die „Bilanzbündeltheorie“ zwar dem Grunde nach als eine ganz ohne Zweifel meisterhafte Schöpfung der Rechtsprechung, formulierte aber bereits einschränkend, dass sie „eben doch nur eine juristische Konstruktion“ bleibe, „mit der bestimmte Gruppen von Sachverhalten sachgerecht unter die gesetzlichen Tatbestände subsumiert werden sollen“42. Später sollte diese Theorie unter dem maßgeblichen Einfluss von Meßmer (vgl. II.8.) – unterstützt von Döllerer (vgl. II.7.) – aus der Rechtsprechung des BFH verdrängt werden. 36 Zur Person vgl. Eckhardt, DB 1974, 1025; List, DB 1979, Nr. 23, III; Grimm, DB 1984, 1161.; o.V., DStR 1989, 366; Beisse (Fn. 13), S. 43 (55 f.). Daneben wurde Archivmaterial ausgewertet. 37 BFH (Fn. 4), S. 507. 38 Zu seiner Laufbahn am BFH und den Sachzuständigkeiten der einzelnen Senate vgl. auch BFH (Fn. 4), S. 507, S. 545 ff. 39 Vgl. Fn. 21. 40 Z.B. Hartz in StbJb 1958/59, S. 31; ders. in StbJb 1965/66, S. 75. 41 BFH v. 31.1.1964 – VI 337/62 S, BStBl. III 1964, 240. 42 DB 1964, 643.

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Seine richterliche Tätigkeit wurde von einer umfangreichen schriftstellerischen und wissenschaftlichen Tätigkeit begleitet. Dabei ging er immer wieder auf Grundsatzfragen des Steuerrechts ein, z.B. auf die Auslegung der Steuergesetze43. Hinzu kommt sein Wirken auf Fachtagungen, in Steuerreformkommissionen und seine Herausgeberrolle. International bekannt wurde er als Mitherausgeber und Initiator des Buches „Handwörterbuch des Steuerrechts und der Steuerwissenschaften“44. Das „Instituto Brasileiro di Direito Tributario“ bei der Universität Sao Paulo in Brasilien verlieh ihm die Ehrenmitgliedschaft45. Mit dem „ABC-Führer-Lohnsteuer“46, an dem er rund 40  Jahre gearbeitet hat, hat er sich auch bleibende Verdienste auf dem Gebiet des Lohnsteuerrechts erworben. Die juristische Fakultät der Universität Regensburg erteilte im einen Lehrauftrag. Seine akademische Tätigkeit setzte er auch im Ruhestand noch mehrere Jahre fort. 1970 wurde er Honorarprofessor. Er war ein engagierter Universitätslehrer; selbst Professoren gehörten zu seinen Zuhörern. Hartz ist am 9. Mai 1989 im Alter von 84 Jahren in München verstorben. 4. Dr. Ludwig Heßdörfer (2. Januar 1894 – 17. Februar 1988)47 Präsident Dr. Ludwig Heßdörfer – das 36ste Mitglied48 – war die dritte Person an der Spitze des BFH. Nach den Jahren des Aufbaus durch die ersten beiden Präsidenten – Dr. Heinrich Schmittmann49 und Dr. Hans Müller50 – stand Heßdörfer für die beginnende Neuorientierung der Rechtsprechung. Geboren am 2. Januar 1894 in Erlabrunn (Unterfranken), legte Heßdörfer nach dem Studium der Rechtswissenschaft 1920 das Referendar- und 1922 sowohl das Assessor- als auch Doktorexamen ab. Er trat 1923 in den Dienst der Reichsfinanzverwaltung ein, wurde 1927 Regierungsrat, kam in den Betriebsprüfungsdienst und wurde 1938 – ab 1940 als Oberregierungsrat – Betriebsprüfungsreferent an der Oberfinanzdirektion in Wien. Nach dem Krieg machte er eine steile Karriere in der Finanzverwaltung. Kurz noch beim österreichischen Finanzministerium beschäftigt, wurde er im Frühjahr 1947 als Oberregierungsrat bei der Oberfinanzdirektion München eingestellt. 1948 nahm er seine Tätigkeit im Bayerischen Staatsministerium der Finanzen51 auf und war dort Beauftragter für die Währungsreform. Am 1. April 1952 ­wurde er Oberfinanzpräsident in Nürnberg; er folgte in diesem Amt Dr.  Dr.  Rolf 43 Hartz, Die Auslegung von Steuergesetzen, 1956. 44 Hartz/Stickrodt/Wöhe/Felix/Sebiger (Hrsg.), Handwörterbuch. 45 Vgl. Beisse (Fn. 13), S. 42 (56). 46 Hartz/Over, ABC-Führer durch die Lohnsteuer, 1. Aufl. 1939; heute: Hartz/Meeßen/Wolf, ABC-Führer Lohnsteuer. 47 Zur Person vgl. Klein, DStR 1988, 226; Beisse (Fn. 13), S. 43 (53 f.); Deutsche Biographische Enzyklopädie, Band 4, 1996, S. 674; www.munzinger.de, Personen, Ludwig Heßdörfer. 48 BFH (Fn. 4), S. 507. 49 Präsident v. 21.10.1950 – 30.4.1951; zur Person z.B. Gielen, DStZ/A 1978, 443. 50 Präsident v. 1.5.1951 – 31.12.1954; zur Person vgl. Deutsche Biographische Enzyklopädie, Band 7, 1998, S. 262. Ansonsten ist wenig überliefert. 51 Heutige Bezeichnung: Bayerisches Staatsministerium der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat.

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Grabower nach, einer herausragenden Persönlichkeit der deutschen Steuerrechtsgeschichte, die durch die Nationalsozialisten entwürdigender Verfolgung ausgesetzt war52. Ein Jahr später übernahm Heßdörfer als Ministerialdirektor die Organisations- und Personalabteilung im Bundesministerium der Finanzen in Bonn. Heßdörfer wurde am 26. März 1955 zum Präsidenten ernannt. Als Präsident war er wie die Senatspräsidenten kraft Gesetzes53 Mitglied des Großen Senats. Er übernahm die Leitung des IV.  Senats (zuständig u.a. für Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft sowie aus Gewerbetrieb natürlicher Personen einschließlich Gewerbesteuer), die er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Richteramt am 31. Januar 1962 innehatte. Er verfügte als Betriebsprüfungsfachmann besonders in den direkten Steuern über hervorragende Sachkunde. Als Richter zeigte Heßdörfer unbeschadet seiner Professionalität eine Neigung zu naturrechtlichen und rechtsethischen Positionen. Rechtsstaatliche Gestaltung des Steuerwesens, Rechtssicherheit, Treu und Glauben im Steuerrecht waren die Prinzipien, für die Heßdörfer als Richter und in seinem öffentlichen Wirken stand54. Er hat einmal bemerkt: „Recht zu finden, ist nicht immer leicht; noch schwerer bedrückt aber die Frage, ob man auch der Gerechtigkeit diene“55. Dies drückt aus, was Heßdörfer prägte: Die Einbeziehung ethischer Grundsätze in die Rechtsfindung. Im BFH befand man sich in der Phase, die der „zivilistischen Welle“ der 1960er Jahre mit ihrer Devise „Einheit der Rechtsordnung“ vorausging. Heßdörfer war Mitherausgeber mehrerer Fachzeitschriften. Zudem war er – neben den Professoren Ottmar Bühler und Peter Scherpf – Gründungsvorstand des eingetragenen Vereins Münchner Steuerfachtagung, der ab 1963 für die Durchführung der inzwischen zur Institution gewordenen Münchner Steuerfachtagung verantwortlich ist56. Nach dem Eintritt in den Ruhestand war er 1965 Vertreter der Bundesregierung bei der Vorbereitung und Durchführung der Weltverkehrsausstellung in München. Heßdörfer verstarb am 17. Februar 1988 in München im Alter von 94 Jahren. 5. Dr. h.c. Wolfgang Mersmann (19. Juni 1902 – 15. September 1973)57 Präsident Dr.  h.c. Wolfgang Mersmann  – das 60ste Mitglied58  – folgte unmittelbar Heßdörfer im Präsidentenamt nach. Er repräsentierte die neue Ära der Rechtspre-

52 Ausführlich zur Person Grabower z.B. Pausch, UR 1983, 81; Beisse (Fn.  13), S.  43 (49), m.w.N. 53 Vgl. Fn. 21. 54 Z.B. Heßdörfer, Der Rechtsstaat, 1961; ders., Der Grundsatz von Treu und Glauben im Abgabenrecht, 1961. 55 Vgl. Klein, DStR 1988, 226. 56 Vgl. Spindler, DB 2011, M 1. 57 Zur Person vgl. Öftering, DStZ/A 1962, 197; Döllerer, DStZ/A 1970, 193; o.V., FR 1970, 309; Hugo v. Wallis, DStR 1973, 645; WeberFas, NJW 1973, 2057; Beisse (Fn.  13), S.  43 (56 f.); Kumpf in Neue Deutsche Biographie, Band 17, S. 176; www.munzinger.de, Personen, Wolfgang Mersmann. Daneben wurde Archivmaterial ausgewertet. 58 BFH (Fn. 4), S. 509.

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chung, in welcher der BFH die Integration des Steuerrechts in die allgemeine Rechtsordnung betrieb. Geboren am 19. Juni 1902 in Kiel studierte er an den Universitäten Freiburg, Leipzig, Münster und Kiel Rechtswissenschaft. 1925 legte er in Kiel das Referendar-, 1929 in Berlin das Assessorexamen ab. Er trat 1930 in die Reichsfinanzverwaltung ein. Ab 1934 war er Regierungsrat an Finanzämtern in Hamburg. Diese Tätigkeiten wurden ab 1943 durch seinen Kriegsdienst und seine Kriegsgefangenschaft unterbrochen. Während der Zeit des Nationalsozialismus war er wegen seiner jüdischen Mutter trotz hervorragender Beurteilungen von Beförderungen ausgeschlossen. Nach dem Krieg begann sein steiler Aufstieg zunächst mit einer herausragenden Ministerialkarriere. Er übernahm 1946 die Leitung der Steuerabteilung der Finanzleitstelle für die Britische Zone in Hamburg, zuletzt als Ministerialdirigent. Von 1948 bis 1950 war er Leiter der Steuerabteilung der Verwaltung für Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebiets in Bad Homburg v. d. Höhe. 1950 begann seine Tätigkeit im Bundesfinanzministerium in Bonn, seit 1951 als Ministerialdirektor. Mersmann hatte bedeutenden Anteil an der Steuergesetzgebung seit der Währungsreform des Jahres 1948. Er war auch an den steuerpolitischen Maßnahmen beteiligt, die zum erfolgreichen Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft beitrugen. Ebenso setzte er das von dem zweiten Präsidenten des RFH Dr. Herbert Dorn59 – einer ebenfalls durch die Nationalsozialisten entwürdigender Verfolgung ausgesetzten hochgeachteten Persönlichkeit des (internationalen) Steuerrechts – begonnene Werk der Schaffung von Doppelbesteuerungsabkommen fort. Zudem gehörte er dem Fiskalausschuss der OECD und verschiedenen Arbeitsgruppen der EWG an und wurde in die Leitung der International Fiscal Association berufen. Am 13. April 1962 wurde Mersmann Präsident60 und damit auch Mitglied des Großen Senats61. Er leitete zunächst ab dem 11. Juli 1962 den VII.  Senat und ab dem 1. Februar 1963 bis zum Ende seiner Amtszeit, dem 30. Juni 1970, den I. Senat (sachlich zuständig u.a. für Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer von Körperschaften und internationale Steuerfragen). Ein Teil der Wirtschaftspresse kritisierte bei seiner Ernennung, dass ein hoher Ministerialbeamter aus dem Bereich der Steuergesetzgebung in das höchste Richteramt wechselte62. Als Richter suchte er den Anschluss des Steuerrechts an die übrige Rechtsordnung, vor allem durch die Übernahme der Prinzipien der allgemeinen juristischen Methodenlehre63. Die Rechtsprechung verdankte ihm in dieser Richtung wertvolle Anregungen. Sie führten letztlich zu einer Rehabilitation der für das Steuerrecht unentbehrlichen wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Während des Vorsitzes von Mersmann verließ der I.  Senat die Linie der von Hof59 Ausführlich zur Person Dorn z.B. Bräunig, Herbert Dorn (1887  – 1957)  – Pionier und Wegbereiter im Internationalen Steuerrecht, 2014; Reimer in FS Spindler, 2011, S.  507; Beisse (Fn. 13), S. 43 (48 f.). 60 Zu seiner Laufbahn am BFH und den Sachzuständigkeiten der einzelnen Senate vgl. auch BFH (Fn. 4), S. 509, S. 545 ff. 61 Vgl. Fn. 21. 62 Vgl. Beisse (Fn. 13), S. 43 (57). 63 Vgl. Mersmann in JbFStR 1968/69, S. 9 (11).

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mann (vgl. II.2.) geprägten „dynamischen Bilanzauffassung“. Unter dem Einfluss des Senatsmitglieds Döllerer (vgl. II.7.) wurde die Maßgeblichkeit des Handelsbilanzrechts verstärkt. Eine Vielzahl von Veröffentlichungen zeugen von der Breite und Tiefe der steuerrechtlichen Interessen Mersmanns64. Auf ihn ging die Gründung der – heute noch sehr aktiven – Münchener Juristischen Gesellschaft am 10. Dezember 196565 zurück. An der juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hielt Mersmann steuerrechtliche Vorlesungen. 1967 verlieh ihm die Fakultät die Ehrendoktorwürde. Mersmann starb bereits nach kurzer Zeit im Ruhestand im Alter von 71 Jahren am 15. September 1973 in Bad Kissingen. 6. Prof. Dr. Heinrich List (15. März 1915–18. Juli 2018)66 Präsident Prof. Dr. Heinrich List – das 63ste Mitglied67 – war der sechste Mann an der Spitze des BFH. Sein Werdegang an diesem Gericht war wahrlich außergewöhnlich. Er machte, wie sein Nachfolger im Amt – Prof. Dr. Franz Klein68 – zu seinem 75. Geburtstag ausführte, Karriere vom „Hilfsarbeiter zum Präsidenten“69. List, geboren am 15. März 1915 in Mittermühle (Freyung) im Bayerischen Wald, besuchte zunächst in Freyung als das älteste von sieben Kindern die Volksschule, später in München das Gymnasium. Dort bestand er 1934 das Abitur. Nach Ableistung des fünfmonatigen Arbeitsdienstes studierte er anschließend in München Rechtswissenschaft und bestand nach kurzer Studiendauer das Referendarexamen. Seinen juristischen Vorbereitungsdienst musste er aufgrund der Einberufung im November 1937 zum Wehrdienst abbrechen. Nach Kriegsdienst und Entlassung aus der amerikani64 Z.B. Mersmann, Das D-Markbilanzgesetz, Kommentar, 1950; ders. in Gerloff/Neumark, Handbuch der Finanzwissenschaft, 2. Aufl. 1965, Bd. IV, S. 89; ders., Die Ertragsbesteuerung inländischer Betriebsstätten und Tochtergesellschaften ausländischer Kapitalgesellschaften, 1966. 65 Vgl. www.m-j-g.de. 66 Zur Person vgl. Nissen, DB 1983, 790; Beisse, DStR 1985, 164; Dann, DStR 1990, 154; Klein, DStZ 1990, 131; Rid, DStR 1995, 335; Hellwig, DStZ 1995, 129; Beermann, FR 1995, 209; Lohse, UR 1995, 121; Söhn, FR 2005, 277; Wagner, BB 2005, Heft 11, IV; Spindler, DB 2010, Heft 11, M 1; Mellinghoff in Fischer/Mellinghoff (Hrsg.), Festgabe List, 2014, S. 14. 67 BFH (Fn. 4), S. 509. 68 Prof. Dr. Franz Klein – Präsident vom 1.4.1983 – 30.9.1994 – füllte sein Amt mit Leib und Seele aus. Nach steiler Ministerialkarriere (zuletzt Ministerialdirektor) gelang es ihm nach „Quereinstieg“ in das Präsidentenamt, Vorbehalte gegen seine Person aufgrund seines wunderbaren Wesens in kürzester Zeit auszuräumen. Döllerer (vgl. II.7.) beschrieb dies so, dass Klein „die Herzen der Richter am Bundesfinanzhof im Sturm erobert“ habe (Döllerer, BB 1989, 1701). Er nimmt in der Reihe der Präsidenten einen hervorragenden Platz ein. Zum Ausscheiden aus dem Präsidentenamt 1994 wurde ihm in Würdigung seiner Person eine Festschrift überreicht. Ausführlich zu seiner Person z.B. Offerhaus in FS Klein, 1994, S. 3; Grimm, DStZ 1989, 419; Döllerer, BB 1989, 1701; Beisse, BB 1994, 1869. 69 Klein, DStZ 1990, 131.

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schen Kriegsgefangenschaft im Juli 1945 setzte er seine Referendarausbildung fort und bestand im Februar 1949 das Assessorexamen. Von 1949 bis 1955 war er an verschiedenen Stellen als „Zöllner“ tätig. 1955 begann seine eindrucksvolle Karriere in der Finanzgerichtsbarkeit. Von März 1955 bis September 1959 war er „juristischer Hilfsarbeiter“70 beim BFH. Anschließend war er bis Juni 1962 – zunächst als Richter (Oberfinanzgerichtsrat), später als Vorsitzender einer Kammer (Finanzgerichtsdirektor) – am Finanzgericht München tätig. List wurde am 1. Juni 1962 zum Bundesrichter ernannt71. Nach anfänglicher gleichzeitiger Mitgliedschaft in zwei Senaten war er ab 15. April 1965 nur noch Mitglied des V. Senats (zuständig u.a. für Umsatzsteuer). Am 2. Juni 1972 übernahm er den Vorsitz des III. Senats (zuständig u.a. für Einheitsbewertung, Vermögensteuer, Grundsteuer, Lastenausgleichabgaben), den er bis zu seinem Ausscheiden am 31. März 1983 innehatte. List wurde am 1. Oktober 1974 Vizepräsident und am 2. Mai 1978 Präsident des BFH. Er gehörte dem Großen Senat ab dem Jahr 1968 ohne Unterbrechung als Mitglied an, zunächst als bestelltes Mitglied, später als Präsident kraft Gesetzes72. Er war ein ausgewiesener Experte des Umsatzsteuer- und des Verfahrensrechts. Bei den Richterkollegen genoss er höchste Anerkennung. Er konnte Menschen überzeugen und führen. Er stach durch seine Leistungsbereitschaft, Disziplin, Tatkraft und Gründlichkeit hervor. Besondere Erwähnung muss seine Öffentlichkeitsarbeit für den BFH finden. Die ersten im Haus abgehaltenen Jahrespressekonferenzen gehen auf die Präsidentschaft von List zurück73. Mit großem Einsatz pflegte er die öffentliche wie gesellschaftliche Repräsentation dieses Gerichts und die Zusammenarbeit mit anderen obersten Gerichten. Lists Interesse galt auch der akademischen Ausbildung. Seit 1964 war er Lehrbeauftragter an der Juristischen Fakultät der Universität Erlangen; 1967 wurde er dort zum Honorarprofessor ernannt. Zudem war er seit 1969 Dozent an den Verwaltungs- und Wirtschaftsakademien in München und Augsburg. Daneben übte List eine äußerst umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit auf nahezu allen Gebieten des Steuerrechts aus. Schwerpunkte waren  – neben seinen zahlreichen Veröffentlichungen in Fachzeitschriften – insbesondere die Mitkommentierung und Mitherausgabe des damaligen Umsatzsteuerkommentars „Sölch/Ringleb/List/Müller“74 und die Übernahme von Erläuterungen der Finanzgerichtsordnung im „Hübschmann/Hepp/Spitaler“. Sein schriftstellerisches Engagement hat mit dem Eintritt in den Ruhestand keinesfalls nachgelassen; im Gegenteil setzte er dies bis ins hohe Alter fort75. Zudem gehörte

70 Vgl. Fn. 31. 71 Zu seiner Laufbahn am BFH und den Sachzuständigkeiten der einzelnen Senate vgl. auch BFH (Fn. 4) S. 509, S. 545 ff. 72 Vgl. § 11 Abs. 2 der FGO v. 6.10.1965 (BGBl. I 1965, 1477). 73 Wagner, BB 2005, Heft 11, IV. 74 Heute Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer. 75 Als kleine Auswahl z.B. BB 2000, 1216, DStR 2002, 1381, BB 2004, 1473, BB 2005, 241, DB 2006, 469, DB 2006, 1291, DB 2007, 131.

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1982 zu den Gründungsmitgliedern der „Vereinigung zur wissenschaftlichen Pflege des Umsatzsteuerrechts e.V.“76. List hat die ihm verliehenen besonderen Talente nicht verschwendet, sondern nach besten Kräften genutzt. Hierfür gebührt ihm besonderer Dank! Leider ist er – nur wenige Monate vor dem Festakt zur Hundert-Jahr-Feier am 1. Oktober 2018 – am 18. Juli 2018 im Alter von 103 Jahren in München verstorben. 7. Dr. Dr. h.c. Georg Döllerer (26. Mai 1921 – 11. September 1993)77 Vorsitzender Richter Dr. Dr. h.c. Georg Döllerer – das 79ste Mitglied78 – prägte in besonderem Maße das Handelsbilanz- und Steuerbilanzrecht. Ihm gelang es in beeindruckender Weise, die Disziplinen Handelsrecht, Steuerrecht und Betriebswirtschaft füreinander fruchtbar zu machen. Döllerer wurde am 26. Mai 1921 als zehntes Kind einer bäuerlichen Familie in Unterwössen (Chiemgau in Oberbayern) geboren. Nach Volksschule, Gymnasium und Abitur begann er 1939 das Studium der Wirtschaftswissenschaften, das er nach kriegsbedingter Unterbrechung im Frühjahr 1946 an der Universität München auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft fortsetzte. Ende 1948 bestand er das Referendar-, Mitte 1952 das Assessorexamen. Er trat 1952 in den Dienst der bayerischen Finanzverwaltung ein und wechselte 1953 in das Bayerische Staatsministerium der Finanzen79. Anfang 1954 promovierte er zum Dr. jur. Ende 1954 wurde er an das Bundesjustizministerium nach Bonn abgeordnet, wo er fünf Jahre tätig war. Dies waren für Döllerer prägende Jahre. Er war im Referat für Gesellschaftsrecht mit der Vorbereitung der Aktienrechtsreform befasst und wurde dort vor allem durch Ernst Geßler80 – einem Meister des Aktien-, Konzern- und Bilanzrechts – geprägt. Ende 1959 kam er nach München zurück und übernahm am Landgericht München I den Vorsitz einer Kammer für Handelssachen, seit 1964 als Landgerichtsdirektor. Am 1. April 1965 wurde Döllerer Bundesrichter81. Er gehörte zunächst dem I. Senat an, dem Präsident Mersmann (vgl. II.5.), später Präsident von Wallis82 vorsaß. Am 76 Heute „Umsatzsteuer Forum e.V.“. 77 Zur Person vgl. Grimm in FS Döllerer, 1988, S. 1; Klein/Stützel, Reden anlässlich der Übergabe der FS am 31. Mai 1988 im BFH, 1988, S. 1; Woerner, StVj 1991, 289; Offerhaus, BB 1993, 1881; Raupach, FR 1993, 621; Beisse, DStR 1993, 1466; Ruban/Gschwendtner, DStZ 1993, 609; Woerner, StVj 1993, 378. 78 BFH (Fn. 4), S. 510. 79 Vgl. Fn. 51. 80 Zur Person vgl. z.B. Ballerstedt/Hefermehl (Hrsg.), FS Geßler, 1971, Geleitwort. 81 Zu seiner Laufbahn am BFH und den Sachzuständigkeiten der einzelnen Senate, vgl. auch BFH (Fn. 4) S. 510, S. 545 ff. 82 Prof. Dr.  Hugo v. Wallis war ebenfalls eine herausragende Person des deutschen Steuerrechts, vgl. z.B. die prägnante Kurzbeschreibung von Schmidt, FR 1993, 349; weiterführend z.B. Felix, StVj 1990, 206; Offerhaus, BB 1993, 1017. Soweit ersichtlich, wurde ihm 1985 als erstem Mitglied des BFH – Anlass war sein 75. Geburtstag – in Würdigung seiner Person eine Festschrift überreicht.

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23. Januar 1978 übernahm er den Vorsitz des VIII.  Senats (zuständig u.a. für Einkünfte aus ­Gewerbetrieb einschließlich Gewerbesteuer), den er bis zu seinem Ausscheiden am 31. Mai 1988 behielt. Zugleich wurde er 1978 zum Mitglied des Großen Senats bestellt. Sein Rechtsdenken war von zivilrechtlichen Ordnungsstrukturen bestimmt. Dem lag der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung und das Prinzip der Rechtssicherheit zugrunde83. Ein großer Schwerpunkt seiner richterlichen, aber auch wissenschaftlichen Tätigkeit waren Fragen der Handels- und Steuerbilanz, besonders die von ihm vertretene Maßgeblichkeit des Handelsbilanzrechts für die Besteuerung. Dieses Denken führte u.a. zur Verdrängung der „dynamischen Bilanzauffassung“ aus der Rechtsprechung und zur „statischen Wende“84. Daneben hat er maßgeblich die einkommensteuerrechtliche Behandlung von Personengesellschaften beeinflusst. Er stellte die zivilrechtlichen Grundsätze in den Vordergrund und beteiligte sich – wie es Raupach nannte  – an der „Hinrichtung“ der Bilanzbündeltheorie85. Diese Richtungen steuerrechtlichen Denkens lassen sich z.B. sehr anschaulich an den beiden Beschlüssen des Großen Senats zur grundsätzlichen Anerkennung des negativen Kapitalkontos eines Kommanditisten86 und zur Aufgabe der „Geprägerechtsprechung“87 erkennen, die während der Mitgliedschaft Döllerers ergangenen sind. Ein weiterer Schwerpunkt von ihm war das Steuerrecht der Kapitalgesellschaften, insbesondere die Probleme verdeckter Gewinnausschüttungen und Einlagen88. Er war aber weit über den BFH hinaus in der Fachwelt hochgeachtet. Er trat als Buchautor89, Schriftsteller und als Referent auf zahlreichen Steuerfachkongressen besonders hervor. Daneben gehörte er von 1972 bis 1977 der Unternehmensrechtskommission des damaligen Bundesministeriums der Justiz an. Die Johann-Wolfgang-Goethe-­ Universität Frankfurt verlieh ihm am 16. Juli 1983 „in Anerkennung seiner Verdienste um die Bestimmung handelsrechtlicher Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung und die Entwicklung des Bilanzrechts“ den Grad eines Dr. rer. pol. h.c., daneben das Institut der Wirtschaftsprüfer am 14. Januar 1986 – als erstem Juristen – die Ehrenmitgliedschaft. Eine besondere Ehre wurde Döllerer anlässlich seines Ausscheidens aus dem Richteramt am 31. Mai 1988 zuteil: Er erhielt die Festschrift „Handels- und Steuerrecht“. Zum 70. Geburtstag wurde ihm ein Festheft90 gewidmet. Im Ruhestand blieb er weiterhin sehr intensiv dem Steuerrecht verbunden. Er war für eine renom83 Beisse, DStR 1993, 1466. 84 Beisse, DStR 1993, 1466. 85 Raupach, FR 1993, 621; ausführlich zur „Bilanzbündeltheorie“, Meßmer in StbJb 1972/73, S. 127 (134 ff.). 86 BFH v. 10.11.1980 – GrS 1/79, BStBl. II 1981, 164. Hierauf reagierte der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 15a EStG. 87 BFH v. 25.6.1984  – GrS 4/82, BStBl.  II 1984, 751. Die „Bilanzbündeltheorie“ führte auf Ebene der Einkünftequalifikation zur „Geprägerechtsprechung“. Der Gesetzgeber stellte die Wirkungen dieser vom BFH aufgegebenen Rechtsprechung durch Einfügung des § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG wieder her. 88 Vgl. Raupach, FR 1993, 621 (622); weitergehend zu Döllerers Rechtsprechungsepoche, vgl. Grimm (Fn. 77), S. 1 (4 ff.). 89 Döllerer, Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen bei Kapitalgesellschaften, 2. Aufl., 1990. 90 DStZ 1991, Hefte 14 und 15.

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miere Anwaltskanzlei tätig, der er bis zuletzt als beratender und begutachtender Rechtsanwalt angehörte. Döllerer starb am 11. September 1993 im Alter von 72 Jahren in einem Krankenhaus in Traunstein. 8. Dr. Kurt Meßmer (14. April 1922 – 29. August 2012)91 Vorsitzender Richter Dr. Kurt Meßmer – das 82te Mitglied92 – stand in hohem Maße für präzise Gesetzesauslegung und nahm maßgeblichen Einfluss auf die Rechtsprechung zur Besteuerung der Mitunternehmer einer Personengesellschaft. Meßmer wurde am 14. April 1922 in Ludwigsburg geboren. Nach dem Abitur im Januar 1940 ist er als siebzehnjähriger zum Kriegsdienst einberufen worden. Er studierte von 1946 bis 1949 an der Universität Freiburg Rechtswissenschaft. Nach Ablegung des Referendarexamens absolvierte er ab dem 1. Oktober 1950 den juristischen Vorbereitungsdienst in Stuttgart. 1952 promovierte er zum Dr. jur. Im Juni 1953 legte er das Assessorexamen ab. Er trat am 1. Oktober 1953 in den Dienst der Finanzverwaltung des Landes Baden-Württemberg ein. Dort war er bei der Oberfinanzdirek­ tion Stuttgart und als Sachgebietsleiter bei einem Finanzamt tätig. Am 21. November 1957 begann er seine Tätigkeit als „juristischer Hilfsarbeiter“93 im I. Senat des BFH, die er nahezu fünf Jahre bis zum 31. Juli 1962 ausübte. Danach war er bis März 1964 (als Oberregierungsrat) Einkommensteuerreferent im Finanzministerium Baden-­ Württemberg, anschließend bis Ende Juni 1966 (als Finanzgerichtsdirektor) Vorsitzender einer Kammer beim Finanzgericht Baden-Württemberg. Meßmer wurde am 1. Juli 1966 Bundesrichter94. Er gehörte zunächst verschiedenen Senaten und ab dem 1. Februar 1970 sowohl dem I. als auch II. Senat an. Ab dem 1. Juni 1970 war er nur noch Mitglied des I. Senats (zuständig u.a. für Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer von Körperschaften und internationale Steuerfragen), dessen Vorsitz er am 1. Juni 1978 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Richteramt am 30. ­April 1989 übernahm. Sein Name ist eng mit der Abkehr des BFH von der „Bilanzbündeltheorie“ verbunden. Seine Veröffentlichung „Die Bilanzbündeltheorie  – Eine meisterhafte Schöpfung der Rechtsprechung?“95  – von seinem Senatskollegen ­Woerner96 als „schneidende Analyse“ bezeichnet97 – gab wohl den ausschlaggebenden Anstoß dazu, dass diese seit Jahrzehnten in der Rechtsprechung gepflegte Theorie zu Fall gebracht wurde. Dies entsprach ganz der Persönlichkeit Meßmers, die im hohen 91 Zur Person: Klein, FR 1989, 217. Daneben wurde Archivmaterial ausgewertet. 92 BFH (Fn. 4), S. 510. 93 Vgl. Fn. 31. 94 Zu seiner Laufbahn am BFH und den Sachzuständigkeiten der einzelnen Senate vgl. auch BFH (Fn. 4), S. 510, S. 545 ff. 95 Meßmer in StbJb 1972/73, S. 127. 96 Dr. Lothar Woerner – Vorsitzender Richter des X. Senats vom 22.12. 1986 – 31.12.1995 – war ebenfalls eine außergewöhnliche Richterpersönlichkeit, vgl. zu seiner Person z.B. Beisse, StuW 1995, 287; ders., BB 2000, Heft 46, I. 97 Woerner in FS Beisse, 1997, S. 1 (7).

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Maß für präzise Gesetzesauslegung und -anwendung stand. In den Urteilen des I. Senats vom 28. Januar98 und 15. Juli 197699 erfolgte dann die – später auch vom Großen Senat bestätigte100  – Abkehr von genannter Theorie101. Anlässlich seines Ausscheidens aus dem Richteramt widmeten ihm seine Senatskollegen ein Festheft102. Meßmer genoss auch als Fachautor hohes Ansehen. Seinen Ruf als Schriftsteller hat er sich aber nicht durch Quantität, sondern durch Qualität verschafft. Seine Ver­ öffentlichungen hatten stets ein hohes wissenschaftliches Niveau und setzten neue Impulse für die Entwicklung der Rechtsprechung. Vielbeachtete Beiträge103 waren – neben der bereits vorstehend genannten Veröffentlichung  – z.B. „Die Fiktion im Steuerrecht  – Bräuche und Missbräuche“104 oder „Komplizierung des Steuerrechts durch die höchstrichterliche Rechtsprechung“105. Der von Meßmer gemeinsam mit Mattern herausgegebene – leider nicht weiter aufgelegte – Kommentar zur Abgabenordnung und den Art. 105 ff. des Grundgesetzes wurde als ein „Meisterwerk wissenschaftlicher Tätigkeit“ bezeichnet106. Zudem war Meßmer bei vielen Steuerfachtagungen als Redner begehrt. Mit dem Eintritt in den Ruhestand gab Meßmer sein steuerrechtliches Engagement weitgehend auf107. Meßmer starb am 29. August 2012 im Alter von 90 Jahren. 9. Prof. Dr. h.c. Heinrich Beisse (28. April 1927 – 6. Januar 2012)108 Vorsitzender Richter Prof. Dr. h.c. Heinrich Beisse – das 93ste Mitglied109 – war ein Generalist mit stark ausgeprägtem Interesse an der Beständigkeit höchstrichterlicher Rechtsprechung. Er gehörte zu jenen, die nicht nur das Steuerrecht, sondern auch das Zivilrecht, insbesondere das Handelsrecht, voll überblickten. Beisse wurde am 28. April 1927 in München geboren. In Maxhütte, dem Familienwohnsitz, besuchte er die Grundschule. Nach sieben Klassen am Gymnasium Regensburg beendete er seine Schulzeit mit dem sog. Reifevermerk. Nach Kriegseinsatz und kurzer Kriegsgefangenschaft holte er die Reifeprüfung nach. Er studierte in Regensburg und in München Philosophie, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. 98 BFH v. 28.1.1976 – I R 84/74, BStBl. II 1976, 744. 99 BFH v. 15.7.1976 – I R 17/74, BStBl. II 1976, 748. 100 BFH (Fn. 86), unter C.I.1.b. 101 Vgl. Kempermann, DStZ 1995, 225 (226). 102 FR 1989, Heft 8. 103 Vgl. dazu auch Klein, FR 1989, 217. 104 StbJb 1977/78, 65. 105 StuW 1988, 223. 106 Klein, FR 1989, 217. 107 Als einziger, im Ruhestand verfasster Beitrag findet sich in der juris-Datenbank die Veröffentlichung „Rechtssubjekte im Rahmen der Besteuerung gemäß §  15 Abs.  1 Nr.  2 EStG“ (FR 1990, 205). 108 Zur Person vgl. Woerner (Fn.  97), S.  1.; Klein, FR 1992, 225; Moxter, StVj 1992, 187; ­Woerner, BB 1997, 859. 109 BFH (Fn. 4), S. 511.

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1950 legte er das Referendar- und 1954 das Assessorexamen ab. Am 1. April 1955 trat er in den Dienst der bayerischen Finanzverwaltung ein. 1960 kam es zu einem für den beruflichen Werdegang Beisses bestimmenden Ereignis: Er wurde zum ersten hauptamtlichen Dozenten an der Bundesfinanzakademie bestellt. 1961 wurde er an das Bundesministerium der Finanzen in Bonn versetzt und zum Oberregierungsrat ernannt. Er hat während dieser Zeit viele Jahrgänge junger Juristinnen und Juristen in das Steuerrecht, insbesondere in die Buchführung und Bilanzierung eingeführt. 1963 wurde er „juristischer Hilfsarbeiter“110 im IV. Senat des BFH. Dort war er als Experte des Bilanzsteuerrechts hochwillkommen. Am 18. Juni 1970 wurde Beisse, inzwischen Regierungsdirektor, aus seiner Mitarbeitertätigkeit heraus Bundesrichter111. Er gehörte zunächst für beinahe 13  Jahre dem I. Senat an. Am 27. Mai 1983 übernahm er den Vorsitz des VII. Senats (zuständig u.a. für Zölle und Verbrauchsteuern), ab dem 1. Oktober 1990 saß er bis zu seinem Ausscheiden am 30. April 1992 dem IV. Senat (zuständig u.a. für Einkünfte aus Landund Fortwirtschaft sowie aus Gewerbetrieb einschließlich der Gewerbesteuer) vor. Beisse wurde bereits 1970 als dienstjüngstes Mitglied des Gerichts in den Großen Senat berufen und gehörte diesem Spruchkörper nahezu 20 Jahre an. Schwerpunkte seines Wirkens waren die rechtswissenschaftliche Methodenlehre, Fragen von Geld und Währung, das Europarecht und allen voran das Bilanzrecht. Er entwickelte sich im I. Senat vom „Dynamiker“ zum „Statiker“. Bei der Besteuerung der Mitunternehmer stand er den neuen Rechtsprechungsgrundsätzen über die Einheit der Mitunter­ nehmerschaft („Einheitstheorie“), die wohl im Beschluss des Großen Senats vom 25.  Februar 1991 zur doppelstöckigen Personengesellschaft112 gipfelten, zurückhaltend-kritisch gegenüber. Er trat – wohl als einer der ersten – für eine „dualistische Betrachtungsweise“ ein, die sowohl Aspekte der „Bilanzbündeltheorie“ als auch der „Einheitstheorie“ zusammenführte113. Diese Sichtweise wurde später auch Entscheidungen des Großen Senats zugrunde gelegt114. Zudem prägte Beisse – worauf Woerner hinwies – die heute allgemein verwendeten Begriffe „Sonderbetriebsvermögen I und II“115. Anlässlich seines Ausscheidens aus dem Richteramt wurde ihm ein Festheft gewidmet116. Beisse war aber nicht nur Richter, sondern auch ein glänzender Universitätslehrer und Wissenschaftler. Viele Jahre gab er Vorlesungen an der Technischen Universität München. 1976 wurde er dort Honorarprofessor. Er hielt viele Vorträge und veröffentlichte wissenschaftliche Arbeiten. Als Bilanzrechtler war ihm vor allem die Verbindung von Steuerrecht und Betriebswirtschaftslehre ein Bedürfnis. In Anerken110 Vgl. Fn. 31. 111 Zu seiner Laufbahn am BFH und den Sachzuständigkeiten der einzelnen Senate vgl. auch BFH (Fn. 4), S. 512, S. 545 ff. 112 BFH v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691. Als Reaktion hierauf ergänzte der Gesetzgeber den § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG um den Satz 2. 113 Beisse in JbFSt 1976/77, S. 250. 114 Z.B. BFH v. 3.5.1993 – GrS 3/92, BStBl. II 1993, unter C.III.6.a cc. 115 Woerner (Fn. 97), S. 1 (7). 116 FR 1992, Heft 8.

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nung seiner damit geleisteten Dienste verlieh ihm die Universität Hannover 1988 die Würde eines Doktors der Staatswissenschaft honoris causa. Beisse gab mit dem Eintritt in den Ruhesstand sein wissenschaftliches Arbeiten nicht auf. Zu seinem 70. Geburtstages am 28. April 1997 wurde ihm – als besondere Wertschätzung – die Festschrift „Handelsbilanzen und Steuerbilanzen“ überreicht. Beisse war eine Persönlichkeit von hohen menschlichen und geistigen Qualitäten, ein – so Präsident Klein117 – „Kavalier der alten Schule“. Er starb am 6. Januar 2012 im Alter von 84 Jahren. 10. Prof. Dr. Ludwig Schmidt (28. August 1928 – 5. November 2011)118 Vorsitzender Richter Prof. Dr.  Ludwig Schmidt  – das 103te Mitglied119  – war ein wahrhaft Großer des Steuerrechts120. Seine Richtertätigkeit war geprägt von seinem tiefen Sinn für Gerechtigkeit, getragen von der Idee, wirtschaftlich gleich gelagerte Fälle steuerrechtlich gleich zu behandeln. Schmidt wurde am 28. August 1928 in München geboren. Nach dem Abitur 1948 und der Kaufmannsgehilfenprüfung hat er 1949 in München das Studium der Rechtswissenschaft aufgenommen. 1952 hat er nach kurzer Studiendauer das Referendar-, 1956 das Assessorexamen bestanden; beide Prüfungen legte er mit besten Noten ab (Platzziffern 3 und 1). Dazwischen promovierte er 1953 zum Dr.  jur. Schmidt begann 1956 seinen Dienst in der bayerischen Finanzverwaltung. Anfänglich war er vier Jahre im Rechtsreferat des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen121 tätig. 1961 wechselte er für drei Jahre zunächst an ein Finanzamt und dann an die Oberfinanzdirektion München. Im März 1964 kehrte er in das Bayerische Staatsministerium der Finanzen zurück und übernahm dort – zuletzt als Ministerialrat – das Referat für Körperschaftsteuer und Betriebsprüfung. Schmidt wurde am 1. Dezember 1971 Bundesrichter122. Er gehörte zunächst für fünfzehn Jahre dem IV. Senat (zuständig für u.a. Einkünfte aus Land- und Fortwirtschaft sowie aus Gewerbetrieb einschließlich der Gewerbesteuer) an. Mit der Ernennung zum Vorsitzenden Richter am 20. Januar 1987 übernahm er für kurze Zeit die Leitung des III. Senats, ab dem 1. Mai 1989 die des I. Senats (sachlich zuständig u.a. für Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer von Körperschaften und internationale Steuerfragen), welche er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Richteramt am 31. August 1993 innehatte. Als Richter behielt er stets den Einzelfall im Auge. Sein Handeln wurde bestimmt von dem Postulat, wirtschaftlich gleich gelagerte Sachverhalte steu117 Klein, FR 1992, 225. 118 Zur Person vgl. Strassl in FS Schmidt, 1993, S. 1; Klein, DStZ 1993, 641; Rid, DStR 1993, 1238; Weber-Grellet, NJW 2003, 2510; Wassermeyer, DB 2003, I; Schön, FR 2011, 1125; Weber-Grellet, DStR 2011, 2117. 119 BFH (Fn. 4), S. 512. 120 Zum Menschen Ludwig Schmidt z.B. Strassl (Fn. 118), S. 1 (13 ff.). 121 Vgl. Fn. 51. 122 Zu seiner Laufbahn am BFH und zu den Sachzuständigkeiten der einzelnen Senate vgl. auch BFH (Fn. 4), S. 512, S. 545 ff.

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errechtlich gleich zu behandeln123. Daraus resultierte zum einen eine tiefe Skepsis gegenüber der Betonung zivilrechtlicher Vorgaben für die Anwendung des Steuerrechts. Im BFH ist er auf „Kontrahenten“ – u.a. Döllerer (dazu oben II.7.) – gestoßen, die das Zivilrecht stärker betonten. Es dürfte daher nicht schwer fallen zu beurteilen, wie Schmidt zu den – zivilrechtlich geprägten – Entscheidungen des Großen Senats zur grundsätzlichen steuerrechtlichen Anerkennung des negativen Kapitalkontos eines Kommanditisten124 und zur Aufgabe der „Geprägerechtsprechung“125 (vgl. II.7.) stand. Zum anderen war er offen für eine vorsichtige Rechtsfortbildung zu Lasten des Steuerpflichtigen. Der ihm vorrangige Gedanke der „Gleichbehandlung“ duldete keinen Aufschub bis zum Eingreifen des Gesetzgebers. Gekünstelte Konstruktionen, Steuersparmodelle und formalistische Betrachtungsweisen waren ihm ein Dorn im Auge126. Es bleibt nicht aus, dass ein so großes Talent wie Schmidt auch in anderen Bereichen eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Er wurde 1976 zum Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität ernannt, verfasste zahlreiche grundlegende Aufsätze und war ein gesuchter Vortragender und Moderator bei Tagungen und Semi­ naren127. Schmidt wird auch als der Erfinder einer neuen Form der Steuerrechtsliteratur, nämlich der „eleganten, hintersinnigen  … Besprechung von BFH-Urteilen“ bezeichnet128. Sein größtes bleibendes Lebenswerk ist jedoch der  – seinen Namen tragende  – erstmalig 1982 erschienene Kommentar zum Einkommensteuergesetz. Der von ihm damals mit drei jungen wissenschaftlichen Mitarbeitern beim BFH – namentlich Walter Drenseck (dazu II.12.), Siegbert Seeger und Wolfgang Heinicke – publizierte „Schmidt“ erscheint seitdem jährlich in Neuauflage. Schmidt hatte dessen Herausgeberschaft bis zur 25. Auflage inne129. Dieser von Döllerer zu Recht als der „Palandt des Steuerrechts“ bezeichnete130 Kommentar ist zu einem unverzichtbaren „Handwerkszeug“ im Einkommensteuerrecht geworden. Als besondere Wertschätzung seiner Person wurde ihm anlässlich seines Eintritts in den Ruhestand die Festschrift „Ertragsbesteuerung“ gewidmet. Schmidt starb am 5. November 2011 im Alter von 83 Jahren in Baldham bei München.

123 Schön, FR 2011, 1125. 124 BFH (Fn. 86). 125 BFH (Fn. 87). 126 Weber-Grellet, NJW 2003, 2510 (2510). 127 Z.B. bei der jährlichen Arbeitstagung der Fachanwälte für Steuerrecht. 128 Weber-Grellet, NJW 2003, 2510. 129 Die Herausgeberschaft ist ab der 26. Auflage (2007) auf Prof. Walter Drenseck (dazu II.12.), ab der 31. Auflage (2012) auf Prof. Dr. Heinrich Weber-Grellet übergegangen. 130 Döllerer in FS Schmidt, 1993, S. 523.

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11. Dr. Ruth Hofmann (2. Januar 1933 – 11. Dezember 2016)131 Vorsitzende Richterin Dr.  Ruth Hofmann  – das 118te Mitglied132  – war die erste Richterin in der bayerischen Finanzgerichtsbarkeit und die erste Frau, die am BFH das hohe Amt einer Vorsitzenden Richterin bekleidete. Sie beeinflusste die Rechtsprechung insbesondere auf dem Gebiet der Verkehrssteuern und Einheitsbewertung maßgeblich und verkörperte Sach- sowie Führungskompetenz gepaart mit hohem Pflichtbewusstsein. Hofmann wurde am 2. Januar 1933 in München geboren. Ihr Vater war der Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht Prof. Dr. Carl Boettcher, ihre Mutter die ebenfalls als Rechtsanwältin tätige Gerda Boettcher. Die familiär steuerrechtlichen Wurzeln reichen jedoch weiter zurück: Ihr Großvater mütterlicherseits war Dr. h.c. Enno Becker, der Schöpfer der Reichsabgabenordnung 1919 und einstmalige Senatspräsident beim RFH. Nach dem Abitur 1951 legte Hofmann im Dezember 1955 das Referendar-, im Juli 1958 das Doktor- und im April 1960 das Assessorexamen ab. Sie trat im Juli 1960 in die bayerische Finanzverwaltung ein. Sie wurde zu Beginn des Jahres 1962 Sachgebietsleiterin an dem neu errichteten Finanzamt München für Grundbesitz und Verkehrssteuern. Dort legte sie den Grundstein für ihre spätere hohe fachliche Autorität als Richterin am BFH. 1968 wechselte sie an das Finanzgericht München. Sie war damit die erste Frau an einem bayerischen Finanzgericht. Am 1. Februar 1976 wurde Hofmann als zweite Frau zur Richterin am BFH ernannt133. Sie gehörte zunächst dem V.  Senat (zuständig u.a. für Umsatzsteuer), ab dem 23. Januar 1978 dem II. Senat (zuständig u.a. für Verkehrssteuern und Einheitsbewertung) und ab dem 1. Januar 1983 – bedingt durch die angespannte Geschäftslage im V. Senat – wieder diesem Senat an. Am 1. Januar 1985 kehrte sie wieder in den II. Senat zurück, dem sie ab dem 1. Juni 1991 bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand am 31. Januar 1998 vorsaß. Der II.  Senat hat unter ihrer Mitwirkung weit­ reichende Entscheidungen gefällt. Anzuführen sind beispielsweise die Urteile zum einheitlichen Vertragsgegenstand bei der Grunderwerbsteuer134 oder die zur schenkungsteuerrechtlichen Beurteilung von sog. unbenannten (ehebedingten) Zuwendungen unter Ehegatten135. In diesen Urteilen wurden die streitentscheidenden Begriffe nicht allein anhand ihres zivilrechtlichen Vorverständnisses, sondern unter besonderer Betonung der steuerrechtlichen Eigengesetzlichkeiten ausgelegt. Zum Ausscheiden aus ihrem Richteramt wurde ihr ein Festheft gewidmet136. Hofmann hat sich daneben durch wissenschaftliche Arbeit einen Namen gemacht. Sie wirkte über mehrere Jahrzehnte (bis zur 17. Auflage) am „Kühn/Hofmann“ (vor131 Zur Person vgl. Ebling, DB 1998, Heft 8; Offerhaus, DStR 1998, 141. Zudem wurde Archivmaterial ausgewertet. 132 BFH (Fn. 4), S. 512. 133 Zu ihrer Laufbahn am BFH und zu den Sachzuständigkeiten der einzelnen Senate vgl. auch BFH (Fn. 4), S. 514, S. 545 ff. 134 Z.B. BFH v. 18.10.1989 – II R 143/87, BStBl. II 1990, 183. 135 Z.B. BFH v. 2.3.1994 – II R 59/92, BStBl. II 1994, 366. 136 DStR 1998, Heft 5.

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mals „Kühn/Kutter“137) – einem Kommentar zur Abgaben- und Finanzgerichtsordnung  – mit. Zudem beschäftigte sie sich viele Jahre mit der Neubearbeitung des Grunderwerbsteuergesetzes 1940 in dem von Schulze/Förger herausgegebenen Grunderwerbsteuerkommentar. Dieser Kommentar erschien erstmals 1985 als „Hofmann“ allein unter ihrem Namen zu dem ab 1983 völlig neugestalteten Recht; aktuell liegt von diesem Kommentar – zwischenzeitlich unter Mitarbeit ihrer Tochter Gerda – bereits die 11. Auflage vor. Der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft war sie ab 1983 über viele Jahre hinweg als Mitglied im wissenschaftlichen Beirat besonders verbunden. Am 11. Dezember 2016 ist Hofmann im Alter von 83 Jahren in Berlin verstorben. 12. Prof. Dr. Walter Drenseck (30. September 1941 – 3. September 2011)138 Vorsitzender Richter Prof. Dr. Walter Drenseck – das 142te Mitglied139 – nahm weitreichenden Einfluss auf die Rechtsprechung zur Besteuerung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Drenseck wurde am 30. September 1941 in Wattenscheid geboren. Dort ging er zur Schule und legte die Abiturprüfung ab. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Marburg und Münster sowie dem dreijährigen Referendariat trat er im März 1970 in den Dienst der Finanzverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen ein. Nach Tätigkeiten bei verschiedenen Finanzämtern wechselte er am 1. April 1974 zum Finanzgericht Münster und wurde 1975 zum Richter am Finanzgericht ernannt. Er blieb diesem Finanzgericht – unterbrochen von 1977 bis 1980 durch eine vierjährige Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BFH  – bis zu seiner Ernennung als Richter am BFH treu. Während seiner Mitarbeiterzeit promovierte er 1978 zum Dr. jur. Diese Mitarbeiterzeit war aber auch in anderer Hinsicht äußerst fruchtbar. Er lernte Ludwig Schmidt kennen und wirkte ab der 1. Auflage an dem führenden Kommentar zum Einkommensteuergesetz mit (vgl. II.10.). Am 13. Februar 1984 wurde Drenseck Richter am BFH. Er gehörte für über 22 Jahre ausschließlich dem VI.  Senat (zuständig u.a. für die Einkommensteuer und Lohnsteuer betreffend die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit) an, ab dem 1. Februar 1998 als dessen Vorsitzender. Zudem war er für über 13 Jahre – ab 1993 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Richteramt am 30. September 2006 – Mitglied des Großen Senats. Für ihn war das objektive Nettoprinzip ein fundamentales Prinzip der Einkommensbesteuerung, über das er – wie Seer formulierte – „mit Argusaugen wachte“140. Es durfte – so Drenseck – nur eingeschränkt werden, soweit das Prinzip der Folge-

137 Ab der 18. Auflage trägt der Kommentar den Namen „Kühn/v. Wedelstädt“. 138 Zur Person vgl. Kanzler, DStR 2006, 2193; von Bornhaupt, DStZ 2006, 609; Ackermann, DB 2006, I; Offerhaus, DB 2011, M 1; Kruse, FR 2011, 877; Weber-Grellet, DStR 2011, 1685; Seer, StuW 2011, 385. 139 BFH (Fn. 4), S. 512. 140 Seer, StuW 2011, 385 (386).

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richtigkeit beachtet wurde141. Diese Sichtweise zeigte sich z.B. deutlich in den Urteilen des VI. Senats, in denen die Unterscheidung zwischen unbegrenzt als Werbungskosten abziehbaren Berufsfortbildungskosten und nur beschränkt abziehbaren Berufsausbildungskosten aufgegeben wurde142. Ein weiteres großes Anliegen war ihm die Eingrenzung des von der Rechtsprechung aus § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG abgeleiteten allgemeinen Aufteilungsverbots143. Noch unter seiner Ägide legte der VI. Senat dem Großen Senat die Frage vor, ob eine Aufteilung der Aufwendungen für eine gemischt beruflich und privat veranlasse Reise möglich ist, wenn die beruflich veranlassten Zeitanteile feststehen und nicht von untergeordneter Bedeutung sind144. Nicht zuletzt dank Drenseck gab der Große Senat – rd. drei Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Richteramt  – seine langjährige Rechtsprechung auf und verkehrte das Aufteilungsverbot zu einem „Aufteilungsgebot“145. Einen weitergehenden Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung des Lohnsteuersenats unter dem Vorsitz von Drenseck gibt ein Festheft anlässlich seines Ausscheidens aus dem Richterdienst146. Aus demselben Anlass erschien im November 2006 ein weiteres Festheft147. Nicht nur im BFH, sondern überall in der steuerrechtlichen Fachwelt hinterließ Drenseck bleibenden Eindruck. Beispielhaft sollen folgende Tätigkeiten hervorgehoben werden: Er verfasste viele Aufsätze, Festschriftbeiträge und sonstige Veröffentlichungen. Daneben wirkte er, wie bereits erwähnt, seit der ersten Auflage an dem „Schmidt“ mit und bearbeitete wesentliche Vorschriften. Ab der 26. Auflage hatte er auch dessen Herausgeberschaft übernommen. Seine Gesamtleistung für und an diesem Kommentar ist beeindruckend. Daneben war er auf großen Steuerfachtagungen als Redner sehr geschätzt. Zudem war Drenseck auch als Universitätslehrer tätig, und zwar seit 1983 als Lehrbeauftragter und seit 1998 als Honorarprofessor an der Ruhr-Universität Bochum. Drenseck starb plötzlich und unerwartet am 3. September 2011 im Alter von 69 Jahren während eines Kurzurlaubs im Bayerischen Wald.

III. Schlusswort Mit diesen ausgewählten, wenigen Lebensläufen muss die Aufzählung beendet werden, auch wenn deren Fortsetzung ohne weiteres möglich gewesen wäre, hätte der 141 Drenseck, FR 2006, 1. 142 BFH v. 4.12.2002 – VI R 120/01, BStBl. II 2003, 403; v. 17.12.2002 – VI R 137/01, BStBl. II 2003, 407; vgl. dazu auch Drenseck in Schmidt, EStG, 21. Aufl., § 19 Rz 60 unter Ausbildungskosten. Der Gesetzgeber hat auf diese Urteile zunächst mit der Einfügung des § 12 Nr. 5 EStG, dann mit der des § 9 Abs. 6 EStG reagiert. Zur weiteren Entwicklung dieser – immer noch nicht abschließend geklärten – Streitfrage vgl. Teller in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 9 Rz 184. 143 Drenseck in Schmidt, EStG, bis zur 28. Aufl., § 12 Rz 16. 144 BFH v. 20.7.2006 – VI R 94/01, BStBl II 2007, 121. 145 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl II 2010, 672, unter C.III.3. 146 DB 2006, Heft 39, Beilage Nr. 6. 147 StuW 2006, Heft 4.

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Platz dies zugelassen. Denn es gibt noch zahlreiche weitere herausragende Richterpersönlichkeiten, die ohne weiteres Erwähnung hätten finden können. Es wird nicht verkannt, dass die hier getroffene Auswahl angreifbar ist. Aber selbst bei Verlängerung der Reihe wären wohl die Erkenntnisse, die sich aus der Beschäftigung mit herausragenden Richterpersönlichkeiten ableiten ließen, die gleichen geblieben. Folgende Feststellungen liegen nahe: Erstens – Vorbildliche Ausübung des Richteramtes: Sie alle waren ausgewiesene Experten ihres Fachgebiets. Sie stachen durch Disziplin und Überzeugungskraft hervor. Am BFH übten sie ihr Richteramt in innerer Unabhängigkeit und größter Objektivität aus; sie wurden durch ihr Richteramt geprägt. Zweitens – Großer Einfluss auf die Rechtsprechung: Sie setzten oftmals neue Impulse und traten als Wortführer bestimmter Richtungen steuerrechtlichen Denkens auf. Es blieb daher nicht aus, dass sie maßgeblichen Einfluss auf die Rechtsprechung und damit auf die Entwicklung der Steuerrechtsjudikatur nahmen148. Während das Steuerrecht – eine relativ junge Materie – in der Anfangszeit des BFH infolge der Herausarbeitung seiner Eigengesetzlichkeiten noch von den übrigen Rechtsdisziplinen isoliert war, setzte Mitte der 1950er Jahre im BFH das Bemühen ein, das Steuerrecht in die Einheit der Rechtsordnung zu integrieren. Hierbei zeigten sich unterschiedliche Herangehensweisen: Der Weg wurde beschritten über dessen Integration ins Verfassungsrecht (Hartz), die Betonung oberster, auch naturrechtlicher Werte (Heßdörfer), die Übernahme der Prinzipien allgemeiner juristischer Methodenlehre (Mersmann) und einen Vorrang zivilrechtlicher Strukturen (Döllerer). Ab den 1970er Jahren kam es zu einer Rückbesinnung auf das spezifisch Steuerrechtliche (Schmidt). Man war bestrebt, die ersten beiden – z.T. gegenläufigen – Rechtsprechungsphasen einer Synthese zuzuführen (Beisse). Das Zivilrecht wurde beachtet, aber dort nicht als maßgeblich angesehen, wo steuerrechtliche Grundsätze Vorrang genossen. Fundamentale Prinzipien der Besteuerung kamen zur Geltung (Drenseck). Drittens – Fachliche Anerkennung weit über das Gericht hinaus: Sie alle besaßen eine außerordentliche – nicht nur auf das Richteramt beschränkte – Schaffenskraft. Hierdurch haben sie überall in der steuerrechtlichen Fachwelt einen bleibenden Eindruck hinterlassen; sie waren weit über den BFH hinaus hochgeachtet.

148 Vgl. auch Beisse (Fn. 13), S. 43 (58 f.).

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht A.

Der BFH und die Gesetzesbindung Von Christian Thiemann

Inhaltsübersicht I. Normkonkretisierung und Rechtsfortbildung als Aufgabe höchstrichterlicher Rechtsprechung II. Verfassungsrechtliche Parameter der Gesetzesbindung 1. Gesetzesbindung als Kernelement des Demokratie- und des Rechtsstaatsprinzips 2. Eigenständigkeit der Rechtsprechung im Prozess der Rechtserzeugung III. Steuerrechtsspezifische Herausforderungen an die Gesetzesbindung

1. Abgestufte Determinationskraft steuerrechtlicher Normen a) Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Steuerrecht b) Die Finanzverwaltung als Erstinterpretin unbestimmter Rechtsbegriffe c) Die Bedeutung leitbildorientierten Denkens in der Rechtsanwendung 2. Methodenspezifische Ausprägungen der Gesetzesbindung im Steuerrecht 3. Komplexität und fragmentarischer Charakter des Steuerrechts IV. Schlussbetrachtung

I. Normkonkretisierung und Rechtsfortbildung als Aufgabe ­höchstrichterlicher Rechtsprechung Zu den wesentlichen Begriffsmerkmalen von Rechtsprechung gehört „das Element der Entscheidung, der letztverbindlichen, der Rechtskraft fähigen Feststellung und des Ausspruchs dessen, was im konkreten Fall rechtens ist“1. Seine Legitimität, aber auch seine Autorität schöpft der richterliche Entscheid aus dem Gesetz, dessen notwendig abstrakt-generelle Aussagen der Richter im Hinblick auf den einzelnen Fall zur Geltung bringt. Der Prozess der Rechtsanwendung beinhaltet dabei nicht selten eine erhebliche Konkretisierungsleistung. Der Gesetzgeber muss notwendigerweise verallgemeinern, Interessenlagen aus der theoretisch unbegrenzten Vielzahl der Einzelfälle abstrahieren und in ein Verhältnis setzen. Daraus speist sich das Normenmaterial, anhand dessen der Richter einen Rückbezug zum einzelnen Fall herzustellen 1 So BVerfG v. 8.2.2001  – 2 BvF 1/00, BVerfGE 103, 111 (137). Zu weiteren Facetten des Rechtsprechungsbegriffs s. etwa Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 69 ff.; Wilke in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 112 Rz. 56 ff.

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Christian Thiemann

hat. Der Richter vollzieht den umgekehrten Prozess, wenn er vom Allgemeinen ins Einzelne konkretisiert. Beide Ebenen von Rechtssetzung eint der Umstand, dass ihnen eine erhebliche schöpferische Leistung innewohnt. Für die Staatsfunktion der Gesetzgebung ist dies explizit. Sie bezieht ihre Autorität aus der demokratischen Legitimation, die das parlamentarische Verfahren der Gesetzgebung, gestützt auf den Wahlakt, verleiht. Doch auch Rechtsprechung ist mehr als bloßer Nachvollzug des Abstrakten. Richterliche Tätigkeit erschöpft sich nicht „im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers“, sondern umfasst auch die Aufgabe und Befugnis zu „schöpferischer Rechtssetzung“2. Dass es nicht um ein bloßes „Nachsprechen von Vorgeschriebenem“ gehen kann3, folgt schon daraus, dass die Programmierungsleistung von Rechtsnormen in Bezug auf den Streitentscheid im einzelnen Fall regelmäßig begrenzt ist. Rechtsbegriffe sind in ihrem Bedeutungsgehalt selten eindeutig, sondern in ihren Randbereichen häufig unscharf. Bestimmtheit und Unbestimmtheit sind keine trennscharfen Kategorien, sondern jeder Rechtsbegriff ist nur mehr oder weniger bestimmt4. Zahlreiche Rechtsbegriffe sind sogar, und zwar auch im Bereich des Steuerrechts, hochgradig unbestimmt. Sie transportieren weniger einen konkreten Gehalt, als vielmehr eine bloße Rechtsidee, eine normative Hülse, die vom Rechtsanwender, um im einzelnen Fall handhabbar gemacht werden zu können, zunächst mit einem konkreten Inhalt gefüllt werden muss. Pointiert könnte man von „gewollten Lücken im Gesetz“ sprechen, die dem Richter explizit „normsetzende Aufgaben“ zuweisen5. In der teils zwangläufigen, teils gesetzgeberisch intendierten Vagheit und Unbestimmtheit der Rechtsbegriffe muss nicht zwangsläufig ein funktionsimmanentes Defizit von Gesetzgebung gesehen werden. Im Gegenteil ist die Allgemeinheit des Gesetzes ein verfassungsrechtlich positiv konnotiertes Gut6. Die Unbestimmtheit kann vom Gesetzgeber gerade gewollt sein, um im Interesse einer einzelfallgerechten Lösung angemessene Spielräume für die Normkonkretisierung zu eröffnen, innerhalb derer sich die funktionsspezifischen Ressourcen von Rechtsprechung – Unabhängigkeit, Professionalität, differenzierte Fallanschauung und Sachnähe – entfalten können. Hinzu kommt die Einsicht, dass Gesetzgebung auch insofern an strukturelle Grenzen stoßen kann, als sich die Prämissen von Normsetzung aufgrund gewandelter oder neu hinzutretender äußerer Umstände überholen können oder der Kreis der in Betracht kommenden Fälle im Gesetzgebungsverfahren von vornherein nicht vollständig bedacht wurde. Gerade im Bereich des Steuerrechts kann dies der Fall sein, 2 BVerfG v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (287). Zur Rechtsfortbildung als verfassungsrechtlich anerkannter Aufgabe der Rspr. s. auch BVerfG v. 25.1.2011  – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 (210); v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07 u.a., BVerfGE 132, 99 (127). 3 P. Kirchhof in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 285 (287). 4 Jestaedt in Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15.  Aufl. 2016, §  11 Rz. 24. 5 So Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, Rz. 836. 6 Zur Gesetzesallgemeinheit als Verfassungspostulat umfassend G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 174 ff.

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Der BFH und die Gesetzesbindung

wenn bestimmte normative Vorgaben Gestaltungsbemühungen der Steuerpflichtigen induzieren, die vom Gesetzgeber nicht antizipiert wurden, auf die aber gleichwohl eine adäquate normative Antwort gefunden werden muss7. Hier kann es Aufgabe von Rechtsprechung sein, sich zeigende Lücken zu schließen und das Gesetz behutsam fortzubilden, indem sein Regelungsplan konsequent fortgedacht und auf die ungeregelten Bereiche erstreckt wird. Bereits diese wenigen Überlegungen zeigen, dass die der Rechtsprechung überantwortete Normkonkretisierung ein in erheblichem Maß auch rechtsschöpferischer Prozess ist8. Auch Rechtsprechung setzt bei genauer Betrachtung innerhalb des ihr durch das Gesetz gesteckten Rahmens Normen, wenn sie dessen Inhalte konkretisiert. Das gilt zumal für die Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, deren Aufgabe insbesondere darin besteht, für die Rechtsanwendung durch die Instanzgerichte verbindliche Leitlinien vorzugeben und Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären. Für den BFH kommt dies insbesondere in §  115 Abs.  2 FGO zum Ausdruck, wenn dort die Zulassung der Revision insbesondere an die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, die Notwendigkeit einer Rechtsfortbildung oder die Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung geknüpft wird. Die Funktion der Rechtsprechung, das Recht zu konkretisieren und fortzubilden, wird hier vom Gesetzgeber positiv anerkannt9.

II. Verfassungsrechtliche Parameter der Gesetzesbindung Die Prozesshaftigkeit und Phänomenologie höchstrichterlicher Rechtsprechung sind damit beschrieben. Doch wo verlaufen die Grenzen einer judiziellen Rechtskonkretisierung und Rechtsfortbildung? Wie lassen sich die Pole Rechtsbindung und Rechtskonkretisierung in Einklang bringen? Den äußeren, unverrückbaren Bezugsrahmen bildet die Verfassung, deren Aussagen den Prozess der Rechtskonkretisierung und Rechtsfortbildung anleiten, ihn zugleich aber auch kanalisieren und begrenzen10.

7 P. Kirchhof in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 285 (290 f.), spricht insofern vom „bewusst herbeigeführten Grenzfall“, auf den zu reagieren eine der spezifischen Herausforderungen der Steuerrechtsprechung sei. 8 Von der Auslegung als „schöpferischer Geistestätigkeit“ spricht Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 346. 9 Jochum in FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 149 Rz. 26. Ebenso BVerfG v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07 u.a., BVerfGE 132, 99 (127), für den BGH unter Verweis auf § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO. 10 Zur Konstitutionalisierung als zentraler Perspektive einer steuerrechtlichen Methodenlehre s. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 320 ff. Dezidiert für die Kennzeichnung von Methodenfragen als Verfassungsfragen auch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, Rz. 704 ff.

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1. Gesetzesbindung als Kernelement des Demokratie- und des ­Rechtsstaatsprinzips Die Rechtsprechung ist nach Art. 20 Abs. 3 GG an „Gesetz und Recht“11 gebunden. Die Norm macht explizit, was sich schon aus Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergibt, nämlich dass das demokratisch gesetzte Recht die zentrale Steuerungs- und Legitimationsressource staatlichen Handelns ist und deshalb eine umfassende Bindungswirkung gegenüber den anderen Teilgewalten entfalten muss, soweit nicht ­höherrangige Normen derogierend wirken. Die im parlamentarischen Verfahren beschlossenen Gesetze sind unmittelbarer Ausdruck demokratisch legitimierter Herrschaft. Ihr Gehalt darf daher von keiner der anderen Teilgewalten hintangestellt werden. Art.  20 Abs.  3 GG bringt insofern nur das Selbstverständliche zum Ausdruck. Das Rechtsstaatsprinzip weist als Sammelbegriff wiederum vielfältige Bedeutungsschichten auf. Versteht man unter einem Rechtsstaat einen Staat, der nicht willkürlich, sondern regelgeleitet und insofern vorhersehbar und berechenbar agiert, impliziert auch dies, dass die demokratisch gesetzten Regeln von den anderen Teilgewalten zu beachten sind. Ein Handeln gegen das Gesetz ist damit unzulässig. Im Steuerrecht gilt weitergehend, dass auch ein Handeln ohne Gesetz unzulässig ist. Das folgt aus dem Umstand, dass die einseitig-hoheitliche Auferlegung der Steuer jedenfalls in Art. 2 Abs. 1 GG eingreift und deshalb dem grundgesetzlichen Vorbehalt des (verhältnismäßigen) Gesetzes unterliegt12. Das gilt mit Rücksicht auf den Umstand, dass die gesetzlichen Belastungsmaßstäbe vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes (Art.  3 Abs.  1 GG) nicht nur gleichheitsgerecht auszugestalten, sondern auch gleichmäßig zu verwirklichen sind13, nicht nur für den Steuerzugriff selbst, sondern auch für den Verzicht auf den Steuerzugriff. Dieser bedarf ebenfalls einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage, wie der Große Senat zuletzt erfreulich deutlich am Beispiel des sog. Sanierungserlasses erneut hervorgehoben hat14. Aufgegriffen wird die Gesetzesbindung als Fundamentalprämisse richterlichen Entscheidens außerdem in Art. 97 Abs. 1 GG. Der Richter ist danach unabhängig und „nur dem Gesetz unterworfen“. In dieser im Kern auf den Aspekt der Unabhängigkeit bezogenen Aussage steckt zugleich die Aussage, dass der Richter in seiner Unabhängigkeit dem Gesetz zu gehorchen hat, an dieses also (und an nichts anderes) gebunden ist. Hinzu tritt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, nach dem der Einzelne einen Anspruch auf Rechtsschutz hat, wenn er durch die öffentliche Gewalt, z.B. auch die Fiskal­ gewalt, in seinen Rechten verletzt wird. Die rechtsprechende Gewalt hat also mit anderen Worten die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu prüfen. Auch darin 11 Inwieweit die Bindung an das „Recht“ weiter reicht als die Bindung an das „Gesetz“, soll hier nicht weiter verfolgt werden. BVerfG v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (286 f.), geht davon aus, dass sich aus der „verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen“ ein „Mehr an Recht“ ergeben kann, das „gegenüber dem geschriebenen Gesetz als Korrektiv zu wirken vermag“. Näher zum Bedeutungsgehalt speziell der „Rechts“-Bindung Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 1996, S. 242 ff., 289 ff. 12 Vgl. nur BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91 u.a., BVerfGE 87, 153 (169); v. 15.1.2014 – 1 BvR 1656/09, BVerfGE 135, 126 (141 ff.). 13 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271). 14 BFH (GrS) v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393 Rz. 88 ff.

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kommt, wenn auch eher indirekt, die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz zum Ausdruck, die sich hier im Sinne einer nachvollziehenden und das Verwaltungshandeln kontrollierenden Nachprüfung aktualisiert. Der Grund richterlicher Intervention ist dessen Rechtswidrigkeit (und die Verletzung des Klägers in eigenen Rechten). Auch an dieser Stelle wird also das Gesetz als Grund und Grenze richterlichen Entscheidens ausgewiesen. Diese Überlegungen verdeutlichen, dass die Gesetzesbindung der Rechtsprechung unmittelbarer Ausdruck des Rechtsstaats- und des Demokratieprinzips ist. Art.  20 Abs. 3 GG bezeichnet damit nicht lediglich ein Prinzip, das etwa mit Rücksicht auf andere Rechtsgüter der Verfassung einer Abwägung zugänglich wäre, sondern die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz ist als eine strikte zu begreifen. Das Gesetz bildet den Rahmen, aber auch die Grenze richterlicher Rechtsanwendung und Rechtskonkretisierung. Zumindest im Abstrakten determiniert sind damit auch die möglichen Grenzen einer Rechtsfortbildung. Auch sie muss stets auf das Gesetz rückbezogen sein. Es bedarf der Anknüpfung an die Wertungen des Gesetzes und des Nachweises seiner Lückenhaftigkeit ausgehend vom gesetzgeberischen Regelungsplan, soll die Rechtsfortbildung noch mit der Bindung des Richters an das Gesetz in Einklang stehen. Das BVerfG adressiert insofern den Aspekt der Gewaltenteilung, wenn es formuliert, dass die Gerichte nicht Befugnisse beanspruchen dürfen, „die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen worden sind, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen“. Der Richter muss „die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers  […] möglichst zuverlässig zur Geltung bringen“. Eine Interpretation, die „den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder  – bei Vorliegen einer erkennbaren planwidrigen Regelungslücke – stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein“15. 2. Eigenständigkeit der Rechtsprechung im Prozess der Rechtserzeugung Die Strenge der Gesetzesbindung zu betonen, bedeutet nicht, die Eigenständigkeit der Rechtsprechung im Prozess der Rechtserzeugung zu verkennen. Der Umstand, dass die Rechtsprechung an das Gesetz gebunden ist, sagt nichts darüber aus, wie diese Bindung zu operationalisieren ist. Die Gesetzesbindung darf also mit anderen Worten „nicht mit ihrer methodischen Einlösung verwechselt werden“16. Insbesondere lässt sich dem Grundgesetz nichts darüber entnehmen, wie die Auslegung von Rechtsbegriffen genau vorzunehmen ist. Dementsprechend betont auch das BVerfG, dass die Auslegung des einfachen Rechts einschließlich der „Wahl der hierbei anzuwendenden Methoden“ Sache der Fachgerichte ist. Es kommt lediglich 15 So BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 (209 f.), und in gleichem Sinn BVerfG v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07 u.a., BVerfGE 132, 99 (127 f.). 16 Möllers in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 3 Rz. 23.

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darauf an, dass der Richter den „anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung“ folgt17. Erst wenn er sich über den „erkennbaren Willen des Gesetzgebers“ hinwegsetzt, liegt darin ein unzulässiger Übergriff in dessen Kompetenzen18. Davon wiederum abzuschichten ist der Aspekt einer zutreffenden Rollenverteilung zwischen BVerfG und Fachgerichtsbarkeit, was den Nachvollzug und die verfassungsgerichtliche Kontrolle einer fachgerichtlichen Norminterpretation angeht. Weil die Auslegung des einfachen Rechts einschließlich der Methodenwahl Sache der Fachgerichte ist, genügt eine einfache „Fehlerhaftigkeit“ nicht, sondern nur der grobe Verstoß, das grobe Verkennen des gesetzgeberischen Regelungswillens, eine methodisch nicht vertretbare Gesetzesauslegung oder Rechtsfortbildung führt zu einer Beanstandung durch das BVerfG19. Die Gesetzesbindung lässt also erhebliche Spielräume bei der Gesetzeskonkretisierung. Das gilt zumal, als nicht nur die Determinationskraft der Normen, sondern auch die Determinationskraft der anerkannten Kanones der Auslegung begrenzt ist. Zwar mag aus Gründen einer methodischen Disziplinierung der Gedanke der „einzig richtigen Entscheidung“ eine notwendige Fiktion zur Aktualisierung der Gesetzesbindung sein20. Tatsächlich erweisen sich aber nicht selten verschiedene Normkonkretisierungen als methodisch gleichermaßen vertretbar21. In dieser Perspektive wandeln sich die Auslegungskriterien zu Argumenten mehr oder minder größerer Überzeugungskraft, die in den Prozess eines auf die Ermittlung des gesetzgeberischen Willens bezogenen intersubjektiven „Verhandelns“ von den einzelnen Akteuren eingespeist werden können22. Der – in Spruchkörpern mehrheitlich zu treffenden – Entscheidung haftet insofern stets ein auch voluntatives Element an23. Diese Sichtweise betont das Prozesshafte des Rechtsfindungs- und Rechtsgewinnungsprozesses. Das Ziel ist die Ermittlung, Konkretisierung und ggf. Fortschreibung des Norminhalts. Ihre Legitimität schöpft die Entscheidung aus dem Gesetz, aber eben 17 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 (209 f.). 18 BVerfG v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07 u.a., BVerfGE 132, 99 (127 f.). 19 BVerfG v. 25.1.2011  – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 (209). Ausdrücklich gegen die Rücknahme auf eine bloße Vertretbarkeitskontrolle aber das Sondervotum Voßkuhle/Oster­ loh/Di Fabio zu BVerfG v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248 (284 ff.). 20 In diesem Sinn etwa Ehlers in ders./Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 2 Rz. 8: Auch wenn das Recht mehrdeutig sei oder Gestaltungsspielräume eröffne, müsse sich die Rechtsanwendung an der „regulativen Idee der richtigen (oder richtigeren) Entscheidung“ orientieren. 21 So auch der Befund bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6.  Aufl. 1991, S. 343 ff. (346). Sehr pointiert Hassemer, ZRP 2007, 213 (215 ff.): Da die verschiedenen Auslegungslehren nicht über ein klares Regelwerk ihrer Anwendung verfügten, gelte faktisch die „Freiheit der Methodenwahl“, so dass der Richter mit der Methode zugleich das Ergebnis seiner Auslegung „wähle“. Wer sein Fach beherrsche, könne „dies voraussehen und strategisch einsetzen“. 22 Von den Auslegungskriterien als „Begründungs- und Überzeugungsargumenten“ spricht Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 253 ff., 256 (Oktober 2011). 23 In diesem Sinn auch BVerfG v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (287), wenn dort von einem „Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen“, die Rede ist.

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auch aus den spezifischen Legitimationsressourcen24, die das Verfahren der Entscheidungsfindung, zumal wenn es um die Interpretation und Rechtsfortbildung durch die obersten Bundesgerichte geht, bereitstellt. Die Rolle, die die Rechtsprechung bei einer methodenrealistischen Perspektive auf die Gesetzesbindung als eigenständiger Faktor im Prozess der Rechtserzeugung einnimmt, ist dabei auch verfassungsrechtlich abgesichert, zieht man in Betracht, dass der Gewaltenteilungsgrundsatz nicht lediglich auf eine Gewaltenhemmung, sondern auch darauf zielt, dass staatliche Entscheidungen möglichst „funktionsrichtig“ getroffen werden25. Es ist also nicht bloß notwendige Konsequenz einer begrenzten Programmierungswirkung, die die Gesetze in Bezug auf das Handeln der anderen Teilgewalten haben, sondern es gehört positiv zu den Aufgaben von Rechtsprechung, das Recht unter Rückgriff auf die spezifischen Rechtsbildungs- und Entscheidungsressourcen der dritten Gewalt zu konkretisieren und ggf. fortzubilden. Darin liegt eine spezifische Funktion von Rechtsprechung im Gefüge der Teilgewalten, die grundgesetzlich gewissermaßen mitgedacht ist. Entscheidend bleibt stets der methodisch abgesicherte Rückbezug auf den gesetzlichen Entscheidungsrahmen, innerhalb dessen grundsätzlich auch Rechtsfortbildung mit der Gesetzesbindung vereinbar ist, solange sie sich auf den gesetzgeberischen Regelungswillen zurückführen lässt, dessen Verwirklichung sowohl Ausgangs- als auch Endpunkt judikativen Entscheidens bleibt.

III. Steuerrechtsspezifische Herausforderungen an die Gesetzesbindung Einerseits ist die Gesetzesbindung damit das verfassungsrechtlich nicht verhandelbare Fundament von Rechtsprechung, andererseits darf aber ihre Determinationskraft angesichts der Pluralität der Methoden und der verfassungsrechtlich gleichfalls positiv anerkannten Kompetenz der Rechtsprechung zur Rechtsfortbildung nicht überschätzt werden. Der Rahmen richterlichen Entscheidens, der durch die Gesetze gezogen wird, ist kein von vornherein starrer, sondern ein mehr oder minder flexibler. Richterliches Entscheiden bewegt sich zwischen den Polen Bindung und Gestaltung. Der Gebundene entscheidet innerhalb methodischer Parameter über die Reichweite der Bindung. Verbreitet ist allerdings die Annahme, dass speziell im Bereich des Steuerrechts eine besonders strenge Form der Gesetzesbindung gelte26, eine The24 Zu diesen s. z.B. Hoffmann-Riem in ders./Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 81; Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 104 ff. 25 Vgl. BVerfG v. 14.7.1998 – 1 BvR 1640/97, BVerfGE 98, 218 (251 f.). 26 Diese Annahme wird insbesondere für eine Unzulässigkeit der Rechtsfortbildung zulasten des Steuerpflichtigen im Bereich des Steuerrechts ins Feld geführt, vgl. Flume, StbJb 1967/68, 63 ff.; Kruse in DStJG 5 (1982), S. 71 ff.; Knobbe-Keuk in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 303 ff.; zuletzt Schön in DStJG 33 (2010), S. 29 (31 ff.), der sich ebenfalls für ein „strenges Verständnis des Legalitätsprinzips im Steuerrecht“ ausspricht (S. 36) und folgerichtig insbesondere Analogien zulasten des Steuerpflichtigen für unzulässig hält (S. 54 f.). Vgl. auch den Überblick bei Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 237 ff.,

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se, die in der klassischen Aussage vom Steuerrecht, das „aus dem Diktum des Gesetzgebers“ lebe27, in zugespitzter Form verdichtet ist. Ihre Begründung findet diese ­Annahme in zwei sich überlagernden Gesichtspunkten, nämlich zum einen dem Umstand, dass Steuerrecht klassisches Eingriffsrecht ist, die Besteuerung also dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt, und zum anderen der Erkenntnis, dass der Fiskalzweck von Besteuerung keine das Steuerrecht als Rechtsgebiet aus sich heraus vorstrukturierende Wirkkraft entfalten kann, weil es keinen a priori besteuerungswürdigen Sachverhalt gibt28. Bedeutet dies, dass wir es speziell auf dem Feld des Steuerrechts mit einer gesteigerten Form von Gesetzesprogrammiertheit zu tun haben? 1. Abgestufte Determinationskraft steuerrechtlicher Normen a) Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Steuerrecht Erstadressat eines solchen Postulates wäre der Gesetzgeber selbst. Ihn könnten besondere Anforderungen an die Bestimmtheit steuerrechtlicher Tatbestände treffen, denn je höher die Programmierungsleistung des Tatbestandes ist, desto eher wäre das Postulat einer besonderen Gesetzesdeterminiertheit des Steuerzugriffs einzu­ lösen. Die Annahme, steuerrechtliche Tatbestände müssten so bestimmt sein, dass der Steuerpflichtige in der Lage sein müsse, seine Steuerschuld vorauszuberechnen29, ist indes als realitätsfremd zurückzuweisen30. Juristische Tatbestände sind notwen­ digerweise komplex31. Das ist keine Besonderheit des Steuerrechts, auch wenn dessen Komplexität und bisweilen im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten erschwerte Überschaubarkeit häufiger besonders hervorgehoben wird. Es liegt deshalb in der Natur der Sache, dass der Aussagegehalt steuerrechtlicher Normen für den konkreten Fall durch einen Laien nicht ohne weiteres ermittelbar ist. Davon abzuschichten ist die Forderung nach der Normierung möglichst einfacher, unausweichlicher Belastungsgründe. Darin liegt eine sinnvolle Forderung, die zur Steuergerechtigkeit ­beitragen kann32. Das Ziel eines insgesamt unkomplexen, einfachen Steuerrechts muss jedoch gleichwohl eine Utopie bleiben, nicht zuletzt weil vielfältige externe der den „steuerrechtspositivistischen Ansatz“ und den „teleologischen“ bzw. „axiologischen Ansatz“ als methodische Grundströmungen innerhalb der Steuerrechtswissenschaft identifiziert. 27 BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 232/60, BVerfGE 13, 318 (328), mit Bezug auf Bühler/Stickrodt, Steuerrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 1960, S. 658. 28 Für beide Begründungslinien s. etwa Schön in DStJG 33 (2010), S. 29 (33 f.). 29 So noch BVerfG v. 10.10.1961 – 2 BvL 1/59, BVerfGE 13, 153 (160); v. 14.12.1965 – 1 BvR 571/60, BVerfGE 19, 253 (267). 30 Vgl. Jehke, Bestimmtheit und Klarheit im Steuerrecht, 2005, S. 131 ff., der mit Recht von einer „rechtsstaatlichen Utopie“ spricht. 31 Näher zu Begriff und Faktoren normativer Komplexität Towfigh in Der Staat 48 (2009), S. 29 (31 ff.), der das Steuerrecht in diesem Zusammenhang als „prominentestes Beispiel“ für komplexes Recht kennzeichnet. 32 Als Argument für die Zulässigkeit tatbestandlicher Typisierung herangezogen etwa in BVerfG v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297 (309 f.). S. auch P. Kirchhof in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rz. 100.

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Faktoren auf den Rechtssetzungsprozess einwirken und eine Erhöhung der Komplexität bewirken. So muss der Gesetzgeber ggf. Sonderregeln treffen, die auf bestimmte steuerinduzierte Gestaltungen reagieren, verfassungsrechtlichen Vorgaben Rechnung tragen und unionsrechtliche Einwirkungen berücksichtigen. Zudem müssen steuerrechtliche Normen hinreichende Auslegungsspielräume bieten, damit der wirtschaftliche Gehalt des zu beurteilenden Sachverhalts zutreffend normativ verarbeitet werden kann. All dies führt notwendigerweise zu einer Erhöhung der Komplexität steuerrechtlicher Normen und macht die Verwendung mehr oder weniger unbestimmter Rechtsbegriffe erforderlich. Es läge deshalb fern der Realität und entspricht auch nicht dem vom Grundgesetz vorgedachten Funktionengefüge der Staatsgewalten, eine besondere Einfachheit oder Rechtsklarheit steuerrechtlicher Normen zu fordern. Bestimmtheit und Klarheit sind im Rahmen des Möglichen zu gewährleisten, offene Tatbestände aber ebenso zulässig wie in anderen Rechtsgebieten auch33. Im Bereich des Steuerrechts findet sich eine Vielzahl offener und ausfüllungsbedürftiger Begriffe, und zwar nicht nur in Randbereichen, sondern auch und gerade in sehr grundlegenden Normen. Sie sollen einen steuerrechtlichen Leitgedanken sprachlich bündeln („auf den Begriff bringen“) und müssen deshalb zwangsläufig abstrakt bleiben. Die Konkretisierung und kasuistische Exemplifizierung ist nicht Sache des Gesetzgebers. Sie muss von der Rechtsprechung geleistet werden. Darin liegt kein rechtsstaatliches Defizit, sondern eine funktionengerechte Delegation von Normsetzungsaufgaben. Der Gesetzgeber ist dabei als Akteur nicht verdrängt. Er steht im Hintergrund und kann durch neue Normgebung seine Position als höchste Normsetzungsinstanz zur Geltung bringen. Wenn es z.B. für den Abzug von Aufwendungen als Betriebsausgaben oder Werbungskosten darauf ankommt, dass die Aufwendung durch eine steuerbare Erwerbstätigkeit „veranlasst“ ist (vgl. §  4 Abs.  4, §  9 Abs.  1 Satz  1 EStG), dann ist damit das Fundamentalkriterium für die Zuordnung einer Aufwendung zum Bereich der Erwerbssphäre bezeichnet. Dass es insofern auf den Gesichtspunkt der Zurechnung, also eine wertende Zuordnung ankommt, liegt auf der Hand und bedarf der weiteren Konkretisierung durch die Rechtsprechung, die hier über weitreichende Spielräume verfügt. Etwa war die Annahme, dass auch Berufsausbildungskosten unter bestimmten Voraussetzungen Werbungskosten sein können34, rechtsmethodisch sicher gut vertretbar. Sie hat den Gesetzgeber indes dazu veranlasst, seinerseits zu intervenieren und eine eigene Regelung zu treffen, die den allgemeinen Gehalt des Veranlassungsbegriffs für diesen Sonderbereich weiter konturiert und diese Rechtsprechung konterkariert35. Das ist in den Grenzen des Willkürverbots nicht zu beanstanden. Hier im Lichte des Gleichheitssatzes von einer wei33 Ebenso die Analyse bei Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, 1992, S. 109 ff., 166 ff. Auch das BVerfG spricht in seiner neueren Judikatur davon, dass das Gesetz nur so „bestimmt wie möglich“ sein müsse, vgl. z.B. BVerfG v. 7.5.2001 – 2 BvK 1/00, BVerfGE 103, 332 (384) m.w.N. 34 So die Rechtsprechungswende durch BFH v. 4.12.2002 – VI R 120/01, BStBl. II 2003, 403 (405 ff.). 35 § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG, eingefügt durch Art. 2 Nr. 3 u. 4 des Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592 (2600).

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tergehenden Bindung des Gesetzgebers an höchstrichterliche Prämissen auszugehen, hieße einer Vertauschung der Rollen von Gesetzgeber und Rechtsprechung das Wort zu reden36. Ein weiteres Beispiel für einen hochgradig unbestimmten Fundamentalbegriff bildet der Begriff der „verdeckten Gewinnausschüttung“ (§ 8 Abs. 3 Satz 2 KStG). Auch hier hat der Gesetzgeber auf eine nähere Aufschlüsselung verzichtet und die Präzisierung der Rechtsprechung überantwortet, die wiederum den Leitgedanken der Veranlassung des gewinnmindernden Vorgangs durch das Gesellschaftsverhältnis explizit gemacht und weiter präzisiert hat37. Dieses Beispiel zeigt ebenfalls, dass ein arbeitsteiliges, gestuftes Vorgehen im Prozess der Rechtserzeugung vom Gesetzgeber häufig intendiert ist und die Vorstellung, das Gesetz determiniere das richterliche Entscheiden, zwar richtig ist, aber nicht im Sinne einer vollständigen Gesetzesprogrammiertheit missverstanden werden darf. b) Die Finanzverwaltung als Erstinterpretin unbestimmter Rechtsbegriffe Dabei stellt es eine markante Eigenheit speziell der Rechtserzeugung im Bereich des öffentlichen Rechts dar, dass mit der Verwaltung, im Fall des Steuerrechts also der Finanzverwaltung, stets auch eine andere kompetente (Erst-)Interpretin der Rechtsnormen auf den Plan tritt38. Deren Auslegungen steuerrechtlicher Normen z.B. in Gestalt von Richtlinien sind indes für die Finanzrechtsprechung nicht verbindlich39. Gebunden ist der BFH nur an das Gesetz, dessen Gehalte er auch gegenüber der Finanzverwaltung nötigenfalls im Wege autoritativer Rechtskonkretisierung und ­ Rechtsfortbildung zur Geltung zu bringen hat. Soweit in anderen Teilrechtsgebieten des öffentlichen Rechts – wenn auch in nur sehr beschränktem Maß – exekutivische Entscheidungsspielräume bei der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe anerkannt werden40, ist hierfür im Bereich des Steuerrechts regelmäßig kein Raum41. Der maßgeblich hinter den betreffenden Fallgruppen stehende Gesichtspunkt, nämlich dass in dem betreffenden Sachbereich aufgrund besonderer Umstände von einer 36 Das letzte richterliche Wort wird in dieser Frage freilich das BVerfG haben, vgl. den Vorlagebeschluss des BFH v. 17.7.2014 – VI R 2/12, BFHE 247, 25 ff. (Az. BVerfG 2 BvL 23/14). 37 Grundlegend (wenn auch in Anknüpfung an die frühere Rspr.) BFH v. 22.2.1989  – I R 44/85, BStBl. II 1989, 475 (476). Zur hinreichenden Bestimmtheit des Gesetzesbegriffs s. BVerfG (Kammer) v. 26.6.2008 – 2 BvR 2067/07, NJW 2008, 3346 (3347). 38 Zu dieser Beobachtung aus verwaltungsrechtlicher Sicht etwa Möllers in Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 3 Rz. 24, und aus steuerrechtlicher Sicht P. Kirchhof in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 285 (301 f.). 39 BVerfG v. 31.5.1988 – 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214 (227); BFH v. 5.9.2013 – XI R 7/12, BStBl. II 2014, 37 Rz. 20. Das gilt richtigerweise auch für Verwaltungsvorschriften, die auf Typisierung oder Pauschalierung zielen, vgl. BFH v. 14.4.2011 – IV R 46/09, BStBl. II 2011, 696 Rz. 32; Wernsmann, DStR 2011, Beihefter zu Heft 31, 72 (74 f.); Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 87 ff. (Oktober 2011). 40 Vgl. hierzu etwa Jestaedt in Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 11 Rz. 45 ff. 41 Eingehend zum Problem Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004, S. 408 ff.

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überlegenen Entscheidungskompetenz der Exekutive auszugehen ist42, greift in Bezug auf steuerrechtliche Normen i.d.R. nicht43. Dies zeigt sich etwa am Beispiel des Begriffs der „Unbilligkeit“ (der Steuererhebung), die zu einer abweichenden Festsetzung der Steuer bzw. zum Erlass der festgesetzten Steuer führt (§§  163, 227 AO). Darin liegt ein hochgradig abstrakter, allgemeiner Vorbehalt, der zwangsläufig in Konflikt mit dem gleichheitsgrundrechtlichen Gebot einer gleichmäßigen Verwirklichung der Steuertatbestände tritt, vom Gesetzgeber aber kaum präziser gefasst werden kann. Es bleibt der Rechtsprechung überantwortet, das schwierige Spannungsfeld von Besteuerungsgleichmaß einerseits und Billigkeitsvorbehalt andererseits im einzelnen Fall auszuloten. Ein Einschätzungsspielraum der Finanzverwaltung ist insofern nicht anzuerkennen, denn es ist nicht ersichtlich, dass diese in Bezug auf diese normative Frage über Entscheidungsressourcen verfügt, die denjenigen der Rechtsprechung überlegen wären. Es handelt sich deshalb um einen zwar unbestimmten, gleichwohl aber voll nachprüfbaren Rechtsbegriff44, dessen Konkretisierung insbesondere der höchstrichterlichen Rechtsprechung überantwortet ist. c) Die Bedeutung leitbildorientierten Denkens in der Rechtsanwendung Eine besondere Form der Flexibilisierung stellt das Denken in Typen dar, das gerade im Steuerrecht eine nicht unbeträchtliche Bedeutung entfaltet hat. Die Annahme, es bedürfe einer wertenden Gesamtbetrachtung des Sachverhalts anhand einzelner Kriterien, die für die Zuordnungsentscheidung zwar vorhanden sein könnten, aber nicht notwendig müssten45, prägt insbesondere die Abgrenzung der Einkunftsarten des EStG. Ob es sich beim „Typus“ um eine rechtstheoretisch anzuerkennende Kategorie handelt46 und inwieweit einzelne Rechtsbegriffe des EStG als Typusbegriffe in diesem Sinn einzuordnen sind, sei an dieser Stelle dahingestellt. Entscheidend ist weniger die Zuordnung zu einer solchen rechtstheoretischen Kategorie als vielmehr der Befund, dass die betreffenden Begriffe so verstanden werden, dass sie eine wertende Gesamtbetrachtung des Sachverhalts verlangen, um dessen wirtschaftlichen Gehalt sachgerecht erfassen zu können. Auch hier zeigt sich, dass die Rechtsbegriffe des Steuerrechts mitunter weitgehende Interpretationsspielräume lassen. 42 Zu diesem zentralen Gesichtspunkt Poscher in FS Wahl, 2011, S. 527 (538 ff.). 43 Differenzierend Wernsmann, DStR 2011, Beihefter zu Heft 31, 72 (75): Beurteilungsspielräume der Verwaltung seien anzuerkennen und es sei deshalb von einer verbindlichen Normkonkretisierung durch Verwaltungsvorschriften auszugehen, soweit die Rspr. bei der Sachverhaltsermittlung an ihre Funktionsgrenzen stoße. 44 BFH (GrS) v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393 Rz. 98 ff. 45 Näher zu diesem Verständnis des „Typus“ als rechtstheoretischer Denkfigur Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971, S.  34; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6.  Aufl. 1991, S. 218 ff. 46 Ablehnend etwa Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, Rz. 932, und aus steuerrechtlicher Sicht Weber-Grellet in FS Beisse, 1997, S.  551 (568); Mössner in FS Kruse, 2001, S. 161 ff. Gegen eine scharfe Unterscheidung von Klassen- und Typusbegriff auch Drüen, StuW 1997, 261 (264 ff.): „nur gradueller Unterschied“.

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Das Denken in Leitbildern prägt z.B. die Interpretation des Begriffs des Gewerbebetriebs i.S.d. § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG47. Ob sich der Steuerpflichtige am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr beteiligt, bemisst sich nicht starr danach, ob er (zumindest potentiell) mit einer unbestimmten Vielzahl von Personen in Interaktion tritt, sondern – markteinkommenstheoretisch – danach, ob er sich marktmäßige Mechanismen für die Erzielung von Einkünften zunutze macht. Die Tätigkeit muss „ihrer Art und ihrem Umfang nach dem Bild einer unternehmerischen Marktteilnahme entsprechen“48. Im Hintergrund steht hierbei der Gedanke, dass es letztlich darauf ­ankommt, ob das Handeln des Steuerpflichtigen in der Gesamtschau dem Typus gewerblichen („unternehmerischen“) Handelns zugeordnet werden kann. Dieser ­ Leitgedanke prägt und beeinflusst wiederum die Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG49. Dasselbe gilt für die Abgrenzung von gewerblichem Handeln und privater Vermögensverwaltung. Auch hier kommt es darauf an, ob das Handeln des Steuerpflichtigen dem Leitbild der gewerblichen Vermögensverwaltung oder dem Leitbild unternehmerischen Handelns zugeordnet werden kann, die freilich je nach Art der in Rede stehenden Vermögensgegenstände eine differenzierende Ausformung in der Judikatur erfahren haben50. Ein weiteres Beispiel für das leitbildorientierte Denken bildet der Begriff des Mitunternehmers i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 EStG. Mitunternehmer ist nur, wer in der Gesamtschau in hinreichendem Maß Mitunternehmerinitiative entfalten kann und das Mitunternehmerrisiko trägt51. Darin kann man ebenfalls eine typologische Explikation sehen52, weil der Begriff so verstanden wird, dass es auf eine wertende Gesamtschau anhand bestimmter Einzelkriterien – Mitunternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative – ankommt, die ihrerseits durch weitere Kriterien aufgeschlüsselt werden. Auch für die Zuordnung zur selbständigen, insbesondere freiberuflichen Tätigkeit ist maßgeblich, ob die Tätigkeit diesem Typus entspricht, weil sie von einer besonderen Qualifikation des Steuerpflichtigen getragen ist, die diese Tätigkeit prägt53. Die Erkenntnis, dass der Typus freiberuflicher Tätigkeit durch dieses Merkmal gekennzeichnet ist, wirkt auf die Interpretation der Rechtsbegriffe des § 18 Abs. 1 47 Für die Einordnung als Typusbegriff Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz.  415. A.A. aber etwa Mössner in FS Kruse, 2001, S.  161 (172  ff.); Desens/Blischke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 15 EStG Rz. B 3 (Juli 2016). 48 BFH v. 15.12.1999 – I R 16/99, BStBl. II 2000, 404 (405). 49 Vgl. BFH v. 15.12.1999 – I R 16/99, BStBl. II 2000, 404 (405); v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291 (292). 50 Für Grundbesitz gilt die klassische Explikation des gewerblichen Handelns als eines solchen Handelns, bei dem nicht die „Fruchtziehung aus zu erhaltenden Substanzwerten“, sondern die „Ausnutzung substantieller Vermögenswerte durch Umschichtung“ im Vordergrund steht, vgl. BFH (GrS) v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291 (292). Zum Wertpapierhandel s. dagegen BFH v. 30.7.2003 – X R 7/99, BStBl. II 2004, 408 (410 ff.). 51 BFH v. 25.6.1984  – GrS 4/82, BStBl.  II 1984, 751 (769  f.); v. 10.10.2012  – VIII R 42/10, BStBl. II 2013, 79 Rz. 21. 52 Für die Einordnung als Typusbegriff etwa BFH v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. II 2013, 79 Rz. 21; Desens/Blischke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 15 EStG Rz. C 32 (Juli 2016). 53 Vgl. z.B. BFH v. 24.2.2000 – IV R 6/99, BStBl. II 2000, 297 (297 f.); v. 31.5.2001 – IV R 49/00, BStBl. II 2001, 828 (829).

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Nr. 1 Satz 2 EStG zurück und leitet insbesondere die Auslegung des generalklauselartigen Begriffs des „ähnlichen Berufs“ an54. Nur vor dem Hintergrund des Leitbildes freiberuflicher Tätigkeit kann auch die Rechtsprechung zum berufsfremden Gesellschafter verstanden werden, der bereits als solcher die Zuordnung der Tätigkeit der Gesellschaft zu § 18 EStG verhindern und diese vielmehr als gewerblich erscheinen lassen soll55. Mit der Identifizierung und Konkretisierung derartiger normativer Leitbilder macht die Rechtsprechung die hinter der jeweiligen Norm stehende Wertung explizit und für den Prozess der Auslegung fruchtbar. Die Annahme, es komme für die Zuordnung zu einem Rechtsbegriff auf eine wertende Gesamtschau an, bewegt sich dabei im Rahmen der Gesetzesbindung. Sie trägt dem leitenden Gesichtspunkt einer zutreffenden Erfassung des wirtschaftlichen Gehaltes eines Sachverhaltes in besonderem Maß Rechnung. Davon scharf abzugrenzen ist die sog. typisierende Betrachtungsweise, also die Annahme, dass bestimmte Sachverhaltskonfigurationen regelmäßig in einem bestimmten normativen Sinn zu würdigen seien. Ein Beispiel bildet die sog. Drei-Objekte-Rechtsprechung zur Abgrenzung von privater Vermögensverwaltung und gewerblicher Betätigung. Danach soll grundsätzlich davon auszugehen sein, dass für den Steuerpflichtigen die – als gewerblich zu charakterisierende – Erzielung von Ertrag durch Substanzverwertung im Vordergrund steht, wenn der Sachverhalt durch eine bestimmte Häufigkeit von Veräußerungsvorgängen innerhalb eines bestimmten Zeitraums (fünf Jahre) gekennzeichnet ist. Dann liege, so die Annahme, typischerweise, d.h. wenn nicht aufgrund besonderer Anhaltspunkte anderes anzunehmen ist, gewerbliches Handeln vor56. Auch in anderen, im Detail durchaus vielgestaltigen Konstellationen57 bedient sich die Rechtsprechung derartiger regelhafter Zuordnungen, die die Subsumtion des Sachverhalts unter die Norm in einem bestimmten Sinne vorentscheiden. Klassisches Anwendungsfeld ist etwa die Zuordnung eines bestimmten Aufwandes zur Erwerbs- bzw. Privatsphäre. Zwar geht die Judikatur mittlerweile bei gemischten Aufwendungen von der Notwendigkeit einer Aufteilung aus, sofern hierfür greifbare Kriterien gegeben sind58. Das ändert allerdings nichts daran, dass ausschließlich private Aufwendungen nicht abzugsfähig sind. Die Zuordnung eines Aufwandes zur Privatsphäre beruht dabei auf einer typisierenden Betrachtungsweise, wenn sie von der Erwägung getragen ist, dass es sich in einer bestimmten Konstellation bereits aufgrund ihrer Art unabhängig von weiteren Einzelheiten im Regelfall um privaten Aufwand handelt. Etwa nimmt der BFH für Geburtstagsfeiern an, dass diese grundsätzlich als privat veranlasst anzusehen sind, 54 Vgl. etwa BFH v. 13.2.2003 – IV R 49/01, BStBl. II 2003, 721 (721). 55 Z.B. BFH v. 10.10.2012 – VIII R 42/10, BStBl. II 2013, 79 Rz. 13. Zur Kritik s. etwa Desens/ Blischke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 15 EStG Rz. C 88 f. (Juli 2016). 56 BFH v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291 (292 f., 294). 57 Näher Strahl, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, 1996, S.  36  ff.; Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004, S. 257 ff., 270 f. S. auch Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 131 ff.; Weber-Grellet in FS Beisse, 1997, S. 551 (562 ff.). 58 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 92 ff.

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was auch dann der Fall sein soll, wenn ausschließlich Geschäftspartner und/oder Arbeitskollegen eingeladen werden. Etwas anderes soll nur gelten, wenn sonstige besondere Umstände, die in der Art und Weise der Ausrichtung und den Rahmenbedingungen der Feier begründet sein können, dies nahelegen59. Auch hier wird also eine Verknüpfung zwischen Sachverhalt und normativer Bewertung hergestellt, indem das Typische derartiger Sachverhalte generalisierend hervorgehoben und zum Anknüpfungspunkt einer regelhaften normativen Zuordnung gemacht wird. Die rechtsdogmatische Einordnung derartiger Regeln einer normativen Bewertung ist mitunter nicht ganz zweifelsfrei60. Konkret stellt sich die Frage, ob sie noch dem Norm- oder schon dem Bereich der Sachverhaltswürdigung zuzuordnen sind. Es geht darum, dass eine abstrakte – ggf. erst durch einen vorherigen Auslegungs- und Konkretisierungsschritt gewonnene – gesetzliche Wertung mit einem oder mehreren Sachverhaltselementen, die als Repräsentanten der normativen Wertung angesehen werden, identifiziert wird. Dem liegt eine Sachverhaltsbewertung am Maßstab der Norm, also ein Vorgang der Subsumtion zugrunde, woran sich auch dadurch nichts ändert, dass in diesem Zusammenhang eine auf den Subsumtionsvorgang bezogene Regel formuliert und zur Anwendung gebracht wird. Es handelt sich deshalb um Regeln, die die Ebene der Sachverhaltswürdigung betreffen61, genauer: um Sachverhaltskategorisierungen, die die Subsumtion unter ein abstraktes Merkmal durch eine Reduktion und Konzentration des Sachverhalts auf einzelne Aspekte besser handhabbar machen sollen. Derartige Regelbildungen können mit der Gesetzesbindung in Konflikt geraten, wenn sie in einem starren Sinn gehandhabt werden. Es stellt sich dann die Frage, ob nicht die gesetzliche Wertung lediglich verkürzt zur Geltung gebracht wird62. Angesprochen ist damit die Gesetzesbindung nicht als Abweichungsverbot, sondern in ihrer Ausprägung als Anwendungsgebot63. „Normative Differenzierungspotentiale“64 werden, so die Überlegung, nicht ausgeschöpft, wenn bestimmte Sachverhaltselemente unberücksichtigt bleiben, sich die Zuordnung vielmehr nur auf einzelne Elemente stützt, die als typisch und deshalb bestimmend für die Zuordnung identifiziert werden. Die Rechtsprechung reagiert hierauf vielfach mit einer Flexibilisierung, indem sie nur von einer regelhaften Zuordnung ausgeht, abweichende Zuordnungen aber bei Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalls nicht ausschließt65. Zwin59 Vgl. BFH v. 10.11.2016 – VI R 7/16, BStBl. II 2017, 409 Rz. 17 ff. 60 Vgl. z.B. die differenzierende Stellungnahme zur Einordnung der Drei-Objekte-Judikatur bei Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004, S. 267. 61 So auch Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 385 (Oktober 2011). 62 Vgl. Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 393 (Oktober 2011); dens., StuW 1997, 261 (271 f.); Wernsmann, DStR 2011, Beihefter zu Heft 31, 72 (73). 63 Zu diesen beiden Aspekten von Gesetzesbindung s. Ossenbühl in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 101 Rz. 4 ff. 64 Zum Begriff s. Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 182. 65 Für die Drei-Objekte-Judikatur BFH v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291 (294). Für das Beispiel der Geburtstagsfeier BFH v. 10.11.2016 – VI R 7/16, BStBl. II 2017, 409 Rz. 18 f. S. etwa auch BFH v. 20.5.2010 – VI R 53/09, BStBl. II 2011, 723 Rz. 10 ff., für die

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gend ist eine Einbeziehung „sämtlicher Umstände“ aber nicht in jedem Fall, denn die Bewertung eines Sachverhalts ist eine normative Frage, die notwendigerweise den Rekurs auf einzelne Merkmale erfordert, die nach dem Inhalt der Entscheidungsnorm maßgeblich sind. Das impliziert zugleich, dass alle anderen Merkmale als für die Zuordnungsfrage unbeachtlich ausgeschieden werden können. Die Frage, ob und inwieweit regelhafte Zuordnungen bestimmter Sachverhalte unter Außerachtlassung sonstiger Sachverhaltselemente zulässig sind, ist deshalb eine Frage der Auslegung der einzelnen Norm66. Im Sinne der Gleichmäßigkeit und Vorhersehbarkeit der ­Gesetzesanwendung kann es sich dabei sogar um eine wünschenswerte Form der Rechtskonkretisierung handeln67, die von der Interpretation der Rechtsbegriffe als Typusbegriffe methodisch allerdings nicht nur klar zu unterscheiden, sondern ihr in der Zuspitzung auf einzelne Sachverhaltselemente geradezu entgegengesetzt ist. 2. Methodenspezifische Ausprägungen der Gesetzesbindung im Steuerrecht Die Gesetzesbindung wird durch die methodengerechte Anwendung und Konkretisierung des Gesetzes verwirklicht, die indes, wie gesehen, verfassungsrechtlich zwar konturiert, nicht aber im Sinne eines starren Schemas präjudiziert ist. Zu den Kriterien, die üblicherweise für die Auslegung herangezogen werden können, gehören der Wortlaut, die Gesetzessystematik, die Entstehungsgeschichte und der Sinn und Zweck der Norm68. Wie diese Kriterien, soweit sie sich im einzelnen Fall als ergiebig erweisen, zu gewichten sind, ist nicht vorgegeben und lässt sich auch der Gesetzesbindung nicht entnehmen. Eine hervorgehobene Bedeutung im Prozess der Auslegung kommt dem Wortlaut zu, und zwar nicht in Bezug auf das Ergebnis der Auslegung, wohl aber in Bezug auf die Strukturierung des Auslegungsprozesses: Die möglichen Sinngehalte des Begriffs markieren das Spektrum der möglichen Auslegungsergebnisse und scheiden damit zugleich, zumindest nach traditionellem methodischen Verständnis, die Auslegung von der Rechtsfortbildung69. Letztere erscheint in der Rechtsprechung des BFH mitunter als „Auslegung gegen den Wortlaut“70, womit entgegen dieser Kennzeichnung Notwendigkeit einer „Gesamtwürdigung“ der Umstände des Einzelfalls, wenn es um die Frage geht, inwieweit Bücher und Zeitschriften als Arbeitsmittel eines Lehrers qualifiziert werden können. 66 Für diese Perspektive etwa Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004, S.  247  ff., 267. Auch Weber-Grellet in FS Beisse, 1997, S. 551 (567), sowie Wernsmann, DStR 2011, Beihefter zu Heft 31, 72 (73): „Rechtmäßig kann die Typisierung durch den Rechtsanwender nur sein, wenn man sie als Frage der Norminterpretation einordnet“. 67 Diesen Aspekt hebt auch Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, 1992, S. 322 ff., hervor. 68 Näher Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6.  Aufl. 1991, S.  320  ff., und aus steuerrechtlicher Sicht Jochum in FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, § 149 Rz. 6 ff. Für die Rspr. des BFH s. etwa BFH v. 25.11.2010 – III R 111/07, BStBl. II 2011, 281 Rz. 23. 69 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 322, 366; Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 691 (Februar 2015). 70 Vgl. z.B. BFH v. 25.11.2010 – III R 111/07, BStBl. II 2011, 281 Rz. 23.

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aber nicht ein Vorgang der Auslegung, sondern ein Vorgang der Rechtsfortbildung bezeichnet ist. Der zutreffende Kern dieser Zuordnung ist darin zu sehen, dass Auslegung und Rechtsfortbildung nicht wesensverschieden, sondern nur „verschiedene Stufen desselben gedanklichen Verfahrens“ sind71. Zumindest nach herkömmlichem methodischen Verständnis ist eine „Auslegung“ „gegen den Wortlaut“ aber ein Widerspruch in sich und sollte deshalb richtigerweise als Rechtsfortbildung ausgewiesen werden72. Es lässt sich leicht nachweisen, dass sich der BFH sämtlicher der genannten Auslegungsmethoden, soweit sie im einzelnen Fall ergiebig sind, bedient. Beispielsweise sei auf die Interpretation des Begriffs des „häuslichen Arbeitszimmers“ (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG) verwiesen, die der Große Senat sowohl auf den Wortlaut als auch auf entstehungsgeschichtliche Argumente und den Sinn und Zweck der Norm stützt73. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine von gesetzessystematischen Erwägungen getragene Rechtsfortbildung bildet etwa die Abgrenzung des Anwendungsbereichs der gewerblichen Einkünfte von der privaten Vermögensverwaltung, die von der Erkenntnis getragen ist, dass es im Hinblick auf das abgestufte Besteuerungsregime für die Veräußerungseinkünfte im Bereich der privaten Vermögensverwaltung einer genaueren Konturierung des Übergangsbereichs zur Gewerblichkeit bedarf. Darin liegt nicht etwa eine unzulässige richterliche Normsetzung praeter legem74, sondern eine Form der systematischen, nämlich auf das Gesamtsystem des EStG abgestimmten Eingrenzung des Bereichs der Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Sie speist sich aus der Vorstellung, dass das Gesetz als Sinnganzes konzipiert ist, was eine wechselseitig abgestimmte Konturierung der einzelnen Normkomplexe im Wege der Rechtsfortbildung als vom Willen des Gesetzgebers getragen kennzeichnet75. Ein sehr wirkmächtiges, aber nicht minder für Missverständnisse anfälliges Auslegungskriterium ist der Sinn und Zweck der Norm. Dass dem Sinn und Zweck der Norm, also dem „Gewollten“, als Kriterium für die Ermittlung des Inhalts einer Norm eine besondere Bedeutung zukommt76, liegt unter den Vorzeichen einer „Wertungsjurisprudenz“77 auf der Hand. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Ge­ setzgeber im Zuge des Normsetzungsprozesses Sachverhalte bewertet, indem er die verschiedenen Interessen verhältnismäßig anhand von bestimmten, als gerecht erkannten oder zumindest normativ gewollten Normbildungsprinzipien zuordnet und die Zuordnung sodann in einen Normtext übersetzt. In dieser Perspektive ist der Normtext von einer Regelungsidee getragen, die mit ihm zur Rechtsgeltung gebracht werden soll. Besteht ein solcher Zusammenhang, ist es wiederum gerechtfertigt, die 71 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 366. 72 Schenke, DStR 2011, Beihefter zu Heft 31, 54 ff. 73 BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265 Rz. 66 ff. 74 Insofern kritisch aber Desens/Blischke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 15 EStG Rz. B 58 (Juli 2016). 75 Zur Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildungen zur Auflösung von Normkonkurrenzen s. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, Rz. 770. 76 S. dazu auch Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 254 (Oktober 2011). 77 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 119 ff.

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ratio legis zum zentralen Auslegungsgesichtspunkt zu machen78. Ein Rückgriff auf dieses Auslegungskriterium ist allerdings stets nur im Rückbezug und unter vergewissernder Heranziehung der anderen Auslegungskriterien zulässig. Zum einen muss der Sinn und Zweck der Norm erst, regelmäßig unter Rückgriff auf die anderen Auslegungskriterien, z.B. Anknüpfung an Gesetzesmaterialien oder Extrapolationen aus der Rolle der Norm innerhalb eines gesamten Normgefüges, ermittelt werden. Und zum anderen muss immer berücksichtigt werden, dass der Gesetzgeber einem (vermeintlichen) Sinn und Zweck möglicherweise nur einen beschränkten norma­ tiven Ausdruck verliehen hat, darin aber auch keine zur Rechtsfortbildung be­ rechtigende Planwidrigkeit zu sehen ist. In diesem Fall mag die nur beschränkte ­Umsetzung eines hinter der Norm möglicherweise aufscheinenden größeren Grundgedankens Anlass für rechtspolitische Kritik geben, muss als gesetzgeberische Entscheidung aber respektiert werden79. Die Auslegung nach dem Sinn und Zweck der Norm begegnet gerade im Steuerrecht immer wieder Skepsis. Insbesondere die Möglichkeit einer lückenfüllenden Rechtsfortbildung durch analoge Anwendung wird, vor allem wenn es um Analogien zulasten des Steuerpflichtigen geht, in Frage gestellt80. Verfassungsrechtlich besteht dazu allerdings kein Anlass, denn lässt sich nachweisen, dass der Gesetzgeber einen Fall planwidrig nicht in den Tatbestand einbezogen hat, der nach dem erkennbaren Regelungswillen aber hätte einbezogen werden müssen, dann entspricht es seinem Willen, die Regelungslücke durch entsprechende Anwendung zu schließen. Einwände, die sich aus den (vielgestaltigen) Gehalten des Rechtsstaatsprinzips, dem Demokratieprinzip oder dem Eingriffsvorbehalt des Gesetzes speisen könnten, lassen sich dagegen nicht erheben81. Auch das Argument, dass es für eine zweckorientierte Aus78 Nach teilweise vertretener Auffassung ist der Normzweck sogar nicht lediglich ein Mittel der Auslegung, sondern seine Ermittlung und Verwirklichung als Ziel der Auslegung anzusehen, so Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, Rz. 725. 79 Zur Notwendigkeit der Unterscheidung von Regelungslücke („planwidriger Unvollständigkeit“) und bloß rechtspolitischer Kritikwürdigkeit zutreffend BFH v. 11.2.2010 – V R 38/08, BStBl. II 2010, 873 Rz. 21 ff. 80 Klassisch Flume, StbJb 1967/68, 63 (65  ff.); Kruse in DStJG 5 (1982), S.  71  ff.; Friauf in DStJG 5 (1982), S. 53 (60 ff.); Knobbe-Keuk in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 303 ff. Im neueren Schrifttum etwa Schön in DStJG 33 (2010), S. 29 (52 ff.); Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 360 ff. (Oktober 2011), allerdings mit weiterer Differenzierung ebd., Rz. 362a. A.A. aber z.B. Tipke in DStJG 5 (1982), S. 1 (3 ff.); Woerner in DStJG 5 (1982), S. 23 (35 ff.). Im neueren Schrifttum etwa Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22.  Aufl. 2015, §  5 Rz.  74  ff.; Jochum in FS P. Kirchhof, Bd.  II, 2013, §  149 Rz.  11  ff.; Spindler ebd., §  165 Rz. 11 ff.; Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 690 ff. (Februar 2015); Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 423 f., mit eingehender Diskursanalyse ebd., S. 201 ff. Für eine grundsätzliche Zulässigkeit auch belastender Analogien ebenfalls BFH v. 20.10.1983 – IV R 175/79, BStBl. II 1984, 221 (224 f.); v. 14.2.2007 – II R 66/05, BStBl. II 2007, 621 (622 f.). 81 S.  auch die in diesem Ergebnis übereinstimmenden Analysen bei Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 1996, S. 175 ff. (zusammenfassend S. 601 ff.); Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S.  332  ff. (zusammenfassend S.  394  f.); Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 697 ff. (Februar 2015).

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legung steuerrechtlicher Normen an einem hinreichenden Anknüpfungspunkt fehle, weil die Staatsfinanzierung als Generalziel von Besteuerung kein „Richtmaß“ vorgebe und es keinen Sachverhalt gebe, der „von Natur aus“ besteuerungswürdig sei82, überzeugt in seiner Pauschalität nicht. Selbstverständlich kann der einzelnen (Steuerrechts-)Norm innerhalb eines Regelungsgeflechts durchaus ein konkreter Regelungszweck zugrunde liegen, der Anknüpfungspunkt für eine teleologische Interpretation oder eine Rechtsfortbildung sein kann83. Das ist gerade darin begründet, dass das Fiskalziel das Steuerrecht als solches nicht vorstrukturiert, sondern die Struktur des Rechtsgebiets bis hin zur einzelnen Norm vom Gesetzgeber durch einzelne Steuerwürdigkeitsentscheidungen und stufenweise Konkretisierung als sachgerecht erkannter Belastungsmaßstäbe erst herausgebildet werden muss. Darin liegt der eigentliche und zutreffende Kern der Redeweise vom Steuerrecht, das „aus dem Diktum des Gesetzgebers“ lebe. In diesem vielschichtigen und vielstufigen Normengeflecht lassen sich indes ebenso wie in allen anderen Rechtsgebieten normative Teilrationalitäten identifizieren, die für eine Auslegung oder Rechtsfortbildung fruchtbar gemacht werden können. Ein klassisches Beispiel bildet etwa die Besteuerung der Mitunternehmer, soweit deren Sondervermögensbereich über den engeren Wortlaut des § 15 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 EStG hinaus in die Ermittlung des Gewinns einzubeziehen ist. Das ergibt sich aus der der Norm zugrundeliegenden Wertung, trotz ihrer gesamthänderischen Verbundenheit die Mitunternehmer selbst als steuerpflichtige Unternehmer zu erfassen84. Es ist daher konsequent, alle Wirtschaftsgüter, die im Dienst der solchermaßen kollektiven, aber eben aus der Perspektive des Einzelnen auch individualistischen unternehmerischen Betätigung stehen, als Betriebsvermögen zu erfassen. Im Wortlaut der Norm ist vom Sonderbetriebsvermögen freilich nicht die Rede, denn dort sind nur einzelne Anwendungsfälle sog. Sonderbetriebseinnahmen erwähnt. Gleichwohl handelt es sich um eine konsequente und zulässige Form der Verwirklichung des zugrundeliegenden Leitgedankens im Wege der Rechtsfortbildung85. Solange die Möglichkeit eines nur partiell verwirklichten Zwecks in Betracht gezogen wird, die teleologisch motivierte Auslegung oder Rechtsfortbildung also nicht dazu missbraucht wird, dem Gesetzgeber ein Regelungssystem überzustülpen, das er in dieser Reinheit nicht verwirklichen wollte, besteht jedenfalls kein Grund, im Steuerrecht methodische Sonderwege zu beschreiten und eine teleologisch motivierte Auslegung oder Rechtsfortbildung von vornherein auszuschließen. 82 So insbesondere eine der Begründungslinien der älteren Kritik, vgl. Flume, StbJb 1967/68, 63 (65 f.); Kruse in DStJG 5 (1982), S. 71 (75 ff.). 83 Das dürfte heute unstreitig sein (vgl. Drüen in FS Kruse, 2001, S. 191 [207]; dens. in Tipke/ Kruse, § 4 AO Rz. 279 [Oktober 2011]; Schön in DStJG 33 [2010], S. 29 [52]), so dass sich die Diskussion von der methodischen auf die verfassungsrechtliche Ebene verlagert hat (exemplarisch Schön, ebd., S. 52 ff.). 84 Vgl. BFH v. 3.5.1993 – GrS 3/92, BStBl. II 1993, 616 (621 f.). 85 Dazu mit unterschiedlicher Begründung näher Desens/Blischke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 15 EStG Rz. F 13 ff. (August 2016); Schön, DStR 1993, 185 (188 ff.); Woerner in DStJG 5 (1982), S. 23 (46 f.). Kritisch Knobbe-Keuk in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 303 (321 f.); Kruse in DStJG 18 (1995), S. 115 (129).

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Der BFH und die Gesetzesbindung

Keine eigenständige Auslegungsmethode, sondern dem Bereich der Sachverhaltswürdigung zuzuordnen ist die sog. wirtschaftliche Betrachtungsweise. Gewürdigt wird der Sachverhalt nicht ausschließlich nach seinen zivilrechtlichen Prämissen, sondern nach seinem wirtschaftlichen Gehalt. Das gilt, soweit der Gesetzgeber dies in den §§ 39 ff. AO ausdrücklich angeordnet hat. Im Übrigen ist es eine Frage der Auslegung der Norm, ob und inwieweit von einer strikten Zivilrechtsakzessorietät auszugehen oder der wirtschaftliche Gehalt des Sachverhalts einzubeziehen ist86. Auf eine solche Betrachtungsweise können etwa die Figur der Betriebsaufspaltung87, die Figur des Mitunternehmers aufgrund verdeckten Gesellschaftsverhältnisses88 oder die schenkungsteuerliche Rechtsprechung zur Strukturierung der Zuwendungsverhältnisse bei Zuwendungen des Gesellschafters an die Gesellschaft89 zurückgeführt werden. In diesen Fällen kommt es zu einer Abweichung der steuerrechtlichen Betrachtung von der zivilrechtlichen Ausgangslage. Das Steuerrecht ist für eine solche Betrachtungsweise offen, denn seine Rechtsbegriffe sind steuerrechtsautonom zu interpretieren90. Die zivilrechtliche Rechtslage bildet deshalb zwar einen maßgeblichen Anknüpfungspunkt, ist aber, zumal im Hinblick auf ihre Gestaltbarkeit durch die Beteiligten, nicht maßgeblich, wenn erkennbar ist, dass wirtschaftlich andere, vom zivilrechtlichen Rechtskleid abweichende Ergebnisse erzielt werden sollen. Mit der Gesetzesbindung ist eine Sachverhaltswürdigung, die auf das wirtschaftlich Gewollte abstellt, allerdings nur vereinbar, wenn und soweit nach Maßgabe einer Auslegung konstatiert werden kann, dass der betreffende Begriff eine solche wirtschaftliche Betrachtungsweise in sich aufnimmt. 3. Komplexität und fragmentarischer Charakter des Steuerrechts Spezifische Herausforderungen für die Gesetzesbindung bergen vor dem Hintergrund dieses methodischen Korsetts die Komplexität und mitunter nur bruchstückhafte Orientierung steuerrechtlicher Regelungen an bestimmten Leitprinzipien. Die systematische Aufarbeitung und Durchdringung des Rechtsstoffs zielt auf die Iden­ tifizierung leitender Regelungsprinzipien und Ordnungsgedanken als eines Rasters, anhand dessen sich die einzelnen Normen kategorisieren und zuordnen lassen. Eine gemessen am inneren System des Gesetzes mangelnde „Folgerichtigkeit“ steuerrechtlicher Normen avanciert dabei nicht nur zu einem Thema des Verfassungsrechts, sondern zeitigt, gewissermaßen subkutan, auch Wirkungen auf der Ebene der Normauslegung. Eine ausschließlich an Gesichtspunkten einer inneren Folgerichtigkeit orientierte, auf Regelungskohärenz abzielende Auslegung gerät dabei allerdings 86 Für diese Perspektive mit unterschiedlicher Akzentuierung etwa auch Drüen in Tipke/ Kruse, § 4 AO Rz. 322 ff., 324, 329 (Oktober 2011); Schön in DStJG 33 (2010), S. 29 (45 ff.). 87 Vgl. BFH v. 23.3.2011 – X R 45/09, BStBl. II 2011, 778 Rz. 26. 88 Vgl. BFH v. 13.7.1993 – VIII R 50/92, BStBl. II 1994, 282 (284 f.); v. 21.4.2009 – II R 26/07, BStBl. II 2009, 602 (604). 89 Vgl. BFH v. 14.9.1994 – II R 95/92, BStBl. II 1995, 81 (82 f.), sowie v. 22.2.2017 – II R 52/14, BStBl. II 2017, 653 Rz. 19, wonach im Fall von Schenkungen an eine Personengesellschaft nicht diese, sondern die Gesellschafter als schenkungsteuerrechtlich bereichert anzusehen sind. 90 P. Kirchhof in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 285 (297).

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zwangsläufig in die Gefahr, die methodisch determinierten Grenzen richterlicher Rechtsfindung und -fortbildung zu sprengen. Dieser Umstand offenbart sich in unterschiedlichen Symptomen. Bisweilen ist erkennbar, dass die mit einem klaren gesetzgeberischen Regelungsziel erfolgte normative Intervention mit der Begründung hintangestellt wird, der Gesetzgeber habe für seine Regelung einen nicht folgerichtigen, die Prämissen höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht hinreichend beachtenden Regelungsort gewählt. So verhielt es sich im Fall der Berufsausbildungskosten, wenn dort die seinerzeitige Regelung des Abzugsverbots in § 12 Nr. 5 EStG als nicht genügend, nämlich systematisch deplatziert und deshalb ihren Regelungszweck verfehlend gekennzeichnet wurde91. Hier zeigt sich, dass eine Überhöhung selbst gebildeter gesetzessystematischer Vorstellungen, also ein Denken in inneren Folgerichtigkeiten, allzu leicht dazu führen kann, den klar erkennbaren Regelungswillen des Gesetzgebers hintanzustellen92. Ein positives Gegenbeispiel bildet die Judikatur zur Besteuerung der Erstattungszinsen, die die gesetzgeberische Intervention in § 20 Abs. 1 Nr. 7 Satz 3 EStG im Sinne des Gewollten mit Recht akzeptiert und der Versuchung, den Normgehalt mit Rücksicht auf eine vermeintliche gesetzessystematische Verfehlung ins Leere laufen zu lassen, widerstanden hat93. Ebenso ist klar daran festzuhalten, dass der Normzweck, die Teleologie, nicht die anderweitigen Kriterien einer Auslegung überspielen und Anlass dazu geben darf, erkannte rechtspolitische Defekte im Wege einer erweiternden Normauslegung oder Rechtsfortbildung beheben zu wollen. Z.B. mag der Sinn und Zweck des § 6 Abs. 5 EStG darin bestehen, die Aufdeckung stiller Reserven hinauszuschieben, solange die Besteuerung in der Zukunft in Konkordanz mit dem Subjektsteuerprinzip gewahrt bleibt. Doch zeigt schon der Blick auf den Wortlaut der Norm, dass der Gesetzgeber diesen Grundgedanken nur fragmentarisch umgesetzt hat. Diese Entscheidung sollte respektiert werden. Eine Ausdehnung auf andere Gestaltungen sollte deshalb unterbleiben94. Die Liste derartiger tatsächlicher oder vermeintlicher Systembrüche, die aber gleichwohl nicht Anlass zu einer Gesetzeskorrektur im Wege der Auslegung oder Rechtsfortbildung geben sollten, ließe sich nahezu beliebig verlängern. Etwa erscheint es durchaus inkonsequent, wenn der Gesetzgeber einerseits die private Vermögenssphäre in Bezug auf Gegenstände des Kapitalvermögens für beachtlich erklärt und insofern die steuerlichen Implikationen denjenigen einer Gewinnermittlung im betrieblichen Bereich annähert, er andererseits aber für die Realisierung von Verlusten im Vermögensstamm die Veräußerung des Vermögensgegenstandes fordert (vgl. 91 BFH v. 28.7.2011 – VI R 5/10, BStBl. II 2012, 553 Rz. 18 ff. 92 Zur Kritik s. etwa Ismer, FR 2011, 846 (848 ff.). 93 BFH v. 12.11.2013 – VIII R 36/10, BStBl. II 2014 Rz. 16 f. 94 Überzeugend BFH v. 10.4.2013 – I R 80/12, BStBl. II 2013, 1004 Rz. 24 ff., gegen eine analoge Anwendung des § 6 Abs. 5 Satz 1 EStG auf den Fall der Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen personenidentischen Schwestergesellschaften. Ob die insofern geltend gemachten gleichheitsgrundrechtlichen Bedenken, die den Senat zu einer Vorlage veranlasst haben, auf einer verfassungsrechtlichen Ebene durchschlagen, ist eine davon zu unterscheidende Frage (Az. BVerfG 2 BvL 8/13).

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Der BFH und die Gesetzesbindung

§ 20 Abs. 2 Satz 1 EStG), während dem betrieblich tätigen Steuerpflichtigen etwa das Instrument der Teilwertabschreibung zur Verfügung steht. Aus der Vogelperspektive liegt darin eine durchaus bemerkenswerte systematische Unstimmigkeit. Die zunehmende Ausdehnung der Steuerbarkeit im Bereich der privaten Vermögenssphäre erscheint insofern nicht konsequent zu Ende gedacht. Gleichwohl überschreitet es den Rahmen der Gesetzesbindung, eine weitergehende Angleichung der Regelungsregime rechtsfortbildend zu induzieren95. Ursächlich für die Verwerfung ist der sog. Dualismus der Einkunftsarten, der zwar vielfach Gegenstand der Kritik ist96, den das BVerfG als historisch gewachsene Grundentscheidung des Gesetzgebers aber stets akzeptiert hat97. Daraus kann nur gefolgert werden, dass vorsichtige Aufweichungen und Annäherungen ein Terrain genuin gesetzgeberischer Gestaltung sind, das sich jedenfalls nicht in prononcierter Weise für richterliche Intervention eignet98. Innere Widersprüche können daher allenfalls behutsam im Wege der Auslegung oder Rechtsfortbildung aufgelöst werden. Das gilt auch mit Blick auf den Topos der verfassungskonformen Auslegung. Dass eine verfassungskonforme Auslegung vorzuziehen ist, wenn mehrere Auslegungsoptionen bleiben, ist unzweifelhaft. Weil Gleichheitsfragen sowohl Fragen der Auslegung und der Rechtsfortbildung als auch Fragen des Verfassungsrechts sind, entsteht hier allerdings ein Spannungsfeld, das die Suche nach dem methodischen Grenzbereich in besonderer Weise herausfordert, zumal das BVerfG die Auseinandersetzung mit Zulässigkeit und Grenzen einer verfassungskonformen Auslegung als Zulässigkeitsvoraussetzung der Richtervorlage nachdrücklich einfordert. Dabei besteht stets die Gefahr, dass der häufig, im Steuerrecht vor allem mit Blick auf das Folgerichtigkeitsgebot nicht eindeutige Inhalt der Verfassung zu einer Auslegung Anlass gibt, die die Grenzen des gesetzgeberisch Gewollten sprengt, weil die Alternative der Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG angesichts der restriktiven Entscheidungspraxis des BVerfG denkbar unattraktiv erscheint99. Dass in diesem Spannungsfeld bisweilen methodische Grenzen gedehnt oder auch überdehnt werden, ist im einzelnen Fall aus einer pragmatischen Perspektive nachvollziehbar100, mit Blick auf die Gesetzesbindung aber nicht wünschenswert. 95 So aber BFH v. 24.10.2017 – VIII R 13/15, BFHE 259, 535 Rz. 10 ff., wenn dort angenommen wird, dass der endgültige Ausfall einer Darlehensforderung zu Verlusten aus Kapitalvermögen führt, obwohl es an einer „Veräußerung“ i.S.d. § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG fehlt. 96 S. nur Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 181 ff., 185 („Verstoß gegen den Gleichheitssatz“). 97 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05 u.a., BVerfGE 127, 61 (86). 98 So aus grundsätzlicher Sicht auch Knobbe-Keuk in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 303 (322 f.); Kruse in DStJG 18 (1995), S. 115 (131 ff., 134). 99 Näher zu den kritischen Potentialen verfassungskonformer Auslegung Voßkuhle in AöR 125 (2000), S. 177 (182 ff.), und aus steuerrechtlicher Sicht Drüen, StuW 2012, 269 (271 f., 275 ff.). 100 Etwa im Nachgang zu BVerfG v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06, BVerfGE 127, 335 ff. (Unzulässigkeit der auf den Aspekt der Normenklarheit gestützten Vorlage) BFH v. 9.3.2011 – IX R 56/05, BStBl. II 2011, 649 ff., mit einer durchaus überraschenden einschränkenden Auslegung der §§ 2 Abs. 3, 10d EStG a.F. (sog. Mindestbesteuerung), die das Verfassungspro-

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IV. Schlussbetrachtung Die Gesetzesbindung des Richters gehört zu den Kernelementen des Rechtstaatsund des Demokratieprinzips. In seinem Entscheiden wird der Richter zum Medium der Verwirklichung und, soweit ihm die Aufgabe der Konkretisierung gestellt ist, zum normativ gebundenen Mitgestalter demokratisch getroffener Entscheidungen. Zum Kernbereich insbesondere höchstrichterlicher Rechtsprechung gehört es, nicht nur Rechtsschutz zu gewähren, sondern auch zur Aus- und Fortbildung des Rechts beizutragen. Die Gesetzesbindung weist dabei zwei Facetten auf: Sie limitiert, aber sie legitimiert auch die rechtsprechende Tätigkeit, die sich nicht im bloßen Nachvollzug des Gesetzes erschöpft, sondern die methodengeleitete Rechtskonkretisierung und auch die Rechtsfortbildung mit umfasst. Die Grenzen, die die Gesetzesbindung richterlichem Entscheiden aufzeigt, sind dabei methodischer Art. Da methodenbasierte Antworten selten eindeutig sind, müssen sie in jedem einzelnen Fall neu verhandelt werden. Zu einem Bindungsskeptizismus besteht gleichwohl kein Anlass, denn Begründen und Entscheiden bleibt ein methoden- und regelgeleiteter Prozess, der auf intersubjektive Vermittlung und Vermittelbarkeit zielt. Überzeugungskraft entfalten dabei im Rechtsstaat grundgesetzlicher Prägung nur norm- und methodenzentrierte Argumente. Sie stehen im Dienst der Gesetzesbindung, die das Fundament (höchst-) richterlichen Entscheidens ist.

blem in der konkreten Konstellation entfallen ließ. Dazu auch Drüen, StuW 2012, 269 (270, 276).

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … B.

Richterliche Rechtsfortbildung und Rechtsprechungsinnovationen Von Andreas Musil

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Untersuchungsschritte III. Grundlagen und Begriffsabgrenzungen 1. Auslegung und Rechtsfortbildung in der klassischen Methodenlehre 2. Wortlautgrenze und Wille des Gesetzgebers 3. Rechtsfortbildung und Richterrecht IV. Rechtsquelleneigenschaft und Funktion von Richterrecht 1. Richterrecht als Rechtsquelle? 2. Funktionen von Richterrecht V. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Grundsätzliche Anerkennung von Rechtsfortbildung 2. Prüfungsintensität 3. Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs durch das Bundesverfassungsgericht 4. Variabilität des Maßstabs 5. Zusätzliche Maßstäbe für das Steuerrecht VI. Rechtsfortbildung im Steuerrecht 1. Geltung allgemeiner Maßstäbe und Grenzen

2. Verbot steuerverschärfender Analogie? 3. Eingeschränkte Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung im Steuerrecht VII. Bewertung der Rechtsprechung des BFH 1. Betrachtung von Fallgruppen und exemplarischen Entscheidungen 2. Gesetzesausfüllende Rechtsprechungsinnovationen 3. Teleologische Reduktion bzw. Extension a) Grundlagen b) Besondere Grenzen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts c) Beispiele aus der Rechtsprechung des BFH 4. Verfassungskonforme Auslegung versus Rechtsfortbildung contra legem a) Grundlagen b) Rechtsanwendung gegen das Gesetz c) Zu weitreichende Auslegung als unzulässige Rechtsfortbildung 5. Umgang mit unionsrechtlichen Vorgaben VIII. Abschließende Bewertung

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I. Einleitung Richterliche Rechtsfortbildung und Rechtsprechungsinnovationen sind jeder modernen Rechtsordnung immanent. Rechtsfortbildung gehört angesichts der Lückenhaftigkeit und Auslegungsbedürftigkeit des Gesetzes zu den Grundaufgaben der Richterschaft. Ebenso grundlegend wie banal ist aber auch die Erkenntnis, dass sich der Richter bei der Rechtsfortbildung buchstäblich „auf dünnem Eis“ bewegt. In vielfacher Hinsicht kann Rechtsfortbildung der Kritik ausgesetzt sein. Diese kann methodisch, aber auch verfassungsrechtlich begründet sein. Der Richter bewegt sich bei der Rechtsfortbildung in einem Spannungsverhältnis zum Gesetzgeber und steht gewissermaßen unter verschärfter Beobachtung. Diese allgemeinen Aussagen gelten auch für die Rechtsfortbildung im Steuerrecht. Seit jeher wird deren Zulässigkeit allgemein und im Einzelfall diskutiert. Die Dis­ kussion um die Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung hat auch die Rechtsprechung der Finanzgerichtsbarkeit und hier insbesondere des Reichsfinanzhofs und des Bundesfinanzhofs stets begleitet. Dabei waren die Positionen durchaus Wand­ lungen ausgesetzt. War es beispielsweise lange anerkannt, dass eine steuerverschärfende Analogie ausgeschlossen sein solle, geht die überwiegende Auffassung heute von deren grundsätzlichen Zulässigkeit aus1. Jenseits grundsätzlicher Diskussionen bilden Rechtsprechungsinnovationen häufig den Ausgangspunkt für weitreichende und wirkmächtige Sonderdogmatiken innerhalb einzelner Steuerrechtsmaterien. Erwähnt seien hier nur die Betriebsaufspaltung oder das Sonderbetriebsvermögen. Jenseits solcher für viele Betrachter nicht mehr wegzudenkender Innovationen muss sich die Rechtsprechung auch nach eigenem Selbstverständnis häufig als „Reparaturbetrieb“ für eine fehlerhafte oder gescheiterte Gesetzgebung betätigen. Dadurch zieht sie ihrerseits wieder Kritik auf sich. Schließlich erfordert das Nebeneinander verschiedener Rechtsmaterien im Mehrebenensystem, etwa zwischen Europäischer Union einerseits und nationaler Steuerrechtsordnung andererseits, arrondierende und fortbildende richterliche Tätigkeit. Bei der Beurteilung richterlicher Rechtsfortbildung fließen Methodenfragen und Verfassungsfragen häufig ineinander. Deshalb spielt auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für das vorliegende Thema eine wesentliche Rolle. Angesichts der Eingewobenheit der Rechtsprechung in das Verfassungsgefüge führen methodische Übertretungen häufig auch zu verfassungsrechtlich relevanten Übergriffen in andere Kompetenzbereiche. Die folgende Darstellung kann demnach nicht ohne eine Auseinandersetzung mit der Position des Bundesverfassungsgerichts auskommen. Im Folgenden soll es dementsprechend darum gehen, zunächst die Grundlinien und Grundaspekte zur Diskussion über Rechtsfortbildung und Rechtsprechungsinnovation zu beleuchten. Sodann werden die allgemein gefundenen Erkenntnisse unter einen spezifisch steuerlichen Blickwinkel vertieft. Ziel ist es, Methodenfragen des Steuerrechts auf ihre allgemeinen methodischen Grundlagen zurückzuführen und das Steuerrecht in den Kontext der übergreifenden Methoden- und Verfassungsdiskussi1 Zum Meinungsstand siehe nur Englisch, StuW 2015, 302 (304).

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Rechtsfortbildung und Rechtsprechungsinnovationen

on einzupassen. Sodann sollen einzelne Aspekte der richterlichen Tätigkeit im Steuerrecht im Besonderen gewürdigt und an den zuvor entfalteten allgemein geltenden Maßstäben gemessen werden. Dabei wird sich  – das kann vorweggenommen werden – zeigen, dass sich insbesondere die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, auf die sich dieser Untersuchungsteil konzentrieren wird, in den meisten Fällen in sachgerechter und zustimmungswürdiger Weise der Aufgabe der Rechtsfortbildung gewidmet hat. Es soll aber auch auf einzelne Fälle verwiesen werden, in denen problematische Grenzüberschreitungen im Raum standen und stehen.

II. Untersuchungsschritte Um die Fragestellung in der gebotenen Tiefe abhandeln zu können, werden in einem ersten Schritt zunächst die notwendigen Begriffsklärungen vorgenommen (III.). Insbesondere geht es hier um die Frage, was Rechtsfortbildung in Abgrenzung zur Auslegung kennzeichnet und wie die Abgrenzung konkret vorzunehmen ist. Weiterhin ist zu fragen, wie sich der Begriff des Richterrechts zu dem der Rechtsfortbildung verhält. Auf dieser Grundlage können die Rechtsquelleneigenschaft sowie die Funktionen von Richterrecht skizziert werden (IV.). Weiterhin muss die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts näher beleuchtet werden, um die verfassungsrechtlichen Grenzen für Rechtsfortbildung und Rechtsprechungsinnovationen ausloten zu können (V.). Auf dieser Grundlage kann nun die Lage im Steuerrecht näher fokussiert werden. Zunächst werden die allgemein gefundenen Ergebnisse auf das Gebiet des Steuerrechts projiziert (VI.). Dabei wird vor allem auch die Frage thematisiert, inwieweit steuerschärfende Analogien zulässig sind. Aber auch weitere Besonderheiten werden herausgearbeitet. Auf dieser Grundlage kann die Rechtsprechung des BFH bewertet werden (VII.). Hier sollen verschiedene Konstellationen untersucht werden. Zum einen geht es um die häufig anzutreffenden Rechtsinnovationen, die weite Bereiche der Steuerrechtspraxis prägen, wie etwa Betriebsaufspaltung und Sonderbetriebsvermögen. In einem weiteren Schritt soll das behandelt werden, was mit dem Schlagwort Reparaturrechtsprechung belegt werden kann. Zum einen geht es hier um Möglichkeit und Grenzen einer verfassungskonformen Auslegung, zum anderen geht es um die häufig anzutreffenden Fälle der teleologischen Reduktion. Schließlich sollen noch die besonderen Konstellationen mit Unionsrechtsbezug in den Blick genommen werden. Ein Fazit schließt die Untersuchung ab (VIII.).

III. Grundlagen und Begriffsabgrenzungen 1. Auslegung und Rechtsfortbildung in der klassischen Methodenlehre Sucht man nach einer allgemein anerkannten Definition von Rechtsfortbildung, so wird man enttäuscht2. Vielmehr fehlt es an einer solchen einheitlich verwendeten 2 Vgl. die Werke von Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995; Rüthers/ Fischer/Birk, Rechtstheorie, 9. Aufl. 2016; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 6. Aufl. 2015; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012; Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 2. Aufl. 2011; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Aufl. 2010.

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und präzisen Definition3. Vertreter der klassischen Methodenlehre versuchen vielmehr, sich dem Begriff über eine Abgrenzung zur Auslegung zu nähern. Während die Auslegung als „Rekonstruktion des dem Gesetze innewohnenden Gedankens“ verstanden wird4, soll die Rechtsfortbildung über das im Gesetz Angelegte hinausgehen5. Die Auslegung wird als im Wesentlichen eigenwertungsfrei angesehen6, während die Rechtsfortbildung durch richterliche Wertungen geprägt ist. Dementsprechend wird der Richter bei der Rechtsfortbildung unter Begründungszwang gesehen, während er sich bei der Auslegung auf die Autorität des Gesetzgebers stützen kann. Es kommt für die Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung dementsprechend auf den Abstand vom Gesetz an. Die sogenannte Wortlautgrenze markiert die Trennlinie zwischen beiden Begriffen7. Rechtsfortbildung liegt vor, wenn der noch mögliche Wortsinn überschritten wird. Als möglicher Wortsinn wird hierbei der allgemeine oder der jeweils als maßgeblich zu erachtende Sprachgebrauch des (historischen) Gesetzgebers, der noch als mit dem Ausdruck zu vereinbaren ist, verstanden8. Bei der Ermittlung des Wortsinns ist ein einzelnes Wort nicht isoliert, sondern in seinem Kontext zu betrachten9. Nach dieser klassischen Ansicht lässt sich eine zutreffende Wortbedeutung ermitteln, die der Rechtsanwender erkennen kann. Zwar kann es in der Regel zahlreiche Bedeutungsvarianten geben10. Gleichwohl soll in den meisten Fällen eine zuverlässige Bestimmung des möglichen Wortsinns gelingen können. 2. Wortlautgrenze und Wille des Gesetzgebers Die klassische Methodenlehre geht von einer Trennbarkeit von Auslegung und Rechtsfortbildung aus. Diese These ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben. 3 Siehe Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 34 ff. 4 Diese Formulierung geht auf Savigny zurück, vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 35; ähnlich Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 9. Aufl. 2016, Rz. 786; zum weiten Auslegungsbegriff s. Busche in MünchKomm. BGB, Band 1, 7. Aufl. 2015, § 133 Rz. 1. 5 So etwa Biaggini, Verfassung und Richterrecht, 1991, S. 48; vgl. auch Gusy, DÖV 1992, 461 (462) bzw. Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 47 f. 6 Vgl. etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6.  Aufl. 1991, S.  313: „Gegenstand der Auslegung ist der Gesetzestext als „Träger“ des in ihm niedergelegten Sinnes, um dessen Verständnis es in der Auslegung geht. „Auslegung“ ist, wenn wir an die Wortbedeutung anknüpfen, „Auseinanderlegung“, Ausbreitung und Darlegung des in dem Text beschlossenen, aber noch gleichsam verhüllten Sinnes. Durch die Auslegung wird dieser Sinn „zur Sprache gebracht“, d. h. er wird mit anderen Worten deutlicher und genauer ausgesagt und mitteilbar gemacht. Dabei ist für den Vorgang der Auslegung kennzeichnend, daß der Ausleger nur den Text selbst zum Sprechen bringen will, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen. Wir wissen freilich, daß sich der Ausleger dabei niemals nur rein passiv verhält. Der Text sagt dem nichts, der nicht schon etwas von der Sache, von der er handelt, versteht“. 7 Gleichbedeutende Verwendung etwa bei Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, S. 289; zur terminologischen Kritik s. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 36 f. 8 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 322. 9 So Wank, ZGR 1988, 314 (318). 10 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 164; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 38.

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Rechtsfortbildung und Rechtsprechungsinnovationen

So wird die Wortlautgrenze teilweise auch als ungeeignet angesehen, um Auslegung und Rechtsfortbildung zu trennen. Vielmehr könne es nur eine Unterscheidung von legitimen und illegitimen Entscheidungen geben. Die Wortlautgrenze wird unter Verweis auf linguistische11 und sprachphilosophische12 Argumente in Frage gestellt. Aufgrund der notwendigen Unbestimmtheit von Sprache im Hinblick auf ihre Bedeutung könne es keine Wortlautgrenze geben. Nicht der Gesetzestext determiniere die Bedeutung, vielmehr müsse der Rechtsanwender die Bedeutung erst schaffen. Die Wortbedeutung könne somit nicht erkannt werden, sondern sei vielmehr das Ergebnis einer Konstruktionsleistung13. Diese Auffassung kann mit Blick auf die juristische Arbeit wenig überzeugen. Zwar mag es zutreffen, dass Bedeutung immer auch Konstruktion ist. Jedoch lassen sich durchaus solche Bedeutungsvarianten identifizieren, die einen engeren Bezug zum Wortlaut aufweisen als andere, so dass für Zwecke der juristischen Arbeit durchaus eine Trennlinie zu finden ist. Das Konzept eines Absehens von einer Wortlautgrenze müsste sich auch fragen lassen, wie es mit den Grundlagen der Gesetzesbindung verfahren will. Eine Gesetzesbindung ohne Wortlautbindung ist kaum vorstellbar. Dementsprechend ist grundsätzlich davon auszugehen, dass es eine Wortlautgrenze gibt, die für die Differenzierung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung maßgeblich ist. Probleme bereitet gleichwohl und naturgemäß die konkrete Bestimmung dieser Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Fraglich ist, was mit dem „noch möglichen Wortsinn“ gemeint ist. Die Rechtsprechung formuliert hierzu: „Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, ist dabei in erster Linie der für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestandes maßgebend: Der mögliche Wortsinn markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation“14. 11 Busse, Juristische Semantik, 1993, S. 40 f.: „Der Terminus „Wortlautgrenze“ ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen würde das Feststellen einer „Grenze des möglichen Wortsinns“, die ja als „Grenze der Auslegung“, die nicht überschritten werden darf, fungieren soll, selbst bereits die Kenntnis des festgestellten Wortsinns voraussetzen; was erst herausgefunden werden soll, die Bedeutung in ihren „Grenzen“, würde also implizit bereits vorausgesetzt, was eine logische Unmöglichkeit darstellt. Hier wird selbst schon im Grundbegriff der Position, welche die Einwirkungen der Interpretation auf das zu Interpretierende gerade negieren will, deutlich, daß Vor-Urteile, Vor-Meinen stets schon in die „Feststellung des Wortsinns“ ein­ gehen. Zum anderen fehlt es aus linguistischer Sicht an eindeutigen Kriterien, nach denen beurteilt werden könnte, wo eine „Grenze des Wortsinns“ gezogen werden müßte; d.h. die eindeutige Feststellbarkeit des Wortsinns, wenigstens aber die Möglichkeit einer starren Grenzziehung, steht in Zweifel. Es verwundert deshalb nicht, daß Rechtstheoretiker, die an die Feststellbarkeit des Wortsinns glauben, weniger auf linguistische als vielmehr auf logisch orientierte Sprachtheorien zurückgreifen, welche den Anschein vermitteln, bessere Abgrenzungskriterien bereitstellen zu können“. 12 S. z.B. Müller/Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, S. 209 ff. 13 Kudlich/Christensen ARSP 2007, 128 (139). 14 BVerfG v. 8.9.2004 – 2 BvR 86/03, juris; v. 23.10.1993 – 1 BvR 850/88, BVerfGE 85, 69 (73); v. 17.11.1992 - 1 BvR 168, 1509/89 u. 638, 639/90, BVerfGE 87, 363 (391); v. 23.10.1985 – 1 BvR 1053/82, BVerfGE 71, 108 (115).

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Zur Bestimmung der der Wortlautgrenze wird von der Rechtsprechung demnach auf die grammatikalische Auslegung zurückgegriffen. Zur Bestimmung der Wortbe­ deutung wird zudem auf empirische Erkenntnisse, Wörterbücher oder das eigene Sprachverständnis abgestellt15. Allerdings wird durch eine so konturierte Grenze noch nichts über die Zulässigkeit richterlicher Rechtsanwendung ausgesagt. Auch Rechtsfortbildung kann zulässige Rechtsanwendung sein. In diesem Sinne kann die Grenze der Rechtsanwendung unter Ermittlung des „Willens des Gesetzgebers“ bestimmt werden. Diese Konzeption haftet nicht am grammatikalisch zu bestimmenden Wortlaut, sondern bedient sich der wertenden Betrachtung, um zwischen zulässiger und unzulässiger Rechtsanwendung zu differenzieren. Die Ermittlung des gesetzgeberischen Willens hat nicht den Wortlaut, sondern auf einer abstrakten Ebene die Normbedeutung im Sinn. Diese muss sich nicht mit dem konkreten Wortlaut decken. Richtigerweise handelt es sich bei der Wortlautgrenze und dem Gesetzessinn damit um zwei zu unterscheidende Grenzen16. Erstere will auf der Basis einer grammatikalischen Auslegung feststellen, was noch Auslegung im klassischen Sinn ist. Zweitere will ermitteln, ob sich der Rechtsanwender  – auf allgemeinerer Ebene  – noch im Rahmen des gesetzgeberischen Willens bewegt. Diese Frage kann sich sowohl im Rahmen einer formal als Auslegung deklarierten Entscheidung als auch im Rahmen der Rechtsfortbildung, also der Rechtsschöpfung jenseits des Wortlauts, stellen. Die Wortlautgrenze kann sich aktualisieren, wenn es um die Frage geht, ob Analogieverbote verletzt wurden. Liegt noch Auslegung vor, ist die Rechtsanwendung danach zulässig, wird die Wortlautgrenze überschritten, liegt eine unzulässige Analogie vor. Im Steuerrecht war diese Grenzziehung unter Geltung der früher herrschenden Lehre vom Verbot der steuerschärfenden Analogie von besonderer Bedeutung17. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass derartige Analogien unter bestimmten Umständen notwendig und zulässig sein können18. In anderen Rechtsbereichen, etwa dem Strafrecht, sind Analogieverbote allerdings nach wie vor wichtig und wirkmächtig. Der Wille des Gesetzgebers stellt eine weitergehende Grenze dar, jenseits derer die Rechtsanwendung nur im Ausnahmefall agieren darf. Eine Rechtsprechung, die sich über den erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, kann dies nur unter Verweis auf ihre Rechtsbindung tun, muss aber sehr gute Gründe dafür vorweisen

15 S. dazu Kudlich/Christensen, JR 2011, 146 (147) m.w.N. 16 Vgl. auch BVerfG v. 28.7.2015 – 2 BvR 2558/14, 2 BvR 2571/14, 2 BvR 2573/14, juris: „Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie zum Wortlaut der Norm und zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde“. 17 S. H. Jochum in FS Paul Kirchhof, 2013, Bd. II, S. 1611 (1615 f.) m.w.N. in Fn. 30; ausführlich auseinandergesetzt hat sich mit der Frage Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd.  I, 2. Aufl. 2000, S. 177 ff.; s. zum Ganzen auch Wendt in FS Wadle, S. 1203 ff. 18 Siehe statt vieler Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 5 Rz. 82 f.

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können. Wo die Grenze für eine entsprechende Rechtsfortbildung liegt, ist eine verfassungsrechtliche Frage, die weiter unten zu erörtern ist19. Die skizzierte Zweistufigkeit liegt auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde, wenn es formuliert: „[…] Dabei umreißt die Auffassung, ein Richter verletze seine Gesetzesbindung gem. Art. 20 Abs. 3 GG durch jede Auslegung, die nicht im Wortlaut des Gesetzes vorgegeben ist, die Aufgabe der Rechtsprechung zu eng. Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet die Gerichte, „nach Gesetz und Recht“ zu entscheiden. Eine bestimmte Auslegungsmethode oder gar eine reine Wortinterpretation schreibt die Verfassung nicht vor. Der Wortlaut des Gesetzes zieht im Regelfall keine starre Auslegungsgrenze. Zu den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gehört auch die teleologische Reduktion. Dabei prüft das BVerfG, ob sich diese auf den Willen des Gesetzgebers stützt […]“20. 3. Rechtsfortbildung und Richterrecht Im Folgenden soll der Begriff des Richterrechts erläutert und zu dem der Rechtsfortbildung in Beziehung gesetzt werden. Teilweise werden beide Begriffe synonym verwendet21. Dies greift indes zu kurz. Vielmehr liegen die Begriffe auf verschiedenen Ebenen. Während mit dem Begriff der Rechtsfortbildung die Methode der Rechtsgewinnung angesprochen ist, geht es beim Terminus „Richterrecht“ um die Abgrenzung zu anderen Staatsfunktionen22. Zudem umfasst das Richterrecht grundsätzlich nicht nur den Bereich der Rechtsfortbildung, sondern auch auslegende Tätigkeit kann begrifflich hierunter gefasst werden. Teilweise wird eine Begriffsdefinition des Richterrechts dahingehend versucht, dass damit die Gesamtheit aller Entscheidungsnormen (Wertmaßstäbe) umschrieben wird, die ohne wertenden, gebotsbildenden Akt des Richters dem Gesetz nicht entnommen werden können23. Der kreative Charakter ist dementsprechend dem Richterrecht immanent24. Ob es im Rahmen rich19 Siehe noch V. 20 BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07, NJW 2012, 669 (672). Im Übrigen stellt das BVerfG fest, dass diese Feststellung ihrer Grenzen im speziellen Vertrauensschutz des Art. 103 Abs. 2 GG findet, wo gerade das Vertrauen auf den Wortlaut einer Norm geschützt wird (S. 672). 21 Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, Rz. 109; Ossenbühl in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013, Band V, § 100 Rz. 51. 22 Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III, 1976, S. 701; s. auch Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 92; ähnlich auch BVerfG v. 25.1.1984 – 1 BvR 272/81, BVerfGE 66, 116 (138), wenn es formuliert „Das, was das Gesetz offenlässt, ist durch Richterrecht auszufüllen“. 23 So Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 9. Aufl. 2016, Rz. 235; ähnlich Lerche, NJW 1987, 2465 (2466): Richterrecht ist demnach das „Ergebnis methodischer richterlicher Anstrengung, die sich von sonstigen Formen methodengebundener richterlicher Aufweisung von Recht nur, aber immerhin durch einen besonders hohen Anteil an produktivem Gehalt auszeichnet“. 24 Vgl. Sendler, NJW 1987, 3240.

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terlicher Tätigkeit daneben auch noch einen Bereich gibt, der frei von schöpferischer Gestaltung ist, ist umstritten. Jedenfalls kann aber als gesichert gelten, dass Rechtsfortbildung in jedem Fall einen Anwendungsfall des Richterrechts (i.e.S.) bildet. Wenn im Folgenden von Richterrecht die Rede ist, soll die bloße Auslegung ausgeklammert bleiben.

IV. Rechtsquelleneigenschaft und Funktion von Richterrecht 1. Richterrecht als Rechtsquelle? Für die Beurteilung des rechtsfortbildenden Richterrechts ist seine rechtssystematische Einordnung mitentscheidend. Insbesondere fragt sich, welche rechtliche Wirkungen dem Richterrecht zukommen25, inwieweit es sich insbesondere um rechtlich verbindliche Akte handelt26. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden dabei die Art.  20 Abs.  3, 97 Abs.  1 GG. Es fragt sich, ob das Richterrecht unter die Begriffe „Recht und Gesetz“ fällt und damit selbst eine Rechtsquelle darstellt. Überwiegend wird eine solche Rechtsquelleneigenschaft des Richterrechts verneint27. Das wird zum einen damit begründet, dass sich der Richter nicht zum Normsetzer aufschwingen dürfe, da ihm die notwendige demokratische Legitimation fehle28. Auch dürfe der Richter seine Gesetzesbindung nicht selbst in der Hand haben. Zudem wird bezweifelt, ob das Richterrecht die allgemeinen Anforderungen an eine Rechtsquelle erfülle29. Auch das Bundesverfassungsgericht verneint in Übereinstimmung mit der 25 Dazu schon Bydlinski, JZ 1985, 149 ff., der die Frage, welche Bedeutung dem Richterrecht zukommt, als die wichtigste Frage der modernen Methodenlehre bezeichnet. Vgl. auch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 9. Aufl. 2016, Rz. 236; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3.  Aufl. 2008, S.  571; zur allgemeinen Diskussion in der Methodenlehre auch im Hinblick auf das Richterrecht s. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 13 ff. m.w.N. 26 Jachmann in Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 95 Rz. 15. 27 Grundlegend BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (227): „Höchstrichterliche Urteile sind kein Gesetzesrecht und erzeugen keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Von ihnen abzuweichen, verstößt grundsätzlich nicht gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Ihr Geltungsanspruch über den Einzelfall hinaus beruht allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Es bedarf deswegen nicht des Nachweises wesentlicher Änderungen der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen, damit ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rechtsprechung abweichen kann“, wobei auch aktuell diese Fundstelle durch das BVerfG verwendet wird (s. etwa z.B. BVerfG v. 25.4.2015 – 1 BvR 2314/12, NJW 2015, 1867 [1868]); aus dem öffentlichen Recht: Jachmann in Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art.  95 Rz.  15; Jarass/Pieroth, Grundgesetz-Kommentar, 14. Aufl. 2016, Art. 20 Rz. 53; Ossenbühl in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3.  Aufl. 2013, Band V, Rz. 50; Robbers in Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 20 Abs. 3 Rz. 3331. 28 Jachmann in Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 95 Rz. 15. 29 Westermann/Bydlinski/Weber, Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2014, Rz. 4/33, verweisen hier auf Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929, S. 291 f.; s. dazu auch Vogel, Juristische Methodik, 1998, S. 38 ff. insb. Fn. 1, wobei dort kurz auf die unterschiedlichen Ausgangspunkte bei der Definition einer Rechtsquelle eingegangen wird.

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Literatur die Rechtsquelleneigenschaft von Richterrecht30. Als Begründung wird angeführt, dass – abgesehen von den Fällen des § 31 BVerfGG – durch Richterrecht die Rechtslage nicht geändert, sondern für den konkreten Fall verbindlich festgestellt werde31. Ungeachtet dessen hat das Richterrecht eine immense praktische Bedeutung32. Richterrecht schafft unabhängig von der formalen Rechtsquelleneigenschaft Präjudizien, die die nachfolgende Rechtsanwendung prägen. Höchstrichterliche Entscheidungen sind etwa Gegenstand der Interpretationen und Anschlusskommunikation anderer Gerichte. Aufgrund der fachlichen und strukturellen Autorität von Entscheidungen insbesondere oberer und oberster Gerichte wird in der Praxis selten von derartigen Präjudizien abgewichen. Im Ergebnis kann man festhalten, dass Richterrecht zwar keine Rechtsquelle ist, faktisch aber wie eine solche behandelt wird. 2. Funktionen von Richterrecht Das Richterrecht erfüllt eine Reihe von Funktionen, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen. Zunächst sei die Funktion der Rechtsanpassung und -ergänzung genannt. Angesichts der Lückenhaftigkeit gesetzlicher Kodifikation hat das Richterrecht seit jeher eine wichtige Ergänzungsfunktion. Durch richterliche Lückenfüllung entsteht idealiter ein arbeitsteiliges System zwischen dem grundsätzlich zuständigen Gesetzgeber und der ihn ergänzenden höchstrichterlichen Rechtsprechung. Im Zuge dieser Lückenfüllung kommt dem Richterrecht eine erhebliche Bedeutung für die Praxis zu33. Zwar ist das Richterrecht keine förmliche Rechtsquelle, gleichwohl orientiert sich die Rechtspraxis in erheblichen Umfang an richterrechtlichen Präjudizien34. Im Zuge der Rechtsanpassung und -ergänzung wird auch der gesetzgeberische Wille zur Geltung gebracht, zumindest soweit sich der Richter im Rahmen der Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung hält. Auch die Schaffung von Gerechtigkeit wird als Funktion von Richterrecht genannt35. Allerdings besteht bei einer zu weitreichenden Betonung von Gerechtigkeitsaspekten die Gefahr, dass der Richter eigene Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle des ge-

30 BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (227). 31 BVerfG v. 28.9.1992 – 1 BvR 496/87, NZA 1993, 213 (214), s. dazu auch Müller-Glöge in MünchKomm. BGB, Band 4, 7. Aufl. 2016, § 611 Rz. 390. 32 Degenhart in Sachs, Grundgesetz-Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 70 Rz. 28; Westermann/ Bydlinski/Weber, Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2014, Rz. 4/32 („erhebliche praktische Bindungswirkung des Präjudizienrechts“); Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 429 ff. („kaum zu überschätzende Rolle“). 33 Zur Stärkung des Individualrechtsschutzes und des Allgemeininteresses durch Richterrecht siehe Jachmann in Maunz/Dürig, Art. 95 GG Rz. 12 ff. 34 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 502. 35 So insbesondere die Rechtsprechung selbst, maßgeblich BVerfG v. 14.2.1973  – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (286 ff.); s. dazu ausführlich Meys, Rechtsfortbildung extra legem im Arbeitsrecht, 2009, S. 57 ff. m.w.N.

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setzgeberischen Willens setzt36. Die Schaffung von Gerechtigkeit durch richterliches Handeln kann sich also stets nur im Rahmen gesetzgeberischer Vorentscheidungen bewegen. Schließlich besitzt Richterrecht auch eine Entlastungsfunktion für den Gesetzgeber37. Indem problematische Konstellationen durch den Richter entschieden werden, wird der Gesetzgeber des Handlungsdrucks einer alsbaldigen Normierung enthoben.

V. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Grundsätzliche Anerkennung von Rechtsfortbildung Richterrecht besitzt, wie soeben dargestellt, eine Reihe wichtiger Funktionen im Zusammenspiel insbesondere mit dem Gesetzgeber. Den Vorteilen von Richterrecht stehen aber auch strukturelle Nachteile gegenüber38. Bereits angeklungen sind die verfassungsrechtlichen Probleme des Richterrechts. Die primäre Gefahr besteht insbesondere in der Missachtung von Verfassungsprinzipien wie Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip39. Von besonderer Bedeutung ist hier der Grundsatz der Gewaltenteilung. Zu weitreichende Rechtsfortbildung greift in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers über. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht versucht, handhabbare Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung zu finden. Diese sollen im Folgenden herausgearbeitet werden. Das Bundesverfassungsgericht erkennt seit Langem die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung an40. Der Richter sei nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden, weil es eine lückenlos positiv normierte Rechtsordnung nicht geben könne. Die Arbeit des Richters bestehe daher nicht nur im Erkennen und Ausspre36 In diesem Sinne auch Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2011, Rz. 452. 37 Schönberger in Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, S. 312. 38 Ausführlich Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 154 ff. 39 Hillgruber, JZ 1996, 118 (122); Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 207 ff.; grundlegend BVerfG v. 11. 10. 1978 – 1 BvR 84/74, BVerfGE 49, 304 (318); treffend verweist Hillgruber in Maunz/Dürig, Art. 92 GG Rz. 9, in diesem Zusammenhang auf Montesquieu, nach dem es „keine Freiheit [Anm.: gibt], wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt getrennt ist. Ist sie mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, so wäre die Macht über Leben und Freiheit der Bürger willkürlich, weil der Richter Gesetzgeber wäre. Wäre sie mit der vollziehenden Gewalt verknüpft, so würde der Richter die Macht eines Unterdrückers haben. Alles wäre verloren, wenn derselbe Mensch oder die gleiche Körperschaft … diese drei Gewalten ausüben würde: die Macht, Gesetze zu geben, die öffentlichen Beschlüsse zu vollstrecken und die Verbrechen oder Streitsachen der einzelnen zu richten“. 40 S. ausführlich BVerfG v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (286 ff.). Kritisch Hillgruber, JZ 1996, 118, (121 f.).

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chen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Sie erfordere mitunter auch, dass Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent seien, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck kämen, in einem Akt des bewertenden Erkennens ans Licht gebracht und in den Entscheidungen realisiert würden41. Eine Rechtsgrundlage für die Befugnis zur Rechtsfortbildung nennt das Bundesverfassungsgericht nicht, stellt aber heraus, dass die Befugnis zur Rechtsfortbildung unter der Geltung des Grundgesetzes nie bestritten worden sei42. Teilweise wird in der Literatur versucht, Art. 20 Abs. 3 GG mit seinem Verweis auf „Gesetz und Recht“ als Befugnisnorm für Rechtsfortbildung fruchtbar zu machen43. Teilweise wird auch Art. 92 GG als Anknüpfungspunkt gesehen44. 2. Prüfungsintensität Eine vollumfängliche Kontrolle fachgerichtlicher Entscheidungen nimmt das Bundesverfassungsgericht von vornherein nicht vor. Die Auslegung einfachen Gesetzesrechts einschließlich der Wahl der hierbei anzuwendenden Methode ist nach einer häufig verwendeten Formulierung Sache der Fachgerichte und daher nicht umfassend auf ihre Richtigkeit zu untersuchen45. Nur wenn sich die Auslegung in krassen Widerspruch zu den zur Anwendung gebrachten Normen setzt und damit ohne entsprechende Grundlage im geltenden Recht Ansprüche begründet oder Rechtspositionen verkürzt werden, die der Gesetzgeber unter Konkretisierung allgemeiner verfassungsrechtlicher Prinzipien gewährt hat, beanspruchen die Gerichte nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Befugnisse, die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen sind46. Auch bei der Kontrolle richterlicher Rechtsfortbildung kann es demnach nicht um eine Vollkontrolle gehen. Vielmehr überprüft das Bundesverfassungsgericht, ob sich die rechtsfortbildende Entscheidung anhand der vorgetragenen Argumente als gerechtfertigt darstellt, sich mithin also in einem verfassungsrechtlich noch vertretbaren Rahmen bewegt. Dementsprechend wird nicht geprüft, ob und in welchem Umfang Regelungslücken bestehen oder gewandelte Verhältnisse weiterführende rechtliche Antworten erfordern47. Auch fragt das Bundesverfassungsgericht nicht, ob es eine bessere Möglichkeit zur Lückenschließung gegeben hätte. 41 BVerfG v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (286 ff.). 42 BVerfG v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (287); v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92 u. 1 BvR 307/94, NJW 1998, 520: „Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter allerdings nicht, das Recht fortzuentwickeln. Angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse im Gegenteil zu den Aufgaben der Dritten Gewalt. Das gilt insbesondere bei zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfallentscheidung. Das hat das BVerfG gerade mit Blick auf das BGB ausgesprochen“. 43 Vgl. Hillgruber in Maunz/Dürig, Art. 97 GG Rz. 65 mit anschließender Kritik. 44 Vgl. Hillgruber, JZ 1996, 118 f., mit Kritik. 45 BVerfG v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248 (257 f.). 46 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 (209) m.w.N. 47 Ausdrücklich BVerfG v. 11. 7. 2012 − 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99 (128).

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In einigen Entscheidungen wird dieser Vertretbarkeitskontrolle eine Willkürkontrolle zur Seite gestellt48. Willkürlich sei ein Richterspruch, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar sei und sich daher der Schluss aufdränge, dass er auf sachfremden Erwägungen beruhe. Das sei anhand objektiver Kriterien festzu­ stellen49. Die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein mache eine Gerichtsentscheidung aber noch nicht willkürlich. Willkür liege vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wurde50. 3. Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs durch das Bundesverfassungs­ gericht Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung sind häufig Gegenstand von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts51. Allgemein und abstrakt geltende Vorgaben über die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung hat das Gericht aufgrund der Vielzahl denkbarer Konstellationen bisher nicht formuliert52. Die Grenzen von Rechtsfortbildung lassen sich nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht in einer Formel erfassen, die für alle Rechtsgebiete und für alle von ihnen geschaffenen oder beherrschten Rechtsverhältnisse gleichermaßen Geltung beanspruchen könnten53. Allerdings bemüht sich das Gericht gerade in jüngeren Entscheidungen um partielle Präzisierungen54. Mit Blick auf die der Prüfung richterlicher Rechtsfortbildung zugrunde zu legenden Verfassungsnormen stellt das Bundesverfassungsgericht zum einen auf den Gewaltenteilungsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 2 GG, zum anderen auf die Gesetzesbindung der Rechtsprechung aus Art. 20 Abs. 3 GG ab. Konkret wird formuliert, Art. 20 Abs. 2 GG verleihe dem Grundsatz der Gewaltenteilung Ausdruck. Auch wenn dieses Prinzip im Grundgesetz nicht im Sinne einer strikten Trennung der Funktionen und einer Monopolisierung jeder einzelnen bei einem bestimmten Organ ausgestaltet worden sei, schließe es doch aus, dass die Gerichte Befugnisse beanspruchten, die von 48 So BVerfG v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (287). 49 BVerfG v. 17.9.2013 – 1 BvR 1928/12, NZG 2014, 39 (40). 50 BVerfG v. 3.11.1992 – 1 BvR 1243/88, BVerfGE 87, 273. 51 BVerfG v. 18.12.1953  – 1 BvL 106/53, BVerfGE 3, 225; v. 14.2.1973  – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269; v. 11.10.1978  – 1 BvR 84/74, BVerfGE 49, 304; v. 19.10.1983  – 2 BvR 485/80, 2 BvR 486/80, BVerfGE 65, 182; v. 12.11.1997  – 1 BvR 479/92 u. 1 BvR 307/94, NJW 1998, 519; v. 22.8.2006  – 1 BvR 1168/04, NJW 2006, 3409; v. 15.1.2009  – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248; v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193; v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, BVerfGE 132, 99; v. 17.9.2013 – 1 BvR 1928/12, NZG 2014, 39; v. 24.2.2015 – 1 BvR 472/14, BVerfGE 138, 377; v. 23.5.2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, juris. 52 Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 187; auch Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 10.  Aufl. 2015, S.  302: „Die jeweiligen verfassungsrechtlichen Grenzen des Richterrechts sind allerdings kaum exakt zu bestimmen“. 53 BVerfG v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (288). 54 BVerfG v. 15.1.2009  – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248; v. 25.1.2011  – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193.

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der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen worden seien, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begäben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entzögen. Richterliche Rechtsfortbildung dürfe nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setze55. Zu Art. 20 Abs. 3 GG wird ausgeführt, dass der Richter durch die Bindung an Gesetz und Recht nicht auf eine reine Wortlautinterpretation beschränkt sei. Die Auffassung, ein Richter verletze seine Gesetzesbindung gemäß Art.  20 Abs.  3 GG durch jede Auslegung, die nicht im Wortlaut des Gesetzes vorgegeben sei, umreiße die Aufgabe der Rechtsprechung zu eng. Art. 20 Abs. 3 GG verpflichte die Gerichte, nach Gesetz und Recht zu entscheiden. Eine bestimmte Auslegungsmethode oder gar eine reine Wortinterpretation schreibe die Verfassung nicht vor. Der Wortlaut des Gesetzes ziehe im Regelfall keine starre Auslegungsgrenze56. Zu den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gehöre auch die teleologische Reduktion. Sie sei dann vorzunehmen, wenn die auszulegende Vorschrift auf einen Teil der vom Wortlaut erfassten Fälle nicht angewandt werden solle, weil Sinn und Zweck der Norm, ihre Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprächen57. Nach diesen Maßstäben sei eine verfassungsrechtlich unzulässige richterliche Rechtsfortbildung dadurch gekennzeichnet, dass sie, ausgehend von einer teleologischen Interpretation, den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstelle, ihren Widerhall nicht im Gesetz finde und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt werde. Richterliche Rechtsfortbildung überschreite die verfassungsrechtlichen Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte gesetzliche Entscheidungen abändere oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schaffe. Auch dürfe sich der Rechtsanwender im gewaltenteilenden Rechtsstaat nicht über den klaren Wortlaut eines Gesetzes hinwegsetzen, um einem vermuteten Ziel des Gesetzgebers Wirkung zu verschaffen58. Die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts weiter, soweit die vom Gericht im Wege der Rechtsfortbildung gewählte Lösung dazu diene, der Verfassung, insbesondere verfassungsmäßigen Rechten des Einzelnen, zum Durchbruch zu verhelfen, da insoweit eine auch den Gesetzgeber treffende Vorgabe der höherrangigen Verfassung konkretisiert werde. Umgekehrt seien die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung demgemäß bei einer Verschlechterung der rechtlichen Situation des Einzelnen enger gesteckt; die Rechtsfindung müsse sich umso stärker auf die Umsetzung bereits bestehender Vorgaben des einfachen 55 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 (209 f.). 56 BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris Rz. 22. 57 BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris Rz. 22. 58 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 (210); v. 31.10.2016 - 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris Rz. 23.

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Gesetzesrechts beschränken, je schwerer die beeinträchtigte Rechtsposition auch verfassungsrechtlich wiege59. 4. Variabilität des Maßstabs Die referierten Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts sind um Präzisierung bemüht, lassen aber gleichwohl viel Raum für Interpretation im Einzelfall. Zwar nimmt das Gericht sich selbst zurück, indem es nur solche Fehler monieren will, die zu krassen Widersprüchen mit der ausgelegten Norm führen. Diese Beschränkung kann im Einzelfall aber flexibel gehandhabt werden. Auch die Formulierung des verfassungsrechtlichen Prüfungsrahmens lässt Spielräume. So deuten die Formulierungen zu Art. 20 Abs. 2 GG einerseits darauf hin, dass sich der Richter nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen dürfe, also nicht in dessen Kompetenzbereich übergreifen dürfe. Andererseits wird bei Art. 20 Abs. 3 GG aber formuliert, der Richter sei nicht strikt an den Gesetzeswortlaut gebunden, auch eine teleologische Reduktion sei zulässig. Auch die konkret auf richterliche Rechtsfortbildung abstellenden Formulierungen umreißen den Maßstab lediglich formelhaft und interpretationsoffen. Im jeweils zu prüfenden Einzelfall bleibt auch hier viel Raum für verfassungsgerichtliche Entscheidungsvariabilität. Diese Ergebnisoffenheit birgt einerseits Gefahren der Rechtsunsicherheit, ist andererseits aber unvermeidlich. Der Prüfungsgegenstand selbst, die richterliche Tätigkeit, entzieht sich einer strikteren Maßstabsbildung. Angesichts dessen kann eine gewisse Verlässlichkeit nur durch Fallgruppenbildung und Orientierung an Präjudizien erfolgen. Festzuhalten bleibt im Übrigen auch, dass es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an richterliche Tätigkeit keinen grundlegenden Unterschied macht, ob Auslegung oder Rechtsfortbildung im Raum steht. Allenfalls graduell können sich Unterschiede daraus ergeben, dass der Richter bei der Auslegung den Gesetzeswortlaut auf seiner Seite hat und damit weniger Begründungsbedarf auslöst, während die Rechtsfortbildung jenseits des Wortlauts nicht per se die Vermutung der Zulässigkeit in sich trägt. 5. Zusätzliche Maßstäbe für das Steuerrecht Das Bundesverfassungsgericht hat jüngst ausgeführt, dass bei der Überprüfung von Rechtsfortbildung im Abgabenrecht über die geschilderten Maßstäbe hinaus weitere Aspekte zu beachten seien60. Im Bereich des Abgabenrechts würden die Anforderungen an eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung durch den aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung 59 BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris Rz. 20. 60 BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris.

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verstärkt. Danach müsse die eine Steuerpflicht begründende Norm nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt sein, so dass eine Steuerlast in gewissem Umfang für den Bürger voraussehbar sowie überschaubar werde. Adressat dieses Grundsatzes sei zunächst der Gesetzgeber, der um möglichst klare, bestimmte, exakt formulierte und in ihren Folgen vorhersehbare Normen bemüht sein müsse. Ein Verstoß eines Gerichts gegen den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung bei der Auslegung eines Steuergesetzes komme dann in Betracht, wenn es einen gesetzlichen Steuertatbestand in verfassungswidriger Weise ausweite. Dementsprechend dürften Steuerbegünstigungsvorschriften nicht in verfassungswidriger Weise einengend ausgelegt werden61. Die allgemeinen verfassungsrechtlichen Maßstäbe für richterliche Rechtsfortbildung werden also um ein zusätzliches Element angereichert. Aus dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung werden auch für die richterliche Tätigkeit Schranken entnommen. Insbesondere soll das bei steuerverschärfender Auslegungstätigkeit gelten. Die Wortlautgrenze wird dementsprechend in ihrer Bedeutung hervorgehoben und als zusätzliche Schranke eingezogen. Das erinnert an das Verbot der steuerschärfenden Analogie. Im Folgenden wird zu erörtern sein, ob und inwieweit auch angesichts dieser Aussagen des Bundesverfassungsgerichts die im Steuerrecht schon lange geführte Diskussion um das Verbot steuerverschärfender Analogie neu zu akzentuieren ist.

VI. Rechtsfortbildung im Steuerrecht 1. Geltung allgemeiner Maßstäbe und Grenzen Die skizzierten allgemeinen Begriffe und Maßstäbe gelten auch im Steuerrecht62. Die Finanzgerichtsbarkeit kann wie jede Gerichtsbarkeit die Rechtsfortbildung neben der schlichten Gesetzesauslegung zu ihren wesentlichen Aufgaben zählen. Rechtsfortbildung muss sich nicht als Anomalie rechtfertigen, sondern erfüllt im gewaltenteiligen Staat eine wichtige Auffangfunktion. Allerdings unterliegt sie insbesondere verfassungsrechtlichen Grenzen. Diese speisen sich auch für steuerrechtliche Rechtsfortbildung aus dem Gewaltenteilungsprinzip und der Gesetzesbindung des Richters63. Der Finanzrichter muss sich immer bewusst sein, dass er sich mit seinem methodischen Instrumentarium nicht über den gesetzgeberischen Willen hinwegsetzen darf. Der gesetzgeberische Wille ist, auch wenn er zu unerwünschten Ergebnissen führen kann, grundsätzlich zu beachten. Ein Verbot bestimmter Formen von Rechtsfortbildung, etwa einer solchen zu Lasten des Bürgers, hat das Bundesverfassungsgericht indes nicht formuliert64.

61 BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris Rz. 21. 62 Dies betonend auch Englisch, StuW 2015, 302 (304 ff.). 63 Siehe bereits oben V. 3. 64 Allerdings geht das Gericht davon aus, dass die Spielräume für Rechtsfortbildung umso enger würden, je stärker in die Rechtsstellung der Bürger eingegriffen werde, vgl. BVerfG v.

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Aus den allgemeinen Grundsätzen lassen sich aber eine Reihe von Begrenzungen für richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht ableiten. So wäre es dem Richter untersagt, entgegen der Entscheidung des Gesetzgebers neue Steuertatbestände im Wege der Lückenfüllung zu schaffen65. Als Beispiel wird immer wieder genannt, dass der Richter nicht von der Existenz einer Biersteuer auf die Steuerbarkeit von Wein schließen dürfe66. Auch ist es dem Richter grundsätzlich verwehrt, gegen eine ausdrücklich aus dem Gesetz ableitbare Entscheidung des Gesetzgebers zu urteilen, auch wenn sie ihm falsch erscheint. Das gilt selbst dann, wenn das die Verfassungswidrigkeit der Norm impliziert. In einem solchen Fall hat er die Norm nach Art. 100 GG vorzulegen. Als Beispiel sei hier der mittlerweile aufgehobene § 30a AO angeführt. Die ausdrückliche Normierung einer Reduktion der Kontrolldichte bei Kapitaleinkünften, die unter Beteiligung von Banken verwaltet wurden, verstieß nach zutreffender Ansicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG67. Dem BFH war es aufgrund dessen verwehrt, die Norm im Wege der Auslegung derart in ihrem Aussagegehalt zu entstellen, dass keine verfassungsrechtlichen Bedenken mehr bestanden68. 2. Verbot steuerverschärfender Analogie? Es fragt sich, ob im Steuerrecht neben diesen allgemeinen Vorgaben und Grenzen auch besondere Beschränkungen richterlicher Rechtsfortbildung gelten. Die hierzu seit langem geführte Grundsatzdiskussion wird meist unter dem Stichwort „Verbot steuerverschärfender Analogie“ verortet69. Im Kern geht es um die Frage, ob sich aus für das Steuerrecht relevanten Verfassungsnormen besondere Begrenzungen richterlicher Rechtsfortbildung ableiten lassen, die sich zu einem Analogieverbot für steuerverschärfende Regelungen verdichten können. Die früher herrschende Meinung ging davon aus, dass eine steuerverschärfende Analogie generell verboten sei70. Zur Begründung wurde zunächst auf das Demokra­ tieprinzip abgestellt. Nur der Gesetzgeber selbst besitze eine hinreichende demo­ kratische Legitimation, um belastende Eingriffsentscheidungen, wie sie mit dem Steuerrecht regelmäßig einhergingen, anzuordnen. Insoweit sei dem Gesetzesvorbehalt auch ein Analogieverbot immanent. Soweit behauptet werde, durch Analogie werde dem wahren Willen des Gesetzgebers zum Durchbruch verholfen, gehe dies 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris Rz.  20; kritisch hierzu Englisch, StuW 2015, 302 (309 f.). 65 Ausführlich Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 360 ff. m.w.N. 66 Siehe etwa Friauf in DStJG 5 (1982), S. 53 (64). 67 Siehe nur Drüen in Tipke/Kruse, §  30a AO Rz.  2 m.w.N.; zweifelnd auch BFH v. 28.10.1997 – VII B 40/97, BFH/NV 1998, 424 Rz. 52. 68 So aber BFH v. 18.2.1997 – VIII R 33/95, BStBl. II 1997, 499; dazu noch ausführlich VII. 3. C). 69 Vgl. ausführlich Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 177 ff.; Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 5 Rz. 81 ff. 70 Siehe ausführlich Friauf in DStJG 5 (1982), S.  53  ff.; Knobbe-Keuk in FS 75  Jahre BFH/ RFH, 1993, S. 303 (305); Wendt in FS Wadle, S. 1203 ff.; zu Geschichte und Hintergründen siehe auch Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 172 ff.

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fehl. Ein solcher hypothetischer Wille sei nicht geeignet, als Grundlage von hoheitlichen Eingriffen zu dienen71. Zudem ergebe sich ein Analogieverbot auch aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit. Nur das Gesetz selber könne eine rechtssichere Quelle belastender Entscheidungen sein. Demgegenüber sei es mit Grundsätzen der Rechtssicherheit nicht vereinbar, wenn der Richter derartige Eingriffsgrundlagen schaffe, die das Vertrauen des Steuerpflichtigen in die Begrenztheit der Eingriffsgrundlagen erschüttern könne72. Schließlich wird die Analogiefähigkeit des Steuerrechts insgesamt bestritten. Insbesondere Fiskalzwecknormen entzögen sich aufgrund ihres punktuellen Normcharakters, der allein aus dem Finanzierungszweck gespeist werde, einer fortbildenden Weiterentwicklung im Wege der Analogie. Es fehle im Steuerrecht regelmäßig bereits an einer planwidrigen Regelungslücke73. Diese Auffassung kann heute als überholt gelten. Sie steht nicht mit den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Rahmen für richterliche Rechtsfortbildung in Einklang und geht auch im Übrigen von zu starren Grenzziehungen aus74. Wie oben dargestellt setzt der Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsfortbildung Grenzen. Allerdings geht dies nicht so weit, dass dem Richter eine über den Wortlaut hinausgehende Rechtsfortbildung untersagt wäre. Ein solches Verbot lässt sich auch nicht aus dem Gesetzesvorbehalt oder den Anforderungen an die demokratische Legitimation staatlicher Eingriffsentscheidungen ableiten. Eine am gesetzgeberischen Willen orientierte Rechtsfortbildung, die ihren Widerhall im Gesetz findet, lässt sich mit dem Gesetzesvorbehalt in Einklang bringen. Auch reicht die demokratische Legitimation des Richters aus, um belastende Fortbildungsakte zu legitimieren, soweit diese nicht gegen das Gesetz gerichtet sind75. Der Grundsatz der Rechtssicherheit steht einer belastenden Analogie ebenfalls nicht entgegen, soweit sich eine Lücke im Gesetz zweifelsfrei auftut. In einem solchen Fall besteht die Notwendigkeit, diese Lücke in Übereinstimmung mit allgemeinen Vorgaben für die Rechtsfortbildung zu schließen76. Schließlich ist die Behauptung, das Steuerrecht sei nicht analogiefähig, in dieser Allgemeinheit nicht tragfähig. Es mag Normen geben, die aufgrund ihrer Formulierung und ihres normativen Umfelds nicht analogiefähig sind. Eine generelle Aussage kann insoweit aber nicht getroffen werden. Im Ergebnis gibt es kein allgemeines Verbot steuerverschärfender Analogie. Ein solches lässt sich aus dem Grundgesetz nicht ableiten.

71 Friauf in DStJG 5 (1982), S. 53 (60 ff.). 72 Papier in DStJG 12 (1989), S. 61 (66 f.). 73 Siehe etwa Kruse in DStJG 5 (1982), S. 71 (82). 74 Ebenso Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd.  I, 2.  Aufl. 2000, S.  177  ff.; Drüen in Tipke/ Kruse, § 4 AO Rz. 344 ff. m.w.N.; Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 5 Rz. 81 ff.; ders., StuW 2015, 302 ff. 75 Zu den Vorgaben im Einzelnen siehe BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 (210); v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris Rz. 23. 76 Zu den entsprechenden Beschränkungen siehe Englisch, StuW 2015, 302 (310 ff.).

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3. Eingeschränkte Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung im Steuerrecht Denkbar erscheint es allerdings, dass im Steuerrecht gegenüber den skizzierten allgemeinen Vorgaben richterlicher Rechtsfortbildung verschärfte verfassungsrechtliche Anforderungen gelten. Schon allein die Tatsache, dass es sich bei Steuergesetzen um Normen des öffentlichen Rechts handelt, die die Grundlage für Eingriffsentscheidungen bilden, gibt Anlass zu der Annahme, dass die Vorgaben richterlicher Rechtsfortbildung hier strenger sind als im Zivilrecht, wo weitgehend Privatautonomie herrscht77. Mit dieser allgemeinen Aussage ist indes noch nicht viel gewonnen. Vielmehr gilt es, etwaige Grenzziehungen näher zu konkretisieren, um sie als Maßstab für richterliche Rechtsfortbildung handhabbar zu machen. Anknüpfungspunkte bietet hier die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selbst. Insbesondere der erste Senat ist der Auffassung, belastende Analogien seien im Vergleich mit entlastenden nur unter erschwerten Voraussetzungen zulässig. Zur Begründung wird auf die Grundrechtsbindung jeglicher Staatsgewalt abgestellt. Soweit die vom Gericht im Wege der Rechtsfortbildung gewählte Lösung dazu diene, der Verfassung, insbesondere verfassungsmäßigen Rechten des Einzelnen, zum Durchbruch zu verhelfen, seien die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung weiter, da insoweit eine auch den Gesetzgeber treffende Vorgabe der höherrangigen Verfassung konkretisiert werde. Umgekehrt seien die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung demgemäß bei einer Verschlechterung der rechtlichen Situation des Einzelnen enger gesteckt; die Rechtsfindung müsse sich umso stärker auf die Umsetzung bereits bestehender Vorgaben des einfachen Gesetzesrechts beschränken, je schwerer die beeinträchtigte Rechtsposition auch verfassungsrechtlich wiege78. Ein verwandter, bereits oben referierter Ansatz leitet entsprechende Restriktionen aus dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung ab. Eine über den geschriebenen Steuertatbestand hinausgehende Rechtsfortbildung müsse verschärften Rechtfertigungsanforderungen unterliegen79. Zudem werden in der Literatur den Vorgaben der Gesetzesbestimmtheit und der Rechtssicherheit sowie den Grundsätzen des Vertrauensschutzes weitergehende Begrenzungen entnommen80. Der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Hürden für Rechtsfortbildung mit der Belastungstiefe des Grundrechtseingriffs steigen, hat auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität für sich. In der Tat gelten auch für Akte richterlicher Rechtsfortbildung dieselben grundrechtlichen Anforderungen, wie sie auch für Gesetzesrecht wirksam sind. Allerdings ist den Kritikern in der Literatur zuzugeben, dass es nicht die Rechtsfortbildung als solche ist, die den Rechtfertigungsbedarf auslöst, sondern der Inhalt der jeweiligen Entscheidung81. Auch das Abstellen auf den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung ist nachvollziehbar. Allerdings lässt sich aus ihm nicht ableiten, dass steuerschärfende 77 Vgl. Jachmann in FS Frotscher, 2013, S. 259 (267). 78 BVerfG v. 24.2.2015 – 1 BvR 472/14, juris Rz. 41. 79 BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris Rz. 21. 80 Siehe etwa Lang, StuW 1981, 223 (225 f.). 81 So Englisch, StuW 2015, 302 (309 f.).

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Analogien im Regelfall unzulässig wären. Vielmehr wird verdeutlicht, dass dem Wortlaut einer Eingriffsnorm dahingehend eine erhöhte Bindungswirkung zukommt, als sich in ihm auch der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit verkörpert. Will der Richter rechtsfortbildend darüber hinausgehen, muss er besonders sorgfältig begründen, warum der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung gleichwohl Rechnung getragen ist. Es muss sich auch unter Berücksichtigung aller verfügbarer Erkenntnisquellen ergeben, dass die Rechtsfortbildung im Einklang mit dem gesetzgeberischen Willen steht. Lässt sich demgegenüber erkennen, dass die Lücke vom Gesetzgeber bewusst gelassen wurde, verbietet sich der Lückenschluss im Wege der Rechtsfortbildung82. Dies gilt selbst dann, wenn der Richter die Norm bei einer solchen Anwendung für verfassungswidrig hält. Er muss dann den Weg der Normenkontrolle gehen. Zu Recht wird dieses partielle Verbot der Rechtsfortbildung auch auf solche Fälle erstreckt, in denen sich kein verallgemeinerungsfähiger gesetzgeberischer Wille ermitteln lässt83. Auch dann ist eine Rechtsfortbildung zu unterlassen. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass der Wortlautgrenze im Steuerrecht im Hinblick auf Grundsätze der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtssicherheit eine höhere Bindungswirkung zukommt, als dies etwa im Zivilrecht der Fall ist. Dies wird insbesondere bei belastenden Entscheidungen relevant, gilt aber auch für Entlastungen, die sich im Übrigen gegenüber Nichtbetroffenen faktisch auch belastend auswirken können.

VII. Bewertung der Rechtsprechung des BFH 1. Betrachtung von Fallgruppen und exemplarischen Entscheidungen Vor dem Hintergrund des so skizzierten verfassungsrechtlichen Rahmens richterlicher Rechtsfortbildung im Steuerrecht soll im Folgenden insbesondere die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs näher betrachtet werden. Angesichts der Vielgestaltigkeit und Vielzahl der Entscheidungen kann die Betrachtung nur überblicksartig und nach Fallgruppen erfolgen. Einzelne besonders wichtige Entscheidungen werden exemplarisch betrachtet. Vorweg sei angemerkt, dass sich die Rechtsprechung des BFH insgesamt als ausgewogen und im Einklang mit den Vorgaben richterlicher Rechtsfortbildung präsentiert. Wenn gleichwohl einzelne Entscheidungen kritisiert werden, ist damit kein grundlegender Zweifel an der Rechtsprechung des BFH verbunden. Zunächst (2.)  werden die von der Finanzgerichtsbarkeit geschaffenen Rechtsprechungsinnovationen näher betrachtet. Hier geht es um die Lückenausfüllung durch die Schaffung eigenständiger Rechtsinstitute, die die Rechtspraxis nachhaltig prägen.

82 Vgl. BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris Rz. 25 ff.: Das Gericht legt hier ausführlich dar, dass die Umstände der Satzungsentstehung gegen eine ausfüllungsbedürftige Lücke sprächen. 83 So Englisch, StuW 2015, 302 (311).

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Aufgrund ihrer weitreichenden Bedeutung waren und sind diese Innovationen Gegenstand tiefgreifender Diskussionen. Unter 3. und 4. werden sodann verschiedene Erscheinungsformen der sogenannten Gesetzesreparatur durch Rechtsprechung näher beleuchtet. Häufig geschieht die Reparatur mit Blick auf die Vorgaben des Grundgesetzes. Offen gegen den Gesetzeswortlaut ist die teleologische Reduktion bzw. Extension gerichtet. Hier unterliegt die Rechtsprechung besonders hohen Hürden für eine zulässige Rechtsfortbildung. Orientiert sich die Rechtsprechung hingegen zumindest formal noch am Wortlaut der Norm, spricht man im Zusammenhang mit der Gesetzesreparatur von verfassungskonformer Auslegung. Es wird sich allerdings zeigen, dass sich auch eine formal am Wortlaut orientierte Rechtsanwendung gegen das Gesetz wenden kann. Zum Ende dieses Abschnitts wird noch kurz auf Besonderheiten im Zusammenhang mit unionsrechtlichen Vorgaben eingegangen (5.). 2. Gesetzesausfüllende Rechtsprechungsinnovationen Als erste Fallgruppe seien die gesetzesausfüllenden Rechtsprechungsinnovationen behandelt. Damit sind solche richterrechtlich geschaffenen Rechtsinstitute gemeint, die im Anwendungsbereich einer Steuernorm für bestimmte Fallgruppen zu eigenständigen Rechtsfolgen führen, die im Gesetz keinen ausdrücklichen Niederschlag gefunden haben. Beispielhaft können hier die Betriebsaufspaltung oder das Sonderbetriebsvermögen genannt werden. Aber auch die Abgrenzung des gewerblichen Grundstückshandels oder die verdeckte Gewinnausschüttung gehen auf richterliche Rechtsfortbildung zurück. All diesen Phänomenen ist gemein, dass sie im Wege der Verdichtung einzelner Fälle zu allgemein anwendbaren Rechtsinstituten entwickelt wurden. In der Regel ging es darum, bestehende Besteuerungslücken zu schließen oder Umgehungsmöglichkeiten zu unterbinden. Im Einzelfall führen die genannten Rechtsinstitute mithin zu Steuerverschärfungen, die die Frage der Rechtfertigung auslösen. Es wurde bereits ausgeführt, dass es kein generelles Verbot der steuerverschärfenden Analogie gibt84. Allerdings sind die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für eine verfassungsrechtlich zulässige Rechtfortbildung zu beachten85. Aufgrund der richterlichen Gesetzesbindung und des Prinzips der Gewaltenteilung darf der Richter nicht in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers übergreifen. Insbesondere ist eine Rechtsfortbildung verboten, die den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke  – stillschweigend gebilligt

84 Dazu VI. 2. 85 Dazu V.

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wird86. Zusätzliche Schranken ergeben sich im Steuerrecht aus dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung87. Diese Vorgaben werden im Schrifttum teilweise sehr eng interpretiert. So dürfe der Richter nur zur Lückenausfüllung rechtsfortbildend tätig werden, so dass etwa die Rechtsprechung zur Betriebsaufspaltung oder zum Sonderbetriebsvermögen I und II unzulässig sei88. Diese Ansicht fasst den Bereich zulässiger Rechtsfortbildung zu eng. Sie berücksichtigt zu wenig die Aufgabe der Rechtsprechung, angesichts lückenhafter und ausfüllungsbedürftiger Gesetze gleichwohl systematisch tragfähige und praktisch anwendbare Lösungen zu finden. Erkennt der Richter, dass eine gesetzliche Regelung bei schlicht wortlautgetreuer Anwendung zu Anwendungslücken, Umgehungen oder Gleichheitsproblemen führt, darf er in Übereinstimmung mit dem aus dem Wortlaut abgeleiteten gesetzgeberischen Willen fortbildend tätig werden. Dabei dürfen grundsätzlich auch allgemeingültige Rechtssprechungsinnovationen entwickelt werden. Allerdings ist diese Befugnis zur Rechtsfortbildung nicht schrankenlos. Der Richter muss erkennen, aber welchem Punkt er sich in Widerspruch zur erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung setzt. Überschreitet er diesen Punkt, wird die Rechtsfortbildung verfassungswidrig. In jedem Einzelfall ist also zu ermitteln, ob richterliche Rechtsprechungsinnovationen zulässig sind. Meines Erachtens ist die Rechtsprechung zur Betriebsaufspaltung weitgehend sachgerecht und verfassungskonform89. Zu Recht geht die Rechtsprechung davon aus, dass die durch dieses Rechtsinstitut erfasste Konstellation nicht anders behandelt werden darf, als wenn von vornherein ein einheitliches Unternehmen bestünde. Allerdings bestehen in manchen Einzelfragen Probleme, die es erforderlich machen nachzujustieren90. Kritisch wird auch seit Jahren das Rechtsinstitut des Sonderbetriebsvermögens gesehen. Dies gilt insbesondere für das Sonderbetriebsvermögen II91. Der BFH versucht mit dem Rechtsinstitut des Sonderbetriebsvermögens zu verhindern, dass Steuerpflichtige sachwidrige Vermögensverschiebungen vornehmen können. Mit Blick auf das Sonderbetriebsvermögen I lässt sich dieses Ansinnen ohne weiteres auf den Son86 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 (210); v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris Rz. 23. 87 BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris Rz. 21. 88 So insbesondere Kruse in DStJG 18 (1995), 115 (130), siehe auch Drüen/Krämer/Loose/ Stapperfend, FR 2016, 685 ff., ähnlich Knobbe-Keuk, StbJb. 1980/81, 335 (349); dies., StuW 1974, 1 (32 ff.). 89 Ebenso Weckerle, StuW 2012, 281 (284); die Verfassungskonformität bejahend auch BVerfG v. 14.1.1969 – 1 BvR 136/62, BStBl. II 1969, 389; v. 26.10.2004 – 2 BvR 246/98, FR 2005, 139; differenzierend Gluth in Herrmann/Heuer/Raupach, §  15 EStG Anm.  774 m.w.N. 90 Dazu Weckerle, StuW 2012, 281 (286). 91 Siehe nur Desens/Blischke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 15 EStG Rz. F 19; Schneider in Herrmann/Heuer/Raupach, § 15 EStG Anm. 712 m.w.N.

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dervergütungstatbestand stützen92. Dies gilt indes nicht für das Sonderbetriebs­ vermögen II. Hier versucht der BFH aus dem Sinnzusammenhang verschiedener Normen abzuleiten, dass auch die Beteiligung eines Mitunternehmers an einer Personengesellschaft eine gewerbliche Betätigung sei. Es ist zweifelhaft, ob sich der BFH hier noch im Rahmen zulässiger Rechtsfortbildung hält. Der Sondervergütungstatbestand umreißt ausdrücklich und abschließend, welche mitunternehmerischen Betätigungen noch vom Begriff der gewerblichen Einkünfte erfasst werden. Darüber geht das Sonderbetriebsvermögen II ohne erkennbare Rechtsgrundlage hinaus93. Diese beiden Beispiele mögen genügen, um das Konfliktpotential richterlicher Innovationen zu beleuchten. Es ist immer im Einzelfall zu prüfen, ob sich die Intention des BFH, erkannte Gesetzeslücken oder Gleichheitsdefizite auszuräumen, im Rahmen des vorhandenen gesetzlichen Umfelds umsetzen lässt. Ist dies nicht der Fall, ist eine Rechtsfortbildung unzulässig, es bleibt nur eine Richtervorlage, um den Gesetzgeber selbst zum Lückenschluss anzuhalten. Gleichwohl besteht kein Grund, das Recht des BFH zur Schaffung tatbestandlich eigenständiger Rechtsprechungsinnovationen grundsätzlich in Frage zu stellen. Diese können unter den genannten einengenden Voraussetzungen die Rechtssicherheit fördern und helfen, ungewollte Gesetzeslücken im Sinne einer gleichheitskonformen Besteuerung zu schließen. 3. Teleologische Reduktion bzw. Extension a) Grundlagen Eine besondere Bedeutung für die Themenstellung nimmt auch die häufig anzutreffende Reparaturrechtsprechung des BFH ein. Diese wirft in besonderem Maße die Frage nach den Grenzen richterlicher Tätigkeit auf. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die teleologische Reduktion bzw. Extension relevant94. Im Folgenden wird nur der Fall der Reduktion betrachtet, weil er im Steuerrecht eine praktisch ungleich höhere Bedeutung besitzt als der der Extension. Das hat mit dem richterlichen Bestreben zu tun, die Folgen belastender Steuergesetze möglichst zu begrenzen. Im Falle der teleologischen Reduktion verlässt der Richter bewusst den Boden der Gesetzesauslegung und gelangt zu einer Reduzierung des gesetzlichen Anwendungsbereichs entgegen der ausdrücklichen Wortbedeutung. Schon diese Begriffsbestimmung verdeutlicht, dass eine teleologische Reduktion nur unter engen Voraussetzungen zulässig sein kann. Es nimmt daher nicht wunder, dass der BFH in vielen Entscheidungen eine teleologische Reduktion zwar erwägt, im Ergebnis aber dann doch nicht auf sie zurückgreift95. Sie lässt sich nur damit begründen, dass sie im ­Einklang mit dem gesetzgeberischen Willen stehe, indem sie das eigentlich mit dem Gesetz Gewollte besser als der Wortlaut zum Ausdruck bringe. Häufig wird die 92 Schneider in Herrmann/Heuer/Raupach, § 15 EStG Anm. 712. 93 Ebenso Schneider in Herrmann/Heuer/Raupach, § 15 EStG Anm. 714. 94 Zur Begrifflichkeit Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 5 Rz. 85 f. 95 Siehe statt vieler BFH v. 16.12.2015  – IV R 8/12, BStBl.  II 2017, 766; v. 8.11.2016  – I R 35/15, BStBl. II 2017, 768 Rz. 21 ff.; v. 18.5.2017 – IV R 36/14, BStBl. II 2017, 905.

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Notwendigkeit einer teleologischen Rechtsfortbildung mit verfassungsrechtlichen Vorgaben begründet. Dabei besteht aber die Gefahr, dass der Richter die Grenzen seiner Befugnisse überschreitet. Eine bewusste und offene Hintanstellung des Gesetzeswortlauts kann nur zulässig sein, wenn der Nachweis gelingt, dass das Ergebnis richterlicher Rechtsfortbildung im Zuge teleologischer Reduktion nicht nur den Vorgaben des Verfassungsrechts dient, sondern auch vom gesetzgeberischen Willen getragen ist. Lässt sich demgegenüber ein gesetzgeberischer Wille ermitteln, der den Verfassungsverstoß mit umschließt, bleibt der Weg der teleologischen Reduktion versperrt. Der Richter kann den angenommenen Grundgesetzverstoß nur im Wege der Richtervorlage beheben. b) Besondere Grenzen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungs­ gerichts Das Bundesverfassungsgericht hat unlängst die Vorgaben für die teleologische Reduktion im Bereich des Steuerrechts konkretisiert96. Allerdings lag dem kein Fall der finanzgerichtlichen Rechtsprechung, sondern der Verwaltungsgerichtsbarkeit zugrunde. Es ging um einen Fall, in dem der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Normen einer Zweitwohnungssteuersatzung der Stadt Freising auszulegen hatte. Nach der entsprechenden Satzung gelten nicht als Zweitwohnungen solche Wohnungen, die verheiratete und nicht dauernd getrennt lebende Personen aus beruflichen Gründen in der Stadt Freising innehaben, wenn sich die Hauptwohnung der Eheleute außerhalb der Stadt Freising befindet. Diese Norm dient dazu, eine nur für Verheiratete bestehende melderechtliche Zwangslage zu entschärfen, die darauf beruht, dass die eheliche Wohnung immer als Erstwohnung anzusehen ist97. Auch wenn die aus beruflichen Gründen gehaltene Wohnung überwiegend genutzt wird, kann sie melderechtlich nicht zum Erstwohnsitz bestimmt werden. Der VGH meinte nun, die Satzungsbestimmung sei nur dann anwendbar, wenn die Zweitwohnung überwiegend genutzt werde. In denjenigen Fällen, in denen die eheliche Hauptwohnung überwiegend genutzt werde, bestehe kein Grund für die in der Satzung enthaltene Besserstellung von Ehegatten, weil sich die melderechtliche Zwangslage nicht realisieren könne98. Das Bundesverfassungsgericht ist diesen Ausführungen entgegengetreten99. Es wiederholte zunächst die bereits oben skizzierten allgemeinen Vorgaben für richterliche Rechtsfortbildung. Sodann führte es jedoch aus, dass die Grenzen der Rechtsfortbildung umso enger seien, je stärker in Rechte der Betroffenen eingegriffen werde. Zudem würden die Anforderungen an eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung durch den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung verstärkt. Steuerbegünstigungsvorschriften dürften dementsprechend nicht in verfassungswidriger Weise einengend ausgelegt werden. Vor diesem Hintergrund sah das Bundes96 BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris. 97 Grundlegend BVerfG v. 11.10.2005 – 1 BvR 1232/00, 1 BvR 2627/03, BVerfGE 114, 316. 98 BayVGH v. 20.2.2013 – 4 ZB 12.2606, juris. 99 BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris.

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verfassungsgericht die teleologische Reduktion des VGH als unzulässige Rechtsfortbildung an, weil sie in verfassungswidriger Weise die durch die Satzung gewährten Vergünstigungen beschneide. Es fehle der einengenden Interpretation an der erforderlichen normativen Rückbindung100. Den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ist zuzustimmen101. Das Gericht umreißt die Vorgaben für rechtsfortbildende Tätigkeit im Bereich des Steuerrechts in klarer und zutreffender Weise. Eine besondere Bedeutung wird dem Wortlaut der steuerlichen Norm beigemessen. Das ist vor dem Hintergrund der besonderen Anforderungen an die Tatbestandsmäßigkeit im Steuerrecht zu begrüßen. c) Beispiele aus der Rechtsprechung des BFH Entsprechend den oben dargestellten Restriktionen hat der BFH das Instrument der teleologischen Reduktion nur zurückhaltend genutzt. Als Beispiel einer zulässigen teleologischen Reduktion mag die einschränkende Auslegung des § 15a Abs. 3 EStG dienen102. Der BFH legt in den Entscheidungsgründen überzeugend dar, dass der Gesetzgeber seine Norm zu weit gefasst habe, weil sie bestimmte erforderliche Einschränkungen nicht enthalte. Der in Satz  2 normierte Höchstbetrag bedürfe einer weiteren Einschränkung durch eine nach bestimmten Vorgaben vorzunehmende Gewinnsaldierung. Dieser Lösung ist zuzustimmen. Der BFH stellt seinen Erwägungen auch allgemeine Ausführungen über die Zulässigkeit einer vom Wortlaut abweichende Interpretation voran. Er sieht sich nur dann zur teleologischen Reduktion berechtigt, wenn die auf den Wortlaut abgestellte Auslegung zu einem sinnwidrigen Er­ gebnis führen würde103. Das hat der BFH mit Blick auf die in §  15a Abs.  3 EStG enthaltene Regelung zu Recht bejaht. Ein anderes Beispiel bildet die Rechtsprechung zu einem aus einer teleologischen Reduktion des Anwendungsbereichs der §§  16, 34 EStG im Verhältnis zu §  24 Nr.  2 EStG und im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begründeten Wahlrecht zwischen Sofortbesteuerung und Besteuerung im Zuflusszeitpunkt bei wiederkehrenden Bezügen104. Zu Recht geht der BFH hier davon aus, dass das Wahlrecht erforderlich ist, um verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden. Es wird deutlich, dass die teleologische Reduktion insbesondere dann in Betracht kommt, wenn der Gesetzgeber in komplexen Regelungszusammenhängen bestimmte Fallgruppen nicht erkannt hat, die erst im Zuge praktischer Rechtsanwendung Bedeutung erlangen. Hier hat eine reparierende Rechtsanwendung ihren Platz, um im Interesse der Steuerpflichtigen langwierige Verfahren der Gesetzesänderung zu vermeiden.

100 BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, juris Rz. 27. 101 Ebenso P. Fischer, jurisPR-SteuerR 3/2017 Anm. 1. 102 BFH v. 20.3.2003 – IV R 42/00, BStBl. II 2003, 798. 103 BFH v. 20.3.2003 – IV R 42/00, BStBl. II 2003, 798 Rz. 28. 104 Zu Grundlagen und Grenzen siehe BFH v. 20.7.2010 – IX R 45/09, BStBl. II 2010, 969.

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4. Verfassungskonforme Auslegung versus Rechtsfortbildung contra legem a) Grundlagen Richterliche Gesetzesreparatur findet häufig auch im Wege verfassungskonformer Auslegung statt. Die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung lassen sich auch im Kontext verfassungskonformer Auslegung gut veranschaulichen. Das mag zunächst verwundern, ist doch mit der verfassungskonformen Auslegung an sich kein Thema der Rechtsfortbildung, sondern der klassischen Gesetzesanwendung angesprochen. Der Begriff der Auslegung impliziert, dass die Wortlautgrenze beachtet und damit gerade keine Rechtsfortbildung betrieben wird. In der Praxis lässt sich die Wortlautgrenze aber nur schwer beherrschen, so dass die Grenzen zwischen Auslegung und Fortbildung gerade im Bereich der verfassungskonformen Rechtsanwendung verfließen. Es besteht zudem die Gefahr, dass es zu einer verdeckten Rechtsfortbildung contra legem kommt, indem der Richter versucht, eine aus seiner Sicht verunglückte Norm im Wege der „Auslegung“ zu retten und einen Verfassungsverstoß zu verhüten. Im Folgenden soll dementsprechend auch diesen Erscheinungsformen finanzgerichtlicher Tätigkeit nachgegangen werden, um die Figur der Rechtsfortbildung und ihre Zulässigkeit besser umgrenzen zu können. Die verfassungskonforme Auslegung hat eine wichtige Funktion für das einfache Gesetzesrecht unter Geltung des Grundgesetzes105. Gibt es für eine Norm mehrere mögliche Bedeutungsvarianten, so ist diejenige zu wählen, die nicht zu deren Verfassungswidrigkeit führt. Durch die verfassungskonforme Auslegung trägt der Richter zur Normerhaltung bei. Erst, wenn diese fehlschlägt, darf der Richter eine Norm dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorlegen106. Begrifflich ist Voraussetzung der verfassungskonformen Auslegung, dass sich das Ergebnis der richterlichen Tätigkeit noch als Auslegung auffassen lässt107. Der Wortlautgrenze kommt hier also eine besondere Bedeutung zu. Wird der mögliche Wortsinn überschritten, dann liegt keine Auslegung mehr vor. Der Richter bewegt sich dann im Bereich der verfassungskonformen Rechtsfortbildung. Hier sind dann Begriffe wie teleologische Reduktion oder Extension am Platz108. Diese Instrumente dürfen nur angewandt werden, wenn sich der Richter nicht in Widerspruch zu bewussten gesetzgeberischen Entscheidungen setzt, was dadurch naheliegt, dass eben keine verfassungskonforme Auslegung möglich ist. Aber auch die verfassungskonforme Auslegung selbst darf nicht gegen den eindeutig feststellbaren gesetzgeberischen Willen erfolgen.

105 Ausführlich Drüen, StuW 2012, 269 ff. 106 Vgl. auch Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 5, Rz. 92, der zutreffend darauf verweist, dass die verfassungskonforme Auslegung keine weitere Auslegungsmethode, sondern eine Vorrangregel bei der Anwendung der traditionellen Auslegungskriterien darstellt. In diesem Sinne auch Drüen, StuW 2012, 269 (271). 107 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 5 Rz. 92. 108 Dazu Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 343.

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b) Rechtsanwendung gegen das Gesetz Die BFH-Rechtsprechung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten meist im Rahmen dieser Vorgaben gehalten und die Grenze zulässiger Auslegung beachtet. Allerdings gibt es auch Ausreißer, bei denen die Richter der Versuchung nicht widerstanden haben, sich an die Stelle des Gesetzgebers zu setzen, und im Ergebnis Rechtsfortbildung contra legem betrieben haben. Als ein Beispiel mögen die Entscheidungen aus dem Jahre 2011 zu § 12 Nr. 5 EStG dienen109. Die im Jahre 2004 neu eingefügte und mittlerweile wieder gestrichene Vorschrift belegte Aufwendungen für eine Erstausbildung und ein Erststudium grundsätzlich mit einem Abzugsverbot. Lediglich ein Sonderausgabenabzug nach § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG sollte in begrenzter Höhe möglich sein. Der Gesetzgeber reagierte mit der Einfügung der Norm auf eine Rechtsprechungsänderung des BFH, nach der entsprechende Bildungsaufwendungen als Erwerbsaufwendungen anzusehen sein könnten110. Mit seinen hier interessierenden Entscheidungen führte der BFH aus, entsprechende Aufwendungen könnten trotz § 12 Nr. 5 EStG weiterhin als Werbungskosten oder Betriebsausgaben abgezogen werden, wenn ein entsprechender Veranlagungszusammenhang bestehe. Die Vorschrift mache nicht hinreichend deutlich, dass sie einem entsprechenden Abzug von Erwerbsaufwendungen entgegenstehe. Deshalb könne auch dahinstehen, ob eine fehlende Abzugsfähigkeit von Bildungsaufwendungen verfassungsrechtliche Probleme auslöse111. Diese Entscheidungen sind zu kritisieren112. Zwar verfolgen sie vordergründig den Zweck, eine Kollision einer als problematisch erkannten Norm mit Verfassungsrecht zu vermeiden. Sie tun dies aber um den Preis der Überdehnung des richterlichen Auslegungsspielraums. Die Auslegung einer Norm endet zum einen bei ihrem Wortlaut. Andererseits darf der Richter aber auch nicht über den erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinausgehen, auch wenn er sich formal noch innerhalb des möglichen Wortsinns bewegt. Der eindeutig auf ein unbeschränktes Verbot hinzielende Wortlaut in Verbindung mit der Verortung des Abzugsverbots bei § 12 Nr. 5 EStG weist zusammen mit der Gesetzgebungsgeschichte eindeutig auf den gesetzgeberischen Willen hin, der Rechtsprechungsänderung entgegenzuwirken und Aufwendungen für eine Erstausbildung nicht zum Abzug als Erwerbsaufwendungen zuzulassen113. Angesichts dessen ist es nicht gerechtfertigt, sich über diesen gesetzgeberischen Willen mit der lapidaren Bemerkung hinwegzusetzen, er bilde sich nicht hinreichend konkret im Wortlaut der Norm ab114. Nachdem der Gesetzgeber seinen Willen im Anschluss an diese Entscheidung noch einmal deutlicher im Gesetz verankert hat, ist 109 BFH v. 28.7.2011 – VI R 38/10, BStBl. II 2012, 561; teilweise inhaltsgleich v. 28.7.2011 – VI R 7/10, juris; v. 28.7.2011  – VI R 59/09, juris; v. 15.9.2011  – VI R 22/09, juris; v. 15.9.2011 – VI R 15/11, juris. 110 Siehe Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 263. 111 BFH v. 28.7.2011 – VI R 38/10, BStBl. II 2012, 561. 112 Ebenso Ismer, FR 2011, 846 ff.; Reiß, FR 2011, 862. 113 Vgl. zu den Hintergründen Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 263. 114 Ebenso ausführlich Ismer, FR 2011, 846 ff.

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der BFH den schon von Anfang an vorzugswürdigen Weg der Richtervorlage gegangen115. c) Zu weitreichende Auslegung als unzulässige Rechtsfortbildung Ein weiteres Beispiel problematischer Auslegungstätigkeit stellt die Entscheidung des VIII. Senats zu § 30a AO aus dem Jahr 1997 dar116. Diese Regelung, die mittlerweile aufgehoben worden ist117, wurde vom Gesetzgeber im Zuge der Neuordnung der Besteuerung von Zinsaufwendungen zu Beginn der 1990er Jahre in die Abgabenordnung eingefügt. Sie sollte als sogenanntes „kleines Bankgeheimnis“ das Vertrauensverhältnis zwischen Banken und ihren Kunden besonders schützen, indem die Ermittlungsbefugnisse der Finanzbehörden partiell eingeschränkt wurden. Schon kurz nach ihrer Einführung wurden verfassungsrechtliche Zweifel gegenüber der Norm erhoben. Insbesondere wurde bemängelt, sie widerspreche dem gesetzgeberischen Ziel, strukturelle Vollzugsdefizite zu verhindern118. Der VIII. Senat des BFH fällte dazu im Jahr 1997 ein bemerkenswertes Urteil119. Er unterzog alle fünf Absätze der Norm einer ins Einzelne gehenden Betrachtung und sah sich veranlasst, im Wege verfassungskonformer Auslegung wesentliche Bedeutungseinschränkungen vorzunehmen. So sprach er Absatz 1 lediglich die Funktion einer normativ nicht weiter bedeutsamen Präambel zu. Die Absätze 2, 4 und 5 wurden in ihrem Bedeutungsgehalt so reduziert, dass ihnen kein praktischer Anwendungsbereich verblieb, der über das ohnehin Geltende hinausginge. Lediglich Absatz 3 wurde als echte Neuregelung aufgefasst, die in ihrem Anwendungsbereich aber auch nur auf wenige Anwendungsfälle beschränkt sei. Im Ergebnis sah der VIII. Senat keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken mehr. Dieses Vorgehen ist auf Kritik gestoßen. Schon der VII.  Senat vermochte der Entscheidung nicht zu folgen120. Auch in der Literatur wurde bemängelt, dass der BFH mit seiner Auslegung zu weit gegangen sei. Der Gesetzgeber habe keine Norm schaffen wollen, die in weiten Bereichen ohne Anwendungsbereich bleibe. Vielmehr sei die Vorschrift bewusst geschaffen worden, um Bankkunden wirksam vor Ermittlungen der Finanzbehörden zu schützen121. Die Kritik ist berechtigt. Den Kritikern ist zunächst darin zuzustimmen, dass es sich bei §  30a AO um eine missglückte und vermutlich auch verfassungswidrige Norm handelte, weil sie eine nicht gerechtfertigte Sonderbehandlung von Bankkunden im 115 BFH v. 17.7.2014 – VI R 8/12, VI R 61/11, VI R 38/12, VI R 2/13, VI R 72/13, juris; Az. BVerfG: 2 BvL 24/14. 116 BFH v. 18.2.1997 – VIII R 33/95, BStBl. II 1997, 499. 117 Zu den Hintergründen siehe Drüen in Tipke/Kruse, § 30a AO Rz. 1 ff. 118 Neuwald, Das steuerliche Bankgeheimnis, 1999, S. 196; vgl. auch Drüen in Tipke/Kruse, § 30a AO Rz. 2 m.w.N. 119 BFH v. 18.2.1997 – VIII R 33/95, BStBl. II 1997, 499. 120 BFH v. 28.10.1997 – VII B 40/97, BFH/NV 1998, 424. 121 Zu den widerstreitenden Auslegungsvarianten siehe Drüen in Tipke/Kruse, §  30a AO Rz. 13.

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Rahmen des Besteuerungsverfahrens bewirkte. Diese Problematik war indes nicht im Wege verfassungskonformer Auslegung zu lösen, weil der im Gesetz eindeutig zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wille dem entgegenstand. Auch in diesem Fall wäre es vorzugswürdig gewesen, dem Bundesverfassungsgericht die Frage nach der Vereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz zur Entscheidung vorzulegen. 5. Umgang mit unionsrechtlichen Vorgaben Abschließend sei noch auf Besonderheiten bei der Rechtsanwendung im Zusammenhang mit Vorgaben des Europäischen Unionsrechts eingegangen. Hier sieht sich die finanzgerichtliche Rechtsprechung besonderen Herausforderungen gegenüber. Dies liegt insbesondere daran, dass zwei Rechtsordnungen in einem komplexen Gefüge ineinandergreifen. Das Unionsrecht geht in seinem Anwendungsbereich jeglichem nationalen Recht vor und beansprucht Anwendungs-, nicht aber Geltungsvorrang. Dies kann zu komplizierten Anwendungsfragen führen. Im Kern geht es im Steuerrecht um zwei Konstellationen. Zum einen ist vor allem der Bereich der indirekten Steuern in weitem Umfang sekundärrechtlich überformt. Das Richtlinienrecht prägt das nationale Recht. Im Zuge dessen fragt sich häufig, ob das nationale Recht noch im Wege richtlinienkonformer Auslegung Bestand haben kann, oder ob es unter bestimmten Voraussetzungen stattdessen zur unmittelbaren Anwendung der Richtlinie kommen muss. Als ultima ratio steht ein Vertragsverletzungsverfahren im Raum. Entscheidende Bedeutung kommt mithin der Wortlautgrenze zu122. Eine Befugnis zur Fortbildung europarechtlicher Grundlagen besteht für den nationalen Richter nicht. Auch gibt es nominell keine Befugnis zur wortlautüberschreitenden richtlinienkonformen Rechtsfortbildung nationalen Rechts. Aber ebenso wie im rein nationalen Fall sind die Grenzen häufig fließend und nicht eindeutig bestimmbar. In dieser Gemengelage kann die Neigung bestehen, Auslegungsspielräume großzügig auszunutzen und möglicherweise auch zu überdehnen, um nicht vorlegen zu müssen oder Europarecht direkt anwenden zu müssen. Noch komplexer stellt sich die Rechtslage im zweiten Fall des nicht harmonisierten Rechts dar. Insbesondere im Bereich der direkten Steuern existiert häufig kein harmonisierendes Richtlinienrecht. Die Grundfreiheiten, neuerdings zunehmend auch das Beihilfenrecht, bilden die alleinige Beurteilungsgrundlage für das nationale Steuerrecht. Hier kann es häufig vorkommen, dass einzelne Vorgaben des nationalen Rechts mit Europarecht in Konflikt kommen. In einem solchen Fall ist es aber häufig nicht damit getan, die fragliche Bestimmung einfach außer Anwendung zu lassen. Vielmehr bleibt bei Nichtanwendung ein normativer Torso zurück, der zu nicht mehr beherrschbaren Folgefragen führt. In dieser Lage muss der Richter entscheiden, ob er im Wege geltungserhaltender Reduktion das nationale Recht so fortbildet, dass es in europarechtskonformer Weise noch zu sinnvollen Ergebnissen führt123. Zu Recht 122 Hierzu bereits III. 2. 123 Näher auch Englisch, StuW 2015, 302 (311 f.).

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wird hier aber kritisiert, dass der Richter hier Gefahr läuft, den gesicherten Bereich der Rechtsanwendung zu verlassen und in den Bereich des Gesetzgebers überzugreifen124. Der Vorteil der europarechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts besteht darin, dass der Rechtsfall kurzfristig und ohne Eingreifen des Gesetzgebers entschieden werden kann. Der Nachteil kann in einer nachhaltigen Rechtsunsicherheit liegen. Letztlich muss im Zweifel auch im europarechtlich geprägten Rechtsbereich der Gesetzgeber tätig werden, um Problemfälle zu beheben und Rechtssicherheit herzustellen. Als Beispiel mag die Kontroverse zwischen dem V. und dem XI. Senat über die zutreffenden Folgerungen aus der Rechtsprechung des EuGH zur Anwendung der umsatzsteuerlichen Organschaft auch auf Nicht-Körperschaften dienen125. Hier wird die für die Steuerpflichtigen entstandene Unsicherheit nur durch den Gesetzgeber zu lösen sein.

VIII. Abschließende Bewertung Die finanzgerichtliche Rechtsprechung unterliegt mit Blick auf Rechtsfortbildung und Rechtsprechungsinnovationen keinen grundlegend anderen Rahmenbedingungen als jede andere Gerichtsbarkeit126. Die aus der allgemeinen Methodenlehre bekannten Begrifflichkeiten, aber auch die dort herrschenden Abgrenzungsschwierigkeiten und Kontroversen, lassen sich auch auf den Bereich des Steuerrechts übertragen. Lediglich die Tatsache, dass es sich beim Steuerrecht um meist belastendes öffentliches Recht handelt, führt zu weiteren Restriktionen für den Richter, da die Bindung an den Wortlaut bei belastenden Entscheidungen stärker ausgeprägt sein kann als im privatautonom gestaltbaren Zivilrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in den letzten Jahren bemüht, die für alle Gerichtsbarkeiten geltenden Vorgaben für Auslegung und Rechtsfortbildung zu verdeutlichen und zu konkretisieren. Es zeigt sich, dass vor allem die Wortlautgrenze einerseits und der Wille des Gesetzgebers andererseits die hauptsächlichen und wirkmächtigen Begrenzungsfaktoren sind, die die richterliche Gestaltungsmacht in unterschiedlichen Konstellationen begrenzen und leiten. Vor diesem Hintergrund erscheinen Grundsatzdiskussionen wie die um ein Analogieverbot im Steuerrecht als Teildiskussionen in einem größeren diskursiven Rahmen. Die ausgetauschten Argumente werden meist auch bei anderen Rechtsgebieten und Gerichtsbarkeiten vorgebracht. Angesichts dessen nimmt es nicht wunder, dass auch die Rechtsprechung der Finanzgerichte und hier insbesondere des BFH nicht aus dem allgemeinen Rahmen fällt. Es konnte anhand verschiedener Fallgruppen und Entscheidungen gezeigt werden, dass der BFH meist sehr sachgerecht und bedächtig mit den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung umgeht. Lediglich in manchen Grenzbereichen mag im einen oder anderen Fall eine Grenzüberschreitung er124 Pointiert Drüen, StuW 2012, 269 (274 f.). 125 Siehe hierzu nur Wäger, UR 2017, 664 ff. 126 Ebenso Wendt in FS Wadle, S. 1203 (1217).

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folgt sein. In diesem Kontext sei immer darauf verwiesen, dass die Zuständigkeit zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes beim Bundesverfassungsgericht liegt. Die Finanzgerichtsbarkeit sollte sich jenseits des aufgezeigten Spielraums zulässiger Gesetzesreparatur nicht als Ersatzgesetzgeber betätigen. Vielmehr ist es in solchen Fällen besser, den Weg der Vorlage zu wählen, als den vermeintlich einfacheren Weg der – möglicherweise kompetenzwidrigen – Rechtsfortbildung gegen den Willen des Gesetzgebers.

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … C.

Rechtsprechungskontinuität und Rechtsprechungsänderungen – nationale Sicht Von Dr. Christian Levedag

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Anerkennung des Gebots der Recht­ sprechungskontinuität 1. Präjudizienbildung und -bindung als Anknüpfungspunkt der Recht­ sprechungskontinuität a) Zulässigkeit der Präjudizienbildung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung b) Anerkennung der Präjudizienbildung und -bewahrung im finanzgericht­ lichen Verfahrensrecht 2. Das Kontinuitätsgebot als Verpflichtung aller Träger öffentlicher Gewalt III. Anforderungen an eine „rechtmäßige“ Änderung der Rechtsprechung 1. Begriff und Erscheinungsformen der Rechtsprechungsänderung 2. Genereller Vorrang der „besseren Rechtserkenntnis“ bei hinreichend tragfähigen Gründen 3. Kein Vorrang von Rechtsprechungs­ kontinuität oder Vertrauensschutz zugunsten der Finanzverwaltung bei Rechtsprechungsänderungen zugunsten der Steuerpflichtigen a) Rückwirkende Geltung der Recht­ sprechungsänderung aufgrund der Gesetzesbindung der Verwaltung b) Blick auf die jüngere Entscheidungspraxis des BFH bei Änderung einer langjährigen Rechtsprechung zugunsten der Steuerpflichtigen

IV. Rechtsprechungskontinuität und Vertrauensschutz bei Änderung einer langjährigen Rechtsprechung zu Lasten der Steuerpflichtigen 1. Langjähriger Grundsatz: Fortentwicklung der Rechtsprechung durch den BFH mit ergänzender Anpassungsregelung durch die Finanzverwaltung 2. Beibehaltung einer begünstigenden Rechtsprechung aufgrund des Konti­ nuitätsgebots in besonderen Einzelfällen 3. Anwendung einer verschärfenden Rechtsprechungsänderung nur für die Zukunft a) Berechtigung des BFH zur Schaffung richterlicher Übergangsregelungen b) Voraussetzungen einer Übergangs­ regelung nach dem Beschluss des GrS 2/04 und Folgerechtsprechung c) Gewährung von Vertrauensschutz nach Wegfall der zivilrechtlichen Grundlage einer langjährigen Rechtsprechung 4. Verhältnis und Bindungswirkung der verschiedenen Vertrauensschutzmaßnahmen a) Alternative Instrumente b) Bindungswirkung einer aus Vertrauensschutzgründen erlassenen Übergangsregelung V. Geringe Bedeutung der sog. Ankündigungsrechtsprechung in der Entscheidungspraxis des BFH VI. Fazit

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I. Einleitung Die Grenzen, die das Gebot der Rechtsprechungskontinuität einer Rechtsprechungsänderung des BFH setzt, sind seit jeher Gegenstand von Entscheidungen des BFH und der wissenschaftlichen Diskussion1. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Bestandsaufnahme der aktuellen Entscheidungspraxis des Gerichts aus dem Blickwinkel des Revisionsrichters.

II. Anerkennung des Gebots der Rechtsprechungskontinuität 1. Präjudizienbildung und -bindung als Anknüpfungspunkt der ­Rechtsprechungskontinuität a) Zulässigkeit der Präjudizienbildung durch die höchstrichterliche ­Rechtsprechung Das geltende Recht setzt sich nicht nur aus den klassischen geschriebenen und ungeschriebenen Rechtsquellen zusammen, sondern gewinnt seinen konkreten Gehalt erst unter Einbeziehung gerichtlicher Entscheidungen und im Lichte der rechtswissenschaftlichen Aufarbeitung2. Der Beitrag der Rechtsprechung zur Konturierung der Rechtslage wird als „judikative Rechtserzeugung“ umschrieben: Die Tätigkeit des  Richters im Rahmen der Gesetzesauslegung ist „rechtserzeugend“, da die vom Gesetzgeber geschaffenen Normen regelmäßig kein derartiges Maß an Konkretheit aufweisen, dass sie unmittelbar einer Subsumtion zugänglich wären; die richterliche Gesetzesauslegung ist eine vermittelnde Konkretisierungsleistung zwischen der  vom Gesetzgeber erlassenen Norm und der Einzelfallanwendung3. Als Er­ gebnis  ­dieser „Rechtserzeugung“ entstehen Präjudizien. Dies sind die in einem ­Rich­terspruch zur Entscheidungsfindung herangezogenen verallgemeinerungsfähigen Rechtsauffassungen, die nicht nur zur Beurteilung des Einzelfalls dienen und deshalb geeignet sind, für die Entscheidung in künftigen Streitfällen einen Maßstab zu bilden4. Ein Präjudiz (etwa des BFH) ist nicht wie eine Norm in anderen Fällen allgemeinverbindlich. Wer von ihm abweicht, verstößt nicht gegen Art. 20 Abs. 3 GG; der Geltungsanspruch einer Entscheidung des BFH über den Einzelfall hinaus beruht auf

1 Siehe z.B. Kanzler in FS Spindler, S. 265 ff.; Kruse in FS 75 Jahre RFH/BFH, S. 239 ff.; Leisner-Egensperger in DStJG 27 (2003), S.  191  ff.; dies., Kontinuität als Verfassungsprinzip (2002), S. 615 ff., Kirchhof, DStR 1989, 263 ff.; Wassermeyer, DStR 1989, 561 ff. 2 Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, S. 1. 3 Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, S. 34 und S. 49 ff.; Kirchhof, DStR 1898, 263 (265). 4 Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, S. 36; Kruse in FS 75 Jahre RFH/BFH, S. 239 (242); Lundmark, JuS 2000, 546 (547).

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der Überzeugungskraft der Gründe5. Entscheidungen des BFH entfalten auf dieser Grundlage eine unbestrittene faktische Wirkungsmacht und Bindungswirkung in der Praxis6. Dies gilt insbesondere, wenn die Entscheidungen im Bundessteuerblatt und in den Steuerrichtlinien der Finanzverwaltung veröffentlicht werden7. Die Entscheidungen prägen die steuerrechtliche Praxis in einer Weise, die oftmals den Gesetzestext in den Hintergrund treten lässt8. b) Anerkennung der Präjudizienbildung und -bewahrung im ­finanzgerichtlichen Verfahrensrecht aa) Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung als Verfassungsauftrag der Judikative Die Rechtsordnung schreibt den obersten Bundesgerichten (Art. 95 Abs. 1 GG) die Leitfunktion zu, das geltende Recht fortzubilden und Wertungswidersprüche darin zu minimieren9. Dies gilt innerhalb der Gerichtsbarkeit, innerhalb der einzelnen Bundesgerichte10 und zwischen den Bundesgerichten (Art. 95 Abs. 3 GG). Die „Einheitlichkeit der Rechtsprechung“ zu wahren, ist Verfassungsauftrag (Art. 95 Abs. 3 Satz 1 GG)11. Diese ist wie das Kontinuitätsgebot ein Teil des Gebots der Rechtssicherheit und damit des Rechtsstaatsprinzips12. Das jeweilige oberste Bundesgericht muss zur Umsetzung dieses Auftrags für seine Fachgerichtsbarkeit sorgen13. Die letzten Instanzen haben das letzte Wort darüber, was Recht ist und entscheiden abschließend, wie Recht richtig anzuwenden ist14. Auch die Verfahrensordnungen sollen die Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsanwendung und damit die Bildung und den Erhalt bestehender Präjudizien möglichst lückenlos gewährleisten (siehe unter bb)15.

5 BFH v. 7.12.2010 – IX R 70/07, BStBl. II 2011, 346 Rz. 47; Lundmark, JuS 2000, 546 (546). 6 Schönberger, VVDStRL 71, S.  296 (319): faktische Leitfunktion der höchstrichterlichen ­Judikatur; Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S.  616; Kruse in FS 75 Jahre RFH/BFH, S. 239 (239). 7 Zu einer weitergehenden Verbindlichkeit höchstrichterlicher Rechtsprechung gegenüber der Finanzverwaltung siehe BFH v. 7.12.2010 – IX R 70/07, BStBl. II 2011, 346 Rz. 49. 8 Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, S.  2; Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S. 616: gesetzesähnliche oder gesetzesgleiche Wirkung. 9 BFH v. 7.12.2010 – IX R 70/07, BStBl. II 2011, 346 Rz. 48. 10 Vgl. dazu § 132 Abs. 2 GVG; § 11 Abs. 3 VwGO; § 45 Abs. 2 ArbGG; § 41 Abs. 2 SGO; § 11 Abs. 2 FGO. 11 BFH v. 7.12.2010 – IX R 70/07, BStBl. II 2011, 346 Rz. 49. 12 BFH v. 9.10.2014 – GrS 1/13, BStBl. II 2015, 345 Rz. 52. 13 BFH v. 7.12.2010 – IX R 70/07, BStBl. II 2011, 346 Rz. 48. 14 BFH v. 7.12.2010 – IX R 70/07, BStBl. II 2011, 346 Rz. 48. 15 BFH v. 7.12.2010 – IX R 70/07, BStBl. II 2011, 346 Rz. 49; v. 9.10.2014 – GrS 1/13, BStBl. II 2015, 345 Rz. 52.

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bb) Bindung der Revisionszulassung an die Behandlung abstrakter ­Rechtsfragen im Allgemeininteresse Die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), der Rechtsfortbildung im Hinblick auf eine vom Rechtsmittelführer benannte abstrakte Rechtsfrage (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO) und der Divergenz (Abweichung eines Gerichts von dem abstrakten tragenden Rechtssatz eines anderen Gerichts, vgl. § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO) haben individuellen Rechtsschutz zu gewährleisten, enthalten als Voraussetzung aber sämtlich auch an das Interesse der Allgemeinheit, in einem Re­visionsverfahren eine Entscheidung des Revisionsgerichts über eine abstrakte Rechtsfrage herbeizuführen, die über den Einzelfall hinaus wirkt16. Damit dient die Nichtzulassungsbeschwerde auch der Präjudizienbildung und -bewahrung. Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO) spiegelt zudem wider, dass höchstrichterliche Präjudizien im Verhältnis der Ober- und Untergerichte von den Instanzgerichten bei der Entscheidungsfindung grundsätzlich zu befolgen sind. Finanzgerichte dürfen zwar zur Rechtsfortbildung von einem Präjudiz des BFH abweichen; die Abweichung „im Grundsätzlichen“ (nicht der reine Subsumtionsfehler)17 vermittelt dem Rechtsmittelführer bei einer fehlenden Revisionszulassung aber die Möglichkeit, die Entscheidung vor dem BFH überprüfen zu lassen18. Dies kann nach Zulassung der Revision im Ergebnis zu einer Bestätigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung unter Aufhebung der Vorentscheidung, deren Fortentwicklung oder Änderung führen19. cc) Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist vorrangig vor der Rechtsfortbildung Innerhalb des BFH regelt § 11 FGO mit der Anrufung des Großen Senats für Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Wege der Divergenzvorlage (§ 11 Abs. 2, 3 FGO) und der Rechtsfortbildungsvorlage (§ 11 Abs. 4 FGO) ein Verfahren, dass die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und damit auch deren Kontinuität erhalten soll. Die Divergenzvorlage sichert die Einheitlichkeit der Rechtsprechung nicht nur innerhalb des BFH, sondern in der gesamten Finanzgerichtsbarkeit und verhindert so auseinanderdriftendes Recht20. Die Rechtsfortbildungsvorlage umfasst die Fälle einer zu erwartenden Abweichung wegen unterschiedlicher Rechtsprechungstendenzen verschiedener Senate und verlagert die Divergenzvorlage zeitlich nach vorn21. Mei16 Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, S.  291 (292); siehe auch Werth in Gosch, § 115 FGO Rz 3, 72.1, 91, 114 f., 119, 120 zu den einzelnen Zulassungsgründen; Gräber/ Ratschow, 8. Aufl, §  115 FGO Rz.  8; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, §  115 FGO Rz. 16, 17. 17 Vgl. aus der ständigen Rechtsprechung z.B. BFH v. 11.12.2014  – XI B 49/14, BFH/NV 2015, 363 Rz. 16. 18 Maurer in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 4, § 79 Rz. 137, 138. 19 Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, S. 293; s. auch Lundmark, JuS 2000, 546 (548). 20 BFH v. 9.10.2014 – GrS 1/13, BStBl. II 2015, 345. 21 Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, S. 294.

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nungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Senaten des BFH werden im Großen Senat zum Ausgleich gebracht22. Zwischen dem der Rechtsprechung zugewiesenen Auftrag zur Rechtsfortbildung, den die einzelnen Senate des BFH im Rahmen ihrer geschäftsplanmäßigen Zuständigkeit zu erfüllen haben und dem Auftrag, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern, besteht ein Spannungsverhältnis. Aus § 11 FGO ist als gesetzgeberische Grundentscheidung ein Vorrang der Einheitlichkeit der Rechtsprechung vor der Rechtsfortbildung abzuleiten, was für eine strenge Auslegung der Vorschrift spricht23. Dementsprechend entfällt die Vorlagepflicht eines Senats wegen Divergenz nach einem Zuständigkeitswechsel gemäß §§ 11 Abs. 2 und 3 FGO nur, wenn für die Zukunft die Gefahr divergierender Entscheidungen auszuschließen ist, weil der andere Senat nicht mehr mit der Rechtsfrage befasst werden kann24. dd) Präjudizienbindung innerhalb desselben Verfahrens durch § 126 Abs. 5 FGO Eine strenge Bindung der Finanzgerichte an ein Präjudiz des BFH und eines BFH-Senats an das Präjudiz eines anderen BFH-Senats gilt gemäß § 126 Abs. 5 FGO innerhalb desselben finanzgerichtlichen Verfahrens. Nach dieser Vorschrift hat das Gericht, an das die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Bundesfinanzhofs zugrunde zu legen. Dies gilt sowohl für die Finanzgerichte im Fall der Zurückverweisung (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO)25 als auch nach einem Wechsel der geschäftsplanmäßigen Zuständigkeit für einen im zweiten Rechtsgang zuständig werdenden BFH-Senat26. Die Bindung im zweiten Rechtsgang gilt unabhängig davon, ob das im ersten Rechtsgang ergangene Urteil formell- oder materiell-rechtlich richtig ist27. Nach der jüngeren Rechtsprechung des BFH bewirkt die Bindungswirkung des § 126 Abs. 5 FGO sogar, dass im zweiten Rechtsgang vor dem BFH erstmals geäußerte verfassungsrechtliche Bedenken der Beteiligten gegen die Gesetzesauslegung des BFH im Zurückverweisungsbeschluss des ersten Rechtsgangs nicht mehr entscheidungserheblich sind28. Dies dient dem höherrangigen Zweck, einen alsbaldigen Rechtsfrieden zwischen den Prozessparteien herbeizuführen29. Die Bindung entfällt nur, wenn sich 22 BFH v. 9.10.2014 – GrS 1/13, BStBl. II 2015, 345. 23 BFH v. 9.10.2014 – GrS 1/13, BStBl. II 2015, 345 Rz. 60. 24 Zustimmend Steinhauff, jurisPR-SteuerR 8/2015 Anm. 4. 25 Bei Nichtbeachtung der Bindungswirkung liegt, wenn keine Ausnahme von der Bindungswirkung greift, ein Verfahrensmangel vor, siehe BFH 8.11.2017  – IX R 35/15, BFH/NV 2018, 347. 26 Vgl. z.B. GmS-OGB v. 6.2.1973 – GmS-OGB 1/72, BFHE 109, 206; BFH v. 4.10.1973 – GrS 8/70, BStBl. II 1974, 12. 27 Z.B. BFH v. 26.3.1980 – I B 11/80, BStBl. II 1980, 334; v. 2.5.1997 – I B 117/96, BFH/NV 1998, 18; v. 8.11.2017 – IX R 35/15, BFH/NV 2018, 347. 28 BFH v. 13.7.2016 – VIII R 73/13, BFHE 254, 404 Leitsatz 1 und Rz. 10 mit Bezugnahme auf BGH v. 21.11.2006 – XI ZR 347/05, NJW 2007, 1127. 29 BFH v. 13.7.2016 – VIII R 73/13, BFHE 254, 404 Rz. 10 m.w.N.

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im zweiten Rechtsgang ein anderer Sachverhalt ergibt oder wenn nach der Zurückverweisung eine rückwirkende Gesetzesänderung oder eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung eintritt30. 2. Das Kontinuitätsgebot als Verpflichtung aller Träger öffentlicher Gewalt Schafft der Richter Präjudizien, stehen diese nur mit der Verfassung im Einklang, wenn sie den Grundentscheidungen des Grundgesetzes, vornehmlich dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, entsprechen31. Wie alle Träger hoheitlicher Gewalt sind auch die Gerichte dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verpflichtet. Der Große Senat des BFH hat daher der Kontinuität der höchstrichterlichen Rechtsprechung als wesentlichem Element der Rechtssicherheit wiederholt einen hohen Stellenwert eingeräumt32. Die Pflicht zur Kontinuitätsgewähr in diesem Sinne zielt nicht primär auf den Bestand (die „Erstarrung“) des einmal gegebenen Rechtszustands ab; sie geht vielmehr von der Entwicklung des Rechts aus, verlangt aber, dass sie kontinuierlich (stetig und konsequent) unter Vermeidung sprunghafter oder unstimmiger Änderungen erfolgt33. Um eine „Versteinerung“ der Rechtsprechung zu vermeiden, steht der Gesichtspunkt der Kontinuität der Änderung einer selbst langjährigen ständigen Rechtsprechung aufgrund besserer Rechtserkenntnis nicht entgegen, wenn für einen solchen Rechtsprechungswandel gewichtige sachliche Erwägungen sprechen34. Das BVerfG hat zudem geklärt, das strenge Verbot der echten Rückwirkung von Gesetzen lasse sich nicht auf die Rückwirkung höchstrichterlicher Entscheidungen übertragen, weil dies die Gerichte an einmal eine einmal feststehende Rechtsprechung binden würde, auch wenn sich diese im Licht einer besseren Rechtserkenntnis oder angesichts des Wandels der sozialen oder wirtschaftlichen Verhältnisse als nicht mehr haltbar erweise35. Siehe zu Einzelheiten in Abschnitt III. Bei rückwirkenden verschärfenden Rechtsprechungsänderungen zu Lasten der Steuerpflichtigen greifen Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz ineinander. Das in Art.  20 Abs.  3 GG statuierte Rechtsstaatsgebot bindet Exekutive (Verwaltung) und Judikative (Rechtsprechung) an Gesetz und Recht und verpflichtet diese nicht nur zur Wahrung des Prinzips der materiellen Gerechtigkeit („Rechtsrichtigkeit“), sondern gleichrangig zur Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Ver-

30 GmS-OGB v. 6.2.1973 – GmS-OGB 1/72, BFHE 109, 206. 31 BVerfG v. 14.1.1987 – 1 BvR 1052/79, BVerfGE 74, 129 (152 m.w.N.); Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 165 ff. 32 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 Rz. 95. 33 Maurer in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 4, § 79 Rz. 3; Birk in DStJG 27 (2003), S.  9 (11); Leisner-Egensperger, Kontinuitätsgewähr als Verfassungsgebot, 2002, S. 11 ff. 34 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 Rz. 95; siehe auch Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 617. 35 BVerfG v. 11.11.1964 – 1 BvR 488/62, BVerfGE 18, 224 unter IV.6.

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trauensschutzes36. Gegenstand des Vertrauensschutzes ist allgemein der Fortbestand staatlicher Rechtsakte, zumindest aber der Erlass schonender Übergangsregelungen oder der Gewährung kompensierender Entschädigungen im Fall der Abweichung37. Der Große Senat des BFH hat im Beschluss vom 25.6.1984 – GrS 4/82 das hieraus entstehende Spannungsverhältnis zwischen gerichtlicher Rechtsfortbildung und der Gewährung von Kontinuität und Vertrauensschutz in der Weise aufgelöst, dass beide Prinzipien einer rückwirkenden verschärfenden Änderung der Rechtsprechung zu Lasten der Steuerpflichtigen grundsätzlich nicht entgegenstehen38: Die Rechtsfortbildung als originäre Aufgabe der obersten Gerichtshöfe mit unabhängigen Richtern (Art. 97 Abs. 1 GG), namentlich des Großen Senats wäre versperrt, wenn eine rückwirkende verschärfende Rechtsprechungsänderung generell unzulässig wäre und eine geänderte Rechtsprechung nur in der Zukunft angewendet werden könne, da Rechtsfortbildung mit verbindlicher Wirkung nur für einen konkreten Streitfall geschehen könne. Vertrauensschutz habe die Finanzverwaltung durch Anpassungsund Übergangsregelungen und die Anwendung des § 176 AO zu gewähren. In seiner jüngeren Rechtsprechung gewährt der BFH durch den GrS und die Fachsenate bei rückwirkenden verschärfenden Rechtsprechungsänderungen zu Lasten der Steuerpflichtigen durch die Beschränkung des Anwendungsbereichs der Rechtsprechungsänderung auf die Zukunft selbst Vertrauensschutz (siehe dazu unten IV).

III. Anforderungen an eine „rechtmäßige“ Änderung der ­Rechtsprechung 1. Begriff und Erscheinungsformen der Rechtsprechungsänderung Einer Rechtsprechungsänderung39, also der Erklärung des BFH in einem Urteil, an einer bestimmten Rechtsprechung nicht mehr festhalten zu wollen40, können unterschiedliche Sachverhalte zugrunde liegen. Rechtsprechungsänderungen werden da-

36 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 Rz. 99. 37 Maurer in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd.  4, §  79 Rz.  4 mit Zitat von BFH v. 13.11.1963  – GrS 1/63 S, BFHE 78, 315 (319) unter f; v. 15.7.1968  – GrS 2/67, BStBl. II 1968, 666 unter III.2.f.; v. 5.7.1990 – GrS 2/89, BStBl. II 1990, 837 unter C.III.1; Birk in DStJG 27 (2003), S. 9 (20). 38 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 Rz. 85 ff; siehe zum grundlegenden Charakter der Entscheidung auch Kirchhof, DStR 1989, 263 (270). 39 Zu dem hier nicht näher erörterten Anforderungen an das Merkmal der „Änderung der Rechtsprechung“ in § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO wird auf die Rechtsprechung verwiesen, vgl. z.B. BFH v. 24.7.2017 – XI B 25/17, BFH/NV 2017, 1591. 40 Keine Rechtsprechungsänderung ist danach die Rechtsprechungskonkretisierung, die z.B. durch die Einfügung zusätzlicher oder einschränkender Voraussetzungen in den bisherigen Maßstab erfolgt, wenn dessen Kerngehalt nicht geändert wird; insoweit besteht die für echte Rechtsprechungsänderungen anerkannte besondere Begründungspflicht nicht, vgl. Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, S. 488.

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her abstrakt zur Systematisierung abgrenzbaren Kategorien zugewiesen41. Die Änderung der Rechtsprechung kann nach der gebräuchlichen Einteilung –– ausdrücklich der Korrektur früherer Fehlentscheidungen dienen42 oder –– die Folge geänderter Verhältnisse (etwa der Änderung einer vorgreiflichen zivilrechtlichen Norm oder Rechtsprechung)43 oder im Umsatzsteuerrecht einer Entscheidung des EuGH44 sein oder –– einer höheren Einzelfallgerechtigkeit in der betroffenen Fallgruppe (etwa bei einer zuvor bestehenden pauschalierenden oder typisierenden Rechtsprechung) oder veränderten Wertvorstellungen geschuldet sein45. 2. Genereller Vorrang der „besseren Rechtserkenntnis“ bei hinreichend ­tragfähigen Gründen Eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung darf unter dem Gesichtspunkt des aus Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Prinzips der Rechtssicherheit und Rechtsprechungskontinuität nur aus wichtigem Grund aufgegeben oder geändert werden46. Der BGH hat ähnlich formuliert, ein Abgehen von einer gefestigten Rechtsprechung könne nur ausnahmsweise hingenommen werden, wenn deutlich überwiegende oder sogar schlechthin zwingende Gründe dafür sprächen47. Nach dem BSG soll ein oberster Gerichtshof von seiner Rechtsprechung nicht abweichen, wenn sowohl für die eine als auch für die andere Ansicht gute Gründe sprechen48. Die Stetigkeit der Rechtsprechung als Rechtsgut mit hohem Stellenwert hat nach der Entscheidungspraxis des BFH aber weder Normcharakter, noch ist sie als fundamentaler Grundsatz zu verstehen, der eine Befugnis des BFH zur Änderung einer Rechtsprechung ausschließen könnte (siehe schon unter II.2)49. Das Für und Wider einer Rechtsprechungsänderung ist nach den maßgeblichen materiell-rechtlichen Erwä-

41 Wassermeyer, DStR 1989, 561 (563 f.); Gabbey, Probleme des Rechtsprechungswandels im Verwaltungsrecht, 2000, S. 60 ff.; Lundmark, JuS 2000, 546 (548 f.). 42 Siehe zum Beispiel BFH v. 19.12.2013 – III R 25/10, BStBl. II 2015, 119 zur Haftung gemäß § 71 AO für eine wegen eines Subventionsbetrugs zu Unrecht gewährte Zulage. In BFH v. 14.9.2017 – IV R 51/14, BStBl. II 2018, 78 gibt der IV. Senat eine Rechtsauffassung auf, die er in BFH v. 12.12.2013 – IV R 31/10, BFH/NV 2014, 514 „ohne weitere Begründung“ vertreten habe. 43 BFH v. 25.6.1984  – GrS 4/82, BStBl.  II 1984, 751 Rz.  159 mit Hinweis auf BFH v. 26.11.1973 – GrS 5/71, BStBl. II 1974, 132 Rz. 49. 44 Z.B. BFH v. 20.10.2016 – V R 26/15, BFHE 255, 348. 45 Wassermeyer, DStR 1989, 561 (565). 46 Vgl. z.B. BFH v. 31.7.2002 – X R 39/01, BFH/NV 2002, 1575 sowie v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751; zustimmend Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 632; Lundmark, JuS 2000, 546 (549). 47 BGH v. 4.10.1982 – GSZ 1/82, BGHZ 85, 64. 48 BSG v. 29.10.1975 – 12 RJ 290/72, BSGE 40, 294. 49 Kanzler in FS Spindler, S. 265 (271); Kirchhof, DStR 1989, 263 (270).

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gungen abzuhandeln, ohne dass das Kontinuitätsgebot eine Rolle spielt50. Der BFH verlangt bei Aufgabe oder Änderung einer langjährigen Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit auf einer zweiten Stufe zwar die Abwägung, ob die Änderung vertretbar ist; bei tragenden sachlichen Gründen hat die „spätere bessere Rechtserkenntnis“ aber zumeist den Vorrang vor der Beibehaltung der bestehenden Rechtsprechung51. Bei einem Gleichgewicht der sachlichen Gründe für die frühere und die geänderte Rechtsprechung gibt es in der Entscheidungspraxis des BFH keinen anerkannten Grundsatz, nach dem eine frühere Rechtsprechung im Zweifel beizubehalten ist (siehe auch unter IV.2)52. Zu den hinreichend tragfähigen Gründen für die Aufgabe oder Änderung einer bestehenden Rechtsprechung zählt der BFH die Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse, welche der bisherigen Rechtsprechung zugrunde lagen, den Wandel einer ständigen Rechtsprechung in einer anderen sachlich zusammenhängenden Rechtsfrage oder eine Gesetzesänderung im Regelungsumfeld der geänderten Rechtsprechung53. Auch die sich aufgrund einer begünstigenden Rechtsprechungsänderung einstellende Schlechterstellung derjenigen Steuerpflichtigen, die im Vertrauen auf die vorherige nachteilige Rechtsprechung Bescheide haben bestandskräftig werden lassen, gegenüber Steuerpflichtigen, die von der Rechtsprechungsänderung profitieren, sieht der BFH in der Regel nicht als Hinderungsgrund für eine zurückwirkende begünstigende Rechtsprechungsänderung an54.

50 Kanzler in FS Spindler, S. 265 (274). 51 BFH v. 13.11.1963 – GrS 1/63 S, BFHE 78, 315 Rz. 16: „Die Stetigkeit der Rechtsprechung des obersten Steuergerichts ist zwar ein wesentliches Element der Rechtssicherheit im Sinne der Voraussehbarkeit der Beurteilung bestimmter Vorgänge durch die Finanzverwaltungsbehörden und die Steuergerichte und ist darum ein Rechtsgut von hohem Rang. Trotzdem muss eine andere und bessere Rechtserkenntnis zur Änderung einer solchen Rechtsprechung, vor allem durch den Großen Senat, dann führen, wenn schwerwiegende sachliche Erwägungen dafür sprechen.“ Ebenso BFH v. 15.7.1968  – GrS 2/67, BStBl.  II 1968, 666 unter III.2.f. 52 Kanzler in FS Spindler, S. 265 (274); Kirchhof, DStR 1989, 263 (270); a.A. Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 634 (635), die eine Entscheidung, welche eine Rechtsprechungsänderung ohne hinreichend tragende Gründe vollzieht, als verfassungswidrig beurteilt. 53 BFH v. 15.7.1968  – GrS 2/67, BStBl.  II 1968, 666 unter III.2.f; v. 26.11.1973  – GrS 5/71, BStBl. II 1974, 132 unter II.4.a. 54 BFH v. 15.7.1968 – GrS 2/67, BStBl. II 1968, 666 unter III.2.f: „Allenfalls werden es diejenigen Steuerpflichtigen, die im Vertrauen auf die früheren Entscheidungen für sie insoweit ungünstige Steuerbescheide haben rechtskräftig werden lassen, bedauern, dass die Rechtsprechung erst jetzt geändert wird. Die Rechtskraft der für die Steuerpflichtigen  – nach heutiger Erkenntnis – objektiv unrichtigen Bescheide kann jedoch nicht dazu zwingen, die bisherige Beurteilung der Rechtslage fortzusetzen“.

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3. Kein Vorrang von Rechtsprechungskontinuität oder Vertrauensschutz ­zugunsten der Finanzverwaltung bei Rechtsprechungsänderungen ­zugunsten der Steuerpflichtigen a) Rückwirkende Geltung der Rechtsprechungsänderung aufgrund der ­Gesetzesbindung der Verwaltung Der BFH differenziert in seiner Entscheidungspraxis zwischen Rechtsprechungsänderungen, die zu Gunsten der Steuerpflichtigen wirken und Rechtsprechungsänderungen zu Lasten der Steuerpflichtigen55. Er leitet bei Rechtsprechungsänderungen, die primär zugunsten der Steuerpflichtigen wirken, aus dem Kontinuitätsgebot oder dem Gebot des Vertrauensschutzes keine Rechtfertigung für eine nur in die Zukunft wirkende Rechtsprechungsänderung ab, um der Finanzverwaltung eine bessere Anpassung an die geänderten Vorgaben zu erleichtern56. Der BFH begründet dies mit dem zutreffenden Argument, die Finanzverwaltung sei gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an die Gesetze (in der Auslegung in Form der geänderten Rechtsprechung) gebunden. Die Gesetzesbindung der Verwaltung verbiete es, geltendes Recht (in Form der geänderten Rechtsprechung) nicht rückwirkend zu Gunsten der Steuerpflichtigen anzuwenden57. Bei einer (rückwirkenden) verschärfenden Rechtsprechungsänderung zu Lasten der Steuerpflichtigen leitet der BFH aus dem Kontinuitätsgebot und dem gebotenen Vertrauensschutz indes eine Rechtfertigung für eigene richterliche Übergangsregelungen ab (siehe dazu unten IV). Entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung58 ist das Kontinuitätsgebot kein streng objektives Prinzip, das für die Beteiligten eines finanzgerichtlichen Verfahrens gleichermaßen Wirkung entfaltet59. Das BSG hat ein schutzwürdiges Vertrauen der Verwaltung in eine bestehende Rechtsprechung allerdings schon bejaht60. Die Rechtsprechung federt allerdings die Folgen einer Rechtsprechungsänderung zugunsten der Steuerpflichtigen im Rahmen des § 173 Abs. 1 AO ab. Die Finanzver­ waltung kann bei bestandskräftigen Veranlagungen eine Änderung der Bescheide zugunsten der Steuerpflichtigen aufgrund einer begünstigenden Rechtsprechungsänderung in der Regel „abwehren“. Ein Steuerbescheid darf wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen nicht aufgehoben oder geändert werden, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der 55 BFH v. 15.7.1968  – GrS 2/67, BStBl.  II 1968, 666: „Der Wandel der Rechtsprechung erscheint hier umso mehr gerechtfertigt, als die neue Rechtsprechung für die Steuerpflichtigen günstig ist; sie beeinträchtigt also nicht ihre auf der bisherigen Rechtsprechung aufbauenden wirtschaftlichen Überlegungen und Planungen.“ Siehe auch BFH v. 26.11.1973 – GrS 5/71, BStBl. II 1974, 132. 56 BFH v. 31.1.2013 – GrS 1/10, BStBl. II 2013, 317 Rz. 81. 57 BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464 zur Aufgabe der finalen Entnahmetheorie; v. 31.1.2013 – GrS 1/10, BStBl. II 2010, 739 Rz. 81. 58 Leisner-Egensperger in DStJG 27 (2003), S. 191 (219). 59 Kanzler in FS Spindler, 265 (274); Wassermeyer, DStR 1989, 561 (566). 60 Gabbey, Probleme des Rechtsprechungswandels im Verwaltungsrecht, 2000, S. 88 mit Hinweis auf BSG v. 27.10.1975 – 12 RJ 290/72, BSGE 40, 292.

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Tatsachen oder Beweismittel nicht anders entschieden hätte. Dies ist auf Grundlage der damaligen und später aufgegebenen Rechtsprechung zu prüfen, die bei Erlass des bestandskräftig gewordenen Steuerbescheids galt61. Die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind danach nicht erfüllt, wenn ein Steuerpflichtiger steuermindernde Tatsachen vorbringt, die erst aufgrund einer ihn begünstigenden Rechtsprechungsänderung nachträglich rechtserheblich geworden sind. b) Blick auf die jüngere Entscheidungspraxis des BFH bei Änderung einer langjährigen Rechtsprechung zugunsten der Steuerpflichtigen aa) Änderung aufgrund eines geänderten Regelungsumfelds (1) Änderung der Rechtsprechung zur Abzugsfähigkeit nachträglicher Schuldzinsen bei den Überschusseinkunftsarten Der VIII. Senat des BFH ließ mit Urteil vom 16.3.2010 – VIII R 20/0862 entgegen seiner früheren ständigen Rechtsprechung – nach Ankündigung von Zweifeln am Fortbestand der früheren Rechtsprechung63  – den Abzug nachträglicher Schuldzinsen aus einem Darlehen zum Erwerb einer wesentlichen Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft gemäß § 17 EStG zu, weil nach Absenkung der sog. Wesentlichkeitsgrenze die Zuweisung des fortlaufenden Zinsaufwands zur privaten Vermögenssphäre nach Veräußerung der Beteiligung nicht mehr gerechtfertigt sei. Denn – so der VIII. Senat – die Absenkung der Beteiligungsschwelle bewirke eine nahezu umfassende steuerliche Verstrickung der Substanz der Beteiligung in Form des Veräußerungsgewinns und der Ausschüttungen. Daran anknüpfend nahm der IX. Senat die Verlängerung der „Spekulationsfrist“ des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 auf zehn Jahre zum Anlass, um seine Rechtsprechung zum Abzug nachträglicher Schuldzinsen nach Veräußerung einer vermieteten Immobilie fortzuentwickeln64. Beiden Rechtsprechungsänderungen liegt das Argument zugrunde, das ursprünglich zur Finanzierung der Anschaffungskosten aufgenommene Darlehen finanziere nach der Veräußerung der Beteiligung/Immobilie mit dem nicht abgelösten Restbetrag typischerweise einen steuerrechtlich erheblichen Veräußerungs- oder Aufgabeverlust und sei damit der Erwerbssphäre zuzuordnen65.

61 BFH v. 23.11.1987 – GrS 1/86, BStBl. II 1988, 180. 62 BFH v. 16.3.2010 – VIII R 20/08, BStBl. II 2010, 787. 63 BFH v. 20.6.2012 – IX R 67/10, BStBl. II 2013, 275. 64 BFH v. 20.6.2012 – IX R 67/10, BStBl. II 2013, 275 Rz. 21: „Der Senat überträgt diese gesetzgeberische Grundentscheidung lediglich folgerichtig auf seine Rechtsprechung und stellt dabei die notwendige steuerrechtliche Gleichbehandlung von nachträglichen Schuldzinsen bei den Gewinn- und bei den Überschusseinkünften wieder her“. 65 Bei nicht steuerbaren Veräußerungserlösen gemäß § 23 Abs. 1 EStG gilt dies jedoch ebenso, siehe BFH v. 8.4.2014 – IX R 45/13, BStBl. II 2015, 635.

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(2) Zuweisung von Erstattungszinsen zur Einkommensteuer in den ­nichtsteuerbaren Bereich Mit Urteil vom 15.6.2010  – VIII R 33/0766 änderte der VIII.  Senat des BFH seine Rechtsprechung zur Steuerbarkeit von Erstattungszinsen zur Einkommensteuer. Er entnahm der Regelung des § 12 Nr. 3 EStG zu den nicht abziehbaren Steuern und Nebenleistungen, dass die Vorschrift nicht lediglich ein gesetzliches Abzugsverbot regele, sondern diese Steuern und Nebenleistungen schlechthin dem nichtsteuerbaren Bereich zuweise. Diese gesetzgeberische Grundentscheidung strahle auf den Vorgang der Erstattung dieser Steuern in der Weise aus, dass die Steuerbeträge und Erstattungszinsen dem Steuerpflichtigen nicht „im Rahmen einer der Einkunftsarten des § 2 Abs. 1 Nr. 4 bis 7“ zuflössen. Der VIII. Senat sah diese Rechtsprechungsänderung als Korrektur seiner entgegengesetzten früheren Rechtsprechung an und stützte sich auch auf ein geändertes Regelungsumfeld der aufgegeben Rechtsprechung. Erstattungszinsen seien ursprünglich steuerbar und Nachzahlungszinsen gemäß §  10 Abs. 1 Nr. 5 EStG a.F. als Sonderausgaben abzugsfähig gewesen seien. Diese Symmetrie sei mit Streichung des § 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG ab 1999 verloren gegangen, was zu einer Neuauslegung des § 12 Nr. 3 EStG Anlass gebe. (3) Behandlung des Kontinuitätsgebots Sowohl in den Entscheidungen des VIII. Senats als auch des IX. Senats werden zwar die sachlichen Gründe der Rechtsprechungsänderungen umfassend dargelegt. Es findet sich aber in keiner der Entscheidungen aufgrund des Kontinuitätsgebots eine besondere Abwägung zwischen Änderungsgrund und Änderungsausmaß. Diese war auch nicht notwendig. Denn es wäre trotz des Kontinuitätsgebots wegen der Gesetzesbindung der Verwaltung nicht zulässig, die begünstigende geänderte Rechtsprechung zu Lasten der Steuerpflichtigen nicht in allen offenen Fällen rückwirkend anzuwenden. bb) Änderung der Rechtsprechung aufgrund veränderter Lebensrealität, ­geänderter Gerechtigkeitsvorstellungen oder zur Erreichung einer ­höheren Einzelfallgerechtigkeit (1) Grundsatz Beispiele solcher Rechtsprechungsänderungen sind die BFH-Entscheidungen zur Abzugsfähigkeit von Erstausbildungskosten67 und zur Nichtgeltung eines allge­ meinen Aufteilungs- und Abzugsverbots gemäß § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG68. Auch in dieser Fallgruppe69 sieht der BFH wegen der Gesetzesbindung der Verwaltung aufgrund 66 BFH v. 15.6.2010 – VIII R 33/07, BStBl. II 2011, 503. 67 BFH v. 4.12.2002 – VI R 120/01, BStBl. II 2003, 403. 68 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672. 69 Siehe auch Kruse in FS 75 Jahre RFH/BFH, S. 239 (250 f.) zur Notwendigkeit und Berechtigung von Rechtsprechungsänderungen bei Veränderung der gesellschaftlichen Anschauungen; Lundmark, JuS 2000, 546 (549).

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des Kontinuitätsgebots keine Einschränkung seiner Änderungsbefugnis oder die Notwendigkeit, zugunsten der Finanzverwaltung Übergangsregelungen schaffen zu müssen. (2) Abzug von Erstausbildungskosten und Aufwendungen für ein ­Erststudium als Werbungskosten Mit Urteil vom 4.12.2002 – VI R 120/0170 entschied der VI. Senat unter Änderung seiner langjährigen, von der Finanzverwaltung anerkannten Rechtsprechung, dass Aufwendungen für eine Umschulungsmaßnahme, die die Grundlage dafür bilde, von einer Berufs- oder Erwerbsart zu einer anderen überzuwechseln, vorab entstandene Werbungskosten sein könnten. Diese Rechtsprechung weitete er später auch auf die Kosten für ein Erststudium oder eine erste Berufsausbildung aus71. Der VI.  Senat nahm letztlich eine neue Beurteilung des „auslösenden Moments“ der Aufwendungen und des Veranlassungszusammenhangs vor, da dies angesichts veränderter Lebensumstände geboten sei: Der aufgegebenen Rechtsprechung habe die Rechtsprechung des RFH zugrunde gelegen, der davon ausgegangen sei, dass „die Erlangung der für den Lebenskampf notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten grundsätzlich der privaten Lebensführung zugehöre, die Aufwendungen hierfür daher nicht abzugsfähig seien“72. Der VI.  Senat verwarf diese „Lebenskampfthese“ des RFH mit überzeugenden Argumenten. Die bisherige Rechtsprechung stamme aus einer Zeit, in der es zum Regelfall gehört habe, den ursprünglich erlernten Beruf das gesamte Berufsleben lang auszuüben. Eine Zuordnung derartiger Aufwendungen zu den Kosten der privaten Lebensführung lasse die tiefgreifenden Veränderungen im Berufsleben, Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt außer Acht. In der heutigen Zeit könne – so der VI. Senat – dagegen ein Arbeitnehmer nicht mehr davon ausgehen, nur eine Berufsausbildung absolvieren zu müssen. Die Arbeitsmarktsituation erfordere es immer häufiger, umzulernen und die erforderlichen Kenntnisse für eine völlig anders geartete Berufstätigkeit zu erwerben. (3) Neubeurteilung der Auslegung des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG durch den GrS Ein weiteres Beispiel ist der Beschluss des Großen Senats vom 21.9.2009 – GrS 1/0673 zur Auslegung des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG. Der Große Senat hielt in diesem Beschluss nach erneuter Überprüfung an seiner früheren Auffassung74, in §  12 Nr.  1 Satz  2 EStG sei ein allgemeines Aufteilungs- und Abzugsverbot für gemischt veranlasste Werbungskosten und Reisekosten normiert, nicht mehr fest. In Abkehr von früherer

70 BFH v. 4.12.2002 – VI R 120/01, BStBl. II 2003, 403. 71 Siehe zum Verlauf der Änderung der Rechtsprechung den BFH-Beschluss v. 17.7.2014 – VI R 8/12, DStR 2014, 2216 Rz. 35 ff. 72 RFH v. 24.6.1937 – IV A 20/36, RStBl. 1937, 1089. 73 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672. 74 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17; v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213.

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Rechtsprechung des Großen Senats75 könnten die Reiseabschnitte einer gemischt veranlassten Reise unterschiedlich beruflich oder privat veranlasst und die Aufwendungen hierfür entsprechend aufzuteilen und abziehbar sein76. Zuvor hatte der Große Senat § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG als allgemeines Aufteilungs- und Abzugsverbot ausgelegt77, weil dies der steuerlichen Gerechtigkeit diene. Das Aufteilungs- und Abzugsverbot solle verhindern, dass Steuerpflichtige durch eine mehr oder weniger zufällige oder bewusst herbeigeführte Verbindung von beruflichen und privaten Erwägungen Aufwendungen für ihre Lebensführung nur deshalb zum Teil in einen einkommensteuerlich relevanten Bereich verlagern könnten, weil sie einen entsprechenden Beruf hätten, während andere Steuerpflichtige gleichartige Aufwendungen aus versteuerten Einkünften decken müssten78. Der Große Senat ließ in dem früheren Beschluss erkennen, dass es folgerichtig wäre, keine Ausnahmen vom Aufteilungs- und Abzugsverbot zuzulassen. Er ließ jedoch die bis dahin in der Rechtsprechung zugunsten der Steuerpflichtigen anerkannten und im Beschluss angeführten Ausnahmen vom Aufteilungsverbot trotz dieser Bedenken bestehen. Dies stützte er auf den Kontinuitätsgrundsatz, nach dem es vertretbar sei, an der seit vielen Jahren bestehenden Rechtsprechung festzuhalten79. Eine Erweiterung der Ausnahmen vom Aufteilungsverbot sei mit dem Wortlaut und Sinn des §  12 Nr.  1 Satz  2 EStG aber nicht vereinbar. Im Beschluss GrS 1/0680 heißt es dagegen, das Gebot der Steuergerechtigkeit (Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit) zwinge zu dem entgegengesetzten Verständnis des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG. Der frühere Hinweis auf die Steuergerechtigkeit vermöge ein generelles Aufteilungs- und Abzugsverbot gemischter Aufwendungen, das auch einen zweifelsfrei nachgewiesenen beruflichen Kostenanteil nicht zum Abzug als Betriebsausgaben oder Werbungskosten zulasse, nicht zu rechtfertigen; vielmehr gebiete das Leistungsfähigkeitsprinzip die Berücksichtigung des beruflichen Anteils durch Aufteilung, notfalls durch Schätzung, um eine zutreffende Besteuerung zu erreichen. Dem vom Großen Senat81 in der früheren Entscheidung formulierten Argument, es müsse verhindert werden, dass Steuerpflichtige Aufwendungen für ihre Lebensführung zum Teil in den einkommensteuerlich relevanten Bereich verlagern könnten, liege offenbar der Gedanke zugrunde, eine ungleiche Belastung (Besserstellung) drohe im Vergleich zu denjenigen Steuerpflichtigen, denen ihr Beruf keine solchen Möglichkeiten biete. Diese Argumentation übersehe jedoch,  – so der Beschluss GrS 1/06 – dass diese Gefahr nicht bestehe, wenn aufteilbare Aufwendungen aufgeteilt und nur die beruflich veranlassten Kostenanteile abgezogen würden.

75 BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213. 76 Siehe zu aktuellen Fragen der Aufteilung Albert, FR 2018, 257 ff. 77 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17. 78 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17 Rz. 21, 29. 79 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17 Rz. 29. 80 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672. 81 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17.

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(4) Behandlung des Kontinuitätsgebots in den Entscheidungen In der unter (2) geschilderten Entscheidung wird umfassend die inhaltliche Begründung für die Rechtsprechungsänderung dargelegt. Es findet sich aber keine gesonderte Abwägung, ob die frühere Rechtsprechung beizubehalten oder der Übergang zugunsten der Verwaltung aufgrund des Kontinuitätsgebots oder aus Vertrauensschutzgründen zu befristen sei. Der Große Senat führte im Verfahren GrS 1/0682 in dem unter (3) erläuterten Beschluss aus, er sei an einer Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung weder unter dem Aspekt des Gewohnheitsrechts noch im Hinblick auf das Gebot der Rechtsprechungskontinuität gehindert, da in den betroffenen Sachverhalten durch die früheren Grundsätze kein schützenswertes Vertrauen der Steuerpflichtigen in Dispositionen begründet worden sei. Unter den Gesichtspunkten der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sei das Festhalten an der über Jahrzehnte praktizierten höchstrichterlichen Rechtsprechung zugunsten der Finanzverwaltung nicht geboten.

IV. Rechtsprechungskontinuität und Vertrauensschutz bei Änderung einer langjährigen Rechtsprechung zu Lasten der Steuerpflichtigen 1. Langjähriger Grundsatz: Fortentwicklung der Rechtsprechung durch den BFH mit ergänzender Anpassungsregelung durch die Finanzverwaltung Der BFH hält – wie unter II.2. schon ausgeführt – in ständiger Rechtsprechung eine verschärfende rückwirkende Rechtsprechungsänderung zu Lasten der Steuerpflichtigen trotz des Kontinuitätsgebots und des Vertrauensschutzes für zulässig. Aus beiden Grundsätzen leitete er oft eine ergänzende Pflicht der Verwaltung zum Erlass schonender Anpassungs- und Übergangsregelungen auf Grundlage der §§ 163, 227 AO her83. Der BFH sah sich aber in der Vergangenheit bis auf wenige Ausnahmefälle nicht selbst als berechtigt oder verpflichtet an, eine Rechtsprechungsänderung nur für die Zukunft wirken zu lassen. In einem besonders gelagerten Fall, in dem der BFH eine Rechtsverordnung für ungültig erklärte, traf er allerdings gestützt auf das Kontinuitätsgebot selbst eine Übergangsregelung, nach der die Entscheidung nur für die Zukunft anzuwenden sei84.

82 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672. 83 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751; v. 23.2.1979 – III R 16/78, BStBl. II 1979, 455 zum Vertrauensschutz durch Anpassungsregelungen der Finanzverwaltung im Rahmen der Investitionszulage; siehe auch BFH v. 16.8.1967 – VI 170/65, BStBl. III 1967, 700. Zustimmend zu dieser „Gewaltenteilung“ Kirchhof, DStR 1989, 263 (270); ablehnend Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 631. 84 BFH v. 5.11.1964 – IV 11/64 S, BStBl. III 1964, 602.

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2. Beibehaltung einer begünstigenden Rechtsprechung aufgrund des ­Kontinuitätsgebots in besonderen Einzelfällen In einzelnen Fällen hat der BFH aufgrund des Kontinuitätsgebots bei rückwirkenden Rechtsprechungsänderungen zu Lasten der Steuerpflichtigen von einer Änderung der Rechtsprechung gänzlich abgesehen. In einem Beschluss vom 24.4.2012 – IX B 154/1085 hat der IX. Senat des BFH im Jahr 2012 zu § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG in der im Jahr 2006 geltenden Fassung entschieden, aufgrund des Vorrangs der Rechtskontinuität sei es nicht angemessen, eine jahrelange kontinuierliche Rechtsprechung, die zur Grundlage der ständigen Verwaltungspraxis geworden sei, nachträglich in Frage zu stellen. Dies führe mit Blick auf viele rechtskräftig abgeschlossene Verfahren zu einer eklatant ungleichen steuerrechtlichen Behandlung. Der Große Senat hat überdies mehrfach bei systematischen Zweifeln an einer den Steuerpflichtigen begünstigenden Rechtsprechung eine Änderung der Rechtsprechung zu Lasten der Steuerpflichtigen wegen des Vorrangs der Rechtsprechungskontinuität abgelehnt und zugleich die in den Verfahren entscheidungserhebliche Frage, ob die zweifelhafte Rechtsprechung auf andere Fallkonstellationen zu erweitern sei, verneint. Im Beschluss vom 19.10.1970 – GrS 2/70 äußerte der Große Senat des BFH Zweifel an der zu großzügigen Rechtsprechung zu § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG, soweit diese Ausnahmen vom Aufteilungs- und Abzugsverbot gestatte. Er lehnte gestützt auf die Rechtsprechungskontinuität sowohl die vollständige Aufgabe dieser Rechtsprechung als auch deren Ausweitung auf andere Fallgruppen ab86. Auf dieser Linie liegt auch die Entscheidung des Großen Senats des BFH vom 18.10.1999 – GrS 2/9887 zu der Frage, ob die entgeltliche Aufnahme eines Sozius in eine Einzelpraxis aus Sicht des Einzelunternehmers der steuerbegünstigten Veräußerung eines Teilmitunternehmeranteils durch den ehemaligen Einzelunternehmer gleichzusetzen sei. Dies verneinte der Große Senat. Er führte aus, die Gewährung der Tarifbegünstigung gemäß §§  16, 34 EStG bei der Teilveräußerung eines Mitunternehmeranteils sei systematisch zweifelhaft und könne allein gestützt auf Gründe der Rechtssicherheit beibehalten werden. Da es sich um eine von der Finanzverwaltung gebilligte langjährige begünstigende Rechtsprechung handele, solle diese nicht aufgegeben werden. Sie könne aber wegen der bestehenden Zweifel an ihrer Richtigkeit nicht im Wege einer verfassungskonformen Auslegung oder Analogie auf andere Sachverhalte ausgeweitet werden.

85 BFH v. 24.4.2012  – IX B 154/10, BStBl.  II 2012, 454; v. 10.11.2015  – IX R 20/14, 381, BStBl. II 2016, 159. 86 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17 Rz. 29. 87 BFH v. 18.10.1999 – GrS 2/98, BStBl. II 2000, 123.

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3. Anwendung einer verschärfenden Rechtsprechungsänderung nur für die Zukunft a) Berechtigung des BFH zur Schaffung richterlicher Übergangsregelungen Mit dem Beschluss vom 17.12.2007 – GrS 2/0488 schuf der Große Senat des BFH eine eigene typisierende, nicht als abschließend zu verstehende Übergangsregelung für eine belastende Rechtsprechungsänderung und überließ dies nicht – wie in der früheren Praxis üblich  – der Finanzverwaltung (siehe unter IV.1.a). Der Große Senat entschied unter Änderung der langjährigen Rechtsprechung, dass der Erbe einen vom Erblasser nicht ausgenutzten Verlustabzug nach § 10d EStG nicht bei seiner eigenen Veranlagung zur Einkommensteuer geltend machen könne und dass – auch im Anlassfall zum Vorlagebeschluss – die bisherige gegenteilige Rechtsprechung aus Gründen des Vertrauensschutzes weiterhin in allen Erbfällen anzuwenden sei, die bis zum Ablauf des Tages der Veröffentlichung dieses Beschlusses eingetreten seien. Der Große Senat sah sich zu einer eigenen Übergangsregelung unter Bezugnahme auf die im Beschluss zitierte Rechtsprechung der übrigen obersten Bundesgerichte als befugt an. Gemeinsamer Ausgangspunkt aller obersten Bundesgerichte sei trotz unterschiedlicher prozessualer Ausgangslagen der Grundsatz, dass auf einen Wandel der Rechtsprechung diejenigen Grundsätze des Vertrauensschutzes entsprechend anzuwenden sein könnten, die bei rückwirkenden Gesetzen zu beachten seien. Die Gewährung eines vergleichbaren Vertrauensschutzes durch die Gerichte sei bei Änderung einer langjährigen gefestigten Rechtsprechung geboten, wenn das Gericht ähnlich einem Normgeber tätig werde, da dem Bürger nach rechtsstaatlichen Grundsätzen auch bei einer verschärfenden rückwirkenden Gesetzesänderung Vertrauensschutz zu gewähren sei. Überzeugend ist ferner das Argument des GrS, die in § 11 FGO eingeräumte Befugnis zur Änderung einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung umfasse als „Minus“ auch die Befugnis, eine zeitliche Übergangsregelung zu schaffen. Hierfür besteht nach dem GrS ein Bedürfnis, wenn die Regelung des § 176 AO wegen ihrer Anknüpfung an bereits veranlagte Fälle nur einen eingeschränkten Schutz gegen die verschärfende Rechtsprechungsänderung bietet. b) Voraussetzungen einer Übergangsregelung nach dem Beschluss des GrS 2/04 und Folgerechtsprechung Der Große Senat stellt qualifizierte Voraussetzungen für die Befugnis auf, eine Rechtsprechungsänderung mit einer gerichtlichen Übergangsregelung zu versehen: Durch eine langjährige Rechtsprechung muss ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden sein. Weitere Voraussetzung ist, dass die Steuerpflichtigen bei typisierender Betrachtung ihr Vertrauen auf die Geltung der langjährigen Rechtsprechung in Form einer vertrauensgeschützten Disposition betätigt haben. Zudem muss das Vertrauen in die aufgegebene Rechtsprechung objektiv schutzwürdig gewesen sein, was der Große Senat annimmt, wenn diese durch eine Festschreibung in den Richtlinien oder in einem BMF-Schreiben zum Bestandteil der Verwaltungspraxis geworden war. 88 BFH v. 17.12.2004 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608.

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Diese Voraussetzungen sind in der Folgerechtsprechung mehrfach geprüft und verneint worden. Im Beschluss GrS 1/0689 wurde das Bedürfnis für eine Übergangsregelung zugunsten der Steuerpflichtigen verneint, da die vorhergehende Rechtsprechung zu § 12 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG keinen Vertrauenstatbestand der Steuerpflichtigen begründet habe, auf den Dispositionen gestützt worden seien. Im Beschluss GrS 1/1090 zur Aufgabe des subjektiven Fehlerbegriffs prüfte der Große Senat sowohl die Notwendigkeit einer Übergangsregelung zu Gunsten der Finanzverwaltung, die er verneinte, weil dieser wegen der Gesetzesbindung kein Vertrauensschutz zustehe (siehe III.3.a) als auch zugunsten der Steuerpflichtigen. Die Voraussetzungen einer Übergangsregelung zu Gunsten der Steuerpflichtigen waren nicht erfüllt, weil es zu der entschiedenen Frage keine langjährige gefestigte Rechtsprechung gegeben habe, sodass Vertrauensschutz nur nach Maßgabe der §§ 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO und gemäß der § 163, 227 AO in Betracht komme91. Auch die Fachsenate des BFH sehen sich mittlerweile zur Befristung einer Rechtsprechungsänderung als befugt und ggf. verpflichtet an92. Der II. Senat verneinte in einem Urteil vom 27.9.201793 die Voraussetzungen einer Übergangsregelung nach dem Beschluss des GrS 2/04, weil es zu der entschiedenen Frage bis zur Änderung der Rechtsprechung keine langjährige höchstrichterliche Rechtsprechung, sondern nur eine einzelne Entscheidung gegeben habe. Die Rechtsprechungsänderung sei damit nicht der Tätigkeit eines „Ersatznormgebers“ vergleichbar. Dies gelte – so der II. Senat des BFH– ungeachtet der Tatsache, dass die Finanzverwaltung die zuvor bestehende Rechtsprechung in gleichlautenden Erlassen der obersten Finanzbehörden der Länder94 veröffentlicht habe. Zudem entschied der II.  Senat, eine schutzwürdige ­Disposition im Sinne des Beschlusses GrS 2/04 erfordere, dass die aufgegebene Rechtsprechung vor der Disposition des Steuerpflichtigen durch eine Veröffentlichung ­Bestandteil der Verwaltungspraxis gewesen sei. Nur dann sei der kumulative Vertrauenstatbestand aus einer gefestigten Rechtsprechung und deren Übernahme durch die Verwaltung ursächlich für Maßnahmen, Handlungen oder Dispositionen des Steuerpflichtigen95. Dem ist zuzustimmen.

89 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672. 90 BFH v. 31.1.2013 – GrS 1/10, BStBl. II 2013, 317. 91 BFH v. 31.1.2013 – GrS 1/10, BStBl. II 2013, 317 Rz. 80. 92 Ob diese Befugnis besteht, war nach Ergehen des Beschlusses GrS 2/04 noch als offene Frage angesehen worden, siehe Kanzler in FS Spindler, 261 (270). 93 BFH v. 27.9.2017 – II R 41/15, DStR 2018, 189. 94 Gleich lautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder v. 9.10.2013, BStBl.  I 2013, 1364. 95 Dies verneinte der II. Senat im konkreten Fall, da die zu einer Anteilsvereinigung gemäß § 1 Abs. 3 GrEStG führende Anteilsübertragung zwar nach Ergehen des BFH-Urteils mit der später aufgegebenen Rechtsprechung, aber vor Veröffentlichung der Entscheidung in den gleichlautenden Ländererlassen vorgenommen worden sei.

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c) Gewährung von Vertrauensschutz nach Wegfall der zivilrechtlichen ­Grundlage einer langjährigen Rechtsprechung Der IX.  Senat entschied mit Urteil vom 11.7.2017  – IX R 36/1596, die bisherigen Grundsätze zur Berücksichtigung nachträglicher Anschaffungskosten aus eigenkapitalersetzenden Finanzierungshilfen, die insbesondere im BMF-Schreiben vom 21.10.2010 (BStBl. I 2010, 832) anerkannt worden waren, seien weiter anzuwenden, wenn der Gesellschafter eine eigenkapitalersetzende Finanzierungshilfe bis zum Tag der Veröffentlichung des Urteils am 27.9.2017 geleistet habe oder wenn eine Finanzierungshilfe des Gesellschafters bis zu diesem Tag eigenkapitalersetzend geworden sei. Die für den IX. Senat zu beurteilende Frage war, ob der BFH für die Annahme nachträglicher Anschaffungskosten einer wesentlichen Beteiligung gemäß §  17 Abs. 4 EStG aufgrund einer ausgefallenen Gesellschafter-Finanzierungshilfe nach der Aufhebung des zivilrechtlichen Eigenkapitalersatzrechts durch das MoMiG97 an seiner früheren Rechtsprechung auf der Grundlage eines normspezifischen Anschaffungskostenbegriffs festhalten könne oder ob die Rechtsprechung neu auszurichten sei. Der IX. Senat des BFH entschied sich für Letzteres, da aufgrund der Aufhebung des zivilrechtlichen Eigenkapitalersatzrechts die gesetzliche Grundlage für den bisherigen normspezifischen Anschaffungskostenbegriff im Rahmen des § 17 EStG entfallen sei. Er begründete in Rz. 41 f. der Entscheidung die Übergangsregelung damit, „angesichts der großen Bandbreite der vertretenen Auffassungen und der mangelnden Vorhersehbarkeit, wie die höchstrichterliche Rechtsprechung auf den Weg des Wegfall des Eigenkapitalersatzrechts reagieren werde“, sei Vertrauensschutz durch Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechungsgrundsätze zu gewähren. Die Voraussetzung der „Änderung einer langjährigen Rechtsprechung“ nach dem Beschluss des GrS 2/04 ist ersichtlich nicht erfüllt. Eine langjährige gefestigte Rechtsprechung im Sinne des Beschlusses GrS 2/04 existierte zum normspezifischen Anschaffungskostenbegriff des § 17 EStG nur zur Rechtslage unter Geltung des Eigenkapitalersatzrechts, nicht aber zum geänderten zivilrechtlichen Regelungsumfeld. Zudem hält der IX. Senat seine im Geltungsbereich des MoMiG entwickelte Rechtsprechung weiterhin für zutreffend98. Der IX. Senat hat sich aber zu einer Übergangsregelung aus überzeugenden Gründen als berechtigt angesehen, da eine besondere Situation vorliegt, die derjenigen im Beschluss des GrS 2/04 nahe kommt. Der gefestigten und vom IX. Senat weiterhin als zutreffend angesehenen Rechtsprechung zum „normspezifischen Anschaffungskostenbegriff “ des § 17 Abs. 2, 4 EStG ist nur durch die Änderungen des MoMiG der Boden entzogen worden, da es für diese steuerrechtliche Rechtsprechung keine andere Rechtsgrundlage gab99. Weder der zivil- noch der steuerrechtliche Gesetzgeber ha96 BFH v. 11.7.2017 – IX R 36/15, DStR 2017, 2098. 97 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. 98 Siehe Trossen, HFR 2017, 1032 (1037). 99 BFH v. 11.7.2017  – IX R 36/15, DStR 2017, 2098; Trossen, HFR 2017, 1032 (1037); Ratschow, GmbHR 2017, 1204 (1206).

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ben die Streichung des Eigenkapitalersatzrechts für § 17 EStG durch eine gesetzliche Übergangsregelung abgefedert. Der IX. Senat wird bei dieser Ausgangslage durch die Klärung, dass die frühere Rechtsprechung nicht fortgeführt werden kann und für die Zukunft im Rahmen des §  17 Abs.  2, 4 EStG auf den handelsrechtlichen Anschaffungskostenbegriff abzustellen ist100, wie ein Ersatznormgeber tätig, da er die Rechtslage durch seine Entscheidung für Vergangenheit und Zukunft neu gestaltet. Auch wird das Vertrauen des Gesellschafters der Kapitalgesellschaft in den Fortbestand der Rechtslage bei seiner Disposition in besonderer Weise enttäuscht, denn der BFH kommt zu einem strengeren Ergebnis, als es selbst die Finanzverwaltung in ihrem BMF-Schreiben vom 21.10.2010 (BStBl. I 2010, 832) vertrat und das in keiner Äußerung im Schrifttum auch nur andeutungsweise so vorhergesehen wurde101. Zudem greift meines Erachtens die im Beschluss GrS 2/04 herangezogene Erwägung, dass ein gerichtlicher Vertrauensschutz gegenüber der uneingeschränkten rückwirkenden Anwendung einer verschärfenden Rechtsprechung geboten sein kann, wenn die Regelungen in § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 2 AO dem Vertrauensschutz nicht angemessen Rechnung tragen können. Dies ist hier der Fall, da diese Regelungen nur in denjenigen „Altfällen“ schützen, in denen bereits Steuerbescheide ergangen sind. Dies dürfte in einer Vielzahl der von den Änderungen des MoMiG betroffenen Sachverhalten indes nicht der Fall sein. 4. Verhältnis und Bindungswirkung der verschiedenen Vertrauensschutz­ maßnahmen a) Alternative Instrumente Zum Verhältnis einer gerichtlichen Übergangsregelung und einer (weitergehenden) Übergangsregelung der Verwaltung gemäß §§ 163, 227 AO ist geklärt, dass letztere vorrangig ist. Im Beschluss des GrS 2/04 hat der BFH es der Finanzverwaltung ausdrücklich freigestellt, eine großzügigere Übergangsregelung zu schaffen102. Werden die qualifizierten Voraussetzungen aus dem Beschluss des GrS 2/04 für eine Übergangsregelung nicht erfüllt, kann die Rechtsprechung wie in der früheren Praxis üblich (siehe unter IV.1.) nur ohne eine solche geändert werden. Es hängt dann von der Finanzverwaltung ab, eine Übergangsregelung gemäß §§ 163, 227 AO zu erlassen. Solche sind sowohl bei „einfachen“ Rechtsprechungsänderungen als auch bei „qualifizierten“ Rechtsprechungsänderungen zulässig. Zudem greift § 176 AO für bereits veranlagte Steuerpflichtige ein. Die verschiedenen Möglichkeiten des BFH zur Gewährung von Vertrauensschutz bei rückwirkenden verschärfenden Rechtsprechungsänderungen zu Lasten der Steuerpflichtigen stehen meines Erachtens im Übrigen gleichrangig nebeneinander. Es 100 Siehe dazu Ratschow, GmbHR 2017, 1204 (1204 : „Reset-Knopf “ und 1208); Schallmoser, jM 2018, 38 (39); Schießl, StuB 2017, 765 ff. 101 Trossen, HFR 2017, 1032 (1037); Ratschow, GmbHR 2017, 1204 (1208); Schallmoser, jM 2018, 38 (39). 102 BFH v. 17.12.2004 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 Rz. 111.

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handelt sich um alternative Instrumente. Die Möglichkeit, bei Aufgabe oder Änderung einer langjährigen Rechtsprechung eine gerichtliche Übergangsregelung aus Vertrauensschutzgründen zu schaffen, schließt es nicht aus, aufgrund des Kontinuitätsgebots von einer rückwirkenden Rechtsprechungsänderung  – insbesondere bei ausgelaufenem Recht – gänzlich abzusehen (siehe IV.2). Auch die vom Großen Senat mehrfach geübte Praxis (siehe IV.2.), systematische Zweifel an einer langjährigen Rechtsprechung aufzudecken, diese aufgrund des Kontinuitätsgebots aber nicht aufzugeben oder zu ändern und gleichzeitig deren Erweiterung auf weitere Fallgruppen auszuschließen, hat weiter ihre Berechtigung. Sie wird durch die Möglichkeit, eine gefestigte Rechtsprechung ändern und mit einer richterlichen Übergangsregelung abfedern zu können, nicht in Frage gestellt. Denn in diesen Fällen ist zumeist nur die Frage der Ausweitung einer ständigen Rechtsprechung auf eine bestimmte (neue) Fallgruppe entscheidungserheblich, nicht aber die Frage, ob die ständige Rechtsprechung umfassend aufgegeben werden soll. Besteht für den Großen Senat keine Notwendigkeit, eine ständige Rechtsprechung umfassend aufzugeben und wie ein „Ersatzgesetzgeber“ tätig zu werden, ist es unter Beachtung des Kontinuitätsgebots sachgerechter, nur die Ausweitung der ständigen Rechtsprechung auf die streitige Fallgruppe zu verneinen und für andere Fallgruppen lediglich Zweifel an der gefestigten Rechtsprechung zum Ausdruck zu bringen. b) Bindungswirkung einer aus Vertrauensschutzgründen erlassenen ­Übergangsregelung Für Sachverhalte, die nicht mehr unter die Übergangsregelung des BFH-Urteils IX R 36/15 fallen103, kann im Anschluss an das BFH-Urteil vom 24.10.2017  – VIII R 13/15104 der Ausfall einer Gesellschafterforderung105 i.S.d. §  20 Abs.  2 Nr.  7 EStG nach dem jetzigen Stand der Rechtsprechung ausschließlich im Rahmen der Einkünfte aus Kapitalvermögen als Verlust erfasst werden106. Unter die Übergangsregelung des IX. Senats für bis zum 27.9. 2017 ausgereichte und eigenkapitalersetzend gewordene Gesellschafterdarlehen und -sicherheiten fallen auch Sachverhalte, in denen der Ansatz eines Verlusts gemäß § 17 Abs. 4 i.V.m. §§ 3 Nr. 40, 3c Abs. 2 EStG (zu 60 %), der ohne nachträgliche Anschaffungskosten aus einer aus103 Dies sind im wesentlichen Gesellschafterdarlehen und -sicherheiten, die nach dem 27.9.2017 ausgereicht werden. 104 BFH v. 24.10.2017 – VIII R 13/15, DStR 2017, 2801. 105 Für die verdeckte Einlage einer Gesellschafterforderung i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG in eine Kapitalgesellschaft, die in § 20 Abs. 2 Satz 2 EStG als veräußerungsähnlicher Tatbestand geregelt ist, stellt sich die Frage, wie sich dieser Tatbestand zur neuen handelsrechtlichen Bestimmung des Anschaffungskostenbegriffs in §  17 Abs.  2, 4 EStG durch den IX. Senat verhält. Verdeckte Einlagen in eine Kapitalgesellschaft sollen danach weiterhin zu nachträglichen Anschaffungskosten gemäß § 17 Abs. 4 EStG führen. Hier ist zu klären, ob § 20 Abs. 2 Satz 2 EStG bei wesentlichen Beteiligungen gemäß § 20 Abs. 8 EStG subsidiär ist (siehe Moritz/Strohm, DB 2018, 86 [92]). 106 So auch Moritz/Strohm, DB 2018, 86 (88); siehe auch Kahlert, DStR 2018, 229 (231).

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gefallenen Gesellschafterforderung ermittelt wird, neben einem Veräußerungsverlust aufgrund der ausgefallenen Gesellschafterforderung in Höhe des Nominalbetrags der Forderung gemäß §§ 20 Abs. 1 Nr. 7, Abs. 2 Nr. 7, Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 20 Abs. 4 EStG für den Steuerpflichtigen zu einer niedrigeren Steuer führen würde107. Die in der Übergangsregelung angeordnete Weitergeltung der früheren Rechtsprechung hat jedoch zunächst die vollumfängliche Zuordnung insolvenzbedingt ausgefallener Gesellschafterforderungen zu den nachträglichen Anschaffungskosten i.S.d. § 17 Abs. 4 EStG zur Konsequenz, sodass wegen des in § 20 Abs. 8 EStG geregelten Subsidiaritätsgrundsatzes die Möglichkeit versperrt ist, den insolvenzbedingten Forderungsausfall als Veräußerungsverlust des Gesellschafters bei den Einkünften aus Kapitalvermögen geltend zu machen. Daran anknüpfend ist die Frage aufgeworfen, ob die vom IX. Senat aus Vertrauensschutzgründen statuierte vorrangige Zuordnung von bis zum 27.9.2017 ausgereichten oder eigenkapitalersetzend gewordenen Gesellschafter-Finanzierungshilfen zum Anwendungsbereich des § 17 Abs. 2, 4 EStG die Finanzgerichte und andere Senate des BFH auch bindet, wenn der Ansatz eines Veräußerungsverlusts gemäß §§ 20 Abs. 1 Nr. 7, Abs. 2 Nr. 7, Abs. 2 Satz i.V.m. § 20 Abs. 4 EStG aus der ausgefallenen Forderung für den Steuerpflichtigen günstiger wäre. Meines Erachtens ist die Anordnung der Fortgeltung der früheren Rechtsprechung zu § 17 Abs. 4 EStG durch den IX. Senat trotz ihres Vertrauensschutzcharakters auch in solchen Fallkonstellationen bindend. Ein anderer Senat des BFH, der zur Annahme eines Veräußerungsverlusts aus der Gesellschafterforderung bei den Einkünften aus Kapitalvermögen kommen will, hat gemäß § 11 Abs. 3 FGO beim IX. Senat anzufragen, ob dieser einer Abweichung von der Übergangsregelung aufgrund des für den Steuerpflichtigen günstigeren Ergebnisses zustimmt. Dies wird durch folgende Überlegung gestützt: Wäre das BFH-Urteil vom 24.10.2017 – VIII R 13/15 im Zeitpunkt der Entscheidung über das Verfahren IX R 36/15 dem IX. Senat schon bekannt gewesen wäre, hätte der IX. Senat für Sachverhalte, in denen § 20 Abs. 2, 4 EStG den Ausfall der Forderung erfassen, meines Erachtens beim VIII. Senat anfragen müssen, ob dieser für die Zeiträume nach Abschaffung des Eigenkapitalersatzrechts einer weiteren Anwendung der Rechtsprechung zum normspezifischen Anschaffungskostenbegriff gemäß §  17 Abs.  2, 4 EStG und der damit einhergehenden Subsidiarität eines Verlusts aus § 20 Abs. 2, 4 EStG (§ 20 Abs. 8 EStG) auf Basis einer Vertrauensschutzregelung zustimmt. Im umgekehrten Fall kann es nicht anders sein. Der Verzicht eines wesentlich beteiligten Gesellschafters („opt-out“) auf die Fortgeltung der aufgegebenen Rechtsprechung zu § 17 Abs. 4 EStG zugunsten der zu § 20 Abs. 2 EStG entwickelten Grundsätze lässt die Bindungswirkung der Übergangsrege107 Siehe die fallgruppenbezogene Analyse von G. Förster, DB 2018, 336 ff.; Moritz/Strohm, DB 2018, 86 ff. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn der Gesellschafter zu mindestens 10 % beteiligt ist und den Veräußerungsverlust aus dem Forderungsausfall gemäß § 20 Abs. 2 i.V.m. § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b Satz 1 EStG ohne die Verlustverrechnungsbeschränkung des § 20 Abs. 6 EStG mit anderen tariflich besteuerten Einkünften verrechnen kann.

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lung für einen anderen BFH-Senat oder für ein FG nicht „automatisch“ entfallen108. Dies liegt am typisierenden Charakter der Übergangsregelung. Es kommt bei typisierender Betrachtung auch eine Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen der Fortgeltung der früheren Rechtsprechung des IX. Senats und der neueren Rechtsprechung des VIII. Senats in Betracht, nach der der wesentlich beteiligte Gesellschafter sich während der Geltung der Übergangsregelung ausschließlich durch die Fort­ geltung der bisherigen Rechtsprechung zu §  17 EStG „schützen lassen muss“. Ein überzeugender Gesichtspunkt für eine solche Betrachtung könnte sein , dass eine einheitliche Behandlung aller Steuerpflichtigen mit wesentlichen Beteiligungen und ausgefallenen Gesellschafterforderungen nur auf Grundlage der früheren Rechtsprechung zu § 17 Abs. 2, 4 EStG erreicht werden kann. Das Besteuerungsergebnis hinge nämlich nur bei dieser Betrachtungsweise nicht davon ab, ob die ausgefallene Gesellschafterforderung im zeitlichen Anwendungsbereich der Abgeltungsteuer (nach dem 31.12. 2008) ausgereicht wurde. Es würde zudem das tatsächlich vorhandene Vertrauen in die Fortgeltung derjenigen Rechtsprechung zu § 17 Abs. 4 EStG geschützt, das die betroffenen wesentlich beteiligten Gesellschafter im Zeitpunkt ihrer Disposition hatten. Da das BFH-Urteil vom 24.10.2017 – VIII R 13/15 erst am 20. Dezember 2017 veröffentlicht wurde, konnten die Gesellschafter bei Ausreichung von Darlehen an die Kapitalgesellschaft und der Gewährung von Sicherheiten bis zum 27.9. 2017 nur darauf vertrauen, dass deren Ausfall zu nachträglichen Anschaffungskosten im Rahmen des § 17 Abs. 2, 4 EStG führen könne.

V. Geringe Bedeutung der sog. Ankündigungsrechtsprechung in der ­Entscheidungspraxis des BFH Die Ankündigungsrechtsprechung ist nach herrschender Auffassung im öffentlich-rechtlichen Prozess nur zulässig, wenn sie einen der Prozessbeteiligten des Anlassfalls nicht benachteiligt; maßgeblich dem Kläger des Anlassfalls muss eine günstigere geänderte Rechtsprechung schon zugutekommen, wenn er hierdurch obsiegen kann109. Ein oberstes Bundesgericht kann daher lediglich in einem obiter dictum ankündigen, es werde die Rechtsprechung in einer entscheidungserheblichen Frage ab dem Bekanntwerden der Entscheidung ändern und den Anlassfall noch nach der bisherigen Rechtsprechung entscheiden. Die Probleme einer solchen „Von-nun-anKlausel“ liegen aber darin, dass sie ein Gebot an den nachfolgenden Richter enthält, die Rechtsprechung zum Nachteil – wie angekündigt – zu ändern, gleichviel, wie lange der Zeitraum zwischen Ankündigungsurteil und Anwendungsentscheidung auch sein mag110. Ob der Ankündigung einer Rechtsprechungsänderung in einem obiter dictum nach dem oben dargestellten Verständnis der Präjudizienbildung (siehe unter II.1), die methodisch nur zu entscheidungserheblichen Rechtsfragen in Betracht 108 A.A. Förster, DB 2018, 336 (340); wohl auch Schießl, StuB 2017, 765 (770). 109 Gabbey, Probleme des Rechtsprechungswandels im Verwaltungsrecht, 2000, S. 89 f.; Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, S.  630; Kirchhof, DStR 1989, 261 (270). 110 Kanzler, FR 2008, 465 (466); Leisner-Egensperger (Fn. 110), S. 630.

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kommt, überhaupt eine Bindungswirkung für den einen nachfolgenden Fall entscheidenden Richter zukommen kann, ist zweifelhaft und wird von der wohl herrschenden Auffassung zu Recht verneint111. Aufgrund der Befugnis des BFH, bei belastenden rückwirkenden Rechtsprechungsänderungen zur Gewährleistung von Vertrauensschutz eine Übergangsregelung setzen zu können, spielt die Ankündigungsrechtsprechung in der vorbeschriebenen Form in der heutigen Entscheidungspraxis des BFH zu Recht keine entscheidenden Rolle. Indem der BFH selbst eine Übergangsregelung für seine Rechtsprechungsänderung setzt, vermeidet er die Nachteile der Ankündigungsrechtsprechung, denn derselbe Spruchkörper entscheidet zum gleichen Zeitpunkt verbindlich sowohl über die Änderung der Rechtsprechung als auch über die Übergangsregelung. Üblich und unbedenklich ist es schließlich, wenn die Senate des BFH in obiter dicta ergebnisoffen Zweifel äußern, ob an einer bestehenden Rechtsprechung noch festgehalten werden kann112. Hierin ist eine Unterform der Ankündigungsrechtsprechung zu sehen, von der in den Entscheidungen des BFH regelmäßig Gebrauch gemacht wird. Der II. Senat des BFH hat jüngst in einem obiter dictum darauf hingewiesen, als Folge der Beurteilung einer bestimmten Frage im konkret entschiedenen Streitfall sei die bisherige Rechtsprechung zu einer anderen, nicht zu entscheidenden Frage überholt und wahrscheinlich zum Nachteil der Steuerpflichtigen künftig anders zu entscheiden113. Zudem ist es bei einer möglicherweise nur den Fiskus belastenden Rechtsprechungsänderung ebenfalls ohne weiteres zulässig, Zweifel an einer bestehenden Rechtsprechung in einem obiter dictum offenzulegen. Ein solches obiter dictum erweist sich als ein Instrument zur Verwirklichung des rechtlichen Gehörs, da es den Beteiligten künftiger Verfahren die Gelegenheit bietet, auf die veränderte Situation zu reagieren und ihre Argumentation darauf einzustellen114. Zudem bindet es auch denjenigen Richter nicht, der über einen nachfolgenden Fall zu entscheiden hat, in dem die zweifelhafte Rechtsfrage entscheidungserheblich ist, sondern bildet nur das Meinungsbild der Mitglieder des Spruchkörpers im davor entschiedenen Fall zu diesem Zeitpunkt ab.

VI. Fazit Das Kontinuitätsgebot wird in der heutigen Entscheidungspraxis des BFH als zu beachtender Rechtsgrundsatz, aber nicht als „starkes“ objektives Prinzip verstanden, 111 Dazu ausführlich Gabbey (Fn. 110), S. 97 ff. mit dem Hinweis, dass das Instrument des prospective overruling im deutschen Recht keine Wirkung entfaltet; ebenso Kanzler in FS Spindler, S. 265 (276); Leisner-Egensperger (Fn. 110), S. 630. 112 Siehe z.B. BFH v. 29.7.2015 – IV R 15/14, BStBl. II 2016, 593 Rz. 16: „Dahinstehen kann, ob und ggf. in welchem Umfang an der dargestellten Rechtsprechung [zur Behandlung von Einbringungen in eine Mitunternehmerschaft als tauschähnlicher Vorgang] festgehalten wird.“ Siehe auch BFH v. 27.3.2007 – VIII R 64/05, BStBl. II 2007, 639 Rz. 19. 113 BFH v. 13.9.2017 – II R 54/15, DB 2018, 293. 114 Kanzler, FR 2011, 290 (293).

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dass bei Rechtsprechungsänderungen „zu Lasten der Finanzverwaltung“ eine Geltung der neuen Maßstäbe nur für die Zukunft oder ein Absehen von der Rechtsprechungsänderung rechtfertigen könnte. Seine wesentliche praktische Bedeutung entfaltet das Kontinuitätsgebot im Zusammenspiel mit dem Vertrauensschutz bei rückwirkenden Rechtsprechungsänderungen zu Lasten der Steuerpflichtigen. Hier hat der Beschluss des GrS 2/04 das richterliche Instrumentarium in geeigneten Fällen sachgerecht um die Möglichkeit erweitert, die Geltung der Rechtsprechung erst für die Zukunft anordnen zu können. Der sog. Ankündigungsrechtsprechung kommt aus diesem Grund in der Entscheidungspraxis des BFH zu Recht keine Bedeutung zu. Neue Fragen hinsichtlich der Bindungswirkung stellen sich zu § 11 Abs. 3 FGO, wenn einzelne Senate des BFH eine belastende Rechtsprechungsänderung mit einer Übergangsregelung verbinden.

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … D.

Rechtsprechungskontinuität und Rechtsprechungsänderungen – nachbarschaftliche Außensicht Von Markus Achatz

Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Ausgangslage in Österreich III. Rechtswirkungen von Rechtsprechungsänderungen 1. Anspruch auf Vertrauensschutz? a) Rechtsentwicklung bis zur Aufhebung des § 117 BAO (VfSlg 17.394/2004) b) Die geltende Rechtslage 2. Rechtskraftdurchbrechung IV. Voraussetzungen von Rechtsprechungsänderungen

1. Organisationsrechtliche Rahmenbedingungen 2. Inhaltliche Schranken insbesondere für verbösernde Rechtsprechungs­ änderungen? V. Der Bedarf der Praxis nach Rechts­ sicherheit – Reflexionen zu einer Weiterentwicklung des Legalitätsprinzips VI. Ergebnisse einer nachbarschaftlichen Außensicht

I. Vorbemerkung Eine Analyse der Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht, wie sie in der vorliegenden Festschrift vorgesehen ist, kommt nicht umhin, sich mit dem Phänomen der Rechtsprechung des BFH im Spannungsfeld zwischen Rechtsprechungskontinuität und Rechtsprechungsänderungen zu befassen. Die rechtliche Relevanz höchstgerichtlicher Rechtsprechung ist unbestritten, zugleich sind die Diskussionen um die Einordnung ihrer rechtlichen Relevanz höchst facettenreich. Levedag hat in seinem Beitrag eine Bestandsaufnahme der aktuellen Entscheidungspraxis des BFH aus dem Blickwinkel eines Revisionsrichters gegeben und damit die von den Herausgebern geforderte Innensicht dargelegt. Damit ist zugleich der Rahmen für den vorliegenden Beitrag vorgegeben, der eine „nachbarschaftliche Außensicht“ bieten soll. Eine solche Außensicht schließt dabei ein Mehrfaches ein: Die Einforderung einer Außensicht bringt zum Ausdruck, dass von den Herausgebern eine kritische Auseinandersetzung mit der Entscheidungspraxis des BFH, soweit sie das Thema betrifft, 207

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erwünscht ist. Zugleich ist aber schon in der Themenstellung festgehalten, dass es sich um Einsichten eines „Nachbarn“ handelt. Diese Spezifikation ließe sich in einem weiten soziologischen Sinn dahingehend verstehen, dass eine Außensicht durch eine Person angedacht sein könnte, die am Ort des Geschehens in der Rolle eines Außenstehenden, etwa eines Rechtssuchenden tätig wird. Tatsächlich näher liegt freilich, das Thema aus der Perspektive einer Rechtsordnung anzusprechen, die jener angrenzt, für die die Rechtsprechung des BFH Geltung beansprucht, und zugleich in ihren Rechtstraditionen Parallelen aufweist. Dies wiederum ermöglicht dem Autor, der im österr. Rechtssystem beheimatet ist, vor dem Hintergrund der von Levedag angesprochenen rechtswissenschaftlich sensiblen Fragen Argumente und Sichtweisen aus einem nachbarschaftlichen Rechtskreis darzulegen und damit zugleich den Versuch zu unternehmen, einen kritischen Beitrag zur Entscheidungspraxis des BFH einzubringen. Dies in der Überzeugung, dass die Rechtsprechung eines Höchstgerichtes zur rechtlichen Relevanz einer Änderung der Rechtsprechung im verfassungsgesetzlichen Spannungsfeld zwischen Legalitätsprinzip und Vertrauensschutz naturgemäß auch hinkünftig einer steten Fortentwicklung unterliegen wird.

II. Ausgangslage in Österreich Die herrschende Auffassung in der österr. verfassungsrechtlichen Lehre und Rechtsprechung erkennt in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung keine generelle Norm und daher auch keine Rechtsquelle1. Der Auffassung, die ständige Rechtsprechung sei eine Rechtsquelle, da der Gerichtsgebrauch eine Haupterscheinungsform des Gewohnheitsrechtes sei2, wurde schon früh durch Walter eine überzeugende Absage erteilt: Würde man den Gerichtsgebrauch als Rechtsquelle anerkennen, wäre nur dem Gerichtsgebrauch entsprechendes Verhalten rechtmäßig, jedes andere rechtswidrig3. Demgemäß geht auch der Verfassungsgerichtshof (VfGH) davon aus, dass die Judikatur der Höchstgerichte zwar eine über den jeweiligen Einzelfall hinausreichende wesentliche Funktion für die Rechtskonkretisierung, die Sinnermittlung von Rechtsnormen und den Rechtsschutz, sohin eine Leitfunktion hat; wenngleich daher zu erwarten sei, dass Höchstgerichte bei der Entscheidung künftiger Rechtssachen die gleiche Rechtsmeinung wie früher vertreten, sind sie doch an diese nicht gebunden „wie an eine generelle Norm“4. Präjudizien haben somit jedenfalls normative Relevanz. Ihr Stellenwert wird durch die jeweilige Verfassungsordnung bestimmt. Dass Präjudizien nicht verbindlich sein können nach Art einer generellen Norm, erschließt sich in Österreich  – und hier gleichen sich die österr. und deutsche Verfassungsrechtslage  – aus dem positiven 1 Vgl. Piska in Gedenkschrift Robert Walter, 2013, S. 593 (605); Walter, ÖJZ 1963, 232. 2 Gschnitzer in FS OGH, 1950, S. 40; Samek, Juridikum 2000, 60. 3 Vgl. Walter (Fn. 1), S. 232; ders., Verfassung und Gerichtsbarkeit, 1960, S. 150 f. 4 VfSlg 14.709; 17.340. – Vgl. dazu im einzelnen unten III.1.a.

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Recht: Exemplarisch sei auf Art. 133 Abs. 4 B-VG hingewiesen, der anordnet, dass gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision an den Verwaltungsgerichtshof (VwGH) zulässig ist, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des VwGH abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt, oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des VwGH nicht einheitlich beantwortet wird. Spricht der VwGH mit Beschluss aus, dass die Entscheidung ein Abgehen von seiner bisherigen Rechtsprechung bedeuten würde, ist gem. § 13 VwGG der zur Entscheidung zuständige, aus fünf Mitgliedern bestehende Senat um vier weitere Mitglieder zu verstärken. Dem insoweit bruchstückhaft gesatzten positiven Recht ist aber nicht nur der fehlende Rechtsquellencharaker von höchstgerichtlichen Entscheidungen zu entnehmen. Aus all diesen Regeln ist auch abzuleiten, dass der Herausbildung und Beibehaltung einer ständigen Rechtsprechung eine wesentliche Funktion im Rechtstaat zukommt: Sie dient der Rechtseinheitlichkeit und zugleich der Rechtssicherheit, indem sie die Berechenbarkeit der Rechtsfindung aus Sicht des rechtssuchenden Normunterworfenen fördert. So ist auch in der Rechtsprechung des VfGH anerkannt, dass die (grobe) Nichtbeachtung einer durch ständige höchstgerichtliche Rechtsprechung gedeckten Rechtsansicht – je nach Schwere des Verstoßes wegen Verletzung der Begründungspflicht – die Entscheidung mit Willkür belasten kann5. Dem positiven Recht ist aber auch zu entnehmen, dass die ständige Rechtsprechung nicht als unveränderlich hinzunehmen ist, sondern Höchstgerichte gehalten sind, die Positionen der ständigen Rechtsprechung laufend zu hinterfragen6. Dieser Befund schließt ein, dass bei einer Entscheidung eines Einzelfalls nicht ohne Not von einem einmal gewählten Ordnungsgesichtspunkt abgegangen wird, wenn nicht überzeugende Gründe für einen Auffassungswandel vorliegen. Aus dieser Perspektive ist nach Schäffer die Kraft des Gerichtsgebrauchs geringer, zugleich aber auch größer als die des Gesetzes: Geringer mit Blick auf die fehlende normative Verbindlichkeit, größer, weil die Kraft des Gesetzes und seine reale Bedeutung davon abhängen, dass sich die Auslegung durch Höchstgerichte als praktisch bindend erweist7. Vor diesem Hintergrund, der sich insoweit im Grunde nicht von der Ausgangslage im deutschen Verfassungsrecht unterscheidet, werden in weiterer Folge jene Grundfragen aus nachbarschaftlicher Sicht erörtert, denen Levedag in seinem Beitrag für die Fälle der Änderung der höchstgerichtlichen Rechtsprechung im Sinne eines Abgehens von einer vom Höchstgericht in ständiger Rechtsprechung vertretenen Rechtsauslegung nachgeht. Dabei werden in einem ersten Schritt die Fragen des Vertrauens5 Vgl. VfGH v. 23.9.2016 – E 439/2016; v. 7.6.2013 – U 2368/2012. Andererseits hat der VfGH vereinzelt auch Erkenntnisse als willkürlich bewertet, die der Rechtsprechung des VwGH gefolgt sind, so z.B. VfSlg 13.544. 6 Vgl. dazu die Nachweise bei Levedag, Rechtsprechungskontinuität und Rechtsprechungsänderungen – nationale Sicht, in FS 100 Jahre BFH, S. 181 ff.; ebenso Piska (Fn. 1), S. 595 (603 f.). 7 Schäffer in 5. ÖJT 1973, I.1.B.

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schutzes erörtert, die sich im Fall einer für die Stpfl. nachteilig auswirkenden Änderung der Rechtsprechung ergeben. Danach werden die Folgen einer Rechtsprechungsänderung hinsichtlich der Behandlung jener Fälle erörtert, für die unter Anwendung der alten Rechtsauslegung bereits Rechtskraft eingetreten ist, wobei sich diese Fragen nicht nur in den Fällen für den Stpfl. nachteiliger, sondern auch bei begünstigenden Änderungen zu stellen scheinen.

III. Rechtswirkungen von Rechtsprechungsänderungen 1. Anspruch auf Vertrauensschutz? a) Rechtsentwicklung bis zur Aufhebung des § 117 BAO (VfSlg 17.394/2004) In der österr. Rechtsentwicklung wurde die Frage des Vertrauensschutzes bei Rechtsprechungsänderungen zunächst vom Gesetzgeber vorangetrieben. § 307 Abs. 2 BAO bestimmte bereits in seiner Stammfassung BGBl 194/1961, dass eine seit der Erlassung des früheren Bescheides eingetretene Änderung der Rechtsauslegung, die sich auf ein Erkenntnis des VfGH oder des VwGH oder eine allgemeine Weisung des BMF stützt, nicht zum Nachteil einer Partei berücksichtigt werden darf. Diese Vorschrift beschränkte im Sinne eines partiellen Verböserungsverbotes die sich aus dem Wesen der Wiederaufnahme ergebenden Rechtswirkungen: Die Interessen der Partei an der Wahrung eines zu ihrem Vorteil gereichenden Rechtsbestandes sollten in spezifischen Fällen derart Berücksichtigung finden, dass im Zuge einer amtswegigen Wiederaufnahme des Verfahrens eine zwischenzeitig („seit Erlassung des früheren Bescheides“) ergangene Änderung der Rechtsauslegung nicht zum Nachteil der Partei angewendet werden durfte8. Die Vorschrift hat eine Vielzahl von Auslegungsfragen aufgeworfen. Im Kern ging es regelmäßig um die Frage der Reichweite des Vertrauensschutzes. Dabei wurde die Norm, die erst im Zuge der parlamentarischen Beratungen in den Bericht des Finanzund Budgetausschusses Eingang gefunden hatte9, von Anfang an als Fremdkörper im Rechtsschutzsystem der BAO erkannt und war dem Vorwurf eines vergleichsweise willkürlichen Rechtsschutzes und damit der Verletzung des Gleichheitssatzes ausgesetzt10. Hinzu kam, dass die Rechtsprechung des VwGH die Anwendung der Norm dann ausschloss, wenn die in § 307 Abs. 2 BAO angeführten Rechtserkenntnisquellen  erstmalig zu der betreffenden Rechtsfrage Stellung bezogen hatten. Die Frage des Vertrauensschutzes im Zuge einer Wiederaufnahme war damit davon abhängig, ob bereits zum Zeitpunkt der Erlassung des Erstbescheides eine höchstgerichtliche Rechtsprechung oder eine allgemeine Weisung vorlag oder nicht11. 8 Tanzer, GesRZ 1995, S.  213; Ruppe in Schilcher/Bretschneider (Hrsg.), Konsumentenschutz im öffentlichen Recht, 1984, S. 197 (213). 9 456 BlgNR IX GP. 10 Vgl. Stoll, ÖStZ 1962, S. 25 (44 f.); Tanzer (Fn. 8), S. 215 f. 11 Vgl. dazu Tanzer (Fn. 8), 214; Ruppe (Fn. 8), S. 215; Stoll, BAO-Kommentar, 1994, S. 2962; Ritz, BAO-Kommentar, 1994, § 307 Rz. 12.

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Die verfassungsrechtliche Kritik, die im Grunde für den Fall der Wiederaufnahme am Wortlaut des § 307 Abs. 2 BAO ausgerichtet einen Vertrauensschutz nicht nur für den Fall des Abgehens von einer Rechtsprechung oder einer allgemeinen Weisung, sondern für jedwede in ein geschütztes Vertrauen eingreifende „Änderung der Rechtsauslegung“ postulierte, stand freilich schon an diesem Punkt vor der Frage nach der verfassungsrechtlich zulässigen Reichweite eines gesetzlich angeordneten Vertrauensschutzes. Zweifelhaft war, ob eine solche Norm wie jene des §  307 Abs.  2 BAO und erst recht ein über diese Fallgruppe hinausgehender gesetzlich angeordneter Vertrauensschutz dem rechtsstaatlichen Prinzip und auch der in Art. 18 B-VG angeordneten Bindung der Verwaltung an das Gesetz entsprechen kann, wenn sie doch im Ergebnis die Verbindlichkeit einer Rechtsauslegung anordnete, die sich in weiterer Folge als unzutreffend erwiesen hat12. In der weiteren Rechtsentwicklung hat der Gesetzgeber mit der Regelung des § 117 BAO, eingefügt durch BGBl I 97/2002, den Vertrauensschutz gesetzlich über den Fall der Wiederaufnahme hinaus generell auf Änderungen einer Rechtsauslegung ausgedehnt13: Die Vorschrift ordnete an, dass in Fällen, in denen dem Bescheid einer Abgabenbehörde, einer Selbstberechnung einer Abgabe, einer Abgabenerklärung oder der Unterlassung der Einreichung einer solchen eine in Erkenntnissen des VfGH oder VwGH oder in als Richtlinien bezeichneten Erlässen des BMF vertretene Rechtsauslegung zugrunde liegt, eine spätere Änderung dieser Rechtsauslegung, die sich auf ein Erkenntnis des VfGH oder des VwGH oder einen Erlass des BMF stützt, nicht zum Nachteil der betroffenen Partei berücksichtigt werden darf. Mit der Novelle wurde zugleich § 307 Abs. 2 BAO aus dem Rechtsbestand ausgeschieden. Nach den Materialien14 sollte die Regelung das Vertrauen der Partei in Rechtsauslegungen der Höchstgerichte unabhängig davon schützen, ob der Bescheid in der Begründung auf die betreffende Judikatur hinweist; der Bescheid musste nur im Ergebnis mit der später geänderten Rechtsprechung übereinstimmen. Zugleich brachte der Wortlaut der Norm eindeutig zum Ausdruck, dass nicht schon die erstmalige Rechtsauslegung durch ein Höchstgericht oder das BMF vertrauensschutzbegründend sein sollte, sondern die Änderung einer der angeführten Rechtserkenntnisquellen vorausgesetzt ist. Die Vorschrift war im Schrifttum von Beginn an verfassungsrechtlicher Kritik ausgesetzt15: In Frage gestellt wurde, ob der Gesetzgeber das legitime Anliegen der Praxis nach Vertrauensschutz und Rechtsbeständigkeit in einer den Vorgaben des Verfassungsrechts entsprechenden Weise ausgestaltet hatte. Schon im Jahr 2004 war die Vorschrift Gegenstand eines Gesetzesprüfungsverfahrens vor dem VfGH, das zur Aufhebung der Bestimmung führte. Anlassfall war eine 12 Zum verfassungsrechtlichen Problem vgl. VfSlg 17.394. 13 Vgl. zu dieser Vorschrift ausführlich Lang in Holoubek/Lang (Hrsg.), Vertrauensschutz im Abgabenrecht, 2004, S. 333. 14 1128 BlgNR XXI GP, 9. 15 Vgl. etwa Ehrke/Wisiak, ÖStZ 2002, S.  541 und S.  545; Huemer, UFS 2004, 12  ff., Lang (Fn. 13), S. 348 ff.

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Beschwerde eines Stpfl., der gestützt auf die Vorschrift des § 117 BAO die Einhaltung einer begünstigenden Erlassregelung einforderte, die er der Berechnung der Kapitalertragsteuer zugrunde gelegt hatte und die in weiterer Folge tatsächlich durch das BMF – in einer dem Gesetz entsprechenden Weise – verschärft wurde. Gestützt auf § 117 BAO argumentierte der Beschwerdeführer, er hätte anlässlich der Berechnung der KESt von der Gültigkeit der alten Richtlinien des BMF ausgehen dürfen. Wenngleich der Anlassfall nicht die Änderung einer höchstgerichtlichen Rechtsprechung zum Gegenstand hatte, trifft das Erkenntnis zentrale Aussagen zu den verfassungsrechtlichen Prinzipien und zugleich den Grenzen einer gesetzlichen Vertrauensschutzregelung auch für den Fall einer Änderung der Rechtsauslegung durch ein höchstgerichtliches Erkenntnis: Der VfGH relevierte im Gesetzesprüfungsverfahren eine Reihe von gleichheitsrechtlichen Bedenken16. Auf diese Bedenken musste der VfGH allerdings in seinem Erkenntnis nicht mehr näher eingehen, da die Vorschrift schon wegen der Verletzung des rechtsstaatlichen Prinzips als verfassungswidrig aufzuheben war: Die Vorschrift schützte nämlich nicht (bloß) das Vertrauen in die Bestandskraft eines (allenfalls objektiv rechtswidrigen) individuellen Verwaltungsaktes. Sie legte im Ergebnis ministeriellen Enunziationen, die nicht die Form einer Verordnung aufweisen, und Erkenntnissen von Höchstgerichten den Rang verbindlicher genereller Normen bei und schuf damit Rechtsquellentypen, die in der Bundesverfassung nicht vorgesehen sind. § 117 BAO bedingte im Fall einer Rechtsprechungsänderung, dass der Vorrang des Gesetzes insoweit nicht gewährleistet war, als die Norm den in höchstgerichtlichen Erkenntnissen vertretenen Rechtsauslegungen Bindungswirkung beilegte: Verwaltungsbehörden waren nämlich aufgrund der Vorschrift verhalten, eine Rechtsaus­ legung, die inzwischen von den zur Rechtskontrolle berufenen Gerichtshöfen des ­öffentlichen Rechts als gesetzwidrig erkannt wurde, für die Vergangenheit weiter anzuwenden. Damit durchbrach die Vorschrift auch die in Art 18 B-VG vorgesehene Bindung der Verwaltung an das Gesetz, ohne dass hierfür eine verfassungsgesetzliche Deckung vorhanden gewesen wäre.

16 So monierte der VfGH, dass durch die Vorschrift zum einen offenbar ein Vertrauen auf eine bereits als unzutreffend erkannte Rechtsauslegung in einem höheren Ausmaß geschützt werde als eine jedenfalls bislang für richtig erkannte Auslegung, zum anderen, dass die Vorschrift einen stärkeren Schutz einräume, wenn die Änderung der Rechtsauslegung durch ein Höchstgericht bzw. das BMF erfolge, als wenn sich erstinstanzliche Entscheidungen über diese Auslegung hinwegsetzen und schließlich, dass die Gewährung von Vertrauenschutz vom zufälligen Umstand abhängen dürfte, ob die maßgebliche Änderung der Rechtsauslegung vor oder nach Ergehen des Erstbescheides erfolgte. Ein weiteres gleichheitsrechtliches Bedenken erkannte der VfGH darin, dass die Vorschrift in den Fällen der Änderung der Rechtsauslegung durch ein höchstgerichtliches Erkenntnis den Vertrauensschutz anscheinend jenem Stpfl. vorenthalten hat, der gerade Anlass für die Änderung war, womit die Einräumung von dem zufälligen Umstand abhängig gewesen wäre, ob der Stpfl. Anlassfall für die Änderung der Rechtsauslegung war oder nicht.

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Der VfGH räumt in seinem Prüfungsbeschluss zwar ein, dass es Aufgabe des einfachen Gesetzgebers ist, einen im Verfahren auftretenden Konflikt zwischen den Prinzipien der Gesetzmäßigkeit (Rechtsrichtigkeit) und der Rechtssicherheit (Rechtsbeständigkeit) zu lösen. Er muss sich dabei aber im Rahmen des Rechtsquellenkatalogs der geltenden Verfassung bewegen. Dies ist nach den Ergebnissen des Gesetzesprüfungsverfahrens dann nicht mehr der Fall, wenn gesetzliche Regelungen in Erlässen des BMF oder in Erkenntnissen eines Gerichtshofes der öffentlichen Rechts vertretene Rechtsauslegungen als solche für generell verbindlich erklären. b) Die geltende Rechtslage Mit der Aufhebung durch den VfGH war somit die Vorschrift des §  117 BAO aus dem Rechtsbestand beseitigt. Der Spielraum für eine den Konflikt zwischen Gesetzmäßigkeit und Rechtssicherheit verfassungskonform regelnde Norm war dabei allerdings insofern durch das Erkenntnis des VfGH erheblich verengt, als dieses Erkenntnis dem Legalitätsprinzip einen klaren Vorrang einräumt. Ausgangspunkt musste vor dem Hintergrund des Verständnisses, das der VfGH dem Legalitätsprinzip beimisst, sein, dass ein (schutzwürdiges) Vertrauen auf eine bestimmte Rechtauslegung in der österr. Steuerrechtsordnung keinen subjektiv öffentlich-rechtlichen Anspruch auf eine dieser Auslegung entsprechende Rechtsanwendung begründet, wenn diese Auslegung nicht dem Gesetz entspricht. Für die weitere Rechtsentwicklung war damit vorgezeichnet, dass ein Vertrauensschutz allgemein und im Besonderen für den Fall von Rechtsprechungsänderungen nur soweit zum Tragen kommen kann, als im konkreten Einzelfall der Abgabenbehörde im Rahmen der Rechtsanwendung ein Ermessen zur Berücksichtigung des Vertrauens von Gesetzes wegen einräumt ist. Dem entspricht, dass nach herrschender Auffassung der Grundsatz von Treu und Glauben das Vertrauen des Stpfl. nur insoweit zu schützen vermag, als seiner Anwendung nicht das Legalitätsprinzip (Art. 18 B-VG) entgegensteht17. Dem unbestreitbaren Bedürfnis nach Vertrauensschutz kann damit aber vor dem Hintergrund der maßgebenden verfassungsgesetzlichen Prinzipien im Grunde nur durch eine Regelung Rechnung getragen werden, die für den jeweiligen Einzelfall den Vertrauensschutz an eine dem konkreten Besteuerungsverfahren nachgelagerte Billigkeitsentscheidung knüpft. Damit rückt die Regelung des § 236 BAO zur Nachsicht als Rechtsgrundlage für die Gewährung von Vertrauensschutz in den Blick. Im Grunde war dabei seit jeher jedenfalls für den Fall der behördlichen Auskunft unbestritten, dass die Abgabenerhebung in jenen Fällen, in denen ein schutzwürdiges Vertrauen des Stpfl. auf Nichterhebung besteht, eine sachliche Unbilligkeit im Sinne des §  236 BAO begründet18. Für Rechtsprechungsänderungen wurde jedoch vertreten, dass diese allgemein eintreten würden und daher in einer bloßen Änderung der 17 Vgl. dazu grundlegend Doralt/Ruppe, Steuerrecht II, 6. Aufl. 2011, Rz. 38 ff. 18 Ruppe, ÖStZ 1979, S.  50; Achatz, NZ 1988, S.  209; ausführlich Ehrke, Verbindliche Auskünfte im österr. Abgabenrecht?, 2003, S. 63 ff.

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Rechtsprechung keine Unbilligkeit nach Lage des Falles zu erkennen sei19. Dies sollte nach der Rechtsprechung des VwGH auch für jene Fälle gelten, in denen dieser insbesondere durch einen verstärkten Senat seine Judikatur änderte20. Diese Vertrauensschutzlücke hat das BMF unmittelbar im Anschluss an das Erkenntnis des VfGH zu § 117 BAO durch Erlassung der V BGBl II 435/2005 zu § 236 BAO geschlossen21. Nach § 3 dieser V ist von einer sachlichen Unbilligkeit u.a. auszugehen, „soweit die Geltendmachung des Abgabenanspruches 1. von Rechtsauslegungen des VfGH oder des VwGH abweicht, wenn im Vertrauen auf die betreffende Rechtsprechung für die Verwirklichung des die Abgabepflicht auslösenden Sachverhaltes bedeutsame Maßnahmen gesetzt wurden; […]“. § 3 Z 1 der V regelt somit den Fall, in dem zwischen der Vornahme der abgabenanspruchsbegründenden Disposition durch den Stpfl. und der Bescheiderlassung bzw. der Entrichtung einer Selbstbemessungsabgabe eine Änderung der höchstgerichtlichen Rechtsprechung eingetreten ist. Abgabenanspruchsbegründende Dispositionen, die im Vertrauen auf eine bestimmte Rechtsprechung gesetzt wurden, begründen danach einen Anspruch auf Nachsicht, wenn und insoweit der dem Legalitätsprinzip Rechnung tragende Abgabenbescheid zu einer höheren Abgabenbelastung führen sollte, als ohne Rechtsprechungsänderung eingetreten wäre22. Die Behauptungs- und Beweislast für das Vorliegen einer im Vertrauen auf eine bestimmte Rechtsprechung vorgenommenen Disposition und den abgabenerhöhenden Effekt einer Rechtsprechungsänderung liegt dabei beim Nachsichtswerber23. Insgesamt zeigt die zu § 3 Z 1 ergangene Rechtsprechung, dass angesichts der Voraussetzungen für die Erlangung von Vertrauensschutz im Fall der Änderung einer Rechtsprechung wohl nur in Ausnahmefällen eine sachliche Unbilligkeit vorliegen kann.24 So muss die Änderung der Rechtsprechung kausal für eine höhere Abgabenbelastung sein. Die Verschärfung der Rechtsprechung des VwGH durch einen verstärkten Senat zur Lohnnebenabgabenpflicht von Gesellschafter-Geschäftsführern konnte somit nicht in Fällen zur Nachsicht führen, in denen die Abgabepflicht für den konkreten Sachverhalt bereits nach der weniger restriktiven Rechtsprechung zu bejahen war25.

19 Stoll, Ermessen im Steuerrecht, 2. Aufl. 2001, S.  200 mit Hinweisen auf die Rspr. des VwGH. 20 Vgl. z.B. VwGH v. 17.5.1989 – 85/13/0201; v. 18.2.1991 – 91/15/0008. 21 Vgl. dazu Ehrke-Rabel, taxlex 2006, S. 328; Wagner, FJ 2006, S. 385. 22 So etwa Ehrke-Rabel (Fn.  21), S.  328; ebenso die Rspr. des UFS v. 10.11.2006  – GZ RV/0113-F/06. 23 Vgl. Wagner (Fn.  20) unter 2.2.3.; ebenso die Rspr. des UFS v. 15.11.2006  – GZ RV/0114-F/06. 24 Vgl. etwa VwGH v. 26.6.2014  – 2011/15/0050; UFS v. 6.4.2010  – GZ RV/0313-G/09, v. 9.4.2009 – GZ RV 0491-L/08 u.a. Zum Problem vgl. bereits VfSlg 17.394 und die Ausführungen des Gerichtshofes im Prüfungsbeschluss unter 6.3. 25 Vgl. VwGH 26.6.2014 - 2011/15/0050.

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Zur Frage, ob für die Verwirklichung des für die Abgabepflicht auslösenden Sachverhaltes bedeutsame Maßnahmen getroffen wurden, prüft die Rechtsprechung das Vorliegen „anspruchsrelevanter Dispositionen“. In einem Fall genügte, dass der Stpfl. argumentierte, er hätte den die Abgabenbelastung auslösenden Vertrag „nicht in dieser Weise“ abgeschlossen oder auch die Rechtsform gewechselt26; in einer anderen Entscheidung wird dagegen ausgeführt, dass es dem Stpfl. angesichts der bereits vor der Änderung restriktiven Rechtsprechung freigestanden wäre, die Rechtsform zu wechseln, um die Abgabepflicht zu vermeiden, womit aus einem Unterlassen von Dispositionen der Schluss auf das Nichtvorliegen der Voraussetzungen gezogen wurde27. Im Grunde ist der Stpfl. jedenfalls gefordert darzulegen, welche Maßnahmen er gesetzt hätte, wenn ihm die Unrichtigkeit der Rechtsauffassung, auf die er seine Disposition gestützt hat, bekannt gewesen wäre. Schließlich weist die Rechtsprechung darauf hin, dass es in der Mitwirkungspflicht des Stpfl. liegt, den durch die Abweichung in der Rechtsprechung entstandenen „Schaden“ nachzuweisen. Die bloße Darlegung, die zusätzlich angefallenen Abgaben wären bei der Kalkulation einzelner Aufträge berücksichtigt worden, reicht nach der bislang vorliegenden Rechtsprechung nicht aus, gehen solche Ausführungen doch nicht über allgemeine betriebswirtschaftliche Überlegungen hinaus28. Der Anwendungsbereich der Regelung verengt sich weiter, beachtet man, dass selbst bei Vorliegen einer sachlichen Unbilligkeit die Nachsicht im Ermessen der Abgabenbehörde liegt29. 2. Rechtskraftdurchbrechung Während sich die Frage des Vertrauensschutzes nur in Fällen einer „verbösernden“ Rechtsprechungsänderung stellt, ist die Frage der Wirkung einer Änderung der Rechtsprechung auf jene Fälle, für die bereits Rechtskraft eingetreten ist, eine allgemeine, die auch in den Fällen begünstigender Rechtsprechungsänderungen Relevanz hat. Die Rechtskraftfähigkeit von Verwaltungsakten und deren Eintritt sind Kennzeichen einer Rechtsordnung, die dem Postulat nach Rechtssicherheit Rechnung trägt30. Soweit Änderungen der Rechtsprechung nach Eintritt des Rechtskraft erfolgen, steht die (eingetretene) Rechtskraft in einem Spannungsverhältnis mit dem Erfordernis einer dem Gesetz entsprechenden Besteuerung und damit dem Legalitätsprinzip (Art. 18 B-VG).

26 Vgl. UFS v. 1.7.2010 – GZ RV/3973-W/09. 27 Vgl. UFS v. 3.4.2007 – GZ RV/0983-L/06. 28 Vgl. dazu etwa UFS v. 6.4.2010  – GZ RV/0313-G/09; v. 9.4.2009  – GZ RV 0491-L/08; v. 15.11.2006 – GZ RV/0114-F/06. 29 Stoll (Fn. 19), S. 185 ff. 30 Vgl. Doralt/Ruppe (Fn. 17), vor Rz. 1330.

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Die Ausgestaltung dieses Konfliktes ist innerhalb der jeweiligen Verfassungsordnung Aufgabe des einfachen Gesetzgebers31. Die Beschränkungen, die das Legalitätsprinzip durch das allgemeine Institut der Rechtskraft erfährt, berühren naturgemäß auch Fragen des Gleichheitsgrundsatzes: Dass das Erfordernis nach Rechtssicherheit durch Rechtskraft zur ungleichen Behandlung je nach (von zahlreichen Bedingungen abhängigem und damit letztlich zufälligem) Eintritt der Rechtskraft führen kann, ist evident. Es wäre daher auch verfehlt, annehmen zu wollen, dass Einschränkungen des Legalitätsprinzips unter dem Titel der Rechtskraft ohne weiteres möglich wären. Die verfassungsgesetzlichen Grenzen sind dabei aber erst in Ansätzen ausgelotet32: Im Kontext mit Änderungen der Rechtsprechung rückt von den in der BAO vorgesehenen Tatbeständen jener des § 299 BAO in den Blick, wonach die Abgabenbehörde auf Antrag einer Partei oder von Amtswegen einen Bescheid der Abgabenbehörde aufheben kann, wenn dieser „sich als nicht richtig erweist“. Der Tatbestand ist bereits dann verwirklicht, wenn der Spruch des Bescheides nicht dem Gesetz entspricht33. Weshalb diese Rechtswidrigkeit vorliegt, ist nicht von Relevanz. Nicht maßgebend ist ferner, ob die Unrichtigkeit schon zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides vorlag oder erst später eingetreten ist34. Erfasst vom Tatbestand sind somit auch Fälle, in denen die Unrichtigkeit im Zuge einer Änderung der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu Tage tritt. Der Umstand, dass der Abgabenbescheid der im Zeitpunkt der Erlassung bestehenden Rechtsprechung entsprochen hat, steht seiner Aufhebung nicht entgegen. Zu beachten ist allerdings, dass die Aufhebung nur bis zum Ablauf eines Jahres nach Bekanntgabe des Bescheides zulässig ist (§ 302 BAO) und im Ermessen der Abgabenbehörde liegt. Im Zuge der Ermessensübung kommt dabei zunächst dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung eine zentrale Bedeutung zu35. Gerade bei Rechtsprechungsänderungen hilft dieser Grundsatz jedoch nicht weiter, zumal die rechtskräftigen Fällen, die außerhalb der Jahresfrist des § 299 BAO liegen, nicht abänderbar sind und insofern eine vollständige Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht herbeigeführt werden kann. Im Übrigen gilt aber für die Ausübung des Ermessens nach § 299 BAO, dass dem Prinzip der Rechtsrichtigkeit Vorrang vor jenem der Rechtssicherheit zukommt36. Dies gilt unabhängig davon, ob die Aufhebung auf Antrag oder von Amts wegen erfolgt, oder ob sich diese zu Gunsten oder zu Ungunsten des Stpfl. auswirkt37. Für Änderungen zu Ungunsten des Stpfl. stellt sich freilich die Frage, inwieweit der Grundsatz des Vertrauensschutzes eine Ermessensübung, die zu einer Aufhebung 31 VfSlg 17.394. 32 Vgl. etwa zur Aufhebung des § 304 BAO VfGH v. 30.11.2017 – G 131/2017, wonach es unsachlich ist, die Wiederaufnahme auf Antrag mit dem Eintritt der Verjährung des Abgabenanspruchs auszuschließen. 33 Ritz, BAO-Kommentar, 6. Aufl. 2017, § 299 Rz. 10. 34 UFS v. 29.6.2010 – RV/0299-F/08; BFG v. 26.11.2015 – RV/1100428/2012. 35 Vgl. z.B. VwGH v. 27.4.2000 – 96/15/0174. 36 VwGH v. 14.12.2006 – 2002/14/0022; v. 26.11.2002 – 98/15/0204. 37 Ritz (Fn. 33), § 299 Rz. 52.

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führt, ausschließen kann. Jedenfalls ist anerkannt, dass der Grundsatz von Treu und Glauben einer Aufhebung nach § 299 BAO entgegenstehen kann38. Vor dem Hintergrund der V zu § 236 BAO ist aber davon auszugehen, dass allein der Umstand einer Änderung der Rechtsauslegung zum Nachteil des Stpfl. nicht ausreicht, um eine Aufhebung nach § 299 BAO abzuwehren. Conditio sine qua non ist vielmehr, dass der Stpfl. im Vertrauen auf die ursprüngliche Rechtsprechung disponiert hat. Änderungen der Rechtsprechung können somit innerhalb jenes Rahmens, den § 299 BAO umreißt, zur Durchbrechung der Rechtskraft führen, womit dem Legalitätsprinzip Rechnung getragen wird. Aspekte des Vertrauensschutzes sind nur insoweit zu berücksichtigen, als diese eine Einhebung der Abgabe im Einzelfall sachlich unbillig erscheinen lassen.

IV. Voraussetzungen von Rechtsprechungsänderungen Die Analyse der Rechtswirkungen von Rechtsprechungsänderungen hat gezeigt, dass höchstgerichtliche Rechtsprechung für den entschiedenen Sachverhalt die dem Legalitätsprinzip entsprechende Rechtsfolge konkretisiert, ohne dass deshalb die Rechtsprechung selbst den Charakter einer abstrakten generellen Norm annehmen würde. Diese im Legalitätsprinzip verhaftete, die Gewaltenteilung betonende Sicht bedingt, dass eine Änderung der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu einer Korrektur „an der Wurzel“ zu führen scheint: Die bis zur Änderung vertretene Auslegung erscheint mit der Änderung als nicht länger dem Legalitätsprinzip genügend, somit aus der Perspektive der geänderten Rechtsauslegung schlicht als rechtswidrig39. Diese Sicht steht in einem Spannungsverhältnis mit der Bedeutung höchstgerichtlicher Rechtsprechung, die unverzichtbare Orientierung für eine ex-ante-Einschätzung abgabenrechtlicher Folgen gibt. Die Bedeutung dieser Funktion nimmt mit der relativen Unbestimmtheit von Gesetzen zu. Dabei kann zwar die Unbestimmtheit eines Gesetzes zur Verletzung des Legalitätsprinzips und damit zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führen40. Innerhalb verfassungsrechtlich zulässiger Vollzugsspielräume, die vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des VfGH zur Zulässigkeit unbestimmter Gesetzesbegriffe beträchtlich sein können41, sorgt die höchstgericht­ liche Rechtsprechung für eine Konkretisierung, die zugleich Gesetzmäßigkeit und Rechtssicherheit bewirken soll. Vertritt man vor diesem Hintergrund, dass eine vor der Änderung der Rechtsprechung ergangene höchstgerichtliche Rechtsprechung wegen des Legalitätsprinzips ihre spezifische Relevanz im Zeitpunkt der Änderung verliert, stellt sich die Frage, ob

38 Ritz (Fn. 33), § 299 Rz. 56. 39 VfSlg 17.394. 40 Zu den Anforderungen des Art. 18 B-VG vgl. z.B. VfSlg 16.993. 41 Vgl. etwa VfSlg 13.785, wonach die unbestimmten Gesetzesbegriffe des Bilanzsteuerrechts nicht gegen Art 18 B-VG verstoßen.

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es besondere Voraussetzungen gibt, die einer Rechtsprechungsänderung entgegenstehen oder ihre Wirkungen beschränken können. 1. Organisationsrechtliche Rahmenbedingungen Für das Verfahren vor dem VwGH sieht § 13 VwGG vor, dass der zur Entscheidung zuständige, aus fünf Mitgliedern bestehende Senat durch vier weitere Mitglieder zu verstärken ist, wenn er mit Beschluss ausspricht, dass die Entscheidung ein Abgehen von der bisherigen Rechtsprechung des VwGH bedeuten würde oder dass die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des VwGH noch nicht einheitlich beantwortet wird. Die Vorschrift ist damit nicht nur Beleg dafür, dass es Aufgabe der höchstgerichtlichen Rechtsprechung ist, bei Erkennen der Unrichtigkeit der bisherigen Rechtsprechung von dieser abzugehen42. Die organisatorische Vorkehrung der Einrichtung eines sogenannten verstärkten Senates zeigt dabei zugleich auch an, dass die in solchen Fällen bestehende besondere Aufgabenstellung ihrer Tragweite entsprechend einer umfassenderen Erörterung zugeführt werden soll. Festzuhalten ist, dass der VwGH nach seiner ständigen Rechtsprechung allerdings kein Abweichen i.S.d. § 13 VwGG erkennt, wenn die alte Rechtsprechung zu einer anderen Rechtslage ergangenen ist. Eine andere Rechtslage liegt dabei bereits dann vor, wenn die der Rechtsprechung zugrundeliegende alte Rechtslage sich inhaltlich unverändert in einem neuen Gesetz findet. Insofern erachtet der VwGH etwa eine Entscheidung durch den verstärkten Senat dann nicht für geboten, wenn zu einer nach dem EStG 1988 zu entscheidenden Rechtsfrage bereits Rechtsprechung vorliegt, die zum EStG 1972 ergangen ist43. Die formelle Neufassung genügt nach dieser Rechtsprechung, um die Befassung mit einem verstärkten Senat zu umgehen. Eine Untersuchung der Rechtsprechung des VwGH für die Jahre 1979 bis 1985 hat vor diesem Hintergrund wenig überraschend ergeben, dass von in diesem Zeitraum 3008 ergangenen Entscheidungen nur 15 im Rahmen eines verstärkten Senat getroffen wurden44. Die Kritik an der formalistischen Zugehensweise ist nicht unberechtigt45. In seinem Erk. v. 25.9.2001  – 99/14/0217, mit dem er von seiner zum EStG 1972 ergangenen Rechtsprechung zur Nichtberücksichtigung von Auslandsbetriebsstättenverlusten bei Vorliegen eines DBA mit Befreiungsmethode abgegangen ist, hat der VwGH sich nicht mit dem Hinweis auf das EStG 1988 begnügt, sondern ausgeführt, dass sich mit dem Beitritt Österreichs zur EU mit 1.1.1995 die Rechtslage ins-

42 Vgl. Piska (Fn. 1), S. 599 f. 43 Vgl. etwa VwGH v. 10.12.1985 – 85/14/0078. 44 Vgl. Achatz/Kamper/Ruppe, Die Rechtsprechung des VwGH in Abgabensachen, 1987, S. 27. 45 Vgl. etwa Ruppe, ÖStZ 1986, 77; ihm folgend Quantschnigg, ÖStZ 1986, 132.

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besondere im Hinblick auf Art 43 EG geändert habe46. Eine Änderung der Rechtsprechung zu § 13 VwGH war damit aber nicht verbunden47. 2. Inhaltliche Schranken insbesondere für verbösernde Rechtsprechungs­ änderungen? Der mit der Rechtsprechungsänderung aufgrund des Legalitätsprinzips einhergehende Effekt einer „Rückwirkung“ steht für sich betrachtet einer Änderung der Rechtsprechung nicht entgegen. Der Umstand, dass die Entscheidung über den entschiedenen Einzelfall hinaus und damit auch für Fälle Bedeutung erlangt, deren Sachverhalt unter „Geltung“ der ursprünglichen Rechtsauslegung verwirklicht wurde, führt zwar zu Ungleichbehandlungen. Die durch eine Änderung der Rechtsprechung eintretende Schlechterstellung einer Gruppe von Stpfl. – nämlich im Fall begünstigender Änderungen jener, für die der Abgabenbescheid in Rechtskraft erwachsen ist und im Fall verbösernder Änderungen jener, die noch nicht der Rechtskraft teilhaftig geworden sind – steht aber per se einer Änderung der Rechtsprechung nicht entgegen. Insofern stellt sich nicht die Frage, ob die eintretenden Effekte einer „Rückwirkung“ einer Änderung an sich entgegenstehen können, sondern ob die mit einer Änderung der Rechtsauslegung aufgrund des Legalitätsprinzips eintretenden Effekte im Rahmen der richterlichen Gewalt durch das die Änderung herbeiführende Gericht in zeitlicher Hinsicht gestaltbar sind, sei es um eine möglichst gleichmäßige Rechtsanwendung herbeizuführen, sei es um – im Fall verbösernder Rechtsauslegung – dem Vertrauensschutz zum Durchbruch zu verhelfen48. Zu beachten ist hierbei zunächst, dass eine Einschränkung der Wirkungen einer Rechtsprechungsänderung bereits dann eintreten dürfte, wenn sie Folge einer Änderung eines anderen Gesetzes und damit einhergehend eines veränderten Norm­ verständnisses ist. In solchen Fällen wird davon auszugehen sein, dass die „Rück­ wirkung“ zeitlich begrenzt ist und lediglich bis zum Inkrafttreten jenes Gesetzes zurückreicht, das die Änderung des Normverständnisses ausgelöst hat49. Auch ein Anknüpfen der Änderung an geänderte Verhältnisse könnte im gegebenen Fall eine zeitliche Beschränkung der „Rückwirkung“ indizieren. Sieht man von diesen spezifischen Fallgruppen ab, steht die Gestaltung der Wirkungen einer Rechtsprechungsänderung für nicht entschiedene Fälle zumindest in einem Spannungsverhältnis mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung.

46 Zorn, SWI 2001, S. 456. 47 Vgl. VwGH v. 27.1.2011 – 2010/15/0197; dazu Zorn, ÖStZ 2011, 127. 48 Vgl. Levedag (Fn. 6). 49 Vgl. F. Bydlinski, JBl 2001, 1; Müller in Holoubek/Lang (Hrsg.) Vertrauensschutz im Abgabenrecht, 2004, S. 217 f.

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In Österreich hat sich zu diesem Spannungsfeld ein rechtswissenschaftlicher Diskurs zunächst im Privatrecht entwickelt, nachdem der OGH in den 90er Jahren angeregt durch die Rechtsprechung des EuGH zur Begrenzung der zeitlichen Wirkung von Urteilen nach Artikel 234 EGV in einigen Entscheidungen deren zeitliche Wirkung begrenzte50. Im Vordergrund der Diskussion stand dabei die Forderung nach zeitlicher Begrenztheit zur Wahrung des Vertrauens auf den Fortbestand der Rechtslage. Gerade im Privatrecht stellt sich freilich zugleich das Problem, dass die Forderung nach Vertrauensschutz für die eine Partei zugleich in Kauf nehmen muss, dass der anderen Partei die nunmehr für richtig erkannte Rechtsanwendung vorenthalten wird51. Auch wenn im öffentlichen Recht diese Ambivalenz im allgemeinen nicht zu bestehen scheint, ist die normative Grundlage einer solchen zeitlichen Beschränkung der Wirkung einer Rechtsprechungsänderung zunächst fraglich. Geht man davon aus, dass dem eine solche zeitliche Beschränkung verfügenden Urteil nicht der Charakter einer generellen Rechtsquelle zukommt, gründet sich die „Verbindlichkeit“ des Ausspruchs zunächst auf das Faktum, dass diese durch das Höchstgericht verfügt wird und somit davon ausgegangen werden muss, dass eine abweichende Rechtsprechung der Untergerichte vom Höchstgericht „korrigiert“ würde. Diese Konsequenz zwingt daher auch das die zeitliche Beschränkung aussprechende Höchstgericht, die Voraussetzungen einer solchen Beschränkung aus dem Verfassungsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen abzuleiten, wäre doch ansonsten etwa die „Korrektur“ einer unterinstanzlichen Entscheidung „nur“ auf „Richterrecht“ gestützt. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist die zeitliche Beschränkung m.E. jedenfalls dann methodisch einwandfrei, wenn sich aus Verfassungsrecht und Rechtsgrundsätzen erschließen lässt, dass ungeachtet der Änderung der Rechtsauslegung auf „Altfälle“ weiterhin die alte Rechtsauslegung anzuwenden ist. Dass sich eine solche Begründung für Fälle der Änderung einer Rechtsprechung zugunsten des Stpfl. nicht finden lässt, liegt auf der Hand52. Fraglich bleibt, ob sich solche Beschränkungen im Fall verbösernder Rechtsprechungsänderungen auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes stützen lassen. Zumindest nach dem traditionellen Verständnis des Legalitätsprinzips in Österreich ist diese Frage zu verneinen, da der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht zu bewirken vermag, dass eine in Folge Änderung der Rechtsprechung als unrichtig erscheinende Rechtsauslegung dem Legalitätsprinzip entspräche53. Aber selbst wenn man dem Vertrauensschutz aus verfassungsrechtlicher Sicht höhere Relevanz beimessen wollte, erscheint m.E. dieser Grundsatz nur bedingt tragfähig für eine generalisierende Beschränkung der zeitlichen Wirkungen einer Rechtspre50 Vgl. etwa OGH v. 14.7.1992 – 1 Ob 595/92, SZ 65/109. 51 Vgl. dazu ausführlich Vonkilch, Das intertemporale Privatrecht, 1999, S.  37  ff.; kritisch dazu F. Bydlinski (Fn. 49), S. 1 ff. 52 Vgl. die Nachweise bei Levedag (Fn. 6). 53 Jede andere Sicht erscheint in Österreich vor dem Hintergrund VfSlg 17.394 (vgl. oben III.1.a) ausgeschlossen.

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chungsänderung: Das Vorliegen einer schutzwürdigen Position dürfte im Grundsatz nämlich eine Disposition des Stpfl. voraussetzen, die er auf Grundlage der ursprünglichen höchstgerichtlichen Auslegung getroffen hat. Vertrauensschutz scheint somit erst dann begründet, wenn die Disposition nicht oder anders erfolgt wäre, hätte die geänderte Auslegung schon im Zeitpunkt der Disposition vorgelegen. Die Prüfung, ob Stpfl. bei typisierender Betrachtung ihr Vertrauen auf Geltung der langjährigen Rechtsprechung in Form einer vertrauensschützenden Disposition betätigt haben54, bedingt vor diesem Hintergrund eine unsachliche Gleichbehandlung zwischen jenen Stpfl., die tatsächlich vertrauenschützende Dispositionen gesetzt haben und jenen, die die Disposition unabhängig von der jeweiligen Rechtsauslegung gesetzt hätten. In der Tat bemüht sich daher auch die Rechtsdogmatik, eine solche generelle, mit Richterspruch verfügte Begrenzung der zeitlichen Wirkung verbösernder Rechtsauslegungen nicht allein mit Vertrauensschutz, sondern mit einer Ähnlichkeit oder gar Vergleichbarkeit der rechtsprechenden mit der rechtsetzenden Tätigkeit zu begründen55: Da die Rückwirkung eines Gesetzes verfassungsrechtlich unzulässig sei, sollte es auch in Fällen judikativer Akte zulässig sein, deren Rückwirkung zu beschränken. Dabei wird offenbar in der durch die Rechtsprechung herbeigeführten Änderung der Auslegung einer Norm ein Akt erkannt, der jenem einer rückwirkenden Gesetzgebung dann nahekommt, wenn die Rechtsprechung von einer bisherigen langjährigen Rechtsauslegung abweicht. Eine langjährig judizierte Auslegung führt nach dieser Betrachtung zu einer schutzwürdigen Konkretisierung einer an sich zunächst gegebenen relativen Unbestimmtheit der Norm, weshalb die „Rückwirkung“ der Änderung dieser Auslegung einer Rückwirkung eines Gesetzes gleichstehe56. Diese Sicht erscheint zunächst naheliegend, vermag allerdings bei näherer Betrachtung nicht vollends zu überzeugen: Die Anordnung der Rückwirkung von Gesetzen unterliegt - wie jeder andere Akt der Gesetzgebung - der verfassungsgesetzlich geregelten höchstgerichtlichen Normenkontrolle. Nur im Rahmen eines solchen Verfahrens kann sich in Folge einer Aufhebung der gesetzlichen Anordnung eines rückwirkenden In-Kraft-Tretens eine Beschränkung der zeitlichen Wirkung des Gesetzes auf die Zukunft ergeben. Sieht man von diesem besonderen verfassungsgesetzlich geregelten Verfahren der Gesetzesprüfung ab, besteht keine Norm, die der richterlichen Gewalt das Recht einräumt, die zeitliche Wirkung eines solchen Gesetzes autonom für die Vergangenheit auszuschließen und auf die Zeit ab Kundmachung zu begrenzen. Insofern ist der angestellte Vergleich nicht unproblematisch. Zu beachten ist m.E. vor diesem Hintergrund zudem, dass die Vertrauenslage bei Änderung einer – auch langjährigen – Rechtsprechung nicht jene Gravität aufweist, wie sie einer echten Rückwirkung eines Gesetzes zukommt. Anders als im Fall eines rückwirkenden Gesetzes ist im Zeitpunkt der Disposition die betreffende Norm bereits in Geltung und dem Stpfl. bekannt. Ein Grundsatz oder gar ein Recht auf „Beibehaltung“ höchstgerichtlicher Rechtsprechung ist der Rechtsordnung aber fremd, 54 Vgl. die Hinweise bei Levedag (Fn. 6). 55 Vgl. etwa für Österreich Vonkilch (Fn. 51), S. 311 ff. 56 Vgl. F. Bydlinski (Fn. 49), II.1 m.w.N.; Müller (Fn. 49).

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mag diese auch schon viele Jahre bestehen. Insofern erscheint das Vertrauen des Stpfl. in eine Rechtsauslegung von anderer (geringerer) Qualität als das Vertrauen in den (Nicht-) Bestand einer Rechtsnorm57. Der Schutz des Vertrauens in eine langjährige Rechtsprechung ist auch deshalb fragwürdig, weil das Bedürfnis nach Konkretisierung der Rechtsfolgen einer relativ unbestimmten Norm zwar der höchstgerichtlichen Rechtsprechung ihren besonderen Stellenwert verschafft, zugleich aber die Rechtsprechung nicht die Abänderbarkeit der Auslegung und damit die Unbestimmtheit der Norm beseitigt58. Die Unbestimmtheit von Normen erscheint daher nur bedingt Vertrauensschutz zu rechtfertigen: Konsequent müsste nämlich gefolgert werden, dass im Fall einer Änderung einer Rechtsprechung zu einer Norm, die keine Unbestimmtheit erkennen lässt, der Vertrauensschutz zu versagen wäre, ein Widerspruch in sich, der m.E. die Problematik der Tragfähigkeit des Vertrauensschutzarguments verdeutlicht59. Das weitergehende Argument, die Befugnis zur Änderung einer Rechtsprechung erfasse als Minus die Befugnis zur Schaffung einer Übergangsregelung, ist für sich zwar plausibel60. Letztlich beinhaltet das Minus freilich qualitativ ein Mehr, da sich die Übergangsregelung nicht in einer gesetzlich gebotenen Rechtsauslegung für den Einzelfall erschöpft, sondern die Übergangsregelung über den Einzelfall hinaus verbindliches Recht anzuordnen scheint. Abzuwägen bleibt, ob der durch judikative Übergangsregelungen im Einzelfall bedingte Gewinn für die Rechtssicherheit auch insgesamt betrachtet zu einer Erhöhung des Vertrauens in eine langjährige Rechtsprechung beitragen kann: Ohne gesetzliche Konkretisierung der Voraussetzungen für solche Übergangsregelungen ist nicht auszuschließen, dass für den rechtsuchenden Normunterworfenen, der vor einer Disposition steht, die auf einer langjährigen Rechtsprechung gründet, ein Dilemma ­besteht: Die Praxis zeigt ihm zum einem, dass in einem Umfeld dynamischer Rechtsentwicklung Rechtsprechungsänderungen möglicherweise zunehmend zu gewärtigen sind, ihre vertrauensschützenden Rechtswirkungen zum anderen aber von Fall zu Fall variieren können. Es erscheint m.E. somit zumindest zweifelhaft, ob das Prinzip des Vertrauensschutzes ohne jede weitere normative Ausgestaltung durch den Gesetzgeber tragfähige 57 Vgl. dazu Ruppe in FS Adamovich, 1992, S. 567; ders. in Holoubek/Lang (Hrsg), Vertrauensschutz im Abgabenrecht, S. 205. Dabei fällt auf, dass der Vertrauensschutz gegenüber dem Gesetzgeber aus dem Gleichheitssatz abgeleitet wird: Die rückwirkende Norm erweckt nämlich dadurch Bedenken, dass sie jene Stpfl., die ihre Dispositionen unter der neuen Rechtslage treffen können und jene, die rückwirkend betroffen sind und ihre Dispositionen nicht mehr ändern können, unsachlich gleich behandelt. Gerade dieser Aspekt dürfte aber für die Zulässigkeit einer Rechtsprechungsänderung ohne Relevanz sein. 58 Allein der Umstand eines langjährigen Bestandes einer Rechtsauslegung sagt auch wenig darüber, wie umstritten sie möglicherweise dem Grunde nach seit jeher war (und damit auch die Änderung der Rechtsprechung jederzeit möglich erschien). 59 So auch Müller (Fn. 49), S. 238. 60 Vgl. in diesem Sinne Levedag (Fn. 6).

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Grundlage sein kann, zeitliche Einschränkungen, wie sie der österr. Verfassungsgesetzgeber für den Fall der Aufhebung von Gesetzen explizit in Art. 140 Abs. 7 B-VG vorsieht, qua richterlicher Gewalt anzuordnen. Jedenfalls unter Zugrundelegung des traditionellen Verständnisses des Legalitätsprinzips in Österreich scheint die Beschränkung der zeitlichen Wirkung höchstgerichtlicher Erkenntnisse einer expliziten verfassungsgesetzlichen Determinierung zu bedürfen.

V. Der Bedarf der Praxis nach Rechtssicherheit – Reflexionen zu einer Weiterentwicklung des Legalitätsprinzips Die traditionelle Auslegung des Legalitätsprinzips in Österreich geht unbestreitbar zulasten des Prinzips der Rechtssicherheit. Dieser Konflikt erscheint insofern bemerkenswert und einer näheren kritischen Betrachtung zu bedürfen, als auch das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwirklichung der Rechtssicherheit dient61. Diese Verwirklichung der Rechtssicherheit durch das Legalitätsprinzip ist in seinem traditionellen Verständnis allerdings nur solange gewährleistet, als die Norm vollständig bestimmt ist. Dass dies ein nicht erreichbarer Idealzustand ist62, liegt auf der Hand. Diese Einsicht bleibt nach dem derzeitigen Stand der Diskussion in Österreich ohne Auswirkungen auf die Auslegung des Legalitätsprinzips. Gerade für das Problem der Konsequenzen der Änderung höchstgerichtlicher Rechtsprechung stellt sich damit die Frage, ob die traditionelle, zulasten der Rechtssicherheit gehende Sicht des Legalitätsprinzips einer Weiterentwicklung zugeführt werden kann, die – ohne diese Prinzip aufzugeben – im Kern seine Intention, Rechtssicherheit zu gewährleisten, in einem höheren Maße als die traditionelle Sicht sicherstellt. Eine solche Fortentwicklung erscheint nicht zuletzt auch deshalb überlegenswert, zumal die fortschreitende Legistik der letzten 30 Jahre zu einem zunehmenden Bedarf an Instrumenten geführt hat, die dem Prozess der schleichenden Ausdünnung der Rechtssicherheit entgegenwirken sollen. Es führte wohl an dieser Stelle zu weit, die Ursachen und den Verlauf dieser Entwicklung im Einzelnen anzuführen. Faktum scheint zu sein, dass das in Gesetzen ex ante im Zeitpunkt der Verwirklichung des Sachverhaltes entnehmbare Maß an Rechtssicherheit in einem dynamischen Umfeld durch die Möglichkeit einer ex post erfolgenden, aber ex tunc wirkenden Konkretisierung des Gesetzesauftrages massiv schwindet. Damit steht in einem Spannungsverhältnis, dass im modernen Rechtssystem, das vom Unionsrecht durchdrungen wird und eine im Verfassungsrang stehende EMRK einschließt, der Bedarf an Orientierungsmarken einer ständigen Rechtsprechung stetig zunimmt63. Das Wechselspiel zwischen ex ante Einschätzung und ex post erfolgender Konkretisierung würde allerdings dann nicht mehr zu Lasten der Rechtssicherheit gehen, 61 Vgl. Beiser in FS Wimmer, 2008, S. 48. 62 Vgl. Wimmer, Materielles Verfassungsverständnis  – Ein Beitrag zur Theorie der Verfassungsinterpretation, 1971, S. 117 f. 63 Piska (Fn. 1), S. 607.

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wenn innerhalb eines vertretbaren Rahmens die ex ante getroffene Auslegung dem Legalitätsprinzip genügt. Bei dieser Sicht würden im Fall des Bestehens eines Auslegungsspielraumes alle Lösungen innerhalb dieser Bandbreite gleichwertig dem Gesetz und damit dem Legalitätsprinzip entsprechen64. Eine der höchstgerichtlichen Rechtsprechung folgende Auslegung wäre dann gegen eine spätere Änderung der Rechtsprechung immunisiert, weil sie für sich beanspruchen kann, dass sie jedenfalls innerhalb des abstrakt bestehenden Auslegungsspielraums der Norm vertretbar war. Für diese Sicht spricht, dass die Vertretbarkeit der Auslegung einer Norm durch die Rechtsprechung selbst bestimmt wird. Eine Änderung der Rechtsprechung würde bei einer solchen Betrachtung generell – ohne dass es eines richterlichen Ausspruchs bedürfte – nicht für die Vergangenheit wirken, sofern das ursprüngliche Auslegungsergebnis innerhalb einer vertretbaren Rahmens liegt. Es bedürfte freilich auch bei einem solchen Verständnis des Legalitätsprinzips m.E. einer klaren gesetzlichen Regelung, inwieweit die aus Anlass des konkreten Verfahrens eintretende Änderung der Rechtsprechung bereits auf den Anlassfall und diesem allenfalls gleichzuhaltende Fälle anzuwenden ist65.

VI. Ergebnisse einer nachbarschaftlichen Außensicht 1. Höchstgerichten kommt im Rechtsstaat Orientierungs- und Leitfunktion zu. Rechtsprechungskontinuität und Rechtsprechungsänderungen stehen vor diesem Hintergrund zueinander in einem Spannungsverhältnis: Die Herausbildung einer ständigen Rechtsprechung und deren Beibehaltung ist im Sinne der Förderung von Rechtssicherheit erstrebenswert. Zugleich müssen Gerichte stets bereit sein, bei Vorliegen überzeugender Gründe besseren Einsichten Raum zu geben. 2. Während bei Rechtsprechungsänderungen zugunsten des Stpfl. kein Konflikt mit dem Prinzip der Rechtssicherheit besteht und das Prinzip der Gesetzmäßigkeit lediglich in jenen Fällen eingeschränkt erscheint, in denen Rechtskraft eingetreten ist, stellt sich bei Rechtsprechungsänderungen zulasten des Stpfl. die Frage nach dem Vertrauensschutz. 3.1. Allein die durch eine Änderung der Rechtsprechung eintretende Schlechterstellung einer Gruppe von Stpfl. – nämlich im Fall begünstigender Änderungen jener, die den Abgabenbescheid in Rechtskraft erwachsen lassen haben und im Fall verbösernder Änderungen jener, die noch nicht der Rechtskraft teilhaftig geworden sind – steht per se einer Änderung der Rechtsprechung nicht entgegen. Sie vermag per se

64 In diesem Sinn bereits Achatz in Pezzer (Hrsg), Vertrauensschutz im Steuerrecht, 2004, S. 161 (177). 65 Ein anderer Ausweg wäre, durch rückwirkendes Gesetz die ursprüngliche Rechtsauslegung in Kraft zu setzen; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer solchen Rückwirkung vgl. die Nachweise bei Ruppe (Fn. 57). Rechtspolitisch ist ein solches Vorgehen aber abzulehnen, würde hierdurch doch richterliche Rechtsfortbildung gänzlich ausgehebelt.

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Rechtsprechungskontinuität und -änderungen

auch keine „judikative Übergangsregelung“ zu rechtfertigen, zumal eine solche Ungleichbehandlung eine allgemeine Konsequenz der Änderung von Präjudizien ist. 3.2. Spricht ein Höchstgericht anlässlich einer verbösernden Rechtsprechungsänderung aus, dass die Entscheidung nur für die Zukunft anzuwenden sei, entfaltet dieser Ausspruch keine Bindungswirkung nach Art einer Rechtsquelle. Der Ausspruch entfaltet aber faktische Wirkung, da man davon ausgehen muss, dass das Höchstgericht in Altfällen bei seiner ursprünglichen Auslegung bleibt. Zumindest in Fällen, in denen die Änderung ausdrücklich zur Korrektur früherer Fehlentscheidungen erfolgt, steht eine judikative Beschränkung des zeitlichen Anwendungsbereichs im Konflikt mit dem Gesetzmäßigkeitsprinzip. Dagegen besteht insoweit kein Konflikt mit diesem Grundsatz in Fällen, in denen die Änderung der Rechtsauslegung eine Folge geänderter Verhältnisse ist und die judikative Übergangsregelung an diesen Zeitpunkt anknüpft. Der Rahmen für mögliche Lösungen zugunsten einer Berücksichtigung des Vertrauensschutzes ist durch die jeweilige nationale Verfassungsrechtsordnung vorgegeben. 3.3. In der österr. Verfassungsrechtsdogmatik genießt das Legalitätsprinzip uneingeschränkt Vorrang vor dem Prinzip des Vertrauensschutzes. Rechtsprechungsänderungen zulasten des Stpfl. haben somit ex lege auch für jene nicht in Rechtskraft erwachsenen Fälle Bedeutung, in denen der Stpfl. auf die günstigere höchstgerichtliche Rechtsprechung vor der Änderung vertraut hat. Vertrauensschutz kann danach nur im Rahmen einer Billigkeitsentscheidung im Einzelfall erlangt werden. Eine Rechtfertigung für generalisierende richterliche Übergangsregelungen lässt sich im österr. Verfassungsrecht nicht finden. 3.4. Demgegenüber bietet offenbar Art. 20 Abs. 3 GG die Möglichkeit, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz gleichrangig auf einer Ebene mit dem Grundsatz der Rechtsrichtigkeit zu berücksichtigen. 3.4.1. Fraglich ist zunächst, ob der Vertrauensschutz tragfähig für eine generalisierende Beschränkung der zeitlichen Wirkungen durch eine judikative Übergangsregelung sein kann, da das Vorliegen einer schutzwürdigen Position eine Disposition des Stpfl. vorauszusetzen scheint, die er auf Grundlage der ursprünglichen höchstgerichtlichen Auslegung getroffen hat. Eine typisierende Betrachtung bedingt in diesem Zusammenhang eine unsachliche Gleichbehandlung zwischen Stpfl., die tatsächlich eine solche vertrauensschützende Disposition gesetzt haben und jenen, die die Disposition ohne Ansehung der jeweiligen Auslegung (in jedem Fall) getroffen hätten. 3.4.2. Fraglich ist ferner, ob ein Vergleich der rechtssetzenden mit der gesetzgebenden Gewalt die Übertragung von Rechtsgrundsätzen aus der Rechtsprechung zur echten Rückwirkung von Gesetzen rechtfertigen kann. Anders als im Fall eines rückwirkenden Gesetzes ist in Fällen der Rechtsprechungsänderung im Zeitpunkt der Disposition die betreffende Norm bereits in Geltung und dem Stpfl. bekannt. Ein Grundsatz auf „Beibehaltung“ höchstgerichtlicher Rechtsprechung ist der Rechtsordnung aber fremd, mag die Rechtsprechung auch schon viele Jahre unverändert 225

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bestehen. Insofern erscheint das Vertrauen des Stpfl. in eine Rechtsauslegung von anderer Qualität als das Vertrauen in den (Nicht-) Bestand einer Rechtsnorm. 3.4.3. Das Argument, die Befugnis zur Änderung einer Rechtsprechung erfasse als Minus die Befugnis zur Schaffung einer Übergangsregelung, ist für sich plausibel. Letztlich ist das Minus freilich qualitativ ein Mehr, da sich die Übergangsregelung nicht in einer gesetzlich gebotenen Rechtsauslegung für den Einzelfall erschöpft, sondern über den Einzelfall hinaus verbindliches Recht nach Art einer generellen Norm anordnet. 4. Die Dynamik der Rechtsentwicklung zieht zunehmend Rechtsprechungsänderungen nach sich, womit die Kontinuität und die Rechtssicherheit an Bedeutung verlieren und die für den Rechtssuchenden essentielle Berechenbarkeit der Entscheidungsfindung ausgedünnt wird. Der Versuch, dieser Entwicklung mit der Schaffung von judikativen Übergangsregelungen entgegenzuwirken, ist zu begrüßen, da er auf die Stärkung des Vertrauens in den Rechtsstaat abzielt. Auch wenn möglicherweise aus heutiger Sicht diese Aufgabe in einem traditionellen Verständnis eher der gesetzgebenden Gewalt zuzumessen wäre, ist nicht auszuschließen, das die Zukunft den Weg des BFH als unverzichtbar bestätigt: Die Verschmelzung der Rechtstraditionen auf europäischer Ebene wird zwangsläufig zur Weiterentwicklung nationaler Verfassungsordnungen führen und könnte dabei möglicherweise künftig auch den Gerichten in Nicht-Case-Law-Systemen eine bedeutendere, Rechtsquellen vergleichbare Funktion einräumen, als dies heute vorstellbar erscheint.

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … E.

Zusammenspiel von Rechtsprechung und Gesetzgebung Von Ekkehart Reimer

Inhaltsübersicht I. Ausgangspunkte II. Richterliche Gesetzesbindung und ihre Grenzen 1. Kreis der bindenden Rechtsvorschriften 2. Auslegungsräume als Methodenfragen 3. Richterliche Genauigkeitsvorsorge 4. Gesetzliche Auslegungsregeln 5. Methodenfragen als Verfassungsfragen 6. Richterliche Unabhängigkeit als Schutz gegenüber dem Parlament 7. Gesetzesähnliche Verfestigung der Rechtsprechung III. Richterliche Gesetzeskontrolle 1. Die inzidente Normenkontrolle als Regelfall

2. Gesetzeskontrolle am Maßstab des Unionsrechts? IV. Richterliche Gesetzgebungsanregungen 1. Rechtspolitische Hinweise in gerichtlichen Entscheidungen 2. Richter im Gesetzgebungsverfahren V. Gesetzgebung zur Rechtsprechung 1. Reformgesetzgebung nach Verfassungsund Unionsrechtsverstößen 2. Nichtanwendungsgesetze 3. Zweitrundeneffekte: Gelingt die demokratische Korrektur der Recht­ sprechung? 4. Insbesondere: Richterlicher Umgang mit exekutivischer Rechtsetzung VI. Fazit

I. Ausgangspunkte Rechtsprechung und Gesetzgebung sind wirkmächtige Textproduzenten des deutschen Steuerstaats. Gemeinsam bestimmen sie über die Befugnisse der Exekutive; spannungsreiche Wechselbeziehungen zeigen sich aber auch zwischen ihnen. Das gilt empirisch und normativ. Zentraler normativer Ausgangspunkt für die Bestimmung des Verhältnisses der Finanzgerichtsbarkeit zum Gesetzgeber ist ein spezifisch deutsches Verständnis der Gewaltenteilung, das in der Staatsrechtslehre typischerweise als Unterfrage des facettenreichen Rechtsstaatsprinzips verhandelt wird, zugleich aber eng auf das Demokratieprinzip bezogen ist. Für die Verhältnisbestimmung gilt allerdings strukturell nichts anderes als für andere Verfassungsprinzipien. Das zeigt gerade der Abgleich der Gewaltenteilung mit dem Demokratieprinzip.

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Ekkehart Reimer

In der Konzeption des Demokratieprinzips gibt es zunächst einen Hauptstrang und eine Hauptrichtung der Legitimation: Die Staatsgewalt läuft vom Volk über das Parlament zur Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 2 GG). Genaueres Hinsehen fördert aber – empirisch und normativ – zahlreiche Nebenstränge zu Tage, die teils gleichgerichtet, teils entgegengesetzt verlaufen. So kennt das Demokratieprinzip neben Wahlen und Abstimmungen weitreichende Garantien für das plébiscite de tous les jours (Art.  5 Abs. 1, 8, 9, 17, 21 GG). Umgekehrt unterliegt das Informationshandeln der verfassten Staatsorgane und Behörden demokratischen Vorgaben (Art. 5 Abs. 1, 42 Abs. 1 und 3, 44 Abs. 1, 52 Abs. 3, 65, 109a Abs. 3 GG). Und schließlich duldet und erfordert das Demokratieprinzip sogar hoheitliche Einschränkungen der freien Rede. Eine strukturell ähnliche vektorielle Vielfalt prägt auch das verfassungsrechtliche System der Gewaltenteilung, die in Wahrheit eine Gewaltenverschränkung ist. Die verschiedenen Verbindungen von Gesetzgebung im materiellen Sinne (die die Verordnungsgebung einschließt) und Rechtsprechung lassen sich freilegen, die unterschiedlichen Stränge zueinander ins Verhältnis setzen. Diese Analyse verfolgt ein doppeltes Ziel: Einerseits geht es ihr um die Steuerungsfunktion des Gesetzgebers, der sich (auch) gegenüber der Rechtsprechung behaupten muss. Andererseits will sie zeigen, wie die Gerichte (insbesondere Reichsfinanzhof und Bundesfinanzhof) gegenüber dem Gesetzgeber ihre Ergänzungs- und Kontrollfunktion erfüllen. Die Rechtsprechung ist an Gesetz und Recht gebunden (Art.  20 Abs.  3 GG). Die ­Gesetzesbindung der dritten Gewalt steht über allem, bedarf aber mit Blick auf die Auslegungshoheit der Gerichte differenzierter Analyse (II.). Neben richterliche Freiräume tritt die richterliche Gesetzeskontrolle, die eine – jedenfalls begrenzte – Subordination der Gesetzgebung unter die Rechtsprechung bedeutet (III.). Gemeinsam bilden diese beiden Einflüsse die rechtsförmige Dimension des Verhältnisses zwischen Legislative und Judikative. Darunter liegt eine zweite, eher empirisch als normativ zu fassende Schicht: Die Gerichte geben dem Gesetzgeber bisweilen auch schöpferisch-gestaltende Anregungen, die dieser aufnehmen kann (IV.); umgekehrt sind aber auch negative Reaktionen des Gesetzgebers auf höchstrichterliche Auslegungsentscheidungen zu beurteilen (V.).

II. Richterliche Gesetzesbindung und ihre Grenzen 1. Kreis der bindenden Rechtsvorschriften Die Rechtsprechung ist an Gesetz und Recht gebunden, dem parlamentarischen Handeln im Modus der Gesetzgebung also untergeordnet1. Auch die in Gesetzesform überführten (in der dualistischen Sicht „transformierten“, nach monistischer Konzeption mit dem innerstaatlichen Anwendungsbefehl ausgestatteten) völkerrechtli-

1 Hierzu und zum Folgenden umfassend Thiemann, Der BFH und die Gesetzesbindung, in FS 100 Jahre BFH, S. 129 ff.

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Zusammenspiel von Rechtsprechung und Gesetzgebung

chen Verträge – insbesondere die Doppelbesteuerungsabkommen – erlangen durch das Umsetzungsgesetz2 die volle Bindungskraft gegenüber dem Richter. Keine geringere Bindungskraft haben exekutivische Rechtsverordnungen. Auch sie sind „Gesetz“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG, was sich bereits aus der systematischen Stellung von Art. 80 GG im VII. Abschnitt des Grundgesetzes („Die Gesetz­ gebung des Bundes“) ergibt. An dieser vollen Bindungskraft haben die Rechtsver­ ordnungen teil, durch die zwischenstaatliche Verständigungsvereinbarungen mit Außenwirkung ausgestattet werden. Diese Rechtsverordnungen finden ihre Ermächtigungsgrundlagen in § 2 Abs. 2 AO i.V.m. den abkommensrechtlichen Vereinbarungen über das Verständigungsverfahren3. Soweit diese Ermächtigungsgrundlagen wirksam sind und sich die Verständigungsvereinbarung im Rahmen dieser Ermächtigungsgrundlagen hält4, wird also die von der zuständigen deutschen Behörde mit dem anderen Vertragsstaat getroffene Verständigungsvereinbarung Gesetz im materiellen Sinne, das die Richter bindet. Das unterscheidet Rechtsverordnungen von Verwaltungsanweisungen jeden Inhalts: Weder Einzelweisungen noch die auf einzelne Rechtsfragen bezogenen Schreiben der Finanzverwaltungen noch die im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehenen allgemeinen Verwaltungsvorschriften5 können den Gerichten gegenüber präskriptive Kraft entfalten. Das gilt auch dann, wenn der Gesetzgeber selber dem Steuerpflichtigen oder Dritten die Beachtung von Verwaltungsvorschriften außerhalb von Art. 80 GG vorzuschreiben versucht6. Immerhin kann den Verwaltungsvorschriften  – namentlich den sog. allgemeinen Verwaltungsvorschriften auf der Grundlage von Art. 108 Abs. 7 GG – auch im Steuer- und Zollrecht eine mittelbare7 oder relative8 Außenwirkung i.S.e. normativen Einflusses auf die Rechtsprechung zukommen. Voraussetzungen sind  – normativ  – die Existenz einer verklammernden Gleichheits- und/oder Folgerichtigkeitsgarantie in Verfassung oder Gesetz und – real – die Existenz weiterer Fälle, die in Verwaltungsverfahren anhängig waren, sind oder werden können und auf die der gerichtshängige Fall kraft der Verklammerungsnorm abzustimmen ist.

2 Das in der Staatspraxis mit dem Zustimmungsgesetz, durch das der Gesetzgeber im interorganschaftlichen Verhältnis die Erklärung des Bundespräsidenten bzw. eines von ihm bevollmächtigten Vertreters der Bundesregierung genehmigt, zusammenfällt. 3 Vgl. Art. 25 Abs. 1 und Abs. 3 OECD-MA, Art. 24 Abs. 1 und Abs. 3 dVG. 4 Was richterlich voll überprüfbar ist (unten III.). 5 Art. 84 Abs. 2, 85 Abs. 2 Satz 1, 86, 87b Abs. 2 Satz 2, 108 Abs. 7 GG. 6 Wie etwa in §§ 22a Abs. 1, 44 Abs. 1 Satz 3 EStG, die damit erheblichen verfassungsrechtlichen Zweifeln ausgesetzt sind. Vgl. Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung (2000), S.  225; Eberhard Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Ordnungsidee (2004), 6. Kap. Rz. 88 ff.; Ralf P. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht: Konstitutionalisierung, Europäisierung, Methodengesetzgebung (2007), S. 362 f. 7 Zur Mehrdimensionalität und Missverständlichkeit dieses Begriffs F.  Kirchhof in Maunz/ Dürig, Art. 84 GG Rz. 178. 8 Ralf P. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht: Konstitutionalisierung, Europäisierung, Methodengesetzgebung (2007), S. 362 f.

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2. Auslegungsräume als Methodenfragen Die Reichweite der harten präskriptiven Bindungen an Gesetze im materiellen Sinne, denen die Gerichte nach Art. 20 Abs. 3 GG unterliegen, steht und fällt primär mit der Wirksamkeit dieser Gesetze (dazu unten III.). Solange und soweit die Gesetze aber wirksam sind, ist ihre Bindungskraft eine Frage ihres Inhalts: also der in ihnen selbst enthaltenen Aussagen über Tatbestand und Rechtsfolge. Das Erkennen des Normgehalts ist aber wiederum Domäne der rechtsanwendenden Gewalten. Die verfassungsrechtlich vorgegebene Allgemeinheit des Gesetzes ist untrennbar mit einem Schutz des Kernbereichs der Judikative für die Gesetzesauslegung verbunden. In diesem Sinne ist der Richter am Prozess der Rechtserzeugung beteiligt9. Wie groß dieser Spielraum richterlicher Rechtserzeugung ist, hängt auf der Sachebene von dem Grad der Unbestimmtheit des jeweiligen Tatbestandsmerkmals ab. Im Umgang mit millimetergenauen Tatbestandsmerkmalen ist der Richter stärker gebunden als bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe. Dass der Gesetzgeber Fallentscheidungen gleichwohl nicht insgesamt millimetergenau determinieren kann, liegt an der durchgängigen (und selbst im Steuerrecht schon theoretisch unvermeidbaren) Verflechtung exakter mit unbestimmten Rechtsbegriffen in jeder Fallnorm10. Entscheidend ist aber neben der Sachebene, die immerhin eine Genauigkeitsanmutung liefert, die methodische Ebene. Wie vorhersehbar und reproduzierbar die Ergebnisse der Rechtsanwendung sind, hängt auch von der Einhegung des Norminterpreten durch die Methodologie der Rechtsanwendung ab11. Der Grad richterlicher Gesetzesbindung steht und fällt also mit der Zielgenauigkeit der Methodenlehre. Diese Zielgenauigkeit verdient unter drei Gesichtspunkten Aufmerksamkeit: Wie kann die Rechtsprechung selbst zu dieser Auslegungsgenauigkeit beitragen (nachfolgend 3.), wie die Gesetzgebung (unten 4.)? Den entscheidenden Rahmen aber setzt die Verfassung (unten 5.).

9 Umfassend Lerke Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, 1992. 10 Auch die Genauigkeit einer betragsmäßigen (Frei-)Grenze garantiert dann keine Rechtssicherheit und volle Vorhersehbarkeit, wenn die Einsatzgrößen oder die benachbarten Tatbestandsmerkmale eine geringere Genauigkeit aufweisen. Deshalb gilt z.B. auch im Recht der Verkehrsteuern das Prinzip des schwächsten Gliedes. Deshalb ist die für sich genommen exakte und damit hoch belastbare 95 %-Grenze in § 2 Abs. 3 oder Abs. 3a GrEStG kein Garant für die effektive Nichtsteuerbarkeit eines Verkehrsvorgangs, solange nicht zusätzlich fest steht, dass (ob) sich der Tatbestand des „Erwerbs“ nur auf den Mehrheitsanteil und nicht zusätzlich auch auf den Minderheitsanteil bezieht (vgl. §§ 39, 42 AO). Zum Ganzen zuletzt BFH v. 11.12.2014 – II R 26/12, BFHE 247, 343, BStBl. II 2015, 402, BB 2015, 487 m. Anm. Gunnar Harlacher; v. 30.8.2017 – II R 39/15, BFH/NV 2018, 291, BB 2018, 229. 11 Ralph Alexander Lorz in Baldus/Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung. Entstehung und Auslegungsfähigkeit von Normen, 2013, S. 87 ff.

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3. Richterliche Genauigkeitsvorsorge Wichtigste Voraussetzung für die Zielgenauigkeit richterlicher Gesetzesauslegung ist eine einheitliche Auslegungsmethodik. Analysiert man die Rechtsprechungspraxis aus sich heraus, fällt allerdings eine sehr unterschiedliche Herangehensweise unterschiedlicher Spruchkörper auf. Auch und gerade innerhalb des BFH gibt es insoweit erhebliche Varianzen. Der 1., 2. und 7. Senat stellen überdurchschnittlich häufig auf den Wortlaut gesetzlicher Vorschriften ab12. Der 2. und der 7. Senat verwenden auch die teleologische Auslegung sehr oft13, während sich der 1.  Senat insoweit spürbar zurückhält14. Eine historische Auslegung findet sich demgegenüber besonders häufig in Entscheidungen des 1. und des 10. Senats15. Man wird zwar nicht ohne Weiteres sagen können, dass damit Entscheidungen eines Senats vorhersehbarer oder zufälliger als Entscheidungen eines anderen Senats sind, wenn und weil man den unterschiedlichen Auslegungsmethoden keine unterschiedlichen Genauigkeitsgrade zuschreiben kann. Es ist vielmehr die methodologische Heterogenität als solche, die – jedenfalls bezogen auf identische Normen und Rechtsinstitute – zu einer Spreizung der Auslegungsergebnisse und damit ceteris paribus zu einem Minus an Rechtseinheit und Rechtssicherheit führt. Diese Heterogenität, die die Senate offenbar nicht durch spontane Angleichung überwinden, findet aber eine gesetzliche Begrenzung: § 11 Abs. 2 FGO verlangt eine Entscheidung des Großen Senats in allen Fällen, in denen ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats abweichen will. Damit ist der Große Senat zur Klärung der zwischen zwei Senaten bestehenden Auslegungsunsicherheiten berufen. Es überrascht daher nicht, dass den Entscheidungen des Großen Senats ein überragendes Methodenbewusstsein zugrunde liegt: In Erfüllung seines gesetzlichen Auftrags wendet der Große Senat die Auslegungsmethoden besonders häufig explizit an, und ebenso verknüpft und hierarchisiert er sie damit auch besonders häufig16. 12 Nach einer – rein quantitativen und mit methodischen Unsicherheiten behafteten – Analyse aller in juris veröffentlichten Entscheidungen argumentieren 19,1  Prozent der Entscheidungen des 1.  Senats, 20,1  Prozent der Entscheidungen des 2.  Senats und sogar 22,1 Prozent der Entscheidungen des 7. Senats ausdrücklich mit dem „Wortlaut“ gesetzlicher Vorschriften; der Durchschnitt der übrigen Senate liegt bei 14,3 Prozent. 13 Die Ausdrücke „Sinn und Zweck“ oder „Gesetzeszweck“ oder „teleologisch“ oder „Telos“ finden sich in 9,5 Prozent aller Entscheidungen des 2. und in 9,7 Prozent aller Entscheidungen des 7. Senats; der Durchschnitt der übrigen Senate liegt bei 6,2 Prozent. 14 Quote: 6,0 Prozent; Durchschnitt der übrigen Senate: 6,9 Prozent. 15 Die Ausdrücke „Entstehungsgeschichte“, „Gesetzesbegründung“ oder „Materialien“ verwendet der 1. Senat in 4,6 Prozent, der 10. Senat in 4,7 Prozent seiner Entscheidungen. Der Durchschnitt der übrigen Senate liegt bei 3,8 Prozent. 16 In allen drei hier untersuchten Auslegungsmethoden (Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Telos) überragt die ausdrückliche Methodenverwendung die entsprechenden Quoten der  einzelnen Senate um ein Mehrfaches: Die grammatische Auslegung (Fn.  12) wird in  52,0  Prozent der Entscheidungen des Großen Senats (aber nur in 16,6  Prozent der ­Entscheidungen der einzelnen Senate) ausdrücklich verwendet. Bei der teleologischen Auslegung (Fn.  13) beträgt die Quote des Großen Senats 24,4  Prozent (einzelne Senate:

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Dass die Entscheidungen des Großen Senats keine Rückwirkung haben, sondern die Auslegungspraxis nur ex nunc prägen, ist der spezifischen Funktion der obersten Bundesgerichte als Orientierungsgeber in der Breite geschuldet. Die Rechtsprechung der Ober- und Höchstgerichte hat eine objektiv-rechtsstaatliche Funktion. Sie bringt Rechtssicherheit in die Vielzahl ähnlich gelagerter Steuerschuldverhältnisse und wirkt damit homogenisierend und streitvermeidend. Konzentriert sich bei den Untergerichten die Aufmerksamkeit noch stark auf die Streitbeilegung im Einzelfall (hohe Vergleichsquote; geringe Veröffentlichungsquote; hohe Bedeutung des Tenors einer Entscheidung), werden die Ober- und Höchstgerichte vor allem durch ihre publizierten Leitsätze (die in der Weimarer Zeit noch „Rechtssätze“ hießen) wahrgenommen. Dieser objektiv-rechtsstaatlichen Funktion war sich der RFH von Anfang an bewusst17. Unter der kurzen, aber bedeutenden Präsidentschaft Herbert Dorns (1931– 1934) ist das Rechtssatzwesen in den späten Weimarer Jahren nochmals gestärkt worden18. Auch die Rechtsprechung des BFH erfüllt in hohem Maße diese Orientierungsfunktion. Dazu tragen namentlich die gerichtseigene Veröffentlichungspraxis und die verwaltungsseitige Übernahme von Leitsätzen und tragenden Gründe in das Bundessteuerblatt bei19. In rechtsstaatlicher Perspektive leistet der BFH damit nicht nur einen zentralen Beitrag zur Vorhersehbarkeit von Auslegungsergebnissen. Denn die auf konkrete Rechtsfragen bezogene Genauigkeitsgewähr wird ihrerseits um die Vorhersehbarkeit der Verwendung von Auslegungsmethoden ergänzt. In diesem Sinne lässt sich die Methodenkohärenz, die dem Großen Senat aufgegeben ist, als Genauigkeitsvorsorge begreifen. 4. Gesetzliche Auslegungsregeln Diese Genauigkeitsvorsorge ist und bleibt zugleich rechtsstaatliche, demokratische und grundrechtliche Aufgabe des Gesetzgebers. Immer wieder werden deshalb die Methoden der Gesetzesinterpretation auch ihrerseits gesetzlich geprägt und entschieden. Der Gesetzgeber selbst macht dem Norminterpreten methodische Vor­ gaben: durch eine Programmierung der Rechtsanwendung auf eine wirtschaftliche 7,1 Prozent) und bei der historischen Auslegung (Fn. 15) 21,1 Prozent (einzelne Senate: 4,0 Prozent). 17 Gutachtlicher Beschl. des RFH v. 25.11.1918: Veröffentlichung der Rechtssätze, in DStZ 1919, 168. 18 Ekkehart Reimer in FS Spindler, 2011, S. 507 (519 f.). Zur Person und wissenschaftlichen Bedeutung Herbert Dorns umfassend Christoph Bräunig, Herbert Dorn (1887–1957). Pionier und Wegbereiter im Internationalen Steuerrecht, 2016. 19 Überblick bei Albert Beermann in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 385 ff. Siehe bereits Gustav Jahn, DStZ 1933, 3 ff.; Franz Zitzlaff, StuW 1951, Sp. 1 (12 ff.); ders., StuW 1951, Sp. 737 (740 ff.); Klaus Offerhaus in FS v. Wallis, 1985, S. 61 ff. Abgleich zu den anderen Höchstgerichten bei Reinhard Walker, Die Publikation von Gerichtsentscheidungen, 1998; Kurzfassung bei dems., JurPC Web-Dok. 100/1998, Abs.  12  ff. Rechtsvergleichende Einordnung: Georg Leistner, Über die Veröffentlichungspraxis oberster und höherer Gerichte in Westeuropa, 1975, S. 15 f.

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­ etrachtungsweise20, aber auch durch rechtssphären- oder teilrechtsordnungsüberB greifende Begriffsverkettungen21. Gegen diese gesetzlichen (Meta-)Regeln ist von Verfassung wegen grundsätzlich nichts einzuwenden. Sie stehen insbesondere nicht unter einem generellen Rechtfertigungserfordernis aus dem Prinzip der Gewaltenteilung oder gar der Garantie richterlicher oder gerichtlicher Unabhängigkeit. Der Gesetzgeber ist vielmehr grundsätzlich befugt, sich zu erklären. Er darf deshalb in Ergänzung sachlicher Regelungen auch Metaregelungen (z.B. auch Regelungen über den Umgang des Rechtsanwenders mit Normkollisionen) in der Handlungsform des Gesetzes erlassen und auf diese Weise den Bedeutungsgehalt der Sachregelung verdeutlichen und konkretisieren. Zwei Vorbehalte sind allerdings anzubringen. Der erste von ihnen folgt unmittelbar aus den eingangs genannten verfassungsrechtlichen Vorgaben (Rechtsstaatsprinzip, Demokratieprinzip, grundrechtliche Bestimmtheits- und Vorhersehbarkeitsanforderungen): Der Gesetzgeber darf gesetzliche Auslegungsregeln nicht gegen die Allgemeinheit des Gesetzes und die Willkürfreiheit seiner Anwendung richten. Schon deshalb wären verunklarende Vorschriften wie § 1 Abs. 1 und Abs. 2 StAnpG22 unter dem Grundgesetz ausgeschlossen. Der Gesetzgeber ist ferner daran gehindert, verfassungsunmittelbar vorgegebene Auslegungsregeln (unten 5.) wie etwa die Erfordernisse verfassungs- und unionsrechtskonformer Auslegung oder völkerrechtsfreundlicher Auslegung zu derogieren. Der zweite Vorbehalt betrifft die Effektivität gesetzlicher Methoden- und Auslegungsregeln23. Zwar haben diese Regeln Teil an der Bindungskraft der Handlungsform Parlamentsgesetz (Art. 20 Abs. 3 GG). Sie sind aber ihrerseits der Auslegung zugänglich und dürfen die verfassungsrechtlich vorgegebene Befugnis der Gerichte zur Auslegung von Verfassung, Gesetz und Recht weder insgesamt in Frage stellen noch mit Ausnahmen versehen. In der bilateralen Relation Parlamentsgesetz-Rechtsprechung liegt die Letztentscheidung daher weiterhin bei der Judikative. Indem der 20 Etwa § 4 RAO 1919, § 9 RAO 1931, § 1 Abs. 2 StAnpG (s. Fn. 22), § 39 Abs. 2 AO. Ausführlich statt aller Georg Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983, S. 195 ff.; Ralf P. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht: Konstitutionalisierung, Europäisierung, Methodengesetzgebung, 2007, S. 129 f. 21 Anschauungsbeispiele liefern einerseits das Völkerrecht, weil die DBA in unterschiedlichen Kontexten für die Auslegung ihrer Ausdrücke auf die innerstaatliche Begriffsbildung verweisen (vgl. Art. 3 Abs. 2, 6 Abs. 2 Satz 1, 10 Abs. 3 OECD-MA und die gleichlautenden Regelungen der dVG), andererseits innerstaatliche gesetzliche Anweisungen zur Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen (Beispiele: § 50d Abs. 7, 10 und 12 EStG). 22 SteueranpassungsG v. 16.10.1934, RGBl. I 1934, 925. Die Vorschrift lautete: „Unterabschnitt 1: Auslegung. § 1 (1) Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen. (2) Dabei sind die Volksanschauung, der Zweck und die wirtschaftliche Bedeutung der Steuergesetze und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen. (3) Entsprechendes gilt für die Beurteilung von Tatbeständen.“ 23 Ralph Alexander Lorz in Baldus/Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung. Entstehung und Auslegungsfähigkeit von Normen, 2013, S. 87 (105 f.).

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Gesetzgeber Auslegungsregeln verwendet, erweitert er deshalb den Kreis des auslegungsbedürftigen Rechtsstoffs und schmälert ihn nicht. In der Verwendung von Auslegungsregeln liegt deshalb insbesondere mehr als eine bloße Verlagerung des Ansatzpunkts richterlicher Gesetzesauslegung: Die Rechtsprechung hat zwar künftig die Methodenregel zum Gegenstand richterlicher Auslegung zu machen. Sie muss aber zusätzlich auch deren Verhältnis zur Sachnorm klären und etwaige Kollisionen zwischen beiden Normen auflösen. Hierfür ist weiterhin eine isolierte Auslegung (auch) der Sachregelung durch die Gerichte geboten. 5. Methodenfragen als Verfassungsfragen Diese Analysen weisen bereits auf die Scharnierfunktion der Verfassung für die Methodenlehre hin. Die Auslegungslehren sind keine rechtsfreien Räume; Auslegungsregeln sind einer freien richterlichen oder gesetzgeberischen Beliebigkeit von Verfassung wegen entzogen. Das Verfassungsrecht enthält positive und negative Vorgaben für den richterlichen Umgang mit Parlamentsgesetzen, zumal im Bereich der Eingriffsverwaltung. Eine verfassungsbasierte Methodenlehre muss zunächst  – gewissermaßen auf der Makroebene – das Verhältnis der unterschiedlichen Ebenen und Rechtssphären zueinander aufnehmen und wahren. Aus dem Grundgesetz folgen die Gebote verfassungskonformer Auslegung und – über Art. 23 Abs. 1 GG – unionsrechtskonformer Auslegung. Das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes gebietet darüber hinaus mindestens eine Mitbeachtung des Völkerrechts bei der Gesetzesauslegung („völkerrechtsfreundliche Auslegung“). Alle drei Auslegungsmethoden prägen erkennbar auch die Rechtsprechung des BFH. Die verfassungskonforme Auslegung ist jüngst in den Urteilen des 8. Senats über die Behandlung von Verlusten aus Termingeschäften24 und des 10.  Senats zum Ausschluss der einkommensteuerlichen Berücksichtigung von Zuwendungen an kommunale Wählervereinigungen25 erneut anerkannt und  – auch in ihren Grenzen  – konkretisiert worden. Entsprechendes gilt für die unionsrechtskonforme und hier namentlich die richtlinienkonforme Auslegung; Leitfunktion kommt insoweit der Rechtsprechung der beiden für die Umsatzsteuer zuständigen Senate des BFH zu26. Dagegen sind Bekenntnisse zu einer völkerrechtskonformen Auslegung des innerstaatlichen Gesetzesrechts seltener; sie finden sich – soweit ersichtlich – ausschließlich in der Rechtsprechung des 1. Senats27. 24 BFH v. 20.10.2016 – VIII R 55/13, BFHE 256, 56, BStBl. II 2017, 264. Hierzu Klaus D. Hahne/Moritz Philipp, DB 2017, 457. 25 BFH v. 20.3.2017 – X R 55/14, BFHE 258, 20, BStBl. II 2017, 1122 m. Anm. Jutta Förster, BFH/PR 2017, 317. 26 Etwa BFH v. 11.10.2017 – XI R 23/15, BFHE 259, 567, BStBl. II 2018, 109; und v. 23.2.2017 – V R 16/16 und V R 24/16, BFHE 257, 177, BStBl. II 2017, 760 m. Anm. Franceska Werth, DB 2017, 938. 27 Vgl. aber die Hinweise in den Vorlagebeschl. v. 11.12.2013  – I R 4/13, BFHE 244, 1, BStBl. II 2014, 791 (§ 50d Abs. 10 EStG als treaty override); und v. 20.8.2014 – I R 86/13, BFHE 246, 486, BStBl. II 2015, 18 (§ 50d Abs. 9 EStG als treaty override).

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Daneben wirkt das Grundgesetz aber auch auf die Auslegung der (Steuer-)Gesetze innerhalb der geschlossenen Sphäre des einfachen Gesetzesrechts ein. Hier sind es  vor allem die Grundrechte, das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip mit ihren jeweiligen Ausprägungen, die methodische Leitfunktion haben. Grundrechtlich und rechtsstaatlich drängt das Bestimmtheitsgebot für den Bereich des ­Eingriffsrechts – zumal, wenn es strafbewehrt ist (Art. 103 Abs. 2 GG) – auf die Verwendung derjenigen Auslegungsmethoden, die größtmögliche Normnähe und Vorhersehbarkeit bieten. Das Vorhersehbarkeitserfordernis geht dabei über das Erfordernis größtmöglicher Normnähe hinaus. Das Normnäheerfordernis – das in sich komplex ist – beschränkt die Anforderungen an die Bestimmbarkeit der richterlichen Auslegung auf deren statische Ableitung aus der Norm: Vorzugswürdig ist die Auslegung, die der Steuerpflichtige mit Blick auf die Norm am ehesten erwartet hätte. Dagegen tragen zur Vorhersehbarkeit der richterlichen Gesetzesauslegung auch dynamische Elemente bei. Weil sich der Steuerpflichtige an Präjudizien orientieren kann, steigt die Vorhersehbarkeit richterlicher Auslegungsentscheidungen mit der Zahl und der Kontinuität veröffentlichter Präjudizien. Daraus folgt erstens, dass die Veröffentlichung v.a. höchstrichterlicher Entscheidungen der Regelfall, die Nichtveröffentlichung der rechtfertigungsbedürftige Ausnahmefall ist. Grundrechte und Rechtsstaatsprinzip drängen auf Publizität und die effektive und effiziente Zugänglichkeit höchstrichterlicher Entscheidungen. Zweitens stellen Grundrechte und Rechtsstaatsprinzip die Änderung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung unter Rechtfertigungsvorbehalt28. Das „stare decisis“ ist im Verfassungsstaat deshalb weder eine kategorische Vorgabe noch umgekehrt eine bloße Klugheitsregel. Höchstrichterliche Entscheidungen stehen der Gesetzgebung nicht gleich; sie schaffen auch kein Gewohnheitsrecht29. Es sind vielmehr ihre faktische Signalwirkung und das grundrechtlich und rechtsstaatlich geschützte Interesse der Steuerpflichtigen an größtmöglicher Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendungsergebnisse, die die höchstrichterliche Rechtsprechung mit einem grundsätzlichen Verbot belastender Rückwirkung ausstatten, das dem Verbot belastender Rückwirkung von Gesetzen strukturell gleicht. „Die höchstrichterliche Rechtsprechung [entspricht] einem allgemeinen Bedürfnis nach Berechenbarkeit und Verlässlichkeit des Rechts, wenn sie die tragenden Gründe ihrer Entscheidungen in Leitsätzen veröffentlicht, diesen sprachlich die Form von Rechtssätzen gibt und dabei erwartet, dass die Rechtsbeteiligten diese Leitsätze ihren Entscheidungen zugrunde legen. Der BFH gestattet bei Leitsatzentscheidungen mit Grundlagenbedeutung einen Wandel der Rechtsprechung nur nach den Grundsätzen, die bei rückwirkenden Gesetzen zu beachten sind“30. 28 Hierzu Musil, Richterliche Rechtsfortbildung und Rechtsprechungsinnovationen, in FS 100 Jahre BFH, S. 151 ff. 29 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BFHE 220, 129, BStBl. II 2008, 608 unter Hinweis auf BGH v. 8.10.1969 – I ZR 7/68; und BAG v. 21.9.2006 – 2 AZR 284/06. 30 Paul Kirchhof, FR 2016, 530 (535) unter Hinweis auf BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BFHE 220, 129, BStBl. II 2008, 608.

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6. Richterliche Unabhängigkeit als Schutz gegenüber dem Parlament So sehr das Zusammenspiel von Gesetzgeber und Rechtsprechung nach dem zuvor Gesagten durch den Vorrang des Gesetzes und die strikte Gesetzesbindung der Rechtsprechung geprägt ist, so wenig kann der Gesetzgeber die Rechtsprechung ex post kontrollieren. Diese Machtlosigkeit des Parlaments außerhalb der Handlungsform des förmlichen Gesetzes (d.h. unbeschadet seiner Befugnis, in dieser Handlungsform unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbote einen actus contrarius zu setzen31) hat eine institutionelle und eine materielle Seite. Institutionell zeigt sich die Machtlosigkeit des Parlaments zunächst darin, dass das Parlament die Selbstverwaltung der Justiz achten muss32. Der institutionelle Schutz – und damit die Stärke der Gewaltentrennung  – zeigt sich aber auch darin, dass die Kontrollfunktionen, die das Parlament im Verhältnis zur Exekutive erfüllt, keinerlei Entsprechung in seinem Verhältnis zur Judikative findet. Das gilt in personeller wie in sachlicher Hinsicht: Das Parlament kann Richter zwar anklagen33, sie aber weder bestrafen34 noch ihres Amtes entheben35. Sein Enqueterecht macht vor den Schranken der Rechtsprechung halt. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs dürfen sich Sachaufklärungsmaßnahmen parlamentarischer Ausschüsse nicht auf die Rechtsprechungstätigkeit erstrecken. Die Rechtsprechungstätigkeit ist von jeder politischen Verantwortlichkeit frei und daher der parlamentarischen Untersuchung „schlechthin entzogen“36. Insofern begrenzt der Gewaltenteilungsgrundsatz das parlamentarische Untersuchungsrecht37. Daher steht den Parlamenten gegenüber Richtern insbesondere kein Recht zu Fragen über deren in richterlicher Unabhängigkeit getroffenen Sach- oder Verfahrensentscheidungen zu38. Auch materiell fehlt dem Parlament die Befugnis zur (inhaltlichen) Korrektur richterlicher Entscheidungen. Unter dem Grundgesetz ist die in der Frühzeit des

31 Unten IV.2. 32 Fabian Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 94 f., 100 f., 302 ff.; B. Kramer, NJW 2009, 3079 ff. 33 Art. 98 Abs. 2 Satz 1 GG (Bundesrichter). Die Entscheidung über diese Anklage obliegt aber allein dem Bundesverfassungsgericht (Art. 98 Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 Satz 3 GG). 34 Zum – teils engeren, teils weiteren – strafrechtlichen Spruchrichterprivileg statt aller Martin Heger in Lackner/Kühl, 28. Aufl. 2014, § 339 StGB Rz. 11; Günter Heine/Bernd Hecker in Schönke/Schröder, 29. Aufl. 2014, § 339 Rz. 17; Friedrich-Christian Schroeder, GA 1993, 389 ff.; und Dirk Seiler, Die Sperrwirkung im Strafrecht, 2002. 35 Monopolisierung der Amtsenthebungsbefugnis bei der Rechtsprechung (Art.  98 Abs.  2 und Abs. 5 GG, § 30 DRiG), im Fall des BVerfG sogar nur im Zusammenwirken mit dem Bundespräsidenten (§ 105 BVerfGG). 36 BayVerfGH v. 17.11.2014  – Vf. 70-VI-14, BayVBl. 2015, 154 (159  f.). Siehe auch Lars ­Brocker in Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 44 Rz. 15. 37 Vgl. auch BVerfG v. 30.3.2004 – 2 BvK 1/01, BVerfGE 110, 199 (219); v. 17.6.2009 – 2 BvE 3/07, BVerfGE 124, 78 (122); v. 21.10.2014  – 2 BvE 5/11, BVerfGE 137, 185 (233  ff.); v. 13.10.2016 – 2 BvE 2/15, BVerfGE 143, 101 (136 f.). 38 BayVerfGH v. 17.11.2014 – Vf. 70-VI-14, BayVBl. 2015, 154 (159 f.), NVwZ 2015, 1023 m. Anm. Paul Glauben.

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US-amerikanischen Konstitutionalismus39 und sodann in der Entstehungszeit der DDR40 noch erwogene Möglichkeit einer inhaltlichen Korrektur gerichtlicher Entscheidungen durch die Parlamente kategorisch ausgeschlossen41. Hat das Parlament durch ein Gesetz gesprochen – und damit die Zukunft geregelt –, bleibt die Ausdeutung dieses Gesetzes und jeder spätere – dann retrospektive – Anwendungsakt dem Einfluss des Parlaments entzogen42. In allen diesen Garantien zeigt sich, wie hart die zeitliche Zäsur ist, die im Erlass eines Gesetzes liegt: Alle Erwägungen, die das Parlament bis zum Erlass des Gesetzes anstellt und in Gesetzesform überführt, binden die Gerichte. Die Einhaltung dieser Bindung ist dann aber jeder unmittelbaren parlamentarischen Kontrolle entzogen. 7. Gesetzesähnliche Verfestigung der Rechtsprechung So selten die Gerichte diese besondere Stellung missbrauchen, um sich vom Gesetzgeber abzuwenden, so wirkmächtig ist ihre Rolle als Ersatzgesetzgeber. Die Finanzgerichtsbarkeit konkretisiert, was der Steuergesetzgeber nur vorgezeichnet, und ergänzt, was er unvollständig geregelt hat. Der Gestaltungsraum dieser richterlichen Rechtsergänzung43 wird allerdings durch das Grundgesetz begrenzt. Das Steuerrecht steht als Eingriffsrecht unter dem grundrechtlichen, ferner unter dem allgemeinen rechtsstaatlichen und demokratischen Vorbehalt des Gesetzes. Der Vorbehalt des Gesetzes reicht weit. Er garantiert nicht nur, dass allein der parlamentarische Gesetzgeber eine Steuer einführen oder abschaffen kann. Wo der Gesetzgeber sich dem Grunde nach zur Einführung oder Aufrechterhaltung einer Steuer entscheidet, muss er diese Steuer auch vollständig regeln und ist von Verfassung wegen daran gehin39 S. die Briefe von „Brutus“ zum Verfassungsentwurf der sog. Philadelphia Convention vom 17.9.1787, in denen der unter Pseudonym agierende Verfasser auf die Kompetenzen des britischen House of Lords hinweist. Hierzu Matthias Eberl, Verfassung und Richterspruch. Rechtsphilosophische Grundlegungen zur Souveränität, Justiziabilität und Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006, S. 216 ff., 230. 40 Rita Sélitrenny, Doppelte Überwachung. Geheimdienstliche Ermittlungsmethoden in den DDR-Untersuchungshaftanstalten, 2003, S. 135 m.w.N. in Fn. 476. 41 Evident verfassungswidrig war daher ein Vorschlag, der dem Bundesparteitag der AfD vom 30.4./1.5.2016 (dem sog. Programmparteitag) vorlag. Unter dem Stichwort „Wiederherstellung der Gewaltenteilung“ hatte der Antragsteller die Ergänzung des Parteiprogramms um folgenden Passus vorgeschlagen: „Die AfD fordert, dass eine Bestimmung in das Grundgesetz aufgenommen wird, dass Entscheidungen der höheren Gerichte durch eine qualifizierte Mehrheit des Bundestages aufgehoben werden können“ (LT 91). 42 Paul Kirchhof, FR 2016, 530 (534 f.). 43 Hier bewusst nicht als „Rechtsfortbildung“ bezeichnet, weil dieser Ausdruck wegen § 115 Abs.  2 Nr.  2  Fall  1 FGO anders belegt ist: Im Revisionsrecht ist „Rechtsfortbildung“ als Unterfall der „grundsätzlichen Bedeutung“ der Dachbegriff für „erstmalige oder neuartige Auslegung“ einerseits und „rechtsschöpferisches Ausfüllen von (offenen oder verdeckten) Gesetzeslücken“ andererseits (Eckart Ratschow in Gräber, 8. Aufl. 2015, § 115 FGO Rz. 41), kurz: für alles, was die Dinge voranbringt und einen Leitsatz verspricht. Damit umfasst „Rechtsfortbildung“ in §  115 FGO neben Reparaturen (Extension oder Reduktion der Norm) auch die Anwendung der intakten Norm.

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dert, wesentliche Teile des Steuertatbestands der Rechtsprechung zu überlassen. Von Verfassung wegen endet deshalb die Rechtsergänzungskompetenz der Rechtsprechung an dieser Wesentlichkeitsgrenze: Die Rechtsprechung darf nur ergänzen, was nach der Wesentlichkeitstheorie unwesentlich ist. Historisch waren Verwaltung und Rechtsprechung allerdings dort besonders sichtbar und prägend, wo der Gesetzgeber das Vollständigkeitsgebot verletzt hat. Beispielhaft lässt sich die über Jahrzehnte gesetzlich nicht vorgeprägte Betriebsstättengewinnermittlung nennen44. Dieser zentrale und belastungsentscheidende Problemkomplex war vollständig von Verwaltungsanweisungen45 und höchstrichterlichen Entscheidungen46 geprägt. Hier war die Lücke im Gesetz offenbar too big to fail: Im Nach­ hinein spricht manches dafür, dass Rechtsprechung und Schrifttum das verfassungsrechtliche Problem nicht gesehen haben. Dagegen bietet die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Gesetz der Rechtsprechung auch von Verfassung wegen Anlass und Grund zu Konkretisierungen. Soweit der Gesetzgeber das Bestimmtheitsgebot nicht verletzt (insbesondere: sich auf einen Grund zur Rechtfertigung einer erkennbaren Unbestimmtheit gestützt hat47), ist die Konkretisierung dieser unbestimmten Norm Sache der Gerichte. Sie lässt sich als richterliche Rechtserzeugung begreifen. Hier wird die Rechtsprechung aber – im Unterschied zur Lückenfüllung bei fehlenden Maßstabsnormen – nicht normergänzend und in diesem Sinne rechtsfortbildend tätig48. 44 Bis zur Einführung von § 1 Abs. 5 AStG mit dem Amtshilferichtlinienumsetzungsgesetz von 2013 (Gesetz zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809) hatte der Gesetzgeber nur angeordnet, dass die beschränkte Steuerpflicht eintritt, wenn für den Gewerbebetrieb eine inländische Betriebsstätte unterhalten wird (§  49 Abs.  1 Nr.  2 lit.  a EStG). Die zentrale Frage, welchen Umfang die inländischen (Betriebsstätten-)Einkünfe in diesem Fall haben, blieb im Gesetz aber – anders als in dem nicht belastungsbegründenden Recht der Doppelbesteuerungsabkommen (Art.  7 Abs.  2 OECD-MA)  – gänzlich ungeregelt (unzulänglich insoweit die Gesetzesbegründung auf BT-Drucks. 17/10000, 64). 45 Z.B. die alten Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze: BMF v. 24.12.1999 – IV B 4 - S 1300 - 111/99, BStBl. I 1999, 1076; geändert durch BMF v. 20.11.2000 – IV B 4 - S 1300 - 222/00, BStBl. I 2000, 1509. 46 BFH v. 27.7.1965 – I 110/63 S, BFHE 84, 69, BStBl. III 1966, 24; v. 28.4.1983 – IV R 122/79, BFHE 138, 366, BStBl. II 1983, 566; v. 28.3.1985 – IV R 80/82, BFHE 143, 284, BStBl. II 1985, 405; v. 25.6.1986 – II R 213/83, BFHE 147, 264, BStBl. II 1986, 785; v. 1.4.1987– II R 186/80, BStBl. II 1987, 550, BFHE 150, 65; v. 20.7.1988 – I R 49/84, BFHE 154, 465, BStBl. II 1989, 140; v. 29.7.1992 – II R 39/89, BFHE 168, 431, BStBl. II 1993, 63; v. 30.8.1995 – I R 112/94, BFHE 179, 48, BStBl. II 1996, 563; v. 16.2.1996 – I R 46/95, BFHE 180, 576, BFH/ NV 1997, 111, BStBl. II 1996, 588; v. 16.2.1996 – I R 43/95, BFHE 180, 286, BStBl. II 1997, 128; v. 17.12.1998 – I B 80/98, BFHE 187, 549, BStBl. II 1999, 293; v. 22.8.2011 – I B 169/10, BFH/NV 2011, 2119 u.a. 47 Exemplarisch zur Diskussion um § 42 AO Ekkehart Reimer in Dourado (Hrsg.), EATLP Annual Congress Munich 2016, 2017, S. 343 ff. 48 Vgl. aber oben Fn.  43. Beispielhaft Ralf P. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht: Konstitutionalisierung, Europäisierung, Methodengesetzgebung, 2007, S.  112  f.; zur Abgrenzung auch Brigitte Knobbe-Keuk in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 303 ff.; und der

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III. Richterliche Gesetzeskontrolle Sobald der Gesetzgeber gesprochen hat, muss er schweigen49. Der Erlass eines Gesetzes kehrt die institutionelle Subordination in einem gewissen Sinne um. Die Rechtsprechung ist nun zwar an das Gesetz gebunden. Dies gilt aber nur mit der Maßgabe, dass das Gesetz wirksam (geworden) ist – was voller richterlicher Überprüfung obliegt. Die Rechtsprechung kann und muss Gesetze deshalb auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht kontrollieren50. 1. Die inzidente Normenkontrolle als Regelfall Dies geschieht im Regelfall nicht prinzipal (im Wege abstrakter Normenkontrollen oder Gesetzesverfassungsbeschwerden) und insbesondere nicht ex ante51, sondern erst im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung konkreter Gesetzesanwendungsfälle und damit regelmäßig erst mehrere Jahre nach Erlass des Gesetzes. Soweit diese Überprüfung zur Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit eines (nachkonstitutionellen) förmlichen Parlamentsgesetzes führt52, auf dessen Gültigkeit es für die Entscheidung des Ausgangsfalles ankommt, müssen die Fachgerichte eine konkrete Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht einleiten (Art.  100 Abs.  1 GG). Wie relevant und prägend diese verfassungsrechtliche Pflicht für das Gesamtbild des Verhältnisses von Rechtsprechung und Gesetzgebung ist, zeigt die Auswertung der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes und der Finanzgerichte. Seit seinem Bestehen haben Senate des BFH in 72 Fällen eine konkrete Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht eingeleitet. Diese Vorlagen haben in vielen Fällen dazu geführt, dass das Bundesverfassungsgericht gesetzliche Normen für mit dem Grundgesetz unvereinbar, teils sogar für nichtig erklärt hat und dass der Gesetzgeber Reformen ins Werk gesetzt hat (unten IV.1.). Diese hohe praktische Bedeutung konkreter Normenkontrollen ist im Rechtsvergleich ein Alleinstellungsmerkmal der Steuerkultur in Deutschland53. 2. Gesetzeskontrolle am Maßstab des Unionsrechts? Soweit sich der Gesetzgeber dagegen über bindende Vorgaben des Unionsrechts hinweg setzt, kommen Normenkontrollverfahren zwar nicht in Betracht. Die VorabentBeitrag von Musil, Richterliche Rechtsfortbildung und Rechtsprechungsinnovationen, in FS 100 Jahre BFH, S. 151 ff. 49 Ralph Alexander Lorz in Baldus/Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung. Entstehung und Auslegungsfähigkeit von Normen, 2013, S. 87 ff. 50 Systematisierung: Christian Burkiczak in Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung. Rechtsetzung durch Parlamente und Verwaltung sowie ihre gerichtliche Kontrolle, 2014, S. 871 ff. 51 Dies im Unterschied zu Frankreich und Japan. Rechtsvergleichende Übersicht bei Ana Paula Dourado (Hrsg.), Separation of Powers in Tax Law, 2010, S. 273. 52 Insbesondere: wenn keine Geltungserhaltung durch verfassungskonforme Auslegung mehr möglich ist; vgl. oben II.4. 53 Vgl. Ana Paula Dourado (Hrsg.), Separation of Powers in Tax Law, 2010, S. 47 ff.

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scheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV, die für den konkreten Anlassfall zu ähnlichen Ergebnissen führen können wie eine konkrete Normenkontrolle, zielen niemals auf die Normverwerfung. Da dem Unionsrecht kein Geltungs-, sondern nur Anwendungsvorrang zukommt, lassen die Vorabentscheidungen des EuGH die innerstaatlichen Normen in Kraft; das kollidierende Unionsrecht überdeckt sie lediglich in dem konkreten Rechtsanwendungsvorgang54. Insofern ist das Unionsrecht in seiner rechtlichen Vorrangwirkung weniger dem innerstaatlichen Verfassungsrecht als vielmehr einer dem innerstaatlichen Steuergesetz normhierarchisch gleichrangigen lex specialis vergleichbar. Faktisch sind allerdings die Vorabentscheidungsersuchen des BFH wegen ihrer hohen Zahl55, der hohen Erfolgsquote in den nachfolgenden Vorabentscheidungen des EuGH und der vom EuGH selbst angenommenen grundsätzlichen Rückwirkung seiner Entscheidungen56 mindestens ebenso wirkmächtig wie die Normenkontrollbeschlüsse. Auch grundrechtlich und rechtsstaatlich ist eine „Umsetzung“ von EuGH-­ Entscheidungen in das innerstaatliche Steuergesetz in vielen Fällen geboten57. Sie entspricht daher auch ständiger Gesetzgebungspraxis. In dieser Lage kommt den verfahrensabschließenden Sachentscheidungen der vorlegenden nationalen Gerichte eine wichtige Mittlerfunktion zu. Immer wieder hat sich in der Vergangenheit gezeigt, wie eng sich der Deutsche Bundestag bei der Anpassung von Gesetzen, deren Anwendung sich als unionsrechtswidrig erwiesen hat, an der Umsetzungsrechtsprechung des BFH orientiert (unten IV.1.).

IV. Richterliche Gesetzgebungsanregungen Die Steuergesetzgebung empfängt aber nicht nur dort Impulse von der Rechtsprechung, wo unterschiedliche Formen inzidenter Normenkontrollen58 bestehende Ge54 In steuerrechtlicher Perspektive ausführlich Katharina Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 51 ff. 55 Vgl. für quantitative Analysen Ekkehart Reimer in Jürgen Lüdicke (Hrsg.), Wo steht das deutsche Internationale Steuerrecht?, 2009, S. 31 ff. (34 ff.). 56 EuGH v. 27.3.1980 – C-61/79, Slg. 1980, 1205 – Amministrazione delle finanze dello Stato gegen Denkavit italiana Srl. Rz. 16; v. 2.2.1988 – C-24/86, Slg. 1988, 379 – Vincent Blaizot Rz.  27; v. 4.5.1999  – C-262/96, Slg. 1999, I-2685 – Sema Sürül Rz.  107; v. 3.10.2002  – C-347/00, Slg. 2002, I-8191  – Ángel Barreira Pérez Rz.  44; v. 26.4.2005  – C-376/02, Slg. 2005, I-3445 – Stichting Goed Wonen; v. 6.3.2007 – C-292/04, Slg. 2007, I-1835 – Meilicke Rz. 34. Aus der Literatur Ton Heukels, Die Rückwirkungsjudikatur des EuGH. Grundlagen und Tendenzen. Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut, Heft 256 (1992); Christian Waldhoff in EuR Bd.  41 (2006), S.  615  ff.; Ekkehart Reimer in Jürgen Lüdicke (Hrsg.), Wo steht das deutsche Internationale Steuerrecht?, 2009, S. 31 ff. (75 ff.); Frank Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, 2015. 57 Ekkehart Reimer in Jürgen Lüdicke (Hrsg.), Wo steht das deutsche Internationale Steuerrecht?, 2009, S. 31 ff. (74 f.). 58 Oben III.

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setze makulieren oder jedenfalls leerlaufen lassen, sodass eine legislatorische Reform praktisch, teils sogar normativ unabweisbar ist59. 1. Rechtspolitische Hinweise in gerichtlichen Entscheidungen Vielmehr weisen die Fachgerichte und insbesondere auch der BFH immer wieder ausdrücklich auf Potenzial für eine Reformgesetzgebung hin. Derartige Hinweise sind in unterschiedliche Kontexte eingebettet. Große Bedeutung kommt der sog. Ankündigungsrechtsprechung zu. Der BFH verwendet sie teilweise, um schonende Übergänge bei geänderter Interpretation des einfachen Rechts zu ermöglichen. Teilweise äußert er aber auch verfassungsrechtliche Zweifel an bestehenden gesetzlichen Vorschriften oder  – umgekehrt  – an der Vereinbarkeit rein richterrechtlich entwickelter Institute mit dem grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes. Wo sich diese Zweifel (noch) unterhalb der Schwelle des Art. 100 Abs. 1 GG halten, kann der Gesetzgeber sie präventiv aufnehmen, um keine Rechtsprechungsänderungen zu riskieren. Prominentestes Beispiel für das Funktionieren derartiger Frühwarnsysteme ist die von der Rechtsprechung des 1. Senats des BFH angemahnte Kodifikation der körperschaftsteuerlichen Organschaft im Jahr 196960. Daneben lassen sich rechtspolitische Hinweise methodisch überzeugend in die richterliche Prüfung der Analogievoraussetzungen einbetten. Will ein Spruchkörper klären, ob eine ent- oder sogar belastende Analogie in Betracht kommt, muss er sich mit der Frage nach einer Regelungslücke auseinandersetzen. In einer für die verkehrsteuerliche Rechtsprechung charakteristischen Weise hat unlängst der 2. Senat des BFH verdeutlicht, dass die Analogie nur in Betracht kommt, wenn „die Norm […] gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d.h. ergänzungsbedürftig [ist]. Ihre Ergänzung darf nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widersprechen“61. Dagegen genüge es nicht, „dass eine gesetzliche Regelung rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig anzusehen ist“. In dieser Perspektive erscheint ein vom 2. Senat ausdrücklich so genannter „rechtspolitische[r] Fehler“62 als Komplement zur Regelungslücke. Die Ergänzungsgeschichte von § 2 GrEStG zeigt, wie aufmerksam Entscheidungen dieser Art in den obersten Finanzbehörden re­ gistriert werden und dann oft Anlass zu Gesetzesinitiativen bieten. 2. Richter im Gesetzgebungsverfahren Anders gelagert ist der rechtspolitische Einfluss, den einzelne Richterpersönlichkeiten bei der Vorbereitung steuerrechtlicher Reformvorhaben und gelegentlich sogar 59 Unten V.1. 60 Gesetz zur Änderung des KStG und anderer Gesetze v. 15.8.1969, BGBl. I 1969, 1182; nach einem Schreiben(!) des BFH v. 4.4.1962 – I 249/61, BB 1962, 438; v. 4.3.1965 – I 249/61, BFHE 82, 233, BStBl. III 1965, 329; und v. 17.11.1966 – I 280/63, BFHE 87, 253, BStBl. III 1967, 118. Hierzu Thomas Müller in Mössner/Seeger, 3.  Aufl. 2017, §§  14–19 KStG Rz. 11 ff.; Norbert Herzig in ders. (Hrsg.), Organschaft, 2003, S. 5. 61 BFH v. 6.12.2017 – II R 26/15, juris. 62 BFH v. 6.12.2017 – II R 26/15, juris.

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in Gesetzgebungsverfahren gewinnen können. Zwar kann kein Abgeordneter des Deutschen Bundestags zugleich aktiv der Finanzgerichtsbarkeit angehören63. Das steht aber einem staatsbürgerschaftlichen und regelmäßig auch von besonderer Sachkenntnis und besonderem Interesse getragenen persönlichen Engagement von Richtern außerhalb ihres Amtes nicht entgegen. In erster Linie schlägt sich das in der wissenschaftlichen und publizistischen Tätigkeit der Angehörigen der Finanzgerichtsbarkeit, vielfach auch in ihrer Mitwirkung in der akademischen Lehre und in zahlreichen öffentlichen Diskussionsveranstaltungen nieder, in denen Angehörige unterschiedlicher Berufsgruppen ihren Sachverstand zu Gehör bringen und damit der Bundesregierung und dem Gesetzgeber wichtige, für die Qualitätssicherung oft sogar unerlässliche Anregungen und Bedenken zu Gesetzentwürfen übermitteln. Aber auch die großen und sehr weitreichenden Reformprojekte der letzten beiden Jahrzehnte und hier namentlich die Arbeiten unter dem Dach der Heidelberger Forschungsstelle Bundessteuergesetzbuch einerseits64 und der Stiftung Marktwirtschaft andererseits65 sind von Bundesrichtern intensiv begleitet und gefördert worden. Fraktionen im Deutschen Bundestag und ihre Arbeitsgruppen ziehen gelegentlich neben Finanzbeamten auch Bundesrichter zu internen Beratungen hinzu. Zu den öffentlichen Anhörungen im Finanzausschuss des Bundestages werden regelmäßig Vertreter des Finanzgerichtstags e.V. geladen und um schriftliche Stellungnahmen ersucht. So wenig alle diese Betätigungen als Kompetenzübergriffe in einem förmlichen Sinne staatsrechtlich relevant werden, und so wenig sie auch prozessual eine Besorgnis der Befangenheit auslösen, so bedeutsam sind sie doch für die technische Qualität, mithin für die Output-Legitimation von Gesetzen.

63 Das Grundgesetz enthält mit Art. 94 Abs. 1 Satz 3 GG zwar lediglich für die Richter des Bundesverfassungsgerichts die ausdrückliche Anordnung einer Inkompatibilität mit Mitgliedschaften in Bundes- oder Landesregierungen oder -parlamenten. In die Breite wirken aber die Inkompatibilitätsklauseln des DRiG: Nach § 4 Abs. 1 DRiG darf ein Berufsrichter (§  2 DRiG) Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt und Aufgaben der gesetzgebenden oder der vollziehenden Gewalt „nicht zugleich“ wahrnehmen. In Ermangelung einer weiter gehenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes betrifft diese Klausel unmittelbar nur die Richter im Bundesdienst (vgl. § 71 DRiG); für die Richter im Landesdienst enthalten aber die Landesrichtergesetze konkludente dynamische Verweisungen auf die Regelungen des Deutschen Richtergesetzes (etwa § 8 LRiG BW, Art. 2 Abs. 1 BayRiG, § 4 Abs. 1 Satz 1 LRiG NW). 64 Paul Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011; ders. (Hrsg.), Das Bundessteuergesetzbuch in der Diskussion, 2013. 65 Lang/Eilfort (Hrsg.), Strukturreform der deutschen Ertragsteuern. Bericht über die Arbeit und Entwürfe der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, 2013; zuvor bereits Joachim Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs. Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 49 (1993).

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V. Gesetzgebung zur Rechtsprechung 1. Reformgesetzgebung nach Verfassungs- und Unionsrechtsverstößen Wendet man den Blick abschließend von der Rechtsprechung auf die Gesetzgebungspraxis, fällt zunächst auf, wie verlässlich – wenn auch teilweise verzögert – vor allem die prominenten bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu gesetzlichen Neuregelungen führen. Viele Reformen der letzten Jahrzehnte hat der Gesetzgeber ausdrücklich „zur Umsetzung“ von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der obersten Bundesgerichte betrieben und ins Werk gesetzt. Diese Neuregelungen lassen sich als mittelbare Folgen der fachgerichtlichen Normenkontrolle begreifen. Die Entscheidung über Ob und Wie der gesetzlichen Neuregelung liegt nicht bei den Fachgerichten und – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch nicht bei dem Bundesverfassungsgericht; sie ist Sache des Gesetzgebers selbst. Gerichte haben kein Gesetzesinitiativrecht (Art.  76 Abs.  1 GG). Gleichwohl sind die legislatorischen Korrekturen Ergebnisse rechtsstaatlicher Selbstreinigungsmechanismen. Unter Wahrung demokratischer Grundentscheidungen, teils sogar verbreiteter politischer Gerechtigkeitsüberzeugungen ist es der Gesetzgeber selbst, der eigene „handwerkliche“ Fehler korrigiert. Er beugt sich damit der Verfassung und ihrer gerichtlichen (Letzt-)Interpretation, bleibt aber die demokratisch legitimierte Gestaltungsinstanz. Allerdings erscheinen diese reparierenden Reformen in einem steuerpolitischen Sinn oft als Geltungserhaltung unter Komplexitätszunahme. Je „minimalinvasiver“ eine reparierende Reform werden soll, desto komplexer ist sie am Ende. Darin liegt ein Grund dafür, dass das Zusammenspiel von Rechtsprechung und Gesetzgebung zahlreiche Beispiele für Zweitrundeneffekte aufweist: Wo der Gesetzgeber die politischen Reformerwartungen von Rechtsgemeinschaft und Richterpersönlichkeiten enttäuscht, werden die gesetzlichen Neuregelungen oft ihrerseits fach- und verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterworfen. In dem Verhältnis von Finanzverwaltung und Bundestag zu den Richterinnen und Richtern von Bundesfinanzhof und Bundesverfassungsgericht fehlt es bisweilen an einem wirksamen Distanzschutz. In diesen Fällen gehört es zu den hohen Anforderungen an das richterliche Ethos, dass Richter ihre persönliche Enttäuschung über die Reformgesetzgebung weder in eine progrediente Verschärfung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe noch in einen rabulistischen Umgang mit den Neuregelungen selbst umzumünzen66. Im Ansatz ähnlich gelagert ist die legislatorische „Umsetzung“ der Vorabentscheidungen des EuGH, in denen ein Verstoß Deutschlands gegen Unionsrecht festgestellt wird. Wo die Anwendung der Bundesgesetze unionsrechtswidrige Ergebnisse hervorbringt, kann zwar ebenfalls der Reformgesetzgeber gefordert sein67. Wegen der

66 Unten V.3. 67 Oben III.2. mit Fn. 55; Katharina Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 78, 277 ff.

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beschränkten Wirkung des Unionsrechts (Anwendungs-, nicht Geltungsvorrang68) wird der mitgliedstaatliche Gesetzgeber aber in vielen Fällen durch die chronologisch stets zwischengeschaltete verfahrensabschließende Sachentscheidung des vorlegenden mitgliedstaatlichen Gerichts, aber auch durch abstrakt-generelle Verwaltungsanweisungen substanziell entlastet69. Ohnehin besteht bis heute eine beachtliche fachliche, sprachliche, geographische und personelle Distanz zwischen dem Gerichtshof der Europäischen Union und den Gesetzgebungsbeteiligten in den Mitgliedstaaten. Jedenfalls in Deutschland spricht manches dafür, dass der Bundes­ gesetzgeber notwendige Korrekturen des innerstaatlichen Rechts im Anschluss an EuGH-Entscheidungen eher verschleppt als nach – zumeist augenfälligeren, medial besonders sichtbaren – Entscheidungen des Bundesfinanzhofs oder des Bundesverfassungsgerichts. Wo der Gesetzgeber aber auf die Rechtsprechung des EuGH reagiert, geht er sine ira et studio vor. Daher sind negative Zweitrundeneffekte nach Unionsrechtsverstößen insgesamt seltener als nach Verfassungsverstößen. 2. Nichtanwendungsgesetze Die Gesetzgebung empfängt aber nicht nur dort Impulse von der Rechtsprechung, wo unterschiedliche Formen inzidenter Normenkontrollen70 bestehende Gesetze makulieren oder jedenfalls leerlaufen lassen. Einen weiteren wichtigen Strang in dem Gesamtbild der schwachen Wechselwirkung zwischen Rechtsprechung und Gesetzgeber bilden Fälle, in denen sich – oft nach einem Rechtsprechungswechsel – die Anwendung bestehender Gesetze fundamental verändert. Hier kann das Parlament gegen die Rechtsprechung für Kontinuität sorgen. Zahl und Bedeutung steuerrechtlicher Rechtsinstitute, die auf diese Weise ihren Weg von einer – aufgegebenen – Rechtsprechung in die Steuergesetze gefunden haben, sind hoch. Stellvertretend für viele weitere Beispiele steht die gewerblich geprägte Mitunternehmerschaft (§ 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG71). Pejorativ als „Nichtanwendungsgesetze“ markierte Entscheidungen des Parlaments sind ein zentraler Bestandteil der revolvierenden Veränderung des Rechts in der Demokratie. Der Gesetzgeber kann die Rechtsprechung korrigieren und damit verhindern, dass sich deren Entscheidungen wiederholen und in die Zukunft fortgeschrieben werden. Kommt es zu derartigen gesetzlichen Korrekturen und sind sie wirksam, transportieren diese Korrekturgesetze den Befehl, dass die Anlassfälle künftig anders zu behandeln sind als nach der Anlassrechtsprechung. Ohne Maßnahmengesetze zu sein, weisen diese Gesetze doch einen erhöhten Fallbezug auf: Sie ergehen, damit Fälle wie der Anlassfall künftig ein anderes Rechtsanwendungsergebnis (Belastungser68 Oben III.2. mit Fn. 52. 69 Zum Ganzen Katharina Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 78, 107 ff., 209 ff. und passim. 70 Oben III. 71 Fortführung der alten Geprägerechtsprechung (z.B. BFH v. 3.8.1972 – IV R 235/67, BFHE 106, 331, BStBl. II 1972, 799; v. 22.11.1972 – I R 252/70, BFHE 108, 208, BStBl. II 1973, 405) nach deren Aufgabe durch BFH v. 25.6.1984  – GrS 4/82, BFHE 141, 405, BStBl.  II 1984, 751 (762).

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gebnis) nach sich ziehen als bisher. Im Rahmen der (subjektiv-)historischen Auslegung kommt diesem Normgehalt erhöhte Bedeutung zu, und in diesem besonderen Sinne kann man den Nichtanwendungsgesetzen methodologisch einen erhöhten Befolgungsanspruch zuschreiben. 3. Zweitrundeneffekte: Gelingt die demokratische Korrektur der ­Rechtsprechung? In der Rechtsprechungsentwicklung ist dieser erhöhte Befolgungsanspruch allerdings nicht immer erfüllt worden. Zu Recht reagiert das Schrifttum hochsensibel auf Versuche einzelner Spruchkörper, sich durch den Gesetzgeber nicht beirren zu lassen. Anschauungsmaterial bietet die Rechtsprechung des 6. Senats des BFH zur einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung der Kosten eines Erststudiums. In Fortführung der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs72 hatte der 6.  Senat vor 2002 zwischen den als Werbungskosten abziehbaren Kosten einer Fortbildung in einem bereits ausgeübten Beruf und den nur als Sonderausgaben begrenzt absetzbaren Kosten einer Ausbildung zu einem künftigen Beruf unterschieden; der Begriff der Fortbildung wurde dabei eng ausgelegt73. Mit Urteil vom 4. Dezember 2002 änderte der Senat seine Rechtsprechung. Er ging nunmehr davon aus, dass Aufwendungen für eine auf die Erzielung von Einkünften gerichtete Umschulungsmaßnahme unabhängig davon Werbungskosten seien, ob die Bildungsmaßnahme eine neue Basis für andere Berufsfelder schaffe oder einen Berufswechsel vorbereite74. Auf diese Rechtsprechungsänderung reagierte der Gesetzgeber und fügte 2004 einen  – rückwirkend anwendbaren  – §  12 Nr.  5 EStG ein75. Diese Vorschrift schloss vorbehaltlich der §§ 10 ff., 33 ff. EStG Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium grundsätzlich vom Abzug aus. Die in sich klare Neuregelung formulierte insbesondere keinen Vorbehalt zugunsten der §§ 4 Abs. 4, 9 ff. EStG. Gleichwohl entschied der 6. Senat in den Jahren 2009 bis 2011, dass die Kosten der erstmaligen Berufsausbildung als vorweggenommene Werbungskosten abziehbar seien76. Dasselbe gelte für die Kosten eines reinen (Erst-)Stu72 RFH v. 24.6.1937 – IV A 20/36, RStBl. 1937, 1089 (1090). Aus der Literatur Roland Ismer, Bildungsaufwand im Steuerrecht, 2006, S. 119 ff.; Alexandra Johenning, Bildungsaufwendungen im Einkommensteuerrecht, 2009, S.  68  ff.; Tim Holthaus, Die Berücksichtigung von Bildungskosten im Einkommensteuerrecht, 2010, S.  22  ff.; Jutta Förster, DStR 2012, 486 ff. 73 Konzise Wiedergabe der Rechtsprechungsentwicklung: BFH v. 17.7.2014 – VI R 8/12 u.a., BFHE 247, 64, DStR 2014, 2216 Rz. 27 ff. 74 BFH v. 4.12.2002 – VI R 120/01, BFHE 201, 156, BStBl. II 2003, 403; in der Tendenz ähnlich die nachfolgenden Urt. v. 17.12.2002 – VI R 137/01, BFHE 201, 211, BStBl. II 2003, 407; sowie v. 27.5.2003 in den Fällen VI R 85/02, BFHE 207, 393, BStBl. II 2005, 202; VI R 58/02, juris; und VI R 33/01, BFHE 202, 314, BStBl. II 2004, 884. 75 Art. 3 Nr. 2 AO-Änderungsgesetzes v. 21.7.2004, BGBl. I 2004, 1753. 76 Diese Rechtsprechungsphase wurde eingeleitet durch BFH v. 18.6.2009 in den Fällen VI R 14/07, BFHE 225, 393, BStBl. II 2010, 816; VI R 31/07, BFH/NV 2009, 1797; VI R 79/06, juris; VI R 6/07, BFH/NV 2009, 1796; und VI R 49/07, BFH/NV 2009, 1799.

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diums, das im zeitlichen Anschluss an das Abitur aufgenommen wurde und dem keine Berufsausbildung vorangegangen ist. Voraussetzung sei in beiden Fällen lediglich die hinreichend konkrete Veranlassung durch eine berufliche Tätigkeit, die der Steuerpflichtige für später anstrebe. An diesen Entscheidungen übten auch diejenigen, die den Abzug von Bildungskosten in den genannten Fällen für rechtspolitisch richtig hielten, schwere methodische und rechtsstaatliche Kritik77. Gegen den Vorwurf einer „Steuergesetzgebung aus München“78, mit der der Senat „die Grenzen zur unzulässigen Rechtsfortbildung contra legem überschritten“ habe79, verteidigten sich mehrere Richter des Senats publi­ zistisch mit derselben Verve, mit der sie zuvor in dienstlicher Eigenschaft dem Gesetzgeber die Gefolgschaft verweigert hatten80. Diese Unordnung rief den Deutschen Bundestag erneut auf den Plan. Der Gesetzgeber trat dem BFH im Dezember 2011 ein zweites Mal entgegen81. Er ergänzte §  4 Abs. 9 EStG, fügte § 9 Abs. 6 EStG in seiner heutigen – ungewöhnlich wortreichen – Fassung in das EStG ein und präzisierte § 12 Nr. 5 EStG, indem die Kosten des Erststudiums für alle Fälle vom Abzug ausgeschlossen wurden, in denen das Erststudium zugleich eine Erstausbildung vermittelt. Doch auch diese erneuten Schärfungen verfingen im 6. Senat nicht. Zwar erkennt der Senat für diese Regelung nun an, dass der Werbungskostenabzug für Aufwendungen einer ersten Berufsausbildung nahezu vollständig abgeschnitten ist. Mit sechs Beschlüssen vom 17.7.2014 verlegt sich der Senat nunmehr aber auf die Hypothese einer Verfassungswidrigkeit der Regelung und bemüht insoweit den allgemeinen Gleichheitssatz und das  – vom Bundesverfassungsgericht bisher nicht als Verfassungsgebot anerkannte – objektive Nettoprinzip82. So fraglich die Erfolgsaussichten der konkreten Normenkontrolle sind83, so konsequent und vor allem befreiend sind doch diese Vorlagebeschlüsse. Der 6. Senat muss im Anschluss an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bei seiner 2014 schließlich gebildeten  – richtigen  – Überzeugung von der Nichtabziehbarkeit der Aufwendungen einer ersten Berufsausbildung nach dem geltenden (einfachen) Recht

77 Statt aller Roland Ismer, FR 2011, 846 ff.; Wolfram Reiß, FR 2011, 863 ff.; Dieter Birk, DStR 2014, 65 ff. 78 Wolfram Reiß, FR 2011, 863 ff. 79 Roland Ismer, FR 2011, 846 (852). 80 Hans-Joachim Kanzler, FR 2011, 862 f.; Winfried Bergkemper, DB 2011, 1947; Stephan Geserich, SteuK 2011, 513 ff. 81 Art.  2 Nr.  8 des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes v. 7.12.2011, BGBl.  I 2011, 2592. 82 BFH v. 17.7.2014 – VI R 8/12 u.a., BFHE 247, 64, DStR 2014, 2216. Az. des BVerfG: 2 BvL 24/14. Hierzu statt aller Stefan Schneider, HFR 2014, 1064 f.; Nils Trossen, FR 2015, 40 ff.; Claudia Neugebauer, FR 2015, 307 ff. 83 Überzeugend BFH v. 5.11.2013  – VIII R 22/12, BFHE 243, 486, BStBl.  II 2014, 165 m. Anm. Franceska Werth, jM 2014, 217 f.; und Heinz-Jürgen Pezzer, BFH/PR 2014, 72.

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bleiben. In Aufnahme der Rechtsprechung des 8. Senats84 wird er damit auch methodisch zu einer strikten Gesetzesbeachtung zurückfinden85. 4. Insbesondere: Richterlicher Umgang mit exekutivischer Rechtsetzung Schwierigkeiten wirft in der Rechtsprechungspraxis aber auch der Umgang des BFH mit einer vom Gesetzgeber dem Grunde nach gestatteten exekutivischen Rechtsetzung auf. Der wichtigste Brennpunkt ist insoweit die Rechtsprechung zu den völkerrechtlichen Konsultationsvereinbarungen, die in Deutschland durch Rechtsverordnungen mit innerstaatlicher Verbindlichkeit ausgestattet worden sind. Der 1. Senat des BFH, dessen Umgang mit Doppelbesteuerungsabkommen der Deutsche Bundestag mit dem Erlass von § 2 Abs. 2 AO ersichtlich domestizieren wollte, hat sich in mehreren Entscheidungen über diese Domestizierungsversuche hinweg gesetzt. Besonders deutlich wird das an dem Beispiel grenzüberschreitender Abfindungszahlungen an Arbeitnehmer im Verhältnis Deutschland-Schweiz86. Der 1. Senat hat den Grundsatz richterlicher Bindung an Rechtsverordnungen87 zwar als solchen nicht in Abrede gestellt. Er hat aber der konkreten Rechtsverordnung ihre Wirksamkeit abgesprochen, weil er in ihr und der ihr zugrunde liegenden Verständigungsvereinbarung ausbrechende Rechtsakte gesehen hat. Der Senat begründet diese Ansicht allerdings nicht konsistent. Zunächst wird die Unbeachtlichkeit der Rechtsverordnung mit der Unbestimmtheit ihrer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage begründet. Damit verwendet der Senat gleichsam die nukleare Option. Er kapriziert sich dabei anfänglich allein auf §  2 Abs.  2 AO, scheint dann aber – unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur88 – die Ergänzungsfunktion des DBA-Zustimmungsgesetzes zu erkennen, das ebenfalls Teil der Ermächtigungsgrundlage i.S.d. Art.  80 Abs.  1 GG ist und für Bestimmtheit sorgen kann. Er gibt dieser Möglichkeit indes keinen Raum und findet insoweit zu keiner Entscheidung. Vielmehr verlegt er sich im Folgenden („nicht nuklear“) auf seine zuvor bereits gebildete Auffassung, nach der die konkrete Konsultationsvereinbarung das DBA breche und daher nicht von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt sei. Über die letztgenannte Frage kann man streiten89; auf sie ist noch zurückzukommen. Es ist jedenfalls konsequent, dass der Senat im Ergebnis – trotz seiner Überzeugung von der verfassungswidrigen Unbestimmtheit des § 2 Abs. 2 AO, aber mangels Ent84 BFH v. 5.11.2013 – VIII R 22/12, BFHE 243, 486, BStBl. II 2014, 165 m. Anm. Franceska Werth, jM 2014, 217 f.; und Heinz-Jürgen Pezzer, BFH/PR 2014, 72. 85 Oben V.2. 86 BFH v. 10.6.2015 – I R 79/13, BFHE 250, 110, BStBl. II 2016, 326 m. Anm. Moris Lehner, IStR 2015, 790 f.; aus der umfangreichen Literatur statt aller Christiane Anger, IStR 2016, 57 ff.; Tobias Hagemann/Christian Kahlenberg/Adrian Cloer, BB 2017, 599 ff. 87 Oben II.1. 88 Roland Ismer, IStR 2009, 366 ff.; Moris Lehner, IStR 2011, 733 (738 f.). 89 Wegweisend für die Linie des 1. Senats Moris Lehner, IStR 2011, 733 ff.; vgl. dens., IStR 2015, 790 f.

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scheidungserheblichkeit  – auf eine konkrete Normenkontrolle verzichtet90. Ebenso überzeugend ist der Ausgangspunkt seiner Überlegungen: Rechtsverordnungen sind nur wirksam, wenn sie sich innerhalb ihrer Ermächtigungsgrundlagen halten. Ermächtigungsgrundlage ist hier aber nicht allein § 2 Abs. 2 AO, sondern das DBA in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz und § 2 Abs. 2 AO. Die Letztentscheidung über die Auslegung dieser synthetischen Ermächtigungsgrundlage obliegt im gewaltenteilenden Rechtsstaat auf deutscher Seite dem Bundesfinanzhof – und als dessen zuständigem Spruchkörper dem 1. Senat. Kritikwürdig erscheint aber die Methode, mit der der Senat zu seinem von der Verständigungsvereinbarung abweichenden Auslegungsergebnis gelangt ist. Denn er verengt die Abkommensauslegung auf eine „one right answer“. Damit spricht er den Regelungen der Art. 25 Abs. 3 OECD-MA und – innerstaatlich – des DBA-Zustimmungsgesetzes und des § 2 Abs. 2 AO im Ergebnis ihre Existenzberechtigung ab. In Fällen, in denen die Finanzverwaltungen der beiden Vertragsstaaten mit der Verständigungsvereinbarung die Lösung gefunden haben, zu der später auch der Senat kommt, hätte es einer Rechtsverordnung (und damit des § 2 Abs. 2 AO) von vornherein nicht bedurft; und in Fällen, in denen der Senat für das DBA eine andere Auslegung wählt als die Finanzverwaltungen, sind die Verständigungsvereinbarung und mit ihr die Rechtsverordnung ausbrechende Rechtsakte. Dieser binäre Ansatz des 1. Senats ist zu schlicht. Er missachtet die in Art. 80 Abs. 1 GG angelegte Möglichkeit gestufter Gesetzgebung. Tatsächlich liegt in der Existenz von Regelungen wie Art. 25 Abs. 3 OECD-MA, den parallelen Klauseln der einzelnen DBA, ihren Zustimmungsgesetzen und § 2 Abs. 2 AO die beredte Erkenntnis der Völkerrechtssubjekte, dass selbst hochgenaue „technische“ völkerrechtliche Verträge wie die DBA Auslegungsspielräume lassen. Unterschiedliche Auslegungen durch die beiden Vertragsstaaten können zu Doppelbesteuerung oder Doppelnichtbesteuerung führen. Mit derartigen Auslegungsdivergenzen verfehlten die Abkommensinterpreten den zentralen Zweck des Abkommens. Zugleich käme es zu gravierenden, auch grundrechtlich relevanten Verwerfungen im Staat-Bürger-Verhältnis. Positiv gewendet: Hinter der Anordnung, dass (und wie) Auslegungsfragen nach dem Willen der Vertragsstaaten und der Zustimmungsgesetzgeber prozedural zu klären sind, liegt die materielle Festlegung darauf, dass die im Abkommen verwendeten Ausdrücke mehrdeutig sein können. Außerhalb eines mit Gewissheit feststellbaren Begriffskerns bestehen also kraft normativer Setzung semantische Randunschärfen. Methodisch muss daher an die Stelle einer „one right answer“-Konzeption eine mittlere, also ein gewisses semantisches Spektrum abdeckende Lösung treten. Wenn Abkommensverhandler und Parlamente beider Vertragsstaaten also die Zweideutigkeit abkommensrechtlicher Ausdrücke – gleichsam mit dolus directus zweiten Grades – in ihren Willen aufnehmen und sich auf das Verständigungsverfahren als prozedurale Lösung festlegen, müssen auch ihre Gerichte diesem Ansatz folgen. 90 In BFH v. 10.6.2015 – I R 79/13, BFHE 250, 110, BStBl. II 2016, 326, nicht erörtert; zutreffend aber Moris Lehner, IStR 2015, 790.

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In ihm liegt auch entstehungsgeschichtlich die Rechtfertigung von §  2 Abs.  2 AO. Der AO-Gesetzgeber zielt gerade auf diejenigen Fälle ab, in denen eine freihändige, allein auf das DBA gestützte richterliche Abkommensauslegung von der Verständigungsvereinbarung abgewichen ist. Indem er die Möglichkeit eröffnet, dass bilaterale Verständigungsvereinbarungen konstitutive Bedeutung erlangen, domestiziert der Gesetzgeber die Gerichte, damit deren unilaterale Entscheidungen nicht länger zu Doppelbesteuerung oder Doppelnichtbesteuerung führen. Zwar bleibt es dabei, dass die Verständigungsvereinbarung – schon weil ihr ein Ratifikationsvorbehalt fehlt  – völkerrechtlich nicht den Anspruch erhebt, das DBA zu ersetzen oder auch nur zu modifizieren. Auch völkerrechtlich muss sie sich im Rahmen des Spektrums vertretbarer Abkommensauslegungen halten. Aus diesem breiten Spektrum möglicher Abkommensauslegungen fixiert sie aber diejenige Alternative, die nach dem aktuellen Willen der zuständigen Behörden (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. f OECD-MA) das im Abkommen Geregelte am besten konkretisiert, aktualisiert oder ergänzt. Diese exekutivische Fixierung stützt sich auf die im Abkommen selbst niedergelegte und durch den Zustimmungsgesetzgeber auch innerstaatlich angeordnete Aufgabe und Befugnis der Vertragsstaaten zur Vertragskonkretisierung durch spätere Übereinkünfte. An diese völkerrechtliche Auslegungsfixierung ist das Gericht nach allgemeinem Völkerrecht unter den Vorgaben des Art. 31 Abs. 3 lit. a WÜRV gebunden. Die späteren Übereinkünfte, zu denen Verständigungsvereinbarungen zählen, erstrecken sich dabei nicht nur auf Absprachen „über die Auslegung des Vertrags“ (Art. 31 Abs. 3 lit. a Fall 1 WÜRV), sondern ebenso auf „die Anwendung seiner Bestimmungen“ (Art. 31 Abs. 3 lit. a Fall 2 WÜRV). Daher müssen auch Finanzgerichte und 1. Senat des BFH in Anwendung von Art. 31 WÜRV eine durch Rechtsverordnung innerstaatlich promulgierte Verständigungsvereinbarung grundsätzlich ebenso beachten wie die ordentlichen Gerichte die Vorschriften der auf das StVG gestützten StVO. Zwar bleibt es richtig, dass die Gerichte – auch die Untergerichte  – in jedem Einzelfall prüfen dürfen und müssen, ob die Rechtsverordnung den durch die Ermächtigungsgrundlage gesetzten Rahmen nicht überschreitet. Die Grenze der Beachtlichkeit ist aber aus den genannten Gründen erst erreicht, wo die Verständigungsvereinbarung eine methodisch unvertretbare, von Art. 31 Abs. 3 lit. a WÜRV nicht mehr gedeckte Auslegung wählt. Entscheidend wird damit die Methodologie der Vertretbarkeitsprüfung. Gesteht man den Völkerrechtssubjekten und dem Gesetzgeber dem Grunde nach die Befugnis zu, zwischen Begriffskern und Begriffshof zu unterscheiden, müssen sie in den Grenzen der Verfassung auch die Demarkationslinie zwischen beiden ziehen können. Für den besonderen Fall völkerrechtlicher Auslegungsvereinbarungen ist es sogar die Verfassung selbst, die wichtige Anhaltspunkte liefert. Der in der Rechtsprechung des 1. Senats zu Recht betonte Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes drängt auf die grundsätzliche Übernahme völkerrechtlich wirksamer Verwaltungsvereinbarungen in die innerstaatliche Sphäre. Art. 25 Satz 1 GG weist den allgemeinen Regeln des Völkerrechts, zu denen die gewohnheitsrechtlich anerkannten Auslegungsregeln der Art.  31  f. WÜRV gehören, eine den einfachen Bundesgesetzen vorgängige Geltung zu. Diese Maßstäbe, die der Exekutive auf dem Feld der Doppel249

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besteuerungsabkommen aus gutem Grund Gestaltungsräume für eine Gesetzgebung im materiellen Sinne eröffnen, war sich der 1. Senat jedenfalls 201591 noch nicht vollständig bewusst.

VI. Fazit Das Zusammenspiel von Gesetzgebung und Rechtsprechung ist mehrdimensional. Prägend ist die zeitliche Abschichtung in der ersten Runde: Das Parlament erlässt ein belastendes Steuergesetz für die Zukunft, das die Rechtsprechung zu einem Zeitpunkt anwendet, an dem der potenziell tatbestandliche Sachverhalt längst Vergangenheit ist92. Dabei sind die Gerichte an das Gesetz gebunden, über dessen Gehalt sie aber ein Letztentscheidungsrecht haben. Schon deshalb haben die Gerichte „Möglichkeiten, sich aus der Gesetzesbindung zu befreien oder sie zumindest zu lockern“93. Den Gerichten obliegt ein Teil der Rechtserzeugung. Bei aller Bindung an das Gesetz ist Rechtsprechung deshalb auch Rechtsetzung. Diese Rechtserzeugung wirkt inter partes. Die Rechtsprechung, insbesondere die höchstrichterliche (Revisions-)Rechtsprechung hat aber stets auch eine objektive, von Verfassung wegen auf abstrakt-generelle Orientierung in der Zukunft zielende Funktion. Die richterliche Konkretisierung gesetzlicher Obersätze ist auf Öffentlichkeit angelegt. Dort trifft sie auf allgemeine Aufmerksamkeit und schafft Vertrauen. Grundrechte und Rechtsstaatsprinzip drängen auf ihre grundsätzliche Kontinuität. Diese Zweitrundeneffekte finden ihrerseits gesetzliche Antworten. Pejorativ als „Nichtanwendungsgesetze“ markierte Entscheidungen des Parlaments sind ein zen­ traler Bestandteil einer revolvierenden Veränderung des Rechts in der Demokratie. Der Gesetzgeber kann die Rechtsprechung korrigieren und damit verhindern, dass ihre Entscheidungen aus der Vergangenheit in die Zukunft fortgeschrieben werden. Kommt es zu derartigen Korrekturen und sind sie wirksam, transportieren diese Korrekturgesetze methodologisch einen erhöhten Befolgungsanspruch, der die Gerichte strikt bindet.

91 BFH v. 10.6.2015 – I R 79/13, BFHE 250, 110, BStBl. II 2016, 326. 92 Paul Kirchhof, FR 2016, 530 (534 f.). 93 Dieter Birk, DStR 2014, 65 ff.

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … F.

Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung – nationale Sicht Von Michael Schmitt

Inhaltsübersicht I. Die Rolle der Finanzverwaltung im Finanzgerichtsprozess; der Einzelfall 1. Die erste Instanz 2. Die zweite Instanz 3. Die Entscheidung der Gerichte II. Die Rolle des BFH jenseits der des Prozessgerichts und die Reaktion der Verwaltung auf dessen rechtsfortbildende Rechtsprechung III. „Zusammenspiel“ von Rechtsprechung und Verwaltung im materiellen Steuerrecht 1. Allgemeines 2. Rechtsprechungsbeispiele verschiedener Senate des BFH 3. Zulässige Anregungen der Verwaltung an den Gesetzgeber 4. Drei Aspekte bei der Anwendungsfrage: Ausstrahlung auf ähnliche Sachverhalte, Gesetzesänderung schwer erreichbar, Ausstrahlung auf andere Sachverhalte a) Erster Aspekt: Ausstrahlung auf (alle) ähnlichen Sachverhalte b) Zweiter Aspekt: Gesetzesänderung schwer erreichbar

c) Dritter Aspekt: Ausstrahlung auf andere Sachverhalte 5. Weitreichende Auswirkungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung – die Bauträgerfälle, ein Drama in mindestens neun Akten a) Erster Akt b) Zweiter Akt c) Dritter Akt d) Vierter Akt e) Fünfter Akt f) Sechster Akt g) Siebter Akt h) Achter Akt i) Neunter Akt 6. Ein weiteres Beispiel des „Zusammenspiels“: die Hinzurechnungsbesteuerung a) Hintergrund und Urteilssachverhalt b) Das BFH-Urteil vom 11.3.2015 c) Die Reaktion der Finanzverwaltung d) Die Reaktion des Gesetzgebers e) Ergebnis IV. Fazit

Es ist durchaus unklar und rechtlich auch nicht vorgesehen, ob bzw. dass Finanzrechtsprechung und Finanzverwaltung „zusammenspielen“. Vielmehr haben die Finanzverwaltung zum einen und die Finanzgerichtsbarkeit zum anderen unterschiedliche Stellungen und unterschiedliche Aufgaben. Während die Finanzverwaltung dafür Sorge trägt, dass der Fiskus die für seine vielfältigen Aufgaben benötigten Ein251

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nahmen erhält, wachen die Finanzgerichte darüber, dass dies unter Beachtung von Recht und Gesetz, vor allen Dingen der Steuergesetze und auch des Grundgesetzes, geschieht1. Die Finanzverwaltung ist Teil der Exekutive, die Finanzgerichtsbarkeit gehört zur Judikative. Entscheidungen und Handlungen der einen wie der anderen Gewalt erzeugen allerdings durchaus Wirkungen bei der jeweils anderen. Das Zusammenspiel besteht, bisweilen ereignet sich aber auch ein Gegeneinander, bei dem dann auch die „erste Gewalt“, nämlich die Legislative, „mitspielt“. Im Folgenden wird zunächst die Rolle der Finanzverwaltung im Finanzgerichtsprozess beleuchtet. Danach ist die Rolle des Bundesfinanzhofs jenseits der des Prozessgerichts und deren entsprechende Wirkung auf die Finanzverwaltung zu betrachten. In einem weiteren Abschnitt wird das „Zusammenspiel“ von Rechtsprechung und Verwaltung im materiellen Steuerrecht näher untersucht.

I. Die Rolle der Finanzverwaltung im Finanzgerichtsprozess; der ­Einzelfall 1. Die erste Instanz Rechtsprechung und Finanzamt spielen im Finanzgerichtsprozess nicht „zusammen“. Es handelt sich zwar auch nicht um ein Gegeneinander, Parteien des Finanzgerichtsstreits sind der Kläger, also der Steuerpflichtige, und das Finanzamt als Beklagter2, aber ein Miteinander ist dies selbstverständlich auch nicht. Vielmehr begegnet das Finanzgericht dem Finanzamt als „Steuer-Verwaltungsgericht“, die Prozesspartei Finanzamt hat als „Steuer-Verwaltungsbehörde“ gehandelt und begegnet ihrem gesetzlichen Richter. Dies ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips und wirksamer Kontrollmechanismus dafür, dass die Steuerverwaltung ihrem Auftrag nach Art.  20 des Grundgesetzes gerecht wird und die Steuern nach Recht und Gesetz erhebt. Klassischerweise überprüft das Finanzgericht den vom Finanzamt erlassenen Steuerbescheid3, nachdem das Finanzamt selbst4 das Einspruchsverfahren durchgeführt hat. Das Verwaltungsverfahren beim Finanzamt wird näher durch die Abgabenordnung, einem besonderen Verwaltungsverfahrensrecht, das Verfahren vor den Finanzgerichten durch die Finanzgerichtsordnung, einem besonderen Verwaltungsgerichtsverfahrensrecht, geregelt. Das Finanzamt kann gewinnen oder verlieren. Zwar ist das Obsiegen durch das Finanzamt der Normalfall, Verlieren ist die Ausnahme. Es wäre auch schlimm, wenn es 1 Pezzer, Symposium des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts der Steuerberater e.V., 12.12.2005, I.2.; Lange, NJW 2002, 3657 (3658 f.). 2 Vgl. § 57 FGO; Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Einf. FGO Rz. 1, 3; Brandis in Tipke/Kruse, § 57 FGO Rz. 2. 3 § 44 Abs. 1 FGO: Einspruchsverfahren als sog. „Vorverfahren“; Ausnahmen: §§ 45, 46 FGO; Seer in Tipke/Kruse, Einf. FGO Rz. 23 f. 4 §§ 357 Abs. 2 Satz 1, 367 AO; das Einspruchsverfahren ist in der AO in §§ 347 bis 367 geregelt.

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Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung

anders wäre, würde dies doch bedeuten, dass die Finanzbehörden den Auftrag, nach Recht und Gesetz zu besteuern, nicht hinreichend ernst nehmen würden. Gleichwohl sind Niederlagen der Verwaltung vor dem Finanzgericht möglich und durchaus nicht unüblich5. 2. Die zweite Instanz Je nach Ausgang des Rechtsstreits vor dem Finanzgericht können der Kläger (Steuerpflichtiger) oder der Beklagte (Finanzamt) Rechtsmittel einlegen6. Hat das Finanzgericht nach Maßgabe der §§ 115, 116 Finanzgerichtsordnung (FGO) die Revision etwa wegen grundlegender Bedeutung der Rechtslage zugelassen, ist insoweit der Weg zum Bundesfinanzhof eröffnet7. Der Bundesfinanzhof kann die Revision nicht zurückweisen. Lässt das Finanzgericht die Revision nicht zu, können Kläger wie Beklagter hiergegen Nichtzulassungsbeschwerde einlegen8. 3. Die Entscheidung der Gerichte Die Entscheidungen der Gerichte fallen regelmäßig durch Urteil9. Lediglich die Zurückweisung der Revision durch den Bundesfinanzhof erfolgt durch Beschluss. Im Rahmen des Revisionsverfahrens kann der BFH durch Urteil in der Sache selbst entscheiden oder die Angelegenheit an das Finanzgericht mit dem Auftrag nochmaliger Verhandlung und anderweitiger Entscheidung zurückverweisen10. Die Entscheidung wirkt inter partes. Betroffen von der Entscheidung sind also zunächst Steuerpflichtiger und Finanzamt. Insoweit entsteht Rechtskraft11.

II. Die Rolle des BFH jenseits der des Prozessgerichts und die Reaktion der Verwaltung auf dessen rechtsfortbildende Rechtsprechung Wie bei anderen Rechtsgebieten auch entfaltet die (ständige) Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte jedoch Wirkungen über den Einzelfall hinaus. Sowohl Gestaltungsberatung als auch die Tätigkeit von Prozessanwälten und Verwaltungsbehörden nehmen die höchstrichterliche Rechtsprechung neben Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsanweisungen als weitere Leitlinie für ihr Handeln. 5 Vgl. Jahresstatistiken des BFH (abrufbar unter: www.bundesfinanzhof.de/service/jahresbe​ richte) hiernach Erfolgsquote für die Steuerpflichtigen: 2014: 21 %. 2015: 19 %, 2016: 15 %. 6 Revision gemäß §  115 Abs.  1 FGO gegen alle Arten von Urteilen, Nichtzulassungsbeschwerde nach § 116 FGO gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Finanzgericht. 7 §  36 Nr.  1 FGO; siehe Fn.  5: Erfolgsquote der Steuerpflichtigen bei Revisionsverfahren: 2014: 42 %, 2015: 41 %, 2016: 32 %. 8 Siehe Fn.  5: Erfolgsquote der Steuerpflichtigen bei Nichtzulassungsbeschwerden: 2014: 17 %, 2015: 14 %, 2016: 13 %. 9 § 95 FGO; Ausnahme: Gerichtsbescheid gemäß § 90a FGO. 10 § 126 Abs. 3 FGO. 11 §  110 Abs.  1 Satz  1 FGO; lediglich den Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht kommt gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG allgemein verbindliche Wirkung zu.

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Dem Bundesfinanzhof ist die Rolle der Fortbildung des Steuerrechts ausdrücklich zugewiesen12. Damit diese Rechtsfortbildung in der Praxis Wirkung entfalten kann, schlägt der Bundesfinanzhof bestimmte Entscheidungen zur Veröffentlichung im Bundessteuerblatt Teil II vor13. Der Bundesfinanzhof regt die Veröffentlichung an, die letzte Entscheidung über die Veröffentlichung fällt allerdings der Herausgeber des Bundessteuerblatts, das Bundesministerium der Finanzen, regelmäßig aufgrund entsprechender Beratungen mit den Vertretern der obersten Steuerbehörden der Länder, dies sind die Landesfinanzministerien14. Nach erfolgter Entscheidung des Bundesfinanzministeriums und der Landesfinanzministerien über die Veröffentlichung der BFH-Entscheidungen im Bundessteuerblatt Teil II wird dieses BMF-Schreiben in Form eines Ländererlasses durch die regelmäßig für die Steuerverfahren zuständigen Länder veröffentlicht. Damit sind diese Urteile nunmehr „als Verwaltungsanweisungen“ für die Finanzbehörden bindend und auf gleich gelagerte Einzelfälle anzuwenden15. Nach der hier vertretenen Auffassung ergibt sich schon aus dieser Aufgabenverteilung, Entscheidung des Rechtsstreits durch den BFH und Vorschlag zur Veröffentlichung durch das Gericht einerseits, Entscheidung über die Veröffentlichung durch die obersten Finanzbehörden von Bund und Ländern andererseits, dass diesem Prozess kein Automatismus innewohnt, sondern dass vor der Veröffentlichung eine autonome Entscheidung hierüber durch die obersten Steuerbehörden zu erfolgen hat. Auch wenn dies vielfach anders gesehen wird und teilweise sogar der Vorwurf der Missachtung der Gewaltenteilung durch die Steuerverwaltung formuliert wird16, sind hiermit auch Entscheidungen, die dem Vorschlag des BFH nicht folgen, zulässig. Mit anderen Worten: Bundesfinanzministerium und Landesfinanzministerien können auch entscheiden, eine zur Veröffentlichung vorgeschlagene Entscheidung nicht zu veröffentlichen oder die Entscheidung mit einem sog. Nichtanwendungserlass zu versehen.

12 §§ 11 Abs. 4, 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO; Voß, DStR 2003, 441 (444); Pezzer, DStR 2004, 525 (529); Wieland, DStR 2004, 1 (3); Spindler, DStR 2007, 1061 (1064); Lange, NJW 2002, 3657 (3659); so bereits der BFH in seinem Urteil v. 14.8.1958 – I 39/57 U, BFHE 67, 354. 13 Siehe Fn. 5: Zur Veröffentlichung vorgeschlagene Entscheidungen der BFH-Senate: 2014: 337 von 2.538 Entscheidungen (13 %), 2015: 318 von 2.333 (14 %), 2016: 290 von 2.373 (12 %). 14 BT-Drucks. 14/6716 Rz. 4 und 15/4614, Vorbemerkung der Bundesregierung; Landtag von Baden-Württemberg, Drucks. 15/6984, Antwort des Ministeriums für Finanzen und Wirtschaft auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Nemeth Rz.  1; Voß, DStR 2003, 441; Spindler, DStR 2007, 1061 (1063); Lange, NJW 2002, 3657 (3658). 15 BMF-Schreiben stellen allgemeine Weisungen im Sinne von Art. 108 Abs. 3 Satz 2 und 85 Abs. 3 GG dar. 16 Vgl. Spindler, DStR 2007, 1061 (1064), Pezzer (Fn.  1), III.2. (bei planmäßiger Aushebelung).

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Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung

Freilich darf nach der hier vertretenen Auffassung die Finanzverwaltung die Veröffentlichung einer höchstrichterlichen Entscheidung nicht grundlos verweigern17. Aus dem Prinzip der Gewaltenteilung, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jeglichen Verwaltungshandelns und dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme der staatlichen Gewalten ergibt sich ohne weiteres auch insoweit eine Art Willkürverbot. Ein Nichtanwendungserlass ist nach der hier vertretenen Auffassung zwar genauso zulässig wie die Nichtveröffentlichung eines Urteils. An sich ist ein Nichtanwendungserlass sogar „fairer“ als eine bloße Nichtveröffentlichung, denn mit dem Nichtanwendungserlass wird regelmäßig begründet, weshalb aus Sicht der Verwaltung die Entscheidung des höchsten Gerichts nicht angewendet werden kann18. Eine Nichtveröffentlichung von zur Veröffentlichung vorgeschlagenen Entscheidungen bzw. ein entsprechender Nichtanwendungserlass sind selbstverständlich „unfreundliche Akte“ der Finanzverwaltung19, die nicht nur die Richter des Bundesfinanzhofs, sondern auch die obsiegenden Revisionskläger bzw. deren Vertreter stark treffen, kann doch die zu deren Gunsten entschiedene Rechtsfrage nicht als Leitlinie für deren künftiges Verhalten gelten. Vielmehr muss in jedem Einzelfall wiederum ein gegen die Auffassung der Finanzverwaltung gerichtetes höchstrichterliches Urteil erstritten werden. Aus dieser Erwägung und wegen des oben angesprochenen Willkürverbots ergibt sich die Notwendigkeit, dass die Vertreter von Bund und Ländern die Veröffentlichung nur dann verweigern bzw. den Nichtanwendungserlass nur dann beschließen, wenn sie die Entscheidung des Bundesfinanzhofs für gänzlich falsch und unvertretbar halten. Hier stellt sich die Frage, ob die Finanzverwaltung ein eigenes Beurteilungsrecht hat, oder ob sie einem höchstrichterlichen Urteil „sklavisch folgen“ muss. Aus Art. 20 des Grundgesetzes ergibt sich nach der hier vertre­ tenen Auffassung ein eigenes Prüfungsrecht und eine eigene Prüfungspflicht der ­Finanzverwaltung20, auch wenn die Rechtsfrage in einem Einzelfall vom Bundesfinanzhof entschieden worden ist. Die Verpflichtung der Finanzbehörden, im Rechtsstaat nach Recht und Gesetz zu entscheiden, wird von den Finanzbehörden nicht auf die leichte Schulter genommen. Die Anwendung von Steuerrecht ist „durch und durch regelbasiert“. Nicht nur das Gericht, auch die Finanzbehörden müssen die Steuergesetze auslegen21. Hierfür haben sie ein vielschichtiges Regelwerk zu beachten. Neben den Steuergesetzen existieren noch Richtlinien, die von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates erlassen werden, BMF-Schreiben, Ländererlasse, OFD-Verfügungen sowie Entscheidungen der obersten Steuerbehörden von Bund und Ländern, ausnahmsweise sogar der Finanzministerkonferenz. Das gesamte Regelwerk, nicht nur die vom Gesetzgeber erlassenen Gesetze, unterliegt einem 17 Pezzer (Fn.  1), III. 2. und DStR 2004, 525 (531); Kessler/Eicke, DStR 2006, 1913 (1914); Spindler, DStR 2007, 1061 (1064); Lange, NJW 2002, 3657 (3659 und 3661); a.A.: Wieland, DStR 2004, 1 (5). 18 Siehe Fn. 17: Begründungserfordernis. 19 Vgl. Lange, NJW 2002, 3657 (3658): „offene Kampfansage an den BFH“. 20 So auch BT-Drucks. 15/4614, Vorbemerkung der Bundesregierung; Schlenk, DStR 2015, 2135 (2138). 21 Pezzer, Fn. 1, III.2.

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sehr intensiven Beratungs- und Entscheidungsprozess. Die Regeln gelten für alle gleich oder ähnlich gelagerten Steuerfälle. Werden nun alle von der Verwaltung entwickelten Regelungen durch die Auslegung im Rahmen des Urteils ersetzt, ist dies eine sehr intensive und nachhaltige Wirkung, die auch zu hohen fiskalischen Ausfällen führen kann. Es ist daher hinnehmbar, wenn die Verwaltung in immer seltener gewordenen Fällen ein nochmaliges Überdenken der Rechtsfrage durch höchstrichterliche Rechtsprechung bewirkt22.

III. „Zusammenspiel“ von Rechtsprechung und Verwaltung im ­materiellen Steuerrecht 1. Allgemeines Die Frage nach einem Zusammenspiel könnte auch so gestellt werden, ob Rechtsprechung und Verwaltung in Bezug auf das materielle Steuerrecht eine gewisse inhaltliche Kongruenz entwickeln. Auch wenn, wie bereits oben ausgeführt, die Finanzämter rd. 85 % der Finanzgerichtsprozesse gewinnen, ist dies keineswegs der Fall. Die Finanzverwaltung hat es bei den verschiedenen Senaten des Bundesfinanzhofs mit ihren unterschiedlichen Zuständigkeiten mit deutlich wahrnehmbaren unterschiedlichen Rechtsprechungstendenzen zu tun. Während die einen Bundesrichter sehr stark auf den Wortlaut abheben (legendär die Rechtsprechung des ersten Senates23), argumentieren andere Bundesrichter sehr stark mit Sinn und Zweck des Gesetzes (so z.B. der vierte Senat mit den jenseits des Wortlauts des Steuergesetzes bemühten Bilanzrechtsregeln des HGB24). Häufig gibt es auch Widersprüche zwischen den einzelnen Senaten des Bundesfinanzhofs. Bisweilen werden diese Widersprüche dann am Ende vom Großen Senat entschieden25, bisweilen werden diese Unterschiede aber auch nicht als solche offengelegt. Auch gibt es bisweilen Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, ohne dass diese deutlich gemacht werden oder diese sogar bestritten werden.

22 BT-Drucks. 15/4614 (Fn. 20), a.a.O. 23 BFH v. 12.1.2011 – I R 3/10, BStBl. II 2011, 727 (§ 14 Abs. 1 Nr. 3 S. 1 KStG 1999 bei Mindestlaufzeiten des Gewinnabführungsvertrages bei körperschaftsteuerlicher Organschaft); v. 12.3.2014 – I R 45/13, BStBl. 2014, 719 (Abziehbarkeit von Veräußerungskosten bei einer Anteilsveräußerung nach § 8b Abs. 2 KStG 2002) und I R 87/12, BStBl. II 2014, 859 (Auslegung und Verfassungsmäßigkeit des Abzugsverbots in § 8b Abs. 3 Satz 3, 4 KStG 2002); v. 11.11.2015 – I R 57/13, BStBl. II 2017, 319 (Anwendbarkeit der Zinsschranke nach §§ 4h Abs.  1 und 2 EStG i.V.m. 8 Abs.  1 und 8a Abs.  1 KStG 2002); v. 9.11.2016  – I R 56/15, BStBl. II 2017, 498 (§ 8 Abs. 7 KStG bei Dauerverlustgeschäften einer Eigengesellschaft). 24 BFH v. 2.8.2012 – IV R 41/11, BFHE 238, 135; v. 19.9.2012 – IV R 11/12, BFHE 239, 76. 25 § 11 Abs. 2 FGO.

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Akzeptiert die Verwaltung (wie in der Regel26!) die höchstrichterliche Rechtsprechung durch Veröffentlichung von deren Entscheidungen im Bundessteuerblatt Teil  II, geht dem daher die notwendige und nicht immer einfache Analyse der BFH-Entscheidungen hinsichtlich ihrer Bedeutung und Tragweite voraus. Oder anders ausgedrückt, bevor die Finanzverwaltung mit der Rechtsprechung in derem Sinne „zusammenspielen“ kann, muss das Spiel erst einmal begriffen werden. 2. Rechtsprechungsbeispiele verschiedener Senate des BFH Nur beispielhaft und schlagwortartig soll erläutert werden, wie schwierig dies im Einzelnen sein kann. Während der erste Senat im internationalen Steuerrecht sehr großzügig zugunsten der Steuerpflichtigen judiziert27, ist er bei den Pensionsrückstellungen deutlich strenger, als es die Steuerverwaltung gerne wäre28. Während der vierte Senat im Rahmen der Besteuerung der Personenunternehmen die Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern zwischen personen- und beteiligungsidentischen Mitunternehmerschaften gem. § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG (entgegen dem Wortlaut) zulässt29, entscheiden dies der erste und der zehnte Senat anders30. Man darf gespannt auf die Entscheidung des Großen Senats sein31. Der fünfte Senat wurde in den letzten Jahren durch eine äußerst eigenwillige Rechtsprechung zu Umsatzsteuerfragen bekannt. Als Beispiel sei hier nur die Entscheidung zu den sog. Bauträgerfällen genannt, die Milliarden-Risiken für den Fiskus und eine völlige Verwirrung bei den Beteiligten mit sich gebracht hat32. Der sechste Senat befleißigt sich einer sehr arbeitnehmerfreundlichen Rechtsprechung. Als Stichwort seien das Reisekostenrecht33, das Aufteilungsgebot34, Rechtsfra-

26 Vgl. Lang, StuW 1992, 14 (16  f.); Kessler/Eicke, DStR 2006, 1913 (1914); Pezzer (Fn.  1), III.2. 27 BFH v. 8.9.2010 – I R 74/09, BStBl. II 2014, 788; v. 25.5.2011 – I R 95/10, BStBl. II 2014, 760; v. 19.5.2010 – I B 191/09, BStBl. II 2011, 156. 28 BFH v. 5.3.2008 – I R 12/07, BStBl. II 2015, 409 und v. 23.10.2013 – I R 60/12, BStBl. II 2015, 413 (Pension neben Aktivgehalt); v. 11.9.2013 – I R 28/13, BStBl. II 2014, 726 und v. 23.10.2013 – I R 89/12, BStBl. II 2017, 729 (Anwendung der geschäftsvorfallbezogenen Betrachtungsweise). 29 BFH v. 19.9.2012 (Fn. 24). 30 BFH v. 10.4.2013 – I R 80/12, BStBl. II 2013, 1004; v. 19.3.2014 – X R 28/12, BStBl. II 2014, 629. 31 BFH v. 27.10.2015 – X R 28/12, BStBl. II 2016, 81. 32 BFH v. 22.8.2013 – V R 37/10, BStBl. II 2014, 128 (als Ausgangsentscheidung); zuletzt v. 23.2.2017 – V R 16/16 und 24/16, BFH/NV 2017, 872; Reiß, MwStR 2017, 407 (412); Lipp­ ross, DStR 2017, 1297 (1301). 33 BFH v. 31.8.2016 – VI R 14/16, BFH/NV 2017, 273; v. 19.1.2017 – VI R 37/15, BStBl. II 2017, 526. 34 BFH v. 20.7.2006 – VI R 94/01, BStBl. II 2007, 121; nachgehend: BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672.

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gen zu § 35a EStG35 und die Entfernungspauschale36 genannt. Damit wird der Einzelfallgerechtigkeit sehr starkes Gewicht verliehen, Pauschalierungen durch Gesetzgebung und Verwaltung zum Zwecke der Vereinfachung wird häufig die Grundlage entzogen. Die genannten Rechtsprechungsbeispiele drängen dem Beobachter aus der Verwaltung (der freilich ein Stück weit parteiisch ist) die Frage auf, ob es sich hier denn nicht um Rechtsfortbildung ohne Not, zum Teil jenseits des Wortlauts, handelt. Es gibt aber auch andere Beispiele. Zwar hat das Urteil des achten Senats zu den Abschlagszahlungen nach HOAI für eine gewisse Verunsicherung gesorgt37, doch ist andererseits die klare Haltung zum Werbungskostenabzugsverbot gem. § 20 Abs. 9 EStG im Rahmen der Einkünfte aus Kapitalvermögen durchaus „fiskalfreundlich“38. Bei anderen Senaten wäre diese Frage möglicherweise anders entschieden worden. Wie gezeigt darf, kann und will die Verwaltung nicht stets mit einer Zurückweisung der höchstrichterlichen Rechtsprechung reagieren. Wie gezeigt unterliegt die Möglichkeit, BFH-Entscheidungen nicht zu veröffentlichen, verfassungsrechtlichen Grenzen. Eine übermäßige und grundlose Verweigerungshaltung würde auch das gute Klima zwischen Rechtsprechung und Verwaltung (zer)stören, im Übrigen wäre es sinnlos. Eine Dauerkonfrontation ist deswegen sinnlos, weil der BFH, kann die Verwaltung dessen rechtliche Überzeugung nicht erschüttern, bei seiner Rechtsprechung bleiben wird. Eine dauerhafte Verweigerungshaltung der Verwaltung durch sich stetig wiederholende Nichtanwendungserlasse wäre willkürlich und deshalb verfassungswidrig. Am „Ende des Spiels“ hat die Verwaltung deswegen folgende Alternative: Hinnahme der Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs oder Anregung einer Änderung des Rechts!? 3. Zulässige Anregungen der Verwaltung an den Gesetzgeber Es gehört zu den Grundaufgaben der Ministerialverwaltung, dem Gesetzgeber Anregungen zur Änderung von Recht und Gesetz zu übermitteln39. Bei allem Verständ-

35 BFH v. 20.3.2014 – VI R 55/12, BStBl. II 2014, 880 (Winterdienst auf öffentlichen Gehwegen) und VI R 56/12, BStBl. II 2014, 882 (Hausanschluss); 3.9.2015 – VI R 13/15, BStBl. II 2016, 47 (Versorgung und Betreuung eines Haustiers) und VI R 18/14, BStBl. II 2016, 272 (Notrufsystem in einer Seniorenresidenz). 36 BFH v. 11.5.2005 – VI R 70/03, BStBl. II 2005, 782, und VI R 25/04, BStBl. II 2005, 791; v. 8.8.2013 – VI R 27/12, BFH/NV 2014, 308, und VI R 72/12, BStBl. II 2014, 68; v. 24.9.2013 – VI R 51/12, BStBl. II 2014, 342. 37 BFH v. 14.5.2014 – VIII R 25/11, BStBl. II 2014, 968. 38 BFH v. 1.7.2014 – VIII R 53/12, BStBl. II 2014, 972; v. 2.12.2014 – VIII R 34/13, BStBl. II 2015, 387; v. 28.1.2015  – VIII R 13/13, BStBl.  II 2015, 393; v. 9.6.2015  – VIII R 12/14, BStBl. II 2016, 199; v. 30.11.2016 – VIII R 11/14, BStBl. II 2017, 443. 39 Vgl. Pezzer, DStR 2004, 525 (526 – „Ratgeber“); Kessler/Eicke, DStR 2006, 1913 (1914 – Finanzverwaltung als „Ghostwriter“); Spindler, DStR 2007, 1061 (1062 – „Initiativrecht der Exekutive“); Lang, StuW 1992, 14 (15 und 18 – „Einfluss der Finanzverwaltung“).

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nis über den hierdurch erzeugten Verdruss40 ist es nicht nur zulässig, sondern die Aufgabe der Verwaltung, entsprechende Überlegungen vorzutragen. Die „Veränderungsbefugnis“ der Gerichte findet in der Möglichkeit der Auslegung des Gesetzes ihre instrumentelle Grenze, Gesetzgeber ist die dritte Gewalt gerade nicht. Der Gesetzgeber darf hingegen gestalten, d.h. er darf durch Neufassung des Steuergesetzes die Wirkung des Steuerrechts kreieren, die die Rechtsprechung dem Steuergesetz de lege lata nicht zubilligt. Die Bezeichnung eines entsprechenden Vorgangs mit dem polemischen Ausdruck „Nichtanwendungsgesetz“ ist in der Sache unzutreffend. Gegenstand einer Gesetzesänderung ist nämlich, wie der  Name schon sagt, nie eine ­Gerichtsentscheidung, sondern das dieser (Auslegungs-)Entscheidung zugrunde liegende Gesetz41. Schlicht unseriös ist der Vorwurf an die Verwaltung, sie sei der eigentliche Steuergesetzgeber42. Der Vorwurf übersieht geflissentlich, wie intensiv sich Bundestag und Bundesrat sowie ihre Ausschüsse mit der Neufassung von Steuergesetzen befassen. Er negiert auch die grundsätzliche Befugnis der Bundesregierung gem. Art. 80 ff. GG zur Gesetzesinitiative in Steuerfragen. Wie aber soll denn eine Bundesregierung initiativ werden ohne konstruktive Ideen aus der Ministerialverwaltung? Im Übrigen ist der Bundesfinanzhof durchaus auch ehrgeizig, Gesetzesveränderungen zu bewirken. Wie anders ist seine Vorlagepraxis an das Bundesverfassungs­gericht und an den europäischen Gerichtshof43 zu erklären? Verstöße gegen das Grundgesetz bzw. gegen die Grundfreiheiten führen nämlich unter Umständen sogar automatisch zur völligen Änderung bzw. sogar Beseitigung der entsprechenden Rechtsregeln. 4. Drei Aspekte bei der Anwendungsfrage: Ausstrahlung auf ähnliche ­Sachverhalte, Gesetzesänderung schwer erreichbar, Ausstrahlung auf ­andere Sachverhalte Im Folgenden soll drei Aspekten eine vertiefte Betrachtung gewidmet werden. Naturgemäß beschäftigt sich die Rechtsprechung mit einer Rechtsfrage, weil es um die Beurteilung eines Einzelsachverhalts geht, während die Verwaltung dieselbe Rechtsfrage vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Fällen sieht. Die Verwaltung ist damit unmittelbarer mit der Frage nach der Beurteilung ähnlich gelagerter Fälle konfrontiert. Damit kann – erster Aspekt – die Übertragung eines Judiz auf die Bandbreite verschiedenartiger Fallgestaltungen zuweilen schwierig sein. Zögerliche Adaption einer Entscheidung hat damit seine Ursache weniger in der Ablehnung der konkreten Entscheidung als in der als Folge aufgeworfenen Abgrenzungsfrage über den entschiedenen Fall hinaus. Und es kann – zweiter Aspekt – die allgemeine Anwendung zögerlich erfolgen, weil die Rechtsprechung sich auf dem Boden des Gesetzes zu einer bestimmten Haltung veranlasst sieht, eine Gesetzesänderung aber nur schwerlich erreichbar ist. Schließlich ist die Entscheidung zur allgemeinen Anwendung einer BFH-Entscheidung – dritter Aspekt – auch von der Überlegung getragen, ob es in40 Vgl. Völker/Ardizzoni, NJW 2004, 2413. 41 Pezzer, DStR 2004, 525 (526); Lange, NJW 2002, 3657. 42 Siehe Fn. 39 unter Verwendung anderer Begrifflichkeiten. 43 Pezzer, DStR 2004, 525.

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folge des Judikats zu Ausstrahlungen auf andere Sachverhalte kommen kann, die es zu bedenken gibt. a) Erster Aspekt: Ausstrahlung auf (alle) ähnlichen Sachverhalte Der erste der drei Aspekte kann verdeutlicht werden an der Rechtsprechung zur Abzugsfähigkeit der Aufwendungen für eine Ausbildung als vorweggenommene Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten. Durch §  9 Abs.  6 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie  –  BeitrRLUmsG vom 7.12.201144 war klargestellt worden, dass Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten sind, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet. Entsprechendes regelt § 4 Abs. 9 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG für Betriebsausgaben. Nach § 52 Abs. 23d Satz 5 sowie § 52 Abs. 12 Satz 11 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG sind § 9 Abs. 6 sowie § 4 Abs. 9 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG für Veranlagungszeiträume ab 2004 anzuwenden. Diese Klarstellung war erforderlich geworden, nachdem der BFH in seinen Entscheidungen vom 28.7.2011 (VI R 38/10; VI R 7/10)45 die Abzugsfähigkeit gewährt und bemängelt hatte, dass bei der Einführung der Regelungen des § 12 Nr. 5 EStG sowie des § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG der Wille des Gesetzgebers, die Kosten der Erstausbildung oder des Erststudiums vom Abzug als Werbungskosten oder Betriebsausgaben auszuschließen, nicht eindeutig genug zum Ausdruck gekommen sei. Diese beiden Regelungen waren im Jahr 2004 mit dem Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und weiterer Gesetze vom 21.7.200446 eingefügt worden. Mit seinem Urteil vom 28.2.2013 – VI R 6/12 gewährte der BFH den Werbungskostenabzug für die Ausbildung der Klägerin zur Verkehrsflugzeugführerin, da es sich bei dieser Ausbildung nicht um eine erstmalige Berufsausbildung i.S.d. §§ 9 Abs. 6, 12 Nr. 5 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG handele. Denn mit ihrer Ausbildung zur Flugbegleiterin habe die Klägerin bereits eine Berufsausbildung i.S.d. §§ 9 Abs. 6, 12 Nr. 5 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG absolviert. Berufsausbildung sei – so der BFH – die Ausbildung zu einem künftigen Beruf. In Berufsausbildung befinde sich, wer sein Berufsziel noch nicht erreicht habe, sich aber ernstlich darauf vorbereite. Der Vorbereitung auf ein Berufsziel dienten alle Maßnahmen, bei denen es sich um den Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und Er­ fahrungen handele, die als Grundlage für die Ausübung des angestrebten Berufs ­geeignet seien. Gegenbegriff zur Berufsausbildung sei die Allgemeinbildung, die keine notwendige Voraussetzung für eine geplante Berufsausübung darstelle. Deshalb liege eine Berufsausbildung im Sinne des Steuerrechts nicht nur vor, wenn der Steu44 BGBl. I 2011, 2592. 45 BStBl. II 2012, 561, BFHE 234, 279 und BStBl. II 2012, 557, BFHE 234, 271. 46 BGBl. I 2004, 1753.

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erpflichtige im dualen System oder innerbetrieblich Berufsbildungsmaßnahmen durchlaufe. Es sei auch kein Berufsausbildungsverhältnis nach dem Berufsbildungsgesetz oder eine Ausbildungsdauer von mindestens zwei Jahren erforderlich. Maßgeblich sei vielmehr, ob die Ausbildung den Steuerpflichtigen befähige, aus der angestrebten Tätigkeit Einkünfte zu erzielen. Diesen Anforderungen genüge die Ausbildung zur Flugbegleiterin. Der Beruf des Flugbegleiters könne regelmäßig als Vollerwerbstätigkeit ausgeübt werden und befähige zur Erzielung von Einkünften. Die Ausbildung der Klägerin sei planmäßig ausgestaltet, an dem Ausbildungsziel des Flugbegleiters und der dazu erforderlichen Qualifikation ausgerichtet gewesen und habe sogar mit einer firmeninternen Prüfung abgeschlossen. In der Entscheidung bezieht sich der BFH ausdrücklich auf seine Entscheidung vom 27.10.2011  – VI R 52/10. Gegenstand dieser Entscheidung war ebenfalls der Werbungskostenabzug für den Aufwand für die Ausbildung zum Verkehrsflugzeugführer, allerdings hatte der Kläger seinerzeit eine Vorbildung als Rettungssanitäter. Während die Heranbildung zum Rettungssanitäter noch einer landesrechtlichen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung folgte, war die Befähigung zur Flugbegleiterin ausschließlich betriebsintern organisiert. Mit dem Verzicht auf jegliches formale Kriterium eines Berufsausbildungsverhältnisses nach dem Berufsbildungsgesetz, einer bestimmten Ausbildungsdauer oder einer formale Abschlussprüfung war die Abgrenzung zwischen Erst- und Zweitausbildung stark erschwert worden. Zum einen standen Ergebnisse zu befürchten, deren Akzeptanz problematisch erschien: Die Aneignung der Befähigung zum Taxifahren und zur Erteilung von Ski- bzw. Tennisunterricht könnte zur Annahme einer Erstausbildung zum Taxifahrer, Ski- oder Tennislehrer führen und die Abzugsfähigkeit des Aufwands für ein späteres Erststudium eröffnen. Zum anderen drohte die Rechtssicherheit zu leiden. Steuerpflichtige und Verwaltung konnten nicht auf Kriterien zurückgreifen, die in der Breite der praktischen Fälle eine belastbare Beurteilung der Frage der Abzugsfähigkeit erlaubten. Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber mit Einfügung von § 6 Abs. 6 EStG die erstmalige Berufsausbildung legal definiert47. Die Behandlung der Ausbildungskosten verdeutlicht im Übrigen auch ein anderes Spannungsfeld zwischen höchstrichterlicher Rechtsprechung und Verwaltung. Die genannte Legaldefinition des § 9 Abs. 6 EStG umfasst fünf Sätze und trotz oder auch wegen dieses Formulierungsaufwands muss damit gerechnet werden, dass es Fallgestaltungen gibt, in denen sie zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt. Im Kern liegt dies darin, dass die abstrakt-generelle Sprache des Gesetzes in ihrer Verknappung niemals die Geschmeidigkeit und Entwicklungsfähigkeit einer ausdifferenzierten Rechtsprechung haben kann. So wäre es m.E, durchaus denkbar gewesen, die Definition der erstmaligen Ausbildung der Rechtsprechung zu überlassen. Eine 47 Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 22.12.2014, BGBl. I 2014, 2417.

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Abfolge aufeinander aufbauender Entscheidungen hätte die entsprechenden Linien hierfür herausgearbeitet. Dieser Weg war in der hier interessierenden Frage aber wohl versperrt. Denn wie dargestellt, war der BFH in seinen Entscheidungen vom 28.7.2011 (VI R 38/10; VI R 7/10) davon ausgegangen, dass die mit dem Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und weiterer Gesetze vom 21.7.200448 eingefügten Regelungen des § 12 Nr. 5 EStG sowie des § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG den Ausschluss der Kosten der Erstausbildung oder des Erststudiums vom Abzug als Werbungskosten oder Betriebsausgaben nicht eindeutig genug zum Ausdruck gebracht hätten. Noch vor der gesetzgeberischen Nachbesserung durch das Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie – BeitrRLUmsG vom 7.12.201149 hatte der BFH in seiner Entscheidung vom 27.10.2011 – VI R 52/10 die Abzugsfähigkeit der Berufsausbildungskosten auch damit begründet, dass der steuerrechtliche Begriff der Berufsausbildung vom Gesetz nicht näher beschrieben werde (vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 7, § 12 Nr. 5, § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG). Mit der Entscheidung vom 28.2.2013 – VI R 6/12 stellte der BFH dann ausdrücklich fest, dass er auch nach der gesetzlichen Ergänzung durch das BeitrRLUmsG an dem seinerzeit beschriebenen steuerrechtlichen Begriff der Berufsausbildung festhalte. Man darf durchaus annehmen, dass zu diesem Zeitpunkt auch eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre, nämlich diejenige, die gesetzliche Konkretisierung aufzugreifen und durch Rechtsprechung auszugestalten. b) Zweiter Aspekt: Gesetzesänderung schwer erreichbar Für den zweiten Aspekt darf auf das BFH-Urteil vom 15.12.2016 – VI R 53/12 verwiesen werden. Danach kann bei einem häuslichen Arbeitszimmer, das von mehreren Steuerpflichtigen gemeinsam genutzt wird (im Urteilsfall von Ehegatten), der jeweilige Höchstbetrag von 1.250 EUR für den Abzug der Aufwendungen von jedem Steuerpflichtigen in Anspruch genommen werden, sofern die Voraussetzungen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 2 EStG in seiner Person vorliegen50. Ausgangspunkt für diese Auslegung ist dabei der Wortlaut. Der BFH stützt sich darauf, dass die Verwendung des Wortes „ein“ in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 1 EStG „nicht als Zahlwort, sondern als unbestimmter Artikel zu verstehen“ sei. Sieht sich der BFH wie in diesem Fall nach dem Gesetzeswortlaut zu einer bestimmten Auslegung veranlasst, kann eine Entscheidung, das Urteil nicht allgemein anzuwenden, nur vor dem Hintergrund getroffen werden, dass eine Änderung des Ge­ setzeswortlauts angestrebt wird. Denn aus Sicht der Rechtsprechung fußt eine Entscheidung auf dem maßgeblichen Wortlaut, sodass mit einer Veränderung des Wortlauts eine andere Entscheidung möglich wird. Im vorliegenden Fall fragt es sich 48 BGBl. I 2004, 1753. 49 BGBl. I 2011, 2592. 50 BFH/NV 2017, 527; BB 2017, 469; DB 2017, 11 und 401; DStR 2017, 439; DStRE 2017, 377.

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allerdings, wie der Gesetzestext hätte lauten können, um die vom BFH gefundene Auslegung nicht zuzulassen, zumal diese Entscheidung eine Änderung der Rechtsprechung darstellte, d.h. auch die Rechtsprechung den bisherigen Wortlaut anders verstand. Die Unterscheidung zwischen unbestimmtem Artikel und Zahlwort hilft hier nicht weiter. Es bedürfte also einer in der abstrakt-generellen Sprache des Gesetzes durchaus aufwändigen Ergänzung, um dieses Ziel zu erreichen. Der Gesetzgeber könnte durchaus zu der Auffassung gelangen, dass das Judiz vom 15.12.2016 – VI R 53/12 zu einem Wertungswiderspruch mit der Sachverhaltskonstellation führt, in der die Steuerpflichtigen jeweils ein häusliches Arbeitszimmer nutzen. Sie haben im Vergleich zum entschiedenen Fall den vervielfachten Aufwand. Der größtmögliche steuermindernde Abzug ist jedoch nur in derselben Höhe möglich, nämlich für jeden der Steuerpflichtigen in Höhe von 1.250 EUR. Ehegatten, die gemeinsam ein häusliches Arbeitszimmer nutzen, können ihren Aufwand somit weitergehend absetzen als Ehegatten, denen Aufwand für zwei Arbeitszimmer entsteht, die sie jeweils nutzen. Die Frage der allgemeinen Anwendung dieser Entscheidung ist damit zugleich die Entscheidung über die Frage, ob es gelingen kann, mit vertretbarem Formulierungsaufwand die Regelung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 1 EStG anzupassen. Es wäre wohl jedenfalls ein zusätzlicher ergänzender Satz erforderlich, der eigens die Situation des singulären, häuslichen Arbeitszimmers regelt, das von mehr als einem Steuerpflichtigen als solches genutzt wird. Dem Autor sei die Einschätzung erlaubt, dass schöne Gesetzesformulierungen wohl anders aussehen. c) Dritter Aspekt: Ausstrahlung auf andere Sachverhalte Für den dritten Aspekt mag auf die Rechtsprechung zur Frage des Verhältnisses von § 6 Abs. 3 EStG zu zeitnah zuvor erfolgten Übertragungen von Einzelwirtschaftsgütern aus dem später übertragenen Betriebsvermögen verwiesen werden. Mit der Entscheidung vom 2.8.2012  – IV R 41/1151 und ihr folgend mit derjenigen vom 12.5.2016 – IV R 12/1552 hat der BFH einen Vorrang von § 6 Abs. 3 EStG gegenüber § 6 Abs. 5 EStG verneint. Es handle sich vielmehr um zwei gleichberechtigt nebeneinander anwendbare Buchwertübertragungstatbestände. Mit der Entscheidung vom 9.12.2014 – IV R 29/1453 beurteilt der BFH auch die unmittelbar zeitlich vorangegangene Übertragung des Einzelwirtschaftsguts zu fremdüblichen Bedingungen als unschädlich für die sich anschließende Betriebsübertragung gem. § 6 Abs. 3 EStG. Aus der Sicht der Verwaltung ist es zwingend, dass diese Rechtsgrundsätze zu §  6 Abs. 3 EStG auf diejenigen der Einbringungstatbestände des §§ 20, 24 UmwStG zu übertragen sind. Denn das tragende Argument der Judikatur zu § 6 Abs. 3 EStG – die Sicherstellung der Besteuerung der stillen Reserven – ist in den Fällen der Einbringung – wie seit dem Gesetz zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen 51 BFHE 238, 135; BB 2012, 2811; DB 2012, 6 und 2375; DStR 2012, 2118; DStRE 2012, 1414. 52 BFHE 253, 556; BB 2016, 1705 und 1775; DB 2016, 6 und 1540; DStR 2016, 1518; DStRE 2016, 886. 53 BFHE 247, 449; BB 2015, 368; DB 2015, 6 und 222; DStR 2015, 211; DStRE 2015, 249.

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(BEPS Umsetzungsgesetz 1 vom 20.12.201654) nun auch in §  6 Abs.  3 EStG  – ausdrückliches Tatbestandsmerkmal. § 6 Abs. 3 EStG ist nach Auffassung der Rechtsprechung nicht lediglich eine Regelung der Generationennachfolge, sondern (auch) der Umstrukturierung. Die Regelung ist damit mit der Umstrukturierungsnorm des § 6 Abs. 5 EStG auf einer Ebene zu sehen. Dies aber muss dann auch für die Umstrukturierungsnormen des §§ 20, 24 UmwStG gelten. Klar ist, dass im Verhältnis gleichberechtigter Umstrukturierungsregelungen Gesamtplanüberlegungen keinen Platz haben. Hier aber gilt es andererseits zu beachten, dass die Entscheidung vom 9.11.2011 – X R 60/0955 den Gesamtplan nicht völlig ausschloss. Bei der Entscheidung handelt es sich um eine Parallelentscheidung zu derjenigen vom 9.12.2014 – IV R 29/14. Mit ihr wurde es für die Einbringung gem. § 24 UmwStG unschädlich angesehen, dass zeitnah zuvor eine wesentliche Betriebsgrundlage fremdüblich veräußert wurde. Dabei wurde die Überlegung des schädlichen Gesamtplans durchaus für grundsätzlich möglich gehalten, für den Urteilssachverhalt aber verneint. Es ist nicht auszuschließen, dass eines Tages die Rechtsprechung zu § 6 Abs. 3 EStG im Zusammenhang mit § 20, 24 UmwStG Folgerungen zeitigt, für die der Gesamtplangedanke wünschenswert erscheint. Dann stehen die Judikate vom 2.8.2012 – IV R 41/11, vom 12.5.2016 – IV R 12/15 und vom 9.12.2014 – IV R 29/14 als ausschlaggebendes Moment in der Verantwortung. Ein Hinweis auf die Entscheidung vom 9.11.2011 – X R 60/09 hilft dann nicht. 5. Weitreichende Auswirkungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung – die Bauträgerfälle, ein Drama in mindestens neun Akten Die vorangegangenen Ausführungen verdeutlichen die oftmals weitreichenden Auswirkungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung und die damit verbundenen Schwierigkeiten der Anwendung der Entscheidung über den Einzelfall hinaus. Es wäre wünschenswert, wenn sich nicht erst die Verwaltung im Hinblick auf eine Veröffentlichung der Entscheidung im Bundessteuerblatt Teil II mit den Auswirkungen der Entscheidung auf die Praxis befassen würde. Vielmehr sollte bereits eine Berücksichtigung durch den BFH selbst vor Erlass einer Entscheidung erfolgen, die möglicherweise nicht zwingend in die vom BFH gewählte Richtung hätte ausfallen müssen. Dies soll beispielhaft an den mit der Rechtsprechung des BFH zu den Bauträgerfällen verbundenen fatalen Folgen – wie bereits erwähnt: Milliarden-Risiken für den Fiskus und eine völlige Verwirrung bei allen Beteiligten – aufgezeigt werden.

54 BGBl. I 2016, 3000. 55 BStBl. II 2012, 638; BFHE 236, 29.

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a) Erster Akt In einem Verfahren vor dem BFH56 war streitig, ob die Klägerin für Bauleistungen, die eine Generalunternehmerin an sie erbrachte hatte, im Streitjahr 2005 Steuerschuldnerin gemäß § 13b UStG a.F. (Umkehr der Steuerschuldnerschaft bei Bauleistungen) geworden ist. Die Generalunternehmerin erteilte eine Schlussrechnung ohne Umsatzsteuerausweis, in der sie auf die Steuerschuldnerschaft der Klägerin nach § 13b UStG a.F. hinwies. Die Klägerin versteuerte zunächst die von ihr im Streitjahr 2005 bezogene Leistung als Steuerschuldnerin. In ihrer Jahreserklärung 2005 erklärte sie diese Umsatzsteuerbeträge jedoch nicht mehr mit der Begründung, keine nachhaltigen Bauleistungen erbracht zu haben. Sie schulde die Umsatzsteuer daher nicht. Der BFH hatte Zweifel, ob § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und Abs. 2 Satz 2 UStG a.F. mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Mit Vorlagebeschluss vom 30.6.201157 legte der BFH dem EuGH daher entsprechende Rechtsfragen vor. Zum einen wollte er wissen, ob Art. 2 Nr. 1 der Entscheidung 2004/290/EG dahin auszulegen ist, dass der Begriff der „Bauleistungen“ in dieser Bestimmung neben den als Dienstleistungen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG eingestuften Umsätzen auch die Umsätze umfasst, die in der Lieferung eines Gegenstands im Sinne von Art.  5 Abs. 1 dieser Richtlinie bestehen. Falls nicht, wäre die Umkehr der Steuerschuldnerschaft nach § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und Abs. 2 Satz 2 UStG a.F. (Werklieferungen betreffend) unionsrechtswidrig. Sofern sich die Ermächtigung zur Bestimmung des Leistungsempfängers als Steuerschuldner auch auf Lieferungen erstreckt, warf er des Weiteren die Frage auf, ob die Bundesrepublik Deutschland nicht verpflichtet wäre, diese Bestimmung für sämtliche solche Lieferungen betreffenden Umsätze, z.B. auch für die Lieferung von Baumaterial und nicht nur für Werklieferungen, anzuwenden. b) Zweiter Akt Der EuGH58 bejahte grundsätzlich die Vereinbarkeit des § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und Abs. 2 Satz 2 UStG a.F. mit dem Unionsrecht. Der Begriff der „Bauleistungen“ in der o.g. Ermächtigung umfasse neben den Dienstleistungen auch Umsätze, die in der Lieferung von Gegenständen bestehen. Ferner sei die Bundesrepublik Deutschland berechtigt, die ihr mit dieser Entscheidung erteilte Ermächtigung nur teilweise für bestimmte Untergruppen wie einzelne Arten von Bauleistungen und für Leistungen an bestimmte Leistungsempfänger auszuüben. Bei der Bildung der Untergruppen habe der Mitgliedstaat jedoch den Grundsatz der steuerlichen Neutralität sowie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, wie insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit, zu beachten. Bezüglich des Grundsatzes der Rechtssicherheit sei insbesondere zu berücksichtigen, dass Rechtsakte eindeutig und ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar sein müssen. Schluss56 BFH v. 22.8.2013 – V R 37/10, BStBl. II 2014, 128. 57 V R 37/10, BStBl. II 2011, 842. 58 EuGH v. 13.12.2012 – C-395/11, DB 2012, 2911.

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endlich sei es Sache des BFH zu prüfen, ob unter Berücksichtigung aller maßgeblichen und tatsächlichen Umstände im Ausgangsverfahren diese Grundsätze gewahrt sind. c) Dritter Akt Obwohl die Ausführungen des EuGH es zuließen, von einer Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit den Vorschriften des Unionsrechts auszugehen, hat der BFH mit Urteil vom 22.8.201359 vollkommen unerwartet den Anwendungsbereich der Vorschrift des §  13b UStG a.F. erheblich eingeschränkt und die dazu ergangenen An­ wendungsvorschriften der Finanzverwaltung60 in wesentlichen Punkten ausdrücklich verworfen. Nach der früheren Verwaltungsauffassung61 waren Unternehmer, die eigene Grundstücke zum Zweck des Verkaufs bebauen (z.B. Bauträger), Steuerschuldner für die von anderen Unternehmern an sie erbrachten Bauleistungen, wenn sie selbst nachhaltig Bauleistungen erbracht haben. Das Merkmal der Nachhaltigkeit war erfüllt, wenn die Bemessungsgrundlage der vom Leistungsempfänger getätigten Bauleistungen mehr als 10 Prozent der Summe seiner steuerbaren und nicht steuerbaren Umsätze (Weltumsatz) betrug62. Der BFH63 entschied hingegen, dass der Leistungsempfänger von Bauleistungen nur dann Steuerschuldner für die an ihn erbrachte Leistung ist, wenn er diese Leistung seinerseits zur Erbringung einer Bauleistung verwendet. Auf den Anteil der vom Leistungsempfänger ausgeführten Bauleistungen am Gesamtumsatz kommt es dabei nicht an. Zur Begründung führte der BFH aus, dass im Hinblick auf das sich aus dem Unionsrecht ergebende Erfordernis der Rechtssicherheit § 13b Abs. 2 Satz 2 UStG a.F. teleologisch einschränkend auszulegen sei. Unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH müssten Rechtsakte eindeutig und ihre Anwendung für den Betroffenen vorhersehbar sein. Nach den Kriterien der Finanzverwaltung sei es für den Leistenden nicht möglich, zuverlässig zu beurteilen, ob er oder der Leistungsempfänger Steuerschuldner für die erbrachte Leistung ist. Der mit §  13b Abs.  2 Satz  2 UStG a.F. ­verfolgte Zweck der Bekämpfung von Steuerausfällen im Baugewerbe vermöge im Hinblick auf die vorrangig zu beachtende rechtssichere Abgrenzung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung nicht zu rechtfertigen. Wie der BFH zutreffend darstellt, kann dem Wortlaut des § 13b UStG a.F. nicht entnommen werden, dass der Leistungsempfänger nachhaltig Bauleistungen erbringen muss. Jedoch findet sich auch für die Auslegung des BFH – der Leistungsempfänger 59 A.a.O. 60 Abschn. 182a Abs. 10, Abs. 11 und Abs. 17 UStR, Abschn. 13b.3 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 8 UStAE. 61 A.a.O. 62 BMF v. 31.7.2014, BStBl. I 2014, 1073. 63 BFH v. 22.8.2013 (Fn. 56).

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von Bauleistungen müsse diese Leistung seinerseits zur Erbringung einer Bauleistung verwenden – keine Stütze im Wortlaut64. Die vom EuGH geforderte Rechtssicherheit konnte mit der Entscheidung nicht herbeigeführt werden. Vielmehr wurden die in der Praxis handhabbaren Kriterien der Finanzverwaltung zu Gunsten einer für den leistenden Unternehmer kaum zu überblickenden Auslegung abgelöst. Weder der leistende Unternehmer noch die Finanzverwaltung konnten nachvollziehen, ob der Leistungsempfänger die an ihn erbrachte Bauleistung wiederum für eigene Bauleistungszwecke einsetzt65. Auch der Gesetzgeber beabsichtigte keine entsprechende Ausweitung des Anwendungsbereichs mit den aufgrund möglicher Fehleinschätzungen verbundenen Risiken fehlerhafter Rechnungen und unberechtigten Vorsteuerabzugs66. Aufgrund der Rechtsprechung drohten Steuerausfälle in Milliardenhöhe. Es bestand die Gefahr, dass der Fiskus weder den leistenden Unternehmer noch den Leistungsempfänger als Steuerschuldner in Anspruch nehmen konnte. Einerseits konnte der Leistungsempfänger, wenn er nach den Grundsätzen dieser Entscheidung nicht Steuerschuldner ist, die Erstattung der gezahlten Umsatzsteuer verlangen. Andererseits bestand die Möglichkeit, dass sich der leistende Unternehmer gegen die nachträgliche Festsetzung der Umsatzsteuer aufgrund der früheren Verwaltungsauffassung auf Vertrauensschutz beruft67. Ferner bestand für den Fiskus auch unabhängig von einer Berufung auf Vertrauensschutz das Risiko, dass eine Inanspruchnahme des leistenden Unternehmers beispielsweise an dessen zwischenzeitlicher Insolvenz scheitert. Das mit der Einführung der Umkehr der Steuerschuldnerschaft für Bauleistungen verfolgte Ziel des Gesetzgebers, Steuerausfälle zu vermeiden, konnte folglich aufgrund der o.g. Rechtsprechung nicht erreicht werden68. d) Vierter Akt Mit seiner Entscheidung vom 11.12.201369 schließt sich der XI. Senat des BFH zwar den Ausführungen des V.  Senats  – einen gleichgelagerten Fall betreffend  – an. Es bleibt jedoch zweifelhaft, ob er von der Richtigkeit der Entscheidung des V. Senats überzeugt ist, zumal seine Entscheidung, ausweislich seiner Ausführungen in Rz. 32 des Urteils, lediglich im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung erfolgt.

64 Kurz, Ubg 2014, 372. 65 Vgl. auch Lefahrt (Sachverständiger vom Zentralverband des Deutschen Handwerks e. V.) in Deutscher Bundestag, Finanzausschuss, Protokoll-Nr. 18/12, 10. 66 BT-Drucks. 18/1995, 113. 67 Grube, jurisPR-SteuerR 24/2017 Anm. 5 S. 6. 68 Sterzinger, UR 2014, 280. 69 BFH v. 11.12.2013 – XI R 21/11, BStBl. II 2014, 425.

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e) Fünfter Akt Die Finanzverwaltung hat daraufhin mit BMF-Schreiben vom 5.2.201470 und vom 8.5.201471 zum einen den Umsatzsteueranwendungserlass entsprechend den Vorgaben des BFH-Urteils angepasst sowie Vereinfachungsregelungen geschaffen, um drohende Steuerausfälle zu vermeiden und die Handhabung in der Praxis sowohl für die Steuerpflichtigen als auch die Finanzämter zu erleichtern. Das Urteil ist danach grundsätzlich in vollem Umfang für nach dem 14.2.2014 ausgeführte Umsätze anzuwenden. Der leistende Unternehmer und der Leistungsempfänger können jedoch für die Vergangenheit an der früheren Verwaltungsauffassung einvernehmlich festhalten und somit uneingeschränkte Rechtssicherheit und Vertrauensschutz erlangen (Nichtbeanstandungsregelung). f) Sechster Akt Ebenso reagierte der Gesetzgeber und verankerte mit dem Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 25.7.201472 die im BMF-Schreiben festgelegte Nichtbeanstandungsregelung in §  13b Abs.  5 Satz  7 UStG. Ferner fasste er §  13b Abs.  5 Satz 2 UStG neu, um die negativen Folgen der BFH-Rechtsprechung in der zukünftigen Praxis zu vermeiden und die bewährten bisherigen Kriterien der Finanzverwaltung zu erhalten. Bereits der Gesetzeswortlaut stellt nun darauf ab, dass der Leistungsempfänger nur dann Steuerschuldner für eine an ihn erbrachte Bauleistung ist, wenn er selbst nachhaltig Bauleistungen ausführt. Die Auslegung des BFH in seinem Urteil vom 22.8.201373 ist damit obsolet geworden. Des Weiteren traf der Gesetzgeber zur Vermeidung von Steuerausfällen mit §  27 Abs. 19 UStG für alle Fälle eine Regelung, in denen der Leistungsempfänger von der Nichtbeanstandungsregelung keinen Gebrauch macht. Die gesetzlich entstandene Umsatzsteuer ist danach gegen den leistenden Unternehmer festzusetzen. Der leistende Unternehmer kann sich insoweit nicht auf § 176 AO berufen. Für den leistenden Unternehmer besteht jedoch aus Vertrauensschutzgründen die Möglichkeit zu beantragen, die Steuerschuld durch Abtretung seiner Forderung gegen den Leistungsempfänger auf Zahlung der gesetzlich entstandenen Umsatzsteuer zu erfüllen74. Erläuternde Ausführungen zu dieser Regelung fanden im BMF-Schreiben vom 31.7.201475 Niederschlag. Die Regelung schränkt damit den Vertrauensschutz zu Lasten des leistenden Unternehmers für alle noch offenen Veranlagungszeiträume ein, was unmittelbar nach Erlass des Gesetzes neue Gerichtsverfahren nach sich zog. Mit Beschluss vom ­ 70 BStBl. I 2014, 233. 71 BStBl. I 2014, 823. 72 BGBl. I 2014, 1266. 73 A.a.O. 74 BT-Drucks. 18/1995, 111. 75 A.a.O.

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17.12.201576 sowie vom 27.1.201677 entschieden der V. und XI. Senat des BFH übereinstimmend, dass ernsthafte Zweifel bestehen, ob die Regelung des §  27 Abs.  19 Satz 2 UStG den verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben genügt, soweit er den Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO ausschließt. g) Siebter Akt In seinem Beschluss vom 27.1.201678 zieht der V. Senat zur vollständigen Verwirrung von Fachwelt und Finanzverwaltung darüber hinaus in Zweifel, ob der in der Person des leistenden Unternehmers entstandene Steueranspruch in analoger Anwendung des § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 und 2 UStG bereits in den Streitjahren uneinbringlich geworden ist. Die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung des § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG würden zwar nicht vorliegen, da nicht das vereinbarte Entgelt uneinbringlich sei, sondern allenfalls der sich auf die Leistung beziehende Steuerbetrag. Eine entsprechende Anwendung könnte jedoch auf der durch Verwaltungsanweisung verursachten Uneinbringlichkeit des materiell-rechtlich geschuldeten Steuerbetrags beruhen, da der Bauträger und der leistende Unternehmer aufgrund der früheren Verwaltungsanweisung eine Nettoabrede getroffen haben. Bei entsprechender Anwendung von § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 und 2 UStG habe der Antragsteller die an den Leistungsempfänger erbrachten Leistungen erst dann zu versteuern, wenn er den darauf entfallenden Umsatzsteuerbetrag vereinnahmte. Zu erheblichen Steuerausfällen käme es dann nicht. Der Rückforderung der zu Unrecht an das Finanzamt abgeführten Umsatzsteuer durch den Leistungsempfänger könnte eine entsprechend § 17 Abs. 1 Sätze 1 und 2 UStG zeitgleich auch beim Leistungsempfänger vorzunehmende Berichtigung entgegenstehen. Auch insoweit könne im Steuerschuldverhältnis der Grundsatz von Treu und Glauben zu berücksichtigen sein. Die vom Bauträger und Bauunternehmer übereinstimmend entsprechend der damaligen Verwaltungsauffassung angenommene Steuerschuld des Bauträgers entfiele dann entsprechend § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG erst aufgrund einer Zahlung des Steuerbetrags durch den Bauträger (Leistungsempfänger) an den Bauunternehmer (Leistender). Im Fall einer Abtretung könne die Zahlung auch an den Steuergläubiger als Zessionar (Abtretungsempfänger) erfolgen (§ 27 Abs. 19 Sätze 3 und 4 UStG). Mit der analogen Anwendung beabsichtigt der BFH offensichtlich den Schutz des leistenden Unternehmers. Dieser soll in vorgenannten Fällen die Umsatzsteuer nur dann an das Finanzamt abführen müssen, wenn er zuvor den Steuerbetrag vom Leistungsempfänger erhalten hat. Ferner hätte der Leistungsempfänger solange keinen Anspruch auf Rückzahlung der Umsatzsteuer gegen das Finanzamt, bis er den Steuerbetrag an den Leistenden zahlt. Damit entfiele auch der Zinsanspruch des Leistungsempfängers79. 76 BFH v. 17.12.2015 – XI B 84/15, BStBl. II 2016, 192. 77 BFH v. 27.1.2016 – V B 87/15, BFHE 252, 187. 78 A.a.O. 79 Neeser/Filtzinger, UVR 2016, 185.

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Auch mit diesem Beschluss des BFH wird jedoch deutlich, dass sich der BFH nicht weitreichend genug mit den Folgen seiner Entscheidungen befasst. Bezogen auf den Einzelfall wäre das erzielte Ergebnis sicherlich sachgerecht. Die analoge Anwendung des § 17 Abs. 2 Nr. 1 Sätze 1 und 2 UStG wäre jedoch systemwidrig und könnte möglicherweise bei entsprechender Anwendung in anderen Fällen zu hohen Steuerausfällen führen. Bei Auslegung des § 17 UStG entsprechend den o.g. Ausführungen des BFH käme es beim Sollversteuerer nämlich zu einer vollständigen Steuerfreistellung, sofern lediglich die Zahlung der Umsatzsteuer ausbliebe. Dies ist widersinnig, zumal die Korrekturvorschrift des § 17 UStG lediglich dazu dient, die Sollversteuerung an die Istversteuerung anzugleichen, um den Endverbrauch entsprechend des tatsächlich aufgewendeten Entgelts zu besteuern. Eine Freistellung von der Steuer ist demgegenüber vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt80. Welche Berufungsfälle diese neue Auslegung nach sich ziehen würde, ist kaum abschätzbar. h) Achter Akt Mit Urteil vom 23.2.201781 entschied der BFH daraufhin, dass §  27 Abs.  19 UStG grundsätzlich verfassungsgemäß ist und keine unionsrechtlichen Bedenken bestehen. Die Umsatzsteuerfestsetzung kann nach § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG – im Wege der Auslegung – gegenüber dem leistenden Unternehmer jedoch nur dann geändert werden, wenn ihm ein abtretbarer Anspruch auf Zahlung der gesetzlich entstandenen Umsatzsteuer gegen den Leistungsempfänger zusteht. Bedauerlicherweise geht der V. Senat des BFH in dieser Entscheidung nicht auf die in seinem eigenen Beschluss angedeutete mögliche Anwendung des § 17 UStG ein, sondern lässt diese mangels Entscheidungserheblichkeit dahinstehen. Zu Lasten endgültiger Rechtssicherheit in den Bauträgerfällen bleibt damit weiterhin offen82, wie die Rückabwicklung beim Bauträger, insbesondere der Zinsanspruch, zu sehen ist. Vor dem Hintergrund, dass Ausgangspunkt des „Dramas“ um die umsatzsteuerliche Behandlung der „Bauträgerfälle“ eine Entscheidung des BFH ist, die mit der Begründung des sich aus dem Unionsrecht ergebenden Erfordernisses der Rechtssicherheit den Anwendungsbereich des § 13b Abs. 2 Satz 2 UStG teleologisch einschränkend auslegt und eine bestehende Verwaltungsanweisung der Finanzverwaltung als unzulässig verwirft, mutet dieses Verhalten des BFH mehr als seltsam an. i) Neunter Akt Der Finanzverwaltung blieb wieder einmal nur, ein neues BMF-Schreiben zu erlassen83, um die Vorgaben des BFH umzusetzen und der Praxis einen Leitfaden zur Abwicklung der Fälle an die Hand zu geben. Endgültige Rechtssicherheit besteht aufgrund der aufgezeigten Unwägbarkeiten leider aber noch immer nicht. Es bleibt zu 80 Neeser/Filtzinger (Fn. 79). 81 V R 16,24/16, BStBl. II 2017, 760. 82 A.A. Lippross, DStR 2017, 1297. 83 BMF-Schreiben v. 26.7.2017, BStBl. I 2017, 1001.

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hoffen, dass der BFH aus den Erfahrungen mit seiner Rechtsprechung vom 22.8.201384 lernt und die Auswirkungen für Steuerpflichtige und die Finanzverwaltung vor zukünftigen Entscheidungen stärker berücksichtigt, um bei verbleibendem Auslegungsspielraum entsprechend zu agieren. 6. Ein weiteres Beispiel des „Zusammenspiels“: die Hinzurechnungs­ besteuerung Ein Paradebeispiel für das Zusammenwirken oder besser gesagt für die Wechselwirkungen zwischen Exekutive, Judikative und Legislative ist die Frage, ob der Hinzurechnungsbesteuerung unterliegende Einkünfte auch gewerbesteuerlich zu erfassen sind. a) Hintergrund und Urteilssachverhalt Mit der sog. Hinzurechnungsbesteuerung gemäß §§ 7 ff. AStG soll eine Gewinnverlagerung von passiven Einkünften in einen niedrig besteuernden85 ausländischen Staat vermieden werden. Für diesen Zweck werden die Einkünfte einer ausländischen Zwischengesellschaft deren inländischen unbeschränkt steuerpflichtigen Gesellschaftern zugerechnet (sog. Hinzurechnungsbetrag i.S. des § 10 AStG). So war in dem vom BFH zu entscheidenden Streitfall86 eine inländische GmbH im Jahr 2009 alleinige Gesellschafterin einer in Singapur ansässigen Kapitalgesellschaft (A-Ltd.). Die A-Ltd. erzielte Einkünfte aus Zinsen und Währungsdifferenzen, die als passive Tätigkeiten zu qualifizieren waren und in Singapur einer niedrigen Besteuerung unterlagen. Unstreitig waren damit die o.g. Tatbestandsvoraussetzungen der Hinzurechnungsbesteuerung erfüllt und die passiven Einkünfte der A-Ltd. – entgegen dem Trennungsprinzip – bei der inländischen GmbH als sog. Hinzurechnungsbetrag nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AStG anzusetzen. Da die Anteile an der A-Ltd. zum Betriebsvermögen der inländischen GmbH gehörten, war der Hinzurechnungsbetrag aufgrund von § 7 Satz 1 GewStG auch in deren Gewinn aus Gewerbebetrieb enthalten. Die inländische GmbH war der Auffassung, dass der Hinzurechnungsbetrag aus ihrem Gewerbeertrag nach einer Kürzungsvorschrift des § 9 GewStG wieder gekürzt werden dürfe und damit im Ergebnis nicht der Gewerbesteuer unterliege. Nach abweichender Auffassung der Finanzverwaltung unterliegt dieser Hinzurechnungsbetrag hingegen der Gewerbesteuer. b) Das BFH-Urteil vom 11.3.2015 Nach Auffassung des BFH handelt es sich bei dem Hinzurechnungsbetrag nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AStG um einen Teil des Gewerbeertrags eines inländischen Unterneh84 A.a.O. 85 Ertragsteuerbelastung von weniger als 25 %, § 8 Abs. 3 AStG. 86 BFH v. 11.3.2015 – I R 10/14, BStBl. II 2015, 1049.

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mens, der auf eine nicht im Inland belegene Betriebsstätte entfällt. Der Gewinn der inländischen GmbH ist deswegen um den Hinzurechnungsbetrag nach §  9 Nr.  3 Satz 1 GewStG zu kürzen und unterliegt damit nicht der Gewerbesteuer. Entgegen der Verwaltungsauffassung vertritt der BFH dabei die Auffassung, dass die Zwischeneinkünfte durch die Umqualifizierung im AStG beim Gesellschafter als Einkünfte aus einer Auslandsbetriebsstätte i.S. des § 9 Nr. 3 Satz 1 GewStG anzusehen und damit zu kürzen sind. c) Die Reaktion der Finanzverwaltung Die Finanzverwaltung hat zeitnah auf die Entscheidung des BFH reagiert und mit Datum vom 14.12.201587 einen sog. Nichtanwendungserlass herausgegeben. Danach sind die Urteilsgrundsätze über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht anzuwenden. Insoweit hat die Finanzverwaltung ihre die BFH-Auffassung ablehnende Haltung ausführlich begründet. An der vorstehenden Rechtsprechung wurde auch in der Fachliteratur durchaus Kritik geäußert88. In der Tat wird man sagen können, dass der BFH § 9 Nr. 3 Satz 1 GewStG stark überdehnt und zugunsten des Steuerpflichtigen ausgelegt hat und damit den Zweck des Außensteuergesetzes, nämlich solche Steuerumgehungen mittels ausländischer Zwischengesellschaften zu verhindern, konterkariert. Dass diese Auslegung aufgrund des Wortlauts zwingend gewesen wäre, wird wohl niemand behaupten. Weshalb wird dann gegen den Telos des AStG entschieden? Die Finanzverwaltung beabsichtigt, den BFH in einem neuen Musterverfahren anhand eines geeigneten Einzelfalls von der bisherigen Verwaltungsauffassung zu überzeugen89. d) Die Reaktion des Gesetzgebers Die BFH-Entscheidung war zudem Grundlage für eine Änderung des GewStG. So wurde unabhängig von dem o.g. Nichtanwendungserlass mit dem sog. BEPS I-Umsetzungsgesetz90 eine gesetzliche Absicherung der bisherigen Verwaltungsauffassung in § 7 Satz 7 GewStG vorgenommen. Danach sind Hinzurechnungsbeträge i.S. des § 10 Abs. 1 AStG Einkünfte, die in einer inländischen Betriebsstätte anfallen. In der Folge scheidet eine Kürzung nach § 9 Nr. 3 GewStG für den Hinzurechnungsbetrag 87 Gleich lautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder v. 14.12.2015, BStBl. II 2015, 1090. 88 Z.B. Haase in IStR 2015, 966. 89 Zwischenzeitlich sind bundesweit auch bereits mehrere Verfahren bei den Finanzgerichten anhängig. So nennt die OFD Nordrhein-Westfalen in ihrer Kurzinformation v. 26.4.2017, DB 2017, 1118 bspw. das beim FG Münster unter dem Az. 9 K 401/17 G anhängige Klageverfahren, welches als Musterverfahren geführt werden soll. 90 Gesetz zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen v. 20.12.2016, BGBl.  I 2016, 3000.

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aus, da diese Vorschrift eine nicht im Inland belegene Betriebsstätte voraussetzt. Die gesetzliche Neuregelung ist nach § 36 Abs. 1 GewStG erstmals für den Erhebungszeitraum 2016 anzuwenden. Der Gesetzgeber wiederholt in der Gesetzesbegründung91 die bereits im o.g. Nichtanwendungserlass92 enthaltenen Kritikpunkte an der BFH-Entscheidung. Ferner komme der gesetzlichen Regelung lediglich klarstellende Bedeutung zu93. e) Ergebnis Als Reaktion auf die Entscheidung des BFH wurde das GewStG „klarstellend“ geändert. Damit hat der Gesetzgeber die durch den Nichtanwendungserlass vom 14.12.2015 dokumentierte – der BFH-Auffassung widersprechende – Haltung der Finanzverwaltung unterstützt. Hierdurch bestätigt, geht nunmehr die OFD Nordrhein-Westfalen94 davon aus, dass die nunmehr eingefügte Regelung in §  7 Satz  7 GewStG in allen offenen Fällen zu beachten ist. Aufgrund der derzeit bereits anhängigen Finanzgerichtsverfahren wird der BFH in naher Zukunft jedoch erneut Gelegenheit bekommen, sich hierzu zu äußern und damit zur weiteren Rechtsfortbildung beizutragen.

IV. Fazit Die Frage, ob es für das Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung Gesetzmäßigkeiten und Regeln, die stets und immer gelten, gibt, ist zu verneinen. Zu viele Beteiligte auf Seiten der Rechtsprechung (etwa die verschiedenen BFH-Senate) und der Verwaltung (etwa BMF und Länderfinanzministerien) bewirken eine Vielfalt von Arten des Spiels und verschiedener Spielzüge. Erinnert sei hier nur an die Möglichkeit einer stark wortlautorientierten Auslegung oder eben nach Sinn und Zweck des Gesetzes; beides ist sowohl auf Seiten der Rechtsprechung als auch auf Seiten der Verwaltung zu finden. Deshalb sollen abschließend folgende Gedanken, die vielleicht auch fast Ergebnisse sind, wiederholt und nochmals betont werden. –– Die verschiedenen Senate des Bundesfinanzhofs haben eine durchaus unterschiedliche Herangehensweise an ihre Fälle und auch eine unterschiedliche Tendenz, fortbildende Rechtsprechung zu gestalten. Das betrifft sowohl die Auslegungsmethoden als auch die Lust, der Gesamtheit der Steuerpflichtigen über den Einzelfall hinaus behilflich zu sein. An dieser Stelle stellt sich durchaus die Frage, 91 BT-Drucks. 18/9536, 59. 92 Gleich lautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder v. 14.12.2015, BStBl. II 2015, 1090. 93 Allgemein zur Gewerbesteuer bei der Hinzurechnungsbesteuerung Adrian/Rautenstrauch/ Sterner in DStR 2017, 1457. 94 OFD Nordrhein-Westfalen, Kurzinformation v. 26.4.2017, DB 2017, 1118.

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wie die Funktionen von höchstrichterlicher Rechtsprechung und deren Aufgabe der Rechtsfortbildung einerseits und der Legislative andererseits voneinander abzugrenzen sind. –– Auf die vielfältige Rechtsprechung mit ihrer wiederum vielfältigen rechtsfortbildenden Wirkung muss die Steuerverwaltung reagieren. Dass dies im Einzelfall schwierig ist, habe ich aufzuzeigen versucht. Die Mittel der Reaktion sind die Anwendung der zur Veröffentlichung vorgeschlagenen Entscheidungen (Regelfall), deren Nichtanwendung mit und ohne Nichtanwendungserlass sowie, last but not least, die Anregung an den Gesetzgeber, die Steuergesetze zu verändern. Nach der hier vertretenen Auffassung sind all diese Reaktionen zulässig. Dies gilt selbstredend für die Anwendung der BFH-Entscheidungen, aber auch für deren Nichtanwendung bzw. die Herausgabe von Nichtanwendungserlassen. Da die Verwaltung nach Artikel 20 des Grundgesetzes die Pflicht hat, nach Recht und Gesetz zu entscheiden, hat sie auch das Recht, die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs für unzutreffend zu halten. Allerdings muss sie mit diesem Recht zurückhaltend umgehen. Eine dauerhafte Verweigerung der Anerkennung der höchstrichterlichen Rechtsprechung wäre nicht verfassungskonform. Die Anregung an den Gesetzgeber, die Steuergesetze zu ändern, gehört zu den Pflichtaufgaben der (Ministerial-) Verwaltung. Die Bezeichnung entsprechender Gesetze als „Nichtanwendungsgesetze“ ist polemisch und unzutreffend. Gegenstand der Gesetzgebung ist nie die Frage, ob ein bestimmtes Urteil des höchsten Steuergerichts angewandt wird oder nicht. Gegenstand der legislativen Handlung ist stets die Schaffung von (Gesetzes-)Recht. –– Manches könnte einfacher sein! Es wäre nützlich und würde dem Rechtsfrieden dienen, wenn der Bundesfinanzhof die Auswirkungen seiner rechtsfortbildenden Rechtsprechung immer und nicht nur fast immer sorgfältig prüfen würde. Dabei sollte er die Auswirkung seines Judiz auf alle ähnlich gelagerten Sachverhalte sowie auf ähnliche Rechtsregelungen in anderen Sachverhalten bedenken. Außerdem wäre zumindest zu fragen, ob er nicht die wörtlich mögliche Auslegung des Steuergesetzes durch die Verwaltung akzeptieren könnte, wenn dies nicht dem Gesetzeszweck widerspricht. Eine auch mögliche andere Auslegung des Wortlauts stellt den Gesetzgeber nämlich häufig vor die kaum lösbare Frage, einen besseren, sprich eindeutigen Wortlaut zu finden. Der BFH sollte sämtliche Auswirkungen seiner Entscheidungen auf die Rechtsgemeinschaft, vor allem auch deren wirtschaftliche und finanzielle Folgen, auch für den Fiskus, bedenken. Insbesondere wenn solche Entscheidungen, wie bei den aufgezeigten Bauträgerfällen, zu „ungeahnten“ Folgen führen, sind in dieser Form nicht zwingend notwendige Entscheidungen extrem ärgerlich. Gleichwohl gilt: Streitige Auseinandersetzungen auch zwischen den Gewalten sind belebend und in einem auf Gewaltenteilung beruhenden Staatsgefüge nicht nur unvermeidbar, sondern geradezu notwendig. In diesem Sinne ist es aus Sicht des Autors nicht entmutigend, dass sich das Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung in Deutschland auch in Zukunft jedenfalls in Teilen als „Spiel ohne Grenzen“ erweisen wird. 274

2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … G.

Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung – nachbarschaftliche Außensicht Von Madeleine Simonek*

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtsprechung und Verwaltung im klassischen Gewaltenteilungssystem III. Zusammenspiel aus Sicht der Verwaltung 1. Vorbemerkung 2. Nichtanwendungsgesetze und Nichtanwendungserlasse a) Nichtanwendungsgesetze b) Nichtanwendungserlasse

3. Verzögerte oder unterlassene Veröffentlichung im Bundessteuerblatt 4. Vermeidung von Gerichtsurteilen mit prozessualen Instrumenten IV. Zusammenspiel aus Sicht der Rechtsprechung 1. Vorbemerkung 2. Bindungswirkung von Verwaltungs­ vorschriften 3. Beitritt der Verwaltung in ein Verfahren

I. Einleitung Die Aufgabe, das Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung aus der nachbarschaftlichen Außensicht zu beurteilen, wirft vorweg die Frage auf, was mit Zusammenspiel gemeint ist. Zusammenspiel wird in diesem Beitrag verstanden als ­Interaktion, gemeinsames Wirken. Ein Zusammenspiel sollte idealerweise einen Mehrwert bewirken, einen Mehrwert gegenüber zwei Einzelspielern. Die Frage nach dem gemeinsamen Wirken von Rechtsprechung und Verwaltung liegt auf der Hand: beiden Gewalten ist die Aufgabe der Auslegung und Anwendung des Rechts aufgetragen. Ziel eines Zusammenspiels muss somit die zutreffendere Rechtsanwendung, die überzeugendere Konkretisierung der gesetzlichen Normen, das bessere Auslegungsergebnis sein. Ob dieses Ziel in Deutschland erreicht wird, ist aus der Außensicht nicht einfach zu beantworten. Die Komplexität und Regelungsdichte des deutschen (Steuer)rechts – im Vergleich zum schweizerischen – bilden für * Ich danke meinen Assistierenden, Frau Elisabetta Pfister, MLaw, und Herrn Adrien Clinard, BLaw, für die wertvolle Unterstützung bei der Materialien- und Literaturrecherche.

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die nachbarschaftliche Beurteilung eine nicht niedrige Hürde. Ich will mich deshalb davor hüten, mich zu in Deutschland umstrittenen Rechtsfragen zu äußern. Ich sehe meine Aufgabe darin zu beurteilen, ob das gelebte Zusammenspiel zwischen Rechtsprechung und Verwaltung aus meiner persönlichen Sicht nachvollziehbar und verständlich ist. Nachvollziehbarer und verständlicher ist es sicherlich dann, wenn ähnliche Handlungsformen auch in der Schweiz bekannt sind. In der Schweiz nicht bekannt und somit aus nachbarschaftlicher Sicht schwierig einzuordnen, sind die auch in Deutschland vieldiskutierten Nichtanwendungserlasse des BMF wie überhaupt der Umstand, dass das BMF durch Nichtveröffentlichung eines BFH-Urteils im Bundessteuerblatt anordnen kann, dass ein Urteil nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus angewendet wird. Zwar scheint, dass diese Instrumente in den letzten Jahren1 – wie in der Literatur gefordert2 – nur noch zurückhaltend zur Anwendung kommen3. Eine nachbarschaftliche Sicht darauf drängt sich aber allemal auf. Eine Thematik, die aus nachbarschaftlicher Sicht hingegen nicht fremd ist, sind die Bedeutung und Verbindlichkeit von Verwaltungsvorschriften, die im Steuerrecht beider Staaten in großer Anzahl anzutreffen sind, in Deutschland wohl aber noch mit einer etwas größeren Dichte und Tiefe. In diesem Bereich ist die deutsche Lehre und Praxis ausgereifter als die schweizerische, aus nachbarschaftlicher Sicht durchaus mit Erkenntnisgewinn. Auch weitere Instrumente erwecken von der Außensicht (kritisches) Interesse, wie namentlich die der Verwaltung zur Verfügung stehende Möglichkeit, mit dem Antrag auf eine mündliche Verhandlung einen Gerichtsbescheid aufheben zu können oder die offenbar teils geübte Praxis, das BMF aktiv in ein Revisionsverfahren vor dem BFH einzuladen. Bevor auf diese ausgewählten Aspekte des Zusammenspiels eingegangen werden kann, ist ein kurzer Blick auf die Funktionen und Aufgaben von Rechtsprechung und Verwaltung in der Gewaltenteilung zu werfen.

1 Ohne Gewähr  – zumindest ergab eine Suche (Stand Mitte Januar 2018) unter den BMF-­ Schreiben auf der Website des BMF seit 1.1.2014 nur einen Treffer zum Suchbegriff „Nichtanwendungserlass“ (BMF-Schreiben v. 28.7.2015 zur Umsatzsteuer; Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers bei Bauleistungen [§ 13b Absatz 2 Nr. 4 Satz 1 UStG]). 2 U.a. Drüen, DStR 2010, 2 (7); Hey, DStR 2004, 1897 (1898); Offerhaus in FS List, 2015, S. 131 (143). 3 Mit der zeitnahen Ankündigung auf der Website des BMF, welche BFH-Urteile im Bundessteuerblatt veröffentlicht werden, wird den Informationsbedürfnissen der Steuerpflichtigen nun offenbar besser Rechnung getragen als früher. Vollständig zufrieden scheinen zumindest die Steuerpflichtigen damit aber noch nicht zu sein. Dazu Schreiben des Bundes der Steuerzahler an den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages v. 27.4.2016, gefunden unter: https://www.steuerzahler.de/files/20046/Verzoegerte_Veroeffentlichung_von_BFH-­ Urteilen.pdf.

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II. Rechtsprechung und Verwaltung im klassischen Gewaltenteilungs­ system Die deutsche Staatsorganisation ist – wie auch die schweizerische – vom Grundsatz der Gewaltenteilung bestimmt, der in Art. 20 Abs. 2 GG ausdrücklich verfassungsrechtlich verankert ist. Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist darauf ausgerichtet, Machtmissbrauch mittels Machtbegrenzung und Kontrolle zu verhindern4. Um diesen Zweck erreichen zu können, wird die dem Volk zukommende (einheitliche) Staatsgewalt unterschiedlichen Organen zugewiesen, die sich wechselseitig kontrollieren. Obschon jeder Gewalt im Gewaltenteilungssystem eine spezifische Funktion zukommt, greifen ihre Funktionen vielfältig ineinander5. Ein Umstand, der in der Schweiz eine der Hauptgründe war, die (funktionale) Gewaltenteilung nicht ausdrücklich in der Bundesverfassung zu verankern6. Auch wenn sowohl der Rechtsprechung wie auch der Verwaltung die Aufgabe der Rechtsanwendung zukommt, somit die Aufgabe, die zutreffende Auslegung und Anwendung der Steuergesetze zu finden und zu entwickeln, sind sie in ihren Funktionen und Kompetenzen selbstredend different. Nur der Handlungsgegenstand, das Gesetz, ist derselbe. Die Verwaltung steht in der Rechtsanwendung, zumindest aus zeitlicher Sicht, an erster Stelle. Ihr kommt die Aufgabe zu, die gesetzlichen Vorgaben umzusetzen und zu konkretisieren. Sie ist die vollziehende Gewalt. Zuzustimmen ist dabei derjenigen Lehrmeinung, die der Verwaltung eine eigene Verantwortung für eine verfassungs- und gesetzeskonforme Rechtsanwendung auferlegt7. Die Rechtsprechung hat die Aufgabe, die Rechtsanwendung der Verwaltung zu kontrollieren8. Ihre Besonderheit liegt in der unabhängigen einzelfallbezogenen Beurteilung. Ihr kommt aber auch die Aufgabe der Rechtsfortbildung und der Wahrung der 4 Grzeszick in Maunz/Düring, Art. 20 GG Rz. 29 u. 35 f.; Huster/Rux in Epping/Hillgruber, Art. 20 GG Rz. 156. Für die Schweiz u.v. Biaggini in Biaggini/Gächter/Kiener, Staatsrecht, 2. Aufl. 2015, § 17 N 7. 5 Grzeszick in Maunz/Düring (Fn. 4), Art. 20 GG Rz. 40 ff. 6 Im Vernehmlassungsverfahren zur neuen schweizerischen Bundesverfassung v. 18.4.1999 wurde mehrmals vorgeschlagen, das Prinzip der Gewaltenteilung neu ausdrücklich in die Bundesverfassung aufzunehmen. Der Bundesrat lehnte diesen Vorschlag jedoch mit der Begründung ab, dass die verfassungsrechtliche Verankerung des Gewaltenteilungsprinzips ­gegen das die schweizerische Behördenorganisation kennzeichnende „vielfältige Ineinan­ dergreifen der verschiedenen Staatsfunktionen“ wirken könnte. Eine verkürzte Wiedergabe im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG hätte nach Ansicht des Bundesrats „die heutige Rechtslage unzutreffend charakterisiert“ (Botschaft über eine neue Bundesverfassung v. 20.11.1996, Bundesblatt (BBl) 1997 I 1 (370). Dazu auch Ehrenzeller/Nobs in Ehrenzeller/Schindler/ Schweizer/Vallender, Die Schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 3.  Aufl. 2014, Vorbemerkungen zu Art. 136–142 Rz. 29; Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 9. Aufl. 2016, S. 432. 7 U.a. Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 5 Rz. 38; Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011, S.  237  ff.; Weber-Grellet in FS Lang, 2010, S. 927 (937). 8 Grzeszick (Fn. 4), Art. 20 GG Rz. 37.

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einheitlichen Rechtsanwendung zu9. Freilich, die Pflicht zur einheitlichen Rechtsanwendung obliegt auch der Verwaltung10. Sie fließt aus dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot und insbesondere aus den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit und Rechtssicherheit11. Schließlich ist in vorliegendem Zusammenhang auch der Grundsatz der Gewaltenloyalität zu nennen, wonach jede Gewalt die Funktionen und Kompetenzbereiche der anderen Gewalten zu respektieren und zu wahren hat12. Die Fragestellungen, die die Funktionen und Gewaltverschränkungen von Rechtsprechung und Verwaltung aufwerfen, sind in der Schweiz nicht wesentlich anders als in Deutschland. Vor dem nachbarschaftlichen Hintergrund ist ein bedeutender Unterschied wohl aber in der starken Stellung der Finanzverwaltung, des BMF, im Rechtsetzungsverfahren, wie überhaupt in der engen Verbindung zwischen der Exekutive und der Legislative zu sehen. Zwar ist vorliegend nicht zum Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Verwaltung zu sprechen, die drei Gewalten sind aber dermaßen ineinander verschränkt, dass die Gesetzgebungsmechanismen nicht völlig außer Acht gelassen werden können. Die große Nähe von Legislative und Exekutive ist selbstredend im deutschen parlamentarischen Regierungssystem begründet, welches die machtpolitische Trennlinie weniger zwischen der Legislative und der Exekutive als zwischen der Regierung und der Parlamentsmehrheit auf der einen und der politischen Opposition auf der anderen Seite zieht13. Zwar hat die Eidg. Steuerverwaltung in der Schweiz auch eine wegleitende und wichtige Position sowohl in der Rechtsanwendung wie auch im Gesetzgebungsverfahren inne. Im Vergleich zu einem parlamentarischen Regierungssystem sind Legislative und Exekutive im schweizerischen Regierungssystem aber eigenständiger14. Einerseits ist der Bundesrat als oberstes Exekutivorgan nicht vom ständigen Vertrauen des Parlaments abhängig, andererseits geben das Konkordanz- und Konsenssystem mit seinen wechselnden Mehrheiten sowie die direktdemokratischen Instrumente dem Parlament einen größeren Einfluss auf die Gesetzgebung15. Auch das Verhältnis zwischen Legislative und Judikative ist infolge der in der Schweiz fehlenden Verfassungsgerichtsbarkeit von demjenigen in Deutschland wesentlich verschieden16. Aspekte, 9 § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO. 10 Was in der Schweiz in Art.  102 Abs.  2 Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer v. 14.12.1990 (SR 642.11, DBG) wie folgt festgehalten ist: „Die EStV [sc. Eidg. Steuerverwaltung] sorgt für die einheitliche Anwendung dieses Gesetzes.“ 11 Ähnlich Beusch in Zweifel/Beusch, Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer, 3. Aufl. 2017, Art. 102 Rz. 3; Reich/Uttinger; Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR) 2010, 163 (173). 12 Huster/Rux (Fn. 4), Art. 20 GG Rz. 163. Im Zusammenhang mit Nichtanwendungserlassen ausführlich Desens (Fn. 7), S. 261 ff. 13 Grzeszick (Fn. 4), Art. 20 GG Rz. 24; Huster/Rux (Fn. 4), Art. 20 GG Rz. 157. 14 So Biaggini (Fn. 4), § 17 Rz. 38. 15 Biaggini (Fn. 4), § 17 Rz. 39 f.; Ehrenzeller/Nobs (Fn. 6), Vorbemerkungen zu Art. 136–142 Rz. 15; Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr (Fn. 6), S. 431. 16 Der letzte durch zwei parlamentarische Initiativen eingeleitete Versuch, die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz einzuführen, scheiterte im Dezember 2012 im schweizerischen Parlament. Es gilt somit weiterhin Art. 190 Bundesverfassung der Schweizerischen

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die sich auf die Frage, wie die Verwaltung mit fehlerhaften, aus ihrer Sicht gegebenenfalls auch „missliebigen“17 Gerichtsentscheiden umgeht, auswirken.

III. Zusammenspiel aus Sicht der Verwaltung 1. Vorbemerkung Die Verwaltung ist in erster Linie im konkret entschiedenen Einzelfall an ein Gerichtsurteil gebunden18. Grundsätzlich ist wohl auch herrschend, dass die Rechtsprechung19 keine Rechtsquelle im formellen Sinne darstellt20. Einzig einer ständigen gefestigten Gerichtspraxis (aber auch einer ständigen gefestigten Verwaltungspraxis) kann mit Blick auf das Gleichheitsgebot und die Rechtssicherheit eine Art Rechtsquellenqualität zukommen21, die aber nur insoweit wirkt, als dass an die Änderung der Rechtsprechung (oder auch der Verwaltungspraxis) erhöhte Anforderungen zu stellen sind. Eine ausnahmslose Bindung der Verwaltung an die Rechtsprechung kann daraus nicht folgen. Sie widerspräche auch der sich aus der Gewaltenteilung ergebenden Zuständigkeitsordnung. Beide Gewalten sind mit der Konkretisierung der gesetzlichen Normen beauftragt, und beide Gewalten haben für eine verfassungs- und gesetzeskonforme Rechtsanwendung zu sorgen22. Zwar ergibt sich für die Verwaltung aus verfassungsrechtlicher Sicht eine implizite Pflicht, einen überzeugend begründeten Gerichtsentscheid auch über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden. Namentlich das Rechtsgleichheitsgebot und das Gesetzmäßigkeitsprinzip verbieten, die justiziell entschiedene Rechtsanwendung für den einzelnen Steuerpflichtigen von einer Beschreitung des Rechtswegs abhängig zu machen. Ausnahmen sind aber möglich – zu beantworten bleibt, wann und auf welchem Weg. 2. Nichtanwendungsgesetze und Nichtanwendungserlasse a) Nichtanwendungsgesetze Vorweg sind Nichtanwendungserlasse von Nichtanwendungsgesetzen, die den demokratischen Gesetzgebungsprozess durchlaufen, abzugrenzen. Gegen Nichtanwendungsgesetze sind aus nachbarschaftlicher Sicht keine Einwände vorzubringen. Es Eidgenossenschaft v. 18.4.1999 (SR 101, BV), wonach Bundesrecht und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden maßgebend sind. 17 So u.a. Englisch (Fn. 7), § 5 Rz. 39; Spindler, DStR 2007, 1061. 18 § 110 Abs. 1 FGO. 19 Gemeint ist diejenige des BFH. Auf die Unterschiede zu der Wirkungsweise der Urteile des Bundesverfassungsgerichts soll in diesem Beitrag nicht eingegangen werden. 20 Ausführlich Desens (Fn.  7), S.  216  ff.; Koenig in Koenig, 3.  Aufl. 2014, §  4 AO Rz.  66; Spindler (Fn.  17), DStR 2007, 1061 (1064). Für die Schweiz: Reich, Steuerrecht, 2.  Aufl. 2012, § 3 Rz. 47 f. 21 So Häfelin/Müller/Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 2016, § 2 Rz. 172 f. 22 Dazu Ziff. II vorne.

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steht der Legislative zu, einen nicht als sachgerecht empfundenen oder fehlerhaften Gerichtsentscheid mit der Änderung der gesetzlichen Ordnung zu korrigieren. Dies dürfte aber auch in Deutschland wenig umstritten sein23. Soweit ersichtlich, gründet die gegen Nichtanwendungsgesetze vorgebrachte Kritik hauptsächlich auf dem Umstand, dass diese oftmals von der Exekutive initiiert und gestaltet werden24. Nichtanwendungsgesetze erscheinen aus dieser Sicht als Widerstandshandlung gegen die Rechtsprechung25. Auch wird geltend gemacht, dass Nichtanwendungsgesetze nicht fiskalisch motiviert sein dürfen26. Diese Kritik ist von der Außensicht nur begrenzt verständlich. Die Funktionsverschränkungen von Legislative und Exekutive sind dem parlamentarischen Regierungssystem inhärent, insbesondere wenn die Regierung von einer klaren parlamentarischen Mehrheit in Form einer großen Koalition gestellt wird. Es sei denn, dem Parlament würde infolge dieser Machtkonzentration jegliche eigene Beschluss- und Entscheidungsfähigkeit abgesprochen, was aber einer Kapitulation gleichkäme und – schon gar nicht aus der Ferne – nicht behauptet werden kann. Auch die Komplexität des Steuerrechts und der Wissensvorsprung der Verwaltung27 dürfen im Grunde kein Argument gegen Nichtanwendungsgesetze sein; dieser Problematik ist auf anderem Weg zu begegnen28. Schließlich scheinen auch fiskalisch motivierte Nichtanwendungsgesetze nicht in jedem Fall unzulässig. Steuergesetze verfolgen zur Hauptsache einen Fiskalzweck und gegebenenfalls ist eine entsprechende Reaktion des Gesetzgebers zur Sicherung des Steueraufkommens notwendig, selbstverständlich unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Vorgaben. Aus nachbarschaftlicher Sicht wäre allerdings eine zu große Häufigkeit von Nichtanwendungsgesetzen mit Blick auf die auch im deutschen Verfassungsrecht verankerten Grundsätze der Rechtssicherheit und Rechtsbeständigkeit29 kritisch zu betrachten. Nichtanwendungsgesetze gibt es auch in der Schweiz, obschon der Begriff nicht verwendet und aus schweizerischer Sicht wohl als zu konfrontativ betrachtet würde. Ihre Zulässigkeit wird nicht in Frage gestellt30. Gesetzesvorlagen im Steuerrecht, die als Reaktion auf ein als fehlerhaft bewertetes Gerichtsurteil verabschiedet wurden, sind auf Bundesebene in den vergangenen Jahren aber stets zugunsten der Steuerpflichti23 Englisch (Fn. 7), § 5 Rz. 40. 24 Desens (Fn. 7), S. 68 f.; Spindler (Fn. 17), DStR 2007, 1061 (1062). 25 Schlenk, Bundesfinanzhof und Finanzverwaltung in Kooperation und Unabhängigkeit: allgemeine Bindungswirkung der Rechtsprechung, Reaktionsformen der Finanzverwaltung, Reformüberlegungen, 2012, S. 9. 26 Englisch (Fn. 7), § 5 Rz. 40. 27 So Spindler (Fn. 17), DStR 2007, 1061 (1062). 28 Ähnlich Desens (Fn. 7), S. 68 f. 29 Grzeszick (Fn. 4), Art. 20 GG Rz. 50; Huster/Rux (Fn. 4), Art. 20 GG Rz. 181 ff. 30 Dazu Seiler, Das Verhältnis zwischen Richterrecht und formellem Gesetzgeber, LeGes  – Gesetzgebung und Evaluation 2016, S. 357 (364 ff.), der allerdings zwischen einfachgesetzlichem Richterrecht und verfassungs- und völkerrechtlichem Richterrecht unterscheidet. Aus Sicht eines Mitglieds des Ständerats Caroni, Reaktionen des Gesetzgebers auf Impulse der Rechtsprechung, LeGes – Gesetzgebung und Evaluation 2016, S. 413 ff.

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gen ergriffen und vom Parlament initiiert worden. Zu einem großen wissenschaftlichen und politischen Aufschrei führte vor allem ein Urteil des Bundesgerichts vom 11. Juni 200431, das zu einer weitgehenden Verschärfung der sog. indirekten Teilliquidation führte32. Das Parlament beschloss daraufhin, für schweizerische Verhältnisse zügig, eine gesetzliche Verankerung der auf dem Steuerumgehungsgedanken beruhenden indirekten Teilliquidation sowohl für die direkte Bundessteuer33 wie auch über das Steuerharmonisierungsgesetz34 für die kantonalen Einkommensteuern35. In der jüngeren Vergangenheit haben die „Nichtanwendungsgesetze“ an Häufigkeit sogar zugenommen: Eine am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Gesetzesänderung ­lockerte eine langjährige Bundesgerichtspraxis zum Abzug von anschaffungsnahen Liegenschaftsunterhaltskosten36. In Reaktion auf ein Urteil des Bundesgerichts vom 7. Juni 200737 wurde gestützt auf eine parlamentarische Initiative der Abzug von Mitgliederbeiträgen und Zuwendungen an politische Parteien ausdrücklich im Gesetz verankert38. Das Bundesgericht hatte entschieden, dass dafür eine gesetzliche Grundlage fehlt. Mit einer Gesetzesrevision, die auf den 15. Februar 2017 in Kraft trat, wurde ein Bundesgerichtsurteil vom 19. Januar 201139 korrigiert, das sich in Bezug auf die Verrechnungssteuer40 für eine restriktive Handhabung des Meldeverfahrens im Konzerns entschied, und mit einer im Parlament zurzeit noch hängigen Gesetzesvorlage sollen zwei Urteile des Bundesgerichts aus den Jahren 201141 und 201342 korrigiert werden, die die Voraussetzungen zur Rückerstattung der Verrechnungssteuer 31 BGer v. 11.6.2004  – 2A.331/2003, Archiv für Schweizerisches Abgaberecht (ASA) 73 (2004/05) 402. 32 Liegen die Voraussetzungen einer indirekten Teilliquidation vor, wird der aus dem Verkauf einer maßgeblichen Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft erzielte private und damit in der Schweiz steuerfreie Kapitalgewinn als steuerbarer Beteiligungsertrag qualifiziert und unterliegt demzufolge der Einkommensteuer sowohl auf Bundes- wie kantonaler Ebene. 33 Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer v. 14.12.1990 (SR 642.11, DBG). 34 Bundesgesetz über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden v. 14.12.1990 (SR 642.14, StHG). 35 Art. 20a DBG und Art. 7a StHG, in Kraft seit 1.1.2007. 36 Art. 32 Abs. 2 DBG und Art. 9 Abs. 2 StHG. 37 BGer v. 7.6.2007  – 2A.647/2005, Archiv für Schweizerisches Abgaberecht (ASA) 76 (2007/08) 693. 38 Art. 33 Abs. 1 Bst. i DBG und Art. 9 Abs. 2 Bst. l StHG, in Kraft seit 1.1.2011. 39 BGer v. 19.1.2011  – 2C_756/2010, Archiv für Schweizerisches Abgaberecht (ASA) 79 (2010/11) 855. 40 Die Verrechnungssteuer ist eine Bundessteuer und wird in Form einer Quellensteuer auf gewissen Kapitalerträgen auf beweglichem Vermögen erhoben, wobei die in der Schweiz wohnhaften Steuerpflichtigen die Verrechnungssteuer bei korrekter und fristgerechter ­Deklaration der entsprechenden Erträge zurückerstattet erhalten (Bundesgesetz über die Verrechnungssteuer v. 13.10.1965, SR 642.21, VStG). Eine teilweise oder vollumfängliche Rückerstattung ist auch für im Ausland ansässige Steuerpflichtige gestützt auf ein Doppelbesteuerungsabkommen möglich. 41 BGer v. 11.10.2011  – 2C_95/2011, Archiv für Schweizerisches Abgaberecht (ASA) 81 (2012/13) 41. 42 BGer v. 16.1.2013 – 2C_80/2012.

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an natürliche Personen sehr streng handhabten und zu einer entsprechenden Verschärfung der Verwaltungspraxis führten43. Freilich sind aus dem Parlament eingebrachte Gesetzesvorlagen, die als Reaktion auf ein Bundesgerichtsurteil eingehen, nicht immer erfolgreich. Eine Gesetzesvorlage, die ein restriktives Urteil des Bundesgerichts44 zur privilegierten Besteuerung von Grundstückgewinnen aus dem Verkauf von land- und forstwirtschaftlichen Liegenschaften korrigieren wollte, fand in National- und Ständerat keine Mehrheit. Gesetzesänderungen, die ein Gerichtsurteil oder eine Gerichtspraxis korrigieren wollen, ergehen in der Schweiz somit zwar nicht tagtäglich, aber doch immer wieder. Meist konnten sich die Gesetzesänderungen auf eine klare und nahezu einheitliche Lehrmeinung stützen. Ein wesentlicher Unterschied zur Situation in Deutschland liegt sicherlich darin, dass Gesetzesänderungen als Folge eines Gerichtsurteils in aller Regel von Mitgliedern des Parlaments vorgeschlagen werden und sich zugunsten der Steuerpflichtigen auswirken. Diese Besonderheit dürfte maßgeblich mit dem unterschiedlichen Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive zu erklären sein. Eine von der Verwaltung initiierte Gesetzesvorlage, mit der ein für die Steuerpflichtigen günstiges Gerichtsurteil zu deren Lasten korrigiert werden soll, hat im schweizerischen Parlament einen schwierigen Stand und wird von der Verwaltung selten als Handlungsoption gesehen. b) Nichtanwendungserlasse Nichtanwendungserlasse der Finanzverwaltung sind – wie bereits erwähnt – in der Schweiz nicht bekannt und die Frage, ob die Finanzverwaltung ein Urteil des Bundesgerichts über den entschiedenen Einzelfall hinaus anwenden muss, wird in der Literatur kaum diskutiert45. Es ginge aber zu weit zu behaupten, dass sämtliche Bundesgerichtsurteile in der Schweiz von der Verwaltung uneingeschränkt umgesetzt werden, nur sind die Ausnahmen wohl eher selten oder nicht so augenfällig46. Im Weiteren wird bei Gerichtsurteilen, die die Steuerpflichtigen belasten, eher der Weg über Nichtanwendungsgesetze gegangen. 43 Vernehmlassungsverfahren des Eidg. Finanzdepartements zum Bundesgesetz über die Verrechnungssteuer, Erläuternder Bericht v. 28.6.2017, zwar unter Ablehnung einer entsprechenden parlamentarischen Motion (Motion „Keine Verwirkung der Verrechnungssteuer“ von Daniela Schneeberger v. 29.9.2016, 16.3797), aber unter Aufnahme deren Gedankens. 44 BGer v. 2.12.2011 – 2C_11/2011, BGE 138 II 32. 45 Ausnahmen in der Steuerrechtsliteratur sind Greter, Der Schweizer Treuhänder (ST) 2005, 64 und am Rande Reich/Uttinger (Fn. 11), S. 174. 46 Nicht mehr in der jüngeren Zeit, aber in früheren Jahren war auch eine gewisse „Unart“ der Eidg. Steuerverwaltung dahingehend festzustellen, dass bestehende Verwaltungsvorschriften – in der Schweiz auf Bundesebene meist als Kreisschreiben bezeichnet – einem ergangenen Bundesgerichtsurteil oder selbst einer Gesetzesänderung nicht immer angepasst wurden. Was im Allgemeinen aber nicht als eine Art Nichtanwendungskundgebung, sondern eher als eine, allerdings die Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit strapazierende, ungenügende „Kreisschreibenbewirtschaftung“ gedeutet wurde. So Locher, Kommentar zum DBG, Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer, III. Teil, 2015, Art. 102 Rz. 30 f.

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Der in Deutschland geltend gemachte Zweck und die Rechtfertigung von Nichtanwendungserlassen, nämlich die Änderung einer als fehlerhaft beurteilten Rechtsansicht des Gerichts zu bewirken, ist aus nachbarschaftlicher Sicht – wie bereits dargelegt  – nicht unverständlich. Eine ausnahmslose Bindung der Verwaltung an die Rechtsprechung widerspräche der gemeinsamen Aufgabe der gesetzes- und verfassungskonformen Rechtsanwendung. Es ist dabei der wohl herrschenden Lehre in Deutschland zuzustimmen, dass sich diese Handlungsoption der Verwaltung aber auf Situationen beschränken muss, in denen eine Rechtsprechung offensichtlich und klarerweise nicht sachgemäß oder fehlerhaft ist47. Nur beispielhaft einige Gedanken dazu: Keine allgemeine Anwendung kann sicherlich von atypischen Einzelfallentscheidungen ausgehen48. Nur präjudizielle Gerichtsurteile können für die Verwaltung eine allgemeine Anwendungsregel bewirken. Denkbar ist die Nichtanwendung eines Gerichtsurteils auch, wenn das Gericht in den der Verwaltung vom Gesetzgeber zugewiesenen Ermessensbereich eingreift. Eine solche Situation lag – soweit ersichtlich – im einzigen Fall vor, in dem die Eidg. Steuerverwaltung die Anwendung eines Bundesgerichtsurteils ausdrücklich abgelehnt hat49. Das bereits im Jahr 1968 ergangene Urteil hatte den Begriff der „Erträge“ nach dem Verrechnungssteuergesetz anzuwenden und befand die diesen Begriff näher umschreibende Vollziehungsverordnung des Bundesrats als nicht maßgeblich. In einem späteren Urteil nahm das Bundesgericht die Kritik der Eidg. Steuerverwaltung auf und anerkannte die Vollzugskompetenz und auch die Begriffsumschreibung der Verwaltung50. Die Nichtanwendung eines Gerichtsurteils ist gegebenenfalls auch in Fällen denkbar, in denen eine Umsetzung des Urteils über den entschiedenen Einzelfall hinaus aus Praktikabilitäts- oder Effizienzüberlegungen nicht möglich oder sachgemäß ist. Zwar dürfen Praktikabilitätsüberlegungen nicht dazu führen, dass die Verwaltung eine Rechtsprechung nur deshalb ablehnt, weil auch andere einfacher zu vollziehende Lösungen möglich sind51. Aus Sicht des dem Gewaltenteilungsgrundsatz innewohnenden Gebots der funktionsadäquaten Aufgabenzuordnung52 sind reine Vollzugsaufgaben in der Verwaltung aber besser aufgehoben als beim Gericht53. So beurteilte in  der Schweiz die Rechtsprechung und auch ein Teil der Lehre die rückwirkende Begründung der Steuerpflicht einer Kapitalgesellschaft lange Zeit kritisch54 oder so47 So wird u.a. offensichtliche Rechtsfehlerhaftigkeit von Spindler (Fn. 17), DStR 2007, 1061 (1064) oder fehlende Überzeugungskraft von Drüen, (Fn. 2), DStR 2010, 2 (7), gefordert. 48 Drüen (Fn. 2), DStR 2010, 2 (7). 49 Anmerkung des für die Eidg. Steuerverwaltung tätigen Referenten in Archiv für Schweizerisches Abgaberecht (ASA) 37 (1968/69) 176 ff. zum BGer v. 31.5.1968, BGE 94 I 151. 50 BGer v. 11.6.1971, Archiv für Schweizerisches Abgaberecht (ASA) 41 (1972/73) 49. Die maßgebende Bestimmung der Vollzugsverordnung wurde als gesetzes- und verfassungskonform befunden. 51 So auch Desens (Fn. 7), S. 258 f. 52 So Grzeszick (Fn. 4), Art. 20 GG Rz. 50 ff. 53 Wohl in diesem Sinne auch Weber-Grellet (Fn. 7), S. 935. 54 BGer v. 13.10.1992, Archiv für Schweizerisches Abgaberecht (ASA) 62 (1993/94) 674.

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gar ablehnend55, wohingegen verschiedene kantonale Steuerbehörden eine maßvolle Rückwirkung bei Umstrukturierungsvorgängen aus Praktikabilitätsüberlegungen  – trotz anderslautender Rechtsprechung  – zuließen, was sich im heutigen Zeitpunkt auch durchgesetzt hat56. Selbstverständlich muss sein, dass Nichtanwendungserlasse einer ausführlichen Begründung bedürfen, die sich mit den Erwägungen des Gerichts auseinandersetzt. Dass die Literatur darauf ausdrücklich hinweisen muss57 – woraus zu schließen ist, dass das BMF dieser Begründungspflicht in der Vergangenheit nicht immer nachkam – scheint fast etwas seltsam. 3. Verzögerte oder unterlassene Veröffentlichung im Bundessteuerblatt Aus nachbarschaftlicher Sicht etwas fremd wirkt auch der Umstand, dass BFH-Urteile durch die einzelnen Finanzämter erst nach Veröffentlichung im Bundessteuerblatt angewendet werden dürfen und die allgemeine Anwendung eines Urteils damit verzögert oder faktisch ganz verhindert werden kann58. Einen ähnlichen Mechanismus gibt es in der Schweiz nicht. Es fehlt überhaupt ein Publikationsorgan der Finanzverwaltung, das die Funktion des Bundessteuerblattes ausübt. Zudem sind Verwaltungsvorschriften für die adressierten unteren Verwaltungsbehörden nicht in jedem Fall zwingend59. Die Bundesgerichtsurteile werden, was aber auch für die Urteile des BFH gilt, auf der entsprechenden Website des Gerichts sowie in verschiedenen steuerrechtlichen Fachzeitschriften publiziert. Entscheide von grundsätzlicher Bedeutung werden vom Bundesgericht zudem in der Amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts veröffentlicht60. Nur diese Veröffentlichung bezweckt  – zumindest dem Grundsatze nach  – eine einheitliche Rechtsanwendung61. Die Publikation aller Urteile auf der Website des Bundesgerichts dient hingegen hauptsächlich Transparenzzwecken62. Es ist somit in erster Linie das Bundesgericht, das bestimmt, welche Urteile einen weg-

55 StKE SZ v. 30.7.2002, Steuer Revue (StR) 2003, 50; RK I ZH v. 30.6.2082, Steuer Revue (StR) 1983, 47. 56 Zum Ganzen Locher, Kommentar zum DBG, Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer, II. Teil, 2004, Art. 54 Rz. 9 ff.; Greter (Fn. 45), ST 2005, 64. 57 U.a. Englisch (Fn. 7), § 5 Rz. 39; Spindler (Fn. 17), DStR 2007, 1061 (1063). 58 U.v. Desens (Fn. 7), S. 54 ff.; Schlenk (Fn. 25), S. 127 ff. 59 Dazu Ziff. IV.2 hinten. 60 Art. 58 Abs. 1 Reglement für das Bundesgericht v. 20.11.2006 (SR 173.110.131). 61 So Tschümperlin in Niggli/Übersax/Wiprächtiger, Bundesgerichtsgesetz, Basler Kommentar, 2. Aufl. 2011, Art. 27 Rz. 7 und 13. Die Frage, welche Bedeutung den nicht in der Amtlichen Sammlung des Bundesgerichts aufgenommenen Urteilen zukommt, ist aber umstritten. Sie wird vor allem im Zusammenhang mit der Berufshaftpflicht der Anwälte und Anwältinnen in der Literatur kontrovers diskutiert. Dazu Fischer/Ramp, Kreisschreiben 40 der EStV – Verwirkung der Verrechnungssteuer-Rückerstattung, Der Schweizer Treuhänder (ST) 2014, 503 (505 f.). 62 So Tschümperlin (Fn. 61), Art. 27 Rz. 13.

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leitenden Charakter haben und somit über den Einzelfall hinaus angewendet werden sollen63. Ein Gerichtsurteil kann Umsetzungs- oder Folgefragen aufwerfen. Das Bedürfnis der Finanzverwaltung, ein solches Urteil erst gestützt auf eine neue oder angepasste Verwaltungsanweisung anwenden zu lassen, ist anzuerkennen64. Allerdings ist der Kritik in der Lehre zuzustimmen, dass eine verzögerte oder unterlassene Publikation erhebliche Rechtunsicherheit auslösen kann65, insbesondere mit Blick auf die im Zeitalter des Internets unmittelbare Verfügbarkeit der Urteile. Eine zeitnahe Publikation, unter Umständen mit dem Hinweis, dass die genaue Umsetzung oder gegebenenfalls Anpassung einer bestehenden Verwaltungsvorschrift vorbehalten wird, ist vorziehen. Einen – nicht unwesentlichen – Vorteil hat indes das deutsche System. Es stellt, wenn auch aus Sicht der Steuerpflichtigen gegebenenfalls im negativen Sinne, eine rechtsgleiche Behandlung in allen Bundesländern sicher. In der Schweiz ist diese Gewähr, so lange zu einem Urteil keine Verwaltungsvorschrift der Eidg. Steuerverwaltung66 ergangen ist, nicht gegeben67. Die Umsetzung eines Bundesgerichtsurteils in den Kantonen fällt doch ab und zu nicht übereinstimmend aus. 4. Vermeidung von Gerichtsurteilen mit prozessualen Instrumenten Aus prozessrechtlicher Sicht etwas seltsam erscheint von der Außensicht auch die Möglichkeit, dass die Finanzverwaltung, nachdem der BFH einen Gerichtsbescheid gefällt hat, um eine mündliche Verhandlung ersuchen und durch einen Abhilfe­ entscheid verhindern kann, dass ein Urteil ergeht68. Die Kritik an dieser „Nicht­

63 Dieser Grundsatz gilt aber nicht absolut. So nimmt die Eidg. Steuerverwaltung auch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichte Urteile zum Anlass, eine Verwaltungspraxis anzupassen und gegebenenfalls zu verschärfen. So bspw. geschehen als Folge der bereits in Fn. 41 und 42 vorne zitierten Urteile zu den Voraussetzungen der Rückerstattung der Verrechnungssteuer an natürliche Personen. Kritisch Fischer/Ramp (Fn.  61), ST 2014, 503 (505 f.). 64 So auch Desens (Fn. 7), S. 64 f. 65 Spindler (Fn. 17), DStR 2007, 1061 (1062). Grundsätzlich ablehnend Weber-Grellet (Fn. 7), S. 938. 66 Oder gegebenenfalls Praxishinweise der Schweizerischen Steuerkonferenz, die als Vereinigung aller kantonalen Steuerverwaltungen und der Eidg. Steuerverwaltung gelegentlich Analysen von Bundesgerichtsurteilen erstellt, die zwar für die einzelnen kantonalen Steuerverwaltungen nicht rechtsverbindlich sind, aber doch recht stark beachtet werden. 67 In der Schweiz ist für die Beurteilung und Umsetzung von Bundesgerichtsurteilen ­neben der Eidg. Steuerverwaltung auch die Schweizerische Steuerkonferenz zuständig, die sämtliche kantonalen Steuerverwaltungen und die Eidg. Steuerverwaltung vereint. Die Schweizerische Steuerkonferenz publiziert gelegentlich Praxishinweise zur allgemeinen Anwendung von Bundesgerichtsurteilen, wobei diese für die kantonalen Steuerverwaltungen aber nicht verbindlich sind. 68 Gemäss § 90a Abs. 3 FGO. Dazu u.a. Desens (Fn. 7), S. 72 ff.; Spindler (Fn. 17), DStR 2007, 1061 (1063); Schlenk (Fn. 25), S. 10.

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anwendungsprophylaxe“69 erscheint berechtigt, vor allem, wenn dieses Instrument von Seiten der Finanzverwaltung tatsächlich dazu benutzt wird, präjudizielle Gerichtsurteile zu verhindern. Aus nachbarschaftlicher Außensicht ist nicht erkennbar, wie – sofern ich das Instrument korrekt verstanden habe – der durch die individuelle Klaglosstellung des im Verfahren betroffenen Steuerpflichtigen entstehende Konflikt zum Rechtsgleichheitsgebot und Gesetzmäßigkeitsprinzip gerechtfertigt werden kann. Zwar ist es auch in der Schweiz möglich, dass die Verwaltung in einem bereits hängigen Beschwerdeverfahren einen Wiederwägungsentscheid fällt, was zur Folge haben kann, dass das Beschwerdeverfahren, sofern kein Rechtsschutzinteresse mehr gegeben ist, vom Gericht als gegenstandslos abgeschrieben wird. Diese Möglichkeit besteht aber nur in den Verfahren vor den unteren oder kantonalen Instanzen70. Vor Bundesgericht besteht diese Möglichkeit nicht mehr71.

IV. Zusammenspiel aus Sicht der Rechtsprechung 1. Vorbemerkung Auch die Rechtsprechung hat die der Verwaltung zukommenden Aufgaben und Kompetenzen zu wahren. Das Verhältnis scheint in dieser Richtung aber weniger Kontroversen auszulösen. Die Verwaltung übt ihre vollziehende Gewalt im Steuerrecht vor allem mittels Verwaltungsvorschriften aus72. Sie zeigen das Auslegungsverständnis der Verwaltung auf und sind auch für die Rechtsprechung von wesentlicher Bedeutung. Die in Deutschland zur Frage der Verbindlichkeit von Verwaltungsvorschriften entwickelte Lehre und Praxis weist dabei viele Parallelen zur schweizerischen auf, auch wenn nicht in allen Aspekten Übereinstimmung besteht. 2. Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften Wenig umstritten ist im Grundsatz, dass Verwaltungsvorschriften für ihre Adressaten, d.h. die Verwaltungsbehörden, an welche sich die Weisung richtet, grundsätzlich verbindlich sind73. Dies ergibt sich einerseits aus der Weisungsbefugnis der zustän­ digen Behörde74 wie andererseits aus dem Zweck von Verwaltungsvorschriften, 69 Desens (Fn. 7), S. 72. 70 Nach Art.  58 Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren v. 20.12.1968 (SR 172.021, VwVG) kann die Vorinstanz bis zu ihrer Vernehmlassung die angefochtene Verfügung in Wiedererwägung ziehen. Dazu auch BGer v. 28.8.2012 – 2C_653/2012. 71 BGer v. 28.6.2010 – 2C_299/2009. 72 Englisch (Fn. 7), § 5 Rz. 32. 73 Englisch (Fn. 7), § 5 Rz. 28. 74 Gersch in Klein, 13.  Aufl. 2016, §  4 AO Rz.  9; Koenig (Fn.  20), §  4 AO Rz.  51. Für die Schweiz: Häfelin/Müller/Uhlmann (Fn. 21), § 2 Rz. 82.

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eine einheitliche und rechtsgleiche Rechtsanwendung sicherzustellen75. Die Verbind­ lichkeit ist nach dem schweizerischen Verständnis aber nicht absolut. Gesetzes- oder verfassungswidrige Verwaltungsvorschriften, bzw. nach schweizerischer Terminologie Verwaltungsverordnungen, sind auch für die adressierten Verwaltungsbehörden nicht verbindlich, wobei eine untere Verwaltungsbehörde aber nicht leichthin, sondern nur in offensichtlichen Fällen von einer solchen Situation ausgehen darf76. Offensichtlichkeit kann unter Umständen vorliegen, wenn das Bundesgericht bzw. der BFH eine bestehende Verwaltungsvorschrift für gesetzes- oder verfassungswidrig erklärt; die untere Verwaltungsbehörde sollte in diesem Fall nicht mehr an die Verwaltungsvorschrift gebunden sein. Wenig umstritten ist auch, dass Verwaltungsvorschriften für die Rechtsprechung grundsätzlich nicht bindend sind und die Aufgabe der Gerichte gerade darin besteht, die Gesetzeskonformität der Verwaltungsvorschriften und ihre Anwendung im Einzelfall zu überprüfen. Der Differenzierung in norminterpretierende, ermessenslenkende und typisierende Verwaltungsvorschriften, die von der deutschen Lehre und Praxis entwickelt wurde, scheint aus der Außensicht dabei sachgerecht77. In der Schweiz ist diese Differenzierung weniger weit fortgeschritten, auch wenn sie in der Lehre, insbesondere für ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften in ähnlicher Weise vertreten wird78. Trotz der grundsätzlichen Unverbindlichkeit von Verwaltungsverordnungen ist in der Schweiz zudem eine eher große Zurückhaltung der Gerichte in ihrer Überprüfung festzustellen. Nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichts soll ein Gericht nicht ohne triftigen Grund von einer Verwaltungsverordnung abweichen, wenn und solange diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellt79. Soweit ersichtlich, fühlt sich der BFH bei norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften um einiges freier80. 3. Beitritt der Verwaltung in ein Verfahren Das nach § 122 Abs. 2 FGO bestehende Beitrittsrecht des BMF in ein Revisionsverfahren vor dem BFH wirft als solches wenige Fragen auf. Auch in der Schweiz kann sich die Eidg. Steuerverwaltung erst vor Bundesgericht an einem Verfahren beteiligen, selber Beschwerde erheben oder eine Vernehmlassung abgeben81. Von der Außensicht speziell ist allerdings der Umstand, dass der BFH selber das BMF zum Bei75 Englisch (Fn. 7), § 5 Rz. 32. 76 Beusch (Fn. 11), Art. 102 Rz. 16; Häfelin/Müller/Uhlmann (Fn. 21), § 28 Rz. 2031; Locher (Fn. 46), Art. 102 Rz. 27. 77 U.a. Englisch (Fn. 7), § 5 Rz. 34 ff.; Gersch (Fn. 74), § 4 AO Rz. 10; Koenig (Fn. 20), § 4 AO Rz. 54 ff. 78 Uhlmann/Binder, Verwaltungsverordnungen in der Rechtsetzung: Gedanken über Pechmarie, LeGes – Gesetzgebung und Evaluation 2009, 151 (157). 79 BGer v. 19.4.2015  – 2C_781/2014, BGE 141 II 199 (205). Dazu auch Beusch (Fn.  11), Art. 102 Rz. 17; Locher (Fn. 46), Art. 102 Rz. 27. 80 BFH v. 23.8.2017 – I R 52/14, DStR 2017, 2322 Rz. 16. 81 Koller in Zweifel/Beusch (Fn. 11), Art. 146 Rz. 116 ff.

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tritt auffordern kann. Wenn auch aus prozessrechtlicher Sicht erklärungsbedürftig, scheint die Beitrittsaufforderung ein passendes Instrument zu sein, um unter Berücksichtigung sämtlicher Argumente zu einer zutreffenden Rechtsfindung zu gelangen, unter der Voraussetzung, dass die Argumente und die Position der in das Verfahren involvierten steuerpflichtigen Person dadurch nicht geschmälert werden.

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … H.

Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als Auslegungstopos – Aus Sicht der Rechtsprechung Von Jürgen Brandt

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Anwendung (gesetzlicher) Verein­ fachungszwecknormen 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen 2. Pauschalierung und Typisierung als Mittel des Gesetzgebers zur ­Vereinfachung 3. Grenzen gesetzlicher Steuerverein­ fachung durch Pauschalierung und Typisierung 4. Zulässige (gesetzliche) Vereinfachungs-, Pauschalierungs- und Typisierungsregelungen a) Pauschalierung des steuerbaren privaten Nutzungsanteils eines betrieblichen Kfz für Familienheimfahrten Selbständiger im Rahmen einer doppelten Haushaltsführung b) Typisierende Regelung zur Abziehbarkeit von Aufwendungen für häusliche Arbeitszimmer c) Typisierende Einschränkung des Werbungskostenabzugs im Rahmen der Abgeltungsteuer d) Pauschalbesteuerung ausländischer sog. „Schwarzer Fonds“ e) Verfassungsmäßigkeit des typisiert mit 6 % festgesetzten Zinssatzes für Nachzahlungszinsen nach § 233a AO

5. Einschränkende Auslegung gesetzlicher Vereinfachungs-, Pauschalierungs- und Typisierungsregelungen a) Einschränkende Auslegung der Abzugsverbote für Aufwendungen i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 EStG b) Typisierende Abgrenzung der Werbungskosten von Sonderausgaben bei der einkommensteuerlichen Berücksichtigung von Ausbildungskosten c) Einschränkung der Abfärbewirkung gewerblicher Tätigkeiten auf Personengesellschaften von Freiberuflern durch die sog. Bagatellgrenze d) Einschränkende Auslegung der Gewinnermittlungsvorschrift in § 20 Abs. 4a EStG e) Zulässigkeit depotübergreifender Verlustverrechnung durch (einschränkende) Auslegung des § 20 Abs. 6 Satz 1 EStG bei Antragsveranlagung nach § 32d Abs. 4 EStG III. Vereinfachungsregelungen der Verwaltung in der finanzgerichtlichen Praxis IV. Vereinfachung als Auslegungstopos der Rechtsprechung 1. Grundlagen vereinfachender Auslegung des Steuerrechts durch die Rechtsprechung

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Jürgen Brandt 2. Vereinfachende Typisierungen und Pauschalierungen der Rechtsprechung a) Extensive Auslegung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG zur einfachen Handhabung der Prüfung hinreichender Eingliederung als Voraussetzung einer Organschaft als Vereinfachung b) Typisierende Ermittlung der notwendigen Unterkunftskosten am Beschäftigungsort im Zusammenhang mit einer doppelten Haushaltsführung

c) Standardisierung der Voraussetzungen für die Annahme von Herstellungskosten eines Gebäudes zur Abgrenzung von sofort abziehbaren Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung

I. Einführung Vor dem Hintergrund „ewiger Diskussion um Steuervereinfachung und ihre Grenzen“1 schon seit dem Reichseinkommensteuergesetz 19202, unterschiedlicher Schuldzuweisungen an Gesetzgebung3, Verwaltung4 und Rechtsprechung5 für die Kompliziertheit des Steuerrechts6 sowie permanent erhobener Forderungen, „Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung“ zu schaffen7, gibt der 100. Jahrestag der Gründung einer eigenständigen höchstrichterlichen Steuerrechtsprechung berechtigt Anlass, sich den immer wieder unternommenen Bemühungen8 um eine – bereits hinsicht-

1 So der Titel des Vortrags der früheren Vorsitzenden des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages Reinemund auf dem 9. Deutschen Finanzgerichtstag 2012 in DFGT 8/9 (2011/2012), S. 213; vgl auch Ebling in DFGT 1 (2004), 2004, S. 191. 2 Vgl. Nachweise bei Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Gesetzgeber, 2009, S. 36. 3 Ebling/Ebling in FS Spindler, S. 51 (52); Däke in Rose (Hrsg.), Steuern einfacher machen!, Dritter Heidelberger Steuerkongress 1998, 1999, S. 9 (10–11): Mangelnde Systemorientierung und Missbrauch der Steuergesetze zu Lenkungszwecken sowie Ausweitung der Staatsaufgaben und Einfluss von Sonderinteresse wie das föderalistische Besitzstandsdenken; Lang in FS Spindler, S. 139 (143); kritisch dazu Raupach in FS 75 Jahre RFH/BFH, S. 163 (180): Ursächlich eher die Abgrenzung der Einkunftsarten, der Privat- und Erwerbssphäre sowie der Abzug außergewöhnlicher Belastungen. 4 Klein in FS Meyding, S. 73 (74). 5 Vgl. Hoffmann, DStR 2010, Heft 51–52; Meßmer, StuW 1988, 223; Kalmes, Stbg 1985, 16; Mangold, DStR 1975, 402; Spindler, ThürVBl 2010, 226. 6 Vgl. Utermöhlen in FS 50  Jahre Niedersächsisches Finanzgericht, S.  58; Wagner FR 2012, 653: Hinsichtlich der Komplexität keine Sonderstellung Deutschlands im internationalen Vergleich (Platz 65 von 177 Staaten). 7 S. Pohmer in FS Meyding, S. 21; Lang in FS Meyding, S. 33 (36) und in FS Spindler, S. 139 (140); Kirchhof in Bornfelder (Hrsg.), FS zum 20jährigen Bestehen der Fachhochschule für Finanzen Nordrhein-Westfalen, S. 23 (32); zur Gratwanderung zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Vereinfachung Jochum in DFGT 8–9 (2011/12), 2013, S. 221 (222). 8 Vgl. z.B. Ebling/Ebling in FS Spindler S. 51 (60) zu den unterschiedlichen Steuerreformmodellen; Lang in FS Spindler, 2011, S.  139 (149); Thiel in FS Tipke, S.  295 (315) zum JStG 1996; Reinemund in DFGT 8–9 (2011/12), 2013, S. 213 (219).

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lich ihrer Voraussetzungen streitige9 – Vereinfachung des Steuerrechts aus der besonderen Sicht der Rechtsprechung zu widmen10. Die Vielschichtigkeit des Themas „Steuervereinfachung“ bildet sich schon in der Diskussion über die Wahrnehmung des Steuerrechts „als Steuerchaos“11, Steuerdschungel12, Steuerdickicht13 oder Steuerwirrwarr“14 und in der dadurch veranlassten allgemeinen Forderung nach einem „einfacheren Steuersystem“ ab15, selbst wenn auch gelegentlich eingeräumt wird, es könne wohl ein wirklich einfaches Steuerrecht in der heutigen Zeit nicht geben16. Vermeidbare Komplizierung abzubauen oder zu vermeiden bleibt danach, auch wenn die Erwartung „Großer Würfe“ einer Steuerreform17 kaum erfüllbar erscheint18, ständige Aufgabe mit dem Ziel, den Weg der Vereinfachung zumindest in kleinen Schritten zu beschreiten19. Dabei kann partiell Steuervereinfachung in materiellrechtlicher Hinsicht durch Reduzierung der Steuer­ arten oder durch Reduzierung steuerlicher Vorschriften  – z.B. unter Verzicht des ­Gesetzgebers auf Ausnahme- und Einzelregelungen sowie Abschaffung von Abzugsregelungen – ebenso wie durch Durchschnittssätze, Vereinfachungsbefreiungen, Frei­ beträge, Freigrenzen, pauschalierte Steuersätze, aber vor allem auch durch Typisierungen und Pauschalierungen erfolgen20. Auch die Senkung von Steuersätzen21 oder die „längere Haltbarkeitsdauer“ steuerrechtlicher Normen werden vor dem Hintergrund häufig auch kurzfristiger Gesetzesänderungen als mögliche Vereinfachungsmaßnahme gesehen22. Vereinfachungen des Besteuerungsverfahrens23 betreffen z.B.

9 Vgl. Brandt in DFGT 1 (2004), 2004, S.  11; Reinemund in DFGT 8–9 (2011/12), 2013, S.  213 (214); Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Gesetzgeber, 2009, S. 40. 10 Zu den Reformvorhaben in der Vergangenheit s. Lang in FS Spindler, S. 139 (140). 11 Daun, Steuerberaterkongress-Report 1993, 3; Lang, BB 2006, 1769. 12 Englisch, DB 2011, Beilage Standpunkte zu Heft 5, 9–10; Ralf P. Schenke in FS Wahl, S. 803. 13 Prinz/v. Wolfersdorf, DB 2016, 509. 14 Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr?, 2006, S.  15; Stakemann, DStZ 1994, 45. 15 Kirchhof in FS Meyding, S. 3; Lang, Stbg 1988, 216; Reinemund in DFGT 8–9 (2011/2012), S. 213. 16 Lang, BB 2006, 1769 (1772). 17 Vgl. Knebel/Kunze, IWB 2007/15 Fach 3, Gruppe 3, 1509; Schmitz, Stbg 1999, 77; Wassermeyer, IStR 2001, 113. 18 Wagner, FR 2012, 653. 19 Rürup/Bizer, Am Staat vorbei, 2004, S. 120 (Transparenz, Fairness und Partizipation kon­ tra Steuerhinterziehung). 20 Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Gesetzgeber, 2009, S. 41 m.w.N: Albert, Bochumer Lohnsteuertag 2005, 2004, S. 139; zur Pauschalierung von Sachzuwendungen nach §  37b EStG Riegler/Riegler, IStR 2011, 903; Weber, NWB 2015, 2136. 21 BMF, BB 1988, 743. 22 Reinemund in Deutscher Finanzgerichtstag 8–9 (2011/2012), S. 213; Kühn, FR 2012, 543 zur Notwendigkeit der Entschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens. 23 Vgl. dazu auch Reimer, in DStJG 37 (2014), 293.

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die vorausgefüllte Steuererklärung24, die E-Bilanz25, das Risikomanagement der Finanzverwaltung26 oder den Verzicht auf bürokratischen Aufwand für den Nachweis steuerrelevanter Besteuerungsgrundlagen sowie den verstärkten IT-Einsatz in der Kommunikation zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigen27. Auch Vorschriften wie die Regelung zur Drittwirkung einer Steuerfestsetzung nach § 166 AO mit der Folge einer Bindungswirkung für Gesamtrechtsnachfolger nach Eintritt der Bestandskraft von Steuerfestsetzungen dienen  – worauf schon der RFH mit Bezug auf die Vorgängerregelung in § 119 RAO hingewiesen hat28 – der Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens29, wie die Regelungen zur Besteuerung der Organschaft30 oder die Regelungen zur einheitlichen und gesonderten Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach der AO31. Im Folgenden soll aus dem weiten Feld der Themen zur Steuervereinfachung zum einen die höchstrichterliche Entscheidungspraxis zu Normen, die der Gesetzgeber unter anderem in Reaktion auf Diskussionen zur Vereinfachung des Steuerrechts geschaffen hat32 und die zum Teil einer einschränkenden, zum Teil aber auch einer erweiternden Auslegung durch die Gerichtsbarkeit unterworfen sind, zum Gegenstand der Ausführungen gemacht werden. Zum anderen umfasst der Beitrag einen Überblick über Entscheidungen, in denen die Rechtsprechung bei der Auslegung der Steuergesetze eigenständig Grundsätze zur Vereinfachung der Besteuerung entwickelt und ihrer Spruchpraxis zu Grunde gelegt hat. Der Sache nach nicht erörtert werden Steuervereinfachungen durch die Verwaltung, weil sie Gegenstand des Beitrags von Schmitt sind und deshalb aus der Sicht der Rechtsprechung lediglich der Gesichtspunkt richterlicher Bindung an norminterpretierende oder sonstige Vereinfachungsvorschriften der Verwaltung anzusprechen ist.

24 Braun, NWB 2014, 291. 25 Goldshteyn/Purer, StBp 2014, 61; Ley, in DFGT 9 (2012), 2013, S. 231. 26 Drüen in DFGT 9 (2012), 2013, S. 253; Engels, ZSteu 2012, 24. 27 Vgl. dazu Birk, Iur 1988, 185; vgl auch zur Verfahrensvereinfachung durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens Bruhn/Sonnenschein, NWB 2016, 2636; Gläser/Schöllhorn, DStR 2016, 1577; Gehm, StuB 2016, 580; Habbel/Müller, DStR 2016, 2791; Krebs, DB Beilage 2016, Nr. 4, 13. 28 RFH v. 17.1.1939 – I 345/38, RStBl. 1939, 325. 29 BFH v. 16.5.2017 – VII R 25/16, BStBl. II 2017, 934; v. 27.9.2017 – XI R 9/16, BFHE 259, 221. 30 Vgl. Middendorf/Holtrichter, StuB 2013, 123 zum Gesetz zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts vom 20.2.2013; Wäger, UR 2016, 173. 31 BFH v. 12.4.2016 – VIII R 24/13, BFH/NV 2016, 2222 m.w.N; Kanzler, BBV 2009, Nr. 9, 32. 32 Vgl. das im StVereinfG 2011 durch den Gesetzgeber eingeführte formalisierte Nachweisverlangen des § 64 Abs. 1 Nr. 1 EStDV als Voraussetzung für die ertragsteuerliche Anerkennung zwangsläufiger krankheitsbedingter Aufwendungen; zur bejahten Verfassungsmäßigkeit der Regelung BFH v. 25.4.2017  – VIII R 52/13, BStBl.  II 2017, 949 unter Bezugnahme auf BFH v. 19.4.2012 – VI R 74/10, BStBl. II 2012, 577.

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II. Anwendung (gesetzlicher) Vereinfachungszwecknormen 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen Steuerrecht – und dies gilt auch für darauf bezogene und am Gerechtigkeitsgedanken  zu orientierende33 Vereinfachungszwecknormen mit der Intention einfacherer Steuerentstehung und Steuerverwirklichung gegenüber dem eigentlichen Normenkonzept34 – lebt aus dem „Dictum des Gesetzgebers“35: Der im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerte Vorbehalt des Gesetzes verlangt, dass der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muss und deshalb insbesondere im Steuerrecht einem strengen Gesetzesvorbehalt unterworfen ist36, auch wenn er bei Auswahl des Steuergegenstandes und Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum hat37. Grenzen setzt aber insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG mit dem Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln38. Damit verbunden ist das Gebot, die Steuerlast an der finanziellen Leistungsfähigkeit auszurichten und die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig i.S. der Belastungsgleichheit umzusetzen, soweit nicht ein besonderer sachlicher Grund eine Ausnahme rechtfertigt39. Als solche Ausnahmen kommen neben außerfiskalischen Förderungs- und Lenkungszwecken vor allem Normen in Betracht, die Typisierungs- und Vereinfachungserfordernissen Rechnung tragen sollen40, nicht aber solche, die lediglich dem rein fiskalischen Zweck staatlicher Einnahmenerhöhung zu dienen bestimmt sind41.

33 Däke in Rose (Hrsg.), Steuern einfacher machen!, Dritter Heidelberger Steuerkongress 1998, 1999, S. 9 (15). 34 Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Gesetzgeber, 2009, S. 45. 35 BFH v. 15.3.2000 – X R 130/97, BStBl. II 2001, 530 Rz. 35 unter Bezugnahme auf BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 232/60, BVerfGE 13, 318 (328) ; v. 14.11.2001 – X R 32–33/01, BStBl. II 2002, 183 Rz. 47. 36 BVerfG v. 5.11.2014  – 1 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350 unter Bezugnahme auf BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 232/60, BVerfGE 13, 318. 37 Vgl. BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27, unter C.I.1.b, und v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, unter C.II.1.d; Kirchhof in FS Meyding, S. 3 (9, 14). 38 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, DStR 2017, 1094 Rz. 98; v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07, BVerfGE 133, 377 Rz. 73; v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268, BStBl. II 2011, 318 Rz 35; BFH v. 9.11.2017 – III R 10/16, BStBl. II 2018, 255. 39 Ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 Rz. 36 m.w.N.; BFH v. 20.9.2012 – IV R 36/10, BStBl. II 2013, 498 Rz 23; und v. 10.9.2015 – IV R 8/13, BStBl. II 2015, 1046 Rz 14. 40 Mellinghoff in FS Spindler, S. 153 (165). 41 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 Rz. 58 ff.; v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1, unter C.I.2.a aa; v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, DStR 2010, 1563 (1565); BFH v. 20.9.2012 – IV R 36/10, BStBl. II 2013, 498 Rz 24; v. 10.9.2015 – IV R 8/13, BStBl. II 2015, 1046 Rz 15.

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Beispiele: 1. Vereinbarkeit der Mindestbesteuerung nach § 2b EStG 1999 mit Art. 3 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des BFH zu Ausgleichsbeschränkungen für nicht definitive Verluste42, wenn sie überhaupt steuerlich berücksichtigt werden43. 2. Verfassungskonforme – vereinfachende – Nichtberücksichtigung der Kinderfreibeträge bei der Ermittlung des Pauschsteuersatzes nach § 40 Abs. 1 EStG im Lohnsteuer-Abzugsverfahren44 wegen des möglichen Antrags auf pauschale Besteuerung nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG45. 3. Zulässige Typisierung durch Abschaffung der Abzugsfähigkeit der Gewerbesteuer mit § 4 Abs. 5b EStG und gleichzeitige Erhöhung des Anrechnungsfaktors der Gewerbesteuer in § 35 Abs. 1 EStG auf die Einkommensteuer zur Verbesserung der Steuerbelastungstransparenz und Entflechtung der Finanzierungsströme staatlicher und kommunaler Ebene46. 4. Zulässige typisierende Übernahme der Steuerbilanzwerte nach § 12 Abs. 5 Satz 2 ErbStG i.d.F. der Bekanntmachung vom 27.2.199747 i.V.m §§ 95 bis 99, 103, 104 und 109 Abs. 1 und 2 und § 137 BewG a.F. zur Entlastung mittelständische Unternehmen und zur vereinfachenden Vermeidung einer eigenen Wertermittlung für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer48. Aber auch wenn Steuergesetze in der Regel wegen ihrer Erfassung von Massenvorgängen des Wirtschaftslebens im Interesse der Praktikabilität Sachverhalte, an die sie dieselben steuerrechtlichen Folgen knüpfen, typisieren und dabei in weitem Umfang die Besonderheiten des einzelnen Falles vernachlässigen können49, darf die dadurch veranlasste wirtschaftlich ungleiche Wirkung auf die Steuerzahler ein gewisses Maß nicht übersteigen. Vielmehr müssen die steuerlichen Vorteile der Typisierung im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen50. Außerdem darf eine gesetzliche Typisierung kei-

42 Vgl. BFH v. 22.8.2012  – I R 9/11, BStBl.  II 2013, 512, und v. 20.9.2012  – IV R 36/10, BStBl. II 2013, 498; einschränkend zur Mindestbeteuerung nach § 10a GewStG aber Vorlagebeschluss des BFH v. 26.2.2014 – I R 59/12, BStBl. II 2014, 1016. 43 BFH v. 22.9.2016  – IV R 2/13 BStBl.  II 2017, 165 Rz.  34 unter Bezugnahme auf BFH v. 28.4.2016 – IV R 20/13, BStBl. II 2016, 739 Rz. 18 m.w.N. 44 Vgl. Heuermann in Blümich, § 40 EStG Rz. 62; Seifert in Korn, § 40 EStG Rz. 1; Wermelskirchen in Lademann, § 40 EStG Rz. 1; Frotscher, § 40 EStG Rz. 1; Wagner in HHR, § 40 EStG Rz. 17. 45 BFH v. 26.7.2007 – VI R 48/03, BStBl. II 2007, 844. 46 BFH v. 10.9.2015 – IV R 8/13, BStBl. II 2015, 1046 Rz. 22. 47 BGBl. I 1997, 378, BStBl. I 1997, 298. 48 BFH v. 17.4.2013 – II R 13/11, BFH/NV 2013, 1383 mit Anm. Grewe, ErbBstg 2014, 38, Schwetlik, GmbH-StB 2013, 304. 49 Jachmann in DFGT 2 (2005), S. 59 (84). 50 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, 1 BvR 1748/99, BVerfGE 110, 274 Rz. 58; v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350 Rz. 66.

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nen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss sich realitätsgerecht am typischen Fall orientieren51. 2. Pauschalierung und Typisierung als Mittel des Gesetzgebers zur ­Vereinfachung Neben der Abschaffung von Steuern oder von steuerlichen Abzugsmöglichkeiten und neben Tarifsenkungen sind vor allem Pauschalierung und Typisierung Mittel gesetzlicher Steuervereinfachungen, die nach der Rechtsprechung des BVerfG zur Bewältigung des steuerlichen „Massenverfahrens“ zulässig sind52. Gerade im Bereich des objektiven Nettoprinzips verlangt Steuergerechtigkeit praktikable Einfachheit des Gesetzes53, um das Massengeschäft der Besteuerung zu ermöglichen54. Dabei darf der Gesetzgeber nach der Rechtsprechung von einem Gesamtbild ausgehen, das sich aus den ihm vorliegenden Erfahrungen ergibt; dies gilt insbesondere für die Typisierungskompetenz bei der steuerlichen Erfassung gemischt veranlasster Aufwendungen55 wie z.B. Mehraufwendungen für eine aus beruflichem Anlass begründete doppelte Haushaltsführung56. Auf dieser Grundlage zur Abgeltung bestimmter Lasten im Interesse der Vereinfachung des Steuerrechts und der einheitlichen Rechtsanwendung festgesetzte Pauschbeträge verletzen nicht den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG, selbst wenn die dadurch eintretende Minderung der Einkommensteuer verschieden hoch ist57. Allerdings kann eine ursprünglich verfassungsgemäße pauschalierende Regelung durch eine unterlassene Anpassung des Gesetzgebers an veränderte Verhältnisse verfassungswidrig werden; eine Notwendigkeit der Kontrolle und Anpassung ergibt sich insbesondere bei Anknüpfung einer begünstigenden Pauschalregelung an sich häufig ändernde statistische Daten des Wirtschaftslebens58. Ein großer Teil von Vereinfachungsnormen ist im Übrigen darauf ausgerichtet, durch Typisierung komplizierte Lebenssachverhalte übersichtlicher und verständlicher zu machen, um den steuerlichen Belastungsgrund zu verdeutlichen und in das Bewusstsein zu rücken59, die Verwirklichung des Steueranspruchs verfahrensrechtlich zu erleichtern sowie dabei die für den Staat verfügbaren personellen und finanziellen Mittel zu berücksichtigen.

51 Vgl. BVerfG v. 4.7.2012 – 2 BvC 1, 2/11, BVerfGE 132, 39 Rz. 29; Weber-Grellet, FR 2011, 1028 (1030). 52 BVerfG v. 22.7.1991 – 1 BvR 829/89, Inf 1991, 503; v. 31.5.1988 – 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214; v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, HFR 1992, 75; Brockmeyer in FS Offerhaus, S. 13 (17). 53 Jachmann in DFGT 2 (2005), S. 59 (83). 54 Olbertz, BB 1996, 2489 (2494). 55 Jachmann in DFGT 2 (2005), 2005, S. 59 (83). 56 BFH v. 8.7.2010  – VI R 10/08, BStBl.  II 2011, 32 unter Bezugnahme auf BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98 und 1735/00, BVerfGE 107, 27, BStBl. II 2003, 534. 57 BFH v. 29.1.1960 – VI 168/59 U, BFHE 70, 277. 58 BFH v. 1.8.1985  – VI R 28/79 BStBl.  II 1985, 664, bestätigt durch BVerfG v. 8.6.1993  – 1 BvL 20/85, BStBl. II 1994, 59. 59 BVerfG v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1 (6).

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Beispiel: Typisierung der Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte durch eine verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale60. Typisierung ist danach ein wichtiges Mittel der Steuervereinfachung und zur Er­ höhung der Transparenz des Steuerrechts61 um den Preis geringfügiger oder (nur) in  besonders gelagerten Fällen auftretender Ungleichheit62, die nach Ansicht des BVerfG regelmäßig als unvermeidbar hinzunehmen ist63. Beispiele: 1. Zulässige typisierende  – vereinfachende  – Kürzung des Schuldzinsenabzugs im Rahmen des § 4 Abs. 4a EStG64. 2. Typisierend fahrzeugbezogene 1%-Regelung zur Bemessung der Privatnutzung von KfZ im Betriebsvermögen nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG auch bei Nutzung mehrerer Fahrzeuge durch nur eine Person65. 3. Berücksichtigung der Fahrtkosten und der Verpflegungsmehraufwendungen aus Gründen der Folgerichtigkeit und zu Vereinfachungszwecken nach §  4 Abs.  5 Satz 1 Nr. 5 Satz 2 EStG sowie in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG66. 4. Zulässige – typisierende – Einbeziehung von vereinnahmten und noch zu erwartenden Leistungen in die Berechnung der steuerlichen Entlastung der Renten auch für Fälle, in denen der Steuerpflichtige vor Erreichen der statistischen Lebenserwartung verstirbt67. 5. Unwiderlegliche Vermutung in § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG, dass ein Kind, das in der Wohnung des alleinstehenden Steuerpflichtigen gemeldet ist, zu dessen Haushalt gehört68; Zulässige vereinfachende Pauschalierung in § 31 Satz 4 EStG zur Vermeidung der Prüfung bei getrennt lebenden Eltern, welchem Elternteil das Kindergeld zusteht69.

60 Vgl. BFH v. 20.3.2014 – VI R 29/13, BFHE 245, 196 mit Anmerkung Balmes/Jussain, BB 2015, 2909; Gamp, ArbuR 2014, 337; Olbertz, BB 1996, 2489 (2491). 61 Brockmeyer in FS Offerhaus, S. 13 (14). 62 BVerfG v.11.7.1961 – 1 BVR 845/58, BVerfGE 13, 331 (341); v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, 70/63, BVerfGE 21, 12 (24). 63 BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, BVerfGE 21, 12 Rz. 60. 64 BFH v. 30.8.2012 – IV R 48/09, BFH/NV 2013, 187; v. 17.8.2010 – VIII R 42/07, BStBl. II 2010, 1041; vgl. dazu Seiler in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 4 EStG Rz. Ea 83; Tipke, Die Steuerrechtsordnung Band I, 2. Aufl. 2000, § 7 S. 356 unten; Wendt, FR 2000, 417 (427). 65 BFH v. 9.3.2010 – VIII R 24/08, BStBl. II 2010, 903. 66 BFH v. 17.6.2010 – VI R 20/09, BStBl. II 2012, 32 mit Anm. Bergkemper, jurisPR-SteuerR 5/2011 Anm. 1, Müller, FR 2011, 392, Schneider, BFH/PR 2011, 44. 67 BFH v. 6.4.2016 – X R 2/15, BStBl. II 2016, 733 Rz. 56 m.w.N. 68 BFH v. 5.2.2015  – III R 9/13, BStBl.  II 2015, 926 unter Bezugnahme auf BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224, unter D.I., und v. 22.5.2009 – 2 BvR 310/07, BStBl. II 2009, 884, mit Anm. Görke, BFH/PR 2015, 294, Meurer, EStB 2015, 276, Pflaum, HFR 2015, 758, Schwarz, FamRB 2015, 352, Selder, jurisPR-SteuerR 34/2015 Anm. 3. 69 BFH v. 27.8.2014 – VIII R 16/11, BStBl. II 2015, 996 Rz. 37.

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Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als Auslegungstopos

6. Zulässige Typisierung von Unterkunftskosten im Steuerrecht im Rahmen des steuerrechtlichen Existenzminimums70. 7. Zulässige Vereinfachung durch die sog. Zwölftelregelung zur Bemessung der Kirchensteuer im Falle eines Kirchenaustritts nach Maßgabe der Jahreseinkommensteuer unabhängig von Sondereinkünften nach dem Kirchenaustritt, die auf Tätigkeiten oder Verhältnissen vor dem Kirchenaustritt beruhen71. 8. Zulässige Bestimmung einer Zweitwohnungssteuersatzung zur Steuerpflicht mit Beginn des folgenden Monats nach Wohnsitznahme und Beendigung mit Ablauf des Monats, in dem die Wohnungseigenschaft wegfällt, als Vereinfachungsnorm statt einer taggenauen Anbindung an die Wohndauer72. 9. Zerlegung des Gewerbesteuer-Messbetrages gem. § 29 GewStG nach den gezahlten Arbeitslöhnen im Erhebungszeitraum ohne weitere Differenzierungen (mit Blick auf die zeitliche Dauer, in der eine Betriebsstätte unterhalten wird) wegen des Vereinfachungszwecks der Regelung73. 10. Hinzurechnung von Grundstücksmieten und -pachten gemäß § 8 Nr. 1 Buchst. e GewStG  2002  n.F als durch den Zweck der Vereinfachung gerechtfertigte Pauschalierung74. 11. Vorsteuerpauschalierung zum Zwecke der Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens nach § 23 UStG i.V.m. § 70 UStDV (nur) für bestimmte Berufsgruppen bei leichter und eindeutiger Zuordnung zu einer der in § 70 UStDV genannten Berufsgruppe75. 12. Berechnung der Luftverkehrsteuer gemäß § 11 LuftVStG aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung typisierend nach der Zuordnung des Ziellandes zu einer von drei Länderklassen76. 3. Grenzen gesetzlicher Steuervereinfachung durch Pauschalierung und ­Typisierung Gesetzliche Vereinfachungsregelungen wie insbesondere Pauschalierungen und Typisierungen entbehren allerdings nach der Rechtsprechung dann einer hinreichenden verfassungsrechtlichen Rechtfertigung nach Maßgabe des Art. 3 Abs. 1 GG, wenn die 70 BFH v. 8.8.2013 – III R 30/12, BFH/NV 2014, 498. 71 FG München v. 23.11.1987 – XIII 187/87. 72 OVG Berlin-Brandenburg v. 14.5.2014  – OVG 9 A 4.11; v. 26.1.2015  – OVG 9 B 7.14, NVwZ-RR 2015, 476 Rz. 20; a.A. noch OVG Berlin-Brandenburg v. 22.11.2006 – OVG 9 A 68.05, juris Rz. 63 ff. 73 BFH v. 5.6.2007 – I R 49/06, BFH/NV 2007, 2346. 74 BFH v. 4.6.2014 – I R 70/12, BStBl. II 2015, 289; Verfassungsbeschwerde durch BVerfG v. 26.2.2016 – 1 BvR 2836/14, BB 2016, 1186 nicht angenommen; v. 8.12.2016 – IV R 55/10, BStBl. II 2017, 722; vgl. dazu Schiffers/Köster, DStZ 2017, 794 (813). 75 BFH v. 23.7.2009 – V R 66/07, BStBl. II 2010, 86: Keine Möglichkeit zur Unterscheidung zwischen Literaturübersetzern, und Fachübersetzern, weil dies wegen der zusätzlichen Abgrenzungsschwierigkeiten dem Vereinfachungszweck der Vorschrift widerspräche. 76 BFH v. 1.12.2015 – VII R 51/13, BFH/NV 2016, 592.

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Verwaltungsvereinfachung im Massenverfahren nicht mehr im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung steht77. Beispiele: 1. Unvereinbarkeit des § 4 Nr. 14 Satz 2 UStG 1973 mit Art. 3 Abs. 1 GG, soweit ärztliche Laborgemeinschaften aller Größenordnungen Steuerfreiheit für Leistungen an ihre Mitglieder erhielten, Leistungen gewerblicher Analyseunternehmen an Ärzte hingegen steuerpflichtig waren78. 2. (Berechtigter) Vorlagebeschluss des BFH an das BVerfG, ob § 40b Abs. 4, Abs. 5 Satz 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 vom 13. Dezember 200679 i.V.m. § 40 Abs. 3 Satz 1 EStG insoweit mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, als danach der Arbeitgeber auf Sonderzahlungen i.S. des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Satz 2 EStG i.d.F. des JStG 2007 zwangsweise pauschale Lohnsteuer zu zahlen hat, durch die er selbst definitiv belastet wird, obwohl die in § 40b Abs. 4 EStG vom Arbeitgeber erhobene Steuer nach der ausdrücklichen Entscheidung des Gesetzgebers eine auf Einkünfte des Arbeitnehmers entfallende Einkommensteuer ist und damit eine Einkommensteuer auf Einkünfte erhoben wird, die ein anderes Rechtssubjekt erzielt hat80. In der Praxis der Finanzgerichte wie auch des BFH stellt sich mithin häufig die Frage, ob der Gesetzgeber mit Vereinfachungszwecknormen insbesondere in der Gestalt von Typisierungs- und Pauschalierungsregelungen die verfassungsrechtlichen Grenzen für eine solche Typisierung und Pauschalierung gewahrt hat. Ebenso ist zu prüfen, ob im Einzelfall die ggfs. überschießende Funktion solcher Regelungen oder deren überdehnende Auslegung durch die Verwaltung eine einschränkende Auslegung der Vereinfachungs-, Pauschalierungs- und Typisierungsnormen erforderlich macht. Beispiele: 1. Die 1%-Regelung in § 8 Abs. 2 Satz 2 EStG als grundsätzlich zwingende, stark typisierende und pauschalierende Bewertungsvorschrift81 zur Vereinfachung der Bewertung privater Nutzung von Dienstwagen82 ist einschränkend auszulegen: sie ist nur auf die Bewertung der Privatnutzung unabhängig vom Umfang der tatsächlichen Nutzung, nicht aber auf die übrige Nutzung des Dienstwagens für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte anzuwenden, weil deren Umfang ohne größeren Aufwand festzustellen ist83. 77 BFH v. 19.2.1993 – VI R 74/91, BStBl. II 1993, 551, Vorlage an das BVerfG aus anderen Gründen zurückgezogen durch BFH v. 20.7.1997  – VI R 74/91, BStBl.  II 1998, 591; vgl. dazu Kirchhof in Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3.  Aufl., Bd.  V, §  118 Die Steuern Tz.  98, 99., und in Finanzverwaltung und Grundgesetz, Festschrift 40 Jahre Bundesfinanzakademie, 1992, S. 1 (10). 78 BVerfG v. 26.10.1976 – 1 BvR 191/74, BVerfGE 43, 58–75. 79 BGBl. I 2006, 2878, BStBl. I 2007, 28. 80 BFH v. 14.11.2013 – VI R 50/12, BFHE 243, 544, anhängig beim BVerfG unter 2 BvL 8/14. 81 BFH v. 13.2.2003 – X R 23/01, BStBl. II 2003, 472; v. 7.11.2006 – VI R 95/04, BStBl. II 2007, 269. 82 BT-Drucks. 13/1686, S. 8. 83 BFH v. 4.4.2008 – VI R 68/05, BStBl. II 2008, 890.

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Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als Auslegungstopos

2. Der Charakter von § 3 Nr. 13 EStG als Werbungskosten-Ersatzvorschrift lässt nach der Rechtsprechung die steuerfreie Ersetzung nur solcher Aufwendungen zu, die ihrer Natur nach Werbungskosten i.S. von § 9 Abs. 1 EStG sind, nicht aber von Reise- bzw. Umzugskostenvergütungen aus öffentlichen Kassen, soweit sie den Aufwand im Sinne des Werbungskostenbegriffs überstiegen84. 3. Da der Arbeitnehmer-Pauschbetrag (§ 9a Satz 1 Nr. 1 EStG) von den Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit (nur) abgezogen wird, wenn nicht höhere Werbungskosten nachgewiesen werden, kann ein Arbeitnehmer nicht von den Einnahmen aus seinem ersten Arbeitsverhältnis die tatsächlichen Werbungskosten und von den Einnahmen aus seinem zweiten Arbeitsverhältnis den Pauschbetrag abziehen. Entsprechend kann auch ein Steuerpflichtiger die den Pauschbetrag übersteigenden tatsächlichen Werbungskosten nicht von den Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit und sodann den Pauschbetrag von den steuerfreien Leistungen abzuziehen. Der mit der Pauschbetragsregelung des § 9a EStG verfolgte Vereinfachungszweck85 kann nicht mehr erreicht werden, wenn die Werbungskosten bereits konkret ermittelt wurden86. 4. Zulässige (gesetzliche) Vereinfachungs-, Pauschalierungs- und ­Typisierungsregelungen Angesichts des weitreichenden Spielraums, den der Gesetzgeber bei der Gestaltung des materiellen Steuerrechts hat87 und mit Blick auf die grundsätzliche Vereinbarkeit von Ungleichbehandlungen durch Vereinfachungs-, Pauschalierungs- und Typisierungsnormen mit Art.  3 Abs.  1 GG  – wenn dafür ein besonderer sachlicher Grund als Rechtfertigung gegeben ist88 und die angestrebte Vereinfachung im Massenverfahren nicht außer Verhältnis zu der mit der Typisierung verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung steht89 – sieht die Rechtsprechung nur ausnahmsweise verfassungsrechtliche Bedenken gegen solche Normen oder Handlungsbedarf für ihre einschränkende oder extensive Auslegung90 und legt sie im Übrigen regelmäßig ohne 84 BFH v. 12.4.2007 – VI R 53/04, BStBl. II 2007, 536 m.w.N. 85 BFH v. 29.10.1998 – XI R 63/97, BStBl. II 1999, 588. 86 BFH v. 25.9.2014 – III R 61/12, BFHE 247, 146, BStBl. II 2015, 182; ebenso Heuermann, DStR 1995, 1662; Kuhn/Kühner in Herrmann/Heuer/Raupach, § 32b EStG Rz. 181; Dankmeyer in Frotscher, 2011, § 32b EStG Rz. 76; Wagner in Blümich, § 32b EStG Rz 54; a.A. Heinicke in Schmidt, 33. Aufl., § 32b EStG Rz. 25. 87 Vgl. BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27, unter C.I.1.b, und v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, unter C.II.1.d; Kirchhof in FS Meyding, S. 3 (9, 14). 88 Ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 Rz. 36 m.w.N.; BFH v. 20.9.2012 – IV R 36/10, BStBl. II 2013, 498 Rz. 23; und v. 10.9.2015 – IV R 8/13, BStBl. II 2015, 1046 Rz. 14. 89 BFH v. 19.2.1993 – VI R 74/91, aus anderen Gründen aufgehoben durch BFH v. 20.7.1997 – VI R 74/91, BStBl. II 1998, 591; vgl. dazu Kirchhof in Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Bd. V, § 118 Die Steuern Tz. 98, 99., und in FS 40 Jahre Bundesfinanzakademie, S. 1 (10). 90 S. dazu unter II. 5.

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Einschränkungen ihrer Spruchpraxis zugrunde. Dies zeigen die nachfolgenden Beispiele: a) Pauschalierung des steuerbaren privaten Nutzungsanteils eines ­betrieblichen Kfz für Familienheimfahrten Selbständiger im Rahmen ­einer doppelten Haushaltsführung Die uneingeschränkte Anwendbarkeit dieser Pauschalierung – mit der sog. 0,002%-­​ Regelung – in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG bejaht der BFH unter Bezugnahme auf seine Recht­sprechung zur Verfassungsmäßigkeit der typisierenden 1%-Regelung zur Ermittlung des privaten Nutzungsanteils91 und sieht keinen Verstoß gegen Art.  3 Abs. 1 GG in der Ungleichbehandlung Selbständiger gegenüber von der Vorschrift nicht betroffenen Arbeitnehmern92, denen Fahrzeuge vom Arbeitgeber überlassen werden und die gleichwohl insoweit keinen Vorteil als Arbeitslohn versteuern müssen93. Denn diese Besserstellung der Arbeitnehmer beruht allein auf dem Vereinfachungszweck der Regelung für das Lohnsteuerverfahren bei der Fahrzeugüberlassung an Arbeitnehmer94, dem Arbeitgeber die Erfassung des Vorgangs als Arbeitslohn zu ersparen. Eine solche Vereinfachung ist für selbständige Unternehmer hinsichtlich ihrer eigenen Familienheimfahrten ersichtlich schon deshalb nicht veranlasst, weil sie lediglich ihre eigenen Einnahmen und Ausgaben erfassen müssen95. b) Typisierende Regelung zur Abziehbarkeit von Aufwendungen für häusliche Arbeitszimmer96 Die typisierende Regelung zur Abziehbarkeit dieser Aufwendungen in §  4 Abs.  5 Satz 1 Nr. 6b EStG hat der BFH einschränkungslos als rechtmäßig erachtet, soweit sie 91 Vgl. BFH v. 13.9.2012 – VI R 51/11, BStBl. II 2013, 385. 92 BFH v. 19.6.2013 – VIII R 24/09, BStBl. II 2013, 812 mit Anm. Aweh, EStB 2013, 368, Bolz, AktStR 2013, 581–593, Pezzer, BFH/PR 2013, 389. 93 In Fällen der Fahrzeugüberlassung an Arbeitnehmer für die abzugsberechtigte wöchentliche Familienheimfahrt kein Werbungskostenabzug (§  9 Abs.  1 Satz  3 Nr.  5 EStG), aber auch kein Ansatz eines geldwerten Vorteils für die Fahrzeugüberlassung aus Gründen der angestrebten Vereinfachung (BT-Drucks. 13/1686, 8), selbst wenn der Nutzungsvorteil rechnerisch höher ist als der korrespondierende Werbungskostenabzug (vgl. Kister in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8 EStG Rz. 111). 94 BT-Drucks. 13/1686, 7 f. 95 BFH v. 19.6.2013 – VIII R 24/09, BStBl. II 2013, 812 mit Anm. Aweh, EStB 2013, 368, Bolz, AktStR 2013, 581, Pezzer, BFH/PR 2013, 389. 96 Häusliches Arbeitszimmer i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG ist dabei ein Raum, der seiner Ausstattung nach der Erzielung von Einnahmen dient, ausschließlich oder nahezu ausschließlich zur Erzielung von Einkünften genutzt wird, seiner Lage, Funktion und Ausstattung nach in die häusliche Sphäre des Steuerpflichtigen eingebunden ist und vorwiegend der Erledigung gedanklicher, schriftlicher, verwaltungstechnischer oder -organisatorischer Arbeiten dient (vgl. BFH v. 19.9.2002  – VI R 70/01, BStBl.  II 2003, 139; v. 16.10.2002 – XI R 89/00, BStBl. II 2003, 185; v. 13.11.2002 – VI R 164/00, BStBl. II 2003, 350, und v. 23.1.2003 – IV R 71/00, BStBl. II 2004, 43).

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Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als Auslegungstopos

in Fällen nur teilweiser beruflicher Nutzung mit Blick auf den Vereinfachungszweck der Vorschrift zu einem generellen Ausschluss der Abziehbarkeit führt97. Grundlage dieser Würdigung ist, dass eine Nachprüfung der Nutzung durch die Finanzbehörden wegen des engen Zusammenhangs zur Sphäre der privaten Lebensführung und des Schutzes durch Art. 13 GG wesentlich eingeschränkt oder gar unmöglich ist98. Zudem soll nach der Gesetzgebungsgeschichte99 die typisierende Regelung „eine sachgerechte Abgrenzung des beruflichen und des privaten Bereichs des Steuerpflichtigen“ ermöglichen sowie „Gestaltungsmöglichkeiten unterbinden und den Verwaltungsvollzug erleichtern“100. Eine Aufteilung von Aufwendungen für als Arbeitszimmer ausgestattete Räume in betrieblich oder beruflich veranlasste Aufwendungen einerseits und privat veranlasste Kosten andererseits würde dieses Anliegen konterkarieren. Im Übrigen ist der jeweils behauptete Umfang der Nutzung regelmäßig – objektiv – nicht verifizierbar101. c) Typisierende Einschränkung des Werbungskostenabzugs im Rahmen der Abgeltungsteuer Mit der Einführung einer Abgeltungsteuer für private Kapitalerträge als definitiv wirkende Quellensteuer hat der Gesetzgeber mit Wirkung ab dem 1.1.2009 mit § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG ein umfassendes Abzugsverbot für Werbungskosten mit erheblichem Vereinfachungseffekt102 angeordnet und damit Abhilfe bei der seit Jahrzehnten defizitären administrativen Behandlung von Kapitaleinkünften geschaffen103. Abziehbar ist danach nur noch ein Sparer-Pauschbetrag in Höhe von 801 Euro, der bei Ehegatten, die zusammen veranlagt werden, auf 1.602 Euro verdoppelt wird104. Nach der Rechtsprechung des BFH ist das Werbungskostenabzugsverbot des § 20 Abs. 9 EStG verfassungsgemäß. Denn mit der Gewährung des Sparer-Pauschbetrags in Höhe von 801  Euro hat der Gesetzgeber  – so der BFH  – eine verfassungsrechtlich grundsätzlich anzuerkennende Typisierung der Werbungskosten bei den Beziehern niedriger Kapitaleinkünfte sowie mit der Senkung des Steuertarifs von bisher bis zu 45 % auf nunmehr 25 % zugleich eine verfassungsrechtlich anzuerkennende 97 BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265, unter D.2.b; v. 16.2.2016 – IX R 23/12, BFH/NV 2016, 912, unter II.1; v. 17.2.2016 – X R 32/11, BStBl. II 2016, 708; v. 8.3.2017 – IX R 52/14, BFH/NV 2017, 1017. 98 BVerfG v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297. 99 Vgl. BT-Drucks. 13/1686, 16; BR-Drucks. 171/2/95, 37. 100 BR-Drucks. 171/2/95, 36; kritisch zur Vereinfachungswirkung der Regelungen zum Werbungskostenabzug von Arbeitszimmeraufwendungen Tiedtke/Beck, FR 2004, 801 (813): Fülle an Unklarheiten, Widersprüchen und schwierigen Abgrenzungsproblemen. 101 Zum Verifikationsprinzip vgl. BVerfG v. 27.6.1991  – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (268 ff.); BFH v. 27. 7. 2015 – GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265 mit Anm. Gamp, ArbuR 2016, 113, Jachmann-Michel, jurisPR-SteuerR 18/2016 Anm. 1, Ratschow, BFH/PR 2016, 93, Urbach, BeSt 2016, 22. 102 Vgl. Delp, DB 2015, 1910. 103 Musil, FR 2010, 149. 104 v. Beckerath in Kirchhof, 17. Aufl., § 20 EStG Rz. 186; Moritz/Strohm in Frotscher, 2011, § 20 EStG n.F. Rz. 43 f.

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Typisierung der Werbungskosten bei den Beziehern höherer Kapitaleinkünfte vorgenommen105. Damit hat der Gesetzgeber sein nach der Rechtsprechung des BVerfG bestehendes Recht zur Verabschiedung generalisierender, typisierender und pauschalierender Regelungen ungeachtet der damit im Einzelfall verbundenen Härten gegen die Belastungsgleichheit106 verfassungskonform ausgeübt. Dies gilt umso mehr, als das BVerfG selbst bereits in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Zinsbesteuerung die Möglichkeit der Typisierung der Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen durch die Einräumung eines Freibetrags und die Senkung des Steuertarifs anerkannt hat107. Insbesondere ist die getroffene Regelung hinreichend realitätsgerecht, da bei der überwiegenden Zahl der Kleinanleger i.d.R. nicht mehr als 801 Euro an Werbungskosten im Kalenderjahr anfallen108. Des Weiteren hat der BFH darauf hingewiesen, dass bei der kleinen Gruppe der Spitzeninvestoren die Auswirkungen des Abzugsverbots für Werbungskosten durch die Senkung des Steuertarifs von bisher bis zu 45 % auf nunmehr 25 % hinreichend als ausgeglichen angesehen werden können109. Im Übrigen kommt die Fremdfinanzierung von Kapitalanlagen (mit der möglichen Folge erheblicher Werbungskosten) weder im unteren noch im oberen Einkommensbereich mit einer derartigen Häufigkeit vor, dass sie als geradezu typischer Fall betrachtet werden müsste, der bei einer Typisierung der Werbungskosten stets in Rechnung zu stellen wäre110. d) Pauschalbesteuerung ausländischer sog. „Schwarzer Fonds“ Sie hat der BFH nach Maßgabe des §  18 Abs.  3 Satz  1 Halbs.  2 und Satz  4 Ausl­ InvestmG – ungeachtet der Ungleichbehandlung gegenüber inländischen Fonds wegen fehlender Möglichkeit der Steuerpflichtigen, eventuelle tatsächliche niedrigere Einkünfte nachzuweisen oder zumindest durch Vorlage geeigneter Unterlagen eine sachgerechtere Schätzung der tatsächlichen Einkünfte nach § 162 AO zu erreichen – 105 BFH v. 1.7.2014 – VIII R 53/12, BStBl. II 2014, 975; v. 28.1.2015 – VIII R 13/13, BStBl. II 2015, 393; v. 2.12.2014 – VIII R 34/13 BStBl. II 2015, 387, Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG v. 24.3.2016 – 2 BvR 878/15; v.9.6.2015 – VIII R 12/14, BStBl. II 2016, 199; v. 28.2.2018 – VIII R 41/15, DB 2018, 1442 (zur amtlichen Veröffentlichung best.). 106 BVerfG v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348; v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280; v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164. 107 Vgl. BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239; v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94. 108 So BFH v. 1.7.2014 – III R 53/12, BStBl. II 2014, 975 unter Bezugnahme auf Wernsmann in Deutscher Finanzgerichtstag 2008, S.  107 (108); Philipowski, DStR 2009, 353 (356); Eckhoff, FR 2007, 989 (997); Musil, FR 2010, 149 (154); a.A. Englisch, StuW 2007, 221 (239); Jochum in DFGT 8–9 (2011/12), 2013, S.  221 (222); Wenzel, DStR 2009, 1182 (1183). 109 Ebenso Moritz/Strohm in Frotscher, 2011, § 20 EStG n.F. Rz. 45; Wernsmann in Brandt, Deutscher Finanzgerichtstag 2008, S. 107 (108); Philipowski, DStR 2009, 353 (356); Axer, Stbg 2007, 201 (202); Strunk, Stbg 2007, 101 (103); a.A. Eckhoff, FR 2007, 989 (998); Roser/Will/Mendel, FR 2008, 953 (956 f.). 110 Ebenso Eckhoff, FR 2007, 989 (998); Englisch, StuW 2007, 221 (227 f.); Musil, FR 2010, 149 (154).

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als verfassungskonforme und insbesondere mit Art.  3 Abs.  1 GG vereinbare Regelung zur Vereinfachung der Besteuerung angesehen. Danach ist die Regelung innerhalb der Typisierungs- und Pauschalierungsbefugnis des Gesetzgebers geblieben, indem sie „einen legitimen, die Pauschalierung rechtfertigenden Zweck verfolgt“ (Gewährleistung gleichmäßiger Besteuerung für alle Arten von ausländischen Fonds angesichts fehlender Nachweise zur Ermittlung der Einkünfte bei thesaurierenden ausländischen Investmentfonds und Vermeidung nicht gerechtfertigter Steuervorteile)111, die konkrete Ausgestaltung der Norm noch innerhalb seines Gestaltungsspielraumes liegt, der Nachweis der tatsächlichen Einkünfte nach § 18 Abs. 2 AuslInvestmG nicht ausgeschlossen ist112, kein atypischer Fall als Leitbild gewählt wurde und die Höhe noch als angemessen angesehen werden kann113. e) Verfassungsmäßigkeit des typisiert mit 6 % festgesetzten Zinssatzes für Nachzahlungszinsen nach § 233a AO Mit großem Interesse sind die voneinander abweichenden jüngsten Entscheidungen des BFH zur Verfassungsmäßigkeit des typisiert mit 6 % festgesetzten Zinssatzes für Nachzahlungszinsen nach § 233a AO aufgenommen worden. Die Verfassungsmäßigkeit ist auch Gegenstand von drei Verfassungsbeschwerden, die beim BVerfG gegenwärtig anhängig sind.114 Der III. Senat des BFH hat im Anschluss an die bisherige BFH-Rechtsprechung mit Urteil vom 9.11.2017 entschieden, dass die Regelung – jedenfalls für Veranlagungszeiträume bis 2013  – die verfassungsrechtlichen Grenzen der Typisierung aus dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG wahrt: Zum einen sieht er für die Ungleichbehandlung von zinszahlungspflichtigen und nicht zinszahlungspflichtigen Steuerpflichtigen in der Anknüpfung an die entweder geleistete oder nicht geleistete Steuerzahlung und damit in Anknüpfung an den durch Nichtzahlung möglichen Zinsvorteil einen zureichenden Differenzierungsgrund i.S. der Rechtsprechung des BVerfG – hinsichtlich der Zinszahlungspflicht dem Grunde nach –, ohne dass es insoweit auf die tatsächliche Nutzung dieses Vorteils ankommt115. 111 Vgl. BT-Drucks. 5/3494, 16 f. (26). 112 BFH v. 28.7.2015 – VIII R 2/09, BStBl. II 2016, 447 unter Hinweis auf BT-Drucks. 5/3494, 26; Schmitt, DStR 2002, 2193 f.; v. 28.7.2015 – VIII R 39/12, BStBl. II 2016, 464, Verfassungsbeschwerde anhängig unter 2 BvR 59/16. 113 BFH v. 28.7.2015  – VIII R 2/09, BStBl.  II 2016, 447 m. Anm. Brandt, jurisPR-SteuerR 17/2016 Anm.  2; Reiner, GWR 2016, 269; vgl. auch zur Vereinbarkeit der Pauschalbesteuerung nach §  6 InvStG mit dem Unionsrecht BFH v. 17.11.2015  – VIII R 27/12, BStBl. II 2016, 539. 114 Az. des BVerfG 2 BvR 1711/15, vorgehend BFH v. 15.4.2015  – VIII R 30/13; 1 BvR 2422/17, vorgehend BayVGH v. 10.8.2017 – 4 ZB 17.279, KStZ 2018, 90; 1 BvR 2237/14, vorgehend OVG NW v. 10.7.2014 – 14 A 1196/13, Versorgungswirtschaft 2015, 93. 115 BFH v. 9.11.2017 – III R 10/16, BFHE 260, 9; ebenso schon BFH v. 20.4.2011 – I R 80/10, HFR 2011, 1182 Rz. 12 für Zinszeiträume von 1998 bis 2002 sowie für Zeiträume bis 2011

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Zum anderen hat er auch hinsichtlich der Höhe des in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO normierten Zinssatzes, anders als Teile des Schrifttums, keine verfassungsrechtlichen Bedenken gesehen. Vielmehr hat er die typisierende Zinsregelung – auch unter Hinweis auf eine Vielzahl anderer Gerichtsentscheidungen116 – als verfassungskonform angesehen und zur Begründung darauf hingewiesen, dass zur Bemessung des abzuschöpfenden Liquiditätsvorteils durch verzögerte Steuerzahlung nicht allein auf Anlage-, sondern auch auf Finanzierungszinssätze abzustellen ist. Folgerichtig sind danach sowohl Anlagezinsen kürzerer und längerer Laufzeit als auch Finanzierungszinsen für unterschiedliche Finanzierungszwecke mit kürzeren und längeren Laufzeiten und damit die sich daraus ergebende Bandbreite von Zinsen von 0,15 % bis 14,70 % – ungeachtet des seit 2011 unter 1 % gefallenen Leitzinses der Europäischen Zentralbank – zu berücksichtigen. Auf dieser Grundlage – so der III. Senat des BFH – ist die Zinsregelung die vom Gesetzgeber angestrebte „möglichst einfache und für die Verwaltung praktikable Regelung mit einer objektiv-sachlichen Rechtfertigung“117. Abweichend von diesem Urteil des III. Senats hat der IX. Senat des BFH in einem Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO die Vollziehung einer Festsetzung von Nachzahlungszinsen gemäß §§ 233a, 238 AO nach verfahrensgemäß gebotener summarischer Prüfung wegen ernstlicher Zweifel an der Höhe des Zinssatzes von jährlich 6 % – jedenfalls ab dem VZ 2015 – ausgesetzt, weil –– entgegen dem Urteil des III. Senats die Rechtmäßigkeit des Zinssatzes nicht unter Hinweis auf die Zinssätze bei Kreditkartenkrediten für private Haushalte von rund 14 % oder bei Girokontenüberziehungen von rund 9 % gerechtfertigt werden könnten und –– es an einer nachvollziehbaren Begründung für die Höhe des Zinssatzes fehle118. In dem umfangmäßig begrenzten Rahmen dieses Festschriftbeitrags kann diese innerhalb des BFH kontrovers bewertete Streitfrage der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes nicht dezidiert erörtert werden. Die Kontroverse macht allerdings deutlich, BFH v. 1.7.2014  – IX R 31/13, BStBl.  II 2014, 925 Rz.  16  ff; mit zust. Anm. Werth DB 2018, 674; krit. Jonas, FR 2018, 488; Skulesch, StB 2018, Nr. 4, 1. 116 Vgl. BayVGH v. 10.8.2017 – 4 ZB 17.279, juris, für Zinszahlungszeiträume bis Mitte 2014; FG Münster v. 4.4.2017 – 15 K 2127/14 AO, EFG 2017, 960, für Zinszahlungszeiträume bis 2014; VG Schwerin v. 24.8.2016 – 6 A 1223/13, juris, für Zinszahlungszeiträume bis 2013; FG Sachsen-Anhalt v. 20.7.2016 – 3 V 401/16, juris, für Zinszahlungszeiträume bis 2015; VG Köln v. 8.1.2015 – 24 K 3933/14, juris Rz. 18 ff. für Zinszahlungszeiträume des Jahres 2014; FG Münster v. 17.8.2017  – 10 K 2472/16, EFG 2017, 1638; OVG NW v. 10.7.2014  – 14 A 1196/13, juris Rz.  16  f., Verfassungsbeschwerde eingelegt, Az. des BVerfG: 1 BvR 2237/14; VG Minden v. 18.2.2014 – 5 K 1818/13, juris Rz. 11 ff. 117 BFH v. 9.11.2017 – III R 10/16, BFHE 260, 9 unter Anknüpfung an die Rechtsprechung des X. Senats, nach der nicht nur Festgeldanlagen als Vergleichsgröße herangezogen werden dürfen, sondern auch Darlehenszinssätze (vgl. BFH v. 29.5.2013 – X B 233/12, BFH/ NV 2013, 1380 Rz. 6 ff.; betr. Zinszeiträume ab 2009; ebenso BFH v. 19.2.2016 – X S 38/15 (PKH), BFH/NV 2016, 940 Rz. 26 ff. für Zeiträume bis 2013. 118 BFH v. 25.4.2018 – IX B 21/18, DB 2018, 1290 mit Anm. Sonnleitner/Witfeld, FR 2018, 486.

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dass zwar die Grenze zulässiger Typisierung und Pauschalierung rechtlich abstrakt – wie vom III. und IX. Senat dargestellt119 – insoweit rechtlich geklärt ist, als –– die steuerlichen Vorteile der Typisierung im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen müssen120 und –– eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen darf, sondern sich realitätsgerecht am typischen Fall orientieren muss121. Im Einzelfall ist aber eine Überschreitung dieser Grenzen – wie die Verneinung einer Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes in der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung gezeigt hat122 – mit Blick auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Typisierung und Pauschalierung von Regelungen sowie mit Blick auf die notwendige Feststellung eines evidenten Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG123 insbesondere dann schwer feststellbar, wenn die Frage, ob der Gesetzgeber von einem realitätsgerechten Fall ausgegangen ist und die entsprechenden Voraussetzungen noch vorliegen, in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedlich beantwortet wird. Hinzukommt, dass schon die Parameter für die Beurteilung der Realitätsgerechtigkeit – wie hier hinsichtlich der vom III. Senat bejahten, vom IX. Senat aber verneinten Berücksichtigungsfähigkeit von Finanzierungszinssätzen bei der Beurteilung realitätsgerechter (Markt-)Zinssätze – streitig sind. So kann nicht überraschen, dass Gosch124 zu dem Aussetzungsbeschluss des IX. Senats und dessen Hinweis, der Gesetzgeber könne statt der bisherigen starren Zinsregelung von 6 % einen „marktindexierten Zinsfuß“ einführen, Zweifel geäußert hat, ob die Wahl dieser – unstreitig bestehenden – Möglichkeit verfassungsrechtlich als zwingend angesehen werden kann oder dem Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums nicht Freiräume zu einer gröberen Typisierung i.S. einer „fixierten“ Zinssatzbestimmung verbleiben müssten. Dafür könnte sprechen, dass die Verzinsung einer Steuernachzahlung typisierend objektive Zins- und Liquiditätsvorteile des Steuerpflichtigen unabhängig davon ausgleichen soll, ob und ggf. in welchem Umfang diese Vorteile im konkreten Einzelfall tatsächlich in Anspruch genommen worden sind und auf welchen Ursachen sie beruhen.125 119 Vgl. BFH v. 25.4.2018 – IX B 21/18 Rz. 17, DB 2018, 1290; zust. Meyer, WuB 2018, 314. 120 Vgl. BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274; v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1. 121 Z.B. BVerfG v. 7.10.1969 – 2 BvR 555/67, BVerfGE 27, 142; v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224; zum Erfordernis der realitätsgerechten Bemessung des steuerlichen Belastungsgrunds auch BVerfG v. 10.4.2018 – 1 BvL 11/14, 1 BvL 12/14, 1 BvL 1/15, 1 BvR 639/11, 1 BvR 889/12, juris, unter B.IV.1.c. 122 Vgl. BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115 Rz. 29; die Nachweise in BFH v. 9.11.2017 – III R 10/16, BFHE 260, 9. 123 Vgl. BVerfG v. 8.6.1993 – 1 BvL 20/85, BStBl II 1994, 58 (62); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106. 124 Gosch, Global Taxes, TLE-024-2018. 125 BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115; BFH v. 13.12.2011 – VIII B 136/11, BFH/NV 2012, 550; v. 2.2.2001 – XI B 91/00, BFH/NV 2001, 1003.

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Auf dieser Grundlage könnte die Zinspflicht nach § 233a AO mit dem in § 238 Abs. 1 AO geregelten (fixierten) Zinssatz, auch wenn die Regelungen keinen Sanktionscharakter haben126, mit Gosch127 durchaus als Ausdruck des Konzepts angesehen werden, neben der Abschöpfung des Nutzungsvorteils die zeitnahe Abgabe von Steuererklärungen („i.S. eines mittelbaren Druckkonzepts“) zu fördern; bei Annahme eines solchen Konzepts bedürfte es wohl keiner „marktindexierten“ Zinssatzbemessung. Man wird deshalb gespannt sein dürfen, wie das BVerfG die – im Schrifttum verbreitet wegen ihrer Abweichung vom Marktzins als verfassungsrechtlich bedenklich angesehene128 – Zinsregelung in den anhängigen Verfassungsbeschwerdeverfahren am Maßstab des Willkürverbots und insbesondere die Notwendigkeit von Anpassungen an veränderte Verhältnisse beurteilen wird. Einen solchen Anpassungsbedarf hat das BVerfG in der Vergangenheit bejaht, wenn eine begünstigende Pauschalregelung an sich häufig ändernde statistische Daten des Wirtschaftslebens anknüpft129. Allerdings hat das BVerfG seine bisherige Rechtsprechung zur Verfassungsmäßigkeit der Zinsregelung und die mit ihr verbundene Typisierung damit gerechtfertigt, dass gegen eine fortlaufende Anpassung des Zinssatzes an den jeweiligen Marktzins oder an den Basiszinssatz erhebliche praktische Schwierigkeiten sprechen130. 5. Einschränkende Auslegung gesetzlicher Vereinfachungs-, ­Pauschalierungsund Typisierungsregelungen Führt die Anwendung von Vereinfachungsnormen wie insbesondere von Pauschalierungs- und Typisierungsvorschriften zu Ergebnissen, die nicht mehr im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen131, können die ungleichen Folgen in einem Missverhältnis zu den mit der Typisierung verbundenen Vorteilen stehen und deshalb mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar sein132 und insbesondere der Rechtsprechung Anlass für eine einschränkende oder extensive Auslegung geben133.

126 BFH v. 2.2.2001  – XI B 91/00, BFH/NV 2001, 1003; VG Lüneburg v. 6.4.2018  – 2 A 105/17, juris. 127 Gosch, Global Taxes, TLE-024-2018. 128 Vgl. Seer, DB 2014, 1945; Behrens, 2015, 214; Jonas DB 2016, 3000 und DStR 2018, 545. 129 Vgl. BVerfG v. 8.6.1993 – 1 BvL 20/85, BStBl. II 1994, 58 (62). Zur notwendigen Anpassung von Höchstbetragsgrenzen für die Steuerfreiheit von Feiertagszuschlägen; vgl. allgemein zur Anpassungspflicht bei Dauerniedrigzinsen Strotkemper/Witfeld, BB 2016, 2600; Beckmann/Thiele, BB 2016, 2839; Anzinger, DStR 2016, 1766. 130 BVerfG v. 1.9.2009 – 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115. 131 BFH v. 19.2.1993  – VI R 74/91, aus anderen Gründen aufgehoben durch BFH v. 20.7.1997 – VI R 74/91, BStBl. II 1998, 591; vgl. dazu Kirchhof in Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Bd. V, § 118 Die Steuern Tz. 98, 99 und in FS 40 Jahre Bundesfinanzakademie, S. 1 (10). 132 BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, BVerfGE 21, 12 Rz. 60; v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/88, BVerfGE 82, 159. 133 S. dazu unter II. 5 a) ff.

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Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als Auslegungstopos

a) Einschränkende Auslegung der Abzugsverbote für Aufwendungen i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 EStG Ein gutes Beispiel für die  – teilweise  – Notwendigkeit einschränkender Auslegung von Vereinfachungsnormen ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 EStG. Danach dürfen Aufwendungen für Jagd oder Fischerei, für Segeljachten oder Motorjachten sowie für ähnliche Zwecke und für die hiermit zusammenhängenden Bewirtungen den Gewinn nicht mindern. Unter den Begriff der Aufwendungen für „ähnliche Zwecke“ i.S. dieser Vorschrift fallen Aufwendungen, die der sportlichen Betätigung, der Unterhaltung von Geschäftsfreunden, der Freizeitgestaltung oder der Repräsentation des Steuerpflichtigen dienen134. Mit dem Abzugsverbot will der Gesetzgeber die genannten Ausgaben „ihrer Art nach als überflüssige und unangemessene Repräsentation im Interesse der Steuergerechtigkeit und des sozialen Friedens nicht … durch den Abzug … vom steuerpflichtigen Gewinn auf die Allgemeinheit abgewälzt“ sehen135 und schließt sie deshalb trotz ihrer betrieblichen Veranlassung vom Abzug aus, so dass damit auch der (mögliche) Streit um die ggf. private (Mit-)Veranlassung der Aufwendungen typisierend „erledigt“ ist136. Soweit darin ein Verstoß gegen das sog. objektive Nettoprinzip liegt, ist er nach Ansicht des BFH und der h.M. im Schrifttum durch den typisiert angenommenen Zusammenhang mit der Lebensführung des Steuerpflichtigen oder seiner Geschäftsfreunde gerechtfertigt137. Beispiele: 1. Anwendung des Abzugsverbots auf den Aufwand für Oldtimer-Flugzeuge, die bei Flugtagen und ähnlichen Veranstaltungen eingesetzt werden und der Darstellung des Unternehmens in der Öffentlichkeit und damit Werbezwecken dienen, zur Vermeidung der Prüfung, ob Werbezwecke für den Einsatz der Flugzeuge im Vordergrund stehen oder ob die Präsentation der Flugzeuge der Unterhaltung von Geschäftsfreunden oder der Befriedigung einer Neigung des Unternehmers bzw. der Gesellschafter der Kapitalgesellschaft dienen138. 2. Anwendbarkeit des Abzugsverbots auf eine Festveranstaltung, die hinsichtlich des Ortes der Veranstaltung oder der Art und Weise der Unterhaltung der Gäste besondere Umstände aufweist, die die Veranstaltung von einer gewöhnlichen Feierlichkeit abheben139. 134 BFH v. 3.2.1993 – I R 18/92, BStBl. II 1993, 367; v. 7.2.2007 – I R 27–29/05, BFHE 216, 536; v. 14.10.2015 – I R 74/13, BFHE 252, 39. 135 So die Begründung zum Regierungsentwurf des Steueränderungsgesetzes 1960, BTDrucks. 3/1811, 8 zu der damaligen Regelung in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 [heute Nr. 4] EStG; ebenso Stellungnahme des Finanzausschusses in BT-Drucks. 3/1941, 3. 136 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl., § 8 Rz. 291. 137 BFH v. 2.8.2012 – IV R 25/09, BStBl. II 2012, 824; Bode in Kirchhof, 17. Aufl., § 4 EStG Rz. 209; Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl., § 8 Rz. 291; Stapperfend in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 4 EStG Rz. 1301. 138 BFH v. 7.2.2007 – I R 27–29/05, BFHE 216, 536 Rz. 18 mit Anm. Bolz, AktStR 2007, 471, Dürr, jurisPR-SteuerR 25/2007 Anm. 2, Gosch, BFH-PR 2007, 257, Pezzer, FR 2007, 890. 139 BFH v. 13.7.2016 – VIII R 26/14, BStBl. II 2017, 161 Rz. 18.

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Die vereinfachende typisierende Annahme einer Berührung der Lebensführung des Steuerpflichtigen durch Ausgaben i.S.d. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 EStG erfährt aber dann nach der Rechtsprechung im Wege einschränkender Auslegung der Vorschrift eine Grenze, wenn nach den Umständen eine private Mitveranlassung ersichtlich nicht typisierend angenommen werden kann, weil eine eindeutige betriebliche oder auf die Erzielung von Einkünften aus nicht selbständiger Arbeit bezogene Nutzung von Einrichtungen vorliegt140. Beispiele: 1. Einsatz einer Segel- oder Motorjacht, die nicht zu Unterhaltungs- oder sportlichen Zwecken oder zur unangemessenen Repräsentation verwendet, sondern als „schwimmender Besprechungsraum“ oder reines Transportmittel genutzt wird141 oder für Fahrten zwischen Wohnung und Betriebsstätte verwendet wird142. 2. Kein Ausschluss vom Betriebsausgabenabzug nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 EStG für Aufwendungen eines Betriebs im Zusammenhang mit Golfturnieren in einschränkender Auslegung der Vorschrift wenn ein möglicher Nutzen für Gesellschafter oder Geschäftsfreunde der Betriebsinhaber – anders als in dem bereits dargestellten Fall der Oldtimer-Flugzeuge  – auszuschließen ist143, die Golfturniere in unmittelbarem Zusammenhang mit laufenden Geschäftskontrakten stehen und als eine Art Preisbestandteil der wechselseitigen Vertragsverpflichtungen anzusehen sind144. b) Typisierende Abgrenzung der Werbungskosten von Sonderausgaben bei der einkommensteuerlichen Berücksichtigung von Ausbildungskosten Hierzu hat der VI.  Senat des BFH dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob §  9 Abs.  6 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG vom 7.12.2011145 insoweit „mit dem GG vereinbar“ ist, als danach Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten sind, „wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet und auch keine weiteren einkommensteuerrechtlichen Regelungen bestehen, nach denen die vom Abzugsverbot betroffenen Aufwendungen die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mindern oder ob der Gesetzgeber mit dieser typisierenden Zuordnung der Ausbildungsaufwendungen zu den 140 BFH v. 14.10.2015 – I R 74/13, BStBl. II 2017, 222 mit Anm. Brandis, BFH/PR 2016, 125, Märtens, jurisPR-SteuerR 16/2016 Anm.  1, Niermann, DB 2017, 868, Schiffers/Feldgen, DStZ 2016, 325; vgl. dazu auch Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl., § 8 Rz. 292. 141 BFH v. 3.2.1993 – I R 18/92, BStBl. II 1993, 367. 142 BFH v. 10.5.2001 – IV R 6/00, BStBl. II 2001, 575. 143 BFH v. 14.10.2015  – I R 74/13, BStBl.  II 2017, 222 unter Bezugnahme auf BFH v. 29.12.2008 – X B 123/08, BFH/NV 2009, 752, zu 2. der Gründe a.E. 144 BFH v. 14.10.2015 – I R 74/13, BStBl. II 2017, 222 mit Anm. Brandis, BFH/PR 2016, 125, Märtens, jurisPR-SteuerR 16/2016 Anm.  1, Niermann, DB 2017, 868, Schiffers/Feldgen, DStZ 2016, 325. 145 BGBl. I 2011, 2592.

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Sonderausgaben die Grenzen seiner Typisierungsbefugnis überschritten“ hat146. Die Vorlage macht in besonderer Weise die Schwierigkeit deutlich, für Vereinfachungsnormen die „Schwelle hinreichender realitätsgerechter Orientierung am typischen Fall“ zu bestimmen. Denn der VIII. Senat des BFH hat eine solche realitätsgerechte Orientierung der Zuordnung von erstmaligen Ausbildungskosten zu den Sonderausgaben durch die Neuregelungen von § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 und § 12 Nr. 5 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG im Einklang mit der finanzgerichtlichen Rechtsprechung147 wie auch Teilen des Schrifttums148 ausdrücklich bejaht149, weil die Berufsausbildungskosten noch nicht im direkten Zusammenhang mit einer konkreten Einnahmenerzielung im Sinne einer „Ausbildung“ stehen und deshalb schon vom RFH nicht den Werbungskosten, sondern den Aufwendungen der allgemeinen Lebensführung zugerechnet wurden150. Sie sind daher „eher den sog. gemischt veranlassten Aufwendungen zuzurechnen“ und eröffnen dem Gesetzgeber im Rahmen der ihm zustehenden Gestaltungsfreiheit die Wahl, ob er Aufwendungen für die berufliche Erstausbildung oder ein Erststudium wegen ihrer Veranlassung durch die Erwerbstätigkeit den Werbungskosten oder Betriebsausgaben zuordnet oder ob er die private (Mit-) Veranlassung systematisch in den Vordergrund stellt und demgemäß eine Zuordnung der Aufwendungen zu den Sonderausgaben vornimmt151. c) Einschränkung der Abfärbewirkung gewerblicher Tätigkeiten auf ­Personengesellschaften von Freiberuflern durch die sog. Bagatellgrenze Im Unterschied zur sog. gemischten Tätigkeit eines Einzelunternehmers, bei dem gleichzeitig verrichtete gewerbliche und freiberufliche Betätigungen selbst bei sachlichen und wirtschaftlichen Berührungspunkten in der Regel getrennt zu beurteilen sind, fingiert die Regelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG für gemischt tätige Personengesellschaften sämtliche Einkünfte als solche aus Gewerbebetrieb, wenn die Personengesellschaft neben nicht gewerblichen Tätigkeiten gleichzeitig eine  – davon zu trennende – gewerbliche Tätigkeit ausübt. Damit dient die Abfärberegelung in verfassungskonformer Weise legitimen Vereinfachungszwecken bei der Ermittlung der Einkünfte auch gewerblich tätiger Personengesellschaften152.

146 BFH v. 17.7.2014 – VI R 8/12, BFHE 247, 64 mit Anm. Hilbert, BB 2014, 2984. 147 FG Düsseldorf v. 14.12.2011 – 14 K 4407/10 F, EFG 2012, 686; FG Münster v. 20.12.2011 – 5 K 3975/09 F, EFG 2012, 612; FG Köln v. 22.5.2012 – 15 K 3413/09, EFG 2012, 1735; v. 17.7.2013 – 14 K 3720/12, EFG 2013, 1746, und 14 K 587/13, EFG 2013, 1745; FG des Saarlandes v. 4.4.2012 – 2 K 1020/09, juris. 148 Vgl. Trossen, FR 2012, 501; Förster, DStR 2012, 486; Fischer in jurisPR-SteuerR 38/2012, Anm. 1. 149 BFH v. 5.11.2013 – VIII R 22/12, BStBl. II 2014, 165; zust. Titgemeyer, DStZ 2014, 189. 150 RFH v. 24.6.1937 – IV A 20/36, RStBl. 1937, 1089. 151 BFH v. 5.11.2013  – VIII R 22/12, BStBl.  II 2014, 165 unter Bezugnahme auf BVerfG v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268; Förster, DStR 2012, 486. 152 BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 m.w.N; BFH v. 30.8.2001 – IV R 43/00, BStBl. II 2002, 152; Groh, DB 2005, S. 2430 f.; Seer/Drüen, BB 2000, 2176 (2178 f.); Wehrheim/Brodthage, DStR 2003, 485 (486); a. A. Schulze-Osterloh in GS Knobbe-Keuk, 1997,

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Beispiel: Verkauf von Merchandising-Artikeln durch eine in der Rechtsform einer GbR organisierte Musikgruppe ist eine solche originär gewerbliche Tätigkeit i.S.  von §  15 Abs. 2 Satz 1 EStG, die getrennt von der freiberuflichen Tätigkeit der Musikgruppe zu betrachten ist. Denn deren Auftritte können auch ohne den Verkauf der Waren stattfinden; sie schuldet auch keinen einheitlichen Erfolg in Form von Auftritt und Verkauf153. Liegen – von der freiberuflichen Tätigkeit trennbare – gewerbliche Aktivitäten vor, nimmt die BFH-Rechtsprechung trotz des einschränkungslosen Wortlauts eine Ausnahme von der Abfärbewirkung nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG unter Hinweis auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an, wenn die gewerbliche Tätigkeit einen „nur geringfügigen Umfang“ hat154. Damit wird der mit der Abfärbewirkung beabsichtigte – und durch die nach dem Wortlaut klare Kante der Abgrenzung gewährleistete – Vereinfachungszweck, die erheblichen Schwierigkeiten der Ermittlung unterschiedlicher Einkunftsarten bei ein und derselben Gesellschaft zu vermeiden155, – im Wege teleologischer Reduktion – eingeschränkt. Inzwischen hat der BFH allerdings auch unter der Geltung der sog. Bagatellgrenze für die Bestimmung des „nur geringfügigen Umfangs“ gewerblicher Tätigkeit typisierend eine annähernd vergleichbar „einfach zu prüfende Grenzziehung“  – ohne Gefährdung des eigentlichen Normzwecks der Abfärberegelung in § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG156 – „bei einem gewerblichen Umsatzanteil der gewerblichen Tätigkeit von 3 v.H. der Gesamtnettoumsätze der Gesellschaft bis zu einem Höchstbetrag von 24.500 Euro157“ vorgenommen und damit die früheren Diskussionen über die Bemessung der Bagatellgrenze mit 1,25  % oder mit einem Wert unter 6 % der Gesamtumsatzerlöse obsolet gemacht158. Aus dem Normzweck der Vereinfachung lässt sich im Übrigen – worauf der IV. Senat des BFH zu Recht hingewiesen hat – nicht im Umkehrschluss herleiten, dass bei (verS. 531 (537); Stadie, FR 1989, S. 93 (94); Stapperfend in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 15 EStG Rz. 1402. 153 BFH v. 27.8.2014 – VIII R 16/11, BStBl. II 2015, 996 mit Anm. Korn, BeSt 2015, 13, von Lersner, DStR 2015, 2817, Pezzer, BFH/PR 2015, 149, Steinhauff, jurisPR-SteuerR 15/2015 Anm. 1, Tauser/Keller, DB 2015, 648. 154 BFH v. 30.8.2001 – IV R 43/00, BStBl. II 2002, 152; v. 29.11.2001 – IV R 91/99, BStBl. II 2002, 221; v. 27.8.2014 – VIII R 16/11, BStBl. II 2015, 996. 155 BFH v. 30.8.2001 – IV R 43/00, BStBl. II 2002, 152; v. 29.11.2012 – IV R 37/10, BFH/NV 2013, 910; Drüen, FR 2000, 177; Niehues, FR 2002, 977; Seer/Drüen, BB 2000, 2176. 156 Vgl. dazu Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach, § 15 EStG Rz. 1426; Korn in Korn, § 18 EStG Rz. 153; Kempermann, DStR 2002, 664. 157 Orientiert an dem gewerbesteuerlichen Freibetrag für Personengesellschaften nach § 11 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GewStG, weil im Regelfall kein Ausfall von Gewerbesteuer droht, wenn bereits die gewerblichen Umsätze unter dem gewinnbezogenen Freibetrag in Höhe von 24.500  Euro liegen. Diese einfach zu bestimmende absolute (Umsatz-) Grenze hat der BFH unabhängig davon, dass es sich bei dem Freibetrag um eine Gewinngrenze handelt, weil die Freistellung von geringen gewerblichen Einkünften nicht Zweck der Norm ist, aber doch deren Ergebnis. 158 Vgl. BFH v. 27.8.2014 – VIII R 16/11, BStBl. II 2015, 996 m.w.N.

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Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als Auslegungstopos

meintlich) einfacher Aufteilung der Einkünfte und der zur Einkünfteerzielung genutzten Wirtschaftsgüter die Anwendung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG ausgeschlossen sein soll. Eine solche Auslegung würde den Wortsinn und damit die zulässige Grenze der Auslegung überschreiten159. d) Einschränkende Auslegung der Gewinnermittlungsvorschrift in § 20 Abs. 4a EStG Ein weiteres Beispiel für die Notwendigkeit einschränkender Auslegung einer Vereinfachungsnorm ist die Rechtsprechung zu § 20 Abs. 4a EStG. Nach dieser Rechtsprechung sind bei der Ermittlung des Gewinns aus dem Verkauf von Aktien, die durch die Ausübung eines Bezugsrechts erworben wurden, das von vor dem 1. Januar 2009 erworbenen und bereits steuerentstrickten Aktien abgespalten wurde, die Anschaffungskosten des Bezugsrechts entgegen der (Vereinfachungs-)Regelung in § 20 Abs. 4a Satz 4 EStG 2009 nicht mit 0 Euro, sondern in der tatsächlichen Höhe anzusetzen 160. Denn nach Ansicht des BFH rechtfertigt der Vereinfachungszweck der Vorschrift, „die Abgeltungsteuer für Steuerpflichtige und quellensteuerabzugsverpflichtete Kreditinstitute praktikabel auszugestalten und damit der Vereinfachung der Besteuerung zu dienen“, nicht den Ansatz von Anschaffungskosten in Höhe von 0 Euro, weil damit wieder der steuerliche Zugriff auf bereits steuerentstrickte stille Reserven aus vor dem 1.1.2009 angeschafften Aktien eröffnet würde161. Ein entsprechender Wille des Gesetzgebers bei Schaffung dieser Vereinfachungsnorm kann – so der BFH – nicht angenommen werden, weil § 20 Abs. 4a Satz 4 EStG lediglich eine Einkünfteermittlungsvorschrift ist, die ein Besteuerungsrecht voraussetzt, jedoch kein Besteuerungsrecht für bereits steuerentstrickte Vermögenswerte begründet162. Dies folgt auch aus dem Willen des Gesetzgebers, durch die Übergangsregelungen des § 52a Abs. 10 Satz 1, Abs. 11 Satz 4 EStG zu verhindern, dass stille Reserven, die am 31.12.2008 keiner Besteuerung mehr unterlagen, durch die Einführung der Abgeltungsteuer wieder steuerverstrickt werden163. Die Einschränkung des Anwendungsbereichs für § 20 Abs. 4a Satz 4 EStG auf Bezugsrechte, die aus vor dem 1.1.2009 angeschafften Aktien abgespalten wurden, ist des Weiteren aus verfassungsrechtli-

159 BFH v. 29.11.2012 – IV R 37/10, BFH/NV 2013, 910. 160 BFH v. 9.5.2017 – VIII R 54/14, BFHE 258, 111 mit Anm. Bleschick, EStB 2017, 308; Jachmann-Michel, jurisPR-SteuerR 41/2017 Anm. 2; Moritz, DB 2017, 1696; Werth, BFH/PR 2017, 324. 161 Jachmann/Lindenberg in Lademann, § 20 EStG Rz. 823; Jochum in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 20 EStG Rz. Fa 59; Moritz/Strohm in Frotscher, § 20 EStG n.F. Rz 338; Buge in Herrmann/Heuer/Raupach, §  20 EStG Rz.  588; Schmitt-Homann, BB 2010, 351 (354); Hahne/Krause, DStR 2008, 1724 (1727); Wüllenkemper, EFG 2015, 214; Meilicke, DB 2009, 476. 162 BFH v. 9.5.2017 – VIII R 54/14, BFHE 258, 111 unter Bezugnahme auf BFH v. 20.10.2016 – VIII R 10/13, BFHE 255, 537, BStBl. II 2017, 262. 163 BFH v. 9.5.2017 – VIII R 54/14, BFHE 258, 111 unter Hinweis auf BT-Drucks. 16/11108, 16; Hahne/Krause, DStR 2008, 1724 (1727); Wüllenkemper, EFG 2015, 214; Meilicke, DB 2009, 476.

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chen Gründen geboten164. Denn dem Gesetzgeber ist es nach der Rechtsprechung des BVerfG verwehrt, rückwirkend auf bereits steuerentstrickte Vermögenspositionen zuzugreifen165. e) Zulässigkeit depotübergreifender Verlustverrechnung durch (­einschränkende) Auslegung des § 20 Abs. 6 Satz 1 EStG bei Antrags­ veranlagung nach § 32d Abs. 4 EStG Nach der Rechtsprechung des BFH kann der Wortlaut des § 20 Abs. 6 Satz 1 EStG einer depotübergreifenden Verrechnung von Altverlusten i.S. des § 23 EStG in der bis zum 31. Dezember 2008 geltenden Fassung (EStG  a.F.) bei der (Antrags-)Veranlagung gemäß § 32d Abs. 4 EStG nicht entgegengehalten werden. Denn die depotbezogenen unterjährigen Verlustverrechnungen der auszahlenden Stelle i.S.  des §  43a Abs. 3 EStG sind zwar vorrangig, aber nicht endgültig166. Zwar könnte der Wortlaut des § 20 Abs. 6 Satz 1 EStG für die von der Finanzverwaltung167 und verbreitet im Schrifttum168 vertretene Auffassung sprechen, dass nur die nach der Verrechnung i.S. des § 43a Abs. 3 EStG „verbleibenden“ Einkünfte aus Kapitalvermögen mit Altverlusten i.S. des § 23 EStG a.F. zu verrechnen sind und dies dem Vereinfachungszweck der abgeltenden Wirkung des Kapitalertragsteuerabzugs nach § 43 EStG dienen würde. Dem hat der BFH jedoch zu Recht entgegengehalten, dass nach der gesetzlichen Konzeption der Abgeltungsteuer die Verlustverrechnung i.S. des § 43a Abs.  3 EStG bei der auszahlenden Stelle nicht endgültig ist, sondern bei der (Antrags-)Veranlagung gemäß §  32d Abs.  4 EStG eine depotübergreifende günstigere Verrechnung mit den Altverlusten i.S. des § 23 EStG a.F. zulässt.

III. Vereinfachungsregelungen der Verwaltung in der finanzgerichtlichen Praxis Vereinfachungsregelungen der Verwaltung169, die ebenfalls Typisierungen enthalten können170, und auch die Vereinfachung für die Finanzverwaltung im Zusammenhang mit der E-Bilanz171 sowie durch Risikomanagementsysteme172 umfassen, sind Gegenstand des Beitrags von Schmitt, Deshalb soll an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass Vereinfachungsregelungen der Verwaltung aus der Sicht der 164 Buge in Herrmann/Heuer/Raupach, § 20 EStG Rz. 588; Schmitt-Homann, BB 2010, 351 (355); Meilicke, DB 2009, 476; Wüllenkemper, EFG 2015, 214. 165 Vgl. BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1 Rz. 65 ff. 166 BFH v. 29.8.2017 – VIII R 23/15, BFHE 259, 336. 167 BMF-Schreiben v. 22.12.2009 – IV C 1 - S 2252/08/10004, BStBl. I 2010, 94 Rz. 118. 168 Moritz/Strohm in Frotscher, 2011, §  20 EStG Rz.  356, 376; Buge in Herrmann/Heuer/­ Raupach, § 20 EStG Rz. 612; Jachmann/Lindenberg in Lademann, § 20 EStG Rz. 855; Blümich/Ratschow, § 20 EStG Rz. 465; a.A. Jochum in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 20 EStG Rz. H 18; Philipowski, DStR 2014, 2051. 169 Vgl. dazu Kampe, Verwaltungsvorschriften und Steuerprozess, 1965. 170 Brockmeyer in FS Offerhaus, S. 13 (18). 171 Ley in DFGT 8–9 (2011/2012), S. 231 (249). 172 Drüen in DFGT 8–9 (2011/2012), S. 253 (268).

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Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als Auslegungstopos

Rechtsprechung nur soweit Geltung beanspruchen können, als sie sich im Rahmen des Gesetzes halten. Beispiele: 1. Verletzung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung durch den gewährten Erlass der Einkommensteuer auf den Gewinn aus einem Forderungsverzicht von Gläubigern nach Maßgabe des sog. Sanierungserlasses173, wie der Große Senat des BFH174 wegen der ausdrücklichen Abschaffung der entsprechenden Steuerbefreiung in § 3 Nr. 67 EStG durch den Gesetzgeber und deshalb fehlender sachlicher Unbilligkeit i.S. der §§ 163, 227 AO entschieden hat. 2. Fehlende gesetzliche Grundlage175 für die Verwaltungsauffassung, die 1%-Regelung in § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG zur typisierenden Bemessung der Nutzungsentnahme für die Privatnutzung eines betrieblichen Kfz bei Nutzung mehrerer Fahrzeuge durch ausschließlich eine Person sei entgegen der rein fahrzeugbezogenen Vorschrift nur auf ein Fahrzeug zu beschränken176. 3. Keine Bindung der Gerichte an Abschn. 31 Abs. 8 Satz 3 LStR 1999 für die Feststellung, ob der Arbeitnehmer ein Darlehen zu einem marktüblichen Zinssatz erhalten hat177. 4. Keine Bindung der Gerichte an die Aufgriffsgrenzen der Verwaltung für den Ansatz der Kostenmiete nach § 21 Abs. 2 EStG178. Entsprechend sieht die Rechtsprechung norminterpretierende Verwaltungsvorschriften als unbeachtlich an, soweit sie mit den Grundsätzen der Rechtsprechung des BVerfG unvereinbar sind. Beispiel: Wird eine Immobilie nach Ablauf der ursprünglichen Spekulationsfrist von zwei Jahren und vor Ablauf der neuen Spekulationsfrist von zehn Jahren veräußert, sind die Sonderabschreibungen und AfA-Beträge, die in der Zeit bis zur Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 zum 31.3.1999 in Anspruch genommen worden sind, dem nicht steuerbaren Zeitraum zuzuordnen. Soweit die Finanzverwaltung den Umfang des steuerbaren Wertzuwachses bei der Ermittlung des Gewinns aus privaten Veräußerungsgeschäften i.S. des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG vereinfachend entsprechend dem Verhältnis der Besitzzeit nach dem 31. März 1999 im Vergleich zur Gesamtbesitzzeit linear (monatsweise) ermitteln wollte179, hat dies der BFH  – unter Hinweis 173 BMF v. 27.3.2003  – IV A 6-S 2140-8/03, BStBl.  I 2003, 240; ergänzt durch BMF v. 22.12.2009 – IV C 6 - S 2140/07/10001-01, BStBl. I 2010, 18. 174 BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15 , BStBl. II 2017, 393; vgl. jetzt die neu geschaffene Rechtsgrundlage für einen solchen Erlass in § 3a EStG. 175 BFH v. 9.3.2010 – VIII R 24/08, BStBl. II 2010, 903. 176 Vgl. Tz. 9 Satz 2 des BMF-Schreibens v. 21.1.2002 – IV A 6 - S 2177 - 1/02, BStBl. I 2002, 148. 177 BFH v. 4.5.2006 – VI R 28/05, BStBl. II 2006, 781. 178 BFH v. 30.9.1997 – IX R 39/94, BFH/NV 1998, 446. 179 Ziff. II.1. des BMF-Schreibens v. 20.12.2010, BStBl. I 2011, 14.

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auf die Verfassungswidrigkeit nachträglicher Einbeziehung von vor dem 1.4.1999 erzielten (nicht steuerverhafteten) Wertsteigerungen in die Besteuerung nach Maßgabe der Rechtsprechung des BVerfG180 – für unanwendbar gehalten181. Anderes gilt für Verwaltungsregelungen im Bereich des Ermessens, der Billigkeit, der Typisierung und der Pauschalierung, die zu einer Selbstbindung der Verwaltung ­führen und grundsätzlich auch von den Gerichten zu beachten sind182. Soweit die Verwaltung im Rahmen ihrer Verwaltungskompetenz Vereinfachungsregelungen  – wie z.B. durch Ansatz von Übernachtungspauschalen für Auslandsdienstreisen  – schafft183, unterliegen sie im Übrigen einer richterlichen Kontrolle, ob die Regelungen nicht zu einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung führen184.

IV. Vereinfachung als Auslegungstopos der Rechtsprechung 1. Grundlagen vereinfachender Auslegung des Steuerrechts durch die ­Rechtsprechung Vor dem Hintergrund der verbreiteten Auffassung, dass auch die höchstrichterliche Rechtsprechung gelegentlich zur allgemein beklagten Kompliziertheit des Steuerrechts beiträgt, ist es zu begrüßen, dass die Finanzgerichtsbarkeit ihre (Mit-)Verantwortung für ein einfaches Steuerrecht185 in ihrer funktionellen Zuständigkeit für die Auslegung der Steuernormen sieht und in ihrer Spruchpraxis berücksichtigt. So hat schon der RFH für die Auslegung des materiellen Steuerrechts auf den „Grundsatz“ hingewiesen, „dass die steuerliche Behandlung sowohl in Rücksicht auf die Beteiligten als auch auf die Verwaltung möglichst einfach und klar gestaltet werden soll“186. Dabei hat allerdings zunächst der Gesetzgeber hinsichtlich einer Vereinfachung des Steuerrechts die materiellrechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, weil er nach dem im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerten Vorbehalt des Gesetzes alle wesentlichen Entscheidungen in grundlegenden normativen Bereichen wie dem Steuerrecht selbst zu treffen hat187. Nur in diesem rechtlichen Rahmen kann die richterliche Tätigkeit bei der Auslegung der gesetzlichen Vorschriften zur Vereinfachung der Rechtsanwendung beitragen. Dass in diesem Zusammenhang auch Vereinfachungen insbesondere durch Typisierungen und Pauschalierungen von der Rechtsprechung vorgenommen werden, ist im Schrifttum vor allem in Bezug auf die von der Recht180 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1. 181 BFH v. 6.5.2014 – IX R 39/13, BStBl. II 2015, 459. 182 BFH v. 23.4.2015 – V R 32/14, BFH/NV 2015, 1106; für eine weitergehende Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften Vogel in FS Thieme, S. 605. 183 BGBl. I 1997, 378, BStBl. I 1997, 298. 184 BFH v. 11.5.1990 – VI R 140/86, BStBl. II 1990, 777; v. 15.10.1992 – V R 81/87, BStBl. II 1993, 207; Gast-de Haan in FS 75 Jahre RFH/BFH, S. 227 (234). 185 Bilsdorfer/Morsch, StB 2010, 443; Pezzer in DFGT 4 (2007), S. 67 (79). 186 RFH v. 7.5.1930 – VI A 67/30, RStBl. 1930, 671 (673). 187 BVerfG v. 5.11.2014  – 1 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350 unter Bezugnahme auf BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 232/60, BVerfGE 13, 318.

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Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als Auslegungstopos

sprechung konstituierte Typisierung von Freigrenzen von Aufwendungen für Betriebsveranstaltungen als Arbeitslohn mit Blick auf ein „eigenbetriebliches Interesse“188 mangels gesetzlicher Grundlage kritisiert worden189. Es gehört aber zu den richterlichen Aufgaben, im Wege der Auslegung steuerlicher Vorschriften – „ausgehend von ihrem nicht immer eindeutigen und damit Auslegungsspielräume eröffnenden Wortlaut“  – gegebenenfalls auch Lücken des Gesetzes zu schließen190. Dies umfasst  – von der Auslegung steuerlicher Vorschriften und von Beweisanforderungen abzugrenzende191 – Typisierungen und „Vermutungen“, die zumindest dann, wenn sie im Einzelfall widerlegt werden können (sog. „formelle oder verfahrensrechtliche Typisierungen“) allgemein als zulässig angesehen werden192. Beispiele: 1. Die Rechtsprechung zur sog. Drei-Objekt-Grenze für die Annahme eines gewerblichen Grundstückshandels193, 2. Die Zeitgrenzen (10 Jahre) für die steuerliche Anerkennung von Pensionszusagen an Gesellschafter-Geschäftsführer194. 3. Die Grundsätze für die Angemessenheit der Gewinnverteilung bei schenkweiser Beteiligung an einer Familienpersonengesellschaft195. 4. Die Eingrenzung des Begriffs „kurze Zeit“ in § 11 Abs. 1 Satz 2 EStG durch die Rechtsprechung196. 5. Die Bagatellgrenze gewerblicher Tätigkeit bei freiberuflich tätigen Personengesellschaften. 6. Die Rechtsprechung zur Aufteilung gemischter Aufwendungen. 7. Die Rechtsprechung zur Anerkennung von Angehörigenverträgen. 8. Die Rechtsprechung zur Abgrenzung Instandhaltung/Herstellungskosten-Verbesserung bei Vermietungseinkünften. Zu weiteren Beispielen wird auf die Ausführungen unter IV. 3. verwiesen. 188 BFH v. 25.5.1992 – VI R 85/90, BStBl. II 1992, 655. 189 Vgl. Gast-de Haan in FS 75  Jahre RFH/BFH, S.  227 (236); generell gegen Typisierung durch die Rechtsprechung wegen Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung Paulick, Lehrbuch des allgemeinen Steuerrechts, 3. Aufl. 1977, § 17 Rz. 388, 389; für die Notwendigkeit des „Richterrechts“ im Steuerrecht aber Lang in FS Spindler, S. 139 (148). 190 Hellwig in FS 75 Jahre RFH/BFH, S. 255 (257). 191 Brockmeyer in FS Offerhaus, S. 13 (23, 25). 192 Raupach in DStJG Bd 21 (1998), S. 175 (187); Brockmeyer in FS Offerhaus, S. 13 (15). 193 Vgl. BFH v. 8.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617; vgl. dazu Pezzer in DFGT 4 (2007), S. 67 (79). 194 Vgl. BFH v. 21.12.1994 – I R 98/93, BStBl. II 1995, 419. 195 Vgl. BFH v. 29.5.1972 – GrS 4/71, BStBl. II 1973, 5; Brockmeyer in FS Offerhaus, S. 13 (32) m.w.N. 196 BFH v. 24.7.1986 –IV R 309/84, BStBl. II 1987, 16; Brockmeyer in FS Offerhaus, S. 13 (33) mit weiteren Beispielen „typisierender Rechtsprechung.

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Die Orientierung am Auslegungstopos „Vereinfachung“ führt auch zur Notwendigkeit, gelegentlich die frühere Rechtsprechung zu überdenken und ggfs. im Lichte neuerer Argumente neu auszurichten. So hat der BFH die Bildung gewillkürten Betriebsvermögens bei Gewinnermittlung durch Einnahmenüberschussrechnung (§ 4 Abs. 3 EStG) unter Aufgabe früherer abweichender Rechtsprechung zugelassen und dies mit der fehlenden Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung gegenüber der Gewinnermittlung durch Bestandsvergleich begründet, weil der dadurch ausgelöste Zwang zum – möglichen – Übergang von der Einnahme-Überschussrechnung zum Bestandsvergleich allein zum Zwecke der Bildung gewillkürten Betriebsvermögens mit dem Vereinfachungszweck der Einnahmenüberschussrechnung unvereinbar wäre197. Im Übrigen nimmt die Rechtsprechung auch ihre Verantwortung dafür wahr, dass Vereinfachungsvorschriften nicht durch die Handhabung der Finanzverwaltung überdehnt werden. Beispiele: 1. Eingrenzung in der Rechtsprechung zur Versicherungssteuer: Nach der Sondervorschrift des mit dem Steuerbereinigungsgesetz 1985 geschaffenen §  10 Abs.  4 VersStG in der bis zum 11. Dezember 2012 geltenden Fassung waren Steuerbeträge, die auf Grund einer Außenprüfung nachzuentrichten sind, zusammen mit der Steuer „für den laufenden Anmeldungszeitraum“ festzusetzen. Mit dieser Ausrichtung auf den „laufenden Anmeldungszeitraum“ bezweckte der Gesetzgeber eine Vereinfachung, um für die Nachforderung der Steuerbeträge möglichst wenig Verwaltungsaufwand verursachen198. Danach hätte die Finanzbehörde nach einer Außenprüfung nicht für jede einzelne zu korrigierende Versicherungsteueranmeldung – regelmäßig für einen jeden Kalendermonat des Prüfungszeitraums – einen Änderungsbescheid zu erlassen, sondern konnte alle Änderungen in einem Bescheid „für den laufenden Anmeldungszeitraum“ zusammenfassen199. „Laufender Anmeldungszeitraum“ im Sinne von § 10 Abs. 4 VersStG a.F. war dabei nach der BFH-Rechtsprechung nicht ein bestimmter Anmeldungszeitraum, für den die Korrektur-Steuerfestsetzung zu erfolgen hatte, sondern jeder Anmeldungszeitraum nach Abschluss der Außenprüfung200. Die darüber hinaus gehende Auffassung der Finanzverwaltung, unter Hinweis auf den Vereinfachungszweck der Norm eine zusammenfassende Korrektur auch schon für einen im Prüfungszeitraum der Außenprüfung liegenden Anmeldezeitraum vornehmen zu können, hat

197 BFH v. 2.10.2003 – IV R 13/03, BStBl. II 2004, 985 mit Anm. Grune, AktStR 2004, 1; Kessler/Fritz/Gastl, BB 2004, 2325. 198 Vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 10/1636, 77. 199 Vgl. BFH v. 13.12.2011 – II R 26/10, BFHE 236, 212, BStBl. II 2013, 596. 200 Vgl. BFH v. 13.12.2011 – II R 26/10, BFHE 236, 212, BStBl. II 2013, 596; FG München v. 5.12.2012 – 4 K 3343/09, EFG 2013, 479; FG Köln v. 22.3.2012 – 11 K 3180/08, EFG 2012, 1215 und v. 14.1.2015 – 2 K 3741/12, EFG 2015, 1145.

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der BFH mangels Anhaltspunkten für einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers abgelehnt201. 2. Pauschalierte Lohnsteuer als Vereinfachung: Nach der BFH-Rechtsprechung kann ein Arbeitgeber nicht als Steuerschuldner für die römisch-katholische Kirchensteuer bei Erhebung als Zuschlag zur pauschalierten Lohnsteuer in Anspruch genommen werden, weil keiner Kirche ein Besteuerungsrecht gegenüber Nicht­ mitgliedern zusteht. Dies gilt auch für den Zuschlag zu Lohneinkünften von Arbeitnehmern , die nachweislich nicht der Katholischen Kirche angehören. Denn durch das System der Lohnsteuerpauschalierung wird die persönliche Kirchensteuerpflicht von Arbeitnehmern nicht erweitert202. 2. Vereinfachende Typisierungen und Pauschalierungen der Rechtsprechung a) Extensive Auslegung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG zur einfachen Handhabung der Prüfung hinreichender Eingliederung als Voraussetzung einer Organ­ schaft als Vereinfachung Die (umsatzsteuerliche) Organschaft (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG) dient der Verwaltungsvereinfachung203 und ist nunmehr in ihrem Anwendungsbereich im Wege extensiver Auslegung ausgedehnt worden204. Die Regelung führt zu einer Zusammenfassung zu einem Unternehmen beim Organträger, sofern die Organgesellschaft u.a. in den Organträger finanziell eingegliedert ist. Der Organträger ist dann entsprechend dem Vereinfachungszweck Steuerschuldner auch für die aufgrund der Organschaft unselbständig tätige Person. Da sich die mit der Organschaft verbundene Verlagerung der Steuerschuld auf den Organträger finanziell belastend auswirken kann, müssen die Voraussetzungen der Organschaft rechtssicher bestimmbar sein205. Dementsprechend erfordert die finanzielle Eingliederung eine Mehrheitsbeteiligung des Organträgers an der juristischen Person206 sowie eine eigene Mehrheitsbeteiligung des Organträgers an der juristischen Person207. An seiner bisherigen Auffassung, der Kreis

201 BFH v. 17.12.2014 – II R 18/12, BStBl. II 2015, 619 mit Anm. Meßbacher-Hönsch, juris­PRSteuerR 14/2015 Anm. 6, Pahlke, BFH/PR 2015, 177, Voß/Medert, DStR 2015, 1783. 202 BFH v. 7.12.1994 – I R 24/93, BStBl. II 1995, 507. 203 Vgl. BT-Drucks. 5/48, § 2, BT-Drucks. 4/1590, 36, Stadie in Rau/Dürrwächter, § 2 UStG Rz. 784. 204 BFH v. 2.12.2015 – V R 25/13, BStBl. II 2017, 547. 205 BFH v. 22.4.2010 – V R 9/09, BStBl. II 2011, 597; v. 2.12.2015 – V R 15/14, BStBl. II 2017, 553 mit Anm. Feldgen, BB 2016, 606; Fleckenstein-Weiland, BB 2016, 1049; Jansen, BB 2016, 2263; Prätzler, jurisPR-SteuerR 33/2016 Anm. 5; Wäger, BFH/PR 2016, 111. 206 BFH v. 22.11.2001 – V R 50/00, BStBl. II 2002, 167, unter II.1.a; v. 19.5.2005 – V R 31/03, BStBl.  II 2005, 671, unter II.2.a dd; v. 30.4.2009  – V R 3/08, BFHE II 2013, 873, unter II.2.b aa; v. 22.4.2010 – V R 9/09, BStBl. II 2011, 597, unter II.2.; v. 1.12.2010 – XI R 43/08, BStBl.  II 2011, 600, unter II.2., und v. 7.7.2011  – V R 53/10, BStBl.  II 2013, 218, unter II.2.a. 207 BFH v. 2.12.2015 – V R 15/14, BStBl. II 2017, 553.

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der „eingliederungsfähigen Personen“ sei auf juristische Personen beschränkt208, will der BFH grundsätzlich im Interesse einer einfachen und rechtssicheren Bestimmung des Steuerschuldners für den Organträger weiterhin festhalten209. Allerdings hat er nunmehr entschieden, das „ausnahmsweise auch eine Personengesellschaft in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert sein kann“, wenn Gesellschafter der Personengesellschaft neben dem Organträger nur Personen sind, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind210. Die erforderliche Rechtsgrundlage hat er in einer notwendigen teleologischen Extension §  2 Abs.  2 Nr.  2 UStG gesehen, weil die Vorschrift nach dem ­gesetzesimmanenten Zweck eine Regelungslücke211 hinsichtlich der fehlenden Anwendbarkeit auf eine GmbH & Co. KG enthält. Denn nach Gesetzeszweck, Entstehungsgeschichte und Gesetzessystematik müsse – so der BFH – auch eine GmbH & Co. KG als „juristische Person“ i.S. des § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG angesehen werden, wenn sie „wie eine juristische Person finanziell eingegliedert ist, weil Gesellschafter der Personengesellschaft neben dem Organträger nur Personen sind, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind und damit die – für eine finanzielle Eingliederung – erforderliche Durchgriffsmöglichkeit selbst bei – der stets möglichen – Anwendung des Einstimmigkeitsprinzips gewährleistet ist“. Unter diesen Voraussetzungen sei der Ausschluss einer solchen Personengesellschaft mit dem Regelungsziel des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG nicht zu vereinbaren und mache es erforderlich, § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG erweiternd auch auf eine solche Gesellschaft anzuwenden und ihr damit die Möglichkeit zu verschaffen, ebenfalls die Vereinfachung der Umsatzbesteuerung durch Einbindung in ein organschaftliches Verhältnis in rechtskonformer Weise unter Beachtung der dieser Vorschrift zugrunde liegenden Wertungen (Rechtssicherheit, Verwaltungsvereinfachung und Missbrauchsvermeidung) nutzen zu können212. b) Typisierende Ermittlung der notwendigen Unterkunftskosten am ­Beschäftigungsort im Zusammenhang mit einer doppelten ­Haushaltsführung Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 1 EStG können im Rahmen einer doppelten Haushaltsführung anlässlich einer außerhalb des Wohnorts ausgeübten Tätigkeit nur die „notwendigen“ Unterkunftskosten am Beschäftigungsort als Werbungskosten geltend gemacht werden. Mangels einer näheren gesetzlichen Bestimmung des abzieh208 Vgl. BFH v. 19.11.1964  – V 245/61 S, BStBl.  III 1965, 182; v. 8.2.1979  – V R 101/78, BStBl. II 1979, 362. 209 BFH v. 2.12.2015  – V R 25/13, BStBl.  II 2017, 547 unter Bezugnahme auf BFH v 22.11.2001 – V R 50/00, BStBl. II 2002, 167; v. 30.4.2009 – V R 3/08, BStBl. II 2013, 873; v. 22.8.2013 – V R 37/10, BStBl. II 2014, 128. 210 BFH v. 2.12.2015 – V R 25/13, BFHE 252, 158, BStBl. II 2017, 547 mit Anm. Feldgen, BB 2016, 606, Jansen, BB 2016, 2263, Rödding, BB 2017, 1052, Schlösser, BB 2016, 932; vgl. dazu auch Drüen, Ubg 2016, 109. 211 Vgl. dazu BFH v. 11.2.2010 – V R 38/08, BStBl. II 2010, 873. 212 BFH v. 2.12.2015 – V R 25/13, BStBl. II 2017, 547.

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Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als Auslegungstopos

baren „Notwendigen“ hat der BFH im Interesse der Rechtssicherhit und zur Vereinfachung der Besteuerung den abziehbaren Betrag „notwendiger Unterkunftskosten“ typisierend mit einem Durchschnittsmietzins einer 60 qm-Wohnung am Beschäftigungsort bemessen, weil angesichts örtlich unterschiedlicher Wohnkosten eine feste Obergrenze ersichtlich nicht sachgerecht wäre213. c) Standardisierung der Voraussetzungen für die Annahme von Herstellungs­ kosten eines Gebäudes zur Abgrenzung von sofort abziehbaren Werbungs­ kosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung Als letztes Beispiel einer vereinfachenden Typisierung durch die Rechtsprechung ist auf die Rechtsprechung des BFH zur Abgrenzung von Herstellungskosten und sofort abziehbaren Erhaltungsaufwendungen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung hinzuweisen. Insoweit bejaht der BFH zur Vereinfachung der Besteuerung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung „im Zusammenhang mit der steuerlichen Berücksichtigung von Modernisierungsaufwendungen und der Abgrenzung von sofort uneingeschränkt als Werbungskosten abziehbaren und nur als nachträgliche Herstellungskosten i.S.des § 255 HGB214 abziehbaren Aufwendungen“ im Wege (richterlicher) Typisierung als Herstellungskosten solche Aufwendungen für bauliche Maßnahmen zu behandeln, die den Ausstattungsstandard in mindestens drei der vier funktionswesentlichen Bereiche einer Wohneinheit (Heizung, Sanitär, Elektro, Fenster) von einem ursprünglich sehr einfachen auf einen nunmehr mittleren oder von einem ursprünglich mittleren auf einen nunmehr sehr anspruchsvollen Standard anheben215.

213 BFH v. 9.8.2007 – VI R 10/06, BStBl. II 2007, 820 unter Bezugnahme auf BFH v. 14.10.2004 in BStBl. II 2005, 98 m.w.N.; v. 24.6.2005 – VI B 25/05, BFH/NV 2005, 1560; v. 19.7.2004 – VI B 160/03, BFH/NV 2005, 39. 214 Vgl. BFH v. 4.7.1990 – GrS 1/89, BStBl. II 1990, 830 (835); BFH v. 9.5.1995 – IX R 116/92, BStBl. II 1996, 632; v. 17.12.1996 – IX R 47/95, BStBl. II 1997, 348. 215 BFH v. 12.9.2001 – IX R 52/00, BStBl. II 2003, 574; v. 20.8.2002 – IX R 98/00, BStBl. II 2003, 604; v. 3.12.2002 – IX R 64/99, BStBl. II 2003, 590; v. 22.9.2009 – IX R 21/08, BFH/ NV 2010, 846; v. 18.8.2010  – X R 30/07, BFH/NV 2011, 215; Apitz, EStB 2002, 264; ­Götzenberger, BBV 2005, Nr.  6, 19–21; Moritz, AktStR 2002, 343; Moritz, AktStR 2003, 615; Pannen, DB 2003, 2729; Lohse/Madle, DStR 2004, 885; Stapelfeld, Information StW 2003, 506; Seifried/Pfertner, BB 2002, 1357; Spindler, BB 2002, 2041; Wischmann, EStB 2003, 83; zum Sonderfall anschaffungsnaher Aufwendungen s. BFH v. 15.9.2004  – I R 7/02, BStBl. II 2005, 867; v. 29.2.2012 – IX R 13/11, BFH/NV 2012, 1422.

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … I.

Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als Auslegungstopos – Aus Sicht der Verwaltung Von Eckehard Schmidt

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gesetzliche Typisierung und Pauscha­ lierung – Vereinfachungszwecknormen 1. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung und Grenzen 2. Eignung als Reformansatz? III. „Praktikabilität“ als Auslegungstopos – Typisierung und Pauschalierung durch die Verwaltung 1. Notwendigkeit 2. Zulässigkeit

3. Möglichkeiten und Grenzen typisierenden Verwaltungshandelns a) Ermessensleitende Vorschriften b) Bewertungs- und Typisierungsvorschriften c) Norminterpretierende Regelungen d) „Reparatur“ der Gesetzgebung durch Verwaltungsvorschriften? IV. Neuere Entwicklungen – Moderni­ sierung des Besteuerungsverfahrens V. Fazit

I. Einleitung „Vom Beruf unserer Zeit für Steuervereinfachung“  – so lautete der Titel des Vortrags1, den Josef Isensee 1993 zum 75jährigen Jubiläum des obersten deutschen Steuergerichts hielt. Man sieht: Das Thema „Vereinfachung“ beschäftigt uns auch noch zum nächsten Jubiläum ein Vierteljahrhundert später. Blickt man auf die steuer­ juristische Literatur, so erkennt man unschwer, dass die Vereinfachungsdiskussion im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hat2. Diese Diskussion kreiste in weiten Teilen um Systemfragen, wobei die eine Denkrichtung – vornehmlich vertreten von Paul Kirchhof – den Ausweg in einer radikalen Vereinfachung und Verschlankung der Steuergesetze sah3, die andere – haupt­sächlich

1 StuW 1994, 3. 2 Vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, Literaturübersicht vor § 3 Rz. 145. 3 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, Rz. 16 ff.

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vertreten von Joachim Lang und ihm folgend der Stiftung Marktwirtschaft4 – auf den evolutionären Weg einer schrittweisen Verbesserung und Vereinfachung innerhalb des bestehenden Systems setzte. Letztlich hat bisher keiner der durchgreifenden Reformansätze verwirklicht werden können5. Die Steuerpolitik hat sich deshalb wieder verstärkt der „kleinen Münze“ der Steuervereinfachung zugewandt6 und damit der Diskussion über Typisierung und Pauschalierung von Einzelsachverhalten neuen Auftrieb gegeben. Eine Abhandlung von Isensee7 steht auch – zumindest für die neuere Zeit – am Beginn der Diskussion darüber, ob und inwieweit es den Rechtsanwendern, also Verwaltung und Rechtsprechung, zusteht, bei der Anwendung der Steuergesetze ihrerseits vereinfachend und typisierend vorzugehen. Diese seither in Literatur und Rechtsprechung immer wieder aufgegriffene Frage wird uns im zweiten Hauptteil beschäftigen. Steuerrechtliche Vorschriften werden nach ihrer Zwecksetzung zur Einnahmeerzielung oder Verhaltenslenkung gemeinhin den Kategorien „Fiskalzwecknorm“ oder „Sozialzwecknorm“ zugeordnet8. Unter Vereinfachungszwecknormen werden allgemein Rechtsvorschriften verstanden, die „die Steuerrechtsanwendung erleichtern, vereinfachen, praktikabler oder ökonomischer gestalten“9 sollen. Es geht also um Typisierungen, Pauschalierungen, Freibeträge oder Freigrenzen. Genau besehen stehen die Vereinfachungszwecknormen damit nicht auf der gleichen Stufe wie die zuvor genannten „inhaltlichen“ Kategorien, sie können vielmehr sowohl Fiskal- als auch Lenkungszwecken zugeordnet sein10. Lag der Schwerpunkt der Diskussion lange Zeit bei der Vereinfachung materiellrechtlicher Vorschriften, insbesondere zur Ermittlung der korrekten Bemessungsgrundlage, legen es einige der gerade in letzter Zeit eingeführten verfahrensrechtlichen Vorschriften11 nahe, auch solche Vereinfachungen in die Betrachtung einzubeziehen. Das werde ich im dritten Hauptteil tun. 4 Eilfort in Lang/Eilfort (Hrsg.), Strukturreform der deutschen Ertragsteuern, 2013, 5  f., 18 ff. 5 Eine ausführliche Analyse der möglichen Ursachen für die oft beklagte „Reformunfähigkeit“ findet sich bei Schön, StuW 2002, 23. 6 Vgl. Steuervereinfachungsgesetz v. 1.11.2011, BGBl. I 2011, 2131, oder den von Hessen initiierten (letztlich erfolglosen) Vorstoß für ein Gesetz zur weiteren Vereinfachung des Steuerrechts 2013, BR-Drucks. 684/12. 7 Isensee, Die typisierende Verwaltung. Gesetzesvollzug im Massenverfahren am Beispiel der typisierenden Betrachtungsweise des Steuerrechts, 1976. Isensee stellt diese Frage für alle Rechtsanwender, also auch für die Rechtsprechung, a.a.O., 27 ff. 8 Hey in Tipke/Lang (Fn. 2), § 3 Rz. 19 ff.; Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 6. Aufl. 2010, 6  f., verwendet statt des Begriffs „Sozialzwecknorm“ das Begriffspaar „Lenkungs- und Umverteilungszwecknorm“. 9 Hey in Tipke/Lang (Fn. 2), § 3 Rz. 23. 10 Vgl. § 9 EStG (Werbungskostenpauschalen) einerseits, § 10i Abs. 1 Nr. 1 EStG (Vorkostenpauschalierung bei selbstgenutztem Wohneigentum – auslaufend) andererseits. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I, 2. Aufl. 2000, 74, spricht von einer „lediglich dienende[n] Funktion“. 11 Vor allem durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 22.7.2016, BGBl. I 2016, 1679.

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Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als Auslegungstopos

II. Gesetzliche Typisierung und Pauschalierung – Vereinfachungs­ zwecknormen 1. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung und Grenzen Entschließt sich der Gesetzgeber, einen steuerlich relevanten Sachverhalt typisierend oder pauschalierend zu erfassen, so wird er damit den Einzelfall kaum je genau treffen, sondern immer mehr oder weniger „daneben“ liegen. Er verfehlt insoweit die exakte Ermittlung der steuerlichen Leistungsfähigkeit, die weitgehend als Grundprinzip einer gleichheitsgerechten Besteuerung anerkannt ist. Solche Vereinfachungszwecknormen sind daher am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) zu messen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Laufe der Jahre in zahlreichen Entscheidungen12 dem Gesetzgeber Spielräume und Grenzen typisierender und pauschalierender Regelungen aufgezeigt. Ausgangspunkt ist die Prämisse, dass der Gesetzgeber bei der Auswahl des Belastungsgrundes einen erheblichen Entscheidungsspielraum hat, die einmal getroffene Entscheidung dann aber im Sinne der Belastungsgleichheit folgerichtig umsetzen muss13. Für das Massenverfahren der Besteuerung bedarf es vereinfachender  – typisierender und pauschalierender  – Regelungen, um einen gleichheitsgerechten Vollzug14 überhaupt erst zu ermöglichen15; dies erkennt die Verfassungsrechtsprechung an16. Sie hat jedoch auch klare Grenzen entwickelt: Eine Typisierung darf sich am Regelfall orientieren17, muss das aber auch und darf nicht den atypischen Fall als Leitbild wählen18. Wenn es um die subjektive Leistungsfähigkeit geht, hat der Gesetzgeber darauf zu achten, dass in möglichst allen Fällen der existenznotwendige Bedarf abgedeckt wird19. Das gilt vor allem dann, wenn es sich, wie beim Grundfreibetrag, um eine abschließende Pauschalierung handelt und nicht, wie etwa beim behinderungsbedingten Mehraufwand, dem Steuerpflichtigen der Ausweg des Einzelnachweises bleibt. 12 Vgl. u.a. BVerfG v. 31.5.1988  – 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214; v. 27.6.1991  – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239; v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1; v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210; v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268. Ausführlich zur neueren Rechtsprechung des BVerfG Breinersdorfer, DStR 2010, 2492, speziell zur Typisierung 2496 f. 13 So schon BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, BVerfGE 21, 12 (26 ff.). Vgl. auch Kirchhof in Maunz/Dürig/Herzog, Art. 3 Abs. 1 GG Rz. 422 m.w.N. 14 Den Aspekt der Rechtsanwendungsgleichheit betont besonders das sog. Zinsurteil des BVerfG v. 27.6.1991 (Fn. 12), 268 (271 f.). 15 Tipke (Fn.  10), 349. Kirchhof, Stbg 1995, 68 (69), fasst das in dem Satz zusammen: „Ein Differenzierungsausmaß, das den gleichmäßigen Vollzug des Gesetzes gefährdet oder verhindert, ist gleichheitswidrig“. 16 Vgl. statt vieler BVerfG v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96,1 (LS 1 und 6 f.) zur Aufhebung des Arbeitnehmer- und des Weihnachtsfreibetrags. Hingegen hatte der BFH ­zunächst Zweifel, ob der auf 2000  DM erhöhte Arbeitnehmerpauschbetrag neben dem steuerfrei oder pauschal versteuerten Aufwendungsersatz gerechtfertigt ist, vgl. Vorlagebeschluss v. 19.2.1993 – VI R 74/91, BFHE 170, 410, BStBl. II 1993, 551; zurückgezogen aufgrund der vorstehenden Entscheidung des BVerfG am 20.6.1997. 17 BVerfG v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1 (6). 18 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (232 f.). 19 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153 (172).

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Das unübersichtliche und unsystematische Konglomerat der Steuerbefreiungen in § 3 EStG hat keinen besonders guten Ruf20. Gerne übersehen wird dabei, dass zahlreiche Steuerbefreiungen erheblich zur Vereinfachung beitragen21. So wäre es sicher wenig sinnvoll, staatliche Leistungen wie das Wohngeld oder Stipendien auf einen Bruttobetrag anzuheben, um sie dann der Besteuerung zu unterwerfen, oder die private Mitnutzung dienstlicher Computer oder Smartphones zu bewerten22. Auch hier hat allerdings die Verfassungsrechtsprechung Grenzen gesetzt: Führt eine Steuerbefreiung zu einer gleichheitswidrigen Begünstigung, kann dies nicht mit dem Argument der Vereinfachung gerechtfertigt werden23. Hingegen mag die deklaratorische Nennung nicht steuerbarer Einnahmen24, wie etwa der Krankenversicherungsleistungen, systematisch unschön sein – zulässig ist sie und der praktikablen Rechtsanwendung dient sie durchaus25. Dem Rechtsanwender – allen voran der Verwaltung – kommen gesetzliche Typisierungen und Pauschalierungen entgegen. Den Finanzbeamten ersparen sie Ermittlungsaufwand; dieses Rationalisierungsargument wird oft als einziges (und von manchen durchaus kritisch)26 gesehen. Typisierungen und Pauschalierungen schaffen aber auch Rechtssicherheit für Steuerpflichtige und Berater und wirken streitvermeidend  – dies allerdings nur, wenn die Regelung die typischen Sachverhalte in ihrer Mehrzahl zutreffend erfasst. Schließlich dienen sie auch dem Schutz der Privatsphäre der Steuerpflichtigen: Je differenzierter ein steuerrechtlicher Sachverhalt, z.B. die Absetzbarkeit der Kosten für ein häusliches Arbeitszimmer, geregelt ist, desto mehr muss der Steuerpflichtige offenlegen – auf den Schutz der Privatsphäre kann er sich insoweit nicht berufen27. Diese Wirkungen kommen allerdings dann nicht voll zur Geltung, wenn die Regelung nicht abschließend bzw. abgeltend ist, sondern dem Steuerpflichtigen  – aus rechtlichen oder politischen Gründen – die Möglichkeit des Einzelnachweises belässt28.

20 Vgl. Hey in Tipke/Lang (Fn. 2), § 8 Rz. 137 ff.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band II, 2. Aufl. 2003, 752 f. 21 Im Einkommensteuergesetzentwurf der Stiftung Marktwirtschaft (§  49 EStG-E) werden deshalb eine Reihe von „Vereinfachungszweckbefreiungen“ beibehalten (vgl. Lang/Eilfort (Fn. 4). 147 und 174). 22 Broer, BB 2004, 1935. 23 BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 zur als pauschale Aufwandsentschädigung nach § 3 Nr. 12 EStG ausgewiesenen sog. Buschzulage für in die neuen Länder entsandte Bundesbedienstete. 24 Vgl. Erhard in Blümich/Heuermann, § 3 EStG Rz. 1 f. 25 Im Entwurf eines Bundessteuergesetzbuchs werden diese Einnahmen konsequent nur noch in den Erläuterungen genannt (Kirchhof (Fn. 3), 403 ff.), weil sie aufgrund der Definition von Erwerbseinnahmen (§ 44 Abs. 3 BStGB-E) nicht steuerbar sind. 26 Vgl. Tipke (Fn. 10), 357 m.w.N. 27 Hey in Tipke/Lang (Fn. 2), § 3 Rz. 186. 28 Man spricht hier auch von „formeller“ Typisierung, vgl. Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, 1992, 26 f.

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Dass die Verwaltung an vereinfachende gesetzliche Vorgaben gebunden ist, ergibt sich schon aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art.  20 Abs.  3 GG), der in §  85 AO seine einfachgesetzliche Ausprägung gefunden hat29. Abweichen kann der Finanzbeamte nur, wenn die Vorschrift dies – etwa für den Fall der „offensichtlich unzutreffenden Besteuerung“  – ausdrücklich zulässt30. Hingegen ist es ihm nicht gestattet, wegen besserer Erkenntnis im Einzelfall die Anwendung gesetzlicher Pauschalen zu verweigern, der Steuerpflichtige hat einen Rechtsanspruch auf deren Anwendung31. 2. Eignung als Reformansatz? Großzügige Typisierungen und Pauschalierungen sind immer wieder als Schlüssel zu einer durchgreifenden Vereinfachung (vornehmlich) des Einkommensteuerrechts bezeichnet worden32. Dass einer solchen Großzügigkeit verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt sind, ergibt sich aus dem vorstehend Gesagten. Gleichwohl wäre sicher noch Potential vorhanden, etwa beim Ansatz der Vorsorgeaufwendungen oder im Bereich der außergewöhnlichen Belastungen33. Anders als Jachmann34 sehe ich allerdings die Chancen einer pauschalierenden Regelung für Erwerbsaufwendungen etwa bei nicht buchführenden Gewerbetreibenden skeptisch – zum einen dürfte es schwierig werden, sachgerechte Kriterien hierfür zu finden35, zum andern wird, selbst wenn man den Nachweis tatsächlicher Aufwendungen erschwert36, häufig der Steuerpflichtige (oder sein Berater) sich zu einer „Günstigerprüfung“ veranlasst sehen37. Wichtiger noch, als neue Pauschalen einzuführen, wäre allerdings eine regelmäßige Anpassung bestehender Pauschalen an die Preisentwicklung  – ansonsten verlieren

29 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 85 AO, Rz. 6 f. 30 Vgl. z.B. § 199 Abs. 1 BewG für die vereinfachte Bewertung nicht notierter Anteile an Kapitalgesellschaften. 31 Vgl. Loschelder in Schmidt, 36. Auflage 2017, § 9a EStG Rz. 1. 32 Vgl. Isensee, StuW 1994, 3 (7  f.); Kirchhof in FS Meyding, 1994, 14  ff.; Jachmann, StuW 1998, 193 (204 ff.). Kritisch Hey in Tipke/Lang (Fn. 2). § 3 Rz. 149 f. 33 Jachmann, StuW 1998,193 (205 f.); Schober, Verfassungsrechtliche Restriktionen für den vereinfachenden Einkommensteuergesetzgeber, 2009, 221 ff. 34 Jachmann, StuW 1998, 193 (206). 35 Das mag auch der Grund dafür sein, warum die Bundesregierung bisher keinen Gebrauch von der Ermächtigung in § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c EStG gemacht hat, (optionale) Betriebsausgaben-Pauschbeträge für bestimmte Gruppen von Betrieben festzulegen, falls diese den Gewinn nach § 4 Abs. 3 EStG ermitteln. 36 Etwa durch die Forderung einer freiwilligen Bilanzierung, so Jachmann, StuW 1998, 193 (206). 37 So die (schlechten) Erfahrungen mit der 1995 eingeführten und 1998 wieder abgeschafften Pauschalierung von Werbungskosten bei der Vermietung zu Wohnzwecken (§  9a Satz  1 Nr.  2 EStG); vgl. Schön, StuW 2002, 23 (33), der auch auf mögliche negative volkswirtschaftliche Auswirkungen hinweist. Zur Diskussion um eine Ausweitung der Typisierungen s. auch Seer, StuW 1995, 184 (192).

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diese Instrumente nach und nach ihre vereinfachende Wirkung38. Nachdenklich stimmen muss zudem die mit Gerechtigkeitserwägungen begründete Neuauflage der Diskussion über die abgeltende Besteuerung der Kapitaleinkünfte, die den Vereinfachungsaspekt weitgehend außer Acht lässt39.

III. „Praktikabilität“ als Auslegungstopos – Typisierung und ­Pauschalierung durch die Verwaltung Von der Anwendung vereinfachender Rechtsnormen strikt zu unterscheiden ist die „vereinfachende Anwendung“ steuerlicher Vorschriften. Dabei geht es um die Frage, ob und inwieweit die rechtsanwendenden Instanzen  – also Steuerverwaltung und Gerichtsbarkeit  – befugt sind, ihrerseits typisierend und pauschalierend vorzugehen40. Da hierdurch der praktische Gesetzesvollzug gesichert werden soll, möchte ich mit Lohmann41 lieber von „Praktikabilität“ als Auslegungstopos sprechen42. In der Steuerrechtswissenschaft geht die Diskussion schon auf Enno Becker und Albert Hensel zurück, hat in neuerer Zeit aber vor allem durch die umfassenden Arbeiten von Isensee43 und Osterloh44 an Kontur gewonnen. Sie hat sich immer mit der Typisierungsbefugnis von Verwaltung und Rechtsprechung befasst45. Uns soll hier vor allem die typisierende Anwendung steuerlicher Gesetzesbestimmungen durch die Finanzverwaltung beschäftigen, die vornehmlich in Form von Verwaltungsanweisungen in Erscheinung tritt46. Dem einzelnen Finanzbeamten eine solche Befugnis zuzuerkennen47, erscheint mir hingegen als zu weitgehend, es sei denn, man sieht in jeder Anwendung des Gesetzes zugleich eine Typisierung.

38 So wurden die Pauschbeträge für behinderte Menschen in § 33b EStG seit 1975 nicht mehr angepasst, vgl. Loschelder in Schmidt, § 33b EStG Rz. 3. Einen entsprechenden Vorschlag Hessens (BR-Drucks. 684/12) konnte Bayern nicht unterstützen, weil er zur Gegenfinanzierung die Ausdehnung der Abgeltungswirkung auf bisher gesondert abziehbare Krankheitskosten vorsah. 39 Vgl. die brandenburgische Entschließung zur Abschaffung der Abgeltungsteuer (BRDrucks. 643/16), die allerdings im Plenum des Bundesrates am 12.5.2017 keine Mehrheit fand. Näheres hierzu bei Dürr, BB 2017, 854. 40 Vgl. Osterloh (Fn. 28), 24 f. 41 Lohmann, AöR 1975, 415. 42 Für das allgemeine Verwaltungsrecht hat Franßen in FS Zeidler, 1987, Band I, 429 (447) dargelegt, dass es sich dabei nicht nur um eine „juristische Verlegenheitslösung“ handelt. 43 Isensee (Fn. 7). 44 Osterloh (Fn. 28). 45 Ein bekanntes Beispiel für eine Typisierung durch die Rechtsprechung ist die sog. Drei-Objekt-Grenze zur Abgrenzung des gewerblichen Grundstückshandels (vgl. BFH v. 8.8.1979 – I R 186/78, BFHE 129, 177 und BFH v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BFHE 197, 240). 46 Auf die in Art. 108 GG begründete und durch das Finanzverwaltungsgesetz – insbes. § 21a FVG – konkretisierte Zusammenarbeit und Kontrolle bei der Steuerrechtsanwendung im föderalen Bundesstaat soll hier nicht eingegangen werden. 47 Ablehnend auch Tipke (Fn. 10), 358.

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1. Notwendigkeit Wieso bedarf es überhaupt einer typisierenden Auslegung durch die Verwaltung? Grob lassen sich zwei Gründen unterscheiden: Die Unbestimmtheit der gesetzlichen Tatbestände48 und die Notwendigkeiten eines praktikablen Gesetzesvollzugs49. Man kann darin aber meines Erachtens auch einen nur graduellen Unterschied sehen: Von „gar nicht vollziehbar“ bis „nur mit unverhältnismäßigem Aufwand vollziehbar“. Gerade das Einkommensteuerrecht kennt eine Vielzahl von Tatbeständen, die nicht aus sich heraus eindeutig umsetzbar sind: Welche Belastungen sind „außergewöhnlich“50, welche Aufwendungen dienen „der Erwerbung, Sicherung, und Erhaltung der Einnahmen“51? § 33 EStG nennt zwar weitere Kriterien wie Zwangsläufigkeit, Notwendigkeit und Angemessenheit, die aber ihrerseits wieder erheblichen Spielraum für Interpretationen bieten, wie die umfangreiche Judikatur und Literatur zu dieser Vorschrift zeigt52. Bei den Werbungskosten hat der Gesetzgeber hingegen auf weitere abstrakte Kriterien verzichtet und stattdessen in § 9 Abs. 1 Satz 3 EStG („Werbungskosten sind auch  …“) einzelne Tatbestände wie etwa Fahrtkosten oder doppelte Haushaltsführung benannt, die dieser Vorschrift jedenfalls unterfallen sollen53. Auch diese Normierungen „typischer“ Werbungskosten haben jedoch vielfach Fragen offengelassen, die von Steuerpflichtigen, Verwaltung und Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet wurden. Ein Beispiel war die Frage, ob sich eine „regelmäßigen Arbeitsstätte“ nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG auch beim Kunden des Arbeitgebers befinden kann54. Wie es aussieht, wenn der Gesetzgeber eine solche Auseinandersetzung „einfangen“ will, zeigt die umfangreiche Regelung zur „ersten Tätigkeitsstätte“, die im Rahmen der Reform des steuerlichen Reisekostenrechts in §  9  EStG aufgenommen wurde55. Wie man sieht, geht jeder Rechtsanwender in gewisser Weise typisierend vor56 – je weniger kasuistisch die Norm ausgestaltet ist, desto mehr57. Wenn die Verwaltung 48 Vgl. Osterloh (Fn. 28), 65, 96 ff. 49 Vgl. Kirchhof, Finanzverwaltung und Grundgesetz, in: Vogelgesang (Hrsg.), Perspektiven der Finanzverwaltung, 1992, 1 (10 ff.). 50 § 33 Abs. 1 EStG. 51 § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG. 52 Nachweise bei Loschelder in Schmidt, § 33 EStG Rz. 6 ff. 53 Und sich damit z.B. hinsichtlich der Fahrtkosten gegen das sog. Werkstorprinzip entschieden, das u.a. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, § 45 Rz. 14 ff. anwenden will. 54 Vgl. R 9.4 Absatz 3 Satz 1 LStR 2008 einerseits und BFH v. 10.7.2008 – VI R 21/07, BFHE 222, 391 andererseits. 55 § 9 Abs. 4 EStG eingefügt durch Gesetz zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts v. 20.2.2013, BGBl. I 2013, 285. 56 Isensee (Fn. 7), 16, spricht deshalb davon, dass der Rechtsanwender „zwischen das Gesetz und die Realität die Schablone des Typus“ schiebe; Osterloh (Fn. 28), 56, kritisiert dieses Bild, weil es so missverstanden werden könne, als ob die Schablone die Realität des Sachverhalts verdecke. 57 Isensee, StuW 1994, 3 (8): „Das einfach gefaßte Gesetz muß nicht einfach zu vollziehen sein“. Hier stellt sich besonders für diejenigen Reformer ein Problem, die im Interesse einer

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dem Finanzbeamten per Verwaltungsanweisung bestimmte Richtwerte oder Auslegungshinweise vorgibt, will sie ihn damit befähigen, die Masse der Steuerfälle zu bewältigen, ohne in jedem Fall wieder eigene Überlegungen zur konkreten Ausfüllung der Norm anstellen zu müssen58. Dieser Hilfe bedarf der Bearbeiter umso mehr, als die Steuerverwaltung seit langem an der Grenze der Belastbarkeit arbeitet59. Zwei weitere schon oben genannte Aspekte sollten nicht übersehen werden: Rechtssicherheit und Schutz der Privatsphäre. Auch der Steuerpflichtige und sein Berater müssen für ein neu angeschafftes Wirtschaftsgut die „betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer“ in § 7 Abs. 1 Satz 2 EStG ex ante festlegen und können sich dafür an den amtlichen AfA-Tabellen orientieren60. Gibt die Steuerverwaltung Pauschbeträge für den Eigenverbrauch bekannt61, erspart sie dem Steuerpflichtigen, der diese akzeptiert, eine Vielzahl von Einzelaufzeichnungen. 2. Zulässigkeit Dass der Gesetzgeber typisierende und pauschalierende Normen erlassen darf, haben wir oben gesehen, dass die Verwaltung zur praktischen Ausfüllung und effizienten Umsetzung gesetzlicher Regelungen weiterer Typisierungen bedarf ebenso. Die Frage ist nun, wie sich eine solche Typisierungsbefugnis rechtlich begründen lässt und wo ihre Grenzen liegen. In der Wissenschaft ging die zunächst wohl herrschende Denkrichtung davon aus, dass die vereinfachend typisierende Würdigung steuerlich relevanter Sachverhalte letztlich gesetzeswidrig sei62. Da man deren Notwendigkeit im Massenverfahren aber nicht in Abrede stellen wollte (oder besser: konnte)63, musste man einen Ausweg suchen. Isensee glaubte ihn in einer „Notkompetenz“ der Verwaltung gefunden zu haben, die dieser aus dem „Verwaltungsnotstand“ erwachse64. Lerke Osterloh hat in ihrer umfangreichen Untersuchung nachgewiesen, dass man damit in eine Sackgasse gerät: Da man der Rechtsprechung diesen Notstand nicht zubilligen kann65, würde das Gericht letztlich gesetzwidrig handeln, wenn es den Verwaltungsvollzug billigt übersichtlichen Gesetzesfassung Detailregelungen möglichst vermeiden wollen; Kirchhof behilft sich im Entwurf eines Bundessteuergesetzbuchs deshalb mit recht umfangreichen Verordnungsermächtigungen (§ 41 BStGB-E), etwa zur Abgrenzung der Erwerbs- von der Privatsphäre, vgl. Kirchhof (Fn. 3), Begründung zu § 41 BStGB-E, Rz. 1 und 12. 58 Isensee (Fn. 7), 64 (wohl eher kritisch), Jachmann, StuW 1994, 347 (349 f.). 59 Vgl. Egge, StuW 1994, 272; Drüen in Beck/Schön (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2009, 1 (2 f.) m.w.N. 60 Mit der Folge, dass das Finanzamt begründen muss, wenn es davon abweichen will, vgl. Niedersächsisches FG v. 9.7.2014 – 9 K 98/14, DStRE 2016, 840 (841). 61 BMF v. 13.12.2017, BStBl. I 2017, 1618. 62 Isensee (Fn. 7), 126 f., ders. differenzierend in StuW 1994, 3 (10 ff.). 63 Isensee (Fn. 7), 155. 64 Isensee (Fn.  7), 171  ff.; Arndt, Praktikabilität und Effizienz, 1982, 150  f., geht auch vom „Vollzugsnotstand“ aus, sieht die Lösung jedoch in einer verfassungskonformen Auslegung und will so den Vorwurf der Rechtswidrigkeit vermeiden. 65 Isensee (Fn. 7), 179 ff.

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oder seinerseits typisierend vorgeht66. Die Rechtsprechung müsste daher im Einzelfall – so der das Gericht überhaupt erreicht – wieder zur „regulären Rechtsanwendung“67 übergehen, das im „summarischen Verfahren“ der Verwaltung gefundene Ergebnis zurechtrücken68. Damit wäre aber für einen gleichheitsgerechten Gesetzesvollzug wenig gewonnen. Inzwischen hat sich deshalb wohl die Sichtweise durchgesetzt, dass es um eine Frage des Beweismaßes geht, das im Massenverfahren der Steuerfestsetzung gefordert werden kann69. Weil alle gesetzlichen Regelungen mehr oder weniger offen formuliert sind (sein müssen), besteht die Notwendigkeit, dass die Rechtsanwender die Begriffe für den praktischen Vollzug ausfüllen  – das gilt für Verwaltung und Rechtsprechung gleichermaßen70. Dabei ist der Verwaltungsbeamte auf staatlicher Seite Erstinterpret der Norm71, die Rechtsprechung behält aber das letzte Wort. Nicht zu übersehen ist dabei, dass es zu einer „Rückkopplung“ zwischen Rechtsprechung und Verwaltung kommt: Eine erhebliche Zahl von Verwaltungsvorschriften übernimmt und erläutert Entscheidungen des Bundesfinanzhofs72. Die gerade seitens der Richterschaft73 ­kritisch gesehenen Nichtanwendungserlasse sind demgegenüber weit weniger zahlreich74. Deshalb richtet sich der Blick bei der Frage, ob die Verwaltung typisierende Regelungen für den Vollzug aufstellen darf und welche Wirkung diese entfalten, zuallererst auf die Rechtsprechung. In einem Beschluss aus dem Jahr 1988 hat sich das Bundesverfassungsgericht zur Bindung der Finanzgerichte an die durch ein BMF-Schreiben geregelte Ländergruppeneinteilung zu § 33a EStG75 geäußert, die für Unterhaltszahlungen an im Ausland lebende Angehörige bestimmte Höchstbeträge vorgibt. Dabei hat es in einem Leitsatz hat seine Auffassung wie folgt zusammengefasst: „Leitsatz  1: Die Gerichte sind bei ihrer Kontrolltätigkeit gegenüber der Verwaltung grundsätzlich nicht an Verwaltungsvorschriften gebunden. Sie sind jedoch befugt, sich einer Gesetzesauslegung, die in einer Verwaltungsvorschrift vertreten wird, aus eigener Überzeugung anzuschließen. Es bleibt offen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Bürger einen Anspruch darauf hat, daß eine Verwaltungsvorschrift auf ihn angewandt wird“76.

66 Osterloh (Fn. 28), 50 f. 67 Isensee (Fn. 7), 182. 68 Isensee (Fn. 7), 187 spricht von „arbeitsteiliger Ergänzung“. 69 Vgl. Osterloh (Fn. 28), 322; Seer in Tipke/Kruse, § 88 AO Rz. 41 ff. 70 Vgl. Osterloh (Fn. 28), 167 f.; Kirchhof (Fn. 49), 21 ff. 71 Vgl. Kirchhof (Fn. 49), 13. Freilich müssen sich auch Steuerpflichtige und Berater schon eine Meinung über die Anwendbarkeit einer Regelung auf ihren Fall bilden und könnten so mit Recht als „Erstinterpreten“ bezeichnet werden. 72 Vgl. Englisch in Tipke/Lang (Fn. 2), § 5 Rz. 37; Osterloh (Fn. 28), 76. 73 Vgl. Spindler, DStR 2007, 1061. 74 Vgl. Klein in Vogelgesang (Hrsg.), Perspektiven der Finanzverwaltung, 1992, 41 (48). 75 Aktuell BMF v. 20.10.2016, BStBl. I 2016, 1183. 76 BVerfG v. 31.5.1988 (Fn. 12).

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In einem weiteren Verfahren ging es darum, ob sich ein Angestellter im öffentlichen Dienst auf eine Verfügung der OFD Hannover berufen konnte, die Nebentätigkeitsvergütungen in bestimmter Höhe als pauschalierten Werbungskostenersatz deklarierte. In ihrem Nichtannahmebeschluss führt die 2. Kammer des Ersten Senats aus: „… die Verwaltung [ist] – wenn sie eine typisierende Verwaltungsvorschrift herausgibt  – hierzu nur ermächtigt, soweit sie um eines möglichst raschen Gesetzesvollzugs willen … eine besondere Anweisung verfaßt, die sich im Rahmen des Gesetzeszweckes und dem Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung hält; sie darf keine – faktische – Steuerentlastung nach eigener Vorstellung bewirken“77. Damit sind Grundlinien für die Überprüfung vereinfachender Verwaltungsregelungen vorgegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat aber naturgemäß nur selten Gelegenheit, zur Geltung von Verwaltungsanweisungen Stellung zu nehmen, deshalb richtet sich – nicht nur wegen des Anlasses für diesen Aufsatz – das Interesse vorrangig auf die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs. 3. Möglichkeiten und Grenzen typisierenden Verwaltungshandelns Für eine nähere Betrachtung der Möglichkeiten und Grenzen, die die Rechtsprechung typisierenden und pauschalierenden Verwaltungsregelungen aufgezeigt hat, möchte ich diese in drei Fallgruppen einteilen78: –– Ermessensleitende Vorschriften (a): Sie sollen die gleichheitsgerechte Ausübung eines der Verwaltung gesetzlich eingeräumten Ermessens sicherstellen. –– Bewertungs- und Typisierungsvorschriften (b): Das Gesetz bedarf der Ausfüllung oder Konkretisierung durch den Rechtsanwender. Hier stellt sich insbesondere die Frage, ob es sich um abschließende Regelungen handelt oder dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit des Einzelnachweises bleibt. –– Norminterpretierende Regelungen (c): Die Verwaltung will eine einheitliche rechtliche Auslegung im Sinne eines praktikablen Vollzugs sicherstellen. Das wirft die Frage nach der Letztentscheidungskompetenz für die Gesetzesauslegung auf. –– „Reparatur“ der Gesetzgebung durch Verwaltungsvorschriften? (d): Schließlich will ich noch einen Blick auf eine zuletzt wieder kontrovers diskutierte Frage richten: Inwieweit kann und darf die Verwaltung auf evidente Versäumnisse oder Lücken der Gesetzgebung reagieren. a) Ermessensleitende Vorschriften Das Gesetz räumt der Verwaltung verschiedentlich ein Ermessen ein – nicht bei den steuerbegründenden Normen, sondern typischerweise im Bereich des Verfahrens

77 BVerfG v. 28.6.1993 – 1 BvR 390/89, NVwZ 1994, 475. Hierzu Jachmann, StuW 1994, 347. 78 Einteilung in Anlehnung an Englisch in Tipke/Lang (Fn. 2), § 5 Rz. 34 ff.

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und der Erhebung79. Beispiele sind die Auswahl von Beweismitteln (§  92 AO), die vorläufige Steuerfestsetzung (§ 165 AO), die Anordnung einer Außenprüfung oder Stundung (§ 222 AO) und Erlass (227 AO) von Steueransprüchen80. Die Ausübung dieses Ermessens unterliegt nach §  102  FGO nur eingeschränkt der richterlichen Kontrolle: Das Gericht hat zu prüfen, ob die vom Gesetz vorgegebenen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder vom Ermessen in einer nicht dem Zweck der Vorschrift entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde. Ermessensnormen stellen grundsätzlich auf den individuellen Sachverhalt ab, jedoch können auch hier im Interesse eines praktikablen und gleichheitsgerechten Vollzugs Vorgaben durch Verwaltungsanweisungen sinnvoll sein81. Das wird von der Rechtsprechung anerkannt: So hat der BFH in mehreren Entscheidungen die Anwendung der Grundsätze der Betriebsprüfungsordnung82 für die Anordnung von Außenprüfungen bestätigt83. Erlässt die Finanzverwaltung Übergangsregelungen zur Anwendung einer geänderten Rechtsprechung, „so haben die Gerichte nur zu prüfen, ob sich die Behörden an die Regelung gehalten haben und ob die Regelung selbst einer sachgerechten Ermessensausübung entspricht. Dabei ist für die Auslegung einer Verwaltungsvorschrift nicht maßgeblich, wie die Finanzgerichte eine solche Verwaltungsanweisung verstehen, sondern wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen wollte. Das FG und der BFH dürfen daher … Verwaltungsanweisungen nicht selbst auslegen, sondern nur prüfen, ob die Auslegung der Verwaltungsvorschrift durch die Behörde „möglich“ ist“84. Hat die Finanzverwaltung ermessenslenkende Vorschriften erlassen, so ist sie unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung (Art.  3 Abs.  1 GG) an diese gebunden. Diesen Grundsatz der „Selbstbindung der Verwaltung“ hat der BFH in mehreren Urteilen bekräftigt85. Allerdings besteht diese nur dann, wenn die Grenzen des Ermessens eingehalten sind; eine Verpflichtung zur Fortführung einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis lässt sich aus Art. 3 GG nicht herleiten86.

79 Vgl. Englisch in Tipke/Lang (Fn. 2), § 5 Rz. 36; Gersch in Klein/Orlopp, 13. Auflage 2016, § 5 AO Rz. 2. 80 Bisher auch bei der Festsetzung eines Verspätungszuschlags, § 152 AO, und zwar hinsichtlich des „ob“ (Abs. 1) und der Höhe (Abs. 2). Ab 1.1.2019 ist die Festsetzung in den meisten Fällen zwingend und auch der Höhe nach vorgegeben, § 152 Abs. 2 und 5 AO in der Fassung des Gesetzes v. 22.7.2016, BGBl. I 2016, 1679. 81 Vgl. Rüsken in Klein/Orlopp, § 163 AO Rz. 22. 82 Allgemeine Verwaltungsvorschrift für die Betriebsprüfung – aktuelle Fassung v. 15.3.2000 (BStBl.  I 2000, 368), zuletzt geändert durch die allgemeine Verwaltungsvorschrift v. 20.7.2011 (BStBl. I 2011, 710). 83 Vgl. BFH v. 23.7.1985  – VIII R 197/84, BFHE 144, 9; BStBl.  II  1986,  36 und BFH v. 10.6.1992 – I R 142/90, BFHE 128, 226; BStBl. II 1992, 784. 84 BFH v. 13.1.2011 – V R 43/09, BFHE 233, 58 (61) Rz. 16, BStBl. II 2011, 610 (612). 85 Z.B. BFH v. 10.6.1992 (Fn. 83); v. 14.5.2009 – IV R27/06, BFHE 225,187, BStBl. II 2009, 881; v. 18.4.2013 – V R 48/11, BFHE 241, 270, BStBl. II 2013, 697; vgl. auch FG Baden-­ Württemberg v. 24.5.2017 – 1 K 1543/16, BeckRS 2017, 135254. 86 BFH v. 19.3.2009 – V R 48/07, BFHE 225, 215, BStBl. II 2010, 92.

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b) Bewertungs- und Typisierungsvorschriften Wie schon erwähnt, gibt es gerade im Steuerrecht zahlreiche Vorschriften, die einer weiteren Konkretisierung bedürfen; dabei geht es in der Regel um die Umsetzung unbestimmter Rechtsbegriffe in zähl- oder messbare Größen. Hier liegt der Kernbereich einer Vereinfachung des Vollzugs durch typisierende Verwaltungsvorschriften. Ein Beispiel soll das verdeutlichen: Bei der Abschreibung beweglicher Wirtschaftsgüter verweist § 7 Abs. 1 Satz 2 EStG auf die „betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer“, also eigentlich eine individuell zu ermittelnde Größe. Sowohl Steuerpflichtige als auch Verwaltung wären jedoch überfordert, wollten sie für die Vielzahl mehr oder weniger standardisierter Wirtschaftsgüter, die in einem Betrieb zum Einsatz kommen, diese Nutzungsdauer jeweils individuell ermitteln. Mit den AfA-Tabellen bietet die Verwaltung deshalb ein Hilfsmittel zur Orientierung an87. Da die Verwaltung hier aber nicht im Bereich eigenen Ermessens tätig wird, sondern gesetzliche Tatbestände konkretisierend ausfüllt88, erlaubt sich die Rechtsprechung ein genaueres Hinsehen. Sie erkennt an, dass sie in der Regel nicht über bessere Erkenntnisquellen verfügt als die Verwaltung, die aus einer Vielzahl von (Prüfungs-) Fällen Richtgrößen ableiten kann89. Die Funktion der Vereinfachung des Vollzugs einerseits, der Beweiserleichterung für die Steuerpflichtigen andererseits hat der BFH ausdrücklich anerkannt90. Allerdings kommt es darauf an, dass die Fallgruppen zutreffend gebildet werden – daran konnte man bei den Betriebsausgaben- oder Werbungskostenpauschalen für bestimmte Berufsgruppen91 Zweifel haben. Soweit sie Arbeitnehmer betrafen92, erschien zunehmend die Rechtfertigung einer Gewährung neben dem Arbeitnehmerpauschbetrag unter Gleichheitsaspekten problematisch93. Inzwischen sind sie abgeschafft94. Die Frage, wie weit solche Pauschalierungen gehen dürfen, hat sich vor allem für die früher (nur) in den Lohnsteuerrichtlinien geregelten Pauschalen für Werbungskosten (z.B. Verpflegungsmehraufwendungen bei Dienstreisen)95 gestellt. 87 Z.B. AfA-Tabelle für die allgemein verwendbaren Anlagegüter v. 15.12.2000, BStBl. I 2000, 1532. 88 Der v.a. in der älteren Rechtsprechung verwendete Begriff der „Schätzung“ nach §  217 RAO (jetzt § 162 AO) passt nicht so recht, da dies einzelfallbezogene Vorschriften sind, mit den Pauschalen aber das materielle Recht konkretisiert wird, vgl. Osterloh (Fn.  28), 237, 250; Jachmann, StuW 1994, 347 (351). 89 Vgl. BFH v. 30.10.1975 – IV R 142/72, BFHE 117, 456, BStBl. II 1976, 192. 90 Vgl. für die Pauschalierung von Werbungskosten BFH v. 25.10.1985 – VI R 15/81, BFHE 145, 181, BStBl. II 1986, 200. 91 Vgl. u.a. BFH v. 27.10.1978 – VI R 8/76, BFHE 126, 217, BStBl. II 1979, 54 (Hochschullehrer) und v. 30.10.1975  – IV R 142/72, BFHE 117, 456, BStBl.  II 1976, 192 (literarischer Übersetzer). 92 Abschnitt 47 LStR 1987. 93 Vgl. Osterloh (Fn. 28), 477 f. 94 Letztmals enthalten in Abschnitt 47 der Lohnsteuerrichtlinien 1999. 95 Vgl. BFH v. 5.11.1971  – VI R 184/69, BFHE 103, 493, BStBl.  II 1972, 130; v. 25.10.1985 (Fn. 90).

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So fragt sich, ob von der Verwaltung geschaffene Pauschalregelungen den Einzelnachweis durch den Steuerpflichtigen ausschließen96, diesen im Einzelfall also auch benachteiligen dürfen – insoweit kann man dann nicht mehr von einem „Angebot“ oder einer „Orientierungshilfe“ der Verwaltung sprechen97. Die Rechtsprechung hat das bei den Pauschbeträgen für Verpflegungsmehraufwendungen im Ergebnis hingenommen98. Inzwischen hat der Gesetzgeber diese abschließenden Pauschalierungen aber gesetzlich geregelt, für Reisekosten zuletzt umfassend in § 9 Abs. 1 Nr. 4a, Abs. 4 und 4a EStG99. Wie bei den ermessenslenkenden Vorschriften bindet sich die Verwaltung auch durch solche Bewertungs- oder Typisierungsvorschriften für gleichartige Fälle. Dies hat der BFH u.a. für die AfA-Tabellen100 und für die Richtlinien zur Bewertung des Grundvermögens101 entschieden. Bei den Werbungskostenpauschalen wurde die Selbstbindung vom BFH als wesentliche Begründung für die „Anwendung“ oder „Beachtung“ dieser Regelungen durch die Gerichte angesehen102. Die Grenze dieser Bindung – und damit auch der Beachtung durch die Gerichte – wird mit der Formel von der „offensichtlich unzutreffenden Besteuerung“ beschrieben103. Der Verwaltung setzt sie in doppelter Hinsicht Grenzen: Führt eine Verwaltungsanweisung im Einzelfall zu einer solch unzutreffenden Besteuerung, verweigert die Rechtsprechung ihr insoweit die Anerkennung, andererseits kann die Verwaltung ihre eigenen Richtlinien auch nicht einfach beiseitelassen, wenn diese Grenze nicht erreicht ist104.

96 Abschnitt 22 Abs. 4 LStR 1987, letztmals R 39 Abs. 2 LStR 1996. 97 In der wissenschaftlichen Diskussion wird auch zwischen materieller (= abschließender) und formeller Typisierung unterschieden, vgl. Osterloh (Fn. 28), 26 f.; Raupach in DStJG 21 (1998), 175 (187 f.). Gegen diese Unterscheidung Isensee (Fn. 7), 33. 98 Vgl. z.B. BFH v. 23.4.1982 – VI R 30/80, BFHE 135, 515 (517), BStBl. II 1982, 500 (501): „Die Pauschbetragsregelungen der LStR haben ihrem Wesen nach typisierenden Charakter. Dies kann im Einzelfall sowohl zu Vorteilen als auch zu Nachteilen für den Steuerpflichtigen führen“; andererseits ist im weiteren Verlauf von „Mindestsätzen“ die Rede. Die Entscheidung v. 16.12.1981 – VI R 227/80, BFHE 135, 57, BStBl. II 1982, 302, spricht dagegen von „Höchstbeträgen“. 99 Gesetz zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts v. 20.2.2013, BGBl. I 2013, 285. 100 BFH v. 8.11.1996 – VI R 29/96, BFH/NV 1997, 288, DStR 1997, 194. 101 BFH v. 4.2.2010 – II R 1/09, BFH/NV 2010, 1244. 102 Vgl. u.a. BFH v. 5.11.1971 – VI R 184/69, BFHE 103, 493, BStBl. II 1972, 130 und BFH v. 25.10.1985 (Fn. 90). Ablehnend hingegen noch für die besondere Werbungskosten-Pauschale für Hochschullehrer BFH v. 8.4.1954 – IV 342/53 U, BFHE 58, 722, BStBl. III 1954, 188: Dem Steuerpflichtigen bleibe nur die „Beschwerde an die übergeordnete Verwaltungsbehörde“. 103 Vgl. Englisch in Tipke/Lang (Fn.  2), §  5 Rz.  36 m.w.N.; Osterloh (Fn.  28), 485  ff.; Jachmann, StuW 1994, 347 (351). 104 Vgl. u.a. BFH v. 16.12.1981 – VI R 227/80, BFHE 135, 57, BStBl. II 1982, 302; v. 23.4.1982 – VI R 30/80, BFHE 135, 515, BStBl. II 1982, 500; v. 10.8.2005 – VIII R 78/02, BFHE 211, 137, BStBl. II 2006, 58.

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Im Zweifel hat der BFH der Rechtssicherheit für den Steuerpflichtigen Vorrang eingeräumt – so bei dem auf die Einkommensteuerrichtlinien gestützten Ansatz der Gewerbesteuerrückstellung nach der sog. 9/10-Methode, selbst wenn dieser gegenüber einer exakten Berechnung zu erheblichen Abweichungen führt105. Trotzdem birgt das Kriterium der „offensichtlich unzutreffenden Besteuerung“, dessen Auslegung sich die Rechtsprechung vorbehalten hat, ein Element der Unsicherheit, und zwar für Verwaltung und Steuerpflichtige. Das hat auch der BFH erkannt, wenn er ausführt, „[Der Senat] verkennt nicht, daß seine Rechtsprechung zu Verpflegungsmehraufwendungen bei einer Auswärtstätigkeit und die Umsetzung durch die Finanzverwaltung in den Lohnsteuer-Richtlinien (LStR) im Laufe der Zeit zu immer weiterer Komplizierung geführt haben, was allein schon durch die zahlreichen Gerichtsverfahren  … belegt wird“106. Sicherheit kann letztlich nur der Gesetzgeber herbeiführen, was er auch in umfassender Weise 20 Jahre später getan hat107. c) Norminterpretierende Regelungen Vereinfachung bedeutet aber nicht nur Typisierung und Pauschalierung, die Verwaltung gibt ihren Mitarbeitern auch Interpretationshilfen für auslegungsbedürftige Rechtsnormen an die Hand108. Dies dient einem reibungslosen und gleichmäßigen Gesetzesvollzug109. Die Besteuerungsgleichheit erfordert in der Massenverwaltung geradezu solche die Norminterpretation regelnden Vorschriften, ansonsten wären zum einen die Bearbeiter überfordert, zum andern sähen sich die Steuerpflichtigen einer Vielheit unterschiedlicher Auffassungen gegenüber, je nachdem, welcher Beamte ihren Fall bearbeitet110. Anders als in den zuvor genannten Bereichen der ermessenslenkenden und der normausfüllenden Vorschriften macht hier aber die Rechtsprechung ihre Zuständigkeit als Letztinterpretin des Gesetzes umfassend geltend111. Die Situation stellt sich allerdings weniger dramatisch dar, wenn man berücksichtigt, dass die weit überwiegende Anzahl dieser Vorschriften Auslegungen der Rechtsprechung übernimmt112. Trotzdem hat der BFH in einer Vielzahl von Entscheidungen bekräftigt, dass norminterpretierende Verwaltungsanweisungen die Gerichte nicht 105 BFH v. 23.4.1991 – VIII R 61/87, BFHE 164, 422, BStBl. II 1991, 752: Verwaltung hätte ihre Anweisung der Entwicklung der Hebesätze anpassen können. Zustimmend Offerhaus, StBp 1991, 215. 106 BFH v. 26.1.1994 – VI R 118/89, BFHE 173, 174 (177), BStBl. II 1994, 529 (531). 107 Durch das Gesetz zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts (Fn. 99). 108 Mit Hilfe von Richtlinien gem. Art. 108 Abs. 7 GG und fachlichen Weisungen nach § 21a Abs. 1 FVG in Gestalt sog. BMF-Schreiben (bzw. bei Ländersteuern sog. Koordinierten Ländererlassen). 109 Klein in FS Meyding, 73 (80 ff.). 110 Vgl. Franßen (Fn.  42), 446  f.; Isensee (Fn.  7),134  ff.; Raupach, in DStJG 21 (1998), 175 (182). 111 Vgl. Englisch in Tipke/Lang (Fn. 2), § 5 Rz. 34 m.w.N. 112 Vgl. Nachweise bei Fn. 72 und Lang, StuW 1992, 14 (16 f.).

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binden113. Insbesondere besteht eine solche Bindung auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes114. Wegen der erheblichen Konsequenzen der Einordnung einer Verwaltungsanweisung als „norminterpretierend“ kommt es entscheidend auf die Abgrenzung des gesetzlichen Tatbestandes an, was sich exemplarisch bei der Zuordnung des Merkmals „unbillig“ in den §§ 163, 227 AO zeigt115. d) „Reparatur“ der Gesetzgebung durch Verwaltungsvorschriften? Was kann die Verwaltung tun, wenn sie eine dringende praktische Entscheidungsnotwendigkeit erkennt, das Gesetz dazu aber schweigt und der Gesetzgeber auch keine Anstalten macht, sich des Problems anzunehmen? Eine lückenfüllende Analogie – auch zu Lasten der Steuerpflichtigen – wird in den letzten Jahren im Schrifttum nicht mehr rundweg abgelehnt116, die Rechtsprechung bleibt jedoch eher skeptisch bis ablehnend, zumindest bei steuerverschärfenden Eingriffen117. Auch einem Tätigwerden zugunsten der Steuerpflichtigen hat die Rechtsprechung Grenzen gesetzt – zuletzt wieder sehr deutlich: Im Jahre 2013 hatte der I.  Senat des BFH darüber zu entscheiden, ob ein Organschaftsverhältnis trotz eines formellen Mangels des Ergebnisabführungsvertrags anzuerkennen sei, weil die Verwaltung für Altverträge eine sog. Nichtbeanstandungsregelung erlassen hatte, um eine Vielzahl von Vertragsanpassungen zu vermeiden118. Dazu führte das Gericht aus: „Die Aussage in dem BMF-Schreiben in BStBl I 2006, 12 und die darauf fußende Erklärung des FA sind für das streitgegenständliche Verfahren unbeachtlich. Das materielle Recht steht im Finanzgerichtsprozess nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten; nach den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung kann deshalb das beklagte FA nicht auf den Steueranspruch verzichten … Auch kommt dem BMF-Schreiben in BStBl I 2006, 12 als bloßer Verwaltungsanweisung keine die Gerichte bindende Wirkung zu; ein Gericht darf eine Verwaltungsanweisung auch dann

113 Beispielhaft seien genannt BFH v. 10.4.2002 – VI R 154/00, BFHE 198, 559, BStBl. II 2002, 779 (Auslegung gesetzlicher Pauschalierung); v. 2.9.2009  – I R 111/08, BFHE 226, 276, BStBl. II 2010, 387 (Verständigungsvereinbarung); v. 10.11.2011 – V R 34/10, BFH/NV 2012, 803 (Vorsteueraufteilung). 114 BFH v. 13.12.2007 – IV R 92/05, BFHE 220, 482, BStBl. II 2008, 583; v. 16.9.2015 – XI R 27/13, BFH/NV 2016, 252; v. 18.10.2017 – V R 46/16, BFH/NV 2018, 293 Rz. 44, BeckRS 2017, 136595: „Derartige Anweisungen stehen konkludent unter dem Vorbehalt einer abweichenden Auslegung der Norm durch die Rechtsprechung“. Einen gewissen Schutz gewährt lediglich § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO. 115 Vgl. Rüsken in Klein/Orlopp, §  163 AO Rz.  20; aktuell BFH v. 28.11.2016  – GrS 1/15, BFHE 255, 482, BStBl. II 2017, 393. 116 Vgl. Englisch in Tipke/Lang (Fn. 2), § 5 Rz. 80 ff. (S. 206 f.) m.w.N.; Crezelius in FS Meyding, 61 (66); Gern, NVwZ 1995, 1145. 117 Vgl. BFH v. 19.5.2010 – XI R 6/09, BFHE 230, 473, BStBl. II 2011, 831 unter Verweis auf BVerfG v. 14.8.1996 – 2 BvR 2088/93, NJW 1996, 3146. 118 BMF v. 16.12.2005, BStBl. I 2006, 12.

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nicht anwenden, wenn sie zu einem für den Steuerpflichtigen günstigeren Ergebnis führt als das materielle Steuerrecht.“119 Hier haben wir es sicher mit einem Grenzfall zu tun, den man aus Sicht der Verwaltung vielleicht auch im Sinne der Praktikabilität hätte entscheiden können120. Vor einer ungleich schwierigeren Situation stand die Verwaltung bei der Problematik der Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen. Schon bald nach der Aufhebung von §  3  Nr.  66  EStG  a.F. durch das Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform121 zeigte sich in der Praxis das dringende Bedürfnis, die Sanierung von Unternehmen nicht durch Steuerforderungen zu belasten, zumal sich durch die Mindestbesteuerung122 und die neue Insolvenzordnung die Rahmenbedingungen verändert hatten. Da die Politik keine Neigung zum Tätigwerden zeigte, legte die Verwaltung die Bedingungen fest, unter denen ein Sanierungsgewinn steuerfrei bleiben konnte123. Die Beteiligten waren sich bewusst, dass dies eine sehr weitgehende Interpretation des administrativen Handlungsspielraums war. Eindeutig zu weit ging sie dem Großen Senat des BFH124, der gleich im Leitsatz einen Verstoß gegen die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung konstatiert. Grundsätzlich erkennt der Große Senat dabei an, dass die Verwaltung ermessenslenkende Vorschriften erlassen kann; er stellt auch nicht in Abrede, dass es damit zu einer Selbstbindung der Verwaltung käme. Der Große Senat sieht die Frage, ob Unbilligkeit vorliegt, aber als Rechtsfrage und sich folglich nicht durch § 102 FGO an der Überprüfung gehindert125. Der Sanierungserlass sei demnach keine ermessenslenkende, sondern eine norminterpretierende Verwaltungsanweisung, die die Rechtsprechung nicht binde. Sachliche Billigkeit stelle auf den atypischen Einzelfall ab; ­damit entziehe sie sich einer generell typisierenden Regelung, wie sie der Sanierungserlass treffe. Indem dieser für den Sanierungsfall Unbilligkeit ohne Prüfung des Einzelfalls unterstelle, überschreite er die der Verwaltung durch Art. 20 GG und § 85 AO gesetzten Grenzen. Wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Erwägungen könnten eine Billigkeitsmaßnahme nicht rechtfertigen. Zudem habe sich die Verwaltung über den durch die Aufhebung von § 3 Nr. 66 EStG a.F. klar zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers hinweggesetzt, die Steuerfreiheit der Sanierungsgewinne zu beseitigen. Anders als der vorlegende X.  Senat126 akzeptiert der Große Senat auch nicht als Rechtfertigung, dass sich die Verhältnisse seither gewandelt hätten und der 119 BFH v. 24.7.2013 – I R 40/12, BFHE 242, 139 (145 f.), BStBl. II 2014, 272 (274 f.). 120 Letztlich kam es allerdings in dem entschiedenen Einzelfall auf die Geltung der Verwaltungsvorschrift nicht an, weil der BFH von einer Heilung durch die rückwirkende gesetzliche Regelung in § 34 Abs. 10b KStG ausgegangen ist. 121 Gesetz v. 29.10.1997, BGBl. I 1997, 2590. 122 Ab 1999 § 2 Abs. 3 Satz 2–8 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl.  I  1999,  402, nunmehr (seit 2004) §  10d Abs.  2 EStG i.d.F. des sog. Korb II-Gesetzes v. 22.12.2003, BGBl. I 2003, 2840. 123 „Sanierungserlass“, BMF v. 27.3.2003, BStBl. I 2003, 240. 124 BFH v. 28.11.2016 (Fn. 115). 125 BFH v. 28.11.2016 (Fn. 115), 499 f. (Rz. 98 ff.). 126 BFH v. 25.3.2015 – X R 23/13, BFHE 249, 299 (310 f.) Rz. 65 ff.

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Sanierungserlass eine Doppelbegünstigung ausschließe: Der Aufhebung der Steuerfreiheit habe – neben der Vermeidung einer doppelten Verlustberücksichtigung – ein „Bündel gesetzgeberischer Motive“ zugrunde gelegen, darunter auch fiskalische Gründe. Ebenso wenig könne man die Untätigkeit des Gesetzgebers in den Folgejahren als stillschweigende Billigung des Sanierungserlasses deuten. Zudem hat das Gericht auch den Weg zu einer individuellen Lösung im Billigkeitswege sehr verengt, indem es bezweifelt, ob die für den alten § 3 Nr. 66 EStG geltenden und im Sanierungserlass typisierend genannten Kriterien dafür herangezogen werden könnten127. Eine weitere Entscheidung des Bundesfinanzhofs zu diesem Thema hat das Dilemma der Verwaltung noch verschärft. Mit Urteil vom 23.8.2017 hat der I. Senat entschieden, dass die Verwaltung den Sanierungserlass auch für sog. Altfälle128 nicht mehr anwenden darf129. Das Gericht sieht wegen der unterschiedlichen Meinungen in Literatur und Finanzrechtsprechung kein schützenswertes Vertrauen und führt aus: „Führt der Gesetzgeber eine steuerliche Begünstigungsregelung ein, nachdem sich durch eine Gerichtsentscheidung herausgestellt hat, dass eine bislang im Billigkeitswege durchgeführte Verwaltungspraxis gegen das Legalitätsprinzip verstößt, obliegt ihm auch die Entscheidung darüber, ob und auf welche Weise die gesetzliche Begünstigung auf Altfälle anzuwenden ist. … Verwaltungsanweisungen, mit denen zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse generelle Unzulänglichkeiten des Gesetzes – hier: das Fehlen einer Übergangsregelung für Altfälle – korrigiert werden sollen, sind unzulässig“130. Hier zeigt sich exemplarisch, in welch missliche Lage die Verwaltung gerät, wenn, der Gesetzgeber (für die Vergangenheit) bewusst eine Verwaltungsregelung genügen lassen will131, der BFH aber das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage bemängelt132. Angesichts dringend zu entscheidender Fälle können die Finanzbehörden ja nicht einfach zuwarten und darauf hoffen, dass sich der Gesetzgeber noch eines Besseren besinnt. Geht die Verwaltung dann an die Grenzen des durch Verwaltungsvorschriften Regelbaren oder – wie aus Sicht des Großen Senats beim Sanierungserlass – darüber hinaus, so tut sie das nicht aus Hybris oder Missachtung der Gewaltenteilung, sondern aus einer Situation praktischer Hilflosigkeit. Die beiden Entscheidungen sind juristisch sicher konsequent begründet, vor allem der Beschluss des Großen Senats hat in seiner apodiktischen Strenge die Praxis aber durchaus überrascht. In die gegenteilige Richtung weisende Literaturmeinungen133 127 BFH v. 28.11.2016 (Fn. 115), 506 Rz. 125. 128 Fälle, in denen der Forderungsverzicht der beteiligten Gläubiger am 8.2.2017 (Tag der Veröffentlichung der Entscheidung des Großen Senats) bereits endgültig vollzogen war. Hierzu BMF v. 27.4.2017, BStBl. I 2017, 741. 129 BFH v. 23.8.2017  – I  R 52/17, BFH/NV 2017, 1644, DStR 2017, 2322. Parallelentscheidung mit weitgehend gleicher Begründung: BFH v. 23.8.2017 – X R 38/15, BFH/NV 2017, 1669, DStR 2017, 2326. Hierzu BMF v. 29.3.2018, BStBl. I 2018, 588. 130 BFH v. 23.8.2017 – I R 52/17 (Fn. 129) Rz. 28, DStR 2017, 2322 (2325). 131 So ausdrücklich die Begründung zu dem neuen § 3a EStG, BT-Drucks. 18/12128, 33. 132 Vgl. zum Ganzen Sedlitz, DStR 2017, 2785; Desens, NZG 2018, 87. 133 Vgl. Seer, FR 2014, 721.

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und nicht zuletzt der Vorlagebeschluss des X. Senats134 zeigen, dass möglicherweise auch eine andere, den praktischen Bedürfnissen besser gerecht werdende Entscheidung möglich gewesen wäre. Auch eine begrenzte Vertrauensschutzregelung für die bereits vollzogenen Altfälle hätte sich wohl begründen lassen135. Es bleibt abzuwarten, ob sich nun eine insgesamt härtere Gangart gegenüber der Verwaltung abzeichnet, oder der BFH in einem sicher besonders prominenten Fall dem Gesetzgeber seine Verantwortung aufzeigen wollte.

IV. Neuere Entwicklungen – Modernisierung des Besteuerungs­ verfahrens Wir haben gesehen, dass die Schaffung von Vereinfachungszwecknormen im materiellen Steuerrecht nicht so recht vorankommt und auch der Vereinfachung durch typisierende und pauschalierende Verwaltungsvorschriften Grenzen gesetzt sind. Deshalb soll abschließend der Blick erweitert werden auf die den Vollzug lenkenden Rechtsnormen und ihren möglichen Beitrag zur Vereinfachung. Im November 2013 haben die Abteilungsleiter (Steuer) der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die einen Gesetzgebungsvorschlag zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens erarbeiten sollte. Neben dem weiteren Ausbau des Einsatzes der IT und der Nutzung moderner Kommunikationsformen sollte auch die Abgabenordnung an neuere Entwicklungen angepasst werden, unter anderem durch die Verankerung der Möglichkeiten einer vollmaschinellen Prüfung von Steuererklärungen und des Einsatzes eines maschinellen Risikomanagements. Letzteres Petitum war angesichts der Entwicklungen im modernen Steuervollzug seit längerem diskutiert und wenn nicht als zwingend, so doch als wünschenswert angesehen worden136. Nach Vorlage eines Diskussionsentwurfs137 und einer umfassenden Diskussion, in die frühzeitig auch Gerichtsbarkeit und Beraterschaft eingebunden wurden, legte die Bundesregierung im Februar 2016 einen Gesetzentwurf138 vor, der schließlich im Frühjahr 2017 Gesetz wurde139. Für unser Thema von Interesse sind die Änderungen in § 88 AO. Mit der Neufassung von § 88 Abs. 2 AO140 wird erstmals vom Gesetzgeber anerkannt, dass Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit die Intensität der Ermittlungen (mit)bestimmen kön134 BFH v. 25.3.2015 – X R 23/13, BFHE 249, 299, BStBl. II 2015, 696. 135 Vgl. Desens, NZG 2018, 87 (92). 136 Vgl. Seer in DStJG 31 (2008), 7 (13); Schmidt in DStJG 31 (2008), 37 (53); Schmidt/Schmitt in FS Spindler, 2011, 529 (540); Drüen (Fn. 59), 12 ff., der darauf hinweist, dass der Gesetzgeber nur Grundzüge eines Risikomanagementsystems festlegen kann. 137 Abgedruckt in DStR-Beihefter 2014, 149. 138 BT-Drucks. 18/7457. 139 Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens (Fn. 11). 140 § 88 Abs. 2 AO in der Fassung des Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens (Fn.  11) lautet auszugsweise: „Die Finanzbehörde bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen nach den Umständen des Einzelfalls sowie nach den Grundsätzen der Gleichmäßigkeit, Gesetzmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit;  … Bei der Entscheidung

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Anwendung von Vereinfachungszwecknormen und Vereinfachung als Auslegungstopos

nen141. Mit der ausdrücklichen Nennung der Grund­s­ätze der Gesetzmäßigkeit, Gleichmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit in Absatz 2 Satz 1 hat der Gesetzgeber allerdings deutlich gemacht, dass wirtschaftliche Kriterien nicht allein ausschlaggebend sein dürfen142. Die Vorschrift stellt also keinen „Freibrief “ für die Verwaltung dar, die Kontrolldichte beliebig abzusenken oder aber sich nur auf die „lukrativen“ Fälle zu konzentrieren143. Sie schafft aber Klarheit in der seit langem geführten Auseinandersetzung über die sog. 100%-Doktrin: Eine Prüfung aller Fälle bis zur „vollen Wahrheitsüberzeugung“ ist im Massenvollzug nicht leistbar, das Herausgreifen einiger weniger Fälle unter Vernachlässigung der übrigen würde gegen den Auftrag zum gleichheitsgerechten Gesamtvollzug verstoßen144. Damit ist vor allem den Finanzbeamten geholfen, die sich oft mit der Frage allein gelassen fühlten, ob sie sich bei der Bewältigung des Massengeschäfts an Hand der organisatorischen Vorgaben noch auf dem Boden des Gesetzes bewegten. Während es sich bei § 88 Abs. 2 AO n.F. also um die „Legalisierung“ bisher verwaltungsintern geregelter Grundsätze handelt, ermächtigt der neue Absatz 3 die Verwaltung zum Erlass „fallgruppenspezifischer“ Weisungen, die zur Praktikabilität des Steuervollzugs beitragen sollen145. Diese Vorschrift ist auch vor dem Hintergrund von verwaltungsinternen Diskussionen zu sehen, ob auf eine Prüfung bestimmter Fallgruppen verzichtet werden darf, wenn von vorneherein feststeht, dass der Verwaltungsaufwand außer Verhältnis zum möglichen fiskalischen Ertrag steht146. In über Art und Umfang der Ermittlungen können allgemeine Erfahrungen der Finanzbehörde sowie Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit berücksichtigt werden“. 141 Bisher hatte man sich mit verwaltungsinternen Leitlinien beholfen: Grundsätze zur Organisation der Finanzämter und Neuordnung des Besteuerungsverfahrens (GNOFÄ) v. 19.11.1996, BStBl. I 1996, 1391. 142 Seer in Tipke/Kruse, § 88 AO Rz. 11 weist allerdings darauf hin, dass es sich dabei um übergeordnete rechtsstaatliche Prinzipien handelt, so dass die Formulierung („sowie …“) zumindest missverständlich ist. Positiv zur Intention, aber kritisch zur Umsetzung (allerdings noch bezogen auf die Formulierungen des Referentenentwurfs) Seer, StuW 2015, 315 (319 f.). 143 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 88 AO Rz. 14 f. 144 Vgl. Seer (Fn.  136), 10  f.; Seer, StuW 2015, 315 (317); Seer in Tipke/Kruse, §  85 AO Rz. 25 ff.; Kirchhof (Fn. 49), 13; Isensee, StuW 1994, 3 (12): „Die Verwaltung schuldet den praktischen Erfolg und nicht die juristische Bemühung“. 145 § 88 Abs. 3 AO n.F. lautet auszugsweise: „Zur Gewährleistung eines zeitnahen und gleichmäßigen Vollzugs der Steuergesetze können die obersten Finanzbehörden für bestimmte oder bestimmbare Fallgruppen Weisungen über Art und Umfang der Ermittlungen und der Verarbeitung von erhobenen oder erhaltenen Daten erteilen, soweit gesetzlich nicht etwas anderes bestimmt ist. Bei diesen Weisungen können allgemeine Erfahrungen der Finanzbehörden sowie Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit berücksichtigt werden. Die Weisungen dürfen nicht veröffentlicht werden, soweit dies die Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung gefährden könnte. … Weisungen der obersten Finanzbehörden der Länder nach Satz 1 bedürfen des Einvernehmens mit dem Bundesministerium der Finanzen, soweit die Landesfinanzbehörden Steuern im Auftrag des Bundes verwalten“. 146 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 88 AO Rz. 53 ff.; dem BMF war im Vorfeld sehr wichtig, dass bei Gemeinschaftsteuern solche Weisungen – ebenso wie die Festlegung der Einzelheiten für das Risikomanagement nach Abs. 5 – nur mit seinem Einvernehmen ergehen können.

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der Vergangenheit war diese Frage z.B. bei der Auswertung der Rentenbezugsmitteilungen für zurückliegende Jahre bedeutsam. Der Bewältigung der Datenflut, die v.a. aufgrund des zunehmenden internationalen Auskunftsaustauschs zu erwarten ist, dient auch der neue Absatz 4, der es ermöglicht, dass Daten, die erkennbar für die Finanzämter nicht oder nur mit unzumutbarem Aufwand auswertbar sind, vom Bundeszentralamt für Steuern bzw. der „Zentralen Stelle“ nach §  81  EStG147 nicht weitergeleitet werden müssen. Zusammen mit den Vorschriften für das Risikomanagement in Absatz 5 stellen die vorgenannten Regelungen den modernen Steuervollzug zwar nicht auf eine gänzlich neue, aber meines Erachtens auf eine sicherere Grundlage.

V. Fazit Die Steuerverwaltung ist bei der täglichen Bewältigung ihrer Aufgabe – der Sicherstellung eines gesetzmäßigen und gleichheitsgerechten Steuervollzugs – in besondere Weise auf die beiden anderen Gewalten, die Gesetzgebung und die Rechtsprechung, angewiesen. Was die Gesetzgebung angeht, so ist die Hoffnung angesichts der vielfältigen (und vielleicht auch unvermeidlichen) Widerstände gering, dass es in absehbarer Zeit zu einer drastischen Vereinfachung des materiellen Steuerrechts kommen wird. Immerhin ist mit dem Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens ein wichtiger Schritt zur praktikablen Bewältigung des Massengeschäfts getan worden. In dieser Richtung wird man weitergehen müssen – ob bis zur Selbstveranlagung, sollte gut überlegt werden. Die Rechtsprechung beeinflusst das Handeln der Verwaltung maßgeblich. Sie lässt dem Bestreben der Verwaltung, durch eigene Regelungen den Gesetzesvollzug einfacher und praktikabler zu gestalten, zwar durchaus Raum, setzt ihm aber auch Grenzen – aus Sicht der Verwaltung manchmal vielleicht etwas enger als nötig. Bundesfinanzhof und Steuerverwaltung haben eines gemeinsam: Sie müssen mit dem vorgefundenen Steuerrecht auskommen und das Beste daraus machen. Dass dabei jeder seine Aufgabe vor Augen hat – die Verwaltung den praktikablen Gesamtvollzug, das Gericht die gerechte Entscheidung des Einzelfalls – führt manchmal unvermeidlich zu Friktionen. Da kann man dem Bundesfinanzhof nur wünschen, dass man sich dort auch in Zukunft daran erinnert, was Isensee am Ende seiner eingangs erwähnten Festrede vor 25  Jahren lobend hervorhob: Den „rechtsstaatlichen Pragmatismus“148.

147 Deutsche Rentenversicherung Bund – zuständig für die Altersvorsorgezulage. 148 Isensee, StuW 1994, 3 (13).

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … J.

Wissens- und Willenselemente des Steuertatbestandes Von Heike Jochum

Inhaltsübersicht I. Wissen und Wollen im Recht II. Grundlagen und Eingrenzung des Themas III. Keine Besteuerung nach Wahl? IV. Die neutrale Handlung 1. Der unangemessene Sachverhalt 2. Die unangemessene rechtliche Gestaltung

3. Jenseits objektiver Unangemessenheit a) Tatsächliche und rechtsdogmatische Befunde b) Neutralität und Objektivierung c) Dauersachverhalte: Umgang mit der zeitlichen Streckung V. Der unvollendete Sachverhalt VI. Der gescheiterte Plan VII. Fazit

I. Wissen und Wollen im Recht Wissens- und Willenselemente sind in der Rechtsordnung allgegenwärtig. Es handelt sich mitnichten um ein steuerrechtsspezifisches Phänomen. Im Strafrecht sind Wissen und Wollen elementare Bestandteile des Vorsatzes1. Besondere Absichten können hinzutreten und auch für die Strafzumessung spielen die Motive des Täters und damit subjektive Elemente oft eine wichtige Rolle2. Im Privatrecht bringen erst zwei übereinstimmende Willenserklärungen eine vertragliche Vereinbarung zustande3. Das Wissen und Wollen derselben ist damit ebenso essentiell wie auf dem Gebiet des Strafrechts – nur in anderer Hinsicht. Das Öffentliche Recht scheint davon entfernt. Es zeichnet sich gemeinhin durch einseitig hoheitliches Handeln des Staates per Verwaltungsakt oder durch Normsetzung aus. Subjektive Elemente liegen hier auf den ersten Blick eher fern. Und doch: Verbreitet ist die Handlungsform des mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsaktes4. Viele Verwaltungsverfahren kommen allein auf An1 Vgl. Kühl in Lackner/Kühl, 28. Aufl. 2015, § 15 StGB Rz. 4. 2 Grundlegend BGHSt 16, 1; eingehend Gehrig, Der Absichtsbegriff in den Straftatbeständen des Besonderen Teils des StGB, 1986. 3 Armbrüster in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2015, Vor § 116 Rz. 2 ff. 4 Vgl. Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, 9. Aufl. 2018, § 35 VwVfG Rz. 229 ff.

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trag eines Bürgers in Gang; manche stellen eine schlichte Reaktion auf ein Tun oder Unterlassen eines Bürgers dar. Es lässt sich fragen, ob es insoweit auf Wissen und Wollen des Bürgers ankommt. Im Bereich des Polizei- und Ordnungsrechts ist dies zum Beispiel grundsätzlich nicht der Fall. Die Effizienz der Gefahrenabwehr hat grundsätzlich Priorität, sodass es auf die Verantwortlichkeit eines Störers5, nicht aber auf sein Wissen und Wollen etwa im Sinne eines Vorsatzes, ankommt. Wie liegen nun die Dinge auf dem Gebiet des Steuerrechts? Welchen normativen Stellenwert misst der Gesetzgeber Wissens- und Willenselementen in diesem besonderen Bereich der Eingriffsverwaltung zu? Und wie gehen die Rechtsanwender – allen voran die Finanzgerichte und hier insbesondere der BFH – mit diesen um?

II. Grundlagen und Eingrenzung des Themas Normativ ist es gewiss die Einkünfteerzielungsabsicht, die als prominentestes Beispiel subjektiver Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht anzuführen ist. In § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG ist sie im Gewand der Gewinnerzielungsabsicht6 explizit genannt. Allgemeiner wird sie als in § 2 EStG verortet angesehen7. Sie ist daher nicht allein für die Ermittlung von Gewinneinkünften, sondern ebenso für die Berechnung von Überschusseinkünften relevant. Gewinn- wie auch Überschusserzielungsabsicht als Ausprägung der Einkünfteerzielungsabsicht werden in ihrer Bedeutung seit Jahrzehnten diskutiert, von den einen in Frage gestellt und von den anderen vehement verteidigt. Dienen sie etwa – wie wohl historisch angelegt – lediglich der Abgrenzung der Erwerbssphäre von der privaten Einkommensverwendung8? Geht es also nur darum, Vermögensgegenstände zuzuordnen und darüber hinaus die von §  12 EStG näher beschriebene Grenzlinie zwischen steuerlich irrelevanten Kosten von steuermindernd abziehbaren Aufwendungen durch normative Grundsteinlegung in rechtsdogmatischer Hinsicht zu begründen? Eine weitere Hochburg der Debatte um Existenz und Berechtigung von Wissensund Willenselementen in steuerrechtlichen Tatbeständen ist §  42 AO. Heftig wird ­darum gerungen, ob die steuerschärfende Annahme eines hypothetisch verwirklichten Sachverhaltes neben der objektiven Unangemessenheit der Gestaltung zusätzlich eine Missbrauchs- oder Umgehungsabsicht voraussetzt. Der Gesetzgeber hat in

5 BVerwG v. 14.12.1990 – 7 B 133/90; v. 18.10.1991 – 7 C 2/91, BVerwGE 89, 138 = NVwZ 1992, 480; Lindner in BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht, 6. Edition, Art. 7 PAG Rz. 10 f. 6 Grundlegend dazu BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82 = BFHE 141, 405 = BStBl. II 1984, 751; aus der jüngeren Vergangenheit BFH v. 23.8.2017 – X R 27/16; v. 20.9.2012 – IV R 43/10, BFH/ NV 2013, 408. 7 Paul Kirchhof, Subjektive Merkmale für die Erzielung von Einkünften, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 11 (12); Heinz-Jürgen Pezzer, Subjektive Merkmale für das Erzielen von Einkünften, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 16. 8 Vgl. Paul Kirchhof, Subjektive Merkmale für die Erzielung von Einkünften, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 11 (12).

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§ 42 AO die Berücksichtigung subjektiver Elemente angelegt9. Die Verwendung und Beibehaltung des umstrittenen – geradezu sagenumwobenen – subjektiv ausgerichteten Missbrauchsbegriffs und die Formulierung eines quasi gegenläufigen subjektiven Elements am Ende der in §  42 Abs.  2 AO versuchten Legaldefinition in Form der „außersteuerliche(n) Gründe“, sind nicht zu ignorieren. Man muss also gar nicht so weit gehen, dem Menschenbild des Grundgesetzes ein Recht auf Darlegung der Motive10 des eigenen Handelns zu entnehmen. Diese subjektiven Elemente begründen den Tatbestand, der die Besteuerung der anderen  – gar nicht verwirklichten und ­damit fiktiven aber angemessenen  – Gestaltung erlaubt11. Praktisch mag der Streit keine große Rolle spielen. Der Steuerpflichtige wird nur selten mit dem Einwand durchdringen, er habe aus reiner Unkenntnis, aus Unerfahrenheit oder sonst rein zufällig eine unangemessene Gestaltung gewählt, die allerdings für ihn – ganz überraschend – steuerlich besonders vorteilhaft ist12. Die Anforderungen an Darlegung und Nachweis sind hoch, weil die festgestellte objektive Unangemessenheit einer Gestaltung als starkes Indiz für die Umgehung eines Steuertatbestandes, mithin den Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten gilt. Diesen Anschein zu widerlegen, die so ausgelöste Vermutung zu entkräften, setzt ein ebenso starkes „Gegengewicht“ in Gestalt außersteuerlicher Gründe voraus, die der Steuerpflichtige in die Waagschale zu werfen hat. Über diese Themen ist bereits viel diskutiert und geschrieben worden. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung füllen Entscheidungen zur sog. Liebhaberei13 oder zum gewerblichen Grundstückshandel14 und zum Umgang mit §  42 AO15 viele Bände. Nachwuchswissenschaftler widmen ihre ganze Kraft der dogmatischen Aufarbeitung16. Im Jahr 2007 lud der damalige Präsident des BFH, Dr. h.c. Wolfgang Spindler, zu einem wissenschaftlichen Symposium nach München ein, das der Bedeutung der 9 BFH v. 5.2.1992  – I R 127/90, BFHE 166, 356  = BStBl.  II 1992, 532 (536); Klaus-Dieter ­Drüen in Tipke/Kruse, § 42 AO Rz. 44; Vorbemerkungen zur Neufassung 2005 Rz. 36. 10 So Joachim Wieland im Verlauf der Diskussion vgl. Zusammenfassung von Gerlind Wendt, „Subjektive Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht“ Tagungsbericht zum Symposium im BFH, Beihefter zu DStR 39, 2007, 3 (4). 11 Wolfgang Schön, Subjektive Tatbestandsmerkmale in der Einkommensermittlung, DStR-­ Beihefter zu Heft 39/2007, 20 (21). 12 Matthias Schell, Subjektive Besteuerungsmerkmale im Einkommensteuerrecht 2006, S. 231 m.w.N. 13 Aus jüngerer Zeit etwa BFH v. 23.8.2017 – X R 27/16 NV; v. 20.9.2012 – IV R 43/10, BFH/ NV 2013, 408; zur sog. Liebhaberei bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit BFH v. 28.8.2008 – VI R 50/06 = BFHE 223, 7; zur Liebhaberei bei gewerblicher Tätigkeit sowie Vermietung und Verpachtung an nahe Angehörige BFH v. 23.8.2000 – X R 106/97 = BFH/ NV 2001, 160. 14 Grundlegend etwa BFH v. 14.1.1998 – X R 1/96, BFHE 185, 242 = BStBl. II 1998, 346; aus jüngerer Zeit BFH v. 5.4.2017 – X R 6/15 = BFHE 258, 289. 15 BFH v. 5.2.1992 – I R 127/90, BFHE 166, 356 = BStBl. II 1992, 532 (536). 16 Beispielhaft seien hier aus jüngerer Zeit angeführt Matthias Schell, Subjektive Besteuerungsmerkmale im Einkommensteuerrecht, 2006, zgl. Diss.; Melanie Falkner, Die Einkunftserzielungsabsicht als subjektives Besteuerungsmerkmal 2009; Christine OsterlohKon­rad, Die Steuerumgehung 2018 (im Erscheinen).

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subjektiven Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht gewidmet war. Zahlreiche Steuerrechtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler fanden sich ein, um im unmittelbaren Austausch mit den Richterinnen und Richtern neue Erkenntnisse zu gewinnen. Der thematische Bogen spannte sich von den klassischen Fragen nach der eigenständigen Bedeutung subjektiver Elemente im Tatbestand der Einkünfteerzielung und die Objektivierung des Tatbestandes der Einkünfteerzielung, ihrer Bedeutung im Rahmen der Einkunftsermittlung bis hin zu subjektiven Elementen in verkehr- und verbrauchsteuerlichen Tatbeständen sowie ferner verfahrensrechtlichen Fragen hinsichtlich der Feststellung subjektiver Tatbestandsmerkmale. Entsprechend erreichten die präsentierten Vorträge und die sich anschließenden Diskussionen eine sehr beachtliche Breite, umfassten das Thema in all seinen Facetten und gaben Gelegenheit, die unterschiedlichsten dogmatischen Positionen zu beleuchten17. Mir ist es eine besondere Freude, an dieser Stelle den Faden nun wieder aufzunehmen und zu Ehren der verdienstvollen höchstrichterlichen Rechtsprechung auf dem Gebiet des Steuerrechts neue Erkenntnisse nachzutragen, kluge Gedanken in Erinnerung zu rufen und den erneuten Versuch zu wagen, bisher offengebliebene Fragen einer überzeugenden Beantwortung näherzubringen. Um den gegebenen Rahmen nicht zu sprengen, werden dabei die verkehrs- und verbrauchsteuerlichen Tatbestände ausgeklammert.

III. Keine Besteuerung nach Wahl? Mustert man das vorhandene Meinungsspektrum durch, lassen sich einige zentrale Thesen und Grundannahmen herausfiltern, die weitgehend konsensfähig sind. So streitet die verfassungsrechtliche Durchdringung des Steuerrechts, insbesondere seine gleichheitsrechtliche Prägung und Ausrichtung auf eine am Maßstab der ­ ­individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen orientierte Belastungsgerechtigkeit, ganz vehement dafür, eine Besteuerung „nach Gusto“ des Steuerzahlers zu unterbinden. Es kann nicht ins Belieben der Steuerpflichtigen gestellt sein, durch Verwirklichung geschickt gestalteter Lebenssachverhalte faktisch selbst über die Höhe ihrer Steuerbelastung zu entscheiden18. Die Steuerlast ist grundsätzlich unausweichlich19! So pointiert formuliert wird die These sicher viele Unterstützer finden. Und doch bleiben Einwände, die interessanterweise ebenso einleuchtend sind. So steht es ohne Frage jedem  – potentiellen  – Steuerpflichtigen frei, überhaupt in die Erwerbssphäre einzutreten20. Niemand ist in einem freiheitlichen Gemeinwesen gezwungen, einem Broterwerb nachzugehen, niemand ist verpflichtet, Spargroschen unter dem Bett hervorzukramen und nach einer renditestarken Anla17 Die Vorträge stehen im Beihefter zur DStR 39, 2007, zur Verfügung. Den Verlauf der Diskussion zeichnet nach Gerlind Wendt, „Subjektive Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht“ Tagungsbericht zum Symposium im BFH, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 3 ff. 18 Wolfgang Schön, Subjektive Tatbestandsmerkmale in der Einkommensermittlung, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 20 (20). 19 Paul Kirchhof, Subjektive Merkmale für die Erzielung von Einkünften, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 11 (11). 20 Wolfgang Schön, Subjektive Tatbestandsmerkmale in der Einkommensermittlung, DStR-­ Beihefter zu Heft 39/2007, 20 (20).

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gemöglichkeit zu suchen oder etwa den Sprung in die Selbständigkeit zu wagen. Stellt man die Frage nach den Entscheidungs- und mithin Wahlmöglichkeiten der Menschen so, lässt sich nicht leugnen, dass es Wissens- und Willenselemente auch im Steuertatbestand geben muss. Nun mag man versucht sein, diese initiale Grundentscheidung zur Seite zu schieben und die Frage nach der Bedeutung von Wissens- und Willenselementen des Steuertatbestandes enger zu fassen. Sicher könnte man diese Grundentscheidung schlicht als inhärente Bedingung eines Ist-Besteuerungssystems voraussetzen21 und so quasi zeitlich später ansetzen. Einkünfteerzielung und -ermittlung könnte man im Sinne eines „Wie“ und vor allem eines „Wieviel“ verstehen und das „Ob“ der Verwirklichung eines Steuertatbestandes ausklammern. Logisch wie praktisch ist eine solche idealtypisch durchaus denkbare Trennung jedoch nur schwer durchzuhalten. Zum einen dürfte bereits der erste Schritt in die Erwerbssphäre nicht nur als Antwort auf die Frage nach dem „Ob“ zu verstehen sein. Tritt der Steuerpflichtige etwa eine ihm offerierte Arbeitsstelle an, ist damit zugleich auch geklärt, dass er künftig Einkünfte im Sinne von §  19 EStG erzielt und nach welchen Regeln die Höhe der so ­erzielten Einkünfte zu berechnen ist. Zahlt er die zuvor unter dem Bett schlummernden Ersparnisse bei seiner Bank ein und erteilt den Auftrag, die Summe einer be­ stimmten Anlageform zuzuführen, steht fest, dass er künftig Einkünfte aus privatem Kapitalvermögen im Sinne von § 20 EStG erzielen wird und wie diese zu berechnen sind. Das „Wie“ der Einkünfteerzielung ist, wie schon diese beiden banalen Beispiele zeigen, untrennbar mit dem „Ob“ des Eintritts in die Erwerbssphäre verknüpft. Zum anderen manifestiert sich das „Ob“ des Erwerbs nicht nur im initialen Akt des Eintritts in die Erwerbssphäre solchermaßen unlösbar verbunden mit einem konkreten „Wie“ und „Wieviel“. Auch in der konsequenten Fortführung des Erwerbs reihen sich immer wieder bestätigende Akte aneinander, die ihre logische Rückbindung in der Grundentscheidung für den Eintritt in die Erwerbssphäre, also dem besagten „Ob“, finden. Der Arbeitnehmer etwa, der am Morgen treu und brav seinen angestammten Arbeitsplatz aufsucht, bestätigt damit seine Grundentscheidung für den Erwerb – anstatt etwa in der Privatsphäre zu verbleiben und die Füße gemütlich auf den Tisch des privaten Hauses zu legen. Und der Anleger, der am Morgen gespannt die aktuelle Entwicklung der Aktienkurse verfolgt und sich über regelmäßige Dividendenzahlungen neben gelegentlichen lukrativen Umschichtungen im Depot freut, bestätigt schon durch das bloße „Stehenlassen“ des Kapitals seine Entscheidung für den Erwerb. Alternativ könnte er dieses schließlich auch abziehen und wieder unter dem Bett verstauen. Diese Gedanken der untrennbaren Verquickung der Grundentscheidung für den erstmaligen Eintritt in die Erwerbssphäre und die immer wiederkehrende Bestätigung derselben durch laufende Ausübungshandlungen sind aus der Dogmatik des Grundrechts der Berufsfreiheit vertraut. Dort sind es die Berufswahlfreiheit und die 21 Vgl. Paul Kirchhof, Subjektive Merkmale für die Erzielung von Einkünften, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 11 (11).

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Berufsausübungsfreiheit, die sich in solcher Weise verzahnen und eine einheitliche Betrachtung dieser grundrechtlichen Freiheitsgewährleistung erforderlich machen22. Die Parallele zeigt, dass man auch auf dem Gebiet des Steuerrechts gut beraten ist, dem Phänomen nicht vorschnell durch schlichte Verengung der Fragestellung „aus dem Weg zu gehen“. Vielmehr ist anzuerkennen, dass es jedenfalls diese grundlegende Wahlfreiheit des Steuerpflichtigen gibt, darüber zu befinden, ob er sich dem steuerlich relevanten Erwerb zuwendet oder ob er sich in dem steuerlich grundsätzlich irrelevanten Bereich der privaten Lebensführung bewegt. Besonders deutlich wird diese steuerliche Wahlfreiheit bei der Zuordnung von Wirtschaftsgütern. Verfügt der Steuerpflichtige über eine betriebliche Vermögenssphäre, weil er etwa Unternehmer oder Mitunternehmer im Sinne von §  15 Abs.  1 Satz  1 Nr. 2 EStG ist, bewegt er sich unvermeidlich auch an der Schnittstelle zum Privatvermögen. Erwirbt er ein Wirtschaftsgut stellt sich die Frage nach der Zuordnung. Und diese beantwortet der Steuerpflichtige durch seine Zuordnungsentscheidung. Dieser Akt der bewussten und gewollten Widmung ist zu dokumentieren und findet seine Grenzen in den objektiven betrieblichen Gegebenheiten. Das eigentliche Kernproblem der Diskussion um Wissens- und Willenselemente des Steuertatbestandes ist damit erreicht: Nachweis und Nachvollziehbarkeit der vom Steuerpflichtigen getroffenen steuerlich relevanten Entscheidung! Implizit schwingt diese eigentliche Kernfrage bereits in den vorangehenden Überlegungen mit. Natürlich ist es so, dass die beispielhaft angeführten Entscheidungen für den Broterwerb als Arbeitnehmer oder die lukrative Kapitalanlage nach außen erkennbar ins Werk gesetzt wurden, sich also nicht bloß „im stillen Kämmerlein“ vollzogen oder gar dem forum internum der persönlichen Wünschbarkeiten und Gedankenspiele vorbehalten waren. In einem ersten Schritt lässt sich daher festhalten: Jeder Steuerpflichtige hat sehr wohl die Wahl. Ob und auf welche Weise sowie in welchem Umfang er steuerlich relevante Lebenssachverhalte verwirklichen will oder nicht, hat jeder Steuerpflichtige im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten frei zu entscheiden. Und diese verfassungsrechtlich gewährleistete Wahlfreiheit ist durch den einfachgesetzlichen Steuertatbestand zu erfassen und abzubilden. Davon klar zu unterscheiden und abzulehnen ist allerdings eine „Besteuerung nach Wunsch“ oder gar eine das Gebot der gleichmäßigen und gerechten Besteuerung verletzenden Steuerverschonung entsprechend subjektiver Zielsetzungen.

IV. Die neutrale Handlung Die subjektiven Zielsetzungen eines Steuerpflichtigen lassen sich allerdings nicht einfach aus der Betrachtung ausblenden. Das objektiv erkennbare Handeln eines 22 BVerfGE 7, 377 (401 f.); 33, 303 (303, 329 f.); Rupert Scholz in Maunz/Dürig, Art. 12 GG Rz. 288 (Dez. 2016); instruktiv R. Breuer, HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 170 Freiheit des Berufs Rz. 56 f.

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Steuerpflichtigen, der isoliert betrachtete reine Vorgang als solches, ist oft „neutral“ und insoweit doppeldeutig. Aufwendungen können mit und ohne Erwerbsbezug getragen werden, d.h. sie können schlichter Ausdruck der Einkommensverwendung sein oder ebenso gut „als Mittel zum Zweck“ der Generierung von Einnahmen dienen23. Wirtschaftsgüter können dem Betriebsvermögen oder dem Privatvermögen zugeordnet sein24. Eine steuerrechtliche Beurteilung ist oft erst unter Berücksichtigung des Kontextes und der Rahmenbedingungen möglich. Und zu diesen gehören regelmäßig auch die Motive und Intention des Steuerpflichtigen. Nicht ohne Grund finden sich im Einkommensteuergesetz geschriebene wie auch durch Auslegung gewonnene Tatbestandsmerkmale, die diese aufnehmen. Die prominenteste Erscheinungsform, die in § 15 Abs. 2 EStG normierte Gewinnerzielungsabsicht, wurde bereits angeführt; sie ist allgemein als Einkünfteerzielungsabsicht zu verstehen und überspannt insoweit auch die Überschusseinkünfte. Hinzu treten die (bedingte) Veräußerungsabsicht etwa beim Grundstückserwerb, die Wiederholungsabsicht als Element der Nachhaltigkeit, die Investitions- oder auch die Wiederbeschaffungsabsicht. Eine besondere Position nimmt die in § 42 AO angesiedelte Missbrauchsabsicht ein. Der praktische Umgang mit diesen Tatbestandsmerkmalen ist schwierig und streitanfällig. Die umfangreiche Rechtsprechung zeugt davon. Zum gewerblichen Grundstückshandel und der in diesem Zusammenhang zentralen Frage nach einer (be­ dingten) Veräußerungsabsicht hat sich die sog. Drei-Objekt-Grenze als bekannte „Faust-Formel“ herauskristallisiert25. Ähnliche Verdichtung haben umkämpfte Front­ linien verschiedener „Nebenkriegsschauplätze“ im Bereich der Gewinn- und der Überschusseinkünfte erfahren. Dort sind Zweifel an der Einkünfteerzielungsabsicht nicht selten unter der Flagge der Notwendigkeit oder der Angemessenheit von Aufwendungen einerseits wie auch von Einnahmen andererseits auszumachen. Eine ähnliche Verquickung zeigt sich in § 42 AO, wo die Unangemessenheit der rechtlichen Gestaltung die Missbrauchsabsicht, also das zentrale subjektive Element des Tatbestands, indizieren soll26.

23 Zutreffend auf die Abgrenzung allein von Einkünfteerzielung und Konsumverhalten abstellend daher Wolfgang Schön in der Diskussion; vgl. Gerlind Wendt, „Subjektive Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht“ Tagungsbericht zum Symposium im BFH, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 3 ff. 24 Zu betonen ist, dass diese Doppeldeutigkeit nicht für erzielte Einnahmen gilt. Es fehlt insoweit an dem Nebeneinander von Einkommenserzielung und -verwendung. Anders als Aufwendungen können Einnahmen per se allein dem Bereich der Einkommenserzielung zugehörig sein. Es bedarf daher keiner weiteren steuerlichen Würdigung, die Raum für subjektive Elemente des Wissens und Wollens bieten könnte; ähnlich Wolfgang Schön, Subjektive Tatbestandsmerkmale in der Einkommensermittlung, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 20 (21); ins Leere geht daher die Kritik bei Melanie Falkner, Die Einkunftserzielungsabsicht als subjektives Besteuerungsmerkmal 2009, S. 100 ff. 25 BFH v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BFHE 197, 240 = BStBl. II 2002, 291. 26 BFH v. 20.5.1998 – III B 9/98, BFHE 186, 236 = BStBl. II 1998, 721; v. 1.2.2001 – IV R 3/00, BFHE 194, 13 = BStBl. II 2001, 520; v. 18.3.2004 – III R 25/02 BFHE 205, 470 = BStBl. II 2004, 787.

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1. Der unangemessene Sachverhalt Die Kosten für die Bewirtung von Personen aus geschäftlichem Anlass beispielsweise werden steuerlich nicht anerkannt, soweit sie 70% der nach allgemeiner Verkehrsauffassung angemessenen Aufwendungen übersteigen (§  4 Abs.  5 Nr.  2 EStG). Mehr­ aufwendungen eines Arbeitnehmers wegen einer beruflich veranlassten doppelten Haushaltsführung werden gem. § 9 Abs. 1 Nr. 5 EStG auf das notwendige Maß beschränkt. Die beiden Beispiele betreffen gemischt veranlasste Aufwendungen und damit eine bekanntermaßen besonders umkämpfte Grenzlinie zwischen Erwerbsbezogenheit und privater Veranlassung27. Normativ ist die Grenzlinie in § 12 Nr. 1 EStG fixiert. Die Lebenswirklichkeit hat facettenreiches Anschauungsmaterial hervorgebracht. Interessant daran ist die Verknüpfung zwischen subjektiven Elementen des Wissens und Wollens einerseits und objektiven Kriterien und Maßstäben andererseits. Die weichenstellende Zuordnung zur Sphäre des steuerlich relevanten Erwerbs oder der Verbannung in den irrelevanten privaten Bereich der Einkommensverwendung soll(te) jedenfalls historisch mittels subjektiver Elemente des Tatbestands geleistet werden. Nun lässt sich beobachten, dass die Abgrenzungsproblematik im Streben nach Objektivierung und Vereinfachung im Vollzug des Massenfallrechts mehr und mehr verlagert wird. Das Ringen um steuerliche Anerkennung von Aufwendungen findet mehr auf der Ebene zwar unbestimmter aber doch objektiver Tatbestandsmerkmale statt. Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Subjektive Elemente des Wissens und Wollens treten damit punktuell in den Hintergrund. Der Gesetzgeber ist gut beraten, diese von den Steuerpflichtigen und oft auch ihren Beratern vorangetriebenen Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen und zu beobachten, wie diese von der Finanzverwaltung behandelt und vor allem von den Finanzgerichten aufgenommen und geformt werden. Nach geraumer Zeit kann es gelingen, praktikable Ansätze aufzugreifen und Kraft demokratisch legitimierter Definitionshoheit einer vereinfachenden Typisierung und Pauschalierung zuzuführen. Die Angemessenheit der Unterkunftskosten bei doppelter Haushaltsführung hat der Gesetzgeber durch schlichte Anordnung eines monatlichen Maximalbetrags von 1.000 Euro außer Streit gestellt (§ 9 Abs. 1 Nr. 5 Satz 4 EStG), nachdem die Rechtsprechung als Orientierungsgröße den „Preis einer 60qm-Wohnung“ hervorgebracht hatte. Diese Entwicklung beschränkt sich nicht auf die Aufwendungen der Steuerpflichtigen. Im Bereich der Einnahmen kann man die verbilligte Vermietung anführen, der die Rechtsprechung mit pauschalen Grenzen und korrespondierender Kürzung damit zusammenhängender Werbungskosten Herr geworden ist. Letztlich hat die verbilligte Vermietung in § 21 Abs. 2 EStG eine gesetzgeberische Pauschallösung erfahren, die mit Hilfe einer einzigen 66%-Grenze zur Bestimmung der Entgeltlichkeit sogar noch stärker vereinfacht als es zuvor die Rechtsprechung durch das Nebeneinander von 50%- und 75%-Grenze getan hat. Die festgestellte Unangemessenheit getragener Kosten oder (niedriger) Einnahmen indiziert das (anteilige) Fehlen der Erwerbsbezogenheit und mithin einer Einkünfte27 Vgl. Heike Jochum, Steuerliche Behandlung gemischt veranlasster Aufwendungen, DStZ 2010, 665 ff.

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erzielungsabsicht. Stattdessen wird eine private Veranlassung unterstellt und der korrespondierende Kostenanteil der steuerlich unbeachtlichen Sphäre der Einkommensverwendung zugewiesen. Dabei verzichtet der Gesetzgeber im Rahmen legislativer Typisierung und Pauschalierung sogar darauf, dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit des Gegenbeweises einzuräumen. Dies ist auch unter Berücksichtigung des freiheitsrechtlich geprägten Menschenbildes der Verfassung28 hinnehmbar. Dahinter verbirgt sich schlicht die gesetzgeberische Annahme, dass es zwar außersteuerliche Gründe für die festgestellte Unangemessenheit gibt, diese aber durchweg steuerlich unbeachtlich – weil privater Natur – sind und daher nicht ermittelt werden müssen. 2. Die unangemessene rechtliche Gestaltung Verwandt aber doch in wichtigen Punkten ganz verschieden sind die Fragen, die sich im Umgang mit dem allgemeinen Verbot des Gestaltungsmissbrauchs stellen. Nach § 42 Abs. 1 Satz 1 AO kann das Steuergesetz nicht durch den Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten umgangen werden. Eine Definition des Missbrauchsbegriffs hat der Gesetzgeber in Abs. 2 der Norm versucht. Er stellt dabei auf die Unangemessenheit rechtlicher Gestaltungen ab (Satz 1) und eröffnet dem Steuerpflichtigen in Satz 2 die Möglichkeit, durch das Vorbringen außersteuerlicher Gründe den Gegenbeweis anzutreten. Beides ist natürlich der Diskussion um gemischt veranlasste Aufwendungen fremd. Dort geht es weder um ausgebuffte rechtliche Gestaltungen, die unter formaler Beachtung steuerlicher Vorschriften zu einem so nicht vorgesehenen Steuervorteil führen. Und gerade die Möglichkeit des Gegenbeweises spielt dort – jenseits des Streits über die Angemessenheit hinaus – keine Rolle. Auch griffe es zu weit, jeden Versuch der Verlagerung privat motivierter Kosten in die Sphäre des steuerlich relevanten Erwerbs mit dem Verdikt des Gestaltungsmissbrauchs zu überziehen. Darin ist keine „Umgehung“ des in §§ 4 Abs. 4 sowie 9 Abs. 1 EStG vorausgesetzten hinreichend engen wirtschaftlichen Veranlassungszusammenhangs zu sehen. Vielmehr ringen Steuerpflichtige und Rechtsanwender an dieser Stelle lediglich um die sachgerechte Vermessung der eben durch diesen rechtlich vorgegebenen Zusammenhang unscharf abgegrenzten Linie zwischen Einkommenserzielung und -verwendung. Trotz dieser Unterschiede zeigt sich jedoch in der dogmatischen Konstruktion eine interessante Parallele: Die Bedeutung des subjektiven Elements, d.h. der Missbrauchsabsicht, wird durch Rückgriff auf objektive Fragestellungen der Angemessenheit minimiert. Wissens- und Willenselemente des Steuertatbestands treten in den Hintergrund, ihr Vorliegen wird schlicht unterstellt, weil eine (vermeintlich) objektive Betrachtung zur Annahme einer unangemessenen Gestaltung geführt hat. Auf die Möglichkeit des Gegenbeweises durch das Vorbringen beachtlicher außersteuerlicher Gründe kann hier jedoch nicht verzichtet werden. Es fehlt an der simplen Dialektik von Erwerbsstreben und privater Motivation, die etwa die oben betrachteten gemischt veranlassten Aufwendungen prägt. Weil § 42 AO als Methodennorm29 auf ei28 Vgl. Joachim Wieland, in der Diskussion; vgl. Gerlind Wendt, „Subjektive Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht“ Tagungsbericht zum Symposium im BFH, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 3 (4). 29 Grundlegend dazu Christine Osterloh-Konrad, Die Steuerumgehung 2018 (im Erscheinen).

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ner Metaebene steht und allgemein jede rechtliche (Umgehungs-)gestaltung erfasst, kann die Existenz beachtlicher außersteuerlicher Gründe nicht per se ausgeschlossen werden. Es verbietet sich daher, eine als unangemessen identifizierte Gestaltung ohne weiteres mit einer missbräuchlichen Umgehung des Gesetzes gleichzusetzen. 3. Jenseits objektiver Unangemessenheit Wir beobachten also eine Verlagerung der Diskussion um Existenz und Bedeutung subjektiver Tatbestandsmerkmale wie auch des Bemühens um die Verifikation im konkreten Einzelfall auf die Ebene objektiver Tatbestandsmerkmale, wie der Angemessenheit von Sachverhalten und rechtlichen Gestaltungen30. Damit ist jedoch allenfalls die ein oder andere Schlacht zu gewinnen. Der „Kriegsschauplatz“ erweist sich insgesamt als deutlich größer und unübersichtlich. Dem Bilden von Fallgruppen und die Suche nach Ansatzpunkten für eine einfache und regelmäßig pauschal-typisierende Klärung der steuerlichen Beurteilung von Lebenssachverhalten sind schon rein tatsächlich Grenzen gesetzt. Natürlich gibt es eine ganze Reihe immer wiederkehrender Lebenssachverhalte, die auf diese Weise einer einheitlichen Behandlung zugeführt werden können. Und doch ist die Lebenswirklichkeit so vielgestaltig, dass eine flächendeckende Erfassung aller denkbaren Vorgänge utopisch bleibt. Gleiches gilt für die Variationsbreite rechtlicher Gestaltungen. Der Einfallsreichtum der Steuerpflichtigen und ihrer Berater scheint schier unerschöpflich. Die Frage nach der Angemessenheit eines Sachverhalts wie auch die nach der Angemessenheit rechtlicher Gestaltungen stellt den Rechtsanwender vor große Schwierigkeiten. Zweifel an der „Objektivität“ sind ebenso angebracht wie Zweifel an der Tauglichkeit des Versuchs, subjektive Tatbestandselemente auf diese Weise (vollständig) zurückzudrängen. Lässt sich Unangemessenheit überhaupt rein objektiv bestimmen? Muss es nicht auch eine subjektive Komponente der Angemessenheit geben? Methodisch ist die Beobachtung der aufgezeigten Entwicklungslinien gleichwohl von großem Wert. Zwar können an dieser Stelle nur wenige Phänomene skizziert werden, die hinreichend durchdrungen sind und gar das Stadium normativer Erfassung durch den Gesetzgeber erreicht haben. Auch lässt sich nicht sicher sagen, ob es gelingen wird, weitere „Frontstellungen“ dieser Art durch gesetzgeberischen Federstrich zu befrieden. So könnte wohl die erwähnte Drei-Objekt-Grenze zur Beschreibung des gewerblichen Grundstückshandels durchaus als Anregung aufgenommen werden, um über eine Kodifizierung nachzudenken. Ob eine solche Gesetzesinitiative tatsächlich auf den Weg gebracht wird, hängt aber erfahrungsgemäß von vielerlei Dingen und manchem Zufall ab. Weitere Beispiele ließen sich anführen. Doch soll es hier nicht um eine Sammlung „kodifikationsreifer“ Lösungsansätze der Praxis gehen. Vielmehr lassen sich diesen Beobachtungen induktiv einige Leitlinien für den Umgang mit Wissens- und Willenselementen steuerrechtlicher Tatbestände entnehmen.

30 So aus jüngerer Zeit etwa BFH v. 23.8.2017 – X R 27/16 NV.

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a) Tatsächliche und rechtsdogmatische Befunde Beginnen wir mit der Ebene des Tatsächlichen. Zwei Dinge fallen in besonderer Weise auf31. Zum einen ist es die eingangs angeführte Neutralität und Doppeldeutigkeit eines Lebenssachverhaltes, die die Beurteilung der steuerrechtlichen Relevanz erschwert. Das Anmieten einer Wohnung beispielsweise kann schlicht der privaten Lebensführung dienen oder wie – im Fall der doppelten Haushaltsführung – dem Erwerb. Das Überlassen einer Immobilie kann der Einkunftserzielung dienen oder der Versorgung von Angehörigen. Der Kauf einer Immobilie kann dem Aufbau und der Pflege eines privaten Vermögensstammes dienen oder im Rahmen eines schwungvollen Handels gewerblichen Charakter tragen. Eben diese Neutralität ist es, die die steuerrechtliche Beurteilung so erschwert. Getreu dem Motto, „wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe“ hängen die steuerrechtlichen Konsequenzen von den Rahmenbedingungen eines tatsächlichen Vorgangs ab und dazu zählen auch die Motive und die Intentionen des Steuerpflichtigen. Zum anderen ist zu bemerken, dass die problematischen Konstellationen regelmäßig in einen „zeitlich gestreckten“ Kontext eingebettet sind, es sich also um Dauersachverhalte handelt. Oft wird daher erst bei Betrachtung eines längeren Zeitraums und in der Zusammenschau verschiedener Teilakte deutlich, welche Bedeutung einzelnen Handlungen und Ereignissen zukommt. Der Übergang von der Ebene des Tatsächlichen zur Analyse der rechtsdogmatischen Fragestellungen ist fließend. Schon die Bemerkung, dass zu den für die steuerrechtliche Beurteilung relevanten Rahmenbedingungen auch die Motive und Intentionen des Steuerpflichtigen gehören, impliziert, dass der Steuertatbestand Wissens- und Willenselemente enthält. Nachdem aber bereits gezeigt wurde, dass der Steuerpflichtige stets „die Wahl“ hat und das auch nicht nur bezüglich des Eintritts in die Erwerbssphäre, sondern auch während seines „Aufenthalts“ in dieser, kann die Existenz von Wissens- und Willenselementen im Steuertatbestand ohnehin nicht in Abrede gestellt werden. Spannend ist allein die Frage nach deren normativer Ausgestaltung. Und insoweit bieten die langjährigen Bemühungen in Wissenschaft und Rechtsprechung viele interessante Ansatzpunkte. b) Neutralität und Objektivierung Prominent ist die Forderung nach einer Objektivierung, das heißt nach äußerlich erkennbarer Manifestation des Wissens und Wollens eines Steuerpflichtigen. Wenn im Einkommensteuerrecht von „Absichten“ des Steuerpflichtigen die Rede sei, soll damit nicht etwa ein inneres Wollen, sondern die ins Werk gesetzte, deswegen objektiv zu ermittelnde Widmung einer Erwerbsgrundlage und der Nutzung zum Erzielen von Einkünften gemeint sein32. Die Tatbestandsverwirklichung könne nicht vom 31 Den legislatorischen Bedarf beschränkt daher zutreffend auf diese Fallgruppen Franz Dötsch, Subjektive Tatbestandsmerkmale und innere Tatsachen im Rahmen der Einkunftsermittlung, FR 2007, 589. 32 Paul Kirchhof, Subjektive Merkmale für die Erzielung von Einkünften, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 11 (12).

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subjektiven Wollen des Steuerpflichtigen abhängig sein, sondern von der Verwirklichung objektiver Kriterien. Es gibt Stimmen, die deswegen entschlossen für eine Entsubjektivierung und Entindividualisierung des Tatbestandes der Einkünfteerzielung eintreten. Manche halten die subjektiven Elemente gar für völlig überholt und verzichtbar; aufgrund alleiniger Maßgabe objektiver Umstände seien der Rückschluss auf innere Tatsachen und das in seiner Subjektivität inhaltsleere Tatbestandsmerkmal daher entbehrlich33. Diese Forderungen müssen sich an den Gesetzgeber und Rechtsanwender richten, nachdem geschriebene wie auch durch Auslegung gewonnene subjektive Tatbestandsmerkmale in Rede stehen. Andere halten dagegen, dass allen Einkunftsarten subjektive Tatbestandselemente immanent34 und die Möglichkeiten der Objektivierung begrenzt seien35. Dabei sieht die Rechtsprechung diese objektiven Kriterien als bloße Beweisanzeichen an, hält also an den Wissens- und Willenselementen des Steuertatbestandes fest und ersetzt diese nicht etwa durch objektive Kriterien36. Den objektiven Kriterien kommt als Beweisanzeichen eine nur dienende Funktion zu. Es handelt sich um bloße Hilfsmittel, die den Schluss auf das Vorliegen subjektiver Elemente, d.h. der inneren ­Tatsachen zur Erfüllung der subjektiven Tatbestandsemelemente zulassen. Diese Schlussfolgerung wiederum kann durchaus unterschiedliche Gestalt annehmen. Verbreitet sind typisierende Vermutungen und Fiktionen, die mit dem Vorliegen ausreichend starker Beweisanzeichen verknüpft werden. Die Forderung nach Objektivierung hat ihre Berechtigung. Die zunächst regelmäßig im geistigen Inneren entwickelten Motive und Intentionen des Steuerpflichtigen sollen hervorgebracht worden sein, also das forum internum verlassen haben und so einer Beurteilung von außen zugänglich gemacht worden sein. Der subjektive Wille soll betätigt worden sein. Der Steuerpflichtige soll sich vorrangig nach dem behandeln lassen, was er bewegt hat und nicht nach dem, was er möglicherweise nach seinen inneren Absichten hat bewegen wollen37. Ein wenig erinnert die Forderung nach Betätigung des inneren Willens an die strafrechtliche Dogmatik des Versuchs. Dort steht mit dem Vorsatz der subjektive Tatbestand im Vordergrund. Ohne das bekannte unmittelbare Ansetzen im Sinne eines „jetzt geht’s los“ bliebe der Täter jedoch trotz des fest gefassten Tatentschlusses straflos, da der böse Wunsch als bloß üble Gesinnung die Schwelle der Sozialschädlich33 Melanie Falkner, Die Einkunftserzielungsabsicht als subjektives Besteuerungsmerkmal 2009, S. 171. 34 Heinz-Jürgen Pezzer, Subjektive Merkmale für das Erzielen von Einkünften, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 16. 35 So etwa Susanne Sieker und Michael Lang im Verlauf der Diskussion vgl. Zusammenfassung von Gerlind Wendt, „Subjektive Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht“ Tagungsbericht zum Symposium im BFH, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 3 (4). 36 Grundlegend BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BFHE 141, 405 = BStBl. II 1984, 751; jüngst bestätigt durch BFH v. 23.8.2017 – X R 27/16. 37 Heike Jochum im Verlauf der Diskussion vgl. Zusammenfassung von Gerlind Wendt, „Subjektive Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht“ Tagungsbericht zum Symposium im BFH, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 3 (5).

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keit noch nicht überschreitet. Der Übergang eines Tatmächtigen zum Rechtsgutan­ griff38 muss sich in einer Handlung (Tun oder Unterlassen) manifestieren. Quasi umgekehrt – auf dem Weg zurück in die Legalität – ist ähnliches zu beobachten: Hat der Täter entsprechend des gefassten Vorsatzes mit der Tatausführung begonnen, setzt ein Rücktritt vom Versuch eine Rücktrittsleistung voraus, die die Tatvollendung verhindert. Es ist also mehr als der bloß innere „Gesinnungswechsel“ nötig. Beim unbeendeten Versuch genügt das reine Unterlassen des Weiterhandelns, beim beendeten Versuch muss der Täter aktiv in das bereits Bewirkte eingreifen, um dessen Weiterentwicklung in die Vollendung aufzuhalten39. Das Revidieren der inneren Gesinnung wird in beiden Konstellationen nach außen erkennbar. Im Steuerrecht liegen die Dinge grundsätzlich anders als im Strafrecht. Es geht nicht um Prävention, Schuld und Sühne, Unwerturteil und Sanktion40. Im Vordergrund stehen stattdessen die gerechte und gleichmäßige steuerliche Belastung entsprechend der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit41. Und doch hat die Parallele zum Strafrecht einen Sinn. Wenn es nämlich so ist, dass das Steuerrecht nicht gänzlich auf Wissens- und Willenselemente in seinen Tatbeständen verzichten kann, weil es etwa auf Motive und Intentionen ankommt, um objektiv neutrale Handlungen bewerten und in ihrer steuerlichen Relevanz erfassen zu können, dann sieht man sich vor dem gleichen Problem: der Verifikation behaupteter innerer Tatsachen42. Und so wie eine bloße Gesinnung nicht strafbar sein kann, darf der Steuertatbestand nicht auf reine Behauptungen und Wünsche des Steuerpflichtigen abstellen und quasi spiegelverkehrt den bloß „frommen Wunsch“ etwa der Einkünfteerzielung, der Re-Investition oder der Wiederholung belohnen. Eine Betätigung des inneren Willens oder anders gewendet eine „gewidmete Betätigung“, die den gefassten Entschluss nach außen hervorbringt, ist zu verlangen. Mehr noch: Dem Steuerpflichtigen ist im Interesse der notwendigen Verifikation sogar zuzumuten, diese Akte der Verwirklichung seines inneren Willens darzulegen. Dokumentations- und Beweisvorsorgepflichten können damit das Wechselspiel zwischen Wissens- und Willenselementen des Steuertatbestandes einerseits und objektiven Kriterien in ihrer Funktion als Beweisanzeichen andererseits sinnvoll flankieren43. Die Neutralität und Doppeldeutigkeit des äußeren Handelns eines Steuerpflichtigen vermag man auf diese Weise durch Rückbindung an den sonst nur behaupteten inneren Willen und die ansonsten unbeachtlichen Wünsche und Intentionen des Steuerpflichtigen zu überwinden. Das äußerlich erkennbare Handeln lässt sich so subjektiv „aufladen“, um diesem die steuerrechtlich gebotene Relevanz zuzuordnen. Das Hin38 Rainer Zaczyk in Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, 5. Aufl., 2017, § 24 StGB Rz. 22. 39 Rainer Zaczyk in Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, 5. Aufl., 2017, § 24 StGB Rz. 36. 40 Zu den Strafzwecktheorien Kühl in Lackner/Kühl, 28. Aufl., 2014, § 24 StGB Rz. 2. 41 Vgl. Matthias Schell, Subjektive Besteuerungsmerkmale im Einkommensteuerrecht 2006, S. 232 f. 42 Vgl. Franz Dötsch, Subjektive Tatbestandsmerkmale und innere Tatsachen im Rahmen der Einkunftsermittlung, FR 2007, 589. 43 Vgl. Wolfgang Schön, Subjektive Tatbestandsmerkmale in der Einkommensermittlung, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 20 (22).

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und Herwandern des Blickes in diesem Wechselspiel kann in einem Massenfallrecht wie dem Steuerrecht zwar kaum zur Lösung jedes Einzelfalls dienen. Konzeptionell liegt es jedoch der Bildung von Fallgruppen und der Formulierung typisierender und pauschalierender „Faust-Formeln“ zugrunde, die nach praktischer Bewährung zur Vorlage gesetzgeberischer Entscheidung avancieren können. Deutlich davon zu unterscheiden ist jedoch der Umgang mit dem allgemeinen Verbot des Gestaltungsmissbrauchs durch § 42 AO. Der Grund liegt darin, dass es dort nicht um das neutrale und damit doppeldeutige Handeln, nicht um die Frage nach dem angemessenen Sachverhalt geht, sondern allein um die Beurteilung einer gewählten rechtlichen Gestaltung. Ihre Angemessenheit ist zu prüfen, und zwar am Maßstab des gesetzgeberischen Plans, der dem möglicherweise umgangenen Gesetz zugrunde liegt und ihm Sinn und Zweck verleiht. Es mag schwierig sein, diesen gesetzgeberischen Plan zu ermitteln. Und es mag auch diffizil sein, die zu überprüfende rechtliche Gestaltung korrekt zu erfassen. Doch ist weder für das eine noch für das andere der subjektive Willen des Steuerpflichtigen maßgeblich. Die gewählte rechtliche Gestaltung bedarf keiner subjektiven „Aufladung“, weil sie nicht doppeldeutig ist. Den § 42 AO beigefügten Willens- und Wissenselementen kommt eine ganz andere Bedeutung zu. Es geht darum zu entscheiden, welche Konsequenzen der Rechtsanwender aus einer festgestellten Divergenz zwischen der vom Steuerpflichtigen gewählten rechtlichen Gestaltung und dem gesetzgeberischen Plan ziehen soll. Eine solchermaßen planwidrige und mit den Worten des Gesetzgebers unangemessene Gestaltung soll im Grundsatz sanktioniert und unterbunden werden. Zu diesem Zweck gestattet der Gesetzgeber dem Rechtsanwender, den Steuerpflichtigen so zu behandeln, als habe dieser eine plankonforme rechtliche Gestaltung gewählt. Der Rechtsanwender wird damit in den Stand gesetzt, fiktiv von einer anderen, angemessenen rechtlichen Gestaltung auszugehen. Dies ist ein scharfes Schwert. Der Gesetzgeber gibt ein erhebliches Maß an Rechtssicherheit dahin und stattet den Rechtsanwender mit sehr weitreichenden Befugnissen aus. Um die Balance zu wahren, ist daher ein Gegenpol zu setzen und dies hat der Gesetzgeber durch die Möglichkeit des Gegenbeweises getan. Weist der Steuerpflichtige beachtliche außersteuerliche Gründe nach, die die gewählte Gestaltung legitimieren, ist diese trotzt der Abweichung vom gesetzgeberischen Plan zu akzeptieren und nicht als unangemessen zu geißeln. Eine Überhöhung der legislativen Zielsetzung wird damit vermieden. Auf Wissen und Wollen des Steuerpflichtigen kommt es allein insoweit an: Seine Entscheidung für eine bestimmte rechtliche Gestaltung muss von mehr als dem Streben nach bloß steuerlichen Vorteilen getragen sein. c) Dauersachverhalte: Umgang mit der zeitlichen Streckung Viel mehr als ein erster Schritt im Umgang mit Wissens- und Willenselementen des Steuertatbestandes ist damit jedoch noch nicht getan. Ausgeblendet blieb bislang der Umstand, dass steuerlich relevante Sachverhalte häufig zeitlich gestreckt verwirklicht werden, es sich also um Dauersachverhalte handelt. Die Legaldefinition des Gewerbebetriebs in § 15 Abs. 2 EStG bringt dies durch das Erfordernis der Nachhaltigkeit zum Ausdruck; in subjektiver Hinsicht ist damit die Wiederholungsabsicht als Wis354

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sens- und Willenselement angelegt44. Daher muss die beschriebene Verknüpfung zwischen subjektiven Elementen und objektiven Kriterien vom Rechtsanwender oft über einen längeren Zeitraum nachvollzogen werden45. Das allein ist schon eine erhebliche Herausforderung und mit großem Aufwand verbunden. In der Sache kommt dadurch aber auch ein konzeptionelles Problem hinzu: Im Zeitverlauf können sich die Dinge ändern. Dies gilt für die Rahmenbedingungen, unter denen der Steuerpflichtige agiert, ebenso wie für sein eigenes Handeln einerseits und seine inneren Absichten und Pläne anderseits. Dieser an sich banale Befund trifft nun auf die Besonderheiten des Steuerrechts. Es ist in zeitlicher Hinsicht von der Konzeption als Abschnittsbesteuerung und dem Stichtagsprinzip geprägt. Aufgrund dessen schränkt es die Wahrnehmung ein, es begrenzt die Betrachtung auf gewisse Zeiträume und lässt oft nur „Momentaufnahmen“ zu. Stellt man dieser „Taktung“ des Steuerrechts die auf längere Zeiträume angelegte Verwirkung von Dauersachverhalten durch den Steuerpflichtigen gegenüber, sieht sich der Rechtsanwender mit der Herausforderung konfrontiert, noch laufende und daher in ihrer zukünftigen Entwicklung offene Prozesse in ihrer steuerlichen Relevanz zu beurteilen. Der Umgang mit „unvollendeten“ Sachverhalten steht deswegen allfällig auf der Tagesordnung.

V. Der unvollendete Sachverhalt Nehmen wir als Beispiel den Steuerpflichtigen V, der eine Wohnimmobilie erwirbt und vermietet. Er erzielt Einkünfte nach § 21 Abs. 1 EStG und negative Einkünfte etwa aufgrund von Zinsaufwand für die Finanzierung der Anschaffungskosten und/ oder Aufwendungen für die Instanthaltung des Objekts wird die Finanzverwaltung großmütig hinnehmen. Mit der Rechtsprechung wird man unterstellen, dass V langfristig gesehen positive Einkünfte erzielen und am Ende ein Totalüberschuss stehen wird. Hätte V dagegen eine gewerblich genutzte Immobilie erworben  – z.B. einen Einkaufsmarkt – lägen die Dinge ganz anders. Im Falle negativer Einkünfte würde V schon bald mit der Forderung überzogen, eine Prognose zu erstellen, die die Wendung „zum Guten“, also die baldige Erzielung positiver Einkünfte nachvollziehbar darlegt. Dafür würde man ihm zwar eine längere Phase etwa zur Bewältigung von Anlaufverlusten zugestehen, die sich durchaus über mehrere Veranlagungszeiträume erstrecken könnte. Doch wäre dieser zugestandene Prognosezeitraum gewiss deutlich kürzer als bei der Vermietung von Wohnraum. Diese Differenzierung mag man mit der vorhersehbar kürzeren Nutzungsdauer der gewerblich genutzten Immobilie begründen, die in deren bauartbedingten Eigenheiten und/oder in deren nutzungsbedingt höherer Beanspruchung liegen mag. Statistiken mögen sich dafür finden und

44 Matthias Schell, Subjektive Besteuerungsmerkmale im Einkommensteuerrecht 2006, S. 233 ff. 45 Das Zusammentreffen dieser beiden Konstellationen betont zutreffend Franz Dötsch, Subjektive Tatbestandsmerkmale und innere Tatsachen im Rahmen der Einkunftsermittlung, FR 2007, 589.

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Erfahrungswerte sich daraus ableiten lassen. Insoweit bewegen sich Steuerpflichtige und Rechtsanwender auf (inzwischen) weitgehend gesichertem Boden. Wieder anders liegen die Dinge, soweit der Steuerpflichtige sich in einem weniger „gängigen“ Bereich der Einkünfteerzielung bewegt und sich erlaubt, mit einer kre­ ativen Geschäftsidee oder einem innovativen Angebot in den Markt zu treten. Je ­verwegener sein Projekt, umso schwieriger wird die steuerrechtliche Beurteilung. Erfahrungswerte und Vergleichsmöglichkeiten fehlen, die Prognose der künftigen Entwicklung und damit das Abschätzen eines Totalgewinns in der Totalperiode werden immer ungewisser. Nun mag man versuchen, auf verfahrensrechtliche Instrumente auszuweichen, um etwa durch nur vorläufige Festsetzung (§ 165 Abs. 1 Satz 1 AO) erlittene Einbußen erst einmal auch steuerlich hinzunehmen und sich dabei aber doch die Möglichkeit offenzuhalten, ex post erlangte bessere Erkenntnisse in die Beurteilung einfließen zu lassen. Dieser an sich ganz vernünftige Gedanke, materiell-rechtliche Schwächen verfahrensrechtlich zu kompensieren46, stößt hier jedoch auch an Grenzen. Wie lange etwa soll diese Phase des Zuwartens andauern? Wann soll der Schlusspunkt gesetzt und das Ende des Prognosezeitraums als gekommen angesehen werden, um in der Retroperspektive über die endgültige Anerkennung vormals erlittener Verluste zu befinden? Solange der Steuerpflichtige nicht selbst durch Einstellen der fraglichen Tätigkeit einen solchen Schlusspunkt definiert, steht der Rechtsanwender vor einem Dilemma. Darf er sich über die Einschätzung des grundsätzlich sachnäheren Steuerpflichtigen47 hinwegsetzen und durch die (nachträgliche) Versagung der steuerlichen Anerkennung erlittener Verluste dem Unterfangen das quasi fiskalisch bestimmt Ende bereiten? Wer will sich schon anmaßen, zu beurteilen, ob der ein oder andere Carl Benz oder ein SAP-Gründer seinen Beruf begonnen hat48 und schlicht noch in der nötigen Entwicklungsphase steckt, bevor der grandiose und entsprechend lukrative Durchbruch gelingt? Man mag den Steuerpflichtigen einfach fragen, ihn um seine Einschätzung und um Darlegung ergriffener Maßnahmen zur Anpassung und Optimierung des ins Werk gesetzten Projekts bitten. Die Belastbarkeit all dieser Angaben dürfte jedoch in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Verwegenheit des fraglichen Unterfangens stehen. Natürlich lässt sich auch von innovativen Jungunternehmern ein professionell erstellter businessplan verlangen. Und natürlich können solche einer Plausibilitätskontrolle unterzogen werden. Damit sollte sich jedenfalls ausschließen lassen, dass Luftschlösser und Milchmädchenrechnungen unerkannt bleiben. Das dogmatische Kernproblem ist indessen ein anderes. Es steckt weniger in der fachlich-inhaltlichen als in der zeitlichen Dimension. Es lässt sich nun einmal nicht der Grundsatz 46 Heike Jochum, Konnexität von Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozeßrecht 2004, S. 84 f. 47 Vgl. Heinz-Jürgen Pezzer, Subjektive Merkmale für das Erzielen von Einkünften, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 16. 48 Vgl. Paul Kirchhof, Subjektive Merkmale für die Erzielung von Einkünften, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 11 (11).

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aufstellen, dass man nur lange genug abwarten müsste, um letztlich einen Totalüberschuss oder -gewinn zu erzielen. Dieser Gedanke liegt der simplifizierenden Behandlung der im Übrigen unauffälligen Wohnraumvermietung zugrunde und ist auch nur dort erträglich. Aber schon bei verbilligter Vermietung – gar noch an nahe Angehörige – oder der Vermietung in besonderen Lagen, wie etwa bei Feriendomizilen, bedarf es der genaueren Betrachtung und das auch in der zeitlichen Dimension. Ab und an befleißigt sich der Gesetzgeber in der Definition fixer Zeiträume des Zuwartens. So hat er etwa auf die früher nach § 7g Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG zu verlangende Investitionsabsicht verzichtet und stattdessen den Anschaffungszeitraum von drei Jahren zum Maß der Dinge erhoben, dessen Verstreichenlassen schlicht zur Rückabwicklung gewährter Investitionsabzugsbeträge führt. Ein solches Schicksal könnte auch die Re-Investitionsabsicht49 und die Ersatzbeschaffungsabsicht des §  6b EStG ereilen50. Einer effizienten Bewältigung dieser Themen des Massenfallrechts käme dies entgegen. Dies zeigt: Im Kern muss es darum gehen, das angemessene Zeitfenster der anerkennenswerten Bemühungen um erfolgreiche Einkunftserzielung zu bestimmen. Gelingt das vom Steuerpflichtigen ins Werk gesetzte Vorhaben und beschert es ihm positive Einkünfte, wird niemand an der Vernünftigkeit seiner Geschäftsidee und der Ernsthaftigkeit ihrer Umsetzung zweifeln. Bleibt der Erfolg jedoch aus, wird das Unterfangen früher oder später – und die genaue Bestimmung des insoweit maßgeblichen Zeitpunktes ist das Problem – in das Reich der allein privat zu verantwortenden Liebhaberei verbannt. Dem allgemeinen Verbot des Gestaltungsmissbrauchs durch § 42 AO ist diese Problematik naturgemäß fremd(er). Der dort gebotene Abgleich einer gewählten rechtlichen Gestaltung mit Sinn und Zweck des möglicherweise umgangenen Gesetzes zur Ermittlung einer eventuell unangemessenen Divergenz kennt keine zeitliche Streckung. Diese Gegenüberstellung erfolgt in einer Momentaufnahme quasi punktuell. Doch kann der als Korrektiv gestattete Nachweis außersteuerlicher Gründe zu verwandten Problemen führen. Ihre Beachtlichkeit mag sich erst im Zeitverlauf erweisen, wenn sich wirtschaftliche Erwartungen erfüllen und damit die Vernünftigkeit belegen, die der besorgten Unangemessenheit entgegenzusetzen ist.

VI. Der gescheiterte Plan Damit erscheinen die Wissens- und Willenselemente des Steuertatbestandes in einem anderen Licht. Es geht bei genauerer Betrachtung nicht um Wahlrechte und Optionen, nicht um geheime Absichten, Gesinnungen und Motive. Vielmehr sollte das Augenmerk auf die – natürlich ebenso subjektive – Intention, das verfolgte Ziel und die Konzeption der Zielverfolgung gerichtet werden. Geht der vom Steuerpflichtigen so geformte Plan auf und belohnt ihn mit positiven Einkünften, ist die steuerrechtli49 BFH v. 29.4.1999 – IV R 7/98, BStBl 1999 II S. 488. 50 Dazu instruktiv Matthias Schell, Subjektive Besteuerungsmerkmale im Einkommensteuerrecht 2006, S. 274 ff.

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che Beurteilung klar und eindeutig, ohne dass es auf die Bestimmung besonderer Zeitpunkte jenseits des Geschäftsjahres oder eben des Veranlagungszeitraums ankäme. Reüssiert der Steuerpflichtige dagegen nicht, muss die Ursachenforschung beginnen. Damit ist weniger die Suche nach Optimierungsmöglichkeiten zur Rettung seiner Geschäftsidee gemeint. Auch diese ist natürlich wichtig, jedenfalls für den Steuerpflichtigen. Und sie ist auch in steuerlicher Hinsicht nicht ganz unerheblich, weil sie ggf. ein weiteres Abwarten rechtfertigen mag, bevor das endgültige Scheitern des Plans von Seiten des Fiskus attestiert werden muss. Der Ursachenforschung wird darüber hinaus noch ganz andere Bedeutung zukommen. Es dürfte vor allem um die Vorhersehbarkeit des Resultates gehen und um eine Gegenüberstellung des tatsächlichen und des „normalen“ Verlaufs der Dinge51. Problematisch ist dabei natürlich, den Maßstab des Normalen zu definieren. Gerade bei innovativen Projekten und kreativen Steuerpflichtigen wird es an der kritischen Masse fehlen, die darüber Auskunft geben könnte. Den hypothetischen – ungestörten – Geschehensverlauf zu bestimmen, fällt dann schwer, weil relevante „Störungen“ nicht identifiziert und von vorhersehbaren Unwägbarkeiten abgegrenzt werden können. Der Konzeption und Planung durch den Steuerpflichtigen selbst kommt daher als Ausgangspunkt besondere Bedeutung zu. Worauf sonst sollte die Beurteilung auch aufbauen? Dabei muss es einen Unterschied machen, ob der betroffene Steuer­ pflichtige besonders blauäugig agiert oder ob er einen gründlich durchdachten Plan vorzuweisen hat. Natürlich ist dem Steuerrecht die Idee fremd, den besonders Gedankenlosen zu bestrafen oder gar umgekehrt zu belohnen. Es geht weder um paternalistischen Schutz vor eigener Unbesonnenheit noch um die lenkungspolitisch motivierte Bewahrung funktionsfähiger Märkte vor unfähigen Unternehmern. Dennoch kommt der Qualität und Belastbarkeit des verfolgten Planes auch für das Steuerrecht erhebliche Bedeutung zu. Je mehr es daran nämlich fehlt, umso mehr spricht dafür, dass der sorglos und unbedacht handelnde Steuerpflichtige erlittene Verluste aus Gründen in Kauf nimmt, die außerhalb der Erwerbssphäre liegen, also privater Natur sind. Je fundierter der unternehmerische Plan dagegen ist, je mehr der Steuerpflichtige sich erkennbar bemüht (hat), alle ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen zu nutzen, um am Markt erfolgreich tätig zu sein, umso mehr spricht dafür, dass erlittene Verluste ihre Veranlassung in dem Erwerbsstreben des Steuerpflichtigen haben. Scheitert sein Vorhaben gleichwohl, ändert dies ex post nichts an dem ex ante gegebenen hinreichend engen Erwerbsbezug. Aus diesem Grund dürfte in einem solchen Fall des Scheiterns auch regelmäßig die steuerliche Anerkennung allein künftiger Verluste in Rede stehen. Der hinreichend enge Erwerbsbezug fällt dann nämlich mit Wirkung ex nunc weg. Besteht dagegen Grund für die Annahme, dass es an diesem bereits von Anfang an gefehlt hat, ist erlittenen Verlusten ex tunc die Anerkennung zu versagen. Dies belegt die Bedeutung des verfahrensrechtlichen Instruments der vorläufigen Festsetzung.

51 Paul Kirchhof im Verlauf der Diskussion vgl. Zusammenfassung von Gerlind Wendt, „Subjektive Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht“ Tagungsbericht zum Symposium im BFH, DStR-Beihefter zu Heft 39/2007, 3 (11).

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Wissens- und Willenselemente des Steuertatbestandes

Bleibt die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt: Wann soll das (noch) laufende Projekt als gescheitert angesehen werden? Wann soll dem glücklosen Steuerpflichtigen die „Gefolgschaft“ versagt und das Verdikt der steuerlichen Irrelevanz erlittener und ggf. noch zu erwartender Verluste amtlich verkündet werden? Eine einfache Antwort wird sich kaum finden lassen. Jenseits der simplen Konstellation, dass der Steuerpflichtige selbst die Entscheidung trifft und das Projekt beendet, etwa durch Betriebsaufgabe oder Insolvenz, wird regelmäßig nur eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls zum Ziel führen. Insoweit lassen sich allerdings auf der Grundlage der angestellten Überlegungen einige Leitlinien formulieren. Schließlich geht es um die Schnittstelle zwischen dem noch unvollendeten Sachverhalt (V.) und dem gescheiterten Plan (VI.). Auch insoweit ist sicher der vom Steuerpflichtigen selbst in seiner Planung veranschlagte Zeitraum eine wichtige Größe. Es ist anzunehmen, dass der wirtschaftlich vorausschauend handelnde Steuerpflichtige im Rahmen seiner Konzeption vernünftigerweise Anlaufschwierigkeiten und entsprechende negative Einkünfte in Rechnung stellen wird. Auch ist davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige dabei grundsätzlich sachnäher ist als der Rechtsanwender. Ihm ist daher eine gewisse Einschätzungsprärogative zuzubilligen. Diese basiert allerdings auf der Vernünftigkeit und Plausibilität der präsentierten Konzeption und Planung. Wer blauäugig agiert und keine fundierten Aussagen bezüglich der Erfolgsaussichten seines Projektes treffen kann, hat Zweifeln der Finanzverwaltung wenig entgegenzusetzen und verspielt insoweit ein gutes Stück der sonst zu respektierenden Einschätzungsprärogative. Die Verfassung garantiert dem Steuerpflichtigen die Freiheit, nach eigener Vorstellung, eigenem Wissen und Wollen in die Erwerbssphäre einzutreten. Auch steht ihm die nähere Ausgestaltung frei, z.B. Art und Maß der aus seiner Sicht akzeptablen unternehmerischen Risiken festzulegen und über die seines Erachtens sachgerechte Dauer der Risikotragung zu befinden. Dabei drängt sich allerdings eine Korrelation zwischen Art und Maß der eingegangenen Risiken sowie der Dauer der Risikotragung einerseits und der Intensität des Erwerbsbezugs andererseits auf. Je unkalkulierbarer und größer die eingegangenen Risiken sind und je länger die Phase der Risikotragung anhält, umso mehr dürfte regelmäßig der Veranlassungszusammenhang zwischen hingenommenem Verlust und geplantem Erwerb schwinden. Gegenläufig können dabei Maßnahmen des Steuerpflichtigen wirken, die geeignet erscheinen, Art und Maß der Risiken zu minimieren oder die Dauer der Risikotragung zu verkürzen. Änderungen im Geschäftsmodell oder Anpassungen an erkannte Marktveränderungen mögen hier als erneute Manifestation der Entscheidung für den Eintritt in die Erwerbssphäre Anerkennung finden. Damit schließt sich der Kreis: Unversehens tritt hier wieder die Figur des betätigten Willens oder anders formuliert der gewidmeten Betätigung hervor.

VII. Fazit Die Überlegungen zeigen, dass Wissens- und Willenselemente aus dem Steuertatbestand nicht vollständig eliminiert werden können. Der Steuerpflichtige hat die freiheitsrechtlich garantierte Wahl, in die Erwerbsphäre einzutreten und aktiv am Markt zu agieren oder nicht. Schon aus dem Nebeneinander von Erwerbs- und Privatsphä359

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re, von Einkommenserzielung und -verwendung ergeben sich unvermeidlich Abgrenzungs- und Zuordnungsfragen, die einen Rückgriff auf das hergebrachte subjektive Tatbestandselement der Einkünfteerzielungsabsicht unumgänglich machen. Das Handeln des Steuerpflichtigen ist bei isolierter Betrachtung häufig objektiv neutral und damit doppeldeutig. Eine Entscheidung über die steuerliche Relevanz ist deswegen oft nur unter Einbeziehung der Rahmenbedingungen möglich. Zu diesen zählen jedoch auch die Intentionen des Steuerpflichtigen. Wissens- und Willenselemente sind seinen Handlungen inhärent; der Steuertatbestand muss diese aufnehmen und dem Rechtsanwender damit die Möglichkeit geben, die Intentionen des Steuerpflichtigen angemessen zu berücksichtigen. Ähnlich gelagerte Probleme prägen den Umgang mit dem allgemeinen Verbot des Gestaltungsmissbrauchs (§ 42 AO). Hier steht zwar die Unangemessenheit rechtlicher Gestaltungen im Vordergrund. Sie soll die Absicht missbräuchlichen Vorgehens indizieren. Die Möglichkeit des Gegenbeweises darf dem Steuerpflichtigen hier jedoch nicht vorenthalten werden. Wissens- und Willenselemente sind der Norm daher immanent. Praktische Schwierigkeiten im Umgang mit Wissens- und Willenselementen lassen sich im Interesse eines effektiven und effizienten Vollzugs des Steuerrechts in gewissen Grenzen durch typisierenden Rückgriff auf Erfahrungswerte und das objektivierende Abstellen auf Hilfstatsachen bewältigen. Der Rechtsprechung kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu. Umfangreiche Kasuistik kann Fallgruppen zum Vorschein bringen und das Material liefern, um induktiv Leitlinien der Entscheidungsfindung zu entwickeln. Diese mögen sich zu Formeln verdichten, die vom Gesetzgeber aufgenommen werden, der Kraft seiner demokratischen Legitimation berufen ist, Wissens- und Willenselemente mittels objektiver Ansatzpunkte „hinweg zu definieren“ oder jedenfalls zu überlagern. Die zeitliche Dimension stellt den Rechtsanwender vor besondere Herausforderungen. Häufig sind Dauersachverhalte und entsprechend gestreckte Tatbestände zu beurteilen. Oft lässt sich erst im Zeitverlauf ermitteln, ob das objektiv neutrale Handeln des Steuerpflichtigen entsprechend der behaupteten subjektiven Intention steuerlich relevant ist oder nicht. Eine Lösung bietet insoweit das Verfahrensrecht an, das eine bloß vorläufige Festsetzung nach § 165 AO erlaubt. Die Bemessung des Beobachtungszeitraums erweist sich dabei als ausschlaggebend. Das Scheitern eines erwerbsbezogenen Plans beendet die Beobachtung; den Zeitpunkt des Scheiterns zu bestimmen, ist an sich Sache des Steuerpflichtigen. Oft wird gleichwohl eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls nötig sein. Dabei sind wichtige Korrelationen zwischen Art und Maß der eingegangenen Risiken sowie der Dauer der Risikotragung durch den Steuerpflichtigen einerseits und der Intensität des Erwerbsbezugs andererseits zu erkennen. Je unkalkulierbarer und größer die eingegangenen Risiken sind und je länger die Phase der Risikotragung anhält, umso mehr schwindet regelmäßig der Veranlassungszusammenhang zwischen hingenommenem Verlust und geplantem Erwerb.

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … K.

Einzelfallgerechtigkeit und Maßstabbildung im digitalisierten Massenfallrecht Zur steuerlichen Zinsregelung, zur notwendigen Neubestimmung des Steuersystems und zum objektiven Nettoprinzip Von Gregor Kirchhof

Inhaltsübersicht I. Digitalisiertes Massenfallrecht und Gerechtigkeit im Einzelfall II. Einzelfallgerechte Steuergesetzgebung 1. Nur das allgemeine Gesetz kann nachprüfbar digitalisiert angewandt werden 2. Gesetzliche Typisierung als Regelfall, nicht als Ausnahmefall 3. Gefahr von strukturellen Vollzugsdefiziten in der digitalisierten Besteuerung 4. Der notwendige Systemwechsel – ­digitalisiert anwendbares objektives Nettoprinzip III. Das Beispiel der Zinsregelung des § 238 AO 1. Verfassungsrechtliche Kritik an der Höhe des Verfahrenszinses 2. Verfahrenszins – kein treffender Vergleich mit anderen Zinssätzen

3. Gründe für den steuerlichen Zins – die maßgebliche Länge des Zinslaufs 4. Verfassungsverstoß durch zinsbedingte Friktionen im Verfahren IV. Einzelfallgerechte Rechtsprechung und Verwaltung 1. Gesetzgebungsähnliche Rechtsprechung und Verwaltung – Programmablaufpläne 2. Beherrschungsdefizite im digitalisierten Besteuerungsverfahren 3. Strukturelle Vernachlässigung des Einzelfalls 4. Billigkeitserlasse der Verwaltung, Einzelfallprüfung der Rechtsprechung V. Justiziable Maßstäbe und Institutionen – der vielschichtige Auftrag der Recht­ sprechung

I. Digitalisiertes Massenfallrecht und Gerechtigkeit im Einzelfall Gerechtigkeit zu stiften, ist elementarer Auftrag des Rechts1. Ausgangspunkt dieses Ringens um das Recht ist das allgemeine Gesetz, das von der Verwaltung für den 1 Radbruch, Rechtsphilosophie [1932], 1999, S.  26 [19  f.]; v. Jhering, Geist des römischen Rechts [1852–1865], 2. Teil 1. Abteilung, 8. Aufl. 1954, S. 35; für das Steuerrecht Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, 2. Aufl. 2012, S. 1247 ff.

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Gregor Kirchhof

Einzelfall konkretisiert wird. Im gerichtlichen Konflikt prüft die Rechtsprechung den rechtlichen Maßstab des zu lösenden Falls und bildet dabei das Recht verallgemeinernd fort. Dieser gewaltenteilende Ausgangspunkt des demokratischen Rechtsstaats ist auch in dem anspruchsvollen Auftrag der Rechtsprechung hergebracht und anerkannt2. Gesetze dienen der Gerechtigkeit, wenn sie für alle gelten und gleichmäßig angewandt werden. Gleichheit vor dem Gesetz und Gerechtigkeit sind untrennbar verbunden3. Doch auch das gerechteste Steuergesetz allein genügt nicht. Das zentrale Ziel ist, eine Gleichheit im Belastungserfolg bei den Betroffenen zu bewirken4. Jedes zu vollziehende Gesetz ist nur so gerecht wie sein Vollzug5. Gesetzgebung, Finanzverwaltung und Rechtsprechung sind in dem Ziel, das Gesetzesrecht zu verwirklichen, notwendig verbunden. Dieser Verwirklichungsauftrag ist im Steuerrecht in dessen Massenwirkung zu erfüllen. Das Einkommensteuerrecht, auf das sich die folgenden Ausführungen konzentrieren, begründet Zahllasten für über 40 Mio. Steuerpflichtige, erreicht jährlich Erträge in Höhe von über 200 Mrd. Euro6. Eine Digitalisierung des Besteuerungsverfahrens drängt sich für dieses Finanzierungsinstrument und Massenfallrecht auf. Aufgrund der zahlreichen parallelen Fälle, der Zahllast als berechenbare Rechtsfolge, der nicht selten bereits durch Rechner aufbereiteten Daten und der binären Codierungen von steuerbaren und nicht steuerbaren Einkünften sowie von steuerlich absetzbaren und nicht absetzbaren Ausgaben ist das Einkommensteuerrecht prädestiniert, durch Rechner angewandt zu werden, und den Finanzbeamten vornehmlich eine überprüfende Rolle zuzuweisen7. Doch begegnet eine solche Automation gegenwärtig erheblichen, jedoch nicht unüberwindbaren verfassungsrechtlichen Einwänden8. Das geltende Einkommensteu2 Kelsen, Allgemeine Staatslehre [1925], 1966, S.  232; Heller, VVDStRL 4 (1928), 98 (107); Imboden, Das Gesetz als Garantie rechtsstaatlicher Verwaltung, 1954, S. 39 ff.; für das Steuerrecht §  115 Abs.  2 Nr.  2 FGO; BFH GrS v. 28.11.2016  – GrS 1/15, BStBl.  II 2017, 393; Spindler, Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013, § 165 Rz. 4, 6 f. 3 Deutlich Aristoteles, Politik [Politica, zw. 329 u. 326 v. Chr.], 2003, 1287b; Radbruch (Fn. 1), S. 26 [19 f.]; H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, S. 20; insgesamt G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009. 4 BFH GrS v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393; BVerfG v. 14.6.2016 – 2 BvR 323/10, DStR 2016, 1731 Rz.  101; v. 17.2.2010  – 1 BvR 2664/09, NVwZ-RR 2010, 457 Rz.  46; v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 Rz. 63; v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297 Rz. 38; st. Rspr. 5 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 Rz. 104 ff.; Tipke, Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013, § 146 Rz. 5; Seer, DStJG 31 (2008), S. 7 (8 f. m.w.H.). 6 BMF, Steuereinnahmen 2016 – I A 6, 18.8.2017; BMF, Datensammlung zur Steuerpolitik, 2016/2017, 24. 7 Zu Letzterem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 3.2.2016, BT-Drs. 18/7457, 48 f.; E. Schmidt, DStJG 31 (2008), S. 37 (38 ff.); Seer, DStJG 31 (2008), S. 7 (19 ff.). 8 Siehe hierzu G. Kirchhof, FR 2015, 773; ders., DStJG 40 (2017), S. 47 (62 ff.); ders. in Schön/ Sternberg, Zukunftsfragen des Steuerrechts III, 2018, S.  99 (107  ff.); Ahrendt, NJW 2017, 537 ff.; M. Maier, JZ 2017, 614 ff.; Haunhorst, DStR 2010, 2105 ff.; Baldauf, DStR 2016, 833.

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errecht ist zu kompliziert9, um vollständig gleichheitsgerecht und nachprüfbar digital angewandt zu werden. Der grundgesetzliche Entscheidungsauftrag im Vollzug droht, an Rechner abgegeben zu werden. Dann aber laufen Verwaltung und Richter Gefahr, die Rechtsanwendung kaum mehr prüfen zu können – rechtsstaatswidrige Beherrschungsdefizite wären die Folge. Der zentrale Auftrag von Rechtsprechung und Verwaltung, das Gesetzesrecht zu konkretisieren, den steuerlichen Maßstab dabei allgemein zu schärfen und Gerechtigkeit im Einzelfall herzustellen, droht strukturell vernachlässigt zu werden10. Eine ausschließlich automationsgestützte Besteuerung verletzt so lange das Grundgesetz, bis das materielle Steuerrecht derart vereinfacht ist, dass es gleichheitsgerecht und prüfbar digitalisiert angewandt werden kann11. Die notwendige Vereinfachung ist eine Herkulesaufgabe. Sie fordert, das geltende Steuersystem auf die Digitalisierung auszurichten. Auch das objektive Nettoprinzip, das einer Gerechtigkeit im Einzelfall dient, ist konsequent in der Vollzugsperspektive, in der Gleichheit im Belastungserfolg zu verstehen12. Doch selbst wenn das materielle Steuerrecht folgerichtig auf die digitalisierte Anwendung ausgerichtet würde, intensiviert die gesichtslose, von Beamten nicht unmittelbar verantwortete Automation den Auftrag von Verwaltung und Rechtsprechung, ­gestaltend und nachprüfend das Gesetz zur Wirkung zu bringen. Der Vollzug und die richterliche Prüfung nehmen die Besonderheiten des Einzelfalls auf. Die Ver­ waltung kann auf atypische Fälle mit Billigkeitsregelungen reagieren. Eine digitalisierte Anwendung des Steuerrechts ist demgegenüber auf berechenbare Regeln, auf typische Fälle ausgerichtet, ähnelt so der Gesetzgebung und droht, die einzelfallbezogene Rechtsanwendung durch die Verwaltung zu vernachlässigen. Dann aber stellt sich der Auftrag von Verwaltung und Rechtsprechung neu, dem Betroffenen sein Recht zu geben. Im Gesetz und im Verfahren sind Möglichkeiten zu stärken und zu eröffnen, dem atypischen Fall gerecht zu werden und insoweit Verwaltung und Rechtsprechung mit der ergänzenden Auslegung des Rechts zu beauftragen13. Im Folgenden sollen daher angesichts der Digitalisierung des Steuerrechts sowie an den Beispielen steuerlicher Zinsregelungen14 und des objektiven Nettoprinzips15 Maßstäbe zur Einzelfallgerechtigkeit und Regelbildung gewiesen werden.

9 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, 2. Aufl. 2012, S. 1393 ff.; J. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, S. VII (Vorwort); P. Kirchhof, Der sanfte Verlust der Freiheit, 2004, S. 1 ff., 129 ff.; Mellinghoff, DStJG 37 (2014), S. 1 (3); Drüen, DStJG 37 (2014), S. 9 (12  ff.); ders., DStR 2010, 2 (2  f.); J. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22.  Aufl. 2015, §  3 Rz.  1  ff.; Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1148 m.w.H.); W. Schön, DStR-Beihefter zu Heft 17/2008, 10 (10 ff.). 10 Siehe unter IV. 11 G. Kirchhof (Fn. 8). 12 Siehe unter II. 13 Siehe unter IV. 4. 14 Siehe unter III. und unter IV. 4. 15 Siehe unter II. 4.

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II. Einzelfallgerechte Steuergesetzgebung 1. Nur das allgemeine Gesetz kann nachprüfbar digitalisiert angewandt ­werden Der verfassungsrechtliche Auftrag, eine Gleichheit im steuerlichen Belastungserfolg zu erreichen, beginnt beim Gesetzgeber. Einkommensteuerrecht ist Massenfallrecht16. Diese Besonderheit des Steuerrechts fordert den Gesetzgeber auch in der digitalisierten Anwendung nachdrücklich auf, seinen ursprünglichen Auftrag zu erfüllen und allgemeine Gesetze zu erlassen. Das Gesetz ist seit jeher das rechtliche Instrument, das auf zahllose zukünftige Fälle ausgerichtet ist. Das Gesetz sichert gerade in der Verallgemeinerung und der dann möglichen Anwendung auf die Allgemeinheit Gleichheit im freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat17. Nur das allgemeine Gesetz garantiert aus sich heraus Gerechtigkeit18 und Freiheit19, ist „die geschworene Feindin der Willkür“20. Daher erstaunt, dass die Gesetzesallgemeinheit gerade im steuerlichen Massenfallrecht an Kraft verloren hat21. Diese Entwicklung ist umzukehren, das Einkommensteuerrecht in allgemeinen Tatbeständen in weiten Teilen neu zu fassen, die gleichheitsgerecht und nachvollziehbar digitalisiert angewandt werden können22. Das Einkommensteuergesetz muss, um gleichheitsgerecht vollzogen werden zu können, Typisierungen nutzen, darf auch Pauschalierungen wählen, und so „Beson­ derheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt sind, generalisierend vernach­ lässigen“23. Dieser gesetzgeberische Verallgemeinerungsauftrag hat sich durch die digitalisierte Anwendung des Steuerrechts intensiviert. Spezielle Tatbestände und Detailregelungen können kaum von Rechnern gleichheitsgerecht und prüfbar konkretisiert werden, erreichen nur wenige Fälle, fordern aufgrund des engen Regelungsbereichs weitere Gesetze und bewirken so eine vollzugschädigende Übernormierung. Der Einwand, die bemerkenswerten technischen Möglichkeiten moderner Rechner könnten gerade den Besonderheiten zahlreicher Einzelfälle gerecht werden, erlauben folglich Einzelfallregelungen, geht fehl. Die Steuergesetze sind so zu schreiben, dass sie in Programme übersetzbar sind und in der Anwendung durch den Rechner eine durch Verwaltung und Rechtsprechung nachvollziehbare Gleichheit im Belastungserfolg garantieren. Zwar können gerade im steuerlichen Massenverfahren Rechner besondere Leistungen erbringen. Der Abgleich zahlloser Daten und die bemerkenswerten Weiterentwicklungen der Programme ermöglichen Prüfungen, die ein Finanzbeamter nicht leisten kann. Doch bleiben Rechner Maschinen, die zu feh16 Siehe unter I. m.w.N. 17 Siehe insgesamt G. Kirchhof (Fn. 3), S. 35 ff., 67 ff. 18 Siehe die Nachweise in Fn. 3. 19 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785], 2005, 421. 20 V. Jhering (Fn. 1), S. 471, auch für die Gesellschaft. 21 Tipke (Fn. 1), S. 1393 ff. 22 G. Kirchhof (Fn. 8); siehe zu den vom Rechnungshof festgestellten Fehlern im digitalisierten Besteuerungsverfahren Ahrendt, NJW 2017, 537 (539). 23 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, DStR 2017, 1124; v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (30); st. Rspr.

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lerhaften Ergebnissen gelangen können und manipulierbar sind. Der Computer rechnet im Verborgenen, behauptet, durch Algorithmen „objektive“ Lösungen zu bieten, duldet keinen Widerspruch. Ein Beamter kann die Ergebnisse des Rechners nur schwer überprüfen, wenn sie komplizierte Spezialregelungen anwenden, wenn sie aus einer Vielzahl von Daten – Erfahrungen und Einsichten – gewonnen werden. Es entsteht ein Beherrschungsdefizit, das der Rechtsstaat nicht duldet. Rechner dürfen und sollen die Finanzverwaltung unterstützen. Doch kann der Computer nicht in  einer abschließenden, nicht prüfbaren Entscheidung an die Stelle der Beamten treten. Verwaltung und Rechtsprechung wären letztlich entmachtet. Wenn aus­ schließlich automationsgestützte Bescheide erlassen werden, ist das erst verfassungsrechtlich vertretbar, wenn die Steuergesetze so vereinfacht sind, dass ihnen der Steuerpflichtige bei der Eingabe der Daten folgen kann, der Rechner sie sodann mit seinen spezifischen Techniken anzuwenden vermag und die Finanzbeamten und Richter diese Anwendung nachprüfen können. Die Digitalisierung im Massenfallrecht fordert den Gesetzgeber auf, seinen ursprünglichen Auftrag der verallgemeinernden Regelbildung zu erfüllen24. 2. Gesetzliche Typisierung als Regelfall, nicht als Ausnahmefall Dieser verfassungsrechtliche Auftrag, das Steuerrecht zu vereinfachen, erreicht das Steuersystem. Er folgt dabei der alten gesetzgebenden Erkenntnis, dass „nichts so sehr zur Vereinfachung der Gesetzgebung beiträgt, wie die Zusammenfassung der einzelnen Anordnungen in wenige, klare Grundsätze“25. Der verallgemeinernde ­Gesetzgeber hat fünf anerkannte verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten. Gesetzliche Typisierungen müssen (1.)  “von einer möglichst breiten, alle betroffenen Gruppen und Regelungsgegenstände einschließenden Beobachtung ausgehen. Insbesondere darf der Gesetzgeber [2.] keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss [3.] realitätsgerecht den typischen Fall als Maßstab zugrunde legen. Zudem dürfen die tatsächlichen Anknüpfungspunkte für die Typisierung den Normzweck nicht verfehlen“26. Typisierungen müssen (4.) verhältnismäßig sein, auf tragfähigen Gründen beruhen und wesentlichen Unterschieden der Betroffenen Rechnung tragen. Schließlich sind (5.) die weiteren grundgesetzlichen Maßstäbe des Steuerverfassungsrechts, insbesondere das Leistungsfähigkeitsprinzip, das freiheitliche Maß der Besteuerung und das Gebot der Folgerichtigkeit zu beachten27. Ein am Ausnahmefall orientiertes Gesetz bewirkt kein gleichheitsgerechtes Recht.

24 G. Kirchhof (Fn. 8); siehe sogleich unter IV. 2. und 3. 25 E. Huber, Schweizerisches Civilgesetzbuch. Erläuterungen zum Vorentwurf, Heft 1, 1901, S. 9; Kant, Kritik der reinen Vernunft [1781], Band 1, 1974, B 358. 26 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, DStR 2017, 1124; v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (245); v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (30); v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297 (309 ff.). 27 Isensee, StuW 1994, 3 (9 f.); Ruppe, DStJG 21 (1998), S. 29 (37 f.); J. Hey (Fn. 9), Rz. 23, 145 ff.; G. Kirchhof in Herrmann/Heuer/Raupach, Einführung EStG Rz. 266.

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In diesem anerkannten Maßstab werden gesetzliche Typisierungen als rechtfertigungsbedürftige Ausnahme begriffen28. Dieser Ausgangspunkt ist zu korrigieren. Steuergesetze müssen, um im Massenfallrecht vollzogen, um nachprüfbar digitalisiert angewandt werden zu können, typisieren und auch pauschalieren. Typisierungen fassen – in den Worten des Bundesverfassungsgerichts – „bestimmte in wesentlichen Elementen gleich geartete Lebenssachverhalte normativ zusammen“29. Das aber ist Gesetzgebung. Die synthetische Einkommensteuer behandelt grundsätzlich alle Einkünfte gleich und lässt nach dem objektiven Nettoprinzip in der Regel alle Erwerbsaufwendungen zum Abzug zu30. Dabei fragen die Gesetzestatbestände nicht, wie die Einnahmen erzielt wurden, ob sie verdient oder unverdient sind. Auch ist in den Grenzen von Luxusaufwendungen nicht von Belang, ob die abziehbaren Erwerbsaufwendungen in dieser Höhe notwendig, ob Einsparungen möglich waren. Nach dem subjektiven Nettoprinzip sind im Bereich der Privatsphäre nicht die tatsächlichen Kosten für Wohnung, Nahrung und Kleidung steuerlich abziehbar, sondern der typisierte Aufwand31. Die Typisierung ist nicht die gesetzliche Ausnahme, sondern die Regel32. Der Gesetzgeber erfasst die Lebenswirklichkeit in einem vergröbernden Tatbestand, der die Vielfalt der Sachverhalte in Muster- und Regelfällen verallgemeinert. Diese gesetzliche Verallgemeinerung des Üblichen – die Vernachlässigung des Besonderen und Ungewöhnlichen  – ist gute Gesetzgebungskunst, nicht eine besonders rechtfertigungsbedürftige Ausnahme. Wenn der Gesetzgeber aber steuerliche Begünstigungen oder Belastungen pauschalierend in Beträgen fasst, einen Pauschbetrag für Werbungskosten vorsieht33, die steuerliche Anerkennung der Fahrt zur Arbeit in der Kilometerpauschale beschränkt34 oder andere lebensführungsnahe Erwerbsaufwendungen in einer Angemessenheitsprüfung steuerlich begrenzt35, bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung. Das Gesetz wird dann nicht an einem Regelfall ausgerichtet, sondern soll das Massenverfahren vereinfachen, die Privatsphäre schützen, eine nachvollziehbare digitalisierte Gesetzesanwendung ermöglichen, sachwidrige Steuergestaltungen verhindern oder vermeiden, dass über die steuerliche Erwerbssphäre privater Luxus entlastet wird36.

28 J. Hey (Fn. 9), Rz. 23, 145 ff. m.w.N. 29 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, DStR 2017, 1094 (1100); v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (244 f.); v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 ua., BVerfGE 122, 210 (231). 30 Siehe sogleich unter 4. m.w.N. 31 Mellinghoff, Leitgedanken des Rechts, § 174; G. Kirchhof in Kirchhof/Ratschow, § 12 EStG Rz. 22 ff. m.w.N. 32 G. Kirchhof, DStJG 40 (2017), S. 47 (74 ff.). 33 § 9a EStG. 34 § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Satz 2 f., § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 f., § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 f. EStG. 35 § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 7 EStG. 36 Siehe hierzu G. Kirchhof (Fn. 31), § 12 Rz. 28, 45 ff.

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3. Gefahr von strukturellen Vollzugsdefiziten in der digitalisierten ­Besteuerung Gesetzgebung und Verwaltung tragen eine gemeinsame Verantwortung für den gleichmäßigen Vollzug der Steuergesetze durch Entscheidungen von dazu beauftragten Menschen und für eine davon auch begrifflich zu unterscheidende digitalisierte Anwendung des Rechts durch Rechner. Rechtspraxis und Rechtswissenschaft stellt sich der Auftrag, die Gesetze und deren Anwendung auf Fehler, insbesondere auf strukturelle Erhebungsdefizite zu prüfen. Das Grundgesetz konkretisiert den Zusammenhang zwischen dem Steuergesetz und dessen gleichmäßiger Anwendung insbesondere auf zwei Ebenen verbindlich. Zunächst sind die Steuergesetze so zu gestalten, dass sie gleichmäßig vollzogen werden können und die Gleichheit im Belastungserfolg auch in einer digitalisierten Anwendung nachvollziehbar erreicht wird37. Vollzugsmängel werden im Massenver­ fahren der Steuererhebung immer auftreten. Doch nicht jeder Mangel bewirkt, dass das Steuergesetz die Verfassung verletzt. Weisen Gesetze aber „strukturelle Erhebungsmängel“ auf, sodass sich ihr Besteuerungsanspruch nicht weitgehend gleichmäßig durchsetzen lässt, verstoßen sie gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Steuergesetze dürfen insbesondere angesichts einer digitalisierten Anwendung des Steuerrechts nicht zu kompliziert, nicht unverständlich sein, müssen gleichheitsgerecht typisieren38. Zudem ist das steuergestaltende Verhalten der Steuerpflichtigen zu berücksichtigen. Steuergesetze, die entgegen ihrer Zwecksetzung gleichheitsrechtlich nicht rechtfertigbare steuermindernde Gestaltungen zulassen, sind von Anfang an verfassungswidrig39. Diese Vorgaben beziehen sich gegenwärtig vor allem auf die Entwicklung der digitalisierten Besteuerung. Die Steuergesetze sind so zu fassen, dass sie in Programmablaufpläne übersetzbar sind, die von Rechnern gleichheitsgerecht und prüfbar angewendet werden können. Der Gleichheitssatz fordert sodann – zweitens – eine Finanzverwaltung, die das Steuergesetz gleichmäßig vollziehen kann. Eine im Erhebungsverfahren angelegte strukturelle Ungleichbehandlung wirkt auf das Gesetz zurück, solange der Gesetzgeber diese bewusst und gewollt hingenommen hat. Zeigt sich ein struktureller Erhebungsmangel erst nachträglich, ist der Mangel in einer angemessenen Frist zu beseitigen40. Die rechtlichen Gestaltungen des Erhebungsverfahrens dürfen nicht prinzipiell die Belastungsgleichheit verfehlen. Strukturell gegenläufige Erhebungsregeln sind verfassungswidrig. Die Finanzverwaltung ist personell und sachlich so auszustatten, dass sie die erlassenen Steuergesetze  – auch eine neue Steuer oder Steuererleichterung – hinreichend prüfen kann41. Dieser anerkannte Maßstab setzt der Digitalisierung der Besteuerung Grenzen. Die Finanzverwaltung muss auch die vom Computer 37 Siehe unter II. 2. 38 BVerfG v. 13.6.2007  – 1 BvR 1550/03 ua., BVerfGE 118, 168 (196); v. 9.3.2004  – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 (112 f.). 39 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (235 f.). 40 Deutlich: BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271 f.). 41 BVerfG v. 13.6.2007  – 1 BvR 1550/03 ua., BVerfGE 118, 168 (196); v. 9.3.2004  – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 (112 f.).

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berechneten Rechtsfälle kontrollieren können. Beherrschungsdefizite dürfen nicht entstehen. Vielmehr sind Kontrollinstrumente vorzusehen, die permanent die Berechnung des Steuerrechts prüfen, nicht oder nicht treffend erfasste Fälle aussondern und für eine individuelle Sachlösung vorsehen. 4. Der notwendige Systemwechsel – digitalisiert anwendbares objektives ­Nettoprinzip Das Einkommensteuerrecht gibt das objektive Nettoprinzip verbindlich vor42. Die Steuerpflichtigen werden nach ihrer Leistungsfähigkeit besteuert, indem ein Saldo aus Erwerbseinnahmen und Erwerbsaufwendungen gebildet, folglich nur der dem Steuerpflichtigen „netto“ verbleibende Ertrag besteuert wird43. Das objektive Nettoprinzip wird von zahlreichen Stimmen der Literatur als zwingende Vorgabe der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verstanden44. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch nur das subjektive Nettoprinzip, nicht aber das objektive Nettoprinzip aus dem Grundgesetz hergeleitet45. Nach dieser Rechtsprechung ist das Prinzip aber, solange es einfachgesetzlich gilt, von Verfassung wegen folgerichtig umzusetzen. Der Gesetzgeber darf vom objektiven Nettoprinzip nur abweichen, wenn sachlich einleuchtende Gründe dies rechtfertigen46. Die Umsetzung des objektiven Nettoprinzips ist in dieser Folgerichtigkeit die Regel, ein Abweichen die zu rechtfertigende Ausnahme. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis darf aber nicht dahingehend missverstanden werden, das Einkommensteuerrecht habe jeden Aufwand centgenau zu erfassen, jede Bemessungsgrundlage millimetergenau zu vermessen. In einer rein einzelfallbezogenen Perspektive mag dies zu einem plausiblen Steuerergebnis führen. Jedoch wäre die Steuergerechtigkeit als Forderung der Gleichheit vor dem Gesetz verfehlt, weil eine solche Detailbemessung im Massenfallrecht nicht möglich ist. Die einkommensteuerrechtlichen Regeln müssen, um 42 § 2 Abs. 2 EStG. 43 BFH v. 9.5.2001  – XI B 151/00, BStBl.  II 2001, 552; BVerfG v. 6.7.2010  – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (279 f.); v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 ua., BVerfGE 122, 210 (233 f.); BFH v. 10.1.2008 – VI R 17/07, BStBl. II 2008, 234 (Rz. 98); J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 97 ff.; Musil in Herrmann/Heuer/Raupach, § 2 EStG Rz. 503; Bowitz, Das objektive Nettoprinzip als Rechtfertigungsmaßstab im Einkommensteuerrecht, 2016, S. 43 ff. 44 Tipke, StuW 1974, 84 (85); deutlicher Tipke, JZ 2009, 533 (537 f.); J. Lang, StuW 1985, 10 (16); J. Lang, StuW 2007, 3 (4); Müller-Franken, StuW 1997, 3 (15); Schön, StbJb 1998, 1999, 57 (65); Englisch, Beihefter zu DStR 2009, 92 (92 f.); J. Hey in Herrmann/Heuer/Raupach, Einführung zum EStG Rz. 44; für die Diskussion zudem Seiler, DStJG 34 (2011), 61 (65 ff.), und Bowitz (Fn. 43), S. 95 ff., mit einem differenzierten Ansatz; beide m.w.N. 45 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (279 f.); v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 ua., BVerfGE 122, 210 (233 f.); v. 23.1.1990 – 1 BvL 4/87 ua., BVerfGE 81, 228 (237); st. Rspr.; siehe hierzu Desens, StuW 2016, 240 (248); Schneider, Beihefter zu DStR 2009, 87 (89); Seiler, DStJG 34 (2011), 61 (67). 46 BVerfG v. 2.10.1969  – 1 BvL 12/68, BStBl.  II 1970, 140 (Rz.  25); v. 11.11.1998  – 2 BvL 10/95, BStBl. II 1999, 502; siehe für die Diskussion und insgesamt G. Kirchhof (Fn. 31), § 2 Rz. 68 ff.

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in der Vielzahl der Fälle gleichheitsgerecht vollzogen, um digital angewandt werden zu können, typisieren, vereinfachen und vergröbern, dürfen pauschalieren47. Das objektive Nettoprinzip steht dieser Vollziehbarkeit des Rechts nicht entgegen. Vielmehr fordert es in seinen gleichheitsrechtlichen Wurzeln, im Leistungsfähigkeitsprinzip und der praxisbestimmenden Gleichheit im Belastungserfolg, in die singuläre und besondere Wirklichkeit umgesetzt zu werden. Die Steuerprinzipien sind – wie die zu vollziehenden Steuergesetze48 – nur so gut wie der Vollzug. Nach dem objektiven Nettoprinzip sind grundsätzlich alle Erwerbsaufwendungen steuerlich absetzbar. Abweichungen werden zu rechtfertigungsbedürftigen Ausnahmen49. Doch ist – wie bei den Typisierungen50 – auch dieser Ausgangspunkt in der maßgeblichen Verwirklichungs- und Vollzugsperspektive, in der digitalisierten Besteuerung sowie angesichts des gegenwärtigen Steuersystems zu präzisieren. Werden Einnahmen und Ausgaben steuerlich bewertet, Absetzungen in Stufen vorgenommen oder Steuertarif und Progressionsgrenzen in Schritten ermittelt, wird das objektive Nettoprinzip nicht herausgefordert, sondern in vollziehbaren Tatbeständen umgesetzt. Der Gesetzgeber entscheidet sich aus der maßgeblichen Vollzugsperspektive zu Recht für Pauschalen, wenn Einnahmen oder Ausgaben nicht, nur kaum oder nur mit zu hohem Aufwand zu ermitteln sind. Werden jedoch feste Beträge ohne schwerwiegende Vollzugsprobleme in Freibeträgen, Freigrenzen oder Pauschalen fixiert, liegen zu rechtfertigende Ausnahmen vom folgerichtig umzusetzenden objektiven Nettoprinzip vor. Ein Steuergesetz, das gleichheitsgerecht vollzogen werden kann, ist auch vor diesem Prinzip nicht die verfassungsrechtliche Ausnahme, sondern die Regel. Das Einkommensteuerrecht folgt dem Leistungsfähigkeitsprinzip, der Ist-Ertragsbesteuerung. Über die Einkunftsarten hinaus konkretisiert es diesen Ausgangsauftrag in zahlreichen Elementen der Soll-Ertragsbesteuerung, wenn Vergröberungen in Abzugsverboten, Abzugsbeschränkungen und Absetzungen, in Freibeträgen, Freigrenzen und Pauschalen greifen51. Jede Bewertung und auch die steuerlichen Annahmen, 47 Siehe unter 1. und 2. m.w.N. 48 Siehe unter 2. 49 Deutlich J. Hey (Fn. 44), Rz. 44 m.w.N. 50 Siehe unter 2. 51 So z.B. in den Regelungen der Zinsschranke (§ 4h EStG, § 8a KStG), von Abzugsverboten (z.B. § 4 Abs. 5 EStG), der privaten Kfz-Nutzung (§ 4 Abs. 5 Nr. 6 Satz 2 ff., § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 ff., § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 f.), der Übertragung stiller Reserven (§ 6c), der AfA (§ 7), des Investitionsabzugsbetrags (§  7g Abs.  1), der Sonderabschreibung für kleinere und mittlere Betriebe (§  7g Abs.  5, 6), der Werbungskostenpauschalen, der Verlustverrechnungs- (z.B. § 20 Abs. 6, § 23 Abs. 3 Satz 7 f.) und Verlustabzugsbeschränkungen (§ 10d), in § 15a, von Freibeträgen und Freigrenzen (z.B. § 13 Abs. 3), der privaten Veräußerungsgewinne (§ 23) und der Anrechnung der GewSt (§ 35). Im Bereich der Lohnsteuer greifen u.a. Werbungskostenpauschalen (§ 9a), Verpflegungspauschalen (§ 9 Abs. 4a), Lohnsteuerpauschalierungen (bei Sachzuwendungen: § 37b, in besonderen Fällen: § 40, für Teilzeit­ beschäftige und geringfügig Beschäftigte: § 40a, bei bestimmten Zukunftssicherungsleistungen: § 40b) und den Lohnsteuerklassen einschließlich der Zahl der Kinderfreibeträge (§ 38b EStG).

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ein PKW werde stets sechs, ein mobiles Telefon fünf und ein Notebook drei Jahre genutzt52, stimmen mit der Realität nicht überein, nähern sich dieser lediglich an. Diese gesetzlichen Typisierungen und Pauschalen treten im Einkommensteuerrecht weniger auf der Einnahmenseite, mehr auf der Ausgabenseite auf. Schließlich mündet die Einkommensteuer im Steuertarif und in den Progressionsgrenzen in zwei weiteren Vergröberungen. Das Ergebnis ist fast paradox: Das Einkommensteuerrecht versucht auch in einem Missverständnis des objektiven Nettoprinzips, die Bemessungsgrundlage mit großem Aufwand millimetergenau zu ermitteln, setzt dabei aber Vergröberungen ein und besteuert im Ergebnis pauschaliert. Das Steuerrecht entscheidet sich zu Recht für den Ausgangspunkt der Ist-Ertragsbesteuerung. Diese Grundentscheidung wird aber durch zahlreiche Elemente der Soll-Ertragsbesteuerung verwirklicht. Das Ergebnis ist ein kaum stringentes unübersichtliches Mischsystem. Diese Mischung ist zu rationalisieren und zum System zu machen. Eine digitalisierte und gleichheitsgerechte Anwendung des Einkommensteuerrechts drängt auf eine derartige Vereinfachung, die eine pauschalierende Einkommensteuer in einer typisierenden Bemessungsgrundlage spiegelt53.

III. Das Beispiel der Zinsregelung des § 238 AO 1. Verfassungsrechtliche Kritik an der Höhe des Verfahrenszinses Die Maßgabe der Steuergesetzgebung, durch verallgemeinernde Regeln im digitalisierten Besteuerungsverfahren Gleichheit vor dem Gesetz und Rechtssicherheit zu gewährleisten, wird gegenwärtig am Beispiel der im Steuerverfahren zu entrichtenden Zinsen kontrovers diskutiert. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis werden verzinst, soweit dies gesetzlich vorgeschrieben ist54. Im steuerlichen Regelverfahren sind Zinsen vor allem auf Steuernachforderungen und Steuererstattungen zu entrichten55. Zudem gilt der Zinssatz im Falle einer Aussetzung der Vollziehung56 und nach einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung für zu erstattende oder zu vergütende Beträge57. Die Verzinsung im Falle der Steuerstundung, auf die nach der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung aus Billigkeitsgründen verzichtet werden kann58, und auf hinterzogene Steuern59 betreffen Sonderfälle. Der Zinssatz beträgt gem. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO „für jeden Monat einhalb Prozent“, addiert sich für das Jahr daher zu sechs Prozent. Die Zinsen sollen – nach der gängigen Begründung – Liquiditätsvorteile und -nachteile im Steuerverfahren ausgleichen, die Möglichkeit

52 BMF, AfA-Tabelle vom 15.12.2000, 4.2.1, 6.13.2.2 und 6.14.3.2. 53 G. Kirchhof, DStJG 40 (2017), 47 ff.; siehe bereits unter 1. bis 3. 54 § 233 Satz 1 AO. Ansprüche aus steuerlichen Nebenleistungen und die entsprechenden Erstattungsansprüche werden nicht verzinst (§ 233 Satz 2 AO). 55 § 233a AO. 56 § 237 Abs. 1 und Abs. 2 AO. 57 § 236 AO. 58 § 234 mit Abs. 2 AO; siehe auch sogleich unter IV. 4. 59 § 235 AO.

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der Kapitalnutzung unabhängig vom konkreten Einzelfall entschädigen. Auf eine Verursachung oder ein Vertretenmüssen des Zinslaufes komme es nicht an60. Aufgrund der langen Niedrigzinsphase unterscheidet sich der sechsprozentige Jahreszins im Besteuerungsverfahren schon seit längerer Zeit erheblich von den Zinsen des Marktes, wenn der Leitzins gegenwärtig bei null61, der Basiszins bei minus 0,88  Prozent liegt62 und auch weitere Zinssätze deutlich geringer ausfallen. Die in § 238 AO geregelte Zinshöhe wird aufgrund dieser Unterschiede als evident realitätsfern und verfassungswidrig erachtet. Der Gesetzgeber müsse im Steuerrecht typisieren, dürfe einen festen Zinssatz regeln, der Regelung aber keinen atypischen Fall zugrunde legen. Der Zins von jährlich sechs Prozent entbehre jeder Rechtfertigung, sei jedenfalls gegenwärtig nicht realitätsgerecht, verletze das Maß der Verfassung. Vorgeschlagen wird de lege ferenda, den Zins dynamisch an einen Durchschnittzins zu koppeln oder auf den Basiszinssatz des BGB zurückzugreifen63. Demgegenüber haben das Bundesverfassungsgericht, der BFH und weitere Gerichte bislang betont, die typisierte Zinshöhe sei realitätsgerecht, verletze das Grundgesetz nicht. Die Verzinsung gleiche sachgerecht Liquiditätsvorteile aus, die aufgrund der unterschiedlichen Zeiten entstehen, zu denen Steuern festgesetzt und fällig werden. Ohnehin wirke die Zinshöhe zu Gunsten wie zu Lasten des Steuerpflichtigen. Die Möglichkeit der Kapitalnutzung begründe den Zins, selbst wenn die Zeitverzögerung nicht in der Hand des Steuerpflichtigen liege64. Die Finanzgerichte weisen dabei dar60 Entwurf eines Steuerreformgesetzes 1990, 19.4.1988, BT-Drucks. 11/2157, 194; Bericht der Bundesregierung über die Möglichkeit der Einführung einer Vollverzinsung im Steuerrecht, 6. Januar 1978, BT-Drucks. 8/1410, 3 f.; BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2539/07, NVwZ 2010, 902 (903 f.); BFH v. 12.4. 2000 – XI R 21/97, BFH/NV 2000, 1178; v. 9.11.2017 – III R 10/16, DStR 2018, 465 (467); BFH v. 25.4.2018 – IX B 21/18, Rz. 23 f.; AEAO zu § 223a Nr. 69.2. 61 EZB, Pressemitteilung v. 24.12.2017 (https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/­ Presse/EZB_Pressemitteilungen/2017/2017_12_14_beschluesse.pdf?__blob=publication​ File, Abruf: 15.1.2018). 62 Basiszins zum 1.1.2018 (https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Standardartikel/Bun​ desbank/Zins­saetze /basiszinssatz.html; Abruf: 15.1.2018); siehe zur anhaltenden Niedrigzinsphase Deutsche Bundesbank, Finanzstabilitätsbericht 2014, 25.11.2014, S.  8, 38  f. (https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Veroeffentlichungen/Finanzstabi​ litaetsberichte/2014_finanzstabilitaetsbericht.pdf?__blob=publicationFile; Abruf: 15.1.2018). 63 Jonas, Ubg 2011, 960 (961); Ortheil, BB 2012, 1513 (1517  f.), der den rechtspolitischen Handlungsbedarf betont; Seer/Klemke, Neuordnung der Verzinsung aus Steueransprüchen, ifst-Schrift Nr.  490 (2013); Drüen, FR 2014, 218 (225  f.); Seer, DB 2014, 1945 (1950 ff.); Ortheil, BB 2015, 675 (676); J. Hey, FR 2016, 485 (485, 488, 490 f.); Behrens, FR 2015, 214 (227); Beckmann/Thiele, BB 2016, 2839 (2843); Jonas, DStR 2016, 950 (953 f.); für einen Überblick über die Diskussion: Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags, 16.2.2017, WD 4 - 3000 - 011/17. 64 BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2539/07, NVwZ 2010, 902 (903 f.); BFH v. 9.11.2017 – III R 10/16, DStR 2018, 465 (für einen Überblick über die Rechtsprechung: 471); v. 19.2.2016 – X S 38/15 (PKH), BFH/NV 2016, 940; v. 14.4.2015  – IX R 5/14, BStBl.  II  2015, 986; v. 1.7.2014 – IX R 31/13, BStBl. II 2014, 925; v. 29.5.2013 – X B 233/12, BFH/NV 2013, 1380; v. 20.4.2011 – I R 80/10, BFH/NV 2011, 1654; v. 14.01.2010 – X B 64/09, BFH/NV 2010,

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auf hin, dass die verfassungsrechtliche Prüfung für den jeweils im Streitfall maßgebenden Zeitraum gelte, folglich bei einer anhaltenden Niedrigzinsphase in Zukunft auch anders ausfallen könne. Diesen Wendepunkt hält der IX. Senat des BFH nun für gekommen. In einer Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung eines Zinsbescheids erhebt er „jedenfalls ab dem Veranlagungszeitraum 2015 schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel“ an der Zinsregelung. In Einklang mit den kritischen Stimmen in der Literatur bemängelt das Gericht die realitätsferne und daher gleichheitswidrige sowie unverhältnismäßig hohe Bemessung der Zinsen. Es sei „nahezu ausgeschlossen“, den im Zinssatz typisierten Vorteil zu erreichen. Der Zweck der Zinsregelung, „potentielle Liquiditäts- oder Zinsvorteile abzuschöpfen“, greife „ins Leere“65. Das Bundesverfassungsgericht muss darüber entscheiden, ob der geltende Zinssatz das Grundgesetz verletzt66. 2. Verfahrenszins – kein treffender Vergleich mit anderen Zinssätzen Der Befund, die in § 238 AO geregelte Zinshöhe sei eine verfassungswidrige Typisierung, wird durch die erhebliche Differenz des Verfahrenszinses zu der Zinshöhe am Markt begründet67. Der in § 238 AO geregelte Verfahrenszins ist jedoch ein Zins eigener Art, der nicht mit dem Leitzins, dem Basiszinssatz des BGB, mit Darlehensoder Dispositionszinsen und auch nicht mit Guthabenzinsen für Tagesgeld, Festgeld, ein Sparbuch oder ein Girokonto zu vergleichen ist. Im Steuerverfahren leihen sich keine Banken Geld von der EZB, wird kein Kredit gewählt, kein Konto überzogen oder ein Guthaben auf eine bestimmte Weise angelegt. Die Zinshöhe rechtfertigt sich nicht aus einem Vertragsschluss, sondern wird durch das Gesetz bestimmt. Anders als die Zinsen am Markt kennt das Steuerrecht keinen Zinseszins mit seinen erheblichen Effekten68, keinen an der Zahlungsfähigkeit orientierten und auch keinen mit der Dauer des Darlehens steigenden Zins. Der Steuergesetzgeber muss sich bei der Regelung des Verfahrenszinses nicht an den Marktzinsen unmittelbar orientieren69. 1233; VGH München v. 10.8.2017  – 4 ZB 17.279; NVwZ 2017, 1638; OVG Münster v. 10.7.2014 – 14 A 1196/13; FG Köln v. 27.4.2017 – 1 K 3648/14, EFG 2017, 1493; FG Münster v. 17.8.2017 – 10 K 2472/16, EFG 2017, 1638; FG Düsseldorf v. 10.3.2016 – 16 K 2976/14 AO, EFG 2016, 1053; vgl. BFH v. 15.4.2015 – VIII R 30/13; FG Köln v. 29.1.2018 – 15 V 3279/17, StEd 2018, 168; FG München v. 30.6.2016 – 11 K 406/15; FG Baden-Württem­berg v. 18.4.2016 – 6 K 3082/15, EFG 2017, 1408. 65 BFH v. 25.4.2018 – IX B 21/18, Rz. 19 ff., Zitate: Leitsatz, 23, 34. 66 BVerfG 1 BvR 2237/141, BvR 2422/17. 67 Siehe die Nachweise in Fn. 63, Fn. 64 und Fn. 65. 68 E. Becker, Die Reichsabgabenordnung, 6. Aufl. 1928, S. 250. 69 BFH v. 9.11.2017 – III R 10/16, DStR 2018, 465 (470): „Dabei wird schon nicht deutlich, welcher einzelne variable Zinssatz geeignet wäre, sämtliche individuellen Kapitalverwendungs- und Finanzierungsentscheidungen der Steuerpflichtigen abzudecken. So könnte bei einer Anbindung des gesetzlichen Zinssatzes an einen der Leitzinssätze der Europäischen Zentralbank eingewandt werden, dass die Finanzierungszinsen diesem in ihrer Anpassung zögerlicher folgen als die Anlagezinsen. Gleiches gilt für den Basiszinssatz des §  247 BGB, der ebenfalls von der jüngsten Hauptrefinanzierungsoperation der Europäischen Zentralbank vor dem ersten Kalendertag des betreffenden Halbjahres abhängig ist. Zudem wäre eine Mehrzahl von Zinssätzen ungeeignet, den vom Gesetzgeber legitimer-

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Allein der Vergleich mit diesen Zinsen vermag einen Verfassungsverstoß daher nicht zu begründen. Dies bedeutet aber nicht, dass die erheblichen Differenzen zwischen der Höhe der steuerlichen Zinsen und der Marktzinsen verfassungsrechtlich unbedeutend wären. Die Höhe des festen steuerlichen Zinssatzes, insbesondere aber die Zinsdauer ist von Verfassung wegen anzupassen. 3. Gründe für den steuerlichen Zins – die maßgebliche Länge des Zinslaufs Die steuerlichen Zinsregelungen sollen  – erstens  – Liquiditätsvorteile ausgleichen, die aufgrund einer steuerlichen Über- oder Unterzahlung abstrakt bestehen70. Die Regelung eines Zinses pro Monat weist zudem – zweitens – darauf, dass kontinuierlich ein Anreiz gesetzt werden soll, das Steuerverfahren zügig abzuschließen, steuerliche Zahlungen nicht Monat für Monat zu verzögern, sondern zeitnah zu tätigen. Beim Erlass der Vorgängerregelung der Reichsabgabenordnung stand diese gegenwärtig vernachlässigte edukatorische Perspektive, durch Zinsen steuerliche Zahlungen zu beschleunigen, klar vor Augen71. Die Verfahrenszinsen unterscheiden sich aber auch in dieser Begründung von Säumniszuschlägen, die nicht lediglich einen Anreiz bieten, sondern „ein Druckmittel besonderer Art“ sind, um den Steuerpflichtigen zur pünktlichen Steuerzahlung anzuhalten72. In ihrer edukatorischen Funktion setzen die Zinsen – drittens – der Finanzverwaltung und den Steuerpflichtigen einen Impuls, im Steuerverfahren zu kooperieren, um dieses gegenwartsnah zum Abschluss zu bringen. Der Zins erinnert an das Verfahren, setzt einen Beschleunigungsimpuls, selbst wenn keine Prüfungen erfolgen oder Bescheide ergehen. Die ausdrückliche Regelung eines Monatszinses deutet  – viertens  – auf eine Dauer des Verfahrens und Zinslaufs. Diese bewusst offene zeitliche Regelperspektive wird jedenfalls dann überschritten, wenn der Verfahrenszins über Jahre hinweg zu entrichten ist. Der Zinslauf beginnt für Steuernachforderungen und Steuererstattungen gem. § 233a Abs. 2 Satz 1 AO 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, und endet mit dem Ablauf des Tages, an dem die Steuerfestsetzung wirksam wird. Die 15 Monate sollen die Regeldauer des Veranlagungsverfahrens typisieren73. Angesichts des digitalisierten Besteuerungsverfahrens ist von Verfassung wegen zu prüfen, ob diese Typisierung noch realitätsgerecht ist und sachgerecht bleibt. Bis zum Ende des Jahres 1999 war der Zinslauf gesetzlich auf vier Jahre be-

weise verfolgten  – und vom BVerfG anerkannten  – Vereinfachungszweck zu erreichen, nämlich gerade nicht nach den individuellen Liquiditätsvor- und -nachteilen zu fragen“. 70 Deutlich BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2539/07, NVwZ 2010, 902 (903 f.); siehe bereits unter 1. und die Nachweise in Fn. 60. 71 E. Becker (Fn. 68), S. 248. 72 Bundesregierung (Fn. 60), 3 f. 73 Vgl. Entwurf eines Steuerreformgesetzes 1990, 19.4.1988, BT-Drucks. 11/2157, 194; Bundesregierung (Fn. 60).

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schränkt74. Diese Beschränkung wurde aufgehoben. Aufgrund der zeitlichen Grenze konnten Steuerpflichtige – so die Gesetzesbegründung – die relative Zinsbelastung durch Verzögerungen im Besteuerungsverfahren mindern. Zudem wurde die zeitliche Beschränkung aufgrund der bestehenden Liquiditätsvorteile auch in Erstattungsfällen nicht als sachgerecht empfunden. Ohnehin könnten Steuerpflichtige die Zinslast in der Regel durch Steuerzahlungen verhindern oder reduzieren75. Der seitdem zeitlich nicht mehr beschränkte Zinslauf ist aber derzeit der entscheidende Mangel der steuerlichen Zinsregelungen. 4. Verfassungsverstoß durch zinsbedingte Friktionen im Verfahren Die steuerlichen Zinsen müssen in den vier Gründen76 und in ihren verfahrensrechtlichen Folgen sachgerecht sein, realitätsgerecht typisieren. Zwar ist eine bestimmte Zinshöhe durch einen Vergleich mit den Zinsen am Markt nicht vorgegeben77. Doch muss der steuerliche Zins – erstens – den Liquiditätsvorteil sachgerecht und begründbar fassen. Angesichts der andauernden Niedrigzinsphase ist fraglich, ob der Gesetzgeber die Zinshöhe von 0,5 Prozent pro Monat gegenwärtig hinreichend zu begründen vermag. Finanzgerichte weisen – wie Stimmen in der Literatur78 und entgegen den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts79 – darauf, dass die technischen Möglichkeiten eine dynamische Zinsregelung erlauben. Doch wäre die Steuerverwaltung in der Anwendung solcher Regelungen auf Rechner angewiesen. Eigene Überprüfungen der Zinsberechnungen wären nicht oder kaum möglich. Das Beherrschungsdefizit der Verwaltung wäre ohne hinreichenden Grund erweitert. Die Digitalisierung des Besteuerungsverfahrens fordert, prüfbare Typisierungen zu wählen. Finanzverwaltung und Finanzgerichte dürfen nicht durch Rechner in ihrem Prüfauftrag entmachtet werden80. Auf Grund der erheblichen Differenzen des Verfahrenszinses zu Marktzinsen und der fehlenden zeitlichen Beschränkung des Zinslaufs sind – und dies ist die zentrale Erwägung – verfassungswidrige Friktionen im Steuerverfahren entstanden. Schon vor gut 30 Jahren wurde betont, dass eine Zinslast nur schwer zu rechtfertigen ist, wenn die zinsbegründende Verfahrensdauer nicht im Einflussbereich des Steuerpflichtigen liegt81. Die Zinslast kann in diesen Fällen nicht aus der – zweiten – edukatorischen Perspektive begründet werden, auf den zügigen Abschluss des Steuerverfahrens zu drängen. Sie wäre dann vor allem aus dem Liquiditätsvorteil zu rechtfertigen. Dieser

74 § 233a Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2 AO a.F. (gültig bis zum 29.12.1999). 75 Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung von steuerlichen Vorschriften, 27.8.1999, BTDrucks. 14/1514, 48. 76 Siehe unter 3. 77 Siehe unter 2. 78 Siehe die Nachweise in Fn. 63, 64 und 65. 79 BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2539/07, NVwZ 2010, 902 (904). 80 Siehe bereits unter II. und sogleich unter IV. 81 Kruse, FR 1988, 1 (6); Drüen, FR 2014, 218 (218 f.).

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ist aber aufgrund der tiefen Marktzinsen gegenwärtig nicht oder nur kaum zu erreichen. Die Zinseinnahmen im Rahmen der Erhebung der Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer variierten in den letzten Jahren auch zwischen den Steuern erheblich. Sie sind dabei bemerkenswert hoch, lagen zwischen rund 485  Mio. im Jahre 2008 und 1,2  Mrd. Euro im Jahre 201382. Diese beträchtlichen Finanzfolgen waren dem Gesetzgeber bewusst, als er die zeitliche Beschränkung des Zinslaufs für Steuernachforderungen und Steuererstattungen aufhob. Der Gesetzentwurf aus dem Jahre 1999 rechnete mit Mehreinnahmen von 500  Mio.  DM83. Der Bundesregierung lagen bis zum Herbst 2014 nach eigenen Angaben keine Informationen vor, dass Steuerpflichtige oder der Fiskus die erhebliche Diskrepanz des Verfahrenszinses zu den Marktzinsen gezielt für Zinserträge nutzen84. Die Realität scheint aber  – auch ohne ent­ sprechende Angaben – eine andere. Fiskus und Steuerpflichtige können erhebliche finanzielle Vorteile erhalten, je länger das Verfahren dauert. Sie werden so entgegen dem Anliegen des Steuerverfahrens und der Zinsregelungen nicht gedrängt, dieses zügig abzuschließen. Insbesondere die erhebliche Differenz zwischen Steuer- und Marktzins veranlasst Steuerpflichtige, die mit dem angefochtenen Verwaltungsakt verbundenen Abgaben zunächst zu entrichten und keine Aussetzung der Vollziehung zu beantragen, um im Falle des Unterliegens der am Markt nicht oder nur schwer finanzierbaren Zinslast auszuweichen. Steuerpflichtige mit ausreichender Liquidität können unter Ausnutzung aller Fristen die Zahlungen an einer für sie ungünstigen Rechtslage ausrichten, um im Falle des Obsiegens den Zinsvorteil zu erlangen85. Die Finanzverwaltung hat gegen den Willen der Steuerpflichtigen die Vollziehung von Steuerbescheiden ausgesetzt, um Zinsvorteile zu erhalten86. Hinzu treten allein zinsmotivierte freiwillige Steuerzahlungen und Anträge auf Heraufsetzung der Vorauszahlungen87. Der Zins stört so das kooperative Besteuerungsverfahren erheblich, konterkariert insoweit die dritte Begründung der Zinsregelung, droht, zinsbedingte Manipulation im Besteuerungsverfahren zu bewirken. Die steuerlichen Zinsregelungen erschweren in diesen Folgen Rechtsschutzmöglichkeiten und motivieren den Fiskus und die Steuerpflichtigen zu einem Verhalten, das dem zügigen Abschluss des Besteuerungsverfahrens entgegensteht, die Kooperation und das sachgerechte Verfahren gefährdet. Diese zinsbedingten Friktionen im Verfahren sind nicht zu rechtfertigen. Die steuerlichen Zinsregelungen sollen die Liquiditätsvorteile sachgerecht aufnehmen und dem zügigen sowie kooperativen Abschluss des Verfahrens dienen. Alle drei Ziele erreichen sie gegenwärtig nicht. Ganz 82 Das Zinsaufkommen steht der jeweils steuerberechtigten Körperschaft zu (Bundesregierung, 9.10.2014, BT-Drucks. 18/2795, 3 f.). 83 Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung von steuerlichen Vorschriften, 27.8.1999, BTDrucks. 14/1514, 27. 84 Bundesregierung, 9.10.2014, BT-Drucks. 18/2795, 3. 85 Insges. Ortheil, BB 2012, 1513 (1514 ff.); Drüen, FR 2014, 218 (220 f.). 86 Bergmann, DStR 2013, 1651 (1654); Drüen, FR 2014, 218 (221 m.w.N. auch zur Diskussion über deren Zulässigkeit). 87 Drüen, FR 2014, 218 (221 f.).

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im Gegenteil wird ein am Markt nicht oder nur kaum erreichbarer Vorteil typisiert und das Verfahren verlängert, jedenfalls nicht beschleunigt, Manipulationen werden riskiert. Die Zinsregelungen sind in diesen Folgen nicht verhältnismäßig. Der Gesetzgeber muss daher von Verfassung wegen die Regelungen ändern. Ein dynamischer Zins sollte nicht eingeführt werden, weil dessen Anwendung in der Masse der Fälle nur durch Rechner möglich wäre und daher Beherrschungsdefizite bewirken würde. Der Gesetzgeber sollte den starren Zinssatz reduzieren. Doch auch dann bleiben Differenzen zu Marktzinsen, sodass die beschriebenen Friktionen im Steuerverfahren zwar reduziert, aber nicht verhindert würden. Entscheidend ist daher, den Zinslauf zeitlich zu begrenzen, zu diesem ursprünglichen Regelungskonzept zurückzukehren. Auf eine solche Beschränkung weist auch der Wortlaut des §  238 AO, wenn er ausdrücklich einen Zins pro Monat regelt, so in der gebotenen Offenheit auf eine Regeldauer des Verfahrens und Zinslaufes weist, folglich keine über Jahre hinweg andauernde Verzinsung zu rechtfertigen vermag (vierte Erwägung). Der Zinssatz ist zu reduzieren. Insbesondere aber ist der Zinslauf von Verfassung wegen zeitlich zu beschränken.

IV. Einzelfallgerechte Rechtsprechung und Verwaltung 1. Gesetzgebungsähnliche Rechtsprechung und Verwaltung – ­Programmablaufpläne Die Verwaltung hat den Auftrag, die allgemeinen Gesetze für den Einzelfall zu konkretisieren. Im gerichtlichen Konfliktfall wird diese Konkretisierung von der Rechtsprechung geprüft. Diese Verantwortung für die Einzelfallgerechtigkeit ist für beide Gewalten insbesondere im Steuerrecht über die zu lösenden Rechtsfälle hinaus geweitet. Die finanzgerichtlichen Urteile binden, soweit über den Streitgegenstand entschieden wurde, die Parteien des Rechtsstreits88. In Anerkennung dieses Ausgangspunkts wirken insbesondere höchstrichterliche Entscheidungen weit über den Einzelfall hinaus. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind in Tenor und den tragenden Gründen verbindlich, werden von der Rechtspraxis wie Gesetze befolgt89. Die Urteile des BFH haben eine vergleichbare „grundsätzliche Bedeutung“90, geben regelmäßig die Rechtsdeutung vor, die die Praxis prägt. In dieser Wirkung für zahlreiche Fälle bleibt der Rechtsprechung ihr Auftrag bewusst, die Gleichheit vor dem Gesetz zu gewährleisten und Gerechtigkeit im zu entscheidenden Einzelfall zu stiften91. Auch der Auftrag der vollziehenden Gewalt wird im Steuerrecht um über den Einzelfall hinausgehende Konkretisierungen ergänzt, wenn Verwaltungsvorschriften und 88 § 110 Abs. 1 FGO. 89 § 31 BVerfGG; BVerfG v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268 (277). 90 § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. 91 Spindler (Fn. 2); siehe bereits unter I.

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Erlasse ergehen. Vor der einzelfallbezogenen und auch verallgemeinernden Rechtsanwendung durch Verwaltungsvorschriften und richterliche Leitsätze verlangt ein digitalisiertes Besteuerungsverfahren, die Steuergesetze in klarer, den steuerbeauftragten Programmierer ansprechender Sprache zu formulieren, sodass geltende Gesetze in Programmablaufpläne ausgedrückt und sodann durch Rechner angewandt werden können92. Diese Pläne und die Programme müssen stets auf das Gesetz zurückgeführt werden können. Sie sind aber – wenn sie gelingen – nur durch Computer lesbar. Es entsteht eine nachzeichnende und verselbstständigte Art von Gesetzgebung für die digitale Anwendung des Rechts. Nur Gesetze, die für den Rechner treffend übersetzt und sodann durch diesen sachgerecht umgesetzt werden, wirken im digitalisierten Besteuerungsverfahren. Das Steuerrecht steht nicht unter Computervorbehalt, sondern bedient sich der Rechner als Interpretationshelfer. Der gegenwärtigen Praxis folgend wäre diese anspruchsvolle Übersetzungsleistung Aufgabe der Exekutive. Sie würde verallgemeinernde Maßstäbe für die digitale Anwendung des Steuerrechts bilden. Diese Übersetzung des Gesetzes wird im digitalisierten Besteuerungsverfahren zu der maßgeblichen Vorgabe, die durch die Rechner angewandt wird. Bei Übersetzungsfehlern oder Ungenauigkeiten in der Umsetzung, auch bei Interessenteninterventionen in die Programmgestaltung, wird das vom Bundestag beschlossene und bekanntgegebene Steuergesetz aber missachtet. Erlässt der Gesetzgeber keine einfachen, durch Steuerpflichtige und Rechner gleichheitsgerecht anwendbaren Regeln, entmachtet er sich selbst. Das geltende Steuerrecht überfordert aufgrund seiner Komplexität93, in der es nicht für die digitale Anwendung geschaffen wurde, die zuständigen Stellen in diesem Übersetzungsauftrag. Der Entschluss, das Besteuerungsverfahren zu modernisieren, ohne das materielle Steuerrecht zuvor entsprechend anzupassen, war auch im bisherigen Stand der Digitalisierung der entscheidende Fehler94. 2. Beherrschungsdefizite im digitalisierten Besteuerungsverfahren Die Rechtsordnung eröffnet der Verwaltung und der Rechtsprechung bewusst eigene Entscheidungsräume, um die Besonderheit und Singularität des Einzelfalls aufzunehmen, Gleichheit vor dem Gesetz für alle zu bewirken. Im Vollzug sind unbestimmte Rechtsbegriffe zu konkretisieren, zuweilen auch Ermessensentscheidungen zu treffen. Der Große Senat des BFH hat jüngst diesen Ausgangspunkt in der Bin92 Ein Beispiel im geltenden System (hierzu unter 3.) bietet das BMF-Schreiben vom 10.11.2017, BStBl. I 2017, 1466, mit den folgenden Anhängen: Programmablaufplan für die maschinelle Berechnung der vom Arbeitslohn einzubehaltenden Lohnsteuer, des Solidaritätszuschlags und der Maßstabsteuer für die Kirchenlohnsteuer für 2018 und Programmablaufplan für die Erstellung von Lohnsteuertabellen für 2018 zur manuellen Berechnung der Lohnsteuer (einschließlich der Berechnung des Solidaritätszuschlags und der Bemessungsgrundlage für die Kirchenlohnsteuer). 93 Siehe die Nachweise in Fn. 9. 94 G. Kirchhof (Fn. 8); Ahrendt, NJW 2017, 537 (539), spricht in etwas anderem Kontext von einer „Entkoppelung von materiellem Steuerrecht und Besteuerungsverfahren“; siehe bereits unter II.

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dung an die Gleichheit vor dem Steuergesetz betont. „Einen im Belieben der Finanzverwaltung stehenden, freien Verzicht auf Steuerforderungen gibt es nicht. Auch im Wege von Verwaltungserlassen dürfen die Finanzbehörden Ausnahmen von der gesetzlich vorgeschriebenen Besteuerung nicht zulassen, denn auch der Verzicht auf den Steuereingriff bedarf einer gesetzlichen Grundlage.“ In „einer Ermessensausübung anzustellende Zweckmäßigkeitserwägungen spielen daher bei der Steuerfestsetzung und -erhebung grundsätzlich keine Rolle“95. Die Rechtsprechung wird im Konfliktfall beauftragt, die Rechtsdeutung und in bestimmten Grenzen auch die insofern begrenzten steuerlichen Ermessensentscheidungen der Verwaltung zu prüfen. Diese zentralen, Gesetzlichkeit fordernden Aufträge der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt verändern sich durch eine Digitalisierung des Besteuerungsverfahrens erheblich. Beide Gewalten laufen Gefahr, durch die Gesetzesanwendung durch Rechner Beherrschungsdefizite zu erleiden, entmachtet zu werden, ihren besonderen Auftrag für den Einzelfall strukturell zu vernachlässigen. 3. Strukturelle Vernachlässigung des Einzelfalls Bereits die in Kraft gesetzte Modernisierung des Besteuerungsverfahrens hat die Arbeit der Finanzverwaltung grundlegend verändert. Die Fachkräfte der Finanzverwaltung widmen sich in der digitalisierten Besteuerung nur noch Fällen, die der Steuerpflichtige markiert, der Zufall oder ein Risikomanagementsystem auswählen. Der Steuerpflichtige kann die Prüfung anstoßen, indem er entsprechende Angaben in einem dafür vorgesehenen Datenfeld macht. Im Risikomanagementsystem nutzen Rechner Parameter und Erfahrungswissen, um unschlüssige oder wahrscheinlich fehlerhafte Fälle zu markieren. Eine hiervon zu unterscheidende ‚digitale Subsumtion‘ des Einkommensteuergesetzes findet bislang nicht statt. Wird ein Fall nicht zur Prüfung ausgesondert, mündet das Verfahren in einem „ausschließlich automationsgestützt erlassenen Steuerbescheid“96. Der Bescheid ergeht auf Grundlage der eingegebenen Steuerdaten. Das System setzt auf die korrekte Dateneingabe durch die Steuerbetroffenen, obwohl diese hierbei nicht selten überfordert werden, in der Eingabe eine entscheidende Fehlerquelle liegt. Letztlich wird kein „automatischer Vollzug“, sondern eine rechnergeleitete Selbstveranlagung etabliert97. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis wird hinsichtlich des grundsätzlich einzelfallbezogenen Prüfauftrags der Verwaltung zum Problem, wenn es allein oder vor allem am Steuerpflichtigen liegt, auf die Besonderheiten des Einzelfalls für dessen sachgerechte Lösung hinzuweisen. Wenn Steuerpflichtige den Hinweis unterlassen, weil sie, ihre Steuerberater oder die Rechner die Komplexität oder Einzigartigkeit des Falles nicht erfassen, droht auch die Verwaltung auf den Sonderfall nicht aufmerksam zu 95 BFH GrS v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393. 96 § 150 Abs. 7 Satz 1, § 155 Abs. 4 Satz 3 AO; Zitat: Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 3.2.2016, BT-Drs. 18/7457, 48  f.; Trossen, AO-StB 2017, 309; zuvor E.  Schmidt, DStJG 31 (2008), S.  37 (38  ff.); Seer, DStJG 31 (2008), S.  7 (19 ff.). 97 G. Kirchhof (Fn. 8), S. 47 (66 ff.), auch zum notwendigen Schritt zur vollständig vorausgefüllten Steuererklärung.

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werden. Umgekehrt läuft das Risikomanagementsystem Gefahr, individuelle, originelle und innovative Fälle auszusortieren und so unter einen steuerlichen Verdacht zu stellen. Die Gleichheit im Einzelfall durch Konkretisierungsentscheidungen der Verwaltung ist in der digitalisierten Besteuerung nicht für alle Fälle gewährleistet. Die beschlossene Modernisierung des Besteuerungsverfahrens sucht, dem bestehenden „Vollzugsnotstand“98 im Steuerrecht entgegenzuwirken. Die Rechner erfassen jeden Steuerfall mit gleicher Intensität. Diese – man ist geneigt zu sagen – „Gleichmäßigkeit im Vollzugsdefizit“ ist aber nicht die rechtsstaatliche Gleichheit vor dem zu vollziehenden Gesetz. Eine Annäherung hin zu einer verfassungskonformen Besteuerung ist zu begrüßen. Der grundgesetzliche Auftrag der Gleichheit im Belastungserfolg darf aber nicht in einer Belastung nach Wahrscheinlichkeit und Vermutung aufgegeben oder relativiert werden99. Steuerpflichtige, die ihren Fall durch die digitalisierte Prüfung nicht sachgerecht gelöst sehen, werden Rechtsschutz bei den Gerichten suchen. Doch kann eine strukturelle Vernachlässigung der Einzelfälle durch die Verwaltung nicht durch eine nachträgliche richterliche Kontrolle vollständig aufgefangen werden. Die automatisierte Besteuerung ist kein Vollzug im grundgesetzlichen Sinne, der von Richtern einfach kontrolliert werden kann. Computer rechnen und treffen – anders als die Finanzbeamten  – keine bewussten und selten rechtlich nachprüfbare Vollzugsentscheidungen100. Die Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen und die Ausübung des Ermessens sind kaum, jedenfalls nicht in allen Fällen berechenbar101. Wer hier auf die bemerkenswerten Fortschritte der Computertechnik und auf eine technische  – sog. künstliche  – „Intelligenz“ setzt, nimmt weitere rechtsstaatswidrige Beherrschungsdefizite in Kauf. Eine besondere persönliche Betroffenheit in der Singularität des Einzelfalles ist im Voraus nicht regelbar und deshalb auch nicht programmierbar. Werden Computer für komplizierte Berechnungen genutzt, sind diese durch Beamte und Richter oft nur unter Zuhilfenahme von Rechnern nachvollziehbar. Dann wird die Finanzverwaltung strukturell entmachtet. Der Steuerpflichtige erklärt dem Computer den Steuerfall, befolgt ein Programm, spricht nicht mit Beamten, die seinen Betrieb kennen und diesen als Quelle für Gewinn und Steuerertrag begleiten und erhalten wollen. Die rechtsprechende Gewalt kann ihren Auftrag, über das streitige Recht mit dem Steuerpflichtigen zu sprechen, ihm rechtliches Gehör zu gewähren, den Sach- und Rechtsvortrag zu würdigen, kaum mehr erfüllen, wenn sie nur mit Hilfe des Computers die Steuerberechnung nachvollziehen kann. Die Gleichheit im Einzelfall, die auf Konkretisierungsentscheidungen der Verwaltung und deren richterliche Prüfung setzt, droht strukturell vernachlässigt zu werden.

98 Deutlich Mellinghoff (Fn. 8), S. 1 (4); Isensee in Lewinski, Resilienz des Rechts, 2016, S. 33 (40). 99 G. Kirchhof (Fn. 8), S. 99 (109). 100 G. Kirchhof (Fn. 8). 101 G. Kirchhof (Fn. 8); siehe zum Ermessen: Helbich, DStR 2017, 574 ff.; Beirat Verwaltungsverfahrensrecht beim Bundesministerium des Innern, NVwZ 2015, 1114 (1115 f.).

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4. Billigkeitserlasse der Verwaltung, Einzelfallprüfung der Rechtsprechung Diese drohende strukturelle Vernachlässigung der Prüfung des Einzelfalls durch die Digitalisierung der Steuererhebung könnte die Fenster, die das allgemeine Gesetz für die Individualität und Singularität des Einzelfalls öffnet, erweitern. Gem. § 227 AO kann die Verwaltung Steuern niedriger festsetzen, wenn die Erhebung der Steuern nach Lage des einzelnen Falls unbillig ist. Vergleichbare Billigkeitsregelungen gelten für die abweichende Festsetzung von Steuern102, für den Erlass von Stundungszinsen103, von Gebühren104 oder auch für die rückwirkende Verlängerung von Fristen105. Der Gesetzgeber typisiert den Regelfall. Atypische Sonderfälle werden daher oft durch die bloße Anwendung des Gesetzeswortlauts nicht sachgerecht gelöst. Für diese Sonderfälle, die singulär sein oder in der Gruppe auftreten können106, hat der Rechtsstaat das Billigkeitskorrektiv entwickelt. Der Große Senat des BFH hat den jeweiligen Auftrag von Gesetz und Billigkeitskorrektiv sowie die Grenzen von Billigkeitsregelungen jüngst auf den Punkt gebracht: „Billigkeitsmaßnahmen dienen der Anpassung des steuerrechtlichen Ergebnisses an die Besonderheiten des Einzelfalls, um Rechtsfolgen auszugleichen, die das Ziel der typisierenden gesetzlichen Vorschrift verfehlen und deshalb ungerecht erscheinen. Sie gleichen Härten im Einzelfall aus, die der steuerrechtlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers nicht entsprechen und damit zu einem vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis führen. Gründe außerhalb des Steuerrechts wie z.B. wirtschafts-, arbeits-, sozial- oder kulturpolitische Gründe können einen Billigkeitsentscheid somit nicht rechtfertigen“107. Dabei widersprechen sich das allgemeine Gesetz und die Billigkeitskorrektur nicht, bedingen und ermöglichen sich vielmehr. Die allgemeine Norm verletzt in ihrer Ausrichtung auf den Regelfall die Gleichheit des Einzelfalles vor dem Gesetz nicht, wenn die Allgemeinheit den Regelfall typisiert, für den Sonderfall aber eine Ausnahme in einer Billigkeitsregelung vorgesehen ist108. Es entspricht guter Gesetzgebung, die Einzelsteuer in allgemeinen Tatbeständen, die den typischen Fall erfassen, zu regeln, die Ausnahmeregelung aber in der Abgabenordnung vorzusehen. So wird das Einzelsteuergesetz vom Ausnahmetatbestand entlastet, die Billigkeit zu einem allgemeinen Korrektiv, das ersichtlich auch über die einzelnen Steuern hinaus wirkt. Die allgemeinen Billigkeitstatbestände (§§ 227, 163 AO) greifen, wenn eine Steuerlast dem Zweck des Ge102 § 163 AO. 103 § 234 Abs. 2 AO. 104 § 89 Abs. 7 AO, § 178a Abs. 4 AO. 105 § 109 Abs. 1 Satz 2 AO. Hinzu tritt aus Billigkeitsgründen der Verzicht auf die Übermittlung von Erklärungen in der vorgeschriebenen Form (§ 181 Abs. 2a und § 150 Abs. 8 AO, wobei letzter auf die entspr. Regelungen in den Steuergesetzen verweist), die einstweilige Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung (§ 258 AO), der Verzicht auf die Überführung von Sachen in das Eigentum des Bundes (§ 216 Abs. 5 AO), in Fällen des Mitgewahrsams (§ 287 Abs. 5 AO) sowie bei der Aussetzung der Verwertung (§ 297 AO) und Vollziehung (§ 361 Abs. 2 AO). 106 BFH GrS v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393. 107 BFH GrS v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393. 108 Deutlich BFH v. 20.9.2012 – IV R 36/10, BStBl. II 2013, 498; Loose in Tipke/Kruse, § 227 AO Rz. 3 f., 18 f.; v. Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rz. 30 ff.

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setzes nicht entspricht (sachliche Unbilligkeit) oder die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichtet (persönliche Unbilligkeit)109. Die Möglichkeit zu Billigkeitserlassen steht der Verwaltung, nicht der Rechtsprechung zu. Billigkeitsentscheidungen sind zwar nur eingeschränkt, aber in diesen Grenzen richterlich prüfbar110. Ein Anspruch auf ein Billigkeitskorrektiv besteht nur in seltenen Fällen111. Im Übrigen muss die Rechtsprechung die Besonderheiten des Einzelfalles bei der Rechtsanwendung aufnehmen, äußerstenfalls in einer Vorlage zum Bundesverfassungsgericht auf einen Gesetzgebungsfehler hinweisen. Die Billigkeit soll Sonderfällen gerecht werden, ist aber kein Instrument, die Allgemeinheit der gesetzlichen Tatbestände zu korrigieren. Eine Regelung, die – in den klaren Worten des Großen Senats des BFH – „der Gesetzgeber abstrakt hätte treffen können“, kann „nicht Gegenstand von Billigkeitsmaßnahmen sein“112.

V. Justiziable Maßstäbe und Institutionen – der vielschichtige Auftrag der Rechtsprechung Allgemeine Gesetze ermöglichen eine Gleichheit vor dem Gesetz und stiften Gerechtigkeit. Der Gesetzgeber typisiert den Regelfall. Für Ausnahmefälle sieht der Rechtsstaat Billigkeitskorrektive vor. Das Gesetz erreicht im Regelfall, die Billigkeit im Ausnahmefall das gesetzgeberische Ziel. Die digitalisierte Anwendung des Rechts durch Rechner droht jedoch, sich zu stark am Regelfall zu orientieren, den Einzelfall strukturell zu vernachlässigen, sich insoweit der Gesetzgebung zu sehr anzunähern. Rechtsprechung und Verwaltung laufen Gefahr, die Berechnungen ohne die Hilfe von Computern nicht oder kaum mehr nachprüfen zu können. Solche Beherrschungsund Prüfungsdefizite aber untersagt der Rechtsstaat. Der entscheidende Fehler bei der Modernisierung der Besteuerung war, das Steuerverfahren zu digitalisieren, ohne das materielle Steuerrecht zuvor entsprechend anzupassen. Die Digitalisierung verlangt eine Vereinfachung des Steuerrechts, die das System des Steuerrechts offenbart. Das Digitalprogramm braucht ein Steuersystem, das in Algorithmen abgebildet werden kann, die durch Rechner gleichheitsgerecht und prüfbar 109 BFH GrS v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393, der dabei betont, dass die Billigkeitsbegriffe von § 163 und § 227 AO identisch sind; v. 21.8.2012 – IX R 39/10, BFH/NV 2013, 11; BVerfG v. 3.9.2009 – 1 BvR 2539/07, NVwZ 2010, 902 (904 f.). 110 Siehe für die breite Diskussion und diesen Befund BFH GrS v. 28.11.2016  – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393: „Bescheidungsurteile des BFH sind deshalb auf wenige Ausnahmefälle, in denen noch sachlicher Klärungsbedarf gesehen wurde, beschränkt geblieben“. 111 BFH GrS v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393: „Bejaht der BFH dagegen die Unbilligkeit der Besteuerung, kommt er im zweiten Schritt durchweg dazu, eine Ermessensreduktion auf Null anzunehmen, oder er problematisiert die Frage des Ermessens nicht und weist entweder die Revision der Finanzbehörde zurück oder ändert auf die Revision des Klägers die Vorentscheidung und verpflichtet die Finanzbehörde zum Erlass.“ Siehe für die Debatte zudem Loose (Fn. 108) Rz. 24; v. Groll (Fn. 108), Rz. 385 ff.; jeweils m.w.N. 112 BFH GrS v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393; v. 22.10.2014 – II R 4/14, BStBl. II 2015, 237; v. 21.8.2012 – IX R 39/10, BFH/NV 2013, 11; jeweils m.w.N.

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angewandt werden können. Der Ausgangspunkt der Ist-Ertragsbesteuerung ist vermehrt durch Typisierungen und Elemente der Soll-Ertragsbesteuerung zu konkretisieren. Die geltende Mischung dieser Elemente ist zum System zu machen. Das objektive Nettoprinzip steht dem nicht entgegen, erwartet vielmehr, so angewandt zu werden, dass eine Gleichheit im Belastungserfolg gelingt. Der Auftrag von Rechtsprechung und Verwaltung, die allgemeinen Gesetze systematisierend zu konkretisieren und dabei Einzelfälle am Maß individualisierender Gleichheit und Verhältnismäßigkeit zu beurteilen, gerät durch die Modernisierung des Besteuerungsverfahrens in Gefahr. Die digitalisierte Anwendung des Steuerrechts vernachlässigt die jenseits von Erfahrung und herkömmlichen Wissen liegenden Einzelfälle strukturell, wenn diese nicht durch Menschen geprüft werden, neigt zum berechenbaren Recht und scheut kaum automatisierbare Vorgänge. Die Digitalisierung droht das Gesetz des Parlaments durch Algorithmen für Rechner zu ersetzen. Deshalb sind im Gesetz und im digitalisierten Verfahren Möglichkeiten zu schaffen, den atypischen Fall in seiner Besonderheit in das generelle Gesetz hineinzudenken und insoweit Verwaltung und Rechtsprechung mit der Gesetzesanwendung zu beauftragen. Die digitalisierte Anwendung des Steuerrechts steht unter Individualisierungsvorbehalt. Der Bundesfinanzhof löst Rechtskonflikte. Justiziable Rechte fordern Recht in der individuellen Betroffenheit des Einzelnen, konzentrieren sich auf die Besonderheiten des speziellen Falls, münden in der Verantwortung der Richter für den Kläger und Beklagten. Dieser Blick auf den einzelnen Betroffenen entspricht dem Epochen­ wechsel zum individuellen Grundrechtsschutz Ende des 18. Jahrhunderts113, der die grundrechtlichen Gewährleistungen als subjektive Rechte auszugestalten begann114. Diese „Subjektivierung des Rechts“, der „nahezu omnipräsente Grundrechtsschutz im gesamten öffentlichen Recht“115, ist Kern des modernen, von Würde und Freiheit jedes Menschen geprägten Rechts. Doch ruht in dieser Konzentration auf den Einzelnen die Gefahr, die Verantwortlichkeit für das Ganze, für die freiheitliche Rechtsordnung, für die Gemeinwohlausrichtung der Strukturprinzipien zu vernachlässigen. Demgegenüber droht die digitalisierte Besteuerung, den Einzelfall zu übergehen, so die Gleichheit und Freiheit und damit ebenfalls den freiheitlichen Rechtsstaat zu erodieren. Diesen Gefahren beugen allgemeine Gesetze, auch Strukturprinzipien wie die Vertragsfreiheit, die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit oder die synthetische Einkommensteuer vor. In dieser Vorsorge hat die höchstrichterliche Rechtsprechung im Steuerrecht die Balance zwischen Individualrecht des Einzelnen und Gemeinwohl in der Finanzausstattung des Staates zum Kernthema.

113 Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001, insbes. S. 185; Grimm, HStR I, 3. Aufl. 2003, § 1 insbes. Rz. 31 f.; jeweils m.w.N. 114 Jarass, HGR II, 2006, § 38 Rz. 5 ff.; H. H. Klein, HGR I, 2004, § 6 Rz. 7 ff.; Rupp, AöR 101 (1976), 161. 115 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 16 ff.; vgl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 54 ff.

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Gerechtigkeit im Einzelfall

Der Bundesfinanzhof hat in einer 100-jährigen finanzgerichtlichen Rechtsprechungstradition diesen vielschichtigen Auftrag in bemerkenswerter Weise erfüllt. Das Gericht vermittelt zwischen Norm und Wirklichkeit, sichert die Gleichheit des zu entscheidenden Falls vor dem Gesetz und verallgemeinert die Leitgedanken seiner Entscheidungen in Leitsätzen. Die Rechtsprechung hat das viel zu komplizierte Steuerrecht116 in einer bemerkenswerten Rechtsprechungskontinuität systematisierend interpretiert, das Steuersystem dabei in weiten Teilen erst errichtet, so dem gleichmäßigen Steuervollzug und der Steuergerechtigkeit nachhaltig gedient. Die Kunst des Bundesfinanzhofs, im allgemeinen Gesetz auch den bei der Gesetzgebung und im Blick auf den Einzelfall nicht bewussten Rechtsfall zu erkennen, das Gesetz mit diesem Wissen verallgemeinernd fortzubilden, damit dem Steuerpflichtigen sein Recht zu geben und in diesem Recht das Fundament und die Quelle des Finanzstaats zu erneuern, ist Grund zu feiern!

116 Siehe die Nachweise in Fn. 9.

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … L.

Missbrauchsabwehr Von Susanne Sieker

Inhaltsübersicht I. Anlass und Struktur der steuerrechtlichen Missbrauchsabwehr II. Missbrauchsabwehr durch § 42 AO 1. Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts 2. Unangemessene Gestaltung und materielles Steuergesetz 3. Steuervermeidungszweck der Gestaltung

4. Umgehungsabsicht, außersteuerliche Gründe, Zielgerichtetheit der Gestaltung 5. Gesamtplanbetrachtung 6. Rechtsfolge des § 42 AO III. Abwehr von Steuerumgehungen durch andere Mittel

I. Anlass und Struktur der steuerrechtlichen Missbrauchsabwehr Seit dem Inkrafttreten der RAO1 versucht der Gesetzgeber, der Umgehung von Steuergesetzen durch eine Generalklausel zu begegnen, die ihrem Wortlaut nach einen Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten voraussetzt2. Anlass war die Mi­ tropa-Entscheidung des Reichsfinanzhofs, in der dieser für eine Aktiengesellschaft, die „nur der Form nach noch bestanden“ hatte, die aber nach mehrfachen Satzungsänderungen und der Vereinigung aller Anteile in einer Hand wieder ein Unternehmen aufgenommen hatte, den an die Errichtung einer Aktiengesellschaft geknüpften Steuertatbestand mit der Begründung verneint hatte, dass die Aktiengesellschaft durch die Anteilsübertragung und die Änderung des Unternehmensgegenstandes in ihrem Bestand nicht verändert worden sei3. Die Entscheidung wurde mit dem Hinweis verbunden, dass das Gesetz keine Vorschriften enthalte, „daß Umgehungsgeschäfte so besteuert werden sollen, wie das Geschäft, dessen Besteuerung die Beteiligten ersparen wollten“4. Auf diesen Hinweis hat der Gesetzgeber reagiert und mit § 5 RAO eine Vorschrift geschaffen, die einer Rechtsprechung entgegenwirken sollte, die den 1 RGBl 1919 S. 1993. 2 Zur historischen Entwicklung des heutigen § 42 AO: P. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rz. 1 ff. 3 RFH v. 16.7.1919 – II A 142/19, RFHE 1, 126 (127). 4 RFH (Fn. 3), RFHE 1, 126 (127).

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auf seine steuerlichen Folgen zu beurteilenden Sachverhalt „formalistisch“5 erfasst6. Auch die heutige Fassung des § 42 AO, deren primärer Zweck darin besteht, Gesetzesumgehungen zu verhindern7, knüpft wie ihre historische Vorgängerin an die Prämisse an, die steuerrechtliche Rechtsanwendung sei an die (zivil)rechtliche Rechtslage gebunden; die angenommene Bindungswirkung wird aber suspendiert, wenn die (zivil)rechtliche Gestaltung als rechtsmissbräuchlich zu beurteilen ist8. Die Geschichte der steuerrechtlichen Generalklausel ist geprägt durch das Misstrauen des Gesetzgebers gegenüber einer aus seiner Sicht zu restriktiven Rechtsprechung9. Es liegt aber in der Natur einer Generalklausel, dass diese durch die Rechtsprechung auszufüllen ist und dass sich deren Effektivität am jeweiligen Einzelfall bewähren muss10. Wie der Bundesfinanzhof die Generalklausel des § 42 AO – seit der Analyse von Ludwig Schmidt in der Festschrift zum 75-jährigen Jubiläum11  – ausgefüllt hat und welche Bedeutung der missbräuchlichen Gestaltung bei der Anwendung der Generalklausel tatsächlich zukommt, soll die folgende Analyse zeigen. Der Begriff „Missbrauchsabwehr“ ist an der beschriebenen Normstruktur des § 42 AO orientiert, die den Rechtsmissbrauch zum Tatbestandsmerkmal der Steuerumgehung erhebt. Die Reichweite der Generalklausel wird damit auf den ersten Blick relativiert: Es geht nicht allgemein darum, die Umgehung von Steuergesetzen abzuwehren, sondern nur darum, „missbräuchliche Steuerumgehungen“12 zu unterbinden. § 42 5 Entwurf einer RAO, Nationalversammlung 1919, Drucks. Nr.  759, 95; E. Becker, RAO, 7. Aufl. 1930, § 5 Rz. 3b. 6 Gegen eine Auslegung des Reichstempelgesetzes, die auf die „willkürlich gewählte äußere rechtsgeschäftliche Form“ abstellt, bereits das Reichsgericht v. 9.1.1914, RGZ 84, 17 (21 f.). 7 BFH v. 19.12.2001  – X R 41/99, BFH/NV 2002, 1286: „Zentrale Aussage des §  42 AO“; Drüen, StuW 2008, 154 (159); P. Fischer (Fn. 2), § 42 AO Rz. 61; L. Schmidt in 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 337 (339); Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, 18 ff. 8 Diese Sichtweise bestätigend BFH v. 31.7.1984 – IX R 3/79, BStBl. II 1985, 33 zur Anwendung des § 6 StAnpG auf ein Darlehen als Teil eines Ring- und Kettengeschäfts, für das die Vergünstigung des § 17 BerlinFG begehrt wurde: „Für die Besteuerung ist die bürgerlich-­ rechtliche Gestaltung maßgebend, wenn sie ernsthaft gewollt und tatsächlich durchgeführt wird“; v. 7.7.1998 – VIII R 10/96, BStBl. II 1999, 729 (730): Der Steuerpflichtige könne sich auf die von ihm gewählte zivilrechtliche Gestaltung nicht berufen, wenn diese in Anbetracht der wirtschaftlichen Zielsetzung als unangemessen zu beurteilen sei; v. 19.3.2004 – III R 25/02, BStBl.  II 2004, 787 (793 m.w.N.): §§  41, 42 AO „enthalten bindende Vorgaben  …, unter welchen Voraussetzungen zivil- und steuerrechtlich grundsätzlich wirksame Gestaltungen für die Besteuerung ausnahmsweise negiert werden dürfen“; v. 9.2.2006 – IV R 15/04, BFH/NV 2006, 1267: Das zivilrechtlich wirksame Geschäft sei grundsätzlich auch für die Besteuerung maßgeblich. 9 Dazu ausführlich P. Fischer (Fn. 2), § 42 AO Rz. 1 ff. m.w.N.; Stenographische Berichte der Sitzungen des Deutschen Bundestages Nr.  16/63, 6209; Drüen in Tipke/Kruse, Vor §  42 AO Rz. 1; § 42 AO Rz. 1 m.w.N.; Wendt, DStJG 33 (2010), S. 117 (120 ff.). 10 Drüen (Fn. 9), Vor § 42 AO Rz. 1, 15, § 42 AO Rz. 17; Hey, BB 2009, 1044 (1046); Schön, DStJG 33 (2010), 29 (57). 11 L. Schmidt (Fn. 7), S. 337 ff. 12 Drüen (Fn. 9), § 42 AO Rz. 12; Ratschow in Klein, 13. Aufl. 2016, § 42 AO Rz. 12 f.; ebenso Heuermann, StuW 2004, 124 (127); Schön, DStJG 33 (2010), S. 29 (56 ff.).

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AO erfasst bei diesem Verständnis nur die durch Missbrauch qualifizierte Gesetzesumgehung13. Besinnt man sich aber auf die Entstehungsgeschichte des § 5 RAO, ist das auf die (zivil)rechtliche Gestaltung bezogene Missbrauchsurteil nur die Folge der vorrangig zu treffenden Entscheidung über die Anwendung des Steuergesetzes, auf dessen Umgehung die gewählte Gestaltung abzielt14. Das Missbrauchsurteil hebt dann die für maßgeblich gehaltene Bindung des Steuerrechts an die (zivil)rechtliche Gestaltung auf15.

II. Missbrauchsabwehr durch § 42 AO 1. Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts § 42 AO ist, anders als § 5 RAO und § 6 StAnpG, nicht auf die Ausnutzung zivilrechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten begrenzt. Auch steuerrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten können von § 42 AO erfasst sein. So hat der VI.  Senat des BFH den während des Kalenderjahres vollzogenen Übergang vom normalen Lohnsteuerabzug zur Lohnsteuerpauschalierung nach §  40a EStG als Gestaltungsmissbrauch angesehen, weil der Wechsel zur Pauschalierung allein der Steuervermeidung gedient habe und er zudem mit einem Verwaltungsaufwand verbunden war, der dem Vereinfachungszweck des § 40a EStG entgegen stehe16. Der dritte Senat hat die Wahl der getrennten Veranlagung, die mit der Wahl der Steuerklassen III und V für den Lohnsteuerabzug einherging, unter § 42 AO subsumiert, weil die verheirateten Steuerpflichtigen die beiden „sachlich zusammenhängende(n) Wahlrechte erkennbar gegen ihren Zweck“ ausgeübt hätten, um sich dadurch der Erfüllung der Steuerschuld zu entziehen17. 2. Unangemessene Gestaltung und materielles Steuergesetz Aktuelle Entscheidungen des Bundesfinanzhofs zu der bis 2007 geltenden Fassung des §  42 AO beurteilen eine rechtliche Gestaltung als missbräuchlich, wenn diese „zur Erreichung des erstrebten wirtschaftlichen Ziels unangemessen ist, der Steuerminderung dienen soll und durch wirtschaftliche oder sonstige beachtliche außersteuerliche

13 So explizit Crezelius, StuW 1995, 313 (321); Drüen (Fn. 9), § 42 AO Rz. 4; Hey, StuW 2008, 167 (169); Ratschow (Fn. 12), § 42 Rz. 8, 12 f.; Schön, DStJG 33 (2010), 29 (61): „Die steuerliche Sanktionierung der Steuerumgehung beruht … auf dem Vorwurf treuwidrigen Verhaltens des Steuerpflichtigen, …“. 14 Ebenso Wendt, DStJG 33 (2010), S. 117 (128 f.); P. Fischer (Fn. 2), § 42 AO Rz. 72 ff. 15 In diesem Sinne BFH v. 6.3.1996 – II R 38/93, BStBl. II 1996, 377 (378): „§ 42 AO 1977 versagt die Berufung auf die auf der Grundlage der Privatautonomie gewählte zivilrechtliche Form“; der II. Senat hebt auch zu Recht hervor, dass § 42 AO die zivilrechtliche Wirksamkeit der Gestaltung nicht berührt. 16 BFH v. 20.12.1991 – VI R 32/89, BStBl. II 1992, 695 (696). 17 BFH v. 15.7.2004 – III R 66/98, BFH/NV 2005, 186 (187).

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Gründe nicht zu rechtfertigen ist“18. Zudem erfordere ein Gestaltungsmissbrauch „eine zweckgerichtete Handlung zur Umgehung eines Steuergesetzes“19. Mit der seit 2008 geltenden heutigen Fassung des § 42 AO hat sich der BFH bisher nur am Rande befasst20. Es ist daher offen, wie die Rechtsprechung mit der neugefassten Generalklausel umgehen wird. Zentrales Merkmal des § 42 AO ist eine unangemessene Gestaltung. Für die Beur­ teilung der auch nach der aktuellen Fassung des §  42 AO erforderlichen Unange­ messenheit der rechtlichen Gestaltung hat sich der BFH an „verständige(n) Parteien“ orientiert, die eine Gestaltung „in Anbetracht des wirtschaftlichen Sachverhalts, insbesondere des erstrebten wirtschaftlichen Ziels, als unpassend nicht wählen würden“21. „Da es im Bestreben der Rechtsordnung“ liege, „für alle wirtschaftlichen Vorgänge möglichst einfache Rechtsgestaltungen zur Verfügung zu stellen,“ sei „in der Regel der einfachste rechtliche Weg der angemessene“22. Zudem wird auf die Wertungen des Gesetzgebers abgestellt: Eine rechtliche Gestaltung sei „erst dann unangemessen, wenn der Steuerpflichtige die vom Gesetzgeber vorausgesetzte Gestaltung zum Erreichen eines bestimmten wirtschaftlichen Ziels nicht gebraucht, sondern dafür einen ungewöhnlichen Weg wählt, auf dem nach den Wertungen des Gesetzgebers das Ziel nicht erreichbar sein soll“23. Diese kaum justiziablen Formeln24 verstellen indessen den Blick auf das Gesetz, auf das sich – nach der Diktion des § 42 AO – die möglicherweise zu missbilligende Gestaltung bezieht und das den Maßstab für die Beurteilung der rechtlichen Gestaltung liefert25. Auf das an die Gestaltung anknüpfende Gesetz stellt der BFH explizit als methodisch vorrangigen Beurteilungsmaßstab ab, wenn es um das Verhältnis des § 42 AO zu speziellen Missbrauchsnormen geht: § 42 AO enthalte selbst „keinen normativen Maßstab für die Beurteilung der Angemessenheit“, dieser sei vielmehr „dem „umgangenen“ 18 BFH v. 19.1.2017 – IV R 50/14, BStBl. II 2017, 456 Rz. 96 m.w.N. insoweit gleichlautender Entscheidungen des I. und des III. Senats des BFH; v. 8.3.2017 – IX R 5/16, BStBl. II 2017, 930 Rz. 17; ebenso, aber mit leicht veränderter Formulierung v. 17.1.2017 – VIII R 7/13, BStBl. II 2017, 700 Rz. 42. 19 BFH v. 19.1.2017 – IV R 50/14 (Fn. 18); v. 19.3.2004 – III R 25/02 (Fn. 8). 20 Vgl. BFH v. 19.1.2017 – IV R 10/14, BStBl. II 2017, 466 Rz. 45 f., der einen Gestaltungsmissbrauch unter Hinweis auf eine vom Gesetzgeber in Kauf genommene Regelungslücke des 4 Abs. 3 EStG verneint hat; BFH v. 17.1.2017 – VIII R 7/13 (Fn. 18), Rz. 43 zum Verhältnis spezieller Missbrauchsnormen zu § 42 AO. 21 BFH v. 1.2.2001 – IV R 3/00, BStBl. II 2001, 520 (522 f.); v. 19.8.1999 – I R 77/96, BStBl. II 2001, 43 (44); v. 16.1.1992 – V R 1/91, BStBl. II 1992, 541 (542); v. 17.1.1991 – IV R 132/85, BFHE 163, 449 (454). 22 BFH v. 1.2.2001 – IV R 3/00 (Fn. 21); v. 19.8.1999 – I R 77/96 (Fn. 21). 23 BFH v. 8.3.2017 – IX R 5/16 (Fn. 18) Rz. 17; in diesem Sinne bereits BFH v. 9.2.2006 – IV R 15/04, BFH/NV 2006, 1267 (1270); v. 16.1.1992 – V R 1/91 (Fn. 21); v. 7.7.1998 – VIII R 10/96 (Fn. 8), BStBl. II 1999, 729 (730). 24 Ebenso Wendt, DStJG 33 (2010), S. 117 (127). 25 Drüen (Fn. 9), Vor § 42 AO Rz. 9, 18; P. Fischer (Fn. 2), § 42 AO Rz. 62; Hey, BB 2009, 1044; Ratschow (Fn. 12), Rz. 12, 49; Wendt, DStJG 33 (2010), S. 128 (130 f.).

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Gesetz und den flankierenden (speziellen) Missbrauchsvorschriften zu entnehmen“26. In anderen Entscheidungen wird immerhin neben der als unangemessen beurteilten Gestaltung auch der Zweck der Steuernorm herangezogen, auf deren Anwendung oder Vermeidung die Gestaltung abzielt27. Ob eine rechtliche Gestaltung als unangemessen i.S.d. § 42 AO zu bewerten ist, folgt damit aus der von Fall zu Fall zu treffenden Entscheidung über Reichweite und Anwendbarkeit des Steuergesetzes28. Eine besondere Kategorie unangemessener Gestaltungen sind solche, die keinem e­ rkennbaren wirtschaftlichen Zweck dienen29. Der IX.  Senat greift in diesem Zu­ sammenhang typische Umgehungsstrategien auf, die mehrere, „sich wirtschaftlich gegenseitig neutralisieren(de)“ Geschäfte umfassen oder aus sog. gegenläufigen Gestaltungen bestehen, bei denen die eine Gestaltung „in ihrer wirtschaftlichen Auswirkung durch eine andere Gestaltung kompensiert wird“; diese erweise sich dann im Ergebnis nur „als formale Maßnahme“30. Zu den sich wirtschaftlich neutralisierenden Geschäften hat der IX. Senat auch die Darlehensgewährung im Rahmen eines sog. Ring- oder Kettengeschäfts gerechnet31 und – auf seine frühere Rechtsprechung zurückblickend – auch die sog. „Überkreuzvermietungen“32. 26 BFH v. 18.12.2013  – I R 25/12, BFH/NV 2014, 904 Rz.  18; v. 17.1.2017  – VIII R 7/13 (Fn. 18) Rz. 43. 27 Vgl. BFH v. 15.7.2004 – III R 66/98 (Fn. 17): „Rechtsmissbräuchlich ist eine Gestaltung … regelmäßig dann, wenn sie ausschließlich der Steuervermeidung dient“ und „bei sinnvoller, Zweck und Ziel der Rechtsordnung berücksichtigender Auslegung vom Gesetz missbilligt wird.“; BFH v. 20.12.1991 – VI R 32/89 (Fn. 16); ferner die in Fn. 23 zitierten Entscheidungen. 28 So auch Wendt, DStJG 33 (2010), S. 117 (129). 29 BFH v. 8.3.2017 – IX R 5/16 (Fn. 18) Rz. 17: Verkauf und Ankauf von Wertpapieren durch Börsenmakler; BFH v. 21.8.2012 – VIII R 32/09, BStBl. II 2013, 16 Rz. 24: „Die Unangemessenheit einer Rechtsgestaltung tritt  … zutage, wenn diese keinem wirtschaftlichen Zweck dient“ m.w.N. – zur kurzfristigen Einlage von Geld über das Ende des jeweiligen Veranlagungszeitraums hinaus; v. 9.2.2006  – IV R 15/04 (Fn.  23): Verkauf und Rückkauf eines Flugzeugs, das vom Ersterwerber abgeschrieben wurde; v. 16.9.2004 – IV R 11/03, BStBl. II 2004, 1068 (1070): Aufnahme eines Sozius in ein Einzelunternehmen nach dem Zwei Stufen-Modell; v. 19.8.2003 – VIII R 44/01, DStR 2004, 948 (950): Anteilsrotation; v. 8.5.2003 – IV R 54/01, BStBl.  II 2003, 854 (856, 858): Anteilsrotation; v. 17.1.1991  – IV R 132/85 (Fn. 21): Vorschalten einer drei Monate alten Tochter als Erwerberin und Vermieterin einer EDV-Anlage. 30 BFH v. 22.1.2013 – IX R 18/12, BFH/NV 2013, 1094 Rz. 22; v. 8.3.2017 – IX R 5/16 (Fn. 18) Rz. 17; zur gegenläufigen Gestaltung ebenso BFH v. 12.7.2012 – I R 23/11, BFHE 238, 344 Rz.  32; zur Zwischenschaltung einer GmbH im Zusammenhang mit dem Kauf und der Weiterveräußerung von Grundstücken BFH 19.3.2004 – III R 25/02 (Fn. 8). 31 BFH v. 31.7.1984 – IX R 3/79 (Fn. 8), 36: Im Ergebnis sei keine wirtschaftliche Veränderung eingetreten, „als Folge der Reihumhingabe“ stelle „sich die Darlehensaufnahme durch den Kläger im Ergebnis so dar, als hätte er das von ihm gewährte Darlehen vorzeitig zurückerhalten“. 32 BFH v. 12.9.1995 – IX R 54/93, BStBl. II 1996, 158 (160); ebenso v. 14.1.2003 – IX R 5/00, BStBl.  II 2003, 509 (510); jeweils unter Hinweis auf BFH v. 19.6.1991  – IX R 134/86, BStBl. II 1991, 904; der Würdigung des Finanzgerichts folgend: BFH v. 9.10.2013 – IX R 2/13, BStBl. II 2014, 527 Rz. 34 ff.

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Das Missbrauchsurteil wird bei diesen Gestaltungen in einem ersten Schritt auf die Feststellung gestützt, dass solche Gestaltungen allein der Steuervermeidung dienten; im zweiten Schritt wird aber zu Recht die materielle Steuernorm in den Blick genommen, die daraufhin untersucht wird, ob sie auch eine ganz oder teilweise gegenläufige Gestaltung erfasst33. Für Gestaltungen, deren Wirkungen durch gegenläufige Rechtsakte vollständig kompensiert werden oder die sich – im Sinne der Rechtsprechung des EuGH – als „rein künstliche Gestaltungen“ ohne „jegliche wirtschaftliche Realität“34 erweisen, ergibt sich die Entscheidung über die Anwendbarkeit der einschlägigen steuerrechtlichen Regelung aus der leicht zu treffenden Feststellung, dass die für die Verwirklichung der Norm erforderliche Handlung nicht erbracht wurde. Das Unangemessenheitsurteil folgt aber auch in diesen Fällen aus der Entscheidung über die Anwendbarkeit des Steuergesetzes, nicht allein aus der Art und Weise der Gestaltung35. Ob eine Gestaltung durch eine andere Gestaltung in ihrer wirtschaftlichen Auswirkung ganz oder teilweise kompensiert wird, setzt eine – unter Umständen aufwendige – Analyse dieser Wirkungen voraus36. Diese ist Ausdruck einer auf den Sachverhalt und den ökonomischen Erfolg der jeweiligen rechtlichen Gestaltung bezogenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise37, für die der BFH § 42 AO als Rechtsgrundlage herangezogen hat38. 3. Steuervermeidungszweck der Gestaltung Die Anwendung des § 42 AO verlangt zudem, dass die zu beurteilende Gestaltung der Steuerminderung dienen soll. Der III. und der IV. Senat des BFH fordern dementsprechend „eine zweckgerichtete Handlung zur Umgehung eines Steuergesetzes“39. In diesem Erfordernis, das auf einen außervertraglichen oder externen Zweck der 33 BFH v. 21.8.2012 – VIII R 32/09 (Fn. 29) Rz. 27 f. zu § 4 Abs. 4a EStG; v. 31.7.1984 – IX R 3/79 (Fn. 8) zu § 17 BerlinFG. 34 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04 – Cadbury Schweppes, FR 2006, 987 Rz. 55; v. 13.3.2007 – C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, IStR 2007, 249 (254) Rz. 74. 35 Im Ergebnis ebenso Wendt, DStJG 33 (2010), S. 117 (128 f.); anders offenbar Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1148) zur Überkreuzvermietung (s. dazu die Nachweise in Fn. 32). 36 Vgl. BFH v. 9.2.2006 – IV R 15/04 (Fn. 8): Zu beurteilen war, ob der Verkauf eines Flugzeugs in seinen wirtschaftlichen Auswirkungen durch einen Rückkauf kompensiert werden sollte und wurde; v. 18.3.2004 – III R 25/02, BStBl. II 2004, 787, zur Zwischenschaltung einer GmbH; v. 1.2.2001  – IV R 3/00 (Fn.  21), zum gleichzeitigen Erwerb von GmbH-Anteilen und einer wertlosen Forderung gegen diese GmbH; v. 17.6.1998  – X R 68/95, BStBl. II 1998, 667 (669 f.), zur Zwischenschaltung einer GmbH; v. 31.7.1984 – IX R 3/79 (Fn. 8), zu ringweise gewährten Darlehen. 37 Vgl. BVerfG v. 27.12.1991 – 2 BvR 72/90, BStBl. II 1992, 212 (231); Cahn in FS K. Schmidt, 2009, S. 157 (164); Sieker in Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts Bd. II, 2013, § 154 Rz. 7 f. 38 BFH v. 8.3.2017 – IX R 5/16 (Fn. 18) m.w.N.; v. 19.3.2004 – III R 25/02 (Fn. 8); v. 17.6.1998 – X R 68/95 (Fn. 36). 39 BFH v. 19.3.2004  – III R 25/02 (Fn.  8); v. 19.1.2017  – IV R 10/14 (Fn.  20) Rz.  45; v. 19.1.2017 – IV R 50/14 (Fn. 18) Rz. 96.

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Gestaltung ausgerichtet ist, kommt zugleich eine beschränkte Zielsetzung der Generalklausel zum Ausdruck: §  42 AO nimmt die konkrete Gestaltung eines Steuerpflichtigen in den Blick und versagt dieser den erstrebten steuerlichen Erfolg für die betroffene Steuerart40; ein auf die Gestaltung bezogenes Missbrauchsurteil ermöglicht keine insgesamt kohärente Steuerfestsetzung des oder der an der Gestaltung beteiligten Steuerpflichtigen. Wenn § 42 AO Abs. 2 n.F. für einen Missbrauch verlangt, dass die gewählte Gestaltung im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führen würde, wird auch damit auf eine für den Steuerpflichtigen vorteilhafte Steuerfolge41, insbesondere auf eine niedrigere Steuerbelastung abgestellt, und im Ergebnis keine andere Aussage getroffen42. 4. Umgehungsabsicht, außersteuerliche Gründe, Zielgerichtetheit der ­Gestaltung Ob § 42 AO eine Umgehungsabsicht verlangt, ist bis heute umstritten43. Der Streit ist bisher aber nicht entscheidungserheblich geworden, weil die dafür geforderte, bewusst auf die Steuervermeidung ausgerichtete Handlung44 entweder eindeutig vorlag oder aufgrund einer Gestaltung, die keinem anderen wirtschaftlichen Zweck als der Steuervermeidung diente, vermutet werden konnte45. Auf diese Vermutung hat insbesondere der V.  Senat des BFH zurückgegriffen, der eine Umgehungsabsicht für entbehrlich hält und sich dafür auf die EuGH-Rechtsprechung zum Umsatzsteuerrecht stützt46. Von einem spezielleren Vermutungstatbestand sind der X. und der III. Senat des BFH ausgegangen, wenn sie eine Missbrauchsabsicht jedenfalls in Fällen annehmen, in denen die Tatbestandsverwirklichung aufgespalten und die Verlagerung von Wertschöpfungen einvernehmlich geplant und verwirklicht wird47. Der dritte Senat will die Vermutungswirkung weitergehend auf sämtliche Gestaltungen erstrecken, die „regelmäßig den Schluss auf eine bestehende Umgehungsmöglichkeit“ zulassen48, mithin auf alle typischen Umgehungsgestaltungen. 40 BFH v. 10.12.1992 – V R 90/92, BStBl. II 1993, 700; v. 19.8.1999 – I R 77/96 (Fn. 21), 46; v. 19.3.2004 – III R 25/02 (Fn. 8). 41 Drüen (Fn. 9), Vor § 42 AO Rz. 21; Wendt, DStJG 33 (2010), S. 117 (129). 42 Zur Kritik an diesem Tatbestandsmerkmal des § 42 Abs. 2 n.F.: Drüen (Fn. 9), Vor § 42 AO Rz. 21 ff. 43 Zum Meinungsstand Drüen (Fn. 9), § 42 AO Rz. 44 f. 44 BFH v. 28.1.1992 – VIII R 7/88, BStBl. II 1993, 84 (86); v. 5.2.1992 – I R 127/90, BStBl. II 1992, 532 (536); v. 10.9.1992 – V R 104/91, BStBl. II 1993, 253 (255); v. 7.7.1998 – VIII R 10/96 (Fn. 8), 731; v. 18.3.2004 – III R 25/02 (Fn. 8), 792; v. 14.6.2005 – VIII R 37/03, BFH/ NV 2005, 2161; das Erfordernis einer Umgehungsabsicht offen lassend: v. 14.1.1992 – IX R 33/89, BStBl. II 1992, 549; v. 1.2.2001 – IV R 3/00 (Fn. 21), 523. 45 BFH v. 10.9.1992 – V R 104/91 (Fn. 44); v. 14.1.1992 – IX R 33/89 (Fn. 44); v. 7.7.1998 – VIII R 10/96 (Fn. 8); v. 1.2.2001 – IV R 3/00 (Fn. 21). 46 BFH v. 10.9.1992 – V R 104/91 (Fn. 44). 47 BFH v. 17.6.1998 – X R 68/95, BStBl. II 1998, 667 (671); ebenso v. 18.3.2004 – III R 25/02 (Fn. 8). 48 BFH v. 18.3.2004 – III R 25/02 (Fn. 8).

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Mit der Missbrauchsabsicht im Zusammenhang steht die Frage, welche Bedeutung außersteuerliche Gründe haben, die nach der Diktion des Gesetzes einen Missbrauch ausschließen, wenn der Steuerpflichtige solche Gründe nachweist. Wird die Unangemessenheit einer Gestaltung damit begründet, dass sie keinem anderen erkennbaren wirtschaftlichen Zweck als der Steuervermeidung diene, schließen außersteuerliche, insbesondere wirtschaftliche Gründe nach der Rechtsprechung die Unangemessenheit der Gestaltung und damit die Anwendung des §  42 AO aus49. Als beachtliche außersteuerliche Gründe hat die Rechtsprechung in jüngerer Zeit die durch die Vorauszahlung des Erbbauzinses in einer Summe vermiedene jährliche Erhöhung des Erbbauzinses50, die Erprobung der Zusammenarbeit in einer Sozietät51, die Inanspruchnahme einer Vergünstigung des belgischen Steuerrechts52 sowie die mit der Abtretung einer Besserungsanwartschaft verbundene Aussicht anerkannt, dass die Schuldnerin wieder solvent werden würde53. Die Steuerberatungspraxis und teilweise auch die Rechtsprechung messen indessen möglichen außersteuerlichen Gründen einer Gestaltung eine zu weitgehende Wirkung zu54. Außersteuerliche Gründe sind nur insoweit relevant, als sie dem Einwand begegnen, die Gestaltung habe keinen erkennbaren wirtschaftlichen Zweck, oder soweit sie das Bestehen eines Gesamtplans widerlegen55; sie können dagegen keine zuvor als unangemessen beurteilte Gestaltung rechtfertigen56. Die aktuelle Fassung des § 42 AO stellt in diesem Zusammenhang zudem klar, dass der Steuerpflichtige die Beweislast dafür trägt, dass die von ihm gewählte Gestaltung nicht nur der Steuervermeidung dient, sondern durch beachtliche außersteuerliche Gründe motiviert ist. Hat danach die Umgehungsabsicht keine praktische Bedeutung, weil sie jedenfalls im Wege des Indizienbeweises feststellbar ist, kommt es auf die Zielgerichtetheit der rechtlichen Gestaltung dennoch an, wenn und soweit die Anwendung der materiellen Steuernorm davon abhängt, dass mehrere Teilakte des tatsächlichen Geschehens 49 So BFH v. 3.2.1998 – IX R 38/96, BStBl. II 1998, 539 (540): Gleichzeitige Vereinbarung von Mietvertrag und Sicherungsnießbrauch zwischen Mutter und Sohn; v. 9.11.2006  – V R 43/04, BStBl. II 2007, 344 (348): Vorschaltung einer Personengesellschaft bei der Errichtung eines Betriebsgebäudes durch Kreditinstitut und anschließende Vermietung an dieses unter Verzicht auf die Steuerbefreiung; s. ferner die in den Fn. 50–53 nachgewiesenen Entscheidungen. 50 BFH v. 23.9.2003 – IX R 65/02, BStBl. II 2005, 159 (160). 51 BFH v. 16.9.2004 – IV R 11/03 (Fn. 29), 1070. 52 BFH v. 7.9.2005 – I R 118/04, BStBl. II 2006, 537 (538). 53 BFH v. 12.7.2012 – I R 23/11 (Fn. 30), 351. 54 Vgl. Clausen, DB 2003, 1589 (1594) mit den Beispielen dort in Fn. 57; Füllbier, BB 2012, 1769 (1775); zur Rechtsprechung P. Fischer (Fn. 2), § 42 AO Rz. 280 ff.; Ratschow (Fn. 12), § 42 Rz. 71; L. Schmidt (Fn. 7), S. 337 (351). 55 Vgl. BFH v. 29.8.2007 – IX R 17/07, BStBl. II 2008, 502 (504): „Für den Abschluss der gegenläufigen, sich wirtschaftlich neutralisierenden Geschäfte“ seien „ausschließlich steuerliche Gründe ersichtlich“; v. 9.11.2011 – X R 60/09, BStBl. II 2012, 638 Rz. 51; Englisch, StuW 2009, 3 (14); P. Fischer (Fn. 2), § 42 AO Rz. 288 f.; Kempelmann, StuW 2016, 385 (392); Ratschow (Fn. 12), § 42 Rz. 52 f., 72. 56 So aber Clausen, DB 2003, 1589 (1594) und dort die Beispiele in Fn. 57; Füllbier, BB 2012, 1769 (1775); Koenig in Koenig, 3. Aufl. 2014, § 42 AO Rz. 26.

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zu einem „Gesamtsachverhalt“57 zusammengefasst werden oder deren Gegenläufigkeit zu berücksichtigen ist58. Cahn hat diese Zielgerichtetheit treffend als „Sachverhaltsgestaltungsabsicht“59 bezeichnet. Ob mehrere Gestaltungen eines Steuerpflichtigen auf einem einheitlichen Plan beruhen, kann i.d.R. nur durch Indizien festgestellt werden. Taugliches Indiz ist insbesondere ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen den einzelnen Gestaltungen60. 5. Gesamtplanbetrachtung Bei der Abwehr der Umgehung belastender oder der Erschleichung begünstigender Steuergesetze kommt der sog. „Gesamtplanrechtsprechung“61 eine besondere Bedeutung zu. Mehrere Rechtsgeschäfte, die auf einer einheitlichen Planung der Beteiligten beruhen, werden für die steuerliche Beurteilung zusammenfassend betrachtet und unter den jeweiligen Steuertatbestand subsumiert62. Durch die zusammenfassende Betrachtung der von den Beteiligten als Einheit gewollten Gestaltung wird zunächst der steuererhebliche Sachverhalt festgestellt und sodann mit dem üblichen methodischen Handwerkszeug untersucht, ob die Voraussetzungen der einschlägigen Steuernorm erfüllt sind63. Ein Gesamtplan hat in der Rechtsprechung des BFH vor allem in zwei Konstellationen64 eine Rolle gespielt: bei gegenläufigen Gestaltungen65 und bei sukzessive ver57 Tanzer, DStJG 33 (2010), S. 189 (208 f.). 58 BFH v. 18.1.2001 – IV R 58/99, BStBl. II 2001, 393 (395): Darlehen nach vorheriger Schenkung des Vaters; v. 22.1.2002 – VIII R 46/00, BStBl. II 2002, 685 (687): Darlehen nach vorheriger Schenkung; Dötsch, FR 2007, 589 (595 f.); Englisch, StuW 2009, 3 (12 f.) im Zusammenhang mit der Umgehung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen; P. Fischer (Fn. 2), § 42 AO Rz. 356 ff. 59 Cahn (Fn. 37), S. 157 (171). 60 BFH v. 13.10.1992 – VIII R 3/89, BStBl. II 1993, 477: zeitlicher Zusammenhang zwischen Ausschüttung und Einzahlung eines Agios in das Vermögen einer GmbH wird als Indiz dafür angesehen, dass die Ausschüttung von vornherein beabsichtigt war; v. 18.1.2001 – IV R 58/99 (Fn.  58): zeitlicher Zusammenhang zwischen Schenkung und Darlehensgewährung; v. 22.1.2002 – VIII R 46/00 (Fn. 58); v. 27.10.2005 – IX R 76/03, BStBl. II 2006, 359 (361): Zeitlicher Zusammenhang zwischen Grundstücksveräußerung, Kaufpreiszahlung und Rückschenkung des Kaufpreises. 61 Zum Begriff BFH v. 20.1.2005 – IV R 14/03, BStBl. II 2005, 395 (397), unter Berufung auf BFH v. 6.9.2000  – IV R 18/99, BStBl.  II 2001, 229; v. 27.10.2005  – IX R 76/03, BStBl.  II 2006, 359 (360); v. 9.11.2011 – X R 60/09 (Fn. 55); v. 22.10.2013 – X R 14/11, BStBl. II 2014, 158 Rz. 35. 62 Überzeugend BFH v. 27.10.2005 – IX R 76/03 (Fn. 60). 63 Zu dieser Methode BFH v. 22.1.2002 – VIII R 46/00 (Fn. 58); v. 27.10.2005 – IX R 76/03 (Fn. 60); v. 22.1.2013 – IX R 18/12 (Fn. 30) Rz. 20, 22: Poolvermietung; v. 16.4.2014 – I R 2/12, BFHE 246, 15 (23 f.): wirtschaftliches Eigentum bei cum/ex-Geschäften. 64 Dazu Kempelmann, StuW 2016, 385 (385 ff.). 65 BFH v. 13.10.1992 – VIII R 3/89 (Fn. 60); v. 26.3.1996 – IX R 51/92, BStBl. II 1996, 443 (444); v. 18.1.2001 – IV R 58/99 (Fn. 60); v. 22.1.2002 – VIII R 46/00 (Fn. 60); v. 27.10.2005 – IX R 76/03 (Fn. 62); v. 22.1.2013 – IX R 18/12 (Fn. 30).

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wirklichten Veräußerungs-, Aufgabe- oder Umwandlungsvorgängen bei Personengesellschaften66. Während gegenläufige Gestaltungen teilweise als unangemessen i.S.d. §  42 AO beurteilt werden67, aber teilweise auch deren wirtschaftliches Ergebnis rechtlich gewürdigt wird, ohne auf § 42 AO zurückzugreifen68, spielt § 42 AO bei den Entscheidungen des IV. Senats zu den Umstrukturierungsfällen keine Rolle69. Führt man sich vor Augen, dass der Gesamtplan nichts anderes ist als ein Teil des von den Beteiligten verwirklichten Sachverhalts, der auf seine steuerliche Relevanz hin zu untersuchen ist70, braucht eine Gesamtplanbetrachtung keine gesetzliche Ermächtigung71. Auch § 42 AO ist dementsprechend nicht erforderlich, „um einen in Teilakte aufgespaltenen Sachverhalt einheitlich“ beurteilen zu dürfen72. Von der Gesamtplanbetrachtung, die man als wirtschaftliche oder steuerjuristische Analyse des Sachverhalts deuten kann73, ist aber die Frage zu unterscheiden, ob das Gesetz auf die durch den Gesamtplan verbundene Gestaltung abstellt. Dies ist eine Frage der sachbereichsspezifischen Auslegung der einschlägigen Norm und der Subsumtion des Gesamtsachverhalts unter diese. Führt die Auslegung zu dem Ergebnis, dass der einschlägige Steuertatbestand sich auf eine bestimmte zivilrechtliche Rechtsform erstreckt, ist ein der Gestaltung zugrundeliegender Gesamtplan unerheblich74. Wer die Auffassung vertritt, dass die steuerliche Beurteilung einer durch einen Gesamtplan verbundenen Gestaltung an die einzelnen Bausteine der zivilrechtlichen Konstruktion anknüpft, kann eine gegenläufige Gestaltung nur mit Hilfe des § 42 AO sanktionieren75. 66 BFH v. 6.9.2000 – IV R 18/99 (Fn. 61), 230, noch ohne den Begriff des Gesamtplans zu verwenden; v. 20.1.2005 – IV R 14/03 (Fn. 61), 397; v. 25.2.2010 – IV R 49/08, BStBl. II 2010, 726 (728); v. 9.12.2014 – IV R 36/13, BStBl. II 2015, 529 Rz. 22; v. 17.12.2014 – IV R 57/11, BStBl. II 2015, 536 Rz. 18 f. 67 BFH v. 13.10.1992 – VIII R 3/89 (Fn. 60); v. 26.3.1996 – IX R 51/92 (Fn. 64); v. 27.10.2005 – IX R 76/03 (Fn. 60); v. 22.1.2013 – IX R 18/12 (Fn. 30). 68 BFH v. 18.1.2001 – IV R 58/99 (Fn. 58); v. 22.1.2002 – VIII R 46/00 (Fn. 58). 69 Siehe die Nachweise in Fn. 66; ebenso BFH v. 5.2.2014 – X R 22/12, BStBl. II 2014, 388 Rz. 22; anders BFH v. 25.11.2009 – I R 72/08, BStBl. II 2010, 471 (474), der einen Gesamtplan nur im Anwendungsbereich des § 42 AO berücksichtigen will. 70 Überzeugend BFH v. 27.10.2005  – IX R 76/03 (Fn.  60); Heuermann, StuW 2004, 124 (127 ff., 129 f.); Offerhaus, FR 2011, 878 (880, 881). 71 Zutreffend Offerhaus in FS Spindler, 2001, S. 667 (683 f.); ders., FR 2011, 878 (881); a.A. Clausen, DB 2003, 1589 (1593); Crezelius, FR 2003, 537 (542); Herlinghaus, FR 2014, 441 (446); Kempelmann, StuW 2016, 385 (388 f.): „Gesamtpläne, die … als self-cancelling einzustufen sind, müssen … grundsätzlich auf § 42 AO gestützt werden“. 72 So Englisch, StuW 2009, 3 (10); ders. in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 5 Rz. 119, 123; auf § 42 AO stellen auch die in Fn. 38 genannten Entscheidungen ab. 73 Vgl. die Nachweise in Fn. 37. 74 So der II. Senat des BFH v. 18.7.2013 – II R 37/11, BStBl. II 2013, 934 Rz. 23 zur Schenkung eines Grundstücks an ein Kind mit anschließender Weiterschenkung an dessen Ehegatten. 75 Vgl. dazu einerseits BFH v. 7.12.2010 – IX R 40/09, BStBl. II 2011, 427 Rz. 11 ff., der für den Fall einer ringweisen Anteilsveräußerung zwischen fünf an einer GmbH beteiligten Gesellschaftern einen Gestaltungsmissbrauch abgelehnt hat, weil die Vermögensebene des Steuerpflichtigen berührt sei, und andererseits BFH v. 8.3.2017 – IX R 5/16 (Fn. 18), der

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Kommt es dagegen nach dem Inhalt der materiellen Steuernorm auf das durch die Gestaltung Bewirkte an, können die steuerlichen Folgen der auf einem Gesamtplan beruhenden Gestaltung auf dieser Ebene bestimmt werden, ohne dass auf § 42 AO zurückgegriffen werden müsste76. Damit ist aber nicht die Gesamtplanbetrachtung obsolet, diese ist vielmehr die auf der tatsächlichen Ebene angesiedelte Grundlage für die rechtliche Würdigung der durch den Gesamtplan verklammerten Umstände77. 6. Rechtsfolge des § 42 AO Nach der in § 42 Abs. 1 Nr. 3 AO bestimmten Rechtsfolge einer im Sinne der Norm missbräuchlichen Gestaltung „entsteht der Steueranspruch … so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht“. Was damit gemeint ist, wird im Schrifttum und vom Bundesfinanzhof unterschiedlich gedeutet. Die strikt am Wortlaut der steuerlichen Generalklausel und an der Prämisse einer unzulässigen Analogie orientierte Auffassung nimmt an, dass § 42 AO Abs. 1 Satz 3 eine Fiktion des für angemessen erachteten Sachverhalts anordne78. Der damit verbundenen Gefahr, dass mehrere Sachverhalte als angemessene Gestaltung in Betracht kommen, wird dadurch begegnet, dass die jeweils günstigere maßgeblich sein soll79. Die Gegenauffassung lehnt die Fiktion eines Ersatzsachverhalts ab und hält stattdessen die Anwendung des „umgangenen“ Steuertatbestandes auf den tatsächlich verwirklichten Sachverhalt für geboten80. Die beiden unterschiedlichen Deutungen des § 42 Abs. 1 Satz 3 AO unterscheiden sich zwar nur in der „technischen Lösung des Konflikts zwischen dem Wortlaut einer

für einen Börsenmakler wegen dessen besonderer beruflicher Expertise die taggleichen Veräußerungen und Erwerbe von Bezugsrechten unter § 42 AO subsumiert hat. 76 In diesem Sinne BFH v. 18.1.2001  – IV R 58/99 (Fn.  58); v. 22.1.2002  – VIII R 46/00 (Fn. 58); v. 16.4.2014 – I R 2/12 (Fn. 63); v. 9.12.2014 – IV R 29/14, BFHE 247, 449 Rz. 22; v. 9.12.2014 – IV R 36/13 (Fn. 65); Kempelmann, StuW 2016, 385 (393 ff.). 77 Wenig weiterführend ist in diesem Zusammenhang der Ratschlag, die Rechtsprechung möge auf den Begriff des Gesamtplans verzichten, so aber Herlinghaus, FR 2014, 441 (446, 447, 453). 78 Drüen (Fn. 9), § 42 AO Rz. 11 ff., anders aber ders. (Fn. 9), Vor § 42 AO Rz. 35a; Ratschow (Fn. 12), § 42 Rz. 85; so auch BFH v. 31.7.1984 – IX R 3/79 (Fn. 8), 36, zu ringweise gewährten Berlin-Darlehen; v. 21.11.1991  – V R 20/87, BStBl.  II 1992, 446 (448) zur Vorschaltung minderjähriger Kinder beim Erwerb einer EDV-Anlage mit anschließender Vermietung; v. 26.3.1996 – IX R 51/92 (Fn. 64): mit einer Schenkung der Eltern planmäßig verknüpftes Darlehen der Tochter an die Eltern; v. 1.2.2001 – IV R 3/00 (Fn. 21): gleichzeitiger Erwerb von GmbH-Anteilen und einer wertlosen Forderung gegen diese GmbH; v. 27.10.2005 – IX R 76/03 (Fn. 60): Grundstücksveräußerung an den Sohn und von vornherein geplante Zurückschenkung des vom Sohn zunächst gezahlten Kaufpreises. 79 Drüen (Fn. 9), § 42 AO Rz. 50; ebenso Koenig (Fn. 56), § 42 Rz. 28. 80 P. Fischer (Fn. 2), § 42 AO Rz. 301 ff.; Koenig (Fn. 56), § 42 Rz. 28; Sieker (Fn. 7), S. 30 ff.; Wendt, DStJG 33 (2010), S. 117 (133 f.); BFH v. 13.2.1980 – II R 18/75, BStBl. II 1980, 364 (365); v. 6.3.1996  – II R 38/93 (Fn.  15), 378  f.; v. 19.8.1999  – I R 77/96 (Fn.  21), 46; v. 19.12.2001 – X R 41/99 (Fn. 7).

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Rechtsnorm und der ihr zugrundeliegenden Wertung“81; richtig angewendet, sollte die Sachverhaltsfiktion zu demselben Ergebnis kommen wie die analoge Anwendung der Steuernorm, der ausgewichen werden sollte82. Die Fiktion eines nicht verwirklichten, aber als angemessen erkannten Sachverhalts ist aber aus zwei Gründen fehleranfällig: Sie verleitet dazu, dieselbe Gestaltung in Bezug auf unterschiedliche Steuergesetze widersprüchlich zu beurteilen83 und sie verdeckt die eigentlich zu bewältigende Aufgabe, den Maßstab derjenigen Steuernormen zur Geltung zu bringen, die durch die verwirklichte Gestaltung umgangen oder erschlichen werden sollten.

III. Abwehr von Steuerumgehungen durch andere Mittel Außerhalb der Generalklausel des § 42 AO gibt es weitere Mittel, Steuerumgehungen abzuwehren. Diese lassen sich auch in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nachweisen. Ein Mittel, zu dem der Gesetzgeber zunehmend greift, sind spezielle Missbrauchsvorschriften, durch die typische Umgehungsgestaltungen erfasst werden, auf die ein bestimmter gesetzlicher Regeltatbestand nicht anwendbar sein soll84. Die oft auf aktuell bekannt gewordene Gestaltungen ausgerichteten speziellen Regelungen zur Missbrauchsabwehr bergen indessen  – wie jede auf bestimmte Einzelfälle abgestimmte Gesetzgebung – die Gefahr, neue Ausweichgestaltungen geradezu herauszufordern85. Zudem versperren spezielle Missbrauchsvorschriften den Rückgriff auf die Generalklausel des § 42 AO, soweit sie den Maßstab für die Beurteilung der Unangemessenheit konkretisieren86. Erfolgreiche Missbrauchsabwehr im speziellen Fall wird erkauft mit einer eingeschränkten Reichweite des jeweils betroffenen Steuertatbestandes und der allgemeinen Regelung zur Abwehr von Steuerumgehungen. Auf diese Weise lässt sich das mit der Neufassung des § 42 AO verfolgte Ziel einer effektiveren Regelung87 nicht erreichen. Das Verhältnis zwischen speziellen Missbrauchsvorschriften und der Generalklausel des § 42 AO war mehrfach Gegenstand von Entscheidungen des I. Senats des BFH. Dieser hat einen Rückgriff auf § 42 AO stets ausgeschlossen, weil die durch die Spe81 BFH v. 13.2.1980 – II R 18/75 (Fn. 80) unter Berufung auf Tipke. 82 Bezweckt die Gestaltung die Anwendung einer begünstigenden Regelung, kann sich die Rechtsfolge des §  42 AO darauf beschränken, der als missbräuchlich beurteilten Gestaltung den steuerlichen Erfolg zu versagen. 83 BFH v. 21.11.1991  – V R 20/87 (Fn.  78), der für die Umsatzsteuer eine unentgeltliche Überlassung fingiert, und BFH v. 17.1.1991 – IV R 132/85 (Fn. 21), 454, der für die Einkommensteuer offenbar von einer Anschaffung, d.h. von einem entgeltlichen Erwerb ausgeht. 84 Dazu eingehend Hey, DStJG 33 (2010), S. 139 ff. 85 Explizit Füllbier, BB 2012, 1769 zu Wertpapierleihgeschäften. 86 Drüen (Fn. 9), Vor § 42 AO Rz. 13a; P. Fischer (Fn. 2), § 42 AO Rz. 292; Hey, DStJG 33 (2010), S. 139, 142 ff.; Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1149); Ratschow (Fn. 12), § 42 Rz. 91. 87 BT-Drucks. 16/7036, 6.

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zialvorschrift getroffenen Wertungen des Gesetzgebers nicht durch eine extensive Anwendung der Generalklausel unterlaufen werden dürften88. Ein weiteres Mittel, den Versuchen der Steuerberatungspraxis zu begegnen, durch zivilrechtliche Gestaltungen zwar den erstrebten wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen, den Rechtsfolgen belastender Steuergesetze aber über einen konstruierten Umweg zu entgehen89 oder die Inanspruchnahme steuerlicher Vorteile zu erreichen, kann die zutreffende zivilrechtliche Würdigung der Gestaltung sein90. So hat der II.  Senat des BFH für eine Kettenschenkung, durch die auch dem zwischengeschalteten Erwerber die Inanspruchnahme des Freibetrags aus § 16 ErbStG ermöglicht werden sollte, eine Bereicherung der bloß als „Durchgangs- oder Mittelsperson“ eingesetzten Mutter unter Hinweis auf die zivilrechtliche Rechtslage verneint und eine Schenkung vom Vater an die Töchter angenommen91. Als weiteres Beispiel lässt sich die vom IX. Senat auf § 42 AO gestützte Entscheidung zur Veräußerung eines Grundstücks der Eltern an den Sohn anführen, die mit der von vornherein vereinbarten Rückzahlung des Kaufpreises verbunden war92. Diese hätte sich auch auf die zivilrechtlich naheliegende Einschätzung stützen können, dass die Übereignung des Grundstücks auf einem unentgeltlichen Geschäft beruhte93. Die zivilrechtliche Würdigung der Gestaltung darf sich allerdings nicht auf die Feststellung beschränken, eine bestimmte Gestaltung sei zivilrechtlich möglich. Sie setzt vielmehr voraus, dass das durch die Gestaltung bewirkte Ergebnis festgestellt und rechtlich beurteilt wird. Eine solche Vorgehensweise ist auch im Zivilrecht anerkannt, wenn es um die Entscheidung geht, ob dem Schutz Dritter dienende Regelungen, wie z.B. die §§ 2325, 2329 BGB, eingreifen, die an das wirtschaftliche Ergebnis einer bestimmten privatautonomen Vereinbarung anknüpfen94.

88 BFH v. 15.12.1999 – I R 29/97, BStBl. II 2000, 527 (532) – zu § 50c EStG; v. 19.1.2000 – I R 94/97, BStBl. II 2001, 222 (223) – zu §§ 7 ff. AStG; v. 20.3.2002 – I R 63/99, BStBl. II 2003, 50 (53) – zu §§ 7 ff. AStG; v. 31.5.2005 – I R 74, 88/04, BStBl. II 2006, 118 (120) – zu § 50d EStG; v. 29.1.2008 – I R 26/06, BStBl. II 2008, 978 (980) – zu § 50d EStG; v. 18.12.2013 – I R 25/12 (Fn. 26) Rz. 18 – zu § 8 Abs. 4 KStG a.F. u. § 12 Abs. 3 UmwStG; ebenso v. 17.1.2017 – VIII R 7/13 (Fn. 18) Rz. 43 m.w.N. – zu § 15b EStG. 89 Zu diesem Bestreben der Steuerberatungspraxis Füllbier, BB 2012, 1769 (1771) betr. Wertpapierleihe; zur Gesetzesumgehung allgemein Cahn (Fn. 37), S. 157 (171). 90 Sieker (Fn. 7), S. 136 f. m.w.N.; ebenso Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1149). 91 BFH v. 13.10.1993 – II R 92/91, BStBl. II 1994, 128 (129); für den Fall der Verpflichtung des Zwischenerwerbers zur Weitergabe an den zuletzt Bedachten ebenso BFH v. 18.7.2013 – II R 37/11 (Fn. 74) Rz. 12 ff., der aber für den zu beurteilenden Sachverhalt eine Weitergabeverpflichtung des Zwischenerwerbers verneint hat. 92 BFH v. 27.10.2005 – IX R 76/03 (Fn. 60); überzeugend dagegen BFH v. 7.11.2006 – IX R 4/06, BStBl. II 2007, 372 (373). 93 Überzeugend Schön, DStJG 33 (2010), S.  29 (45); zustimmend Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1149). 94 Vgl. BGH v. 10.12.2003 – IV ZR 249/02, NJW 2004, 1382 (1383 f.), der Zuwendungen an die Stiftung Dresdner Frauenkirche als pflichtteilsergänzungspflichtige Schenkungen i.S.d. §§ 2325, 2329 BGB beurteilt hat.

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Auch § 39 AO kann der Abwehr von Steuerumgehungen dienen. Wie die Entscheidung des BFH zu cum-ex-Geschäften zeigt, ist ein Rückgriff auf § 42 AO entbehrlich, wenn die vom Steuerpflichtigen angestrebte Erstattung von Kapitalertragsteuer bereits daran scheitert, dass er nicht wirtschaftlicher Eigentümer der fraglichen Aktien geworden ist95. Ein gegenüber der Anwendung des § 42 AO vorrangiges Mittel, Steuerumgehungen zu verhindern, ist zudem eine mögliche teleologische Auslegung der einschlägigen steuerrechtlichen Norm96. Diesen Weg hat der II.  Senat des BFH in Bezug auf §  1 Abs. 3 GrEStG beschritten und die mittelbare Vereinigung der Anteile an einer Gesellschaft, zu deren Vermögen ein Grundstück gehörte, in einer Hand der Grunderwerbsteuer unterworfen97. Dieser Weg ist auch eingeschlagen worden für die Beurteilung der kurzfristigen Einlage von Geld in ein Betriebsvermögen; denn obwohl der VIII. Senat sich auch auf § 42 AO stützt98, beruht die Entscheidung maßgeblich auf einer teleologischen Auslegung des § 4 Abs. 4a EStG.

95 BFH v. 16.4.2014 – I R 2/12 (Fn. 63) Rz. 32 ff.; auf § 39 AO ist auch die Entscheidung zur Wertpapierleihe gestützt: v. 18.8.2015 – I R 88/13, BStBl. II 2016, 961 Rz. 19 ff. 96 Ebenso bereits L. Schmidt (Fn. 7), S. 337 (350). 97 BFH v. 15.12.2010 – II R 45/08, BStBl. II 2012, 292 Rz. 11 ff. 98 BFH v. 21.8.2012 – VIII R 32/09 (Fn. 29) Rz. 27 ff.

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … M.

„Dunkelfelder“ der Steuerrechtsprechung Von Michael Wendt

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtliche Ursachen für Beeinträch­ tigungen des Steuerrechtsschutzes 1. Aufspaltung des Rechtsschutzes auf verschiedene Gerichtsbarkeiten 2. Prozessrechtlich verursachte Einschränkungen des Rechtsschutzes a) Eingeschränkte Prüfungsdichte b) Zugangsvoraussetzungen c) Instanzenzug d) Einstweiliger Rechtsschutz e) Geheimhaltungspflichten und Datenschutz 3. Materielles Recht als Ursache für eingeschränkten Rechtsschutz a) Rechtliche Beschränkungen der finanzgerichtlichen Kontrolle b) Rechtsquellen als Ursache eingeschränkter Kontrolldichte

c) Eingeschränkte Kontrolldichte durch Grenzen der Sachverhaltsaufklärung III. Tatsächliche Ursachen für Beeinträchtigungen des Steuerrechtsschutzes 1. Ablauf und Gestaltung des Verwaltungsverfahrens a) Verzicht auf Klärung von Rechts­ fragen b) Tatsächliche Verständigung c) Verständigungsverfahren d) Risikomanagement der Finanzverwaltung 2. Ursachen im finanzgerichtlichen Verfahren a) Ressourcen der Finanzgerichtsbarkeit b) Handhabung des gerichtlichen Verfahrensrechts IV. Schluss

I. Einleitung Was wird ein Leser dieser Festschrift erwarten, wenn er in der Gliederung die Überschrift „‚Dunkelfelder‘ der Steuerrechtsprechung“ sieht? Wird es ihn reizen herauszufinden, was die Herausgeber bei der Vergabe des Themas im Sinn gehabt haben könnten und was der Autor aus diesem Thema gemacht hat? Wer hätte schon den Begriff des „Dunkelfelds“ mit dem Steuerrecht im Allgemeinen und der Steuerrechtsprechung im Besonderen assoziiert? Juristen werden vielleicht an die Dunkelfeldforschung als Bestandteil der Kriminologie denken, die hier nicht gemeint sein kann. Davon abgesehen bleibt wohl nur der Zugang über die allgemeine Sprachbedeutung von „Dunkelfeld“. Befragt man die allwissende Datenbank „Wikipedia“, stößt man tatsächlich in erster Linie auf die kriminologische Bedeutung, erfährt aber auch, dass 399

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es Dunkelfeldforschung in der Empirischen Sozialforschung, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Medizin gibt. Steuerrechtliche Bezüge lassen sich dort nicht finden. Man wird also wohl von der Wortbedeutung ausgehen müssen und annehmen, dass Bereiche des Steuerrechts gemeint sind, die von der Rechtsprechung der Finanzgerichte nicht erfasst werden. Dass ein Teil des Steuerrechts außerhalb gerichtlicher Kontrolle steht, ist vor dem Hintergrund der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kaum vorstellbar. Allerdings beschränkt sich die Rechtsprechung als Rechtsschutzinstanz für den Bürger auch auf die Kontrolle von Verwaltungshandeln. Außerhalb der Gewährleistung individuellen Rechtsschutzes kann die Rechtsprechung auf die Verwaltung keinen Einfluss nehmen. Sie kann die Verwaltung etwa nicht allgemein anweisen, bestimmte Maßnahmen zum Vollzug der Steuergesetze zu ergreifen oder die Personalausstattung im Hinblick auf einen besseren Vollzug zu erhöhen. Ein Vollzugsdefizit würde nur dann zu einer Reaktion der Rechtsprechung führen, wenn der Adressat eines Verwaltungsakts sich gegen diesen unter Berufung auf eine Verletzung des Gleichheitssatzes zur Wehr setzt. Wird die Gleichheit im Belastungserfolg für eine materielle Steuernorm strukturell nicht gewährleistet, kann die betreffende Norm deshalb verfassungswidrig sein1. Von solchen Fällen abgesehen können gleichheitswidrige Begünstigungen von der Rechtsprechung nicht aufgegriffen werden. Sollten Finanzbehörden in bestimmten Feldern flächendeckend Steueransprüche nicht durchsetzen und dadurch die betreffenden Steuerpflichtigen begünstigen, hätte dies die Entstehung eines Dunkelfelds der Steuerrechtsprechung zur Folge. Licht in ein solches Dunkel könnten nur die Rechnungshöfe des Bundes und der Länder bringen, die die Ordnungsmäßigkeit der Haushaltsführung zu überwachen2 und dabei auch der ordnungsgemäßen Durchsetzung von Steueransprüchen Aufmerksamkeit zu widmen haben3. Dass es aus der Sicht des Bundesrechnungshofs gravierende Mängel auf bestimmten Gebieten des Steuervollzugs gibt, lässt sich den Jahresberichten des Bundesrechnungshofs entnehmen4. Wer sich durch einen Akt öffentlicher Gewalt in seinen Rechten verletzt sieht, kann sich auf die Garantie des Art.  19 Abs.  4 GG berufen, nach der ihm ein Rechtsweg ­offen stehen muss. Wenn der Staat seine aus den Steuergesetzen folgenden Ansprüche  – wie derzeit gesetzlich vorgesehen – im Wege klassischer Eingriffsverwaltung hoheitlich durch die Behörden der zur Verwaltung der Steuergesetze befugten Gebietskörperschaften durchsetzt, muss gegen Maßnahmen dieser Behörden deshalb Rechtsschutz gegeben sein. Dies schließt es nicht aus, dass es gleichwohl „Dunkelfelder“ der Steuerrechtsprechung gibt. Diese haben ihren Grund einerseits in der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Steuerrechtsschutzes, andererseits aber auch in der tatsächlichen Inanspruchnahme und Handhabung des verfügbaren Steuerrechtsschutzes. 1 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239. 2 Vgl. für den BRH Art. 114 Abs. 2 GG i.V. mit dem BRHG. 3 Zur Kontrolle des Steuervollzugs durch die Rechnungshöfe Schleicher in DStJG 31 (2007), S. 59 ff. 4 Zuletzt Jahresbericht 2017 v. 12.12.2017, BT-Drucks. 19/170, 295 ff.

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II. Rechtliche Ursachen für Beeinträchtigungen des Steuerrechts­ schutzes Obwohl die Garantie des Art. 19 Abs. 4 GG einen umfassenden Rechtsschutz in Steuersachen zu verheißen scheint5, gibt es einfachgesetzliche Regelungen, die im Ergebnis eine Einschränkung des Steuerrechtsschutzes bewirken und noch nicht als Verstoß gegen die Rechtsschutzgarantie verstanden werden. 1. Aufspaltung des Rechtsschutzes auf verschiedene Gerichtsbarkeiten Versteht man „Steuerrechtsprechung“ eng und bezieht sie allein auf die Finanzgerichtsbarkeit, würde man einige Bereiche des Steuerrechts identifizieren, in denen die Finanzgerichtsbarkeit nicht tätig werden kann. Dies folgt aus der Beschränkung des Rechtswegs zu den Finanzgerichten auf die in § 33 FGO genannten Streitigkeiten, bedeutet aber selbstverständlich keine Beeinträchtigung des Rechtsschutzes für die dort nicht genannten Abgabenangelegenheiten, weil dieser von anderen Gerichten gewährt wird. In erster Linie betrifft der Finanzrechtsweg die durch Bundesgesetz geregelten Steuern, die durch Bundes- oder Landesfinanzbehörden verwaltet werden. Aber auch für nicht durch Bundesgesetz geregelte Steuern ist der Finanzrechtsweg aufgrund entsprechender Zuweisung durch die Länder eröffnet, soweit diese Steuern von Behörden des Bundes oder der Länder verwaltet werden. Für Kommunalsteuern ist der Rechtsweg zu den Finanzgerichten nur von den Stadtstaaten vorgesehen worden. Dies betrifft auch die Grund- und Gewerbesteuer, deren Festsetzung und Erhebung den Gemeinden obliegt; die vorgreifliche Festsetzung der Steuermessbeträge ist den Landesfinanzbehörden vorbehalten, so dass insoweit bundesweit der Finanzrechtsweg eröffnet ist. Für die von den Landesbehörden verwaltete Kirchensteuer ist die Finanzgerichtsbarkeit zuständig, sofern ein Landesgesetz die Eröffnung des Finanzrechtswegs regelt, was nur in einigen Ländern geschehen ist. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten über Abgabenangelegenheiten, die nicht unter §  33 FGO fallen, sind nach dem Grundsatz des § 40 Abs. 1 VwGO den (allgemeinen) Verwaltungsgerichten zugewiesen6. Straf- und Bußgeldsachen im Zusammenhang mit Abgabenangelegenheiten werden durch §  33 Abs.  3 FGO ausdrücklich von der Zuständigkeit der Fi-

5 Art. 19 Abs. 4 GG beseitigt „die ‚Selbstherrlichkeit‘ der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger […]; kein Akt der Exekutive, der in Rechte des Bürgers eingreift, kann richterlicher Nachprüfung entzogen werden“; verfassungsrechtlich gewährleistet ist aber nur ein Rechtsschutz im Rahmen der Prozessordnungen (BVerfG v. 12.1.1960  – 1 BvL 17/59, BVerfGE 10, 264); näher zur Rechtsschutzgewähr in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nachstehend Werth, Rechtsschutzgewähr und Rechtsfolgeansprüche in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, in FS 100 Jahre BFH, S. 535 ff. 6 Zum Rechtsschutz in Steuersachen durch das BVerwG s. nachstehend Rennert, Der Blick des BVerwG auf das Steuerrecht aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts, in FS 100 Jahre BFH, S. 587 ff.

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nanzgerichte ausgenommen; sie sind den ordentlichen Gerichten zugewiesen7. Die ordentlichen Gerichte sind nach der ausdrücklichen Regelung in Art. 34 Satz 3 GG auch für Amtshaftungsansprüche gegen Amtsträger der Finanzverwaltung zuständig. 2. Prozessrechtlich verursachte Einschränkungen des Rechtsschutzes a) Eingeschränkte Prüfungsdichte aa) Einschränkungen des Rechtsschutzes bei Einschätzungs- und ­Auswahlspielräumen der Verwaltung Einschränkungen des Steuerrechtsschutzes können sich daraus ergeben, dass dem Gericht die Überprüfung von Akten öffentlicher Gewalt prozessrechtlich ganz oder teilweise verwehrt ist. Aus der Garantie des Art. 19 Abs. 4 GG folgt grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Das schließt eine Bindung der rechtsprechenden Gewalt an tatsächliche oder rechtliche Feststellungen und Wertungen seitens anderer Gewalten hinsichtlich dessen, was im Einzelfall rechtens ist, im Grundsatz aus8. Die Rechtskontrolle durch die Gerichte kann aber durch vom einfachen Gesetzgeber eröffnete Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume sowie die Wirkung von anderen Exekutivakten eingeschränkt sein. Die gerichtliche Kontrolle endet dort, wo das materielle Recht in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise das Entscheidungsverhalten nicht vollständig determiniert und der Verwaltung einen Einschätzungs- und Auswahlspielraum belässt9. bb) Ermessen Im Steuerrecht trifft dies in erster Linie auf Verwaltungsakte zu, die im Ermessen der Finanzbehörde stehen. Zwar sind solche Verwaltungsakte gerichtlich überprüfbar, allerdings mit eingeschränkter Überprüfungsdichte, weil die eigentliche Ermessensausübung der Verwaltung vorbehalten bleiben soll. § 102 Satz 1 FGO bestimmt insoweit, dass das Gericht nur prüft, ob bei Erlass oder Ablehnung des Verwaltungsakts die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind und ob von dem Ermessen seinem Zweck entsprechend Gebrauch gemacht worden ist. Bewegt sich die Ermessensentscheidung innerhalb dieser Grenzen, bleibt es bei der konkret von der Verwaltung getroffenen Entscheidung. Das Gericht darf sein Ermessen nicht an die Stelle des Ermessens der Verwaltung setzen. Die gerichtliche Überprüfung der Voraussetzungen für die Ermessensausübung und die Grenzen, innerhalb deren die Ver-

7 Zum Zusammenspiel von BFH und BGH auf dem Gebiet des Steuerstrafrechts s. nachstehend Radtke, Das Zusammenspiel von BFH und BGH auf dem Gebiet des Steuerstrafrechts, in FS 100 Jahre BFH, S. 569 ff. 8 BVerfG v. 5.2.1963 – 2 BvR 21/60, BVerfGE 15, 275. 9 BVerfG v. 18.7.2005 – 2 BvR 2236/04, BVerfGE 113, 273, und v. 23.5.2006 – 1 BvR 2530/04, BVerfGE 116, 1.

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waltung Ermessen ausüben kann, ist zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG ausreichend. Dass der Verwaltung innerhalb dieser Grenzen ein eigener Entscheidungsbereich verbleibt, entspricht ihrer von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG garantierten Stellung als vollziehende Gewalt. Dementsprechend räumt das Gesetz der Verwaltung Ermessensentscheidungen auch nur in Bezug auf den Vollzug der Steuergesetze ein. Über den Steueranspruch selbst kann die Verwaltung nicht nach ihrem Ermessen verfügen. Das gilt auch im Rahmen der Entscheidung über eine niedrigere Steuerfestsetzung oder Steuererhebung aus Billigkeitsgründen nach §§  163, 227 AO. Ob die Festsetzung oder Erhebung der Steuer unbillig ist, ist eine von den Gerichten voll über­ prüfbare Voraussetzung für den Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts. Ist die Voraussetzung aber erfüllt, muss der Verwaltungsakt ergehen; das Ermessen der Verwaltung ist dann auf Null reduziert, wenn man nicht sogar – noch weitergehend und entgegen dem Wortlaut der Normen – im Ergebnis von einer gebundenen Entscheidung ausgeht10. cc) Beurteilungsspielräume Grundsätzlich gibt es noch einen zweiten gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Handlungsbereich einer Behörde, wenn dieser nämlich vom Gesetz ein sog. Beurteilungsspielraum eingeräumt wird. Auf dem Gebiet des Steuerrechts sind solche Beurteilungsspielräume aber nicht vorgesehen. Wenn sich die Finanzgerichtsbarkeit gleichwohl mit Beurteilungsspielräumen beschäftigt, liegt das an der von § 33 Abs. 1 Nr. 3 FGO geregelten Zuständigkeit der Finanzgerichte für berufsrechtliche Streitigkeiten nach dem Steuerberatungsgesetz, zu denen auch Verfahren gehören, in denen Rechtsschutz gegen Prüfungsentscheidungen begehrt wird. Dort ist die gerichtliche Kontrolle in Bezug auf prüfungsspezifische Wertungen eingeschränkt, geht allerdings über eine bloße Willkürkontrolle hinaus11. dd) Verbindliche Auskunft Einer sehr eingeschränkten inhaltlichen Kontrolle durch die FG soll nach der Rechtsprechung des BFH die Erteilung oder Ablehnung einer verbindlichen Auskunft nach § 89 AO unterliegen. Weil Regelungsgegenstand nur die gegenwärtige Beurteilung einer der Finanzbehörde zur Prüfung gestellten hypothetischen Gestaltung sei und damit keine endgültige Aussage über die materielle Rechtmäßigkeit einer Steuerfestsetzung oder Feststellung von Besteuerungsgrundlagen getroffen werde, beschränke sich die gerichtliche Kontrolle auf die Einhaltung der Vorschriften über die Erteilung der Auskunft; dies stehe im Einklang mit den Anforderungen des Art. 19

10 Ausführlich dazu die Entscheidung des Großen Senats des BFH zum sog. Sanierungserlass der Finanzverwaltung (BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BFHE 255, 482, BStBl. II 2017, 393). 11 Grundlegend BVerfG v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 84, 34.

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Abs. 4 GG12. Das Gericht prüft danach den Inhalt einer erteilten verbindlichen Auskunft nur darauf, ob die gegenwärtige rechtliche Einordnung des – zutreffend erfassten – zur Prüfung gestellten Sachverhalts in sich schlüssig und nicht evident rechtsfehlerhaft ist. ee) Gesetzlicher Verweis auf verwaltungsrechtliche Regelung Zu einem eingeschränkten Rechtsschutz kommt es auch dann, wenn eine tatbestandliche Voraussetzung des Gesetzes auf eine untergesetzliche verwaltungsrechtliche ­Regelung verweist. Zwar sind Verwaltungsvorschriften, mit denen die Verwaltung einen einheitlichen Verwaltungsvollzug bei der Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe oder bei der Ausübung des Verwaltungsermessens sicherstellen will, grundsätzlich Gegenstand, nicht jedoch Maßstab richterlicher Kontrolle des Verwaltungshandelns13. Es gibt aber auch verwaltungsrechtliche Regelungen, die Maßstab der gerichtlichen Kontrolle sein können, wenn nämlich ein Gesetz oder eine Verordnung auf eine Verwaltungsregelung verweist. Solche Verweisungen gibt es auch im Zuständigkeitsbereich der Finanzgerichtsbarkeit, etwa dann, wenn eine Steuernorm an die Art eines Unternehmens anknüpft und dafür auf eine vom Statistischen Bundesamt vorgenommene Klassifikation verweist14. Kann die Verwaltungsregelung in einem solchen Fall zwar nicht unmittelbar gerichtlich geprüft werden, unterliegt sie aber doch mittelbar einer Kontrolle, nämlich im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung der Anwendung des verweisenden Gesetzes durch die Finanzbehörde. Die mittelbare Kontrolle ist grundsätzlich uneingeschränkt gewährleistet und nicht nur auf eine Willkürprüfung beschränkt. Für die Nomenklatur der Wirtschaftszweige hat das BVerfG jedoch dann, wenn es sich um eine auf diese verweisende Subventionsnorm handelt, eine Evidenzkontrolle für ausreichend gehalten15. Im Bereich der Eingriffsverwaltung erscheint die Vereinbarkeit einer derart eingeschränkten Kontrolle mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes allerdings zweifelhaft. Im Übrigen hat das BVerfG die eingeschränkte Kontrolle auch nur punktuell auf die Klassifikation selbst bezogen, während die konkrete Zuordnungsentscheidung des Statistischen Bundesamts einer umfassenden (mittelbaren) Kontrolle durch die Finanzgerichte unterliegt. b) Zugangsvoraussetzungen Die Inanspruchnahme von Steuerrechtsschutz kann schon daran scheitern, dass die Zugangsvoraussetzungen zu einem gerichtlichen Verfahren nicht erfüllt werden. Solche Voraussetzungen sind Bestandteil jeder Prozessordnung und dienen dazu, das

12 BFH v. 29.2.2012 – IX R 11/11, BFHE 237, 9, BStBl. II 2012, 651, und v. 14.7. 2015 – VIII R 72/13; a.A. etwa Krumm, DStR 2011, 2429 (2430 f.); Seer in Tipke/Kruse, § 89 AO Rz. 61: faktische Einräumung eines Beurteilungsspielraums. 13 BVerfG v. 31.5.1988 – 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214. 14 Z.B. § 2 Nr. 3 StromStG; § 3 Abs. 1 Satz 2 InvZulG 2010. 15 BVerfG v. 31.5.2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1.

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für jedes Gerichtsverfahren erforderliche Rechtsschutzinteresse16 zu dokumentieren, den Verfahrensablauf technisch handhabbar zu machen und seinem Zweck entsprechend zu strukturieren. Verhindern derartige Voraussetzungen etwa die erfolgreiche Prozessführung durch von einem konkreten Akt öffentlicher Gewalt nicht betroffene Personen, indem die Behauptung einer individuellen Rechtsverletzung verlangt wird (hier §  40 Abs.  2 FGO), liegt darin keine Verletzung der Rechtsschutzgarantie des Art.  19 Abs.  4 GG, denn diese ist allein auf die Gewährleistung eines Individualrechtsschutzes gerichtet17. Generell schließt die Rechtsschutzgarantie nicht aus, dass die Beschreitung des Rechtswegs von der Erfüllung bestimmter formeller Voraussetzungen wie etwa der Einhaltung von Fristen oder einer ordnungsgemäßen Vertretung durch als postulationsfähig bezeichnete Personen abhängig gemacht wird18, sofern durch die Voraussetzungen der Zugang zum Gericht nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird19. Kein Verstoß gegen die Rechtsschutzgarantie ist darin zu sehen, dass die Anrufung des Gerichts von einem vorherigen und erfolglos gebliebenen außergerichtlichen Verfahren zur Prüfung des Rechtsschutzbegehrens abhängig gemacht wird20, wie es etwa § 44 FGO für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen vorsieht. Auch das Erfordernis eines Gerichtskostenvorschusses (§  6 Abs.  1 Nr.  4 GKG) ist mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes gegen Akte hoheitlicher Gewalt vereinbar21, zumal im Fall der Mittellosigkeit Prozesskostenhilfe für jedes Verfahren zu gewähren ist, das hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§  142 FGO i.V.m. §  114 ZPO). Die Zugangsvoraussetzungen zu den Finanzgerichten nach der FGO entsprechen den vorstehenden Vorgaben. Ungeachtet dessen, dass damit der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie genügt wird, schaffen sie faktisch allerdings einen ge­ wissen, vermutlich allerdings kleinen Bereich, in dem Steuerrechtsprechung gegen Hoheitsakte der Finanzbehörden nicht stattfindet und den man je nach Begriffsverständnis auch als „Dunkelfeld“ bezeichnen könnte. c) Instanzenzug Beschränkungen der gerichtlichen Kontrolle können sich im Zusammenspiel mehrerer Gerichtsinstanzen ergeben. Grundsätzlich gewährleistet die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug22; die effektive Kontrolle durch ein Gericht reicht aus. Eröffnet das Prozessrecht allerdings eine weitere Instanz, nimmt auch die effektive Nutzbarkeit des Instanzenzuges an der Rechtsschutzgarantie teil; der Zugang zur Rechtsmittelinstanz darf nicht unzumutbar erschwert werden23. In 16 BVerfG v. 30.4.1997 – 2 BvR 817/90, BVerfGE 96, 27. 17 BVerfG v. 9.1.1991 – 1 BvR 207/87, BVerfGE 83, 182. 18 BVerfG v. 17.3.1959 – 1 BvL 5/57, BVerfGE 9, 194. 19 BVerfG v. 12.1.1960 – 1 BvL 17/59, BVerfGE 10, 264. 20 BVerfG v. 9.5.1973 – 2 BvL 43/71, 2 BvL 44/71, BVerfGE 35, 65. 21 BVerfG v. 12.1.1960 – 1 BvL 17/59, BVerfGE 10, 264. 22 BVerfG v. 22.6.1960 – 2 BvR 37/60, BVerfGE 11, 232. 23 BVerfG v. 29.10.1975 – 2 BvR 630/73, BVerfGE 40, 272.

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der Ausgestaltung des Instanzenzuges ist der Gesetzgeber im Übrigen aber frei. In der Finanzgerichtsbarkeit ist der lediglich zweistufig ausgestaltete Instanzenzug danach mit dem GG vereinbar. Er bedeutet im Vergleich zu anderen Gerichtsbarkeiten insbesondere eine Verkürzung der Möglichkeiten zur gerichtlichen Ermittlung des Sachverhalts. Dass Rechtsfragen der Revisionsinstanz nur unter bestimmten Bedingungen vorgelegt werden können – heute nur noch, wenn sie grundsätzliche Bedeutung haben, weil sie ungeklärt sind oder infolge divergierender Entscheidungen (erneut) geklärt werden müssen –, ist im Hinblick auf den Zweck revisionsgerichtlicher Prüfung selbstverständlich und allen Prozessordnungen eigen. In der Ausgestaltung dieser Bedingungen ist der Gesetzgeber frei; er kann den Zugang bei Beachtung des Vertrauensschutzes auch durch Abschaffung bisher zulässiger Rechtsmittel (wie etwa der Streitwertrevision) beschneiden24. Die Auslegung der Verfahrensordnung durch die Gerichte darf allerdings nicht dazu führen, den Zugang zur nächsten Instanz – in der Finanzgerichtsbarkeit also den Zugang zum BFH  – in unzumutbarer Weise zu erschweren. Dies ist dem BFH zum Teil wegen seiner strengen Auslegung der Darlegungslast nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO vorgeworfen worden25. Ein „Dunkelfeld“ der Steuerrechtsprechung entsteht durch den Instanzenzug aus Rechtsgründen danach nicht. Alle Verwaltungsentscheidungen sind – innerhalb des oben beschriebenen Rahmens – in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überprüfbar. Lediglich bei fehlerhafter und die Rechtsschutzgarantie verletzender Auslegung des Prozessrechts könnte faktisch ein solches „Dunkelfeld“ entstehen, wenn sich der Fehler als generelles Rechtsanwendungsdefizit darstellen sollte. Selbst wenn im Einzelfall Fehler bei der Auslegung des Prozessrechts niemals ausgeschlossen werden können, liegen Anhaltspunkte für ein strukturelles Defizit des Finanzrechtsschutzes aber nicht vor. d) Einstweiliger Rechtsschutz Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verlangt, dass irreparable Folgen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, soweit als möglich ausgeschlossen werden. Dies setzt die Schaffung eines Eilrechtsschutzes durch die betreffende Prozessordnung voraus, wobei es dem Gesetzgeber freigestellt ist, auf welche Weise er einen solchen Rechtsschutz sicherstellt26. Darüber hinaus ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes auch Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen27. Für den Finanzprozess regeln § 69 Abs. 3 ff. und § 114 FGO Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes und sehen ausreichende Möglichkeiten zur Verhinderung des Eintritts irreparabler Folgen durch hoheitliche Maßnahmen vor. 24 BVerfG v. 7.7.1992 – 2 BvR 1631/90, 2 BvR 1728/90, BVerfGE 87, 48. 25 S. dazu nachstehend Ratschow, Die Nichtzulassungsbeschwerde als Stolperdraht der Rechts­ suchenden?, in FS 100 Jahre BFH, S. 1889 ff. 26 BVerfG v. 8.11.2017 – 2 BvR 809/17. 27 BVerfG v. 16.5.1995 – 2 BvR 745/88, BVerfGE 79, 69.

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Die Steuerrechtsprechung ist damit in der Lage, faktisch endgültige Rechtsbeeinträchtigungen durch Hoheitsakte von Finanzbehörden zu verhindern. „Dunkelfelder“ in diesem Zusammenhang sollten ausgeschlossen sein. Eine Verweigerung effektiven Rechtsschutzes wird dem BFH allerdings in Fällen vorgeworfen, in denen sich ein Steuerpflichtiger auf die Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm beruft. Bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts, ist nach § 69 Abs. 3 FGO dessen Vollziehung auszusetzen oder im Falle eines bereits vollzogenen Verwaltungsakts die Vollziehung wieder aufzuheben. Ist das betreffende Steuergesetz formell ordnungsgemäß zustande gekommen und wird ein Verfassungsverstoß in Bezug auf seinen materiellen Inhalt gerügt, verlangt der BFH ein besonderes berechtigtes Interesse an der Aussetzung der Vollziehung, das das Interesse des Fiskus am Vollzug des Gesetzes überwiegt28. Sei die Schwere des durch die Vollziehung im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen als eher gering einzustufen und habe der Eingriff keine dauerhaften nachteiligen Wirkungen für den Steuerpflichtigen, sei eine Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung selbst bei schwerwiegenden Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der der Besteuerung zugrunde liegenden Vorschriften nicht geboten. Anders könne es sich nur verhalten, wenn die Rechtslage klar und eindeutig und eine abweichende Beurteilung in einem etwa durchzuführenden Hauptsacheverfahren zweifelsfrei auszuschließen sei29. An dem so definierten Vorrang der geordneten Haushaltsführung gibt es heftige Kritik30, auch aus der Finanzgerichtsbarkeit31. Nicht zuletzt im BFH selbst gibt es Bedenken, die in Entscheidungen artikuliert worden sind, aber nicht entscheidungstragend waren, weil die Gewährung von AdV immer (auch) auf vorrangige Interessen des Stpfl. gestützt wurde32. Dementsprechend musste der Große Senat des BFH 28 So auch jüngst BFH v. 25.4.2018 – IX B 21/18, DStR 2018, 1020 zum Zinssatz nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO mit Interessenabwägung zu Lasten des Fiskus. 29 So zuletzt BFH v. 2.3.2017 – II B 33/16, BFHE 257, 27, BStBl. II 2017, 646 zur AdV von Einheitswertbescheiden im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des BFH v. 22.10.2014 – II R 16/13, BFHE 247, 150, BStBl. II 2014, 957 zur Verfassungswidrigkeit der Vorschriften über die Einheitsbewertung ab dem 1.1.2009; ähnlich BFH v. 21.7.2016 – V B 37/16, BFHE 254, 491, BStBl. II 2017, 28 zur AdV wegen Verfassungswidrigkeit des Kinderfreibetrags ab 2014; v. 15.6.2016 – II B 91/15, BFHE 253, 319, BStBl. II 2016, 846 zur AdV des Solidaritätszuschlags 2012 im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Nds. FG v. 21.8.2013  – 7 K 143/08, DStRE 2014, 534; BFH v. 9.3.2012 – VII B 171/11, BFHE 236, 206, BStBl. II 2012, 418 zur Kernbrennstoffsteuer; anders aber BFH v. 21.11.2013  – II B 46/13, BFHE 243, 162, BStBl. II 2014, 263, wonach nur in Ausnahmefällen überwiegende öffentliche Belange einer AdV entgegenstehen können. 30 Seer in FS Spindler, 2011, S. 219 (220 ff.); ders., StuW 2001, 3 (17); ders. in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 96 f.; Specker, DStZ 2010, 800 (804); nach Drüen, FR 1999, 289 (294) soll AdV bei höchstwahrscheinlicher Verfassungswidrigkeit gewährt werden. 31 Insbesondere Nds. FG v. 6.1.2011 – 7 V 66/10, EFG 2011, 827 und FG Berlin-Brandenburg v. 13.10.2011 – 12 V 12089/11, EFG 2012, 358; Schallmoser, DStR 2010, 297; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 69 FGO Rz. 334 ff.; Gosch in Gosch, § 69 FGO Rz. 180.1 f.; weniger strikt Wagner in FS Kruse, 2001, S. 735 (750 ff.), der für eine Einzelfallabwägung der finanziellen Auswirkungen plädiert. 32 BFH v. 18.12.2013  – I B 85/13, BFHE 244, 320, BStBl.  II 2014, 947 zu §  4h EStG; v. 13.3.2012 – I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl. II 2012, 611 zu § 8a Abs. 2 Alt. 3 KStG.

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bisher nicht wegen Divergenz angerufen werden. Gewiss hat die Frage grundsätzliche Bedeutung und könnte von daher durch den Großen Senat geklärt werden. Wegen der Eilbedürftigkeit der Entscheidung dürfte aber kaum mit einer darauf gestützten Anrufung des Großen Senats zu rechnen sein. Kritisch zu bewerten ist im Übrigen auch ein in der Vergangenheit gelegentlich für eine Ablehnung der AdV wegen einer Gleichheitssatzverletzung durch eine Steuernorm herangezogenes Argument: Sei anzunehmen, dass das BVerfG im Fall der Verfassungswidrigkeit nur eine Unvereinbarkeitsentscheidung treffen und den Gesetzgeber für die Zukunft zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit veranlassen werde, könne der Antragsteller selbst nicht mit einer für ihn günstigen Entscheidung rechnen; deshalb könne er auch keine AdV beanspruchen33. Zwar soll der einstweilige Rechtsschutz dem Antragsteller nicht mehr geben, als er in der Hauptsache erlangen kann. Darüber, ob er aber von einer Entscheidung des BVerfG nur wegen dessen „pro futuro“-Rechtsprechung am Ende nicht auch selbst profitieren kann, ist dem wegen AdV angerufenen Fachgericht eine hinreichend sichere Vorhersage nicht möglich. Ein wirksamer Rechtsschutz erfordert deshalb in derartigen Fällen eine Aussetzung des streitigen Verwaltungsakts34. e) Geheimhaltungspflichten und Datenschutz Ein „Dunkelfeld“ der Steuerrechtsprechung könnte dort entstehen, wo Ermittlungen des Gerichts durch das Steuergeheimnis (§  30 AO) begrenzt werden. Der Kläger selbst ist durch das Steuergeheimnis in dem von ihm geführten Prozess nicht geschützt, soweit seine Verhältnisse für die Entscheidung des Rechtsstreits von Bedeutung sind. Diesbezügliche im Dienst erworbene Erkenntnisse dürfen dem Steuergeheimnis verpflichtete Amtsträger im Finanzprozess offenbaren (§  30 Abs.  4 Nr.  1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a AO), und zwar auch dann, wenn sie dadurch nicht nur dem Gericht selbst, sondern auch prozessual notwendig in das Verfahren einbezogenen Personen bekannt werden (z.B. Zeugen und Sachverständige)35. Nicht selten werden aber Verhältnisse eines Dritten für die Entscheidung des Rechtsstreits von Bedeutung sein, etwa die Verhältnisse von Geschäftspartnern oder Unterhaltsempfängern. Nach der Rechtsprechung des BFH ist jedoch auch der Schutz Dritter suspendiert, soweit deren Verhältnisse in unmittelbarer Beziehung zur Besteuerung des Stpfl., hier des Klägers, stehen36. Sogar Verhältnisse von Wettbewerbern dürfen im Finanzprozess offengelegt werden, wenn mit der Klage ein subjektives öffentliches Recht auf steuerlichen Drittschutz geltend gemacht wird und die Klage nicht offensichtlich unzulässig ist37. Es ist danach anzunehmen, dass Ermittlungen des FG durch das Steuergeheimnis nicht beeinträchtigt werden; ein „Dunkelfeld“ kann insoweit nicht entstehen.

33 Zuletzt BFH v. 5.4.2011 – II B 153/10, BFHE 232, 380, BStBl. II 2011, 942. 34 So auch jetzt BFH v. 21.11.2013 – II B 46/13, BFHE 243, 162, BStBl. II 2014, 263. 35 Drüen in Tipke/Kruse, § 30 AO Rz. 64. 36 Drüen in Tipke/Kruse, § 30 AO Rz. 65 m.w.N. 37 BFH v. 5.10.2006 – VII R 24/03, BFHE 215, 32, BStBl. II 2007, 243.

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Geheimhaltungspflichten über das Steuergeheimnis hinaus können im Finanzprozess im Zusammenhang mit der Vorlage von Akten eine Rolle spielen. Behörden sind grundsätzlich zur Vorlage von Akten, Urkunden und elektronischen Dokumenten verpflichtet, soweit das Steuergeheimnis nicht entgegensteht (§ 86 Abs. 1 FGO). Damit korrespondiert ein Akteneinsichtsrecht der Verfahrensbeteiligten (§  78 Abs.  1 Satz 1 FGO). § 86 Abs. 2 FGO gestattet allerdings den Behörden, in Ausnahmefällen aufgrund besonderer Geheimhaltungsbedürftigkeit Akten nicht vorzulegen. In einem besonderen Verfahren dürfen die Akten dann aber vom Gericht eingesehen werden („in camera“-Verfahren). Das Akteneinsichtsrecht der Verfahrensbeteiligten wird damit partiell außer Kraft gesetzt, so dass aus deren Perspektive insoweit von einem „Dunkelfeld“ gesprochen werden kann. Geheimhaltungspflichten von Steuerpflichtigen können ebenfalls Bedeutung für das finanzgerichtliche Verfahren haben, wenn Kläger unter Hinweis auf ihre Verschwiegenheitspflicht die Vorlage oder Benennung von Beweismitteln ablehnen. Der Zielkonflikt zwischen Amtsermittlungsgrundsatz, Feststellungslast und der gesetzlichen oder vertraglichen Verschwiegenheitsverpflichtung muss dabei im Wege einer Abwägung gelöst werden, etwa im Wege einer Neutralisierung von Urkunden38. Berufsrechtlichen Verschwiegenheitsverpflichtungen wird dabei eine größere Bedeutung als vertraglichen Verpflichtungen zukommen, zumal § 30a AO, der früher das vertragliche Bankgeheimnis schützte, mittlerweile aufgehoben worden ist39. Ansonsten haben Geheimhaltungs- und Datenschutz bislang  – soweit ersichtlich  – keine Entstehung von „Dunkelfeldern“ im Finanzprozess zur Folge gehabt. Inwieweit die DSGVO40 und das BDSG in seiner am 25. Mai 2018 in Kraft getretenen Fassung41 Auswirkungen auf das Verfahren vor den FG haben können, wird noch zu untersuchen sein42. 3. Materielles Recht als Ursache für eingeschränkten Rechtsschutz Das materielle Recht kann auch selbst die Ursache eingeschränkten Rechtsschutzes sein. Dies kann sich einerseits aus Merkmalen des Steuergesetzes ergeben, die aus Rechtsgründen der Kontrolle durch die Finanzgerichte nicht oder nur eingeschränkt unterliegen. Andererseits können Merkmale des Steuergesetzes faktisch eine eingeschränkte Kontrolldichte verursachen, weil sie an Rechtsquellen oder Tatsachen anknüpfen, die mit den im Finanzprozess verfügbaren Erkenntnismöglichkeiten nicht vollständig und zuverlässig aufgeklärt werden können.

38 Vgl. z.B. BFH v. 28.10.2009 – VIII R 78/05, BFHE 227, 338, BStBl. II 2010, 455. 39 Durch das StUmgBekG v. 23.6.2017, BGBl. I 2017, 1682. 40 Datenschutz-Grundverordnung, Verordnung (EU) 2016/679. 41 Bundesdatenschutzgesetz v. 30.6.2017, BGBl. I 2017, 2097. 42 Zur Bedeutung der Neuregelungen im Besteuerungsverfahren und zur Einführung eines eigenständigen Klageverfahrens vor den FG durch § 32i AO vgl. etwa Baum, NWB 2017, 3143 (Teil I), 3203 (Teil II), 3281 (Teil III), 3351 (Teil IV), 3415 (Teil V); Krumm, DB 2017, 2182; Myßen/Kraus, DB 2017, 1860.

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a) Rechtliche Beschränkungen der finanzgerichtlichen Kontrolle In erster Linie ergeben sich diesbezügliche Einschränkungen des Rechtsschutzes daraus, dass das Gesetz ein Merkmal verwendet, das dem oben erwähnten eingeschränkten prozessualen Prüfungsumfang unterliegt, mit dem also der Behörde ein Ermessen oder ein Beurteilungsspielraum eingeräumt wird43. Dem Rechtsschutz durch die Finanzgerichte entzogen sind auch Verweisungen des Steuergesetzes auf Verwaltungsakte anderer Behörden, sofern es diese für bindend erklärt44. Der Rechtsschutz für den Steuerbürger ist dadurch aber im Ergebnis nicht eingeschränkt, weil die betreffenden Verwaltungsakte ihrerseits der Kontrolle durch die jeweils zuständigen Gerichte unterliegen. Aus der Aufspaltung der Zuständigkeiten können sich allerdings faktische Schwierigkeiten bei der Inanspruchnahme des Rechtsschutzes ergeben. Ob das Steuergesetz eine solche bindende Verweisung enthält, muss im Einzelfall geprüft werden45. Ist das Steuergesetz dahin zu verstehen, dass die Finanzbehörden die Entscheidung der anderen Behörde inhaltlich überprüfen dürfen, besteht eine rechtliche Bindung nicht und die finanzbehördliche Entscheidung unterliegt ihrerseits der Kontrolle des Finanzgerichts. Hält die Finanzbehörde den sie bindenden Verwaltungsakt einer anderen Behörde für rechtswidrig, kann sie ggf. selbst gegenüber der anderen Behörde tätig werden, um eine Änderung des Verwaltungsakts zu erreichen, möglicherweise sogar unter Inanspruchnahme des Rechtsweges46. Insoweit unterliegt die Finanzbehörde ihrerseits wieder finanzgerichtlicher Kontrolle. b) Rechtsquellen als Ursache eingeschränkter Kontrolldichte Rechtsquelle finanzgerichtlicher Entscheidungen ist grundsätzlich das geschriebene Recht, das in vollem Umfang der Auslegung durch die Gerichte unterliegt. Dies gilt für alle entscheidungserheblichen Normen, auch wenn sie nicht der ausschließlichen Zuständigkeit der Finanzgerichtsbarkeit zugewiesen sind. Widersprüche bei der Auslegung von Normen durch unterschiedliche Gerichtsbarkeiten sollen durch die Einrichtung eines Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vermieden werden. Für Verfassungsrecht und Unionsrecht stellen Vorlagepflichten an das BVerfG bzw. den EuGH deren Letztauslegungsmonopol sicher. Es gibt allerdings einige wenige Rechtsquellen im Zuständigkeitsbereich der Finanzgerichte, deren Erkenntnis nicht in der bloßen Lektüre und Auslegung eines deutschen Normtextes besteht. Der Erkenntnisprozess für solche Rechtsquellen kann zumindest faktisch eine eingeschränkte finanzgerichtliche Kontrolldichte zu Folge haben. Dies betrifft etwa ungeschriebene Rechtsquellen, wie z.B. das Gewohnheitsrecht, dessen Durchsetzung 43 S. oben unter II.2. a) bb) und cc). 44 Sog. Feststellungswirkung des VA in Abgrenzung von der allgemein aus der Bestandskraft jedes Verwaltungsakts folgenden Tatbestandswirkung, s. dazu etwa Steinhauff, AO-StB 2010, 271 (273). 45 Die Grenzen sind fließend, wie etwa an der Rechtsprechungsentwicklung zu §§ 7i, 7h EStG zu beobachten war (zuletzt BFH v. 22.10.2014 – X R 15/13, BFHE 247, 562, BStBl. II 2015, 367, und v. 6.12.2016 – IX R 17/15, BFHE 256, 301, BStBl. II 2017, 523). 46 So etwa zu einer Bescheinigung nach § 7h EStG, s. BFH v. 22.10.2014 – X R 15/13, BFHE 247, 562, BStBl. II 2015, 367 Rz. 18 m.w.N.

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faktisch der Anerkennung durch das Gericht bedarf47. Der Prozess zur richterlichen Anerkennung wird dabei in seiner Rationalität kaum überprüfbar sein. Ähnlich verhält es sich mit der Erkenntnis anderer ungeschriebener Rechtsquellen, wie etwa einem Handelsbrauch oder der Verkehrsauffassung. Eine Einschränkung des Rechtsschutzes wird man auch konstatieren müssen, soweit ausländisches Recht für die Erfüllung eines deutschen Abgabentatbestands von Bedeutung ist. Denn die Auslegung ausländischen Rechts wird als Tatsachenfeststellung betrachtet48 und dürfte in der Regel die Einschaltung eines Sachverständigen erforderlich machen, die wie jede Ermittlung von nicht objektiv feststellbaren Tatsachen einer eingeschränkten Kontrolldichte unterliegt. c) Eingeschränkte Kontrolldichte durch Grenzen der Sachverhaltsaufklärung Die Kontrolle der behördlichen Gesetzesanwendung durch die Finanzgerichte stößt da an ihre Grenzen, wo nicht die Auslegung des Gesetzes, sondern die Frage zu klären ist, ob der verwirklichte Sachverhalt der gesetzlichen Regelung unterfällt. Die Aufklärung des Sachverhalts obliegt zunächst den Finanzbehörden (§  88 Abs.  1 Satz 1 AO), wird aber mit Klageerhebung auch zur Aufgabe des Finanzgerichts, das nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat. Die Erstreckung des Amtsermittlungsgrundsatzes auf das gerichtliche Verfahren dient mittelbar auch zur Kontrolle der Finanzbehörden, weil deren Ermittlungsergebnisse durch die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung entweder bestätigt oder korrigiert werden. Das prozessuale Instrumentarium zur Sachverhaltsaufklärung wird allerdings vielfach nicht zu einer sicheren Sachverhaltsfeststellung ausreichen, insbesondere da, wo das Gesetz an nicht objektiv feststellbare Merkmale anknüpft, wie insbesondere an subjektive Merkmale49, aber auch an die Verkehrsauffassung oder eine fachgerechte Ausführung. Zu den nicht objektiv feststellbaren Tatsachen gehört auch der Wert einer Sache, eines Rechts oder einer Leistung. Soweit das Gesetz an den Wert als Tatbestandsmerkmal anknüpft und keine Regelung zu seiner Bemessung anhand einer objektiv feststellbaren Hilfsgröße trifft (z.B. Kaufpreis), kann das Gericht den Wert mit den prozessual verfügbaren Beweismitteln nur näherungsweise ermitteln. Das gilt unabhängig davon, ob die Frage nach dem richtigen Bewertungsverfahren eindeutig beantwortet werden kann50. Auch wenn dogmatisch anzunehmen sein sollte, dass es nur einen objektiv richtigen Wert geben kann (so nach Meinung des BFH etwa beim Teilwert51), ist dessen Bestimmung doch nur anhand von Hilfstatsachen möglich und wird nicht selten in der subjektiven Auswahl eines Werts durch das Gericht aus einer von ihm anhand der Hilfstatsachen ermittelten Spanne von Werten bestehen. Ähnlich verhält es sich mit der Nutzungsdauer eines Wirt47 Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 145. 48 Z.B. BFH v. 7.12.2017 – IV R 23/14, DStR 2018, 407. 49 S. dazu etwa Beiträge zum Steuerwissenschaftlichen Symposium im BFH 2007, DStR 2007, Beihefter zu Heft 39. 50 Ggf. können aber auch verschiedene Bewertungsverfahren zulässig sein, was die Bandbreite der „richtigen“ Werte vergrößert. 51 BFH v. 20.12.2012 – IV B 12/12, BFH/NV 2013, 547.

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schaftsguts. Auch der häufig zur Objektivierung bemühte Fremdvergleich ist in der Regel kein mit objektiv feststellbaren Tatsachen belegbarer Vergleich, sondern beruht auf Mutmaßungen, und ist damit nur ein besonderer Anwendungsfall von Angemessenheitserwägungen. Der Begriff der Angemessenheit trägt bereits das Kriterium der subjektiven Wertentscheidung in sich, die letztlich die Wertentscheidung des Tatsachengerichts, also im Finanzprozess des entscheidenden Senats oder Einzelrichters ist. Was als objektive Feststellung erscheint, ist in solchen Fällen das Ergebnis einer Schätzung, die auch im streng am Vorbehalt des Gesetzes orientierten Steuerrecht ihren Platz hat (§ 162 AO) und im Prozess eine eigene Schätzungsbefugnis des Gerichts mit sich bringt52. Diese Schätzung ist zwar möglichst rational auszugestalten, bleibt am Ende aber oft angesichts eines nicht auf eine einzige Entscheidung reduzierbaren Schätzungsrahmens doch eine subjektive Entscheidung des Gerichts. Der Gesetzgeber könnte derartige Schätzungen überflüssig machen, wenn er nicht an den Einzelfall anknüpfen, sondern eine tatbestandliche Typisierung vornehmen würde. Dass gesetzliche Typisierungen im Steuerrecht als Massenfallrecht erforderlich und bei richtiger Handhabung auch verfassungsrechtlich zulässig sind, ist heute allgemeine Meinung53. Typisierungen schaffen allerdings zugleich auch ein steuerprozessuales Dunkelfeld, denn welcher Sachverhalt im konkreten Einzelfall verwirklicht wurde, ist für die Besteuerung ohne Bedeutung und wird vom Gericht nicht aufgeklärt54. An die Grenzen seiner Aufklärungsmöglichkeiten gerät das FG auch bei Auslandssachverhalten. Ein Dunkelfeld im Sinne einer Rechtsschutzlücke kann in solchen Fällen dadurch entstehen, dass verfahrensrechtlich die Sachverhaltsaufklärung auf den Steuerpflichtigen verlagert wird (§  76 Abs.  1 Satz  4 FGO i.V.m. §  90 Abs.  2 Satz  1 AO). Scheitert die Aufklärung und hätte der Steuerpflichtige beizeiten Beweisvorsorge treffen können, hat er die Nachteile der Unaufklärbarkeit zu tragen (§ 76 Abs. 1 Satz 4 FGO i.V.m. § 90 Abs. 2 Satz 4 AO). Dies bedeutet zwar keine allgemeine Umkehrung der ansonsten von der Behörde zu tragenden Feststellungslast55, kann aber im Einzelfall zu einer solchen Umkehrung56, zumindest aber zu einer Schätzung führen. Noch darüber hinaus sollen Rechtsbeziehungen in Steueroasen nach § 90 Abs. 2 52 Und – häufig übersehen – zugleich eine Schätzungspflicht. Abzulehnen ist der Vorschlag von Heitmann (DStJG 18 [1995], S. 7 [16]), de lege ferenda eine abschließende Schätzungsbefugnis der Verwaltung zu schaffen. 53 Vgl. z.B. BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, 1 BvR 70/63, BVerfGE 21, 12, und v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348; Mellinghoff, DStR 2003, Beihefter zu Heft 20– 21, 3 (9); Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 451, und 453. Die Typisierung durch den Gesetzgeber ist von der typisierenden Gesetzesauslegung zu unterscheiden (kritisch zur typisierenden Auslegung etwa Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 389 ff.). 54 Inwieweit in concreto mit einer einzelfallorientierten Billigkeitsmaßnahme „geholfen“ werden kann, ist noch nicht abschließend geklärt (vgl. etwa BVerfG v. 28.2.2017 – 1 BvR 1103/15, HFR 2017, 544, vorausgehend BVerwG v. 19.2.2015 – 9 C 10/14, BVerwGE 151, 255; BFH v. 26.2.2014 – I R 59/12, BFHE 246, 27, BStBl. II 2014, 1016; v. 20.9.2012 – IV R 36/10, BFHE 238, 429, BStBl. II 2013, 498). 55 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 90 AO Rz. 155. 56 BFH v. 7.11.2001 – I R 14/01, BFHE 197, 287, BStBl. II 2002, 861.

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Satz 3 AO auch dann nachteilige Folgen für den Steuerpflichtigen haben, wenn eine Beweisvorsorge nicht möglich ist. Über den wirklichen Anwendungsbereich dieser Regelung und ihre Vereinbarkeit mit Verfassungs- und Unionsrecht bestehen noch erhebliche Zweifel57.

III. Tatsächliche Ursachen für Beeinträchtigungen des Steuerrechts­ schutzes Während sich die Suche nach rechtlichen Ursachen für ein mögliches „Dunkelfeld“ des Steuerrechtsschutzes vergleichsweise leicht gestaltet, setzt das Auffinden tatsächlicher Ursachen empirische Untersuchungen voraus. Derartige Untersuchungen sind dem Verfasser nicht bekannt geworden58; für eigene empirische Untersuchungen fehlt es ihm an dem erforderlichen Apparat. Ohne verlässliches empirisches Material können daher nur Mutmaßungen über tatsächliche Ursachen für einen mangelhaften Steuerrechtsschutz angestellt werden. Ursachen dafür können sich sowohl aus dem Verwaltungsverfahren als auch aus dem Gerichtsverfahren ergeben. 1. Ablauf und Gestaltung des Verwaltungsverfahrens a) Verzicht auf Klärung von Rechtsfragen Das Verfahren bei den Finanzbehörden bis zum Erlass des Verwaltungsakts und das anschließende außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren bei den Finanzbehörden können insofern zu einem „Dunkelfeld“ der Steuerrechtsprechung führen, als für den Verwaltungsakt erhebliche Rechtsfragen nicht an die Gerichte herangetragen werden, obwohl ihre Beantwortung zweifelhaft und zwischen Steuerpflichtigem und Finanzbehörde streitig ist. Wenn es dennoch nicht zur gerichtlichen Klärung kommt, haben sich entweder der Steuerpflichtige oder die Behörde trotz verbliebener Zweifel der Rechtsauffassung der Gegenseite angeschlossen, um einen Rechtsstreit zu vermeiden. Über den Einzelfall hinaus kann ein solches Verhalten zur Folge haben, dass eine klärungsbedürftige Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung erst in einem späteren Fall oder möglicherweise sogar niemals einer gerichtlichen und am Ende auch höchstrichterlichen Klärung zugänglich gemacht wird59. Aus rechtssoziologischer Sicht wird die Streitvermeidung möglicherweise zu begrüßen sein. Ganz sicher werden die Justizministerien solche Streitvermeidung begrüßen, weil deren Haushalte angesichts fehlender Deckung der Kosten eines Rechtsstreits durch die Gerichtskosten weniger belastet werden. Ob Finanzministerien derartige Verfahrensweisen begrüßen, wird davon abhängen, ob streitige Rechtsfra57 Näher dazu etwa Seer in Tipke/Kruse, § 90 AO Rz. 29 ff. 58 Allgemeine Untersuchungen zur Finanzgerichtsbarkeit geben auf die hier relevanten Fragen keine Antwort; vgl. etwa Birk/Frese/Windler, Finanzgerichtsorganisation, 1993. 59 Zur Vermeidung der Klärung von Rechtsfragen durch die Praxis von Betriebsprüfungen s. nachstehend Beinert, Vermeidet die Praxis der Betriebsprüfung die Klärung von Steuerrechtsfragen durch die Finanzgerichtsbarkeit?, in FS 100 Jahre BFH, S. 1781 ff.

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gen dabei zugunsten des Fiskus beantwortet werden. Man kann vermuten, dass in der Mehrzahl der Fälle der Steuerpflichtige nachgeben wird, weil er die Kosten oder die Dauer des Rechtsstreits scheut. Klarheit darüber besteht ohne empirische Untersuchungen aber nicht. Dies gilt auch für die fiskalische Bedeutung der jeweils (zähneknirschend) am Ende einvernehmlich beantworteten Rechtsfragen. b) Tatsächliche Verständigung Zwar können Finanzbehörde und Steuerpflichtiger nach ganz überwiegender Meinung keinen Vergleich über den Steueranspruch abschließen, weil die Behörde aufgrund des Legalitätsprinzips verpflichtet ist, einen bestehenden Steueranspruch festzusetzen und den betreffenden Verwaltungsakt auch zu vollziehen60. Nach der Rechtsprechung des BFH ist jedoch eine Verständigung über den verwirklichten und der Besteuerung unterliegenden Sachverhalt zulässig61. Schwierigkeiten bei der Aufklärung des Sachverhalts können so überwunden werden. Diese Form der Verstän­ digung62 ist heute ständige Praxis63 und durch weitere Entscheidungen des BFH64 sowie Verwaltungsanweisungen65 konkretisiert worden. Soweit die tatsächliche Verständigung allein der Klärung des Sachverhalts dient, kann sie nicht zur Folge haben, dass Rechtsfragen der Klärung durch die Gerichte entzogen werden. Anders ist dies jedoch, soweit im Zusammenhang mit der tatsächlichen Verständigung auch Rechtsfragen beantwortet werden, die entweder mit der Sachverhaltsfeststellung untrennbar verbunden (insoweit zulässig)66 oder aber durch Vereinbarung eines fiktiven 60 A.A. Vogel in FS Döllerer, 1988, S.  677 (689); Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996: öffentlich-rechtlicher Vertrag auch zur Klärung einer ungewissen Rechtslage (ebenso ders., StuW 1995, 213 [223]; ders. in FS Vogel, 2000, S. 701; StuW 2001, 3 ff.). 61 Grundlegend unter Fortentwicklung früherer Einzelfallurteile BFH v. 11.12.1984 – VIII R 131/76, BFHE 142, 549, BStBl. II 1985, 354. 62 Zur Frage, welcher Rechtsnatur eine tatsächliche Verständigung ist, vgl. aus neuerer Zeit etwa Krüger, DStZ 2015, 478; Drüen, 2011, 101 (110 f.). 63 Etwa im Rahmen einer Außenprüfung (z.B. bei der Schlussbesprechung), im Einspruchsverfahren (z.B. im Erörterungstermin nach § 364 a AO) oder auch noch im Klagever­fahren (etwa in einem Erörterungstermin nach § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 FGO); sofern eine Mediation nach dem Mediationsgesetz v. 21.7.2012 (BGBl. I 2012, 1577) im Besteuerungsverfahren stattfinden sollte (zur Zulässigkeit FinBeh. Hamburg v. 26.9.2012 – 51 - S 0600-001/12: nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen; Pflaum, StBp 2013, 105 (106 f.): unzulässig; Westermann, Stbg 2017, 27ff.: zulässig) käme auch dort eine tatsächliche Verständigung in Betracht. 64 Etwa BFH v. 5.10.1990 – III R 19/88, BFHE 162, 211, BStBl. II 1991, 45; v. 6.2.1991 – I R 13/86, BFHE 164, 168, BStBl.  II 1991, 673; v. 31.7.1996  – XI R 78/95, BFHE 181, 103, BStBl.  II 1996, 625; v. 28.6.2001  – IV R 40/00  , BFHE 196, 87, BStBl.  II 2001, 714; v. 8.10.2008 – I R 63/07, BFHE 223, 194, BStBl. II 2009, 121; v. 11.4.2017 – IX R 24/15, BFHE 258, 199, BStBl. II 2017, 1155. 65 BMF v. 30.7.2008, BStBl. I 2008, 831; ergänzend z.B. FinMin Sachsen-Anhalt v. 20.7.2016 – 44 - S 0223-15, AO-Kartei ST § 88 Karte 1. 66 Z.B. BFH v. 13.9.1997  – I R 12/97, BFH/NV 1998, 498, zur Angemessenheit einer Geschäftsführervergütung; keine Rechtsfrage ist aber z.B. mit der Feststellung des Orts der Geschäftsleitung verbunden (BFH v. 22.8.2012 – I B 86, 87/11, BFH/NV 2013, 6).

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Sachverhalts nicht als entscheidungserheblich anzusehen sind (insoweit unzulässig, aber in der Praxis vorkommend67). Hier dürfte tatsächlich ein echtes „Dunkelfeld“ bestehen, weil belastbare Erkenntnisse über rechtswidrige tatsächliche Verständigungen derartigen Inhalts naturgemäß nicht vorliegen. c) Verständigungsverfahren Eine gewisse Ähnlichkeit zu tatsächlichen Verständigungen weisen Verständigungsverfahren im internationalen Steuerrecht auf68. Durch Verständigungsverfahren oder Vorabverständigungsverfahren über Verrechnungspreise (APA) werden die in Deutschland gegebenen Rechtsmittel grundsätzlich nicht beeinträchtigt; Verständigungsverfahren und Klageverfahren können parallel verlaufen69. Rechtsfragen des nationalen Steuerrechts sind von derartigen Verfahren nicht betroffen, abgesehen allerdings – wie bei tatsächlichen Verständigungen – von Rechtsfragen, die untrennbar mit der in der Sache getroffenen Verständigung verbunden sind70. Nach Abschluss eines Verständigungsverfahrens und dessen Umsetzung gem. §  175a AO steht der Rechtsweg zum FG offen. Gegenstand des Klageverfahrens ist dann der aufgrund der Verständigungsvereinbarung geänderte Bescheid, wobei als materiell zu klärende Rechtsfrage allerdings nur die Wirksamkeit sowie Inhalt und Umfang der Verstän­ digung in Betracht kommen. Insoweit ist eine umfassende gerichtliche Kontrolle ­gewährleistet, wobei noch ungeklärt ist, inwieweit die deutschen Gerichte an die ­Vereinbarung gebunden sind71. Bei Vorabverständigungsverfahren wird es zu einer gerichtlichen Kontrolle schon wegen des obligatorischen Rechtsmittelverzichts72 nicht kommen. d) Risikomanagement der Finanzverwaltung Der fortschreitende Einzug automatischer Abläufe im Besteuerungsverfahren und der damit verbundene Rückgang personeller Verifikation von Angaben des Steuerpflichtigen hat zur Entwicklung elektronischer Systeme zur Schlüssigkeitsprüfung und zum Abgleich von Metadaten geführt. Das Ziel einer weitgehend automatischen Endbearbeitung von Veranlagungsverfahren und einer möglichst geringen Rate zur personellen Prüfung „ausgesteuerter“ Fälle steht in einem Spannungsverhältnis zum Untersuchungsgrundsatz des § 88 Abs. 1 AO. Durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens73 wurden zahlreiche Vorschriften der AO mit Wirkung ab 2017 an die Anforderungen eines elektronischen Massenverfahrens angepasst, 67 So auch Eckhoff, StuW 1996, 107 (112). 68 Kruse in FS Vogel, 2000, S. 517 (522). 69 BFH v. 26.5.1982 – I R 16/78, BFHE 136, 111, BStBl. II 1982, 583. 70 Etwa im Zusammenhang mit der Bestimmung der „Angemessenheit“. 71 Vgl. dazu etwa Flüchter in Schönfeld/Ditz, 1. Aufl. 2013, Art. 25 OECD-MA Rz. 167. 72 Nach BMF v. 5.10.2006, BStBl. I 2006, 594, Rz. 4.5 und 4.6 wird die Vereinbarung nur dann bindend geschlossen, wenn der Stpfl. zustimmt und einen Einspruchsverzicht nach § 354 Abs. 1a AO erklärt. 73 BestVModG v. 18.7.2016, BGBl. I 2016, 1679.

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teils auch unter Einschränkung des Untersuchungsgrundsatzes74. § 88 Abs. 5 AO enthält seither eine Regelung zu bereits seit langem eingesetzten automationsgestützten Prüfsystemen, sog. Risikomanagementsystemen75. Solche Systeme können in zweifacher Hinsicht zur Entstehung von „Dunkelfeldern“ der Steuerrechtsprechung beitragen. Zum einen werden automatische Systeme weniger als eine personelle Prüfung aufdecken können, ob und inwieweit ein Steuerpflichtiger bei seiner Erklärung eine steuerrechtliche Norm fehlerhaft oder zumindest zweifelhaft zu seinen Gunsten ausgelegt hat. Das Auffinden derartiger Rechtsanwendungsfragen bleibt dann Zufällen oder späteren Prüfungen (insbesondere Außenprüfungen nach § 193 AO) überlassen. Namentlich bei im Rahmen der elektronischen Erklärung schwer abbildbaren Rechtsfragen wird es deshalb zu unerkannten Rechtsanwendungsmängeln oder unerkannten Zweifelsfragen bei der Gesetzesauslegung kommen. Im Ergebnis werden solche Fragen dann auch den Gerichten nicht mehr zur Entscheidung vorgelegt. Dem kann nur dadurch entgegengewirkt werden, dass die Normen des materiellen Steuerrechts vereinfacht und auf die Möglichkeit zur elektronischen Verifikation der Rechtsanwendung ausgerichtet werden76. Zum anderen bergen Risikomanagementsysteme selbst die Gefahr der Entstehung von „Dunkelfeldern“. Dies hängt mit der notwendig intransparenten Verwendung von Parametern zur Risikoprüfung zusammen. Eine Offenlegung der Prüfkriterien und Schwellenwerte würde die leichte Aushebelung des Prüfsystems zur Folge haben, so dass die Finanzverwaltung diesbezügliche Informationen geheim halten muss, wie § 88 Abs. 5 Satz 4 AO jetzt auch ausdrücklich regelt. Der Einsatz von Risikomanagementsystemen darf aber nicht zum Entstehen eines rechtsfreien Raums führen; den Gerichten muss es möglich sein, die Wahrung eines gleichmäßigen Gesetzesvollzugs zu überwachen77. Um dies unter Beachtung der Geheimhaltungsbedürfnisse der Verwaltung zu sichern, sieht § 86 Abs. 2 Satz 2 FGO für Fälle des § 88 Abs. 3 Satz 3 und Abs. 5 Satz 4 AO das bereits oben erwähnte78 „in camera“-Verfahren vor. Den FG ist danach umfassend Einblick in das Risikomanagementsystem zu geben79. Die Entstehung eines Rechtsschutzdefizits soll dadurch vermieden werden. Faktisch wird ein solches dennoch entstehen, weil der Steuerpflichtige ohne detaillierte Kenntnisse kaum in der Lage sein wird, Mängel des Systems zu rügen. Ihm bleibt nur der Weg, Behauptungen „ins Blaue“ aufzustellen. Ob dies die Gerichte akzeptieren werden, erscheint allerdings zweifelhaft. Außerdem wird das kaum abschätzbare Prozesskostenrisiko häufig einer Klageerhebung entgegenstehen.

74 Näher dazu nachstehend Seer, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Steuerverfahrensrechts, in FS 100 Jahre BFH, S. 1717 ff. 75 Vgl. hierzu etwa Huber/Seer, StuW 2007, 355; Schmidt, DStJG 31 (2007), S. 37; Schmidt/ Schmitt in FS Spindler, 2011, S. 529; Marx, Ubg. 2016, 358. 76 Mellinghoff, JbFStR 2013/2014, S. XIII (XIX). 77 Mellinghoff, JbFStR 2013/2014, S. XIII (XXI). 78 S. vorstehend unter II.2.e). 79 Zum Rechtsschutz im Rahmen des § 88 Abs. 5 AO s. Trossen, FR 2015, 1021 (1023).

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„Dunkelfelder“ der Steuerrechtsprechung

2. Ursachen im finanzgerichtlichen Verfahren a) Ressourcen der Finanzgerichtsbarkeit Musste man vor Jahren ein „Dunkelfeld“ der Steuerrechtsprechung bereits deshalb konstatieren, weil die mangelhafte personelle Ausstattung der Finanzgerichte Verfahrenslaufzeiten zur Folge hatte, die faktisch eine Versagung effektiven Rechtsschutzes bedeuteten80, kann heute im Grundsatz vor allen FG und auch vor dem BFH zeitnah Rechtsschutz erlangt werden. Ein Rechtsschutzdefizit aufgrund unzureichender personeller Ressourcen in der Finanzgerichtsbarkeit besteht unter diesem Aspekt nicht mehr. Betrachtet man als Ressource nicht nur die Anzahl der Finanzrichter, sondern auch deren know how, dürfte sich allerdings ein zu einem Kontrolldefizit führendes „Dunkelfeld“ im Zusammenhang mit der zunehmenden Automation des Besteuerungsverfahrens gebildet haben. Dies betrifft selbstverständlich nicht die Rechtskenntnisse der Richterschaft, sondern deren Vermögen, den technischen Abläufen in der Finanzverwaltung auf den Grund zu gehen. Soweit es um die Kontrolle elektronischer Daten geht, die im Verlauf des Besteuerungsverfahrens anfallen und bereits heute häufig, in Kürze sogar ausschließlich die allein verfügbare Information über das Handeln der Verwaltung darstellen, bedarf es der Kenntnisse eines Informatikers, um diese Daten zu identifizieren und zu bewerten. Juristen werden nur ausnahmsweise über diesen Sachverstand verfügen. Wenn bereits heute eine Papierakte nur für  das Finanzgericht ausgedruckt wird, die während des Besteuerungsverfahrens niemals existierte, wenn verwendete Schlüsselzahlen erläutert werden, ohne durch Einblick in die Datenbank des Finanzamts verifiziert werden zu können, wenn Rechenzentren der Landesfinanzverwaltungen den Gerichten keinen Zugriff auf den Originalbestand ihrer Daten über den Steuerpflichtigen und dessen Besteuerungsverfahren gewähren, wenn die Gerichte nicht die Manipulationssicherheit der vorgelegten Daten selbst prüfen können, tut sich darin ein gewaltiges „Dunkelfeld“ auf. In Wahrheit haben die Gerichte heute keinerlei Kontrolle mehr darüber, ob die ihnen vorgelegten Daten und daraus erzeugten Dokumente zutreffend und authentisch sind. Individuelle Fehleingaben, die auch in der besten Verwaltung vorkommen können, Mängel in der Verknüpfung von Daten und vermehrt auch Mängel bei der Abbildung des sich immer schneller ändernden und komplexer werdenden materiellen Rechts in elektronischen Abläufen der Finanzverwaltung lassen sich von den Gerichten bereits heute nicht mehr identifizieren. Von einer Kontrolle des Verwaltungs­ handelns im Sinne effektiven Rechtsschutzes kann unter diesem Aspekt nicht mehr gesprochen werden. Abhilfe ist nur durch vollständigen Datenzugriff unter Einschaltung informationellen Sachverstands möglich.

80 Meßmer in Deutscher Richtertag 1987, 335 (343); Birk (Hrsg.), Die Situation der Finanzgerichtsbarkeit, 1989, mit Beiträgen eines Münsteraner Symposions 1988 zur Überbelastung der Finanzgerichte.

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b) Handhabung des gerichtlichen Verfahrensrechts Kann es noch ein verfahrensrechtlich induziertes „Dunkelfeld“ der Steuerrechtsprechung geben, wenn es zu einem statthaften Klage- oder Antragsverfahren bei einem Gericht der Finanzgerichtsbarkeit kommt und keine rechtlichen Beschränkungen des Rechtsschutzes81 vorliegen? Auf den ersten Blick möchte man die Frage verneinen, weil ja jetzt das Gericht tätig wird und Rechtsschutz gewähren kann. Soweit die Theorie, die Praxis sieht wohl gelegentlich anders aus, wie ein mit Theorie und Praxis gleichermaßen vertrauter Hochschullehrer jüngst aus eigener Erfahrung als früherer Richter im Nebenamt und späterer Prozessvertreter bestätigt hat82. Die Qualität des Rechtsschutzes ist nicht nur von der rechtlichen Ausgestaltung des Verfahrens, sondern auch von der praktischen Handhabung der Instrumentarien des Prozessrechts durch die Gerichte – besser durch die Menschen, denen als Richter die Gewährung des Rechtsschutzes anvertraut ist – abhängig. aa) Zweistufigkeit der Finanzgerichtsbarkeit und Einzelrichter Menschen können irren, und das gilt selbstverständlich auch für Finanzrichter. Dass der Rechtssuchende infolge individueller Irrtümer von Richtern den ihm zustehenden Rechtsschutz nicht erhält, ist in der Finanzgerichtsbarkeit strukturell nicht in besonderer Weise angelegt. Denn die Finanzgerichte entscheiden grundsätzlich in Senatsbesetzung, also bei Entscheidungen aufgrund mündlicher Verhandlung mit drei Berufsrichtern zuzüglich zweier ehrenamtlicher Richter, ansonsten durch drei Berufsrichter (§ 5 Abs. 3 FGO). Diese sog. Senatsverfassung schützt die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich vor Irrtümern oder sonstigen Fehlleistungen einzelner Richter und hebt damit den strukturellen Mangel der Finanzgerichtsbarkeit, der in deren Zweistufigkeit besteht – also in dem Fehlen einer zweiten Tatsacheninstanz –, teilweise auf. In der Praxis wird allerdings heute häufig der Einzelrichter tätig, weil sich der Gesetzgeber davon eine Effizienzsteigerung des Finanzprozesses verspricht. Wenn gegen die Entscheidung des Einzelrichters ganz im Sinne der beabsichtigten Effizienzsteigerung der Vollsenat nicht angerufen werden kann, verkümmert zugleich der Schutz vor individuellen Fehlern des handelnden Richters. Denn die Entscheidung des Einzelrichters wird damit in den meisten Fällen endgültig sein: eine Anrufung des BFH kommt nur unter den engen Voraussetzungen eines Revisionszulassungsgrundes i.S.d. § 115 Abs. 2 FGO in Betracht, eine Anrufung des BVerfG nur bei der Geltendmachung eines Verfassungsverstoßes und zuvor erfolgloser Anrufung des BFH. Den Verfahrensbeteiligten stehen nicht in jedem Fall Möglichkeiten zur Verfügung, das abschließende Tätigwerden eines Einzelrichters zu verhindern. Sollte der Berichterstatter oder Vorsitzende einen Gerichtsbescheid nach § 79a Abs. 2 Satz 1 FGO erlassen haben, was jederzeit und ohne weitere Voraussetzungen möglich ist, kann dagegen ein Antrag auf mündliche Verhandlung vor dem Senat gestellt werden (§ 79a Abs. 2 Satz 2 FGO), so dass die Schutzfunktion der Senatsverfassung voll wirksam 81 Dazu vorstehend unter II.2. 82 Birk, DStR 2018, 1.

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„Dunkelfelder“ der Steuerrechtsprechung

bleibt. Dieses Schutzes begeben sich die Verfahrensbeteiligten freiwillig, wenn sie sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter einverstanden erklären (§ 79a Abs. 3 und Abs. 4 FGO). Kritisch in Bezug auf die Gewährleistung umfassenden Rechtsschutzes ist aber die Entscheidung durch den Einzelrichter i.S.d. § 6 FGO. Dessen Zuständigkeit wird nämlich durch einen Beschluss des Senats (also durch die drei Berufsrichter) begründet, gegen den kein Rechtsmittel möglich ist und der auch nicht mittelbar in einem anschließenden revisionsgerichtlichen Verfahren gegen das Urteil des Einzelrichters zur Überprüfung gestellt werden kann (§ 6 Abs.  4 Satz  1 FGO). Der Beschluss kann gegen den Willen der Beteiligten gefasst werden; die Beteiligten sind nach Auffassung des BFH83 vor dem Beschluss nicht einmal anzuhören. Eine Übertragung auf den Einzelrichter ist nicht statthaft, wenn die Sache besondere Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art aufweist oder wenn sie grundsätzliche Bedeutung hat (§ 6 Abs. 1 Halbs. 2 FGO). In der Beurteilung dieser Negativvoraussetzungen ist der Senat aber frei, eine Überprüfung ist nicht möglich. Sollten sich derartige Negativvoraussetzungen erst später aufgrund einer Änderung der Prozesslage ergeben, kann der Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten auf den Senat zurückübertragen werden. Die Rückübertragung fordern können die Beteiligten aber ebenfalls nicht (§  6 Abs.  4 Satz  1 und 2 FGO). Nach der Übertragung gem. § 6 FGO ist der Einzelrichter der alleinige gesetzliche Richter und damit zugleich meist auch „letzte Instanz“. Soll hier keine strukturelle Rechtsschutzlücke entstehen, müssen die Senate von der Prüfung der Voraussetzungen für eine Übertragung besonders sorgfältig Gebrauch machen und die bestellten Einzelrichter müssen sich ihrer besonderen Rolle und der besonderen Gefahr endgültiger Fehlentscheidungen bewusst sein84. bb) Nähe zum Fiskus Idealerweise würde eine Richterschaft die bundesrepublikanische Gesellschaft in ihrer Vielfältigkeit abbilden, um sicherzustellen, dass „im Namen des Volkes“ Recht gesprochen wird. Dass sich eine solche Idealvorstellung nicht verwirklichen lässt, liegt schon angesichts der erforderlichen Ausbildung eines Richters auf der Hand. Die Herkunft des Richters soll auf sein Handeln als Amtsträger gleichwohl möglichst wenig Auswirkungen haben. Dies setzt voraus, dass der Richter sich seiner Sozialisation und der auf ihn wirkenden Einflüsse bewusst ist. Ist die Richterauswahl danach generell schon mit einer gewissen „Schlagseite“ behaftet, kommt in der Finanzgerichtsbarkeit noch hinzu, dass für die Berufung zum Richteramt besondere Fachkenntnisse des Steuer- bzw. Zollrechts gefordert werden. Zu einer Spezialisierung auf diesem Gebiet kommt es nicht selten dadurch, dass junge Juristen nach Ablegung der Staatsexamina eine Tätigkeit in der Finanzverwaltung aufnehmen. Dies kann sich später als gute Grundlage für eine Bewerbung auf eine Richterstelle bei einem FG erweisen. Wer das Steuerberaterexamen abgelegt hat, bringt selbstverständlich eben83 Die Auffassung des BFH wird vom steuerverfahrensrechtlichen Schrifttum nicht vollständig geteilt, a.A. etwa Herbert in Gräber, 8. Aufl. 2015, § 6 FGO Rz. 7. 84 Deshalb zu Recht heute mahnend auch Birk (DStR 2018, 1 [4]), der bei Einführung der Regelung noch weniger Besorgnis geäußert hatte (StuW 1993, 296 [298]).

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falls die erforderlichen Fachkenntnisse mit. Auch andere qualifizierte steuer- und zollrechtliche Tätigkeit, etwa an einer Hochschule oder in einem Unternehmen, kann für den Finanzrichterberuf qualifizieren. Faktisch ist der Anteil ehemaliger Angehöriger der Finanzverwaltung unter den Finanzrichtern aber auch heutzutage – und damit Jahrzehnte nach den Zeiten, als Finanzgerichte noch als verlängerter Arm der Finanzverwaltung anzusehen waren – noch immer am größten. In einigen Bundesländern stammen die Richter sogar ausschließlich oder fast ausschließlich aus der Finanzverwaltung; in Bayern ressortiert das FG noch immer beim Finanzministerium. Im Hinblick auf diese berufliche Herkunft vieler Finanzrichter und die Stellung der Finanzbehörden als Beteiligte im Finanzprozess kann die Besorgnis der anderen Verfahrensbeteiligten entstehen, es werde mit zweierlei Maß gemessen und nicht unvoreingenommen geurteilt. Dieser Besorgnis müssen alle Finanzrichter Rechnung tragen und deshalb in besonderer Weise darauf achten, keine Zweifel an ihrer Un­ parteilichkeit entstehen zu lassen. Wenn die Gefahr einer „Schlagseite“ der Finanzrichterschaft zur Finanzverwaltung selbst von einem ehemals im Nebenamt als Finanzrichter tätigen und für seine Sachlichkeit und Ausgewogenheit geschätzten Hochschullehrer thematisiert wird85, ist dies ein deutliches Zeichen dafür, dass hier in der Außenwahrnehmung der Finanzgerichtsbarkeit ein „Dunkelfeld“ der Steuerrechtsprechung vermutet wird. Jeder Richter sollte sich dieser Außenwahrnehmung bewusst sein und sein Verhalten danach ausrichten, damit Zweifel an der Unparteilichkeit der Finanzrichterschaft künftig nicht mehr geäußert werden.

IV. Schluss Der Sinn eines solchen Beitrags kann nur darin liegen, ein Licht auf vermutete Dunkelfelder der Steuerrechtsprechung zu werfen. Die Beseitigung tatsächlich existierender Dunkelfelder ist Aufgabe des Rechtsanwenders, soweit sein Verhalten zu einem Dunkelfeld der Steuerrechtsprechung beiträgt, im Übrigen aber Aufgabe des Gesetzgebers, indem dieser verfahrensrechtliche und materiellrechtliche Normen schafft, die ein Rechtsschutzdefizit durch die Finanzgerichtsbarkeit erst gar nicht entstehen lassen.

85 Birk, DStR 2018, 1 (5 f.).

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2. Teil Grundlagen der Rechtsprechung im Steuerrecht … N.

Auswirkungen der Digitalisierung im Steuerrecht Von Rudolf Mellinghoff

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Digitalisierung im Steuerrecht III. Auswirkungen auf die Gesetzgebung 1. Besteuerung der digitalen Wirtschaft 2. Steuergesetzgebung a) Auswirkungen auf das materielle Steuerrecht b) Auswirkungen auf das Verfahrensrecht 3. Europarechtliche und verfassungsrechtliche Grenzen IV. Auswirkung auf die Steuerberatung 1. Auswirkungen auf das Berufsbild 2. Digitale Zusammenarbeit mit der Finanzverwaltung

3. Digitalisierung wesentlicher Tätigkeitsbereiche V. Auswirkung auf das Besteuerungs­ verfahren 1. Gesetzeskonkretisierung im digitalen Besteuerungsverfahren 2. Maßstäbe für die Verifikation im digitalen Besteuerungsverfahren VI. Auswirkung auf den Steuerrechtsschutz 1. Elektronischer Rechtsverkehr und elektronische Akte a) Normative Grundlagen b) Elektronischer Rechtsverkehr c) Elektronische Akte 2. Veränderte Prüfungsmaßstäbe VII. Schlussbemerkung

I. Einleitung Unter Digitalisierung verstand man ursprünglich nur die Umwandlung analoger Werte in digitale Formate. Doch schon lange beschränkt sich die Digitalisierung nicht mehr nur auf diese Form der Datenbearbeitung. Vielmehr umfasst die Digitalisierung heute die Aufarbeitung von Informationen, die Verarbeitung oder Speicherung und die Weiterverwendung durch die Informationstechnologie. Neben der Informationsverarbeitung geht es heute auch um die Entwicklung von Programmen, die eigenständig Aufgaben und Probleme bearbeiten können. Weitergehend soll mit Hilfe von Computern eine sogenannte künstliche Intelligenz (KI) geschaffen werden, die die Arbeit von Menschen erleichtern, ergänzen oder sogar ersetzen soll. Diese Entwicklung ist derzeit in vollem Gange, ohne dass mit Sicherheit gesagt werden kann, in welche Richtung sich die Digitalisierung insbesondere im geisteswissenschaftlichen Bereich letztendlich entwickeln wird. 421

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Die Digitalisierung führt auch im steuerrechtlichen Bereich zu weitreichenden Veränderungen. Sie hat Auswirkungen auf die Gesetzgebung, die Beraterschaft, die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit. Soweit die Informationstechnologie heute schon im Bereich des Steuerrechts eingeführt ist, kann teilweise auf die Vertiefung in anderen Beiträgen dieser Festschrift verwiesen werden. Viele Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung stehen erst am Anfang; Umfang und Geschwindigkeit der Veränderungen durch den Einsatz der Informationstechnologie lassen sich nur schwer abschätzen. Daher kann auch dieser Beitrag nur eine Momentaufnahme eines Prozesses sein, der sich fortwährend wandelt und weiterentwickelt.

II. Digitalisierung im Steuerrecht Die Digitalisierung findet im Bereich des Steuerrechts bereits heute in großem Umfang statt. Die aktuellen Anwendungen schöpfen allerdings das Potential der modernen Informationstechnologie nur teilweise aus. Es ist damit zu rechnen, dass sich neue Entwicklungspotentiale auftun, die zurzeit nur in Ansätzen erkennbar sind. Wie in allen Lebensbereichen hat auch im Steuerrecht die Digitalisierung allmählich und schleichend Einzug gehalten und erst nach und nach zu erheblichen Veränderungen geführt. Am Anfang stand die Erfassung von Daten mit Hilfe der Datenverarbeitung. Es wurden schrittweise immer größere Datenbanken aufgebaut, die zunächst nur nach Erlernen von Programmierkenntnissen erschlossen werden konnten. Im Laufe der Zeit wurden Programme entwickelt, die das Arbeiten mit den vorliegenden Daten erleichterten und durch handhabbare und verständliche Arbeitsoberflächen auch dem wenig geschulten Nutzer den Umgang mit der Datenverarbeitung erleichterten. Gleichzeitig wurde die weltweite Vernetzung durch das Internet ausgebaut. Inzwischen dominiert das Cloud Computing1 die Entwicklung; Speicherplatz, Rechenleistungen oder Anwendungssoftware werden oft nicht mehr auf dem heimischen Computer, sondern als Dienstleistung über das Internet bereitgestellt. Neben der Software und der Internetarchitektur hat sich auch die Hardware in rasanter Geschwindigkeit verändert. Seit den 1980er Jahren werden die Computer, Smartphones und Tablets immer kleiner, transportabler und leistungsfähiger. Dadurch ist nicht nur die industrielle Datenverarbeitung leistungsfähiger geworden; jeder Nutzer ist heute in der Lage umfangreiche Datenmengen zu speichern, speicherintensive Rechenleistungen und komplexe Softwareprogramme zu nutzen. Die rechnerische, mediale und internetbasierte Datenverarbeitung ist heute ständig und überall verfügbar. Die Digitalisierung beherrscht heute das Alltagsleben der Menschen in vielen Bereichen2. Immer mehr werden die Arbeiten durch und mit Hilfe von Software erledigt. Im Bereich des Steuerrechts gibt es bereits heute zahlreiche speziell auf steuerliche Bedürf1 Vgl. zum Cloud Computing im Steuerrecht und der Problematik, ob und wann ein Server eine Betriebsstätte ist: Rogge, BB 2015, 1823. 2 Vgl. auch Schanz/Sixt, DB 2018, 1097 (1099).

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Auswirkungen der Digitalisierung im Steuerrecht

nisse ausgerichtete Arbeits- und Anwendungssoftwares. Es gibt Finanz-, Buchhaltungs- und Lagerhaltungsprogramme. Alle steuerlich relevanten Daten werden heute mit Hilfe von Software erfasst, verarbeitet und für steuerliche Zwecke bereitgehalten. Neben Standard-Anwendungsprogrammen werden von Softwareanbietern und Programmierern spezielle auf die Kundenbedürfnisse ausgerichtete individuelle Softwareprodukte im Steuerrecht angeboten. Fast jeder, der im Steuerrecht tätig ist, ist dabei heute auch auf Informationen in elektronischer Form angewiesen. Die Kommunikation zwischen den Beteiligten findet weitgehend auf elektronischem Wege statt. Steuerpflichtige und Berater greifen auf elektronisch verfügbare vorformulierte Verträge, Schreiben und Anträge zurück. Neben der allgemeinen Recherche im Internet gibt es juristische und speziell steuerrechtliche Datenbanken. Neben diesen uns geläufigen und bekannten Formen der Informationstechnologie entwickelt sich die Digitalisierung im Recht in ganz andere Dimensionen, die auch den Rechtsanwender vor völlig neue Aufgaben stellt. Als Anstoß und Beginn dieser Entwicklung wird das Buch von Richard Susskind „The End of Lawyers?“3 gesehen, in dem dieser eine vollständige Veränderung der anwaltlichen Dienstleistungen beschreibt, weil in vielen Bereichen die Informationstechnologie Aufgaben sehr viel besser erledigen könne als der Mensch. Aber erst in den letzten Jahren wurde das Potenzial der digitalen Technologien für den Rechtsmarkt unter dem Stichwort „Legal Tech“ beschrieben und neuartige Anwendungen entwickelt und eingesetzt4. Inzwischen gibt es zahlreiche Internetauftritte, die sich dem Thema widmen, neue Anwendungsmöglichkeiten beschreiben und in dem Start-Ups ihre Dienste anbieten5. Durch den Einsatz moderner, computergestützter digitaler Technologien soll die Rechtsfindung, Rechtsanwendung, der Rechtszugang und die Rechtsverwaltung automatisiert werden, um diese zu vereinfachen und möglichst zu verbessern6. Dabei werden die verschiedenen Legal-Tech Anwendungen unter Bezug auf Oliver Goodenough7 in drei Anwendungsarten aufgeteilt. Legal Tech 1.0 unterstützt den menschlichen Juristen in seinem herkömmlichen Tun; Legal Tech 2.0 ersetzt einzelne menschliche Juristen innerhalb des bestehenden Systems und wirkt daher disruptiv; Legal Tech 3.0 verändert das gesamte System und stellt den Menschen als zentrale Figur der Erbringung juristischer Tätigkeiten infrage8. Diese Form der Digitalisierung steht zwar noch am Anfang ihrer Entwicklung. Sie wird jedoch auch den Steuerbereich grund-

3 Richard Susskind, The End of Lawyers? – Rethinking the Nature of Legal Services, 2008. 4 Inzwischen sind die ersten Bücher zu diesem Thema erschienen: Jens Wagner, Legal Tech und Legal Robots, 2018; Hartung/Bues/Halbleib, Legal Tech, 2018; Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech. 5 Vgl. nur https://www.legal-tech.de/; https://legal-tech-verzeichnis.de/; https://legal-techblog.de/; https://www.legal-tech-in-deutschland.de/. 6 Vgl. Hartung/Bues/Halbleib, Legal Tech, S. 7. 7 Oliver Goodenough, Blog-Eintrag v. 2.4.2015 unter https://www.huffingtonpost.com/oliver-­ r-goodenough/legal-technology-30_b_6603658.html, zuletzt abgerufen am 20.6.2018. 8 Jens Wagner, Legal Tech und Legal Robots, S. 7; Hartung/Bues/Halbleib, Legal Tech, S. 7, jeweils m.w.N.

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legend verändern9. Insbesondere Routinetätigkeiten und große Datenmengen sind Ansatzpunkte für den Einsatz der Informationstechnologie. Die modernen Anwendungen des Legal Tech stecken zwar teilweise noch in den Kinderschuhen. Sie haben aber das Potenzial, die gegenwärtige steuerrechtliche Rechtsanwendung erheblich zu verändern. Auf der Basis umfangreicher Datensammlungen, statistischer Algorithmen und maschinellen Lerntechniken können Vorhersagen getroffen werden (sog. predictive analytics), die die Steuerplanung erheblich erleichtern10. Die steuerlichen Auswirkungen sämtlicher standardisierter Geschäftsvorfälle können mit Hilfe der Informationstechnologie zeitnah überwacht und steuerlich optimiert werden. Im Rahmen der Due Dilligence können mithilfe von Computerprogrammen große Mengen an Dokumenten gesichtet, Risiken identifiziert und Entscheidungsvorschläge gegeben werden11. Verträge können in Zukunft maschinell vorbereitet werden, die die Pflichten der beteiligten Parteien speichern und registrieren, welche Klauseln von Gesetzesänderungen betroffen sind (sog. smart contracts)12. Die in anderen Rechtsgebieten sich ausbreitende Online-Streitbeilegung (Online Dispute Resolution  – ODR)13 könnte zukünftig möglicherweise auf Streitigkeiten zwischen dem Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung Anwendung finden. Auch die sog. „Legal Robots“, die in der Lage sind, im Zeitpunkt ihrer Nutzung eine selbstständige rechtliche Beurteilung zu treffen oder selbstständig über den Inhalt eines rechtlichen Dokuments zu entscheiden, werden im Steuerrecht diskutiert. Diese besonders weit entwickelten Rechts-Generatoren können zum Beispiel bei Umwandlungsvorgängen im Konzern die grunderwerbsteuerliche Konzernklausel selbständig prüfen14. In einer umfangreichen Studie zur KI im Steuerbereich des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) und der Steuerberatungsgesellschaft WTS15 wird zwar festgestellt, dass eine vollständige Automatisierung des Tätigkeitsspektrums im Bereich Steuer in einem einzelnen KI-System und in seiner Gesamtheit nicht realistisch sei. Allerdings könnten Tätigkeiten, die soziale Intelligenz, Kreativität und Umgebungsinteraktion nur in einem geringeren Ausmaß erfordern, mit Hilfe der KI automatisiert werden. So könnten durch die Standardisierung von Routinetätigkeiten zeitliche Ressourcen in großem Umfang freigesetzt werden. Derartige Tätigkeitsfelder werden in der Studie im Bereich der Lohnsteuer, der Umsatzsteuer, der Körperschafsteuer, dem Zoll, den Verrechnungspreisen, dem Risikomanagement und der internationalen Projektberatung identifiziert. Welche Auswirkungen sich aus diesen Entwicklungen auf die Gesetzgebung, die Steuerberatung, die Veranlagung und die gerichtliche Kontrolle ergeben, kann heute noch nicht gesagt werden.

9 Vgl. Schanz/Sixt, DB 2018, 1097. 10 Hartung/Bues/Halbleib, Legal Tech, S.197; Schanz/Sixt, DB 2018, 1097. 11 Hartung/Bues/Halbleib, Legal Tech, 84. 12 Hartung/Bues/Halbleib, Legal Tech, 179; Wagner, BB 2017, 898. 13 Vgl. Jens Wagner, Legal Tech und Legal Robots, S. 20. 14 Dazu ausführlich Burr, BB 2018, 476. 15 Künstliche Intelligenz im Steuerbereich, Innovationsstudie zur Digitalisierung und den Potentialen Künstlicher Intelligenz im Bereich Steuer, 2017.

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Auswirkungen der Digitalisierung im Steuerrecht

III. Auswirkungen auf die Gesetzgebung Die Digitalisierung wirkt sich in mehrfacher Hinsicht auf die Steuergesetzgebung aus. Der Gesetzgeber ist zunächst gehalten, die Veränderungen durch die zunehmende Digitalisierung im materiellen Steuerrecht aufzunehmen und die entsprechenden Besteuerungstatbestände weiterzuentwickeln. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob die Steuertatbestände an die Möglichkeiten der Digitalisierung angepasst werden können oder müssen. Da sich durch die Digitalisierung auch die Möglichkeiten des Besteuerungsverfahrens verändern, muss der Gesetzgeber in diesem Bereich neue Ermächtigungsgrundlagen und Zuständigkeitsfragen regeln. Schließlich sind die neuen Gesetze auch am Maßstab des Verfassungsrechts und des Europarechts zu prüfen. 1. Besteuerung der digitalen Wirtschaft Die tatsächlichen Entwicklungen durch die Digitalisierung erfordern eine Weiterentwicklung des Steuerrechts, indem vor allem die digitale Wirtschaft und deren Innovationen angemessen in die Besteuerung einbezogen werden. In der gegenwärtigen steuerpolitischen Diskussion spielt die Besteuerung der digitalen Wirtschaft eine herausgehobene Rolle16. Hierbei geht es nicht nur um die Frage, ob und inwieweit Maßnahmen und Handlungen der digitalen Wirtschaft unter die geltenden Besteuerungstatbestände eingeordnet werden können oder müssen. Vielmehr steht im Mittelpunkt die Schaffung vollständig neuer Steuergesetze, um die Besteuerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der digitalen Wirtschaft im Inland sicherzustellen. Erörtert werden der Richtlinienvorschlag der EU-Kommission vom 21.3.2018 für eine Digital Service Tax (DST)17 oder die Anpassung des Betriebsstättenkonzepts und die Schaffung einer „digitalen Betriebsstätte“, die Frage, ob das Erbringen kostenloser Leis­ tungen an Internetgeschäfte ein tauschähnlicher Vorgang ist und die Initiative zur Besteuerung von Internetgeschäften im Quellenstaat. Ob und inwieweit digitale Währungen besteuert werden oder werden sollen wird intensiv diskutiert18. Den Fragen, die mit einer adäquaten Besteuerung der Geschäftsmodelle der digitalen Wirtschaft zusammenhängen, widmen sich mehrere Beiträge in dieser Festschrift (zu den europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Maßstäben s.u.)19.

16 Aus der jüngeren Literatur z.B.: Eilers/Oppel, IStR 2018, 361; Pinkernell, Ubg 2018, 139; Cloer/Gerlach, FR 2018, 105; Benz/Böhmer, DB 2018, 1233; vgl. auch Mitterer/Wiedemann/ Zwissler, BB 2018, 3 zur Gesetzgebung zu Industrie 4.0 und Digitalisierung 2017. 17 https://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/proposal_common_system_di​ gital_services_tax_21032018_de.pdf. 18 Vgl. z.B.: Pielke, IWB 2018, 234; Liegmann, BB 2018, 1175; Reiter/Nolte, BB 2018, 1179; Burchert/Böser, DB 2018, 857; 19 Kaeser, Unabgestimmtheit der nationalen Steuerrechtsordnungen  – aus Sicht der Unternehmen, in FS 100 Jahre BFH, S. 969 ff.; Dorenkamp, Bedeutung des Trennungsprinzips bei der Auslegung des KStG, in FS 100 Jahre BFH, S. 1349 ff.; Englisch, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Rechts der indirekten Steuern, in FS 100 Jahre BFH, S. 1491 ff.

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2. Steuergesetzgebung a) Auswirkungen auf das materielle Steuerrecht Ebenso bedeutsam wie die Besteuerung der digitalen Wirtschaft ist jedoch die Frage, ob und inwieweit die Möglichkeiten der Digitalisierung Auswirkungen auf die Steuergesetzgebung hat. Einerseits wird vertreten, dass das geltende Steuerrecht nicht nachprüfbar digitalisiert angewandt werden kann20. Dies zwinge zu einer Vereinfachung des geltenden Steuerrechts. Außerdem bestehe die Gefahr von strukturellen Vollzugsdefiziten in der digitalen Besteuerung und die Modernisierung des Besteuerungsverfahrens führe zu einer strukturellen Vernachlässigung des Einzelfalls21. Auf der anderen Seite wird schon heute ein überaus komplexes Steuerrecht sowohl in den Unternehmen digital erfasst als auch mit Hilfe von Datenverarbeitungsprogrammen von der Finanzverwaltung veranlagt22. So wünschenswert eine Vereinfachung des geltenden Steuerrechts ist, geht es hier doch in erster Linie um die Frage der Normenklarheit und Normenwahrheit23, und damit um die Nachvollziehbarkeit geltenden Rechts. Solange sich die gesetzlichen Tatbestände mit herkömmlichen Methoden auslegen und anwenden lassen, dürfte der Bestimmtheitsgrundsatz des Grundgesetzes noch nicht verletzt sein. Ob die Rechtsfolgen des jeweiligen Steuergesetzes zutreffend durch den digitalen Gesetzesvollzug umgesetzt worden sind, muss allerdings für den Steuerpflichtigen und die Justiz nachvollziehbar bleiben. Da sich die einzelnen Rechenschritte des Programmierers in einem Besteuerungsprogramm in der Regel weder vom Steuerpflichtigen noch von einem Berater oder einem Richter überprüfen lassen, bleibt der Rechtsanwender in der Regel auf eine Ergebniskontrolle beschränkt. Dabei darf der Steuerpflichtige nicht auf ein Rechenprogramm oder einen Sachverständigen verwiesen werden; vielmehr müssen die Gesetze so formuliert sein, dass der Steuerpflichtige selbst grundsätzlich die auf ihn entfallende Steuerlast vorausberechnen kann24. Soweit Normen des geltenden Steuerrechts diese Voraussetzungen nicht erfüllen, ist es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, dies zu beanstanden25. Im Hinblick darauf, dass Computerprogramme in der Regel für den Rechtsanwender nicht nachvollziehbar sind, verbietet daher das Grundgesetz gegenwärtig, dass Gesetze nur mit Hilfe der Informationstechnologie angewendet und vollzogen werden können.

20 Ausführlich G. Kirchhof, Einzelfallgerechtigkeit und Maßstabsbildung im digitalisierten Massenfallrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 361 ff. 21 G. Kirchhof (Fn. 20), S. 361 ff. 22 Zu den Grenzen der Digitalisierung durch das komplexe Steuerrecht: Welling/Ghebrewebet, DB Beilage 2016, Nr. 04, 33. 23 Zu diesen Begriffen: BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98, BVerfGE 108, 1. 24 BVerfG v. 12.10.1978 – 2 BvR 154/74, BVerfGE 49, 343 (362) m.w.N.; zum Bestimmtheitsgrundsatz auch: BVerfG v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33 (54); v. 22.3.2005 – 1 BvQ 2/05, BVerfGE 112, 284 (304); v. 13.6.2007 – 1 BvR 1550/03, BVerfGE 118, 168. 25 Kritisch zur bisherigen Rechtsprechung des BVerfG: Hey in Tipke/Lang, 23.  Aufl., §  3 Rz. 247.

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Unabhängig von den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen sollte der Gesetzgeber jedoch bei jedem einzelnen Besteuerungstatbestand prüfen, ob er sich leicht und nachvollziehbar in ein Computerprogramm umsetzen lässt. Dies würde der Komplexität mancher Regelung möglicherweise entgegenwirken. Ein einfacheres, nachvollziehbares Steuerrecht ist aber auch stets mit unbestimmten Rechtsbegriffen, offenen Tatbestandsmerkmalen und Wertungsspielräumen verbunden. Dies ist im Hinblick auf die Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte und der Anwendung der Norm auf den konkreten Lebenssachverhalt auch erforderlich. Zwar gehört es zu den Aufgaben der Verwaltung, im steuerlichen Massenfallrecht auch unbestimmte Rechtsbegriffe zu konkretisieren. Dabei muss jedoch der Gefahr entgegengewirkt werden, dass die Gesetzesauslegung selber in die Hände des Programmierers gelegt wird, was mit den Grundsätzen einer rechtsstaatlichen Besteuerung nicht vereinbar wäre26. Ob und inwieweit die Digitalisierung Chancen eröffnet, das geltende Recht zu vereinfachen, die Maßstäbe des Grundgesetzes zur Geltung zu bringen und zu einer gerechteren Besteuerung beizutragen, ist schwer zu sagen. Soweit es sich um Ermessens­ tatbestände, wertungsoffene Tatbestandsmerkmale und unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, bedarf es zumindest einer wertenden Kontrolle durch Personen, die das Steuerrecht umsetzen27. Wer auf die Digitalisierung des Steuerrechts setzt, sollte daher vor allem für eine Typisierung und Pauschalierung plädieren, die vom Bundesverfassungsgericht insbesondere für das Steuerrecht anerkannt ist28. Allerdings darf eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss sich realitätsgerecht am typischen Fall orientieren29. Dies verbietet dem Gesetzgeber, willkürlich auf gegriffene Größen zurückzugreifen. Möglicherweise bietet die moderne Datenverarbeitung dem Gesetzgeber heute eher die Möglichkeit, den typischen Besteuerungsvorgang zu ermitteln und damit seiner Obliegenheit nachzukommen, die Voraussetzungen für die Typisierung zu belegen. Die Digitalisierung des geltenden Rechts vermag dem Gesetzgeber und dem Rechtsanwender darüber hinaus weitere Vorteile zu bringen. Paul Kirchhof hat in einem jüngst erschienen Beitrag eindrucksvoll auf die Chancen der Digitalisierung im Recht hingewiesen30. So erleichtert die Digitalisierung die Durchsetzung des Gebots der Folgerichtigkeit, ermöglicht die Erkennbarkeit der Geltung einzelner Regelungen und vermag das Zusammenwirken der verschiedenen Rechtsquellen zu erkennen

26 P. Kirchhof, DStR 2018, 497 (501). 27 P. Kirchhof, DStR 2018, 497 (498). 28 BVerfG v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1. 29 BVerfG v. 7.10.1969  – 2 BvR 555/67, BVerfGE 27, 142, und in BVerfGE 120, 1; v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224; zum Erfordernis der realitätsgerechten Bemessung des steuerlichen Belastungsgrunds s. zuletzt BVerfG v. 10.4.2018 – 1 BvL 11/14, 1 BvL 12/14, 1 BvL 1/15, 1 BvR 639/11, 1 BvR 889/12, juris, unter B.IV.1.c; BFH v. 25.4.2018 – IX B 21/18, DStR 2018, 415; zu den weiteren Voraussetzungen auch G. Kirchhof (Fn. 20), S. 361 ff. 30 P. Kirchhof, DStR 2018, 497.

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und zu klären. Das europarechtliche Normwiederholungsverbot31 führt dazu, dass nationales und europäisches Recht nebeneinandergelegt werden müssen, um die vollständige Regelung einer Materie erfassen zu können. Hier könnten Programme helfen, die das Zusammenwirken verschiedener Normen darstellen können. b) Auswirkungen auf das Verfahrensrecht Hauptanwendungsfall der Digitalisierung bleibt das Verfahrensrecht (s. dazu auch unten V.). Auch hier ergeben sich Auswirkungen für den Gesetzgeber. Von Verfassungs wegen müssen die wesentlichen Anforderungen an den digitalen Gesetzesvollzug gesetzlich geregelt werden32. Der Gesetzgeber hat die grundlegenden Rahmenbedingungen für den digitalen Steuervollzug in den letzten Jahren geregelt. Hervorzuheben sind das Besteuerungsverfahrens-Modernisierungsgesetz33 und die Änderungen der Abgabenordnung aufgrund der Datenschutzgrundverordnung34. Wenn der Gesetzgeber den digitalen Steuervollzug regelt, hat er auch darauf zu achten, dass er normativ einen gleichheitsgerechten Gesetzesvollzug sicherstellt. Insbesondere darf es nicht zu einem strukturellen Vollzugsdefizit kommen35. Diese Voraussetzungen schließen nicht aus, dass der Gesetzgeber im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgrundsatz auch das Wirtschaftlichkeitsprinzip berücksichtigt wissen will36. Teilweise werden gegen die nunmehr in § 155 Abs. 4 AO geregelte vollautomatisierte Steuerveranlagung verfassungsrechtliche Bedenken erhoben, weil ein strukturelles Vollzugsdefizit drohe37. Diese Gefahr würde jedoch nur dann bestehen, wenn ganz generell vollautomatische Steuerbescheide ohne jegliche zusätzliche personelle Kon­ trolle vorgeschrieben würden, denn ein bloßer EDV-systematischer Abgleich der Steuererklärungsdaten mit den bereits vorhandenen Daten oder eine elektronische Plausibilitätsprüfung dürften nicht ausreichen, um die Gesetz- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu gewährleisten38. § 155 Abs. 4 Satz 1 ist jedoch mit verschiedenen zusätzlichen Verifikationsmöglichkeiten verbunden. So setzt der ausschließlich automationsgestützte Steuerbescheid voraus, dass kein Anlass für eine Einzelfallprüfung besteht. § 155 Abs. 4 Satz 3 AO sieht einen solchen Anlass vor allem, wenn der Steuerpflichtige ein qualifizierten Freitextfelder (§ 150 Abs. 7 Satz 1 AO) ausfüllt. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass auch die automationsgestützte Veranlagung dem Risikomanagement zu unterwerfen ist. Auch scheidet eine automationsgestützte 31 Vgl. zur Problematik des Normwiederholungsverbots im neuen Datenschutzrecht: Greve, NVwZ 2017, 737. 32 Zum Parlamentsvorbehalt und zur Wesentlichkeitstheorie: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Band III, § 62. 33 Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens (BestVModG) v. 18.7.2016, BGBl. I 2016, 1679. 34 Art. 17 des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften v. 17.7.2017, BGBl. I 2017, 2541. 35 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (272); v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94. 36 Ausführlich Seer in Tipke/Kruse, § 88 AO Rz. 12. 37 Maier, JZ 2017, 614 ff. 38 Seer in Tipke/Kruse, § 155 AO Rz. 46.

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Veranlagung aus, wenn eine Ermessensentscheidung zu treffen ist39. Zwar mag es bei der Programmierung der Veranlagungsprogramme zu Fehlern kommen40; diese betreffen aber nicht nur die ausschließlich automationsgestützte Veranlagung, sondern wirkt sich bei allen Veranlagungsfällen aus. Diese Fehlermöglichkeit alleine begründet aber kein in der Norm angelegtes strukturelles Vollzugsdefizit. 3. Europarechtliche und verfassungsrechtliche Grenzen Sowohl die Besteuerung der digitalen Wirtschaft als auch die Anpassung der Steuergesetzgebung an den digitalen Gesetzesvollzug bleiben an die europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Grenzen gebunden. Schranken ergeben sich zunächst durch die Regelungen zur Gesetzgebungskompetenz. Aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 AEUV) darf eine europäische Rechtsnorm nur erlassen werden, wenn das Primärrecht die Europäische Union dazu ermächtigt. Soweit neuartige Steuertatbestände zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft auf europäischer Ebene vorgegeben oder geregelt werden sollen, dürfte eine Regelungskompetenz in erster Linie für den Bereich der indirekten Steuern möglich sein (Art. 113 AEUV). Nach Art. 115 AEUV ist eine Regelung auf dem Gebiet der direkten Steuern nur einstimmig möglich, wenn ein unmittelbarer Binnenmarktbezug gegeben ist41. Auf diese Kompetenznorm dürfte sich der Vorschlag der EU-Kommission für eine Digital Service Tax (DST) oder die Anpassung des Betriebsstättenkonzepts und die Schaffung einer „digitalen Betriebsstätte“ stützen. Es erscheint jedoch fraglich, ob hier ein hinreichender Binnenmarktbezug gegeben ist. Jedenfalls ist nicht erkennbar, dass den in Art.  5 AEUV niedergelegten Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit genügt ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es bisher keineswegs entschieden ist, ob die internationale Neuausrichtung der Besteuerung digitaler Geschäftsmodelle in dieselbe Richtung geht wie die Vorschläge der EU-Kommission42. Im Hinblick auf das Einstimmigkeitserfordernis des Art. 115 AEUV dürfte es ohnehin schwierig sein, derart grundlegende Veränderungen des internationalen Steuerrechts auf europäischer Ebene einzuführen. Auch das Grundgesetz setzt der Gesetzgebungskompetenz im Steuerrecht Schranken. Im Hinblick auf die Formenklarheit und Formenbindung der Finanzverfassung kommt der Beachtung der finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbereiche von Bund und Ländern eine überragende Bedeutung zu. Ein Steuererfindungsrecht besteht nur innerhalb der durch Art.  105 und Art.  106 GG vorgegebenen Typusbe­ griffe43. Zwar dürfte es unproblematisch sein, eine „digitale Betriebsstätte“ zum An39 Dies wird auch mit Blick auf den Persönlichkeitsschutz gefordert: Martini/Nick, NVwZ 2017, 681. 40 Vgl. zu den Einzelheiten der vollautomatischen Veranlagung: Braun Binder, DStZ 2016, 526; Helbich, DStR 2017, 574. 41 Vgl. Englisch in Tipke/Lang, 23. Aufl. § 4 Rz. 68. 42 Englisch (Fn. 39), Rz. 71. 43 BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13 – Kernbrennstoffsteuer, BVerfGE 145, 171.

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knüpfungspunkt für die Wahrnehmung der Besteuerung der digitalen Wirtschaft im Ertragsteuerrecht zu nehmen. Ob allerdings eine Ausgleichssteuer, die nicht den herkömmlichen Typen der Einkommen- oder Körperschaftsteuer entsprechen würde, mit dem Grundgesetz vereinbar ist, entscheidet sich danach, wie eine solche Ausgleichssteuer im Einzelnen konzipiert wird. Neben diesen kompetenzrechtlichen Voraussetzungen muss die Besteuerung der digitalen Wirtschaft selbstverständlich auch den sonstigen materiell-rechtlichen Vorgaben der Verfassung entsprechen. In diesem Zusammenhang spielen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Typisierung sowie an die rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen, die bereits erwähnt wurden, eine Rolle.

IV. Auswirkung auf die Steuerberatung Die fortschreitende Digitalisierung wird die Steuerberatung und das Berufsbild der Rechtsanwälte und Steuerberater grundlegend verändern. Die Steuerberater haben sich schon sehr früh zur Digitalisierung bekannt. Bereits 1966 wurde in Nürnberg die „Datenverarbeitungsorganisation der Steuerbevollmächtigten für die Angehörigen des steuerberatenden Berufes in der Bundesrepublik Deutschland“ DATEV, die heute als Softwarehaus und IT-Dienstleister Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte mit Software für Finanzbuchführung, Lohn- und Gehaltsabrechnung, Informationsbereitstellung, Software für Wirtschaftsprüfung, für Rechtsanwälte und für Kommunen und kommunale Betriebe unterstützt. Die heutigen technischen Möglichkeiten und die Entwicklungen im Bereich von Legal Tech und künstlicher Intelligenz haben jedoch das Potenzial, sehr viel weitreichendere Veränderungen herbeizuführen. 1. Auswirkungen auf das Berufsbild Die steuerliche und anwaltliche Beratung umfasst ein sehr viel breiteres Tätigkeitsfeld als nur die Auslegung und Anwendung des Steuerrechts. Zwar stehen die Beratung in allen Steuerangelegenheiten, die Erstellung von Steuererklärungen und die steuerrechtliche Rechtsdurchsetzung im Mittelpunkt der Tätigkeit. Die Beraterschaft muss sich jedoch auch um die Mandantengewinnung, die betriebswirtschaftliche Beratung, die Erstellung von Buchführungen und Aufstellung und steuerliche Beurteilung von Bilanzen kümmern. Damit sind Steuerberater und Rechtsanwälte in sehr viel mehr Bereichen von den teilweise disruptiven Entwicklungen durch die Digitalisierung betroffen als die Finanzverwaltung oder die Finanzgerichte. Bereits im Bereich der Kundengewinnung und der Kanzleiorganisation wird sich die Digitalisierung auswirken. Anwaltskanzleien beginnen damit, über eigene Portale oder Online-Plattformen Mandanten zu gewinnen44. Die zunehmende Digitalisierung der herkömmlichen Dienstleistungen der Steuerberater, wie z.B. die Finanz44 Günther, NWB 2017, 3365.

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buchhaltung oder die Lohnbuchhaltung, kann zu einer Gefährdung der Freiberuflichkeit der Steuerberater führen, wenn nicht mehr die persönlichen Fähigkeiten, die Ausbildung und die Qualität der Bearbeitung im Vordergrund steht, sondern diese Aufgaben nur noch durch die Informationstechnologie vollautomatisch erledigt werden45. Dies kann zu Strukturveränderungen führen, wenn Digitalisierungsprozesse ausgelagert werden müssen. Die Notwendigkeit, eine hinreichende IT-Infrastruktur  zur Verfügung zu stellen, verursacht Anpassungsbedarf bei der Zusammensetzung des Personals, der Hierarchie innerhalb von Kanzleien, der Umsatzverteilung innerhalb dieser Hierarchie und der Vergütungsmodelle46. Wenn ein Großteil der herkömmlichen Tätigkeitsfelder durch die EDV und die IT erledigt werden, muss entsprechend qualifiziertes Personal gewonnen werden47. Generell führt die Schnelligkeit der Veränderungen zu einem erhöhten Fortbildungsbedarf. 2. Digitale Zusammenarbeit mit der Finanzverwaltung Mit Einführung der Digitalisierung im Besteuerungsverfahren sind auch die Berater zwangsläufig dazu übergegangen die Zusammenarbeit mit der Finanzverwaltung immer mehr zu digitalisieren48. Bereits vor mehr als 20 Jahren startete ELSTER und bot auch der Beraterschaft die Möglichkeit, Steuererklärungen auf digitalem Weg zu übermitteln49. Als vor 10 Jahren die Übermittlung von bestimmten Steuererklärungen und weiteren Angaben in digitaler Form vorgeschrieben wurde, konnte sich kein Berater mehr der Digitalisierung in der Steuerberatung entziehen50. Inzwischen gehört die Übermittlung der meisten steuerlichen Angaben an die Finanzverwaltung in digitaler Form zur Routine eines jeden Steuerberaters. Die elektronische Kommunikation ermöglicht eine effiziente, zeitgemäße, medienbruchfreie und hochsichere elektronische Übertragung jeglicher Steuerdaten zwischen Bürgern, Steuerberatern, Arbeitgebern, Kommunen, Verbänden, Finanzbehörden und sonstigen Institutionen51. Gleichzeitig betreuen Steuerberater ihre Mandanten, wenn die Finanzverwaltung im Rahmen der Betriebsprüfung auf die Daten des Steuerpflichtigen zugreift52. Steuerberater und Rechtsanwälte sind damit Mittler zwischen den Mandanten, die teilweise noch in der analogen Welt leben, und der immer mehr zur Digitalisierung übergehenden Finanzverwaltung.

45 Gutenberg, NWB 2016, 3336. 46 Hartung/Bues/Halbleib, Legal Tech, S. 24. 47 Gutenberg, NWB 2016, 3336. 48 Zur Datenträgerüberlassung an die Finanzverwaltung: Schäperclaus/Hanke, DB Beilage 2016, Nr. 04, 17. 49 Vgl. zu aktuellen Neuerungen: Krebs, DB Beilage 2016, Nr. 04, 13. 50 Zu Erstellung und Übermittlung der E-Bilanz an die Finanzverwaltung: Hülshoff, DB Beilage 2016, Nr. 04, 2. 51 Krebs, DB Beilage 2016, Nr. 04, 13. 52 Zum Z3-Datenzugriff: Schäperclaus/Hanke, DB Beilage 2016, Nr. 04, 17.

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3. Digitalisierung wesentlicher Tätigkeitsbereiche Insbesondere bei den zentralen Tätigkeitsbereichen der steuerlich beratenden Berufe zeigen sich die Auswirkungen der Digitalisierung. Eine wesentliche Veränderung für die Beraterschaft ergibt sich aus der Digitalisierung der Buchführung und anderer Leistungen, die früher zu den Leistungsangeboten der Steuerberatung gehörten, die noch durch Einsatz von qualifiziertem Personal erledigt wurden. Es ist absehbar, dass viele dieser Tätigkeiten in Zukunft automatisiert mit Hilfe intelligenter Computersysteme erledigt werden. Schon heute sind die Auswirkungen auf die wesentlichen Tätigkeiten in der Steuerberatung erkennbar. Mit dem Einsatz des hybriden Rechnungsformats „ZUGFeRD“53 werden strukturierte Daten mit einem lesbaren PDF-Dokument verbunden, sodass sowohl das PDF als auch der strukturierte Datensatz für sich genommen eine Rechnung darstellen. Damit können alle Unternehmen und Verwaltungen die Vorteile der E-Rechnung nutzen. Das Rechnungsdatenformat erlaubt ein standardisiertes Auslesen von Rechnungsdaten und ermöglicht die Automatisierung des Rechnungsprüfungs- und Buchungsvorgangs54. Gesetzgeber und Bundesregierung sorgen auf dem Gesetzes- und Verordnungsweg für eine flächendeckende Verbreitung der „Digitalen LohnSchnittstelle“ in den Lohnbuchhaltungsprogrammen der Arbeitgeber. Damit werden für Zwecke der LSt-Außenprüfung die Lohnbuchhaltungsdaten künftig unter Anwendung eines einheitlichen Standarddatensatzes bereitgestellt, der auf die Verarbeitung in der Prüfungssoftware der LSt-Außenprüfer abgestimmt ist. Ein LSt-Außenprüfer wird sich daher künftig kaum noch mit der Aufbereitung unterschiedlich strukturierter Datenmengen beschäftigen müssen und kann zeitnah mithilfe der vorbereiteten Prüfroutinen den übernommenen Datenbestand des Arbeitgebers nach diversen Kriterien auswerten, um seine Prüfungsfeststellungen zu treffen55. Diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Je nach Steuererhebungsverfahren werden zukünftig unterschiedliche steuerrelevante Daten mit unterschiedlichem Detailgrad und zu unterschiedlichen Zeitpunkten benötigt werden. Dabei wird die Steuerverwaltung immer öfter auf standardisierte Datenmodelle zurückgreifen, die dann mit den in dem jeweiligen Betrieb verwendeten Systemen der Rechnungsprüfung und Finanzbuchhaltung zu verbinden sind56. Im betrieblichen Bereich bieten die heute vorhandenen großen Datenmengen die Chance, technologieunterlegte standardisierte Bearbeitungsprozesse einzuführen, den Automationsgrad zu erhöhen und manuelle Bearbeitungsfehler zu reduzieren57. Ein wachsendes Angebot digitaler Applikationen und Plattformen schafft die technischen Voraussetzungen, um die herkömmlichen Tätigkeitsfelder in der Beraterschaft durch neue Geschäftsmodelle und durch zusätzliche Leistungsangebote zu erwei53 Akronym für Zentraler User Guide des Forums elektronische Rechnung Deutschland. 54 Engel-Flechsig, DB Beilage 2016, Nr. 04, 28. 55 Eismann, DB Beilage 2016, Nr. 04, 23. 56 Eismayr/Kirsch, DB Beilage 2016, Nr. 04, 40; vgl auch: Oechsle, DB Beilage 2016, Nr. 04, 45. 57 Kowallik/Bongaerts, DB Beilage 2016, Nr. 04, 8.

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tern58. Systeme auf der Grundlage von Cloud Computing, Internet of things, Blockchain und Künstlicher Intelligenz (KI) oder Cognitive Computing werden in Zukunft in den Unternehmen eingesetzt werden und herkömmliche Rechnungs- und Buchführungssysteme ablösen. Die Kombination von Digitalisierung und Vernetzung ermöglicht völlig neue, innovative Geschäftsmodelle  – mit intelligenten Produktions- und Steuerungssystemen und erheblichen Auswirkungen auf den Alltag der Menschen59. Das Berufsbild des Steuerberaters wird sich dadurch weiter verändern60.

V. Auswirkung auf das Besteuerungsverfahren Das Besteuerungsverfahren bietet sich als Massenverfahren für die Digitalisierung an. Schon seit vielen Jahren arbeitet daher die Finanzverwaltung an Systemen, die der Unterstützung beim Ermittlungs-, Veranlagungs- und Festsetzungsverfahren dienen. Anfangs wurden in den Ländern eigene Programme entwickelt. Mit KONSENS (­Koordinierte neue Software-Entwicklung der Steuerverwaltung) will die Steuer­ verwaltung in Deutschland ihre Informationstechnik vereinheitlichen, modernisieren und fortentwickeln61. Wesentlicher Bestandteil von KONSENS ist die Software ELSTER (Elektronische Steuererklärung), mit der Steuererklärungen, Steueranmeldungen abgegeben und weiterer steuerlicher Datenaustausch zwischen dem Steuerpflichtigen, Unternehmen und Beratern auf der einen und der Finanzverwaltung auf der anderen Seite ermöglicht wird. Damit die Steuern digital veranlagt werden können, werden Festsetzungs- und Erhebungsprogramme sowie ein Programm für die Stammdaten der Steuerpflichtigen entwickelt62. Gleichzeitig hat der Gesetzgeber die Übermittlung von Steuererklärungen auf elektronischem Wege vorgeschrieben. Die Daten, die in digitaler Form vorliegen, werden mit Hilfe von Risikomanagementsystemen (RMS) überprüft. Angesichts der Datenmengen, die heute in den Unternehmen vorliegen, findet die Außenprüfung ebenfalls nicht mehr durch manuelle Prüfung einzelner Papierdokumente sondern mit Hilfe von Spezialsoftware statt. Längst hat sich die digitale Außenprüfung durchgesetzt63. Egmont Kulosa hat in seinem Beitrag in dieser Festschrift die Digitalisierung der Deklarationspflichten, der Außenprüfung und des steuerlichen Verfahrensrechts um-

58 Kozikowski/Schmid, WPg 2017, 458 ff. 59 Hempe, DStR 2017, 805. 60 Hinerasky/Kurschildgen, DB Beilage 2016, Nr. 04, 35. 61 https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Monatsberichte/2011/06/Artikel/ analysen-und-berichte/b02-Vorhaben-KONSENS/Vorhaben-KONSENS.html. 62 Dabei gelingt es der Finanzverwaltung diese Kernverfahren mit jeweils wohlklingenden Namen zu versehen: GINSTER = Grundinformationsdienst Steuer; ELFE – Einheitliches länderübergreifendes Festsetzungsverfahren; BIENE – Bundeseinheitliches integriertes evolutionär neu entwickeltes Erhebungsverfahren. 63 Bleschick, DStR 2018, 1050 und 1105; Peters, DStR 2017, 1953; Becker, DStR 2016, 1386 und 1430.

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fassend dargestellt, so dass auf diese Ausführungen verwiesen werden kann64. Auch Roman Seer ist in seinem Beitrag auf die vollautomatisierte Steuerfestsetzung, die RMS, den elektronischen Steuerbescheid und die vorausgefüllte Steuererklärung eingegangen65. Daher soll hier nur auf zwei grundsätzliche Probleme im Zusammenhang mit der Digitalisierung des Besteuerungsverfahrens eingegangen werden. Dies betrifft zum einen die Gesetzeskonkretisierung durch die Verwaltung und zum anderen Maßstäbe für die Verifikation im Besteuerungsverfahren. 1. Gesetzeskonkretisierung im digitalen Besteuerungsverfahren Die Auslegung und Anwendung des Steuerrechts wird von allen am Verfahren Beteiligten vorgenommen. Im Rahmen des Besteuerungsverfahrens wird mit der Steuererklärung eine Subsumtion unter die gesetzlichen Tatbestände vorgenommen. Maßgeblicher Erstinterpret des geltenden Steuerrechts ist die Finanzverwaltung66. Die Finanzverwaltung stellt gegenüber dem Steuerpflichtigen fest, welche Auslegung des geltenden Steuerrechts sie als maßgeblich ansieht. Erst wenn diese Auslegung durch den Steuerpflichtigen nicht akzeptiert wird, ist die Finanzgerichtsbarkeit als Zweitinterpret zur verbindlichen Auslegung des Steuerrechts aufgerufen67. Die Finanzverwaltung nimmt ihre Aufgabe als Erstinterpret des geltenden Steuerrechts nicht nur in der konkreten Veranlagung wahr, sondern dokumentiert ihre Rechtsauffassung in Richtlinien und Verwaltungsanweisungen. Wenn Sie dabei in großem Umfang auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs verweist, anerkennt sie damit die Letztentscheidungsbefugnis der Finanzgerichtsbarkeit. Soweit sie  – heute nur noch gelegentlich – in Nichtanwendungserlassen die Rechtsprechung in Frage stellt, muss der Steuerpflichtige seine Rechte in einem weiteren Gerichtsverfahren durchsetzen. Diese Konkretisierungsbefugnis erlangt eine neue Bedeutung, wenn die Auslegungsentscheidungen der Finanzverwaltung von einem Programmierer in einer Software umgesetzt werden, das im Besteuerungsverfahren Anwendung findet. Da im digitalen Besteuerungsverfahren diese Auslegungsentscheidungen und Konkretisierungen des geltenden Steuerrechts schematisch ohne Ansehen der Person umgesetzt werden, wird die Besteuerungsgleichheit sehr viel konkreter umgesetzt, als wenn der jeweilige Einzelfall von einem Bearbeiter händisch geprüft wird. Typisierungen, Bewertungen, Abschreibungen oder bestimmte Auslegungsvarianten werden gleichmäßig bei allen digitalen Veranlagungsentscheidungen angewendet68. Diese schematische Anwendung des geltenden Steuerrechts muss jedoch für den besonderen atypischen Einzelfall korrigierbar bleiben. Insoweit sind die qualifizierten Freitextfelder (§ 150 Abs. 7 64 Kulosa, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Steuerrechtsschutzes, in FS 100 Jahre BFH, S. 1831 ff. 65 Seer, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Steuerverfahrensrechts, in FS 100 Jahre BFH, S. 1717 ff. 66 P. Kirchhof in Kirchhof, 17. Aufl., Einl. EStG Rz. 72. 67 BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1 Rz. 57 f. 68 P. Kirchhof, DStR 2018, 501.

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Satz 1 AO), die zur Aussteuerung aus der maschinellen in die personelle Veranlagung führen, unabdingbar. Gleichzeitig ist aber auch erforderlich, dass die Finanzverwaltung sämtliche Entscheidungen über die Konkretisierung des geltenden Steuerrechts in der Veranlagung offenlegt. Dabei genügt es nicht, die jeweilige Auslegung einer Norm offen­ zulegen, um dem Steuerpflichtigen, der eine andere Rechtsauffassung vertritt, die entsprechenden Rechtsschutzmöglichkeiten zu eröffnen und zu erleichtern. Von besonderer Bedeutung ist die Programmierung auch in den Fällen, in denen die Finanzverwaltung auf die Besteuerung am Maßstab des geltenden Rechts verzichtet. Sogenannte Nichtaufgriffsgrenzen oder die Festlegung von Risikowertgrenzen entkoppeln das Besteuerungsverfahren vom materiellen Steuerrecht und führen zum sog. „code law“69. Derartige eigenmächtige – im geltenden Steuerrecht nicht angelegte – Wertgrenzen der Finanzverwaltung widersprechen dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Finanzbehörden sind nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, die wegen Verwirklichung eines steuerrechtlichen Tatbestands entstandenen Steueransprüche (§ 38 AO) festzusetzen und die Steuer zu erheben. Einen im Belieben der Finanzverwaltung stehenden, freien Verzicht auf Steuerforderungen gibt es nicht70. Auch durch die Programmierung der Erhebungsund Veranlagungssoftware dürfen die Finanzbehörden Ausnahmen von der gesetzlich vorgeschriebenen Besteuerung nicht zulassen. Eine Überprüfung derartiger Programmvorgaben ist auch deswegen erforderlich, weil darin ein vom Gesetz nicht gedecktes strukturelles Vollzugsdefizit zu sehen ist, das gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt71. Zwar mag aus Wirtschaftlichkeitserwägungen die Kon­ trolldichte in den Fällen zurückgenommen werden, in denen der Steuerausfall weniger hoch erscheint als in anderen Fällen72. Ein vollständiger Verzicht auf eine Verifikation ist aber nicht möglich; zumindest eine angemessene Zahl von Stichproben auch in weniger gewichtigen Steuerfällen ist schon mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz geboten. Darüber hinaus bietet die digitale Veranlagung weitere Vorteile, wenn das geltende Recht an vergleichbare Sachverhalte, tatsächliche und rechtliche Vorgaben aus anderen Bereichen anknüpft. Dies wirkt sich z.B. beim Fremdvergleich, bei Angehörigenverträgen oder bei der Angemessenheit von Zinsen und Lizenzgebühren aus73. 2. Maßstäbe für die Verifikation im digitalen Besteuerungsverfahren Im digitalen Besteuerungsverfahren findet die Verifikation durch RMS oder in der digitalen Betriebsprüfung auch durch den Einsatz digitaler Prüfmethoden wie dem

69 Ahrendt, NJW 2017, 537. 70 BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393. 71 Vgl. dazu Maier, JZ 2017, 614. 72 Ahrendt, NJW 2017, 537. 73 Vgl. P. Kirchhof, DStR 2018, 497 (500).

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Zeitreihenvergleich oder der Quantilsschätzung74 statt. Der Bundesrechnungshof hat in seinen Prüfungen des Vollzuges von Steuergesetzen die maschinellen RMS als unzureichend beanstandet75. Da die Befürchtung besteht, dass Steuerpflichtige ihr Erklärungsverhalten an die RMS anpassen, hat der Gesetzgeber in § 88 Abs. 5 Satz 4 AO geregelt, dass Einzelheiten nicht veröffentlicht werden dürfen, soweit dies die Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung gefährden könnte. Grundsätzlich sind die Grundlagen digitaler Ermittlungen dem Steuerpflichtigen in vollem Umfang mitzuteilen. Deshalb hat der Steuerpflichtige in Fällen der digitalen Betriebsprüfung auch einen weitreichenden Informationsanspruch über die Grundlagen der jeweiligen Methoden, Dateien und Prüfungsschritte76. Demgegenüber regelt § 88 Abs. 5 Satz 4 AO für das RMS ein weitreichendes Veröffentlichungsverbot. Auch wenn das Ziel der Geheimhaltung im Hinblick auf die Gefahr, dass die Steuerpflichtigen ihr Verhalten daran anpassen könnten, von Verfassung wegen gebilligt werden kann, stellt sich doch die Frage des Maßstabs für derartige RMS und der hinreichenden Kontrolle der Finanzverwaltung im Rahmen der Gewaltenteilung. Maßstab für ein RMS ist grundsätzlich die Durchsetzung der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung77. Damit ist das RMS in erster Linie auf die Kon­ trolle einer vollständigen, widerspruchsfreien und gesetzeskonformen Steuererklärung angelegt. Widersprüchliche oder unvollständige Angaben müssten dazu führen, dass die entsprechenden Steuerfälle ausgesteuert werden. Die Vollständigkeit einer Steuererklärung kann im Hinblick auf den umfangreichen Datenaustausch im Besteuerungsverfahren ebenfalls maschinell überprüft werden. Ein Vergleich mit dem Erklärungsverhalten anderer Steuerpflichtiger kann zusätzliche Erkenntnisse bringen. Auch dürfte es sinnvoll sein, besonders fehleranfällige Sachverhalte einer besonderen Prüfung zuzuführen78. Problematisch dürfte es jedoch sein, subjektive Faktoren zum Maßstab einer besonderen Überprüfung des Steuerpflichtigen zu machen79. Insbesondere in den Fällen, in denen ein Steuerpflichtiger oder ein Berater in der Vergangenheit durch Einsprüche oder Rechtsmittel gegenüber der Finanzverwaltung auffällig geworden ist, darf die Inanspruchnahme von Rechtsschutzmöglichkeiten nicht zu einer erhöhten Risikoprüfung führen. Es stellt sich insgesamt die Frage, ob und inwieweit die Maßstäbe des RMS der gerichtlichen Kontrolle unterliegen müssen. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es sich bei § 88 Abs. 5 Satz 4 AO nicht um einen absoluten, sondern um einen bedingten Geheimnisvorbehalt handelt80. Insbesondere in den Fällen, in denen subjektive Kriterien und personenbezogene Daten im Rahmen des RMS Anwendung finden, sind diese bekannt zu geben81. Hier ist das Recht auf informationelle Selbst74 Dazu Bleschick, DStR 2018, 1050. 75 BT-Drucks. 17/8429, 14; vgl. auch Ahrendt, NJW 2017, 537. 76 Bleschick, DStR 2018, 1050. 77 Zu den weiteren Zielen des RMS Seer in Tipke/Kruse, § 88 AO Rz. 68. 78 Zu den Einzelheiten des RMS Seer in Tipke/Kruse, § 88 AO Rz. 68. 79 So aber Seer, StuW 2003, 40 (48 ff.); Schmidt/Schmitt in FS Spindler, 529 (542 f.). 80 Seer in Tipke/Kruse, § 88 AO Rz. 82. 81 Meinert, DFGT 10/11 (2013/14), 264 (275).

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bestimmung zu beachten. Darüber hinaus muss aber auch eine regelmäßige Evaluierung durch die zuständigen Finanzbehörden und eine hinreichende Kontrolle durch den Bundesrechnungshof oder vergleichbarer unabhängigen Stellen gewährleistet sein, damit sichergestellt ist, dass die RMS sich an der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung orientieren und nicht anderen Zwecken dienen82. Insgesamt erscheint derzeit die Kontrolle der RMS und der Maßstäbe, die diesen Systemen zugrunde gelegt werden, unzureichend. Die Finanzbehörden sind hier zu größerer Transparenz aufgerufen; insbesondere obliegt ihnen die Aufgabe, dass die RMS nicht zu gesetzeswidrigen, strukturell defizitäre Besteuerungsfreiräumen führen und dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der am Besteuerungsverfahren beteiligten Personen beachtet worden ist.

VI. Auswirkung auf den Steuerrechtsschutz Die Digitalisierung im Steuerrecht betrifft auch die Judikative und damit auch den Bundesfinanzhof, dessen Jubiläum Anlass dieser Festschrift ist. Hervorzuheben ist zunächst die Einführung des digitalen Rechtsverkehrs. Hier hat der Gesetzgeber e­ rste Regelungen erlassen und teilweise haben Finanzgerichte schon die führende elektronische Gerichtsakte eingeführt. Der elektronische Rechtsverkehr passt die Arbeitsabläufe an die Bedingungen einer modernen Datenverarbeitung an. Die Digitali­ sierung hat nicht nur Einfluss auf die Kommunikation und die Bearbeitung der Prozessakten. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat der Gesetzgeber schon lange die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Einbeziehung einer Videokonferenz (§  91a FGO) geregelt83. Die Digitalisierung wird schließlich dazu führen, dass sich für die Rechtsprechung neue Betätigungsfelder und neuartige Fragestellungen bei der gerichtlichen Überprüfung von Maßnahmen der Finanzverwaltung und der Gesetzgebung ergeben. 1. Elektronischer Rechtsverkehr und elektronische Akte Während in der Privatwirtschaft und auch in der Beraterschaft über die Art und Weise der Kommunikation weitgehend frei entschieden werden kann, erfordert die auf Formenstrenge ausgelegte Kommunikation mit dem Staat feste Regeln. Ebenso wie bei der Kommunikation mit der Finanzverwaltung bedarf daher die Einführung des  elektronischen Rechtsverkehrs eines Gesetzes, das die wesentlichen Vorgaben für  den elektronischen Rechtsverkehr enthält. In erster Linie hat der Gesetzgeber die Umstellung von der Papierakte, die auf einer analogen Kommunikation aufbaut, auf eine elektronische Akte geregelt. Dabei wird es in einer Übergangsphase zwangsläufig zu einem Nebeneinander von analogem und digitalem Rechtsverkehr kommen.

82 Vgl. auch Seer, StuW 2015, 315 (324 f.). 83 Ausführlich dazu Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 91a FGO.

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a) Normative Grundlagen Wie heute vielfach üblich, sind die Vorschriften für die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs in verschiedenen europäischen und nationalen Gesetzen und Verordnungen enthalten84. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen hier die wichtigsten Regelungen für die Finanzgerichtsbarkeit genannt werden. Der Gesetzgeber hat den elektronischen Rechtsverkehr im Wesentlichen durch zwei Gesetze geregelt. Mit dem Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10.10.201385 hat er einen konkreten Zeitplan für die stufenweise Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs (ERV) vorgegeben. Das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5.7.201786 (E-Akte-Gesetz) enthält weitere Vorgaben für die Einführung des ERV und einen Zeitplan für die Einführung der elektronischen Akte bei den Gerichten. Dabei hat der Gesetzgeber die europarechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen, die insbesondere Regeln für die elektronischen Signaturen87 und Vorschriften über den elektronischen Geschäftsverkehr im Binnenmarkt88 enthalten. Außerdem legt die Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung)89 einheitliche technische Rahmenbedingungen für die Übermittlung elektronischer Dokumente an die Zivil-, Familien-, Arbeits-, Sozial-, Verwaltungs- und Finanzgerichte der Länder und des Bundes fest. Ziel dieser Verordnung ist es unter anderem den elektronischen Zugang zu diesen Gerichten für alle Bürgerinnen und Bürger, die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die Behörden und übrigen Verfahrensbeteiligten nach einheitlichen technischen Regelungen zu eröffnen. Außerdem werden die Einzelzeiten eines besonderen elektronischen Behördenpostfachs geregelt, das nach Durchführung eines Identifizierungsverfahrens die Übermittlung elektronischer Dokumente an die Gerichte auf einem sicheren Übermittlungsweg ermöglicht.

84 Vgl. zur Kritik an den Regelungen, die „so unübersichtlich wie ein Kursbuch der früheren Eisenbahnära“ seien: Kesper/Ory, NJW 2017, 2710. 85 BGBl. I 2013, 3786. 86 BGBl. I 2017, 2208. 87 VO (EU) Nr.  910/2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für ­elek­tronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der RL 1999/93/EG, ABl. EG 2014 L 257, 73, sog. eIDAS-Verordnung; vgl. dazu Heinze/Prado Ojea, CR 2018, 37. 88 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“), ABl. EG L 178, 1. 89 Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung) v. 24.11.2017, BGBl. I 2017, 3803; geändert durch Art. 1. der Verordnung vom 9.2.2018, BGBl. I 2018, 200).

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b) Elektronischer Rechtsverkehr aa) Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs Der elektronische Rechtsverkehr soll nach und nach in Bund und Ländern eingeführt werden90. Dies ermöglicht zum einen Pilotprojekte und die Umstellung je nach Entwicklungsstand in den einzelnen Gerichtsbarkeiten und Gerichten. Das hat den großen Vorteil, dass erste Erfahrungen schon im Echtbetrieb gesammelt werden können, bevor der elektronische Rechtsverkehr flächendeckend eingeführt wird. Auf der anderen Seite führt die sukzessive Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs zu Schwierigkeiten, weil es zwangsläufig zu Medienbrüchen kommt, wenn die Verwaltung, die Beraterschaft und die Gerichte teilweise analog und teilweise digital arbeiten. Außerdem werden schon heute in den Ländern und in den unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten unterschiedliche Fachverfahren und Anwendungsprogramme für die elektronische Akte verwendet, die aufeinander abgestimmt werden müssen. Die Digitalisierung des finanzgerichtlichen Verfahrens begann am 1.8.2001, als der Gesetzgeber ermöglichte, beim Finanzgericht elektronische Schriftsätze einzureichen91. Dies setzte eine ausdrückliche Zulassung in den Ländern oder beim Bund durch eine Rechtsverordnung voraus, die für den Bundesfinanzhof im Jahre 2004 erlassen wurde92. Seit dem 1. Januar 2018 ist der elektronische Rechtsverkehr mit den Gerichten allgemein eröffnet. Seither können nach § 52a Abs. 1 FGO vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen, schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen der Parteien sowie schriftlich einzureichende Auskünfte, Aussagen, Gutachten, Übersetzungen und Erklärungen Dritter als elektronische Dokumente eingereicht werden93. Während die Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs zunächst fakultativ ist, verpflichtet der Gesetzgeber ab dem 1. Januar 2022 Rechtsanwälte, Behörden und vertretungsberechtigte Personen vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronische Dokumente zu übermitteln94. Allerdings hat der Gesetzgeber in Art.  24 ERV-Gesetz eine Verordnungsermächtigung für die Länder vorgesehen, die diesen ermöglicht, den Termin für die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs vorzuziehen oder nach hinten zu verschieben. Die Landesregierungen können danach entweder bestimmen, dass die für den 1. Januar 2018 vorgesehene Eröffnung des elektronischen Rechtsverkehrs um ein oder zwei Jahre jeweils für einzelne Gerichtszweige nach hinten verschoben wird (Opt-out). Von dieser Möglichkeit haben die Länder nur in geringem Umfang für Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren Gebrauch gemacht, sodass in der Finanz90 Ausführlich zum zeitlichen Fahrplan der Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs: Kesper/Ory, NJW 2017, 2709. 91 § 77a FGO a.F. 92 Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr beim Bundesverwaltungsgericht und beim Bundesfinanzhof vom 26.11.2004, BGBl. I 2004, 3091; geändert durch die Verordnung vom 10.12.2015, BGBl. I 2015, 2207. 93 Art. 26 Abs. 1 ERV-G i.V.m. § 52a Abs. 1 FGO. 94 Art. 26 ERV-G i.V.m. § 52d Abs. 1 FGO.

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gerichtsbarkeit seit Anfang Januar 2018 die Regelung des § 52a FGO gilt. Es besteht jedoch nicht nur die Möglichkeit des Hinausschiebens; vielmehr können die Länder durch Rechtsverordnung auch regeln, dass die Verpflichtung zur Nutzung des elek­ tronischen Rechtsverkehrs auf den 1. Januar 2021 oder auf den 1. Januar 2020 vorgezogen wird (Opt-in). Bisher ist diese Verordnungsermächtigung noch nicht genutzt worden. Diese verschiedenen Regelungsmöglichkeiten erfordern eine regelmäßige Prüfung, ob einzelne Bundesländer im Bereich der Finanzgerichtsbarkeit den elek­ tronischen Rechtsverkehr verpflichtend zu einem früheren Zeitpunkt einführen. bb) Technische Vorgaben Mit der Regelung des Zeitplans ist aber nur geregelt worden, zu welchem Zeitpunkt die Kommunikation mit dem Gericht elektronisch stattzufinden hat. Der elektronische Rechtsverkehr setzt darüber hinaus einheitliche technische Standards und eine bestimmte elektronische Kommunikationsumgebung voraus. Anders als im Einspruchsverfahren, wo die elektronische Form und damit eine einfache E-Mail ausreicht (vgl. §  357 AO), können vorbereitende und bestimmende Schriftsätze gem. § 52a Abs. 3 FGO nur mit einer qualifizierten elektronischen Signatur oder auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden95. Bei der qualifizierten elektronischen Signatur ist es seit 1. Januar 2018 gem. § 4 Abs. 2 ERVV nicht mehr zulässig, mehrere elektronische Dokumente mit einer gemeinsamen qualifizierten elektronischen Signatur zu übermitteln (Verbot der Containersignatur)96. Wegen der hohen Anforderungen dürfte diese Art der Kommunikation eher selten sein. Alternativ anerkennt § 52a FGO vier unterschiedliche sichere Übermittlungswege: ein De-Mail-Konto, die Übermittlung über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) oder ein entsprechendes elektronisches Postfach, die Übermittlung aus einem besonderen Behördenpostfach oder einem sonstigen bundeseinheitlichen Übermittlungsweg, der durch eine Rechtsverordnung zugelassen ist. Von den bisher im Gesetz angebotenen Übermittlungswegen haben sich weder die Übermittlung mit einer qualifizierten elektronischen Signatur noch der Versand über De-Mail durchgesetzt. Auch das beA nach § 31 BRAO kann derzeit noch nicht als sicherer Übertragungsweg genutzt werden, weil es wegen Sicherheitsmängeln Ende 2017 abgeschaltet werden musste. Erst im Laufe des Jahres 2018 soll das beA wieder in Betrieb genommen werden. Daher steht zurzeit keine einfache und kostengünstige Alternative zur elektronischen Kommunikation zur Verfügung. Es sind aber nicht nur die besonderen Übermittlungswege bei vorbereitenden und bestimmenden Schriftsätzen zu beachten. Vielmehr dürfen nach § 2 Abs. 1 ERVV im elektronischen Rechtsverkehr nur bestimmte Dateiformate genutzt werden. Grundsätzlich sind nur noch die Dateiformate PDF, in druckbarer, kopierbarer und, soweit technisch möglich, durchsuchbarer Form, sowie TIFF zulässig, wobei das Dateifor95 Ausführlich: Schmieszek in Gosch, § 52a FGO Rz. 12. 96 Zur früheren Rechtslage BFH v. 18.10.2006 – XI R 22/06, BFHE 215, 47, BStBl. II 2007, 276.

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mat PDF vorrangig zu verwenden ist. Andere Dateiformate können nur dann eingereicht werden, wenn dies zu Beweiszwecken geschieht. Die elektronische Kommunikation setzt weiter voraus, dass das Dokument wirksam bei Gericht eingegangen ist (§ 52a Abs. 5 FGO). Dies setzt sowohl die Übermittlung in der vorgeschriebenen Art und Weise (Formwirksamkeit) als auch die Aufzeichnung durch die für den Empfang bestimmte Einrichtung (Speicherung) voraus. Dabei trägt grundsätzlich der Absender das Risiko einer fehlgeschlagenen Übermittlung. Das eingereichte Dokument muss auch den Vorgaben für die Dateiformate genügen (vgl. § 52a Abs. 6 FGO); allerdings ist in diesem Fall der Absender auf die Fehlerhaftigkeit unverzüglich hinzuweisen, damit er dann den Fehler beheben kann. Der elektronische Rechtsverkehr ist keine Einbahnstraße. §  53 Abs.  2 FGO i.V.m. § 174 Abs. 3 ZPO ermöglicht auch für die Finanzgerichte die Zustellung eines elek­ tronischen Dokuments an einen Anwalt, einen Notar, einen Gerichtsvollzieher, einen Steuerberater oder an eine sonstige Person, bei der auf Grund ihres Berufes von einer erhöhten Zuverlässigkeit ausgegangen werden kann. Diese Berufsgruppen haben seit dem 1. Januar 2018 für die Zustellung elektronischer Dokumente einen sicheren Übermittlungsweg zu eröffnen (vgl. §  174 Abs.  3 Satz  2 ZPO). Solange weder als Rechtsanwälte zugelassene Steuerberater das beA nutzen können, und auch kein besonderes elektronisches Steuerberaterpostfach existiert, kommt für Steuerberater derzeit nur die Einrichtung eines De-Mail-Kontos in Betracht97. cc) Kommunikationswege Insgesamt erweist sich die Einhaltung der Vorgaben für den elektronischen Rechtsverkehr derzeit als eher kompliziert und aufwändig98, zumindest solange das beA noch nicht zur Verfügung steht. Dies dürfte auch dazu führen, dass eine hohe Zahl der elektronisch eingereichten Dokumente noch nicht den Übermittlungs- und Formvorschriften entsprechen. Mit der Zeit ist jedoch davon auszugehen, dass weitere sichere Übermittlungswege geschaffen werden und sich die elektronische Kommunikation mit den Gerichten auch in der Beraterschaft durchsetzen wird. Spätestens bis zum 1. Januar 2022 müssen sich aber alle professionellen Verfahrensbeteiligten mit der Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs auskennen. c) Elektronische Akte aa) Einführung der elektronischen Akte Von dem elektronischen Rechtsverkehr ist die Einführung der elektronischen Akte bei den Gerichten zu unterscheiden. Hier bestimmt das eAkte-Gesetz99, dass die elektronische Akte spätestens ab dem 1. Januar 2026 einzuführen ist, wenn nicht durch Rechtsverordnung in den Ländern oder für den BFH ein anderer Zeitpunkt 97 Hendricks/Höpfner, Ubg 2018, 184 (186). 98 Lamminger/Ulrich/Schmieder, NJW 2016, 3274. 99 S. oben VI. 1. a).

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bestimmt worden ist (§ 52b Abs. 1 Satz 2 FGO). Zwar können die Akten bei den Gerichten noch bis zu dem jeweils von Bund oder Land angeordneten Zeitpunkt in Papierform geführt werden. Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht faktisch ein Zwang zur Einführung der elektronischen Akte ab dem 1. Januar 2022 besteht, wenn die Beteiligten des Rechtsstreits durch das ERV-Gesetz grundsätzlich verpflichtet werden, auf elektronischem Wege mit den Gerichten zu kommunizieren. Den Richterinnen und Richtern steht keine Entscheidung über den Zeitpunkt der Einführung der elektronischen Akte zu, denn die Art und Weise der Aktenführung unterfällt nicht der richterlichen Unabhängigkeit100. Bis zum 31.12.2025 entscheiden die Landesregierungen und für den BFH die Bundesregierung durch Rechtsverordnung, ob und von welchem Zeitpunkt an die Prozessakten elektronisch geführt werden. Da §  52b FGO keine Regelungen über die Ausgestaltung der elektronischen Akte enthält, ist dies in den Rechtsverordnungen oder in den Aktenordnungen der jeweils betroffenen Gerichte zu regeln101. Bisher haben nur einzelne Länder Verordnungen erlassen, auf Grund derer Prozessakten elektronisch zu führen sind102. So haben z.B. die Länder Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zunächst in einzelnen Pilotsenaten die führende elektronische Finanzgerichtsakte eingeführt. In 2018 soll in Baden-Württemberg die gesamte Finanzgerichtsbarkeit mit der elektronischen Akte arbeiten. bb) Medienbrüche Die unterschiedlichen Zeitpunkte der Einführung der elektronischen Gerichtsakte und die zunächst fakultative Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs durch die Beteiligten führen zu Medienbrüchen, wenn teilweise elektronische Dokumente und teilweise Papierdokumente vorliegen. Das Problem der Medienbrüche, der Dateitransfers und die entsprechenden Dokumentationspflichten werden in § 52b Abs. 2–6 FGO geregelt. Dabei sollen Hybridakten dadurch vermieden werden, dass grundsätzlich Dokumente, die nicht der jeweiligen Aktenführung entsprechen, eingescannt oder aber ausgedruckt werden sollen103. § 52b Abs. 2 FGO schreibt vor, dass der Ausdruck nur bei Anlagen zu vorbereitenden Schriftsätzen unterbleiben kann, wenn damit ein unverhältnismäßiger Aufwand verbunden ist. Umgekehrt sind Schriftstücke und sonstige Unterlagen in ein elektronisches Dokument zu übertragen, wenn die Prozessakten elektronisch geführt werden; nach sechs Monaten besteht die Möglichkeit die Papierdokumente zu vernichten (vgl. § 52b Abs. 6 FGO). Für den Bundesfinanzhof ist von praktischer Bedeutung, wie zu verfahren ist, wenn die Finanzgerichtsakten elektronisch und die Prozessakten des BFH in herkömmlicher Form geführt werden. Da es sich bei den Beiakten nicht um einen Bestandteil der Prozess100 Thürmer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 52b FGO Rz. 18. 101 Schmieszek in Gosch, § 52b FGO Rz. 2. 102 Z.B. eAktVO des Justizministeriums des Landes Baden-Württemberg v. 29.3.2016, GBl. Baden-Württemberg 2016, 265; Verordnung zur elektronischen Aktenführung bei den Finanzgerichten im Land Nordrhein-Westfalen (eAkten-Verordnung Finanzgerichtbarkeit - eAktVO FG) vom 9.2.2017 (GV NRW S. 284; ber. S. 320). 103 Schmieszek in Gosch, § 52b FGO Rz. 5.

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akten handelt, dürfte es insbesondere bei sehr umfangreichen elektronischen Akten zulässig sein, auf einen Ausdruck zu verzichten. cc) Kommunikation mit der Finanzverwaltung Für die elektronische Aktenführung ist der Datenaustausch zwischen der Finanz­ verwaltung und der Finanzgerichtsbarkeit von wesentlicher Bedeutung. Innerhalb des KONSENS104-Verbundes der Finanzverwaltung wird derzeit das Projekt KoDaG (Koordination des Datenaustauschs mit der Gerichtsbarkeit) vorangetrieben. Entsprechend den gesetzlichen Vorgaben ist seit 1.1.2018 die Entgegennahme von ­elektronischen Schriftsätzen der Finanzgerichte einschließlich des elektronischen Empfangsbekenntnisses möglich. In einem zweiten Schritt sollen die Finanzämter – voraussichtlich zum 1.1.2021  – die Möglichkeit erhalten, Schriftsätze mit den Gerichten elektronisch auszutauschen, insbesondere Schriftsätze und einzelne Dokumente an die Gerichte zu versenden. Die elektronische Übermittlung der Fallakten ist erst zum 1.1.2026 vorgesehen. Dabei ist zunächst nicht geplant, dass die Finanzgerichte Zugriffsrechte auf die bei den Finanzämtern vorhandenen Daten des Steuerpflichtigen erhalten. Vielmehr soll aus dem Datenbestand bei der Finanzverwaltung eine pdf-Akte hergestellt werden. Damit werden zum einen die Möglichkeiten der modernen Datenverarbeitung nicht ausgeschöpft. Auch stellt sich die Frage, ob die Finanzgerichtsbarkeit damit die Vorgänge der Veranlagung vollständig überprüfen kann. dd) Standards für die E-Akte Ziel der Digitalisierung der Justiz ist es, alle an der Bearbeitung eines Falles beteiligten Justizbediensteten und auch die Richter einzubinden. Neben einem Dokumentenmanagement-System (DMS) für die juristische Arbeit an dem jeweiligen Fall sind daher auch Fachanwendungen erforderlich, um die Arbeitsabläufe einer Prozessakte innerhalb eines Gerichts elektronisch abzubilden. Aufgrund der Länderzuständigkeit für die Justiz sind für die Bearbeitung der elektronischen Akte in den verschiedenen Ländern, teilweise auch innerhalb eines Landes, unterschiedliche Fachanwendungen und unterschiedliche DMS entwickelt und verwendet worden105. Damit die unterschiedlichen Plattformen auf die jeweils vorhandenen Daten zugreifen können, bedarf es eines bundesweit einheitlichen Standards, wonach nicht nur auf alle Dokumente zugegriffen werden kann, sondern auch einzelne verfahrensbezogene Daten  – etwa die Adressen von Prozessbeteiligten oder Angaben über bevorstehende Verhandlungstermine – möglichst so ausgetauscht werden können, dass sie der Empfänger durch einfachen Mausklick in seine eigene Software übernehmen kann. Zu diesem Zweck ist das einheitliche Dateiformat XJustiz festgelegt worden, das grundlegende Festlegungen für den Austausch strukturierter Daten zwischen den Prozessbeteiligten (Bürgern, Unternehmen, Rechtsanwälten, IHKs) und den Gerichten enthält106. Darüber 104 KONSENS = Koordinierte neue Software-Entwicklung der Steuerverwaltung. 105 Jost/Kempe, NJW 2017, 2705 ff. 106 https://xjustiz.justiz.de/.

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hinaus ist im Jahr 2012 ein E-Justice-Rat errichtet worden, der über die Grundlagen der Zusammenarbeit beim Einsatz der Informationstechnologie in der Justiz entscheidet107. Um die Zersplitterung in der IT entgegenzuwirken hat der E-Justice-Rat die Entwicklung und Pflege eines gemeinsamen Fachverfahrens und die Vereinheitlichung der IT im Bereich der Justiz beschlossen. Damit ist eine wesentliche Voraussetzung für die reibungslose Zusammenarbeit in der gesamten Gerichtsbarkeit der Bundesrepublik Deutschland geschaffen worden. ee) Auswirkungen auf die Arbeitsabläufe Die elektronische Gerichtsakte wird weitreichende Auswirkungen auf die Arbeitsabläufe in der Justiz haben. Insbesondere in der Anfangszeit kann es dabei zu Umstellungsschwierigkeiten kommen108. Wegen der hochsensiblen personenbezogenen Daten, die in der Finanzgerichtsbarkeit regelmäßig dem Steuergeheimnis unterliegen, bedarf die IT-Struktur in den Gerichten besonderer Sicherheitsvorkehrungen, die zu Einschränkungen auf den Zugriff dieser Dateien von außen führen kann. Die Arbeit mit der elektronischen Akte erfordert auch Maßnahmen im Bereich des Gesundheitsschutzes, wenn die Bearbeitung fast nur noch am Bildschirm stattfindet109. Diesen Einschränkungen stehen aber gewichtige Vorteile gegenüber, die diese Nachteile bei Weitem überwiegen110. Die strukturierte Umgebung und die Nutzung des elek­ tronischen Rechtsverkehrs vereinfacht und beschleunigt die Arbeitsabläufe nicht nur für die Richterinnen und Richter sondern auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Geschäftsstellen und die Kostenbeamten. Ein wesentlicher Vorteil ist die Möglichkeit, umfangreiche Sachverhalte und Vorgänge leichter und komfortabler zu ordnen und zu bearbeiten, indem Lesezeichen, Annotationen, Markierungen und Suchfunktionen genutzt werden können. Die Möglichkeit der Texterkennung und damit ein direkter Sprung auf bestimmte Teile in umfangreichen Dokumenten erleichtert die Auseinandersetzung mit dem Vortrag der Parteien. Die elektronische Gerichtsakte steht zudem mehreren Bearbeitern gleichzeitig zur Verfügung und ermöglicht so eine flexible Arbeitsweise in einem Spruchkörper. Schließlich ermöglicht die elektronische Gerichtsakte eine erhöhte Mobilität, denn die elektronische Akte kann sowohl am häuslichen Arbeitsplatz als auch bei auswärtigen Terminen genutzt werden111. Neben den tatsächlichen Veränderungen in der Aktenbearbeitung sieht sich der Bearbeiter auch zahlreichen neuen rechtlichen Fragestellungen gegenüber. So sind ­zunächst die Wirksamkeitserfordernisse der § 52a FGO und § 52b FGO zu prüfen. Darüber hinaus stellen sich Fragen im Zusammenhang mit der Zustellung von ­Klageschriften, des wirksamen Zustandekommens von Entscheidungen, der wirksamen Zustellung gerichtlicher Dokumente an die Verfahrensbeteiligten, die Behand107 https://justiz.de/e_justice_rat/index.php. 108 Gundlach, DRiZ 2015, 96. 109 Vgl. zu den Vor- und Nachteilen der elektronischen Aktenbearbeitung Natter/Haßel, NZA 2017, 1017. 110 Sczech, NJW-Beil. 2016, 107. 111 Köbler, DRiZ 2013, 76.

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lung von Empfangsbekenntnissen, dem Zeitpunkt des Eingangs eines Urteils bei der Geschäftsstelle oder der vollstreckbaren Ausfertigung von Entscheidungen112. Da die elektronische Gerichtsakte erst nach und nach eingeführt wird, werden diese Fragen erst im Laufe der Zeit durch die Gerichte zu klären sein. ff) Akteneinsichtsrechte Die Digitalisierung der Prozessakten verändert auch die Art und Weise der Akteneinsicht. Im finanzgerichtlichen Verfahren gewährleistet § 78 FGO ein umfassendes Recht auf Akteneinsicht. Zum 1.1.2018 ist diese Vorschrift neu gefasst worden und regelt nunmehr vorrangig in Abs. 2 die Form der Einsichtnahme, wenn die Prozessakten bereits in elektronischer Form geführt werden. Bei einer führenden elektronischen Akte wird gem. § 78 Abs. 2 Satz 1 FGO die Akteneinsicht grundsätzlich durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf gewährt. Dies setzt eine besonders gesicherte Verbindung über ein öffentliches Telekommunikationsnetz voraus113. Hierbei dürfte es sich nicht um einen sicheren Übermittlungsweg i.S. des § 52a Abs. 4 FGO handeln. Die Gerichte haben die Voraussetzungen für den Abruf des Akteninhalts zu schaffen. Hierfür realisiert die Bund-Länder-Kommission für Informationstechnik in der Justiz (BLK) unter der Federführung des Landes Baden-Württemberg ein bundesweites Akteneinsichtsportal, über das die Einsicht in sämtliche elektronischen Gerichtsakten in der Bundesrepublik vermittelt werden soll114. Als (nachran­ gige) Alternative sieht § 78 Abs. 2 Satz 2 FGO auf Antrag die Einsichtnahme in die Akten in den Diensträumen vor; hierfür müssen die Gerichte entsprechende Einsichtsterminals vorhalten. Schließlich besteht nach § 78 Abs. 2 Satz 3 FGO die Möglichkeit der Übermittlung eines Datenträgers mit dem elektronisch gespeicherten Akteninhalt oder die Übermittlung eines Aktenausdrucks; hierfür muss der Antragsteller jedoch ein berechtigtes Interesse darlegen115. Stehen dem Aktenabruf wichtige Gründe entgegen, kann die Akteneinsicht stets auch in den Formen der elektronischen Einsichtnahme vor Ort oder durch Datenträgerübermittlung gewährt werden (vgl. § 78 Abs. 2 Satz 4 FGO). Da seit 1.1.2018 die Berater einen sicheren Übermittlungsweg bereithalten müssen, bietet es sich auch an, die digitale Prozessakte auf diesem Weg dem Antragsteller zur Verfügung zu stellen116. Solange die Finanzverwaltung ihre Akten den Gerichten allerdings noch in Papierform zur Verfügung stellt, ist eine Akteneinsicht nach § 78 Abs. 3 FGO nur in den Diensträumen zu gewähren. § 78 Abs. 3 Satz 2 FGO sieht jedoch vor, dass die Akten auch digitalisiert und dann zum Abruf bereitgestellt werden. Obwohl schon die frühere Rechtsprechung, die eine Übersendung von Akten in die Kanzlei des Be­ vollmächtigten als sehr seltene Ausnahme gewährte, in der Literatur zurecht auf teilweise sehr deutliche Kritik stieß117, hat der Gesetzgeber mit der strikten Beschränkung 112 Ulrich/Schmieder, jM 2017, 398. 113 Stalbold in Gosch, § 78 FGO Rz. 22 m.w.N. 114 http://www.ejustice-bw.de/pb/,Lde/Startseite/Behoerden/Akteneinsicht+und+_austausch. 115 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 78 FGO Rz. 15a. 116 Stalbold in Gosch, § 78 FGO Rz. 25. 117 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 78 FGO Rz. 13 m.w.N.

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auf die Diensträume das Recht der Akteneinsicht in Papierakten noch einmal verschärft118. Dies ist umso weniger zu verstehen, als auf der anderen Seite in Zukunft ein umfassendes Akteneinsichtsrecht durch Datenabruf ermöglicht werden soll. Die elektronische Akte bringt hier dem Rechtsschutzsuchenden deutliche Vorteile. 2. Veränderte Prüfungsmaßstäbe Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Finanzgerichtsbarkeit beschränken sich jedoch nicht auf den elektronischen Rechtsverkehr und die elektronische Akte. Vielmehr gewinnt die Überprüfung der Digitalisierung im Verfahrensrecht und im materiellen Recht durch die Gerichte zunehmend an Bedeutung. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Entscheidungen, die sich mit Fragen der Digitalisierung beschäftigen. So hat sich der Bundesfinanzhof mit der Verfassungsmäßigkeit der elektronischen Abgabe von Umsatzsteuer-Voranmeldungen119, der Zuteilung der Identifikationsnummer und die dazu erfolgte Datenspeicherung120, Fragen der qualifizierten elektronischen Signatur121, der Einspruchseinlegung oder Klageerhebung durch einfache E-Mail122, der zollamtlichen Überwachung bei fehlerhafter elektronischer Versandanmeldung123, der Rechtsbehelfsbelehrung bei fehlendem Hinweis auf den elektronischen Rechtsverkehr124, Fragen der Abgabe der Steuererklärung mit Hilfe von ELSTER125 oder die Berichtigungsmöglichkeiten bei Abweichen des erklärten Arbeitslohns von dem elektronisch beibestellten Arbeitslohns126 beschäftigt. Zahlreiche weitere Rechtsfragen werden auch im Zuge der Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs auf die Gerichte zukommen. Wenn im Besteuerungsverfahren die Digitalisierung immer weiter um sich greift, werden sich die Finanzgerichten auch mit der Transparenz des Besteuerungsver­ fahrens, der Kontrolle digitaler Handlungsformen und der Vollzugswirklichkeit auseinandersetzen müssen. In diesem Zusammenhang wird es unter anderem darum gehen, ob und inwieweit Computerprogramme einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sind, ob die Finanzgerichtsbarkeit einen unmittelbaren Zugriff auf die Datenbestände der Finanzverwaltung erhält und ob die Maßstäbe des RMS gerichtlich konkretisiert werden können. Besonders schwierig wird es in den Fällen, in denen die Finanzgerichtsbarkeit prüfen soll, ob die Programmierung des Steuerrechts dem materiellen Recht entspricht. Hier ist noch ungeklärt, ob es bei einer reinen Ergebnis118 Schaz, DStR 2017, 2302. 119 BFH v. 14.3.2012 – XI R 33/09, BStBl. II 2012, 477. 120 BFH v. 18.1.2012 – II R 49/10, BStBl. II 2012, 168. 121 BFH v. 18.10.2006 – XI R 22/06, BStBl. II 2007, 276; v. 19.2.2009 – IV R 97/06, BStBl. II 2009, 542; v. 30.3.2009 – II B 168/08, BStBl. II 2009, 670. 122 BFH v. 13.5.2015 – III R 26/14, BStBl. II 2015, 790; v. 26.7.2011 – VII R 30/10, BStBl. II 2011, 925. 123 BFH v. 17.3.2009 – VII R 17/07, BFHE 224, 379. 124 BFH v. 12.12.2012 – I B 127/12, BStBl. II 2013, 272. 125 BFH v. 20.3.2013 – VI R 9/12, BFHE 240, 507; v. 20.3.2013 – VI R 5/11, BFHE 240, 504; v. 16.5.2013 – III R 12/12, BStBl. II 2016, 512. 126 BFH v. 16.1.2018 – VI R 41/16, DStR 2018, 566.

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kontrolle verbleibt, ob auch interne Handlungsanweisungen für die Programmierer veröffentlicht werden müssen oder ob einzelne Softwareprogramme von den Richtern vollinhaltlich überprüft werden müssen.

VII. Schlussbemerkung Die Auswirkungen der Digitalisierung betreffen alle Bereiche des Steuerrechts. Die Gesetzgebung wird sich nicht nur mit der digitalen Wirtschaft befassen müssen, sondern ist auch selber Gegenstand der Digitalisierung. Die Steuerberatung muss die Entwicklung der zunehmenden Digitalisierung aufnehmen, aber sich auch selber den Veränderungen ihres Berufsbildes durch die Digitalisierung stellen. Die Steuerund Rechtsberatung steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Die Finanzverwaltung hat den Weg zur digitalen Besteuerung beschritten und geht diesen konsequent weiter. Die Finanzgerichtsbarkeit muss diese Entwicklungen begleiten, in den verfassungs- und europarechtlichen Grenzen konkretisieren und damit zusammenhängende Rechtsfragen klären. Außerdem werden der elektronische Rechtsverkehr und die elektronische Akte die Arbeitsweise in der Justiz verändern. Die weitere Entwicklung der Informationstechnologie lässt sich nur bedingt vorhersagen. Inwieweit die neuartigen Erscheinungen des Legal Tech und der Künstlichen Intelligenz das Steuerrecht verändern werden, lässt sich heute nur ansatzweise beschreiben.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung A. I.

Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Steuerverfassungsrechts Von Johanna Hey

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Entstehung und Wirkung von Steuer­ verfassungsrecht 1. Steuerverfassungsrecht aus dem Dictum des Bundesverfassungsgerichts 2. Richtervorlagen als Wegbereiter des Steuerverfassungsrechts 3. Steuerverfassungsrecht in der Zeit 4. Steuerungswirkung des Steuer­ verfassungsrechts a) Rezeption steuerverfassungsrecht­ licher Vorgaben in Gesetzgebungs­ verfahren b) Zeitliche Vorgaben – Die neue Tendenz zu ex tunc-Aussprüchen I II. Entwicklungslinien und Status quo 1. Konstitutionalisierung – zu viel Steuerverfassungsrecht? a) Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts als Auslöser des Konstitutionalisierungsstreits b) Der Kern der Konstitutionalisierungsdebatte 2. Zur Rolle von Art. 3 Abs. 1 GG im Steuerrecht a) Ausdifferenzierung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes: Willkürverbot – Sachgerechtigkeit – Folgerichtigkeit – Widerspruchs­ freiheit b) Prinzipien des Steuerrechts als steuer­ verfassungsrechtliche Prinzipien? c) Fazit: Art. 3 GG als Rationalitätsreserve 3. Verhältnismäßigkeit der Besteuerung 4. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz

IV. Offene Fragen 1. Cluster und „Dunkelfelder“ der Steuerverfassungsrechtsprechung 2. Schwächen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle a) Große Fragen und kleine Fragen – was sollte das Bundesverfassungs­ gericht entscheiden? b) Konsumbesteuerung und indirekte Steuern – unmerkliche Verfassungswidrigkeit? c) Steuervergünstigungen – nur Missgunst? d) Kompliziertheit des Steuerrechts – welche Norm ist schuld? aa) Komplexität des Steuerrechts als komplexes Phänomen bb) Verfassungsprozessuale Not­ wendigkeit der Konkretisierung der Verletzung des Rechtsstaatsprinzips cc) Rechtsanwendungsgleichheit und Befolgbarkeit als Hebel? dd) Klärungsbedarf e) Die Tatsachenebene – Steuerwirkungen und Empirie im verfassungsgerichtlichen Verfahren f) Steuerkonkurrenzen – Addition und Saldierung V. Zukunftsfragen 1. Herausforderungen des Steuerrechts – Zukunftsfragen des Steuerverfassungsrechts 2. Steuerverfassungsrecht im internatio­ nalen Kontext

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Johanna Hey a) Doppelbesteuerung – Doppelte Nichtbesteuerung – Steuerwettbewerb b) Grundrechtliche Folgefragen zu Gestaltbarkeit und Missbrauchs­ bekämpfung c) Finanzverfassungsrechtliche Folge­ fragen zu neuen Besteuerungsformen

3. Steuerverfassungsrecht im europäischen Kontext 4. Steuerverfassungsrecht 4.0: Digitalisierung, Datensammlung, Datenschutz VI. Ein Fazit?

I. Einführung Gibt es ein eigenständiges Steuerverfassungsrecht? Darf es ein solches geben? Und was macht es aus? Der Bürger stellt diese Fragen nicht, er sucht Rechtsschutz gegen den staatlichen Steuereingriff bei den Finanzgerichten, aber auch beim Bundesverfassungsgericht. Doch während die Rechtsprechung ihrem Rechtsschutzauftrag folgend Steuerverfassungsrecht erschafft, ist in der Wissenschaft unter dem Stichwort „Konstitutionalisierung“ eine lebhafte Debatte um Berechtigung und Besonder­heiten des Steuerverfassungsrechts entbrannt1. Höhepunkte der Auseinandersetzung stellen die Jahrestagung 2015 der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zum Thema „Verfassung in ausgewählten Teilrechtsordnungen: Konstitutionalisierung und Gegenbewegungen im Steuerrecht“2 sowie der Schwerpunkt „Steuerrecht als Innova­ tionsressource des Verfassungsrechts“ im Jahrbuch des Öffentlichen Rechts 20163 dar. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Anlass zu dieser Kontroverse gegeben hat, soll zur Vermeidung von Wiederholungen4 nur knapp skizziert werden; sie wurde bereits verschiedentlich gründlich aufgearbeitet5; der Rechtsprechungsentwicklung zu Art. 3 Abs. 1 GG geht Michael Eichberger in dieser Festschrift nach6. Auch maßt sich der Beitrag nicht an, die Kontroverse entscheiden zu wollen. Vielmehr dient die Darlegung der eigenen Position nur als Grundlage für Überlegungen zu ungelösten Problemen und zukünftigen Herausforderungen des Steuerverfassungsrechts, die im Zentrum der Ausführungen stehen.

1 Waldhoff in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des Steuerrechts, 2009, S. 125 (148 ff.); ferner umfassender Literaturnachweis bei Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 3 Vor Rz. 90. 2 Referat von Seiler, VVDStRL 75 (2016), 333. 3 Mit Beiträgen von Musil, S. 443; U. Palm, S. 457; Kempny, S. 477; Heintzen, S. 493; Wieland, S. 505; Schön, S. 515; Droege, S. 539 und P. Kirchhof, S. 553. 4 Hey in StbJb. 2007/2008, S. 19 ff.; Hey, StuW 2015, 1 ff. 5 Waldhoff, Die Verwaltung 41 (2008), 259 ff.; Waldhoff, Die Verwaltung 48 (2015), 1 ff.; Thiemann in Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd.  2 (2011), S. 179 ff. 6 M. Eichberger, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 501 ff.

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II. Entstehung und Wirkung von Steuerverfassungsrecht 1. Steuerverfassungsrecht aus dem Dictum des Bundesverfassungsgerichts Bekanntermaßen ist das Grundgesetz arm an ausdrücklichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Steuerrechts7. Ein Bekenntnis zum Leistungsfähigkeitsprinzip wie noch in Art. 134 WRV fehlt8. Die Finanzverfassung enthält keine Garantie der genannten Steuertypen und Einzelsteuern9. Dass eine Steuer in Art. 106 GG aufgeführt ist, lässt keine Rückschlüsse auf ihre Verfassungsmäßigkeit, geschweige denn auf die einzelner Regelungen zu10. Zwar ist Christian Waldhoff beizupflichten, dass die Bedeutung dieser „anderen Seite“ des Steuerverfassungsrechts unterschätzt wird11. Die Verflechtung der Besteuerungsbefugnisse im Mehrebenenstaat12 bestimmt Gesetzgebungsverfahren, zwingt zu steuerpolitischen Kompromissen und behindert Reformen. Auch lässt sich nur anhand der Finanzverfassung das Zusammenspiel der unterschiedlichen Steueransprüche ermessen13, das in einer auf den einzelnen Eingriff fokussierten Grundrechtsperspektive schwer zu fassen ist. Die Begrenzungs- und Schutzfunktion der Finanzverfassung14 verhindert den unkoordinierten Mehrfachzugriff und begrenzt den Erfindungsreichtum des einfachen Gesetzgebers. Entscheidungsrelevant werden die Art. 105 f. GG in der Regel aber nur, wenn es um neue Steuern geht, wie kürzlich in den Beschlüssen zur Luftverkehrsteuer15 und zur Kernbrennstoffsteuer16. Im Übrigen erfolgt die Kontrolle der inhaltlichen Ausgestaltung ausschließlich über die Grundrechte. Damit wird der gesamte Kosmos des Steuerverfassungsrechts aus wenigen Grundgesetzartikeln abgeleitet, die wie Art. 3 Abs. 1 GG und das Rechtsstaatsprinzip zu den allgemeinsten Formeln des Grundgesetzes gehören und zwingend auf bereichsspezifische Konkretisierung angewiesen sind.

7 P. Kirchhof in Birk (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht – Zur Rolle der Rechtsprechung bei der verfassungskonformen Gestaltung der Steuerrechtsordnung, 2009, S. 12 (16). 8 Zu Garantien des Leistungsfähigkeitsprinzips in anderen Verfassungen Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 488 ff.; Häberle in FS Vogel, 2000, S. 139 ff. 9 Hidien in Bonner Kommentar, Art. 106 GG Rz. 1327. 10 BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (27), allerdings beschränkt auf die Ausgestaltung; dagegen spreche die Nennung der Gewerbesteuer in Art. 106 GG gegen grundsätzliche Bedenken gegenüber einer gesonderten Steuer auf den Gewerbeertrag. 11 Waldhoff in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des Steuerrechts, 2009, S. 125 (126 f.). 12 Hierzu Waldhoff u. Hey, VVDStRL 66 (2007), 216 ff. u. 329 ff. 13 Zur Kumulation von Steueransprüchen auch unten, IV.2.f). 14 Z.B. BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98, BVerfGE 108, 1 (17 ff.). 15 BVerfG v. 5.11.2014 – 2 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350. 16 BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, BVerfGE 145, 171 (213 ff.) Rz. 118 ff.: Die Kernbrennstoffsteuer konnte nicht auf die Verbrauchsteuerkompetenz des Bundes nach Art.  106 Abs.  1 Nr.  2 GG gestützt werden, weil sie nicht an der Konsumleistungsfähigkeit des Stromverbrauchers anknüpfte.

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Steuerverfassungsrecht entsteht damit aus dem „Dictum des Bundesverfassungsgerichts“17. Nur durch seine Entscheidungen erlangt es Verbindlichkeit (§ 31 BVerfGG). 2. Richtervorlagen als Wegbereiter des Steuerverfassungsrechts Unterstützung erfährt das Bundesverfassungsgericht durch die Finanzgerichtsbarkeit; sie ist zentraler Mitgestalter18 von Steuerverfassungsrecht. Den Fachgerichten kommt eine bedeutsame Filterfunktion zu. Denn bevor das Bundesverfassungsgericht befasst wird, erreichen steuerverfassungsrechtliche Fragestellungen zumeist zunächst die Finanzgerichtsbarkeit19. Während die Finanzverwaltung auch zur Anwendung verfassungswidriger Gesetze verpflichtet ist20, sind bereits die Finanzgerichte, nicht erst der Bundesfinanzhof, gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG zur Vorlage nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet (kein Vorlageermessen), wenn sie entscheidungserhebliche Gesetze für verfassungswidrig halten. Im Hinblick auf die Bedeutung zeitnaher Entscheidungen21 kommt insbesondere den Finanzgerichten eine Schlüsselrolle zu. Legt bereits die erste Instanz vor, beschleunigt das nicht nur das Verfahren, sondern kann auch den Tenor beeinflussen, weil bei schneller Beanstandung eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine ex tunc-Wirkung besteht22. Dabei leistet die Finanzgerichtsbarkeit gerade in jüngerer Zeit mit ihrem im Verhältnis zu den anderen Gerichtsbarkeiten weit überproportionalen Anteil an konkreten Normenkontrollanträgen einen ganz maßgeblichen Beitrag zur Entwicklung des Steuerverfassungsrechts23. Hieraus auf die besondere Vorlagefreudigkeit24 der Finanzgerichtsbarkeit zu schließen, greift freilich zu kurz. Dieter Birk25 hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Zahl der Art. 100 GG-Anträge ins Verhältnis mit den (erfolgreichen) Verfassungsbeschwerdeverfahren in Steuersachen gesetzt werden muss. Wäre die Finanzgerichtsbarkeit besonders vorlagefreudig, käme es nicht mehr zu erfolgreichen Gesetzesverfassungsbeschwerden. 17 In Anlehnung an BVerfG v. 24.1.1962  – 1 BvR 232/60, BVerfGE 13, 318 (328); wörtlich übernommen von Bühler/Strickrodt, Steuerrecht, 3. Aufl. 1960, S. 658. 18 Waldhoff in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des Steuerrechts, 2009, S. 125 (152); Klein in Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, § 24 Rz. 753. 19 Deshalb hatte das am 17. März 2015 abgehaltene 5. Steuerrechtswissenschaftliche Symposium im Bundesfinanzhof zur „Entwicklung des Steuerverfassungsrechts“ nicht nur die Aufgabe, die Karlsruher Rechtsprechung nachzuzeichnen, sondern hat eigene Impulse gesetzt, s. Tagungsbericht Schüler-Täsch/Schulze, DStR 2015, 1137 ff. 20 Klein in Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, 3.  Aufl. 2012, §  24 Rz.  756. Die Möglichkeit, über die Ministeriumsebene eine abstrakte Normenkontrolle anzustoßen (Sachs, Verfassungsprozessrecht, 3.  Aufl. 2010, Rz.  200), dürfte eher theoretischer Natur sein. 21 Dazu sogleich II.3. 22 S. unten II.4.b). 23 Heintzen, JöR 64 (2016), S. 493 (499): 22 von 41 Normenkontrollanträgen im Jahr 2014. 24 Im Zeitraum 1962–2017 gab es laut Juris 197 Richtervorlagen der Finanzgerichtsbarkeit. Davon waren 57 erfolgreich (29,2 %), 103 waren nicht erfolgreich (35 unzulässig, 40 unbegründet, 28 anderweitige Erledigung) und 37 sind noch anhängig. 25 Birk, DStR 2009, 877 (878).

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Damit stellt sich die Frage, wann Finanzgerichte oder der Bundesfinanzhof vorlegen müssen. Unproblematisch zu bejahen ist dies, wenn die Verfassungswidrigkeit (ausnahmsweise) eindeutig ist26. Auch in diesem Fall muss, selbst wenn das Bundesverfassungsgericht über parallel gelagerte Normen bereits entschieden hat, vorgelegt werden, da es anders als beim EuGH keine acte clair27-Doktrin geben kann. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit erschöpft sich nicht in der Maßstabsbildung28 durch Auslegung des Grundgesetzes, sondern bezieht sich auf konkrete gesetzliche Tatbestände. Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts erzwingt die Vorlage, auch wenn die Rechtsfrage geklärt ist29. Interessanter ist die Frage, welchen Maßes der Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der entscheidungserheblichen Norm es bedarf, um eine bisher ungeklärte Rechtsfrage dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Bloße Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit, auch ernsthafte Zweifel reichen nicht aus30. Das Gericht muss überzeugt sein. Fremde Auffassungen dürfen nicht lediglich übernommen werden. Die Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit muss „selbstständig und in eigener Verantwortung“31 gebildet werden. Wie stark die Finanzgerichtsbarkeit zur Klärung steuerverfassungsrechtlicher Fragen und zur Entstehung von Steuerverfassungsrecht beiträgt, hängt daher auch von Richterpersönlichkeiten32 ab. In der Amtszeit des Vorsitzenden Richters Dietmar Gosch (2005–2016) hat der I.  Senat des Bundesfinanzhofs allein 12 Anträge auf konkrete Normenkontrolle gestellt33. In der Zeit des

26 Das ließ sich beispielsweise bejahen bezüglich der Diskriminierung eingetragener Lebenspartnerschaften in verschiedenen Steuergesetzen (Nachweise Fn. 197). (Relativ) eindeutig war auch die Verfassungswidrigkeit der Ersatzbemessungsgrundlage der Grunderwerbsteuer (BVerfG v. 23.6.2015 – 1 BvL 13/11, BVerfGE 139, 285), schon bei der Grundsteuer bedarf es aber zusätzlicher Argumentation. 27 Zu den Voraussetzungen der acte clair-Doktrin Kühling/Drechsler, NJW 2017, 2950. 28 Lepsius in Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S.  159  ff.; Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess, 2016, S. 32 f. 29 Klein in Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, § 24 Rz. 535. 30 BVerfG v. 20.3.1952  – 1 BvL 12/51, BVerfGE 1, 184 (189); v. 28.5.1963  – 2 BvL 5/63, BVerfGE 16, 188 (189 f.); Müller-Terpitz in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), § 80 BVerfGG Rz. 143. 31 BVerfG v. 29.11.1967 – 1 BvL 16/63, BVerfGE 22, 377 (379). Hervorhebung nur hier. 32 Zur Rolle von Richterpersönlichkeiten in der deutschen (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit Lepsius, JöR 64 (2016), S. 123 (156 ff.); zu Richtertypen auch Birk, DStR 2014, 65 (66 f.). 33 BFH v. 22.8.2006 – I R 25/06, BStBl. II 2007, 793; v. 27.8.2008 – I R 33/05, BStBl. II 2010, 63; v. 8.10.2008 – I R 95/04, BFH/NV 2009, 500; v. 10.8.2011 – I R 39/10, BStBl. II 2012, 603; v. 10.1.2012 – I R 66/09, BFH/NV 2012, 1056; v. 10.4.2013 – I R 80/12, BStBl. II 2013, 1004; v. 6.6.2013 – I R 38/11, BStBl. II 2014, 398; v. 27.11.2013 – I R 36/13, BStBl. II 2014, 651; v. 11.12.2013 – I R 4/13, BStBl. II 2014, 791; v. 26.2.2014 – I R 59/12, BStBl. II 2014, 1016; v. 20.8.2014 – I R 86/13, BStBl. II 2015, 18; v. 14.10.2015 – I R 20/15, BFH/NV 2016, 416.

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Vorsitzenden Richters Franz Wassermeyer (1998–2005) gab es nur einen Antrag nach Art. 100 GG34. Gebunden ist das Finanzgericht bei seiner Entscheidung nur durch frühere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die dieselbe Norm/Rechtsfrage betreffen (§  31 BVerfGG)35. Aber selbst dann ist eine erneute Vorlage möglich, wenn „neue und erhebliche tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte“ auftreten, die eine Neubewertung rechtfertigen36. Dies gilt vor allem dann, wenn sich das vorlegende Gericht zunächst erkennbar auf den Boden der Rechtsauffassung der früheren Entscheidung stellt37 und die Gründe für eine neue Bewertung hiervon ausgehend darlegt. Das Fachgericht muss seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit aber auch entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bilden und auf eine Änderung dieser Rechtsprechung abzielen können. Es kann sich dabei insbesondere auf das rechtswissenschaftliche Schrifttum38 berufen. Art.  20 Abs.  3 GG statuiert einen umfassenden Gerechtigkeitsauftrag der Gerichtsbarkeit und beschränkt diese nicht auf die Nachbildung der Verfassungsrechtsprechung. Dabei dürfen die Anforderungen an eine nachvollziehbare und erschöpfende Begründung der Verfassungswidrigkeit nicht überdehnt werden39. Welchen Begründungsaufwand das vorlegende Gericht betreiben muss, um sich von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abzusetzen, sollte davon abhängig gemacht werden, wie lange dessen letzte Entscheidung zurückliegt, welcher Rechtsprechungsperiode40 sie angehört, wie sie im Schrifttum rezipiert wurde, wie sehr sich die Streitgegenstände entsprechen und wie stark sich seitdem rechtliche und/oder tatsächliche Rahmenbedingungen verändert haben. Dass gleichwohl von dem Instrument der Vorlage mit Bedacht Gebrauch gemacht werden muss, zeigt die Reaktion des Bundesverfassungsgerichts auf die Häufung von 34 BFH v. 29.11.2000  – I R 38/99, BStBl.  II 2001, 374: formelle Verfassungswidrigkeit der Streichung von § 12 Abs. 2 Satz 4 UmwStG 1995. 35 Einschränkung von Art.  97 GG, Detterbeck in Sachs (Hrsg.), 8.  Aufl. 2018, Art.  97 GG Rz. 14. 36 Müller-Terpitz in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), § 81 BVerfGG Rz. 146; dazu im Weiteren sogleich II.3. 37 BVerfG v. 30.5.1972 – 1 BvL 21/69, BVerfGE 33, 199 (203 f.); v. 12.6.1990 – 1 BvL 72/86, BVerfGE 82, 198 (205). Allerdings müsste eine Vorlage mit dem Ziel, eine Änderung oder Fortentwicklung der Rechtsprechung zu erwirken, zulässig sein, soweit sie über genügend Rückhalt im Schrifttum verfügt. 38 Als weitere Quelle von Steuerverfassungsrecht s. Wieland, JöR 64 (2016), S. 505 (505). 39 Im Zurückweisungsbeschluss v. 15.2.2016 – 1 BvL 8/12, BStBl. II 2016, 557 (562) Rz. 28, zur Gewerbesteuervorlage des Finanzgerichts Hamburg (v. 29.2.2012  – 1 K 138/10, EFG 2012, 960) hatte das BVerfG daran Anstoß genommen, dass sich das vorlegende Gericht zu deutlich am Schrifttum und zu wenig an der BVerfG-Rechtsprechung orientiert hatte. Der Hinweis, dass im Schrifttum zunehmend vertreten wird, auch die Gewerbesteuer müsse am Nettoertrag bemessen werden, reichte dem Bundesverfassungsgericht nicht aus. Kritisch auch Klein in Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, 3.  Aufl. 2012, § 24 Rz. 811 ff. 40 S. unten III.1.a).

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Vorlagen einzelner Gerichte41. Dass es sich um einen dialogischen Prozess handelt, wird am Beispiel rückwirkender Gesetze deutlich. Nachdem der I. Senat des Bundesfinanzhofs42 1986 damit gescheitert war, ein Umdenken in der Abgrenzung zwischen echter und unechter Rückwirkung und deren Grenzen zu bewirken43, bedurfte es erst der Andeutung einer möglichen Rechtsprechungsänderung in der sog. Schiffbau­ beteiligungsentscheidung vom 3. Dezember 199744, einem Verfassungsbeschwerdeverfahren, um die Finanzgerichtsbarkeit erneut zu Vorlagen45 rückwirkender Gesetze zu ermutigen, die dann in die Rückwirkungswende des Jahres 2010 mündeten46. Es ist also durchaus Aufgabe der Finanzgerichtsbarkeit, bei der Beurteilung der Vorlagenotwendigkeit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiterzudenken. Ebenso wünschenswert ist es, dass sich die Finanzgerichtsbarkeit bei wichtigen Grundsatzthemen, wie eben der Rückwirkung von Steuergesetzen, nicht dauerhaft von Niederlagen im Vorlageverfahren frustrieren lässt, sondern nach einiger Zeit erneut vorlegt. 3. Steuerverfassungsrecht in der Zeit Jedes Recht ist zeitabhängig47. Auch Steuerverfassungsrecht ist nicht statisch48. Die Offenheit der steuerverfassungsrechtlich relevanten Grundgesetzartikel erlaubt auch bei unverändertem Textbefund „rechtsendogenen Wandel und Rechtsschöpfung“49. Aus dieser Wandelbarkeit der Verfassungsinterpretation folgt, dass es sinnvoll sein kann, das Bundesverfassungsgericht nach dogmatischen Innovationen erneut mit Fragen zu befassen, die in der Vergangenheit abschlägig entschieden wurden. Dieselbe Norm kann allein aufgrund eines verfassungsgerichtlichen Rechtsprechungswandels in ein neues Licht rücken. Freilich testet die neuerliche Befassung auch die verfassungsgerichtliche Innovation, wie das Beispiel des Halbteilungsgrundsatzes belegt, der sich zehn Jahre nach seiner Entdeckung50 eben nicht wiederholen ließ51. Demgegenüber hat sich der Rückschluss vom Vollzugsdefizit auf die Verfassungswidrigkeit der materiellen Norm, den der 41 So wurden von den 13 Vorlagen des besonders vorlagestarken FG Niedersachsens in den Jahren 1995 bis 2010 bis auf die Vorlage zur Pendlerpauschale sämtliche Normenkontrollanträge zurückgewiesen, in einem Fall als unbegründet, in allen übrigen Fällen als unzulässig. 42 Vorlage v. 3.11.1982 – I R 3/79, BStBl. II 1983, 259. 43 BVerfG v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200. 44 BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 (80 f.). 45 FG Köln Vorlagebeschluss v. 25.7.2002 – 13 K 460/01, EFG 2002, 1236, und BFH, Vorlagebeschluss v. 6.11.2002 – XI R 42/01, BStBl. II 2003, 257. 46 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1; v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, BVerfGE 121, 31; v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05, BVerfGE 127, 61. 47 Maurer, HStR IV, 3. Aufl. 2006, § 79 Rz. 1. 48 Weitere Beispiele s. Hey in StbJb. 2007/08, S. 19 (22 ff.). 49 U. Palm, JöR 64 (2016), S. 457 (458). 50 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121. 51 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97.

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2. Senat 1991 im Zinsurteil52 entdeckt hatte, im sog. Tipke-Urteil vom 9. März 200453 als wiederholbar erwiesen, freilich ohne dass derzeit klar wäre, auf welche Fälle außerhalb des 2017 aufgehobenen54 § 30a AO die Figur des strukturellen Erhebungsdefizits anwendbar ist55. Nicht nur steuerverfassungsrechtliche Innovationen, sondern auch die Veränderung der rechtlichen oder tatsächlichen Rahmenbedingungen erlauben eine nochmalige verfassungsgerichtliche Überprüfung. Unklar ist allerdings, wie stark sich die Verhältnisse gewandelt haben müssen, damit eine unveränderte steuergesetzliche Re­ gelung in einem neuen verfassungsrechtlichen Licht zu sehen ist. Das Bundesver­ fassungsgericht fordert „einschneidende“ Veränderungen56. Zu einer Neubewertung der Gewerbesteuer sah es sich 2008 – allerdings bezogen auf das lange zurückliegende Streitjahr 1988 – nicht veranlasst, obwohl der massive wirtschaftliche Wandel einer äquivalenztheoretisch begründeten Sonderbelastung gewerblicher Einkünfte den Boden entzieht. Doch das reichte nicht. Die Annäherung freiberuflicher und gewerblicher Tätigkeit sei nicht „offen zutage getreten“57. Eine Sachentscheidung der Vorlage des Niedersächsischen Finanzgerichts zu der Frage, ob der Solidaritätszuschlag von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG gedeckt ist, hielt es 2010, also immerhin zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung für (noch) nicht geboten. Im Zurückweisungsbeschluss berief sich die 1. Kammer des 2. Senats auf ein Judikat aus dem Jahr 197258, obwohl die damals streitgegenständliche Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und Körperschaftsteuer andere Zwecke verfolgte und in einem anderen normativen Kontext stand. Die causa des Solidaritätszuschlags beleuchtet noch ein anderes grundsätzliches Problem der Zeitgerechtigkeit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Das Niedersächsische Finanzgericht hat sich bekanntermaßen nicht beirren lassen und in ­demselben Ausgangsverfahren zum Streitjahr 2007 im Jahr 2013 erneut das Bundesverfassungsgericht angerufen59. Es bleibt abzuwarten, ob das Bundesverfassungsgericht in diesem Folgeverfahren in der Sache entscheiden wird. Möglicherweise wird 52 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239. 53 BVerfG v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94. 54 Gesetz zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz  – StUmgBG) v. 23.6.2017, BGBl.  I 2017, 1682. 55 Spätere Verfassungsbeschwerden und Vorlagen, die sich alle ebenfalls auf die Besteuerung von Kapitaleinkünften bezogen, waren alle unzulässig, s. Werth in Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd. 1 (2009), S. 411 ff., die deshalb von einer „ganz außergewöhnlichen Rechtsfolge“ spricht (a.a.O., S. 427). Zum strukturellen Vollzugsdefizit bei Auslandssachverhalten s. Waldhoff, StuW 2013, 121 ff.; ferner im Hinblick auf fehlende Weisungsbefugnisse im föderalen Steuervollzug Hollitzer, Strukturelle Vollzugsdefizite bei der Verwaltung der Gemeinschaftssteuern. Art. 108 Abs. 3 GG, 2008. Erörterung einzelner Normkomplexe auch bei Seer in Tipke/Kruse, § 85 AO Rz. 16 ff. (2017). 56 BVerfG v. 28.11.1984 – 1 BvR 1157/82, BVerfGE 68, 287 (309). 57 BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (31 ff.). 58 BVerfG v. 9.2.1972 – 1 BvL 16/69, BVerfGE 32, 333. 59 Niedersächsisches FG, Vorlagebeschluss v. 21.8.2013 – 7 K 143/08, DStRE 2014, 534.

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zum Zeitpunkt der Entscheidung der Solidaritätszuschlag bereits abgeschafft oder umgewidmet sein60. In jedem Fall wird sich dem Bundesverfassungsgericht die Frage stellen, ob es die weitere Entwicklung – das Auslaufen des Solidarpaktes II61 (normatives Umfeld) und die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West (tatsächliches Umfeld) – in der Entscheidung zur Kenntnis nimmt oder sich streng auf das Streitjahr 2007 beschränkt. Unter diesem Gesichtspunkt muss man bezweifeln, ob es sinnvoll ist, das Bundesverfassungsgericht mit weit zurückliegenden Fällen zu befassen. Man wird entgegenhalten können, dass im Vorlageverfahren nach Art.  100 Abs.  1 GG der individuelle Rechtsschutzauftrag (Entscheidungserheblichkeit) bestimmt, welcher Fall vorgelegt wird. Dennoch kommt den vorlegenden Gerichten der Fachgerichtsbarkeit auch mit Blick auf die begrenzte Kapazität des Bundesverfassungsgerichts eine verantwortungsvolle Aufgabe in der Auswahl der „richtigen“ Fälle zu. Deshalb ist es wohl sinnvoll, dass die Finanzgerichte in der Frage der Realitätsgerechtigkeit steuergesetzlicher Zinstypisierungen zunächst abwartend agiert haben, wenngleich sich die Frage stellt, welcher Persistenz der Niedrigzinsphase es bedarf, um eine verfassungswidrige Diskrepanz zwischen der Zinstypisierung von 6 % (§ 238 AO; § 6a Abs. 3 Satz 3 EStG) und den Kapitalmarktzinsen festzustellen62. Und wie wirkt es sich aus, wenn sich zum Zeitpunkt einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Zinsen wieder zu erholen beginnen? Es ist also gar nicht einfach, den „richtigen“ Zeitpunkt für eine Anfrage beim Bundesverfassungsgericht abzupassen. Freilich darf die Vorlage anschließend auch beim Bundesverfassungsgericht nicht liegen bleiben. Wird zu lange gewartet, besteht die Gefahr, dass verfassungswidrige Rechtszustände einfach ausgesessen werden und der in Art.  93 GG garantierte verfassungsgerichtliche Rechtsschutz unterlaufen wird. 4. Steuerungswirkung des Steuerverfassungsrechts a) Rezeption steuerverfassungsrechtlicher Vorgaben in Gesetzgebungs­ verfahren Jenseits des individuellen Rechtsschutzes durch das Bundesverfassungsgericht stellt sich die Frage, inwieweit das Steuerverfassungsrecht den Steuergesetzgeber anleitet. Konkrete Steuergesetze lassen sich aus der Verfassung nicht ableiten63, auch darf sich das Bundesverfassungsgericht nicht zum Ersatzgesetzgeber aufschwingen64. Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht nicht in die Gesetzgebungsverfahren in60 Siehe zu den diesbezüglichen politischen Überlegungen Kube, DStR 2017, 1792 (1800); zu einer Umwidmung z.B. Butterwegge, GSP 2017, Nr. 5, 48. 61 Mit Ablauf des 31.12.2019, vgl. §  15 Maßstäbegesetz i.d.F. v. 9.9.2001; §  20 Finanzausgleichsgesetz i.d.F. v. 20.12.2001. 62 Keine Vorlagenotwendigkeit von § 238 AO bis einschließlich Zeitraum 2015 vgl. FG Münster v. 17.8.2017 – 10 K 2472/16, EFG 2017, 1638; jetzt aber Vorlagebeschluss des FG Köln v. 12.10.2017  – 10 K 977/17, EFG 2018, 287 zu §  6a EStG für den Veranlagungszeitraum 2015. 63 Isensee, StuW 1994, 3 (6); Wieland in Guggenberger/Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, 1998, S. 173 (183 f.). 64 Papier, DStR 2007, 973.

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volviert ist. Die steuerverfassungsgerichtliche Beurteilung neuer Normen findet stets ex post65 und anhand konkreter Fälle statt. Eine präventive Kontrolle mit der Möglichkeit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts noch im Gesetzgebungsverfahren, wie sie etwa in Frankreich existiert66, ist in Deutschland unbekannt. Die Einflussnahme auf zukünftige Gesetzgebungsakte findet nur indirekt statt. An­ regungen für zukünftige Gesetzgebung kann das Bundesverfassungsgericht in der Regel nur in Form von obiter dicta geben. Nur in seltenen Fällen, in denen der Gesetzgeber über keinerlei Gestaltungsspielraum verfügt, kann der Tenor konkrete Vorgaben enthalten67. Liegt  – wie im Fall des kürzlich entschiedenen Verfahrens zur Grundsteuer68 – bereits ein Gesetzentwurf69 vor, stellt sich zudem die Frage, ob und wie dieser im verfassungsgerichtlichen Verfahren Berücksichtigung finden darf. Gewöhnlich hält sich das Gericht hier stark zurück; im Grundsteuerurteil findet das vorgeschlagene Kostenwertmodell zwar Erwähnung, jedoch ohne jede inhaltliche Stellungnahme. Stattdessen betont das Gericht den weiten, nur eingeschränkt überprüfbaren Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Ähnliche Probleme stellen sich, wenn der Gesetzgeber zwischenzeitlich tätig geworden ist, wie dies bei § 8c KStG im Hinblick auf § 8d KStG der Fall war. Zwar kann eine nachfolgende Reparatur nicht auf das Streitjahr zurückwirken, trotzdem lässt sich die spätere Rechtsentwicklung kaum ausblenden70. Insbesondere wenn das Gericht einen pro futuro-Ausspruch in Erwägung zieht, muss es sich damit auseinandersetzen, ob der Verfassungsverstoß zwischenzeitlich bereits behoben wurde. § 8c KStG ist zugleich symptomatisch für die Problematik sog. „minimalinvasiver“ Reaktionen des Gesetzgebers. Statt die Karlsruher Entscheidung vom 29. März 2017 zum Anlass einer umfassenden Sanierung der gesamten Vorschrift zu nehmen, besteht die Gefahr, dass der Gesetzgeber sich darauf zurückzieht, er habe seine Schuldigkeit mit § 8d KStG bereits getan. Das hat das Finanzgericht Hamburg zutreffend zu einer weiteren Vorlage, nunmehr gegen § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG, veranlasst71. Solche Mehrfachverfahren binden – wie im Fall der Erbschaftsteuer – wertvolle Kapazität des Bundesverfassungsgerichts. Der Vorwurf ist freilich nicht den vorlegenden Gerichten oder unbeirrten Beschwerdeführern zu machen, sondern dem Gesetzgeber, der es an verfassungsrechtlichem Ehrgeiz fehlen lässt. Der Respekt vor der Autorität des Bundesverfassungsgerichts sollte den Gesetzgeber dazu bringen, die verfahrensbedingt immer auf einzelne Tatbestände oder Tatbestandsmerkmale beschränkten 65 BVerfG v. 30.7.1952 – 1 BvF 1/52, BVerfGE 1, 396 (406 ff.); Detterbeck in Sachs (Hrsg.), 8. Aufl. 2018, Art. 93 GG Rz. 10. 66 Vgl. Art. 61 der Verfassung der Französischen Republik (Constitution de 1958); Marsch in Marsch/Vilain/Wendel, Französisches und Deutsches Verfassungsrecht, 2015, § 6 Rz. 30 ff. 67 Konkrete Vorgaben hat das Bundesverfassungsgericht etwa gemacht, wenn es um die Garantie der Steuerfreiheit des Existenzminimums ging. 68 BVerfG v. 10.4.2018 – 1 BvL 11/14 ua., DStR 2018, 791. 69 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bewertungsgesetzes, BR-Drucks. 515/16 v. 4.11.2016. 70 Vgl. BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106 (166 ff.) zu den Auswirkungen der Aufnahme des Ausnahmetatbestandes des § 8d KStG. 71 FG Hamburg v. 29.8.2017 – 2 K 245/17, EFG 2017, 1906; dazu Dreßler, DB 2017, 2629.

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Entscheidungen zu weitergehenden Überlegungen zu nutzen. Dies gilt umso mehr, wenn sich ein Bereich ohnehin als extrem nachbesserungsbedürftig darstellt wie § 8c KStG, der seit seinem Inkrafttreten im Jahr 2008 bereits mehrfach72 geändert wurde. Im Hinblick auf die Steuerungswirkung  – oftmals wartet der Gesetzgeber ab, bis Karlsruhe entschieden hat – stellt sich darüber hinaus die Frage, welche Verfahren das Gericht vorrangig entscheiden sollte. Wie das Bundesverfassungsgericht die Eingänge abarbeitet, ist oft nur schwer nachvollziehbar. Natürlich gibt es drängendere Probleme als die des Steuerrechts. Doch auch innerhalb der steuerrechtlichen Verfahren gibt es abgestufte Dringlichkeiten, zum einen im Hinblick auf nachteilige ökonomische Folgen73, zum anderen im Hinblick auf die unterschiedliche Breitenwirkung der Verfahren, die richtigerweise auch in der Abarbeitung Niederschlag finden sollte. So hatte kein anderes Verfahren derart große Breitenwirkung wie das zur Grundsteuer; es betrifft Hauseigentümer und Mieter gleichermaßen. Trotzdem dauerte es seit der ersten Verfassungsbeschwerde aus dem Jahr 201174 über sechs Jahre75, bis am 10.4.2018 das entsprechende Urteil erging76. So bemerkenswert die Leistungsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist, stellt sich doch manchmal die Frage, ob hier richtig priorisiert wird. b) Zeitliche Vorgaben – Die neue Tendenz zu ex tunc-Aussprüchen Wie weit das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber diszipliniert77, hängt maßgeblich davon ab, welche Folgen die Verabschiedung verfassungswidriger Gesetze hat. Dies erklärt die Bedeutung der Tenorierung78 verfassungsgerichtlicher Entscheidungen.

72 Zur Rechtsentwicklung siehe Suchanek in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8c KStG Anm. 2. 73 Etwa im Fall von §  8c KStG, wobei die Verfahrensdauer auch hier über 5  Jahre betrug (Vorlage vom FG Hamburg v. 4.4.2011  – 2 K 33/10, EFG 2011, 1460; Entscheidung des BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106). 74 Verfahren 1 BvR 639/11; s. ferner Az.: 1 BvR 889/1, sowie die Vorlageschlüsse aus 2014: BFH v. 22.10.2014 – II R 16/13, BStBl. II 2014, 957; v. 17.12.2014 – II R 14/13, BFH/NV 2015, 475. 75 Für Verfassungsbeschwerden weist die Statistik des BVerfG für den Zeitraum 2008–2015 nur für 8,8 % der Verfahren eine Verfahrensdauer von 4 und mehr Jahren aus. 76 S. oben Fn 68. 77 Starck, Das Bundesverfassungsgericht im politischen Prozess, 1976, S. 16; Vorwirkungen verfassungsgerichtlicher Kontrollentscheidungen, NJW 1978, 2569; Roellecke, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 67 Rz. 30. 78 Dazu z.B. Schwindt, Rechtsfolgen verfassungswidriger Steuergesetze. Die Unvereinbarkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter besonderer Berücksichtigung steuerverfahrensrechtlicher Gesichtspunkte, 2014; Bartone in Emmenegger/Wiemann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd. 2 (2011), S. 73 ff.; Dietz, Verfassungsgerichtliche Unvereinbarerklärungen, 2011.

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Überwunden sind Appellentscheidungen79, mit denen das Gericht Vorschriften als „noch“ verfassungskonform eingestuft und den Gesetzgeber ohne konkrete Handlungspflicht zur Anpassung „ermuntert“ hat80. Sie blieben regelmäßig folgenlos. Doch auch die Praxis der Unvereinbarkeitserklärung mit pro futuro-Wirkung und Fristsetzung81 ist kritikwürdig82, nicht nur weil sie aus Sicht des betroffenen Bürgers die Individualrechtsschutzfunktion des Verfahrens reduziert, sondern weil sie – aufgrund der Antizipation, in einem zukünftigen erneuten Verfahren werde wieder nur pro futuro entschieden – auch die Steuerungswirkung für die Zukunft verfehlt. Der Gesichtsverlust permanenter Nachbesserung wie im Erbschaftsteuerrecht scheint nicht zu größerer Vorsicht zu führen, sondern eher die Haltung zu provozieren, dann müsse Karlsruhe eben wieder entscheiden. Dort, wo pro futuro-Entscheidungen per se ausscheiden wie in der Rückwirkungsjudikatur, ist damit zu rechnen, dass der Gesetzgeber sich eher an die gerichtlichen Vorgaben halten wird. Auch im Europarecht, wo sowohl Grundfreiheitenjudikatur als auch Beihilfekontrolle83 – wenngleich mit genau entgegengesetzten Vorzeichen in ihrer Auswirkung auf den Staatshaushalt – stets Rückwirkung entfalten, scheint der Gesetzgeber vorsichtiger zu agieren. Deshalb ist sehr zu begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht, eingeläutet durch die Judikate zur Pendlerpauschale84 und zum häuslichen Arbeitszimmer85, einen Wandel vollzogen hat, indem es vermehrt zur Grundregel der ex tunc-Wirkung zurückkehrt86. Ob es hierfür auf die Erkennbarkeit der Verfassungswidrigkeit87 ankommt, so dass der Gesetzgeber sich nicht auf seine Finanz- und Haushaltsplanung verlassen durfte, erscheint indes zweifelhaft, da ein Vertrauensschutz zugunsten des Gesetzgebers kei79 BVerfG v. 20.12.1966  – 1 BvR 320/57, BVerfGE 21, 12; v. 26.3.1980  – 1 BvR 121/76, BVerfGE 54, 11. 80 Dazu List, BB 1999, 981 (983); Vogel/Waldhoff in Bonner Kommentar, Vorbem. Art. 104a– 115 GG Rz. 588; Dietz, Verfassungsgerichtliche Unvereinbarerklärungen, 2011, S. 83 ff. 81 Z.B. vgl. BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (148); v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (134); v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (70); v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175 (258); v. 17.12.2014  – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (249 ff.). 82 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 22 Rz. 287 ff., mit weiteren Nachweisen der verbreiteten Kritik. 83 Zur Notwendigkeit der Rückwirkung von Beihilfeentscheidungen vgl. Kokott, Entwicklungslinien der Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern, in FS 100 Jahre BFH, S. 735 ff. 84 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (246). 85 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (285). 86 Analyse der jüngeren Tenorierungspraxis im Steuerrecht s. Bartone in Emmenegger/Wiemann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd. 2 (2011), S. 73 ff. 87 So BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (246); v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (285 f.); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106 (169) Rz. 164, 167; v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, BVerfGE 145, 171 (229) Rz. 162.

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ne verfassungsrechtliche Grundlage hat. Ebenso unklar ist nach wie vor, wann die Auswirkungen eines ex tunc-Ausspruchs haushalterisch so bedeutsam sind, dass eine Rückwirkung ausscheidet. Solange das Gericht die Pflicht zu rückwirkender Beseitigung des Verfassungsver­ stoßes maßgeblich auch davon abhängig macht, ob das Gesetz von Anfang an ver­ fassungsrechtlich umstritten war, hat dies zudem Rückwirkungen sowohl für das Schrifttum als Mitgestalter des Steuerverfassungsrechts als auch für die Finanzgerichtsbarkeit. Schließt sich diese der Kritik im Schrifttum, möglicherweise bereits in der ersten Instanz, an, so lässt sich hieraus ein entscheidendes Argument für die Erkennbarkeit der Verfassungswidrigkeit ableiten. Andererseits darf dies nicht dazu führen, dass in Verfassungsbeschwerdeverfahren, in denen der Kläger mit seinen verfassungsrechtlichen Bedenken bei der Fachgerichtsbarkeit nicht durchdringen konnte, dem Gesetzgeber die Früchte der Verfassungswidrigkeit belassen werden. Dies würde das Verfassungsbeschwerdeverfahren aus individualschutzrechtlicher Sicht vollständig entwerten.

III. Entwicklungslinien und Status quo 1. Konstitutionalisierung – zu viel Steuerverfassungsrecht? a) Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts als Auslöser des ­Konstitutionalisierungsstreits Auslöser der eingangs erwähnten Konstitutionalisierungsdebatte ist die jüngere Entwicklung der steuerrechtlichen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. Sie wird vor allem im staatsrechtlichen Schrifttum in Teilen als zu weitgehend empfunden88. Nachdem das Gericht mit der Entscheidung zur Haushaltsbesteuerung aus dem Jahr 195789 zunächst kraftvoll gestartet war, nahm es sich von Beginn der 1960er Jahre bis hinein in die 1980er Jahre stark zurück90. Erst Ende der 1980er Jahre wendete sich das Blatt91. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch das allgemeine Erstarken des Gleichheitssatzes92 infolge der Entdeckung der „neuen Formel“93. Maßgeblich beigetragen hat zu der Rechtsprechungswende zudem die Berufung Paul Kirchhofs in den 88 Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S.  232 (238); Kischel, AöR 124 (1999), 174 (187); Wieland, DStJG 24 (2001), S. 29 (37 ff., 44 ff.); Lepsius, JZ 2009, 260 (263); Droege, RW 2013, 374 (385 ff.; 394). 89 BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55. 90 Auffällig ist nicht nur die geringe Erfolgswahrscheinlichkeit, sondern auch die schwache Begründungstiefe (z.B. BVerfG v. 9.7.1969 – 2 BvL 20/65, BVerfGE 26, 302; v. 25.10.1977 – 1 BvR 15/75, BVerfGE 46, 224), der zumeist äußerst kurz gehaltenen Entscheidungen. 91 Zu diesen unterschiedlichen Phasen auch Pezzer in FS W. Zeidler, 1987, S. 779 f.; Waldhoff, Die Verwaltung 48 (2015), 85 (87 f.). 92 Im Detail nachgezeichnet von M. Eichberger, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 501 ff. 93 BVerfG v. 7.10.1980 – 1 BvL 50/79, BVerfGE 55, 72 (88).

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2.  Senat94 im Jahr 1987. Unverkennbar ist seine Handschrift im Zinsurteil95, der Halbteilungs-Entscheidung des Jahres 199596, der Verwerfung der Kasseler Verpackungsteuersatzung97, den Kindergeldbeschlüssen98 sowie dem leisen Einläuten der Wende in der Rückwirkungsjudikatur mit der Schiffbaubeteiligungsentscheidung99. Doch die Entwicklung ist keineswegs nur einer einzelnen Richterpersönlichkeit zu verdanken. Auch nach dem Ende der Amtszeit Paul Kirchhofs im Jahr 1999 setzte sich der Trend grundstürzender Entscheidungen mit erheblichen Konsequenzen für den Gesetzgeber fort. Manchmal mögen die Entscheidungen hinter den Erwartungen zurückfallen100. Ob Rentensteuerurteil101, Erbschaftsteuer II102 und III103, Vertrauensschutzwende104, Pendlerpauschale105 oder §  8c KStG106– die Zahl der Judi­ kate, die den Steuergesetzgeber in die verfassungsrechtlichen Schranken weisen, überwiegt weiterhin. Mit der §  8c KStG-Entscheidung scheint sogar die Schwäche des steuerverfassungsrechtlichen Schutzes im Unternehmensteuerrecht107 überwunden. b) Der Kern der Konstitutionalisierungsdebatte Bereits die Paul Kirchhof zuzuschreibende Judikatur, insbesondere der Halbteilungsgrundsatz hat heftige Debatten ausgelöst108. Inzwischen mündet die Kritik an einzelnen Entscheidungen in eine breit angelegte Konstitutionalisierungsdebatte. 94 Dies legt nicht zuletzt ein Vergleich der steuerrechtlichen Rechtsprechung der beiden Senate nahe. Von den 19 steuerrechtlichen Entscheidungen des 2. Senats in Paul Kirchhofs Amtszeit führten 13 zur Verfassungswidrigkeit. Im gleichen Zeitraum entschied der 1. Senat in 19 Verfahren steuerrechtliche Fragestellungen, die aber nur in 6 Fällen zum Erfolg führten. 95 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239. 96 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121. 97 BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, BVerfGE 98, 106. 98 BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057/91, BVerfGE 99, 216; v. 10.11.1998  – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246; v. 10.11.1998 – 2 BvR 1220/93, BVerfGE 99, 268; v. 10.11.1998 – 2 BvR 1852/97, BVerfGE 99, 273. 99 BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67. 100 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 – § 32c EStG; v. 12.5.2009 – 1 BvR 23/00, BVerfGE 123, 111 – Jubiläumsrückstellung; v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 – § 8b KStG. 101 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (126) – Alterseinkünfte III. 102 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 – Erbschaftsteuer II. 103 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 – Erbschaftsteuer III. 104 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1; v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, BVerfGE 127, 31; v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05, BVerfGE 127, 61; v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302; v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1. 105 BVerfG v. 9.12.2008  – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210  – Pendlerpauschale; gefolgt von BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 – häusliches Arbeitszimmer. 106 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106. 107 Schulze-Osterloh in FS Raupach, 2006, S. 531; Hey, DStR 2009, 2561 (2562). 108 Vgl. pars pro toto Wieland in Guggenberger/Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, 1998, S. 173 ff.

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Im Kern geht es um den Konflikt zwischen Rechtsstaats- und Demokratieprinzip und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts im gewaltengeteilten Staat. Das Bundesverfassungsgericht ist zwar Verfassungsorgan, steht aber als Judikativorgan109 in einem institutionenbedingten Spannungsverhältnis zum demokratisch legitimierten Gesetzgeber und sprengt das klassische Gewaltenteilungsschema110, sobald es diesen in die verfassungsrechtlichen Schranken verweist. Angesichts der Offenheit der normativen Grundlagen des Steuerverfassungsrechts liegen die Ursachen der unterschiedlichen Positionen tiefer als im Verfassungstext. Folgende Aspekte scheinen mir dabei wesentlich: Für wie schutzbedürftig man den Steuerpflichtigen erachtet, wird wesentlich vom Vertrauen in den demokratischen Prozess bestimmt und in die Berechtigung und Klugheit politischer Kompromisse111, zu denen es im Steuerrecht allenthalben kommt. Glaubt man an den „guten“ politischen Kompromiss112, so wäre es verfehlt, diesen mit den Mitteln des Verfassungsrechts im Nachhinein aufzuschnüren113. Des Bundesverfassungsgerichts bedarf es nicht, wenn der Einzelne kraft demokratischer Legitimation hinreichend geschützt wäre. Wolfgang Schön hat in seinem Beitrag im Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart eben diese Figur des kraft demokratischer Legitimation benevolenten Steuergesetzgebers114 hinterfragt. Dass Steuerrechtswissenschaftler sich in der Regel für ein höheres Schutzniveau aussprechen, ist möglicherweise auf die breitere Anschauung steuergesetzlicher Missstände zurückzuführen. Auch Skepsis gegenüber der demokratischen Basis von Steuergesetzen, die von Ministerien ersonnen und von Parlamentariern regelmäßig nicht verstanden werden115, mag dahinter stehen. Zum zweiten spielt eine Rolle, welche Qualität dem Steuereingriff beigemessen wird. Die Wahrnehmung, es gehe doch „nur um Geld“, abstrahiert den Eingriff von der Entfaltung individueller Freiheit. Je stärker das Bewusstsein der verhaltenslenkenden Gestaltungswirkungen einer jeden Be- und Entlastungsnorm ist, desto mehr wird man sich dagegen für ein hohes Schutzniveau einsetzen116.

109 Roellecke, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 67 Rz. 15. 110 Roellecke, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 67 Rz. 40; differenzierend Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 26 ff. 111 Folgerungen für die verfassungsrechtliche Kontrolle Tappe, JZ 2016, 27 ff.; grundlegend zum politischem Kompromiss Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017, S.  9  ff., 218  ff. und passim. 112 Siehe die Begründung zum Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BTDrucks. 16/4841, 31: Mix ohne „unnötige, riskante Systembrüche“. 113 Tappe, JZ 2016, 27 (33). 114 Schön, JöR 64 (2016), S. 515 (517 ff.). 115 Vgl. Borgmann, Stbg. 1989, 392 (393): Das Finanzministerium als „Ghostwriter“ der eigenen Gesetze, das Parlament als „Leihmutter“ der Finanzverwaltung. 116 Tragend war in der Eigentumswende Paul Kirchhofs Argumentationsfigur der Eigentümerfreiheit, vgl. P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 215 (231  ff.); s. auch BVerfG v. 31.3.1998 – 2 BvR 1877/97, BVerfGE 97, 350 (371: Geld als „geprägte Freiheit“); in der

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Schließlich kommt es darauf an, inwieweit man das Steuerrecht für rationalisierbar hält. Belässt man es bei der überkommenen These, dem Steuerrecht fehle jegliche Rationalität, weil es keine naturgegebenen Steuergegenstände gebe, der Staat vielmehr seinen Finanzierungsanspruch an jedweden Sachverhalt knüpfen könne117, wird man der verfassungsrechtlichen Forderung nach Sachgerechtigkeit von vornherein mit Misstrauen begegnen. Folgt man dagegen Klaus Tipkes Ideal einer Steuer(gerechtigkeits)ordnung118, dann verlieren die gesetzgeberischen Belastungsentscheidungen ihre Beliebigkeit. Dabei scheint auch die Aufgeschlossenheit gegenüber den Erkenntnissen der ökonomischen Steuerforschung eine Rolle zu spielen119. Das Postulat der Effizienz der Besteuerung120, das darauf abzielt, die Verzerrung wirtschaftlicher Vorgänge durch die Besteuerung möglichst gering zu halten, begründet ein Interesse an Rationalisierung und Kontrolle des Gesetzgebers. Zwar dürfen ökonomische Steuertheorie und Verfassungsmäßigkeit nicht gleichgesetzt werden121, auch ist die Optimalsteuertheorie weit davon entfernt, eine Blaupause für ein einziges rationales und damit möglicherweise auch verfassungskonformes Steuersystem zu liefern, trotzdem stellt die Befassung mit ökonomischen Effekten der Besteuerung die These von der Beliebigkeit der Ausgestaltung des Steuersystems in Frage. Überwölbt wird der gesamte Diskurs von unterschiedlichen Positionen zur Verwirklichung staatlicher Umverteilung. Die Kritiker der Konstitutionalisierung befürchten eine Beschränkung von Umverteilungsspielräumen des Gesetzgebers122. Doch dem Umverteilungsziel kommt keine höhere verfassungsrechtliche Legitimität123 zu als dem individuellen Grundrechtsschutz, zumal die Forderung nach Sachgerechtigkeit der Lastenausteilung das zur Umverteilung zur Verfügung stehende Einnahmevolumen nicht per se schmälert, sondern eher dazu beiträgt, die Verteilungswirkungen des Steuerrechts offenzulegen und unerwünschte Effekte zu vermeiden. Wie so oft geht es auch in der Konstitutionalisierungsdebatte nicht um Extrempositionen. Weder geht es darum, das Steuerrecht lückenlos aus der Verfassung zu deduRückwirkungswende spielt der Gedanke des Dispositionsschutzes eine wichtige Rolle (s. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 3 Rz. 265 m.w.N.). 117 Vgl. Bühler/Strickrodt, Steuerrecht, 3. Aufl. 1960, S. 215 ff., 685 f.; Flume in StbJb. 1964/65, S. 55 (68 f.), ders. in StbJb. 1967/68, S. 63 (64). Zu derartigem Steuerpositivismus Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 588 ff. 118 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000, VI (Vorwort). 119 Zu den Zusammenhängen zwischen verfassungsrechtlicher Rationalitätsforderung und ökonomischen Effizienzpostulaten Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017, S. 104–132. 120 Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 7. Aufl. 2015, Kap. 5, 141: Unterscheidung guter von schlechten Steuern. 121 Sie werden aber häufig konform gehen Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd.  I, 2.  Aufl. 2000, S. 591; Homburg, Stbg. 1996, 530; ferner hierzu unten IV.2.e). 122 Sehr deutlich Magen und Fehling in der Aussprache zum Referat von Seiler auf der 69. Tagung der Vereinigung der Staatsrechtslehrer, VVDStRL 69 (2016), 391 ff. 123 Christine Osterloh-Konrad, StuW 2017, 305 ff., schichtet zu Recht verfassungsrechtliche Vorgaben von philosophischen Gerechtigkeitsidealen ab.

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zieren, noch darum, es gänzlich von der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auszunehmen. Und wie so oft liegt die Schwierigkeit einer vermittelnden Linie darin, vorhersehbare Ergebnisse zu produzieren. Kontrollmaßstäbe und Kontrolldichte müssen im Vorhinein feststehen und können nicht vom Einzelfall abhängig gemacht werden. Dennoch lässt sich das richtige Maß der Kontrolle nicht abstrakt und absolut festlegen, sondern es bedarf der Konkretisierung anhand typischer steuerverfassungsrechtlicher Fallkonstellationen. 2. Zur Rolle von Art. 3 Abs. 1 GG im Steuerrecht a) Ausdifferenzierung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes: ­Willkürverbot – Sachgerechtigkeit – Folgerichtigkeit – Widerspruchsfreiheit Der Grund für die oben skizzierte Rechtsprechungsentwicklung liegt in der über die Jahrzehnte erreichten Ausdifferenzierung des allgemeinen Gleichheitssatzes als primärem steuerrechtlichem Prüfmaßstab. Michael Eichberger hat diese Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG im Steuerrecht in dieser Festschrift ausführlich nachgezeichnet124. In den 1960er Jahren definierte das Gericht den Maßstab sehr holzschnittartig125. Zwar war Ausgangspunkt die Bindung des Gesetzgebers an den Grundsatz der Steuergerechtigkeit. Die zentrale Botschaft war jedoch der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, der erst da enden sollte, wo ein „einleuchtender“ Grund für eine Ungleichbehandlung fehlte. Nur die Einhaltung dieser äußersten Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit (Willkürverbot) seien vom Bundesverfassungsgericht nachzuprüfen. Auch der moderne Obersatz des Jahres 2017126 betont, dass es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers sei, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an die er dieselben Rechtsfolgen knüpft und die er so als rechtlich gleich qualifiziert. Diese Auswahl muss er jedoch sachgerecht treffen; Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Hieraus folgt der gleitende Rechtfertigungsmaßstab von strenger Verhältnismäßigkeitskontrolle bis zum Willkürverbot. Eine Besonderheit, wenngleich nicht Alleinstellung des Steuerrechts127, lässt sich im Wesentlichen nur in Bezug auf zwei Aspekte ausmachen: Die Bedeutung des Gebots sachgerechter Differenzierung, die zum Maßstab des Leistungsfähigkeitsprinzips führt, sowie das Gebot der Folgerichtigkeit. Ohne die Forderung nach einem sachgerechten Anknüpfungspunkt für Differenzierungen bzw. nach sachlichen Gründen für Ungleichbehandlungen lässt sich Art. 3 Abs. 1 GG jedoch nicht sinnstiftend anwenden. 124 Siehe M. Eichberger, Der Gleichheitssatz im Steuerrrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 501 ff. 125 BVerfG v. 15.7.1969 – 1 BvL 20/65, BVerfGE 26, 302 (310). 126 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106 (141 f.) Rz. 98. 127 S. zum Nichtraucherschutz: BVerfG v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, BVerfGE 121, 317 (362) Rz. 135; Kempny, JöR 64 (2016), S. 477 (487).

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Dies folgt bereits aus dem Willkürverbot. Auch für dessen Einhaltung reicht nicht ­irgendein Grund, sondern es muss sich um einen sachlichen Grund handeln. Die ­einzige Besonderheit wird man darin sehen können, dass in anderen Rechtsgebieten der Differenzierungsgrund der Sachmaterie inhärent ist. Im Gefahrenabwehrrecht wird die Eingriffsintensität nach Gefährlichkeit differenziert, im Prüfungsrecht geht es um Chancengleichheit128, das Sozialversicherungsrecht sollte sich am Prinzip der Bedürftigkeit ausrichten129. Die steuerliche Fiskalzwecknorm verfolgt dagegen keinen über die Mittelbeschaffung hinausgehenden Regelungszweck. Dennoch handelt es sich, wenn das Bundesverfassungsgericht an das Leistungsfähigkeitsprinzip anknüpft, nicht um eine beliebig in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers eingreifende Setzung. Ein nach Körperlänge differenzierender Einkommensteuertarif wäre ebenfalls „begründet“. Es gäbe einen Grund für die Anwendung unterschiedlicher Einkommensteuertarife. Aber ist das ein sachlicher Grund? Das Willkürverbot löst den Fall mühelos130. Stets bedarf die Anwendung des Gleichheitssatzes der Bestimmung eines tertium comparationis, das sich aus den Sachgesetzlichkeiten des jeweiligen Rechtsgebiets ergibt131. Wenn der Staat den Bürger gegenleistungslos zu einer Geldleistung heranzieht, dann ist dessen finanzielle Leistungsfähigkeit der einzige sachgerechte Maßstab. Denn nur diese ermöglicht die Geldzahlung an den Staat. Dabei darf die Steuerungswirkung des Leistungsfähigkeitsprinzips und damit die aus ihm folgende Einschränkung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers auch nicht überschätzt werden. Das Leistungsfähigkeitsprinzip funktioniert streng in der Negation als Untergrenze der Besteuerung, insbesondere im Zusammenspiel mit Art.  1 GG132. Der Nichtleistungsfähige darf nicht besteuert werden. Die Besteuerung des Nichtleistungsfähigen würde Unmögliches verlangen. Er ist zur Entrichtung von Steuern schlicht nicht in der Lage. Man kann – jenseits der verfassungsrechtlich nicht verhandelbaren Untergrenze des Existenzminimums  – lediglich darüber streiten, wann jemand nicht leistungsfähig ist. Viel weniger eindeutig sind positive Ablei­ tungen: Muss der Leistungsfähige stets besteuert werden? Die Lastengleichheit ge­ bietet dies. Das Bundesverfassungsgericht fordert indes vielfach für den Besteuerungsverzicht noch nicht einmal eine Rechtfertigung. Wegen des weitgehenden Spielraums bei der Auswahl von Steuergegenständen werde der Gesetzgeber vom Gleichheitssatz nicht gezwungen, „nach einer einmal getroffenen Entscheidung für ein bestimmtes Steuerobjekt zugleich auch alle ähnlichen, für den Steuerzweck ebenfalls geeigneten Steuerobjekte in die Belastung einzubeziehen“133. Zudem stehen dem Gesetzgeber auch auf der zweiten Stufe folgerichtiger Ausgestaltung zahlreiche Rechtfertigungsgründe zu Gebote. Etwa kann auf Besteuerung verzichtet werden, wenn der Steuerpflichtige ausweichen und der Staat dies nicht verhindern kann; dies

128 Osterloh/Nußberger in Sachs (Hrsg.), 8. Aufl. 2018, Art. 3 GG Rz. 57 ff. 129 Spitzlei, Die Gesetzgebungstechnik der Pauschalierung und ihre verfassungsrechtliche Bewertung, 2016, S. 301 ff. (321). 130 Ähnlich für das historische Beispiel der Bartsteuer Heintzen, JöR 64 (2016), S. 493 (502). 131 Palm, JöR 64 (2016), S. 457 (465); Musil, JöR 64 (2016), S. 443 (453). 132 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (87) – steuerfreies Existenzminimum. 133 BVerfG v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350 (3. Leitsatz).

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erlaubt beispielsweise steuerliche Verschonungen zur Reaktion auf den internationalen Standortwettbewerb134. Was die zweite Besonderheit steuerrechtlicher Gleichheitssatzprüfungen – das Folgerichtigkeitsgebot – angeht, weist Michael Eichberger135 anhand der jüngsten Entscheidung zur Erbschaftsteuer136 – dasselbe gilt für den § 8c KStG-Beschluss137 und damit für beide Senate – ein Abrücken von der Folgerichtigkeitsdogmatik nach. In beiden Entscheidungen folgt die Prüfung wieder stärker dem allgemeinen Prüfungsduktus von Art. 3 Abs. 1 GG. In der Sache ändert dies wenig. Treffend entzaubert Markus Heintzen die vermeintliche Besonderheit des Folgerichtigkeitsprinzips: „Vor lauter Bäumen scheint der Wald nicht mehr gesehen zu werden. Folgerichtigkeit ist Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG, bezogen auf denselben Normsetzungsakt“138. Sämtliche als Verstoß gegen das Gebot der Folgerichtigkeit gelösten Fälle hätte man auch ohne diese Argumentationsfigur lösen können. Durch die Begrenzung der Entfernungspauschale wurden zwei Gruppen von Erwerbsaufwendungen unterschiedlich behandelt. Der Ausschluss von Aufwendungen für das häusliche Arbeitszimmer behandelt Steuerpflichtige mit einem Arbeitszimmer in der Wohnung anders als ­solche mit einem Arbeitszimmer in einem separaten Büro. § 8c KStG führt zu einer Ungleichbehandlung von Körperschaften, deren Anteilseigner unverändert bleiben, gegenüber solchen, deren Anteilseigner in einer bestimmten Weise ausgetauscht werden. Die eigentlich entscheidende Frage der Rechtfertigung fällt nicht anders aus, ob man nach einer Rechtfertigung der Ungleichbehandlung oder einer Rechtfertigung für die Abweichung von der einmal getroffenen Belastungsentscheidung fragt. Allein bei der Vergleichsgruppenbildung erleichtert das Folgerichtigkeitsgebot die Feststellung der Vergleichbarkeit139, die ansonsten anhand des jeweiligen Normzwecks ermittelt wird. Wenn der Hinweis auf die folgerichtige Umsetzung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes in einen Klammerzusatz rutscht, dann geht es eher

134 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (282) – Zinsurteil; v. 10.4.2004 – 1 BvR 905/02, BVerfGE 110, 274 (295)  – Ökosteuer; v. 21.6.2006  – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182 ff.); Schön, JöR 64 (2016), S. 539 (534); ferner unten V.2.a). 135 M. Eichberger, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 501 ff.; s. auch schon Kempny, JöR 64 (2016), S. 477 (480, 488 ff.); ebenso Musil, JöR 64 (2016), S. 443 (452). 136 Dass das Erbschaftsteuerurteil (BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136) den Gesetzgeber in der Umsetzung vor kaum lösbare Aufgaben gestellt hat, liegt nicht daran, dass der Senat dem Gesetzgeber keine strenge Folgerichtigkeit abverlangt hat, sondern an fehlender Folgerichtigkeit der Entscheidungsgründe, vor allem durch den ständigen Wechsel zwischen dem Bezugspunkt der Begünstigung, mal ist es das „Unternehmen“, mal der „Unternehmer“. 137 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106 (144 f.) Rz. 104 f. 138 Heintzen, JöR 64 (2016), S. 493 (501). 139 Allein bezüglich der Anerkennung, dass Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte überhaupt Erwerbsaufwendungen sind, spielte das Folgerichtigkeitsprinzip eine Rolle.

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um das „wording“, und es ist zu begrüßen, wenn der verbale Stein des Anstoßes140 aus dem Weg geräumt wird. Viel relevanter ist, wie strikt die Rechtfertigungskontrolle von Ungleichbehandlungen gehandhabt wird. Manchmal will der Steuergesetzgeber ungleich behandeln, nämlich wenn er lenken will, wobei hierzu nicht nur Lenkungsnormen im engeren Sinne gehören, sondern zunehmend auch solche Normen, die ein Abwandern mobiler Besteuerungsgrundlagen verhindern sollen. Oftmals will der Steuergesetzgeber aber gar nicht ungleich behandeln; es „passiert“, weil sich die Verhältnisse verändern (Geldentwertung, Zinsentwicklung), oder er nimmt es billigend in Kauf (Vereinfachungsnormen). Anpassungen werden unterlassen, zum Teil weil der Aufwand des gesetzgeberischen Verfahrens gescheut wird, zum Teil weil durch die unterlassene Anpassung entstehende Mehreinnahmen „mitgenommen“ werden. In diesen Fällen nicht intendierter Ungleichbehandlung fehlt es an einer schutzwürdigen Gestaltungsentscheidung des Gesetzgebers, die einer strengen Gleichheitssatzkontrolle entgegengehalten werden könnte. Zu einer – rechtsstaatlich gebotenen – Einengung von Gestaltungsspielräumen kommt es, wenn bestimmte Gründe wie der reine Fiskalzweck von Vornherein nicht anerkannt werden141. Tritt das Bundesverfassungsgericht dagegen bei anerkanntem Rechtfertigungsgrund  – zum Beispiel Vereinfachung142 oder Missbrauchsvermeidung143  – in die Verhältnismäßigkeitsprüfung ein, so folgt es der Gestaltungsentscheidung des Gesetzgebers, unterzieht deren Umsetzung aber einer Art Qualitätskontrolle144. Dabei kann es eigentlich nur im Interesse des Gesetzgebers sein, wenn das Bundesverfassungsgericht nachprüft, ob eine Maßnahme zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels geeignet ist. Problematischer ist die Frage nach der Erforderlichkeit, danach, ob der Gesetzgeber in Umsetzung seiner Ziele „akkurat“ gearbeitet hat. Doch auch hier setzt sich das Gericht nicht über den Willen des Gesetzgebers hinweg, sondern nimmt ihn ernst, etwa wenn es z.B. fragt, ob § 8c KStG tatsächlich der typisierenden Missbrauchsvermeidung dient. Im Steuerrecht kommt der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Art.  3 Abs.  1 GG auch deshalb eine eminent wichtige Rolle zu, weil sie verdeckte (reine) 140 Das Folgerichtigkeitsgebot ist den Kritikern der Konstitutionalisierung ein besonderer Dorn im Auge s. Lepsius, JZ 2009, 260 (262 f.). 141 Vgl. BVerfG v. 17.1.1957  – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (80)  – Haushaltsbesteuerung; v. 29.5.1990  – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60 (89)  – steuerfreies Existenzminimum; v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182) – § 32c EStG; krit. Lepsius, JZ 2009, 260 (261 f.). 142 BVerfG v. 9.12.2008  – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (232); v. 6.7.2010  – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (278); v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (245 f.). 143 BVerfG v. 24.1.1962  – 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331 (344  f.); v. 30.9.1998  – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88 (97); v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (253 ff.); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106 (153). 144 Bundesverfassungsgericht als Autorität der Politikevaluierung, Engel in Engel/Héritier (Hrsg.), Linking Politics and Law, 2003, S. 285 ff.; Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 29 ff.

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Fiskalzwecke aufdeckt. Dem politischen Prozess und der demokratischen Legitimation von Steuergesetzen kann diese Offenlegung nur dienen145. Verhindert wird, dass Fiskalzwecke durch andere Begründungen kaschiert werden146. § 8c KStG ist ein besonders prägnantes Beispiel. Die Norm war ein wesentlicher Baustein der Gegenfinanzierung der Unternehmensteuerreform 2008. Wenn sich der Steuergesetzgeber die Steuerausfälle infolge der Absenkung des Körperschaftsteuersatzes von 25 % auf 15 % nicht leisten konnte oder wollte, dann hätte im parlamentarischen Verfahren diskutiert werden müssen, den Körperschaftsteuersatz weniger stark abzusenken bzw. warum gerade die Gruppe der Unternehmen mit Verlustvorträgen jenseits missbräuchlicher Mantelkäufe einen Teil der Steuerausfälle kompensieren soll147. b) Prinzipien des Steuerrechts als steuerverfassungsrechtliche Prinzipien? Über die Sachgerechtigkeit finanzieller Leistungsfähigkeit als Anknüpfungspunkt für die staatliche Geldforderung lässt sich verhältnismäßig einfach Einigkeit erzielen148. Viel schwieriger ist es, weitergehende Schlussfolgerungen der konkreten Bemessung von Leistungsfähigkeit verfassungsrechtlich zu verorten149. Einkommen ist ein einleuchtender Maßstab, weil es Verfügbarkeit beinhaltet. Brutto oder netto? Auch da fällt die Antwort noch relativ leicht, da Aufwand keine Leistungsfähigkeit vermittelt. Aber was ist mit innerperiodischer versus überperiodischer ­Betrachtung (Abschnittsprinzip versus Lebenseinkommen)150, Überschussrechnung versus Bestandsvergleich, kapital- oder konsumorientierter Einkommensdefinition, Real- oder Nominalwerten? Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist auf Konkretisierung durch steuerrechtliche Subprinzipien151 angewiesen. Von zentraler Bedeutung für die Einkommensbesteuerung sind das subjektive und objektive Nettoprinzip, für die indirekten Steuern das Prinzip der Wettbewerbsneutralität. Umstritten ist, ob sich auch diese Subprinzipien unmittelbar verfassungsrechtlich ableiten lassen oder im Belieben des Gesetzgebers liegen und diesen nur über das Gebot folgerichtiger Umsetzung der einfachgesetzlichen Belastungsentscheidung binden. Ebenso umstritten ist, ob sich zwischen den denk145 Roellecke, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 67 Rz. 44: Verfassungsrechtliche Kontrolle dient der zivilisierten Abwicklung des politischen Prozesses. 146 Hohmann, StuW 2017, 177 (181 ff.); Lepsius, JZ 2009, 260 (262), scheint davon auszugehen, dass anderweitige Zwecke stets nur vorgeschoben seien. 147 In ähnlicher Weise verteidigt Schön, JöR 64 (2016), S. 539 (534 ff.) das Folgerichtigkeitsprinzip als Prüfmaßstab. Es verhindere strategische Absprachen zulasten der Minderheit und zwinge zu einer weitgehenden Einbeziehung aller Interessengruppen. 148 Selbst die Kritiker des Steuerverfassungsrechts bezweifeln dies nicht, vgl. etwa Flume in StbJb. 1973/74, S. 53 (63 f.); auch Droege, RW 2013, 374 (386) bezeichnet den Leistungsfähigkeitsgrundsatz als steuersystematisch fundamentales gesetzliches Prinzip, auch wenn er es nicht für verfassungsrechtlich garantiert hält; ähnlich Droege, JöR 64 (2016), S. 539 (545). 149 Ausf. bereits Hey in StbJb. 2007/08, S. 19 (46 ff.). 150 Eckhoff, DStJG 21 (1998), S. 11 (36 ff.). 151 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 3 Rz. 14.

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baren Leistungsfähigkeitsindikatoren – Einkommen – Vermögen – Konsum – eine verfassungsrechtliche Abstufung konstruieren lässt152. Richtigerweise dürfen diese Fragen nicht von der allgemeinen Grundrechtsdogmatik isoliert werden; sie können nur für konkrete Eingriffe und anhand konkreter Grundrechtsnormen beantwortet werden. Mit unterschiedlichen Leistungsfähigkeitsindi­ katoren korrespondiert eine unterschiedliche Eingriffsintensität153, die im Rahmen der neuen Formel auch auf die gleichheitsrechtliche Prüfung zurückwirkt. Danach scheidet eine an das Erwerbspotential anknüpfende Fähigkeitsteuer – unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Anreizwirkung ein durchaus interessantes Gedankenexperiment154 – verfassungsrechtlich ebenso per se aus wie die Kopfsteuer, weil beide Besteuerungsformen implizit zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zwingen, also in erheblichem Maße in die Handlungsfreiheit eingreifen. Auch die bisher vom Bundesverfassungsgericht unbeantwortete Frage, ob das objektive Nettoprinzip aus Art.  3 Abs.  1 GG folgt155, erfordert keine abstrakte Antwort, sondern stellt sich nur im Kontext konkreter Abzugsverbote. Soweit Einkommenund Körperschaftsteuer prinzipiell dem Nettoprinzip folgen, lässt sich die Frage reduzieren auf die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung unterschiedlicher Erwerbsaufwendungen. Zum Schwur könnte es im Rahmen der Abgeltungsteuer kommen, falls das Gericht die (Brutto-)Kapitaleinkommensteuer vom Rest der (Netto-)Einkommensteuer separiert156. Auch dann wird aber die Belastungswirkung im konkreten Fall entscheiden. Extreme Fälle lassen sich zudem als eine Frage des Verhältnismäßigkeitsprinzips reformulieren157. c) Fazit: Art. 3 GG als Rationalitätsreserve Hauptaufgabe der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts ist es, Rationalität der steuergesetzlichen Verteilungsentscheidung158 einzufordern. Die (verhältnismäßig) strenge Handhabung des Gleichheitssatzes dient einerseits dazu, das Steuerrecht ge152 So Seiler, VVDStRL 75 (2016), 333 (349 ff.). 153 Hey, ifst-Schrift 483 (2012), S. 38; Schwarz, Wiedereinführung der Vermögensteuer, 2017, S. 231: Substanzverzehrende Vermögensteuer nicht grundsätzlich unzulässig, aber grundsätzlich unverhältnismäßig. 154 S. Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 7. Aufl. 2015, S. 202. 155 Zur diesbezüglichen Rechtsprechungs„strategie“ F. Kirchhof, BB 2017, 662 (665): jedenfalls als Gebot der Folgerichtigkeit. 156 Dagegen überzeugend Bowitz, Das objektive Nettoprinzip als Rechtfertigungsmaßstab im Einkommensteuerrecht, 2016, S. 197: Die Abgeltungsteuer trifft keine eigenständige Belastungsentscheidung, sondern ist weiterhin in das bisherige System eingebunden. 157 S. auch unten III.3. 158 Birk, DStR 2009, 877 (881); Thiemann in Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd.  2 (2011), S.  179 (211  f.); Mellinghoff, Ubg 2012, 369 (371); Schön, StuW 2013, 289 (297); Droege, JöR 64 (2016), S.  539 (548); Palm, JöR 64 (2016), S.  457 (466); allgemein Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015; Rixen, JöR 61 (2013), S. 525 ff.; Dann, Der Staat 49 (2010), 630; gegen eine konsequente verfassungsrechtliche Rationalitätskontrolle Isensee, AöR 2015, 169 (176 ff.).

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gen Interessengruppen zu immunisieren159, andererseits dem Schutz von Minderheiten vor übermäßiger Inanspruchnahme durch steuerpolitische Mehrheitsentscheidungen160. Das Gebot der Folgerichtigkeit als auf ein bestimmtes Gebiet/Gesetz bezogene Anwendung des Gleichheitssatzes trägt dabei in besonderem Maße zu „rechtsgebietsadäquater Verbundrationalität“161 bei. Den Kritikern eines verfassungsrechtlichen Anspruchs auf rationale Steuergesetzgebung162 ist entgegenzuhalten, dass das Steuerrecht, um funktionstüchtig zu bleiben, auf Akzeptanz angewiesen ist. Mit den Worten Klaus Tipkes: Steuermoral setzt Besteuerungsmoral voraus163. Akzeptanz setzt tragfähige und nachvollziehbare Begründungen voraus. Warum etwas in welcher Weise besteuert wird, muss begründet werden, gerade weil es sich oft nicht aus sich selbst heraus erklärt. Zwar muss der Gesetzgeber die Begründung nicht offenlegen. Er schuldet, wie es so schön heißt, nur das Gesetz und nicht dessen Begründung164. Aber es muss seiner Gesetzgebung eine Begründung zugrunde liegen165, die dann den Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Würdigung darstellt166. Zwar mag es auch ausreichen, wenn sich später eine Begründung finden lässt, die vom Gesetzgeber gar nicht bedacht war, aber es dürfte ein seltener Glücksfall sein, dass das Gesetz diese Begründung dann wirklich schlüssig umsetzt. So störte bei der Einschränkung der Entfernungspauschale nicht, dass der Gesetzgeber nicht an die Umwelt gedacht hatte167, sondern es war einfach nicht schlüssig, dass derjenige belohnt wurde, der besonders lange Wegstrecken zurücklegte.

159 In diese Richtung Palm, JöR 64 (2016), S. 457 (467). 160 Schön, JöR 64 (2016), S. 515 (533); Palm, JöR 64 (2016), S. 457 (468). 161 Plakativ Rixen, JöR 61 (2013), S. 525 (536 f.) für das Sozialrecht. 162 Lepsius, JZ 2009, 260 (262 f.); Wieland in Guggenberger/Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, 1998, S.  173 (187  f.); sehr differenziert Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017. 163 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 236. 164 Zurückzuführen auf Geiger in Berberich/Holl/Maaß (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S.  131 (141); ferner Brosius-Gersdorf in Dreier, 3.  Aufl. 2015, Art. 76 GG Rz. 29 ff. m.w.N. 165 Kempny, SächsVBl. 2014, 153 (156): „Begründbarkeitserfordernis“; Rixen, JöR 61 (2013), S. 525 (530): Begründungsrationalität. 166 Ähnlich auf Transparenz des politischen Prozesses bedacht war das BVerfG im Beschluss zur Kernbrennstoffsteuer (BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, BVerfGE 145, 171), in dem die Gesetzesbegründung eine überaus prominente Rolle spielte. Einerseits hatte der Gesetzgeber in der endgültigen Gesetzesbegründung nicht deutlich gemacht, dass es ihm auf Gewinnabschöpfung ankam (a.a.O., Rz. 108), andererseits ergab die Gesetzesbegründung, dass eine Überwälzung auf den Endverbraucher ausdrücklich nicht gewollt war, weshalb das Gericht es für unerheblich hielt, ob eine Abwälzung gleichwohl möglich war (a.a.O., Rz. 123). 167 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (240, 244).

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3. Verhältnismäßigkeit der Besteuerung Zum Teil beruht der Streit um die Konstitutionalisierung des Steuerrechts auf der Schwäche der Freiheitsrechte als Schranken der Besteuerung168. Was in anderen Feldern des staatlichen Eingriffsrechts im Rahmen der Freiheitsrechte abgehandelt wird, verlagert sich im Steuerrecht in Art.  3 GG169. So wenig es gelungen ist, den Frei­ heitsrechten fassbare Eingriffsobergrenzen zu entnehmen, so bedeutsam ist die Eingriffsintensität im Rahmen der gleichheitsrechtlichen Prüfung170. Das Rechtfertigungsbedürfnis für Ungleichbehandlungen hängt unmittelbar mit der Schwere der Ungleichbehandlung und des Eingriffs zusammen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts variiert zwischen erleichterten Anforderungen für „nicht sehr intensive“171 Belastungen, was der tragende Gedanke im Rahmen der §  8b Abs.  5 KStG-Entscheidung war, und qualifizierten Anforderungen für „enorme“ Belastungsunterschiede wie im Erbschaftsteuerurteil172. Dieser Abstufung ist grundsätzlich zuzustimmen. Allerdings sind Ungleichbehandlungen, auch wenn sie lediglich zu geringfügigen Belastungen führen, nicht per se gerechtfertigt. Ein derartiger Bagatellvorbehalt ist gerade für das Steuerrecht abzulehnen, weil hier häufig eine Vielzahl geringfügiger Eingriffe zusammentrifft, was auch das Bundesverfassungsgericht letztlich gesehen hat, wenn es relativiert, dass die Beurteilung von § 8b Abs. 5 KStG im Hinblick auf einen etwaigen Kaskadeneffekt bei mehrfach gestuften Beteiligungen anders ausfallen könne173. Ob sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip zukünftig auch als absolute Obergrenze einmal auswirken wird, erscheint in Bezug auf die durch den Steuerwettbewerb faktisch komprimierte Tarifbelastung eher fraglich. Nicht Art. 14 GG dämpft die Steuersätze, sondern der internationale Steuerwettbewerb. Gleichzeitig eröffnet gerade die 2006er Entscheidung zu Besteuerungsobergrenzen174, auch wenn der zweite Senat vom Halbteilungsgrundsatz abgerückt ist, die Möglichkeit einer freiheitsrechtlichen Argumentation in Bezug auf die Belastungswirkung von einzelnen Normen der Bemessungsgrundlage. Art. 14 GG schützt auch unterhalb der erdrosselnden Gesamt168 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 3 Rz. 182 ff. 169 Zum Steuereingriff zwischen Gleichheit und Freiheit aktuell der erhellende Meinungsaustausch zwischen Paul Kirchhof und Monika Jachmann-Michel, StuW 2017, 3 ff., 209 ff., 2018, 1 ff., 6 ff. 170 Z.B. Englisch, StuW 2003, 237 (247 f.). 171 BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (262). 172 BVerfG v. 17.12.2014  – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (183  f., 197). Ähnlich ist auch die  Argumentation bezüglich der Erhöhten Hundesteuer für Kampfhunde: BVerwG v. 15.10.2014 – 9 C 8/13, BVerwGE 150, 225 (229 ff.) Rz. 22 ff. Die Erdrosselungswirkung wurde nicht absolut, sondern im Verhältnis zur Regelbelastung für Nichtkampfhunde ermittelt. Auch EGMR v. 14.5.2013, App. Nr.  66529/11 Rz.  5d)  – NKM v. Hungary, mit Anm. Baker, ET 2013, 393 begründete eine Verletzung der Eigentumsgarantie durch die Sonderbelastung von Beamtenpensionen (Grenzsteuerbelastung von 98  % und Durchschnittsbelastung 52 %) in erster Linie damit, dass die Belastung dreimal höher war als die reguläre Einkommensteuerbelastung von 16 %. 173 BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (263). 174 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97.

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belastung die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit des erwerbswirtschaftlichen Handelns175. Diese kann auch bei moderater Tarifbelastung durch einzelne Abzugsverbote massiv in Frage gestellt werden. Unabhängig vom verfassungsrechtlichen Stellenwert des objektiven Nettoprinzips176 kann eine Bruttobesteuerung bestimmte Betätigungen wirtschaftlich so unattraktiv machen, dass sich die Belastung als unverhältnismäßig darstellt177. Eine weitaus prominentere Rolle könnte dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zukünftig gegenüber der Auferlegung von Verwaltungslasten zugewiesen werden178. Wenn die alljährliche Studie „Paying Taxes“ für Deutschland zu einem alarmierenden Befund des Ausmaßes der Steuerbefolgungskosten kommt179, dann wirft dies Fragen der Erforderlichkeit und Angemessenheit auf. Allerdings besteht hier, ähnlich wie bei der Feststellung von Überkomplexität180, die Schwierigkeit, zu ermitteln, welche Meldepflicht, welche Indienstnahme181 in fremden Steuerangelegenheiten das Fass zum Überlaufen bringt. Mehr Erfolg verspricht das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der individuellen Ausgestaltung von Meldepflichten, insbesondere auch der Angemessenheit der Sanktionierung einer Nichtbefolgung. Zwar ist die Mitwirkung des Steuerpflichtigen unerlässlich für einen gleichheitssatzkonformen Steuervollzug. Verhältnismäßig ist aber grundsätzlich nur die zur individuellen Steuerfestsetzung erforderliche Mitwirkung, nicht aber, wie das FG Köln klargestellt hat182, die rein informatorische Datenabfrage. Jedenfalls bedarf es hierfür einer eigenen Rechtsgrundlage. 4. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz Die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zur Erzielung ausgewogener Ergebnisse zeigt sich auch in der jüngeren Rechtsprechung zu verfassungsrechtlichen Grenzen rückwirkender Steuergesetzgebung. In den Rückwirkungsbeschlüssen des Jahres 2010 hat das Bundesverfassungsgericht einen Weg gefunden, den lange geforderten verhältnismäßigen Ausgleich zwischen Änderungs- und Bestandsinteressen

175 In diesem Sinne auch EGMR v. 14.5.2013, App. Nr. 66529/11 Rz. 5d) – NKM v. Hungary: „excessively high tax, undermining the economic viability of the taxpayer“. 176 Zur freiheitsrechtlichen Fundierung des Nettoprinzips s. Bowitz, Das objektive Nettoprinzip als Rechtfertigungsmaßstab im Einkommensteuerrecht, 2016, S. 57 ff. 177 Jachmann in Brandt (Hrsg.), DFGT 2 (2005), S. 59 (71, 89). 178 Hierzu Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 90 AO Rz. 92 (2012); Seer in Tipke/Kruse, § 90 AO Rz. 13 (2017); Drüen, FR 2004, 1134 (1148); Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, 2012, S. 210 f.; MPI Gutachten Anzeigepflichten für Steuergestaltungsmodelle in Deutschland, 2016, S. 39 (http://www.tax.mpg.de/fileadmin/ TAX/docs/TL/MA/Gutachten_Anzeigepflichten_MPI.pdf). 179 PWC/World Bank Group, Paying Taxes 2018, S. 76. 180 Siehe unten IV.2.d)bb). 181 Zu deren verfassungsrechtlichen „Minimalanforderungen“ Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, 2012, S. 368 ff. 182 FG Köln v. 7.9.2015 – 2 V 1375/15, EFG 2015, 1769 (1771 ff.).

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durch Aufwertung des Übergangsrechts183 herzustellen. Gefragt wird nunmehr nach der „Zumutbarkeit“184 einer übergangslosen Gesetzesänderung. Dennoch ist das verfassungsrechtliche Feld der Rückwirkungsdogmatik noch nicht vollständig arrondiert. Es bleiben Vertrauensschutzlücken insbesondere im Fall von Rechtsprechungsänderungen und Nichtanwendungsgesetzgebung. Ob mit dem umstrittenen185 KAGG-Beschluss vom 17. Dezember 2013186, der einer rückwirkenden Nichtanwendungsgesetzgebung deutliche Grenzen setzt, das letzte Wort gesprochen ist, werden die anhängigen Verfahren zu echt rückwirkender Reparaturgesetzgebung zeigen187. Wenig Aussicht besteht dagegen auf eine Klärung der verfassungsrechtlichen Vorgaben oder gar auf Aufwertung des Vertrauensschutzes im Fall von nachteiligen Rechtsprechungsänderungen188. Dies liegt vor allem an der restriktiven Haltung des Bundesfinanzhofs. Wann der Bundesfinanzhof nach Rechtsprechungsänderungen die Gewährung von Vertrauensschutz durch die Finanzverwaltung anregt  – anordnen kann er dies aufgrund der begrenzten Rechtskraftwirkung ohnehin nicht189 –, ist wenig vorhersehbar190. Ebenso unklar ist, wann die Finanzverwaltung von sich aus Übergangsvorschriften erlässt bzw. wann sie hierzu berechtigt ist. Schwer nachvollziehbar war insofern die Entscheidung des 1. BFH-Senats, mit der dieser der verwaltungsseitigen Übergangsregelung191 zur Entscheidung des Großen Senats zum Sanierungserlass die Anerkennung abgesprochen hat192. Die dogmatischen Grundlagen sind anders als im Fall rückwirkender Gesetzesänderungen nach wie vor nicht klar. Zum Teil rekurriert der Bundesfinanzhof bei der Weiteranwendung der bisherigen günstigeren Rechtspraxis auf rechtsstaatlichen Vertrauensschutz193, zum Teil auf das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit194. Wenig ist

183 Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 331 ff. 184 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1 (1. Leitsatz). 185 Scharfe Kritik Lepsius, JZ 2014, 488 ff.; dagegen Michael, JZ 2015, 425 ff.; Duplik Lepsius, JZ 2015, 435  ff. Ausf. Würdigung ferner durch Osterloh, StuW 2015, 201  ff. u. Drüen, StuW 2015, 210 ff. 186 BVerfG v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1. 187 BFH v. 7.12.2010  – IX R 70/07, BStBl.  II 2011, 346 (Az. BVerfG: 2 BvL 1/11); v. 11.12.2013 – I R 4/13, BStBl. II 2014, 791 (Az. BVerfG: 2 BvL 15/14); v. 17.7.2014 – VI R 8/12, BFH/NV 2014, 1970 (Az. BVerfG: 2 BvL 24/14); v. 20.8.2014 – I R 86/13, BStBl. II 2015, 18 (Az. BVerfG: 2 BvL 21/14). 188 Siehe hierzu auch Levedag, Rechtsprechungskontinuität und Rechtsprechungsänderungen – nationale Sicht, in FS 100 Jahre BFH, S. 181 ff. 189 Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 646. 190 Im Einzelnen Hey, DStR 2004, 1897 ff. 191 BMF-Schreiben v. 27.4.2017 – IV C 6-S 2140/13/10003, 2017/0322100, BStBl. I 2017, 741. 192 BFH v. 23.8.2017 – I R 52/14, BFH/NV 2017, 1644. 193 BFH v. 11.7.2017 – IX R 36/15, BFH/NV 2017, 1501 (1505) Rz. 40 ff.: anzuwenden erst ab Veröffentlichung des Urteils. 194 BFH v. 12.12.2012 – VI R 79/10, BFH/NV 2013, 637 (638 f.) Rz. 22; jetzt grundlegend als Rechtfertigung einer Begrenzung rückwirkender Rechtsprechungsänderungen Sagan,

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gewonnen, wenn der Schutz auf Überraschungsentscheidungen beschränkt wird195. Es kann diese beim Bundesfinanzhof kaum geben, da der vorangehende Instanzenzug stets deutlich macht, dass die Rechtsfrage streitig und eine Änderung der Rechtsauffassung möglich ist. Richtigerweise ist das Vertrauen in eine gefestigte Rechtspraxis, sei es auf der Grundlage einer langjährigen Verwaltungspraxis, sei es auf der Grundlage ständiger (höchstrichterlicher) Rechtsprechung grundsätzlich schutzwürdig196. Es bedarf besonderer Umstände, um dieses Vertrauen zu enttäuschen.

IV. Offene Fragen 1. Cluster und „Dunkelfelder“ der Steuerverfassungsrechtsprechung Wie in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs gibt es auch beim Bundesverfassungsgericht Clusterbildung und „Dunkelfelder“197. Auffällig ist, dass es zu bestimmten Bereichen, z.B. zum subjektiven Nettoprinzip, aber auch zu steuergesetzlichen Rückwirkungen, einen breiten Rechtsprechungskanon gibt. Manche Fragen  – etwa die Anwendung von ehebezogenen Tatbeständen auf eingetragene Lebenspartnerschaften198 oder die Angemessenheit der Berücksichtigung von Kindern199 – liegen dem Verfassungsgericht in leicht abgewandelten Konstellationen gleich mehrfach vor. Auch die Realitätsgerechtigkeit von Bewertungsverfahren ist hinlänglich aufgearbeitet200. Andere Fragen finden dagegen entweder gar nicht den Weg nach Karlsruhe, dies betrifft insbesondere die Belastung des Endverbrauchers durch indirekte Steuern201, oder können dort nicht richtig gefasst werden, wie etwa Einwände, die sich gegen Steuervergünstigungen richten202. Selbst aussuchen kann sich das Bundesverfassungsgericht nicht, womit es sich beschäftigt, es ist darauf angewiesen, dass die richtigen Fälle den Weg nach Karlsruhe Rückwirkende Rechtsprechungsänderung, 2017, § 7 (Manuskript). BFH v. 23.8.2017 – I R 52/14, BStBl. II 2018, 232 (234) Rz. 20. 195 In diese Richtung BFH v. 23.8.2017 – I R 52/14, BStBl. II 2018, 232 (234). 196 Hey, DStR 2004, 1897  ff.; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 622 ff. 197 S.  den Beitrag von Wendt, „Dunkelfelder“ der Steuerrechtsprechung, in FS 100 Jahre BFH, S. 399 ff. 198 BVerfG v. 21.7.2010  – 1 BvR 611/07, BVerfGE 126, 400; v. 18.7.2012  – 1 BvL 16/11, BVerfGE 132, 179; v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377. 199 BVerfG v. 12.06.1990  – 1 BvL 72/86, BVerfGE 82, 198; v. 10.11.1998  – 2 BvR 1057/91, BVerfGE 99, 216; v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246; v. 10.11.1998 – 2 BvR 1220/93, BVerfGE 99, 268; v. 10.11.1998 – 2 BvR 1852/97, BVerfGE 99, 273; sowie die aktuelle Vorlage des Niedersächs. FG v. 2.12.2016 – 7 K 83/16, EFG 2017, 668. 200 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 – Vermögensteuer; v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 – Erbschaftsteuer I; v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 – Erbschaftsteuer II; v. 23.6.2015 – 1 BvL 13/11, BVerfGE 139, 285 – Ersatzbemessungsgrundlage Grunderwerbsteuer. 201 Hierzu unten IV.2.b). 202 S. unten IV.2.c).

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finden. Allerdings bestehen im Bereich der Verfassungsbeschwerde erhebliche Spielräume, welche Verfahren angenommen werden. In den in § 93a BVerfGG geregelten Annahmegründen spiegelt sich die Doppelfunktion203 des Bundesverfassungsgerichts als Garant individuellen Rechtsschutzes einerseits (§  93a Abs.  2 Buchst.  b BVerfGG), Hüter der Verfassung andererseits (§ 93a Abs. 2 Buchst. a BVerfGG). Für die im Steuerrecht so wichtige Normenkontrolle des Art. 100 GG fehlt diese Filterfunktion. Die vorlegenden Gerichte entscheiden nach anderen Kriterien: Die Entscheidungserheblichkeit der Verfassungswidrigkeit betrifft nur den Einzelfall und erlaubt keine Abstufung nach der Schwere des Nachteils. Das Bundesverfassungsgericht selbst steuert den Arbeitsanfall infolge von Art. 100 GG-Anträgen über das Kriterium der Entscheidungserheblichkeit204. Eine weitere Stellschraube liegt in den Anforderungen an die Begründung der Vorlage205. 2. Schwächen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle a) Große Fragen und kleine Fragen – was sollte das Bundesverfassungsgericht entscheiden? Um für die Anerkennung seiner Entscheidungen zu sorgen, muss sich das Verfassungsgericht auf verfassungsrechtliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung beschränken206. Im Steuerrecht versagt die verfassungsrechtliche Kontrolle jedoch gerade bei der großen Ungerechtigkeit (z.B. Steuerpflicht versus Steuerfreiheit). Genau hingeschaut wird dagegen oft dort, wo es um Bagatellen geht207 (Arbeitszimmer, Pendlerpauschale, Angemessenheit von Freibeträgen). Allerdings können bei entsprechender Breitenwirkung auch Fragen von geringer finanzieller Auswirkung im Einzelfall in der Summe großes Gewicht haben, weil sich die Kleinigkeit mit Millionen Steuerpflichtigen multipliziert (was Gerechtigkeit so teuer macht). Zudem lässt sich die Schwere des Eingriffs nicht absolut, sondern nur relativ bestimmen, weil auch die geringfügige Mehrbelastung im Verhältnis zum niedrigen Einkommen spürbare Auswirkungen hat. Schließlich lassen sich anhand vermeintlicher Details Fragen von grundsätzlicher Bedeutung klären. Das häusliche Arbeitszimmer ist vor dem Hintergrund des Gesamtsteuersystems, ja selbst im Binnensystem der Einkommensteuer eine Petitesse208. Aber es gab – ebenso wie die Entfernungspauschale – Anlass zu grundsätzlichen Aus-

203 Genereller Edukationseffekt neben kasuistischem Kassationseffekt Klein in Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, § 19 Rz. 434 unter Berufung auf Zweigert, JZ 1952, 321. 204 Kritisch Klein in Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, 3.  Aufl. 2012, §  24 Rz. 764. 205 Siehe oben II.2. 206 Roellecke, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 67 Rz. 31. 207 F. Kirchhof, BB 2017, 662 (664) spricht von der „inversen“ Anwendung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht. 208 BT-Drucks. 16/1545: Volle Jahreswirkung von 300 Mio. Euro.

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sagen zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben steuergesetzlicher Typisierung bzw. zu den gesetzgeberischen Spielräumen für gemischt veranlasste Aufwendungen209. Problematischer als die Entscheidung von Detailfragen ist, dass sich das Bundesverfassungsgericht in den großen Richtungsentscheidungen des Steuersystems zurückhält210. Grundsätzliche Fragen des Steuersystems werden weitgehend ausgeklammert, indem sie der ersten Stufe des weiten Gestaltungsspielraums für die Auswahl der Steuergegenstände zugewiesen werden211. Damit ist, solange das Gericht den Grundsatz der nur durch das Willkürverbot strukturierten Wahlfreiheit aufrecht erhält, auch die Sorge, dem Gesetzgeber würden allzu starre Fesseln angelegt, kaum begründet. Auf diese Weise verweigert sich das Bundesverfassungsgericht grundsätzlicher Aussagen zur Gewerbesteuer212. Ebenso wenig würde es wohl einzelne spezielle Verbrauchsteuern in Frage stellen, etwa die Kaffeesteuer vor dem Hintergrund monieren, dass Tee nicht belastet wird. Noch weniger Antworten sind zu erwarten, dreht man die Frage um: Nicht fragt, darf der Gesetzgeber Kaffee besteuern, sondern darf er Tee unbesteuert lassen? Da ein Grund für diese Ungleichbehandlung nicht ersichtlich ist213, würde eigentlich das Willkürverbot eingreifen, das auch auf der Stufe der Auswahl der Steuergegenstände zu berücksichtigen ist, dennoch fällt es schwer, sich vorzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht tatsächlich die Kaffeesteuer für verfassungswidrig erklären würde. In der Entscheidung zur Luftverkehrsteuer hat das Gericht dem Gesetzgeber weitgehend freie Hand gelassen214. Er kann das eine besteuern, das andere lassen. Die Frage, welche Steuern erhoben werden dürfen, stellt sich jedoch im Rahmen von Art. 105 ff. GG215. Art. 106 GG ermöglicht, wie jüngst im Beschluss zur Kernbrennstoffsteuer, sehr grundsätzliche Aussagen zu den Qualitäten einzelner Steuerarten, freilich werden sie regelmäßig nur für neuartige Steuern gestellt.

209 BVerfG v. 9.12.2008  – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (240); v. 6.7.2010  – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (281). Schlussfolgerungen für die beim BVerfG anhängige (Az. 2 BvL 22-27/14) Abziehbarkeit von Berufsausbildungskosten Thiemann, JZ 2015, 866 (871 f.). 210 Krit. gegenüber dieser Asymmetrie auch Seiler, VVDStRL 75 (2016), 333 (342). 211 Ständige Rspr. BVerfG v. 13.5.1969 – 1 BvR 25/65, BVerfGE 26, 1 (8) – Gewerbesteuer; v. 9.7.1969 –2 BvL 20/65, BVerfGE 26, 302 (310) – Veräußerungsgewinne; v. 8.12.1970 – 1 BvR 95/68, BVerfGE 29, 327 (335)  – Schankerlaubnissteuer; v. 1.4.1971  – 1 BvL 22/67, BVerfGE 31, 8, 25 – Vergnügungssteuer; v. 19.12.1978 – 1 BvR 335/69, BVerfGE 50, 57 (77) – Nominalwertprinzip; Kritik an dieser restriktiven Haltung z.B. Tipke, StuW 2007, 201 (207 ff.); Hey in StbJb. 2007/08, S. 19 (36 ff.). 212 BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1. 213 Tipke in FS Reiß, 2008, S. 9 (20). 214 BVerfG v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350 (3. Leitsatz). 215 Da fast jede neue Steuer ihren Weg nach Karlsruhe findet, hat dieser Rechtsprechungsstrang eine lange Tradition; erstmals BVerfG v. 15.12.1959 – 2 BvL 73/58, BVerfGE 10, 251 zur Beförderungsteuer (allerdings auf der Grundlage von Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG); v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, BVerfGE 98, 106 zur Kasseler Verpackungsteuer; v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, BVerfGE 127, 350 zur Luftverkehrsteuer.

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b) Konsumbesteuerung und indirekte Steuern – unmerkliche Verfassungs­ widrigkeit? Die Begründung der Verbrauchsbesteuerung mit der Erfassung der Leistungsfähigkeit des Endverbrauchers216 (Belastungsgrund), wie jüngst im soeben erwähnten Kernbrennstoffsteuerbeschluss, würde erwarten lassen, dass sich eine ähnliche Rechtsprechung zur sachgerechten und folgerichtigen Ausgestaltung entwickelt wie im Einkommensteuerrecht. Es fehlt jedoch bereits am Fallmaterial. Erfindet der Gesetzgeber neuartige Verbrauch- und Verkehrsteuern werden diese allenfalls anhand des Finanzverfassungsrechts überprüft217, das zwar auch Schutzfunktion gegenüber dem Endverbraucher entfaltet, freilich nicht dazu angetan ist, die Ausgestaltung im Einzelnen zu hinterfragen. Der Kernbestand des Verbrauchsteuerrechts, namentlich die aufkommensstarke und belastungsintensive Umsatzsteuer, erreicht das Bundesverfassungsgericht so gut wie nie. Auch die Wissenschaft ignoriert die verfassungsrechtlichen Fragen des Verbrauchsteuerrechts weitgehend218. Dass die Umsatzsteuer dem Bundesverfassungsgericht im Bereich der zwingenden Vorgaben der Mehrwertsteuersystem-Richtlinie ohnehin entzogen ist219, weil die Kompetenz beim EuGH liegt220, wirkt sich somit gar nicht aus. Der EuGH selbst hat mit seiner kürzlich ergangenen E-Book-Entscheidung erstmals eine gleichheits­ satzrechtliche Prüfung anhand von Art. 20 EU-Grundrechte-Charta angestellt, eine Verletzung aber verneint221. Im Übrigen bestehen gerade im Bereich der  – unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten unerträglich willkürlich anmutenden  – Steuerbefreiungen und Steuerermäßigungen nach wie vor nationale Gestaltungsmöglichkeiten, so dass die Kompetenz zur verfassungsrechtlichen Überprüfung weiterhin beim Bundesverfassungsgericht liegt222. Dass die Umsatzsteuer dennoch in der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur keine Rolle spielt, hat verschiedene Gründe: Zum einen wirkt sich die Unmerklichkeit der Umsatzsteuer auch auf die Sensibilität für mögliche Grundrechtsverletzun216 BVerfG v. 13.4.2017  – 2 BvL 6/13, BVerfGE 145, 171 (213) Rz.  118; grundlegend Reiß, DStJG 13 (1990), S. 3 ff. 217 So neben BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, BVerfGE 145, 171 (206 ff.), z.B. BVerfG v. 11.10.1994 – 2 BvR 633/86, BVerfGE 91, 186 (203) – Kohlepfennig; v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350 (378) – Luftverkehrsteuer. 218 S. die Kritik von Englisch, StuW 2015, 52, mit einer Grundlegung zu den speziellen Verkehr- und Verbrauchsteuern. 219 Hierzu grundlegend Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess, 2016. 220 BVerfG v. 31.5.2007 –1 BvR 1316/04, BFH/NV 2007, Beilage 4, 449 Rz. 47, auf der Grundlage der Solange-Rechtsprechung. 221 EuGH v. 7.3.2017  – C-390/15, ECLI:EU:C:2017:174  – Rzesznik Praw Obywatelskicg (RPO) Rz. 54 ff.; dazu Wäger, DStR 2017, 2017; s. auch Englisch, StuW 2015, 52 (53): „zögerliche Entfaltung“ des sonstigen Unionsprimärrechts durch den EuGH. 222 S. Hoffsümmer, Steuerbefreiungen für Inlandsumsätze (§ 4 Nrn. 8 bis 28 UStG): Eine systematische Betrachtung unter besonderer Berücksichtigung europäischer und nationaler Prüfungsmaßstäbe, 2009, S. 9 ff. (Kapitel 2: Europäische und nationale Prüfungsmaßstäbe des § 4 UStG).

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gen aus. Eine direkt erhobene Belastung, mag sie auch verhältnismäßig gering sein, weckt sofortigen Widerstand, dem – wie etwa im Fall des Rundfunkbeitrags – auch mit den Mitteln des Verfassungsrechts Ausdruck verliehen wird223. Auch bei den persönlichen Freibeträgen in der Einkommensteuer wird zum Teil um wenige Euro gekämpft. Die Umsatzsteuerbelastung wird dagegen vom Verbraucher hingenommen. Zum anderen fehlt es an einem prozessualen Hebel, um zum Bundesverfassungsgericht zu kommen. Dem Verbraucher als Steuerträger wird die Klagebefugnis gegen den Umsatzsteuerbescheid des Unternehmers abgesprochen224. Der Unternehmer als Steuerschuldner kann wiederum nur eine eigene Grundrechtsverletzung im Hinblick auf eine Verletzung des Gebots der Wettbewerbsneutralität225 geltend machen226. Die wenigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Umsatzsteuer und zu den speziellen Verbrauchsteuern betrafen allesamt Ungleichbehandlungen konkurrierender Unternehmer227. Zur Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Endverbrauchers durch die Umsatzsteuer hat das Bundesverfassungsgericht bisher nur ein einziges Mal Stellung genommen, und dies auch nur indirekt im Rahmen der Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde eines Familienvaters gegen seinen Einkommensteuerbescheid mit dem Einwand, die Kinderfreibeträge reflektierten nicht die Erhöhung der Umsatzsteuer228. Damit ist die gesamte untere Hälfte der Einkommensbezieher, die praktisch nur durch indirekte Steuern belastet werden229, vom verfassungsgerichtlichen Schutz abgeschnitten, was insbesondere vor dem Hintergrund der steigenden Bedeutung der

223 Vgl. anhängige Verfassungsbeschwerden gegen den Rundfunkbeitrag: Az. 1 BvR 2594/15, 1 BvR 1675/16, 1 BvR 1856/16 u.a. 224 Hierzu P. Kirchhof, DStJG 18 (1995), S. 27 ff.; P. Kirchhof, UR 2002, 541 (547); für eine Klagebefugnis Tipke in FS Reiß, 2008, S. 9 (19). 225 Ohlendorf, Grundrechte als Maßstab des Steuerrechts in der Europäischen Union, 2015, S. 234. 226 Die Betroffenheit am Verfahren nicht beteiligter Dritter begründet keine Entscheidungserheblichkeit vgl. BVerfG v. 24.1.1984  – 1 BvL 7/82, BVerfGE 66, 100 (105  f.); BFH v. 7.4.2010 – I R 42/09, BFH/NV 2010, 1656 (1657) Rz. 19. 227 BVerfG v. 16.5.1961 – 2 BvF 1/60, BVerfGE 12, 341 (348 f.); v. 25.5.1965 – 1 BvR 460/62, BVerfGE 19, 64 (68  ff.); v. 4.10.1965  – 1 BvR 498/62, BVerfGE 19, 129 (133  ff.); v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, BVerfGE 21, 12 (28 ff.); v. 28.1.1970 – 1 BvL 4/67, BVerfGE 27, 375 (386 ff.); v. 8.12.1970 – 1 BvR 104/70, BVerfGE 29, 337 (339 f.); v. 9.6.1971 – 2 BvR 225/69, BVerfGE 31, 145 (179 f.); v. 5.3.1974 – 1 BvR 712/68, BVerfGE 36, 321 (330 ff.); v. 19.3.1974 – 1 BvR 416/68, BVerfGE 37, 38 (46 ff.); v. 26.10.1976 – 1 BvR 191/74, BVerfGE 43, 58 (70 ff.); v. 11.2.1992 – 1 BvL 29/87, BVerfGE 85, 238 (245 ff.); v. 29.10.1999 – 2 BvR 1264/90, BVerfGE 101, 132 (139 ff.); v. 10.11.1999 – 2 BvR 2861/93, BVerfGE 101, 151 (156 f.); v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (297 ff.). 228 BVerfG v. 23.8.1999 – 1 BvR 2164/98, HFR 2000, 44. 229 Plastisch beschreibt Fratzscher, ZEIT Online v. 26.5.2017, die Belastungswirkungen durch das Gesamtsteuersystem als „Wal in der Badewanne“, um das relativ hohe Ausmaß der Belastung der unteren Einkommensgruppen mit indirekten Steuern zu verdeutlichen.

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Verbrauchsteuern kaum hinnehmbar ist230. Dass die unteren Einkommensgruppen aufgrund realitätsgerecht bemessener persönlicher Freibeträge keine Einkommensteuer zahlen, ist zwar eine der bedeutendsten verfassungsrechtlichen Errungenschaften, und bei der Bemessung der einkommensteuerrechtlichen Freibeträge wird auch die Belastung durch indirekte Steuern berücksichtigt, freilich gelingt dies nur in typisierender Weise, was durchaus Raum für Gerechtigkeitsfragen belässt: 19 % für Kinderwindeln, 7 % für Tierfutter oder Pralinen – ein gerne herangezogenes Beispiel für Umsatzsteuerungerechtigkeit – das Bundesverfassungsgericht erreicht es aus den genannten Gründen nicht. Hieran ließe sich nur dann etwas ändern, wenn man den Verbraucher dem Arbeitnehmer gleichstellen würde und ihm mit Blick auf die vom Gesetzgeber intendierte Überwälzung eine Klagebefugnis gegen den Umsatzsteuerbescheid des leistenden Unternehmers einräumen würde. Dass es sich nur um einen mittelbaren Eingriff handelt, spricht nicht dagegen; die Belastung des Endverbrauchers ist vom Gesetzgeber beabsichtigt und ihm daher ohne weiteres zurechenbar231. c) Steuervergünstigungen – nur Missgunst? Besonders große Gestaltungsfreiheit billigt das Bundesverfassungsgericht dem Steuergesetzgeber im Bereich der Steuervergünstigungen zu. Sie sind der verfassungsrechtlichen Kontrolle weitgehend entzogen, was seinen Grund zum Teil wiederum in (verfassungs)prozessualen Limitierungen hat. Grundsätzlich können Steuervergünstigungen nur im Bereich der indirekten Steuern und Unternehmensteuern als Wettbewerbsnachteil des nicht begünstigten Unternehmers aufgegriffen werden, was ­freilich voraussetzt, dass begünstigter und nicht begünstigter Unternehmer in einem unmittelbaren Wettbewerbsverhältnis stehen und die Gefahr erheblicher Wettbewerbsverzerrungen besteht232. Im Übrigen – das ist im Verfahren um die Steuerbegünstigung der Abgeordneten233 deutlich geworden – scheitern Klagen, die sich gegen die Begünstigung eines anderen richten, an der Klage- bzw. Beschwerdebefugnis, soweit nicht ein gleichheitssatzwidriger Begünstigungsausschluss234 mit dem Ziel der Einbeziehung in die Begünstigung gerügt wird. Das bloße Ziel, das nicht gerechtfertigte Privileg des anderen zu Fall zu bringen, mag im Gemeinwohlinteresse liegen, vielleicht ist es auch nur Missgunst. Jedenfalls fehlt es am erforderlichen subjektiven Rechtsschutzinteresse235; dem Verfassungsprozessrecht sind Popularrechtsbehelfe fremd. 230 Ohlendorf, Grundrechte als Maßstab des Steuerrechts in der Europäischen Union, 2015, S. 233. 231 Tipke in FS Reiß, 2008, S. 9 (20). 232 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (290 f.). 233 BVerfG Nichtannahmebeschluss v. 26.7.2010  – 2 BvR 2227/08, HFR  2010, 1108; krit. hierzu Birk, DStJG 34 (2011), S. 11 (20). 234 Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz – Rechtsfolgen und Rechtsschutz, 1999, S. 83 ff. 235 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (1. Leitsatz u. 172 ff.): Art. 3 Abs. 1 GG verleiht Steuerpflichtigen keinen Anspruch auf verfassungsrechtliche Kontrolle steuerrechtlicher Regelungen, die Dritte gleichheitswidrig begünstigen, das eigene Steuer-

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Die große Ausnahme stellt das Erbschaftsteuerurteil vom 17. Dezember 2014 dar, allerdings wohl auch nur wegen des Ausmaßes der Begünstigung, das den Schluss erlaubte, die Verfassungswidrigkeit der Privilegierung des Betriebsvermögens werde sich auf das gesamte Erbschaftsteuerrecht auswirken236. Bei der Vorgängerentscheidung hatte das Verfassungsgericht die Tarifnorm zur Brücke der Beschwer des Nichtbegünstigten gemacht237. Auf Einkommen- oder Körperschaftsteuer sind diese prozessualen Hebel nicht übertragbar. Ähnliche prozessuale Probleme treten auf bezüglich übermäßig großzügiger Vereinfachungszwecknormen. Derjenige, der keine Aufwendungen hat, klagt nicht gegen den ihn begünstigenden Freibetrag zur Pauschalierung von Aufwendungen. Er ist nicht beschwert. Der Steuerpflichtige, der nicht unter die Typisierung fällt, sondern nur seinen tatsächlich nachgewiesenen Aufwand geltend machen kann, hat, wenn er nicht Einbeziehung in die Typisierung verlangt, keine Möglichkeit, die Begünstigungswirkung zu Fall zu bringen. Die politische Kontrolle versagt. Zwar wäre eine abstrakte Normenkontrolle gem. Art.  93 Abs.  1 Nr.  2 GG durchaus denkbar. Doch Politiker gleich welcher Couleur lieben Steuervergünstigungen als Instrument der Wählergewinnung. Klaus Tipke238, dem Steuerprivilegien stets ein besonderer Dorn im Auge waren, plädiert daher zur Überwindung der Rechtsschutzschwäche dafür, die Gleichbehandlung selbst als Besserstellung anzusehen und auf diese Weise ein subjektives Rechtschutzinteresse zu begründen. Auch wenn ihm zuzugeben ist, dass die ungerechtfertigte Besserstellung (Privilegierung) im Lichte der Forderung nach gleichmäßiger Lastenausteilung nicht weniger problematisch ist als die Schlechterstellung und dass der Gleichheitssatz, beschränkt man ihn auf die Belastung, asymmetrisch wirkt, wäre ein solcher Rechtsbehelf von einer Popularklage nicht zu unterscheiden. Um tatsächlich eine Subventionskontrolle zu erreichen, bedürfte es m.E. einer besonderen Verfahrensart. Ein speziell ausgestaltetes verfassungsgerichtliches Subventionskontrollverfahren239 wäre auch ein souveränes Gegenmodell zu der derzeit über das Beihilferecht der EU-Kommission überlassenen Vergünstigungskontrolle. Allerdings ist das Bundesverfassungsgericht, selbst wenn die prozessualen Hürden überwunden werden, in der Sache denkbar großzügig. In der Ökosteuerentscheidung hat sich das Gericht auf der Grundlage seiner Rechtsprechung zur Kontrolle  ­direkter Subventionen nicht nur hinsichtlich der Ausgangsentscheidung, welche Tatbestände gefördert werden, sondern auch bezüglich der tatbestandlichen Ausgerechtsverhältnis aber nicht betreffen; ferner BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (303). Klein in Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, § 19 Rz. 432, 556 ff. 236 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (171 ff.). 237 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (28 f.). 238 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, 2. Aufl. 2012, S. 1567 ff., 1572, Gleichbehandlung als Besserstellung. 239 Beispiele für Verbandsklagen: § 33 Abs. 4 GWB, kartellrechtlich für Wirtschaftsverbände und Verbraucherverbände; § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG gegen unlauteren Wettbewerb für Wettbewerbsverbände; § 64 Abs. 1 BNatSchG für anerkannte Naturschutzvereinigungen.

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staltung auf das Willkürverbot zurückgezogen240 und dieses noch dazu in seiner schwächsten Ausprägung zugrunde gelegt. Die Vorgabe, sachbezogene Gesichtspunkte stünden dem Gesetzgeber „in weitem Umfang zu Gebote, solange die Regelung sich nicht auf eine der Lebenserfahrung geradezu widersprechende Würdigung der jeweiligen Lebenssachverhalte stützt“241, kommt einem Kontrollausfall sehr nahe. Wolfgang Schön hat überzeugende Argumente geliefert, warum für Steuervergünstigungen ein strengerer Maßstab als für direkte Subventionen zur Anwendung zu bringen ist242. Insofern ist es zu begrüßen, wenn das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung der erbschaftsteuerrechtlichen Verschonung des Betriebsvermögens wenigstens im Rahmen der konkreten Ausgestaltung der Begünstigung Folgerichtigkeit eingefordert hat243, wobei der strengere Prüfungsmaßstab wohl auch dem Ausmaß der Begünstigung zuzuschreiben war. d) Kompliziertheit des Steuerrechts – welche Norm ist schuld? aa) Komplexität des Steuerrechts als komplexes Phänomen Kaum eine Klage wird so konstant, so vehement und zugleich so pauschal erhoben wie die der Kompliziertheit des Steuerrechts. Gleichwohl ist die Vereinfachung des Steuerrechts von der politischen Agenda weitgehend verschwunden244, was vor allem daran liegt, dass die Politik zum einen erkannt hat, wie kompliziert Steuervereinfachung ist, zum anderen einerseits den Widerstand derjenigen fürchtet, die durch Maßnahmen der Vereinfachung Mehrbelastungen erleiden würden, andererseits nicht bereit ist, für den Vereinfachungserfolg auf Aufkommen zu verzichten. Die Ursachen des unbefriedigenden Zustandes sind vielfältig: Ein Gutteil der Komplexität lässt sich auf Ausnahmetatbestände und Vergünstigungen einerseits, auf Sonderbelastungen und Abzugsverbote andererseits zurückführen. Die konsequentere Ausrichtung der Besteuerung am allgemeinen Gleichheitssatz könnte Abhilfe schaffen. Indes wirkt die diesbezügliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts viel zu punktuell und gelegentlich  – Beispiel Erbschaftsteuer – sogar ungewollt komplizierend, weil die Ungleichbehandlung nicht generell verboten, sondern nur feinere Differenzierung eingefordert wird. Deshalb hilft die richtige Feststellung, dass größere Belastungsgleichheit zu Vereinfachung führen würde245, realiter nicht weiter.

240 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (292 f.). 241 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (293), Hervorhebung nur hier; so auch schon BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 413/88, BVerfGE 93, 319 (350) – Wasserpfennig. 242 Schön in FS Spindler, 2011, S. 189 (197 f.). 243 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (3. Leitsatz). 244 Unterscheidung zwischen rechtspolitischer Vereinfachungsforderung und verfassungswidrigem vollständigem Verlust der Steuerungsfähigkeit s. Jehke, Bestimmtheit und Klarheit im Steuerrecht, 2005, S. 190 ff. 245 Insb. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 100 f.

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Ein weiterer Grund für die Zunahme bis zur Unanwendbarkeit komplexer Normen ist das allgegenwärtige gesetzgeberische Ziel der Missbrauchsvermeidung. Spezielle Missbrauchsnormen, die eigentlich die Generalklausel des §  42 AO konkretisieren sollen, um die Rechtsanwendung zu vereinfachen und vorhersehbarer zu machen, sind oft wahre Textgebirge. Dabei hat die Unklarheit hier durchaus auch Methode, weil die klare Missbrauchsvermeidungsnorm zu einfach umgangen werden kann und weil der Gesetzgeber keine klare Vorstellung von sämtlichen Missbrauchskonstellationen hat und deshalb bewusst vage formuliert, um möglichst viele davon einzufangen. Schließlich wird auch der Wunsch nach Einzelfallgerechtigkeit immer wieder als Ursache der Kompliziertheit hervorgehoben. Typisierung und Pauschalierung reduzieren die Möglichkeit, jedem Einzelfall gerecht zu werden, sind zur Vereinfachung im Massenfallrecht und zur Sicherung des Gesamtvollzugs aber unerlässlich246. Hier spielt das Verfassungsrecht eine ambivalente Rolle: Einerseits verbietet das gleichheitsrechtliche Gebot der Realitätsgerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit zu grobe Typisierungen247, was eine der Ursachen dafür sein mag, dass Vereinfachungszwecknormen häufig zu besonders komplizierten Normen werden248. Andererseits enthält das Gebot folgerichtiger Ausgestaltung typisierender Normen, das ebenfalls im Gebot der Realitätsgerechtigkeit angesiedelt ist, die Chance auf einen nachvollziehbaren Regelungsplan. bb) Verfassungsprozessuale Notwendigkeit der Konkretisierung der ­Verletzung des Rechtsstaatsprinzips Das Rechtsstaatsprinzip fordert verständliche Gesetze249. Übermäßig kompliziertes Steuerrecht verliert seine Vorhersehbarkeit („Vorausberechenbarkeit“) und kann nicht mehr rechtssicher angewendet werden. Das Bundesverfassungsgericht leitet aus dem Rechtsstaatsprinzip die Prinzipien der Normenbestimmtheit und Normenklarheit ab250. Diese fruchtbar zu machen, ist indes ungemein schwierig. Dass die fehlende Vorhersehbarkeit des Steuereingriffs verfassungsprozessual kaum greifbar ist, liegt an der Besonderheit steuerrechtlicher Tatbestände, die sich aus vie-

246 BVerfG v. 28.6.1960 – 2 BvL 19/59, BVerfGE 11, 245 (254); v. 31.5.1988 – 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214 (227); v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348 (359); v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (232); v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (278). 247 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (232 f.); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106 (146 f.) m.w.N. 248 Am Beispiel der Pauschalierungsnorm des §  37b EStG v. Wolfersdorff/Hey, DB 2015, 153 ff. 249 BVerfG v. 19.2.1962  – 2 BvR 650/60, BVerfGE 14, 13 (16); v. 7.4.1964  – 1 BvL 12/63, BVerfGE 17, 306 (314); v. 14.2.1978 – 2 BvR 406/77, BVerfGE 47, 239 (247). 250 Etwa BVerfG v. 12.2.2003 – 2 BvL 3/00, BVerfGE 107, 218 (256); v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01, BVerfGE 108, 52 (75); v. 17.6.2004 – 2 BvR 383/03, BVerfGE 111, 54 (82); v. 20.3.2013 – 2 BvF 1/05, BVerfGE 133, 241 (271).

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len Einzelnormen zusammensetzen251. Dadurch ist die Kompliziertheit schwer dingfest zu machen. Sie lässt sich anders als die Unbestimmtheit nicht einem einzelnen Tatbestandsmerkmal zuordnen, sondern erstreckt sich oft über mehrere Normen und betrifft das Verhältnis einzelner Regelungsziele zueinander. Der Befund verfassungswidriger Kompliziertheit und fehlender Normenklarheit kann damit oft nur für gesamte Gesetze oder zumindest Normkomplexe erhoben werden252. Kann die Generalklausel aufgrund eines „Zuwenig“ an Text unbestimmt sein, ist es im Steuerrecht in der Regel das „Zuviel“ an Text, was die Anwendung erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. Das Problem erfasst hatte der Beschluss zum Kinderexistenzminimum vom 9. April 2003253 mit der Feststellung, die das Kindergeld betreffenden Regelungen genügten in ihrer sozial-, steuer- und familienrechtlichen Verflechtung dem Grundsatz der Normenklarheit immer weniger. Freilich ist das Gericht vor der Konsequenz, hieraus die Verfassungswidrigkeit ganzer Normkomplexe abzuleiten, zurückgescheut. Es blieb bei der bloßen Mahnung254, die den Gesetzgeber in der Regel nicht sonderlich beeindruckt. Die Latte der Verfassungswidrigkeit liegt denkbar hoch, denn letztlich fordert das Bundesverfassungsgericht objektive Unanwendbarkeit des Rechts. Es hat bekanntermaßen den hoffnungsvoll stimmenden Obersatz „der Steuerpflichtige müsse in der Lage sein, eine Steuerlast vorauszuberechnen“255 noch nie dazu genutzt, den Gesetzgeber in seine Schranken zu weisen. Selbst die diesbezügliche Vorlage des Bundesfinanzhofs256 zur Einschränkung des Verlustausgleichs durch § 2 Abs. 3 Sätze 2–8 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 aus dem Jahr 2006 hat kein Umdenken bewirkt. Dabei war der Fall klug gewählt, weil sich die Komplexität hier auf eine Einzelregel bezog, die noch dazu nicht dem Unternehmensteuerrecht angehörte, in dem man möglicherweise ein höheres Maß an Komplexitätsverarbeitungskompetenz zugrunde legen muss. Trotzdem hielt das Bundesverfassungsgericht noch nicht einmal die Zulässigkeitsvoraussetzungen für erfüllt257. Es sei nicht dargelegt worden, dass § 2 Abs. 3 EStG auch unter Aufbietung aller Mittel juristischer Kunst unanwendbar war. Man wird jedoch wohl immer davon ausgehen müssen, dass die Rechtsanwendungsor­ gane Zweifelsfragen mit den herkömmlichen Mitteln juristischer Methode unter

251 Am ehesten wird diesem Befund der Beschluss zum Kinderexistenzminimum gerecht, BVerfG v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01, BVerfGE 108, 52 (75 ff.). 252 Waldhoff/Grefrath, IStR 2013, 477 (484); Bartone in Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd. 1 (2009), S. 305 (311). 253 BVerfG v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01, BVerfGE 108, 52 (75 ff.). 254 Dies mag allerdings auch daran gelegen haben, dass es um eine zivilrechtliche Rechtssache ging, in der die Verfassungswidrigkeit der unterhaltsrechtlichen Normen unklare Folgen für die Betroffenen gehabt hätte. Im Steuerrecht wäre die Rechtsfolge einfach: Die Steuer dürfte nicht erhoben werden. 255 BVerfG v. 14.12.1965 – 1 BvR 571/60, BVerfGE 19, 253 (267); v. 28.2.1973 – 2 BvL 19/70, BVerfGE 34, 348 (365); v. 12.10.1978  – 2 BvR 154/74, BVerfGE 49, 343 (362); v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057/91, BVerfGE 99, 216 (243), Hervorhebung nur hier. 256 BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167. 257 BVerfG v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06, BVerfGE 127, 335 (355).

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­ eranziehung der gesamten verfügbaren Fachliteratur bewältigen können258, mögliH cherweise auch nur meinen, bewältigen zu können. Da ein Verfahren der Rechtsanwendungsverweigerung nicht existiert, behilft sich die Praxis, indem sie das Gesetz dann eben „irgendwie“ anwendet, sich mit „ungefähren“ Ergebnissen zufriedengibt. Das Phänomen der Komplexität, von Emanuel Towfigh als „Hyperlexie“ bezeichnet259, unterscheidet sich von der Unbestimmtheit von Normen dadurch, dass es theoretisch möglich bleibt, das Gesetz anzuwenden – was dem Bundesverfassungsgericht zu genügen scheint, auch wenn es einen Rechtsanwender voraussetzt, der weder der Realität der Finanzverwaltung noch der Steuerpflichtigen als Normadressaten entspricht. Zudem verkennt der Verweis auf die Möglichkeit späterer Klärung durch die Rechtsprechung und „das gesamte“ Fachschrifttum, dass der Steuerpflichtige auf Vorhersehbarkeit und Planungssicherheit von Beginn an, nämlich bei Verwirklichung des steuerrechtlichen Tatbestandes angewiesen ist260. Meist dauert es Jahre, bis der vom Bundesverfassungsgericht zugrunde gelegte Konkretisierungsgrad erreicht ist, dann ist die nunmehr durch Mitwirkung der Rechtsunterworfenen erfolgreich konkretisierte Norm aber wie im Fall der Mindestbesteuerung des §  2 Abs. 3 Sätze 2–8 EStG a.F., die zum Zeitpunkt des Zurückweisungsbeschlusses bereits ersetzt war, in der Regel gar nicht mehr in Kraft, sondern durch eine neue, oft nicht minder komplexe Rechtslage ersetzt. cc) Rechtsanwendungsgleichheit und Befolgbarkeit als Hebel? Das Hauptproblem der Regelungsdichte, die manche Steuergesetze mittlerweile erreicht haben, liegt darin, dass sie in der Fläche nicht mehr vollziehbar sind. Die Finanzverwaltung selbst beklagt einen Vollzugsnotstand261. Ob die Norm befolgt wurde, ob sie gar richtig befolgt wurde, kann bestenfalls noch stichprobenhaft überprüft werden. Das wäre dann unproblematisch, wenn die Stichprobe die Gesetzmäßigkeit des Gesamtvollzugs sichert. Dies setzt jedoch voraus, dass der Steuerpflichtige nicht nur gewillt, sondern auch in der Lage ist, die Norm zu befolgen. Genau hieran fehlt es aber bei der undurchschaubar komplexen Rechtslage ebenso wie bei Normen, die ein Maß an Informationsbeschaffung durch den Steuerpflichtigen voraussetzen, das 258 BVerfG v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06, BVerfGE 127, 335; strenger der österreichische VfGH v. 29.6.1990 – G 81/90, Slg. 12420/1990. 259 Towfigh, Der Staat 48 (2009), 29 (32), zurückgeführt auf Manning, Hyperlexis – Our National Disease, Northwestern University Law Rev. 71 (1976–1977), S. 767. 260 Zu dieser freiheitsrechtlichen Dimension der Gebote der Normenbestimmtheit und Normenklarheit Bartone in Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd. 1 (2009), S. 305 (312 f.). 261 Schriftenreihe des Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung, Probleme beim Vollzug der Steuergesetze, 2006, S. 20 Fn. 2 mit Zitat der sog. „Burghausener Resolution“ der oberbayerischen Finanzamtsleiter vom April 2002: „Das Steuerrecht hat einen Zustand erreicht, der für alle Betroffenen unzumutbar geworden ist. Es ist in weiten Teilen unübersichtlich, unpraktikabel, unverständlich und unbeständig“; ferner Schenke/ Lösel in Stober/Ohrtmann (Hrsg.), Compliance, 2015, § 21 II. Rz. 1944 ff. Neu ist dieser Befund nicht, s. auch schon Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 17.

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tatsächlich nicht erfüllbar ist. Dies betrifft insbesondere Normen, die an das vom Steuerpflichtigen nicht unmittelbar beobachtbare und beeinflussbare Verhalten Dritter anknüpfen262. Hier ist es eher dem Zufall überlassen, ob die Tatbestandsverwirklichung auffällt. Damit gleicht die Situation in vielerlei Hinsicht dem Vollzugsdefizit bei der Zinsbesteuerung. Zwar fehlt es an der einzelnen Norm, die wie §  30a AO  a.F. in widersprüchlicher Weise den Vollzug strukturell verhindert. Dem ist jedoch die Situation gleichzusetzen, dass das materielle Recht so komplex ist, dass es, wenn überhaupt, nur noch näherungsweise befolgbar und vollziehbar ist. Auch dann handelt es sich um ein strukturelles Vollzugsdefizit, das selbst mit einer Aufstockung personeller Ressourcen realistischerweise nicht lösbar ist. Der Vollzug ist zwar nicht rechtlich, dafür aber tatsächlich (objektiv) unmöglich. Es regiert der Zufall, nicht das Gesetz. Auch der Vorlagebeschluss zur Mindestbesteuerung hatte diesen Zusammenhang zwischen dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit und den Anforderungen des Gebots der Normenklarheit hergestellt263. Christian Waldhoff hat diesen Gedanken für die §§  7–14 AStG ausgearbeitet264, Roman Seer und Klaus Michalowski für die §§ 13a–13c ErbStG265. dd) Klärungsbedarf Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Zurückweisungsbeschluss zur §  2 Abs. 3 EStG-Vorlage den Eindruck erweckt, es wolle sich mit der Sache nicht befassen. Doch alle schöne Art. 3 GG-Dogmatik, ausgeführt an der materiell-rechtlichen Einzelnorm, nützt nichts, wenn unter der materiell-rechtlichen Oberfläche Beliebigkeit der Normanwendung schwärt, weil sich in einem übermäßig komplizierten Normgeflecht die Rechtsanwendung im besten Fall auf das Ungefähre beschränkt. Wenn man dem unklaren Regelungsplan schon nicht mit den Geboten der Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit begegnen kann, dann wäre eine eindeutige Positionierung des Bundesverfassungsgerichts zur Hyperlexie ein wichtiges Zeichen, das den gesamten Gesetzgebungsstil verändern könnte. Der judicial self-restraint gebietet hier aus meiner Sicht keine Zurückhaltung. Die Forderung nach gleichmäßig anwendbarem Recht begründet keinen unzulässigen Eingriff in den Herrschaftsbereich des Gesetzgebers. Führt man die Sorge der Kon­ stitutionalisierungsgegner auf die Betonung des Demokratieprinzips zurück, so dürf262 Das sind etwa die Behandlung beim Empfänger einer Zahlung (§ 4j EStG), Vorgänge im Konzern aus der Sicht untergeordneter Gesellschaften (§  8c Abs.  1 KStG, §  8a Abs.  3 KStG) oder Umstrukturierungen folgende Vorgänge außerhalb des Einflussbereichs des Steuerpflichtigen (§ 6 Abs. 5 Satz 4 ff. EStG). 263 So BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167 (172) Rz. 43, im Vorlagebeschluss zur Mindestbesteuerung, vom BVerfG im Zurückweisungsbeschluss (BVerfG v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06, BVerfGE 127, 335) nicht aufgegriffen. 264 Waldhoff, StuW 2013, 121 ff.; Waldhoff/Grefrath, IStR 2013, 477 ff. 265 Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609 (614 ff.; 622).

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ten gegen die Disziplinierung des Gesetzgebers keine Einwände bestehen. Gerade die Komplexität des Steuerrechts ist in hohem Maße undemokratisch, weil nur die Eliten – jene durch die gescholtenen Lobbyisten266 gut vertretenen Gruppen – sich die Komplexität des Steuerrechts zunutze machen können. Auch verhindert die Komplexität der Gesetze, dass deren Inhalt im parlamentarischen Prozess überhaupt angemessen verhandelt werden kann267. Nirgends versagt die demokratische Kontrolle ebenso wie die rechtsstaatliche stärker als gegenüber der Superkomplexität. Ein erneuter Vorstoß sollte über ein Art. 100 GG-Verfahren aus der Finanzgerichtsbarkeit kommen und das Bundesverfassungsgericht sollte es ernst nehmen, wenn Finanzrichter ein Steuergesetz für nicht mehr gleichheitssatzkonform anwendbar erachten. Genügend Material für eine solche Entscheidung existiert. Geltend gemacht werden müsste, ähnlich wie in den Verfahren zur Zins- und Spekulationsgewinnbesteuerung die Diskrepanz zwischen dem Potential der Norm und ihrer tatsächlichen Anwendung. e) Die Tatsachenebene – Steuerwirkungen und Empirie im verfassungs­ gerichtlichen Verfahren Doch wie lassen sich die Anwendbarkeit und Rechtsbefolgung verhindernde Komplexität und Vollzugsdefizite in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht beweisen, müssen sie überhaupt bewiesen werden und von wem? Damit ist man bei einer weiteren Schwachstelle steuerverfassungsrechtlicher Verfahren angelangt – der Tatsachenebene. Diese spielt nicht nur bei der Frage, ob Normen tatsächlich noch vollziehbar sind, eine Rolle, sondern durchzieht die gesamte verfassungsrechtliche Würdigung des Steuerrechts. Das Bundesverfassungsgericht selbst stellt den Bezug zwischen Normebene und Tatsachenebene über die Figur der Gleichmäßigkeit im (tatsächlichen) Belastungserfolg her268. Das rückt die Frage der Steuerinzidenz in den Blick der verfassungsrechtlichen Würdigung, denn vielfach wird tatsächlich ein anderer als der gesetzlich bestimmte Steuerschuldner belastet. Indirekte Steuern sind auf Überwälzung angelegt, sie müssen überwälzt werden, um den gesetzlich intendierten Belastungserfolg zu erreichen. Aber auch direkte Steuern können ihre Wirkungen statt beim Steuerschuldner bei einem Dritten entfalten. Grundsätzlich kann jede Steuer überwälzt werden269. Die Kernbrennstoffsteuerentscheidung weist den richtigen Weg, wenn sie zunächst auf die gesetzgeberische Intention abstellt270. Die verfassungsrechtliche Würdigung muss vom intendierten Steuerträger ausgehen. Dabei kommt es grundsätzlich nur auf

266 Lepsius, JZ 2014, 488 (500). 267 Towfigh, Der Staat 48 (2009), 29 (61 ff.). 268 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (268); grundlegend hierzu Seer in Tipke/Kruse, § 85 AO Rz. 14 f. (2017). 269 Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 7. Aufl. 2015, Kap. 4. 270 BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, BVerfGE 145, 171 (219 f.) Rz. 135 f.

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Überwälzbarkeit, nicht auf tatsächliche Überwälzung im Einzelfall an271. Allerdings darf die Überwälzbarkeit nicht einfach unterstellt werden. Zeigt sich, dass eine Überwälzung flächendeckend misslingt, was wiederum eine gegebenenfalls durch Beweiserhebung zu ermittelnde Tatsache ist, muss dem bei der Rechtfertigung Rechnung getragen werden. Eine nicht überwälzbare Verbrauchsteuer wird zur Unternehmensteuer, deren Bemessungsgrundlage allerdings nur schwer zu rechtfertigen sein dürfte. Andererseits steht auch die volle (tatsächliche) Abwälzbarkeit auf einen Dritten der verfassungsrechtlichen Beschwer des Steuerschuldners nicht entgegen. So lässt sich etwa der verfassungsrechtlichen Beschwer von Unternehmen nicht entgegenhalten, Steuerträger könne stets nur die natürliche Person sein, wenn die Steuer wie im Fall der Ertragsteuern an der Leistungsfähigkeit des Unternehmens anknüpft. Dies folgt für Unternehmensteuern schon aus Art. 19 Abs. 3 GG. Auch wenn Unternehmen im Sinn eines Konsumopfers keine Steuern tragen können, sind sie grundrechtlich gegen den Steuereingriff geschützt. Auch die Eignung von Lenkungsnormen lässt sich nur empirisch ermitteln. Mag man dem Gesetzgeber auch einen noch so großen Beurteilungsspielraum zugestehen, so kann dies die erwiesenermaßen wirkungslose Norm nicht rechtfertigen. Der verfassungsrechtliche Kontrollmaßstab verändert sich mit dem Zeitablauf und den über die Normwirkung erworbenen Erkenntnissen272. Die gesetzgeberische Prärogative berechtigt, sobald gesicherte Tatsachen vorliegen, nicht zur Fiktion. Die Tatsachenebene entscheidet über die Eignung der Norm. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, wie sich Steuerwirkungen nachweisen lassen und wann diese hinreichend gesichert sind, sodass sie dem Gesetzgeber entgegengehalten werden können. Zwar eröffnet §  26 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht weitreichende Möglichkeiten der Beweiserhebung, es ist im Einsatz aber sehr frei und wird auch unter prozessökonomischen Gesichtspunkten entscheiden. Trotz alledem darf die Bedeutung der Rechtstatsachen nicht unterschätzt, können Wirkungen nicht einfach unterstellt werden. Das Bundesverfassungsgericht teilt nicht die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Es entscheidet ex post und verfügt damit über Erfahrungswerte, die es zu ermitteln gilt273. Dahinter steht noch ein grundlegenderer Konflikt, nämlich die Frage, wie stark ökonomische Erkenntnis in die steuerverfassungsrechtliche Würdigung Einzug halten sollte274. Christian Waldhoff warnt zu Recht vor Methodensynkretismus275. So verlockend es ist, Neutralität und Allokationseffizienz in Fragen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung umzuformen276, liegen sie auf unterschiedlichen Ebenen. Der demokra271 BVerfG v. 1.4.1971 – 1 BvL 22/67, BVerfGE 31, 8 (20), krit. Spilker, BB 2017, 1758 (1759). 272 Zu den sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Analyse tatsächlicher Gesetzeswirkungen Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017, S. 137 ff. 273 Krit. gegenüber dem Umgang des BVerfG mit der Tatsachenebene Brink in Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd. 1 (2009), S. 3 (26 ff.). 274 Siehe hierzu auch schon oben III.1.b). 275 Waldhoff in Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des Steuerrechts, 2009, S. 125 (153). 276 In diese Richtung vor allem J. Lang, StuW 1990, 107 (115); zu den Neutralitätsgrundsätzen in der steuerrechtlichen Diskussion vgl. auch Wagner, StuW 1992, 2 (6 f.).

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tisch legitimierte Gesetzgeber ist nicht auf ein ökonomisch optimales Steuersystem – so es das überhaupt gibt – verpflichtet277. Die finanzverfassungsrechtliche Ordnung – Vorbedingung ökonomischer Rationalität eines Steuersystems – ist Ausdruck eines politischen Prozesses. Die Grundrechte garantieren individuellen Schutz des Einzelnen vor gleichheitswidriger und unverhältnismäßiger Inanspruchnahme, ihnen fehlt die Perspektive des Gesamtsystems. Ökonomisch begründete normative Aussagen müssen daher bei der verfassungsrechtlichen Kontrolle des Steuereingriffs außen vor bleiben. Ganz anders sieht dies aus für die Erkenntnisse der ökonomischen Steuerwirkungsforschung. Sie müssen sowohl für die gleichheitsrechtliche als auch freiheitsrechtliche Beurteilung von Steuerrechtsnormen herangezogen werden278. f) Steuerkonkurrenzen – Addition und Saldierung Steuerwirkungen spielen auch eine Rolle, wenn es um die Ermittlung der Gesamtbelastungswirkung einzelner Steuern oder gar des gesamten Steuersystems geht. Rechtlich vermittelt wird die Gesamtbelastung über eine Vielzahl von Einzelnormen, deren verfassungsrechtliche Würdigung per se ausschnitthaft sein muss, weil Verfahrensgegenstand der einzelne Tatbestand ist und nicht gleichzeitig noch eine Vielzahl anderer Normen in den Blick genommen werden kann, die sich möglicherweise verschärfend oder auch entlastend auswirken279. Gleichzeitig ist das Steuerrecht ein Paradebeispiel kumulativer und additiver Grundrechtseingriffe. Mehrere für sich betrachtet möglicherweise angemessene oder zumutbare Eingriffe können in ihrer Gesamtwirkung zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung führen, die das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität überschreitet280. Das Bundesverfassungsgericht281 misst kumulativen oder „additiven“ Grundrechtseingriffen ein spezifisches Gefährdungspotential für grundrechtlich geschützte Freiheiten bei. Ob eine Kumulation von Grundrechtseingriffen das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität noch wahrt, hängt von einer Abwägung aller Umstände ab, in die auch gegenläufige Verfassungsbelange einzubeziehen sind. Christian Seiler hat hieraus in seinem Referat anlässlich der 2015er Staatsrechtslehrertagung die Forderung nach einer umfassenden Steuerkonkurrenzlehre abgeleitet282. So faszinierend diese Idee ist, liegt ihr letztlich ein aus vielen Gründen problematisches Alleinsteuerkonzept zugrunde, das sich nicht ohne weiteres mit der 277 Vgl. Homburg, FR 2007, 717 (723, 728) zur Zinsschranke: Der Gesetzgeber darf ökonomisch törichte Normen beschließen und macht von diesem Recht ausgiebig Gebrauch. 278 Ebenso Englisch, VVDStRL 75 (2016), 395. 279 G. Kirchhof, Beihefter zu DStR 49/2009, 135 (136); s. hierzu auch Eichberger, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 361 ff. 280 BVerfG v. 27.3.2012 – 2 BvR 2258/09, BVerfGE 130, 372 (392) Rz. 59. 281 BVerfG v. 12.4.2005 – 2 BvR 581/01, BVerfGE 112, 304 (319 f.); v. 13.9.2005 – 2 BvF 2/03, BVerfGE 114, 196 (247); v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08, BVerfGE 123, 186 (266); im Anschluss Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg v. 20.7.2017  – 2 S 1671/16, KStZ 2017, 194 (198 f.). 282 Seiler, VVDStRL 75 (2016), 333 (362 ff.).

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gesetzgeberischen Entscheidung für ein Vielsteuersystem vereinbaren lässt283 und zudem die Suche nach der Norm, die die Gesamtbelastung verfassungswidrig macht, praktisch unmöglich erscheinen lässt. Gewisse Vorzeichnungen gibt es jedoch in den Gleichartigkeitsverboten des europä­ ischen Mehrwertsteuerrechts284 und des Art. 105 Abs. 2a GG. Wird durch mehrere Steuern anhand desselben Sachverhalts auf ein und dieselbe Quelle steuerlicher Leistungsfähigkeit bei ein und demselben Steuerschuldner oder Steuerträger zugegriffen, so müssen die Eingriffe zusammengefasst werden285, und zwar unabhängig von technischen Unterschieden der tatbestandlichen Anknüpfung286. Ferner können und müssen Normen zusammengefasst werden, die vom Gesetzgeber unmittelbar aufeinander bezogen werden287, wobei die Frage, ob Belastungen durch Entlastungen ausgeglichen werden, nicht vom Willen des Gesetzgebers, sondern von den tatsächlichen Belastungswirkungen abhängt. Bei der Frage, wie exakt der Ausgleich zu erfolgen hat, ist dem Gesetzgeber ein Typisierungsspielraum zuzugestehen. Voraussetzung ist freilich, dass es überhaupt einen zu kompensierenden Vorteil bzw. Nachteil gibt. So stellt bspw. der Abgeltungsteuersatz von 25 % für den Bezieher von Kapitaleinkünften, dessen individueller Steuersatz unter 25 % liegt, keinen Vorteil dar, der zur Kompensation eines anderweitigen Nachteils herangezogen werden könnte. Auch verbietet sich im Rahmen des Individualrechtsschutzes eine Gesamtbetrachtung aller denkbaren Verrechnungsmöglichkeiten von Be- und Entlastungen (z.B. im Rahmen der Abgeltungsteuer niedriger Steuersatz vs. Bruttobesteuerung, Bruttobesteuerung vs. Sparerpauschbetrag, Vereinfachung vs. Mehrbelastungen durch Bruttobesteuerung). Vielmehr müssen die gerügte Einzelnorm und die konkrete Situation des Klägers den Ausgangspunkt bilden. Die Saldierung lässt nicht bereits die Ungleichbehandlung entfallen288, sondern ist im Rahmen der Rechtfertigung zu berücksichtigen. Gleichen sich Vor- und Nachteile dann nicht exakt und in jedem Einzelfall aus, ist zu prüfen, ob dies als Typisierung noch hinnehmbar ist.

283 Das konzediert letztlich auch Seiler, VVDStRL 75 (2016), 333 (363), kommt dann aber etwa für die Ausgestaltung der Erbschaftsteuer im Verhältnis zur Einkommensteuer des Erblassers zu sehr weitreichenden Schlussfolgerungen (a.a.O., 351 ff.; 359 ff.). 284 Art. 401 MwStSyst-Richtlinie (Richtlinie 2006/112/EG des Rates v. 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. EG L 347/65 v. 11.12.2006). 285 Ähnlich G. Kirchhof, Beihefter zu DStR 49/2009, 135 (137). 286 Insofern zu restriktiv die Rspr. des BVerfG zu Art. 105 Abs. 2a GG, vgl. Seer in Tipke/ Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 2 Rz. 50. 287 Ausf. hierzu Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), 226. 288 A.A. Eichberger, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 501 ff.

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V. Zukunftsfragen 1. Herausforderungen des Steuerrechts – Zukunftsfragen des ­Steuerverfassungsrechts Steuergesetze werden nicht aus der Verfassung abgeleitet, sondern an ihr gemessen, daher folgt die Entwicklung des Steuerverfassungsrechts der Steuergesetzgebung. Welche Fragen die Karlsruher Richter in Zukunft zu beantworten haben, hängt von der zukünftigen Entwicklung des Steuerrechts ab. Die Zukunftsfragen des Steuerverfassungsrechts ergeben sich aus den Zukunftsfragen des Steuerrechts. Da das Steuerrecht keinen Lebensbereich ausspart, ist es in besonderer Weise dem Wandel der Lebensverhältnisse ausgesetzt. Von der Energiewende über die Liberalisierung des Familien- und Eherechts bis hin zu den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft oder drohendem Fachkräftemangel – all das bildet sich im Steuerrecht und im dieses begrenzenden Steuerverfassungsrecht gleichermaßen ab. Zentrale Herausforderungen liegen in der Digitalisierung und Globalisierung. Der Umbau des gesamten Steuersystems mit Blick auf den Wettbewerb der Staaten um mobile Steuerquellen ist in vollem Gange. Dies sind keine neuen Phänomene, doch fortschreitende Digitalisierung der Wirtschaft erhöht die Mobilität in bisher unbekanntem Ausmaß. Die virtuelle Welt lässt sich leichter gestalten und dem in den traditionellen Bahnen verlaufenden Steuerzugriff entziehen als die Schwerindustrie. Dies engt die Spielräume des Steuergesetzgebers weit mehr ein, als es das Steuerverfassungsrecht jemals könnte. Der Versuch, durch internationale Kooperation den Wettbewerbsdruck zu lindern und Gestaltungsmacht zurückzugewinnen, war bisher nicht sonderlich erfolgreich289. Daran wird auch das Eintreten der Europäischen Union, die sich ebenfalls die Bekämpfung von Steuerwettbewerb und Steuerverlagerung auf die Fahnen geschrieben hat290, nichts ändern. Wohl aber führt weitergehende europäische Harmonisierung zu einer Veränderung der steuerverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, da diese sich vom Bundesverfassungsgericht auf die Europäische Ebene verlagern. Schließlich wird das Steuerrecht Antworten geben müssen auf die „digitale Revolution“, die nicht nur zu einer Digitalisierung der Wirtschaft führt, sondern auch vor dem Recht nicht Halt machen wird. Möglicherweise wird es zu ganz neuen Besteuerungsformen kommen, die das bestehende, auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückzuführende Steuersystem ablösen werden.

289 Neue Runde des globalen Steuerwettbewerbs in der Post-BEPS Ära, vgl. etwa Bender, BB 39/2017, Die erste Seite; verschärft durch die US-Steuerreform Bärsch/Olbert/Spengel, DB 2017, 1676 (1679 f.). 290 Hierzu Hey, DStJG 41 (2018), S. 9 ff.

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2. Steuerverfassungsrecht im internationalen Kontext a) Doppelbesteuerung – Doppelte Nichtbesteuerung – Steuerwettbewerb Über die Frage, wie Leistungsfähigkeit beim Aufeinandertreffen der Steueransprüche mehrerer Staaten zu definieren ist, wird wissenschaftlich intensiv diskutiert291. Das Steuerverfassungsrecht hat im Bereich des Internationalen Steuerrechts dagegen bisher keine prägende Rolle gespielt292. Das Bundesverfassungsgericht ist ebenso wenig wie der Europäische Gerichtshof ein Ort zur Entscheidung des Konflikts der Staaten um Steuersubstrat. National werden Besteuerungskonflikte durch die Finanzverfassung verhindert. Auf internationaler Ebene, selbst auf europäischer, fehlt es an einem Regelwerk der Zuordnung von Besteuerungsansprüchen. Selbst der Grundsatz der Territorialität wirkt eher faktisch, indem er die Durchsetzbarkeit begrenzt. Materiell-rechtlich lassen sich nahezu beliebig territoriale Anknüpfungen – unterschiedlicher Intensität – konstruieren. Gegen Doppelbesteuerung aufgrund des unabgestimmten Zusammentreffens der Steueransprüche mehrerer Staaten bieten weder die europäischen Grundfreiheiten293 und noch viel weniger die nationalen Grundrechte Schutz. Interessant ist, ob es eine verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers gibt, doppelte Nichtbesteuerung und internationale Steuerflucht zu verhindern. Die systematische Umsatzsteuerhinterziehung chinesischer Händler, die ihre Waren über Online-Plattformen auf dem deutschen Markt anbieten, verschafft diesen erhebliche Wettbewerbsvorteile. Aber lässt sich ein (verfassungsrechtlicher) Anspruch der Mitbewerber auf staatliches Einschreiten begründen? Und wie wäre ein solcher einklagbar? Denkbarer Anknüpfungspunkt wäre ein aus Art. 12, 14 GG abgeleiteter Schutz vor Wettbewerbsverzerrungen, der freilich schon gegenüber durch den nationalen Steuergesetzgeber gewährten Steuervergünstigungen versagt294. b) Grundrechtliche Folgefragen zu Gestaltbarkeit und Missbrauchs­ bekämpfung Der Gesetzgeber antwortet auf die gesteigerte Mobilität mit Abwehrgesetzgebung, ohne dass es sich hierbei um klassische Missbrauchsabwehr handelt. In erster Linie geht es um die Einschränkung der Gestaltbarkeit der Steuerlast. Welche Vorgaben das Verfassungsrecht für die Bekämpfung von steuerlichem Missbrauch und Steuergestaltungen macht, ist bisher nur in Ansätzen und nur im nationalen Kontext geklärt. Dabei geht es sowohl um Grenzen als auch um – bereits soeben angesprochene – Pflichten zur Bekämpfung steuerlichen Missbrauchs. 291 S. nur Schaumburg in v. Freeden/Häck/Schaumburg (Hrsg.), Internationales Steuerrecht, 4. Aufl. 2017, Rz. 6.53 ff. 292 Zur Verfassungsmäßigkeit von Treaty Overrides s. Lehner, Zusammenspiel von Völkerrecht und nationalem Recht, in FS 100 Jahre BFH, S. 1009 ff. 293 Grundlegend EuGH v. 14.11.2006 – C-513/04, ECLI:EU:C:2006:713 – Kerckhaert Morres; EuGHE 2006, I-10967. 294 S. oben IV.2.c).

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Die Gestaltbarkeit der Steuerbelastung spielt eine ambivalente Rolle in der bisherigen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. Einerseits gehört es zu einer der frühen Erkenntnisse Karlsruher Rechtsprechung, dass der Steuerpflichtige sich – innerhalb der geltenden Gesetze  – so einrichten darf, dass er möglichst wenig Steuern zahlen muss295. Dieses Recht zur Steuergestaltung wird quasi zur Pflicht, wenn das Bundesverfassungsgericht die Gestaltbarkeit als eine Art verfassungsrechtliche Selbsthilfe in die Rechtfertigung ungleicher Belastungen einbezieht und diese gutheißt, weil man sich ihnen – gesetzt den Fall, man ist entsprechend beraten (Dummensteuereffekt!) – entziehen kann296. Einerseits liegt es auf der Grundlage klassischer Art. 3 GG-Dogmatik, die Möglichkeit von ausweichenden Verhaltensänderungen in die Rechtfertigungsprüfung als Kriterium der Schwere der Grundrechtsverletzung mit einzubeziehen (Anknüpfung an unabänderliche persönliche Merkmale versus verhaltensbedingte Merkmale)297. Andererseits stellt es Eignung und Erforderlichkeit der zu rechtfertigenden Norm fundamental in Frage, wenn nur ihre Nichtanwendung ihre Existenz rechtfertigt. Eine Gelegenheit zur Auflösung dieses Dilemmas bietet die BFH-Vorlage298 zur Anwendung von § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG auf Schwesterpersonengesellschaften. Gleichzeitig macht der Erste Senat im Erbschaftsteuerurteil dem Gesetzgeber die Vorgabe, die Gestaltungsanfälligkeit zu verhindern, jedenfalls da, wo es um Steuervergünstigungen geht299. Dies folgt aus der Vorgabe, dass Steuervergünstigungen ­zielgenau auszugestalten sind. Weitergehende Schlussfolgerungen für Fiskalzwecknormen, etwa eine Pflicht, die Möglichkeiten internationaler Steuergestaltung zu bekämpfen, lassen sich m.E. nach nicht ableiten. Schließlich geht es um verfassungsrechtliche Vorgaben für eine verhältnismäßige spezialgesetzliche Missbrauchstypisierung, die eine zentrale Rolle im § 8c KStG-Beschluss gespielt haben300. Allerdings besteht im internationalen Kontext die Schwierigkeit, dass der Gesetzgeber etwa mit (pauschalen) Korrespondenzregeln nicht nur Missbrauch abwehrt, sondern viel allgemeiner Besteuerungslücken fehlender internationaler Abstimmung zu schließen versucht. Die Zinsschranke ist ein gutes Beispiel für diesen heterogenen Normtyp. Es stellen sich sehr grundsätzliche Fragen, wie sich ein im internationalen Kontext gestaltungsfestes und ergiebiges Steuerrecht mit den traditionellen Anforderungen an eine gleichheitssatzkonforme und leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung vereinbaren lässt301. Dies schlägt sich zum einen in der Privilegierung besonders mobiler Einkünfte nieder, zum anderen greift der Gesetz295 Vgl. BVerfG v. 14.4.1959 – 1 BvL 23/57, BVerfGE 9, 237 (250). 296 BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (51 ff.). 297 Osterloh/Nußberger in Sachs (Hrsg.), 8. Aufl. 2018, Art. 3 GG Rz. 32 mit Nachweisen der entspr. Rspr. 298 BFH v. 10.4.2013 – I R 80/12, BStBl. II 2013, 1004 (Az. BVerfG: 2 BvL 8/13). 299 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, 5. Leitsatz. 300 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106 (153 f.) Rz. 126 ff. 301 Zu den verfassungsrechtlichen Implikationen einer „Besteuerung nach Mobilität“ schon Hey in StbJb. 2007/08, S. 19 (43 ff.); ferner aufgeworfen von Di Fabio, JZ 2007, 749 (753 f.).

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geber, um ein Auseinanderfallen von Ertrags- und Aufwandstatbeständen zu vermeiden und auch für grenzüberschreitende Sachverhalte ein bestimmtes Mindeststeuerniveau herzustellen, zunehmend zu Elementen einer Bruttobesteuerung (z.B. §§ 4h, 4j EStG; § 8 Nr. 1 f) GewStG). Die Vorlage des I. Senats des Bundesfinanzhofs302 zu § 4h EStG gibt dem Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Einordnung. Von großer Bedeutung sind gerade im Kontext internationaler Gestaltungsbekämpfung die Anforderungen an Existenz und Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlagen der Besteuerung303. Der internationale Steuerwettbewerb hat im Zuge der BEPS-­ Initiative Fragen der Steuermoral eine unerwartete Öffentlichkeit beschert. Es wird nicht mehr (nur) nach der Legalität, sondern nach der Legitimität von Steuergestaltungen gefragt, freilich ohne dass hierfür klare Maßstäbe existieren. Werden in der öffentlichen Debatte die Grenzen zwischen Legalität und Legitimität, zwischen ­Steuergesetz und Steuermoral verwischt, so muss das Bundesverfassungsgericht die Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung umso höher halten304. Steuerrecht bleibt streng durch den Vorbehalt des Gesetzes und den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit gebundenes Eingriffsrecht. c) Finanzverfassungsrechtliche Folgefragen zu neuen Besteuerungsformen Soweit die Globalisierung und der internationale Steuerwettbewerb das Steuersystem in seiner Zusammensetzung verändern305, hat der Gesetzgeber, legt man die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde, weitgehend freie Hand. Die Erfindung neuer Steuern – etwa einer Ausgleichsteuer für digitale Umsätze auf europäischer Grundlage306  – mag eine Änderung der Finanzverfassung erzwingen. Ob dies gelingt, ist eher eine politische als eine rechtliche Frage. Im Übrigen würde das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung für neue Steuergegenstände nur einer groben Willkürkontrolle unterwerfen. Die Hinwendung zu einer noch stärkeren Belastung des Konsums und zur Besteuerung immobiler Faktoren verändert zwar die Verteilungswirkungen des Steuersystems, liegt aber in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, zumal die Robustheit gegen Steuerverlagerung die Entscheidung etwa für eine höhere Grundsteuer auch sachlich begründen würde. Allerdings steigen mit wachsender Belastungswirkung die inhaltlichen Anforderungen an eine gleichheitssatzkonforme Ausgestaltung.

302 BFH v. 14.10.2015 – I R 20/15, BStBl. II 2017, 1240 (Az. BVerfG: 2 BvL 1/16). 303 S. Kaeser, IStR 2017, 688 ff. 304 Schaumburg, ISR 2016, 371 (373); vgl. auch Pinkernell, IStR 2013, 619 (623); Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 3 Rz. 2. 305 Dies verkennt Droege, JöR 64 (2016), S. 539 (546), der meint, die Globalisierung werde nur in den traditionellen Formen des internationalen Steuerrechts abgearbeitet. 306 EU-Kommission, Mitteilung für ein faires und effizientes Steuersystem in der Europäischen Union für den digitalen Binnenmarkt, COM(2017) 547 final v. 21.9.2017.

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Entwicklung und Zukunft des Steuerverfassungsrechts

3. Steuerverfassungsrecht im europäischen Kontext Die Europäischen Grundfreiheiten beschneiden die Gestaltungsfreiheit des nationalen Gesetzgebers sehr viel stärker als die Grundrechte des Grundgesetzes307. Grundsätzlich könnten beide Regime koexistieren, weil die Europäischen Grundfreiheiten lediglich Gleichbehandlung von In- und Auslandssachverhalten fordern und damit Art. 3 Abs. 1 GG, der keine grundsätzliche Gleichbehandlung von In- und Auslandssachverhalten fordert308, in einem wichtigen Punkt ergänzen. Erstreckt der Gesetzgeber jedoch, um Mindereinnahmen zu vermeiden, nachteilige Regeln auch auf das Inland und gerät er damit in Konflikt mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip und dem Gleichheitssatz, z.B. weil einzelne Aufwandskategorien nicht mehr zum Abzug zugelassen werden, so stellt sich verfassungsrechtlich die Frage, ob der Fiskalzweck im europäischen Kontext anders zu beurteilen ist als im rein nationalen Kontext bzw. ob die Bindung durch die Europäischen Grundfreiheiten rechtfertigende Wirkung entfaltet309. Ob diese Fragen zukünftig vom Bundesverfassungsgericht oder vom Europäischen Gerichtshof beantwortet werden, hängt vom weiteren Harmonisierungsfortschritt ab. Bisher ist die Verlagerung des Steuerverfassungsrechtsschutzes auf die europäische Ebene nur sehr verhalten diskutiert worden310. Das liegt vor allem daran, dass nur das Recht der indirekten Steuern bisher umfassend harmonisiert ist und die Umsatzsteuer auch national eine verfassungsrechtliche Kontrollschwäche aufweist311. Mit zunehmender Harmonisierung des Rechts der direkten Steuern und mit der europarechtlichen Schaffung von Eingriffstatbeständen statt wie bisher vorwiegend Entlastungsnormen wird sich dies ändern, selbst wenn die persönliche Einkommensteuer als Hauptdomäne des Steuerverfassungsrechts ausgenommen bleibt. Bereits die jüngste europäische Missbrauchsgesetzgebung aktiviert das Verhältnis von na­ tionalem und europäischem Steuergrundrechtsschutz. Die Diskussion um die Entscheidungszuständigkeit im Verfahren der mittlerweile europäisch harmonisierten Zinsschranke ist nur ein Vorgeschmack312. Auch massiv sanktionierte Mitwirkungspflichten, wie sie im Entwurf einer Richtlinie zur Einführung einer Meldepflicht für

307 Drüen in FS Spindler, 2011, S. 29 (48); Palm, JöR 64 (2016), S. 457 (470). 308 Zur begrenzten Wirkung des Gleichheitssatzes im Internationalen Steuerrecht Schaumburg in v. Freeden/Häck/Schaumburg (Hrsg.), Internationales Steuerrecht, 4. Aufl. 2017, Rz. 4.11. 309 Krit. Palm, JöR 64 (2016), S. 457 (467), der von einer Deformation des nationalen Steuerrechts durch das europäische Recht ausgeht; BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (253/254): Vereinheitlichung der Besteuerung von In- und Auslandssachverhalten als Rechtfertigungsgrund. 310 Heintzen, JöR 64 (2016), S. 493 (504), leitet daraus ab, sie sei allgemein akzeptiert. 311 S. oben IV.2.b). 312 Mitschke, FR 2016, 412  ff.; Replik Glahe, FR 2016, 829  ff.; Duplik Mitschke, FR 2016, 834 ff.; Lampert/Meickmann/Reinert, Art. 4 of the EU Anti Tax Avoidance Directive in Light of the Questionable Constitutionality of the German „Interest Barrier“ Rule, ET 2016, 323.

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steuerliche Gestaltungen vorgesehen sind313, werfen Fragen der Verhältnismäßigkeit auf. Inwieweit der EuGH oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine ähnliche Rolle spielen wird wie das Bundesverfassungsgericht, scheint angesichts der sehr unterschiedlichen Bedeutung des Steuerverfassungsrechts in den Mitgliedstaaten zweifelhaft314. Im bisher einzigen steuerverfassungsrechtlichen Judikat des EuGH – der E-Book-Entscheidung315 – fällt die Gleichheitssatzprüfung holzschnittartig aus; der Rechtfertigungsmaßstab läuft auf eine reine Willkürprüfung hinaus. Dringlich erscheint vor diesem Hintergrund eine Stärkung des steuerverfassungsrechtlichen Rechtsvergleichs316. Statt sich national über ein Zuwenig oder Zuviel verfassungsrechtlichen Steuerrechtsschutzes zu streiten, muss die Anschlussfähigkeit gewahrt bleiben, nicht nur, indem die ungewöhnliche Stärke des Steuerverfassungsrechts in Deutschland betont wird317, sondern indem Parallelen steuerverfassungsrechtlicher Kontrolle im Ausland gesucht werden, die es in Österreich, aber auch in Spanien, Italien und Frankreich durchaus gibt, oder Gründe herausgearbeitet werden, warum in anderen Staaten – wie z.B. dem Vereinigten Königreich – keine vergleichbaren Schutzmechanismen entwickelt wurden318. Nur auf einer derartigen Grundlage besteht überhaupt eine Chance, dass Europäische Gerichte eine wirksame steuerverfassungsrechtliche Kontrolle entwickeln werden. Wie problematisch die Überlagerung des nationalen Verfassungsrechts durch das Europarecht ist, macht das Beihilferecht deutlich. Zwar enthält auch das Europarecht die Prinzipien des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit319, doch der EuGH hält nationale Maßnahmen für schlechterdings ungeeignet, Vertrauensgrundlagen zu schaffen320, und stellt damit den effet utile des Beihilfeverbots über elementare Prinzipien staatlichen Eingriffsrechts. Die Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung erfährt eine massive Einschränkung, wenn auf diese Weise nicht nur das Vertrauen in bestehende Gesetze, sondern noch weitreichender das gesamte Bestandsschutzkonzept der §§ 172 ff. AO außer Kraft gesetzt wird. 313 Art. 25a des Entwurfs einer Richtlinie zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen (Rat der EU, Dossier 2017/0138 (CNS) v. 3.5.2018). 314 Hierzu rechtsvergleichend Ohlendorf, Grundrechte als Maßstab des Steuerrechts in der Europäischen Union, 2015; Engler, Steuerverfassungsrecht im Mehrebenensystem, 2014 (zum Vergleich des Schutzes vor Besteuerung durch EMRK, Grundrechtecharta und die nationale Grundrechtsordnung); Tipke in Tipke/Bozza, Besteuerung von Einkommen, 2000, S. 9 (15 f., 30 ff.). 315 EuGH v. 7.3.2017  – C-390/15, ECLI:EU:C:2017:174  – Rzesznik Praw Obywatelskicg (RPO) Rz. 56 ff. 316 Deutlich etwa das diesbezügliche Plädoyer von Joachim Englisch in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S. 521 ff. (insb. S. 524 f.). 317 J. Lang, DStjG 24 (2001), S. 49 (54 f.). 318 Schön, Der Staat 57 (2018), (im Erscheinen). 319 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16, ECLI:EU:C:2017:881 Rz. 40 – Cussens u.a. m.w.N. 320 EuGH v. 20.12.2017  – C-516/16, ECLI:EU:C:2017:1011 Rz.  69  – Agrarmarkt Austria m.w.N.

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4. Steuerverfassungsrecht 4.0: Digitalisierung, Datensammlung, Datenschutz Kein Rechtsgebiet bietet sich so sehr für die Digitalisierung an wie das Steuerrecht321. Dies liegt zum einen an der großen Anzahl gleichgelagerter Entscheidungen im ­Massenfallrecht, zum anderen an den in Zahlen ausdrückbaren Rechtsfolgen. Rudolf Mellinghoff adressiert die sich hieraus ergebenden Fragen, auch die verfassungsrechtlichen, eingehend in dieser Festschrift322. Auch die DStJG-Tagung 2018 greift das Thema auf. Die steuerverfassungsrechtlichen Folgerungen liegen auf sehr unterschiedlichen Ebenen. Zum einen geht es um die Besteuerung der digitalen Wirtschaft323. Gleichheitsrechtlich führt dies zu der Frage, ob der Besteuerungsanspruch im Hinblick auf die besondere Mobilität und internationale Verflechtung der Digitalwirtschaft zurückgenommen werden darf. Aber auch neuartige Besteuerungsformen, die nicht mehr an klassische Leistungsfähigkeitsfaktoren anknüpfen, etwa die Idee der Besteuerung des sog. data mining, werfen  – trotz der beschriebenen Großzügigkeit des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Systementscheidungen324  – die Frage auf, ob es sich noch um sachgerechte Anknüpfungspunkte steuerlicher Leistungsfähigkeit handelt. Zum anderen geht es um die Digitalisierung des Rechts, seiner digitalen Anwendung und dem Rechtsschutz gegenüber vollautomatisierter Rechtsanwendung. Dabei ist heute schwer absehbar, welche Rückwirkungen die Automatisierung der Rechtsanwendung auf die Ausgestaltung des materiellen Rechts hat. Auf der einen Seite erscheint plausibel, dass die Digitalisierung eine Vereinfachung des materiellen Rechts, möglicherweise auch eine Vergröberung voraussetzt, damit das Recht programmierbar wird. Das würde dann wieder eigene Fragen zulässiger Typisierung nach sich ziehen. Denkbar ist aber auch die genau gegenteilige Position, dass ein computergestützter Vollzug die Verarbeitung weit höherer Komplexität ermöglichen wird325. Automatisierung als Lösung des Hyperlexieproblems? Freilich bleibt noch unbeantwortet, wie der Sachverhalt in dieses System eingespeist werden soll. Schon jetzt geht die Digitalisierung mit einem Aufwuchs von Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen und Dritter einher. Es ist aber auch denkbar, dass in der Zukunft die Meldung durch den Steuerpflichtigen durch einen automatischen Datenzugriff, etwa auf Bankdaten, Bewegungsdaten etc. ersetzt wird. Das ist auf den ersten Blick schonend, weil es den Steuerpflichtigen von der Lästigkeit der 321 Heintzen, JöR 64 (2016), S. 493 (495): Computeraffinität. 322 Mellinghoff, Auswirkungen der Digitalisierung im Steuerrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 421 ff. 323 Hierzu Pinkernell, Internationale Steuergestaltung im Electronic Commerce, ifst-Schrift 494 (2014); Kofler/Mayr/Schlager, ET 2017, 523; zu steuerpolitischen Optionen Becker/ Englisch, Wirtschaftsdienst 2017, 801. 324 S. oben IV.2.a). 325 In diese Richtung mit einer differenzierten Analyse der Wechselwirkungen von Verfahrensautomatisierung, gleichheitssatzkonformem Vollzug und materiellem Steuerrecht Ahrendt, NJW 2017, 537 ff.

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aktiven Mitwirkung entbindet, wirft dann aber wieder ganz eigene Fragen informationeller Selbstbestimmung und verfassungsfundierten Datenschutzes326 auf, die weit über das hinausgehen werden, was das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum elektronischen Kontenabruf327 zu beantworten hatte.

VI. Ein Fazit? Einen Beitrag zu Zukunftsfragen mit einem Fazit zu schließen, verbietet sich. Doch erlaubt ist die Feststellung, dass es um den steuerverfassungsrechtlichen Rechtsschutz in Deutschland im Großen und Ganzen gut bestellt ist. Nicht zuletzt ist dies der Finanzgerichtsbarkeit zu verdanken, die sich als aktiver Mitgestalter des Steuerverfassungsrechts versteht. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass auch die vielen weiterhin offenen Fragen und die Herausforderungen der Zukunft im Dialog zwischen Finanzgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgericht bewältigt werden. Die Perspektive einer Verlagerung des steuerverfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes zum Europäischen Gerichtshof stimmt dagegen weniger optimistisch. Hier ist vor allem die Wissenschaft gefordert, Grundlagen eines gesamteuropäischen Steuerverfassungsrechtsschutzes zu erforschen.

326 Schwarz, Datenschutzrechtliche Normen im Steuerrecht und Steuerstatistikrecht, 2017. 327 BVerfG v. 13.6.2007 – 1 BvR 1550/03, BVerfGE 118, 168.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung A. II.

Der Gleichheitssatz im Steuerrecht Von Michael Eichberger

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Von der Willkür über die neue Formel zum stufenlosen Maßstab 1. Willkürformel 2. Neue Formel 3. Stufenloser Maßstab III. Umsetzung und Weiterentwicklung des stufenlosen Prüfungsmaßstabs im Steuerrecht 1. Keine Gleichheitssonderdogmatik im Steuerrecht

2. Struktur der strengen Gleichheits­ prüfung – Beispiel Erbschaftsteuer III a) Prüfungsmaßstab b) Feststellung der Ungleichbehandlung c) Bestimmung der Prüfungsintensität d) Differenzierungsgrund – legitimes Ziel e) Verhältnismäßigkeit der Ungleich­ behandlung IV. Ausprägungen des Gleichheitssatzes 1. Steuergegenstand und Steuersatz 2. Bewertung 3. Lastengleichheit und Leistungsfähigkeit

I. Einführung 100 Jahre Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs bedeuten zugleich seit über 65 Jahren Begleitung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Dialog zwischen beiden Gerichten. Begleitung und Dialog waren über die Jahrzehnte unterschiedlich häufig und auch verschiedenen intensiv, aber immer nah und dicht. Es dürfte wenige Rechtsgebiete geben, in denen es so häufig zu Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gekommen ist, wie im Steuerrecht. Zumeist war der Bundesfinanzhof dabei durch Richtervorlagen direkt oder im Hinblick auf angegriffene Vorentscheidungen indirekt in den Verfassungsprozess involviert. Der in diesen Verfahren über all die Jahre mit Abstand am häufigsten zum Zuge gekommene Prüfungsmaßstab ist der allgemeine Gleichheitssatz. Daneben sind es vor allem das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot1 und immer wieder auch Art. 6 GG2, an denen

1 Vgl. nur aus jüngerer Zeit BVerfGE 127, 1; 127, 31; 127, 61; 132, 302; 135, 1; jew. m.w.N. 2 Vgl. etwa BVerfGE 133, 375; 132, 179; 126, 400; 124, 282; 122, 210; 114, 31; 108, 351; 99, 273; 99, 246; 93, 165; 93, 121; 87, 153; 82, 198; 82, 60; 61, 319; 7, 194; 6, 386; 6, 55.

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sich das Steuerrecht reibt, während Art. 14 GG aus bekannten Gründen bei der Kontrolle von Steuergesetzen eine völlig untergeordnete Rolle spielt3. Angesichts der Dominanz des Gleichheitssatzes als Prüfungsmaßstab für Steuergesetze überrascht, wie diffus und über die Zeit wechselnd der grundrechtsdogmatische Zugang zu diesem Grundrecht ist. Anders als die seit langem jedenfalls in ihrer Grundstruktur gefestigte Eingriffsdogmatik bei Freiheitsrechten befand sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gleichheitssatz insoweit stets in Bewegung – zwar langsam, aber kontinuierlich. Sicher ist es nicht zuletzt dieser steten Bewegung geschuldet, dass sich noch bis in jüngste Zeit Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Gleichheitssatz gerade im Steuerrecht bei der Ausformulierung des Prüfungsmaßstabs in einer Aneinanderreihung aus der bisherigen Rechtsprechung zusammengetragener Obersätze zu Art.  3 Abs.  1 GG erschöpften. Auch aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs kamen insoweit – angesichts der Rollenverteilung zwischen beiden Gerichten verständlicher Weise – keine weiterführenden Impulse. In jüngerer Zeit ist eine neue Dynamik in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gleichheitssatz gekommen. Der folgende Beitrag versucht die Grundlinien dieser Neuausrichtung aufzuzeigen und in die vorhandenen, im Grundsatz bleibenden Strukturen der bestehenden Judikatur zum Prüfungsmaßstab des Gleichheitssatzes im Bereich des Steuerrechts einzuordnen. Der Fokus ist dabei auf die für das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Gerichtsbarkeit – im Übrigen auch die des Bundesfinanzhofs  – häufig weichenstellende Frage der gerichtlichen Prüfungsdichte gerichtet. Nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung des Maßstabs hierfür (II) werden am Beispiel einer strengen Gleichheitsprüfung die zahlreichen, dabei auf allen Prüfungsstufen auftretenden Fragen und die in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierauf gegebenen Antworten erörtert (III). Den Abschluss bilden einige Hinweise auf gefestigte Ausprägungen des Gleichheitssatzes im Steuerrecht (IV), ohne deren Erwähnung die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ungeachtet der hier vorgenommenen Konzentration auf den Prüfungsmaßstab, unvollständig erfasst wäre.

3 Hier befinden sich die Rechtsprechung des Ersten Senats und des Zweiten Senats nach wie vor nicht völlig in Einklang, ohne dass dies allerdings bisher entscheidungserheblich von Bedeutung gewesen wäre. Zur traditionellen Sichtweise, dass Art. 14 GG nicht das Vermögen als solches schone vgl. BVerfGE 4, 7 (17); 8, 274 (330); 93, 121 (137) und nur im Ausnahmefall vor der erdrosselnden Wirkung einer Steuer schütze (BVerfGE 14, 221 [241], st. Rspr.), wohingegen der Zweite Senat Art. 14 GG grundsätzlich gegen den steuerlichen Zugriff in Stellung bringt (vgl. BVerfGE 115, 97 [108, 112 f.] und diese Richtung andeutend bereits BVerfGE 93, 121 [137]). In jüngster Zeit hat der Erste Senat diese Frage mehrfach – teils explizit  – dahinstehen lassen (BVerfGE 135, 126 [141 Rz.  42]; BVerfGE 137, 1 [17 Rz. 37]).

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Der Gleichheitssatz im Steuerrecht

II. Von der Willkür über die neue Formel zum stufenlosen Maßstab Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln4. Abweichungen von diesem Gebot, Ungleichbehandlungen also, bedürfen stets eines rechtfertigenden Grundes. Eine weichenstellende Frage für die Steuerungskraft des Gleichheitssatzes gegenüber dem Gesetzgeber ebenso wie für die Kontrolldichte der gesetzgeberischen Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht ist daher, welchen Spielraum der Gleichheitssatz dem Gesetzgeber im jeweiligen Fall bei der Entscheidung über einen Differenzierungsgrund belässt und – umgekehrt – wie intensiv diese Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht überprüft werden kann und muss. 1. Willkürformel Die ersten Jahrzehnte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Gleichheitssatz waren noch von einer wenig differenzierten Willkürprüfung geprägt. Schon in seinen ersten Entscheidungen hat das Gericht dabei eine Willkürformel zur Anwendung gebracht, die auch heute noch die Grenzen einer bloßen Willkürprüfung umschreibt. Danach ist der Gleichheitssatz dann verletzt, „wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt, kurz, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muss“5. Vielfach wird die Gleichheitsprüfung aber  – insbesondere in älteren Entscheidungen  – ohne nähere Umschreibung dessen, was unter Willkür verstanden wird, vorgenommen6, oder lediglich ohne weitere Differenzierung auf das Fehlen eines sachgerechten oder das Vorliegen eines sachfremden Grundes verwiesen7. 2. Neue Formel In den 1980er Jahren hat das Bundesverfassungsgericht dann die sogenannte „Neue Formel“ entwickelt. Als Geburtsstunde gilt die zu einer Neuregelung des Zivilprozessrechts betreffend die Präklusion von Angriffs- und Verteidigungsmitteln ergangene Entscheidung im 55. Band der Entscheidungssammlung. Danach ist das Gleichbehandlungsgebot „dann verletzt  (…), wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten“8. Die in dieser Formel angelegte Verschärfung der Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund liegt darin, dass die für die Rechtfertigung des Differenzierungsgrundes sprechenden Belange ins Verhältnis gesetzt werden zum Maß der Ungleichbehand4 St. Rspr.; vgl. nur BVerfGE 138, 136 (180 Rz. 121) m.w.N. 5 So wörtlich bereits BVerfGE 1, 14 (52); 1, 208 (247); ganz ähnlich BVerfGE 10, 234 (246). 6 So etwa BVerfGE 1, 332 (346); 4, 31 (42). 7 BVerfGE 3, 288 (338); 4, 144 (155). 8 Vgl. BVerfGE 55, 72 (88).

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lung. Diese neue Formel war indes ihrer Idee nach auf Ungleichbehandlungen von Personengruppen beschränkt. Sie wird bis in die jüngste Zeit wortgetreu in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wiedergegeben9. 3. Stufenloser Maßstab Die zwischen den Polen bloßer Willkürprüfung und strengerer Neuer Formel pendelnde Praxis wurde indessen zunehmend als unzureichende Lösungsfolie wahrgenommen, auf deren Grundlage die zahllosen Gleichheitskonflikte sich nur schwer und zudem wenig vorhersehbar angemessen lösen lassen. Zum einen wurde immer deutlicher, dass sich vielfach kaum unterscheiden lässt, ob eine gesetzliche Differenzierung lediglich Sachverhalte oder auch die hinter den Sachverhalten zumeist auch stehenden Personengruppen trifft. Außerdem hat sich die Zweiteilung als wenig überzeugend erwiesen, wonach die Anforderungen an die Tragfähigkeit eines Differenzierungsgrundes im Wesentlichen zwischen der bloßen Willkürprüfung auf der einen und einer bei der Unterscheidung zwischen Personengruppen strengeren Verhältnismäßigkeitsprüfung auf der anderen Seite schwankt10. Ausgehend hiervon suchte die Rechtsprechung in einzelnen Fallgestaltungen zunehmend Ansätze mitt­ lerer Prüfungsdichte, jenseits der schlichten Willkürprüfung, aber noch nicht im ­Bereich einer strengeren Verhältnismäßigkeitsprüfung. Diese fortschreitende Differenzierung bei der Anwendung des Gleichheitssatzes machte zugleich Kriterien notwendig, anhand derer die Prüfungsdichte im jeweiligen Einzelfall bestimmt werden konnte11. Vorläufiges Zwischenergebnis und ausdrücklich Ausgangspunkt der Rechtsprechung zum stufenlosen Prüfungsmaßstab ist der Beschluss des Ersten Senats vom 21. Juni 201112 zur unterschiedlichen Förderungshöchstdauer der Ausbildungsförderung in alten und neuen Ländern. Die Entscheidung zitiert hier zunächst noch die Neue Formel, fährt dann jedoch fort: „Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen“13. Worauf diese Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Anwendung des Gleichheitssatzes zielt, wird durch die 9 BVerfGE 84, 197 (199); 100, 195 (205); 107, 205 (213); 109, 96 (123); 110, 274 (291); 124, 199 (219 f.); 126, 400 (418); 131, 239 (256); 133, 377 (408). 10 Die Vorstellung von dieser Dichotomie und zugleich das Unwohlsein mit dieser Struktur kommen auch in der Rechtsprechung selbst zum Ausdruck, etwa in der häufig verwendeten Formulierung (z.B. BVerfGE 126, 400 [416]): „Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall das Willkürverbot oder das Gebot verhältnismäßiger Gleichbehandlung durch den Gesetzgeber verletzt ist, lassen sich nicht abstrakt und allgemein, sondern nur bezogen auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen“ (m.w.N.). 11 In diesem Sinne bereits differenzierend etwa BVerfGE 126, 400 (416  f.); 133, 377 (407 Rz. 74). 12 BVerfGE 129, 49. 13 BVerfGE 129, 49 (69).

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Der Gleichheitssatz im Steuerrecht

Erläuterung des Gerichts deutlich, dass Art.  3 Abs.  1 GG nicht nur gebiete, dass die Ungleichbehandlung an ein „der Art nach sachlich gerechtfertigtes Unterscheidungskriterium anknüpft, sondern (…) auch für das Maß der Differenzierung einen inneren Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung (verlangt), der sich als sachlich vertretbarer Unterscheidungsgesichtspunkt von hinreichendem Gewicht erweist“14. Die Dichotomie zwischen Willkürprüfung und Neuer Formel wurde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwar schon zuvor nicht in reiner Form praktiziert. Sogar die Willkürprüfung selbst war immer wieder mit Elementen einer Verhältnismäßigkeitsabwägung angereichert worden. So hat das Gericht schon in den 1960er Jahren anlässlich einer der zahlreichen G 131-Streitigkeiten ausgeführt: „Bei der Anwendung des Gleichheitssatzes ist stets zu fragen, ob die klageführende Person (und ihre Gruppe) durch die als gleichheitswidrig angegriffene Vorschrift ohne sachlich vertretbaren, d.h. ohne rechtlich zureichenden Grund – also willkürlich – schlechter gestellt wird als eine andere Personengruppe, die man als vergleichbar ihr gegenüberstellt“15. Erst mit dem Beschluss vom 21. Juni 2011 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch ausdrücklich die zumindest der Idee nach bestehende Stufenfolge in der gleichheitsrechtlichen Prüfungsdichte aufgegeben und damit für die Gesamtheit der Gleichheitsprüfung, im Grund also bis zum „unteren Ende“ der Willkürprüfung, die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Kontrolle der Ungleichbehandlung anerkannt. Dies ändert allerdings nichts daran, dass in vielen Fällen, insbesondere am „Willkürende“ der stufenlosen Skala eine ausgesprochen zurückgenommene Prüfung im Hinblick auf das Vorliegen eines hinreichenden Sachgrundes genügt. Mit der Absage an ein einfaches Stufensystem gleichheitsrechtlicher Kontrolldichte ist natürlich die Beantwortung der Frage unausweichlich und dringlich geworden, anhand welcher Kriterien die Einordnung eines Falles auf der Skala zwischen Willkür und voller Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen ist. Kriterien zur Bestimmung des Maßes der Kontrolldichte innerhalb des Kontinuums verfassungsgerichtlicher Kontrolle hat das Gericht  – ebenfalls bereits in jener Entscheidung im 129. Band – wie folgt umschrieben16: Eine strengere Bindung des Gesetzgebers ist insbesondere anzunehmen, wenn die Differenzierung an Persönlichkeitsmerkmale anknüpft, wobei sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen umso mehr verschärfen, je weniger die Merkmale für den Einzelnen verfügbar sind (vgl. BVerfGE 88, 87 [96]) oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (vgl. BVerfGE 124, 199 [220]). Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich auch aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben (vgl. BVerfGE 88, 87 [96]). Im Übrigen hängt das Maß der Bindung unter anderem davon ab, inwieweit die Betroffenen in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Kriterien

14 BVerfGE 129, 49 (68 f.). 15 BVerfGE 22, 387 (415). 16 BVerfGE 129, 49 (69).

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zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird (vgl. BVerfGE 88, 87 [96]; 127, 263 [280]). Das Bundesverfassungsgericht macht dabei deutlich, dass es mit den drei genannten Kriterien (mangelnde Verfügbarkeit und Beeinflussbarkeit des Differenzierungsmerkmals; Schlechterstellung bei der Ausübung von Freiheitsrechten; Nähe des Differenzierungsgrundes zu den Diskriminierungsverboten des Art.  3 Abs.  3 GG) an bereits vorhandene Rechtsprechung anknüpft. Außerdem hat es betont, dass diese Kriterien nicht abschließend zu verstehen sind („insbesondere“)17. Der Erste Senat hat seither diese Rechtsprechung zu Art.  3 Abs.  1 GG beibehalten und in zahlreichen Entscheidungen auch zum Steuerrecht (dazu sogleich unter III) fortgeführt18. Der Zweite Senat hat die Formel vom stufenlosen Prüfungsmaßstab erstmals in seinem Beschluss zu § 8c KStG vom 29. März 201719 ausdrücklich übernommen.

III. Umsetzung und Weiterentwicklung des stufenlosen Prüfungs­ maßstabs im Steuerrecht 1. Keine Gleichheitssonderdogmatik im Steuerrecht Die zum Bundesverfassungsgericht gelangenden Steuerrechtsfälle werfen, wie bereits erwähnt, besonders häufig Gleichheitsfragen auf. Es verwundert daher nicht, dass gerade für das Steuerrecht in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl eigener Ausprägungen des Gleichheitssatzes entwickelt wurde. Dies sind etwa die Grundsätze der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, der Grundsatz der Folgerichtigkeit, das Prinzip der realitätsgerechten Bewertung oder auch die Maßgaben für Typisierung und Pauschalierung20. Diese Ausprägungen des Gleichheitssatzes im Steuerrecht sind freilich lediglich Kürzel für gleichheitsrechtliche Erwägungen, die in bestimmten Fallgruppen immer wieder auftauchen und so zu grundsätzlich jeweils gleichen Erkenntnissen führen. Für eine gleichheitsrechtliche Sonderdogmatik zum Steuerrecht gibt es weder ein Bedürfnis noch eine Rechtfertigung. Auch die für das Steuerrecht entwickelten Ausprägungen des Gleichheitssatzes müssen ihrerseits jeweils den allgemeinen Vorgaben von Art. 3 Abs. 1 GG genügen. So ist die Rechtsprechung im Wesentlichen auch verfahren21. Die Grundsätze zum stufenlosen Prüfungsmaßstab finden sich folglich übereinstimmend in steuerrechtlichen wie auch in nichtsteuerrechtlichen Entscheidungen22. 17 BVerfGE (Fn. 16). 18 BVerfGE 130, 131 (142); 132, 179 (188 Rz. 30); 133, 1 (14 Rz. 45); 134, 1 (20 Rz. 56); 137, 1 (20 Rz. 47); 138, 136 (180 f. Rz. 120 f.); 139, 1 (12 f. Rz. 38 f.); 139, 285 (309 Rz. 70 f.); 142, 353 (385 Rz. 69). 19 BVerfGE 145, 106 (141 f. Rz. 98). 20 Auf diese Ausprägungen wird unter IV. noch näher eingegangen. 21 Zum Grundsatz der Folgerichtigkeit siehe sogleich unter 2 c bb. 22 Siehe die Nachweise in Fn. 18.

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Der Gleichheitssatz im Steuerrecht

2. Struktur der strengen Gleichheitsprüfung – Beispiel Erbschaftsteuer III Mit strenger Gleichheitsprüfung ist hier die verfassungsgerichtliche Kontrolle der gesetzlichen Regelung am „oberen“ Ende gebotener Prüfungsdichte gemeint, wo sie die Struktur einer echten Verhältnismäßigkeitsprüfung annimmt. Als solche geht sie über das sonst übliche Raster allgemeiner Gleichheitsprüfung hinaus und nähert sich stark der Eingriffsdogmatik an. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch in diesem Fall die Gleichheitsprüfung keineswegs völlig mit den Fragestellungen der Kontrolle eines in Freiheitsgrundrechte eingreifenden Gesetzes deckt. Diesen Unterschieden und Eigenheiten soll im Folgenden am Beispiel des Urteils zur Erbschaftssteuer vom 17. Dezember 201423 (Erbschaftsteuer III)24 nachgegangen werden. Der Beitrag zieht beispielhaft dieses Urteil heran, weil in ihm die Rechtsprechung zum stufenlosen Prüfungsmaßstab erstmals in dieser Deutlichkeit25  – auch unter Einbeziehung des Grundsatzes der Folgerichtigkeit – in einem Steuerrechtsfall übernommen und als strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung konsequent angewandt wird. Der schulmäßige Prüfungsaufbau wird hier beibehalten, denn die zutreffende Einordnung der sich stellenden Fragen dient der gedanklichen Klarheit und sachlichen Richtigkeit ihrer Erörterung. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass der damit verbundene Begründungsaufwand regelmäßig nur bei einer strengeren Verhältnismäßigkeitsprüfung betrieben wird, im Bereich mittlerer Prüfungsdichte hingegen je nach Art und Gewicht der Ungleichbehandlung einzelne Prüfungsstufen übersprungen oder zusammengefasst werden. a) Prüfungsmaßstab Ausgangspunkt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle ist die in diesem Urteil zusammengefasste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der vergangenen Jahre zum stufenlosen Prüfungsmaßstab, wie sie seither in den steuerrechtlichen Entscheidungen des Ersten Senats der Gleichheitsprüfung vorangestellt wird. In der leicht komprimierten, inhaltlich aber unveränderten Fassung der Entscheidung zum Ersatzmaßstab bei der Grunderwerbsteuer lautet sie26: Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils be-

23 BVerfGE 138, 136. 24 Die beiden vorangegangenen Grundsatzentscheidungen zur Erbschaftssteuer sind bekanntlich BVerfGE 93, 165 und 117, 1, die sich jedoch jeweils vorwiegend mit Bewertungsfragen befasst haben, wohingegen die hier herangezogene Entscheidung BVerfGE 138,136 die umfassende Privilegierung des Übergangs betrieblichen Vermögens betrifft. 25 Vorher schon wiedergegeben in BVerfGE 132, 179 (185 Rz. 30). 26 BVerfGE 139, 285 (309 Rz. 70 f.).

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troffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (stRspr; vgl. BVerfGE 138, 136 [180 Rn. 121] m.w.N.). Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben. Zudem verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (stRspr; vgl. BVerfGE 138, 136 [180 f. Rn. 122] m.w.N.). b) Feststellung der Ungleichbehandlung Die genaue Bestimmung der zu prüfenden Ungleichbehandlung ist unverzichtbar, weil damit der eigentliche Gegenstand der verfassungsrechtlichen Beschwer klar umrissen wird und nur so die darauf aufsetzenden Schritte verfassungsgerichtlicher Kontrolle präzise erfolgen können. aa) Mehrere Ungleichbehandlungen durch eine Vorschrift Insbesondere bei der Überprüfung gesetzlicher Regelungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Gleichheitssatz ist es wichtig, die Ungleichbehandlungen, die durch die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Regelungen verursacht werden, genau zu analysieren und gegebenenfalls voneinander abzugrenzen. Denn nicht selten enthalten angegriffene Vorschriften Ungleichbehandlungen in mehrfacher Hinsicht. Der mittlerweile ausdifferenzierte Stand der Gleichheitsprüfung macht es erforderlich, für jede normative Ungleichbehandlung gesondert zu bestimmen, welches Maß an gerichtlicher Kontrolldichte für deren Überprüfung geboten ist. Zudem mag ein bestimmter Rechtfertigungsgrund eine Ungleichbehandlung abdecken, kann aber zugleich für die Rechtfertigung einer anderen Ungleichbehandlung, die womöglich durch dieselbe Norm hervorgerufen wird, ohne Wert sein. So geht auch das Erbschaftsteuerurteil III vor. Es differenziert zwischen den verschiedenen Ungleichbehandlungen wie etwa der generellen Unterscheidung zwischen betrieblichem und nicht betrieblichem Vermögen27, der Unterscheidung zwischen den verschiedenen Vermögensarten innerhalb des betrieblichen Vermögens28, zwischen den durch die Lohnsummenregelung29 einerseits und der Freistellung davon für Betriebe bis zu 20 Beschäftigten30 andererseits entstehenden Ungleichbehandlungen sowie der Unterscheidung zwischen begünstigtem und nicht begünstig27 BVerfGE 138, 136 (183 Rz. 128 ff.). 28 BVerfGE (Fn. 23) Rz. 179 ff. 29 BVerfGE (Fn. 23) Rz. 204. 30 BVerfGE (Fn. 23) Rz. 214 ff.

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tem Verwaltungsvermögen31. Für all diese Fälle normativer Ungleichbehandlung bestimmt es je gesondert die Strenge des zugehörigen Prüfungsmaßstabs32. bb) Kompensation der Ungleichbehandlung Schließlich ist schon auf der Ebene der Feststellung der Ungleichbehandlung – spätestens aber bei der Bewertung des Gewichts der Ungleichbehandlung im Rahmen der engeren Verhältnismäßigkeitsprüfung – in Betracht zu ziehen, ob eine normativ verursachte Ungleichbehandlung durch entsprechende Ausgleichsmechanismen an anderer Stelle ganz oder teilweise kompensiert wird. Dies wird etwa im Rahmen des Verfahrens zur Verfassungsmäßigkeit des § 7 Satz 2 Nr. 2 GewStG (1 BvR 1236/11) im Hinblick darauf geltend gemacht, dass eine etwaige Schlechterstellung einzelner Mitunternehmer bei der Belastung mit Gewerbesteuer durch deren Anrechnung nach § 35 EStG auf einkommensteuerrechtlicher Ebene ausgeglichen werden könnte. Von allgemeiner Bedeutung für die gleichheitsrechtliche Prüfung ist insoweit, dass Kompensationsmechanismen solcher Art nicht den Verhältnismäßigkeitsanforderungen für einen hinreichend tragfähigen Differenzierungsgrund unterliegen. Denn sie betreffen nicht die Rechtfertigungsebene einer Ungleichbehandlung, sondern die vorgelagerte Frage, ob im Ergebnis überhaupt eine Ungleichbehandlung vorliegt oder wegen einer Kompensation im Ergebnis völlig fehlt oder geringer zu gewichten ist. Wird eine Schlechterstellung durch eine Ungleichbehandlung mittels Kompensationsmaßnahmen an anderer Stelle vollständig ausgeglichen, stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung dieser Kompensation nicht, da im Ergebnis keine Ungleichbehandlung vorliegt. c) Bestimmung der Prüfungsintensität Auf der Grundlage der festgestellten Ungleichbehandlungen ist für jede Fallgruppe zu bestimmen, mit welcher Intensität des stufenlosen Prüfungsmaßstabs eine Kontrolle der gesetzgeberischen Differenzierung stattzufinden hat. aa) Die drei eingeführten Merkmale Dies geschieht zunächst anhand der eingeführten – oben (unter II 3) dargestellten – Kriterien (Verfügbarkeit des Differenzierungsmerkmals, Einfluss auf Wahrnehmung von Freiheitsrechten, Nähe zu Diskriminierungsverboten)33. Das Bundesverfassungsgericht zieht mittlerweile, insbesondere im Steuerrecht, ein weiteres Kriterium  – Art und Ausmaß der Ungleichbehandlung  – heran (bb). Abweichungen von

31 BVerfGE (Fn. 23) Rz. 232 ff. 32 BVerfGE (Fn. 23) Rz. 130 ff. für die generelle Unterscheidung zwischen betrieblichem und nicht betrieblichem Vermögen; Rz. 179 ff. für die Differenzierung innerhalb betrieblichen Vermögens; Rz. 205 für die Lohnsummenregel und Rz. 219 ff. für die Freistellungsklausel hiervon sowie Rz. 237 für das Verwaltungsvermögen. 33 So auch im Erbschaftssteuerurteil III, vgl. bspw. BVerfGE (Fn. 23) Rz. 132.

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der Folgerichtigkeit bei der Umsetzung einer steuerlichen Belastungsentscheidung führen hingegen nicht notwendig zur Verschärfung des Prüfungsmaßstabs (cc). bb) Art und Ausmaß der Ungleichbehandlung Im Erbschaftsteuerurteil III hat das Bundesverfassungsgericht den dort zur Anwendung gebrachten strengen Maßstab der Gleichheitsprüfung zusätzlich auf ein weiteres Argument gestützt, das es in den nachfolgenden steuerrechtlichen Entscheidungen immer wieder herangezogen hat34. Es ist der Blick auf das Gewicht und die strukturelle Bedeutung der vom Gesetzgeber vorgenommenen Differenzierung für die jeweilige Steuer insgesamt. Dahinter steht die Überzeugung, dass der Spielraum des Gesetzgebers für Ungleichbehandlungen grundsätzlich umso geringer ist, je gewichtiger die Schlechterstellung auf dem Betroffenen lastet oder je höher die Vergünstigung ist, die ihm gegenüber anderen vorenthalten wird. Hierbei kommt es weniger auf eine möglicherweise nur im konkreten Einzelfall auftretende, finanziell besonders umfangreiche Ungleichbehandlung an, als vielmehr darauf, ob die angegriffenen Normen auch strukturell für den geregelten Sachbereich eine bedeutsame und weitgreifende Ungleichbehandlung vorsehen. Im Erbschaftsteuerteil III argumentiert das Bundesverfassungsgericht zu diesem Gedanken wie folgt35: Bereits das erhebliche Ausmaß, das die erbschaft- und schenkungsteuerliche Ungleichbehandlung zwischen den einzelnen Fällen der begünstigten und nicht begünstigten Vermögensarten erreichen kann, und die nicht nur atypische Einzelfälle betrifft, sondern in der Gesetzessystematik als Regelfall angelegt ist, erfordert eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Differenzierung, die jedenfalls deutlich über eine bloße Willkürprüfung hinausreicht. Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass die Unterscheidung zwischen begünstigtem unternehmerischen und nicht begünstigtem sonstigen Vermögen die Erhebung der Erbschaft- und Schenkungsteuer nicht nur in einem Randbereich erfasst, sondern zu einer strukturellen Zweiteilung dieser Steuer führt. Soweit das Gericht an anderer Stelle dieses Urteils noch unter Rückgriff auf ältere Rechtsprechung von „Umfang und Ausmaß der Abweichung“ spricht36, nach denen die Anforderungen an den Rechtfertigungsgrund steigen sollen, trifft dies im Grunde die dahinter stehenden Erwägungen für die Anwendung eines strengen Prüfungsmaßstabs nicht präzise. Abgesehen davon, dass „Umfang und Ausmaß“ jedenfalls bei unbefangener Lektüre Gleiches zu meinen scheinen, bringt dieses Begriffspaar auch nicht zum Ausdruck, dass es neben dem Ausmaß der Ungleichbehandlung vor allem auch auf deren strukturelle Dimension in dem angegriffenen Gesetz ankommt37. Das Gericht wäre daher wohl gut beraten, künftig die Formulierung dieses Kürzels dem 34 Vgl. BVerfGE 139, 1 (13 Rz. 40); 139 285 (310 Rz. 72). 35 BVerfGE 138, 136 (185 Rz. 131). 36 BverfGE (Fn. 35) Rz. 123 unter Verweisung auf BVerfGE 117, 1 (32). 37 Dem kommt schon eher nahe das in anderen Entscheidungen verwendete Begriffspaar „Art und Ausmaß“ (vgl. BVerfGE 145, 106 Rz. 104), das dort aber regelmäßig im Kontext

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dahinter stehenden Gedanken anzupassen38. In der Sache sind Struktur und Ausmaß einer normativen Ungleichbehandlung ein taugliches und auch naheliegendes Kriterium zur Bestimmung der Kontrolldichte gegenüber dem Gesetzgeber in gleichheitsrechtlichen Sachverhalten. Die Berechtigung dieses Ansatzes und damit die Ver­ wendung des Kriteriums sind auch keineswegs auf den Bereich des Steuerrechts beschränkt. Sie mögen für dieses Rechtsgebiet allerdings besonders geeignet sein, weil unterschiedliche Steuerlasten besonders gut einer quantitativen Betrachtung zugänglich sind und weil die übrigen der anerkannten Gewichtungskriterien jedenfalls bei reinen Finanzzwecksteuern häufig kaum aussagekräftige Ergebnisse liefern. cc) Grundsatz der Folgerichtigkeit (1) Einbindung in die allgemeine Gleichheitsdogmatik Es ist hier nicht der richtige Ort, um die Geschichte des Grundsatzes der Folgerichtigkeit im Steuerrecht aufzuarbeiten. Er hat nicht nur im steuerrechtlichen Schrifttum eine beachtliche Karriere hinter sich39. Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat er in den vergangenen Jahren vielfach Widerhall gefunden40. So wird der Grundsatz der Folgerichtigkeit im Erbschaftsteuer-Beschluss II vom 7.  November 2006 als eine der Leitlinien bezeichnet, die den weitreichenden Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes begrenzen41. In dem Beschluss zur Pendlerpauschale hat der Verstoß gegen den Grundsatz der Folgerichtigkeit gar entscheidungstragend zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Regelung im Einkommensteuerrecht geführt42. Der Grundsatz der Folgerichtigkeit ist allerdings kein selbstständig tragendes verfassungsrechtliches Prinzip, gegen das zu verstoßen schon für sich genommen die Verfassungswidrigkeit einer Norm begründen könnte. Er ist vielmehr lediglich eine Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes mit einer begrenzten Indizwirkung. Die Feststellung, dass gesetzliche Belastungsentscheidungen folgerichtig umzusetzen sind, geht nicht weiter als der Hinweis darauf, dass nach dem allgemeinen Gleichheitssatz – sofern keine Rechtfertigung für eine Abweichung vorliegt – gleiche Sachverhalte gleich und ungleiche ungleich behandelt werden müssen. Daraus folgt zugleich, dass der Vorwurf allein, eine Belastungsentscheidung sei nicht folgerichtig umgesetzt, nicht die Verfassungswidrigkeit der betreffenden Norm begründen kann. der Folgerichtigkeit, nicht jedoch bei der Suche nach der richtigen Prüfungsdichte verwendet wird. 38 Vgl. nunmehr BVerfG v. 10.4.2018 – 1 BvL 11/14 ua. Rz. 96: „… Ausmaß der Abweichung und ihrer Bedeutung für die Verteilung der Steuerlast …“; ebenso BVerfG v. 10.4.2018 – 1 BvR 1236/11 Rz. 105. 39 Vgl. etwa nur Kempny, JöR 64 (2016), 477; Tappe, JZ 2016, 27; Jahndorf, StuW 2016, 255; Hey, StuW 2015, 3; dies. DStR 2009, 2561. 40 Vgl. etwa BVerfGE 84, 239 (271); 93, 121 (136); 99, 280 (290); 107, 27 (45); 117, 1 (31); 122, 210 (231). 41 BVerfGE 117, 1 (30); ebenso bereits BVerfGE 105, 73 (125) und 107, 27 (46 f.). 42 BVerfGE 120, 210 (235).

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Insbesondere garantiert auch umgekehrt die Feststellung der folgerichtigen Umsetzung einer Belastungsentscheidung nicht zwingend die Vereinbarkeit der betreffenden Regelung mit dem Gleichheitssatz. Stets ist nach den allgemeinen Grundsätzen zu entscheiden, ob eine Ungleichbehandlung vorliegt und ob sie durch entsprechende Differenzierungsgründe gerechtfertigt ist. Die fehlende Folgerichtigkeit ist daher zunächst nicht mehr als ein Indiz für das Vorliegen einer Ungleichbehandlung. Eine solche Einordnung des Prinzips der Folgerichtigkeit in die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes bringt auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Erbschaftssteuer III zum Ausdruck, wenn dort formuliert ist: „Abweichungen von der mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffenen Belastungsentscheidung müssen sich indessen ihrerseits am Gleichheitssatz messen lassen (Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerlichen Ausgangstatbestands )“43. Diese Rückeinbindung des Grundsatzes der Folgerichtigkeit in den allgemeinen Gleichheitssatz wendet sich gegen eine nicht erforderliche und in der Sache auch nicht ­gerechtfertigte Sonderdogmatik des Folgerichtigkeitsprinzips bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung von Steuergesetzen. Die Bedeutung und der Wert des Folgerichtigkeitsprinzips als Anspruch an eine rationale Steuergesetzgebung stehen damit freilich nicht in Zweifel. (2) Kein Strengekriterium Was ist dann der bleibende Erkenntniswert des Grundsatzes der Folgerichtigkeit bei der verfassungsrechtlichen Kontrolle von Steuergesetzen? Zu erwägen bleibt, ob ein Abweichen vom Gebot der folgerichtigen Umsetzung der einmal getroffenen steuerlichen Belastungsentscheidung ein Kriterium für die Verschärfung der Gleichheitsprüfung hin zu einer strengen Prüfung der Verhältnismäßigkeit dieser Abweichung ist. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich mit der hierbei durchweg verwendeten Formel, wonach eine solche Abweichung „eines besonderen sachlichen Grundes“ bedürfe44, bemerkenswert uneindeutig verhalten. Das Erfordernis eines besonderen Sachgrundes für die Differenzierung sagt noch nichts darüber aus, ob dieser auch einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten muss. Der Zweite Senat legt in seinem Beschluss zu § 8c KStG vom 29. März 2017 die fehlende Aussagekraft des Grundsatzes der Folgerichtigkeit in diesem Punkt offen, indem er die Frage ausdrücklich unbeantwortet lässt, ob sich „aus dem Erfordernis eines ‚besonderen sachlichen Grundes‘ für Abweichungen von einem steuerrechtlichen Ausgangstatbestand erhöhte Begründungsanforderungen gegenüber einem bloßen ‚sachlich einleuchtenden Grund‘ für die Differenzierung im Sinne des Willkürverbots ergeben“45. Es bleibt also festzuhalten: Abweichungen vom Gebot der Folgerichtigkeit bei der Ausgestaltung eines Steuergesetzes sind ein Indiz für das Vorliegen ei43 BVerfGE 138, 136 (181 Rz. 123); ebenso BVerfGE 139, 1 (13 Rz. 40); 139 285 (309 f. Rz. 72); bes. deutlich jetzt Beschluss des 1. Senats vom 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14 u.a. Rz. 70. 44 BVerfGE 138, 136 (181 Rz. 123) m.w.N. 45 BVerfGE 145, 106 Rz. 105.

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ner Ungleichbehandlung, jedoch kein Indiz dafür, dass die Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung allein deswegen einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterfallen müsse. dd) Zwischenergebnis zur Prüfungsdichte Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsrechtlichen Kontrolle gesetzlicher Ungleichbehandlungen hat sich in jüngerer Zeit spürbar weiterentwickelt. Dies gilt im Grundsatz auch für die zentrale Weichenstellung, anhand welcher Kriterien und wie genau die verfassungsgerichtliche Prüfungsintensität zu bestimmen ist. Mit letzter Klarheit und Vorhersehbarkeit ist dies gleichwohl bisher nicht gelungen. Trotz Anwendung der hierfür entwickelten Kriterien gelangt das Gericht auch in jüngster Zeit immer wieder zu lediglich vage umschriebenen Prüfungsmaßstäben wie etwa dem Erfordernis „eines hinreichend gewichtigen Sachgrundes“46; oder es verlangt lediglich „hinreichende sachliche Gründe“47 oder „besondere sachliche Gründe“48. Daneben finden sich allerdings auch Entscheidungen mit einer differenzierteren Bestimmung des Prüfungsmaßstabs49 oder auch dem ausdrück­ lichen Offenlassen dieser Frage, weil die gesetzliche Differenzierung schon einer Willkürprüfung nicht mehr standhält50. Die Zukunft wird zeigen, ob es gelingt, die begonnenen Ansätze so zu vertiefen und fortzuentwickeln, dass sie zu mehr Trittsicherheit und Vorhersehbarkeit bei der Bestimmung des Prüfungsmaßstabs auf der stufenlosen Skala führen, oder ob bei der vorsichtigen Aussage in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verbleiben muss, wonach „genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, (…) sich nicht abstrakt und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen (lassen)“51. d) Differenzierungsgrund – legitimes Ziel aa) Bestimmung des Differenzierungsgrundes Eine möglichst genaue Bestimmung des vom Gesetzgeber mit der Unterscheidung von Sachverhalten oder Personen verfolgten Ziels  – des Differenzierungsgrunds also – ist bei jeder verfassungsrechtlichen Gleichheitsprüfung geboten, bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung allerdings besonders wichtig. Denn nur wenn der Grund für die Ungleichbehandlung und so das damit verfolgte Ziel klar sind, kann dessen Gewicht an sich wie auch das mit der Unterscheidung zu erwartende Maß der Zielerreichung abgeschätzt werden. Das ist unerlässlich für die eine Seite der Verhältnis46 BVerfGE 139, 285 (311 Rz. 74) beim Ersatzbemessungsmaßstab für die Grunderwerbsteuer. 47 BVerfGE 137, 1 (22 Rz. 52) im Fall wiederkehrender Straßenausbaubeiträge. 48 BVerfGE 137, 350 (371 Rz. 53) für Ausnahmen von der Luftverkehrsteuer. 49 BVerfGE 139, 1 (14 Rz. 41) zu der ungleichen Grunderwerbsteuerpflicht bei amtlicher und freiwilliger Umlegung. 50 So BVerfGE 145, 106 Rz. 120. 51 BVerfGE 145, 106 Rz. 105 m.w.N.

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mäßigkeitsprüfung. Außerdem setzt die Beantwortung der Frage nach der Legitimität des Differenzierungsziels natürlich dessen präzise Bestimmung voraus. Bei der Auswahl dessen, was als legitimes Gemeinwohlziel verfolgt werden soll, steht dem Gesetzgeber ein besonders weiter Einschätzungs- und Ermessensspielraum zu. Dies hat das Bundesverfassungsgericht gerade in jüngster Zeit für verschiedene Rechtsgebiete ausdrücklich betont52. Vielfach mögen gerade in Steuergesetzen das Unterscheidungsmerkmal und der damit verfolgte Differenzierungsgrund praktisch zusammenfallen. Manchmal erweist sich die Sachlage aber auch als weitaus komplexer; so etwa wenn ein Gesetzt ein bestimmtes Ziel mit mehreren Differenzierungen und damit also mit mehreren Ungleichbehandlungen zu erreichen sucht. Dann ist der für jeden Einzelfall einer Ungleichbehandlung maßgebliche Differenzierungsgrund in Beziehung zu setzen zum insgesamt verfolgten Regelungsziel53. Im Steuerrecht typische Gründe für Ungleichbehandlungen sind die Verwaltungsvereinfachung (bb), die Vermeidung von Umgehungsgestaltungen (cc) und die Verfolgung außerfiskalischer Lenkungsziele (dd). Auf sie soll an dieser Stelle nur kurz eingegangen werden, denn ihre Eignung als legitimer Differenzierungsgrund steht im Grundsatz außer Frage. Daneben finden sich allerdings auch Gesetzeslagen, in denen eine Differenzierungsabsicht des Gesetzgebers überhaupt nicht zu erkennen ist (ee). bb) Typisierung und Pauschalierung In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es seit langem geklärt, dass zur Bewältigung der mit Massenverfahren verbundenen besonderen Anforderungen an die Steuerverwaltung typisierende und pauschalierende Regelungen verfassungsrechtlich zulässig sind, die unter bestimmten Voraussetzungen und in gewissem Umfang Ungleichbehandlungen und Härten für die Betroffenen rechtfertigen können. Die Grundsätze zur Berechtigung von Typisierungen und Pauschalierungen wurden und werden in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit wechselnden Formulierungen umschrieben, die sich zwar im Kern, keineswegs aber immer im Detail gleichen. Die Typisierungs- und Pauschalierungsrechtsprechung hat sich mittlerweile so verselbstständigt, dass sie oft nicht mehr ausdrücklich auf den Gleichheitssatz Bezug nimmt, obwohl es sich doch eindeutig um einen Anwendungsfall von Art.  3 Abs.  1 GG handelt. Denn mit den typisierenden und pauschalierenden 52 BVerfGE 138, 136 (182 Rz. 125) m.w.N. für das Steuerrecht; für das Umweltrecht BVerfGE 134, 242 (292 f. Rz. 172); 143, 246 (347 Rz. 283). 53 Ein Beispiel für einen solchen komplexen Sachverhalt lieferte eben die Verschonungsregelung in §§ 13a und 13b ErbStG, die Gegenstand des Erbschaftsteuerurteil III war; hier hat das Bundesverfassungsgericht zunächst mit nicht unerheblichem Argumentationsaufwand das eigentliche Regelungsziel dieser Verschonung herausgearbeitet (BVerfGE 138, 136 [186 ff. Rz. 133 ff.]), um letztlich daran die Verhältnismäßigkeit der einzelnen Differenzierungsmaßnahmen zu messen.

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Regelungen sind stets Ungleichbehandlungen verbunden, die in gewissen Grenzen aber eben nicht in jeder Hinsicht durch das damit verfolgte Ziel der Verwaltungsvereinfachung gerechtfertigt werden. Offenbar aufgrund der stark standardisierten Obersätze zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Typisierungen und Pauschalierungen, die leicht nach den dort vorgegebenen Merkmalen „durchgeprüft“ werden können, wird die Frage nach der Strenge der Verhältnismäßigkeitsprüfung hier regelmäßig nicht gestellt. Grundrechtsdogmatisch ausgeschlossen ist sie freilich auch in dieser Fallgruppe nicht. An dieser Stelle mag eine besonders knappe Formulierung zum Prüfungsmaßstab für Typisierungen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Ersatzbemessung bei der Grunderwerbsteuer genügen54: Danach darf der Steuergesetzgeber aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung typisieren und dabei die Besonderheiten des einzelnen Falles vernachlässigen, wenn die daraus erwachsenden Vorteile im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen, er sich realitätsgerecht am typischen Fall orientiert und ein vernünftiger, einleuchtender Grund vorhanden ist (vgl. BVerfGE 137, 350 [375 f. Rn. 66] m.w.N.). cc) Vermeidung von Umgehungsgestaltungen Gesetzliche Regelungen zur Verhinderung von Steuergestaltungen, die das eigentliche Besteuerungsziel zu umgehen versuchen, nehmen aus der Sicht des allgemeinen Gleichheitssatzes eine ambivalente Stellung ein. Zum einen hat das Bundesverfassungsgericht im Erbschaftsteuerurteil III darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber aus Gründen der Gleichbehandlung verpflichtet sein kann, ein Steuergesetz in einer Weise auszugestalten, die sonst mögliche steuerliche Umgehungsgestaltungen, die zu nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlungen führen, weitestgehend ausschließt55. Auf der anderen Seite können solche Umgehungsverhinderungsregelungen ihrerseits wiederum Ungleichbehandlungen begründen. Auch diese müssen einer verfassungsrechtlichen Prüfung am Maßstab des Artikels  3 Abs.  1 GG standhalten  – was beispielsweise bei der sogenannten 50 %-Klausel zur Unterscheidung zwischen begünstigtem und nicht begünstigtem Verwaltungsvermögen nach § 13b Abs. 2 ErbStG a.F. nicht der Fall war56. Jedenfalls ist die Schaffung von Ausnahmen und Sondertatbeständen zur Verhinderung von Steuerumgehungen grundsätzlich stets ein Sachgrund für die dadurch begründeten Ungleichbehandlungen.

54 BVerfGE 139, 285 (313 Rz. 77) m.w.N.; ein sehr ausdifferenzierter Maßstabsteil für Typisierung und Pauschalierung findet sich hingegen in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29.3.2017  – 2 BvL 6/11, juris Rz.  106  ff.; Zwischenformen etwa in BVerfGE 117, 1 (31); 110, 274 (292); 120, 1 (29 f.); 123, 1 (19). 55 BVerfGE 138, 136 (235 f. Rz. 254 ff.). 56 Vgl. BVerfGE 138, 136 (229 Rz. 238).

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dd) Außerfiskalische Lenkungszwecke Seit jeher, in den letzten Jahren aber insbesondere verstärkt im Umweltrecht, nutzt der Gesetzgeber das Steuerrecht – vielfach zum Missfallen großer Teile der Steuerrechtswissenschaft –, um das Verhalten der Bürger in eine bestimmte, ihm aus Gemeinwohlgründen förderungswürdig erscheinende Richtung zu lenken. Hierbei verfügt der Gesetzgeber über eine große Gestaltungsfreiheit57. Namentlich bei Lenkungsanreizen durch Steuerverschonung löst die Lenkungsregelung selbst notwendigerweise Ungleichbehandlungen aus. Auch diese müssen sich an Art. 3 Abs. 1 GG messen lassen. Das heißt, der legitime Lenkungszweck allein rechtfertigt nicht schon für sich die Ungleichbehandlung. Sofern nach den allgemeinen Grundsätzen ein strengerer Prüfungsmaßstab geboten ist, kann die Ungleichbehandlung nur Bestand haben, wenn der Lenkungszweck ein hinreichendes Gewicht besitzt, um das Maß der mit der Ungleichbehandlung verbundenen Schlechterstellung zu rechtfertigen. Hinzu kommt in diesen Lenkungsfällen, dass der Lenkungszweck „von einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen“ sein muss58. ee) Nicht erkennbarer Differenzierungsgrund Schwierig wird die Lage, wenn ein Unterscheidungsgrund für eine Ungleichbehandlung nicht nur nicht ohne Weiteres erkennbar ist, sondern bei Licht betrachtet gar nicht vorliegen kann. Dies kann etwa der Fall sein, wenn eine Ungleichbehandlung in der gesetzlichen Regelung nicht von vornherein angelegt war, diese Regelung vielmehr erst durch Zeitablauf und die sich dabei ändernden tatsächlichen Verhältnisse in die Ungleichbehandlung hineingewachsen ist. Diese Frage stellt sich im Zusammenhang mit der nach wie vor auf den Hauptfeststellungszeitpunkt von 1964 bezogenen Einheitsbewertung für die Grundsteuer59. e) Verhältnismäßigkeit der Ungleichbehandlung Die Stufen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei einer strengen Kontrolle normativer Ungleichbehandlungen entsprechen im Grundsatz denen der Verhältnismäßigkeit einer Eingriffsprüfung. Sie weisen allerdings einige Besonderheiten hinsichtlich der dabei einzunehmenden Kontrollperspektive auf, die hier kurz angedeutet werden sollen. Wie bei der Eingriffsprüfung auch verlangt die Eignung einer vom Gesetzgeber vorgenommenen Differenzierung nicht die vollständige Erreichung des damit ver­folgten Ziels. Die Regelung oder Maßnahme, die zu der beanstandeten Ungleichbehandlung führt, muss lediglich zur Förderung des Ziels geeignet sein; die bloße Möglichkeit der Zweckerreichung genügt60. 57 BVerfGE 117, 1 (31 f.); 135, 126 (151 Rz. 80), jew. m.w.N. 58 Vgl. BVerfGE 117, 1 (32) m.w.N.; 137, 350 (371 Rz. 55); 140, 65 (85 Rz. 45); eingehend zu diesem Erfordernis des Getragenseins BVerfGE 135, 126 (151 f. Rz. 81). 59 BVerfG v. 10.4.2018 – 1 BvL 11/14, 12/14, 1/15 und 1 BvR 669/11, 839/12. 60 BVerfGE 138, 136 (189 Rz. 139).

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Der Gleichheitssatz im Steuerrecht

Eine Ungleichbehandlung ist dann erforderlich, wenn kein anderes Mittel zur Verfügung steht, mit dem der Gesetzgeber unter Bewirkung geringerer Ungleichheiten das angestrebte Regelungsziel gleich wirksam erreichen oder fördern kann. Der Gesetzgeber verfügt hier über einen weiten Einschätzungs- und Prognosespielraum61. Verhältnismäßig im engeren Sinne ist eine Ungleichbehandlung dann, wenn das Maß der Ungleichheit – sei es durch Schlechterstellung, sei es durch Privilegierung – in angemessenem Verhältnis zur Bedeutung des mit der Differenzierung verfolgten Ziels und dem Ausmaß und Grad der durch die Ungleichbehandlung bewirkten Zielerreichung steht62. Diese Kernsätze zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG zeigen, dass die üblichen Schritte aus der Eingriffsdogmatik übernommen werden können, dabei auch das Maß der Zielerreichung eine wesentliche Rolle spielt und dann auch zum Umfang der mit der Ungleichbehandlung verbundenen Belastungen – ganz entsprechend der Frage nach dem Gewicht eines Eingriffs – in Beziehung gesetzt werden muss.

IV. Ausprägungen des Gleichheitssatzes Der Überblick zur Maßstabsbildung bei der Gleichheitsprüfung wäre unvollständig, ohne zumindest einen kurzen Hinweis auf anerkannte und etablierte Ausprägungen des Gleichheitssatzes, die, soweit ihre Aussagekraft reicht, Anwendungssicherheit und damit Vorhersehbarkeit garantieren. 1. Steuergegenstand und Steuersatz In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt ist der Grundsatz, dass dem Gesetzgeber ein weitreichender Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstandes als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes zusteht63. Die mit der Schaffung eines Steuertatbestands notwendig verbundene Unterscheidung zwischen jenen, die besteuert werden und jenen, die verschont bleiben, schließt daher am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG stets nur sachwidrige oder willkürlicher Erwägungen aus64. Es mag manchmal durchaus zweifelhaft sein, ob eine Regelung zur Auswahl oder zur gegebenenfalls strenger zu kontrollierenden Ausgestaltung eines Steuergegenstandes zählt. Diese Abgrenzung kann nicht nach abstrakten Kriterien getroffen werden, sondern muss jeweils in Ansehung der konkreten Umstände des in Rede stehenden Steuergegenstandes und der betreffenden Vergleichsgruppen erfolgen65. 61 BVerfGE (Fn. 59) 190 Rz. 142. 62 BVerfGE (Fn. 59) 197 Rz. 156. 63 Vgl. etwa BVerfGE 139, 285 (309 Rz. 72); 137, 350 (366 Rz. 41); 126, 400 (417); 123, 1 (19); jew. m.w.N. 64 BVerfGE 120, 1 (29). 65 BVerfGE 120, 1 (30).

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Michael Eichberger

2. Bewertung Will eine Steuer auf die Leistungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger zugreifen, die in verschiedenen Vermögensgegenständen und Wirtschaftsgütern zum Ausdruck kommt, gewinnt die Frage nach einer gleichheitsgerechten Bewertung dieser Gegenstände zentrale Bedeutung. Auch die hierfür aus dem Gleichheitsgrundsatz folgenden Anforderungen waren bereits mehrfach Gegenstand verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Dabei ist das Gericht stets davon ausgegangen, dass die gleichmäßige Belastung der Steuerpflichtigen davon abhängt, dass für die einzelnen von einer Steuer erfassten Wirtschaftsgüter Bemessungsgrundlagen gefunden werden, die deren Werte in ihrer Relation realitätsgerecht abbilden66. Zur Wahrung des im Gleichheitssatz enthaltenen Grundsatzes der lastengleichen Besteuerung ist der Gesetzgeber von Verfassungs wegen allerdings nicht auf die Wahl nur eines (Haupt-) Maßstabs zur Bemessung der Steuer beschränkt. Sofern er es für sachgerecht oder gar geboten hält, kann er daneben einen Ersatzmaßstab zur Anwendung bringen. Insoweit verfügt der Gesetzgeber über eine weitgehende Gestaltungsfreiheit. Wählt er einen Ersatzmaßstab, muss dieser allerdings, um unzulässige Abweichungen von der mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffenen Belastungsentscheidung zu vermeiden, Ergebnisse erzielen, die denen der Regelbemessungsgrundlage weitgehend angenähert sind67. 3. Lastengleichheit und Leistungsfähigkeit Eine gegenüber den vorgenannten Ausprägungen des Gleichheitssatzes eigenständige Qualität hat das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende materielle Gerechtigkeitsgebot, die Steuerlasten gleich auf die Bürgerinnen und Bürger zu verteilen68. Jedenfalls für die Ertragsteuern im weitesten Sinne folgt hieraus das weitere Gebot einer Besteuerung nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit der Betroffenen69.

66 BVerfGE 139, 285 (310 Rz. 73); 117, 1 (33); 93, 165 (172 f.); 41, 269 (280, 282 f.); 30, 129 (143 f.); 25, 216 (226); 23, 242 (257). Ausführlich zur Einheitsbewertung bei der Grundsteuer jetzt BVerfG v. 10.4.2018 – 1 BvL 11/14 u.a. 67 BVerfGE 139, 285 (310 Rz. 73); 123, 1 (20). 68 BVerfGE 139, 285 (309 f. Rz. 72); 138, 136 (181 Rz. 123); 126, 400 (417); 121, 108 (120); 117, 1 (30). 69 Vgl. nur BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, juris Rz. 99; BVerfGE 132, 179 (189 Rz. 32); 127, 1 (28); 117, 1 (30); jew. m.w.N.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung A. III. 1.

Reichweite und Grenzen verfassungskonformer Auslegung Von Nils Trossen

Inhaltsübersicht I. Einfluss der Grundrechte und des Staatsorganisationsrechts auf die Auslegung eines Gesetzes durch den Bundesfinanzhof II. Begriff und Funktion der verfassungskonformen Auslegung 1. Begriff der verfassungskonformen Auslegung 2. Funktion der verfassungskonformen Auslegung 3. Abgrenzung zur gesetzgeberischen Klarstellung und zur verfassungsorientierten Auslegung

III. Reichweite verfassungskonformer Auslegung IV. Grenzen verfassungskonformer ­Auslegung 1. Wortlaut als Grenze 2. Entstehungsgeschichte des Gesetzes als Grenze der Auslegung 3. Gesetzeszweck als Grenze der Auslegung 4. Gesamtzusammenhang der Regelung V. Ergebnis

I. Einfluss der Grundrechte und des Staatsorganisationsrechts auf die Auslegung eines Gesetzes durch den Bundesfinanzhof Die verfassungskonforme Auslegung einfachen Rechts durch das Bundesverfassungsgericht zieht seit Langem die Aufmerksamkeit der juristischen Fachwelt auf sich1. Während die verfassungskonforme Auslegung in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eine prominente Rolle spielt, hat sie in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs auch außerhalb von Vorlagebeschlüssen nach Art. 100 Abs. 1 GG eine gewichtige Bedeutung2. Insoweit zählt die verfassungskonforme Aus1 Vgl. u.a. Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung; Birk, StuW 1990, 300; Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen; Burmeister, Die verfassungsorientierte Gesetzesauslegung; Eckart, Die verfassungskonforme Gesetzesauslegung; Vosskuhle, AöR (2000) 125, 177; Löwer in Handbuch des Staatsrechts, § 70 Rz. 126 f.; Lüdemann, JuS 2004, 27. 2 Vgl. aus jüngerer Zeit BFH v. 29.9.2015  – VIII R 49/13, BStBl.  II 2016, 339 (342); v. 18.6.2015 – VI R 45/13, BStBl. II 2015, 928 (929 f.) und v. 24.2.2015 – VIII R 54/12, BStBl. II 2015, 693 (695); v. 28.1.2015 – VIII R 8/14, BStBl II 2015, 397 (398); v. 11.7.2013 – VI R 62/12, BFH/NV 2014, 147 (148); v. 27.3.2012  – I R 62/08, BStBl.  II 2012, 745 (748  f.); v. 9.3.2011 – IX R 56/05, BStBl. II 2011, 649 (654).

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legung einfachen Rechts in der Rechtsprechung der Bundesgerichte und damit des Bundesfinanzhofs zu den anerkannten und auch praktizierten Auslegungsmethoden und betrifft alle Bereiche des Steuerrechts, vom Unternehmenssteuerrecht bis hin zum Kindergeld3. Oft sind es gerade die Verfahrensbeteiligten, die eine verfassungskonforme Auslegung zur Stützung ihres Klagebegehrens einfordern. Nach Art.  20  Abs.  3  GG ist die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Zudem ist in Art. 1 Abs. 3 GG verankert, dass die Grundrechte die Rechtsprechung unmittelbar binden4. Diese Verfassungsvorschriften, die in Art. 79 Abs. 3 GG für unabänderlich erklärt werden legen zum einen den Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetzesrecht fest und bilden das Fundament für die Verfassungsbindung der Gesetzgebung. Zum anderen geben sie vor, dass der Richter, der einfaches Gesetzesrecht anwendet und auslegt, verpflichtet ist, die Grundrechte und anderen Verfassungsinhalte bei der Feststellung von Norminhalten zur Geltung zu bringen. Wie im vorherigen Abschnitt ausgeführt wurde, strahlen die Grundrechte als objektive Wertordnung und die übrigen Normen des Grundgesetzes in das Steuerrecht aus und haben zu einer weitgehenden Durchwirkung und Konstitutionalisierung des Steuerrechts geführt5. Sie wirken damit auf die Anwendung einfachen Rechts durch die Gerichte und damit auch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ein6. Der Bundesfinanzhof ist wie jedes rechtsanwendende Organ nach Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet, den Grundentscheidungen der Verfassung im Rahmen der Auslegung bei der Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen, Ermessenspielräumen und Generalklauseln Rechnung zu tragen7. Der Einfluss der Grundrechte auf die Auslegung von steuerlichen Normen ist dabei nicht auf Generalklauseln beschränkt, sondern erstreckt sich auf alle auslegungsfähigen und -bedürftigen Tatbestandsmerkmale steuerlicher Normen. Als folgerichtige Ergänzung der Verfassungsbindung des Gesetzgebers erkennt das GG in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und Art. 100 GG das richterliche Prüfungsrecht an, das zuvor auch schon in der Weimarer Reichsverfassung von den Gerichten für sich in Anspruch genommen wurde8. Hält ein Gericht ein nachkonstitutionelles Gesetz9 für verfassungswidrig, sind den Finanzgerichten und dem Bundesfinanzhof eine Verwerfung des Gesetzes nicht möglich. Vielmehr ist die Feststellung der Nichtigkeit bei Verstößen gegen das Grundgesetz allein dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. 3 Vgl. auch Drüen, StuW 2012, 269. 4 Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 24. 5 Vosskuhle, AöR (2000) 125, 177 (180). 6 Zur Ausstrahlungswirkung des GG auf die Rechtsanwendung Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 76 ff. 7 Vosskuhle, AöR (2000) 125, 177 (180). 8 RG v. 4.11.1925 – V 621/24, RGZ 111, 320; Eckardt, Die verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 11. 9 Im Steuerrecht handelt es sich praktisch durchgängig um nachkonstitutionelle Normen des Bundesrechts.

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Verfassungskonforme Auslegung

Um die Wirkung des Grundgesetzes und die Einheit der Rechtsordnung voll durchzusetzen, die formell wirksam zustande gekommenen Steuerrechtsnormen aber möglichst zu schonen, müssen steuerliche Normen, die sowohl im Einklang als auch in Widerspruch zum Grundgesetz ausgelegt werden können, verfassungskonform interpretiert werden10. Die verfassungskonforme Auslegung hat daher die Wertentscheidungen der Verfassung zu berücksichtigen. Die verfassungskonforme Auslegung verwirklicht in diesem Zusammenhang einen Grundsatz des Verfassungsprozessrechts. Dieser besagt, dass eine Norm nicht im Normenkontrollverfahren verworfen werden darf, wenn ihr ein Sinn gegeben werden kann, der mit der Verfassung vereinbar ist11. Bevor eine Norm daher einer konkreten Normenkontrolle unterworfen werden kann, ist es Pflicht des vorlegenden Gerichts, die Übereinstimmung der Norm mit dem Grundgesetz im Wege der Auslegung zu prüfen. Das Bundesverfassungsgericht macht eine Prüfung, ob eine Norm verfassungskonform ausgelegt wird, aus diesem Grund zur Zulässigkeitsvoraussetzung für Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG12. Denn ein vorlegendes Gericht kann nur dann von der Verfassungswidrigkeit einer Norm überzeugt sein, wenn es die Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung geprüft und bejaht hat13. Sofern die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung nahe liegt, muss es diese Möglichkeit prüfen und begründen, weshalb eine verfassungskonforme Auslegung ausgeschlossen ist14. Sowohl die Finanzgerichte als auch der Bundesfinanzhof haben bei verfassungsrechtlichen Zweifeln verpflichtend zu prüfen, ob eine verfassungskonforme Auslegung möglich ist, bevor sie ein Verfahren aussetzen und das von ihnen für verfassungswidrig gehaltene Gesetz dem Bundesverfassungsgericht zwecks Nichtigkeitsoder Unvereinbarkeitserklärung vorlegen. Bei verfassungsrechtlichen Zweifeln an einer Norm trifft den Bundesfinanzhof daher ein Gebot zur verfassungskonformen Auslegung15. Dies gilt sowohl für den Fall der verbindlichen Entscheidung über eine Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde als auch für einen vom Bundesfinanzhof zu treffenden Vorlagebeschluss. Daher sind insbesondere in den Vorlagebeschlüssen des BFH meist umfangreiche Ausführungen 10 Starck in Handbuch des Staatsrechts, § 271 Rz. 40; Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 22; Haak, Normenkontrolle und verfassungskonforme Auslegung des Richters, S. 233 f. 11 Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 15. 12 St.Rspr., vgl. u.a. BVerfG v. 12.2.1992 – 1 BvL 21/88, BVerfGE 85, 329 (333); v. 22.9.2009 – 2 BvL 3/02, BVerfGE 124, 251 (262), m.w.N.; v. 21.7.2010 – 1 BvL 8/07, BVerfGE 126, 331 (356); v. 4.6.2012 – 2 BvL 9/08, 2 BvL 10/08, 2 BvL 11/08, 2 BvL 12/08, BVerfGE 131, 88 (118); v. 11.3.2015 – 1 BvL 8/14, juris-Rz. 16 ff.; v. 12.1.2016 – 1 BvL 6/13, NJW 2016, 700 (701); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3.  Aufl. 2012, Rz.  812; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3.  Aufl. 1991, §  13 Rz.  17; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2015, Rz. 613; Heun, AöR (1997) 122, 610 (618 f.); s. auch unter C.I.3.b. 13 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rz. 812. 14 U.a. BVerfG v. 12.2.1992 – 1 BvL 21/88, BVerfGE 85, 329 (333); v. 4.6.2012 – 2 BvL 9/08, 2 BvL 10/08, 2 BvL 11/08, 2 BvL 12/08, BVerfGE 131, 88 (118). 15 BVerfG v. 8.3.1972 – 2 BvR 28/1, BVerfGE 32, 373 (379 f.); Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, Vorbemerkung BVerfGG Rz. 183.

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zur Vornahme einer verfassungskonformen Auslegung enthalten, so u.a. in den ­Vorlagebeschlüssen zur fehlenden Buchwertübertragung bei Wirtschaftsgütern zwischen beteiligungsidentischen Personengesellschaften16, zur Einordnung von vor­ organschaftlich verursachten Mehrabführungen als fiktive Gewinnausschüttungen im Rahmen einer Organschaft17, zur Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses des Werbungskostenabzugs für Berufsausbildungskosten18, des § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG19 und zur Verfassungsmäßigkeit und der Zinsschranke in § 4h EStG und § 8a KStG20.

II. Begriff und Funktion der verfassungskonformen Auslegung 1. Begriff der verfassungskonformen Auslegung Die verfassungskonforme Auslegung ist kein spezieller verfassungsrechtlicher Auslegungsgrundsatz, sondern als eine Auslegungsmethode neben anderen Ausdruck des rechtsstaatlichen Grundsatzes, dass rangniedere Normen im Verhältnis und im Licht höherrangiger Normen auszulegen sind21. Die verfassungskonforme Auslegung ist insoweit mit der völker- und europarechtskonformen Auslegung ziel- und strukturverwandt, soweit Völkerrecht oder Europarecht den nationalen Gesetzgeber bindet22. Die verfassungskonforme Auslegung einer steuerlichen Norm bedeutet, von mehreren möglichen Normdeutungen, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, diejenige vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht23. Nach übereinstimmender Auffassung des BFH und des BVerfG ist die verfassungskonforme Auslegung einer steuerlichen Norm dann gebo-

16 BFH v. 10.4.2013 – I R 80/12, FR 2013, 1084 (1089). 17 BFH v. 6.6.2013 – I R 38/11, GmbHR 2013, 1096 (1103 f.). 18 BFH v. 17.7.2014 – VI R 2/12, HFR 2014, 1049 (1064). 19 BFH v. 20.8.2014 – I R 86/13, FR 2015, 86 (94). 20 BFH v. 14.10.2015 – I R 20/15, FR 2016, 416 (426). 21 Burmeister, Die verfassungsorientierte Gesetzesauslegung, S. 29. 22 Löwer in Handbuch des Staatsrechts, § 70 Rz. 126; Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 148; Drüen, StuW 2012, 269 (272). 23 BVerfG v. 26.1.1971  – 2 BvL 2/68, BVerfGE 30, 129 (148); v. 8.3.1972  – 2 BvR 28/71, BVerfGE 32, 373 (383 f.); v. 9.8.1978 – 2 BvR 831/76, BVerfGE 49, 148 (157); v. 24.4.1985 – 2 BvF 2/83, 2 BvF 3/83, 2 BvF 4/83, 2 BvF 2/84, BVerfGE 69, 1 (45); v. 30.3.1993 – 1 BvR 1045/89, 1 BvR 1381/90, 1 BvL 11/90, BVerfGE 88, 145 (166); v. 15.10.1996 – 1 BvL 44/92, 1 BvL 48/92, BVerfGE 95, 64 (93); v. 19.9.2007  – 2 BvF 3/02, NVwZ 2007, 1396 (1401); Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung, S. 15, 65; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 20 Rz. 9; Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung/ Finanzgerichtsordnung, §  4 AO Rz.  238; Drüen, StuW 2012, 269 (271); Lindemann, JuS 2004, 27 (28); Prümm, Verfassung und Methodik, S. 94 f.; Vosskuhle, AöR (2000) 125, 177 (181); Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, S.  28; Löwer in Handbuch des Staatsrechts, § 70 Rz. 126.

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ten, wenn mehrere Deutungen möglich sind, von denen nicht alle, aber zumindest eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt24. Die verfassungskonforme Auslegung setzt daher als Ausgangspunkt die Mehrdeutigkeit einer einfach-gesetzlichen Regelung voraus25. Der Feststellung dieser Mehrdeutigkeit hat stets die Auslegung nach den allgemein anerkannten Auslegungsmethoden Wortlaut, Gesetzeshistorie, Sinn und Zweck und systematischer Zusammenhang voranzugehen26. Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der gesetzlichen Regelungen und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen zumindest eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist die verfassungskonforme Auslegungsvariante geboten27. Eine Norm kann daher nur dann als verfassungswidrig eingestuft werden, wenn keine nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung möglich ist28. Die verfassungskonforme Auslegung ist folglich keine Analogie oder verfassungskonforme Rechtsfortbildung, die der Lückenschließung dient29. Sie setzt voraus, dass eine Norm mehrere Auslegungsmöglichkeiten hat, prüft die Vereinbarkeit der Auslegungsergebnisse auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz30 und verwirft die mit der Verfassung nicht zu vereinbarenden Möglichkeiten. Unter mehreren Auslegungsmöglichkeiten scheiden also diejenigen aus, die mit höherrangigem Verfassungsrecht kollidieren31. Verfassungskonforme Rechtsfortbildung unterscheidet sich hingegen von der Auslegung dadurch, dass sie über den möglichen Wortsinn des Gesetzes hinausgeht und dazu dient, vorhandene und nicht geplante Lücken des Gesetzes auszufüllen32. Die verfassungskonforme Auslegung dient mithin unmittelbar der verfassungsrechtlichen Kontrolle des anhand der übrigen Auslegungsmethoden gefundenen Ergebnisses33. Den Fachgerichten wird damit die Befugnis eingeräumt, eine oder mehrere ­anhand dieser Auslegungsmöglichkeiten ermittelte verfassungswidrige Deutungsmöglichkeiten einer gesetzlichen Regelung außer Betracht zu lassen und in der Ent24 BVerfG v. 4.10.1983 – 1 BvR 1633/82, 1 BvR 1549/82, BVerfGE 65, 116 (128); v. 15.10.1996 – 1 BvL 44/92 u.a., NJW 1997, 722 (725); v. 11.1.2005 – 2 BvR 167/02, FR 2005, 706 (711); v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, NVwZ 2007, 1396 (1401); v. 16.12.2010 – 2 BvL 16/09, NVwZ-RR 2011, 387 (389); s.a. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 14. 25 Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, S. 19; Haak, Normenkontrolle und verfassungskonforme Auslegung des Richters, S. 220. 26 Lindemann, JuS 2004, 27 (30); Rieger, NVwZ 2003, 17 (21). 27 BVerfG v. 24.5.1995 – 2 BvF 1/92, BVerfGE 93, 37 (81); v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, NVwZ 2007, 1396 (1401). 28 Lindemann, JuS 2004, 27 (29). 29 Zur Abgrenzung zur Rechtsfortbildung zutreffend Drüen, StuW 2012, 269 (278 f.); unzutreffend insoweit Eckardt, Die verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 44 f.; Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, S. 206. 30 Vosskuhle, AöR (2000) 125, 177 (196). 31 Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, S. 20. 32 Drüen, StuW 2012, 269 (278). 33 Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 238, m.w.N.

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scheidung nur die mit der Verfassung vereinbaren Auslegungsvariante anzuwenden. Umgekehrt bedeutet dies, dass für eine verfassungskonforme Auslegung kein Platz ist, wenn an der Verfassungsmäßigkeit des zugrunde liegenden Gesetzes keine Zweifel bestehen oder sich sämtliche Auslegungsmöglichkeiten als verfassungswidrig erweisen34. Die verfassungskonforme Auslegung ist damit allein Gesetzesauslegung, nicht Verfassungsauslegung35. Für sie ist nicht allein das Bundesverfassungsgericht zuständig, sondern sie obliegt jedem Richter36. Im Falle ihrer Entscheidungserheblichkeit ist sie damit originäre Aufgabe des Bundesfinanzhofs und auch der Finanzgerichte37. 2. Funktion der verfassungskonformen Auslegung Die verfassungskonforme Auslegung ist eine Möglichkeit des Gerichts, um die Annahme der Unvereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz zu vermeiden. Solange eine steuerliche Norm verfassungskonform ausgelegt werden kann und in dieser Auslegung sinnvoll bleibt, ist sie verfassungsgemäß und kann nicht zum Gegenstand einer Richtervorlage gemacht werden38. Die verfassungskonforme Auslegung dient damit in erster Linie der Normerhaltung, nicht der Normverwerfung (Grundsatz der Normerhaltung)39. Sie bezweckt, die gesetzgeberische Autorität und seine demokratische Legitimation zu achten und im Rahmen der Auslegung von der Absicht des Normgebers so viel aufrechtzuerhalten, wie verfassungsgemäß möglich ist40. Sie ist Reparatur, nicht Verwerfung eines missglückten oder nicht mehr den Anforderungen der Gegenwärt genügenden Gesetzes und kann deswegen auch mit dem Prinzip richterlicher Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber gerechtfertigt werden41. Die verfassungskonforme Auslegung hat also im Wesentlichen eine Stützfunktion, indem sie ein von anderen Auslegungsmethoden vorgegebenes Auslegungsergebnis absichert42. Sie hat zudem eine Auslesefunktion, sofern sie für eine von mehreren möglichen Auslegungsmöglichkeiten den Ausschlag gibt. Zugleich hat sie auch eine

34 Drüen, StuW 2012, 269 (271). 35 Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, S. 28. 36 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl., 2012, Rz. 440; Löwer in Handbuch des Staatsrechts, § 70 Rz. 127. 37 Vgl. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl., 2012, Rz. 440. 38 Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 4 AO Rz. 238. 39 Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, Vorbemerkung BVerfGG Rz. 183; Drüen, StuW 2012, 269 (271 f.); Löwer in Handbuch des Staatsrechts, § 70 Rz. 126 f.; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2015, Rz. 536; Burmeister, Die verfassungsorientierte Gesetzesauslegung, S. 8; Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 280; Zippe­ lius in Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band 2, S. 108 (110 f.); a.A. Prümm, Verfassung und Methodik, S. 93. 40 BVerfG v. 9.8.1978 – 2 BvR 831/76, BVerfGE 49, 148 (157); v. 9.9.1999 – 1 BvR 1327/98, BVerfGE 101, 312 (330); Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 280. 41 Drüen, StuW 2012, 269 (272). 42 Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 88.

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Kontrollfunktion. Denn sie bewahrt das Gericht davor, sich einer verfassungswidrigen Auslegung zu bedienen43. Damit liegt die verfassungskonforme Auslegung einer Norm im Interesse einer stabilen Rechtsordnung, indem sie die Rechtskontinuität und die Einheit der Rechtsordnung gewährleistet44. Sie dient dazu  – ähnlich der systematischen Auslegung  –, eine an sich zweifelhafte Norm in das Gesamtgefüge der Rechtsordnung einschließlich der Verfassung einzupassen und systematische Widersprüche zu vermeiden45. Denn die Kassation einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht  – sei es im Wege der (konkreten) Normenkontrolle (Art.  100  Abs.  1  GG) oder auf eine Verfassungsbeschwerde eines Bürgers oder einer Gemeinde hin (§ 90, § 91 BVerfGG) - schafft infolge des drohenden oder bereits eingetretenen Normvakuums oft erhebliche (meist jahrelange) Rechtsunsicherheit. Die Auswirkungen einer Nichtig- oder Unvereinbarkeitserklärung auf die Rechtspraxis sind oft schwer abschätzbar46. Nicht zuletzt wegen der vom Bundesverfassungsgericht bei Unvereinbarkeitserklärungen eingeräumten (meist großzügigen) Übergangsfristen vergeht bis zu einer Neuregelung viel Zeit, in der Finanzverwaltung und Bürger wegen der Gefahr einer rückwirkenden Regelung mit einem Schwebezustand rechnen müssen. Dies war zuletzt bei der Reform der Befreiungsvorschriften für Betriebsvermögen im Erbschaftsteuerrecht (§§  13a, 13b ErbStG) zu beobachten, die auf eine Vorlage des II. Senats des BFH erfolgt war47 und gilt aktuell für die Regelungen zur Verlustnutzung bei Körperschaften nach Maßgabe des § 8c KStG48. Darüber hinaus verfügen oberste Bundesgerichte wie der Bundesfinanzhof meist über ein deutlich breiteres Fallmaterial als das Bundesverfassungsgericht. Die Fachgerichte können die Auslegung schrittweise und an einer Vielzahl von Einzelfällen sowie mit beschränkter Bindungswirkung zwischen den Beteiligten vornehmen49. Sie verfügen in ihrem Fachgebiet über breite Erfahrung und übersehen daher weit besser 43 BVerfG v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, BVerfGE 119, 247 (274); Prümm, Verfassung und Methodik, S. 95. 44 Birk, StuW 1990, 300 (303); Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 4 AO Rz. 238; Frotscher, Die Abgrenzung der Zuständigkeit der Großen Senate der oberen Bundesgerichte von der Zuständigkeit des BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG, insbesondere bei verfassungskonformer Auslegung, S. 46; Zippelius in Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band 2, S. 108 (111). 45 Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S.  25; Haak, Normenkontrolle und verfassungskonforme Auslegung des Richters, S. 262 f.; Prümm, Verfassung und Methodik, S. 96; Frotscher, Die Abgrenzung der Zuständigkeit der Großen Senate der oberen Bundesgerichte von der Zuständigkeit des BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG, insbesondere bei verfassungskonformer Auslegung, S. 47. 46 Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S.  16; Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 6. 47 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, vorausgehend BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11, BStBl. II 2012, 899. 48 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082; vgl. auch FG Hamburg v. 29.8.2017 – 2 K 245/17, FR 2017, 1134, Az. beim BVerfG 2 BvL 19/17. 49 Vosskuhle, AöR (2000) 125, 177 (196).

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als das BVerfG, welche verschiedenen Auslegungen möglich sind und welche Folgen diese oder jene Auslegung auf das Rechtsleben hat50. Nicht von ungefähr beschränkt sich die verfassungsgerichtliche Prüfungs- und Entscheidungskompetenz bei der Urteilsverfassungsbeschwerde auf die Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts“, also darauf, ob das entscheidende Gericht die Bedeutung eines Grundrechts insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs grundsätzlich verkannt hat, die Entscheidung objektiv unhaltbar und damit willkürlich erscheint und die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung nicht eingehalten worden sind51. Gleichwohl darf nicht unerwähnt bleiben, dass eine Orientierung der verfassungskonformen Auslegung am Grundsatz der Normerhaltung Gefahr birgt, dass die beabsichtige Schonung der Norm in ihr Gegenteil verkehrt wird, also das verfassungsrechtlich Zulässige vom Gericht zum wirklich Gewollten erklärt. Sie kann den Normanwender dazu verleiten, wenn die nächstliegende Auslegungsmethode zu ­einem verfassungswidrigen Ergebnis führt und das Gericht eine (zeitaufwändige) Vorlage nach Art.  100  Abs.  1 GG scheut, nach fern liegenden und eher abwegigen Auslegungsmöglichkeiten zu suchen, um die Norm zu retten52. Durch diesen missbräuchlichen Gebrauch der verfassungskonformen Auslegung werden die Grenzen einer verfassungskonformen Auslegung überschritten und damit letztlich durch das Gericht Recht gesetzt wird, statt das vom Gesetzgeber Geregelte über den Weg der Normenkontrolle als verfassungswidrig aufzuheben zu lassen53. 3. Abgrenzung zur gesetzgeberischen Klarstellung und zur verfassungs­ orientierten Auslegung Von der verfassungskonformen Auslegung einer Norm durch den Bundesfinanzhof ist die Frage zu unterscheiden, ob der Gesetzgeber die Befugnis hat, mit Wirkung für die Vergangenheit den unklaren Inhalt des geltenden Rechts festzustellen oder klarstellend zu präzisieren54. Die Auslegung unklarer Normen und damit auch die Beseitigung verfassungsrechtlicher Zweifel im Wege der verfassungskonformen Auslegung ist grundsätzlich Sache der Gerichte55. Eine eigene Befugnis des Gesetzgebers zur „authentischen Interpretation“ zuvor getroffener Regelungen ist nicht anzuerkennen56. Wird der Gesetzgeber dennoch rückwirkend hinsichtlich einer in ihrer Auslegung umstrittenen Norm präzisierend tätig, kommen die allgemeinen, auf den Grundsätzen des Vertrauensschutzes beruhenden Rückwirkungsgrundsätze zum Tragen. Denn eine durch einen Interpretationskonflikt zwischen Gesetzgeber und

50 Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, S. 34. 51 Vosskuhle, AöR (2000) 125, 177 (196). 52 Drüen, StuW 2012, 269 (276); Pestalozza, NJV 1981, 2081 (2087). 53 Vosskuhle, AöR (2000) 125, 177 (183 f.). 54 Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Vorbemerkung BVerfGG Rz. 183a. 55 BVerfG v. 21.7.2010 – 1 BvR 2530/05, 1 BvL 11/06, 1 BvL 12/06, 1 BvL 13/06, BVerfGE 126, 369 (392); v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1 (38). 56 BVerfG v. 2.5.2012 – 2 BvL 5/10, BVerfGE 131, 20 (37); v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1 (38).

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Rechtsprechung ausgelöste Normsetzung ist nicht anders zu beurteilen als eine durch sonstige Gründe veranlasste rückwirkende Gesetzesänderung57. Die verfassungskonforme Auslegung ist – auch wenn dieser Begriff weder vom Bundesfinanzhof noch vom Bundesverfassungsgericht benutzt wird  – von der verfassungsorientierten (oder verfassungsnahen)58 Auslegung abzugrenzen. Die verfassungsorientierte Auslegung behebt keinen Mangel der Norm, die in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dem Rechtsanwender Freiräume lässt, sondern bindet den Rechtsanwender unmittelbar an verfassungsrechtliche Vorgaben59. Die verfassungsorientierte Auslegung besteht darin, die Regelungen des Grundgesetzes zur Inhaltsbestimmung heranzuziehen60 und den Rechtsanwender dazu verpflichten, neben der einfachrechtlichen Norm weitere verfassungsrechtliche Direktiven zu beachten61. Sie ist damit kein Fall einer verfassungskonformen Auslegung. Die verfassungsorientierte Auslegung wählt nicht zwischen verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten die mit der Verfassung vereinbare aus. Es geht also nicht um das Messen und Prüfen einer Norm sowie ihrer Auslegungsmöglichkeiten am Maßstab des Grundgesetzes. Statt dessen geht es bei der verfassungsorientierten Auslegung darum, bei der Auslegung und Anwendung auslegungsfähiger Normen mit Interpreta­ tionsspielraum (wie z.B. des §  42  AO oder den Billigkeitsregelungen der §§  163, 227  AO) den Grundentscheidungen der Verfassung Beachtung zu verschaffen und diese „verfassungsfreundlich“ auszulegen62.

III. Reichweite verfassungskonformer Auslegung Eine verfassungskonforme Auslegung durch den Bundesfinanzhof liegt dann vor, wenn der Bundesfinanzhof verbindlich eine bestimmte Auslegung als verfassungswidrig und eine bestimmte Auslegung als verfassungskonform gekennzeichnet hat. Der Bundesfinanzhof prüft nur die verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten. Die Verfassungsmäßigkeit der Gesamtnorm wird nicht geprüft63. Dies ist allein dem Bundesverfassungsgericht im Wege der (abstrakten oder konkreten) Normenkontrolle bzw. im Wege der Verfassungsbeschwerde vorbehalten. Der Bundesfinanzhof kann die verfassungskonforme Auslegung im Leitsatz der Entscheidung oder, falls dies unterblieben ist, als tragenden Entscheidungsgrund formu57 BVerfG v. 21.7.2010 – 1 BvR 2530/05, 1 BvL 11/06, 1 BvL 12/06, 1 BvL 13/06, BVerfGE 126, 369 (392); v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1 (38); Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, Vorbemerkung BVerfGG Rz. 183a. 58 So Drüen, StuW 2012, 269 (270 f.); Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 95. 59 Graßhof in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 79 BVerfGG Rz. 20. 60 Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung, S. 15. 61 Drüen, StuW 2012, 269 (271); Graßhof in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, § 79 BVerfGG Rz. 20. 62 Drüen, StuW 2012, 269 (271); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9.  Aufl. 2012, Rz. 448. 63 Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung, S. 118 f.

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lieren. Die Ausführungen des Bundesfinanzhofs entfalten jedoch anders als Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich keine normative Wirkung, sondern binden nach Maßgabe des § 110 FGO nur die Beteiligten des Verfahrens64. Die Ausführungen binden aber im Rahmen der faktischen Wirkung, die der höchstrichterlichen Auslegung eines Rechtssatzes zukommt65. Da sich die Finanzgerichte bei der Gesetzesauslegung an der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs orientieren und eine verfassungskonforme Auslegung im Fall der Zurückverweisung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO) als rechtliche Beurteilung nach § 126 Abs. 5 FGO Bindungswirkung entfaltet, wirkt sie instanzübergreifend. Stellt die verfassungskonforme Auslegung hingegen mangels Entscheidungserheblichkeit lediglich ein obiter dictum dar, entfaltet sie keine Bindungswirkung. Da sie allein die Rechtsanwendung betrifft, behebt die Auslegung durch den Bundesfinanzhof nach Maßgabe des § 118 Abs. 1 FGO keinen tatsächlichen, sondern einen rechtlichen Mangel der Ausgangsentscheidung des Finanzgerichts. Die verfassungskonforme Auslegung erfasst nicht nur prozessuale Regelungen im Hinblick auf die Justizgrundrechte der Art. 101 und Art. 103 GG. Vielmehr bezieht sich die Grundrechtsbindung auch auf materielle Freiheitsrechte und führt dazu, dass die verfassungskonforme Auslegung auch Regelungen des materiellen Steuerrechts betreffen kann. Die Bindungswirkung der Entscheidung des Bundesfinanzhofs erstreckt sich dabei nur auf die Auslegung, nicht auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Norm66. Denn die verfassungskonforme Auslegung beeinflusst allein die Auslegung des Gesetzes. Dies entspricht dem Ergebnis bei gewöhnlichen Auslegungsfragen, bei denen die Bindungswirkung auch nur die zutreffende Auslegung, nicht aber die damit verbundene ausdrückliche oder stillschweigende Bejahung der Verfassungsmäßigkeit der Norm durch den Bundesfinanzhof umfasst67.

IV. Grenzen verfassungskonformer Auslegung Wo die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung liegen, ist schwierig zu bestimmen und nicht unumstritten68. Unstreitig darf durch die verfassungskonforme  Auslegung der normative Gehalt einer Regelung nicht neu bestimmt werden69. Die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung ergeben sich daher aus dem ord64 Ratschow in Gräber, 8. Aufl. 2015, § 110 FGO Rz. 25 m.w.N. 65 Löwer in Handbuch des Staatsrechts, §  70 Rz.  127; Prümm, Verfassung und Methodik, S. 131 f. 66 Frotscher, Die Abgrenzung der Zuständigkeit der Großen Senate der oberen Bundesgerichte von der Zuständigkeit des BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG, insbesondere bei verfassungskonformer Auslegung, S. 48. 67 Frotscher, Die Abgrenzung der Zuständigkeit der Großen Senate der oberen Bundesgerichte von der Zuständigkeit des BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG, insbesondere bei verfassungskonformer Auslegung, S. 48. 68 So Drüen, StuW 2012, 269 (275); vgl. auch Lüdemann, JuS 2004, 29; Nöcker, AO-StB 2011, 22 (23 f.). 69 BVerfG v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, BVerfGE 119, 247 (274).

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nungsgemäßen Gebrauch der anerkannten Auslegungsmethoden70. Eine Norm ist nur dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung vereinbare Auslegung möglich ist71. Der verfassungskonformen Auslegung werden daher durch Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und den Gesetzeszweck Grenzen gezogen72. Ein Normverständnis, dass mit dem Wortlaut nicht mehr in Einklang zu bringen ist, kann durch verfassungskonforme Auslegung ebenso wenig gewonnen werden, wie ein Ergebnis, dass zu dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde73. Denn der der verfassungskonformen Auslegung innewohnende Gedanke der Norm­ erhaltung darf sich nicht in sein Gegenteil verkehren. 1. Wortlaut als Grenze Eindeutige und klar bestimmbare Grenze der verfassungskonformen Auslegung stellt der Wortlaut des Gesetzes dar74. Das Gesetz darf ausgelegt, aber nicht berichtigt werden. Ein Normverständnis, dass in Widerspruch zu dem klar erkennbar geäußerten Wortlaut des Gesetzgebers treten würde, kann daher auch im Wege verfassungskonformer Auslegung nicht begründet werden75. Der Wortlaut ist unstreitig, für jedermann einschließlich des nicht juristisch Vorgebildeten nachvollziehbar und damit ein sicherer Garant für die Legitimationsvermittlung von Texten76. Die verfassungsrechtliche Auslegung endet mithin dort, wo sie mit dem Wortlaut in Konflikt tritt77. Der Wortlaut als Grenze einer verfassungskonformen Auslegung folgt unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), das Bestimmtheit und Klarheit ei-

70 BVerfG v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, BVerfGE 119, 247 (274). 71 BVerfG v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, NVwZ 2007, 1396 (1401); v. 16.12.2014 – 1 BvR 2142/11, NVwZ 2015, 510 (515); v. 31.10.2016 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, NVwZ 2017, 617 (620). 72 BVerfG v. 15.10.1996  – 1 BvL 44/92 u.a., NJW 1997, 722 (725); v. 14.10.2008  – 1 BvR 2310/06, NVwZ 2009, 209 (213); Löwer in Handbuch des Staatsrechts, § 70 Rz. 126. 73 BVerfG v. 15.10.1996 – 1 BvL 44/92 u.a., NJW 1997, 722 (725). 74 BVerfG v. 9.8.1978 – 2 BvR 831/76, BVerfGE 49, 148 (157); v. 11.6.1980 – 1 PBvU 1/79, BVerfGE 54, 277 (299); v. 24.4.1985  – 2 BvF 2/83, 2 BvF 3/83, 2 BvF 4/83, 2 BvF 2/84, BVerfGE 69, 1 (55); v. 15.10.1996  – 1 BvL 44/92, 1 BvL 48/92, BVerfGE 95, 64 (93); v. 19.1.1999 – 1 BvR 2161/94, BVerfGE 99, 341 (358); v. 9.9.1999 – 1 BvR 1327/98, BVerfGE 101, 312 (329); v. 11.1.2005 – 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164 (183); v. 16.12.2014 – 1 BvR 2142/11, NVwZ 2015, 510 (515); Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 13 f.; Prümm, Verfassung und Methodik, S.  154; Zippelius in Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band 2, S. 108 (115 f.). 75 BVerfG v. 11.6.1958 – 1 BvL 149/52, BVerfGE 8, 28 (34); v. 30.6.1964 – 1 BvL 16/62; 1 BvL 17/62; 1 BvL 18/62; 1 BvL 19/62; 1 BvL 20/62: 1 BvL 2162; 1 BvL 22/62, 1 BvL 23/62, 1 BvL 24/62, 1 BvL 25/62, BVerfGE 18, 97 (11); v. 15.10.1996 – 1 BvL 44/92, 1 BvL 48/92, BVerfGE 95, 64 (93); v. 19.1.1999 – 1 BvR 2161/94, BVerfGE 99, 341 (358); v. 14.12.1999 – 1 BvR 1327/98, BVerfGE 101, 312 (329); v. 11.1.2005  – 2 BvR 167/02, FR 2005, 706 (711); v. 14.10.2008 – 1 BvR 2310/06, NJW 2009, 209 (214). 76 Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 42. 77 Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 42.

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ner Norm vorgibt78. Daher kann insbesondere die fehlende Bestimmtheit einer Norm nicht im Wege der verfassungskonformen Auslegung „geheilt“ werden79. Ist nach dem Wortlaut nur eine bestimmte Auslegung möglich, kann ein danach verfassungswidriges Gesetz nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung gerettet werden80. Ebenfalls kann nicht, um die Verfassungsmäßigkeit einer Norm zu bejahen, der Wortlaut ausgehöhlt oder überdehnt werden. Die verfassungskonforme Auslegung ist Gesetzesauslegung und kein Mittel zur Optimierung eines im Einzelfall als unbefriedigend empfundenen Gesetzes81. Anderenfalls würde das die Auslegung vornehmende Gericht der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorgreifen und eine verdeckte Gesetzesänderung vornehmen82. Daher markiert der Wortlaut die Grenze zwischen der Rechtsanwendung mittels zulässiger (verfassungskonformer) Gesetzesauslegung und dem nicht zulässigen Übergriff in den Bereich der Gesetzgebung durch eine Rechtsfortbildung contra legem. Die Wortlautgrenze wahrt daher die Gewaltenteilung und markiert die Schnittstelle zwischen Gesetzgebung und Interpretation des gesetzten Rechts durch die Rechtsprechung83. Die Wortlautgrenze zeigt sich unmittelbar an der im Steuerrecht häufigen Fallkonstellation, bei der eine bestimmte Personengruppe nach dem Wortlaut in eine begünstigende Regelung einbezogen ist, eine bestimmte andere Gruppe hingegen nicht. Hier ist eine verfassungskonforme Auslegung nicht dahin möglich, dass die im Wortlaut nicht genannte Gruppe im Wege der Auslegung in den Kreis der Begünstigten einbezogen wird84. Ein gesetzgeberisches Unterlassen, etwa das Nichteinbeziehen eines bestimmten Personenkreises in eine steuerliche Vergünstigung (z.B. eine Steuerbefreiung, eine Sonderabschreibung oder eine steuerliche Zulage) kann nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung beseitigt werden. Hier bleibt nur der Weg des Art. 100 Abs. 1 GG, wobei sich das Bundesverfassungsgericht einer Normergänzung, die zur Wahrung von Art. 3 Abs. 1 GG geboten erscheint, zurückhaltend gegenüber verhält, um der rechtspolitischen Entscheidung und damit dem gesetzgeberischen Ermessen nicht vorzugreifen85. Insoweit obliegt es der (steuerpolitischen) Entscheidung des Gesetzgebers, den Kreis der begünstigten Steuerpflichtigen eng oder weit auszugestalten, den Umfang der Steuerbefreiung zu begrenzen oder von bestimmten Voraussetzungen abhängig zu machen oder gar die Steuervergünstigung ganz abzuschaffen. 78 BVerfG v. 11.6.1980 – 1 PBvU 1/79, BVerfGE 54, 277 (293). 79 BVerfG v. 11.3.2008 – 1 BvR 2074/05, 1 BvR 1254/07, BVerfGE 120, 378 (423); Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 83. 80 Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 239b. 81 Drüen, StuW 2012, 269 (271). 82 BVerfG v. 10.7.1958  – 1 BvF 1/58, BVerfGE 8, 71 (78  f.); v. 11.1.2005  – 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164 (183); v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, NVwZ 2017, 617 (620). 83 Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 9. 84 BVerfG v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, NVwZ 2017, 617 (619 f.); Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, S. 219. 85 Vgl. z.B. BVerfG v. 17.4.2008 – 2 BvL 4/05, NVwZ 2008, 998 (1003); v. 14.10.2008 – 1 BvR 2310/06, NJW 2009, 209.

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2. Entstehungsgeschichte des Gesetzes als Grenze der Auslegung Eine weitere Grenze der verfassungskonformen Auslegung bildet die historische Betrachtung, die auf die Entstehungsgeschichte der Norm und die dort getroffenen Erwägungen zurückgreift86. Die verfassungskonforme Auslegung kann sich nicht über den historischen Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen. Primärer Anhaltspunkt für den historischen Willen und die ursprünglichen Motive des Gesetzgebers sind die in der parlamentarischen Entstehungsgeschichte erstellten Gesetzesmaterialien. Bei dieser historischen Beschränkung der verfassungskonformen Auslegung sind jedoch zwei Gesichtspunkte zu beachten, die allgemein den Schwachpunkt jeder historischen Betrachtung darstellen. Zum einen sind konkrete Vorstellungen, die von Ausschüssen oder einzelnen Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaften über die nähere Bedeutung oder Reichweite eine einzelnen Bestimmung, eines Normbestandteils oder eines Begriffs und ihrer Handhabung wie Wirkung geäußert werden, keine bindende Grenze. Denn sie sind nicht Bestandteil des Gesetzes geworden87. Sie drücken zwar Beweggründe und Erwartungen aus, sind aber nicht zum Inhalt der Regelung gemacht worden. Zum anderen können sich historische Wertvorstellungen wandeln, den aktuellen Verhältnissen anpassen oder aufgegeben werden88. Die Zielund Zweckmäßigkeitsentscheidungen eines früheren Gesetzgebers entsprechen den heute herrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen nicht immer. Werden geänderte gesellschaftliche Wertvorstellungen und infolge des stetigen Wandels und der Dynamik des Rechtslebens auch außerhalb der streitigen Norm liegende rechtliche Änderungen außer Betracht gelassen, führte dies zu einer Versteinerung des gesetzlichen Willens und Erstarrung des Rechts. Die dann fehlende Lebens- und Sachnähe einer Rechtsnorm führt mittelbar auch zu einer geringeren oder fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz der gesetzlichen Regelung. 3. Gesetzeszweck als Grenze der Auslegung Außer durch den Wortsinn und die Entstehungsgeschichte der Norm wird die verfassungskonforme Auslegung auch durch gesetzgeberischen Zweck begrenzt. Denn das Interesse der Normerhaltung, das im Zweifel eine verfassungskonforme Auslegung gebietet, führt nicht dazu, dass der (klar erkennbare) Wille des Gesetzgebers unbeachtlich wird89. Die verfassungskonforme Auslegung muss daher die prinzipiel86 BVerfG v. 11.6.1980 – 1 PBvU 1/79, BVerfGE 54, 277 (297); v. 24.4.1985 – 2 BvF 2/83, 2 BvF 3/83, 2 BvF 4/83, 2 BvF 2/84, BVerfGE 69, 1 (55); v. 11.1.2005 – 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164 (183); v. 14.10.2008 – 1 BvR 2310/06, NJW 2009, 209 (213); BFH v. 22.10.2014 – X R 18/14, BStBl. II 2015, 371 (379); Haak, Normenkontrolle und verfassungskonforme Auslegung des Richters, S. 8; Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, S. 3. 87 BVerfG v. 11.6.1980 – 1 PBvU 1/79, BVerfGE 54, 277 (298). 88 Vgl. die Entscheidungen zur Gewährung von erbschaftsteuerlichen Freibeträgen (BVerfG v. 21.7.2010 – 1 BvR 611/07, BVerfGE 126, 400), Grunderwerbsteuerbefreiungen (BVerfG v. 18.7.2012 – 1 BvL 16/11, BVerfGE 132, 179) und des Splittingtarifs (BVerfG v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377) für eingetragene Lebenspartnerschaften. 89 BVerfG v. 11.6.1980 – 1 PBvU 1/79, BVerfGE 54, 277 (299); v. 24.4.1985 – 2 BvF 2/83, 2 BvF 3/83, 2 BvF 4/83, 2 BvF 2/84, BVerfGE 69, 1 (55); v. 19.1.1999  – 1 BvR 2161/94,

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le Zielsetzung des Gesetzgebers wahren, darf mit dem (erkennbaren) Zweck des Gesetzes nicht in Widerstreit treten und darf ihm keinen entgegengesetzten Sinn ­geben90. Anders gesagt: Mittels der verfassungskonformen Auslegung darf das gesetzgeberische Ziel und die gesetzgeberische Grundentscheidung nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt, verfälscht oder in sein Gegenteil verkehrt werden91. Die gesetzgeberischen Grundentscheidungen, Wertungen und die darin angelegten Zwecke dürfen nicht deformiert werden92. Vielmehr soll von der Absicht des Normgebers so viel wie verfassungsrechtlich möglich aufrechterhalten bleiben93. Eine Regelung darf nicht in ihrem Zweck her umgestaltet und grundlegend neu bestimmt werden, um sie vor der Verfassungswidrigkeit zu bewahren94. Die Neubestimmung des normativen Inhalts einer Regelung muss dem Gesetzgeber überlassen bleiben. Ansonsten würde im Wege einer verfassungskonformen Umdeutung eine Regelung, die der Gesetzgeber selbst nie erlassen hätte, in die Rechtsordnung eingefügt95. Damit würde nicht nur in die Kompetenzen des Gesetzgebers, sondern auch in die des Bundesverfassungsgerichts eingegriffen. Denn diesem allein ist es nach Art. 100 Abs. 1 GG vorbehalten, ein dem GG widersprechendes Gesetz, das unter der Geltung des Grundgesetzes erlassen worden ist, für verfassungswidrig zu erklären96. Als (praktisches) Problem der Begrenzung der verfassungskonformen Auslegung durch den Gesetzeszweck stellt sich dar, dass sich die Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen des Gesetzgebers nicht immer eindeutig feststellen lassen97. Welche Ziele ein Gesetz verfolgt und welche Zweckmäßigkeitsentscheidungen ihm zu Grunde liegen, lässt sich aus ihm selbst, aus seiner Entstehungsgeschichte und der Gesetzesbegründung meist nur in mehr oder minder unscharfen Umrissen entnehmen98. Einfach ist dies meist noch für Fiskalzwecknormen, die einen vereinfachungs- oder BVerfGE 99, 341 (358); v. 16.12.2010 – 2 BvL 16/09, NVwZ-RR 2011, 387 (389); Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 281. 90 BVerfG v. 11.6.1958 – 1 BvL 149/52, BVerfGE 8, 29; v. 15.10.1996 – 1 BvL 44/92, 1 BvL 48/92, BVerfGE 95, 64 (93); v. 9.9.1999  – 1 BvR 1327/98, BVerfGE 101, 312 (329); v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, BVerfGE 119, 247; v. 31.10.2016 – 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, NVwZ 2017, 617 (620); Löwer in Handbuch des Staatsrechts, § 70 Rz. 126. 91 BVerfG v. 11.6.1958  – 1 BvL 149/52, BVerfGE 8, 29 (34); v. 11.6.1980  – 1 PBvU 1/79, BVerfGE 54, 277 (299); v. 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, NVwZ 2007, 1396 (1401); v. 11.3.2008 – 1 BvR 2074/05, 1 BvR 1254/07, BVerfGE 120, 378 (424); Birk, StuW 1990, 300 (303); Eckardt, Die verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 63. 92 BVerfG v. 11.6.1980 – 1 PBvU 1/79, BVerfGE 54, 277 (298); v. 24.4.1985 – 2 BvF 2/83, 2 BvF 3/83, 2 BvF 4/83, 2 BvF 2/84, BVerfGE 69, 1 (45); v. 22.9.2009 – 2 BvL 3/02, BVerfGE 124, 251 (263); v. 16.12.2014  – 1 BvR 2142/11, NVwZ 2015, 510 (515); Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 281; Rieger, NVwZ 2003, 17 (18); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rz. 449. 93 BVerfG v. 9.9.1999 – 1 BvR 1327/98, BVerfGE 101, 312 (330). 94 BVerfG v. 16.12.2010 – 2 BvL 16/09, NVwZ-RR 2011, 387 (389). 95 Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 67. 96 BVerfG v. 11.6.1958 – 1 BvL 149/52, BVerfGE 8, 29 (34 f.). 97 Birk, StuW 1990, 300 (306). 98 Zippelius in Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band  2, S.  108 (118).

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Verfassungskonforme Auslegung

Lenkungszweck verfolgen (wie z.B. beim Alkopopsteuergesetz99 als Verbrauchsteuer). Schwieriger ist dies bei Normen des materiellen Steuerrechts oder des steuerlichen Verfahrensrechts, die keinen ausdrücklichen Lenkungszweck aufweisen. Das Ziel, gleichmäßige Einnahmen zur Sicherung der staatlichen Aufgabenerfüllung zu sichern, dürfte kein die Auslegung begrenzender Zweck sein, da dieses Ziel für alle steuerlichen Normen in gleicher Weise gilt. 4. Gesamtzusammenhang der Regelung Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss sich die verfassungskonforme Auslegung schließlich auch im Rahmen des Gesamtzusammenhangs der Regelung halten100. Dem Wortlaut einer Regelung kann nur insoweit Bedeutung zukommen, als und wie sie in ihrem Kontext zu verstehen ist101. Eine Regelung darf bei der verfassungskonformen Auslegung daher nur im Zusammenhang der vorgegebenen Sachstrukturen, des Normkontextes und der verfassungsrechtlichen Regelungen als einander ergänzende und bedingende Umstände ausgelegt werden102. Auch hier zeigt sich die Nähe der verfassungskonformen Auslegung zur systematischen Auslegung.

V. Ergebnis Die verfassungskonforme Auslegung kann als Auslegungsmethode sowohl vom Finanzrichter als auch vom Richter am Bundesfinanzhof genutzt werden. Sie stellt den Richter vor die Alternative der Anpassung einer Norm durch Wahl eines verfassungskonformen Auslegungsergebnisses oder der Verwerfung als verfassungswidrig. Bei der Wahl eines verfassungskonformen Auslegungsergebnisses sind der Wortlaut der Norm, die Entstehungsgeschichte des Gesetzes, der vom Gesetz verfolgte Regelungszweck und der Gesamtzusammenhang der Norm im Rechtsgefüge als Auslegungsgrenzen zu beachten. Gelingt eine Auslegung unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht, ist die Norm verfassungswidrig und an einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG geht kein Weg vorbei. Unterlässt der Richter eine mögliche verfassungskonforme Auslegung oder werden die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung überschritten, ist dies von verfassungsrechtlicher Relevanz und die Entscheidung kann auf eine Verfassungsbeschwerde (§ 90 BVerfGG) hin vom BVerfG aufgehoben werden. 99 Gesetz über die Erhebung einer Sondersteuer auf alkoholhaltige Süßgetränke (Alkopops) zum Schutz junger Menschen (Alkopopsteuergesetz – AlkopopStG) v. 23.7.2004, BGBl. I 2004, 1857. 100 BVerfG v. 9.8.1978 – 2 BvR 831/76, BVerfGE 49, 148 (159); v. 11.6.1980 – 1 PBvU 1/79, BVerfGE 54, 277 (299); v. 14.10.2008  – 1 BvR 2310/06, NJW 2009, 209 (213); v. 16.12.2014 – 1 BvR 2142/11, NVwZ 2015, 510 (515); vgl. auch BFH v. 22.10.2014 – X R 18/14, BStBl. II 2015, 371 (379). 101 Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 43. 102 Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 56; Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 135; Burmeister, Die verfassungsorientierte Gesetzesauslegung, S. 4.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung A. III. 2.

Rechtsschutzgewähr und Rechtsfolgeansprüche in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Von Franceska Werth1

Inhaltsübersicht Einleitung I. Gesetzliche Vorgaben II. Gestaltung der Rechtsfolgeanordnung durch das BVerfG 1. Kassation von Steuergesetzen als Ausnahme 2. Fortgeltungsanordnung als Regelfall a) Rechtsfolgeanordnung bei formeller Verfassungswidrigkeit des Steuer­ gesetzes b) Vereinbarkeitserklärung aufgrund verfassungskonformer Auslegung c) Appellentscheidung d) Unvereinbarkeitserklärung III. Rechtsfolgeansprüche aus den Rechts­ folgeanordnungen 1. Rechtsfolgeanspruch bei Nichtig­ erklärung 2. Rechtsfolgeanspruch bei Unvereinbarkeitserklärung ex tunc 3. Rechtsfolgeanspruch bei Unvereinbarkeitserklärung mit Übergangsregelung 4. Rechtsfolgeanspruch bei Unvereinbarkeitserklärung mit Fortgeltungs­ anordnung 5. Ergreiferprämie

IV. Kritik 1. Unsystematische und einzelfallorien­ tierte Rechtsfolgeanordnungen a) Fehlen einer nachvollziehbaren Begründung für die Fortgeltungsanordnung b) Zahlenmäßige Darlegung der fiskalischen Auswirkungen c) Abhängigkeit der Fortgeltungsanordnung von der Geltungsdauer? 2. Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für die Fortgeltungsanordnung 3. Verlust des Rechtsschutzes gegen verfassungswidrige Gesetze 4. Perpetuierung verfassungswidriger Gesetze 5. Eingriff in die Eigentumsgarantie 6. Erosion des Vertrauens in den ­verfassungsrechtlichen Rechtschutz 7. Ermutigung zu verfassungswidriger Gesetzgebung V. Vorbild EuGH VI. Zusammenfassung und Ausblick

1 Für die kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich meiner Senatskollegin, Frau RiBFH Dr. Sabine Haunhorst.

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Franceska Werth

Einleitung Die Rechtsprechung des BFH ist in seiner nun hundertjährigen Geschichte auch durch die Rechtsprechung des erst im Jahre 1951 gegründeten BVerfG geprägt worden. Das BVerfG hat grundlegende Entscheidungen zu den Anforderungen an eine verfassungsgemäße Besteuerung getroffen und durch diese auf das Steuerrecht und die Rechtsprechung des BFH Einfluss genommen2. Die Vielzahl der Entscheidungen des BVerfG zum Steuerrecht sind auch auf die Vorlagefreudigkeit des BFH zurückzuführen, der bis heute dem BVerfG mehr als achtzig Steuergesetze gemäß Art.  100 Abs. 1 GG zur konkreten Normenkontrolle vorgelegt hat. Aber auch die Steuerpflichtigen haben durch ihre Verfassungsbeschwerden dazu beigetragen, dass Steuergesetze für verfassungswidrig erklärt wurden3. Erstaunlich ist dabei, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes durch das BVerfG in der Regel nicht dazu führt, dass die verfassungswidrig erhobene Steuer an den Steuerpflichtigen zurückgezahlt wird. Dies beruht auf der gängigen Praxis des BVerfG, verfassungswidrige Steuergesetze nicht für nichtig zu erklären, sondern deren Fortgeltung bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber anzuordnen. Dadurch verlieren die Steuerpflichtigen ihren Anspruch auf Rückerstattung der verfassungswidrig erhobenen Steuer. Warum es Zeit wird, dass das BVerfG diese viel kritisierte Rechtsprechungspraxis ändert und bei seiner Rechtsfolgeanordnung zukünftig auch die Interessen der Steuerpflichtigen im Blick haben sollte, wird in dem folgenden Beitrag aufgezeigt.

I. Gesetzliche Vorgaben Nach der gesetzlichen Regelung des §  78 Satz  1 BVerfGG zur abstrakten Normenkontrolle hat das BVerfG im Falle der Unvereinbarkeit einer gesetzlichen Regelung mit dem Grundgesetz eine rein kassatorische Kompetenz. Es hat das Gesetz ex tunc für nichtig zu erklären, wenn es zu der Überzeugung gelangt, dass dieses mit dem Grundgesetz „unvereinbar“ ist4. Die Regelung gilt nach § 82 Abs. 1 BVerfGG im Verfahren der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) entsprechend. In Bezug auf die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde ordnet § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG an, dass das Gesetz für nichtig erklärt wird. Aus der Regelung des §  31 Abs.  2 Satz  3 2 So führte z.B. die Entscheidung des BVerfG v. 20.12.1966  – 1 BvR 320/57, 1 BvR 70/63, BVerfGE 21, 12, BStBl. III 1967, 7 zur Verfassungswidrigkeit der Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer zur Einführung der Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug. 3 Ein Beispiel aus jüngerer Zeit sind die erfolgreichen Verfassungsbeschwerden gegen den Ausschluss von eingetragenen Lebenspartnerschaften vom Ehegattensplitting, s. BVerfG v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07, BVerfGE 133, 377, BGBl. I 2013, 1647. 4 Der dogmatische Rechtsstreit, ob es sich bei der Nichtigerklärung um eine Feststellungsoder Gestaltungsentscheidung handelt, soll mangels praktischer Auswirkung nicht näher beleuchtet werden, s. hierzu Graßhof in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, 2015, § 78 BVerfGG Rz. 15 ff.; Hartmann, DVBl. 1997, 1264 ff.

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Rechtsschutzgewähr und Rechtsfolgeansprüche

BVerfGG wird herausgelesen, dass das BVerfG auch die Möglichkeit hat, ein Gesetz als mit dem GG für unvereinbar zu erklären5.

II. Gestaltung der Rechtsfolgeanordnung durch das BVerfG 1. Kassation von Steuergesetzen als Ausnahme Im Steuerrecht hat die in § 78 Satz 1 BVerfGG als Regelfall vorgesehene Nichtigerklärung verfassungswidriger Steuergesetze ex tunc wenig Bedeutung. Konsequent angewandt hat das BVerfG diese Kassationsbefugnis in den Entscheidungen vom 7.7.2010 zur Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen wegen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot6. Ein Beispiel für eine Unvereinbarkeitserklärung ex tunc ist die Entscheidung des BVerfG vom 19.7.2006 zum Abzugsverbot von Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten für ein häusliches Arbeitszimmer beim Fehlen eines anderen Arbeitsplatzes7. Danach war der Gesetzgeber verpflichtet, rückwirkend auf den Beginn des Anwendungszeitraums des Gesetzes den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. 2. Fortgeltungsanordnung als Regelfall Die Kassation eines Steuergesetzes ex tunc ist jedoch die absolute Ausnahme. In der weit überwiegenden Zahl seiner Entscheidungen hat das BVerfG verfassungswidrige Steuergesetze nicht für nichtig erklärt, sondern lediglich deren Verfassungswidrigkeit festgestellt und deren Fortgeltung angeordnet. Diesbezüglich lassen sich folgende Konstellationen unterscheiden: a) Rechtsfolgeanordnung bei formeller Verfassungswidrigkeit des ­Steuergesetzes Ein Mangel im Gesetzgebungsverfahren führt nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG nur dann zur Nichtigkeit des Gesetzes, wenn er evident ist. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben, wenn das BVerfG die Maßstäbe, an denen es das Gesetzgebungsverfahren misst, erst nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens konkretisiert. In diesem Fall erklärt es das Gesetz zwar als mit dem Grundgesetz unvereinbar, aber für wirksam. Die Offensichtlichkeit des Mangels wird somit aus Gründen der Rechtssicherheit – in Bezug auf den Gesetzgeber – zur Tatbestandsvoraussetzung der Nichtigerklärung8. Ein Beispiel hierfür ist die Entscheidung des BVerfG zur Verfas5 Graßhof in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, 2015, § 78 BVerfGG Rz. 44. 6 BVerfG jeweils v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06, BVerfGE 127, 31, BGBl. I 2010, 1297; – 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, BVerfGE 127, 61, BGBl. I 2010, 1296; – 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BGBl. I 2010, 1296, BVerfGE 127, 1, BGBl. I 2010, 1296. 7 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268, BGBl. I 2010, 1157. 8 Graßhof in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, 2015, § 78 BVerfGG Rz. 2.

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sungswidrigkeit des Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform vom 29.10.1997 (BGBl. I 1997, 2590)9. Das BVerfG hat das Gesetz zwar in seinem Beschluss vom 22.9.2009 als formell verfassungswidrig angesehen, da der Vermittlungsausschuss mangels Gesetzesinitiativrechts seine Grenzen überschritten hatte. Es blieb jedoch gültig, da der festgestellte Verfahrensverstoß nicht evident war10. Aber auch dann, wenn der Gesetzgeber ein „evident“ formell verfassungswidriges Steuergesetz erlässt, muss er nicht mit einer rückwirkenden Nichtigerklärung rechnen. So entschied das BVerfG in Bezug auf die im Rahmen des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 eingeführte Regelung des §  45a Abs.  2 Satz  3 Alt. 1 Personenbeförderungsgesetz i.d.F. vom 29.12.2003, dass es für die an der Gesetzgebung beteiligten Organe zwar erkennbar war, dass der Vermittlungsausschuss seine Kompetenzen überschritten hatte11. Dennoch hat es die befristete Fortgeltung des formell verfassungswidrigen Gesetzes angeordnet. Zur Begründung führte es aus, dass den „Interessen verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für weitgehend schon abgeschlossene Zeiträume Rechnung zu tragen sei“12. Dass dieses Argument kritisch zu würdigen ist, wird unter IV. des Beitrags aufgezeigt. b) Vereinbarkeitserklärung aufgrund verfassungskonformer Auslegung Die verfassungskonforme Auslegung hat Vorrang vor der Nichtigerklärung eines formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes. Aus diesem Grund muss bei einem Antrag auf konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG das vorlegende Gericht darlegen, dass eine verfassungskonforme Auslegung der zur Überprüfung gestellten Norm nicht in Betracht kommt. Andernfalls ist die Vorlage unzulässig, ohne dass sich das BVerfG in der Sache selbst mit der Vorlagefrage beschäftigt. Ein Beispiel hierfür ist Vorlage des BFH zur Besteuerung des Ertragsanteils von Bezügen aus Leibrenten nach §  22 Nr.  1 Satz  3 Buchst. a EStG. Nach Auffassung des BVerfG hatte der vorlegende Senat des BFH die nahe liegenden Möglichkeiten einer verfassungskonformen Auslegung nicht ausreichend erörtert, so dass es die Vorlage als unzulässig ansah13. Die vom BVerfG an die Richtervorlagen gestellten Anforde-

9 BVerfG v. 15.1.2008 – 2 BvL 12/01, BVerfGE 120, 56, BGBl. I 2008, 481. 10 Kritisch zu dem Erfordernis der „Evidenz“ der Verfassungswidrigkeit des Gesetzgebungsverfahrens für die Feststellung der formellen Nichtigkeit der Norm Hey in FS Spindler, 2011, 97 (99 ff.). 11 BVerfG v. 18.12.2009 – 2 BvR 758/07, BVerfGE 125, 104, BGBl. I 2010, 68 insoweit sehr deutlich: „Die Vorschläge zur Kürzung von Finanzhilfen des Bundes im Koch/Steinbrück-­ Papier und deren Behandlung in den Ausschüssen und im Plenum des Deutschen Bundestages genügten nicht den Anforderungen an Anträge und Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren, die den Rahmen und Gegenstand eines Vermittlungsverfahrens festlegen“. 12 S. hierzu die kritischen Äußerungen von Hey in FS Spindler, 2011, S. 97 (104) zur „Evidenz“ des Verfassungsverstoßes als zweiter Hürde auf dem Weg zur Nichtigkeit. 13 BVerfG v. 22.9.2009 – 2 BvL 3/02, BVerfGE 124, 251.

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rungen werden aus diesem Grund von Teilen der Literatur auch als zu streng und teilweise undurchsichtig kritisiert14. Es ist aber auch möglich, dass das BVerfG sich bei seiner Entscheidung nicht darauf beschränkt, die Richtervorlage mangels Überprüfung einer verfassungskonformen Auslegung für unzulässig zu erklären, sondern selbst eine verfassungskonforme Auslegung vornimmt. In diesem Fall erklärt es das Gesetz unter Bezugnahme auf diese Auslegung für mit dem Grundgesetz „noch“ vereinbar15. c) Appellentscheidung Ist ein Gesetz nach Auffassung des BVerfG bei seinem Erlass zwar noch verfassungsgemäß, aber aufgrund der veränderten Verhältnisse korrekturbedürftig, hat es mit der sog. Appellentscheidung eine „Zwitterlösung“ geschaffen. Das Gesetz wird zwar als „noch“ verfassungsgemäß beurteilt. Gleichzeitig signalisiert das BVerfG aber dem Gesetzgeber, dass das Gesetz in „absehbarer Zukunft“ aufgrund der veränderten Verhältnisse in die Verfassungswidrigkeit „hineinwächst“. Es erfolgt in der Rechtsfolgeanordnung ein Appell an den Gesetzgeber, die notwendigen Korrekturen vorzunehmen. Ein Beispiel hierfür ist die Entscheidung des BVerfG v. 26.3.1980 zur unterschiedlichen Besteuerung von Renten und Beamtenpensionen16. Zwar genügte die Regelung nach Auffassung des BVerfG in den Streitjahren und in den Folgejahren den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG. Jedoch wurde der Gesetzgeber – ohne eine konkrete Fristsetzung – verpflichtet, eine Neureglung „in Angriff zu nehmen“. Zwölf Jahre später hat das BVerfG in der Nachfolgenentscheidung v. 24.6.1992 dem Gesetzgeber eine weitere „erhebliche Zeitspanne“ eingeräumt, um eine dem Gleichheitssatz entsprechende Neuregelung der Besteuerung aller Altersbezüge zu schaffen. Zu berücksichtigen waren nach Auffassung des BVerfG im Hinblick auf die Fortgeltungsanordnung auch die mit der deutschen Wiedervereinigung entstandenen Probleme17. Erst in seinem Urteil vom 6.3.2002, somit 22 Jahre nach der ersten Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der Beamten- und Rentenbesteuerung, verlor das BVerfG schließlich die Geduld18. Dem Gesetzgeber wurde nunmehr konkret aufgetragen, spätestens mit Wirkung zum 1.1.2005 eine verfassungskonforme Neuregelung zu schaffen. d) Unvereinbarkeitserklärung Soweit die Nichtigerklärung nach § 78 Satz 1 BVerfGG nicht „einfach und folgenlos“ möglich ist, hat das BVerfG – die gerade im Steuerrecht viel kritisierte – Unverein14 Rupp in FS Isensee, 2007, S. 283 (287 f.); Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, S. 47 m.w.N. 15 Z.B. BVerfG v. 15.6.1983 – 1 BvR 1025/79, BVerfGE 64, 229, BGBl. I 1983, 1097 zur Grundbucheinsicht von Sparkassen. 16 BVerfG v. 26.3.1980 – 1 BvR 121/76, 1 BvR 122/76, BVerfGE 54, 11, BStBl. II 1980, 545. 17 BVerfG v. 24.6.1992 – 1 BvR 459/87, 1 BvR 467/87, BVerfGE 86, 369. 18 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73, BGBl. I 2002, 1305 Rz. 216.

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barkeitserklärung mit Fortgeltungsanordnung oder Übergansregelung kreiert. Deren Zielrichtung ist es, die Folgen der Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit einer Norm „abzumildern und schonend zu gestalten“19. Dies ist nach Auffassung des BVerfG insbesondere dann erforderlich, wenn die Nichtigerklärung eines Steuergesetzes den Verfassungsverstoß nicht nur nicht beseitigt, sondern sogar verstärkt20. Dies ist regelmäßig bei der Verletzung des Gleichheitssatzes der Fall21. Das BVerfG hat die Fortgeltungsanordnung zudem mit einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung des Fiskus22 und einer aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgenden richterlichen Selbstbeschränkung23 gerechtfertigt. Schließlich hat das BVerfG die Fortgeltungsanordnung auch mit dem Erfordernis eines gleichmäßigen  Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend abgeschlossenen Veranlagung begründet24. Es hat damit den Belangen der Finanzverwaltung Vorrang vor den aus der Verfassungswidrigkeit des Steuergesetzes folgenden Rechtsfolgeansprüchen des Steuerpflichtigen eingeräumt. Aber auch zugunsten des Steuerpflichtigen hat das BVerfG bisweilen auf die Nichtigerklärung aus Vertrauensschutzgründen verzichtet25. Nicht zu verkennen ist dabei, dass sich die Tenorierung des BVerfG bei der Unvereinbarkeitserklärung auf den Einzelfall bezieht. Die vom BVerfG getroffene Rechtsfolgeanordnung reicht von der Beanstandung des verfassungswidrigen Gesetzes und der Anordnung der befristeten Fortgeltung mit einem Handlungsauftrag an den Gesetzgeber bis zu einer vom BVerfG selbst getroffenen Übergangsregelung bis zum Zeitpunkt einer gesetzlichen Neuregelung. Insoweit ist auch die Rede vom Selbstein­ trittsrecht des BVerfG als „Not- oder Ersatzgesetzgeber“26. Eine Kategorisierung der Rechtsfolgeanordnungen ist daher kaum möglich. In Bezug auf die Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen lassen sich jedoch folgende Fallgruppen unterscheiden: aa) Unvereinbarkeitserklärung mit befristeter Fortgeltungsanordnung Die Unvereinbarkeitserklärung mit befristeter Fortgeltungsanordnung ist eine der zu Recht am häufigsten kritisierten Tenorierungen des BVerfG bei der Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen, soweit es sich nicht um einen Gleichheitsverstoß han19 Gaier, JuS 2011, 961. 20 Z. B. BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, 1 BvR 70/63, BVerfGE 21, 12, BStBl. III 1967, 7; BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216. 21 Z.B. BVerfG v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07, BVerfGE 133, 377. 22 Z.B. bei der Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der begrenzten Berücksichtigung von privaten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen als Sonderaufwendungen im Hinblick auf die Steuerfreiheit des Existenzminimums, BVerfG v. 13.2.2008  – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (168), BGBl. I 2008, 540. 23 So schon BVerfG v. 11.5.1970 – 1 BvL 17/67, BVerfGE 28, 227, 237, BStBl. II 1970, 579; v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, BStBl. II 2007, 192. 24 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, BStBl. II 2007, 192. 25 So z.B. bei der Verfassungswidrigkeit der Regelung über steuerfreie Aufwandsentschädigungen für ins Beitrittsgebiet entsandte Bundesbedienstete, BVerfGE v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280, BStBl. II 1999, 502. 26 Hillgruber, Gouvernement des juges, S.  14; Graßhof in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, 2015, § 78 BVerfGG Rz. 37 Fn. 111; Sangmeister, StuW 2001, 168.

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delt27. Als Rechtsgrundlage für die Fortgeltungsanordnung wird von der Literatur §  35 BVerfGG angeführt28. Das BVerfG stützt diese Rechtsfolgenanordnung – zumeist pauschal und ohne nähere Begründung – auf die „nicht vertretbaren“ fiskalischen Auswirkungen einer Aufhebung des Gesetzes ex tunc. Ein besonders plakatives Beispiel hierfür ist die Entscheidung des BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 zur Verfassungswidrigkeit der steuerlichen Berücksichtigung von privaten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen als Sonderausgaben, in dem das BVerfG nicht einmal ansatzweise begründete, wie es zu dieser Feststellung gekommen ist. Ausreichend für die Fortgeltungsanordnung war, dass „das Bundesministerium der Finanzen nachvollziehbar dargelegt hat dass die Nichtigerklärung … nicht vertretbare fiskalische Auswirkungen habe“, ohne dass diese Darlegung in der Entscheidung des BVerfG wiedergegeben wurde. Der „Sündenfall“ wurde vom BVerfG bereits im Jahr 1966 mit der Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer begangen29. Zwar verstieß das Umsatzsteuergesetz wegen einer gleichheitswidrigen steuerlichen Mehrbelastung der Außenumsätze mehrstufiger Unternehmer gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Das BVerfG sah sich jedoch an einer Nichtigerklärung gehindert, da das Umsatzsteuergesetz nach seiner Ansicht eine „besonders große Bedeutung“ für die Einnahmen des Bundes, die Selbstkosten der Unternehmen und die allgemeine Preisgestaltung hatte. Es hat deshalb eine zeitlich begrenzte Anwendung des für verfassungswidrig erkannten Gesetzes angeordnet. Diese Rechtsprechung findet bis heute Anwendung30. Welche Folgen die Befristung der Fortgeltung für ein Steuergesetz haben kann, zeigt die Entscheidung des BVerfG zur Vermögensteuer vom 22.6.199531. Das BVerfG erklärte die unterschiedliche steuerliche Belastung von Grundbesitz und sonstigem Vermögen bei der Vermögensteuer als mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und ordnete eine Fortgeltung des verfassungswidrigen Gesetzes bis zum 31.12.1996 an. Das Ergebnis ist bekannt. Da der Gesetzgeber sich nicht zu einer Neuregelung nach Maßgabe der Entscheidung des BVerfG entschließen konnte, wird die Vermögensteuer seit dem 1.1.1997 nicht mehr erhoben32. Ein Beispiel, bei dem sich die Fortgeltungsanordnung zu Gunsten der Steuerpflichtigen ausgewirkt hat, ist die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Regelung über steuerfreie Aufwandsentschädigungen für ins Beitrittsgebiet entsand27 S.  z.B. Seer, StuW 2001, 3 (14  ff.); Drüen, FR 1999, 289 (290  ff.); Ipsen, JZ 1983, 41  ff.; Frenz, Die Öffentliche Verwaltung, 1993, 847 ff; Tipke, StuW 2004, 187  ff.; Sangmeister, StuW 2001, 168 ff.; Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, S. 85 ff. 28 Bartone, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Band 2, 2011, S. 73 (81); kritisch Frenz, DÖV, 1993, 847 (851 f.); s.a. unter IV. 2. des Beitrages. 29 BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, 1 BvR 70/63, BVerfGE 21, 12, BStBl. III 1967, 7. 30 Z.B. bei der Berücksichtigung von privaten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen als Sonderaufwendungen mit Hinblick auf die Steuerfreiheit des Existenzminimums BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (168), BGBl. I 2008, 540. 31 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, BGBl. I 1995, 1191. 32 Siehe hierzu Seer in Tipke/Lang, 22. Auflage, 2015, § 16 Rz. 61 f., S. 885 f.

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te Bundesbedienstete33. Das BVerfG sah sich an einer rückwirkenden Unvereinbarkeitserklärung aus Vertrauensschutzgründen gehindert. Die Nichtigerklärung des § 3 Nr. 12 Satz 1 EStG ex tunc hätte nach seiner Auffassung zur Folge gehabt, dass die Steuerbefreiung bei allen noch anfechtbaren Steuerbescheiden entfallen wäre. Ob diese Begründung so zutrifft, ist fraglich. Denn gemäß § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO darf bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass das BVerfG die Nichtigkeit eines Gesetzes festgestellt hat, auf dem die bisherige Steuerfestsetzung beruht. Es ist zu vermuten, dass das BVerfG bei der Tenorierung diese Vorschrift aus dem Blick verloren hat. bb) Unvereinbarkeitserklärung mit unbefristeter Fortgeltungsanordnung und befristetem Gesetzgebungsauftrag Anders als bei der verfassungswidrigen Vermögensteuer ordnete das BVerfG in seinen Entscheidungen zur Verfassungswidrigkeit der Erbschaftsteuer aus den Jahren 200634 und 201435 nicht die befristete Weitergeltung des Gesetzes an, sondern „die weitere Anwendung des geltenden Erbschaftsteuerrechts bis zur gesetzlichen Neuregelung“. Es setzte dem Gesetzgeber lediglich eine Frist, bis zu deren Ablauf er seine Reparaturgesetzgebung abzuschließen hatte36. Dass sich diese Form der Tenorierung von der befristeten Fortgeltungsanordnung unterscheidet, wurde deutlich, als der Gesetzgeber die vom BVerfG für die Reparatur gesetzte Frist bis zum 30.6.2016 verstreichen ließ37. Ganz pragmatisch teilte das BVerfG per Pressemitteilung mit, dass die für verfassungswidrig erklärten Vorschriften des Erbschaftsteuer- und Schenkungssteuergesetzes trotz Ablaufs der Reparaturfrist weiter fortgelten würden38. Der befristete Gesetzgebungsauftrag ist danach nicht zu verwechseln mit der befristeten Fortgeltungsanordnung, nach deren Ablauf das Gesetz keine Anwendung mehr findet. Ob sich das BVerfG bei einer weiteren Untätigkeit des Gesetzgebers zu einer Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG durchgerungen hätte, bleibt offen, da der Gesetzgeber aus der Sicht des BVerfG noch rechtzeitig aktiv geworden ist39. cc) Unvereinbarkeitserklärung mit Übergangsregelung In die dritte Kategorie der Unvereinbarkeitserklärung sind die Entscheidungen einzuordnen, bei denen das BVerfG selbst eine Übergangsregelung getroffen hat. Ein 33 BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280, BStBl. II 1999, 502. 34 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, BStBl. II 2007, 192. 35 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, BStBl. II 2015, 50. 36 Die Tenorierung in BVerfGE 138, 136 lautet: „Das bisherige Recht ist bis zu einer Neuregelung weiter anwendbar. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine Neureglung spätestens bis ... zu treffen“. 37 So war die einhellige Meinung im Schrifttum, dass das Erbschaftsteuergesetz ab dem 1.7.2016 nicht mehr anwendbar ist, wenn bis zu diesem Datum keine Neuregelung erfolgt, s. hierzu Crezelius, ZEV 2016, 367 m.w.N.; Drüen, DStR 2016, 643. 38 Pressemitteilung des BVerfG Nr. 41/2016 v. 14.7.2016. 39 Siehe hierzu Moes, JZ 2017, 858 (862).

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wichtiges Beispiel hierfür ist das Urteil des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der sog. Pendlerpauschale40. Die ab dem 1.1.2007 geltende Neuregelung der Entfernungspauschale für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte gemäß §  9 Abs.  2 Satz 1 und 2 EStG, die lediglich eine steuerliche Berücksichtigung von Fahrtaufwendungen ab dem 21. Kilometer vorsah, wurde wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Folgerichtigkeit für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt. Das BVerfG ordnete an, dass bis zu einer gesetzlichen Neuregelung die Rechtslage weiter anwendbar war, die vor der verfassungswidrigen Neuregelung galt41. Von einer Fortgeltungs­ anordnung sah es ab. Dies rechtfertigte es damit, dass die Vorschrift bis zur Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit nur relativ kurze Zeit anwendbar gewesen sei, die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift stets umstritten gewesen sei und auch die Finanzverwaltung bereits auf Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit mit vorläufigen Regelungen reagiert habe. Kurios ist, dass das BVerfG sich dafür rechtfertigt, ein verfassungswidriges Steuergesetz ex tunc für nichtig zu erklären, was die in § 78 Satz 1 BVerfG gesetzlich angeordnete Folge der Verfassungswidrigkeit ist. dd) Unvereinbarkeitserklärung mit Aufforderung zur rückwirkenden ­Neuregelung Eine weitere Tenorierungsvariante hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 29.3.2017 zur partiellen Verfassungswidrigkeit des § 8c KStG wegen der Ungleichbehandlung von Kapitalgesellschaften beim Verlustabzug entwickelt42. Es hat den Gesetzgeber zu einer auf den Zeitpunkt der Einführung des § 8c KStG rückwirkenden verfassungsgemäßen Neuregelung verpflichtet. Sollte er dieser Verpflichtung nicht bis zum 1.1.2019 nachkommen, tritt die partielle Nichtigkeit des § 8c KStG ex tunc ein. Der BVerfG hat damit einen „Hybrid“ zwischen Unvereinbarkeitserklärung und Nichtigerklärung geschaffen, in dem er dem Gesetzgeber eine Chance gibt, das verfassungswidrige Gesetz nach den Maßgaben seiner Entscheidung rückwirkend zu reparieren. Eine Fortgeltungsanordnung bis zur Neuregelung hat es nicht für notwendig erachtet, da haushaltswirtschaftliche Gründe von den „anhörungsberechtigten Stellen“ nicht geltend gemacht wurden und Schätzungen zu den finanziellen Auswirkungen sich auf „wenige hundert Millionen Euro“ im Jahr beliefen.

40 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210, BGBl. I 2008, 2888. 41 Etwas verklausuliert hat das BVerfG entschieden: „Deshalb ist bis zum Erlass einer endgültigen – rückwirkenden – gesetzlichen Übergangs- und Neuregelung § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG im Wege vorläufiger Steuerfestsetzung (§ 165 AO) sowie entsprechend im Lohnsteuerverfahren, hinsichtlich der Einkommensteuervorauszahlungen und in sonstigen Verfahren, in denen das zu versteuernde Einkommen zu bestimmen ist, mit der Maßgabe an­ zuwenden, dass die tatbestandliche Beschränkung auf ‚erhöhte‘ Aufwendungen ‚ab dem 21. Entfernungskilometer‘ entfällt.“ 42 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BGBl. I 2017, 1289.

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III. Rechtsfolgeansprüche aus den Rechtsfolgeanordnungen Nicht nur für den Kläger des Verfahrens, das vor das BVerfG gelangt, sondern auch für alle anderen Steuerpflichtigen hat die Rechtsfolgeanordnung des BVerfG finanzielle Folgen. Hinsichtlich der Rechtsfolgen, die sich aus der Entscheidung des BVerfG ergeben, sind folgende Konstellationen zu unterscheiden: 1. Rechtsfolgeanspruch bei Nichtigerklärung Aus der Regelung des § 78 Satz 1 BVerfGG folgt nicht unmittelbar, zu welchem Zeitpunkt die Nichtigkeit eines verfassungswidrigen Gesetzes eintritt. Nach h.M. wirkt die Nichterklärung – soweit das BVerfG nichts anderes anordnet – ex tunc43. Das Gesetz ist somit seit seiner Verkündigung nichtig. Die Nichtigerklärung hat nach § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft. Für den Kläger des von dem BVerfG entschiedenen Verfahrens bedeutet dies, dass das verfassungswidrige Steuergesetz bei seiner Besteuerung keine Anwendung mehr finden darf. Der darauf beruhende Steuerbescheid ist nichtig. Bereits gezahlte Steuer ist nach §  37 Abs.  2 AO zu erstatten, da sie ohne rechtlichen Grund gezahlt wurde. Die Erstattungsbeträge sind gemäß §§ 233a, 238 Abs. 1 Satz 1 AO mit 6 % per anno zu verzinsen. Es profitieren aber auch die Steuerpflichtigen, deren Steuerbescheid hinsichtlich der streitigen Frage gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO für vorläufig erklärt wurde, um die massenhafte Erhebung von Einsprüchen und Klagen zu verhindern44. Da durch die Entscheidung des BVerfG die Ungewissheit beseitigt wurde, hat die Finanzverwaltung gemäß § 165 Abs. 2 Satz 2 AO die vorläufige Steuerfestsetzung von Amts wegen zu ändern und die Steuerfestsetzung ohne die für verfassungswidrig erklärte Norm vorzunehmen. Bereits gezahlte Steuer ist nach § 37 Abs. 2 AO zu erstatten, da sie ohne rechtlichen Grund gezahlt wurde, und gemäß §§ 233a, 238 AO zu verzinsen. Leer ausgehen die Steuerpflichtigen, deren Steuerfestsetzung formell bestandskräftig geworden ist, ohne dass die Steuerfestsetzung in Bezug auf die vom BVerfG entschiedene Frage für vorläufig erklärt wurde. Denn die Nichtigerklärung lässt gemäß §§ 79 Abs.  2 Satz  1, 95 Abs.  3 Satz  3 BVerfGG bestandskräftige Steuerbescheide unberührt45. Das BVerfG hat in einer Reihe von Entscheidungen § 79 Abs. 2 BVerfGG als verfassungsgemäß angesehen, da nach seiner Auffassung der Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit dem Rechtsschutz des Einzelnen vorgehen46. Jedoch darf nach § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass das Bundesverfas43 Graßhof in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, 2015, § 78 BVerfGG Rz. 14 m.w.N. 44 Hat die Finanzbehörde mit Rücksicht auf ein beim BVerfG oder BFH anhängiges Verfahren einen Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, Nr. 4 AO angebracht, fehlt insoweit das Rechtsschutzinteresse für eine Klage, s. Heuermann in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 165 AO Rz. 45. 45 Kritisch hierzu Tipke, StuW 2004, 187. 46 BVerfG v. 1.7.1953 – 1 BvL 23/51, BVerfGE 2, 380 (404 f.); v. 12.12.1957 – 1 BvR 678/57, BVerfGE 7, 194 (195 f.).; v. 16.1.1980 – 1 BvR 127, 679/78, BVerfGE 53, 115 (130).

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sungsgericht die Nichtigkeit eines Gesetzes festgestellt hat, auf dem die bisherige Steuerfestsetzung beruht. 2. Rechtsfolgeanspruch bei Unvereinbarkeitserklärung ex tunc Verzichtet das BVerfG auf die Nichtigerklärung und stellt es die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem GG fest, ohne dessen Fortgeltung anzuordnen, folgt daraus die Verpflichtung des Gesetzgebers, bezogen auf den in der gerichtlichen Feststellung genannten Zeitpunkt rückwirkend die Rechtslage verfassungsgemäß umzugestalten. Gerichte und Verwaltungsbehörden dürfen die Norm im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit nicht mehr anwenden, laufende Verfahren sind auszusetzen. Es tritt eine umfassende Anwendungs- und Vollstreckungssperre ein47. Wurde die Steuer noch nicht bezahlt, hat der Steuerpflichtige Glück gehabt. Wurde die Steuerschuld jedoch bereits erfüllt, kann der Steuerpflichtige bis zur rückwirkenden gesetzlichen Neuregelung keine Erstattung der bereits gezahlten Steuern nach § 37 Abs. 2 AO verlangen, da der verfassungswidrige Steuerbescheid bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber Bestand hat. Eine Erstattung der Steuer kommt anders als bei der Nichtigerklärung erst dann in Betracht, wenn durch die Neuregelung der Besteuerungstatbestand zu Gunsten des Steuerpflichtigen rückwirkend geändert wird. Hiervon profitiert der Steuerpflichtige jedoch nur dann, wenn die Steuerfestsetzung  – etwa aufgrund der Anordnung eines Vorläufigkeitsvermerks gemäß §  165 Abs.  1 Satz  2 Nr. 3 AO – noch nicht bestandskräftig festgesetzt geworden ist. Andernfalls stehen §§ 79 Abs. 2 Satz 1, 95 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG einer Änderung der Steuerfestsetzung zu Gunsten des Steuerpflichtigen entgegen48. Diese Regelungen sind analog anzuwenden, wenn das BVerfG von einer Nichtigerklärung des verfassungswidrigen Steuergesetzes absieht und lediglich dessen Unvereinbarkeit mit der Verfassung feststellt49. Einer Änderung der Steuerfestsetzung zu Lasten des Steuerpflichtigen steht auch bei der Unvereinbarkeitserklärung der Vertrauensschutztatbestand des §  176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO entgegen50. Die Erstattung der verfassungswidrig erhobenen Steuer erfolgt somit – wenn überhaupt – verzögert51. Sie ist gemäß §§ 233a, 238 AO mit 6 % per anno zu verzinsen.

47 Ständige Rspr. z.B. BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125, BGBl. I 2008, 540; v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268, BGBl. I 2010, 1157, BStBl. II 2011, 318. 48 Kritisch hierzu Tipke, StuW 2004, 187. 49 BVerfG v. 21.5.1974 – 1 BvL 22/71 u. 21/72, BVerfGE 37, 217 (262); v. 22.3.1990 – 2 BvL 1/86, BVerfGE 81, 363 (384); s. auch BFH v. 11.2.1994 – II R 50/92, BStBl. II 1994, 389, BFHE 173, 383, unter 3. 50 V. Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 176 AO Rz. 143. 51 Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, S. 11.

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3. Rechtsfolgeanspruch bei Unvereinbarkeitserklärung mit Übergangs­ regelung Trifft das BVerfG – wie im Fall der Pendlerpauschale52 – mit der Unvereinbarkeitserklärung eine Übergangsregelung, richtet sich die Besteuerung aller noch offenen oder in diesem Punkt gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufigen Steuerfestsetzungen nach den Anordnungen des BVerfG. Bei bestandskräftigen Bescheiden ist eine Änderung nach der Regelung der §§ 79 Abs. 2 Satz 1, 95 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG, die in diesem Fall analog anzuwenden ist53, ausgeschlossen. Einer Änderung der Steuerfestsetzung zu Lasten des Steuerpflichtigen steht der Vertrauensschutztatbestand des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO entgegen54. 4. Rechtsfolgeanspruch bei Unvereinbarkeitserklärung mit Fortgeltungs­ anordnung Die vom BVerfG bei der Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen überwiegend favorisierte Unvereinbarkeitserklärung mit Fortgeltungsanordnung hat für die Steuerpflichtigen negative Folgen. Die Finanzverwaltung und die Fachgerichte haben aufgrund der Fortgeltungsanordnung die verfassungswidrigen Steuergesetze bis zum Ablauf der vom BVerfG gesetzten Frist weiter anzuwenden und ihren Entscheidungen zugrunde zu legen55. Da die verfassungswidrige Rechtslage aufrechterhalten wird, werden die aufgrund des verfassungswidrigen Steuergesetzes festgesetzten und erhobenen Steuern nicht erstattet. Die Voraussetzungen des § 37 Abs. 2 AO liegen nicht vor, da der rechtliche Grund für die Steuerzahlung nicht entfällt56. Ein Vollstreckungsverbot besteht nicht. Dies gilt grundsätzlich auch für den Kläger des Verfahrens, das bis vor das BVerfG gelangt ist. Auch dieser geht hinsichtlich der Rückzahlung der verfassungswidrig erhobenen Steuer leer aus, so dass man sein Obsiegen im wahrsten Sinne als einen „Pyrrhussieg“ bezeichnen kann57. Immerhin ersetzt ihm die Staatskasse gemäß § 34a Abs. 2 bzw. 3 BVerfGG die notwendigen Auslagen in Bezug auf die zwar begründete, aber im Ergebnis erfolglose Verfassungsbeschwerde58. Verweist das BVerfG den Rechtsstreit nach einer Aussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens aufgrund eines Antrags auf konkrete Normenkontrolle gemäß Art.  100 Abs.  1 GG an den BFH oder das FG zurück, bleibt dem Steuerpflichtigen nur die Möglichkeit, den Rechtsstreit gemäß § 138 FGO für erledigt zu erklären. Die Kosten

52 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210, BGBl. I 2008, 2888. 53 BFH v. 11.2.1994 – II R 50/92, BStBl. II 1994, 389, BFHE 173, 383. 54 V. Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 176 AO Rz. 143. 55 Z.B. BVerfG v. 23.11.1999 – 2 BvR 1455/98, HFR 2000, 219, NJW 2000, 723. 56 So z.B. aufgrund der BVerfG-Entscheidung v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125, BGBl. I 2008, 540. 57 So schon Seer, NJW 1996, 285 (290); Moes, StuW 2008, 27 (34). 58 S.  BVerfG v. 11.10.1994  – 2 BvR 633/86, BVerfGE 91, 186 (207); v. 10.11.1998  – 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216 (246).

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des finanzgerichtlichen Verfahrens sind in diesem Falle vom Gericht nach billigem Ermessen der Staatskasse aufzuerlegen59. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der BFH erfreulicherweise seine Spruchpraxis aufgegeben hat, dass eine Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung nicht zu gewähren ist, wenn zu erwarten ist, dass das BVerfG lediglich die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit einer Fortgeltungsanordnung bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber anordnen wird. Zu Recht verweist der BFH in seinem Beschluss vom 21.11.201360 darauf, dass dem rechtsuchenden Steuerpflichtigen im Hinblick auf seinen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) eine Einschränkung des vorläufigen Rechtsschutzes bei Verfassungsverstößen, von denen der BFH aufgrund seines Antrags auf konkrete Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) selbst überzeugt ist, nicht zuzumuten ist. Diese Rechtsprechungsänderung könnte Auswirkungen auf die Praxis der Fortgeltungsanordnung haben. Zwingt die massenhafte Aussetzung der Vollziehung von Steuerbescheiden wegen verfassungsrechtlicher Zweifel den Fiskus zur budgetären Vorsorge61, wird das Argument der Rücksichtnahme auf die Haushaltsplanung obsolet. Zudem ist ein Vertrauensschutztatbestand für die Finanzverwaltung nicht mehr gegeben62. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch nicht zu verschweigen. Entschließt sich das BVerfG am Ende doch zu einer Fortgeltungsanordnung hinsichtlich des verfassungswidrigen Gesetzes, ist die Aussetzung der Vollziehung aufzuheben und es entstehen gemäß §§ 237, 238 AO Aussetzungszinsen in Höhe von 0,5  % pro Monat der Aussetzung. Dies führt – auch in Anbetracht der Verfahrenszeiten des BVerfG – zu einem nicht unerheblichen finanziellen Risiko des Steuerpflichtigen. 5. Ergreiferprämie Exzeptionell ist die sog. Ergreiferprämie in dem BVerfG-Beschluss zur Verfassungswidrigkeit der Abzugsfähigkeit von Kinderbetreuungskosten und des Haushaltsfreibetrags vom 10.11.199863. Offensichtlich von Skrupeln gepackt, entschieden sich die Richter des BVerfG dafür, dass die Kläger, deren Verfahren bis vor das BVerfG gelangt waren, durch die Fortgeltungsanordnung nicht um die Früchte ihrer Bemü­ hungen gebracht werden durften. Es ordnete an, dass sich der Erfolg der Verfassungsbeschwerde „auch für die jeweils anhängigen Veranlagungszeiträume in einer den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechenden einkommensteuerlichen Entlastung“ auswirken müsse. In seinen Entscheidungen zur Verfassungswidrigkeit der Kinderfreibeträge, die am selben Tag getroffen wurden, hat das BVerfG die Ergreifer59 BFH v. 29.4.2003 – VI R 140/90, BFHE 202, 49, BStBl. II 2003, 719; s.a. Drüen, FR 1999, 289 (290); Seer, StuW 2001, 3 (16); Moes, StuW 2008, 27 (34) Fn. 52. 60 BFH v. 21.11.2013 – II B 46/13, BFHE 243, 162, BStBl. II 2014, 263; kritisch zu der alten Rechtsprechung Drüen, FR 1999, 289 (291); Seer, StuW 2001, 3 (14). 61 Seer, StuW 2001, 3 (17). 62 So auch Balke in FS Lang, 2010, S. 965 (974): „Die erfolgreiche Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes bei der Berufspendlerpauschale vereitelt eine pro-futuro-Entscheidung des BVerfG und gewährleistet so effektiven Steuer-Rechtsschutz“. 63 BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216.

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prämie ausgedehnt und den BFH beauftragt, in allen bei ihm anhängigen Parallelverfahren eine verfassungsrechtlich veranlasste Herabsetzung der Steuerschuld zu prüfen64. Der BFH sollte entscheiden, ob die Kläger durch „eine erweiternde Anwendung der beanstandeten Vorschriften des Einkommensteuergesetzes“ oder „durch die entsprechende Anwendung des Rechtsgedankens der §§ 163, 227 AO“, d.h. durch eine Billigkeitsmaßnahme in den „Genuss“ der Entscheidung kommen könnten. Anderenfalls sollte der Gesetzgeber für die Verfassungsbeschwerdeführer eine rückwirkende Regelung treffen. Der BFH verstand den Auftrag des BVerfG dahingehend, dass er eine der Verfassung gemäße Besteuerung der Kläger unabhängig von den im Klage- und Revisionsverfahren gestellten Anträgen herzustellen hatte65. Der vom BVerfG ersatzweise zur Abhilfe berufene Gesetzgeber hatte im Zuge der Neuregelung keine für die Kläger rückwirkende Regelung getroffen. Auch das Finanzamt hatte es abgelehnt, den Klägern die erforderlichen steuerlichen Entlastungen zukommen zu lassen. Insbesondere hat es die vom BVerfG angeregte Billigkeitsprüfung nicht aufgegriffen. Dies ist verwunderlich, da die Entscheidung des BVerfG nach § 31 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG auch gegenüber der Finanzverwaltung Gesetzeskraft hat. Es war deshalb Aufgabe des BFH, die Vorgaben des BVerfG in einer den Rechtsschutz der Kläger in vollem Umfang wahrenden Weise umzusetzen. Dies hat er getan, indem er – trotz Fortgeltung der verfassungswidrigen gesetzlichen Grundlagen  – die Revision als begründet ansah, das FG-Urteil aufhob und der Klage stattgab. Es handelt sich bei der Gewährung der Ergreiferprämie um singuläre Entscheidungen des BVerfG, die – jedenfalls im Steuerrecht – keine Wiederholung fanden und stark kritisiert wurden66. Problematisch ist die Entscheidung in doppelter Hinsicht. Zum einen gibt es für die Ergreiferprämie  – im Gegensatz zum österreichischen Recht –, weder eine gesetzliche noch eine verfassungsrechtliche Grundlage67. Zum anderen ist die Entscheidung im Hinblick auf den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) fragwürdig. Denn wird die Steuerfestsetzung in Bezug auf die beim BVerfG anhängigen Verfahren gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO für vorläufig erklärt, hat dies zur Folge, dass dem Steuerpflichtigen das Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage abgesprochen wird68. Dies mag zwar zu einer Entlastung der Gerichte führen, verkürzt aber den Anspruch der Steuerpflichtigen auf effektiven Rechtsschutz, wenn nur die Steuerpflichtigen mit der Ergreiferprämie belohnt wer64 BVerfG jeweils v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246, BStBl. II 1999, 174, – 2 BvR 1220/93, BVerfGE 99, 268, BStBl. II 1999, 193; – 2 BvR 1852/97, 2 BvR 1853/97, BVerfGE 99, 273, BStBl. II 1999, 194. 65 S. hierzu BFH v. 3.7.2002 – VI R 87/99, BFHE 199, 392, BStBl. II 2002, 857. 66 Graßhof in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, 2015, § 78 BVerfGG Rz. 70; Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, 1977, S. 175; Drüen, FR 1999, 289 (294); Seer, NJW 1996, 285 (290); Schwenke, DStR 1999, 404 (407); Moes, StuW 2008, 27 (35); Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, S. 73; Glanegger, DStR 1999, 311 (312); Sangmeister, StuW 2001, 168 (176 ff.). 67 Schwenke, DStR 1999, 404 (407 ff.). 68 S. hierzu BFH v. 22.3.1996 – III B 173/95, BFHE 180, 217 und v. 13.4.2000 – XO R 3, 4/99, BFH/NV 2001, 41 m.w.N.

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den, deren Verfahren vor das BVerfG gelangen oder beim BFH anhängig sind. Zudem fehlt es an einem sachlichen Grund für diese gleichheitswidrige Bevorzugung der vor dem BVerfG erfolgreichen Kläger, da es oftmals von Zufällen abhängt, welches Verfahren vor dem BVerfG „landet“69. Das BVerfG hat in seiner Kammerentscheidung vom 23.11.1999 eine Ausweitung der Ergreiferprämie für Kläger, deren Verfassungsbeschwerde zum Zeitpunkt der BVerfG-­ Entscheidung v. 10.11.199870 beim BVerfG anhängig waren, abgelehnt71. Es räumte zwar ein, dass diese Verfassungsbeschwerden „grundsätzlich ebenfalls geeignet waren, eine Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen herbei­zuführen“. Sie entfalteten nach seiner Auffassung jedoch keine „Anstoßwirkung“. Hierzu führt das BVerfG aus: „Das deutsche Verfassungsprozessrecht enthält derzeit keine Regelung, die eine Begünstigung von Anlassfällen unabhängig von einem entsprechenden Ausspruch in der Grundsatzentscheidung allgemein anordnet, so dass es auch insoweit zur Zeit an einer rechtlichen Grundlage fehlt.“ Auch wenn diese Aussage richtig ist, rechtfertigt sie nicht die vorliegende Ungleichbehandlung, sondern zeigt sie gerade auf. Zudem besteht eine Ungleichbehandlung zu all den Klägern, deren Klage gegen ein verfassungswidriges Steuergesetz vor dem BVerfG Erfolg hatte, ohne dass eine Ergreiferprämie vom BVerfG gewährt wurde, so dass sie aufgrund der Fortgeltungsanordnung leer ausgingen. Diese Rechtsprechung des BVerfG kann Steuerpflichtige, die sich auf den mitunter steinigen Rechtsweg begeben, nur entmutigen.

IV. Kritik Grundsätzlich ist die Folge der Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes die rückwirkende Beseitigung seiner Folgen und die Herstellung einer verfassungsgemäßen Rechtslage. Die Anordnung der Fortgeltung ist die Ausnahme72. Dass das BVerfG aus fiskalischer Rücksichtnahme und aus Gründen der Gewaltenteilung die Ausnahme zum Regelfall gemacht hat, ist auf breite Kritik gestoßen. Zahlreiche Stimmen in der Literatur sehen diese Spruchpraxis des BVerfG als verfassungswidrig an, da der Kläger um die Früchte seiner Klage gegen ein verfassungswidriges Gesetz gebracht wird73. Die folgenden Ausführungen sollen die Kritikpunkte verdeutlichen.

69 Seer, StuW 2001, 3 (15 f.); a.A. Moes, StuW 2008, 27 (35) nach dessen Auffassung ein sachlich rechtfertigender Grund für die Ungleichbehandlung ist, dass dem Musterkläger nicht jeglicher Anreiz genommen werden darf, den Klageweg überhaupt zu beschreiten. 70 BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216. 71 BVerfG v. 23.11.1999 – 2 BvR 1455/98, HFR 2000, 219, NJW 2000, 723. 72 Z.B. BVerfG-Urteil zur Pendlerpauschale v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210, BGBl. I 2008, 2888. 73 S. z.B. Seer, StuW 2001, 3 ff.; Drüen, FR 1999, 289 ff.; Ipsen, JZ 1983, 41 ff.; Frenz, Die Öffentliche Verwaltung, 1993, 847  ff.; Tipke, StuW 2004, 187  ff.; Sangmeister, StuW 2001, 168 ff.; Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, S. 85 ff.; Balke in FS Lang, 2010, S. 965.

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1. Unsystematische und einzelfallorientierte Rechtsfolgeanordnungen Die Rechtsfolgeanordnungen des BVerfG bei der Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen sind, man muss es leider so deutlich sagen, einzelfallorientiert und unsystematisch. Ein Maßstab, an dem sich das BVerfG orientiert, ist nicht erkennbar74. Dies soll noch einmal anhand der drei folgenden Beispiele verdeutlicht werden: a) Fehlen einer nachvollziehbaren Begründung für die Fortgeltungs­ anordnung Bei der Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit der steuerlichen Berücksichtigung von privaten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen als Sonderausgaben gemäß § 10 EStG hat das BVerfG zur Begründung seiner Fortgeltungsanordnung lediglich ausgeführt, dass das BMF „nachvollziehbar“ dargelegt habe, dass eine Nichtigerklärung „nicht vertretbare fiskalische Auswirkungen“ habe75. Eine Substantiierung dieser Behauptung unter Darlegung konkreter Zahlen der Haushaltsplanung lässt die Entscheidung vermissen. Völlig unklar bleibt daher, aufgrund welcher Tatsachen das BVerfG die Gefährdung des öffentlichen Haushalts konstatiert hat. b) Zahlenmäßige Darlegung der fiskalischen Auswirkungen Dass es auch anders geht, zeigt die jüngste Entscheidung des BVerfG zur partiellen Verfassungswidrigkeit des § 8c KStG76. Vorbildlich wurden in dieser Entscheidung die haushaltswirtschaftlichen Auswirkungen einer Nichtigerklärung zahlenmäßig dargelegt. Verwunderlich ist, dass das BVerfG sich diese Mühe gemacht hat, da die anhörungsberechtigten öffentlichen Stellen selbst gar keine haushaltswirtschaftlichen Gründe geltend gemacht haben. Das BVerfG fühlte sich demnach von Amts wegen dazu berufen, die finanziellen Auswirkungen der Unvereinbarkeitserklärung ex tunc, die ja die Regel sein sollte, zu überprüfen. c) Abhängigkeit der Fortgeltungsanordnung von der Geltungsdauer? Für die Steuerpflichtigen erfreulich, aber in der Begründung auch auf den Einzelfall bezogen, ist die Entscheidung des BVerfG zur sog. Pendlerpauschale77. Eine Fortgeltungsanordnung aus haushaltswirtschaftlichen Gründen schied nach Auffassung des BVerfG aus, da die verfassungswidrige Vorschrift bis zur Entscheidung des BVerfG „nur vergleichsweise kurze Zeit“ in Kraft gewesen sei. Nähme man das BVerfG beim Wort, so würde dies bedeuten: Je länger ein verfassungswidriges Gesetz Anwendung 74 Ein „dogmatisches Labyrinth, in dem sich selbst die Mitglieder des BVerfG nicht auskennen“, Ipsen, JZ 1983, 41; „vielfach ergebnisorientiert“ und „mit Blick auf die politische Wirklichkeit“, Frenz, DÖV 847 (850); „kaum mehr kalkulierbar“, Seer, NJW 1996, 285 (291). 75 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125, BGBl. I 2008, 540. 76 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BGBl. I 2017, 1289. 77 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210– 248, BGBl. I 2008, 2888.

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findet, desto geringer sind die Aussichten, dass der verfassungswidrige Zustand rückwirkend beseitigt und die Steuern zurückgezahlt werden. Problematisch an der Argumentation des BVerfG ist zudem, dass es von einer Vielzahl von Zufällen abhängt, zu welchem Zeitpunkt das BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde oder Richtervorlage entscheidet78. Auch das weitere Argument, dass die Verfassungsmäßigkeit „stets umstritten“ gewesen sei, vermag nicht zu überzeugen. Soll es von diesen Zufällen abhängen, ob eine verfassungswidrige Norm ex tunc für nichtig erklärt oder ihre Fortgeltung angeordnet wird? Es wäre nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, dass der Rechtsfolgeausspruch des BVerfG sich künftig bei verfassungswidrigen Steuergesetzen an klaren Maßstäben und Begründungsanforderungen orientiert. 2. Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für die Fortgeltungsanordnung Das BVerfG selbst schweigt zu der gesetzlichen oder verfassungsrechtlichen Grundlage, auf die es seine Fortgeltungsanordnung stützt. Eine eindeutige gesetzliche Ermächtigung hierzu ergibt sich weder aus dem GG noch aus dem BVerfGG. §  78 Satz 1 BVerfGG wird aus diesem Grund als „unvollständige“ bzw. „zu enge“ Norm bezeichnet79. Als „ausreichende“ Rechtsgrundlage für die Fortgeltungsanordnung wird von Teilen der Literatur § 35 BVerfGG angesehen80. Bei näherer Betrachtung ist dies jedoch zu verneinen81. Gemäß §  35 BVerfGG kann das BVerfG in seiner Entscheidung bestimmen, „wer sie vollstreckt; es kann auch im Einzelfall die Art und Weise der Vollstreckung regeln“. Es handelt sich danach – anders als bei § 78 Satz 1 BVerfGG, der die Nichtigerklärung verfassungswidriger Gesetze anordnet  – nicht um eine Tenorierungsvorschrift82, sondern um die Ermächtigung des BVerfG zur Exekution seiner bereits getroffenen Entscheidung. Es fehlt somit eine gesetzliche Grundlage für die Fortgeltungsanordnung verfassungswidriger Gesetze83. Diese kann durch Richterrecht nicht ersetzt werden, auch 78 S. hierzu Hey in FS Spindler, 2011, S. 97 (105) mit eindrucksvollen Beispielen. 79 Graßhof in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, 2015, §  78 BVerfGG Rz.  35 Fn.  100; s. a. Kreutzberger, Die gesetzlich nicht geregelten Entscheidungsvarianten des Bundesverfassungsgerichts, 2007, S. 34 ff. m.w.N.; Burghart, NVwZ 1998, 1262 (1263). 80 Burghart, NVwZ 1998, 1262 (1264); Bartone, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Band 2, 2011, S. 73 (81); Gaier, JuS 2011, 961, nach dem § 35 BVerfGG dem BVerfG „alle zur Durchsetzung seiner Entscheidung nötige Kompetenz“ einräumt. Er stützt dies auf die Entscheidung des BVerfG v. 21.3.1957  – 1 BvB 2/51, BVerfGE 6, 300 zur Sicherung der Vollstreckung des KPD-Urteils, die er als „Magna Charta spezifischer verfassungsrechtlicher Durchsetzungsoptionen“ bezeichnet. Zur weiteren Begründung führt er an, dass keine andere staatliche Gewalt und kein Verfassungsorgan die Durchsetzung verfassungsrechtlicher Entscheidungen hindern oder beeinflussen können soll. 81 So auch Frenz, DÖV 1993, 847 (850 f.), der die „Interimskompetenz“ des BVerfG auf Art. 20 Abs. 3 GG stützt, da das BVerfG mit der Rechtsfolgeanordnung die Wahrung der Verfassung sichere; dies ist wenig überzeugend, wenn durch die Fortgeltungsanordnung die verfassungswidrige Gesetzeslage perpetuiert wird; s.a. Sangmeister, StuW 2001, 168 (183 f.). 82 Graßhof in Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, 2015, § 78 BVerfGG Rz. 1. 83 So auch Burghart, NVwZ 1998, 1262 (1264).

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wenn die Entscheidungen des BVerfG nach § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft haben. Sieht § 78 Satz 1 BVerfG als demokratisch legitimiertes, d.h. durch die Mehrheit des Parlaments erlassenes Gesetz als Folge der Verfassungswidrigkeit die Nichtigerklärung des Gesetzes vor, kann eine Ausnahme hiervon nur durch ein solches Gesetz und nicht durch eine Anordnung des BVerfG geschaffen werden84. Danach kann nur aus verfassungsrechtlichen Gründen von der gesetzlich angeord­ neten Nichtigerklärung oder einer Unvereinbarkeitserklärung ex tunc abgesehen werden85. Ein solcher absoluter Ausnahmefall liegt vor, wenn durch die Folge der Nichtigerklärung der Zustand der Verfassungswidrigkeit  – etwa bei einem Gleichheitsverstoß (Art. 3 Abs. 1 GG) oder durch das Entstehen eines Staatsnotstands  – verstärkt würde. Die Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm wird in diesem Fall durch die Verfassung selbst legitimiert. Dass dies der Fall ist, wurde vom BVerfG bei der Anordnung der Fortgeltung verfassungswidriger Steuergesetze, wenn überhaupt, lediglich pauschal behauptet, jedoch nicht eingehend und überzeugend begründet. Das Argument, dass der Staat vor überraschenden Entscheidungen des BVerfG geschützt werden müsse86, greift nicht87. Bei der Besteuerung handelt es sich im klassischen Sinne um Eingriffsverwaltung. Es erscheint daher obskur, wenn das BVerfG die Fortgeltungsanordnung mit dem Vertrauensschutz des Fiskus rechtfertigt. Das Rechtsstaatsprinzip schützt den Bürger vor dem Staat und nicht den Staat vor dem BVerfG. Genauso wenig reicht es zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Fortgeltungsanordnung aus, dass lapidar behauptet wird, dass der Nichtigerklärung des Steuergesetzes „haushaltswirtschaftliche Gründe“ entgegenstünden. Dies hätte zur Folge, dass die Wahrscheinlichkeit für die Anordnung der Fortgeltung eines verfassungswidrigen Gesetzes umso größer ist, je höher die Einnahmen aus der verfassungswidrigen Besteuerung für den Staatshaushalt sind88. Dass zudem rein fiskalische Interessen zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen in Zeiten voller Haushaltskassen nicht genügen können, bedarf keiner weiteren Begründung. 3. Verlust des Rechtsschutzes gegen verfassungswidrige Gesetze Einer der wichtigsten Kritikpunkte ist, dass durch die Fortgeltungsanordnung die Steuerpflichtigen ihres gemäß Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Rechtsschutzes „beraubt

84 So im Ergebnis auch Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, S.  43; Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1266  ff.); a.A. Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz, 2000, S. 62 ff. 85 Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1268). 86 So z.B. BVerfG v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07, BVerfGE 133, 377, BGBl. I 2013, 1647. 87 Moes, StuW 2008, 27 (33). 88 S. hierzu auch Drüen, FR 1999, 289 (290); Hey in FS Spindler, 2011, S. 97 (104 ff.); Seer, StuW 2001, 3, 14 ff.; Balke in FS Lang, 2010, S. 965 (968 ff.); Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, S. 83 ff.

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werden“ bzw. zum „zweiten Sieger“ erklärt werden89. Auch wenn die Verfassungsbeschwerde bzw. Einleitung eines konkreten Normenkontrollverfahrens nach Art. 100 Abs.  1 GG gegen ein Steuergesetz Erfolg hat, „bewahrt“ das BVerfG als Hüter der Verfassung die Steuerpflichtigen nicht vor einer verfassungswidrigen Besteuerung, obwohl es dies könnte. Das Verfassungsgerichtsverfahren verliert dadurch seine Funktion als Individualrechtsschutzverfahren90. 4. Perpetuierung verfassungswidriger Gesetze Hinzu kommt, dass durch die Fortgeltungsanordnungen des BVerfG die verfassungswidrige Gesetzeslage z.T. für sehr lange Zeit zu Lasten der Steuerpflichtigen aufrechterhalten wird. Am Deutlichsten wird dies bei der Erbschaftsteuer. So war die Weiteranwendung des als verfassungswidrig erkannten Erbschaftsteuergesetzes i.d.F. vom 27. Februar 1997 nach Auffassung des BVerfG erforderlich, „um für die Übergangszeit einen Zustand der Rechtsunsicherheit, der insbesondere die Regelung der lebzeitigen Vermögensnachfolge während dieser Zeit erschweren könnte, zu vermeiden“91. Nachdem auch das Folgegesetz vom BVerfG in seiner Entscheidung vom 17.12.2014 für verfassungswidrig erklärt und eine Fortgeltung bis zum 30. Juni 2016 angeordnet wurde92, beläuft sich der verfassungswidrige Zustand auf fast zwei Jahrzehnte. Dies ist schwerlich mit dem Rechtsstaatsprinzip in Einklang zu bringen. Sollte auch das derzeit geltende Erbschaftssteuergesetz vom BVerfG als verfassungswidrig beurteilt werden, droht bei einer weiteren Fortgeltungsanordnung eine ganze Generation von Erben aufgrund eines verfassungswidrigen Erbschaftsteuergesetzes besteuert zu werden. 5. Eingriff in die Eigentumsgarantie Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 18.1.2006 – in Abweichung zu seiner bisherigen Rechtsprechung  – entschieden, dass die Steuerbelastung in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie fällt93. Der innerhalb einer Besteuerungsperiode erfolgte Hinzuerwerb von Eigentum i.S.v. Art. 14 GG ist tatbestandliche Voraussetzung für die belastende Rechtsfolgeanordnung sowohl des Einkommen- als auch des Gewerbesteuergesetzes. Der Steuerpflichtige muss zahlen, weil und soweit seine Leistungsfähigkeit durch den Erwerb von Eigentum erhöht ist. Der Zugriff auf das durch Art 14 Abs. 1 GG geschützte Eigentum ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn die Steuergesetze als Inhalts- und Schrankenbestimmungen verfassungsgemäß sind94. Danach 89 S. hierzu eindringlich Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, S. 44 ff.; Balke in FS Lang, 2010, S. 965 (968 ff.); Seer, StuW 2001, 3 (15); Drüen, FR 1999, 289 (290). 90 Hey in FS Spindler, 2011, S. 97 (101); Seer/Wendt, NJW 2000, 1904 (1911). 91 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, BStBl. II 2007, 192. 92 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, BStBl. II 2015, 50. 93 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97. 94 Vgl. BVerfG v. 12.1.1967 – 1 BvR 169/63, BVerfGE 21, 73.

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führen verfassungswidrige Steuergesetze zu einem Eingriff in die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG. 6. Erosion des Vertrauens in den verfassungsrechtlichen Rechtschutz Zuweilen wird behauptet, dass die Fortgeltungsanordnung verfassungswidriger Steuergesetze das Vertrauen der Bürger in den verfassungsrechtlichen Rechtsschutz erodiere95. Dies ist eine rationale Schlussfolgerung, entspricht aber nicht den Tatsachen. Bis zum heutigen Tag ist das Bestreben der Steuerpflichtigen ungebrochen, durch Verfassungsbeschwerden bzw. die Anregung konkreter Normenkontrollverfahren verfassungswidrige Steuergesetze zu „kippen“96. Dies ist ein positives Signal und widerspricht der Behauptung, dass die Steuerpflichtigen vom BVerfG enttäuscht seien. 7. Ermutigung zu verfassungswidriger Gesetzgebung Viel schwerer wiegt der Vorwurf, dass das BVerfG es dem Steuergesetzgeber zu leicht mache. Indem das BVerfG dem Interesse des Staates an einer verlässlichen Finanzund Haushaltsplanung und dem Interesse der Finanzverwaltung an einem gleichmäßigen Verwaltungsvollzug bereits abgeschlossener Veranlagungszeiträume den Vorrang vor dem Interesse des Steuerpflichtigen an der Rückzahlung verfassungswidrig erhobener Steuern einräumt, ermutigt es den Gesetzgeber, Steuergesetze auf der „verfassungsrechtlichen Kante“ zu nähen und Staatsausgaben durch verfassungswidrige Steuern zu finanzieren97. Der Fiskus hat aufgrund der Fortgeltungsanordnung verfassungswidriger Gesetze keine Sanktionen zu befürchten. Das BVerfG hat den Gesetzgeber selbst bei einer evident verfassungswidrigen Rechtslage berechtigt, durch rückwirkende Steuergesetze seine Fehler zu reparieren und die Verwaltung vor der Rückabwicklung verfassungswidriger Steuerbescheide bewahrt98. Dies ist weder aus Gründen der Gewaltenteilung noch zum Schutze des Gesetzgebers bzw. der Verwaltung gerechtfertigt99. Eine Rückkehr zu einer verfassungsrechtlich „seriösen“ Steuergesetzgebung erscheint erst möglich, wenn das BVerfG die rückwirkende Nichtiger95 Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, S. 40 m.w.N. 96 Nach den Erfahrungen der Verfasserin wird in einer Vielzahl der Revisionsverfahren die Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzten geltend gemacht. 97 Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, S. 53 f.; Arndt, BB 1993, 977 (980): „Freibrief für verfassungswidrige Steuergesetze“; Seer, NJW 1996, 285 (289); ders., StuW 2001, 3 (15); Drenseck, DStR 2009, 1877 (1878); Balke in FS Lang, 2010, S. 965 (970); Hey in FS Spindler, 2011, S. 97 (107); Burghart, NVwZ 1998, 1262 (1264): „Die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes muss zu seiner Unwirksamkeit, Unanwendbarkeit und Ungültigkeit führen, um dem Parlament ... und der Regierung den berechnenden Verfassungsverstoß als Mittel der Politik zu verwehren“. 98 Kritisch hierzu Hey in FS Spindler, 2011, S. 97 (101 f., 107). 99 So aber Moes, StuW 2008, 27 (33), nach dessen Auffassung „die Gesetzgebungsorgane im Regelfall ein berechtigtes Vertrauen darauf haben dürfen, dass die von ihnen als Repräsentanten des Souveräns getroffenen Gesetzgebungsentscheidungen verfassungsrechtlichen Bestand haben werden“.

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klärung verfassungswidriger Steuergesetze wieder zur Regel macht. Dies gilt umso mehr, als ein Staatsnotstand aufgrund der Rückzahlung verfassungswidrig erhobener Steuern bei den derzeitigen Rekordsteuereinnahmen nicht zu befürchten ist.

V. Vorbild EuGH Dass es auch anders geht, zeigt der EuGH, der aus diesem Grund zu Recht als „Steuergerechtigkeitsmotor“ bezeichnet wird100. Die finanziellen Konsequenzen, die sich aus einem im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil zu Lasten eines Mitgliedstaates ergeben, rechtfertigen nach ständiger Rechtsprechung des EuGH für sich allein nicht die zeitliche Begrenzung der Wirkung dieses Urteils101. Die Sicherung nationaler Haushaltsaufkommen kann danach nie eine Beschränkung der Grundfreiheiten rechtfertigen. Wie die Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshof Stix-Hackl zu Recht ausführt, könnte dies andernfalls dazu führen, dass „die schwersten Vorwürfe gegen das Gemeinschaftsrecht günstiger behandelt werden, da gerade diese die bedeutendsten finanziellen Auswirkungen für die Mitgliedstaaten haben“. Hierdurch „würde der (europäische) gerichtliche Rechtsschutz wesentlich eingeschränkt“102. National ist dies – wie bereits aufgezeigt – die Folge der Tenorierungspraxis des BVerfG, das zu sehr auf die finanziellen Interessen des verfassungswidrig handelnden Steuergesetzgebers Rücksicht nimmt.

VI. Zusammenfassung und Ausblick Die vorliegende Untersuchung der Spruchpraxis des BVerfG bei der Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen hat gezeigt, dass die Tenorierungen und deren Begründungen unsystematisch, einzelfallbezogen und widersprüchlich sind. Dadurch, dass das BVerfG regelmäßig dem Haushaltsinteresse des Staates und – noch schlimmer – den Interessen der Finanzverwaltung Vorrang vor den Interessen der Steuerpflich­ tigen einräumt, hat sich das Regel-Ausnahmeverhältnis von Nichtigerklärung und Fortgeltungsanordnung verkehrt. Die Unvereinbarkeitserklärung mit pro futuro Wirkung ist in der Regel verfehlt und verkürzt einseitig den verfassungsrechtlichen Individualrechtsschutz der Steuerpflichtigen. Diese verlieren ihren Rechtsfolgeanspruch auf Erstattung der verfassungswidrig erhobenen Steuern. Zudem tritt eine Perpetuierung verfassungswidriger Steuergesetze ein, was mit dem Rechtsstaatsprinzip nur schwer zu vereinbaren ist.

100 Balke in FS Lang, 2010, S. 965 (969). 101 Z.B. EuGH v. 20.9.2001  – C-184/99  – Grzelczyk, EuGHE 2001, I-6193 Rz.  53; v. 15.3.2005  – C-209/03  – Bidar, EuGHE 2005, I-2119 Rz.  67; v. 3.10.2006  – C-475/03  – Banca Popolare die Cremona, EuGHE 2006, I-9373. 102 Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl v. 5.10.2006 in der Rechtssache C-292/04; s. hierzu auch Balke in FS Lang, 2010, S. 965 (969).

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Es ist daher aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten, diese Spruchpraxis zu ändern. Das BVerfG sollte auch bei der Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen § 78 Satz  1 BVerfG konsequent anwenden und diese rückwirkend für nichtig erklären. War es für den Gesetzgeber erkennbar, dass das Steuergesetz gegen die Verfassung verstößt, ist eine Fortgeltungsanordnung von vornherein ausgeschlossen. Haushaltswirtschaftliche Gründe können mit Ausnahme des Staatsnotstands, dessen Eintritt bislang nicht erkennbar war, eine Fortgeltungsanordnung nicht rechtfertigen. Eine verfassungsrechtlich gerechtfertigte Ausnahme ist nur dann gegeben, wenn sich durch die Nichtigerklärung des Steuergesetzes der verfassungswidrige Zustand verstärkt. Dies kann allenfalls bei einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG gegeben sein. Dass ein solcher Fall vorliegt, muss vom BVerfG in seiner Entscheidung nachvollziehbar begründet werden. Auch der BFH kann durch die konsequente Aussetzung der Vollziehung bei verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit eines Steuergesetzes seinen Beitrag dazu leisten, dass haushaltswirtschaftliche Gründe bei der Entscheidung des BVerfG über die Nichtigkeit von Steuergesetzen keine Rolle mehr spielen.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … B. I.

Steuern und nichtsteuerliche Abgaben in der höchstrichterlichen Rechtsprechung Von Ferdinand Kirchhof

Inhaltsübersicht I. Die vielfältige deutsche Abgaben­ landschaft

VI. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG

II. Steuern und andere Finanzlasten im Grundgesetz

VII. Klassische Vorzugslasten

III. Die Notwendigkeit einer Definition der Steuer

IX. Sozialversicherungsbeiträge

IV. Definition von Steuern und nicht­ steuerlichen Abgaben V. Dichotomie von Steuer und Nicht-Steuer

VIII. Kammerbeiträge X. Sonderabgaben XI. Schaffung einer geschlossenen und vollständigen Finanzverfassung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung

I. Die vielfältige deutsche Abgabenlandschaft Die deutsche Abgabenlandschaft zeigt sich bunt und vielfältig. In ihr finden sich neben den Steuern viele andere Abgabetypen wie Gebühren, Beiträge, Verbandslasten, Versteigerungserlöse1, Umlagen, Ersatzgelder2, Sonderabgaben oder Sozialversicherungsbeiträge. Nach deren Anzahl und Aufkommen ist der Steuerstaat längst zum Abgabenstaat angewachsen. Die Einnahmen aus Sozialversicherungsbeiträgen übersteigen die Steuereinnahmen bei weitem; die Kleinräumigkeit kommunaler Abgaben versteckt deren immense Bedeutung für das Finanzwesen der Kommunen. Finanzlasten greifen permanent und erheblich in die Rechte und in das Vermögen des Bürgers ein. Voluminöse staatliche Etats wecken die Begehrlichkeit von Interessengruppen. Politik ist in einer kommerzialisierten Welt nur noch mit Finanzmitteln zu gestalten. Wegen dieser Wirkungen bedarf das öffentliche Geldwesen klarer Fi1 BVerwG v. 17.8.2011 – 6 C 9/10, juris Rz. 44. 2 BVerwG v. 16.9.2004 – 4 C 5/03, juris Rz. 31.

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nanzregeln. Die Regelungsaufgabe kommt grundlegend der Verfassung zu. Im Detail wird sie dann vom einfachgesetzlichen Finanzrecht erfüllt. Die Unerlässlichkeit grundsätzlicher Regelungen führt zur Erwartung an die Finanzverfassung, das gesamte öffentliche Finanzwesen vollständig zu regeln. Das deutsche Grundgesetz enttäuscht sie aber: Die Art. 110 ff. GG normieren nur den staatlichen Etat und berücksichtigen die Haushalte seiner Trabanten, z.B. von Sozialversicherungsträgern oder Kommunen, nur am Rande. Die Art. 105 ff. GG regeln allein die Steuer3 und stellen nur für den Steuerstaat klare Regeln auf. Andere Abgabetypen werden nur beiläufig in speziellen Konstellationen erwähnt. Der Abgabenstaat bleibt sich selbst ohne konstitutionelle Vorgaben überlassen. Wenn die Verfassung keine positiven Vorschriften enthält, das Gemeinwesen sie aber benötigt, ist die höchstrichterliche Rechtsprechung aufgerufen, die konstitutionelle Lücke zu füllen. Sie muss die nichtsteuerlichen Abgaben definieren, systematisieren und mit den Steuern zu einer gerechten und stimmigen Abgabenordnung zusammenfügen.

II. Steuern und andere Finanzlasten im Grundgesetz Die Art. 105 bis 108 GG regeln Zölle, Finanzmonopole und Steuern. Das Zollrecht im Binnenmarkt liegt in der Kompetenz der Europäischen Union. Mit dem Untergang des Branntweinmonopols haben die archaischen Finanzmonopole in Deutschland jegliche Bedeutung verloren. Die Art. 105 ff. GG regeln somit heute nur noch den Abgabetyp Steuer4. Zur konstitutionellen Erfassung anderer Finanzlasten musste sich die Rechtsprechung auf die Suche nach geeigneten Regeln anderen Orts begeben. Sie hat sie in den allgemeinen Kompetenzregeln des Grundgesetzes5 und in den Grundrechten gefunden.

III. Die Notwendigkeit einer Definition der Steuer Die herausragende Rolle zur Abgrenzung zwischen Steuern und anderen Finanzlasten spielen Art. 105 ff. und 3 GG; daneben wirkt noch Art. 110 auf die Unterscheidung ein. Art. 105 GG gibt dem Bund eine Kompetenz zum Erlass von Gesetzen über Steuern, Art. 106 und 107 Abs. 1 GG verteilen sie auf Bund, Länder und Kommunen, Art. 108 GG befasst sich mit der Steuerverwaltung und -gerichtsbarkeit. Die höchstrichter­ liche Rechtsprechung verwendet für die Abgrenzung von steuerlichen und nicht­ steuerlichen Abgaben Art. 105 GG mit dem Argument, wenn die Steuern im Grundgesetz eigens geregelt seien, müsse ex constitutione ein begrifflicher Unterschied 3 BVerfGE 123, 132 (140 f.); BVerfGE 122, 316 (333); 113, 167 (200); BVerwG v. 24.11.2011 – 3 C 32/10, juris Rz. 27. 4 Siehe Fn. 3. 5 Das sind die Art.  73  f. und 84  ff. GG. BVerwG v. 26.6.2014  – 3 CN 1/13, juris Rz.  12; v. 24.11.2011 – 3 C 32/10, juris Rz. 27.

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Steuern und nichtsteuerliche Abgaben

zwischen steuerlichen und nichtsteuerlichen Abgaben bestehen6. Dieser Teil der Finanzverfassung sei exklusive Steuerverfassung, die andere Abgaben auf die allgemeinen Regeln des Grundgesetzes verweise. Eine verfassungsrechtliche Dichotomie von Steuern und nichtsteuerlichen Abgaben fordert eine strikte Begrifflichkeit. Da Steuern in Art. 105 ff. GG namentlich herausgehoben und besonders geregelt sind, muss für sie eine exakte Definition bestehen. Das Grundgesetz selbst bietet jedoch keine Legaldefinition an. Deswegen greift die höchstrichterliche Rechtsprechung zur historischen Auslegungsmethode und interpretiert die Steuer der Art. 105 ff. GG entsprechend dem bei Erlass des Grundgesetzes vorgefundenen Steuerbegriff7. Diese Lösung bietet sich an, denn die Steuer ist mit einer geringfügigen Modifikation seit 1919 in § 1 der Reichs-, später in § 3 der Abgabenordnung des Bundes einheitlich definiert8. Einfaches Gesetz und Verfassung gehen zur Zeit Hand in Hand.

IV. Definition von Steuern und nichtsteuerlichen Abgaben Danach sind Steuern „Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft.“ Ihre materiellen Definitionsmerkmale sind textlich allerdings selbst in dieser Vorschrift nicht zweifelsfrei vorgegeben. Es waren gerade das Vordringen nichtsteuerlicher Abgaben und die daraus folgende Notwendigkeit ihrer rechtlichen Einhegung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung, die sie trennscharf machten. Im Wesentlichen wird mit der Vorschrift Folgendes festgelegt: Steuern sind monetäre Lasten außerhalb besonderer Rechtsverhältnisse, vor allem außerhalb synallagmatischer Leistungspflichten. Sie werden von Gebietskörperschaften mit Allzuständigkeit und mit zweckungebundenem Haushalt auferlegt. Nicht zu den Steuern zählen demnach Finanzlasten, die für einen bestimmten Zweck erhoben9, durch ihn gerechtfertigt und für ihn verwendet werden. Steuern legitimieren sich grundsätzlich bereits durch die Notwendigkeit der Finanzierung eines selbst nicht wirtschaftenden Staates, der sich seine Finanzmittel durch hoheitlich angeordnete Beteiligung am wirtschaftlichen Erfolg der Gesellschaft besorgt. Sie werden als Gemeinlast jedermann aufgebürdet, der die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt. Weitere Voraussetzungen bestehen für eine Steuerpflicht nicht. In der alltäglichen Praxis spricht man deshalb von „voraussetzungslos“ erhobenen Steuern.

6 Vgl. BVerfGE 110, 370 (387) m.w.N. 7 BVerfGE 67, 256 (282) m.w.N.; BVerwG v. 22.8.1985 – 5 C 18/82, juris Rz. 15. 8 Zur Definition z.B. BFH v. 3.5.2006 – I R 124/04, juris Rz. 35 ff. 9 Das schließt Zwecksteuern nicht aus. Sie werden zur allgemeinen Finanzierung des Staatshaushalts erhoben. Der Gesetzgeber hat lediglich einfachgesetzlich deren Aufkommen für einen bestimmten Zweck vorgesehen, kann diese Widmung aber jederzeit aufheben.

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Für nichtsteuerliche Abgaben existieren keine bundesweiten, allgemeinverbindlichen Legaldefinitionen; zu verschieden sind die einzelnen Abgabearten, zu zahlreich die erhebenden Körperschaften. Es gibt keinen geschlossenen Kanon nichtsteuerlicher Abgaben10. Zwar bleiben sie auch im Grundgesetz nicht ohne Erwähnung. Art.  74 Abs. 1 Nr. 22 GG nennt Gebühren für die Benutzung öffentlicher Straßen, Art. 80 Abs. 2 GG Gebühren für die Benutzung der Einrichtungen des Postwesens und der Telekommunikation, in Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG wird das Recht der Erschließungsbeiträge kompetenziell geordnet. Diese Fundstellen sind aber derartig auf spezielle Situationen zugeschnitten, dass sie nicht zur richterlichen Herleitung einer allgemeinverbindlichen Definition taugen. Auch erfassen sie nur einen Teil der nichtsteuerlichen Abgaben, nämlich die Vorzugslasten, und lassen andere Sonderlasten außer Betracht. Im Ergebnis kommt für sie zur Abgrenzung von Steuern nach Art. 105 GG nur noch eine negative Teil-Definition als „Nicht-Steuern“ in Betracht. Damit erhält zugleich der Steuerbegriff seine überragende, die Definition seines eigenen Abgabenbereichs weit überschreitende Bedeutung11.

V. Dichotomie von Steuer und Nicht-Steuer Wenn Steuern von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen von jedermann „voraussetzungslos“ erhoben werden, scheiden gegenleistungsgebundene, staatsmittelbaren Körperschaften zufließende oder einer kleineren Gruppe auferlegte Abgaben als nichtsteuerliche Finanzlasten aus dem Regime der Art. 105 f. GG aus. Sie müssen sich den Anforderungen der allgemeinen Regeln des Grundgesetzes stellen, die höhere materielle Anforderungen an ihre Erhebung richten und eine Abstützung auf die Art. 73 ff. GG12 verlangen. Bei ihnen steht der Staat vor zusätzlichen und griffigeren konstitutionellen Barrieren sowie unter stetem Rechtfertigungsdruck. Die Dichotomie von Steuer und Nicht-Steuer bewirkt so den Schutz des Bürgers vor überbordender Inanspruchnahme13; das Kompetenzrecht des Art.  105 GG gerät zum Bürgerschutz14.

VI. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG Den zweiten Anker der Dichotomie bildet der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG15. Er verlangt eine finanzielle Gleichbehandlung aller Bürger und für eine 10 BVerfGE 123, 132 (141); BVerwG v. 16.9.2004 – 4 C 5/03, juris Rz. 28; v. 3.12.2003 – 6 C 13/03, juris Rz. 61. 11 Dazu BVerfGE 123, 132 (141). 12 BVerfGE 113, 128 (145); BVerwG v. 26.6.2014 – 3 CN 1/13, juris Rz. 12; v. 24.11.2011 – 3 C 32/10, juris Rz. 25; v. 29.4.2009 – 6 C 16/08, juris Rz. 12. 13 BVerfGE 123, 132 (140 f.); BVerwG v. 10.10.2012 – 7 C 8/10, juris Rz. 23 f.; v. 29.4.2009 – 6 C 16/08, juris Rz. 14. 14 BVerfGE 123, 132 (141); vgl. BVerwG v. 3.12.2003 – 6 C 13/03, juris Rz. 61. 15 BVerwG v. 10.10.2012 – 7 C 8/10, juris Rz. 25.

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Steuern und nichtsteuerliche Abgaben

monetäre Belastung einen sachlichen Grund. Die Steuer wird als (All-)Gemeinlast16 jedermann ohne weitere Voraussetzungen auferlegt. Hinreichender Sachgrund für sie ist dem Grunde nach bereits die Finanzierungsnotwendigkeit des Staates; die individuelle Belastungshöhe wird nach einhelliger Rechtsprechung durch den Grundsatz der finanziellen Leistungsfähigkeit bestimmt17. Erst wenn ein steuerlicher Tatbestand zu Subventions- oder Anreizzielen zusätzlich differenziert, muss der Belastungsunterschied sachlich besonders gerechtfertigt werden. Reine, in sich konsequente Finanzzwecksteuern stoßen deshalb selten auf Probleme mit dem Gleichheitssatz. Die Rechtsprechung wendet Art. 3 GG im Steuerrecht anders als sonst, nämlich invers, an18. Grundsätzlich verlangt er für grundlegende Eingriffstatbestände gewichtigere Sachgründe als für folgende Detailregelungen; für jene reichen wegen ihrer geringeren Belastungswirkungen weniger gewichtige aus. Im Steuerrecht wird die Gleichheitsprüfung umgekehrt: Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber darf den Steuergegenstand und den Steuersatz bis zur Grenze evidenter Willkür frei wählen, obwohl sie den wesentlichen Eingriff bestimmen19. Das Steuerrecht lebt hier aus dem Diktum des Gesetzgebers20. Erst wenn er ausgewählt hat, greift die höchstrichterliche Rechtsprechung nach dem Grundsatz der Folgerichtigkeit bei der Ausge­ staltung des Steuergesetzes schärfer zu und verlangt für jede Abweichung vom zuvor getroffenen Belastungsentscheid einen konsequenten, diese Entscheidung fortführenden Grund21. Die Rechtsprechung fordert damit für die Ausgestaltung einer Steuer im Detail Sachgründe von höherem Gewicht als für die grundsätzliche Belastungsentscheidung. Eine andere Rolle nimmt der Gleichheitssatz bei nichtsteuerlichen Abgaben ein. Er gilt als „zentrales Zulässigkeitserfordernis“22 der Sonderlasten. Mit dem Argument, sie würden jeweils eine kleinere Gruppe aus der Gesamtheit aller Steuerpflichtigen besonders belasten, verlangt die höchstrichterliche Rechtsprechung für deren Er­ hebung einen im Gesetz deutlich erkennbaren23, besonderen24 Sachgrund. Dies gilt sowohl für den finanziellen Zugriff an sich als auch für dessen Höhe25. Die Sonderlasten stehen deshalb unter stetem Rechtfertigungsdruck26, der sowohl ihren Zugriffsgrund als auch die Abgabenhöhe von Verfassung wegen bestimmt. Art. 3 GG liefert für sie sowohl Definitionsmerkmale als auch Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen; beide gehen ineinander über27. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG wird hier in der üblichen Weise angewandt, dass sich der Zugriffsgrund als we16 BVerfGE 123, 132 (140). 17 BVerfGE 141, 1 (40) m.w.N.; 139, 1 (13). 18 Dazu F. Kirchhof, BB 2017, 662 (664). 19 BVerfGE 138, 136 (182); 137, 350 (369 f.); 135, 126 (148). 20 BVerfGE 137, 350 (364). 21 BVerfGE 139, 1 (13); 137, 350 (366); 122, 210 (231). 22 BVerfGE 124, 235 (249). 23 BVerwG v. 3.12.2003 – 6 C 13/03, juris Rz. 68 f. 24 BVerfGE 124, 235 (249); 122, 316 (333 f.). 25 BVerfGE 124, 235 (249); vgl. BVerwG v. 16.9.2004 – 4 C 5/03, juris Rz. 28. 26 BVerwG v. 24.6.2015 – 9 C 23/14, juris Rz. 18. 27 Vgl. BVerwG v. 13.6.2009 – 9 B 2/09, juris Rz. 21.

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sentliche Belastungsentscheidung gewichtiger erweisen muss als die Gründe der nachfolgenden Detaillierung der Abgabe. Mit dieser Auslegung des Gleichheitssatzes ist es der Rechtsprechung gelungen, das gesamte Recht der Sonderlasten verfassungsrechtlich einzufangen und zu systematisieren. Das ist angesichts der Fülle der Sonderlasten und ihrer dynamischen Entwicklung eine beachtliche Leistung, die trotz des Fehlens eigener Verfassungsregeln Rechtssicherheit geschaffen hat. Die richterrechtlich veranlasste, gleichheitsrechtlich fundierte Abgrenzung von steuerlichen und nichtsteuerlichen Finanzlasten ist zur konstitutionellen Prägung eines Gesamtsystems der Sonderlasten angewachsen. Im Ergebnis bestimmt der allgemeine Gleichheitssatz sowohl die Ordnung als auch die Bemessung der Sonderlasten auf Verfassungsebene. Als roter Faden durchzieht der Sachgrund, der jeweils die Erhebung legitimiert, die gesamte Systematik der Sonderlasten28. Mit dieser Technik hält die Rechtsprechung das Recht der Sonderlasten, das keinen abgeschlossenen Kanon von Abgabetypen aufweist, für zukünftige Entwicklungen offen, begrenzt aber zugleich auch deren ungehemmte Expansion. Da Sonderlasten eine große Vielfalt aufweisen, gelingt die Abgrenzung zur Steuer erst in der Betrachtung der einzelnen Abgabeart. Eine allein binäre Gegenüberstellung von Steuer und „Nicht“-Steuer kann die gesamte Rechtswirklichkeit des Abgabenstaates nicht erfassen.

VII. Klassische Vorzugslasten Konturenscharf werden Sonderlasten definiert und legitimiert, denen eine indivi­ duelle Leistung des Staates gegenübersteht29. Das besondere Rechtsverhältnis weist sie dann vor Art. 105 GG als „Sonder“-Last aus. Ihr besonderer Erhebungsgrund30 trennt sie weiter von der Steuer. Das zeigt sich am deutlichsten bei den Vorzugslasten31 der Gebühr und des Beitrags. Bei ihnen ist eine Kollision mit der Steuer wegen ihrer Gegenleistungsbezogenheit kaum zu befürchten32. Die Abgabeart der Gebühr wird vom Grundgesetz in groben Konturen von Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 und 80 Abs. 2 GG vorgezeichnet, ist jedoch nicht abschließend bundesweit definiert33. Wenn sie dort für die Benutzung der Straßen oder der Einrichtungen des Postwesens und der Telekommunikation vorgesehen wird, zeigt das ihren zulässigen Einsatz als Gegenleistung für die Inanspruchnahme einer besonderen staatlichen34 Leistung. Die Rechtsprechung und die Literatur verallgemeinern das in der Formel, Gebühren würden als öffentlich-rechtliche Geldleistungen aus Anlass individuell zurechenbarer

28 BVerwG v. 24.6.2015 – 9 C 23/14, juris Rz. 18. 29 BVerwG v. 21.4.2004 – 6 C 20/03, juris Rz. 23. 30 BFH v. 30.3.2011 – I B 136/10, juris Rz. 17; v. 30.3.2011 – I R 61/10, juris Rz. 10. 31 BVerwG v. 29.4.2009 – 6 C 16/08, juris Rz. 15. 32 BVerfGE 123, 132 (141). 33 BVerwG v. 24.6.2015 – 9 C 23/14, juris Rz. 18; v. 29.4.2009 – 6 C 16/08, juris Rz. 15. 34 BVerwG v. 4.7.1986 – 4 C 50/83, juris Rz. 12.

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öffentlicher Leistungen auferlegt35 und seien dazu bestimmt, in Anknüpfung an diese Leistung deren Kosten ganz oder teilweise zu decken36. Damit sind sie begrifflich zuverlässig von der Steuer unterschieden37. Legitimierender Sachgrund ist mithin die Erbringung einer besonderen staatlichen Leistung in einem individuellen Rechts­ verhältnis, die sie finanziell ausgleichen soll38. Ob sie in einer Sach-, Rechts- oder Dienstleistung besteht, erfassen einfachgesetzlich die Verwaltungskosten- und Kommunalabgabengesetze mit den Begriffen der Benutzungs-, Verleihungs- und Verwaltungsgebühr. Nach dieser Formel der Rechtsprechung ist der Sachgrund für ihre Bemessung u.a. die Kostendeckung der staatlichen Leistung39. Das stellt einen der zulässigen Sachgründe zutreffend dar, ist aber etwas unglücklich formuliert, denn Gebühren dürfen gleichheitsgerecht auch nach dem Wert der Leistung40 ‒ Äquivalenzprinzip ‒ oder nach Lenkungszielen bemessen werden41 und dabei den Kostengesichtspunkt sogar völlig außer Acht lassen. Der Beitrag ist ebenfalls im Grundgesetz nur am Rande berücksichtigt; Art. 74 Abs. 1 Nr.  18 GG weist das Recht der Erschließungsbeiträge den Ländern zu. Er folgt als zweite Vorzugslast derselben – nicht bundesweit verbindlich vorgegebenen42 ‒ Definition mit der Modifikation, dass bereits die realistische Möglichkeit der Inanspruchnahme einer öffentlichen Einrichtung, also schon die potentielle, nicht erst die tatsächliche Inanspruchnahme einer staatlichen Leistung, zur Erhebung berechtigt43.

VIII. Kammerbeiträge Die Kammern der Freien Berufe fordern von ihren Mitgliedern Kammerbeiträge. Es sind ebenfalls Sonderlasten, deren Erhebung einer besonderen Rechtfertigung bedarf44. Entgegen ihrer Bezeichnung handelt es sich indessen nicht um Beiträge im oben bezeichneten Sinn, sondern um öffentlich-rechtliche Mitgliedsbeiträge. Denn sie werden nicht für die Möglichkeit entrichtet, von der Kammer eine einzelne, besondere Leistung zu erhalten, sondern entgelten das Mitgliedschaftsrecht inklusive des Stimmrechts45. Wer der Kammer angehört und ihre Tätigkeit als Mitglied mitbe35 BVerfGE 113, 128 (148); BFH v. 30.3.2011  – I B 136/10, juris Rz.  14; v. 30.3.2011  – I R 61/10, juris Rz. 7; BVerwG v. 29.4.2009 – 6 C 16/08, juris Rz. 15; v. 21.4.2004 – 6 C 20/03, juris Rz. 24. 36 BVerfGE 113, 128 (148); BFH v. 30.3.2011  – I B 136/10, juris Rz.  14; v. 30.3.2011  – I R 61/10, juris Rz. 7; BVerwG v. 21.4.2004 – 6 C 20/03, juris Rz. 24; v. 3.12.2003 – 6 C 13/03, juris Rz. 58. 37 BVerwG v. 24.6.2015 – 9 C 23/14, juris Rz. 18. 38 BVerwG v. 29.4.2009 – 6 C 16/08, juris Rz. 15; v. 21.4.2004 – 6 C 20/03, juris Rz. 24. 39 BVerwG v. 21.4.2004 – 6 C 20/03, juris Rz. 24; v. 3.12.2003 – 6 C 13/03, juris Rz. 58. 40 BFH v. 30.3.2011 – I B 136/10, juris Rz. 16 ff. 41 BVerwG v. 24.6.2017 – 9 C 23/14, juris Rz. 31; v. 3.12.2003 – 6 C 13/03, juris Rz. 66. 42 BVerwG v. 29.4.2009 – 6 C 16/08, juris Rz. 15. 43 BVerfGE 123, 132 (140); 113, 128 (148); BVerwG v. 24.6.2015  – 9 C 23/14, juris Rz.  18; BVerwG v. 12.3.2014 – 8 C 27/12, juris Rz. 21; v. 29.4.2009 – 6 C 16/08, juris Rz. 15. 44 BVerfG v. 12.7.2017 – 1 BvR 1106/13, Rz. 71. 45 BVerfG v. 12.7.2017 – 1 BvR 1106/13, Rz. 71.

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stimmen kann, muss auch für ihre Finanzierung einstehen. Deshalb sticht der häufig gegen einen Kammerbeitrag geäußerte Einwand nicht, man habe im jeweiligen Haushaltsjahr gar keinen Vorteil von der Kammer erhalten und sie überhaupt nicht in Anspruch nehmen wollen. Eine derartige Argumentation gründet auf der verfehlten Vorstellung, der Kammerbeitrag sei eine Vorzugslast. Er legitimiert sich jedoch bereits aus der Mitgliedschaft46; nur so kann er eine zuverlässige Haushaltsplanung der Kammer in jedem Jahr sichern. Sonderlasten in der Gestalt von öffentlich-rechtlichen Mitgliedsbeiträgen firmieren in der Rechtsprechung unter dem Namen Verbandslast47.

IX. Sozialversicherungsbeiträge Sozialversicherungsbeiträge bewegen sich außerhalb der Steuern, denn sie werden im besonderen Rechtsverhältnis zwischen Versichertem und Sozialversicherungsträger zur Abdeckung eines individuellen Risikos erhoben. Sie zählen somit trotz ihrer massenhaften Erhebung zu den Sonderlasten. Die Regeln der Art. 105 ff. GG gelten für sie nicht48. Ihr Grund und ihre Grenzen bestimmen sich aus der Aufgabe des Sozialversicherungsträgers49. Sie lehnen sich sprachlich ebenfalls an den Beitragsbegriff an, sind aber gleichfalls von anderer Rechtsnatur50. Sie zeigen zwar eine Nähe zum Beitrag wegen der angebotenen Möglichkeit zur Inanspruchnahme eines Sozialversicherungsträgers in Form von Renten-, Gesundheits- oder Pflegeleistungen. Sie unterscheiden sich aber von ihm dadurch, dass sie ein Risiko gegen Prämienzahlung versichern und die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Leistung erst nach Eintritt des Risikos besteht. Auch werden sie nicht nach der konkreten Möglichkeit der Inanspruchnahme sondern nach einem generellen Äquivalenzprinzip, nach sozialen Ausgleichsgedanken, nach Wartezeiten und nach der Höhe der insgesamt gezahlten Prämie berechnet. Das im Sozialversicherungsrecht übliche Umlageverfahren entfernt sie noch weiter vom klassischen Beitrag: der Sozialversicherungsbeitrag garantiert letztlich nur eine gleiche Teilhabe an der im jeweiligen Haushaltsjahr zur Verfügung stehenden Gesamtsumme der Einnahmen51. In der Renten- und in der Arbeitslosenversicherung entrichten die im Beruf Aktiven Sozialversicherungsbeiträge und beziehen die aus dem Beruf Ausgeschiedenen Leistungen; im zeitlichen Verlauf des Sozialversicherungsverhältnisses entspricht das ebenfalls nicht dem klassischen Beitrag, denn in der Aktivenzeit besteht gar keine Möglichkeit zur Inanspruchnahme der staatlichen Leistung und beim späteren Rentenbezug wird kein Sozialversicherungsbeitrag mehr entrichtet. Da grundsätzlich das Risiko von Arbeitnehmern versichert

46 BVerfG v. 12.7.2017 – 1 BvR 1106/13, Rz. 71; ähnlich BVerwG v. 11.7.2007 – 9 C 1/07, juris Rz. 40. 47 BVerfGE 113, 128 (149); BVerwG v. 11.7.2007 – 9 C 1/07, juris Rz. 38. 48 BVerfGE 113, 167 (209 ff.); 128, 149. 49 BVerfGE 113, 167 (203). 50 So schon BVerfGE 14, 312 (317). 51 BVerfGE 76, 256 (304).

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wird52, legitimiert sich der finanzielle Zugriff nach der Rechtsprechung nicht nur aus dem Gedanken der Eigensicherung des Arbeitnehmers sondern auch aus der sozialen Verantwortung des Arbeitgebers für ihn53; beide sind zahlungspflichtig. Letztlich ist ein Sozialversicherungsbeitrag eine öffentlich-rechtliche Versicherungsprämie, die an eine Sozialversicherungskörperschaft entrichtet wird, die nach anderen als privatwirtschaftlichen Versicherungsprinzipien54 belastet. Für diese Finanzlast existieren  – etwas versteckt  – weitere Finanzierungsregeln im Grundgesetz. Die Rechtsprechung gründet sie auf die Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG über „die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung“; das schließe nach dem herkömmlichen Bild der deutschen Sozialversicherung die Normierung von Sozialversicherungsbeiträgen ein55. Eine zusätzliche Leitlinie gibt Art.  87 Abs.  2 GG. Obwohl die Vorschrift Organisationsrecht enthält, schließt die Rechtsprechung aus der dort vorgeschriebenen56 Organisationsform der Körperschaft, dass ein Sozialversicherungsbeitrag nur von Einrichtungen der mittelbaren Staatsverwaltung erhoben werden dürfe. Das Bundesverfassungsgericht erkennt in der Risikostrukturausgleich-Entscheidung im Zusammenspiel der Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2 und 120 Abs. 1 S. 4 GG57 darüber hinaus ein von den Vorschriften der Finanz- und Steuerverfassung in den Art. 104a ff. GG völlig gelöstes Finanzierungssystem eigener Art58, das föderale Grenzen nicht beachten sondern sich nur im eigenen System halten muss. Das führt zusammen mit Art.  3 GG zur strengen Zweckbindung der Sozialversicherungsbeiträge auf die der Sozialversicherung aufgegebene Risikoabdeckung59 und zum strikten Ausschluss ihrer Umwidmung für beliebige Zwecke eines allgemeinen Staatshaushalts60.

X. Sonderabgaben Das verfassungsrechtliche Sorgenkind der Sonderlasten bilden die Sonderabgaben, weil sie in riskante Nähe zur Steuer geraten61 und damit die grundgesetzlich ange52 Sehr weit BVerfGE 75, 108 (148): „in der Lebenswirklichkeit bestehende wechselseitige Angewiesenheit von Künstlern und Publizisten auf der einen, ihrer Vermarkter auf der anderen Seite sowie die zwischen ihnen feststellbaren integrierten Arbeits- und Verantwortungszusammenhänge“ und BVerfGE 75, 108 (159): „besonderes kulturgeschichtlich gewachsenes Verhältnis zwischen selbständigen Künstlern und Publizisten auf der einen sowie den Vermarktern auf der anderen Seite“. 53 BVerfGE 14, 312 (317). 54 BVerfGE 113, 167 (196); 76, 256 (300 ff.). 55 BVerfGE 113, 167 (195); 81, 156 (185); 76, 108 (148); BSG v. 9.5.1996 – 7 RAr 66/95, juris Rz. 25. 56 BVerfGE 113, 167 (201); 76, 256 (307). 57 BVerfGE 113, 167 (200 f.). 58 BVerfGE 113, 167 (199 ff.); 76, 108 (148). 59 BVerfGE 113, 167 (203); 76, 108 (148). 60 BVerfGE 113, 167 (203 ff.); 75, 108 (148). 61 BVerfGE 123, 132 (141); 122, 316 (334); BVerwG v. 24.11.2011 – 3 C 4/11, juris Rz. 21; v. 16.9.2004 – 4 C 5/03, juris Rz. 28.

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ordnete Dichotomie von Gemein- und Sonderlast und ihre unterschiedlichen Verfassungsbedingungen62 aufzulösen drohen. Ihr kennzeichnendes Merkmal ist es, dass sie im Gegensatz zu fast allen anderen Sonderlasten an keine irgendwie geartete Gegenleistung anknüpfen63. Der moderne, stets auf Einnahmen erpichte Staat versucht häufig, die Fesseln der Art. 105 ff. GG zu sprengen und praeter constitutionem Sonderabgaben zur voraussetzungslosen Etatfinanzierung und zur Umgehung der föderalen Verteilung des Steueraufkommens zu erfinden. Sie werden einem bestimmten Zweck gewidmet und für ihre Erhebung wird meist ein Sonderfonds gebildet, um sie als steuerentfernte Sonderlast ausweisen zu können. Es war in den letzten Dekaden ein bedeutender Verdienst der höchstrichterlichen Rechtsprechung, dieser ungehemmten Expansion des finanziellen Zugriffs auf den Bürger Einhalt geboten und die Entwicklung der Sonderabgaben wieder in geordnete, gleichheitsgerechte Bahnen gelenkt zu haben64. Generell verlangt die Rechtsprechung für eine zulässige Sonderabgabe, dass nur eine real vorgefundene, in sich homogene Gruppe belastet wird65, die eine spezifische Sachnähe zu einer besonderen Aufgabe hat66 und für deren Erfüllung eine spezielle Verantwortung trägt67. Der Sachzweck einer Sonderabgabe muss über die bloße Mittelbeschaffung in der Weise hinausgehen68, dass ihre Mittel gruppennützig verwendet werden69. Sie hat seltene Ausnahme im öffentlich-rechtlichen Finanzsystem zu bleiben70, denn durch die Bildung eigener Einnahme- und Ausgabekreisläufe gefährdet sie das Budgetrecht des Parlaments aus Art. 110 Abs. 1 GG71, die staatliche Kompetenzverteilung72 und die Belastungsgleichheit73. Ihr Aufkommen musste nach früherer Rechtsprechung vom 62 BVerwG v. 21.4.2004 – 6 C 20/03, juris Rz. 22. 63 BVerfGE 81, 156 (186); BSG v. 29.4.2010 – B 3 KR 11/09 R, juris Rz. 13; v. 20.4.2010 – B 1 KR 19/09, juris Rz. 31. 64 Vgl. zum Ziel der Sonderabgabenrechtsprechung BGH v. 25.6.2014 – VIII ZR 169/13, juris Rz. 21; BSG v. 29.4.2010 – B 3 KR 11/09 R, juris Rz. 14; v. 20.4.2010 – B 1 KR 19/09 R, juris Rz. 32. 65 BVerfGE 136, 194 (242); BVerwG v. 24.11.2011 – 3 C 4/11, juris Rz. 22; v. 13.9.2006 – 6 C 10/06, juris Rz. 46; BSG v. 29.4.2010 – B 3 KR 11/09 R, juris Rz. 13. 66 BVerfGE 136, 194 (242); BVerwG v. 24.11.2011 – 3 C 32/10, juris Rz. 27; v. 13.9.2006 – 6 C 10/06, juris Rz. 46; BSG v. 29.4.2010 – B 3 KR 11/09 R, juris Rz. 13. 67 BVerfGE 136, 194 (242); BVerwG v. 24.11.2011  – 3 C 4/11, juris Rz.  20 und 22; v. 21.4.2004 – 6 C 20/03, juris Rz. 36; BSG v. 29.4.2010 – B 3 KR 11/09 R, juris Rz. 13. 68 BVerfGE 136, 194 (242); BVerwG v. 24.11.2011 – 3 C4/11, juris Rz. 22; v. 24.11.2011 – 3 C 32/10, juris Rz.  27; v. 13.6.2009  – 9 B 2/09, juris Rz.  21; v. 13.9.2006  – 6 C 10/06, juris Rz. 46. 69 BVerfGE 136, 194 (242); BVerwG v. 13.9.2006 – 6 C 10/06, juris Rz. 46; BSG v. 29.4.2010 – B 3 KR 11/09 R, juris Rz. 13. 70 BVerfGE 123, 132 (142); BVerwG v. 24.11.2011 – 3 C 4/11, juris Rz. 21; v. 13.9.2006 – 6 C 10/06, juris Rz. 46; etwas offener für Vorzugslasten BVerwG v. 24.11.2011 – 3 C 32/10, juris Rz. 27. 71 BVerfGE 123, 132 (141); 122, 316 (334); 113, 128 (147); BVerwG v. 24.11.2011 – 3 C 4/11, juris Rz. 21. 72 BVerfGE 122, 316 (334); 113, 128 (147). 73 BVerfGE 122, 316 (334); 113, 128 (147).

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Steuern und nichtsteuerliche Abgaben

Staatshaushalt getrennt bleiben74 und in einen Sonderfonds fließen75; in jüngerer Zeit lässt die Rechtsprechung die Erfassung der Einnahmen und Ausgaben in gesonderten Haushaltstiteln genügen76. Außerdem ist ihr Aufkommen vollständig und separat in einer Übersicht des Staatsetats zu dokumentieren77. Die Rechtfertigung jeder Sonderabgabe ist fortlaufend zu überprüfen78. Mit diesen generellen Grenzen versucht die Judikatur dem Anwachsen der Sonderabgaben Herr zu werden. Das Vorgehen hat im Alltag durchaus Erfolg, obwohl die gerichtlichen Kriterien zuweilen wenig konturenscharf ausgefallen sind. Vor allem die Forderungen nach permanenter Überprüfung und nach seltener Ausnahme sind kaum griffig. Wann wird sie von der seltenen Ausnahme zur Regel? Welche Sonderabgabe wird verfassungswidrig, wenn deren Gesamtheit von der Ausnahme ins Regelhafte abgeglitten ist? Alle, die zuletzt geschaffene, die am höchsten belastende oder die mit der größten Nähe zur Steuer? Manche Sonderabgaben sind bereits gesetzlich auf Dauer angelegt; was hilft dort die permanente Überprüfung, wenn schon von vorneherein ein dauerndes Bedürfnis für ihre Erhebung feststeht? Trotz dieser offenen Fragen haben die Ansätze der Rechtsprechung aber dazu geführt, die überbordenden Sonderabgaben zurückzuschneiden und eine Aushöhlung der Steuerverfassung zu verhindern. Im iterativen Prozess der Kriterienfindung von Streitfall zu Streitfall ist der Gerichtsbarkeit eine konsequente Barrierenbildung gegen Sonderabgaben gelungen. Sonderabgaben existieren zur Zeit mit Finanzierungs-79, Ausgleichs-80 und Lenkungs­ funktion81. Die beiden letzteren82 weisen weniger Probleme auf. Wegen der Vielfalt solcher Sonderlasten und ihres steten Ausbaus bleiben aber die Vorgaben der Rechtsprechung auch hier etwas vage und müssen erst im einzelnen Prüfungsfall griffig gemacht werden. In grober Charakterisierung lässt sich für sie folgende Rechtsprechungslinie ausmachen: In der Ausgleichsfunktion sind Sonderabgaben gleichheitsrechtlich legitimiert und von der Steuer nach Art. 105 ff. GG geschieden, wenn sie ausschließlich eine real vorgefundene83 finanzielle Benachteiligung einer und eine korrespondierende Bevorzugung einer anderen homogenen Gruppe kompensieren.

74 BVerwG v. 24.11.2011 – 3 C 32/10, juris Rz. 27. 75 BVerfGE 113, 128 (146); BVerwG v. 24.11. 2011 – 3 C 4/11, juris Rz. 20; BSG v. 29.4.2010 – B 3 KR 11/09 R, juris Rz. 13. 76 BVerwG v. 13.9.2006  – 6 C 10/06, juris Rz.  45; v. 16.9.2004  – 4 C 5/03, juris Rz.  33; v. 21.4.2004 – 6 C 20/03, juris Rz. 28. 77 BVerfGE 136, 194 (242); BVerwG v. 24.11.2011 – 3 C 4/11, juris Rz. 22; v. 24.11.2011 – 3 C 32/10, juris Rz. 27; v. 13.9.2006 – 6 C 10/06, juris Rz. 46. 78 BVerfGE 136, 194 (242); BVerwG v. 24.11.2011 – 3 C 4/11, juris Rz. 22; v. 24.11.2011 – 3 C 32/10, juris Rz. 27; v. 13.6.2009 – 6 C 10/06, juris Rz. 46. 79 BVerfGE 136, 194 (242). 80 BVerfGE 57, 139 (167 f.); BVerwG v. 16.9.2004 – 4 C 5/03, juris Rz. 31. 81 BVerfGE 139, 167 (168); 57, 139 (167 f.); BVerwG v. 16.9.2004 – 4 C 5/03, juris Rz. 28. 82 Die Funktionen können sich in einer Sonderabgabe überschneiden, BVerfGE 57, 139 (167 f.). 83 BVerfGE 123, 132 (143 f.); 122, 316 (336).

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Die Einnahmen aus der Sonderabgabe werden dann meist84 lediglich innerhalb der Gruppe der Sonderbelasteten zum Ausgleich umverteilt85. Die Lenkungsfunktion rechtfertigt eine Sonderabgabe, sobald auf einem bestimmten Gebiet statt eines unmittelbaren Rechtsbefehls ein finanzieller Anreiz das Verhalten der Gruppenangehörigen steuern soll und die eingenommenen Mittel im Kreis dieser Gruppe verbleiben. Die Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion weist eine gefährliche Nähe zur Steuer auf. Denn sie will allein Einnahmen beschaffen. Eine besondere Gruppe und eine spezielle Aufgabenverantwortung lässt sich legislatorisch leicht definieren86. Das Bundesverfassungsgericht nimmt deswegen die Erfordernisse der homogenen Gruppe, der besonderen Aufgabe und der Verantwortung der Gruppenangehörigen für sie sehr ernst87 und verlangt, dass sich alle drei Voraussetzungen aus der Realität ergeben müssten und nicht erst vom Gesetzgeber geschaffen worden sein dürften88. Mit diesen Vorgaben hat es zuletzt in mehreren Fällen Hürden gegen wirtschaftspolitisch veranlasste Fördermaßnahmen des Parlaments errichtet, die von einer besonderen Gruppe finanziert werden sollten89. Erst die Fördermaßnahmen hätten den Finanzbedarf verursacht, welcher von der Sonderabgabe gedeckt werden sollte; die allgemeine Wirtschaftspolitik sei aber mit Steuermitteln zu finanzieren90.

XI. Schaffung einer geschlossenen und vollständigen Finanzverfassung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung Der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist es im Rückgriff auf die Regelungen einer lückenhaften Finanzverfassung und auf das Gleichheitsgrundrecht gelungen, die dynamische Entwicklung nichtsteuerlicher Abgaben konstitutionell anzuleiten und sie zu einer in sich stimmigen Abgabenordnung zusammenzufügen. Das hat das Grundgesetz in seiner realen Durchsetzung gestärkt und den Steuerbürger vor ungerechtfertigten Mehr- oder Sonderbelastungen bewahrt. Die Gerichtsbarkeit hat das rechtliche Bild einer geschlossenen und vollständigen Finanzverfassung zwar noch nicht vollständig gemalt, seine wesentlichen Konturen aber schon gezeichnet.

84 Offen BVerfGE 57, 139 (169). 85 BVerfGE 123, 132 (142). 86 BVerfGE 122, 316 (336). Instruktiv aber auch BVerfGE 136, 194 (244), dass eine Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion auch Dritten zugute kommen darf, und BVerwG v. 13.9.2006 – 6 C 10/06, juris Rz. 47, und v. 21.4.2004 – 6 C 20/03, juris, Rz. 36, dass eine Aufsicht im Allgemeininteresse ein die Sonderabgabe rechtfertigendes Individualinteresse der Beaufsichtigten nicht ausschließen soll. 87 BVerfGE 123, 132 (141). 88 BVerfGE 122, 316 (336): Der sonst eingeräumte weite Regelungsspielraum des Gesetzgebers für Berufsausübungsregelungen gilt hier wegen der Nähe zur Steuer nicht, S. 337. 89 BVerfGE 123, 132 (143 f.). 90 BVerfGE 122, 316 (336).

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … B. II.

Zusammenspiel von BFH und BGH auf dem Gebiet des Steuerstrafrechts Von Henning Radtke

Inhaltsübersicht I. Facetten des Zusammenspiels von höchstrichterlicher Steuerrecht- und Strafrechtsprechung 1. Einführende Gedanken 2. Die Bedeutung der Vorfragenkompetenz für das Steuerstrafrecht a) Grundlagen der Vorfragenkompetenz b) Die Vorfragenkompetenz in Steuerstrafsachen im Wandel der Zeiten c) Vorfragenkompetenz und Entscheidungsdivergenzen 3. Rechtsnatur und tatbestandliche Strukturen der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) a) Steuerrechtsakzessorietät der „Tathandlungen“ der Steuerhinter­ ziehung

b) Steuerrechtsakzessorietät des tatbestandsmäßigen Erfolgs der Steuerhinterziehung c) Steuerrechtsakzessorietät des subjektiven Tatbestandes der Steuerhinterziehung 4. Zwischenfazit II. Der Einfluss der Rechtsprechung des BFH auf die Steuerstrafrechtsprechung des BGH – anhand von Beispielen 1. Allgemeines 2. Verdeckte Gewinnausschüttungen und Steuerhinterziehung 3. Umsatzsteuerhinterziehung und sog. vorgeschobene Strohmanngeschäfte III. Fazit

I. Facetten des Zusammenspiels von höchstrichterlicher ­Steuerrecht- und Strafrechtsprechung 1. Einführende Gedanken Das Verhältnis zwischen der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Steuersachen und derjenigen in Steuerstrafsachen weist zahlreiche Facetten auf. Eine davon betrifft  die Ausgestaltung der Zuständigkeit beider Gerichtsbarkeiten bei der Auslegung von für das Steuerstrafrecht maßgeblichem Steuerrecht. Diese Facette gehört im Hinblick auf die damit verbundene Vorfragenkompetenz1 zu den besonders häu1 Ausführlich dazu Wisser, Die Aussetzung des Steuerstrafverfahrens und die Bindung des Strafrichters, 1992, S. 49 ff.

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Henning Radtke

fig diskutierten Aspekten des Zusammenspiels von Finanz- und Strafrechtsprechung zu steuer- und steuerstrafrechtlichen Fragen2. In den zurückliegenden 100  Jahren Steuerrechtsprechung in Deutschland haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen hinsichtlich der Ausgestaltung der (Vorfragen-)Kompetenz besonders stark verändert (nachfolgend I.2.); die Entwicklung der gesetzlichen Regelungen zur Kompetenzfrage wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Möglichkeiten des Gesetzgebers, das Verhältnis zwischen Steuerrechtsprechung und Steuerstrafrechtsprechung zu gestalten. Stabiler als die Regelungen über die Kompetenzverteilung sind dagegen die Rahmenbedingungen bezüglich einer zweiten wesentlichen Facette des Zusammenspiels beider Gerichtsbarkeiten, nämlich der tatbestandlichen Strukturen der Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO als Zentralnorm des Steuerstrafrechts im nationalen Recht. Die Besonderheiten des Tatbestandes mit seiner – grob formuliert – starken Rückbindung an das Steuerrecht (etwa: „… über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige  … Angaben macht“) drängt zu wechselseitiger Bezugnahme zwischen Finanzund Strafrechtsprechung (nachfolgend I.3. sowie II.). Für die Strafgerichtsbarkeit in Steuerstrafsachen entspricht es neben kollegialem Respekt vor der fachnäheren Finanzgerichtsbarkeit regelmäßig juristischer Klugheit, bei  der Auslegung für die Strafrechtsanwendung relevanten außerstrafrechtlichen Rechts, hier des Steuerrechts, die fachliche Autorität der Finanzgerichte zu achten und das dort geprägte Verständnis des Steuerrechts zur Grundlage der eigenen steuerstrafrechtlichen Entscheidungsfindung zu machen3. Eine solche Klugheitsregel gilt allerdings nicht allein in Bezug auf das Steuerstrafrecht, sondern darüber hinaus stets beim Umgang mit Blankettstraftatbeständen oder bei der Auslegung normativer Straftatbestandsmerkmale4, die an außerstrafrechtliche Regelungszusammenhänge anknüpfen. Denn das Strafrecht hält regelmäßig keine originär strafrechtlichen Kriterien und Wertungsgesichtspunkte bereit, um straftatbestandsrelevante außerstrafrechtliche Rechtsbegriffe inhaltlich auszufüllen. Stets ist bei derartigen Strafbeständen eine durch die außerstrafrechtliche Referenzrechtsordnung vorgezeichnete, akzessorische Strafrechtsauslegung geboten5. Die Gebotserfüllung durch die Strafge2 Z.B. Jesse DB 2013, 1803 (1807  ff.); Harms/Heine in FS Spindler, 2011, S.  427 (430–432); Hild, wistra 2016, 59  f.; Kirchhof, NJW 1985, 2977  ff.; Mellinghoff, Stbg 2014, 97 (103  f.); Sontheimer, DStR 2014, 357 ff.; siehe auch – in den Begründungen und Ergebnissen aber kaum tragfähig – Bernsmann in FS Kohlmann, 2003, S. 377 (378 ff.). 3 Vgl. Wisser (Fn. 1), S. 56 f.; Jäger in Joecks/Jäger/Randt, 8. Aufl. 2015, § 396 AO Rz. 3 und 5. 4 Zu normativen Tatbestandsmerkmalen im Strafrecht vgl. Schuster, Das Verhältnis von Strafnormen und Bezugsnormen aus anderen Rechtsgebieten, 2012. S. 188 f., 195 f., 201; Wulf, wistra 2001, 41 (43  f.); Radtke, Gedächtnisschrift für Joecks, (erscheint September 2018) sowie allgemein Roxin Strafrecht, Allgemeiner Teil 1, 4. Aufl., § 10 Rz. 60; Papathanasiou, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, 2014, S. 39 f. und passim. 5 Exemplarisch Hoffmann, Untreue und Unternehmensinteresse, 2010, S. 31 ff. für die gesellschaftsrechtsakzessorische Auslegung des § 266 StGB bei strafrechtlicher Untreue zu Lasten von Kapitalgesellschaften; Radtke in MünchKomm/StGB, 2. Aufl., § 266a Rz. 10 ff. zur sozial- und zivilrechtsakzessorischen Auslegung zentraler Tatbestandsmerkmale des §  266a StGB.

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BFH und BGH im Steuerstrafrecht

richtsbarkeit lässt sich mit zahlreichen Beispielen belegen; sie reichen von der gesellschaftsrechtsakzessorischen Auslegung der Pflichtwidrigkeit des Handelns ver­ mögensbetreuungspflichtiger Täter bei der Untreue (§  266 StGB) zu Lasten von Kapitalgesellschaften6 über die insolvenzrechtsakzessorische oder mindestens insolvenzrechtsorientierte Auslegung der wesentlichen Tatbestandsmerkmale, vor allem der Krisenmerkmale (z.B. Überschuldung) in den Straftatbeständen der §§  283  ff. StGB7 bis hin zu der arbeits-, insbesondere aber sozialversicherungsrechtsakzessorischen Auslegung des § 266a StGB zu den Voraussetzungen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses und der Arbeitgebereigenschaft tauglicher Täter des genannten Delikts8. Eine von einem jeweils akzessorischen Verständnis des einschlägigen Strafrechts ausgehende Klugheitsregel kommt natürlich vor allem dann zum Tragen, wenn für die strafrechtsrelevante außerstrafrechtliche Vorfrage gefestigte (höchstrichterliche) Rechtsprechung vorliegt. Fehlt es daran, bleibt eine auf der Fachrechtsprechung aufbauende und diese mit der allgemeinen rechtswissenschaftlichen Methodik nutzbar machende Auslegung des außerstrafrechtlichen Rechts durch die Strafgerichtsbarkeit. Für das Steuerstrafrecht kommt einer steuerrechtsakzessorischen Auslegung der einschlägigen Straftatbestände besonders große Bedeutung zu, weil nicht nur die Anforderungen an das tatbestandliche Verhalten (etwa das in § 370 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO erfasste) und an den Taterfolg (vgl. § 370 Abs. 1 und 4 AO), sondern auch diejenigen an weitere Straftatvoraussetzungen, z.B. die für Täterschaft aus dem Sonderdelikt § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO konstitutive steuerliche Erklärungspflicht9, steuerrechtlich vorgeprägt teils steuerrechtlich determiniert sind. An der steuerrechtsakzessorischen Auslegung des §  370 AO lässt sich die konkrete Gestalt des Zusammenspiels zwischen dem BFH und dem BGH auf dem Feld des Steuerstrafrechts in seiner gesamten Breite deshalb gut veranschaulichen. Dies soll anhand von für aussagekräftig gehaltenen Beispielen erfolgen (nachfolgend II.). Ein Zusammenspiel von Steuer- und Strafrechtsprechung, vor allem auf der Ebene von BFH und BGH, findet jenseits von Vorfragenkompetenz und steuerrechtsakzessorischer Auslegung des Steuerstrafrechts auch durch den unmittelbaren fachlichen Austausch zwischen den richterlichen Mitgliedern beider Bundesgerichte statt, etwa im Rahmen gemeinsamer Teilnahme an Fachveranstaltungen u.ä. Dieser fachliche Austausch ist auf der Ebene des BGH durch die Zuständigkeitskonzentration für Revisionen in Steuerstrafsachen bei derzeit dem 1. Strafsenat erleichtert. Art und Umfang sowie die Erträge des fachlichen Austausches mögen mit der Methodik empiri6 Etwa Hoffmann (Fn. 5) S. 31 ff.; Lüderssen in FS Eser, 2005, S. 163 ff.; Rönnau, ZStW (2004), 634 (644 f.). 7 Radtke/Petermann in MünchKomm/StGB, 2.  Aufl., Vor §§  283  ff. Rz.  8–10 „insolvenzrechtsorientierte Auslegung“; siehe auch Achenbach, Gedächtnisschrift für Schlüchter, 2002, S. 257 ff. 8 Vgl. BGH v. 2.12.2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 (76 f. Rz. 14); ausführlich Radtke in MünchKomm/StGB (Fn. 5), § 266a Rz. 10 ff. 9 BGH v. 14.10.2015 – 1 StR 521/14, NZWiSt 2016, 23 ff. m.w.N.; knapp einführend Joecks in Joecks/Jäger/Randt (Fn. 3), § 370 AO Rz. 236 ff.

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scher Wissenschaft aufzuklären sein. Hier kann diese Facette des Zusammenspiels jedoch ebenso wenig berücksichtigt werden wie die Rolle weiterer Akteure des Spiels, etwa des EuGH, bei der Auslegung und Anwendung des nationalen Steuerstrafrechts10. 2. Die Bedeutung der Vorfragenkompetenz für das Steuerstrafrecht a) Grundlagen der Vorfragenkompetenz Vorfragenkompetenz bezeichnet die Befugnis eines (zuständigen) Gerichts über einen ihm unterbreiteten Verfahrensgegenstand unter Anwendung des für es geltenden Prozessrechts (vgl. § 262 Abs. 1 StPO) auch insoweit zu entscheiden, als die eigene Entscheidung von der Beantwortung einer Rechtsfrage abhängt, die sich in einer an sich nicht seiner Zuständigkeit unterfallenden Teilrechtsordnung stellt. Exemplarisch dafür steht § 262 Abs. 1 StPO mit der Vorfragenkompetenz des Strafgerichts für die vorgreifliche (präjudizielle) „Beurteilung eines bürgerlichen Rechtsverhältnisses“11. Parallelvorschriften enthalten die übrigen Verfahrensordnungen etwa in §  74 FGO, § 114 SGG und § 94 VwGO. Verfassungsrechtlich findet die Vorfragenkompetenz in Art. 95 GG, der fünf Gerichtsbarkeiten ohne Vorrangregelung vorsieht, eine gewisse Grundlage12. Einfachgesetzlich gibt § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG vor, dass das Gericht, zu dem der Rechtsweg eröffnet ist, über den verfahrensgegenständlichen Rechtsstreit unter allen in Frage kommenden Gesichtspunkten entscheidet; mithin auch über präjudizielle Rechtsfragen13. Im geltenden Recht bildet die Vorfragenkompetenz der Gerichtsbarkeit, zu der der (ein) Rechtsweg eröffnet ist, den Regelfall. Für Steuerhinterziehung und  – über den Wortlaut hinaus  – Schmuggel (§  373 AO) betreffende Steuerstrafverfahren14 setzt § 396 AO mit der Aussetzungsmöglichkeit die Vorfragenkompetenz der Strafgerichte voraus15. Auf der skizzierten Verfassungs- und Gesetzeslage geht das BVerfG davon aus, dass das Besteuerungsverfahren einerseits und das Steuerstrafverfahren andererseits unabhängig und gleichrangig nebeneinander stehen, ohne Bindung der Strafgerichte an bestandskräftige Steuerbescheide16.

10 Dazu z.B. Harms/Heine (Fn. 2), S. 429 (437 ff.). 11 Zur nahezu allg. befürworteten Erstreckung auf alle außerstrafrechtlichen Rechtsgebiete siehe nur Stuckenberg in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl. 2013, § 262 StPO Rz. 6 m.w.N. 12 Mellinghoff, Stgb 2014, 97 (103); vgl. auch Morgenthaler in Epping/Hillgruber, 2.  Aufl., Art. 95 GG Rz. 2 „Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit der fünf Gerichtszweige“. 13 Vgl. Stuckenberg in Löwe/Rosenberg (Fn. 11), § 262 StPO Rz. 1. 14 Zum sachlichen Anwendungsbereich Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 396 AO Rz. 38; Jäger in Joecks/Jäger/Randt (Fn. 3), § 396 AO Rz. 11 f. sowie Weyand in Graf/Jäger/ Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl., § 396 AO Rz. 6. 15 Harms/Heine (Fn. 2), S. 429 (431); Mellinghoff, Stbg 2914, 97 (103). 16 BVerfG v. 15.10.1990 – 2 BvR 385/87, NJW 1992, 35 (36); vgl. auch BFH v. 19.10.2005 – X B 88/05, BFH/NV 2006, 15 f. aber auch Kirchhof, NJW 1985, 2977 ff.

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b) Die Vorfragenkompetenz in Steuerstrafsachen im Wandel der Zeiten Das Zusammenspiel von Steuerrechtsprechung und Strafrechtsprechung in Steuerstrafsachen wird nachhaltig durch die jeweilige gesetzliche Ausgestaltung der Vorfragenkompetenz beeinflusst. Die Entwicklung einfachgesetzlicher Regelungen der Vorfragenkompetenz hinsichtlich Steuerstrafsachen in den vergangenen gut 100 Jahren macht dies überdeutlich. Vor dem Inkrafttreten der RAO im Jahr 1919 haben die für Steuer- und Zollstrafsachen zuständigen Strafgerichte die straftatbestandsrelevanten außerstrafrechtlichen Rechtsfragen autonom zu entscheiden gehabt17. Mit § 433 RAO 1919 hob der Reichsgesetzgeber die Vorfragenkompetenz der Strafgerichte bei Steuerhinterziehung und „Steuergefährdung“ auf; an deren Stelle setzte er eine weitreichende Bindung der Strafgerichtsbarkeit an Entscheidungen des RFH sowie eine mit einer Aussetzungspflicht gekoppelte Vorlagepflicht an diesen. Im Wortlaut: „Hängt eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung oder Steuergefährdung davon ab, ob ein Steueranspruch besteht, oder ob und in welcher Höhe ein Steueranspruch verkürzt oder zu Unrecht gewährt ist, und hat der Reichsfinanzhof über diese Fragen entschieden, so bindet dessen Entscheidung das Gericht. Liegt eine Entscheidung des Reichsfinanzhofs nicht vor, sind die Fragen jedoch von Finanzbehörden oder Finanzgerichten zu entscheiden, so hat das Gericht das Strafverfahren auszusetzen, bis über die Fragen rechtskräftig entschieden worden ist. Entscheidet der Reichsfinanzhof, so bindet dessen Entscheidung das Gericht. Ergeht keine Entscheidung des Reichsfinanzhofs, so hat das Gericht, wenn es von der rechtskräftigen Entscheidung des Finanzamts oder der Rechtsmittelbehörde abweichen will, die Entscheidung des Reichsfinanzhofs einzuholen. Es übersendet die Akten dem Reichsfinanzhof. Dieser entscheidet im Beschlussverfahren in der Besetzung von fünf Mitgliedern. Seine Entscheidung ist bindend. …“ Den Gründen für die Schaffung dieser weitgehenden Bindung der Strafgerichte an die Entscheidungen des RFH18 und der Bewertung der Vorschrift in der Strafgerichtsbarkeit19 kann im Rahmen dieses Beitrags ebenso wenig nachgegangen werden wie den Anwendungsvoraussetzungen der Vorschrift im Einzelnen20. Bemerkenswert ist die Reichweite der Bindung sowohl an das Ob des Bestehens eines staatlichen Steueranspruchs als auch an den Verkürzungsumfang, steht sie doch in diametralem Gegensatz zum durch die Vorfragenkompetenz geprägten gegenwärtigen Rechtszustand. Es fehlt nicht nur jede Bindungswirkung an die Finanzrechtsprechung bei vorgreiflichen Rechtsfragen, sondern nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist die Anwendung steuerlicher Vorschriften auf den (strafprozessual) festgestellten Sachverhalt und die daraus folgende Berechnung der verkürzten Steuern im einzelnen Steuerstrafrechtsfall Rechtsanwendung, die die Strafgerichte in der Tatsacheninstanz selbst vorzunehmen haben. Die gebotene Darlegung der Besteuerungsgrundlagen im strafgerichtlichen Urteil erweist sich regelmäßig als in rechtsfehlerhafter Weise defi17 Schauf in Kohlmann, § 396 AO Rz. 1; Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Fn. 14), § 396 AO Rz. 1. 18 Dazu näher Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Fn. 14), § 396 AO Rz. 1. 19 Vgl. RG v. 6.10.1921 – I 621/21, RGSt 56, 107 (108). 20 Wisser (Fn. 1) S. 54 f.

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zitär, wenn sie sich in der Verweisung der Übernahme finanzbehördlicher Erkenntnisse erschöpft21. Der Weg von § 433 RAO 1919 zu diesem Rechtszustand war jedoch weit. Seine Bewältigung hat lange Zeit in Anspruch genommen. Zunächst ist die Regelung als § 468 in der RAO 1931 ohne inhaltliche Änderung erhalten geblieben. 1939 wurde als erster Schritt die Bindung an die Feststellung der Höhe der Steuerverkürzung bzw. des zu Unrecht erlangten Steuervorteils aufgegeben22. Erst das 1.  AOStrafÄndG vom 10. August 196723 schuf mit § 442 RAO 1967 eine dem geltenden § 396 AO weitgehend entsprechende Regelung mit einer fakultativen Aussetzungsmöglichkeit bei prä­ judiziellen Vorfragen zum Bestehen eines Steueranspruchs bzw. der Höhe dessen Verkürzung24. Eine lange Phase des „Sonderwegs“ der Ausgestaltung der Vorfragenkompetenz in Steuerstrafsachen war damit beendet. c) Vorfragenkompetenz und Entscheidungsdivergenzen Die Einräumung der Vorfragenkompetenz kann – wie auch sonst bei für die Anwendung des Straftatbestandes präjudiziellen außerstrafrechtlichen Rechtsfragen  – in Bezug auf denselben Lebenssachverhalt zu divergierenden Entscheidungen in unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten führen25. In Bezug auf Besteuerungsverfahren einerseits und Steuerstrafverfahren anderseits scheint die Anzahl bekannt gewordener Fälle solcher Divergenzen jedoch gering zu sein26. Das ist kaum verwunderlich, folgen – die Erwartung des Gesetzgebers des 1. AOStrafÄndG27 erfüllend28 – die Strafgerichte bei der Ausfüllung der Straftatbestände des Steuerstrafrechts durch die im Einzelfall maßgeblichen steuerrechtlichen Vorschriften jedenfalls de facto in Anwendung der eingangs formulierten Klugheitsregel vorhandener (vor allem höchstrichterlicher) Finanzrechtsprechung (dazu näher unten II.)29. Dennoch werden in Beiträgen zu § 396 AO, vornehmlich von Autoren aus der Anwaltschaft oder als Strafverteidiger agierender Rechtsprofessoren (vgl. § 138 Abs. 1 StPO), immer wieder die Folgen von Divergenzen zwischen steuerrechtlicher und steuerstrafrechtlicher Bewertung desselben Besteuerungsfalls beklagt30 und als Vermeidungsstrategie meist eine unter bestimmten Voraussetzungen bestehende Aus21 St. Rspr., etwa BGH v. 24.5.2017 – 1 StR 176/17, wistra 2017, 445 f. m.w.N. 22 Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Fn. 14), § 396 AO Rz. 4 m.w.N. 23 BGBl. I, 877. 24 Näher zu der Entwicklung Wisser (Fn. 1) S. 53–57; Schauf in Kohlmann (Fn. 14), § 396 AO Rz. 4–9; Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Fn. 14), § 396 AO Rz. 2–8; siehe auch Jäger in Joecks/Jäger/Randt (Fn. 3), § 396 AO Rz. 1–4. 25 Beispiel bei Mellinghoff, Stbg 2014, 97 f.; siehe auch Harms/Heine (Fn. 2) S. 429 (435 f.). 26 Harms/Heine (Fn. 2) S. 429 (435). 27 BGBl. I 1967, 877. 28 Wisser (Fn. 1), S. 56 f. 29 Ebner, PStR 2008, S. 119 (120), Mellinghoff, Stbg 2014, 97 (103). 30 Etwa Sonthmeier DStR 2014, 357 ff., der a.a.O. S. 359 allerdings die Bedeutung des Grundsatzes in dubio pro reo als Entscheidungsregel bei Unaufklärbarkeit tatsächlicher Umstände verkennt.

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setzungspflicht postuliert31. Gelegentlich finden sich Erwägungen, außerhalb von § 396 AO eine weitgehende Bindung der Steuerstrafgerichtsbarkeit an Entscheidungen der Finanzverwaltung und der Finanzgerichtsbarkeit zu erreichen. Exemplarisch dafür steht eine insbesondere von Paul Kirchhof vertretene Auffassung, dem (bestandkräftigen) Steuerbescheid eine für das Entstehen des Steueranspruchs konstitutive Wirkung zuzumessen32. Für die Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung soll daraus eine grundsätzliche Bindung der Strafgerichtsbarkeit an die bestands- ggf. rechtskräftige Festsetzung der fraglichen Steuer für den betroffenen Veranlagungszeitraum bezüglich des konkreten Steuerpflichtigen folgen. Da nach diesem Verständnis das dem Staat zustehende Steueraufkommen gegenüber dem Einzelnen durch den (bestandskräftigen) Steuerbescheid abschließend bestimmt wird33, soll bei Bestandskraft des Bescheids selbst bei dessen materieller Unrichtigkeit eine Steuerhinterziehung gemäß §  370 AO mangels eingetretenen Verkürzungserfolgs aus­ geschlossen sein34. Hält das Strafgericht den bestandskräftigen Steuerbescheid für materiell fehlerhaft und deshalb rechtswidrig, komme eine Aussetzung des Steuerstrafverfahrens in Frage, wenn das Strafgericht eine Abänderung durch die Finanzbehörde erwartet35. Die Vorfragenkompetenz der Strafgerichte beschränkte sich dann letztlich auf die Einschätzung der Aufhebbar- bzw. Abänderbarkeit des Steuerbescheids. Die praktischen Ergebnisse dieser Betrachtung ähneln der Ausgestaltung der Vorfragenkompetenz in Steuerstrafsachen in der Zeit von 1919 bis 1967 (oben I.2.b). Eine „verbindliche“ Klärung des Bestehens eines Steueranspruchs und dessen Höhe in concreto bliebe dem Besteuerungsverfahren (unter Einschluss des finanzgerichtlichen Verfahrens) vorbehalten. Bereits die verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Entscheidung des Gesetzgebers36, der Strafgerichtsbarkeit in Steuerstrafsachen unter Aufgabe der durch § 433 RAO 1919 geschaffenen Bindungswirkung die Vorfragenkompetenz umfassend einzuräumen, lässt jedoch Zweifel an der Tragfähigkeit der Konsequenzen der Auffassung von der stets konstitutiven Wirkung des Steuerbescheids als gleichsam „verbindliche Definition des staatlichen Vermögensanspruchs“37 aufkommen. Vor allem aber überzeugen bereits die Grundlagen dieser Auffassung nicht. Nach überwiegender Ansicht im Steuerrecht kommt dem Steuerbescheid im Grundsatz keine konstitutive, sondern lediglich deklaratorische Wir31 Exemplarisch Bernsmann (Fn. 2) S. 377 (382 ff.); Hild, wistra 2016, 59 f., der eine zeitliche Befristung der Aussetzung auf der Grundlage von § 396 AO vorschlägt, um den verschiedenen Interessen Rechnung zu tragen; vgl. auch Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2984 f.); zur kontrovers beurteilten Möglichkeit einer Ermessensreduzierung auf Null als Grundlage einer Aussetzungspflicht näher Jäger in Joecks/Jäger/Randt (Fn. 3), § 396 AO Rz. 40 m.w.N. 32 Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2978, 2982 ff.). 33 Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2981). 34 Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2983 f.). 35 Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2985). 36 Vgl. BVerfG v. 15.10.1990 – 2 BvR 385/87, NJW 1992, 35; verfassungsrechtlich daher kaum nachvollziehbar Bernsmann (Fn. 2), S. 377 (381) „Beweggründe des Gesetzgebers offensichtlich neben der Sache liegend“. 37 Siehe Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2985).

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kung, auch hinsichtlich der Höhe der fraglichen Steuer zu38. Dem liegt die – zutreffende – Differenzierung zwischen der gesetzlichen Steuerschuld und der festgesetzten Steuerschuld zugrunde39. Eine konstitutive Wirkung des Steuerbescheids lässt sich weder aus dem materiellen Steuerrecht noch dem Steuerverfahrensrecht entnehmen. Bezogen auf das Verhältnis zwischen Besteuerungsverfahren und Steuerstrafverfahren deutet das Zusammenspiel von § 370 Abs. 4 Satz 1 und § 396 AO darauf hin, dass das Gesetz gerade keine mit der Auffassung Kirchhofs verbundene Bindung der Strafgerichte an bestandskräftige Steuerbescheide vorsieht40. Die Voraussetzungen des Bestehens eines Steueranspruchs in concreto und dessen Höhe lassen sich anhand der materiellen Vorgaben des jeweils einschlägigen Steuerrechts sowohl mit den Sachaufklärungsmöglichkeiten des Besteuerungsverfahrens als auch mit denen des Strafverfahrens erkennen41, mögen auch Unterschiede im Verfahrensrecht, vor allem im Beweisrecht, eine Quelle für die seltenen Fälle unterschiedlicher Erkenntnisse in den verschiedenen Verfahren bilden42. Der staatliche Steueranspruch existiert als solcher unabhängig von dessen Erkennen im Verfahren. Dass es im Besteuerungsverfahren für seine Durchsetzung zunächst der Festsetzung der Steuer als Grundlage der Erhebung und Vollstreckung bedarf, ändert daran nichts. Im Ergebnis lässt sich damit eine konstitutive Wirkung des Steuerbescheids im Grundsatz nicht begründen. Gleiches gälte im Übrigen auch für eine derart konstitutive Wirkung finanzgerichtlicher Entscheidungen, wie sie bei Bernsmann anzuklingen scheint43. Zwar mangelt es im Fall rechtskräftiger Verneinung eines – materiell bestehenden – Steueranspruchs gegen den betroffenen (grundsätzlich) Steuerpflichtigen an der Durchsetzbarkeit im Besteuerungsverfahren. Die materielle Rechtskraft der finanzgerichtlichen Entscheidung gestaltet aber nicht die materielle Steuerrechtslage44. Da das geltende Recht bewusst keinen Vorrang für Entscheidungen im Besteuerungsverfahren vorsieht45, bleibt es für das Steuerverfahren bei der Vorgreiflichkeit des steuerlichen Rechtsverhältnisses i.S.v. § 396 AO und der Vorfragenkompetenz der Strafgerichtsbarkeit. Die Vorgreiflichkeit würde lediglich bei gestaltenden Verwaltungsakten, bei Gestaltungurteilen oder bei ausschließlicher Entscheidungskompetenz einer anderen Stelle entfallen46. So verhält es sich jedoch aus den dargelegten Gründen weder bei Steuerbescheiden noch bei die Besteuerung im konkreten Fall betreffenden Urteilen der Finanzgerichtsbarkeit. Ob und in welcher Höhe der staat38 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl., § 21 Rz. 114 m.w.N. 39 Wovon letztlich auch Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2978) ausgeht. 40 BVerfG v. 15.10.1990 – 2 BvR 385/87, NJW 1992, 35. 41 Vgl. BVerfG v. 15.10.1990 – 2 BvR 385/87, NJW 1992, 35. 42 BVerfG v. 15.10.1990 – 2 BvR 385/87, NJW 1992, 35; näher zu den Unterschieden der Verfahren Mellinghoff, Stbg 2014, 97 (98 ff.). 43 (Fn. 2) S. 377 (381). 44 Vgl. Radtke, Die Systematik des Strafklageverbrauchs verfahrenserledigender Entscheidungen im Strafprozeß, 1993, S.  31  ff. zur fehlenden materiellen Gestaltungswirkung rechtskräftiger Urteile. 45 Es stellte sich zudem die Frage, warum es eines solchen Vorrangs exklusiv im Steuerrecht bedürfen soll. 46 Stuckenberg in Löwe/Rosenberg (Fn. 11), § 262 StPO Rz. 9 und 18 f. m.w.N.

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liche Steueranspruch besteht, wird daher im Besteuerungsverfahren und im eine Steuerhinterziehung betreffenden Steuerstrafverfahren jeweils eigenständig ohne wechselbezügliche Bindungs- oder Tatbestandswirkung festgestellt47. 3. Rechtsnatur und tatbestandliche Strukturen der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) Vom vorstehenden Befund ausgehend wird die Notwendigkeit eines Zusammenspiels von Steuerrechtsprechung und Strafrechtsprechung deutlich, wenn die Rechtsnatur und die tatbestandlichen Strukturen der Steuerhinterziehung in die Betrachtungen einbezogen werden. §  370 AO enthält sowohl bei den tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen als auch bei den tatbestandsmäßigen Erfolgen Merkmale, deren Vorliegen im Steuerstrafverfahren nicht ausschließlich durch eine sinnliche Wahrnehmung erkannt werden können. Vielmehr verlangt der sie betreffende Erkenntnisvorgang außer das Merkmal ausfüllenden tatsächlichen Umständen einen auf diese bezogenen Wertungsakt48. Die Notwendigkeit eines rechtlichen Wertungsakts besteht unabhängig davon, ob §  370 AO als Blankettstraftatbestand49 oder als Straf­ tatbestand mit normativen Tatbestandsmerkmalen50 gedeutet wird51. Grundlage des strafrechtlichen Wertungsakts ist dabei stets eine außerstrafrechtliche Vorgabe. a) Steuerrechtsakzessorietät der „Tathandlungen“ der Steuerhinterziehung Die Tathandlung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO verlangt unrichtige oder unvollständige Angaben gegenüber den Finanz- oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen. Was im jeweiligen steuerrechtlichen Erklärungskontext „steuerlich erheblich“ ist, kann weder allein durch sinnliche Wahrnehmung erkannt noch aufgrund strafrechtseigener Wertung beurteilt werden. Maßgeblich ist die Vorgabe des einschlägigen materiellen Steuerrechts. Am Beispiel52: Die Angeklagte war wegen Steuerhinterziehung durch Verschweigen von Vorschenkungen in einer Schenkungssteuererklärung verurteilt worden (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO). Ihre Angaben waren unrichtig, soweit Vorschenkungen des jetzigen Schenkers verneint und unvollständig soweit die tatsächlich erfolgten Vorschenkungen in der jetzigen Erklärung nicht benannt wurden53. Die steuerliche Erheblichkeit dieser unrichtigen und unvollständigen Angaben über Vorschenkungen für die Besteuerung der insoweit zutreffend erklärten (vermeintlich einzigen) Schenkung 47 Vgl. BVerfG v. 15.10.1990 – 2 BvR 385/87, NJW 1992, 35 (36). 48 Dazu Schuster (Fn. 4) S. 188 f., 195 f., 201; Wulf, wistra 2001, 41 (43 f.); Radtke, Gedächtnisschrift für Joecks, (erscheint September 2018); allgemein sog. zu normativen Tatbestandsmerkmalen Roxin (Fn. 4) § 10 Rz. 60; Papathanasiou (Fn. 4) S. 39 f. und passim. 49 So etwa BGH v. 7.11.2001 – 5 StR 395/01, BGHSt 47, 138 (141). 50 Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Fn. 14), § 370 AO Rz. 47; näher zum Meinungsstand Schmitz/Wulf in MünchKomm/StGB, 2. Aufl, § 370 AO Rz. 13 ff. und 327 ff. 51 Zutreffend Harms/Heine (Fn. 2), S. 429. 52 Sachverhalt auf der Grundlage von BGH v. 10.2.2015 – 1 StR 405/14, BGHSt 60, 188 ff. 53 BGH v. 10.2.2015 – 1 StR 405/14, BGHSt 60, 188 (190 Rz. 13).

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ergibt sich aus § 14 Abs. 1 ErbStG dahingehend, dass die Höhe des für die aktuelle Besteuerung maßgeblichen Steuersatzes von früheren Schenkungen abhängt54. Die Regelung enthält, wie der BGH55 unter ausführlicher Bezugnahme auf Rechtsprechung des BFH56 und unter Beachtung dieser darlegt, die Grundlage für die Berechnung der Schenkungssteuer, die für den letzten Erwerb innerhalb des abgefragten Zehnjahreszeitraums festzusetzen ist57. Das Beispiel verdeutlicht sowohl die (notwendig) steuerrechtsakzessorische Auslegung des Steuerhinterziehungstatbestandes in der Rechtsprechung des BGH als auch das konkrete Zusammenspiel zwischen BGH und BFH in Bezug auf das Steuerstrafrecht. Zur Beurteilung des einen Wertungsakt des Strafgerichts erfordernden Merkmals „steuerlich erhebliche Tatsachen“ greift der BGH auf die steuerliche Auslegung der §§ 14, 16 und § 19 ErbStG durch den BFH zurück, um die Erheblichkeit der unrichtigen/unvollständigen Erklärung der Angeklagten auf dieser Grundlage in derjenigen für die Höhe des Steuertarifs zu erkennen. Zugleich lassen sich anhand der herangezogenen Entscheidung des BGH aber auch die Grenzen der Steuerrechtsakzessorietät des Steuerhinterziehungstatbestandes aufzeigen. Die Angeklagte war als Erwerberin des Geschenks bei jeder der Vorschenkungen bereits zur Anzeige des Erwerbs (§ 30 Abs. 1 ErbStG)58 und ggf. zur Abgabe von entsprechenden Steuererklärungen (§ 31 Abs. 1 ErbStG)59 verpflichtet gewesen. Das Ausbleiben der Anzeige erweist sich für den Anzeigepflichtigen regelmäßig als nach §  370 Abs.  1 Nr.  2 AO tatbestandsmäßiges Unterlassen und bewirkt einen ­Verkürzungserfolg60. Kommt es wie im Beispielsfall zeitlich nach Beendigung der Unterlassungstat(en) zu einer Schenkungssteuererklärung mit unrichtigen/unvollständigen Angaben zu Vorschenkungen, stellt sich die Frage nach dem materiell-strafrechtlichen Konkurrenzverhältnis zwischen der vorausgegangenen Unterlassungstat (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) und der nachfolgenden Begehungstat (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO). Deren Beantwortung ist nicht in der zuvor beschriebenen Weise steuerrechtsakzessorisch geprägt, sondern bestimmt sich nach den allgemeinen Regeln über die Konkurrenz im Strafrecht, wie sie in den §§  52, 53 StGB und auf deren Grundlage entwickelten Lehren61 Ausdruck findet. Der BGH hat im Beispielsfall die durch die falsche Angabe, Vorschenkungen hätten nicht stattgefunden, verwirklichte Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO als mitbestrafte Nachtat der vorangegangenen Unterlassungstaten und damit als durch diese gesetzeskonkurrierend 54 BGH v. 10.2.2015 – 1 StR 405/14, BGHSt 60, 188 (190 f. Rz. 13 f. und 191 Rz. 17). 55 BGH v. 10.2.2015 – 1 StR 405/14, BGHSt 60, 188 (191 Rz. 16 und 17). 56 BFH v. 9.7.2009 – II R 55/08, DStR 2009, 2243 und v. 14.1.2009 – II R 48/07, DStR 2009, 1142. 57 BFH v. 9.7.2009 – II R 55/08, DStR 2009, 2243 m.w.N. 58 Jülicher in Troll/Gebel/Jülicher/Gottschalk, §  30 ErbStG Rz.  6.; Jäger in Klein, 13.  Aufl., § 370 AO Rz. 440. 59 Jülicher (Fn. 58), § 31 ErbStG Rz. 1 m.w.N. 60 Vgl. BGH v. 25.7.2011 – 1 StR 631/10, BGHSt 56, 298 (312 f. Rz. 39–42); Joecks in Joecks/ Jäger/Randt (Fn. 3), § 370 AO Rz. 337 f. m.w.N. 61 Einführend von Heintschel-Heinegg in MünchKomm/StGB, 3. Aufl., Vor § 52 Rz. 13 ff.

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verdrängt gewertet62. Allerdings lebte die Strafbarkeit aus §  370 Abs.  1 Nr.  1 StGB ebenfalls nach allgemeinen Regeln der Gesetzeskonkurrenz möglicherweise (wieder) auf, weil die früheren Unterlassungstaten bereits verjährt sein konnten63. Für diese Strafrechtsanwendung bedurfte es keines (unmittelbaren) Rückgriffs auf materielles Steuerrecht und damit auch keinen Zusammenspiels von BGH und BFH bei der Anwendung von Steuerstrafrecht64. b) Steuerrechtsakzessorietät des tatbestandsmäßigen Erfolgs der ­Steuerhinterziehung Nicht anders als für die Ebene des tatbestandsmäßigen Verhaltens exemplarisch aufgezeigt verhält es sich mit der steuerrechtsakzessorischen Bestimmung des tatbestandmäßigen Erfolges der Steuerhinterziehung. Der Taterfolg des § 370 AO tritt mit dem Verkürzen der Steuer oder dem Erlangen nicht gerechtfertigter Steuervorteile ein (§ 370 Abs. 1 AO). Die Anforderungen dieses tatbestandsmäßigen Erfolges werden durch § 370 Abs. 4 AO konkretisiert65. Welcher Voraussetzungen es für die strafrechtliche Vollendung der Steuerhinterziehung durch Eintritt eines tatbestandsmäßigen Erfolges im Einzelnen bedarf, wird innerhalb des von §  370 Abs.  1 und 4 AO gesteckten Rahmens wesentlich über die Spezifika der betroffenen Steuerart bestimmt. Handelt es sich um die Hinterziehung von Anmeldesteuern i.S.v. § 150 Abs. 1 Satz  3 AO tritt der tatbestandsmäßige Erfolg der Steuerhinterziehung bereits dann ein, wenn diese gemäß § 168 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichstehen66. Ergibt sich aber aus der unrichtigen Steuererklärung, etwa bei der Anmeldung von Umsatzsteuer, eine Steuervergütung, bedarf es für den Eintritt der (Umsatz)Steuerhinterziehung der Bekanntgabe der Zustimmung (§ 168 Satz  2 AO) der Finanzbehörde67. Bleibt diese aus, bewendet es bei einer Versuchsstrafbarkeit. Die originär strafrechtliche Frage nach den Voraussetzungen des Vollendungseintritts kann in Bezug auf die Steuerhinterziehung damit lediglich unter Heranziehung steuerrechtlicher Wertentscheidungen beantwortet werden; im angesprochenen Fall der Anmeldesteuern nimmt das Steuerstrafrecht akzessorisch die in

62 BGH v. 10.2.2015 – 1 StR 405/14, BGHSt 60, 188 (194 f. Rz. 28). 63 Näher BGH v. 10.2.2015 – 1 StR 405/14, BGHSt 60, 188 (196 Rz. 31 f.) – die Verjährungsfrage war vom Tatgericht nicht in den Blick genommen worden. 64 Dennoch kann dem Steuerrecht selbst bei der Beurteilung von Konkurrenzfragen der Steuerhinterziehung in einzelnen Konstellationen durchaus Bedeutung zukommen, wie sich etwa den Erwägungen des 1.  Strafsenats des BGH zum Konkurrenzverhältnis von Steuerhinterziehungen durch unrichtige Umsatzsteuervoranmeldungen einerseits und die Umsatzsteuerjahreserklärung andererseits entnehmen lässt, BGH v. 13.7.2017  – 1 StR 536/16, wistra 2018, 43 (46 Rz. 54 f.) mit Anm. Pflaum - Entscheidung ist zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen. 65 Ausführlicher Joecks in Joecks/Jäger/Randt (Fn. 3) AO § 370 Rz. 32 ff. 66 BGH v. 6.4.2016 – 1 StR 431/15, NStZ-RR 2016, 172 f.; Jäger in Klein (Fn. 58), § 370 AO Rz. 106. 67 St. Rspr.; siehe nur BGH v. 24.11.2015 – 1 StR 366/15 und v. 6.4.2016 – 1 StR 431/15, NStZRR 2016, 172 f.

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§  168 Satz  1 AO statuierte Gleichstellung von Steueranmeldung und Steuerfestsetzung (unter Vorbehalt der Nachprüfung) auf. Aus dem systematischen Zusammenhang der steuerstrafrechtlichen Regelung des tatbestandlichen Erfolges der Steuerhinterziehung in § 370 Abs. 1 und 4 AO einerseits und steuerrechtlichen Regelungen wie etwa § 182 Abs. 1 AO über die Wirkungen eines Feststellungsbescheides68 andererseits ergeben sich zudem Erkenntnisse für den Deliktscharakter des § 370 AO und das Verständnis des tatbestandsmäßigen Hinterziehungserfolgs. Bei für die Bestimmung des Deliktscharakters maßgeblicher rechtsgutsbezogener Betrachtung69 erweist sich die Steuerhinterziehung als Gefährdungsdelikt70 und nicht als Rechtsgutverletzungsdelikt. Gegenteilige Äußerungen71 berücksichtigen unterschiedliche Klassifizierungskriterien von Straftatbeständen nicht hinreichend. Erfolgsdelikte knüpfen an eine tatbestandsbezogene Unterscheidung an und stellen auf den erforderlichen tatbestandsmäßigen Erfolg, etwa im ­Gegensatz zum schlichten Tätigkeitsdelikt (z.B. § 316 StGB), ab. Der straftatbestandsmäßige Erfolg braucht aber nicht notwendig in einer Rechtsgutverletzung zu beste­ hen72. So verhält es sich bei § 370 AO. Tatbestandliche Verkürzungserfolge im Sinne von § 370 Abs. 1 und 4 AO gehen nicht zwingend mit einer Verletzung des geschützten Rechtsguts einher. Auch für die Einsichten bedarf es aber neben der strafrechtsspezifischen Klassifizierungen von Deliktstypen (etwa rechtsgutbezogen: abstrakte und konkrete Gefährdungsdelikte sowie Rechtsgutverletzungsdelikte) eines steuerrechtsakzessorischen Verständnisses des § 370 AO. c) Steuerrechtsakzessorietät des subjektiven Tatbestandes der ­Steuerhinterziehung Die gleichsam die Basis für das Zusammenspiel von BFH und BGH im Steuerstrafrecht bildende Steuerrechtsakzessorietät des Steuerstrafrechts findet ihren Ausdruck auch im Verständnis des subjektiven Tatbestands der Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO, der sich auf den Tatbestandsvorsatz beschränkt. Beide Bundesgerichte vertreten die meist sog. Steueranspruchstheorie; Kenntnis des Täters von Grund und Höhe des staatlichen Steueranspruchs sowie wenigstens Kenntnis der Möglichkeit, diesen Anspruch durch das eigene Verhalten in concreto zu verkürzen73, sind nach dieser zutreffenden Auffassung74 Elemente des Vorsatzes. Die so verstandenen Vorsatzanforderungen ziehen die Konsequenzen aus den tatbestandlichen Strukturen des objektiven Tatbestandes der Steuerhinterziehung. Setzt dieser bei den tatbe68 Dazu etwa BFH v. 22.6.2006 – IV R 31, 32/05, BFHE 214, 239 und v. 26.4.2017 – I R 84/15, BFHE 258, 310. 69 Näher dazu Radtke, Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, 1998, S. 23 f. m.w.N. 70 BGH v. 22.11.2012 – 1 StR 537/12, BGHSt 58, 50 (56 f. Rz. 13–18 m.w.N.). 71 Etwa Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2981). 72 Was Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2981) übersieht. 73 Vgl. etwa BFH v. 29.4.2008 – VIII R 28/07, BFHE 220, 332 (343); BGH v. 8.9.2011 – 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160 ff.; siehe auch Klein/Jäger (Fn. 58), AO § 370 Rz. 171 f. sowie Kuhlen, Festschrift für Kargl, 2015, S. 297 ff. und Radtke, Gedächtnisschrift für Joecks (Fn. 48). 74 Zu den dafür maßgeblichen Gründen Radtke, Gedächtnisschrift für Joecks (Fn. 48).

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standsmäßigen Handlungen „steuerlich erhebliche Tatsachen“ voraus und beinhaltet die Erheblichkeit einen Wertungsakt, verlangt das Handlungsunrecht der Steuerhinterziehung, als bewusste Entscheidung für straftatbestandliches Verhalten, nicht allein Kenntnis der tatsächlichen Umstände, sondern auch das Nachvollziehen des Wertungsakts „steuerlich erheblich“ wenigstens auf dem Niveau der im Strafrecht dafür bemühten „Parallelwertung in den Laiensphäre“75. 4. Zwischenfazit Das Zusammenspiel zwischen BFH und BGH im Steuerstrafrecht findet auf einem Feld statt, das einerseits durch die Vorfragenkompetenz der Strafgerichtsbarkeit hinsichtlich für die Anwendung des Steuerstrafrechts vorgreiflicher steuerrechtlicher Rechtsverhältnisse und andererseits durch die steuerrechtsakzessorische Natur der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) abgesteckt ist. Die steuerrechtsakzessorische Auslegung des § 370 AO ist aus den dargelegten Gründen rechtlich zwingend. Die Ausrichtung dieser Auslegung in einem steuerrechtsprechungsorientierten Sinne legt die Klugheitsregel der Achtung und Beachtung der fachnäheren Gerichtsbarkeit nahe.

II. Der Einfluss der Rechtsprechung des BFH auf die Steuerstrafrecht­ sprechung des BGH – anhand von Beispielen 1. Allgemeines Die Einhaltung der Klugheitsregel durch den BGH in Steuerstrafsachen lässt sich an zahlreichen, dieses Teilrechtsgebiet betreffenden Entscheidungen des Gerichts be­ legen. Sie verringert die aus der nebeneinander stehenden Kompetenz beider Gerichtsbarkeiten rührende Gefahr divergierender Entscheidungen76 und dürfte sie in Konstellationen steuerstrafrechtlicher Entscheidungserheblichkeit gefestigter höchstrichterlicher Steuerrechtsprechung weitestgehend bannen. Die Beachtung der Klugheitsregel durch die Strafgerichtsbarkeit (und die Staatsanwaltschaften) bewirkt über die steuerrechtsakzessorische Auslegung in der Sache einen erheblichen Einfluss des BFH auf die Auslegung und Anwendung des Steuerstrafrechts. Er erfasst nicht lediglich die spezifischen Tatbestandsmerkmale der Steuerstraftat, sondern reicht bis in die Handhabung allgemeiner Strafbarkeitsvoraussetzungen, wie etwa die Anforderungen an die Formen strafbarer Tatbeteiligung im Sinne der §§ 25–27 StGB, hinein. Das Vorhandensein sowie die Art und Weise dieses Einflusses sollen nachfolgend an zwei Beispielen erläutert werden.

75 Ausführlich zu den Vorsatzanforderungen bei §  370 AO Radtke, Gedächtnisschrift für ­Joecks (Fn.  48); zur Bedeutung der „Parallelwertung in der Laiensphäre“ siehe Joecks in MünchKomm/StGB, 3. Aufl., § 16 Rz. 70 f. m.w.N., siehe dazu auch BGH v. 8.11.1955 – 5 StR 348/55, BGHSt 8, 321 (323). 76 Vgl. Mellinghoff, Stgb 2014, 97 (103); Ebner, PStR 2008, 119 (120).

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2. Verdeckte Gewinnausschüttungen und Steuerhinterziehung Auf verdeckte Gewinnausschüttungen zurückgehende Hinterziehungen von Unternehmen- (jedenfalls Körperschaft- und Gewerbesteuer) und Einkommensteuer beschäftigen den BGH nicht selten77. Eine verdeckte Gewinnausschüttung ist allerdings weder steuerrechtlich noch strafrechtlich per se verboten und begründet daher für sich allein nicht zwingend eine Steuerhinterziehung78. Eine solche aufgrund verdeckter Gewinnausschüttung liegt auf der Unternehmensteuerseite lediglich dann und in dem Umfang vor, in dem die Verschleierung der Gewinnausschüttung entgegen § 8 Abs. 3 Satz 3 KStG eine (scheinbare) Minderung des Einkommens der begünstigten Gesellschaft bewirkt hat79. Um strafrechtlich beurteilen zu können, ob im Zusammenhang mit einer verdeckten Gewinnausschüttung unrichtige Erklärungen über steuerlich erhebliche Tatsachen abgegeben worden sind (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) und dadurch ein tatbestandsmäßiger Verkürzungserfolg i.S.v. § 370 Abs. 1 und 4 AO eingetreten ist, bedarf es einer steuerrechtsakzessorischen Auslegung des § 370 AO bei Orientierung an der dazu einschlägigen Steuerrechtsprechung. Denn die Rechtsfigur der „verdeckten Gewinnausschüttung“ ist keine im Strafrecht verankerte. Ebenso wenig existiert eine eigenständige und originäre Begriffsbestimmung der verdeckten Gewinnausschüttung im Strafrecht. Bereits um das Phänomen zu erfassen und steuerstrafrechtlich subsumtionsfähig zu machen, ist der Zugriff auf das Begriffs- und Rechtsverständnis des Steuerrechts geboten. Dazu folgendes Beispiel aus der Rechtsprechung des BGH80: Dem Angeklagten waren in den verfahrensgegenständlichen Veranlagungszeiträumen durch den formellen Geschäftsführer einer GmbH, deren Geschäftsanteile für den Angeklagten treuhänderisch gehalten wurden, Zahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen zugeflossen. Der Angeklagte hatte zuvor mit dem späteren (formellen) Geschäftsführer mündlich die Gründung der GmbH vereinbart, die dem Angeklagten eine wirtschaftliche Betätigung unter dem Namen der GmbH ermöglichen sollte, ohne nach außen für diese aufzutreten. Nach dem mündlich Vereinbarten sollten dem Angeklagten die Gewinne zufließen und er sollte jederzeit Zugriff auf die Gesellschaftsanteile behalten sowie eine Übertragung an sich selbst erreichen können81. Die dem Angeklagten zugewendeten Zahlungen wurden in den Unternehmensteuererklärungen (KSt, GewSt, USt) der GmbH gewinnmindernd geltend gemacht. Der Angeklagte gab die Zuflüsse in den korrespondierenden Veranlagungszeiträumen in seiner Einkommensteuererklärung nicht an.

Der BGH hat die erfolgte Verurteilung des Angeklagten wegen mehrerer Taten der Steuerhinterziehung im Schuldspruch bestätigt82. Strafrechtlich kam es maßgeblich darauf an, ob es sich bei den Zahlungen um verdeckte Gewinnausschüttungen handelte, die gemäß § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG das Einkommen der Gesellschaft nicht mindern und vom Angeklagten in seiner Einkommensteuerklärung als Einkünfte (ge77 Exemplarisch aus jüngerer Zeit BGH v. 20.1.2017 – 1 StR 464/17. 78 BGH v. 1.12.2015 – 1 StR 154/15, NStZ 2016, 300 m.w.N. 79 BGH v. 1.12.2015  – 1 StR 154/15, NStZ 2016, 300; siehe auch Rolletschke in Graf/Jäger/ Wittig (Fn. 14), § 370 AO Rz. 449 ff. sowie Madauß, NZWiSt 2013, 207 ff. 80 Sachverhalt nach BGH v. 6.9.2012 – 1 StR 140/12, BGHSt 58, 1 ff. 81 BGH v. 6.9.2012 – 1 StR 140/12, BGHSt 58, 1 (2 Rz. 3). 82 BGH v. 6.9.2012 – 1 StR 140/12, BGHSt 58, 1 (3 Rz. 25).

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mäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG) hätten angegeben werden müssen. Das war nur dann der Fall, wenn es sich bei den fraglichen Zuwendungen aus dem Gesellschaftsvermögen um verdeckte Gewinnausschüttungen83 handelte, was die Strafgerichtsbarkeit allein anhand der in der Steuerrechtsprechung geprägten Voraussetzungen zu prüfen vermag. Um anhand der steuerrechtlichen Definition zu beurteilen, ob die Zahlungen bei der GmbH eingetretene Vermögensminderungen sind, die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst sind, sich auf die Höhe des Unterschiedsbetrags gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG auswirkt und in keinem Zusammenhang mit einer offenen Ausschüttung steht84, kam es auf die Gesellschafterstellung des Angeklagten an. Das Landgericht hatte diese auf die Treuhandabrede gestützt, die es auch in mündlicher Form geschlossen für wirksam hielt. Der BGH wies dagegen auf das Formerfordernis aus § 15 Abs. 4 GmbHG85 hin, ließ die Frage der Formunwirksamkeit und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Zurechnung der Einkünfte aus Kapitalvermögen86 aber letztlich offen. Denn nach seiner Bewertung trugen die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts ohnehin die Annahme, dass die Beteiligten der mündlichen Treuhandabrede ungeachtet deren möglicher Formunwirksamkeit das wirtschaftliche Ergebnis der Abrede eintreten und bestehen ließen, die Formunwirksamkeit daher steuerrechtlich gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 AO unbeachtlich wäre87. Der BGH hat sich in der als Beispiel herangezogenen Entscheidung ausschließlich auf die Rechtsprechung des BFH zu § 39 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 sowie § 41 Abs. 1 AO gestützt88, um die für die Hinterziehung sowohl der Unternehmensteuern als auch der Einkommensteuer zentrale Zuordnung der GmbH-Anteile zum Angeklagten (§ 39 AO) zu begründen. Ausgangspunkt der Argumentation ist die Erwägung, wegen der jeweils auf eine wirtschaftliche Betrachtungsweise abstellenden Regelungsgehalte § 41 Abs. 1 Satz 1 AO auch im Hinblick auf die Zuordnung von Wirtschaftsgütern für die Konkretisierung von § 39 AO fruchtbar zu machen89. Wiederum unter Übernahme der Rechtsprechung des BFH wird ausgeführt, eine formunwirksame Treuhandabrede stehe nach § 41 Abs. 1 Satz 1 AO einer Zurechnung i.S.v. von § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 AO jedenfalls dann nicht entgegen, wenn nach dem Inhalt der formunwirksamen Abrede der Treugeber alle mit der Gesellschaftsbeteiligung verbundenen Recht ausüben und effektiv durchsetzen kann sowie – wegen der Maßgeblichkeit der tatsächlichen Ver-

83 Zur Definition exemplarisch BFH v. 23.10.2013 – I R 60/12, BFHE 244, 256. 84 BFH v. 23.10.2013 – I R 60/12, BFHE 244, 256; BGH v. 6.9.2012 – 1 StR 140/12, BGHSt 58, 1 (4 Rz. 28 m.w.N.). 85 Dazu etwa BFH v. 22.7.2008 – IX R 61/05, BFH/NV 2008, 2004 ff. und v. 11.5.2010 – IX R 19/09, BFHE 229, 301. 86 Etwa BFH v. 6.8.2013 – VIII R 10/10, BFHE 242, 321 (zu § 20 Abs. 2a EStG 1997). 87 BGH v. 6.9.2012 – 1 StR 140/12, BGHSt 58, 1 (5 Rz. 30). 88 BGH v. 6.9.2012 – 1 StR 140/12, BGHSt 58, 1 (5–10 Rz. 31–44). 89 BGH v. 6.9.2012 – 1 StR 140/12, BGHSt 58, 1 (6 Rz. 34), gestützt auf BFH v. 17.2.2004 – VIII R 26/01, DStRE 2004, 744 sowie v. 4.12.2007 – VIII R 14/05, DStRE 2008, 1028).

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hältnisse90 – die Vertragsparteien die (formunwirksam) getroffenen Vereinbarungen tatsächlich in vollem Umfang durchgeführt haben91. Gerade diese Voraussetzungen hatte das Landgericht beweiswürdigend rechtsfehlerfrei festgestellt. Die Gesellschaftsanteile (bzw. die daraus resultierenden Zuflüsse) waren dem Angeklagten damit in jedem Fall zuzuordnen; entweder bei formwirksamer Treuhandabrede über § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 AO oder bei formunwirksamer jedoch tatsächlich unter den vorgenannten Voraussetzungen „gelebter“ Treuhand unter Heranziehung von §  41 Abs. 1 Satz 1 AO. Der Schuldspruch gegen den Angeklagten war daher keinesfalls zu beanstanden. Dieses steuerstrafrechtliche Ergebnis ließ sich allein durch eine konsequente Umsetzung der einschlägigen Steuerrechtsprechung zu § 39 und § 41 Abs. 1 AO erzielen. 3. Umsatzsteuerhinterziehung und sog. vorgeschobene Strohmanngeschäfte Strohmanngeschäfte haben bei Steuerhinterziehungen im Kontext von Umsatzsteuerketten oder -karussellen eine nicht unerhebliche praktische Bedeutung92. Ihre steuerrechtliche Einordnung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Umsatzsteuerhinterziehungen verdeutlichen als weiteres Beispiel das Zusammenspiel von BFH und BGH auf der Grundlage einer steuerrechtsakzessorischen Auslegung des Steuerstrafrechts. In den fraglichen Konstellationen kommt es für die Straftat gemäß § 370 AO darauf an, ob aus einer vorhandenen Rechnung die in Anspruch genommene Berechtigung zum Vorsteuerabzug tatsächlich bestand. Bei Einschaltung eines Strohmanns verhält es sich so, wenn er tatsächlich Leistender i.S.v. § 15 UStG ist. Die Strafrechtsprechung entscheidet darüber anhand der ständigen Steuerrechtsprechung und übernimmt die dortige Differenzierung93. Für Steuerrecht und Steuerstrafrecht gilt daher übereinstimmend: Auch ein – phänomenologisch – Strohmann, der im Außenverhältnis im eigenen Namen auftritt, im Verhältnis zum „Hintermann“ aber für dessen Rechnung handelt, kann grundsätzlich leistender Unternehmer im umsatzsteuerrechtlichen Sinne sein94. Im Gegensatz dazu sind sog. vorgeschobene Strohmanngeschäfte umsatzsteuerrechtlich unbeachtlich, begründen mithin nicht die Eigenschaft eines leistenden Unternehmers, wenn sie lediglich zum Schein (§  41 Abs.  2 AO) abgeschlossen worden sind, „Strohmann“ und Leistungsempfänger also davon ausgehen, dass die Rechtswirkungen des Geschäfts zwischen dem Leistungsempfänger und dem Hintermann

90 Vgl. etwa BFH v. 22.7.2008 – IX R 61/05, BFH/NV 2008, 2004 und v. 11.7.2006 – VIII R 32/04, BFHE 214, 326 m.w.N. 91 BGH v. 6.9.2012 – 1 StR 140/12, BGHSt 58, 1 (6 Rz. 33) unter Bezugnahme auf BFH v. 17.2.2004 – VIII R 28/02, BFHE 205, 426. 92 Exemplarisch BGH v. 5.2.2014 – 1 StR 422/13, NStZ 2014, 335 f. und v. 8.7.2014 – 1 StR 29/14, NStZ 2015, 287 f. 93 BGH v. 5.2.2014 – 1 StR 422/13, NStZ 2014, 335 f. 94 BFH v. 31.2.2002  – V B 108/01, BFHE 198, 208 und v. 10.11.2010  – XI R 15/09, wistra 2011, 237 m.w.N.

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des „Strohmanns“ eintreten sollen95. Diese Rechtsprechungslinien des BFH wendet der BGH steuerrechtsakzessorisch im Steuerstrafrecht ohne Modifikationen vollumfänglich an96.

III. Fazit 1. Die verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende einfachgesetzliche Entscheidung für die Vorfragenkompetenz auch in Steuerstrafsachen (anders als zwischen 1919 und 1967) kann Divergenzentscheidungen im Besteuerungsverfahren und im Steuerstrafverfahren in einzelnen Fällen nicht immer ausschließen. Tatsächlich dürfte die Gefahr solcher divergierender Entscheidungen sich kaum jemals realisiert haben. 2. Das ist vor allem auf die straftatbestandlichen Strukturen der Steuerhinterziehung entweder als Blankettstraftatbestand oder als Delikt mit überwiegend normativen Tatbestandsmerkmalen zurückzuführen. Diese Strukturen gebieten eine steuerrechtsakzessorische Auslegung des § 370 AO (und anderer Steuerstraftatbestände) und legen als juristische Klugheitsregel eine steuerrechtsprechungsorientierte Auslegung durch die Strafgerichtsbarkeit sehr nahe. 3. Die Rechtsprechung des BGH in Steuerstrafsachen ist sowohl durch die steuerrechtsakzessorische als auch an der Rechtsprechung des BFH ausgerichtete Auslegung der Steuerstraftatbestände und des zugrunde liegenden Steuerrechts geprägt. 4. Angesichts dieses gut auf einander abgestimmten Zusammenspiels von BFH und BGH sind Divergenzentscheidungen – auf der Ebene der beiden obersten Bundesgerichte – letztlich allenfalls bei in der Steuerrechtsprechung noch nicht abschließend geklärten Rechtsfragen vorstellbar.

95 Vgl. BFH v. 31.1.2002 – V B 108/01, BFHE 198, 208 und v. 10.11.2010 – XI 15/09, wistra 2011, 237. 96 Etwa BGH v. 8.7.2014 – 1 StR 29/14, NStZ 2015, 287 f.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … B. III.

Steuerrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Von Klaus Rennert*

Inhaltsübersicht I. Die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts in Abgabensachen II. Zum Begriff der Steuer III. Das Steuerschuldverhältnis. Verfahrensfragen 1. Gesellschaft bürgerlichen Rechts als Steuerschuldnerin 2. Der Steuerbescheid 3. Weitere Verfahrensfragen IV. Allgemeine materiell-rechtliche Grundsätze 1. Gleichheitssatz 2. Freiheitsgrundrechte. Verhältnismäßigkeit 3. Das Erfordernis von Übergangsrege­ lungen

4. Billigkeitserlass V. Zu einzelnen Kommunalsteuern 1. Realsteuern a) Grundsteuer b) Gewerbesteuer 2. Örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern a) Begriff b) Steuerbarer Aufwand c) Indirekte Erhebung d) Örtliche Radizierung e) Keine Gleichartigkeit mit bundesgesetzlicher Steuer f) Keine Umsatzsteuer im unionsrechtlichen Sinne

I. Die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts in Abgabensachen In Abgabensachen haben die Verwaltungsgerichte historisch und systematisch eine Auffangzuständigkeit; sie sind zuständig, sofern und soweit nicht die speziellere Zuständigkeit der Finanzgerichte eingreift. Im Vordergrund steht insofern § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO. Hiernach steht der Finanzrechtsweg in allen Abgabensachen offen, soweit die Abgabe der Gesetzgebung des Bundes unterliegt und durch staatliche Finanzbehörden, also solche des Bundes oder eines Landes, verwaltet wird. Damit sind die Verwaltungsgerichte für alle Streitigkeiten über Abgaben zuständig, die von den Kommunen (Gemeinden und Gemeindeverbände) verwaltet werden, gleichgültig ob deren Rechtsgrundlage bundes-, landes- oder ortsrechtlicher Natur ist. Das umfasst * Für wertvolle Hinweise danke ich Frau RinBVerwG Dr. Bick und Frau RinVG Dr. von Daniels.

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nicht nur alle kommunalen Gebühren und Beiträge, sondern auch alle kommunalen Steuern. Hierauf konzentrieren sich die folgenden Zeilen, welche zudem besonders die in den zurückliegenden fünf bis sechs Jahren ergangene Rechtsprechung in den Blick nehmen. Revisionsgericht der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist das Bundesverwaltungsgericht (dessen 9. Revisionssenat nach dem Geschäftsverteilungsplan für Abgabenangelegenheiten zuständig ist). Dessen Befugnis ist freilich auf die Prüfung beschränkt, ob das jeweilige Instanzgericht Bundes- oder europäisches Unionsrecht verletzt hat (§  137 Abs. 1 VwGO). Soweit Kommunalsteuern (wie die Realsteuern) auf bundesgesetzlicher Grundlage erhoben werden, besteht kein Problem. Die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern werden jedoch auf landesrechtlicher Grundlage erhoben; hier ist die Überprüfungsbefugnis praktisch auf Fragen des Bundesverfassungsrechts beschränkt. Das betrifft auch das Verfahrensrecht der Abgabenordnung, soweit diese lediglich von den Kommunalabgabengesetzen der Länder in Bezug genommen wird1 und deshalb den Rang des Landesgesetzes teilt2. Diese Besonderheiten prägen auch das schwesterliche Verhältnis zum Bundesfinanzhof. Dessen Rechtsprechung in Steuersachen wird vom Bundesverwaltungsgericht sehr aufmerksam registriert, die profunde Sachkunde regelmäßig anerkannt; über weite Strecken wirkt der Bundesfinanzhof beispielgebend und richtungweisend. Natürlich bleiben kleinere Divergenzen nicht aus. Gleichwohl wurde der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes in jüngerer Zeit nur in einer Randfrage (des Informationszugangs von Insolvenzverwaltern) angerufen3; Divergenzen in Fragen der Abgabenordnung betreffen in München Bundes-, in Leipzig aber regelmäßig nur Landesrecht und damit nicht dasselbe Gesetz im Sinne von § 2 RsprVereinhG4; schließlich erübrigen sich Divergenzvorlagen auch dann, wenn die Streitfrage für das eine oder das andere Gericht nicht entscheidungserheblich war5.

II. Zum Begriff der Steuer Steuern müssen ihre gesetzliche Grundlage in der Finanzverfassung finden, welche in Art. 105 GG die Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern abschlie1 Auf die bundesgesetzlich geregelten Realsteuern sind gemäß § 1 Abs. 2 AO zwar nicht alle, aber zahlreiche Vorschriften der Abgabenordnung unmittelbar anwendbar und unterliegen damit der Revision; vgl. BVerwG v. 2.9.2015 – 9 B 16/15, RdL 2016, 62, juris Rz. 7. 2 St. Rspr.; BVerwG v. 27.6.2012 – 9 C 7/11, BVerwGE 143, 222 Rz. 10; v. 7.3.2017 – 9 B 64/16, juris Rz. 6. 3 GmS-OGB 3/12 auf Vorlagebeschluss des BVerwG v. 15.10.2012 – 7 B 4/12. 4 BVerwG v. 27.6.2012 – 9 C 7/11, BVerwGE 143, 222 Rz. 10 (11 ff.); vgl. unten bei Fn. 21. 5 BVerwG v. 19.2.2015 – 9 C 10/14, BVerwGE 151, 255 Rz. 33 zur Unzulässigkeit eines Billigkeitserlasses der Gewerbesteuer, weil zwar die Beschränkung der Möglichkeit des Verlustvortrags früher gegründete Projektgesellschaften besonders hart trifft, ein Billigkeitserlass aber auf eine Gesetzeskorrektur hinausliefe; BVerwG v. 25.1.2017 – 9 C 30/15, NJW 2017, 2635 = ZIP 2017, 1723 Rz. 30 ff. zur Zulässigkeit einer Klage der Behörde gegen den Beschenkten auf Duldung der Zwangsvollstreckung an Stelle eines Duldungsbescheides.

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ßend verteilt; Gesetze über nichtsteuerliche Abgaben stützen sich demgegenüber auf die Sachkompetenzen nach den Art.  72  ff. GG6. Steuern sind öffentliche Abgaben, die als Gemeinlast voraussetzungslos, d.h. ohne individuelle Gegenleistung an den Steuerpflichtigen, zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs eines öffentlichen Gemeinwesens erhoben werden. Das gilt auch für Zwecksteuern, deren Aufkommen anderweitig verwendet werden kann7. Der Rundfunkbeitrag ist keine Steuer in diesem Sinne. Zum einen wird er nicht voraussetzungslos erhoben, sondern soll ebenso wie die frühere Rundfunkgebühr die Möglichkeit abgelten, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkprogramme zu empfangen. Dem steht die Anknüpfung an das Innehaben einer Wohnung nicht entgegen. Zum anderen wird das Aufkommen aus der Abgabe nicht in die Landeshaushalte eingestellt, sondern dient weitestgehend zur Finanzausstattung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten8. Auch wenn Steuern der Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs dienen, so darf mit ihnen doch auch ein Lenkungszweck verfolgt werden. Hierfür benötigt auch eine Gemeinde keine zur Steuergesetzgebungskompetenz hinzutretende Sachkompetenz9, auch wenn sie den allgemeinen Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung beachten muss10. Freilich muss der Lenkungszweck den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes standhalten11. Der Lenkungszweck darf sogar der Hauptzweck der Regelung sein12. Er darf allerdings dem Zweck der Einnahmeerzielung nicht zuwiderlaufen. So liegt es aber, wenn die Steuer darauf gerichtet ist, den Steuertatbestand – etwa das Halten von Kampfhunden – geradezu zu unterbinden, wenn die Steuer also faktisch eine Verbotswirkung erzielt13.

III. Das Steuerschuldverhältnis. Verfahrensfragen 1. Gesellschaft bürgerlichen Rechts als Steuerschuldnerin Ist eine aus zwei GmbHs gebildete Gesellschaft bürgerlichen Rechts Eigentümerin eines Grundstücks, so ist sie auch Schuldnerin der Grundsteuer für dieses Grundstück. Wird eine der beiden GmbHs aufgelöst, so wird dadurch die Gesellschaft bürgerlichen Rechts noch nicht aufgelöst; dem Tod einer natürlichen Person steht insofern erst die Vollbeendigung der GmbH (i.L.) gleich. Unabhängig davon ist die Gesellschaft bürgerlichen Rechts noch so lange existent, wie noch Steueransprüche gegen sie geltend gemacht werden können14. 6 St. Rspr.; BVerfGE 137, 1 Rz. 45; BVerwG v. 29.4.2009 - 6 C 16/08, BVerwGE 134, 1 Rz. 12. 7 BVerfGE 49, 343 (353 f.). 8 BVerwG v. 18.3.2016 – 6 C 6/15, BVerwGE 154, 275 Rz. 12 ff. 9 BVerwG v. 15.10.2014 – 9 C 8/13 – Kampfhunde, BVerwGE 150, 225 Rz. 18 m.w.N. 10 Dazu noch unten V.2.e. 11 Dazu unten IV.1. 12 BVerwG v. 15.10.2014 – 9 C 8/13, BVerwGE 150, 225 Rz. 18 m.w.N. 13 BVerwG v. 15.10.2014 – 9 C 8/13, BVerwGE 150, 225 Rz. 22 ff. – Zur Hundesteuer vgl. noch BVerwG v. 19.1.2000 – 11 C 8/99, BVerwGE 110, 265 und v. 31.8.2011 – 9 B 8/11, juris. 14 BVerwG v. 15.6.2016 – 9 C 19/15, BVerwGE 155, 241 Rz. 14 im Anschluss an BFHE 150, 293 (295) u.a.

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Für die Steuerschuld einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts haften die Gesellschafter persönlich und gesamtschuldnerisch. Das ergibt sich aus einer analogen Anwendung von §  128 HGB. Der dahingehenden Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs15 und des Bundesgerichtshofs16 hat sich das Bundesverwaltungsgericht jetzt angeschlossen17. Der Haftungsanspruch verjährt in entsprechender Anwendung von §  159 Abs. 1 HGB in fünf Jahren, sofern nicht der Anspruch gegen die Gesellschaft einer kürzeren Verjährung unterliegt, was bei der Gewerbesteuer wegen § 228 Satz 2 AO nicht der Fall ist. Weil die Auflösung einer GbR jedoch nicht ins Handelsregister eingetragen wird, beginnt der Lauf der Frist erst, wenn der Steuergläubiger von der Auflösung Kenntnis erlangt18. Der haftende Gesellschafter muss sich einen Neubeginn der Verjährung gegenüber der Gesellschaft nach § 159 Abs. 4 HGB entgegenhalten lassen, und dies nicht nur in den Fällen des §  212 BGB (Anerkenntnis; Vollstreckungshandlung), sondern auch in den Fällen des § 231 Abs. 1 und 3 AO19. 2. Der Steuerbescheid Der Steuerbescheid muss den Steuerpflichtigen in einer Weise bezeichnen, die dem Bestimmtheitsgebot genügt (§ 119 Abs. 1, § 157 Abs. 1 Satz 2 AO); andernfalls ist er nichtig. So liegt es, wenn er an eine Gesellschaft gerichtet ist, die infolge Umwandlung oder Verschmelzung bereits zuvor erloschen war. Fraglich ist, ob ein solcher Bescheid dahin ausgelegt oder umgedeutet werden kann, dass der Rechtsnachfolger als Steuerpflichtiger gemeint ist. Der Bundesfinanzhof hält dies nur dann für zulässig, wenn der Bescheid selbst mehrdeutig ist20. Ob dieser strengen Auffassung zu folgen wäre, hat das Bundesverwaltungsgericht offen gelassen. Sie ist jedenfalls von Bundesverfassungsrechts wegen nicht geboten; nach dem Rechtsstaatsprinzip genügt, wenn der Adressat erkennen kann, was von ihm gefordert wird, und der Bescheid muss geeignete Grundlage für Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung sein. Deshalb lässt sich nicht beanstanden, wenn ein Oberverwaltungsgericht die nur als Landesrecht in Bezug genommene Abgabenordnung weniger streng versteht und eine Auslegung oder Umdeutung des Steuerbescheides auch dann für zulässig erachtet, wenn sich die Mehrdeutigkeit erst aus den Begleitumständen ergibt21. Hat eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts keinen Geschäftsführer, so genügt zur ­ ekanntgabe des Steuerbescheids die Bekanntgabe an einen der Gesellschafter B

15 BFHE 213, 194 (197). 16 BGHZ 146, 341 (358 f.). 17 BVerwG v. 14.10.2015 – 9 C 11/14, BVerwGE 153, 109 Rz. 12; v. 8.6.2017 – 10 B 11/16, NVwZ 2017, 1463 m. Anm. Heusch zu § 49a VwVfG. 18 BVerwG (Fn.  17) Rz.  14 im Anschluss an BGHZ 117, 168 (178  f.) und BFHE  183, 307 (311). 19 BVerwG v. 14.10.2015 – 9 C 11/14, BVerwGE 153, 109 im Anschluss an BFHE 183, 307. 20 BFH v. 21.10.1985 – GrS 4/84, BFHE 145, 110; v. 25.1.2006 – I R 52/05 und v. 13.12.2007 – IV R 91/05, juris Rz. 14. 21 BVerwG v. 27.6.2012 – 9 C 7/11, BVerwGE 143, 222 Rz. 11 ff., 15.

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(§ 34 Abs. 2 AO)22. Nach § 122 Abs. 2 AO gilt der Steuerbescheid am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben, außer wenn er nicht oder später zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde Zugang und Zeitpunkt nachzuweisen. Bestreitet der Adressat den Zugang, so genügt dies, um derartige Zweifel zu wecken und die Beweislast der Behörde zu begründen. Anders liegt es, wenn ein Dritter – etwa der Adressat eines späteren Duldungsbescheides – den Zugang bestreiten will. Hierfür genügt nicht die Berufung auf bloßes Nichtwissen; vielmehr bedarf es dann weiterer Umstände, um die gesetzliche Zugangsvermutung zu erschüttern und Zweifel am Zugang zu wecken23. 3. Weitere Verfahrensfragen Hat der Steuerschuldner Vermögenswerte verschenkt und wird über sein Vermögen hernach das Insolvenzverfahren eröffnet, so kann die Behörde als Steuergläubigerin die Schenkung außerhalb des Insolvenzverfahrens anfechten und in den geschenkten Vermögenswert vollstrecken. Hierzu muss sie einen Duldungsbescheid nach §  191 Abs. 1 Satz 2 AO erlassen, soweit die Anfechtung nicht im Wege der Einrede nach § 9 AnfG geltend zu machen ist; wegen der zwingenden Fassung des § 191 AO hat sie nicht die Wahl, stattdessen eine Klage nach §§ 11, 13 AnfG auf Duldung der Zwangsvollstreckung zu erheben. Damit schloss sich das Bundesverwaltungsgericht24 der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an25; durch die abweichende Ansicht des Bundesfinanzhofs26 sah es sich nicht zur Anrufung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes veranlasst, weil die Entscheidung des Bundesfinanzhofs hierauf nicht beruhte27. Gemäß § 35b Abs. 1 Satz 1 GewStG ist ein Gewerbesteuermessbescheid von Amts wegen aufzuheben oder zu ändern, wenn der Einkommensteuerbescheid aufgehoben oder geändert wird und die Aufhebung oder Änderung den Gewinn aus Gewerbebetrieb berührt. Das soll nach der Rechtsprechung des BFH jedoch nicht gelten, wenn eine Klage gegen den Gewerbesteuerbescheid bereits rechtskräftig abgewiesen wurde28. Dem hat sich das Bundesverwaltungsgericht jetzt angeschlossen29. Überzeugend ist das nicht. Schon nach allgemeinen Grundsätzen darf die Behörde auch rechtskräftig „bestätigte“ Verwaltungsakte bei Vorliegen neuer Erkenntnisse jedenfalls zugunsten des Betroffenen ändern30. Das gilt erst recht, wenn ihr Wiederauf22 BVerwG v. 15.6.2016  – 9  C  19/15, BVerwGE 155, 241 im Anschluss an BFHE 179, 211 (215); 229, 378 Rz. 18. 23 BVerwG v. 15.6.2016 – 9 C 19/15, BVerwGE 155, 241 Rz. 17 ff. 24 BVerwG v. 25.1.2017 – 9 C 30/15, NJW 2017, 2635 = ZIP 2017, 1723. 25 BGH v. 27.7.2006 – IX ZB 141/05, ZIP 2006, 1603 und v. 21.9.2006 – IX ZB 187/05, FamRZ 2006, 1836. 26 BFH v. 1.12.2005 – VII B 95/05, BFH/NV 2006, 701. 27 BVerwG v. 25.1.2017 – 9 C 30/15, NJW 2017, 2635 = ZIP 2017, 1723 Rz. 30 ff. 28 BFH v. 24.10.1979 – I S 8/79, BFHE 129, 11. 29 BVerwG v. 4.5.2016 – 9 B 72/15, Buchholz 401.5 § 35b GewStG Nr. 1 = NVwZ-RR 2017, 464. 30 Rennert in Eyermann, 14. Aufl. 2014, § 121 VwGO Rz. 27.

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nahmeermessen wie durch § 35b GewStG gesetzlich gebunden wird. Die gegenteilige Rechtsprechung führt dazu, dass der Steuerpflichtige gut beraten ist, nur den Einkommensteuerbescheid vor Gericht zu bringen, aber eine rechtskräftige Entscheidung über den  – häufig gleichzeitigen  – Gewerbesteuermessbescheid tunlichst zu vermeiden31; dessen bloße Bestandskraft hindert die spätere Änderung nicht.

IV. Allgemeine materiell-rechtliche Grundsätze 1. Gleichheitssatz Für den Sachbereich des Steuerrechts verbürgt der allgemeine Gleichheitssatz den Grundsatz der gleichen Zuteilung steuerlicher Lasten. Der Gesetzgeber hat dabei einen weitreichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstandes als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes und des Steuermaßstabs. Weil Steuergesetze Massenvorgänge des Wirtschaftslebens betreffen, dürfen sie typisieren; dies muss sich freilich realitätsgerecht am typischen Fall orientieren und darf ein gewisses Maß nicht überschreiten32. Außerdem darf die Typisierung sich nicht weiter von der Realität entfernen als für die Typisierungszwecke erforderlich. So ist für die Vergnügungsteuer der individuelle, wirkliche Vergnügungsaufwand der sachgerechte Maßstab. Lässt sich dieser nicht oder nicht zuverlässig erfassen33, kommen Ersatzmaßstäbe in Betracht, die allerdings einen Bezug zum Vergnügungsaufwand aufweisen müssen, für die Spielgerätesteuer etwa das Einspielergebnis oder der Spielaufwand34. Unter mehreren Ersatzmaßstäben ist derjenige zu wählen, der dem wirklichen Vergnügungsaufwand am nächsten kommt35. Daher scheidet für die sogenannte Wettbürosteuer der Flächenmaßstab aus, da mit dem Wetteinsatz ein praktikabler Wirklichkeitsmaßstab zur Verfügung steht36. Die Zweitwohnungsteuer darf zwar nach dem Mietaufwand bemessen werden, denn dieser spiegelt die Leistungsfähigkeit wider; sieht die Steuersatzung aber Mietaufwandstufen vor, so darf dies im Übergang zur nächsthöheren Stufe nicht zu Sprüngen führen, die sich vom Gebot der Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen in einem Maße entfernen, das sich durch die beabsichtigte Verwaltungsvereinfachung nicht mehr rechtfertigen lässt37. 31 Wenn beides angefochten wird, sollte das Gericht nach Möglichkeit helfen, etwa durch Ruhen oder Aussetzen des Verfahrens wegen anderweitiger Vorgreiflichkeit; vgl. BVerwG (Fn. 29). 32 BVerwG v. 29.6.2017 – 9 C 7/16, DVBl. 2017, 1566, juris Rz. 50 m.w.N. 33 Etwa weil eine Spielautomatensteuer vom Spieleinsatz nicht die Steuer des Automatenaufstellers abzieht, vgl. BVerwG v. 10.12.2009 – 9 C 12/08, BVerwGE 135, 367 Rz. 24, oder weil sie die Spieleinsätze mehrerer Spieler unterschiedslos erfasst, vgl. BVerwG v. 21.6.2012 – 9 B 13/12, juris Rz. 5. 34 BVerwG v. 14.10.2015 – 9 C 22/14, BVerwGE 153, 116 Rz. 12. 35 Vgl. BVerwG v. 10.12.2009 – 9 C 12/08, BVerwGE 135, 367 Rz. 22, v. 9.6.2010 – 9 CN 1/09, BVerwGE 137, 123 Rz. 15. 36 BVerwG v. 29.6.2017 – 9 C 7/16, DVBl. 2017, 1566, juris Rz. 53 ff. 37 BVerwG v. 14.12.2017  – 9  C  11/16 unter Bezugnahme auf BVerfG v. 15.1.2014  – 1 BvR 1656/09, BVerfGE 135, 126 Rz. 69 ff.

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Der Grundsatz der steuerlichen Lastengleichheit fordert nicht nur, dass ein Steuergesetz die Steuerschuldner rechtlich, sondern auch, dass es sie tatsächlich gleichmäßig belastet. Wird die Gleichheit im Belastungserfolg durch die rechtliche Gestaltung des Erhebungsverfahrens prinzipiell verfehlt, kann dies die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Besteuerungsgrundlage nach sich ziehen. Zur Gleichheitswidrigkeit führt allerdings nicht allein die empirische Ineffizienz von Rechtsnormen, wohl aber das normative Defizit eines widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten Rechts38. Das lässt sich bei der kommunalen Übernachtungsteuer, die nur für privat veranlasste Übernachtungen erhoben wird, nicht allein daraus folgern, dass die private (und nicht berufliche) Veranlassung einer Hotelübernachtung vom Hotelgast selbst deklariert werden muss39. 2. Freiheitsgrundrechte. Verhältnismäßigkeit Jede Auferlegung einer Abgabepflicht stellt einen Eingriff in Freiheitsgrundrechte, jedenfalls in die allgemeine Handlungsfreiheit dar und unterliegt damit dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Das betrifft jedenfalls die Bemessung einer Steuer. So darf eine Aufwandsteuer nicht außer Verhältnis zu dem besteuerten Aufwand stehen. Das ist der Fall, wenn eine Kampfhundesteuer den Aufwand für das Halten des Kampfhundes deutlich übersteigt40. Hat eine Steuer für den steuerpflichtigen Unternehmer gar erdrosselnde Wirkung, so liegt ein Eingriff in die Freiheit der Berufswahl vor41. Eine kommunale Spielgerätesteuer greift hiernach mit erdrosselnder Wirkung in das Grundrecht aus Art.  12 Abs.  1 GG ein, wenn mit der Ausübung des Berufs eines Spielautomatenbetreibers in der Gemeinde infolge der Steuer nach Abzug der notwendigen Aufwendungen kein angemessener Reingewinn erzielt werden kann. Hierfür kommt es auf die Lage im Gemeindegebiet an; der Unternehmer kann nicht auf bessere Bedingungen in anderen Gemeinden verwiesen werden42. Allerdings ist nicht der einzelne, sondern ein durchschnittlicher Betreiber im Gemeindegebiet zugrunde zu legen43. Es ist daher zu ermitteln, ob der durchschnittlich zu erzielende Bruttoumsatz die durchschnittlichen Kosten unter Berücksichtigung aller anfallen-

38 BVerfG v. 9.3.2004  – 2  BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 (112  f.) und v. 17.12.2014  – 1  BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 Rz.  123; vgl. BFH v. 15.7.2015  – II R 32/14, BFHE 250, 427 Rz. 41 f. 39 BVerwG v. 13.10.2016 – 9 BN 1/16, juris Rz. 9 ff.; v. 17.11.2015 – 9 BN 3/15, juris Rz. 9; v. 11.12.2015 – 9 BN 7/15, Buchholz 11 Art. 105 GG Nr. 55, juris Rz. 5. 40 BVerwG v. 15.10.2014 – 9 C 8/13, BVerwGE 150, 225 Rz. 29. 41 Dieses grundrechtliche Problem ist von dem kompetenzrechtlichen Problem zu unterscheiden, dass es sich begrifflich nicht mehr um eine Steuer handelt, wenn sie den besteuerten Vorgang nicht mit einer Abgabepflicht belasten, sondern eigentlich verhindern will; auch dann spricht das Bundesverwaltungsgericht von „erdrosselnder Wirkung“; vgl. oben II. 42 BVerwG v. 14.10.2015 – 9 C 22/14, BVerwGE 153, 116 Rz. 20. 43 BVerwG v. 10.12.2009 – 9 C 12/08, BVerwGE 135, 367 Rz. 44, v. 14.10.2015 – 9 C 22/14, BVerwGE 153, 116 Rz. 17 ff. und v. 29.6.2017 – 9 C 7/16, DVBl. 2017, 1566, juris Rz. 40 m.w.N.

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den Steuern einschließlich eines angemessenen Betrages für Eigenkapitalverzinsung und Unternehmerlohn abdecken kann44. An einer erdrosselnden Wirkung fehlt es, wenn der Steuerpflichtige eine Steuererhöhung durch eine Preiserhöhung abwälzen kann. So liegt es bei der Spielgerätesteuer, wenn der Betreiber nach der Spielverordnung zulässige und auf dem Markt verfügbare Spielgeräte mit einem höheren langfristigen durchschnittlichen Kasseninhalt einsetzen kann45. Allerdings muss sich der Betreiber die Möglichkeit einer „schrägen Überwälzung“  – nämlich die Zahlung der Steuer aus anderen rentablen Betriebssparten – nicht entgegenhalten lassen46. An einer erdrosselnden Wirkung fehlt es auch, wenn dem durchschnittlichen Unternehmer die Möglichkeit bleibt, durch andere geeignete Maßnahmen wie Umsatz­ steigerung oder Senkung der sonstigen Kosten einen angemessenen Gewinn zu erwirtschaften. Die Steuer ist dann in der Regel nicht unverhältnismäßig. Natürlich kann die Gemeinde erwägen, die Steuer niedriger zu bemessen, um wieder Gewinnmöglichkeiten zu eröffnen. Offen ist dabei, ob die Verhältnismäßigkeit zu verneinen wäre, wenn die Steuer so niedrig bemessen werden müsste, dass sie nach Abzug der Verwaltungskosten bei der erhebenden Gemeinde keinen nennenswerten Ertrag mehr abwirft. Keinesfalls aber kann ihr entgegengehalten werden, dass sie einen mit ihr verfolgten Lenkungszweck verfehle; denn die Steuer rechtfertigt sich – unbeschadet eines Lenkungszwecks – allein schon aus der Absicht, Einnahmen zu erzielen47. 3. Das Erfordernis von Übergangsregelungen Der Steuerpflichtige darf darauf vertrauen, dass die zum Zeitpunkt des Abschlusses eines steuerrelevanten Geschäftsvorgangs geltende Steuerrechtslage nicht ohne hin44 BVerwG v. 14.10.2015 – 9 C 22/14, BVerwGE 153, 116 Rz. 17. Unter welchen Voraussetzungen dies der Fall sein kann, entzieht sich der allgemeinen rechtlichen Beurteilung, muss vielmehr im Einzelfall nach betriebswirtschaftlichen Kriterien – ggf. mit Hilfe eines Sachverständigengutachtens – beantwortet werden; vgl. BVerwG v. 3.5.2017 – 9 B 38/16, juris Rz. 10. Zu den Maßstäben hierfür vgl. BVerwG v. 10.12.2009 – 9 C 12/08, BVerwGE 135, 367 Rz. 46 und v. 14.10.2015 – 9 C 22/14, BVerwGE 153, 116 Rz. 20 im Anschluss an BFHE 180, 497 (501 f.). Allerdings hat der BFH gelegentlich Zweifel an der Tragfähigkeit der Figur des „durchschnittlichen Unternehmers“ anklingen lassen: BFH v. 29.3.2006  – II R 59/04, BFH/NV 2006, 1354 Rz. 21. 45 BVerwG v. 14.10.2015 – 9 C 22/14, BVerwGE 153, 116 Rz. 21 ff. und v. 29.6.2017 – 9 C 7/16, DVBl. 2017, 1566, juris Rz. 41; v. 10.8.2017 – 9 B 68/16, juris Rz. 3; v. 3.5.2017 – 9 B 38/16, juris. Ist die beim Unternehmer erhobene Steuer gar nicht auf Abwälzung auf dessen Kunden angelegt, so ist schon zweifelhaft, ob überhaupt eine Verbrauch- und nicht vielmehr eine Unternehmensteuer vorliegt. Eine nur unzureichende tatsächliche oder rechtliche Möglichkeit der Abwälzung hat indes auf diese kompetenzielle Frage keine Auswirkung, sie wird nur grundrechtlich relevant. Vgl. BVerwG, ebd. Rz.  46  ff. sowie jüngst BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, JZ 2017, 941 Rz. 122 ff. zu den Möglichkeiten der Abwälzung. 46 BVerwG v. 14.10.2015 – 9 C 22/14, BVerwGE 153, 116 Rz. 35 im Anschluss an BVerfGE 31, 8 (21 f.); 123, 1 (36). 47 BVerwG v. 14.10.2015 – 9 C 22/14, BVerwGE 153, 116 Rz. 30 und v. 29.6.2017 – 9 C 7/16, DVBl. 2017, 1566, juris Rz. 42.

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reichend gewichtigen Grund rückwirkend geändert wird. Dazu muss der Geschäftsvorgang aber abgeschlossen sein. Die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde künftig unverändert fortbestehen, genießt demgegenüber keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz48. Die Gründung von Projektgesellschaften, die auf den unveränderten Fortbestand der Möglichkeit eines Verlustvortrags spekulieren, ist kein abgeschlossener Geschäftsvorgang; solche Gesellschaften müssen von einer späteren Begrenzung dieser Möglichkeit nicht durch eine Übergangsvorschrift ausgenommen werden49. Allerdings muss der Steuerpflichtige auf eine Rechtsänderung mit zumutbaren Maßnahmen reagieren können. Die Freiheit der Berufsausübung erfordert daher eine Übergangsregelung, wenn der steuerpflichtige Spielgeräteaufsteller bei einem unmittelbaren Inkrafttreten einer Erhöhung der Vergnügungssteuer seine bislang in erlaubter Weise ausgeübte Berufstätigkeit zeitweise einstellen müsste oder nur zu unzumutbaren Bedingungen fortführen könnte. Insoweit ist von Bedeutung, ob ein Gerätetausch erforderlich und mit welchem Investitions- und Zeitaufwand er verbunden ist. Zu berücksichtigen sein kann etwa, für welchen Zeitraum eine vertragliche Bindung besteht und wann vorhandene Geräte aufgrund der nur begrenzt gültigen Bauartzulassungen ohnehin ausgetauscht werden müssen50. 4. Billigkeitserlass Verfassungsrechtlichen Einwänden gegen ein Steuergesetz kann nicht dadurch Rechnung getragen werden, dass der Steuergläubiger verpflichtet wird, auf die Festsetzung der Steuer im Wege des Billigkeitserlasses zu verzichten. Nach § 163 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden, wenn ihre Erhebung nach Lage des Einzelfalles unbillig wäre. Das kann aus persönlichen wie aus sachlichen Gründen der Fall sein. Die Festsetzung einer Steuer ist aus sachlichen Gründen unbillig, wenn sie zwar dem Wortlaut des Gesetzes entspricht, aber dessen Wertungen zuwiderläuft, wenn der Gesetzgeber also in Kenntnis der Lage den Fall anders geregelt hätte oder aus Verfassungsgründen anders hätte regeln müssen51. Billigkeitsmaßnahmen dürfen aber nicht die einem gesetzlichen Steuertatbestand innerwohnende Wertung des Gesetzgebers generell durchbrechen oder korrigieren, und zwar auch nicht aus Verfassungsgründen; dann wäre das Gesetz als solches verfassungswidrig52. Im Zusammenhang mit den Regelungen zur Mindestbesteuerung (§ 10a Satz 1 und 2 GewStG) scheiden Billigkeitsmaßnahmen zur generellen Vermeidung sog. Definitiveffekte 48 St. Rspr.; BVerfGE 132, 302 Rz. 45, (54, 71) m.w.N. 49 BVerwG v. 19.2.2015 – 9 C 10/14, BVerwGE 151, 255 Rz. 30 im Anschluss an BFHE 238, 419 Rz. 11. 50 BVerwG v. 14.10.2015 – 9 C 22/14, BVerwGE 153, 116 Rz. 25 ff.; v. 10.8.2017 – 9 B 68/16, juris Rz. 30. 51 St. Rspr.; BVerfG v. 13.12.1994 – 2 BvR 89/91, NVwZ 1995, 989; BFHE 151, 221 (224); 238, 518 Rz. 21; 246, 130 Rz. 10; BVerwG v. 4.6.1982 – 8 C 90/81, Buchholz 401.0 § 163 AO Nr. 1 S. 3 f. und v. 19.2.2015 – 9 C 10/14, BVerwGE 151, 255 Rz. 13. 52 BVerwG v. 19.2.2015 – 9 C 10/14, BVerwGE 151, 255 Rz. 13 im Anschluss an BVerfGE 48, 102 (116).

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(endgültiger Untergang von Verlustvorträgen) aus, weil darin eine strukturelle Gesetzeskorrektur läge53.

V. Zu einzelnen Kommunalsteuern 1. Realsteuern a) Grundsteuer Die Grundsteuer ist eine Objektsteuer, die grundsätzlich nicht von der Ertragskraft des Grundbesitzes abhängt. Die Ertraglosigkeit des Grundstücks allein rechtfertigt deshalb noch keinen Erlass; hierfür müssen besondere Gründe hinzutreten54. Die Grundsteuer ist zu erlassen, soweit der Rohertrag aus der Nutzung des Grundstücks aus Gründen gemindert ist, die der Steuerschuldner nicht zu vertreten hat. Das kommt nicht nur bei atypischen und vorübergehenden Ertragsminderungen in Betracht, sondern auch bei strukturell bedingten Ertragsminderungen von nicht nur vorübergehender Natur55. Stets aber muss die Ertragsminderung auf Umständen beruhen, die außerhalb des Einflussbereichs des Steuerpflichtigen liegen, wenn er sie also weder durch zurechenbares Verhalten selbst herbeigeführt hat noch ihren Eintritt durch zumutbare Maßnahmen hätte verhindern können56. Bei Mietimmobilien führt typischerweise ein Leerstand zur Ertragsminderung. Dies hat der Steuerpflichtige nicht zu vertreten, wenn er sich nachhaltig um eine Vermietung der Räumlichkeiten zu einem marktgerechten Mietzins bemüht hat57. §  32 Abs.  1 GrStG sieht vor, dass die Grundsteuer zu erlassen ist für Grundbesitz, dessen Erhaltung wegen seiner Bedeutung für Kunst, Geschichte, Wissenschaft oder Naturschutz im öffentlichen Interesse liegt, wenn sein Rohertrag in der Regel unter den Kosten liegt. Das Bundesverwaltungsgericht hat seine Rechtsprechung bekräftigt, dass zwischen der Bindung im öffentlichen Interesse und der fehlenden Rentabilität ein ursächlicher Zusammenhang bestehen muss. Ein Erlass für ein Denkmal kann nicht beansprucht werden, wenn dieses auch ohne die Denkmaleigenschaft nicht rentierlich genutzt werden könnte58.

53 BVerwG ebenda Rz. 24 und ff. im Anschluss an BFHE 246, 27; a.A. wohl BFHE 238, 429. 54 BVerwG v. 8.7.1998  – 8  C  23/97, BVerwGE 107, 133 (140) und v. 5.5.2015  – 9  C  6/14, NVwZ 2015, 1620, juris Rz. 20. 55 BVerwG v. 24.4.2007 – GmS-OGB 1/07, Buchholz 401.4 § 33 GrStG Nr. 27 im Anschluss an BFHE 215, 519; 218, 396. 56 BVerwG v. 14.5.2014 – 9 C 1/13, NVwZ-RR 2014, 894 Rz. 18. 57 Das ist eine Frage des Einzelfalls; dazu gehört auch, ob die Immobilie im Internet hätte angeboten werden müssen; vgl. BVerwG v. 14.5.2014 – 9 C 1/13, NVwZ-RR 2014, 894 Rz. 19; v. 3.12.2014  – 9  B 73/14, NVwZ-RR 2015, 232 und v. 13.2.2017  – 9 B 37/16, NVwZ-RR 2017, 429. 58 BVerwG v. 8.7.1998  – 8  C  23/97, BVerwGE 107, 133 (140) und v. 5.5.2015  – 9  C  6/14, NVwZ 2015, 1620, juris Rz. 19 ff.

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Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Einheitsbewertung59 war bei der Abfassung dieses Beitrags noch nicht ergangen. Durch die zugrundeliegenden Vorlagebeschlüsse60 und Verfassungsbeschwerden hat sich das Bundesverwaltungsgericht nicht gehindert gesehen, über Klagen gegen Grundsteuerbescheide zu entscheiden61. b) Gewerbesteuer Die Gewerbesteuer wird in einem gestuften Verfahren ermittelt, dem ein zweifacher Rechtsweg entspricht: Zunächst setzen die Finanzämter den Gewerbesteuermessbetrag durch Anwendung eines Prozentsatzes (Steuermesszahl) auf den Gewerbeertrag fest; hiergegen steht der Finanzrechtsweg offen. Auf dieser Grundlage setzt die Gemeinde in Anwendung ihres Hebesatzes die Gewerbesteuer fest; insoweit ist der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben. Der Gewerbesteuermessbescheid entfaltet für die Gemeinden dabei Bindungswirkung62. Die Frage, ob auf die Einkommensermittlung des Unternehmens ausländische Quellensteuer anzurechnen (und hierzu ein Doppelbesteuerungsabkommen anzuwenden) ist, betrifft den Gewerbesteuermessbetrag und damit die erste Stufe; ihretwegen kann vor den Verwaltungsgerichten nicht geklagt werden63. 2. Örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern a) Begriff Die Auslegung und Anwendung kommunaler Satzungen über Verbrauch- und Aufwandsteuern betreffen grundsätzlich nicht revisibles Recht. Die Entscheidungen der Instanzgerichte sind der revisionsgerichtlichen Kontrolle jedoch insoweit unterworfen, als diese bei der Auslegung und Anwendung der Steuersatzung den mit Art. 105 Abs. 2a GG bundesrechtlich vorgegebenen Begriff der Aufwand- und Verbrauchsteuer nicht verfehlen dürfen64. Allerdings regelt Art. 105 Abs. 2a GG lediglich die Gesetzgebungskompetenz. Die Vorschrift verwendet einen Typusbegriff; in Rede steht insofern nur, ob die kommunale Steuer dem herkömmlichen Typus der Verbrauchund Aufwandsteuer entspricht65. Ob die Steuer im Übrigen in jeder Beziehung ver59 1 BvL 11/14, 12/14 und 1/15; 1 BvR 639/11 und 889/12. 60 BFHE 247, 150. 61 BVerwG v. 5.5.2015 – 9 C 6/14, NVwZ 2015, 1620, juris Rz. 23. 62 Die Gemeinde hat keinen Anspruch gegen das Land (als Träger des Finanzamts) auf Erlass fehlerfreier Gewerbesteuermessbescheide; BVerwG v. 15.6.2011 – 9 C 4/10, BVerwGE 140, 34 mit einem Vorbehalt wegen Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG. 63 BVerwG v. 12.8.2014 – 9 B 23/14, NVwZ-RR 2014, 897. 64 St. Rspr.; vgl. nur BVerwG v. 27.10.2004 – 10 C 2/04, Buchholz 401.61 Zweitwohnungsteuer Nr. 21. 65 Wie für sämtliche in Art. 105 und 106 GG genannten Steuerarten ist auch der Begriff der Verbrauch- und Aufwandsteuer ein Typusbegriff, der nach dem traditionellen deutschen Steuerrecht zu bestimmen ist und in den sich jede neue Steuer einfügen muss. Diese vergleichsweise flexible Begriffsbildung erlaubt auf der anderen Seite, den diversen Gesetz-

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fassungsrechtlich in Ordnung ist, ist demgegenüber keine Frage der Gesetzgebungskompetenz, sondern etwa eine Frage der Belastungsgleichheit o.ä.66. b) Steuerbarer Aufwand Verbrauch- und Aufwandsteuern sind Steuern auf die Einkommensverwendung für den persönlichen Lebensbedarf, in der die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen zum Ausdruck kommt. Belastet werden soll der über die Befriedigung der allgemeinen Lebensführung hinausgehende Aufwand67. Das schließt eine wertende Berücksichtigung der mit dem getätigten Aufwand verfolgten (subjektiven) Absichten und Zwecke aus. Allein der isolierte (objektive) Vorgang des Konsums als Ausdruck und Indikator der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist für die Aufwandsteuer maßgeblich68. Gleichgültig ist hingegen etwa, ob der besteuerte Aufwand rechtlich reglementiert oder gar – wie das Bejagen des Wildes – geboten ist69. Am Konsum kann es sowohl aus Gründen fehlen, die beim Steuerpflichtigen liegen, als auch aus Gründen, die den getätigten Aufwand betreffen. Wer den besteuerten Aufwand gar nicht treiben kann, kann nicht Steuerpflichtiger einer Aufwandsteuer sein. So kann eine Gemeinde nicht zur Jagdsteuer herangezogen werden, auch wenn sie jagdausübungsberechtigt ist; sie kann wegen ihrer durchgängigen Gemeinwohlverpflichtung keinen privaten Aufwand betreiben, und zwar auch nicht in Ansehung ihres fiskalischen Tuns70. Anders liegt es bei einer Jagdgenossenschaft, die ihren Jagdbezirk nicht verpachtet hat; obwohl öffentlich-rechtliche Körperschaft, steht sie in Ansehung der Ausübung des Jagdrechts in keiner weitergehenden Pflichtenbindung als jeder private Inhaber eines Eigenjagdbezirks71. Keinen steuerbaren Aufwand betreiben kann eine GmbH, deren Gesellschaftszweck allein auf Einkommenserzielung, und sei es für eine gemeinnützige Stiftung, gerichtet ist. Gehört der GmbH ein

und Normgebern in Bund und Ländern die Befugnis zur „Erfindung“ von Steuern, die das Grundgesetz nicht nennt, zu untersagen. Damit hat das Bundesverfassungsgericht jüngst eine alte Streitfrage entschieden: Außerhalb der durch die Finanzverfassung der Art. 104a ff. GG begründeten Kompetenzordnung besteht keine Befugnis von Bund und Ländern (und Gemeinden), Steuergesetze zu erlassen; ein freies Steuer(er)findungsrecht hinsichtlich durch Art. 106 GG unverteilter Steuern besteht nicht: BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, JZ 2017, 941 Rz. 64 ff. (69 ff.). 66 BVerwG v. 10.12.2009  – 9  C  12/08, BVerwGE 135, 367 Rz.  15  ff. sowie v. 7.4.2011  – 9 B 61/10, juris. 67 St. Rspr.; BVerfGE 114, 316 (334) und jüngst v. 13.4.2017  – 2  BvL 6/13, JZ 2017, 941 Rz. 111 ff. (115 ff.); BVerwG v. 13.5.2009 – 9 C 8/08, Buchholz 401.61 Zweitwohnungsteuer Nr. 27, v. 11.7.2012 – 9 CN 1/11, BVerwGE 143, 301 Rz. 13 und v. 15.10.2014 – 9 C 5/13, NVwZ 2015, 376 Rz. 12. 68 BVerwG v. 29.6.2017 – 9 C 7/16, DVBl. 2017, 1566, juris Rz. 50 im Anschluss an BVerfGE 65, 325 (357). 69 BVerwG v. 27.6.2012 – 9 C 10/11 – Jagdsteuer, BVerwGE 143, 210 Rz. 14 ff. 70 BVerwG v. 27.6.2012 – 9 C 2/12, BVerwGE 143, 216. 71 BVerwG v. 27.6.2012 – 9 C 10/11, BVerwGE 143, 210.

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unverpachteter Eigenjagdbezirk, so kann sie unter solchen Umständen nicht zur Jagdsteuer herangezogen werden72. Aus Gründen, die den getätigten Aufwand betreffen, fehlt es am Konsum, wenn eine weitere Wohnung nach ihrer objektiven Zweckbestimmung nicht der persönlichen Lebensführung, sondern als reine Kapitalanlage dient; eine solche Wohnung ist keine steuerbare Zweitwohnung73. Die Zweitwohnungsteuer setzt ferner die Verfügungsmacht über die weitere Wohnung voraus. Daran fehlt es nicht nur, wenn die weitere Wohnung vermietet ist; die Verfügungsmacht fehlt auch, wenn die weitere Wohnung an Familienangehörige zu Wohnzwecken unentgeltlich überlassen ist, sofern ein mietähnlicher Kündigungsschutz oder sonst eine Zweckbestimmung der Leihe mit der Wirkung vereinbart ist, dass der Verleiher die Wohnung nur nach Maßgabe von § 604 Abs. 2 BGB zurückfordern kann74. Ist der Steuerpflichtige zugleich Unternehmer, so stellt sich immer wieder die Frage, ob der Aufwand oder Verbrauch der privaten Einkommensverwendung des Unternehmers oder der Einkommenserzielung zuzurechnen ist. Im letzteren Falle scheidet die Besteuerung aus. Deshalb nimmt das Bundesverwaltungsgericht beruflich veranlasste Hotelübernachtungen von der Übernachtungsteuer75 und Diensthunde von der Hundesteuer76 aus77. Allerdings steht der Einordnung als Verbrauchsteuer nicht entgegen, wenn das verbrauchte Gut sowohl privat als auch produktiv „verbraucht“ (oder „gebraucht“) werden kann; erst der alleinige Einsatz als Produktionsmittel kann mit einer Verbrauchsteuer nicht belegt werden78. c) Indirekte Erhebung Aufwandsteuern werden oft indirekt, also nicht bei demjenigen, der den besonderen Aufwand betreibt, sondern bei dem Unternehmen erhoben, das die besondere Leistung anbietet. Auch unter diesem Aspekt müssen sie von Unternehmensteuern abgegrenzt werden, die nicht die Einkommensverwendung des Unternehmenskunden, sondern die Einkommenserzielung des Unternehmens selbst zum Ausgangspunkt nehmen. Werden Vergnügungsteuern nach dem Spiel- oder Wetteinsatz bemessen, so ist klar, dass der besondere Aufwand des Spielers besteuert wird. Schwieriger lag es bei einer Wettbürosteuer, die nach der Büroflächen bemessen wurde; dass auch sie nicht auf den Gewinn des Wettbürobetreibers, sondern auf den Aufwand des Wet72 BVerwG v. 16.11.2017 – 9 C 14/16. 73 BVerwG v. 15.10.2014 – 9 C 5/13, NVwZ 2015, 376 Rz. 12 m.w.N., dort auch zum Problem der Mischnutzung sowie zur Beweislast. 74 BVerwG v. 11.10.2016 – 9 C 28/15, juris; v. 7.3.2017 – 9 B 64/16, juris. 75 BVerwG v. 11.7.2012 – 9 CN 1/11, BVerwGE 143, 301 = JZ 2012, 45 m. Anm. Waldhoff; v. 13.10.2016 – 9 BN 1/16, juris. Dem ist der BFH jetzt gefolgt: BFHE 250, 427 (Bremen) und 250, 449 (Hamburg). 76 Vgl. BVerwG v. 9.1.2017 – 9 B 69/16, juris. 77 Anders das BVerfG zur Ökosteuer: BVerfGE 110, 274. 78 Vgl. BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, JZ 2017, 941 Rz. 138 ff. zur Kernbrennstoffsteuer mit insofern krit. Anm. Wernsmann.

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tenden zielte, ergab sich erst aus dem Gesamtzusammenhang der Steuersatzung und dem laut Ratsvorlage mit ihr verfolgten Ziel79. Derart indirekt erhobene Vergnügungsteuern müssen auf die Spieler überwälzt werden können, selbst wenn die Überwälzung nicht in jedem Einzelfall gelingen mag; das gebietet der Grundsatz der Belastungsgleichheit. Eine kalkulatorische Über­ wälzung genügt in dem Sinne, dass der steuerpflichtige Unternehmer (etwa Automatenaufsteller) den von ihm gezahlten Betrag in die Kalkulation seiner Selbstkosten einsetzen und hiernach die zur Aufrechterhaltung der Wirtschaftlichkeit seines Unternehmens geeigneten Maßnahmen – Preiserhöhung, Umsatzsteigerung oder Senkung der sonstigen Kosten – treffen kann80. Indirekt, nämlich beim Beherbergungsbetrieb, wird auch die Übernachtungssteuer (Hotel- oder Bettensteuer) erhoben. Die Antragsbefugnis, ein Normenkontrollverfahren gegen die Steuersatzung beim Oberverwaltungsgericht einzuleiten (§ 47 VwGO), steht dann nur dem Beherbergungsbetrieb, nicht aber dem Beherbergungsgast zu. Auch wenn die Steuer in der Erwartung erhoben wird, das Unternehmen werde sie auf seine Gäste abwälzen, so werden für den Gast dadurch doch weder unmittelbar noch mittelbar subjektive Rechte oder Rechtswirkungen begründet81. d) Örtliche Radizierung Die kommunale Verbrauch- und Aufwandsteuer setzt einen örtlich bedingten Wirkungskreis voraus. Die Bestimmung dieses besonderen örtlichen Anknüpfungsmomentes hängt von der Eigenart der jeweiligen Steuer ab, nämlich inwieweit sie nach der normativen Gestaltung des Steuertatbestandes auf die Belegenheit einer Sache oder einen Vorgang im Gemeindegebiet abstellt und wegen der Begrenzung ihrer unmittelbaren Wirkungen auf das Gemeindegebiet nicht zu einem die Wirtschaftseinheit berührenden Steuergefälle führen kann82. Mittelbare Auswirkungen einer Steuer außerhalb des Gemeindegebiets berühren ihre örtliche Radizierung nicht83. Die Wettbürosteuer wurde als örtliche Steuer angesehen, weil sie an die Belegenheit des Wettbüros im Gemeindegebiet anknüpft. Dass der Wetteinsatz für einen außerhalb des Gemeindegebiets ansässigen Wettveranstalter entgegengenommen wird und der Wettvertrag zwischen Wettveranstalter und Wettkunde nach zivilrechtlichen Maßstäben möglicherweise außerhalb des Gemeindegebiets zustande kommt, war für den örtlichen Bezug unerheblich. Insbesondere bleibt die Steuer für das Wettan-

79 BVerwG v. 29.6.2017 – 9 C 7/16, DVBl. 2017, 1566, juris Rz. 15 f. 80 BVerwG v. 10.12.2009 – 9 C 12/08, BVerwGE 135, 367 Rz. 28. 81 BVerwG v. 30.8.2013 – 9 BN 2/13, NVwZ-RR 2013, 1014; die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen: BVerfG v. 9.2.2015 – 1 BvR 2852/13. 82 BVerfGE 16, 306 (324 ff., 327); 65, 325 (349). 83 BVerwG v. 25.4.2013  – 9 B 41/12, Buchholz 401.65 Nr.  13 Rz.  7 zur Hundesteuer, v. 18.8.2015 – 9 BN 2/15, KommJur 2015, 415 Rz. 10 zur Pferdesteuer und v. 13.10.2016 – 9 BN 1/16, juris Rz. 12 zur Übernachtungsteuer.

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gebot des Wettveranstalters ohne Auswirkung, zwingt diesen namentlich nicht von Gemeinde zu Gemeinde zur Veränderung der jeweiligen Wettquoten84. e) Keine Gleichartigkeit mit bundesgesetzlicher Steuer Nach Art. 105 Abs. 2a GG haben die Länder (und in den Ländern die Gemeinden) die Befugnis zur Gesetzgebung über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern nur, solange und soweit sie nicht mit bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind. Damit soll eine Doppelbelastung derselben Steuerquelle vermieden werden. Für Aufwandsteuern ist geklärt, dass die Zweitwohnungsteuer weder der Grundsteuer noch der Vermögensteuer gleichartig ist, weil jeweils auf unterschiedliche Quellen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zugegriffen wird85. Mit Blick auf Verbrauchsteuern besteht die Schwierigkeit, dass mit der Umsatzsteuer eine bundesgesetzlich geregelte Verbrauchsteuer besteht, die praktisch jeden Verbrauch erfasst. Legte man das Gleichartigkeitsverbot wie sonst im Kompetenzrecht aus, dann bestünde kaum noch Spielraum für landesgesetzlich geregelte (oder kommunale) Verbrauchsteuern. Das wollte der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht; die bei Einfügung des Art. 105 Abs. 2a GG im Jahre 1969 vorhandenen örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern sollten nicht in Frage gestellt werden86. Damit sind solche vorhandenen Steuern kompetenzrechtlich unbedenklich. Das gilt auch für deren ändernde Fortgestaltung87. Umgekehrt will Art.  105 Abs.  2a GG nicht sämtliche neuartigen örtlichen Steuern der Bundesgesetzgebung vorbehalten. Deshalb bedurfte es eines besonderen Begriffs der Gleichartigkeit, der von dem Begriff abweicht, den das Bundesverfassungsgericht zur Abgrenzung der Zuständigkeiten im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz sonst verwendet. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage, wie die Gleichartigkeit im Hinblick auf neuartige Steuern zu definieren ist, bislang offen gelassen. Das Bundesverwaltungsgericht vertritt eine teleologische Auslegung nach der besonderen Funktion des Art.  105 Abs.  2a GG, einerseits den Gemeinden das Steuerfindungsrecht zu erhalten88, gleichzeitig aber eine Steuer, die auf örtlicher Ebene Bundessteuern gleichkommt, auszuschließen. Hieraus hat das Gericht eine zwei84 BVerwG v. 29.6.2017 – 9 C 7/16, DVBl. 2017, 1566, juris Rz. 18. 85 BVerwG v. 15.5.2014 – 9 B 57/13, NVwZ-RR 2014, 657 Rz. 6. 86 BVerfGE 40, 56 (64); 69, 174 (183); 98, 106 (124 f.). 87 Für die Frage, ob eine derartige Änderung einer vorhandenen oder aber die Einführung einer neuen Steuer vorliegt, kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch auf das einschlägige Landesrecht abgestellt werden, wenn dieses nämlich die kommunale Steuersatzung dem Erfordernis einer aufsichtlichen Genehmigung nur dann unterwirft, wenn und weil es sich um eine erstmalige oder erneute Einführung einer bisher nicht erhobenen Steuer handelt: BVerwG v. 29.6.2017 – 9 C 7/16, DVBl. 2017, 1566, juris Rz. 22 f. 88 Das meint nur das Recht der Gemeinden, neue (örtliche) Verbrauch- und Aufwandsteuern zu „(er)finden“; demgegenüber fehlt ein Recht, Steuern zu „(er)finden“, die weder dem Typus der Verbrauch- und Aufwandsteuer noch einem der anderen in Art. 105, 106 GG genannten Typen von Steuern unterfallen; vgl. hierzu Fn. 65.

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stufige Prüfung entwickelt. Zunächst ist die örtliche Aufwandsteuer nach herkömmlichem Gleichartigkeitsverständnis und damit nach Steuergegenstand, Steuermaßstab, Art der Erhebungstechnik sowie wirtschaftlichen Auswirkungen mit der in Betracht kommenden Bundessteuer zu vergleichen. Hierbei sind die einzelnen Kriterien auch zu gewichten89. Fehlt es schon an der Gleichartigkeit nach herkömmlichem Verständnis, so bestehen gegen die Gesetzgebungskompetenz des Landes (oder der Gemeinde) keine Einwände90. Andernfalls kommt es in einem zweiten Prüfungsschritt auf eine umfassende Bewertung aller Merkmale der jeweiligen Steuer an91. Bei der Wettbürosteuer stand die Gleichartigkeit nicht nur mit der Umsatzsteuer in Rede, sondern insbesondere mit der Sportwettensteuer, die der Bundesgesetzgeber durch Gesetz vom 29.6.201292 eingeführt hatte. Obwohl beide Steuern auf die Leistungsfähigkeit des Wettenden zugreifen und sich wirtschaftlich ähnlich auswirken, hat das Bundesverwaltungsgericht die Gleichartigkeit verneint, weil sich beide Steuern im Steuermaßstab unterschieden und die Gemeinde vor allem einen zusätzlichen örtlichen Lenkungszweck verfolgte, der sich nicht gegen das Wetten als solches, sondern gerade gegen in besonderer Weise ausgestattete Wettbüros richtete, die zum Wetten zusätzlich anreizen und so die zu bekämpfende Suchtgefahr noch erhöhen93. Die Abgrenzung der beiderseitigen Gesetzgebungskompetenzen wird überwölbt durch den Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, den das Bundesverfassungsgericht aus dem Bundesstaatsprinzip herleitet und der den Ländern und Kommunen bei der Ausübung eigener Normsetzungsbefugnisse aufgibt, auf geltendes Bundesrecht in dem Sinne Rücksicht zu nehmen, dass dessen konzeptionelle Entscheidungen nicht verfälscht oder konterkariert werden. Das verbindet sich mit dem rechtsstaatlichen Motiv, dass den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen dürfen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen94. Der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung lenkt damit den Blick auf die Ziele, die der Bundesgesetzgeber mit der Vergleichssteuer verfolgt, und verbietet den Ländern und Kommunen, die Zielerreichung durch eine eigene Besteuerung zu behindern oder zu verhindern. Die kommunale Wettbürosteuer hielt auch dieser Prüfung stand; sie setzte sich nicht in Widerspruch zum Regelungskonzept der bundesgesetzlichen Sportwettensteuer95. 89 BVerwG v. 11.7.2012 – 9 CN 1/11, BVerwGE 143, 301 Rz. 25; v. 11.12.2015 – 9 BN 7/15, Buchholz 11 Art. 105 GG Nr. 55, juris Rz. 3; ebenso BFHE 250, 427 Rz. 25. 90 BVerwG v. 11.7.2012 – 9 CN 1/11, BVerwGE 143, 301 Rz. 22; v. 13.10.2016 – 9 BN 1/16, juris Rz. 3. 91 BVerwG v. 11.7.2012 – 9 CN 1/11, BVerwGE 143, 301 Rz. 25. 92 BGBl. 2012 I, 1424. 93 BVerwG v. 29.6.2017 – 9 C 7/16, DVBl. 2017, 1566, juris Rz. 28. 94 BVerfGE 98, 106 (119); 98, 265 (301); BVerwG v. 11.7.2012 – 9 CN 1/11, BVerwGE 143, 301 Rz. 29 und v. 29.6.2017 – 9 C 7/16, DVBl. 2017, 1566, juris Rz. 29. 95 Die Sportwettensteuer sollte die Regelungsziele des 2012 neu geschlossenen Glücksspielstaatsvertrages der Länder flankieren, einerseits die Spielsucht zu bekämpfen, andererseits aber – insbesondere durch einen abgesenkten, insgesamt moderaten Steuersatz (von 5 %) – das Glücksspielangebot in einen legalen Markt zu überführen. Dass die kommunale Wettbürosteuer dem erstgenannten Ziel nicht zuwiderlief, lag auf der Hand. Aber auch das andere Ziel wurde nicht konterkariert. Zwar wurde das Wetten zusätzlich belastet. Betroffen

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f) Keine Umsatzsteuer im unionsrechtlichen Sinne Schließlich dürfen örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern auch keine Umsatzsteuer im unionsrechtlichen Sinne sein; denn sie dürfen das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems nicht dadurch beeinträchtigen, dass sie den Waren- und Dienstleistungsverkehr in einer der Mehrwertsteuer vergleichbaren Weise belasten96. Das Unionsrecht hindert die Mitgliedstaaten allerdings nicht daran, Verbrauchsteuern oder Abgaben auf Spiele und Wetten einzuführen, sofern diese nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben. Hierzu zählt insb. das Recht des Steuerpflichtigen zum Vorsteuerabzug, woran es bei kommunalen Verbrauchsteuern regelmäßig fehlt97.

war aber nur das Wetten in Wettbüros, also in Wettvermittlungsstellen, die ausschließlich Sportwetten vermitteln. Deren Zahl war nach der Konzeption des Glücksspielstaatsvertrages 2012 landesrechtlich durchweg eng begrenzt und an strenge Anforderungen gebunden. Die zusätzliche Wettbürosteuer ließ nicht befürchten, dass die Wettbüros derart geschwächt werden, dass sich hierdurch die Gefahr eines Ausweichens von Wettkunden in die Illegalität ergäbe. Vgl. BVerwG v. 29.6.2017 – 9 C 7/16, DVBl. 2017, 1566, juris Rz. 38. 96 EuGH v. 31.3.1992 – C-200/90, Slg. 1992 I-2217 zu Art. 33 der Richtlinie 77/388/EWG. 97 BVerwG v. 10.12.2009 – 9 C 12/08, BVerwGE 135, 367 Rz. 33 ff. m.w.N.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … B. IV.

Besteuerung der Arbeitnehmer aus der Sicht des Bundesarbeitsgerichts Von Ingrid Schmidt

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Schnittmengen von Arbeits- und Steuerrecht 1. Brutto- und Nettolohnabreden a) Besteuerung von Arbeitseinkommen b) Schwarzgeldabreden c) Lohnsteuerpauschalierung d) Nettolohnvereinbarung 2. Gerichtliche Geltendmachung der Vergütung a) Klageantrag b) Bruttolohnklage c) Nettolohnklage d) Zinsen 3. Streitigkeiten über Einbehalt und Abführung der Lohnsteuer a) Lohnsteuerabzug

b) Nachentrichtung c) Einbehaltungspflicht des Arbeitgebers d) Doppelzahlungen 4. Rechtsweg für eine Klage auf Berichtigung der Lohnsteuerbescheinigung 5. Sachbezüge – Dienstwagen mit Gestattung der privaten Nutzung a) Entzug des Dienstwagens b) Private Nutzung 6. Schadensersatz bei steuerlichen ­Nachteilen a) Steuerprogression b) Verzögerte Rentenanpassung c) Verlust von Steuervorteilen d) Doppelbesteuerungsabkommen e) Erkundungspflicht des Arbeitnehmers III. Resümee

I. Einleitung Bekanntlich ist Deutschland ein Arbeitnehmer- und Lohnsteuerstaat1. So deckte allein das Bruttoaufkommen der Lohnsteuer im Haushaltsjahr 2016 mit 227,4  Mrd. Euro den Großteil des Gesamtaufkommens der gemeinschaftlichen Steuern2. Steuer auf Arbeitseinkommen schuldet der Arbeitnehmer aufgrund der Verwertung seiner Arbeitskraft, der Arbeitgeber führt sie seit der Einführung des Lohnsteuerabzugsverfahrens im Jahr 19203 an das Finanzamt ab, das einerseits den Arbeitgeber im Wege 1 Lang, RdA 1999, 64. 2 www.bundesfinanzministerium.de 3-5 Steuereinnahmen-Bund-Laender-2016. 3 Reichseinkommenssteuergesetz v. 29.3.1920, RGBl. 1920, 359.

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von Lohnsteuerprüfungen kontrolliert und zu viel abgeführte Steuer auf Antrag des Arbeitnehmers an diesen zurückzahlt. Augenscheinlich gehen das zivilrechtliche Arbeitsrecht und das öffentlich-rechtlich ausgestaltete Steuerrecht Hand in Hand und sind Teil einer Gesamtrechtsordnung. Steuerrecht ist Folgerecht des Arbeitsrechts4, wird aber auch als Störfaktor des Arbeitsrechts begriffen. Und in der Tat ist manches Bedürfnis nach steuerlicher Optimierung treibende Kraft von Unternehmensver­ äußerungen und -erwerb sowie von Betriebsstilllegungen oder der Verlagerung von Betrieben jeweils mit erheblichen Auswirkungen auf Arbeitsort und die Arbeitsbedingungen betroffener Arbeitnehmer. Andererseits verspüren auch Arbeitnehmer das Bedürfnis, einen als nicht leistungsfördernd empfundenen Zugriff des Staates auf Arbeitseinkommen oder Entschädigungen wegen des Verlustes des Arbeitsplatzes durch Nutzen vertraglicher Gestaltungsmöglichkeiten zu minimieren oder mittels Wahl entsprechender Steuerklassen zu ihren Gunsten zu beeinflussen5. Die gerichtliche Kon­ trolle arbeitsrechtlicher Entgeltansprüche oder arbeitsvertraglicher Entgeltabreden obliegen der Arbeitsgerichtsbarkeit. Sie wird nicht selten mit Fragen des Lohnsteuerverfahrens konfrontiert und steht damit vor der nicht immer einfachen Aufgabe, den Anliegen des Arbeitsrechts wie denen des Steuerrechts gerecht zu werden.

II. Schnittmengen von Arbeits- und Steuerrecht 1. Brutto- und Nettolohnabreden a) Besteuerung von Arbeitseinkommen Die Arbeitsvergütung unterliegt als Einkunft aus nichtselbständiger Arbeit nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 EStG der Einkommensteuer, die eine Jahressteuer ist (§ 2 Abs. 7 Satz 1 EStG). Sie wird als Vorauszahlung vom Arbeitgeber auf Rechnung des Arbeitnehmers durch Abzug vom Arbeitslohn erhoben, was die Begrifflichkeit dieser Steuerart erklärt (§ 38 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 EStG)6. Schuldner der Lohnsteuer ist nach § 38 Abs. 2 EStG der Arbeitnehmer. Daher schuldet der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern grundsätzlich nur eine Bruttovergütung. Auch im individualrechtlichen Innenverhältnis der Arbeitsvertragsparteien ist der Arbeitnehmer regelmäßig Schuldner der Steuerforderung. Einer besonderen Abrede bedarf es hierfür nicht; die Schuldnerstellung folgt aus dem Gesetz7. Vom Regelfall der Bruttovergütung abweichend können die Arbeitsvertragsparteien auch eine sog. Nettolohnabrede treffen. Mit einer solchen Vereinbarung verpflichtet sich der Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitnehmer, sämtliche (oder auch nur bestimmte) gesetzliche Abgaben zu tragen. Wegen der Außergewöhnlichkeit einer Net4 Streck, FS Küttner, 2006, S. 231. 5 Lang, RdA 1999, 64. 6 Krüger in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 38 EStG Rz. 1. 7 BAG v. 21.7.2009 – 1 AZR 167/08, NZA 2009, 1213 (1214) Rz. 14. Ebenso muss der Arbeitnehmer im Innenverhältnis zum Arbeitgeber den ihn treffenden Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags tragen, § 28g SGB IV.

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tolohnvereinbarung und ihrer Folgen verlangen sowohl die Arbeits- als auch die ­Finanzgerichte, dass ihr Abschluss klar und einwandfrei feststellbar ist8. Eine Vereinbarung, nach der der Arbeitgeber eine Steuerschuld wirtschaftlich zu übernehmen hat, muss also den entsprechenden Parteiwillen eindeutig erkennen lassen; der Arbeitnehmer, der sich hierauf beruft, trägt dafür die Darlegungs- und Beweislast9. b) Schwarzgeldabreden Auch sog. Schwarzgeldabreden werden gelegentlich vereinbart. Sie sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts keine Nettolohnabreden10. Mit einer Schwarzgeldabrede vereinbaren die Arbeitsvertragsparteien –  unter Verstoß gegen Strafgesetze – die Arbeitsvergütung ganz oder zum Teil ohne Abführung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen zu zahlen. Trotz dieser Gesetzesverstöße ist die Vergütungsvereinbarung (als solche) bei einer Schwarzgeldabrede wirksam und nicht nach §  134 BGB nichtig11. Die straf-, steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Pflichten, die Parteien mit einer solchen Vereinbarung verletzen, sollen nicht die Beschäftigung des Arbeitnehmers verhindern, sondern allein die Erfüllung der sich aus dem Arbeitsverhältnis ergebenden Verpflichtungen sicherstellen. Die Nichtigkeitsfolge des § 134 BGB erstreckt sich nur dann auf das gesamte Vertragsverhältnis, wenn die Absicht, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zu hinterziehen, Hauptzweck der Vereinbarung ist. Üblicherweise steht aber nicht dies, sondern die Erbringung der versprochenen Dienste gegen Zahlung einer Vergütung, die teilweise als „Schwarzgeld“ fließen soll, im Vordergrund. Aus demselben Grund ist eine Schwarzgeldabrede idR auch nicht nach § 138 Abs. 1 BGB wegen Verstoßes gegen die guten Sitten insgesamt nichtig12. Liegt eine Schwarzgeldabrede vor, wird der darlegungs- und beweisbelastete Arbeitnehmer somit kaum vortragen können, es sei eine Nettolohnvereinbarung getroffen worden. Denn mit der Schwarzgeldabrede einigen sich die Arbeitsvertragsparteien gerade auf die Hinterziehung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen und nicht – wie bei einer Nettolohnabrede – auf ihre wirtschaftliche Übernahme durch den Arbeitgeber13. Ein auf letzteres gerichteter Parteiwille wird daher idR nicht erkenn- und feststellbar sein. Eine andere Bewertung von Schwarzgeldabreden folgt auch nicht aus der sozialversicherungsrechtlichen Vorschrift des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV14. Danach gilt bei einem illegal beschäftigten Arbeitnehmer im Rahmen der Berechnung der nachzufor 8 BFH v. 28.2.1992 – VI R 146/87, BFHE 167, 507 (512) zu 1 a der Gründe m.w.N. 9 BAG v. 16.6.2004 – 5 AZR 521/03, BAGE 111, 131 (133) zu II 1 und 2 der Gründe. 10 BAG v. 22.6.2016 – 10 AZR 808/14, NZA 2016, 1218 (1218) Rz. 16 m.w.N. 11 BAG v. 26.2.2003 – 5 AZR 690/01, BAGE 105, 187 (190) zu II 4 der Gründe. 12 BAG v. 26.2.2003 – 5 AZR 690/01, BAGE 105, 187 (193) zu II 5 der Gründe. 13 BAG v. 17.3.2010 – 5 AZR 301/09, BAGE 133, 332 (334 f.) Rz. 12 f. 14 BAG v. 17.3.2010 – 5 AZR 301/09, BAGE 133, 332 (335 f.) Rz. 15 f.; v. 21.9.2011 – 5 AZR 629/10, BAGE 139, 181 (186) Rz.  23  f; v. 22.6.2016 –  10 AZR 808/14, NZA 2016, 1218 (1218) Rz. 17.

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dernden Gesamtsozialversicherungsbeiträge ein Nettoarbeitsentgelt als vereinbart. Diese Fiktion betrifft aber nur das Sozialversicherungsrecht. Sie dient ausschließlich der Berechnung der nachzufordernden Gesamtsozialversicherungsbeiträge und führt arbeitsrechtlich nicht zu einer Nettolohnabrede. § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV findet auch im Einkommenssteuerrecht keine Anwendung15. Hier definiert § 19 EStG, welche der Einkommensarten des § 2 Abs. 1 EStG zu den steuerpflichtigen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zählen. Wegen des im Steuerrecht geltenden Zuflussprinzips  – Einnahmen sind dem Versteuerungszeitraum zuzurechnen, in dem der Steuerpflichtige die wirtschaftliche Verfügungsmacht über sie erlangt hat16  – gibt es hier keine § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV entsprechende Norm. Dementsprechend bemisst sich das steuerpflichtige Arbeitseinkommen bei der Vereinbarung sog. „Schwarzlöhne“ zunächst nach dem tatsächlich zugeflossenen Barlohn. Bei Nachentrichtung entzogener Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung führt erst die Nachzahlung zum Zufluss eines weiteren geldwerten Vorteils17. c) Lohnsteuerpauschalierung Die oben dargestellten Grundsätze, nach denen Steuerschuldner ohne besondere Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien der Arbeitnehmer ist, gelten auch für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse (sog. Minijobs), bei denen der Arbeitgeber den Weg der Pauschalbesteuerung gewählt hat18. Bei solchen Beschäftigungsverhältnissen kann er nach § 40a Abs. 2 EStG steuerrechtlich zwischen einer Pauschalbesteuerung und einer Besteuerung nach individuellen Lohnsteuermerkmalen (Steuerklassen) wählen. Liegt eine Bruttolohnvereinbarung vor, kann der Arbeitgeber, wenn er sich für die Pauschalbesteuerung entscheidet, den Arbeitnehmer intern mit der Pauschalsteuer belasten. Dies gilt, obwohl der Arbeitgeber nach § 40 Abs. 3 EStG iVm. § 40a Abs. 5 EStG die pauschale Lohnsteuer zu übernehmen hat und Schuldner der pauschalen Lohnsteuer ist. Diese steuerrechtlichen Vorschriften verpflichten den Arbeitgeber nicht, die pauschale Lohnsteuer bei geringfügiger Beschäftigung auch wirtschaftlich zu tragen19. Insoweit ist zwischen dem öffentlich-rechtlichen Steuerschuldverhältnis und dem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis zu differenzieren. Die durch § 40 Abs. 3 EStG begründete Verpflichtung des Arbeitgebers zur Übernahme der Steuerschuld schließt nur die Inanspruchnahme des Arbeitnehmers durch die zuständige Einzugsstelle des 15 BAG v. 22.6.2016 – 10 AZR 808/14, NZA 2016, 1218 (1218) Rz. 20. 16 Vgl. Krüger in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 11 EStG Rz. 15. 17 Vgl. hierzu BFH v. 13.9.2007 – VI R 54/03, BFHE 219, 49 (53) zu II 1 c der Gründe. 18 BAG v. 1.2.2006 – 5 AZR 628/04, NZA 2006, 682 (683), Rz. 17; vgl. auch unten II. 6. d) zum Schadensersatzanspruch wegen der gewählten Besteuerungsart. 19 Vgl. auch BFH v. 30.11.1989 – I R 14/87, BFHE 159, 82 (85 f.) zu A 3 der Gründe – die pauschale Lohnsteuer ist nur insoweit eine „Unternehmenssteuer“, als sie aus Praktikabilitätsgründen in verfahrensrechtlich-technischer Hinsicht vom Arbeitgeber erhoben wird und der Arbeitgeber formell gesehen alleiniger Steuerschuldner ist. Materiell-rechtlich gesehen handelt es sich um eine Steuer, die dadurch entsteht, dass der Arbeitnehmer eine nichtselbständige Arbeit mit der Absicht ausübt, Einkünfte zu erzielen (1. Leitsatz).

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Steuergläubigers aus. Es handelt sich um eine spezifisch einkommensteuerrechtliche Regelung, die keine arbeitsrechtlichen Ziele verfolgt. Arbeitsrechtlich kann die pauschale Lohnsteuer daher dennoch auf den Arbeitnehmer abgewälzt werden. Bei einer Bruttolohnabrede hat daher der Arbeitnehmer die pauschale Lohnsteuer im Innenverhältnis – wie sonst auch – zu tragen, wenn die Übernahme der Steuer durch den Arbeitgeber nicht ausdrücklich vereinbart ist. Dies gilt auch bei der Verwendung von arbeitgeberseitig vorgegebenen Formulararbeitsverträgen. Eine Angemessenheitskontrolle der Pauschalsteuerabwälzung findet nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB nicht statt, weil die Vereinbarung eine Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers betrifft, die nicht durch Rechtsvorschriften bestimmt wird. Auch das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB verlangt nicht, Rechte, die aus dem Gesetz oder aus der Rechtsnatur einer Vereinbarung wie der hier getroffenen Bruttolohnabrede folgen, ausdrücklich zu regeln oder den Vertragspartner darüber zu belehren20. d) Nettolohnvereinbarung Haben die Parteien eine Nettolohnvereinbarung getroffen, kommen für die Ermittlung der Lohnabzüge zwei Wege in Betracht. Einerseits können die Parteien rechnerisch von einem bestimmten Bruttoarbeitslohn ausgehen und in Kenntnis der maßgebenden Lohnabzüge zu einem auszuzahlenden Arbeitslohn gelangen, den sie dann als Nettolohn vereinbaren (sog. abgeleitete Nettolohnvereinbarung). Im Regelfall machen sich die Vertragsparteien aber keine Gedanken darüber, welcher Bruttolohn dem Nettolohn entsprechen soll. Der Nettolohn wird als konstanter Betrag vereinbart und geschuldet, die Höhe der Abzugsbeträge hängt von den (jeweiligen) Besteuerungsmerkmalen des Arbeitnehmers ab (sog. originäre Nettolohnvereinbarung)21. Von der originären Nettolohnvereinbarung als Regelfall geht auch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus22. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Arbeitgeber dennoch –  ausnahmsweise  – Einwände gegen Veränderungen der Besteuerungsmerkmale vorbringen kann, die seine finanzielle Belastung erhöhen. Darüber hatte das Bundesarbeitsgericht beim Zuschuss zum Mutterschaftsgeld23, bei Aufstockungsbeträgen im Rahmen von Altersteilzeitvereinbarungen24 und bei tarifvertraglichen Überbrückungsbeihilfen zu befinden25. Den genannten Leistungen ist gemeinsam, dass sie auf der Grundlage eines früheren bzw. fiktiven Nettoentgelts ­ermittelt und erbracht werden, um Einkommenseinbußen wegen gesunkener oder

20 BAG v. 1.2.2006 – 5 AZR 628/04, NZA 2006, 682 (684), Rz. 25. 21 Zum Ganzen BFH v. 6.12.1991 – VI R 122/89, BFHE 166, 540 (543). 22 BAG v. 22.6.2016 – 10 AZR 806/14, NZA 2016, 1218 (1218) Rz. 16. 23 BAG v. 22.10.1986 – 5 AZR 733/85, BAGE 53, 217 (221) zu I 2 der Gründe; v. 18.9.1991 – 5 AZR 581/90, NZA 1992, 411 (411 f.) zu 2 der Gründe mwN. 24 BAG v. 9.9.2003 – 9 AZR 554/02, BAGE 107, 248 (253) zu II 2 der Gründe. 25 BAG v. 9.9.2003 – 9 AZR 605/02, BAG 107, 264 (268) zu I 3 b der Gründe.

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entfallender Vergütung auszugleichen oder abzumildern (sog. nettoentgeltbezogene Leistungen). aa) Zuschuss zum Mutterschaftsgeld Eine solche Leistung ist der Zuschuss zum Mutterschaftsgeld. Nach § 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 MuSchG  n.F.26 erhalten Frauen während eines bestehenden Beschäftigungsverhältnisses für die Zeit der Schutzfristen vor und nach der Entbindung vom Arbeitgeber einen Zuschuss zum Mutterschaftsgeld in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen 13 Euro und dem um die gesetzlichen Abzüge verminderten durchschnittlichen kalendertäglichen Arbeitsentgelt. Dieses ist aus den letzten drei abgerechneten Kalendermonaten vor Beginn der Schutzfrist vor der Entbindung (§ 3 Abs. 1 Satz 1 MuSchG n.F.) zu berechnen. Hierzu hat das Bundesarbeitsgericht in mehreren Entscheidungen Grundsätze entwickelt, nach denen eine nach § 20 MuSchG n.F. (§ 14 MuSchG  a.F.) anspruchsberechtigte Frau bei einer Veränderung der Besteuerungsmerkmale, insbesondere der Steuerklassenkombination bei Ehepaaren, rechtsmissbräuchlich handelt27. In diesem Fall kann sie den durch dieses Vorgehen erhöhten Zuschuss zum Mutterschaftsgeld nicht beanspruchen. Rechtsmissbräuchlich ist die Wahl der Steuerklasse nach diesen Entscheidungen regelmäßig dann, wenn sie ohne sachlichen Grund und nur erfolgt, um im Hinblick auf die Zuschusspflicht des Arbeitgebers einen höheren Nettoverdienst zu erzielen, als er sich bei sonst vernünftiger Wahl der Steuerklasse ergeben würde. Dies kann im Einzelfall angenommen worden, wenn die jeweils gewählte Steuerklasse bzw. Steuerklassenkombination eines Ehepaares offensichtlich nicht dem Verhältnis ihrer Arbeitslöhne entspricht. In der Regel wird sich ein Ehepaar nämlich für die Steuerklassenkombination entscheiden, bei der die Summe der laufenden Lohnsteuerabzüge am geringsten ist. bb) Aufstockungsleistung bei Altersteilzeit Diese Grundsätze wurden in drei Entscheidungen zu nettoentgeltbezogenen Zuschussleistungen aus dem Jahr 2003 angewandt und weiterentwickelt28. Gegenstand waren Aufstockungsleistungen im Rahmen von Altersteilzeitverträgen und eine nach tarifvertraglichen Regelungen für die Zeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu zahlende Überbrückungsbeihilfe, deren Höhe sich nach dem Nettoarbeitsentgelt des Arbeitnehmers im letzten Beschäftigungsmonat richtete. Bei solchen Leistungen muss der Arbeitgeber grundsätzlich die (zuletzt) vom Arbeitnehmer gewählte Lohnsteuerklasse zugrunde legen. Er ist aber nicht gehalten, jede steuerrechtlich wirksam getroffene Lohnsteuerklassenwahl auch arbeitsrechtlich zu 26 Bis 31.12.2017 war eine im Wesentlichen gleichlautende Regelung in § 14 Abs. 1 MuSchG enthalten. 27 BAG v. 18.9.1991 – 5 AZR 581/90, NZA 1992, 411 (412) zu 2 der Gründe m.w.N. 28 BAG v. 9.9.2003 –  9  AZR 554/02, BAGE 107, 248 (253) zu II 2 der Gründe; v.  9.9.2003 – 9 AZR 605/02, BAG 107, 264 (268) zu I 3 b der Gründe; v. 9.12.2003 – 9 AZR 328/02, AP § 1 TVG Nr. 29 zu II 3 der Gründe.

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berücksichtigen. Wenn die Rechtsausübung des Arbeitnehmers als solche zu missbilligen ist, weil sie zur Verfolgung eines rücksichtslosen Eigennutzes zum Nachteil des Arbeitgebers dient, kann der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer den Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegenhalten. Rechtsmissbrauch ist aber nicht bereits dann anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer die Lohnsteuerklasse wegen der bevorstehenden Beendigung des Arbeitsverhältnisses zielgerichtet zu Lasten des Arbeitgebers wechselt. Maßgeblich ist, ob die von dem Arbeitnehmer und seinem Ehepartner gewählte Lohnsteuerklassenkombination steuerrechtlich sinnvoll ist, insbesondere weil sie zu geringeren Abzügen führt. Der Umstand, dass ein Arbeitnehmer und sein Ehepartner eine steuerlich ungünstige Kombination über viele Jahre beibehalten haben und die Lohnsteuerklassen erst kurz vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses anpassen, begründet noch nicht den Vorwurf illoyalen Verhaltens29. Ein Steuerklassenwechsel ist aber außer Ansatz zu lassen, wenn er – bezogen auf das monatliche Einkommen der Ehegatten im Bemessungsmonat – finanziell nicht vorteilhaft oder sogar nachteilig ist30. 2. Gerichtliche Geltendmachung der Vergütung a) Klageantrag Auch für die gerichtliche Geltendmachung von nicht oder verspätet gezahltem Arbeitsentgelt spielt die Art der Entgeltabrede eine wichtige Rolle. Wurde eine Nettolohnabrede getroffen, kann der Arbeitnehmer keinen Bruttolohn einklagen, weil er damit etwas beansprucht, was ihm nicht zusteht: Eine Nettolohnvereinbarung beschränkt sich von vornherein auf das um die gesetzlichen Lohnabzüge verminderte Arbeitsentgelt31. b) Bruttolohnklage Der Zusatz „brutto“ in einem den Arbeitgeber zur Zahlung von Arbeitsentgelt verpflichtenden Urteilstenor verdeutlicht hingegen nur, was von Gesetzes wegen gilt: Dass nämlich der Arbeitnehmer nach § 38 Abs. 2 EStG Schuldner der durch Abzug 29 BAG v. 9.9.2003 – 9 AZR 605/02, BAG 107, 264 (268) zu I 3 b der Gründe für den Fall, dass der Arbeitnehmer, dessen Ehepartner seit Jahren arbeitslos war, im Zusammenhang mit der bevorstehenden Beendigung des Arbeitsverhältnisses von der bisherigen – ungünstigen – Steuerklassenkombination IV/IV in die steuerrechtlich sinnvolle Kombination III/V wechselte. 30 BAG v. 9.9.2003 – 9 AZR 554/02, BAGE 107, 248 (253) zu II 2 der Gründe für den Fall, dass der Arbeitnehmer mit Beginn der Altersteilzeit aus der Lohnsteuerklasse V in die Lohnsteuerklasse III wechselte, obwohl sein Arbeitsentgelt nun nur noch etwa die Hälfte des Arbeitsentgelts seines Ehepartners betrug. 31 BAG v. 8.4.1987 – 5 AZR 60/86, (n.v.) zu II 2 der Gründe; v. 17.2.2016 – 5 AZN 981/15, BAGE 165, 116 (117) Rz. 6; ebenso Koch in Erfurter Kommentar, 18. Auflage 2018, § 46 ArbGG Rz. 15; a.A. Preis in Erfurter Kommentar, 18. Auflage 2018, § 611a BGB Rz. 476: Bei vereinbarter Nettovergütung kann Bruttoklage oder wahlweise Nettolohnklage erhoben werden.

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vom Arbeitslohn erhobenen Einkommensteuer (Lohnsteuer) ist und im Innenverhältnis zum Arbeitgeber den ihn treffenden Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags tragen muss (§ 28g SGB IV)32. In ständiger Rechtsprechung geht das Bundesarbeitsgericht weiterhin davon aus, dass ein auf Zahlung von Bruttolohn lautendes Urteil vollstreckungsfähig ist33. Versucht der Gerichtsvollzieher, den vollen ausgeurteilten Betrag zu vollstrecken, kann der Arbeitgeber durch entsprechende Quittungen oder Überweisungsnachweise die Abführung von Lohnsteuer an das Finanzamt und des Arbeitnehmeranteils des Gesamtsozialversicherungsbeitrags an die Einzugsstelle nachweisen. Die Zwangsvollstreckung ist dann insoweit nach § 775 Nr. 4 bzw. Nr. 5 ZPO einzustellen34. Andernfalls zieht der Gerichtsvollzieher den gesamten Betrag ein, und der Arbeitnehmer haftet für die Abführung der Lohnabzüge. Flankierende Regelungen in der Gerichtsvollzieherordnung sichern die tatsächliche Abführung der Beiträge35. c) Nettolohnklage Erhebt der Arbeitnehmer (trotz vereinbartem Bruttolohn) eine Nettolohnklage, so muss er zur schlüssigen Begründung die für den Tag des Zuflusses des Arbeitsentgelts geltenden Besteuerungsmerkmale im Einzelnen darlegen36. Eine begehrte Nettolohnnachzahlung ist lohnsteuerrechtlich nicht laufender Arbeitslohn, sondern ein „sonstiger Bezug“ iSv. §  38a Abs.  1 Satz  3 EStG. Er wird in dem Kalenderjahr be­ zogen, in dem er dem Arbeitnehmer tatsächlich zufließt. Für die einzubehaltende Lohnsteuer sind die für den Tag des Zuflusses geltenden Besteuerungsmerkmale zugrunde zu legen37. Dies führt, gerade wenn der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Nachzahlung auch von einem weiteren (z.B. neuen) Arbeitgeber Arbeitslohn bezieht, zu komplizierten Berechnungen. Eine solche Nettolohnklage ist daher (mit Blick auf die wesentlich einfachere Bruttolohnklage) wenig empfehlenswert und in der Praxis der Arbeitsgerichte auch selten. Eine Ausnahme gibt es im Bereich des Arbeitnehmerentsendegesetzes: § 14 AEntG38 enthält für die dort geregelte Generalunternehmerhaftung eine Sonderregelung, die eine Nettolohnklage in Höhe der sich im Jahr des Tätigwerdens ergebenden Vergütung zulässt39. §  13 MiLoG übernimmt diese Regelung entsprechend. Ansonsten kommt eine Nettolohnklage idR. sinnvollerweise nur in Betracht, wenn eine Nettolohnvereinbarung getroffen wurde. In dieser Fallkonstellation können die Arbeitsge32 BAG v. 17.2.2016 –  5 AZN 981/15, BAGE 154, 116 (117) Rz.  5; v. 21.12.2016 –  5 AZR 273/16, BAGE 157, 341 (344) Rz. 17. 33 So bereits BAG v. 14.1.1964 – 3 AZR 55/63, BAGE 15, 220 (227 f.); vgl. auch BAG GS v. 7.3.2001 – GS 1/00, BAGE 97, 150 (163) zu III 4 b dd der Gründe. 34 BAG v. 21.12.2016 – 5 AZR 273/16, BAGE 157, 341 (345) Rz. 20 mwN. 35 Vgl. Linck in Schaub, ArbR HdB, 17. Aufl. 2017, § 71 Rz. 11. 36 BAG v. 26.2.2003 – 5 AZR 223/02, BAGE 105, 181. 37 BAG v. 26.2.2003 – 5 AZR 223/02, BAGE 105, 181 (185 f.) zu III der Gründe. 38 Vor der Gesetzesnovelle v. 20.4.2009 war die Regelung in § 1a AEntG enthalten. 39 Vgl. dazu BAG v. 12.1.2005 –  5 AZR 617/01, BAGE 113, 149 (156) zu I 3 der Gründe; v. 17.8.2011 – 5 AZR 490/10, NZA 2012, 563 (564) Rz. 12.

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richte auch den Zusatz „netto“ in ihr Urteil aufnehmen, da der Arbeitgeber aus arbeitsrechtlichen Gründen gehalten ist, alle etwaigen Abgaben zu tragen40. d) Zinsen Für den Regelfall der Bruttolohnklage hat der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts im Jahr 2001 entschieden, dass der Arbeitnehmer Verzugszinsen für nicht rechtzeitig gezahlte Vergütung von dem eingeklagten Bruttobetrag verlangen kann, weil der Schuldner nach §  284 BGB mit der gesamten Bruttovergütung in Verzug kommt, wenn er nach dem Eintritt der Fälligkeit nicht leistet. Umstritten war dies u.a. wegen des im Lohnsteuerrecht geltenden Zuflussprinzips. Nach § 38 Abs. 2 Satz 2 EStG entsteht die Lohnsteuer erst in dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließt, die Steuerpflicht ist also eine Folge der tatsächlichen Zahlung. Zahlt der Arbeitgeber an den Arbeitnehmer nichts aus, ist einkommensteuerrechtlich nichts einzubehalten und nichts abzuführen. Dies ändert, so der Große Senat, aber nichts daran, dass der Arbeitgeber arbeitsvertraglich die gesamte Forderung bei Fälligkeit zu erfüllen hat. Er hätte bei rechtzeitiger Auszahlung des Nettolohnes auch die Lohnsteuer einbehalten und abführen müssen. Für den Verzugseintritt kommt es darauf an, was hätte geschehen müssen. Fälligkeit und Verzug im Arbeitsverhältnis sind demnach von der steuerrechtlichen Behandlung der Zahlung zu trennen; das steuerrechtliche Zuflussprinzip beeinflusst Fälligkeit und Verzug nicht. Da die Lohnsteuer als Teil des Bruttolohnanspruchs mit diesem zusammen und wie dieser zu erfüllen ist, gerät der Arbeitgeber, der keine Vergütung zahlt, nicht nur mit dem Nettoanspruch in Verzug41. 3. Streitigkeiten über Einbehalt und Abführung der Lohnsteuer Kommt es bei Einbehalt und Abführung der Lohnsteuer zu Problemen, wenn z.B. die Berechnung der Lohnsteuer streitig ist oder der Arbeitgeber die einbehaltene Steuer nicht an das Finanzamt abführt, so stellt sich jeweils die Frage, wie diese Sachverhalte im Dreiecksverhältnis von Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Finanzamt abzuwickeln sind. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hatte sich hierzu –  meist im Rahmen von Zahlungsklagen – bereits mit verschiedenen Konstellationen auseinanderzusetzen. a) Lohnsteuerabzug Grundsätzlich erfüllt der Arbeitgeber mit dem Abzug und der Abführung der Lohnsteuer seine Vergütungspflicht gegenüber dem Arbeitnehmer. Die Abführung begründet einen besonderen Erfüllungseinwand, einer Aufrechnung bedarf es nicht42. 40 BAG v. 26.5.1998 – 3 AZR 96/97, DB 1998, 2615 (2615) zu II der Gründe. 41 BAG GS v. 7.3.2001 – GS 1/00, BAGE 97, 150 (155) zu III 2 der Gründe. 42 BAG GS v. 7.3.2001 –  GS 1/00, BAGE 97, 150 (158) zu III 3 der Gründe; v.  21.12.2016 – 5 AZR 266/16, BAGE 157, 336 (338 f.) Rz. 17 mwN.

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Legt der Arbeitgeber nachvollziehbar dar, dass er bestimmte Beträge für Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge einbehalten und abgeführt hat, kann der Arbeitnehmer die nach seiner Auffassung unberechtigt einbehaltenen und abgeführten Beträge gemeinhin nicht erfolgreich mit einer Vergütungsklage geltend machen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn für den Arbeitgeber aufgrund der für ihn zum Zeitpunkt des Abzugs bekannten Umstände eindeutig erkennbar war, dass eine Verpflichtung zum Abzug nicht bestand. Nur insoweit sind die Gerichte für Arbeitssachen befugt, die Berechtigung der Abzüge für Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträge zu überprüfen. Im Übrigen beschränken sich die Möglichkeiten des Arbeitnehmers auf die steuer- und sozialrechtlichen Rechtsbehelfe43. Allerdings können dem Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber auch Schadensersatzansprüche aus § 280 BGB wegen unrichtiger Berechnung der abzuführenden Lohnsteuer zustehen, weil der Arbeitgeber nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch ihm gegenüber verpflichtet ist, die abzuführende Lohnsteuer richtig zu berechnen. Der Arbeitgeber handelt jedoch bei einer objektiv fehlerhaften Berechnung der abzuführenden Lohnsteuer regelmäßig nicht schuldhaft, wenn er sich auf die Berechnung des Finanzamts zur (Nach-)Entrichtung der Lohnsteuer verlässt und sich diese zu Eigen macht44. Und umgekehrt gebietet es die verkehrsübliche Sorgfalt (§ 276 BGB) bei unklarer Rechtslage eine Anrufungsauskunft beim Betriebsstättenfinanzamt einzuholen45. b) Nachentrichtung Auch Gegenteiliges kommt vor: Der Arbeitgeber behält versehentlich zu wenig Lohnsteuer ein und führt demzufolge auch zu wenig an das Finanzamt ab. In diesem Fall kann er gemäß § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB iVm. § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG die Erstattung nachentrichteter Lohnsteuer vom Arbeitnehmer verlangen46. Im laufenden Arbeitsverhältnis verwirklichen Arbeitgeber solche Ansprüche oftmals durch (weitere) Lohnabzüge, so dass die Gerichte für Arbeitssachen sie im Rahmen von Zahlungsklagen der Arbeitnehmer inzident zu prüfen haben. So lag es auch in einem jüngst zu entscheidenen Fall47. Der Arbeitgeber hatte – so meinte er – über mehrere Jahre hinweg den geldwerten Vorteil für die dem Arbeitnehmer gestattete Privatnutzung des Dienstwagens steuerlich nicht richtig berechnet. Er ermittelte einen noch zu versteuernden Betrag von über 25.000 Euro, den er auf zwei Monate verteilt als (erhöhtes) Gehalt ansetzte, aus dem er die zu zahlende Lohnsteuer ermittelte. An den Arbeitnehmer zahlte er für diese zwei Monate keine Vergütung aus. Das Bundesarbeitsgericht bestätigte den Grundsatz, nach dem der Arbeitgeber mit Abzug und Abführung der Lohnsteuer gegenüber dem Arbeitnehmer seine Vergütungs43 BAG v. 30.4.2008 – 5 AZR 725/07, BAGE 126, 325 (329 f.) Rz. 20 f. 44 BAG v. 11.10.1989 – 5 AZR 585/88, NZA 1990, 309 (309) zu II der Gründe; v. 16.6.2004 – 5 AZR 521/03, BAGE 111, 131 (133 f.) zu II 3 der Gründe. 45 BAG v. 30.4.2008 – 5 AZR 725/07, BAGE 126, 325 (330) Rz. 21. 46 BAG v. 30.4.2008 – 5 AZR 725/07, BAGE 126, 325 (328) Rz. 16 mwN. 47 BAG v. 21.12.2016 – 5 AZR 266/16, BAGE 157, 336.

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pflicht erfüllt und die Abführung einen besonderen Erfüllungseinwand begründet, ohne dass es einer Aufrechnung bedarf. Es stellte aber klar, dass der Arbeitgeber diesen besonderen Erfüllungseinwand ausschließlich für den abzurechnenden Kalendermonat und ggf. als Korrektur für den Vormonat erheben kann (§ 41c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG). Verrechnungen wegen etwaiger Ansprüche auf Erstattung nachträglich abgeführter Lohnsteuer genießen dieses Vorrecht nicht, sondern sind mittels Aufrechnung nach den dafür bestehenden besonderen Regeln vorzunehmen48. Eine Nachberechnung für mehrere Jahre und über mehrere Monate, wie sie der vorliegende Arbeitgeber durchgeführt hatte, scheidet danach aus. c) Einbehaltungspflicht des Arbeitgebers Von dem schuldrechtlichen Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist die steuerrechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers zur Abführung der Lohnsteuer zu unterscheiden. Im Verhältnis zum Finanzamt wird die Lohnsteuerschuld des Arbeitnehmers bereits durch den Einbehalt der Lohnsteuer vom Arbeitslohn getilgt49. Nach § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer „für Rechnung des Arbeitnehmers“ bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn einzubehalten. Die auf diese Weise durch Steuerabzug erhobene Einkommensteuer wird nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auf die Einkommensteuer angerechnet. Aus § 46 Abs. 4 EStG ergibt sich, dass bei zu veranlagenden Arbeitnehmern die einbehaltene Lohnsteuer den Einkommensteuervorauszahlungen (§  37 EStG) der anderen Steuerpflichtigen entspricht50. Bei einem korrekten Einbehalt erlischt daher die Lohnsteuerschuld des Arbeitnehmers, und zwar grundsätzlich auch dann, wenn die einbehaltene Lohnsteuer ohne Wissen des Arbeitnehmers nicht an das Finanzamt abgeführt wird51. Anders ist dies nur, wenn der Arbeitnehmer positive Kenntnis davon hat, dass die einbehaltene Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig angemeldet worden ist. Darüber hinaus gilt Folgendes52: Die Anmeldung und Abführung der Lohnsteuer obliegt nach § 41a Abs. 1 EStG dem Arbeitgeber, der nach § 42d Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1 EStG für die Lohnsteuer haftet, die er einzubehalten und abzuführen hat. Soweit die Haftung des Arbeitgebers reicht, sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer nach §  42d Abs.  3 Satz  1 EStG zwar Gesamtschuldner. Der Arbeitnehmer kann aber als Gesamtschuldner gemäß § 42d Abs. 3 Satz 4 EStG nur in Anspruch genommen werden, wenn der Arbeitgeber die Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig vom Arbeitslohn einbehalten hat (Nr. 1) oder er Kenntnis davon hat, dass der Arbeitgeber die einbehaltene Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig angemeldet hat und er den Sachverhalt dem Finanzamt nicht unverzüglich mitgeteilt hat (Nr. 2). Die Inanspruchnahme des Arbeitnehmers im Rahmen der Gesamtschuld ist auf diese beiden Tatbestände be48 BAG v. 21.12.2016 – 5 AZR 266/16, BAGE 157, 336 (340) Rz. 22. 49 BAG v. 17.9.2014 – 10 AZB 4/14, BAGE 149, 117 (121 f.) Rz. 17 und 20. 50 BFH v. 9.10.1992 – VI R 97/90, BFHE 169, 202 (206 f.) zu II 3 c bb der Gründe. 51 BFH v. 8.11.1985 – VI R 238/80, BFHE 145, 198 (201) zu 2 der Gründe; BFH v. 23.4.1996 – VIII R 30/93, BFHE 181, 7 (9 f.) zu II 1 b aa der Gründe; Loschelder in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 36 EStG Rz. 5. 52 BAG v. 17.9.2014 – 10 AZB 4/14, BAGE 149, 117 (122) Rz. 19.

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schränkt. Nur wenn einer von ihnen vorliegt, kommt ein Auswahlermessen des Finanzamts nach § 42d Abs. 3 Satz 2 EStG in Betracht53. d) Doppelzahlungen Auch Doppelzahlungen der Lohnabzüge kommen vor. Der Arbeitgeber hatte, nachdem er das Arbeitsverhältnis gekündigt hatte, für die letzten beiden Monate kein Entgelt an den Arbeitnehmer ausgezahlt, aber dennoch die Lohnsteuer und den vom Arbeitnehmer zu tragenden Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags von dem vereinbarten Gehalt abgeführt. Auf die Entgeltklage des Arbeitnehmers verurteilte das Arbeitsgericht ihn zur Zahlung der gesamten Vergütung „brutto“. Daraufhin überwies der Arbeitgeber versehentlich diesen Gesamtbetrag – einschließlich der zuvor bereits abgeführten Abzüge  – an den Arbeitnehmer. Den Rückforderungsanspruch nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB hat das Bundesarbeitsgericht bejaht, weil der Arbeitnehmer hinsichtlich der abzuführenden Lohnsteuer und des Arbeitnehmeranteils des Gesamtsozialversicherungsbeitrags ungerechtfertigt bereichert war. Weder der Arbeitsvertrag noch die arbeitsgerichtliche Verurteilung zur Bruttozahlung sind Rechtsgründe für ein Behaltendürfen dieser Abzüge54. Vielmehr unterliegt der zivilrechtliche Entgeltanspruch des Arbeitnehmers einem öffentlich-rechtlichen Pflichtengefüge, das beide Parteien des Arbeitsvertrags erfasst. Dieses überlagert und prägt – sofern nicht der Arbeitgeber aufgrund einer Nettolohnvereinbarung Steuern und Arbeitnehmeranteil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags übernimmt – den zivilrechtlichen Entgeltanspruch. Der auf Einkommensteuern und Arbeitnehmeranteil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags entfallende Teil ist zwar Bestandteil des (Brutto-)Entgeltanspruchs, so dass mit dessen Einbehalt und Abführung an die zuständigen Stellen der Arbeitgeber (auch) seine Zahlungspflicht gegenüber dem Arbeitnehmer erfüllt, doch hat der Arbeitnehmer diesbezüglich wegen entgegenstehenden öffentlichen Rechts keinen Anspruch auf Auszahlung. Der Entgeltanspruch ist insoweit nur auf Einbehalt und Abführung gerichtet55. Daher kann die arbeitsvertragliche Entgeltvereinbarung nicht das Behalten von auf das Arbeitsentgelt entfallender Einkommensteuer und des vom Arbeitnehmer zu tragenden Teils des Gesamtsozialversicherungsbeitrags rechtfertigen. Entsprechendes gilt für die arbeitsgerichtliche Verurteilung zur Zahlung von Bruttoentgelt. Da der Zusatz „brutto“ im arbeitsgerichtlichen Urteilstenor nur verdeutlicht, was von Gesetzes wegen gilt, ändert sich hierdurch nichts an der Belastung des Entgeltanspruchs mit öffentlich-rechtlichen Pflichten. Ein zur Zahlung von Arbeitsentgelt verpflichtendes Urteil ist nicht auf eine – gesetzeswidrige – Auszahlung von Steuern und Beiträgen an den Arbeitnehmer gerichtet, sondern nur auf deren Einbehalt und Abführung. Nur dafür kann der Titel Rechtsgrund i.S.v. § 812 Abs. 1 BGB sein56.

53 Eisgruber in Kirchhof, 16. Aufl. 2017, § 42d EStG Rz. 28. 54 BAG v. 21.12.2016 – 5 AZR 273/16, BAGE 157, 341 (342) Rz. 9. 55 BAG v. 21.12.2016 – 5 AZR 273/16, BAGE 157, 341 (343) Rz. 14. 56 BAG v. 21.12.2016 – 5 AZR 273/16, BAGE 157, 341 (344) Rz. 17. Hätte der Arbeitnehmer nach Erhalt des Gesamtbetrags den auf Lohnsteuer und Arbeitnehmeranteil des Gesamt-

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4. Rechtsweg für eine Klage auf Berichtigung der Lohnsteuerbescheinigung Gelegentlich wird ein Streit der Arbeitsvertragsparteien über die Höhe der steuer­ lichen Abzüge nicht im Rahmen einer Zahlungsklage, sondern einer Klage auf Berichtigung der Lohnsteuerbescheinigung geführt. Damit stellt sich die Frage nach dem Rechtsweg – Finanzgerichtsbarkeit oder Arbeitsgerichtsbarkeit. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 e) ArbGG sind die Arbeitsgerichte zuständig für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern über Arbeitspapiere. Nach der Gesetzesbegründung soll sich eine Streitigkeit über Arbeitspapiere wegen des engen Sachzusammenhangs nicht nur auf deren Herausgabe, sondern auch auf ihre Berichtigung beziehen57. Wegen des eindeutigen, die Zuständigkeit auf bürgerliche Rechtsstreitigkeiten beschränkenden Wortlauts kann nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts trotz der Entstehungsgeschichte des § 2 Abs. 1 Nr. 3 e) ArbGG aber nicht angenommen werden, dass darin eine ausdrückliche Zuständigkeit der Arbeitsgerichte unabhängig davon begründet wird, ob es sich um eine öffentlich-rechtliche oder um eine bürgerlich-rechtliche Streitigkeit handelt58. Welcher Art die Streitigkeit ist, richtet sich grundsätzlich nach der Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird59. Maßgebend ist hierfür, ob der zur Klagebegründung vorgetragene Sachverhalt für die aus ihm hergeleitete Rechtsfolge von Rechtssätzen des Arbeitsrechts oder des öffentlichen Rechts geprägt wird. Für einen Rechtsstreit um das richtige Ausfüllen der Lohnsteuerbescheinigung ist der Finanzrechtsweg nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts jedenfalls dann gegeben, wenn die Entscheidung des Streits von der Anwendung steuerrechtlicher Normen abhängt. Ein solcher Fall liegt etwa vor, wenn die Parteien eines Arbeitsverhältnisses ausschließlich darüber streiten, ob die für den Dezember eines Jahres geschuldete, aber erst im Folgejahr gezahlte Vergütung in die Lohnsteuerbescheinigung für das Folgejahr oder das vorangegangene Jahr einzutragen ist60. Insoweit ergänzt die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs die des Bundesarbeitgerichts, wonach bei einem Streit um die Berichtigung einer Lohnsteuerbescheinigung der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten gegeben ist, wenn es in dem Verfahren im Kern um arbeitsrechtliche Fragen geht, zu denen die vom Arbeitnehmer beanstandeten Eintragungen in der Lohnsteuerbescheinigung oder das Begehren des Arbeitnehmers auf Ausstellung einer Lohnsteuerbescheinigung einen bloßen Reflex bilden61. Der zur Klagebegründung vorgetragene Sachverhalt wird für die aus ihm hergeleitete Rechtsfolge insbesondere dann von Rechtssätzen des Arbeitsrechts geprägt, wenn Streit darüber besteht, ob überhaupt ein Arbeitsverhältnis vorgelegen hat, für welsozialversicherungsbeitrags entfallenden Teil des Arbeitsentgelts an die zuständigen Stellen abgeführt, hätte er allerdings Entreicherung (§ 818 Abs. 3 BGB) einwenden können. 57 BT-Drucks. 8/2535, 34. 58 BAG v. 11.6.2003 – 5 AZB 1/03, NZA 2003, 877 (877) zu II 1 der Gründe; v. 7.5.2013 – 10 AZB 8/13, NZA 2013, 862 (862) Rz. 6. 59 GmS-OGB v. 29.10.1987 –  GmS-OGB 1/86, BGHZ 102, 280 (283) zu III 1 der Gründe mwN. 60 BAG v. 7.5.2013 – 10 AZB 8/13, NZA 2013, 862 (863) Rz. 12. 61 BFH v. 4.9.2008 – VI B 108/07, (n.v.) Rz. 8.

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chen Zeitraum ein Arbeitsverhältnis bestanden hat oder welche arbeitsrechtlichen Ansprüche – insbesondere Barlohnansprüche – bestehen oder bestanden haben. Betrifft der Streit aber das korrekte Ausfüllen der Lohnsteuerbescheinigung, erfordert dies die Anwendung steuerrechtlicher Normen. Hierfür ist der Rechtsweg zu den Finanzgerichten gegeben62. Allerdings ist in diesen Fällen die Frage nach der Sinnhaftigkeit solcher Klagen auf Lohnsteuerberichtigung erlaubt, weil es typischerweise an einem Rechtsschutzbedürfnis fehlt63. Die Lohnsteuerbescheinigung ist nur ein Beweismittel für den Lohnsteuerabzug, wie er tatsächlich stattgefunden hat64. Sie dient damit nicht dem Nachweis des Lohnsteuerabzugs, wie er hätte durchgeführt werden müssen. Etwaige Fehler beim Lohnsteuerabzug können (nur) im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung berichtigt werden65. Eine abweichende Einkommensteuerveranlagung ist durch eine unrichtige Lohnsteuerbescheinigung nicht ausgeschlossen, da diese nur einen widerlegbaren Beweis erbringt und daher bei der Veranlagung keine Bindung an ihren Inhalt besteht66. 5. Sachbezüge – Dienstwagen mit Gestattung der privaten Nutzung Im Bereich der Sachbezüge spielt in der arbeitsgerichtlichen Praxis vor allem die Überlassung eines Dienstwagens, den der Arbeitnehmer auch privat nutzen darf, eine erhebliche Rolle. Es liegt steuerpflichtiger Arbeitslohn vor, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen Betriebs-Pkw ganz oder teilweise unentgeltlich für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte oder zur privaten Nutzung überlässt67. Die zum Arbeitslohn gehörende Nutzungsbefugnis ist bei den Einkünften gem. §  19 EStG zu berücksichtigen68. Hierfür ist der geldwerte Vorteil für die Privatfahrten vom Arbeitgeber zu ermitteln und dem Barlohn des Arbeitnehmers hinzuzurechnen. Steuerrechtlich stehen nach § 8 Abs. 2 EStG zwei Möglichkeiten zur Ermittlung des Nutzungswerts zur Verfügung. Der vermögenswerte Vorteil kann pauschal mit 1 % des Listenpreises (Neufahrzeug) angesetzt werden. Er kann nach § 8 Abs. 2 Satz 4 EStG auch konkret ermittelt werden. Dies setzt den Nachweis der durch das Kraftfahrzeug insgesamt entstehenden Aufwendungen durch Belege und den Nachweis der dienstlich/privat gefahrenen Kilometer durch ein ordnungsgemäß geführtes Fahrtenbuch voraus69.

62 BFH v. 13.12.2007 – VI R 57/04, BFHE 220, 124 (126) zu II 2 der Gründe. 63 BAG v. 7.5.2013 – 10 AZB 8/13, NZA 2013, 862 (863) Rz. 13. 64 BFH v. 30.10.2008 – VI R 10/05, BFHE 223, 202 (205) zu II 3 der Gründe. 65 BFH v. 7.2.2008 – VI B 110/07, (n.v.) Rz. 3. 66 BFH v. 18.8.2011 – VII B 9/11, (n.v.) Rz. 8 mwN. 67 Thomas in Küttner, Personalbuch, 24. Aufl. 2017, Dienstwagen Rz. 17. 68 Vgl. Krüger in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 19 Rz. 100, Kraftfahrzeuggestellung. 69 Vgl. Laws, FA 2015, 234 (237).

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a) Entzug des Dienstwagens Entzieht der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer unberechtigt den Dienstwagen, geht der Streit regelmäßig um die Klärung der Frage, nach welchen Vorschriften der Arbeitnehmer Ersatzansprüche geltend machen kann und wie diese zu berechnen sind. Hierbei handelt es sich um Schadensersatzansprüche wegen Unmöglichkeit: Kommt der Arbeitgeber seiner Vertragspflicht, dem Arbeitnehmer die Nutzung des Dienstwagens zu Privatzwecken weiter zu ermöglichen, nicht nach, wird die Leistung wegen Zeitablaufs unmöglich, weshalb der Arbeitgeber nach § 275 Abs. 1 BGB von der Leistungspflicht befreit wird. Der Arbeitnehmer hat in diesem Fall nach § 280 Abs. 1 Satz 1 iVm. § 283 Satz 1 BGB Anspruch auf Ersatz des hierdurch verursachten Schadens70. Nach § 249 Abs. 1 BGB hat derjenige, der zum Schadensersatz verpflichtet ist, den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Zur Berechnung des durch den Entzug der Privatnutzung des Dienstwagens entstehenden Schadens ist eine Nutzungsausfallentschädigung auf der Grundlage der steuerlichen Bewertung der privaten Nutzungsmöglichkeit anzusetzen (monatlich 1 % des Listenpreises des Kraftfahrzeugs im Zeitpunkt der Erstzulassung). Dieser Schadensersatzanspruch steht dem Arbeitnehmer nicht als Nettovergütung zu. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 EStG ist die private Nutzung des Dienstwagens zu versteuern. Der Schadensersatzanspruch wegen der vom Arbeitgeber zu vertretenden Unmöglichkeit dieses Naturallohnanspruchs tritt an dessen Stelle und ist steuerlich in gleicher Weise zu behandeln71. b) Private Nutzung Regelmäßig beschäftigen die steuerrechtlichen Möglichkeiten zur Ermittlung des geldwerten Vorteils der privaten Dienstwagennutzung die Arbeitsgerichte72. Vereinbaren die Arbeitsvertragsparteien, den Nutzungswert der Privatnutzung pauschal nach der 1 %-Regelung (§ 8 Abs. 2 Satz 2 EStG) zu ermitteln und die entsprechende Lohnsteuer zuführen, kann dem Arbeitnehmer hierdurch steuerlich ein Nachteil entstehen, wenn der tatsächliche Nutzungswert unter dem versteuerten Pauschalwert liegt. Kann er dies dem Finanzamt gegenüber nachweisen, erhält er die zu viel abgeführte Lohnsteuer zurück (§ 46 EStG). Dazu bedarf der Arbeitnehmer aber einer Information des Arbeitgebers über die tatsächlich mit der Fahrzeughaltung verbundenen Kosten (§  8 Abs.  2 Satz  4 EStG). Hierzu ist der Arbeitgeber auch verpflichtet. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat der Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber einen Auskunftsanspruch, wenn er auf die Auskunft zur Durchsetzung eines möglichen Zahlungsanspruchs angewiesen ist, der Arbeitgeber die Auskunft unschwer erteilen kann und sie ihn nicht übermäßig belastet73. Der für 70 BAG v. 21.3.2012 – 5 AZR 651/10, NZA 2012, 616 (617) Rz. 24; vgl. auch Müller-Glöge in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2016, § 611 Rz. 707. 71 BAG v. 21.3.2012 – 5 AZR 651/10, NZA 2012, 616 (618) Rz. 26 f. 72 BAG v. 19.4.2005 – 9 AZR 188/04, NZA 2005, 983 (984 f.) zu II 3 der Gründe. 73 Vgl. BAG v. 1.12.2004 – 5 AZR 664/03, BAGE 113, 55 (58 f.) zu II 1 der Gründe.

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die Auskunftserteilung vorauszusetzende Zahlungsanspruch kann sich auch gegen einen Dritten – hier das Finanzamt – richten. Abwehren kann der Arbeitgeber den Auskunftsanspruch nur, wenn er konkret die Gründe benennt, aus denen sich seine übermäßige Belastung ergibt. 6. Schadensersatz bei steuerlichen Nachteilen Mit steuerrechtlich geprägten Sachverhalten haben sich die Arbeitsgerichte typischerweise bei Schadensersatzansprüchen wegen steuerlicher Nachteile in Folge verspätet gezahlten Entgelts auseinanderzusetzen. a) Steuerprogression Bei verspäteter Lohnzahlung kann ein Arbeitnehmer einen ggf. eintretenden Steuer(progressions)schaden als Verzugsschaden geltend machen. Auslöser einer solchen Schadensersatzforderung ist das steuerrechtliche Zuflussprinzip. Arbeitsvergütungen sind danach grundsätzlich im Steuerjahr des Zuflusses zu versteuern und zwar auch dann, wenn die Arbeitsvergütung für eine dem Steuerjahr vorangegangene Beschäftigungszeit nachgezahlt wird. Kommt es zu Nachzahlungen aus den Vorjahren, können diese zusammen mit der Zahlung der laufenden Arbeitsvergütung im Steuerjahr zu einer „progressionsbedingten“ erhöhten Steuerbelastung führen. Die Steuerprogression führt zu einer überproportional steigenden steuerlichen Belastung bei steigendem Einkommen, da höhere Einkommen prozentual höher besteuert werden. Auch diesen steuerlichen Nachteil, der sich aus kumulativen Zahlungen ergeben kann, kann der Arbeitnehmer bei Vorliegen der Verzugsvoraussetzungen nach § 286 Abs. 1, § 284 Abs. 2 Satz 1, § 285 BGB als Verzugsschaden geltend machen74. Relevant kann ein solcher Anspruch z.B. werden, wenn der Arbeitgeber nach Ausspruch einer Kündigung – während der gerichtlichen Auseinandersetzung über deren Wirksamkeit – nach Ablauf der Kündigungsfrist keine Vergütung mehr zahlt und sich später die Unwirksamkeit der Kündigung herausstellt. Soweit der Arbeitgeber nicht auf die Wirksamkeit seiner Kündigung vertrauen durfte, muss er dem Arbeitnehmer auch den aus der verspäteten Lohnzahlung entstandenen Steuerschaden ersetzen. Dazu muss der Arbeitgeber mit der Leistung der Arbeitsvergütung in Verzug geraten. Dieser kann eintreten, wenn er bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt die Unwirksamkeit der Kündigung hätte erkennen können. Anders verhält es sich, wenn der Ausspruch der Kündigung auf einem vertretbaren Rechtsstandpunkt beruht. Ist die Rechtslage nicht eindeutig, so handelt der kündigende Arbeitgeber solange nicht fahrlässig, als er auf die Wirksamkeit der Kündigung vertrauen durfte75. Die Höhe des Schadens bestimmt sich aus einem Vergleich der steuerlichen Lage bei verspäteter Zahlung mit der bei rechtzeitiger Zahlung. Zu den zu erstattenden Kos-

74 BAG v. 14.5.1998 – 8 AZR 634/96, NZA-RR 1999, 511 (512) zu II 2 der Gründe. 75 BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 488/01, NZA 2003, 268 (269) zu II 1 b der Gründe.

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ten gehören dabei grundsätzlich auch die Kosten für die Einschaltung eines Steuerberaters, der die Höhe des Schadens ermittelt76. b) Verzögerte Rentenanpassung Entsprechendes gilt für den Ersatz der steuerlichen Nachteile, die einem Versorgungsempfänger durch die verzögerte Anpassung seiner Betriebsrente entstehen77. Danach ist der Arbeitgeber nach § 280 Abs. 1 und 2 BGB iVm. §§ 286, § 287 Satz 1 BGB zum Ersatz des jeweiligen Steuerschadens verpflichtet. Ein derartiger Steuerschaden wird dem versorgungspflichtigen Arbeitgeber normativ zugerechnet. Zwar beruht die Vermögenseinbuße des Betriebsrentners auf einer Anwendung zwingender Steuervorschriften. Indem das Gesetz dem versorgungspflichtigen Arbeitgeber die Erfüllung der steuerrechtlichen Pflichten des Betriebsrentners „treuhänderisch“ auferlegt, bezweckt es ebenso wie beim Arbeitnehmer auch den Schutz der steuerrechtlichen Interessen des Leistungsempfängers. Da die Bruttorenten des Betriebsrentners ebenso wie die Bruttovergütungen des Arbeitnehmers ein gleichmäßiges und berechenbares Einkommen sichern sollen, werden steuerrechtliche Nachteile von der Ersatzpflicht erfasst. c) Verlust von Steuervorteilen Keinen Schadensersatzanspruch kann ein Arbeitnehmer hingegen wegen des Verlusts von Steuervorteilen geltend machen, der sich aus seiner Nicht-Beschäftigung ergibt. Vermögenseinbußen können ihm entstehen, wenn er im Rahmen seiner Beschäftigung nach §  3b EStG steuerfreie Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit erhalten hätte. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sind solche Zuschläge aber nur steuerfrei, wenn sie für tatsächlich geleistete Arbeit gezahlt werden, nicht hingegen als Lohnersatzeinkommen78. Die durch die nicht steuerfreie Auszahlung der Zuschläge bewirkte Vermögenseinbuße kann dem Arbeitgeber aber regelmäßig nicht als zu ersetzender Schaden zugerechnet werden79. Es handelt sich nicht um einen Verzugsschaden nach § 286 Abs. 1 BGB, weil die Vermögenseinbuße nicht durch die verspätete Lohnzahlung entstanden ist, sondern dadurch, dass der Arbeitnehmer tatsächlich nicht beschäftigt worden ist. Selbst wenn nach anderen Vorschriften ein Schadensersatzanspruch denkbar wäre, könnte die Vermögenseinbuße dem Arbeitgeber nicht normativ zugerechnet werden. §  3b EStG stellt einen Ausnahmetatbestand dar. Zudem soll dem Arbeitnehmer durch die Steuerfreiheit ein finanzieller Ausgleich für die besonderen Erschwernisse und Belastungen, die mit dieser Arbeit verbunden sind, gewährt werden. Bei Nichtleistung der steuerlich begünstigten Arbeit entsteht kein ausgleichsbedürftiger Tatbestand.

76 BAG v. 20.6.2002 – 8AZR 488/01, NZA 2003, 268 (269 f.) zu II 1 c der Gründe. 77 BAG v. 28.10.2008 – 3 AZR 171/07, NZA-RR 2009, 499 (502) Rz. 38. 78 BFH v. 27.5.2009 – VI B 69/08 , BFHE 225, 137 (138) zu 1 a der Gründe. 79 BAG v. 19.10.2000 – 8 AZR 20/00, NZA 2001, 598-601 zu III der Gründe.

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d) Doppelbesteuerungsabkommen Auch Doppelbesteuerungsabkommen und deren Umsetzung durch den Arbeitgeber können zu Schadensersatzklagen führen, wenn der Arbeitgeber die auf das Arbeitseinkommen entfallende Lohnsteuer irrtümlich an das deutsche Finanzamt abführt und der Arbeitnehmer dieses Einkommen im Ausland nachversteuern muss und hierfür mit Strafzahlungen zu rechnen hat. Ein entsprechender Schadensersatzanspruch aus § 249 BGB Abs. 1 BGB scheitert aber regemäßig am Fehlen einer schädigenden Handlung oder entsprechendem Unterlassen seitens des Arbeitgebers. Dieser muss einen Arbeitnehmer bei Vertragsabschluss über einen Auslandseinsatz grundsätzlich nicht von sich aus darauf hinweisen, dass ab einer bestimmten Aufenthaltsdauer in einem ausländischen Staat dort eine Verpflichtung zur Abführung von Einkommens-/Lohnsteuer entstehen kann. Aus einem Schuldverhältnis erwachsen einer Vertragspartei nicht nur Leistungs- sondern auch Verhaltenspflichten zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Vertragsteils (§ 241 Abs. 2 BGB). Grundsätzlich hat aber jeder Vertragspartner selbst für die Wahrnehmung seiner Interessen zu sorgen80. Der jeder Partei zuzubilligende Eigennutz findet seine Grenze jedoch in dem schutzwürdigen Lebensbereich des Vertragspartners. Diese ist anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalles und mittels einer umfassenden Interessenabwägung zu ermitteln. Dabei sind insbesondere das erkennbare Informationsbedürfnis des Arbeitnehmers einerseits und die Beratungsmöglichkeiten des Arbeitgebers andererseits zu beachten und gegeneinander abzuwägen81. e) Erkundungspflicht des Arbeitnehmers Wählt ein Arbeitgeber beim sog. Minijob die Besteuerung nach individuellen Lohnsteuermerkmalen („nach Lohnsteuerkarte“) und sieht deshalb von einer Pauschalbesteuerung ab, kann das für verheiratete Arbeitnehmer unter bestimmten Umständen finanziell nachteilig sein82. Gleichwohl ist der Arbeitgeber arbeitsrechtlich nicht verpflichtet, sein in § 40a Abs. 2 EStG geregeltes Wahlrecht im steuerrechtlichen Sinn des Arbeitnehmers auszuüben. Eine darauf gerichtete Verpflichtung geben weder Arbeitsrecht noch Steuerrecht83 her. Der Arbeitgeber muss den geringfügig Beschäftigten auch nicht darauf hinweisen, dass er nicht von der in § 40a Abs. 2 EStG eröffneten Möglichkeit Gebrauch macht, statt der „üblichen“ individuellen Besteuerung die Pauschalbesteuerung zu wählen. Zum einen ist eine diesbezügliche Aufklärungsoder Hinweispflicht des Arbeitgebers weder in § 40a Abs. 2 EStG noch anderweitig gesetzlich geregelt. Zum anderen bedarf eine nicht gewählte und daher nicht zur Anwendung kommende Abweichung von der Regelbesteuerungsart keines Hinweises84. Folgen aus den besonderen Umständen des Einzelfalles keine gesonderten Hinweisund Aufklärungspflichten verbleibt es bei dem Grundsatz, dass innerhalb vertragli80 St. Rspr. vgl. BAG v. 11.12.2001 – 3 AZR 339/00, NZA 2002, 1150 (1152) zu II 3 der Gründe mwN. 81 BAG v. 26.7.2007 – 8 AZR 707/06, DB 2007, 2319 (2319) Rz. 28 ff. 82 BAG v. 13.11.2014 – 8 AZR 817/13, NZA 2015, 166. 83 BAG v. 13.11.2014 – 8 AZR 817/13, NZA 2015, 166 (167) Rz. 19. 84 BAG v. 13.11.2014 – 8 AZR 817/13, NZA 2015, 166 (167) Rz. 25.

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cher Beziehungen jede Partei für die Wahrnehmung ihrer Interessen selbst zu sorgen hat. Daher kann verlangt werden, dass ein Arbeitnehmer, der besonderen Wert auf die Anwendung einer Sonderbesteuerungsart für sein Arbeitsverhältnis legt, von sich aus nachfragt und gegebenenfalls eine entsprechende Vereinbarung vorschlägt.

III. Resümee Das Steuerrecht ist kompliziert und für den Steuerbürger nur noch mittels professioneller Hilfe einigermaßen zu durchschauen. Steuerpflichtige und damit die Masse der Erwerbstätigen begreifen Steuerrecht weniger als Recht, denn als staatlichen Eingriff, den es zu minimieren, wenn nicht gar auszuweichen gilt85. Ein Mittel hierfür sind arbeitsvertragliche Gestaltungsmöglichkeiten, die ihre Grundlage in steuerrechtlichen Wahlmöglichkeiten der Arbeitnehmer oder den nicht immer konzisen Entscheidungen des Gesetzgebers zur Besteuerung von Arbeitseinkommen haben. Insoweit muss das Lohnsteuer- oder Einkommensteuerrecht vertragliche Abmachun­ gen akzeptieren. Das ändert sich im steuerrechtlich ausgestalteten Lohnsteuerabzugsverfahren; dessen öffentlich-rechtlichen Rechte und Pflichten werden zu solchen des Arbeitsrechts. Zwangsläufig wird hierbei das Arbeitsrecht zum Folgerecht des Steuerrechts.

85 Pressestelle des Bundesfinanzhofs, Der Bundesfinanzhof, Broschüre, 6. Aufl., S. 3.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … B. V.

Sozialrecht und Steuerrecht aus der Sicht des Bundessozialgerichts Von Rainer Schlegel

Inhaltsübersicht I. Berührungspunkte der Sozialgerichtsbarkeit mit Steuerrecht 1. Überblick 2. Finanzverfassung – Sozialfinanz­ verfassung 3. Gemeinsamer Ausgangspunkt für die Bemessungsgrundlagen von Steuern und Beiträgen 4. Motive und Ausmaß der Anleihen des Sozialrechts beim Steuerrecht 5. Distanz bei Statusfragen II. Einflüsse des Steuerrechts auf die Bestimmung des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts bei abhängig Beschäf­ tigten 1. Grundlagen und Gemeinsamkeiten a) Versicherungspflicht und Gesamt­ sozialversicherungsbeitrag b) Bruttolohn c) Indienstnahme des Arbeitgebers 2. Strenge Akzessorietät des Beitragsrechts zum Steuerrecht in der Zeit von 1944 bis 1976 a) Der „Gemeinsame Erlaß“ vom 10. September 1944 b) Gehorsam und „Lockerungsübungen“ des BSG 3. Eigenständiger Entgeltbegriff der Sozialversicherung seit 1977 a) Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung b) Entstehungsprinzip statt Zufluss­prinzip c) Beitragsbemessungsgrenzen versus unbegrenzte Steuerpflicht

d) Veranlagungszeitraum: Monatsprinzip statt Kalenderjahr e) Eigenständige Prüfung steuerrechtlicher Fragen durch die Träger der Sozialversicherung und der Sozial­ gerichte 4. Feinjustierung des Arbeitsentgelts – ­Sozialversicherungsentgeltverordnung (SvEV) a) Wertermittlung für Sachbezüge und geldwerte Vorteile b) Lohnsteuerfreiheit und Pauschal­ besteuerung – Allgemeines 5. Kraft Gesetzes steuerfreie Arbeitgeberleistungen a) Zusätzlich zum Lohn gezahlte Zulagen, Zuschläge, Zuschüsse sowie ähnliche Einnahmen, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SvEV b) Weitere praxisrelevante Anwendungsfälle c) Steuerfreie Zuwendungen Dritter d) Steuerfeie Aufwandsentschädigung und Übungsleiterpauschale im Ehrenamt 6. Pauschalversteuerte Zuwendungen a) Allgemeine Voraussetzungen b) Sonstige Bezüge i.S.v. § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SvEV c) Einnahmen nach § 40 Abs. 2 EStG, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SvEV d) Überwälzung der pauschalen Lohnsteuer auf den Arbeitnehmer

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Rainer Schlegel III. Einflüsse des Steuerrechts auf die Bestimmung des beitragspflichtigen Arbeitseinkommens Selbständiger 1. Relevanz des Arbeitseinkommens 2. Steuerlich ermittelter Gewinn als Arbeitseinkommen – § 15 SGB IV a) Strikte Bindung an die Gewinn­ ermittlungsvorschriften des EStG b) Tatbestandswirkung und begrenzte Indizwirkung des Steuerbescheides c) Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, selbständiger Arbeit und Gewerbebetrieb d) Allgemeine Gewinnermittlungsvorschriften 3. Statusfragen a) Kein Rückschluss von Gewinnen auf selbständige Tätigkeit b) Verwaltung eigenen Kapitals sowie Vermietung und Verpachtung

IV. Leistungsrecht der Sozialversicherung 1. Lohnsteuerklassen – Arbeitslosengeld 2. Anrechnung anderweitigen Einkommens auf Sozialleistungen a) Allgemeines b) Hinzuverdienstgrenzen für Rentner c) Anrechnung eigenen Erwerbseinkommens auf Hinterbliebenenrenten V. Steuerfinanzierte Sozialleistungen 1. Grundsicherung und Sozialhilfe 2. Elterngeld a) Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Bemessungsgrundlagen b) Spezialfall: Provisionen – sonstige Bezüge VI. Schlussbetrachtung

I. Berührungspunkte der Sozialgerichtsbarkeit mit Steuerrecht 1. Überblick Die Sozialgerichtsbarkeit hat im Beitragsrecht der Sozialversicherung große, im Leistungsrecht gelegentliche Berührungspunkte mit Steuerrecht, insbesondere mit Einkommensteuerrecht. So nimmt die Sozialversicherung zur Konkretisierung der Bemessungsgrundlagen für Sozialversicherungsbeiträge zum Teil auf Vorschriften Bezug, welche Steuerfreiheit anordnen oder Pauschalbesteuerung zulassen (dazu II–III). Geht es um Sozialleistungen, die Bedürftigkeit des Bürgers voraussetzen oder um Versicherungsleistungen, auf die anderweitiges Einkommen angerechnet wird1, greift das Sozialrecht partiell auf steuerrechtliche Normen zurück, um etwa das Ausmaß der Bedürftigkeit bzw. der Anrechnung zu konkretisieren. Desgleichen bemisst sich vor allem das Elterngeld im Wesentlichen nach dem vor der Elternzeit erzielten, nach steuerrechtlichen Vorschriften ermittelten Einkommen. Die Höhe des Arbeitslosengeldes wird unter fiktiver Berechnung der Lohnsteuer berechnet, die maßgeblich von der auf der Lohnsteuerkarte eingetragenen Lohnsteuerklasse des Versicherten (Arbeitslosen) abhängt (dazu IV und V). Dominant ist insoweit das Bemühen des Gesetzgebers, den zuständigen Stellen eigenen Verwaltungsaufwand zu ersparen und den Rückgriff auf die Feststellungen der steuerlichen Bemessungsgrundlagen zuzulassen. Für Leistungen der Sozialversicherung kann man – grosso modo – sagen: Was beitragspflichtiges Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen ist, geht auch in die Berechnung der Leistungen ein, und was in1 Wie z.B. bei Hinterbliebenenrenten: vgl. § 18a Abs. 2a SGB IV.

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Sozialrecht und Steuerrecht aus Sicht des BSG

folge Steuerfreiheit oder Pauschalbesteuerung an Beitragslast eingespart wird, geht auch auf der Leistungsseite verloren. Die Anleihen des Sozialrechts beim Steuerrecht sind darüber hinaus bereichsspezifisch von unterschiedlicher Intensität und ein dogmatisch nachvollziehbarer „roter Faden“ kaum erkennbar. Problematisch ist die strikte Anbindung an das Steuerrecht, wenn diese wegen unterschiedlicher Zielsetzungen von Steuer- und Sozialrecht zu Ergebnissen führt, die den Zwecken der Sozialleistung zuwiderlaufen (wie dies etwa beim Elterngeld der Fall sein kann) und die auch durch Aspekte einfachen Gesetzesvollzugs in Bereichen der Massenverwaltung kaum mehr zu rechtfertigen sind (dazu V 2). Sozialrichter tun sich schwer mit dem Steuerrecht, weil es nicht zu ihrem Alltagsgeschäft gehört und sich folglich Routine sowie solides Steuerwissen kaum einstellen können. Sie treffen mit dem Steuerrecht auf eine sehr technische und komplexe Materie, die sich wie das Sozialrecht durch eine rasch fortschreitende Ausdifferenzierung, zugleich aber auch durch einen Mangel an Strukturreformen und Prinzipientreue auszeichnet. Ganz dünn wird das Eis, wenn sich Sozialrecht und Steuerrecht auf dem – an sich schon Spezialisten vorbehaltenen – Gebiet der betrieblichen Altersversorgung treffen. 2. Finanzverfassung – Sozialfinanzverfassung Steuern dienen der Finanzierung allgemeiner Staatsausgaben, während Sozialversicherungsbeiträge die Grundlage für den Versicherungsschutz im Rahmen einer gesetzlich angeordneten Pflichtversicherung oder einer freiwilligen Versicherung schaffen2; Beiträge sind das Hauptfinanzierungsmittel der Sozialversicherung3, wobei allein die Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung zusammen den steuerfinanzierten Bundeshaushalt bei Weitem übersteigen4. Insofern ist es erstaunlich, dass das Grundgesetz in Art.  104a  ff. im Hinblick auf Steuern zwar eine dicht ausdifferenzierte Finanz­ verfassung errichtet hat, über Sozialversicherungsbeiträge aber kein Wort verliert5. Eine Sozialfinanzverfassung einschließlich des Rechts der Sozialleistungsträger, von Steuern unterschiedene Beiträge zur Sozialversicherung zu erheben, muss sich daher 2 Zu Äquivalenz, sozialem Ausgleich und Umverteilung bei Sozialversicherungsbeiträgen vgl. BVerfG v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167 Rz. 136 und v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 Rz. 90; Kirchhoff in DStJG 29 (2006) S. 39 ff.; Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht , 2000, S. 264 ff.; Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S.  29  f., Wenner in DStJG 29 (2006) S.  73  ff.; Schmehl, Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, 2004, S. 195 ff. 3 Vgl. § 340 SGB III, §§ 220, 221 SGB V, § 153 SGB VI, § 54 SGB XI. 4 Der Bundeshaushalt 2017 umfasste etwa 329,1  Mrd.  Euro (vgl. Haushaltsgesetz 2017, BGBl. I 2016, 3016), die Beitragseinnahmen der allgemeinen Rentenversicherung beliefen sich auf etwa 293,27 Mrd. Euro (vgl. BT-Drucks. 19/140, 23), diejenigen der GKV 2016 auf 234,35 Mrd. Euro, vgl. Kennzahlen der GKV, Stand: Juli 2017). 5 Vgl. BVerfG v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167 Rz. 94 ff.; v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09, BVerfGE 125, 175 Rz. 182, wonach Art. 104a Abs. 1 GG lediglich die Ausgabenlast zwischen den Gebietskörperschaften verteilt und keine fürsorgerechtliche Pflicht aufstellt, hilfebedürftige Personen, mit den notwendigen finanziellen Mitteln auszustatten.

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letztlich aus der verbindenden Interpretation der Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Sozialversicherung in Art. 74 Abs. 1 Nrn. 7 und 12 GG, der Regelung über die Verwaltung durch soziale Versicherungsträger in Art. 87 Abs. 2, Art. 91e GG und der in Art 120 Abs. 1 Satz 4 GG erwähnten Zuschusspflicht des Bundes zu den Lasten der Sozialversicherung vor dem Hintergrund der Abgrenzung zu den Steuern ergeben6. Denn das GG erlaubt es dem Gesetzgeber nur unter besonderen Voraussetzungen, Einnahmen außerhalb des von der Finanzverfassung erfassten Bereichs zu erschließen7. Dieses Schweigen des GG heißt allerdings nicht, dass es dem Gesetzgeber ermöglicht wäre, über Sozialversicherungsbeiträge auch allgemeine Staatsaufgaben zu finanzieren, sofern er diese nur unter dem „Dach der Sozialversicherung“ ansiedelt. Die Rspr. des BVerfG hat dem Gesetzgeber insoweit bisher mit dem Urteil zur Künstlersozialabgabe aber nur äußerste Grenzen gesetzt und für den Kompetenztitel „Sozialversicherung“ nicht einmal die für Sonderabgaben aufgestellten Restriktionen gefordert8. Sonderabgaben dürfen nur im Rahmen eines Sachzwecks erhoben werden, der über die bloße Mittelbeschaffung hinausgeht, und eine homogene Gruppe treffen, die in einer spezifischen Beziehung zu dem mit der Abgabenerhebung verfolgen Zweck steht9. Für das BVerfG sind Sozialversicherungsbeiträge jedoch keine Sonderabgaben in diesem Sinne. Für Sozialversicherungsbeiträge stellt die begrenzte Gesetzgebungskompetenz zur Finanzierung der Sozialversicherung in Art.  74 Abs.  1 Nr.  12 GG nach der Rspr. des BVerfG bereits eine ausreichende, inhärente Beschränkung dar. Sie dienen von vornherein nicht der allgemeinen Mittelbeschaffung, sondern sind auf den Zweck der Finanzierung der Sozialversicherung ausgerichtet und im Übrigen auch „tatsächlich und rechtlich von den allgemeinen Staatsfinanzen getrennt“10. Dass das BVerfG unmittelbar eine beitragsrechtliche Vorschrift für verfassungswidrig erklärt hätte, ist angesichts der Weite des Begriffs „Beitrag“ bisher auch nicht vorgekommen11. Speziell für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), in dem keine Gruppen-Homogenität der Versicherten angenommen werden kann, 6 Vgl. BVerfG v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167 Rz. 93 ff.; Kirchhof, NZS 2015, 1 (8). 7 Vgl. BVerfG v. 8.6.1988 – 2 BvL 9/85 und 3/86, BVerfGE 78, 249 (266 f.); Reiter in FS Klein, 1994, S. 1001 (1003 f.); Kirchhof in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 285 (292 f.); Isensee in SDSRV 35 (1992), S. 7. 8 Vgl. BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82, BVerfGE 75, 108. 9 Vgl. BVerfG v. 16.9.2009 – 2 BvR 852/07, BVerfGE 124, 235 (249); v. 24.11.2015 – 2 BvR 355/12, NVwZ 2016, 606 Rz. 39. 10 Vgl. BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82, BVerfGE 75, 108 Rz. 97 ff; v. 18.7.2005 – 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167 Rz. 98: „strenge grundrechtlich und kompetenzrechtlich begründete Zweckbindung“. Auch die Erstattung von Sozialleistungen durch den Arbeitgeber ist keine Sonderabgabe, vgl. BVerfG v. 23.1.1990 – 1 BvL 44/86 und 48/87, BVerfGE 81, 156. Zur Problematik siehe ferner BSG v. 23.6.1994 – 12 BK 7/94, Die Beiträge 1994, 637 Rz. 3 sowie Germelmann, GewArch 2009, 476 Fn. 12. 11 Nur mittelbar ergab sich dies u. a. in BVerfG v. 9.10.1985 – 1 BvL 7/83, BVerfGE 71, 1 = BGBl. I 1986, 2559 zur weiteren Beitragspflicht von auf Antrag in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversicherten Selbständigen; vgl. ferner BVerfG v. 3.4.2001  – 1 BvR 81/98, BVerfGE 103, 225 = BGBl. I 2001, 774 zum Zugang zur Pflegeversicherung; BVerfG

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genügt als „gemeinsamer Nenner“ der beitragsfinanzierten Leistungen offenbar das Ziel, der gesamten, in Deutschland lebenden Bevölkerung eine ausreichende Gesundheitsversorgung zu gewähren12. Das BSG thematisiert Fragen der Verfassungsmäßigkeit von Beitragspflichten in aller Regel nicht von sich aus und folgt, sofern die Beteiligten solche Fragen zum Gegenstand ihres Revisionsvorbringens machen, weithin kritiklos der weiten Rspr. des BVerfG13. Da nicht zu erwarten ist, dass das BVerfG seine bisherige Rechtsprechung „zurücknimmt“ und die Kompetenz des Gesetzgebers stärker einschränkt, Sozialleistungen unter Berufung auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG durch Beiträge zu finanzieren, wäre es aus Gründen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit sowie zur Herstellung von Lastengerechtigkeit unter den zwangsweise zu Versichertengemeinschaften zusammengeschlossenen Personen wünschenswert, die Sozialfinanzverfassung im GG selbst näher zu konkretisieren14. Denn sieht der Gesetzgeber z.B. für nicht oder nicht ausreichend leistungsfähige Personengruppen aus Steuermitteln finanzierte Beiträge oder „globale Zuschüsse“ vor und setzt er diese ohne eine – bezogen auf die jeweilige Personengruppe – hinreichende versicherungsmathematische Kostenkalkulation politisch fest, verschwimmen die Grenzen zu der den Steuern vorbehaltenen Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben. Zudem ergibt sich bei fehlender Kostentransparenz das politische Problem, die Akzeptanz der mit einer Pflichtversicherung insbesondere für Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber verbundenen Beitragslasten zu wahren. 3. Gemeinsamer Ausgangspunkt für die Bemessungsgrundlagen von Steuern und Beiträgen Bei beiden Abgabenarten – Sozialversicherungsbeiträgen wie Steuern – geht es darum, das ökonomische Einkommen des Abgabepflichtigen zu sichten und gesetzlich zu v. 15.3.2000 – 1 BvL 16/96, 17/96, 18/96, 19/96, 20/96 usw., BVerfGE 102, 68 zum Zugang zur Krankenversicherung der Rentner; BVerfG v. 3.7.1974 – 1 BvL 18/73, BVerfGE 38, 41 zur fehlenden Möglichkeit des Verzichts auf Beitragsbefreiung bei Mitgliedern von berufsständischen Versorgungseinrichtungen; BVerfG v. 24.5.2000 – 1 BvL 1/98, 4/98 und 15/99 BVerfGE 102, 127 zum „Einmalzahlungsgesetz“; BVerfG v. 18.11.1986  – 1 BvL 29/83, 30/83, 33/83, 34/83, 36/83, BVerfGE 74, 9 zum Ausschluss des Arbeitslosengelds für Studenten sowie BVerfG v. 10.07.1984 – 1 BvL 44/80, BVerfGE 67, 186 zum individuellen Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Eheleuten). 12 Vgl. die weite Rspr. des BVerfG zu sog. versicherungsfremden Lasten z.  B. BVerfG v. 26.3.1980 – 1 BvR 121/76, BVerfGE 54, 11 (30): Ersatz- und Ausfallzeiten in der Rentenversicherung; zur Dogmatik sozialer Umverteilung Zacher, DÖV 1970, 3 (12); zur Grenze des Willkürverbots hinsichtlich beitragsfinanzierter Leistungen vgl. Reiter in FS Offerhaus, 1999, S. 1101 (1117). 13 Vgl. BSG v. 10.10.2017 – B 12 KR 119/16 B.; desgl. zur Verfassungsmäßigkeit der Beitragserhebung in der Rentenversicherung: BSG v. 5.7.2006  – B 12 KR 20/04 R, SozR 4-2600 § 157 Nr. 1; in der sozialen Pflegeversicherung: BSG v. 27.2.2008 – B 12 P 2/07 R, BSGE 100, 77; in der GKV: BSG v. 30.9.2015 – B 12 KR 15/12 R, BSGE 120, 23. 14 Für eine „konstitutionellen Verbriefung“ der Zweckbindung und Zwecksicherung von Beiträgen Kirchhof, NZS 2015, 1 (8); zur „Flucht des Steuerstaates in den Sozialstaat“ vgl. Leisner, NZS 1996, 97 (102).

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regeln, ob und in welchem Umfang dieses oder einzelne Komponenten als Bemessungsgrundlage heranzuziehen sind. Insoweit knüpfen beide Abgabenarten im Ausgangspunkt an dieselben Tatsachen (ökonomisches Einkommen) an. Das EStG nimmt eine Unterteilung in sieben Einkunftsarten vor (§ 2 Abs. 1 EStG), die sich mit den Anknüpfungskriterien des Sozialrechts, insbesondere der Sozialversicherung in den §§  14  ff. SGB  IV (Arbeitsentgelt, Arbeitseinkommen, Gesamteinkommen, sonstige Einkünfte) textlich, aber auch materiell-rechtlich nur zum Teil decken. Im Einkommensteuerrecht schließt sich nach der Ermittlung der Einkünfte eine zweite Stufe an, auf der bestimmte, für die Steuerzahlung indisponible Einkommensverwendungen ausgeschieden werden sollen15. Zu berücksichtigende Posten der nichtdisponiblen Einkommensverwendung sind insbesondere private Abzüge wie der Altersentlastungsbetrag, Sonderausgaben (u.a. Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung, § 10 Abs. 1 Nr. 2 a und Nr. 3 EStG), außergewöhnliche Belastungen, Freibeträge und sonstige vom Einkommen abzuziehende Beträge (u.a. Werbungskosten, § 9 EStG). Diese Abzüge sind im Steuerrecht zugleich Ausdruck des Prinzips der Leistungsfähigkeit. Letzteres dient der Verwirklichung des sog. objektiven Nettoprinzips, nach dem nur die „Netto-Einkünfte“ zu besteuern sind. Was der Steuerpflichtige aufzuwenden hat, um Einnahmen zu erzielen, was er z.B. im Zusammenhang mit seiner Erwerbstätigkeit an Werbungskosten aufwendet, ist insoweit nicht disponibel und daher dem Zugriff der Besteuerung ebenso entzogen16 wie das verfassungsrechtliche Existenzminimum17. Demgegenüber gehen in der Sozialversicherung das Arbeitsentgelt, das Arbeitseinkommen, das Gesamteinkommen (§§  14–16 SGB  IV) oder „Einnahmen“ (§  240 SGB V) als Bruttogrößen in die Beitragsbemessungsgrundlage ein, allerdings nur bis zu bestimmten Beitragsbemessungsgrenzen, die wiederum dem Steuerrecht fremd sind. Sonderausgaben, Werbungskosten oder Freibeträge etc. werden beim Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen nicht berücksichtigt18. Ebenso wenig fragt die Sozialversicherung danach, ob dem Versicherten nach Abzug seiner Arbeitnehmeranteile vom Lohn noch das verfassungsrechtlich verbürgte Existenzminimum verbleibt19.

15 Vgl. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 40 ff.; Weber-Grellet in Schmidt, 35. Aufl. 2016, § 2 EStG Rz. 10, 11. 16 Weber-Grellet in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 2 EStG Rz. 10; Loschelder in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 9 EStG Rz. 1. 17 Zum verfassungsrechtlichen Existenzminimum vgl. BVerfG v. 13.2.2008  – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 Rz. 104 ff. m.w.N. 18 Zum Nettoprinzip z. B. beim Berufsschadensausgleich vgl. § 30 Abs. 6 BVG – ohne Berücksichtigung Pauschalierungen privater Abzüge, vgl. § 30 Abs. 8 BVG. 19 Vgl. BSG v. 23.6.1994 – 12 BK 7/94, Die Beiträge 1994, 637 Rz. 4 sowie BSG v. 21.3.2007 – B 11a AL 15/06 R, SozR 4-2400 § 25 Nr. 1 Rz. 20 im Hinblick auf das Existenzminimum von Arbeitnehmern.

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4. Motive und Ausmaß der Anleihen des Sozialrechts beim Steuerrecht Der Grund für „Anleihen“ des Sozialrechts beim Steuerrecht wird hauptsächlich darin zu finden sein, dass vor allem die Sozialversicherung weitestgehend auf einen eigenen Verwaltungsapparat zur Feststellung und zum Einzug bzw. zur Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge verzichten möchte; stattdessen bedient sie sich zumindest teilweise der Dienste Dritter (Arbeitgeber) oder setzt auf den Feststellungen der Finanzämter auf: –– Soweit es um die Beiträge von Arbeitnehmern auf das Arbeitsentgelt geht, nimmt die Sozialversicherung die Arbeitgeber zur Ermittlung und Abführung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages in Dienst (vgl. zum Lohnabzugsverfahren § 28e Abs. 1 SGB IV). Um den damit verbundenen Aufwand und die Kosten für die Arbeitgeber in Grenzen zu halten, liegt es angesichts der Parallelen zur Erhebung der Lohnsteuer nahe, bei den Verfahren zur Abführung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages einen gewissen Gleichlauf mit dem Lohnsteuerverfahren (§§ 41-42g EStG) anzustreben20. Das Beitragsrecht nimmt folglich zur näheren Bestimmung des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts partiell Bezug auf Vorschriften des Steuerrechts und ordnet z.B. an, dass bestimmte nach § 3 EStG steuerfreie Einnahmen, pauschal besteuerte Zuwendungen oder Beiträge nicht zum Arbeitsentgelt zählen (vgl. §§ 14, 17 SGB IV i.V.m. § 1 SvEV). Diese Entgeltkomponenten sind damit nicht beitragspflichtig, gehen andererseits aber auch nicht in die Bemessungsgrundlage etwaiger Sozialleistungen ein, werden also z.B. nicht „rentenwirksam“21. Näher dazu II. –– Selbständige haben Beiträge auf ihr Arbeitseinkommen selbst an die Träger der Sozialversicherung zu zahlen, rechtzeitig und vollständig (sog. Selbstzahler). Um auch insoweit ohne großen eigenen Verwaltungsaufwand zu einer praktikablen und effizienten Beitragserhebung zu kommen, nimmt die Sozialversicherung für das Arbeitseinkommen Selbständiger eine sehr weitgehende dynamische Verweisung auf den Gewinn aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbetrieb sowie selbständiger Arbeit vor. Näher dazu III. –– Besondere Fragen und Probleme werfen Normen auf, die wie beim Arbeitseinkommen (§ 15 SGB IV) durch einen Verweis auf das Steuerrecht klar konturierte Begriffe im Hinblick auf sozialpolitisch nicht gewünschte Ergebnisse zum Teil wieder zurücknehmen und durch eigene Begrifflichkeiten ersetzen, wie dies etwa bei dem auf Witwen- und Witwerrenten anzurechnenden Einkommen der Fall ist (vgl. § 18a SGB IV, dazu IV 2 c). Steuerrechtliche Fragen wirft auch die Beitragsbemessung freiwilliger Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf, die sicherstellen muss, dass „die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche 20 Wörtlich die Gesetzesbegründung zu § 14 SGB IV, BT-Drucks. 7/4122, 32: „um den Abzug von Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträgen in den Betrieben zu erleichtern“; vgl. auch Reiter in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 545 (549); keine Geltung des Nettoprinzips bei den Einnahmen nach §  240 SGB  V vgl. BSG v.28.5.2015  – B 12 KR 12/13 R, SozR 4-2500 § 240 Nr. 26. 21 §§ 64, 66, 70 Abs. 1 SGB VI.

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Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds berücksichtigt“ (§  240 Abs.  1 Satz  2 SGB V). Angesichts dieser für ein Fundamentalprinzip des Steuerrechts typischen Formulierung läge es nahe, hier ebenfalls auf die vom Finanzamt ermittelte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zurückzugreifen. Da die GKV im Hinblick auf die Beitragshöhe jedoch keine Besserstellung von freiwilligen Mitgliedern gegenüber Pflichtmitgliedern, insbesondere gegenüber Arbeitnehmern duldet, scheidet z.B. die Berücksichtigung von Werbungskosten und sonstigen Abzugsposten (vgl. § 2 Abs. 3–5 EStG)22 und damit eine weitgehende Bezugnahme auf den Steuerbescheid aus. 5. Distanz bei Statusfragen Steuerrecht und Sozialversicherungsrecht verwenden hinsichtlich der Bemessungs­ grund­lagen zwar ähnliche Begrifflichkeiten (vgl. z.B. „Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit“ in § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG / „Arbeitsentgelt … aus der Beschäftigung“ in § 14 Abs. 1 SGB IV, „Einkünfte aus selbständiger Arbeit“ in § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG / „Arbeitseinkommen  … aus einer selbständigen Tätigkeit“ in §  15 Abs.  1 SGB IV) bis hin zu der Formulierung „Beschäftigung ist die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis“ (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV)23. Dennoch ist der Erkenntnisgewinn aus der Zuordnung von Einnahmen zu den Einkunftsarten des § 2 Abs. 1 EStG gering, wenn es um Statusfragen, also darum geht zu klären, ob eine bestimmte Person in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung als abhängig Beschäftigter i.S.v. § 7 Abs. 1 SGB IV oder als Selbständiger anzusehen ist (vgl. dazu III 1 und 3a). Die Sozialversicherung lässt sich bei der Frage, wer der Versicherungspflicht unterliegt, durch die steuerrechtlich maßgeblichen Zuordnungskriterien kaum beein­ drucken; erst auf der zweiten Stufe, wenn feststeht, dass ein Steuerpflichtiger als abhängig Beschäftigter oder (ausnahmsweise) als Selbständiger versicherungs- und beitragspflichtig ist bzw. als freiwillig Versicherter Beiträge zu zahlen hat, nimmt das Sozialversicherungsrecht zur Bestimmung der Beitragsbemessungsgrundlage teilweise Bezug auf steuerrechtliche Normen. Und umgekehrt betonen der BFH sowie die steuerrechtliche Literatur, dass der arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Statusbeurteilung für das Steuerrecht allenfalls eine Indiz­wirkung zukomme, weil sich der steuerrechtliche Arbeitnehmerbegriff nicht mit dem des Arbeits- und Sozialrechts decke24. Die Tatbestandswirkung

22 Zur deshalb umfangreichen Kasuistik vgl. Bernsdorff in Schlegel/Voelzke, jurisPK SGB V, § 240 Rz. 16 ff. 23 Vgl. Immich, Rechtsprobleme der Einkommensvorschriften und -begrifflichkeiten im Sozialversicherungsrecht, Diss. 2013; Hinz, Einkommensteuerrecht und Sozialrecht – Gegensätzlichkeit und Nähe, Diss. 2004. 24 Vgl. BFH v. 8.5.2008 – VI R 50/05, BFHE 221, 157 = BStBl. II 2008, 868; Hey in Tipke/ Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 470 f.; Krüger in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 19 EStG Rz. 21; Lang in DStJG 9 (1986), S. 15 (24 ff.); Bergkemper, FR 2009, 42 (43).

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der Entscheidungen der Sozialversicherungsträger beschränke sich auf sozialversicherungsrechtliche Frage­stellungen25.

II. Einflüsse des Steuerrechts auf die Bestimmung des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts bei abhängig Beschäftigten 1. Grundlagen und Gemeinsamkeiten a) Versicherungspflicht und Gesamtsozialversicherungsbeitrag Beschäftigte, die gegen Arbeitsentgelt tätig sind, unterliegen grundsätzlich in allen Zweigen der Sozialversicherung (Kranken-, Pflege-, Renten-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung) der Versicherungspflicht. Beschäftigung ist die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV)26. Sind die Beschäftigten nicht ausnahmsweise z.B. als Beamte oder wegen zeitgeringfügiger Beschäftigung versicherungsfrei, müssen für sie Beiträge (zumindest) aus dem Arbeitsentgelt als sog. Gesamt­sozial­versiche­rungs­beitrag gezahlt werden (§ 28d SGB IV)27. Handelt es sich um eine entgeltgeringfügige Beschäftigung, ist das Arbeitsentgelt ebenfalls Bemessungs­grundlage für die vom Arbeitgeber allein zu tragenden und zu zahlenden Pauschalbeiträge zur Kranken- und ggf. Rentenversicherung28. Das Arbeitsentgelt ist damit ein zentraler Begriff für die gesamte Sozialversicherung. b) Bruttolohn Ausgangspunkt von Verweisungen des Sozialrechts in das Steuerrecht ist der Umstand, dass der Bruttolohn abhängig Beschäftigter, den § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und § 19 EStG als „Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit“ und § 14 SGB IV29 als „Arbeitsentgelt“ bezeichnen, seit jeher sowohl zur Berechnung der Einkommen- bzw. Lohnsteuer als auch zur Feststellung der Beitragspflicht in der Sozialversicherung herangezogen wird. Die genannten Vorschriften sind zwar nicht wortgleich, zielen aber 25 Vgl. BFH v. 6.2.2012  – VI B 110/11, BFH/NV 2012, 946; v. 21.1.2010  – VI R 52/08, BFHE 228, 295 = BStBl. II 2010, 703; Krüger in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 19 EStG Rz. 21 m.w.N. 26 Zur Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft und zum Typus Beschäftigung vgl. stellvertretend BSG v. 16.8.2017 – B 12 KR 14/16 R, juris Rz. 17; BSG v. 29.8.2012 – B 12 KR 25/10 R, BSGE 111, 257 und BVerfG v. 20.5.1996 – 1 BvR 21/96, SozR 3-2400 § 7 Nr. 11; zum Ganzen Schlegel in Küttner, Personalbuch, 25. Aufl. 2018, Arbeitnehmer (Begriff) C.; Segebrecht in Schlegel/ Voelzke, jurisPK SGB IV, § 7 Rz. 22 ff. 27 Bemessungsgrundlage Arbeitsentgelt: §§ 341, 342 SGB III; § 226 SGB V; § 162 SGB VI, § 153 SGB VII; § 57 SGB XI. 28 § 249b SGB V und § 172 Abs. 3 SGB VI; dazu Schlegel in Küttner, Personalbuch, 25. Aufl. 2018, Geringfügige Beschäftigung C III 3 Rz. 51 ff., 58 ff. 29 § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV: „(1) Arbeitsentgelt sind alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden“.

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auf alle Zuwendungen ab, die abhängig Beschäftigte (so § 7 Abs. 1 SGB IV) bzw. Personen (Arbeitnehmer) als Gegenleistung für ihre „nichtselbständige Arbeit“ (so § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, § 19 EStG) von ihrem Beschäftigungsgeber verlangen können. c) Indienstnahme des Arbeitgebers Sowohl das Steuerrecht als auch die Sozialversicherung nehmen die Arbeitgeber in erheblichem Umfang in Dienst, soweit es darum geht, in einem höchst effizienten Quellenabzugsverfahren auf Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit Lohnsteuer an die Finanzämter bzw. auf das Arbeitsentgelt Gesamtsozialversicherungsbeiträge an die Einzugsstellen abzuführen30. Die Arbeitgeber prüfen, ob nichtselbständige Arbeit bzw. abhängige Beschäftigung vorliegt, ob Lohnsteuer- sowie Versicherungs- und Beitragspflicht besteht, welche Entgeltbestandteile in die Bemessungsgrundlage eingehen und wie hoch die konkrete Lohnsteuer bzw. der Gesamtsozialversicherungsbeitrag ist. Sodann behalten sie im Lohnabzugsverfahren die Lohnsteuer bzw. den Arbeitnehmeranteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag ein und führen die ermittelten Beiträge nebst entsprechender Meldung (Beitragsnachweis) an das Finanzamt bzw. an die für den jeweiligen Arbeitnehmer zuständige Einzugsstelle ab (vgl. §§  38  ff.  EStG, §§  28d  ff. SGB  IV). Der Verwaltungsaufwand der Finanzbehörden und der Sozialversicherungsträger besteht im Wesentlichen in der mit vergleichsweise sehr wenig Personal auskommenden31 Kontrolle des Arbeitgebers bei Betriebsund Außenprüfungen (§ 42f EStG; § 28p SGB IV). Der Arbeitgeber erhält für seine Indienstnahme keine Vergütung, obgleich er mit der „Steuererhebung“ und dem „Beitragseinzug“ im Ergebnis Aufgaben wahrnimmt, die in die Sphäre des Staates fallen32. Angesichts des Arbeitsaufwandes, der rechtlichen Schwierigkeit und Komplexität, die mit dieser Indienstnahme der Arbeitgeber verbunden sind, lag und liegt es nahe, zumindest für einen gewissen Gleichlauf zwischen dem Lohnsteuerabzug und der Abführung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags zu sorgen, um die Last der Arbeitgeber in Grenzen zu halten.

30 Zur Indienstnahme der Arbeitgeber vgl. Schlegel, FS 50  Jahre BSG, 2004, S.  265; BSG v. 16.8.2017 – B 12 KR 19/16 R, Rz. 19; zur Risikobegrenzung durch ausnahmsweise förmliche Entscheidung der Einzugsstelle über die Versicherungs- und Beitragspflicht eines Arbeitnehmers vgl. BSG v. 27.1.2000 – B 12 KR 10/99 R, SozR 3-2400 § 28h Nr. 11 Rz. 21. 31 2017 waren bei den Rentenversicherungsträgern 60.866 Personen beschäftigt, davon 3.170 als Betriebsprüfer (Rentenversicherung in Zeitreihen 2017  – DRV-Schriften Band  22  – Sonderausgabe des DRV) , bei den Krankenkassen 146.077 Personen, davon 20.170 im GKV-Beitragseinzug (KG 1-Statistik – Veröffentlicht unter Gesundheitsberichterstattung des Bundes, www.gbe-bund.de.) Nach Mitteilung des Bürgerreferats des BMF v.12.1.2018 waren zum 31.12.2016 in der Steuerverwaltung insgesamt 106.603 Personen beschäftigt (davon 99.605 bei Finanzämtern) und als Prüfer insgesamt 20.391 Personen tätig (davon 13.746 Betriebsprüfer, 2033 Lohnsteuer-Außenprüfer, 1.873 Umsatzsteuer-Sonderprüfer und 2.739 Fahndungsprüfer). 32 Vgl. BVerfG v. 17.2.1977  – 1 BvR 33/76, BVerfGE 44, 103; v. 17.3.2014  – 2 BvR 736/13, NJW 2014, 1723 Rz. 22.

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2. Strenge Akzessorietät des Beitragsrechts zum Steuerrecht in der Zeit von 1944 bis 1976 a) Der „Gemeinsame Erlaß“ vom 10. September 1944 Für einen sehr weitgehenden Gleichlauf zwischen Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeitrag hatte der „Gemeinsame Erlaß“ von Reichsarbeits- und Reichsfinanzminister zur weiteren Vereinfachung des Lohnabzugs vom 10. September 1944 gesorgt. Dieser Erlass bestimmte: „Die Beiträge zur Sozialversicherung sind grundsätzlich von dem Betrag zu berechnen, der für die Berechnung der Lohnsteuer maßgebend ist“33. Um jeden Zweifel auszuräumen, bestimmte ein weiterer Erlass vom 24. Oktober 194434, dass Lohnbezüge, die nach dem „Gemeinsamen Erlaß“ bei der Berechnung der Beiträge außer Ansatz bleiben, nicht als Entgelt i.S.d. Sozialversicherung anzusehen sind. Damit wurde der bis 1944 eigenständige Entgeltbegriff des Sozialversicherungsrechts aufgegeben35 und zugleich z.B. das Zuflussprinzip an die Stelle des „Entstehungsprinzips“ gesetzt36. b) Gehorsam und „Lockerungsübungen“ des BSG Das BSG hat die Verbindlichkeit dieses Erlasses auch unter der Geltung des GG zunächst vorbehaltlos anerkannt, später aber die strenge Bindung des Beitragsrechts an das Steuerrecht gelockert37 und speziell hinsichtlich des Zuflußprinzips Korrekturen vorgenommen. Bei strikter Anwendung dieses steuerlichen Prinzips konnte es im Hinblick darauf, dass in der Sozialversicherung der Lohn im Monat seiner Auszahlung nur bis zur monatlichen Beitragsbemessungsgrenze beitragspflichtig war, durch Wahl des Zahlungszeitpunkts zu gezielter „Beitragsersparnis“ und letztlich zu Manipulationen kommen. Deutlich wurde auch, dass etwa bei Nichtzahlung von Lohn gewichtige Nachteile in der Versicherungsbiografie entstehen konnten38, bis hin zum Nichteintritt der Versicherungspflicht und damit zum Verlust des Versicherungsschutzes. Erst recht konnte es nach Ansicht des BSG nicht angehen, dass die Pauschalbesteuerung von Bezügen etwa kurzzeitig oder in Teilzeit Beschäftigter (§ 40a EStG) dazu führte, dass klassische Arbeitnehmer nicht mehr der Sozialversicherungspflicht und damit dem vorgesehen Schutzkonzept unterfielen39. 33 Gemeinsamer Erlass v. 10.9.1944, RABl. II 1944, 281 i.V.m § 19 der 2. Lohnabzugsverordnung v. 24.4.1942, RGBl. I 1942, 252. 34 Amtliche Nachrichten 1944, 302. 35 Vgl. BSG v. 25.11.1964 – 3 RK 32/606, BSGE 22, 106; v. Altrock, SGb 1960, 33. 36 Vgl. z.B. Reichsversicherungsamt Entscheidung Nr. 5193, AN 1938, 193 (194); RVA Entscheidung Nr. 3948, AN 1931, 34. 37 BSG v. 20.12.1961 – 3 RK 65/57, BSGE 16, 98; v. 18.3.1966 – 3 RK 85/63, BSGE 24, 281. 38 BSG v. 17.12.1964 – 3 RK 74/60, BSGE 22, 162: rückwirkende Lohnerhöhung; v. 1.3.1978 – 12 RK 31/76: später gezahlte Zulagen; v. 26.10.1982 – 12 RK 8/81, BSGE 54, 136: bei Fälligkeit nicht gezahlter Lohn. 39 BSG v. 24.6.1969  – 3 RK 57/68, BSGE 29, 275: Beitrags- und Sozialversicherungspflicht kurzfristig Beschäftigter trotz Pauschalversteuerung ihrer Bezüge; ähnlich v. 23.11.1971 – 3 RK 92/68, SozR Nr. 5 zu § 441 RVO; v. 12.11.1975 – 3/12 RK 22/74, SozR 2200 § 160 Nr. 3; v.12.11.1975 – 3/12 RK 8/74, BSGE 41, 16: pauschal versteuerte Bezüge Teilzeitbe-

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3. Eigenständiger Entgeltbegriff der Sozialversicherung seit 1977 a) Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung Mit Inkrafttreten des SGB IV am 1. Juli 1977 wurde der Begriff des Arbeitsentgelts, d.h. der Einnahmen aus abhängiger Beschäftigung, für alle Zweige der Sozialversicherung in § 14 SGB IV neu definiert. Der „Gemeinsame Erlaß“ (und mit ihm die strenge Akzessorietät des Beitragsrechts zum Lohnsteuerrecht) wurde förmlich aufgehoben40 und  – so die Gesetzes­begründung  – „dessen unbefriedigende Regelung beseitigt, wonach sich steuerrechtliche Entscheidungen immer und unmittelbar auf die Sozialversicherung auswirken, obwohl Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zum Teil unterschiedliche Funktionen haben“41. b) Entstehungsprinzip statt Zuflussprinzip Während im Steuerrecht nach dem Zuflussprinzip nur Einkünfte steuerpflichtig sind, die dem Arbeitnehmer tatsächlich zugeflossen sind42, entsteht der Anspruch auf den Gesamtsozialversicherungsbeitrag in dem Zeitpunkt, zu dem der Anspruch auf das dem Beitrag zugrunde liegende laufende Arbeitsentgelt entsteht, d.h. im Zeitpunkt der Arbeitsleistung (vgl. §  22 SGB  IV). Das bedeutet: Zahlt der Arbeitgeber das Arbeitsentgelt nicht (z.B. aufgrund einer tariflichen Ausschlussklausel)43 oder nicht in voller Höhe (z.B. untertarifliche Bezahlung)44, beginnt die Versicherungspflicht und entsteht der Beitragsanspruch auch ohne Zufluss des Arbeitsentgelts, und zwar bemessen nach dem Arbeitsentgelt, das dem Arbeitnehmer nach Gesetz, Tarifoder Arbeitsvertrag zusteht. So bleibt etwa das von einem Arbeitgeber an seinen Ehegatten gezahlte Arbeitsentgelt, aus dem Beiträge nachgewiesen und gezahlt worden waren, auch insoweit beitragspflichtig, als es vom Finanzamt später ggf. nicht in vollem Umfang als Betriebsausgabe anerkannt wird45. Demgegenüber ist die Geltung des Zuflussprinzips im Beitragsrecht ausnahmsweise für Einmalzahlungen angeordnet. Beiträge auf Einmalzahlungen entstehen erst, wenn Einmalzahlungen bestimmten Entgeltabrechnungszeiträumen zugeordnet werden können, was dann der Fall ist, wenn sie gezahlt worden sind (vgl. § 23a Abs. 1 Satz 3

schäftigter; anders, soweit es nicht um die Versicherungspflicht, sondern nur um die Beitragshöhe ging, vgl. BSG v. 22.8.1969 – 3 RK 85/66, BSGE 30, 57: Pauschalversteuerung verbilligter Flüge an Beschäftigte eines Luftfahrtunternehmens. 40 Vgl. Art 2 § 21 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 des SGB IV, BGBl. I 1976, 3845 (3870). 41 Vgl. Begründung des Gesetzentwurfs zu § 17 SGB IV, BT-Drucks. 7/4122, 33. 42 § 11 Abs. 1 Satz 1 EStG; Loschelder in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 19 EStG Rz. 76. 43 BSG v. 30.8.1994 – 12 RK 59/92, BSGE 75, 61; v. 14.7.2004 – B 12 KR 1/04 R, BSGE 93, 119. 44 BSG v. 14.7.2004 – B 12 KR 1/04 R, SozR 4-2400 § 22 Nr. 2; zum Anspruch auf Equal Pay und entsprechender Beiträge bei Unwirksamkeit der Arbeitnehmerüberlassung bzw. eines Leiharbeitnehmer-TV vgl. CGZP-Fälle BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, BAGE 136, 302; BSG v. 18.1.2018 – B 12 R 3/16 R; Schlegel, NZA 2011, 380. 45 BSG v. 21.5.1996 – 12 RK 64/93, SozR 3-2500 § 226 Nr. 2; weitere Beispiele vgl. Schlegel in Küttner, Personalbuch, 25. Aufl. 2018, Lohnzufluss C 3 Rz. 22 ff.

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SGB IV)46. Ebenso sind Arbeitsentgelte aus Arbeitszeitguthaben erst mit ihrer Auszahlung zu verbeitragen (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB IV). c) Beitragsbemessungsgrenzen versus unbegrenzte Steuerpflicht Während das zu versteuernde Einkommen ohne Limitierung in die Bemessungsgrundlage eingeht und einem (linear)progressiven Einkommensteuertarif unterworfen wird (§ 32a Abs. 1 EStG), werden auf beitragspflichtige Einnahmen (Arbeitsentgelt, Arbeitseinkommen, Renten etc.) lineare Beitragssätze47 nur bis zur jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze48 angewandt. Progessionsähnliche Wirkungen für den Arbeitnehmer erzeugt in der Sozialversicherung lediglich die Gleitzonenformel für sog. Midijobs (vgl. § 20 Abs. 2 SGB IV)49. d) Veranlagungszeitraum: Monatsprinzip statt Kalenderjahr Ist im Steuerrecht der Veranlagungszeitraum das Kalenderjahr, in dem der Steuerpflichtige das Einkommen bezogen hat, stellt die Sozialversicherung auf den Kalendermonat als maßgeblichen Beitragsbemessungszeitraum ab50. Zwar werden neben den Monatswerten auch hier Jahreswerte für Bezugsgröße, Beitragsbemessungsgrenzen und Jahresarbeitsentgeltgrenzen festgesetzt. Maßgeblich für die Zuordnung von Beiträgen sind jedoch die einzelnen Kalendermonate, für die sie zu entrichten sind. Überschreitet das laufende Arbeitsentgelt allein oder ggf. ­zusammen mit einer Einmalzahlung (Weihnachtsgeld etc.) oder einer Nachzahlung in einem bestimmten Entgeltabrechnungszeitraum die monatliche Beitragsbemessungsgrenze, ist es mit dem über diese Grenze hinausgehenden Anteil beitragsfrei. Dies gilt auch dann, wenn frühere oder spätere Abrechnungszeiträume nicht bis zur Beitragsbemessungsgrenze mit Beiträgen belegt sind. Eine weitergehende Verteilung 46 Zur Gesetzesbegründung vgl. BT-Drucks.13/5062, 7 zu Art.  1 Nr.  2 mit Verweis auf die vorhergehenden Regelungen in § 164 SGB VI und § 227 SGB V; grundlegend zum Zuflussprinzip BSG v. 14.7.2004 – B 12 KR 7/04 R, SozR 4-2400 § 22 Nr. 2. 47 GKV: allg. Beitragssatz 14,6  % (vgl. §  241 SGB  V, weitere spezielle Beitragssätze vgl. §§  242a  ff. SGB  V); gesetzliche Rentenversicherung: 18,6  % in der allg. Rentenversicherung, 24,7 % in der knappschaftlichen Rentenversicherung (vgl. § 158 SGB VI i.V.m. Beitragssatzverordnung v. 18.12.2017, BGBl. I, 3976); Arbeitslosenversicherung: 3 % (vgl. § 341 Abs. 2 SGB III); soziale Pflegeversicherung: 2,55 % (vgl. § 55 Abs. 1 SGB XI). 48 GKV und soziale Pflegeversicherung: 53.100 Euro in 2018 (vgl. § 223 SGB V, § 55 SGB XI), Arbeitslosen- und allg. Rentenversicherung: jährlich 78.000  Euro, monatlich 6.500  Euro (West) / jährlich 69.600 Euro, monatlich 5.800 Euro (Ost) in 2018 (vgl. § 159 SGB VI, § 341 Abs. 4 SGB III i.V.m. VO v. 16.11.2017, BGBl. I, 3778) und knappschaftliche Rentenversicherung: jährlich 96.000, monatlich 8.000 Euro (West) / jährlich 85.800 Euro, monatlich 7.150 Euro (Ost) in 2018 (vgl. § 159 SGB VI i.V.m. VO v. 16.11.2017, BGBl. I, 3778). 49 Vgl. § 344 Abs. 4 SGB III, § 226 Abs. 4 SGB V, § 163 Abs. 10 SGB VI, dazu Schlegel in Küttner, Personalbuch, 25. Aufl. 2018, Minijob Rz. 6 ff.; Schlegel in Schlegel/Voelzke, jurisPK SGB IV, § 20 Rz. 36 ff. 50 BSG v. 5.12.2017 – B 12 R 6/15 R zu unständig Beschäftigten.

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auf frühere Zeitabschnitte (Abrechnungszeiträume) als diejenigen, in denen das (nachgezahlte) Entgelt erarbeitet wurde, findet bei laufendem Arbeitsentgelt nicht statt. Eine Ausnahme gilt nur für Einmalzahlungen; diese sind, wenn sie im Monat ihrer Auszahlung zusammen mit dem laufenden Arbeitsentgelt die Beitragsbemessungsgrenze übersteigen, insoweit auch auf zurückliegende Entgeltabrechnungszeiträume zu verteilen, als diese noch nicht bis zur Beitragsbemessungsgrenze mit Beiträgen belegt sind (vgl. § 23a Abs. 3 und Abs. 4 SGB IV)51. Laufendes Arbeitsentgelt ist somit auch dann dem Kalendermonat seiner Erarbeitung zuzuordnen, wenn es ganz oder teilweise erst nach dem Abrechnungszeitraum gezahlt wird52. e) Eigenständige Prüfung steuerrechtlicher Fragen durch die Träger der ­Sozialversicherung und der Sozialgerichte Aus verfahrens- und prozessrechtlicher Sicht verneint das BSG im Beitragsrecht eine Bindung von Verwaltung und Gerichten an die Beurteilung der Lohnsteuerpflicht durch die Finanzbehörden. Die Träger der Sozialversicherung haben danach bei ihrer Entscheidung über die Beitragspflicht vielmehr die materiell-rechtlichen Vorfragen der Lohnsteuerpflicht selbst zu prüfen, wobei allerdings der Beurteilung der Lohnsteuerpflicht durch die Finanzbehörden eine starke Indizwirkung zukomme53. Das BSG folgt – auch ohne förmliche Bindung an die Entscheidungen der Finanzbehörden – zu Recht der Rspr. des BFH, wenn es darum geht, Vorschriften des EStG auszulegen und zur Bestimmung der Beitragspflicht die Voraussetzungen der Steuerfreiheit zu prüfen54. Wird die Rspr. des BFH durch Nichtanwendungserlasse der Finanzverwaltung unterlaufen, würde sich das BSG dennoch nicht davon abhalten lassen, der Rspr. des BFH zu folgen, zumal es auch den Abreden der Spitzenverbände der Sozialversicherung in „Besprechungsergebnissen“ zu einem bestimmten Vorgehen bzw. einer bestimmen Auslegung, keine Verbindlichkeit beimisst55.

51 Vgl. dazu BVerfG v. 11.1.1995 – 1 BvR 892/88, BVerfGE 92, 53. 52 BSG v. 27.10.1989 – 12 RK 9/88, BSGE 66, 34 (41 ff.); v. 15.5.1984 – 12 RK 28/83, SozR 2200 §  385 Nr.  9: Akkordspitzen; v. 24.8.2017  – B 11 AL 16/16 R zur Berücksichtigung nachgezahlten Lohnes auch bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes. 53 BSG v. 28.4.1964 – 3 RK 70/59, BSGE 21, 48; v. 11.7.1967 – 3 RK 1/64, SozR Nr. 23 zu § 160 RVO. 54 BSG v. 7.5.2014 – B 12 R 18/11 R, BSGE 115, 295 im Anschluss an BFH v. 24.9.2013 – VI R 48/12, BFH/NV 2014, 341 Rz. 15; v. 8.12.2011 – VI R 18/11, BFHE 236, 97. 55 BSG v. 18.12.2013 – B 12 R 2/11, SozR 4-244 § 23a Nr. 7: Fahrvergünstigungen, Freifahrten.

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4. Feinjustierung des Arbeitsentgelts – Sozialversicherungs­entgelt­ verordnung (SvEV) Die Verordnungsermächtigung des § 17 SGB IV lässt neben der Wertfestsetzung von Sachbezügen auch Regelungen zur Ermittlung und zeitlichen Zurechnung des Arbeitsentgelts, des Arbeitseinkommens und des Gesamteinkommens zu. Sie erlaubt es weiter festzulegen, dass Beiträge an Direktversicherungen und Zuwendungen an Pensionskassen oder Pensionsfonds ganz oder teilweise nicht als Arbeitsentgelt gelten und zusätzlich zu Löhnen und Gehältern gezahlte einmalige Einnahmen oder laufende Zulagen, Zuschläge oder ähnliche Einnahmen sowie steuerfreie Einnahmen ganz oder teilweise ebenfalls nicht als Arbeitsentgelt einzuordnen sind. Die Bundesregierung hat von der Ermächtigung des §  17 SGB  IV zunächst durch Erlass der ­Arbeitsentgeltverordnung (ArEV)56 und der Sachbezugsverordnung (SachBezV)57 Gebrauch gemacht und ab 1. Januar 2007 beide Verordnungen in der SvEV58 zusammengefasst. Das BSG sieht, dass mit der Formulierung des § 17 SvEV „zur Wahrung der Belange der Sozialversicherung und der Arbeitsförderung, zur Förderung der betrieblichen Altersversorgung und zur Vereinfachung des Beitragseinzugs“59 widerstreitende Ziele genannt sind und räumt ein, dass dem Verordnungsgeber ein gewisser Spielraum eingeräumt werde, der die Berücksichtigung verschiedener Interessen (z.B. der betrieblichen Altersversorgung) ermögliche, sodass es letztlich um die „Abwägung sozialpolitischer und verwaltungspraktischer Gesichtspunkte“ gehen könne60. Gleichwohl sei die Verordnungsermächtigung auch ohne konkretere Angabe der zu verfolgenden Zwecke i.S.v. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG noch hinreichend bestimmt61. a) Wertermittlung für Sachbezüge und geldwerte Vorteile Gewährt der Arbeitgeber als Sachbezüge Wohnung, Frühstück, Mittag- oder Abendessen, erfolgt deren Bewertung durch die sozialversicherungsrechtliche Norm des § 2 SvEV. Diese Werte gelten auch für die Lohnsteuer (vgl. § 8 Abs. 2 Sätze 6-9 EStG). Demgegenüber ist für sonstige Sachbezüge auch für das Beitragsrecht auf die im Steuerrecht angesetzten Werte abzustellen (vgl. § 3 SvEV); dies gilt z.B. für den geldwerten Vorteil der privaten Nutzung eines betrieblichen Kfz oder für sonstige Belegschaftsrabatte (z.B. Haustrunk etc.)62. Hat die Oberfinanzdirektion für bestimmte Sachbezüge feste Durchschnittswerte angesetzt, sind diese zugleich für das Beitrags-

56 Arbeitsentgeltverordnung v. 6.7.1977, BGBl. I, 1208. 57 Sachbezugsverordnung v. 28.12.1977, BGBl. I, 3156. 58 Sozialversicherungsentgeltverordnung v. 21.12.2006, BGBl. I, 3385. 59 Vgl. § 17 Abs. 1 Satz 1 SGB IV. 60 Vgl. auch die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 17 SGB IV, BT-Drucks. 7/4122, 33. 61 BSG v. 24.6.1987 – 12 RK 6/84, BSGE 62, 54 (57 f.). 62 Vgl. § 3 Abs. 1 Satz 3 SvEV, § 8 Abs. 2 Satz 2, 3, 4, 5 oder Abs. 3 Satz 1 EStG; zum Ganzen vgl. Werner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., § 14 Rz. 108 ff.

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recht maßgeblich63. Von der Wertermittlung zu unterscheiden ist die Frage, ob und ggf. in welcher Höhe entsprechende Vorteile wegen Steuerfreiheit oder Pauschalbesteuerung nicht dem (beitragspflichtigen) Arbeitsentgelt zuzurechnen sind. b) Lohnsteuerfreiheit und Pauschalbesteuerung – Allgemeines §  1 SvEV stellt durch ausdrückliche Nennung oder durch die Bezugnahme auf (i.S. eines Numerus clausus) einzelne, bestimmte Vorschriften des EStG für Zuwendungen, Zahlungen etc. den Grundsatz auf, dass diese Entgeltkomponenten ganz oder in bestimmtem Umfang nicht dem Arbeitsentgelt abhängig Beschäftigter zuzurechnen und damit beitragsfrei sind, wenn und soweit sie lohnsteuerfrei sind oder vom Arbeitgeber pauschal versteuert werden. Zum Teil nimmt die SvEV (wie z.B. bei Sonntagszuschlägen) wieder eine Begrenzung der Fiktion „Lohnsteuerfreiheit / Pauschalbesteuerung = kein Arbeitsentgelt“ vor64, sodass der angestrebte Gleichlauf zwischen Lohnsteuer- und Beitragsrecht und damit ein Vereinfachungseffekt für den Arbeitgeber ausbleibt bzw. relativiert wird. Unverkennbar und zugleich rechtspolitisch fragwürdig ist die in mehreren Vorschriften zum Ausdruck kommende Tendenz, Beiträge und Zuwendungen zum Aufbau einer betrieblichen Altersvorsorge oder der sog. Riesterrente durch steuerliche Anreize (Steuerfreiheit, Pauschalierung) zu fördern. Die steuerliche Privilegierung der 2. und 3. Säule der Altersvorsorge führt nicht nur zu „Einbußen“ in der individuellen Versicherungsbiografie des einzelnen Arbeitnehmers in der 1.  Säule (gesetzlichen Rente), sondern entzieht, da sich die Beitragsfreiheit auf den gesamten Gesamtsozialversicherungsbeitrag erstreckt, sämtlichen Zweigen der Sozialversicherung Beitragsmittel65. Sind die in § 1 SvEV aufgeführten Entgeltkomponenten nicht dem Arbeitsentgelt zuzurechnen, kann hieraus nicht nur deren Beitragsfreiheit resultieren. Wird dadurch die 450-€-Geringfügigkeitsgrenze bei geringfügiger Beschäftigung unterschritten, führt dies in der GKV, der sozialen Pflegeversicherung und der Arbeitslosenversicherung zur Versicherungsfreiheit (= Ausschluss aus dem jeweiligen Vorsorgesystem) und folglich zur Beitragsfreiheit insgesamt66.

63 Vgl. § 3 Abs. 1 Satz 2 SvEV, § 8 Abs. 2 Satz 10 EStG. 64 Vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Halbs. 2 SvEV. 65 Vgl. zu diesen Problem bereits Bogs im Bericht der Sozialenquete-Kommission, ZSR 1968, 213 (215). 66 Vgl. § 7 Abs. 1 SGB V, § 5 Abs. 2 SGB VI, § 27 Abs. 2 SGB III i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV geringfügige Beschäftigung. In der gesetzlichen Rentenversicherung bleibt es bei Versicherungspflicht mit der Möglichkeit eines „Opt-out“, vgl. § 6 Abs. 1b SGB VI; zur Jahresarbeitsentgeltgrenze in der GKV vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V.

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5. Kraft Gesetzes steuerfreie Arbeitgeberleistungen a) Zusätzlich zum Lohn gezahlte Zulagen, Zuschläge, Zuschüsse sowie ­ähnliche Einnahmen, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SvEV Nicht dem Arbeitsentgelt zuzurechnen – und damit im Grundsatz beitragsfrei – sind einmalige Einnahmen, laufende Zulagen, Zuschläge, Zuschüsse sowie ähnliche Einnahmen, „die zusätzlich zu Löhnen oder Gehältern gezahlt werden“, soweit sie lohnsteuerfrei sind (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SvEV). Damit sind vor allem die §§ 3, 3b, 8 Abs. 3, 8 Abs. 1 EStG angesprochen. Zusätzlichkeit liegt nur dann vor, wenn die Zuwendung des Arbeitgebers „über den Grundlohn hinausgeht“, da andernfalls die für Sachbezüge geltenden Vorschriften der §§  2 und 3 SvEV leerliefen. Hiervon umfasst sind insbesondere Zuschläge für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit sowie Erschwerniszulagen (Schmutz, Lärm etc.). Darauf, ob der Arbeitnehmer einen gesetzlichen Anspruch etwa auf Zuschläge hat (wie bei Nachtarbeit, anders als bei Sonn- und Feiertagsarbeit)67, kommt es nicht an68. Zudem darf es sich nicht um Zuwendungen handeln, die anstelle bisher gezahlter Entgeltbestandteile gezahlt werden. Eine bloße Verwendung von geschuldetem Arbeitsentgelt (z.B. für die Prämien einer Direktversicherung) reicht nicht aus, erforderlich ist vielmehr eine „echte Lohnerhöhung in Form einer Direktversicherung“ oder einer zukunftsgerichteten Entgeltumwandlung69. Nach § 3b EStG sind zusätzlich zum Grundlohn gezahlte Zuschläge für tatsächlich geleistete Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit steuerfrei, soweit sie bestimmte Prozentsätze des Grundlohns nicht überschreiten. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SvEV nimmt für das Beitragsrecht aber sofort wieder eine Rückausnahme vor und bestimmt im Ergebnis, dass Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit beitragspflichtiges Arbeitsentgelt bleiben, „soweit das Entgelt, auf das sie berechnet werden, mehr als 25 Euro für jede Stunde beträgt“. In der Praxis sehr bedeutsam sind zudem die in § 23c Abs. 1 SGB IV genannten Zuschüsse zu Lohnersatzleistungen, die bis zu einer bestimmten Höhe70 nicht als beitragspflichtiger Arbeitslohn gelten. b) Weitere praxisrelevante Anwendungsfälle Zuwendungen des Arbeitgebers für eine betriebliche Altersvorsorge des Arbeitnehmers (vgl. § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG) an eine Pensionskasse zum Aufbau einer nicht kapitalgedeckten betrieblichen Altersvorsorge sind nach § 3 Nr. 56 EStG bis zur Höhe von derzeit 2 % der Bemessungsgrenze der allg. Rentenversicherung lohnsteuerfrei

67 BAG v. 11.1.2006 – 5 AZR 97/05, NJW 2006, 1229. 68 BSG v. 7.5.2014 – B 12 R 18/11 R, BSGE 115, 295 Rz. 46 f. 69 BSG v. 14.7.2004 – B 12 KR 10/02 R, BSGE 93, 109. 70 Zuschüsse und Sozialleistungen dürfen insgesamt das monatliche Nettoarbeitsentgelt nicht um mehr als 50 Euro übersteigen.

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und gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4a SvEV grundsätzlich kein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt, wenn diese Beiträge zusätzlich zum Lohn gewährt werden71. Entsprechendes gilt für die nach Maßgabe des § 3 Nr. 63 Sätze 1 und 2 EStG steuerfreien Beiträge des Arbeitgebers an einen Pensionsfonds, eine Pensionskasse oder eine Direktversicherung zum Aufbau einer kapitalgedeckten Altersvorsorge, und zwar selbst dann, wenn die Beiträge ganz oder teilweise aus einer Entgeltumwandlung stammen (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 SvEV; zum Begriff der Entgeltumwandlung vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 3 BetrAVG). Mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz wurde ab 1. Januar 2018 die reine Beitragszusage als neue Durchführungsform der betrieblichen Altersversorgung eingeführt (§ 1 Abs. 2 Nr. 2a BetrAVG; „pay and forget“). Auch diese kann über eine Entgeltumwandlung erfolgen. Ist dies ganz oder teilweise der Fall, muss der Arbeitgeber 15 v.H. des umgewandelten Entgelts zusätzlich als Arbeitgeberzuschuss an den Pensionsfonds etc. weiterleiten, soweit er durch die Entgeltumwandlung Sozialversicherungsbeiträge einspart (§§ 1a, 23 Abs. 2 BetrAVG). Nach § 100 Abs. 6 EStG, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 SvEV ist der zusätzlich gezahlte Arbeitgeberbeitrag bis 480 Euro steuerfrei und insoweit auch kein Arbeitsentgelt, mithin beitragsfrei. Ein darüber hinaus gezahlter Arbeitgeberbeitrag kann nach § 3 Nr. 63 EStG steuerfrei und damit beitragsfrei sein, wenn das entsprechende Volumen des § 3 Nr. 63 EStG noch nicht durch andere Beiträge ausgeschöpft ist72. Die Beitragsprivilegierung gilt allerdings nicht, wenn solche (steuerfreien) Beiträge aus „Anlass der Beendigung des Dienstverhältnisses“ geleistet werden, weil § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 SvEV nicht auf § 3 Nr. 63 Satz 3 EStG Bezug nimmt. Weiterhin liegt kein Arbeitsentgelt (=  Beitragsfreiheit) beispielsweise bei Arbeitgeberleistungen vor, für die § 3 Nrn. 16, 28, 32, 33, 34, 34a, 39, 45, 46 EStG Lohnsteuerfreiheit anordnet. c) Steuerfreie Zuwendungen Dritter Zuwendungen Dritter sind nicht schon dann Arbeitsentgelt, wenn sie ohne das Beschäftigungsverhältnis nicht gewährt würden. Geldwerte Vorteile werden i.S.v. § 14 SGB IV nur dann „im Zusammenhang mit der Beschäftigung“ erzielt, wenn sie an eine Leistung des Arbeitnehmers, die er im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses erbringt, anknüpfen und zu einer Vermögensmehrung gerade bei diesem Arbeitnehmer führen sollen73. So liegt bei Miles&More eine Arbeitgeberzuwendung nur dann 71 Zur Pauschalbesteuerung bei umlagefinanzierter Pensionskassenversorgung nach §  40b EStG in seiner bis 31.12.2004 geltenden Fassung und daraus folgender Beitragsfreiheit vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SvEV; für beide Altersvorsorgebeträge siehe aber auch die Ausnahmen in § 1 Abs. 1 Sätze 3 und 4 SvEV. 72 Vgl. BT-Drucks. 18/12612, 28. 73 BSG v. 18.1.2918 – B 12 R 1/17 R: Verzicht auf Abschlussgebühr für Bausparvertrag für Angestellten einer Bank und dessen Familie durch eine mit der Bank in einem „Verbund“ stehenden Bausparkasse.

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vor, wenn die Bonuspunkte auf „Dienstflügen“ gesammelt, die Punkte aber vom Arbeitnehmer für Privatflüge verwendet werden dürfen. Ist dies der Fall, kommen § 3 EStG Nr. 38, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SvEV zu Anwendung. d) Steuerfeie Aufwandsentschädigung und Übungsleiterpauschale im ­Ehrenamt Die im Sozialversicherungsrecht schwierige Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen bei ehrenamtlichem Engagement die Grenze zu abhängiger Beschäftigung gegen Entgelt überschritten wird74, entschärft sich, wenn und soweit die Einnahmen hieraus zu den steuerfreien Aufwandsentschädigungen nach § 3 Nr. 12 EStG oder den „Einnahmen aus nebenberuflicher Tätigkeit“ gemäß § 3 Nrn. 26, 26a EStG gehören und die dort festgesetzten Höchstsätze nicht überschreiten. Mangels Arbeitsentgelts75 sind dann – abgesehen von der Unfallversicherung – die Tatbestände versicherungspflichtiger Beschäftigung nicht erfüllt. 6. Pauschalversteuerte Zuwendungen a) Allgemeine Voraussetzungen § 1 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2–4, 13 und 14 SvEV ordnet durch Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des EStG an, dass die dort i.S. eines Numerus clausus genannten, durch den Arbeitgeber pauschal besteuerten Zuwendungen nicht dem Arbeitsentgelt zuzurechnen und damit beitragsfrei sind. Lohnsteuerpauschalierungen nach anderen Vorschriften haben keine Auswirkungen auf das sozialversicherungspflichtige Arbeitsentgelt76. Für die Beitragsbefreiung ist erforderlich, dass die Lohnsteuer rechtlich mit einem Pauschsteuersatz erhoben werden kann und der Arbeitgeber die Lohnsteuer tatsächlich innerhalb der Frist des § 41a EStG zudem „mit der Entgeltabrechnung für den jeweiligen Abrechnungszeitraum  […] pauschal besteuert“ hat (§  1 Abs.  1 Satz  2 SvEV)77. Damit reicht es für Beitragsfreiheit nicht aus, wenn die Finanzämter auch außerhalb der Pauschalierungsfrist des § 41a EStG noch eine Lohnsteuerpauschalierung akzeptieren78. Eine erst im Nachhinein geltend gemachte Steuerfreiheit bzw. Pauschalbesteuerung führt nicht dazu, dass für steuer- und beitragspflichtig abgerechnete Arbeitsentgeltbestandteile nachträglich Sozialversicherungsbeiträge zu erstatten sind, wenn der Arbeitgeber die vorgenommene Erhebung nicht mehr ändern

74 Vgl. dazu BSG v. 16.8.2017 – 12 KR 14/16 R Kreishandwerksmeister. 75 § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 16 SvEV, vgl. dazu und zu Vorgängerregelungen Werner in Schlegel/ Voelzke, jurisPK-SGB IV. 3. Aufl., § 14 Rz. 254 ff. 76 Werner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., § 14 Rz. 130, 131. 77 Zur vorherigen Rechtslage – Beitragsfreiheit steuerfreier Zuwendungen an Pensionskassen vor dem 22.4.2015 – vgl. BSG v. 23.5.2017 – B 12 KR 6/16 R, SozR 4-5376 § 1 Nr. 1. 78 BR-Drucks. 541/14, mit Hinweis auf BFH v. 13.11.2012 – VI R 38/11, BStBl. II 2013, 929; Werner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., § 14 Rz. 132, 134.

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kann79. Sofern die Steuerpauschalierung im Ermessen des Finanzamts liegt, steht im Zeitpunkt der Ablehnung fest, dass es sich bei der betreffenden Entgeltkomponente um Arbeitsentgelt handelt, das im Grundsatz der Beitragspflicht unterliegt80. Das BSG hat dem Bescheid des Finanzamtes im Hinblick auf die lohnsteuerrechtliche Einordnung von Zuwendungen keine Tatbestandswirkung beigemessen und den Trägern der Sozialversicherung ein eigenes Prüfungsrecht zugebilligt81. Zur Erreichung des angestrebten Vereinfachungseffekts und angesichts der Schwierigkeit der Rechtsmaterie ist dies zu überdenken und der Tatbestandswirkung des Steuerbescheides m.E. Vorrang einzuräumen. Dies gilt auch, wenn die Prüfbehörden in der Vergangenheit bei Betriebs- und Außenprüfungen die Lohnsteuerpauschalierung nicht beanstandet haben82. b) Sonstige Bezüge i.S.v. § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SvEV Sonstige Bezüge sind nach § 38a Abs. 1 Satz 3 EStG der Arbeitslohn, der nicht als laufender Arbeitslohn gezahlt wird. Steuerrechtlich gehören dazu auch Einmalzahlungen i.S.v. § 23a SGB IV. Das sind Zuwendungen, die dem Arbeitsentgelt zuzurechnen sind und nicht für die Arbeit in einem einzelnen Entgeltabrechnungszeitraum gezahlt werden. Die Fiktion des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SvEV, dass die nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG pauschal versteuerten sonstigen Bezüge nicht dem Arbeitsentgelt zuzurechnen sind, gilt allerdings nur für laufendes Arbeitsentgelt, nicht für einmalig gezahltes Arbeitsentgelt (z.B. Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld etc.), welches auch bei Pauschalbesteuerung beitragspflichtiges Arbeitsentgelt bleibt. Um dennoch die Vorteile der Pauschalbesteuerung und den Vereinfachungseffekt („bestimmte pauschalbesteuerte Engeltkomponenten = kein Arbeitsentgelt“) zu erhalten, erklärt § 23a Abs. 1 Satz 2 SGB IV als Reaktion auf die anderslautende frühere Rspr. des BSG z.B. zu Kontoführungsgebühren von Bankangestellten83, dass die dort genannten Zuwendungen nicht als einmalig gezahltes Arbeitsentgelt gelten (z.B. monatlich in Anspruch genommene Belegschaftsrabatte und sonstige Sachbezüge, vermögenswirksame Leistungen). Der Begriff „sonstige Bezüge“ des EStG deckt sich weitgehend, aber nicht vollständig mit dem sozialversicherungsrechtlichen Begriff „einmalig gezahltes Arbeitsentgelt“. So sind u.a. nachgezahlte Lohnbestandteile, die einem bestimmten Entgeltabrech-

79 BR-Drucks. 541/14, 54. 80 Werner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., § 14 Rz. 133. 81 Vgl. BSG v. 11.7.1967 – 3 RK 1/64, SozR Nr. 23 zu § 160 RVO. 82 Zur Folgenlosigkeit beanstandungsfreier Außenprüfungen vgl. jedoch BSG v. 14.7.2004 – B 12 KR 1/04 R, BSGE 93, 119; v. 30.10.2013 – B 12 AL 2/11 R, Rz. 26 f.; zur Kritik hieran jedenfalls bei Kleinbetrieben vgl. Schlegel in Küttner, Personalbuch, 25. Aufl. 2018, Außenprüfung Rz. 38. 83 BSG v. 7.2.2002 – B 12 KR 12/01 R, BSGE 89, 158.

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nungszeitraum zuzurechnen sind (z.B. eine nachgezahlte Montagebeteiligung) zwar i.d.R. sonstige Bezüge i.S.d. EStG, jedoch kein „einmalig gezahltes Arbeitsentgelt“84. c) Einnahmen nach § 40 Abs. 2 EStG, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SvEV Neben unentgeltlichen oder verbilligten Mahlzeiten im Betrieb (§ 40 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 EStG), kostenloser bzw. verbilligter Übereignung von PCs und Internetnutzung bzw. Zuschüssen des Arbeitgebers zu entsprechenden Aufwendungen des Arbeitnehmers für PCs (Nr. 5) spielen in der Praxis vor allem Verpflegungsmehraufwendungen (Nr.  4) etc. eine Rolle. Dabei sind z.B. Verpflegungsmehr- und Übernachtungsaufwendungen des Arbeitnehmers bei vom Arbeitgeber angeordneter auswärtiger Tätigkeit schon dem Grund nach keine Gegenleistung für geleistete Arbeit; sie sind bereits im Ansatz nicht geeignet, beim Arbeitnehmer zu einem Vermögenszuwachs zu führen. Der Verweis auf das Steuerrecht hat insoweit keine konstitutive, sondern allenfalls deklaratorische Bedeutung85. Anders ist dies, wenn der Arbeitgeber die Kosten der an sich in der Sphäre des Arbeitnehmers liegenden Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ganz oder teilweise übernimmt; dann kommen § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SvEV, § 40 Abs. 2 Sätze 2 und 3 EStG zum Zuge. d) Überwälzung der pauschalen Lohnsteuer auf den Arbeitnehmer Im Falle der Pauschalversteuerung ist der Arbeitgeber Schuldner der Lohnsteuer86. Er kann die Pauschalsteuer aber arbeitsrechtlich auf den Arbeitnehmer überwälzen, z.B. indem er den Bruttolohn entsprechend verringert. Dann gelten pauschal besteuerte Kantinenessen, Erholungsbeihilfen, Verpflegungsmehraufwendungen etc. zwar auch steuerrechtlich nicht als Arbeitsentgelt. An ihre Stelle tritt jedoch gleichsam die vom Arbeitnehmer nach Überwälzung zu tragende, vom Arbeitgeber bereits abgeführte Lohnsteuer. Nach § 40 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 EStG gilt die auf den Arbeitnehmer abgewälzte pauschale Lohnsteuer als zugeflossener Arbeitslohn und mindert nicht die Bemessungsgrundlage (vgl. auch die entsprechenden Verweisungen in § 37a Abs. 2, § 37b Abs. 3, § 40b Abs. 5 EStG). Daraus folgt, dass Lohnsteuer unter Hinzurechnung der pauschalen Lohnsteuer zu Lohn und Gehalt zu berechnen ist87. Das BSG hatte in solchen Fällen zum alten Recht entschieden, dass auch insoweit kein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt vorliegt und insoweit auf einen Erst-Recht-

84 BSG v. 15.5.1984  – 12 RK 28/83, SozR 2200 §  385 Nr.  9: nachgezahlte Akkordspitze; v. 27.10.1989  – 12 RK 9/88, SozR 22 §  385 Nr.  22: nachgezahlte Montagebeteiligung; zur Rechtsentwicklung vgl. BSG v. 18.12.2013 – B 12 R 2/11 R, SozR 4-2400 § 23a Nr. 7: Freifahrten, Fahrpreisermäßigungen. 85 BSG v. 18.1.2018 – B 12 R 3/16 R: Zuschüsse für Fahrtkosten-, Verpflegungs- und Übernachtungsaufwendungen des Leiharbeitnehmers bei auswärtiger Tätigkeit. 86 Krüger in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 38 EStG Rz. 10. 87 Vgl. Krüger in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 40 EStG Rz. 26.

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Schluss verwiesen88. Ob das Gericht nach der Änderung von § 40 Abs. 3 EStG durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002, welche laut ihrer Begründung der „Verhinderung eines missbräuchlichen, unerwünschten Unterlaufens der Steuer- und Sozialversicherungspflicht bei Arbeitslohn“ dient89, hieran festhalten kann, muss sich  zeigen, zumal bei einer Verbeitragung der überwälzten Pauschalsteuer wieder ein wünschenswerter Gleichlauf zwischen Lohnsteuer- und Beitragsrecht erreicht wäre.

III. Einflüsse des Steuerrechts auf die Bestimmung des beitrags­ pflichtigen Arbeitseinkommens Selbständiger 1. Relevanz des Arbeitseinkommens Selbständige sind in der Sozialversicherung, insbes. in der Rentenversicherung (bislang) nur ausnahmsweise versicherungspflichtig. Es ist ihnen aber in verschiedenen Bereichen die konditionierte Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung oder einer Antragspflichtversicherung eröffnet. Besteht danach eine Plicht- bzw. freiwillige Versicherung ist auf einer zweiten Stufe zu klären, was Beitragsbemessungsgrundlage für die vom Selbständigen zu entrichteten Beiträge ist. Dies ist ggf. neben anderen Einnahmen auf jeden Fall das Arbeitseinkommen, wie es §  15 Abs.  1 SGB  IV für alle Zweige der Sozialversicherung definiert (dazu sogleich). Wer eine Hinterbliebenenrente bezieht, muss sich hierauf Erwerbseinkommen anrechnen lassen; Erwerbseinkommen ist neben dem Arbeitsentgelt auch das Arbeitseinkommen und vergleichbares Einkommen (§  18a Abs.  1 Satz  1 Nr.  1, Abs.  2, 2a SGB IV). 2. Steuerlich ermittelter Gewinn als Arbeitseinkommen – § 15 SGB IV a) Strikte Bindung an die Gewinnermittlungsvorschriften des EStG Arbeitseinkommen ist nach der Legaldefinition des § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB IV der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbständigen Tätigkeit. Ab Inkrafttreten des SGB IV am 1. Juli 1977 war zunächst ausdrücklich angeordnet, dass bei der Ermittlung des Gewinns steuerliche Vergünstigungen unberücksichtigt zu lassen und Veräußerungsgewinne abzuziehen sind (§  15 Satz  2 SGB  IV a.F.)90. Eine steuerliche Vergünstigung sah das BSG im Sparer-Freibetrag91 und in erhöhten 88 BSG v. 21.8.1997 – 12 RK 44/96, BSGE 81, 21; v. 19.6.2001 – B 12 KR 16/00 R, SozR 3–2400 § 14 Nr. 20 Rz. 23 zur Pauschalversteuerung kostenloser Mahlzeiten nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. 89 BT-Drucks. 14/23, 184 zu Nr. 41. 90 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drucks. 7/4122, 32 zu § 15. 91 BSG v. 7.12.2000 – B 10 KR 3/99 R, SozR 3-2500 § 10 Nr. 19; zum Sparer-Freibetrag: § 20 Abs. 4 EStG.

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Absetzungen nach § 7b EStG, nicht aber in der Absetzungen für Abnutzung nach § 7 EStG92. In der Praxis zeigte sich aber, dass sich die Sozialgerichte mit dem Begriff der steuerlichen Vergünstigung im Steuerrecht schwer taten, u.a. weil der Umfang solcher Vergünstigungen dem Steuerbescheid nicht unmittelbar zu entnehmen ist93. Zum 1. Januar 1995 wurde die Einschränkung des bisherigen Satzes 2 des § 15 Abs. 1 SGB IV im Interesse einer Verfahrensvereinfachung aufgegeben und nunmehr angeordnet, dass Einkommen als Arbeitseinkommen zu werten ist, wenn es als solches nach dem Einkommensteuerrecht zu bewerten ist. Damit kann – so die Gesetzesbegründung – das Arbeitseinkommen (Gewinn) unverändert aus dem Steuerbescheid des Selbständigen übernommen werden. Und weiter: „Auch für die Bestimmung, welches Einkommen als Arbeitseinkommen zu werten ist, ist nach der neuen Regelung des § 15 Abs. 1 Satz 2 das Einkommensteuerrecht maßgebend. Damit wird eine volle Parallelität von Einkommensteuerrecht und Sozialversicherungsrecht sowohl bei der Zuordnung zum Arbeitseinkommen als auch bei der Höhe des Arbeitseinkommens erreicht. Dies führt zu einer Verwaltungserleichterung bei den Sozialversicherungsträgern, sodaß eigene Nachprüfungen dieser Träger in diesem Bereich entfallen94.“ Besonderheiten gelten nur noch bei Landwirten, die nicht nach § 4 Abs. 1 und 3 EStG zur Einkommensteuer veranlagt werden (dazu § 15 Abs. 2 SGB IV). b) Tatbestandswirkung und begrenzte Indizwirkung des Steuerbescheides Das BSG nimmt seit Inkrafttreten des § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB IV in der Fassung des Agrarsozialreformgesetzes eine strenge Bindung an die Vorschriften des EStG zur Gewinnermittlung an. Es legt diese Normen zwar selbst aus, orientiert sich dabei aber an der Rspr. des BFH95. Soweit es um Feststellung des Gewinns im Einzelfall bzw. die Zuordnung von Einnahmen zu den sieben Einkunftsarten des §  2 Abs.  1 EStG geht, lehnt das BSG zwar eine strikte Bindung an Steuerbescheide ab96, nimmt aber eine Indizwirkung der Bescheide der Finanzämter an97. Habe der Steuerschuldner/Versicherte einen Bescheid hingenommen, der die Einnahmen falsch einordne, dürfe ihm das im Sozialversicherungsrecht – so das BSG – nicht zwingend zum Nachteil gereichen. Die Indiz­wirkung eines Steuerbescheides entfalle; die Träger der Sozialversicherung dürften die finanzamtlichen Feststellungen nur nach eigener Prüfung und Beurteilung übernehmen, wenn der Versicherte im Sozialverwaltungsverfahren gegen die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen oder die steuerrechtliche Bewertung

92 BSG v. 17.7.1985 – 1 RA 41/84, BSGE 58, 277; v. 27.11.1984 – 12 RK 70/82, BSGE 57, 240; v. 9.3.1982 – 3 RK 9/80, BSGE 53, 138. 93 BSG v. 9.9.1993 – 5 RJ 60/92, BSGE 73, 77. 94 BT-Drucks. 12/5700, 92 zu Art. 3 Nr. 2. 95 BSG v. 23.1.2008 – B 10 KR 1/07 R, BSGE 99, 284 Rz. 18 f. zur Zuordnung von Einnahmen aus der Verpachtung eines Gewerbebetriebes. 96 BSG v. 29.7.2015 – B 12 KR 4/13 R, SozR 4-2500 § 5 Nr. 26 Rz. 23 f.; v. 27.7.2011 – B 12 KR 10/09 R, SozR 4-2400 § 28e Nr. 4 Rz. 31. 97 BSG v. 30.9.1997 – 4 RA 122/95, SozR 3-2400 § 15 Nr. 4 zur Betriebsaufspaltung.

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des Finanzamtes selbst schlüssige und erhebliche Einwendungen erhebe98. Gleiches gelte, wenn konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Feststellungen bzw. Bewertungen des Finanzamtes bestünden und der Versicherte/Steuerpflichtige keine Einwendungen gegen die Einordnung der Einkünfte erhebe, weil die (falsche) Einordnung sich für ihn nicht nachteilig auswirke bzw. sogar günstig sei99. Dies ist kritikwürdig. Es entspricht nicht der Dogmatik des Verwaltungsaktes, der die steuerrechtliche Rechtslage für den Betroffenen im Einzelfall rechtsverbindlich festlegt100, dass die einmal verbindlich festgestellten Wirkungen des Steuerrechts im konkreten Fall nachträglich durch Sozialbehörden oder Sozialgerichte wieder geändert werden. Verlangt der eindeutige Wortlaut des Sozialgesetzes (wie § 15 SGB IV) eine konkrete Anwendung des Steuerrechts, dann ist daneben kein Platz für Richterrecht101. Zwar sind Sozialbehörden nicht an allgemeine Verwaltungsvorgaben der Finanzbehörden oder an Rechtsprechung zu anderen Parteien unmittelbar gebunden. Diesen Vorgaben kann nur eine Indizwirkung zukommen. Anders ist es aber dann, wenn ein konkreter steuerrechtlicher Verwaltungsakt gegenüber den Versicherten bereits ergangen ist oder ein steuerrechtliches Urteil gegenüber dem Versicherten vorliegt, das mit Tatbestandswirkung im konkreten Fall die Rechtslage des Betroffenen festlegt. Denn dann ist diese Rechtslage in Bezug auf das anzuwendende Steuerrecht verbindlich festgelegt. Kurz: „Sozialgerichte sind nicht außerplanmäßige Rechtsmittelinstanzen der Finanzgerichtsbarkeit.“ In diese Richtung gehen Entscheidungen BSG aus neuerer Zeit, wenn etwa ein steuerlich festgestellter Aufgabegewinn bei den Einkünften aus Gewerbegebiet „1:1“ auch mit beitragserhöhender Wirkung als Arbeitseinkommen des Versicherten angesehen wird102. Das BSG nimmt auch hin, dass bei Selbständigen die tatsächlich erzielten Einnahmen und insbesondere der Gewinn – anders als bei Arbeitnehmern – in der Regel nur zeitversetzt zugrunde gelegt werden können103, sieht insoweit aber das Bedürfnis für im Sozialrecht gesetzlich geregelte Härtefallregelungen104. 98 BSG v. 30.9.1997  – 4 RA 122/95, SozR  3-2400 §  15 Nr.  4 zur Betriebsaufspaltung; v. 9.9.1993 – 5 RJ 60/92, SozR 3-2200 § 1248 Nr. 9. 99 BSG v. 29.7.2015 – B 12 KR 4/13 R, SozR 4-2500 § 5 Nr. 26 Rz. 24. 100 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, §  118  AO Rz.  1 und Vorbem. Rz.  1; Söhn in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, §  118  AO Rz.  13 und 21 sowie für das Sozialrecht Littmann in Hauck/ Noftz, § 31 SGB X Rz. 10. 101 Insoweit hat der Gesetzgeber zur Vermeidung unterschiedlicher rechtlicher Einzelfallregelungen bei Anwendungen des gleichen Steuerrechts auf denselben Sachverhalt erkennbar eine Drittbindungswirkung angeordnet, vgl. BSG v. 4.10.1994 – 7 KlAr 1/93, BSGE 75, 97 Rz.  118; v. 17.6.2009  – B 6 KA 16/08 R, BSGE 103, 243 Rz.  11; relativierend v. 21.6.2011 – B 4 AS 21/10 R, BSGE 108, 258 Rz. 26 f., wobei aber selbst in Rz. 20 auf den unmissverständlichen gesetzgeberischen Willen abgestellt wird. Zum „Regelungsmonopol“ vgl. auch BSG v. 6.10.1981 – 9 RVs 3/81, BSGE 52, 168 Rz. 33 und v. 13.12.2000 – B 6 KA 26/00 R, SozR 3-2500 § 95a Nr. 2 Rz. 22. 102 BSG v. 18.1.2018 – B 12 KR 22/16 R. 103 BSG v. 2.9.2009 – B 12 KR 21/08 R, BSGE 104, 153 Rz. 16. 104 Vgl. BSG v. 18.1.2018 – B 12 KR 22/16 R Aufgabegewinn.

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Um Wertungswidersprüche und mögliche Härten aufgrund der strikten Bindung an Gewinnermittlungsvorschriften sowie Steuerfestsetzung von vornherein zu vermeiden, sollten bereits der Steuergesetzgeber aber auch Steuerbehörden und Finanzgerichte absehbare sozialrechtliche Folgen stärker mitbedenken als dies bislang der Fall ist. c) Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, selbständiger Arbeit und ­Gewerbebetrieb Der Begriff der selbständigen Tätigkeit i.S.v. §  15 SGB  IV ist nicht deckungsgleich mit demjenigen der „selbständigen Arbeit“ des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 18 EStG, sondern weiter. Er umfasst nach der Rspr. des BSG „alle typischerweise mit persönlichem Einsatz verbundenen Einkunftsarten“, schließt also auch die Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft (§  13 EStG) sowie Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§  15 EStG) mit ein105. Alle aus anderen Quellen stammende Einkommen, wie Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 EStG) und Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 EStG), werden hiervon grundsätzlich nicht erfasst. Daher ist z.B. das Vermieten eigener Wohnungen keine selbständige Erwerbstätigkeit, wenn die daraus erzielten Einkünfte steuerrechtlich nicht (ausnahmsweise) solchen aus einem Gewerbebetrieb zugeordnet werden können106. Eine solche Ausnahme nimmt das BSG z.B. für Pachtzinsen bei einer Betriebsaufspaltung an, wenn die Verpachtung wirtschaftlich betrachtet als unselbständiger Teil einer selbständigen Tätigkeit anzusehen ist107. d) Allgemeine Gewinnermittlungsvorschriften Das BSG sieht in § 15 SGB IV eine dynamische Verweisung auf das Einkommensteuerrecht. Als „allgemeine Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts“ kommen für das BSG deshalb für die Einkommensarten des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 EStG nur die §§ 4 bis 7g EStG in Betracht. Die Verweisung endet in § 2 Abs. 2 105 BSG v. 17.7.1985 – 1 RA 41/84, BSGE 58, 277; v. 27.4.1982 – 1 RJ 72/81, BSGE 53, 242 (244); ebenso für die Bestimmung des Grundlohns eines in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig Versicherten nach §  180 Abs.  4 RVO: BSG v. 26.11.1984  – 12 RK 32/82, BSGE 57, 235; v. 27.11.1984 – 12 RK 70/82, BSGE 57, 240. 106 BSG v. 30.3.2006 – B 10 KR 2/04 R, SozR 4-5420 § 2 Nr. 1 Rz. 27; v. 23.9.1999 – B 12 KR 12/98 R, SozR 3-2500 § 240 Nr. 31 Rz. 14 zum Arbeitseinkommen eines Taxisfahrers als Taxiunternehmer ohne Einbeziehung der Einnahmen aus der Vermietung seiner Eigentumswohnung. 107 BSG v. 30.9.1997 – 4 RA 122/95, SozR 3-2400 § 15 Nr. 4 zum Pachtzins, den eine GmbH ihrem Mehrheitsgeschäftsführer für das ihr verpachtete Betriebsgrundstück zahlt; ebenso v. 29.7.2015 – B 12 KR 4/13 R, SozR 4-2500 § 5 Nr. 26 Rz. 26; v. 23.1.2008 - B 10 KR 1/07 R, BSGE 99, 284 Rz. 20 mit Hinweisen auf BFH-Rspr. zur Zuordnung der Einnahmen aus der Verpachtung eines Gewerbebetriebes zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb, solange der Verpächter nicht die Betriebsaufgabe erklärt hat.

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EStG. Die der Gewinnermittlung nachfolgenden Stufen zur Feststellung von „Gesamtbetrag der Einkünfte“ (§ 2 Abs. 3 EStG), „Einkommen“ (§ 2 Abs. 4 EStG) und „zu versteuerndem Einkommen“ (§ 3 Abs. 5 EStG) sowie die dazu gehörenden Detailvorschriften sind für § 15 SGB IV ebenso ohne Bedeutung wie die Berücksichtigung des Altersentlastungsbetrages, der Abzug von Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen, die Berücksichtigung von Freibeträgen und sonstigen vom Einkommen abziehbaren Beträgen108. 3. Statusfragen a) Kein Rückschluss von Gewinnen auf selbständige Tätigkeit Aus dem Umstand, dass § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG die dort genannten Einkünfte als den nach § 4 bis § 7i, § 13a EStG zu ermittelnden Gewinn bezeichnet und nach § 15 Abs. 1 SGB IV das Arbeitseinkommen Selbständiger der Gewinn aus diesen drei Einkunftsarten ist, folgt nicht zwingend, dass jeder, der nach den genannten Vorschriften des EStG einen Gewinn aus Landwirtschaft, Gewerbebetrieb oder selbständiger Arbeit erzielt, zugleich auch Selbständiger i.S. der Sozialversicherung ist. Auf die Frage, ob und in welcher Höhe Arbeitseinkommen erzielt wird, kommt es erst an, wenn die Statusfrage geklärt ist und feststeht, dass Versicherungspflicht auch für den Selbständigen besteht. Selbständigkeit setzt bereits nach dem Wortlaut des § 15 SGB IV eine „Tätigkeit“ voraus. Nur wenn aktives Tun vorliegt, stellt sich zudem die Abgrenzungsfrage, ob dieses Tun, dieses Arbeiten aufgrund (abhängiger) „Beschäftigung“ oder im Rahmen „selbständiger Tätigkeit“ erfolgt. Dies ist laut dem 12. Senat des BSG insoweit z.B. bei Gesellschaftern einer GmbH nur dann der Fall, wenn sie über die Wahrnehmung ihrer gesellschaftsrechtlichen Stellung hinaus mit Gewinnerzielungsabsicht aktiv im Unternehmen mitarbeiten109. b) Verwaltung eigenen Kapitals sowie Vermietung und Verpachtung Die bloße Verwaltung des eigenen Privatvermögens und die Entgegennahme von Pachtzinsen, Miet- und Kapitalzinsen begründen als solche keine selbständige Tä­ tigkeit. Einkünfte hieraus sind im Rahmen des § 15 Abs. 1 SGB IV, da sie keine Gewinnermittlung vorsehen, sozialrechtlich irrelevant, soweit diese Einkünfte nicht ausnahmsweise ihrerseits den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb oder aus selbständiger Arbeit zuzuordnen sind110.

108 BSG v. 16.5.2001 – B 5 RJ 46/00 R, BSGE 88, 117: zu § 10 d EStG, keine Übertragung der Durchbrechung des Prinzips der (Jahres-)Abschnitts­besteuerung auf das Beitragsrecht. 109 BSG v. 29.7.2015 – B 12 KR 4/13 R, SozR 4-2500 § 5 Nr. 26 Rz. 14 f.; zur Gewinnerzielungsabsicht vgl. BSG v. 25.2.1997 12 – RK 33/96, SozR 3-2200 § 1227 Nr. 8. 110 BSG v. 17.7.1985 – 1 RA 41/84, BSGE 58, 277 Rz. 15.

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IV. Leistungsrecht der Sozialversicherung 1. Lohnsteuerklassen - Arbeitslosengeld Das Arbeitslosengeld beträgt je nach Kinderzahl und Familienstand 67 % bzw. 60 % des „pauschalierten Nettoarbeitsentgelts“. Dies ergibt sich nach Abzug von pauschal 21 % Sozialversicherungsbeiträgen und der Lohnsteuer; letztere richtet sich nach der Lohnsteuerklasse zu Beginn des Jahres, in dem Anspruch auf Arbeitslosengeld entstanden ist (vgl. §§ 149, 153 Abs. 1 und 2 SGB III). Der auf der „Lohnsteuerkarte“ eingetragenen Lohnsteuerklasse kommt damit im Grundsatz Tatbestandswirkung zu, die nur ausnahmsweise durchbrochen wird: Wird während des Leistungsbezuges zwischen Ehegatten ein Lohnsteuerklassenwechsel vorgenommen, kann dies zu einer höheren fiktiven Lohnsteuer und damit zu einer Verringerung des Arbeitslosengelds führen. Wenn der Lohnsteuerklassenwechsel zu einer geringeren (fiktiven) Lohnsteuer führt, wird das Arbeitslosengeld ab Wirksamwerden des Lohnsteuerklassenwechsels nur dann erhöht, wenn „die neuen Lohnsteuerklassen dem Verhältnis der monatlichen Arbeitsentgelte beider Ehegatten oder Lebenspartner entsprechen“, wobei u.a. auch der Faktor nach § 39f EStG zu berücksichtigen ist (§ 153 Abs. 3 SGB III). In der steuerrechtlichen Änderung der Lohnsteuerkarte zum Beginn des Jahres, in dem der Anspruch auf Arbeitslosengeld entsteht, sieht das BSG keinen Fall eines Lohnsteuerklassenwechsels in diesem Sinne. Erfasst würden nur die Änderung der Steuerklasse zum Jahreswechsel nach Entstehung des Anspruchs sowie der Steuerklassenwechsel während des laufenden Jahres111. Ob die Eintragung steuerrechtlich zutreffend ist, bedarf keiner Prüfung, denn maßgebend für die Anwendung des § 153 Abs. 2 SGB III ist nach der Rspr. des BSG allein die Tatsache der Eintragung der Steuerklasse auf den Steuerkarten der Ehegatten, solange diese Bestandskraft besitzt112. 2. Anrechnung anderweitigen Einkommens auf Sozialleistungen a) Allgemeines Die Frage, was zum Arbeitsentgelt bzw. Arbeitseinkommen gehört und was  – wie dargelegt  – bei zahlreichen Engeltkomponenten von der steuerlichen Behandlung bzw. beim Arbeitseinkommen vom steuerlich ermittelten Gewinn abhängt, spielt dort eine große Rolle, wo die Höhe einer Sozialleistung ggf. von der Anrechnung anderweitigen Einkommens i.w.S. abhängt113. Dabei nimmt z. B. die GKV bei der Regelung, nach der das Krankengeld ruht, soweit beitragspflichtiges Arbeitsentgelt oder Arbeitsentgelt bezogen wird, einschränkungslos auf die Definitionen in §§  14, 15 SGB IV sowie die damit untrennbar verbundenen Verweisungen in das Steuerrecht Bezug, ohne – aus welchen sozialpolitischen Gründen auch immer – den Verweis auf das EStG korrigieren zu wollen (vgl. § 49 SGB V). Gleiches gilt für die Anrechnung 111 BSG v. 10.5.2007 – B 7a AL 12/06 R, Rz. 15. 112 BSG v. 14.7.2004 – B 11 AL 80/03 R Rz. 17; v. 26.11.1986 – 7 RAr 55/85, BSGE 61, 45 (50). 113 Eine Übersicht über Anrechnungsvorschriften im Sozialrecht gibt Voelzke in Küttner, Personalbuch 25. Aufl. 2018, Anrechnung anderweitigen Einkommens C 3 Rz. 9 ff.

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auf das Verletztengeld in der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 52 SGB VII). Konsequent lehnt das BSG bei freiwillig Versicherten mit (prinzipiellem) Krankengeldanspruch eine Krankengeldzahlung ab, wenn sich aus dem letzten Einkommensteuerbescheid kein Gewinn ergibt114. Hinreichend klar sind auch die Regelungen über die Anrechnung von Nebeneinkommen auf das Arbeitslosengeld (Alg) aus einer bei Bezug von Alg ausgeübten, 15  Stunden/Woche nicht überschreitenden Erwerbstätigkeit: Das erzielte Einkommen wird nach Abzug der Steuern, der Sozialversicherungsbeiträge und der Werbungskosen sowie eines Freibetrages in Höhe von 165 Euro auf das Alg angerechnet (vgl. § 155 SGB III). Dabei wird insbes. der Begriff der Werbungskosten anhand des Einkommensteuergesetzes bestimmt und werden unter „Steuern“ die vom Arbeitnehmer getragenen und vom Lohn abgezogene Lohnsteuer verstanden115. b) Hinzuverdienstgrenzen für Rentner Nimmt ein Rentner eine Rente wegen Alters vor Erreichen der Regelaltersgrenze in Anspruch, darf sein Hinzuverdienst bestimmte Beträge nicht überschreiten, andernfalls wird nur noch ein Teil der Rente gezahlt (vgl. § 34 Abs. 3c SGB VI). Hinzuverdienst des Rentners sind Arbeitsentgelte aus abhängiger Beschäftigung, Arbeitseinkommen aus selbstständiger Tätigkeit und vergleichbares Einkommen (§ 34 Abs. 3b SGB VI). Auch insoweit übernimmt das BSG die steuerlichen Vorgaben auf die Bestimmung des Arbeitsentgelts und des Arbeitseinkommens in einem Umfang, wie dies für das Beitragsrecht oben dargestellt wurde116. c) Anrechnung eigenen Erwerbseinkommens auf Hinterbliebenenrenten Wer eine Witwen-, Witwer- oder Erziehungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezieht, muss sich hierauf Einkommen i.S.d. § 18a SGB IV in bestimmtem Umfang anrechnen lassen (vgl. § 97 SGB VI). Nach § 18a SGB IV sind bei Renten wegen Todes als – anrechenbares („rentenschädliches“) – Einkommen des Berechtigten sein Erwerbseinkommen, sein Erwerbsersatzeinkommen sowie seine vergleichbaren Einnahmen zu berücksichtigen. Zum Erwerbseinkommen gehören das Arbeitsentgelt (§ 14 SGB IV), Arbeitseinkommen (§ 15 SGB IV) sowie „vergleichbares Einkommen“ (vgl. § 18a Abs. 2 SGB IV), und zwar jeweils in dem durch steuerliche Vorschriften definierten Umfang (dazu vgl. oben II, III). Nach der grundlegenden Entscheidung des BVerfG zu Hinterbliebenenrenten geht es bei den Anrechnungsvorschriften allein darum, dasjenige Einkommen zu erfassen, „das der Hinterbliebene aus dem Einsatz seiner Arbeitskraft erzielt“117. Ausgehend 114 BSG v. 22.2.2017 – B 3 KR 47/16 B; v. 7.12.2004 – B 1 KR 17/04 R. 115 BSG v. 21.1.1999 – B 11 AL 55/98 R, SozR 3-4100 § 115 Nr. 7; Valgolio in Hauck/Noftz, § 155 SGB III Rz. 60. 116 BSG v. 6.11.2017 – B 13 R 33/16 R: Zuschuss zum Krankengeld nach § 22 Abs. 2 TVöD. 117 So wörtlich BVerfG v. 18.2.1998 – 1 BvR 1318/86, BVerfGE 97, 271 (293) mit Hinweis auf die Gesetzesbegründung zu den §§ 18a ff. SGB IV in BT-Drucks. 10/2677, 43.

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auch hiervon, sah das BSG etwa den nach § 3 Nr. 28 EStG steuerfreien Aufstockungsbetrag bei Altersteilzeit nicht als Arbeitsentgelt und damit als „nicht rentenschädlich“ an118. Auch entscheide die steuerrechtliche Qualifizierung bestimmter Einkünfte als eine der sieben Einkunftsarten nicht darüber, ob i.S.v. § 15 SGB IV von einer selbständigen Tätigkeit auszugehen sei119. Bei der Beantwortung der Frage, was als dem Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen „vergleichbares Einkommen“ anzusehen sei, sah das BSG im Recht das Kriterium für die Vergleichbarkeit „in den Früchten des Einsatzes der eigenen Arbeitskraft“120. Diese Rspr. sowie der Einfluss der Steuerfreiheit in der Ursprungsfassung des § 18a SGB IV gingen dem Sozialgesetzgeber offenbar zu weit, sodass er ab 2002 ausdrücklich bestimmte, dass steuerfreie Einnahmen nach § 3 EStG mit Ausnahme der Aufstockungsbeträge (!) und Zuschläge nach § 3 Nr. 28 EStG nicht als rentenschädliches Einkommen anzusehen seien. Zudem wurde erstmals auch „Vermögenseinkommen“ in den Katalog rentenschädlicher Einkommen aufgenommen. Darüber hinaus erfolgte ein noch weit schwerwiegenderer systematischer Eingriff in die Definition des Arbeitseinkommens, indem § 18a Abs. 2a SGB IV – im Abweichung von § 15 SGB IV – bestimmt, dass Arbeitseinkommen i.S.d. § 18a Abs. 2 Satz 1 SGB  IV „die positive Summe der Gewinne oder Verluste“ aus den Einkunftsarten Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und aus selbständiger Arbeit ist. Die ­bisherige Beschränkung auf Einkommen aus Erwerbstätigkeit sowie Erwerbsersatzeinkommen sei – so die Gesetzesbegründung – „ungerecht“ und sozialpolitisch unbefriedigend. Zukünftig seien daher auch Vermögenseinkommen in die Einkommensanrechnung einbezogen. Die Regelung lehne sich im Wesentlichen an die Regelungen des EStG an. Die von § 15 SGB IV abweichende Definition des Arbeitseinkommens sei notwendig, um alle Einkommensarten zu berücksichtigen121. Damit bleibt von der Möglichkeit, beim Arbeitseinkommen aus Gründen der Praktikabilität auf die Arbeit der Finanzämter zurückzugreifen, jedenfalls bei Anrechnung eigenen Einkommens auf Hinterbliebenenrenten nicht viel mehr übrig als Konfusion und eine ungeklärte Begriffslage.

V. Steuerfinanzierte Sozialleistungen 1. Grundsicherung und Sozialhilfe Grundsicherung und Sozialhilfe setzen Hilfebedürftigkeit voraus. Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen und Vermögen sichern kann (§  9 Abs.  1 SGB  II; §§  2, 19 118 BSG v. 17.4.2007 – B 5 RJ 33/05 R, SozR 4-2400 § 18a Nr. 1. 119 BSG v. 27.1.1999 – B 4 RA 17/98 R, SozR 3-2400 § 15 Nr. 6 Rz. 28. 120 BSG v. 17.4.2012 – B 13 R 73/11 R, SozR 4-2400 § 18a Nr. 3 Rz. 27; v. 27.1.1999 – B 4 RA 17/98 R, SozR 3-2400 § 15 Nr. 6; v. 23.1.2008 – B 10 LW 1/07 R, SozR 4-5868 § 3 Nr. 3 Rz. 26. 121 Vgl. Begründung zum AVmG, BT-Drucks. 14/4595, 59.

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SGB XII). Als Einkommen zu berücksichtigen sind alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert abzüglich bestimmter Absetzbeträge (§ 11b SGB II, § 82 Abs. 2 SGB XII)122 mit Ausnahme der in §  11a SGB  II genannten Einnahmen (z.B. Grundrente nach BVG, Schmerzensgeld). Die Alg II-Verordnung (Alg II-V) regelt die Einzelheiten der Berechnung des Einkommens und verweist insoweit auf § 14 SGB IV, während für Einkommen aus selbständiger Tätigkeit, Gewerbebetrieb und Land- und Forstwirtschaft in § 3 Alg II-VO eine eigenständige Regelung erfolgt123. Letzteres hat seinen Grund vor allem darin, dass das SGB II eine Abgrenzung zwischen Einkommen und Vermögen nicht vornimmt, sondern unter Einkommen i.S.v. §  11 Abs.  1 SGB  II grundsätzlich alles das versteht, was jemand nach Stellung des Antrags auf Alg  II wertmäßig dazu erhält, und als Vermögen das ansieht, was er bereits vor Antragstellung hatte124. Zu den abzusetzenden Posten gehören „die auf das Einkommen entrichteten Steuern“ (§ 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II; § 82 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB XII). Umfasst werden die tatsächlich entrichteten Steuern, wie Einkommensteuer und Lohnsteuer, nebst dem Solidaritätszuschlag und der Kirchensteuer sowie Gewerbe- und Kapitalertragsteuer. Nicht auf das Einkommen erhoben und deshalb nicht absetzbar sind Verkehrssteuern (wie Umsatz-125 bzw. Mehrwertsteuer und Grunderwerbsteuer), Verbrauchssteuern (wie Strom- und Mineralölsteuer) und Besitzsteuern (wie Kfz-Steuer, Hundesteuer und Grundsteuer)126. Diese Steuern können allerdings – je nach Lage des Falles – zu den mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben i.S.d. § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB II, § 82 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB XII gehören. Ebenfalls nicht absetzbar sind Steuernachforderungen für zurückliegende Zeiträume, denn diese werden nicht auf das aktuelle Einkommen entrichtet. Solche Nachzahlungen stehen sonstigen Schulden gleich, deren Tilgung nicht die Hilfebedürftigkeit zu begründen vermag127. 2. Elterngeld a) Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Bemessungsgrundlagen Anspruch auf Elterngeld hat, wer mit seinem Kind in einem Haushalt lebt, dieses selbst betreut und erzieht und keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt (§  1 Abs. 1 BEEG). Elterngeld wird – so der Regelfall – in Höhe von 67 % des Einkom122 Zum in der Grundsicherung geltenden Monatsprinzip, wonach steuerliche Jahresfreibeträge zu zwölfteln sind, vgl. BSG v. 24.8.2017 – B 4 AS 9/16 R. 123 Vgl. BSG v. 21.6.2011 – B 4 AS 21/10 R, BSGE 108, 258: aufgelöste Ansparrücklage. 124 BSG v. 21.6.2011 – B 4 AS 21/10 R, BSGE 108, 258 Rz. 29. 125 Vgl. dazu BSG v. 22.08.2013  – B  14 AS 1/13 R, BSGE 114, 136; zur Sozialhilfe BSG v. 18.3.2008 – B 8/9b SO 11/06 R, BSGE 100, 139, Kfz als Schonvermögen, Kfz-Versicherungsbeiträge. 126 Schmidt in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 82 Rz. 69. 127 Söhngen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB  II, 4.  Aufl. 2015, §  11b Rz.  18; Schmidt in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 82 Rz. 69.

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mens aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt des Kindes gewährt (§  2 Abs.  1 Satz  1 BEEG). Bei der Einkommensermittlung ist zwischen dem Einkommen aus Landund Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit einerseits und nichtselbständiger Arbeit andererseits zu unterscheiden. Das Einkommen aus nichtselbständiger Erwerbstätigkeit ergibt sich im Elterngeldrecht, wenn der über einem Zwölftel des Arbeitnehmer-Pauschbetrages liegende monatliche durchschnittliche Überschuss der Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit um näher bestimmte Abzüge für Steuern und Sozialabgaben vermindert wird. Bemessungszeitraum für das Einkommen aus nichtselbständiger Erwerbstätigkeit sind die zwölf Kalendermonate vor dem Monat der Geburt des Kindes; auf den steuerlichen Veranlagungszeitraum wird abgestellt, wenn die berechtigte Person in diesen Zeiträumen Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit hatte und Bemessungsgrundlage der in diesem Zeitraum erzielte Gewinn ist (vgl. §§ 2b und 2c BEEG). Das Elterngeldrecht verweist damit zur Ermittlung der Anspruchshöhe weitestgehend auf das Einkommensteuerrecht. Dazu hat Röhl in einem 2010 erschienenen Aufsatz zutreffend bemerkt: „Den steuerrechtlichen Einkommensbegriff unbesehen in das Sozialrecht zu übertragen, hat seine Tücken“128. Zweck des Elterngeldes ist es, Familien bei der Sicherung ihrer Lebensgrundlage zu unterstützen, wenn sich Eltern vorrangig um die Betreuung ihrer Kinder kümmern. Jeder betreuende Elternteil, der seine Erwerbstätigkeit unterbricht oder reduziert, soll einen an seinem individuellen Einkommen orientierten Ausgleich für die finanziellen Einschränkungen im ersten Lebensjahr des Kindes erhalten. Durch die Betreuung des Kindes sollen die Eltern keine allzu großen Einkommenseinbußen befürchten müssen129. Das BSG zeichnet im Bereich des Elterngeldes das Einkommensteuerrecht weitestgehend nach. Es akzeptiert einen das monatliche Nettoeinkommen erhöhenden Lohnsteuerklassenwechsel und verwirft insoweit zu Recht den Einwand des Rechtsmissbrauchs130. Bei der Ermittlung des Einkommens von Selbständigen schmälern in konsequenter Anwendung des Steuerrechts fiktive Verluste, wie steuerlich wirksame Absetzungen für Abnutzung bei Anlagevermögen (z.B. beim Kauf einer Arztpraxis), den berücksichtigungsfähigen Gewinn131. b) Spezialfall: Provisionen – sonstige Bezüge § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG bestimmte bis Ende 2014 für die Ermittlung des Einkommens: „Nicht berücksichtigt werden Einnahmen, die im Lohnsteuerabzugsverfahren als sonstige Bezüge behandelt werden.“ Hierzu hat das BSG entschieden, dass einmal 128 Röhl, NJW 2010, 1418 (1424). 129 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drucks. 16/1889, 2, 15; BT-Drucks. 16/2454, 2; Bericht der Bundesregierung v. 30.10.2008 über die Auswirkungen des BEEG, BT-Drucks. 16/10770, 5 f. 130 BSG v. 25.6.2009 – B 10 EG 3/08 R, BSGE 103, 284. 131 BSG v. 15.12.2015 – B 10 EG 6/14 R, SozR 4-7837 § 2 Nr. 30 Rz. 15 im Anschluss an BFH v. 28.11.2013– IV R 58/10, BFHE 243, 572 = BStBl. II 2014, 966.

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jährlich gezahltes Urlaubs- oder Weihnachtsgeld aus nichtselbständiger Erwerbstätigkeit zu den sonstigen Bezügen gehört und nicht zur Bemessung des Elterngeldes herangezogen werden kann132. In Fällen, in denen Außendienstmitarbeiterinnen neben einem Grundgehalt mehrmals jährlich (zum Teil sogar monatlich) erhebliche Provisionen erhielten, entschieden die Richter im Jahr 2014, dass die Provisionen bei der Ermittlung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Frauen nicht unberücksichtigt bleiben dürften. §  39 EStG erwähne Provisionen ebenso wenig wie die Lohnsteuerrichtlinien. Den Elterngeldstellen müsse es zwar möglich sein, das Elterngeld möglichst unkompliziert und ohne großen Verwaltungsaufwand zu berechnen. Es sei jedoch bei verfassungskonformer Auslegung der Norm nicht möglich, Provisionen allein deshalb außen vor zu lassen, weil der Arbeitgeber Provisionen im Lohnabzugsverfahren faktisch als sonstige Bezüge behandelt habe. Steuerrecht und Elterngeldrecht verfolgten unterschiedliche Ziele. Das Steuerrecht sehe für sonstige Bezüge zum Schutz des Steuerpflichtigen besondere Besteuerungsvorschriften vor, ohne dass es Provisionen dabei steuerfrei stelle. Was im Steuerrecht zum Schutz des Steuerpflichtigen gedacht sei, würde nach Rechtsansicht der Elterngeldstellen im Elterngeldrecht aber stets zu einem endgültigen Nachteil beim Elterngeld führen. Dafür gebe es keine ausreichenden sachlichen Gründe133. Diese Entscheidung gefiel dem Gesetzgeber nicht, sodass er § 2c Abs. 1 Satz 2 BEEG neu formulierte und bestimmte: „Nicht berücksichtigt werden Einnahmen, die im Lohnsteuer­abzugs­verfahren nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige Bezüge zu behandeln sind.“ Zudem änderte er § 2c Abs. 2 BEEG wie folgt: „Grundlage der Ermittlung der Einnahmen sind die Angaben in den für die maßgeblichen Monate erstellten Lohn- und Gehaltsbescheinigungen des Arbeitgebers. Die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben in den maßgeblichen Lohn- und Gehaltsbescheinigungen wird vermutet.“ Zur Begründung wurde ausgeführt, ein Auseinanderfallen des lohnsteuerlichen und des elterngeldrechtlichen Einkommensbegriffs würde dazu führen, dass die Festlegungen in den Lohn- und Gehaltsbescheinigungen schon dem Grundsatz nach nicht mehr unmittelbar für die Elterngeldberechnung genutzt werden könnten, was den Verwaltungsaufwand erheblich steigern würde. Alle nach den „lohnsteuerlichen Vorgaben“ als sonstige Bezüge zu behandelnden Löhne- und Gehaltsbestandteile, insbesondere auch Provisionen, seien auch elterngeldrechtlich als sonstige Bezüge zu behandeln, mithin nicht zu berücksichtigen134. Dies hat den zuständigen Senat des BSG dazu bewogen, seine frühere – m.E. auch unter Geltung des § 2c BEEG n.F. weiterhin zutreffende135 – Rspr. aufzugeben. Das 132 BSG v. 29.6.2017  – B 10 EG 5/16 R; v. 29.8.2012  – B 10 EG 20/11 R, SozR 4-7837 §  2 Nr. 18. 133 BSG v. 26.3.2014 – B 10 EG 14/13 R, BSGE 115, 1985. 134 Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 18/2583, 25. 135 Nach wie vor bestimmen weder § 38a Abs. 1 Satz 2 EStG noch die LStRL, dass Provisionen unter allen Umständen zu den sonstigen Bezüge gehören. Abgesehen davon wird der Zweck des Elterngeldes, das sich an der (auch durch mehr oder weniger regelmäßigen Provisionen) geprägten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientieren soll, ausgeblendet

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Verfahren betraf einen Kläger, der im Jahr vor der Geburt seines Kindes aus seiner Beschäftigung als Berater neben einem monatlich gleichbleibenden Gehalt im Oktober und Dezember quartalsweise gezahlte Prämien („Quartalsprovisionen“) erzielt hatte. Das BSG nimmt nunmehr an, dass die Neuregelung des §  2c Abs.  1 Satz  2 BEEG solche Provisionen von der Bemessung des Elterngeldes ausgenommen habe. Die unangefochtene Lohnsteueranmeldung entfalte Bindungswirkung. Hinzu komme, dass der Ausschluss sonstiger Bezüge nicht besonders schwer wiege, weil es der Elterngeldberechtigte selbst in der Hand habe, diesen durch eine entsprechende Vertragsgestaltung mit seinem Arbeitgeber zu vermeiden und eine fehlerhafte lohn­ steuerliche Zuordnung erforderlichenfalls anzufechten136. Nach dieser Rspr. treten die mit dem BEEG verfolgten materiellen Ziele hinter das Interesse der Elterngeldstellen an einfach zu ermittelnden Anknüpfungstatsachen (Lohnabrechnung etc.) auch dann zurück, wenn die Provisionen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Elterngeldberechtigten maßgeblich geprägt haben. Ob diese auftretende Ungleichbehandlung Erziehungsgeldberechtigter sachlich gerechtfertigt werden, muss bezweifelt werden. Gleiches gilt für die Annahme des Gesetzgebers, die Komplexität des Elterngeldes werde verringert, wenn einerseits strikte Anbindung an das Lohnsteuerabzugsverfahren angeordnet wird und andererseits das Arbeitsentgelt im maßgeblichen Bemessungszeitraum mittels pauschaler Abgabensätze und fiktiver Steuern (fiktive Nettoberechnung) ermittelt werden soll137. Wenn schon, dann hätte sich zur Vereinfachung angeboten, die jahrzehntelang bewährte Ermittlung des Elterngeldes analog den Vorschriften über das Arbeitslosengeld zu berechnen, zumal die Ausgangspunkte evident ähnlich sind.

und eine Ungleichbehandlung gegenüber Eltern in Kauf genommen, denen sonstige Bezüge nicht gewährt werden. Verwaltungsvereinfachung kann dies nicht rechtfertigen, zumal der Arbeitnehmer steuerlich regelmäßig angesichts des Jahressprinzips kein allzu großes Interesse daran hat, dass z.B. Provisionen vom Arbeitgeber nicht als sonstige Bezüge behandelt werden. Auch sind die Gerichte für Arbeitssachen grundsätzlich nicht befugt, die Berechtigung der Abzüge für Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge zu überprüfen. Der Arbeitgeber erfüllt beim Lohnsteuerabzug öffentlich-rechtliche Aufgaben, die allein ihm obliegen. Er ist Steuerentrichtungspflichtiger i.S.v. § 43 Satz 2 AO. Legt der Arbeitgeber nachvollziehbar dar, dass er bestimmte Abzüge für Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge einbehalten und abgeführt hat, kann der Arbeitnehmer die nach seiner Auffassung unberechtigt einbehaltenen und abgeführten Beträge nicht erfolgreich mit einer Vergütungsklage geltend machen. Er ist vielmehr auf die steuer- und sozialrechtlichen Rechtsbehelfe beschränkt, es sei denn, für den Arbeitgeber wäre aufgrund der für ihn zum Zeitpunkt des Abzugs bekannten Umstände eindeutig erkennbar gewesen, dass eine Verpflichtung zum Abzug nicht bestand. Andernfalls tritt die Erfüllungswirkung ein (vgl. BAG v 21.12.2016 – 5 AZR 266/16, BAGE 157, 336 Rz. 20; v. 30.4.2008 – 5 AZR 725/07, BAGE 126, 325 Rz. 21, vgl. auch BGH v. 12.5.2005 – VII ZR 97/04, BGHZ 163, 103 Rz. 17). 136 BSG v. 14.12.2017 – B 10 EG 7/17 R. 137 Vgl. zu den Gründen des Gesetzgebers z.B. BT-Drucks. 17/1221,  1 (7); BT-Drucks. 17/9841, 1 (17) auf die sich das BSG z.B. in BSG v. 29.6.2017 – B 10 EG 5/16 R, Rz. 22 maßgeblich beruft.

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VI. Schlussbetrachtung Das Sozialrecht nimmt zu Recht aus Gründen der Verwaltungsökonomie dort auf Vorschriften des Steuerrechts Bezug, wo dem Arbeitgeber bei der Berechnung der Beiträge für abhängig Beschäftigte die Arbeit erleichtert werden soll. Dabei kann sich der Gesetzgeber dafür entscheiden, dass nicht alle Tatbestände der Lohnsteuerfreiheit oder Lohnsteuerpauschalierung auch in der Sozialversicherung Wirkung entfalten. Soweit allerdings Vorschriften des Steuerrechts dazu führen sollen, dass wegen Steuerfreiheit oder Pauschalierung kein Arbeitsentgelt und damit insoweit keine Beitragspflicht vorliegt, sollte dies in vollem Umfang geschehen.; andernfalls geht der Vereinfachungseffekt nicht nur verloren, sondern das Lohnabzugsverfahren wird noch komplizierter. Geht es um Arbeitseinkommen, sind die steuerlichen Gewinnermittlungsvorschriften konsequent anzuwenden. Dem gegenüber einem Versicherten ergangenen, bestandskräftig gewordenen Einkommensteuerbescheid kommt Tatbestandswirkung zu, die durch die Rechtsprechung nicht aus „Billigkeitsgründen“ unterlaufen werden sollte. Für die Auslegung der vom Sozialrecht in Bezug genommenen steuerlichen Vorschriften kommt der Praxis der Finanzbehörden und erst recht der Rechtsprechung des BFH Indizwirkung zu. Will das BSG davon abweichen, sollte es den Weg zum Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes wählen. Da dem Steuergesetzgeber wie dem Steuerbeamten im Einzelfall bei der Steuerfestsetzung die Folgen für Beitragserhebungen oder das Leistungsrecht nicht immer vor Augen stehen, sollte vor allem der Sozialgesetzgeber prüfen, ob die steuerrechtlichen Regelungen auch im Sozialrecht zu sachgerechten Ergebnissen führen. Dabei ist das Bestreben um einfache und effektive Verwaltung ein berechtigtes Anliegen des Gesetzgebers. Jedoch kann Verwaltungspraktikabilität nicht jede im Sozialrecht eintretende Ungleichbehandlung rechtfertigen, wenn diese ihren Ausgangspunkt in einer für das Steuerrecht sinnvollen und dort möglicherweise für den Bürger sogar günstigen Regelung hat (z.B. Elterngeldgeldberechtige mit und ohne Provisionen, jedoch gleich hohem Jahreseinkommen), sich jedoch im Sozialrecht nachteilig auswirkt. Dies sollte im Gesetzgebungsverfahren offengelegt und diskutiert werden. Großes Unbehagen bereitet, dass sich Sozialrichter, wenn das Gesetz sie auf das Gebiet des Steuerrechts führt, dort unsicher fühlen und sie sich weithin auf „dünnem Eis“ bewegen. Beide Rechtsgebiete – das Sozialrecht wie das Steuerrecht – sind höchst komplex und dynamisch; im Studium der Rechtswissenschaften davon gehört haben die Wenigsten. Umso mehr sollte es ein Anliegen der Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit sein, erstens beim Gesetzgeber auf „Stimmigkeit der Schnittstellen“ zu dringen und zweitens bzgl. der Schnittstellen beider Rechtsgebiete in einen gegenseitigen, strukturierten Wissensvermittlungs- und Fortbildungsprozess einzutreten, damit das „dünne Eis“ nicht bricht.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … B. VI.

Insolvenzrecht und Steuerrecht Von André Meyer

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Konfliktgründe 1. Gegenläufigkeit der Teleologien 2. Besondere Absicherungsmechanismen zugunsten der Steuer III. Gesetzliche Leitlinien 1. Grundsätzliche Gleichstellung des Steuergläubigers 2. Entgegengesetzte Vorstöße 3. Das Unbehagen mit der par conditio creditorum 4. Reformnotwendigkeit?

IV. Rechtsanwendungsbezogene Konkretisierungen 1. Zuordnung von Steuerschulden in die insolvenzrechtlichen Kategorien a) Übergreifende Zusammenhänge b) Die Umsatzsteuer im Besonderen 2. Fehlende Tragfähigkeit von Treuhanderwägungen a) Umsatzsteuer b) Lohnsteuer V. Schluss 1. Resümee 2. Thesen

I. Einleitung Es dürfte kaum ein Rechtsgebiet geben, mit dem das Steuerrecht so häufig in Konflikt gerät wie mit dem Insolvenzrecht1. Das Insolvenzrecht regelt ein primär auf gemeinschaftliche Gläubigerbefriedigung gerichtetes Gesamtvollstreckungsverfahren2. Es zählt zum Kernbestand des Wirtschaftsprivatrechts3. Mithin stehen sich zwei gleichgeordnete Rechtsgebiete, nämlich Privatrecht und Steuerrecht4, gegenüber. Wertungskonflikte sind grundsätzlich im Wege der Abwägung aufzulösen, wobei die

1 Vgl. etwa Hölzle, BB 2012, 1571 (1571 ff.); Seer, DStR 2016, 1289 (1289 f.); Sonnleitner, Insolvenzsteuerrecht, 2017, S. 1 f. 2 Stürner in MünchKomm. InsO, 3. Aufl. 2013, Einleitung InsO Rz. 51; näher unter II. 1. 3 Pape in Uhlenbruck, 14. Aufl. 2015, § 1 InsO Rz. 2. 4 Dass sie einander gleichgeordnet sind, ist aus heutiger Sicht allgemein anerkannt; siehe etwa BVerfG v. 27.12.1991 – 2 BvR 72/90, BStBl. II 1992, 212 (213); Drüen, StuW 2008, 154 (156); Kirchhof, StuW 1983, 173 (180 f.); Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I, 2. Aufl. 2000, S. 46 ff.

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Grundwertungen der jeweiligen Teilrechtsordnung besonders zu gewichten sind5. Soweit eine Auflösung potentieller Wertungskonflikte allerdings bereits im Gesetz angelegt ist, weil sich der Gesetzgeber der Problemlage bewusst war und sich ihrer angenommen hat, bedarf es der vorstehend skizzierten Vorgehensweise nicht. In diesem Fall hat der Rechtsanwender die im Gesetz vorzufindende Konfliktbewältigungsentscheidung zu vollziehen. Wie im Rahmen dieses Beitrags herausgearbeitet wird, gelingt die Umsetzung der gesetzgeberischen Vorgaben im Bereich des Insolvenzsteuerrechts nicht stets in optimaler Weise. Bereits eine Grobsichtung der hier bestehenden Problemlagen lässt den Schluss zu, dass die gefundenen Lösungen häufig von der rechtlichen Sozialisation und dem daraus resultierenden Vorverständnis des Bewertenden geprägt sind6. Vor diesem Hintergrund muss es weiterführend erscheinen, einen Dialog zwischen den vorzufindenden Sicht- und Herangehensweisen herbeizuführen, wie dies durch die von Roman Seer geleitete Kommission zur Harmonisierung von Insolvenz- und Steuerrecht7 mit Blick auf eine Vielzahl praktisch wichtiger Fallgruppen unternommen wurde. Zugleich wirft der Bericht der Kommission aber auch ein Schlaglicht darauf, wie tief die Gräben bisweilen sind8. Damit ist die Frage aufgeworfen, woraus das besondere Konfliktpotential zwischen diesen beiden Rechtsgebieten resultiert (unter II.). Sodann ist nach gesetzlichen Leitlinien dafür zu suchen, wie es zu überwinden ist (unter III.). Diese Leitlinien werden sodann anhand einzelner insolvenzsteuerrechtlicher Problemlagen exemplifiziert (unter IV.)9. Der Beitrag schließt mit einem Resümee und einer thesenhaften Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse (unter V.).

5 Vgl. Koller, Privatrecht und Steuerrecht, 1993, S. 41 ff., S. 394 ff.; Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, S.  199  ff.; ausführlich zur Verhältnisbestimmung zwischen verschiedenen Teilrechtsordnungen Meyer, Steuerliches Leistungsfähigkeitsprinzip und zivilrechtliches Ausgleichssystem, 2013, S. 15 ff., S. 63 ff., auch zu verfassungsrechtlichen Hintergründen und dem Desiderat der Einheit bzw. Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung. 6 Pointiert Kießling, Einkommensbesteuerung in der insolventen Personengesellschaft, 2018, S. 365. 7 Zu den Hintergründen Seer, Abschlussbericht der Kommission zur Harmonisierung von Insolvenz- und Steuerrecht, Beilage 2 zu ZIP 42/2014, 1 f. 8 Vgl. Seer (Fn. 7), S. 2 ff. 9 Eine Untersuchung aller oder auch nur der wichtigsten Reibungspunkte zwischen Steuerund Insolvenzrecht würde den Rahmen dieses Beitrags bei weitem sprengen. Es bleibt dem Verfasser daher einstweilen nichts anderes übrig, als insoweit auf die Monographien und Handbücher zu verweisen, die das Verhältnis von Steuer- und Insolvenzrecht in den Einzelpunkten beleuchten; vgl. etwa Frotscher, Besteuerung bei Insolvenz, 8. Aufl. 2014; Roth, Insolvenzsteuerrecht, 2. Aufl. 2016; Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, 11. Aufl. 2015.

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II. Konfliktgründe 1. Gegenläufigkeit der Teleologien Der Grund für die Schwierigkeiten, die bei der Abstimmung zwischen Steuer- und Insolvenzrecht vorzufinden sind, besteht in ihren nicht nur unterschiedlichen, sondern geradezu gegensätzlichen Teleologien. Äußerst nahe liegt zunächst folgende Erklärung10: Das Insolvenzrecht leitet seine Existenzberechtigung aus dem Desiderat der gemeinschaftlichen und gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung ab11. Dieser Gläubigerbefriedigungsmodus bildet sowohl seine Legitimationsgrundlage als auch sein zu erreichendes Primärziel (vgl. § 1 Satz 1 InsO)12. Dem Prinzip der Gleichbehandlung der Gläubiger (par conditio creditorum: gleiche Lage der Gläubiger) kommt mithin zentrale Bedeutung zu13. Eine Besserbehandlung einzelner von ihnen, die sich nicht auf vorrangige insolvenzrechtliche Wertungszusammenhänge stützen lässt14, ist nicht nur systemfremd, sondern wirkt, gemessen an den Zielen des Insolvenzrechts, geradezu destruktiv15. Das Steuerrecht hingegen ist im Kern genau entgegengesetzt gepolt. Der Steueranspruch ist auf Exekution angelegt (vgl. § 85 AO)16. Die hierdurch bewirkte Gleichbehandlung der Steuerunterworfenen, d.h. der Schuldner, macht den  Steuerzugriff überhaupt erst erträglich17. Dem verfassungsrechtlich fundierten Durchsetzungsimperativ18 ist ein Zurückstehen wesensfremd. Ein Absehen von der

10 Vgl. auch die gleichgerichtete Beobachtung Krumms, Steuervollzug und formelle Insolvenz, 2009, S. 66 f. („Die Ordnungsfunktion des Insolvenzrechts und die Effektivität des Steuerzugriffs sind im Ausgangspunkt gleichermaßen relativierungsfeindlich.“) sowie Seer, DStR 2016, 1289 (1289 f.); Sonnleitner (Fn. 1), S. 1 f.; Witfeld, Das Umsatzsteuerverfahren und die Insolvenz, 2016, S. 1, S. 75. 11 Siehe etwa Ganter/Lohmann in MünchKomm. InsO (Fn. 2), § 1 InsO Rz. 52; Uhlenbruck, ZInsO 2005, 505 (505 f.); näher zum Verhältnis zwischen gemeinschaftlicher und gleichberechtigter Gläubigerbefriedigung Weiland, Par conditio creditorum, 2010, S. 9 ff. 12 Vgl. Stürner in MünchKomm. InsO (Fn. 2), Einleitung InsO Rz. 1; Hölzle, BB 2012, 1571 (1571). 13 Siehe etwa Stürner in MünchKomm. InsO (Fn. 2), Einleitung InsO Rz. 62; Bauer, DZWIR 2007, 188 (189); Uhlenbruck, ZInsO 2005, 505 (505 f.). 14 Verwiesen sei insbesondere auf die in der InsO angelegte Differenzierung zwischen verschiedenen Gläubigergruppen, für die jeweils ein besonderer, insolvenzrechtlich beachtlicher Grund nachweisbar ist (vgl. Pape in Uhlenbruck (Fn. 3), § 1 InsO Rz. 2; Seer, DStR 2016, 1289 (1290); Witfeld (Fn.  10), S.  48  f.; zur Kritik Uhlenbruck, ZInsO 2005, 505 (505 f.); Verhältnisbestimmung zur par conditio creditorum bei Krumm (Fn. 10), S. 31); näher zu diesem Fragenkreis Bauer, DZWIR 2007, 188 (189 ff.); Gassert-Schumacher, Privilegien in der Insolvenz, 2002, S. 163 ff.; Weiland (Fn. 11), S. 56 ff. 15 Mit Blick auf das Verhältnis zum Steuerrecht treffend Roth (Fn. 9), Rz. 1.5. 16 Siehe nur Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 85 AO Rz. 32; Krumm (Fn. 10), S. 16 ff. 17 Vgl. Krumm (Fn. 10), S. 26 f.; Seer, FR 2014, 721 (721). 18 Vgl. BVerfG v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 (112); BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271): Gleichheit im Steuervollzug verfassungsrechtlich geboten.

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Festsetzung oder Erhebung der Steuer hat Ausnahmecharakter und ist nur auf Grundlage einer gesetzlichen Regelung zulässig19. 2. Besondere Absicherungsmechanismen zugunsten der Steuer Neben diesen relativ evidenten Zusammenhang tritt noch ein weiterer, weniger offensichtlicher Gesichtspunkt, der aber gleichwohl einen ganz wesentlichen Teil des Spannungsverhältnisses zwischen beiden Rechtsgebieten ausmacht: Die Gesetzgebung hebt die Steuerschuld aus fiskalischen Gründen in vielfältiger Weise von anderen Anspruchssystemen ab20. Insbesondere stellt das Gesetz der Steuer ein überaus leistungsfähiges Beitreibungsorgan, die Finanzverwaltung, zur Seite, das in der Phase vor Insolvenzeröffnung21 herausgehobene Zugriffsrechte hat, über die private Gläubiger nicht verfügen. Das Finanzamt kann den Steueranspruch selbst titulieren (vgl. § 155 Abs. 1 Satz 1 AO) und diesen selbst geschaffenen Titel sodann selbst vollstrecken (§§ 249 ff. AO)22. Diese Durchsetzungsbefugnisse können in der Schuldnerkrise in eine insolvenzrechtswidrige Vorzugsbehandlung des Steueranspruchs münden, und genau hierin liegt der Grund für die große Anzahl von Insolvenzanfechtungen gegenüber den Finanzämtern23. Die Steuerrechtsordnung kennt zudem eine Vielzahl an Haftungstatbeständen und sonstigen Regelungen, die es ermöglichen, Dritte in die Pflicht zu nehmen, wenn der Schuldner seine Verbindlichkeiten nicht bedient24. Die hier in Bezug genommenen Vorschriften sind im Ausgangspunkt legitim, da sie auf dem Umstand beruhen, dass der Staat nicht über dieselben Absicherungsmöglichkeiten verfügt wie ein privater Gläubiger25. Soweit sie allerdings dazu führen, dass die Masse in einer Insolvenzsituation zugunsten des Fiskus geschmälert wird26, bedürfen sie besonderer Rechtfertigung, denn dann stehen sie in Widerstreit zur par conditio creditorum27. Aus alldem 19 Vgl. BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393 (400 f.); v. 4.7.2012 – II R 38/10, BStBl. II 2012, 782 (789); Rätke in Klein, 13. Aufl. 2016, § 85 AO Rz. 8. Der Steueranspruch ist folglich keiner privatautonomen Disposition zugänglich. Insbesondere sind Billigkeitsmaßnahmen nur auf Grundlage der dafür bestehenden Vorschriften zulässig. 20 Vgl. Krumm (Fn. 10), S. 21 a.E.: „mit rechtlicher Überlegenheit zugunsten des Steuergläubigers ausgestaltetes Steuerverwaltungsverfahren“. 21 Zur verfahrensrechtlichen Gleichbehandlung in der eröffneten Insolvenz siehe unten III. 1. 22 Näher Krumm (Fn. 10), S. 21 ff. Der Steuerbescheid bildet gemäß § 218 Abs. 1, § 249 Abs. 1 AO die verfahrensrechtliche Grundlage für die Erhebung und Vollstreckung der Steuer, so dass ihm „Titelfunktion“ zukommt (Seer in Tipke/Kruse, § 155 AO Rz. 1). 23 Siehe auch Hölzle, BB 2012, 1571 (1574 Fn. 28); Willemsen/Kühn, BB 2015, 3011 (3013). 24 Siehe im Einzelnen Krumm (Fn. 10), S. 49 ff., S. 113 ff. 25 Vgl. Schön in FS H.P. Westermann, 2008, S. 1469 (1477 f.). 26 Vgl. die nach Inkrafttreten der InsO eingeführten Tatbestände in §§ 13b, 13c UStG (dazu auch Fn. 27) sowie die §§ 48 ff. EStG (siehe aber Fn. 29); dazu Bauer, DZWIR 2007, 188 (188 f.); Meier, Privilegien des Fiskus und der Sozialversicherungsträger in der Unternehmensinsolvenz, 2010, S. 116 ff.; Nachtmann, Das Fiskusvorrecht im deutschen Insolvenzrecht, 2014, S. 86 ff.; Uhlenbruck, ZInsO 2005, 505 (506); Weiland (Fn. 11), S. 121 ff. 27 Gemeint ist an dieser Stelle die Ebene der rechtspolitischen Begründung; zum Verfassungsrecht Fn. 70. Am ehesten rechtfertigen lässt sich eine Verlagerung der Steuerschuld-

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folgt, dass der Staat keineswegs der wehrlose Zwangsgläubiger ist, für den er oft gehalten wird28. Schon aus diesem Grund bedarf er keiner gesteigerten Fürsorge in Gestalt von Rechtsprechung, die insolvenzrechtliche Wertungen hintanstellt29. Wie das Gesetz den Konflikt zwischen Steuer- und Insolvenzrecht im Grundsätzlichen auflöst, wird im Folgenden herausgearbeitet.

III. Gesetzliche Leitlinien 1. Grundsätzliche Gleichstellung des Steuergläubigers Die Anzahl der Rechtsvorschriften, die den Schnittbereich von Insolvenz- und Steuerrecht unmittelbar regeln, ist gering30. Das Gesetz zeichnet sich stattdessen eher durch beredtes Schweigen aus. Insbesondere ist das Fiskusvorrecht, das in § 61 Abs. 1 Nr. 2 KO noch enthalten war31, gegen alle Widerstände gestrichen worden32, ebenso wie die Konkursvorrechte insgesamt abgebaut wurden33. Der Reformgesetzgeber ver-

nerschaft auf den Leistungsempfänger bei der Umsatzsteuer (vgl. Witfeld (Fn. 10), S. 49 ff.), auch wenn das im insolvenzrechtlichen Schrifttum vielfach anders gesehen wird (statt vieler Meier (Fn. 26), S. 115 ff.; Uhlenbruck, ZInsO 2005, 505 (506)). Weist das Gesetz allerdings, wie im Regelfall, dem Leistenden die Position des Steuerschuldners zu, so bleibt kein Raum für eine rechtsprechungsinduzierte Besserstellung des Fiskus im Vergleich zu anderen Gläubigern; dazu im Folgenden. 28 Vgl. demgegenüber BT-Drucks. 17/3030, 43; Schuster, DStR 2013, 1509 (1511); Wäger, DStR 2011, 1925 (1928); im gleichen Sinne wie hier hingegen Hölzle, BB 2012, 1571 (1577 f.); Uhlenbruck, ZInsO 2005, 505 (506) sowie im Ergebnis auch Nachtmann (Fn. 26), S. 208 ff., jedoch mit in Teilen insuffizienter Begründung. 29 Derartige Tendenzen sind leider nicht zu übersehen. Auf sie wird im Rahmen dieses Beitrags zurückgekommen. Hiermit ist allerdings nicht zugleich gesagt, dass die finanzgerichtliche Rechtsprechung im insolvenzrechtsnahen Bereich durchgehend als fiskusfreundlich zu charakterisieren ist; siehe als Gegenbeispiel die beifallswürdige Entscheidung BFH v. 13.11.2002 – I B 147/02, BStBl. II 2003, 716 (718) zum Steuerabzug bei Bauleistungen, wo es zu Recht heißt: „Jedenfalls handelt es sich bei Abführung des Steuerbetrags durch den Leistungsempfänger um eine Leistung für Rechnung des Steuerschuldners (§ 48 Abs. 1 Satz 1 EStG), die insolvenzrechtlich genauso zu behandeln ist wie eine entsprechende Leistung des Schuldners selbst“. Die daraus resultierende Konsequenz, dass Lohnsteuer in der Arbeitnehmerinsolvenz zur Insolvenzmasse zählen kann (§ 35 Abs. 1 InsO i.V.m. §  38 Abs.  3 Satz  1 EStG), wird allerdings in der Rechtspraxis nicht nachvollzogen. Ent­ gegen BFH v. 24.2.2011  – VI R 21/10, BStBl.  II 2011, 520 (521) ist die Verweisung auf § 850e ZPO in § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht als – grob systemwidriges – Fiskusprivileg zu deuten. 30 Vgl. Frotscher (Fn. 9), S. 17. 31 Siehe zu seinen Hintergründen Gassert-Schumacher (Fn. 14), S. 118 f. 32 Dazu Krumm (Fn. 10), S. 47; zu der von Anfang an in dieser Hinsicht geführten Diskus­ sion näher Gassert-Schumacher (Fn. 14), S. 129 ff., S. 158 ff. 33 Siehe etwa Pape in Uhlenbruck (Fn.  3), §  1 InsO Rz.  12; Gassert-Schumacher (Fn.  14), S. 175 ff.

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folgte damit in erster Linie das Ziel, die Verteilungsgerechtigkeit zu erhöhen34. Die InsO kennt daher nur noch den Insolvenzgläubiger und differenziert insoweit nicht mehr zwischen verschiedenen Gruppen (vgl. § 38 InsO). Nachrangige Forderungen (vgl. §  39 InsO) bilden besonders zu begründende Ausnahmeerscheinungen35. Die InsO ist folglich viel stärker als die KO von der Gleichbehandlung der Insolvenzgläubiger geprägt36 – und zwar auch und gerade, soweit der Staat betroffen ist. Vorweg zu berichtigen sind jedoch die Masseverbindlichkeiten (§§  53–55 InsO). Lediglich in diesem Bereich findet sich in Gestalt von § 55 Abs. 4 InsO eine steuerrechtsbezogene Sonderregelung (zu ihr unten III. 3.), während es im Übrigen bei den allgemeinen insolvenzrechtlichen Grundsätzen bleibt37. Die aus diesem Befund abzuleitende grundsätzliche Gleichstellung des Steuergläubigers mit den übrigen Gläubigern38 findet im Steuerrecht ihre Bestätigung. Der Große Senat des RFH hatte bereits Mitte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts judiziert, dass sich die Verfolgung von Steueransprüchen im Konkurs nach Konkursrecht richtet39. Daraus wurde die bis heute gültige Kurzformel: Konkursrecht (Insolvenzrecht) geht vor Steuerrecht40. Dieser allgemeine Rechtsgedanke findet seinen, wenn auch unvollkommenen, Niederschlag im heutigen § 251 Abs. 2 AO41. Dieser Vorrang ist zwar zunächst nur verfahrensrechtlicher Natur42, bewirkt aber bereits unmittelbar, dass ein wesentlicher Teil der außerhalb der Insolvenzsituation anzutreffenden Durchsetzungsmächtigkeit des Steueranspruchs (vgl. oben II. 2.) entfällt43. Insbesondere darf das Finanzamt Steueransprüche, die als Insolvenzforderungen (§ 38 InsO) einzuordnen sind, nicht mehr durch Bescheid geltend machen, sondern muss sie zur Insolvenztabelle anmelden (vgl. §§ 174, 175 InsO)44. Darüber hinausgehend hat dieser Vorrang richtigerweise auch eine materiell-rechtliche Dimension45. Nach dem Regelungsplan des Gesetzgebers ist nämlich das Insol34 BT-Drucks. 12/2443, 81, 90; siehe dazu Ganter/Lohmann in MünchKomm. InsO (Fn. 2), § 1 InsO Rz. 84; Bauer, DZWIR 2007, 188 (189). 35 Dazu Ehricke in MünchKomm. InsO (Fn. 2), § 39 InsO Rz. 2. 36 Siehe im Einzelnen Ganter/Lohmann in MünchKomm. InsO (Fn. 2), § 1 InsO Rz. 51 ff. 37 Auf Relativierungen, die sich aus der neueren Rechtsprechung ergeben, wird unter IV. 1. eingegangen. 38 Kahlert, DStR 2011, 921 (921  f.); Krumm (Fn.  10), S.  43  ff.; Roth (Fn.  9), Rz.  1.5; Seer (Fn. 7), S. 2; Witfeld (Fn. 10), S. 2. 39 RFH v. 25.10.1926 – GrS 1/26, RStBl. 1926, 337 (338). 40 Dazu Krumm (Fn. 10), S. 64 f. 41 Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 8; Frotscher (Fn. 9), S. 17 ff. 42 Dazu Krumm (Fn. 10), S. 63 ff. 43 Näher Krumm (Fn. 10), S. 116 ff. Wie die weiteren Ausführungen unter II. 2. belegen, kann jedoch von einem vollumfänglichen Entfall dieser Durchsetzungsmacht keine Rede sein. 44 Siehe nur Sonnleitner (Fn. 1), S. 3; zur abweichenden Rechtslage bei den Masseverbindlichkeiten Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 71. 45 Gleichsinnig Hölzle, BB 2012, 1571 (1574 ff., 1577 ff.); Seer, DStR 2016, 1289 (1291); siehe auch die in den nachstehenden Fußnoten zitierten Stellungnahmen; (wohl nur) im Ausgangspunkt abweichend Sonnleitner (Fn.  1), S.  2  f. (siehe aber S.  4); Witfeld (Fn.  10), S. 77 ff. (siehe aber S. 194).

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venzrecht dazu berufen, „den durch die Unzulänglichkeit des schuldnerischen Vermögens hervorgerufenen Verteilungskonflikt unter den Gläubigern zu lösen“46 – und dem Insolvenzrecht ist eine prinzipielle Sonderbehandlung des Fiskus fremd. Daher haben insolvenzrechtliche Vorschriften und Grundsätze, die die par conditio creditorum absichern, richtigerweise Vorrang vor konfligierenden steuerrechtlichen Wertungen47. Die daraus resultierende grundsätzliche Gleichstellung des Steuergläubigers in der Insolvenz ist durch den Wegfall des Fiskusvorrechts sinnfällig zum Ausdruck gekommen48. Die so konkretisierte Vorrangregel dürfte in ihrem Kern­ gehalt allgemein anerkannt sein49  – und sie ist de lege lata auch nicht ernsthaft zu bestreiten. Vor dem Hintergrund dieser übergeordneten Systementscheidung sind Vorschriften mit insolvenzsteuerrechtlichen Bezügen im Zweifel insolvenzrechtsfreundlich auszulegen50. 2. Entgegengesetzte Vorstöße Anders ist das nur, wenn sich eine Vorschrift finden lässt, die erkennbar von der grundsätzlichen Gleichstellung von Steueransprüchen in der Insolvenz abweicht und mithin Ausnahmecharakter hat. Seit Inkrafttreten der InsO hat es nicht an Versuchen gefehlt, mehr oder weniger offensichtliche Vorzugsbehandlungen zugunsten des Fiskus im Gesetz zu verankern51. Der vorerst letzte Vorstoß wurde 2015 im Zuge einer Reform des Rechts der Insolvenzanfechtung unternommen. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung war vorgesehen, § 131 Abs. 1 InsO so zu ergänzen, dass eine im Wege der Zwangsvollstreckung erwirkte Sicherung oder Befriedigung nicht mehr ohne weiteres nach dieser Vorschrift anfechtbar gewesen wäre52. Eine derartige Re­ gelung war nahezu wortgleich schon zehn Jahre zuvor vorgeschlagen worden53. Sie hätte sich in erster Linie zugunsten der Sozialversicherungsträger und der Finanz­ verwaltung ausgewirkt, da diese Gläubiger im Vorfeld der Verfahrenseröffnung am 46 So treffend Müller, GmbHR 2003, 389 (392). 47 Vgl. Hölzle, BB 2012, 1571 (1571 ff., 1576 ff.). 48 Vgl. Hölzle, BB 2012, 1571 (1578); Kahlert, DStR 2011, 921 (921 f.). 49 Frotscher (Fn. 9), S. 20 f.; Hölzle, BB 2012, 1571 (1577 ff.); Kahlert, DStR 2011, 921 (921 ff.); Krumm (Fn. 10), S. 43 ff.; Nachtmann (Fn. 26), S. 37 f.; Roth (Fn. 9), Rz. 1.5; Schön (Fn. 25), S. 1469 (1471); Seer, DStR 2016, 1289 (1290 f.), auch zu verfassungsrechtlichen Implikationen. 50 Überzeugend deshalb BFH v. 13.11.2002  – I B 147/02, BStBl.  II 2003, 716 (718); dazu Fn. 29. 51 Vgl. Hölzle, BB 2012, 1571 (1573); Kahlert, DStR 2011, 1973 (1975); Uhlenbruck, ZInsO 2005, 505 (508 ff.); Witfeld (Fn. 10), S. 19 ff. 52 § 131 Abs. 1 Satz 2 RegE-InsO lautete (BR-Drucks. 495/15, 1): „Eine Rechtshandlung wird nicht allein dadurch zu einer solchen nach Satz 1, dass die Sicherung oder Befriedigung durch Zwangsvollstreckung erwirkt oder zu deren Abwendung bewirkt worden ist.“ Den Hintergrund dieses Vorschlags bildet die Rechtsprechung des BGH, nach der Zwangsvollstreckungsmaßnahmen und Druckzahlungen zu inkongruenter Deckung führen (grundlegend BGH v. 9.9.1997 – IX ZR 14/97, BGHZ 136, 309 [310 ff.]). 53 Vgl. Huber, ZInsO 2015, 2297 (2298); Willemsen/Kühn, BB 2015, 3011 (3011); zum Scheitern der damaligen Initiative Bauer, DZWIR 2007, 188 (188).

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häufigsten vollstrecken54. Erfreulicherweise ist die Tragweite dieser ­Änderung55 im Gesetzgebungsverfahren noch rechtzeitig erkannt worden56. Eine insolvenzsteuerrechtliche Sonderregelung, die auf breiterer Front zu einer Besserbehandlung des Steuergläubigers führt, ist allerdings 2011 in Gestalt von § 55 Abs. 4 InsO Gesetz geworden. Auf ihre Hintergründe sowie ihre Sinnhaftigkeit wird im Folgenden eingegangen. 3. Das Unbehagen mit der par conditio creditorum Die vorzufindenden Entwicklungen legen es nahe zu ergründen, woraus das Unbehagen des Steuerrechts mit der eingangs fundierten Vorrangregel zugunsten der par conditio creditorum resultiert. Das soll anhand von § 55 Abs. 4 InsO exempli­fiziert werden, also der Vorschrift, die in erster Linie mit Blick auf Umsatzsteuerverbindlichkeiten geschaffen wurde, welche unter der Ägide eines sog. „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters57 begründet werden58. Die hier vorzufindende Sonderbehandlung des Fiskus wird in den Gesetzesmaterialien als notwendig und ge­boten angesehen59. Sinngemäß heißt es, man sei bei Inkrafttreten der InsO davon ausgegangen, dass im Regelfall „starke“ vorläufige Verwalter60 bestellt werden, deren Handlungen gemäß §  55 Abs.  2 InsO zu Masseverbindlichkeiten führen61. Diese Erwartung habe sich im Nachhinein nicht erfüllt62. Die Anreicherung der Masse durch die im Eröffnungsverfahren entstehenden Steuerbeträge stelle eine ungerechtfertigte Benachteiligung des Fiskus dar, der sich nicht dagegen wehren könne63. Diese Argumente lassen sich durchaus hören, überzeugen im Ergebnis aber nicht. So mangelt es nicht an privaten Gläubigern, die im (Regel-)Fall der Einsetzung eines 54 Zu den Gründen siehe oben II. 2. 55 Aufgrund der herausgehobenen Durchsetzungsbefugnisse des Staates hätte es sich um ein Fiskusprivileg gehandelt (Brinkmann/Jacoby/Thole, ZIP 2015, 2001 [2001]); a.A. aufgrund eines abweichenden Vorverständnisses Weiland (Fn. 11), S. 142 ff.). 56 Im Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages v. 16.2.2017 (BR-Drucks. 139/17) ist sie nicht mehr enthalten; zu den Hintergründen siehe Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz v. 15.2.2017, BT-Drucks. 18/11199, 10 f. 57 Vgl. § 22 Abs. 2 InsO; zur Terminologie Haarmeyer in MünchKomm. InsO (Fn. 2), § 22 InsO Rz.  14; zu den verschiedenen Ausgestaltungsmöglichkeiten, die dem Insolvenzgericht zur Verfügung stehen, näher Vallender in Uhlenbruck (Fn. 3), § 22 InsO Rz. 2 sowie Rz. 6 ff. 58 Vgl. BT-Drucks. 17/3030, 42 f. sowie etwa Sinz in Uhlenbruck (Fn. 3), § 55 InsO Rz. 105. Die Vorschrift beschränkt sich allerdings nicht auf die Umsatzsteuer. 59 BT-Drucks. 17/3030, 42 f. 60 Vgl. § 22 Abs. 1 InsO sowie Fn. 57. 61 BT-Drucks. 17/3030, 42. In Bezug auf „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter bedarf es daher keines Rückgriffs auf § 55 Abs. 4 InsO (Sinz in Uhlenbruck (Fn. 3), § 55 InsO Rz. 108). 62 BT-Drucks. 17/3030, 42 f.; vgl. dazu Vallender in Uhlenbruck (Fn. 3), § 22 InsO Rz. 1. 63 BT-Drucks. 17/3030, 43; siehe auch Seer (Fn. 7), S. 8; Witfeld (Fn. 10), S. 133 ff. sowie in ähnlichem Zusammenhang Wäger, DStR 2011, 1925 (1925); zu dem damit in engem Zusammenhang stehenden Argument, dem Steuerbetrag komme Treuhandcharakter zu, näher unten IV. 2. a).

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schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters ähnliche Bürden zu tragen haben64. Ferner hat der Gesetzgeber bei Schaffung der InsO Gläubigervorrechte generell beseitigt, was der übergeordneten Zielsetzung förderlich ist, den Konkurs des Konkurses zurückzudrängen und Sanierungen zu erleichtern65. Diese Agenda ist durch das ESUG66 bestätigt und vertieft worden67. Ein sanierungsfreundliches Insolvenzrecht dürfte auf lange Sicht sogar zu höheren Steuereinnahmen führen68. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass der Staat von Durchsetzungsmechanismen Gebrauch machen kann, über die kein privater Gläubiger verfügt und die ihn in signifikanter Weise vor allem im Vergleich zu anderen gesetzlichen Gläubigern abheben69. Vor diesem Hintergrund besteht kein genügender Anlass, dem Steuergläubiger auch noch in der Insolvenzsituation eine privilegierte Behandlung zu gewähren, die den Zielsetzungen des Insolvenzrechts zuwiderläuft70. 4. Reformnotwendigkeit? Es ist dem Gesetzgeber daher dringend anzuraten, es ohne „Wenn und Aber“ bei der eingangs herausgestellten grundsätzlichen Gleichbehandlung von Steueransprüchen zu belassen. Gleichwohl wird im Schrifttum vielfach eine Intervention des Gesetzgebers gefordert71, und zwar teilweise mit der Zielsetzung, ebendiese Gleichbehandlung abzusichern72. Nach Dafürhalten des Verfassers handelt es sich dabei jedoch in aller Regel um den falschen Weg, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens steht zu befürchten, dass neue Vorschriften mehr schaden als nützen. Die tatbestandliche Insuffizienz des § 55 Abs. 4 InsO73 mag ebenso als mahnendes Beispiel dienen wie seine vorstehend herausgestellte rechtspolitische Zweifelhaftigkeit. Die Interessenplura64 Hefermehl in MünchKomm. InsO (Fn. 2), § 55 InsO Rz. 239; Frotscher (Fn. 9), S. 78. Beispielhaft angeführt sei ein Leasinggeber, dem aufgrund der gesetzlichen Kündigungssperre (§ 112 InsO) nichts anderes übrig bleibt, als den Schuldner einstweilen weiter zu kreditieren. 65 Vgl. BT-Drucks. 12/2443, 81, 90; Nachtmann (Fn. 26), S. 85; Weiland (Fn. 11), S. 47. 66 Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, S. 2582. 67 Siehe nur Hölzle, BB 2012, 1571 (1575 f.). 68 In diesem Sinne bereits BT-Drucks. 12/2443, 90. 69 Siehe oben II. 2.; vgl. auch Frotscher (Fn. 9), S. 78 a.E. 70 Ablehnend auch etwa Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 70a: „systemwidriges Fiskusprivileg“; Frotscher (Fn. 9), S. 78. Von dieser rechtspolitischen Einordnung strikt zu trennen ist die verfassungsrechtliche Beurteilung. Denn der verfassungsrechtliche Rahmen ist so durchlässig, dass derartigen Fiskusprivilegierungen nur rechtspolitisch beizukommen ist (vgl. BVerfG v. 5.11.1982 – 1 BvR 796/81, ZIP 1982, 1457 (1458); BFH v. 15.3.2005 – VII R 5/03, BFH/NV 2005, 1006 (1007); Krumm (Fn. 10), S. 51 ff.; a.A. Bauer, ZInsO 2010, 1917 (1919 ff.); Uhlenbruck, ZInsO 2005, 505 (510)). 71 Vgl. Loose in: Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 7; Schmittmann, StuB 2012, 109 (109 ff.); Seer (Fn. 7), S. 9; Witfeld (Fn. 10), S. 30 f., S. 404 ff. 72 So jedenfalls Kahlert, ZIP 2014, 1101 (1112). 73 Siehe etwa Loose in Tipke/Kruse, § 251 AO Rz. 70b; Fischer, DB 2012, 885 (887 ff.): „handwerklich missglückt“; Heuermann, UR 2015, 174 (176  f.); Roth (Fn.  9), Rz.  4.341; Seer, DStR 2016, 1289 (1290 f.).

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lität, die bei jedem Normierungsversuch im Minenfeld von Steuer- und Insolvenzrecht ganz automatisch auf die gesetzgebenden Stäbe einwirkt, dürfte wirklich sachgerechten Regelungen äußerst abträglich sein. Zweitens hat sich der Gesetzgeber bereits in  sehr sinnvoller Weise festgelegt, indem er der par conditio creditorum  – äußerst weise, nämlich ohne viele Worte – den grundsätzlichen Vorrang eingeräumt hat. Insolvenzsteuerrechtliche Sonderregelungen lösen demgegenüber die Gefahr eines steuerspezifischen Verständnisses von Insolvenzrecht und damit eines insolvenzsteuerrechtlichen Sonderwegs aus. Das Problem besteht eher darin, der gesetzgeberischen Grundentscheidung zugunsten der Gläubigergleichbehandlung im Rahmen der praktischen Rechtsanwendung gerecht zu werden. Das hat durch die Rechtsprechung, unterstützt durch die Wissenschaft, zu erfolgen, während der Gesetzgeber hier naturgemäß der falsche Adressat ist. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass es Teilbereiche des Insolvenz- und Sanierungssteuerrechts gibt, für die es auch nach sorgfältiger Prüfung dabei bleibt, dass eine gesetzliche Regelung notwendig ist. Das ist beispielsweise in Bezug auf die steuerrechtliche Behandlung von Sanierungsgewinnen der Fall (vgl. nunmehr insbesondere § 3a EStG)74. Gleiches gilt für die Einkommensbesteuerung in der insolventen Personengesellschaft, für die es dringend einer gesetzlichen Regelung bedarf75. Der Ruf nach dem Gesetzgeber sollte aus den genannten Gründen jedoch ultima ratio bleiben.

IV. Rechtsanwendungsbezogene Konkretisierungen 1. Zuordnung von Steuerschulden in die insolvenzrechtlichen Kategorien a) Übergreifende Zusammenhänge Fragt man nach den Konsequenzen, die aus der grundsätzlichen Gleichbehandlung von Steuerschulden in der Insolvenz folgen, so ist zuvörderst zu betonen, dass für die Zuordnung zu den Masseverbindlichkeiten (vgl. §§ 53, 55 InsO) und die damit verbundene Abgrenzung zu den Insolvenzforderungen (vgl. § 38 InsO) und den Forderungen gegen das insolvenzfreie Vermögen76 diejenigen Grundsätze Anwendung finden müssen, die sich aus dem Insolvenzrecht ergeben und daher unterschiedslos für alle Gläubiger gelten77. Brigitte Knobbe-Keuk hatte das schon vor 40 Jahren wie folgt auf den Punkt gebracht: „Die konkursrechtliche Einordnung einer Steuerforderung 74 Vgl. zu diesem Problemkreis BFH GrS v. 28.11.2016  – GrS 1/15, BStBl.  II 2017, 393 (400 ff.); Seer, FR 2014, 721 (721 ff.); zu den neuesten Entwicklungen Uhländer, DB 2017, 2761 (2761 ff.). 75 Dazu ausführlich Kießling (Fn. 6), passim. 76 Vgl. aus der Rechtsprechung BFH v. 16.4.2015 – III R 21/11, BStBl. II 2016, 29 (30 f.); v. 24.2.2011  – VI R 21/10, BStBl.  II 2011, 520 (520  ff.) sowie Kahlert, WPg 2015, 1197, 1198 ff.; Uhländer in Waza/Uhländer/Schmittmann (Fn. 9), Rz. 1332, 1437, 1455. 77 In diesem Sinne auch Ries in Kayser/Thole, InsO, 8. Aufl. 2016, § 38 InsO Rz. 33, 37; Frotscher (Fn. 9), S. 63 ff., S. 217; Hölzle, BB 2012, 1571 (1577); Kahlert, DStR 2011, 921 (923); Witfeld (Fn. 10), S. 194; eingehend zu diesem Fragenkreis Kießling (Fn. 6), S. 267 ff.

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hat sich vielmehr – wie die jeder anderen Forderung auch – allein an den konkursrechtlichen Ordnungsprinzipien zu orientieren“78. Eine Sonder- bzw. Vorzugsbehandlung von Steueransprüchen außerhalb von § 55 Abs. 4 InsO wäre mit den gesetzlichen Vorgaben, wie sie unter III. herausgestellt wurden, nicht zu vereinbaren. Es ist daher nicht richtig, wenn in der neueren finanzgerichtlichen Rechtsprechung eine steuerrechtsgefärbte Kategorie der „Tatbestandsverwirklichung“ zugrunde gelegt wird79, die in dieser Form weder der InsO noch der AO bekannt ist80. Der in­ solvenzrechtliche Begründungszeitpunkt richtet sich nicht nach steuerrechtlichen, sondern allein nach insolvenzrechtlichen Grundsätzen81. Damit übereinstimmend bezieht der für das Insolvenzrecht zuständige IX.  Zivilsenat des BGH seine Rechtsprechung zur insolvenzrechtlichen Begründung auch auf Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis82. Nach insolvenzrechtlichen Kriterien ist ein Vermögensanspruch vorinsolvenzlich begründet, wenn sein Rechtsgrund in der Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens gelegt wurde83. Nach zutreffender, noch vor wenigen Jahren von mehreren BFH-Senaten zum Ausdruck gebrachter Auffassung ist das der Fall, wenn der Steueranspruch in einem Schuldrechtsorganismus fußt, der vor der Insolvenzeröffnung verwirklicht worden ist84. Denn dann geht die später entstehende Steuerforderung auf das vorinsolvenzliche Verhalten des Schuldners zurück – und allein darauf kommt es insolvenzrechtlich an85. Hieraus folgt, dass Einkommensteuer, die an die Vorteilhaftigkeit eines Vertrags anknüpft, den der Schuldner vorinsolvenzlich erfüllt hat, unabhängig davon Insolvenzforderung ist, nach welcher Vorschrift der Gewinn ermit-

78 Knobbe-Keuk, BB 1977, 757 (758). 79 So etwa BFH v. 9.12.2014 – X R 12/12, BStBl. II 2016, 852 (855); v. 16.5.2013 – IV R 23/11, BStBl. II 2013, 759 (760 f.); v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 (997); v. 29.1.2009 – V R 64/07, BStBl. II 2009, 682 (683). 80 Vgl. auch Sinz in Uhlenbruck (Fn. 3), § 38 InsO Rz. 68. 81 A.A. der V. Senat mit Blick auf die Umsatzsteuer: BFH v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 (997); v. 29.1.2009 – V R 64/07, BStBl. II 2009, 682 (683); etwas weniger zugespitzt, aber gleichsinnig, der XI. Senat: BFH v. 9.2.2011 – XI R 35/09, BStBl. II 2011, 1000 (1001); zur Einkommensteuer vgl. wiederum BFH v. 9.12.2014 – X R 12/12, BFH BStBl. II 2016, 852 (855); v. 16.5.2013 – IV R 23/11, BStBl. II 2013, 759 (760 f.); gegen diese Sichtweise zu Recht Ries in Kayser/Thole (Fn. 77), § 38 InsO Rz. 37; Sinz in Uhlenbruck (Fn. 3), § 38 InsO Rz. 68; Kahlert, DStR 2011, 1973 (1978, 1980). 82 Vgl. BGH v. 18.4.2013 – IX ZR 90/10, ZIP 2013, 1131 (1132); v. 12.1.2006 – IX ZB 239/04, NJW 2006, 1127 (1128). 83 Siehe nur Bornemann in FK-InsO, 9.  Aufl. 2018, §  38 InsO Rz.  21; Ehricke in MünchKomm. InsO (Fn. 2), § 38 InsO Rz. 16; Witfeld (Fn. 10), S. 194 f. 84 In diesem Sinne etwa BFH v. 1.4.2008  – X B 201/07, BFH/NV 2008, 925 (926  f.); v. 5.10.2004 – VII R 69/03, BStBl. II 2005, 195 (196); v. 21.9.1993 – VII R 119/91, BStBl. II 1994, 83 (84); im Ausgangspunkt auch noch BFH v. 23.2.2011 – I R 20/10, BStBl. II 2011, 822 (823); siehe aus dem Schrifttum Sinz in Uhlenbruck (Fn. 3), § 38 InsO Rz. 67 f. („dogmatisch zwingend“); Frotscher (Fn. 9), S. 65. 85 Frotscher (Fn. 9), S. 64 f.

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telt wird86. Gleiches gilt für Einkommensteuer, die auf vorinsolvenzlich gebildete stille Reserven entfällt87. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Existenz einer Masseverbindlichkeit von Teilen der Rechtsprechung im Wesentlichen oder ausschließlich darauf gestützt wird, dass die Schuld (angeblich) nicht i.S.v. § 38 InsO vorinsolvenzlich begründet worden ist88. Diese Sichtweise ist jedoch ergänzungsbedürftig, da eine Masseschuld nur dann vorliegt, wenn zusätzlich die tatbestandlichen Voraussetzungen des §  55 Abs.  1 InsO erfüllt sind89. Ob das der Fall ist, bestimmt wiederum ausschließlich das Insolvenzrecht. Der Insolvenzverwalter muss hierzu mehr als nur ­abwickelnd tätig geworden sein90. Vielmehr muss ihm das Verhalten, das nach den Gegebenheiten der jeweiligen Steuerart die Besteuerungswürdigkeit begründet, zumindest zugerechnet werden können91. Auch aus diesem Grund macht die bloße Vereinnahmung der Gegenleistung durch den Insolvenzverwalter den entsprechenden Teil der Steuerforderung92 nicht zur Masseschuld i.S.v. § 55 Abs. 1 InsO93. Folgerichtig müsste sich der Steueranspruch stattdessen gegen das insolvenzfreie Vermögen richten94. Diese Konsequenz wird jedoch in der Rechtsprechung nicht gezogen.

86 A.A. BFH v. 9.12.2014 – X R 12/12, BStBl. II 2016, 852 (855); zutreffend für die Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG noch BFH v. 1.4.2008 – X B 201/07, BFH/NV 2008, 925 (926 f.). 87 So zu Recht die herrschende Meinung (siehe etwa Frotscher (Fn.  9), S.  153  ff.; Kießling (Fn. 6), S. 313 ff.; Roth (Fn. 9), Rz. 4.13 ff.). Der IV. Senat des BFH ist dieser Sichtweise auf Grundlage einer steuerrechtszentrierten Einordnung (vgl. bei Fn. 79) nicht gefolgt (BFH v. 16.5.2013  – IV R 23/11, BStBl.  II 2013, 759 (761); siehe auch BFH v. 18.12.2014  – X B 89/14, BFH/NV 2015, 470 (472)). 88 Vgl. BFH v. 9.12.2014  – X R 12/12, BStBl.  II 2016, 852 (855); v. 9.2.2011  – XI R 35/09, BStBl. II 2011, 1000 (1001); v. 29.1.2009 – V R 64/07, BStBl. II 2009, 682 (683). Anders als es in der zuletzt zitierten Entscheidung zugrunde gelegt wird, folgt der Masseschuld­ charakter weder aus angeblichen Besonderheiten der Umsatzsteuer noch aus der Vereinnahmung des Steuerbetrags durch den Insolvenzverwalter; näher im Folgenden. 89 Treffend Kahlert, FR 2014, 731 (742); richtig zugrunde gelegt in BFH v. 24.2.2011 – VI R 21/10, BStBl. II 2011, 520 (520 f.); v. 18.5.2010 – X R 60/08, BStBl. II 2011, 429 (431). 90 Vgl. Sinz in Uhlenbruck (Fn. 3), § 55 InsO Rz. 8; Frotscher (Fn. 9), S. 65 f. 91 Vgl. Bornemann in FK-InsO (Fn. 83), § 55 InsO Rz. 6, 14 f.; Kießling (Fn. 6), S. 322 ff. 92 Das Steuerrecht nötigt auch in Bezug auf Einkommensteuerschulden zu einer Aufteilung (allgemein anerkannt, siehe nur Roth (Fn. 9), Rz. 4.171), wobei in Bezug auf den Aufteilungsmodus zahlreiche Zweifelsfragen vorzufinden sind (ausführlich Frotscher (Fn.  9), S. 141 ff.; Kießling (Fn. 6), S. 299 ff. Ein derartiges Vorgehen ist dem Steuerrecht zwar „vollkommen fremd“, angesichts der Besonderheiten der Insolvenzsituation aber unausweichlich (Roth (Fn. 9), Rz. 1.4). 93 A.A. BFH v. 9.12.2014 – X R 12/12, BStBl. II 2016, 852 (855); v. 29.1.2009 – V R 64/07, BStBl. II 2009, 682 (683 ff.). 94 Vgl. Kießling (Fn. 6), S. 318 ff.

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b) Die Umsatzsteuer im Besonderen Die vorstehenden Ausführungen gelten insbesondere auch für Umsatzsteuerschulden. Entscheidend ist wiederum ausschließlich die insolvenzrechtliche Begründung und nicht eine (wie auch immer geartete) steuerrechtliche Tatbestandsverwirklichung. Der neueren Rechtsprechung kann daher bereits in Bezug auf die „Ist-Besteuerung“95 nicht gefolgt werden, so dass die – zu Recht viel gescholtene96 – Rechtsprechung zur „Soll-Besteuerung“97 bereits aus diesem Grund nicht zu überzeugen vermag. Insolvenzrechtlich kommt es allein auf den Zeitpunkt an, an dem die Leistung des Steuerpflichtigen erfolgt98. Ist sie vorinsolvenzlich, d.h. durch den Steuerpflichtigen selbst erbracht worden, führt die darauf entfallende Umsatzsteuer zu einer Insolvenzforderung des Finanzamts99. Auch das ist in aller Klarheit bereits vor mehreren Jahrzehnten von Brigitte Knobbe-Keuk herausgestellt worden: „Wird das Konkursverfahren nach der Ausführung der Leistung, aber vor Ablauf des Voranmeldungszeitraumes eröffnet, so ist die Umsatzsteuerforderung zwar steuerrechtlich noch nicht entstanden, aber doch im Sinne des § 3 KO schon begründet. Denn es ist der Umsatzsteuertatbestand vor Konkurseröffnung vollständig verwirklicht und damit der Rechtsgrund für das Entstehen der Umsatzsteuerforderung gelegt. […] Die Steuer, die auf Umsätze vor der Konkurseröffnung entfällt, ist also in jedem Fall als Konkursforderung zur Tabelle anzumelden“100. Das Inkrafttreten der InsO hat an dem von Knobbe-Keuk herausgestellten Systemzusammenhang nichts geändert. Vor 95 Grundlegend der V. Senat in der Entscheidung BFH v. 29.1.2009 – V R 64/07, BStBl. II 2009, 682 (683 ff.). Der neuen Rechtsprechung des V. Senats (weitere Nachweise in Fn. 97) ist in der Folgezeit auch der VII. Senat unter Änderung seiner Rechtsprechung gefolgt: BFH v. 25.7.2012 – VII R 29/11, BStBl. II 2013, 36 (38); vgl. auch den XI. Senat: BFH v. 11.7.2013 – XI B 41/13, BFH/NV 2013, 1647 (1648 ff.); v. 9.2.2011 – XI R 35/09, BStBl. II 2011, 1000 (1001 ff.). 96 Vgl. Frotscher (Fn. 9), S. 216 ff.; Hölzle, BB 2012, 1571 (1573 ff.); Kahlert, DStR 2011, 921 (925  f.); Nachtmann (Fn.  26), S.  164; Onusseit, ZIP 2016, 452 (453  f.); Roth (Fn.  9), Rz. 4.330 ff.; Witfeld (Fn. 10), S. 224 ff.; insoweit auch Stadie, UStG, 3. Aufl. 2015, § 13 UStG Rz. 60 („abwegige Verbiegung“; vgl. aber Fn. 98). 97 Grundlegend BFH v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 (997 ff.); zu § 55 Abs. 4 InsO BFH v. 24.9.2014 – V R 48/13, BStBl. II 2015, 506 (509 ff.); dem V. Senat folgend BFH v. 1.3.2016 – XI R 21/14, BStBl. II 2016, 756, (757 ff.); zur Eigenverwaltung FG Baden-Württemberg v. 15.6.2016  – 9 K 2564/14, EFG 2016, 1565 (1566  ff.), n. rkr.; siehe auch die Nachweise in Fn. 95. 98 Zutreffend Sinz in Uhlenbruck (Fn. 3), § 38 InsO Rz. 79; Frotscher (Fn. 9), S. 212, S. 217 ff.; Kahlert, DStR 2011, 921 (923); Witfeld (Fn. 10), S. 192 ff., S. 199; siehe auch noch BFH v. 5.10.2004 – VII R 69/03, BStBl. II 2005, 195 (196 ff.); nicht überzeugend deshalb die in der umsatzsteuerrechtlichen Binnensystematik fußende Gegenauffassung von Stadie (Fn. 96), § 13 InsO Rz. 60, es sei generell auf die Vereinnahmung der Gegenleistung abzustellen. Entgegen Stadie (Fn.  96), §  13 InsO Rz.  61 (vgl. auch BFH v. 29.1.2009  – V R 64/07, BStBl. II 2009, 682 [684]) ist auch der Tatbestand des § 55 Abs. 1 Nr. 3 InsO nicht erfüllt, da die Masse nicht unmittelbar durch das Finanzamt bereichert wurde (siehe zu diesem Kriterium Sinz in Uhlenbruck [Fn. 3], § 55 InsO Rz. 87) und im Verhältnis zum Zahlenden ein Rechtsgrund besteht. 99 Vgl. Bornemann in FK-InsO (Fn. 83), § 55 InsO Rz. 15. 100 Knobbe-Keuk, BB 1977, 757 (758).

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diesem Hintergrund hätte es der komplizierten Gedankenführung des V. Senats101, die auf eine kühne Rechtsfortbildung hinausläuft102, gar nicht bedurft, denn sie geht insolvenzsteuerrechtlich ins Leere. Weder Berichtigungen nach § 17 UStG noch die Aufspaltung des Unternehmens in verschiedene Teile103 oder die Festlegung juristischer Zeiteinheiten104 beeinflussen die insolvenzrechtliche Beurteilung – und allein auf sie kommt es im vorliegenden Kontext an. 2. Fehlende Tragfähigkeit von Treuhanderwägungen a) Umsatzsteuer Unstimmig ist auch die in Rechtsprechung und Schrifttum verbreitete Argumentation mit einem treuhandähnlichen Charakter bestimmter Steuerbeträge. Betroffen ist wiederum in erster Linie die Umsatzsteuer. In Bezug auf sie ist in der jüngeren Rechtsprechung herausgestellt worden, dass es sich um „öffentliche Gelder“ handele, die der leistende Unternehmer für Rechnung des Staates vereinnahme105. Zudem wird auf eine Parallele zum Aussonderungsrecht hingewiesen106. Im Schrifttum wird dem unter Hinweis auf den Treuhandgedanken beigesprungen: „Zumindest wirtschaftlich“ handele es sich bei der Umsatzsteuer um Treuhandgeld107. Diese Argumentationslinie vermag nicht zu überzeugen108. Handelte es sich bei dem Steuerbetrag nämlich tatsächlich um Treuhandvermögen, so zählte er nicht zur Masse, sondern wäre

101 Ausführliche Diskussion dieser Konstruktion bei Nachtmann (Fn.  26), S.  154  ff.; Roth (Fn. 9), Rz. 4.331 ff.; Seer (Fn. 7), S. 3 ff.; Witfeld (Fn. 10), S. 212 ff. 102 Gleichsinnig Roth (Fn. 9), Rz. 4.330 ff. Von „Rechtsfortbildung“ ist auch bei Seer (Fn. 7), S. 5 die Rede. 103 Vgl. BFH v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 (998); zuletzt BFH v. 29.3.2017 – XI R 5/16, BStBl. II 2017, 738 (739 f.); v. 15.12.2016 – V R 26/16, BStBl. II 2017, 735 (736 f.). 104 Vgl. BFH v. 24.11.2011 – V R 13/11, BStBl. II 2012, 298 (304). 105 So BFH v. 9.12.2010  – V R 22/10, BStBl.  II 2011, 996 (999) im Anschluss an BFH v. 29.1.2009  – V R 64/07, BStBl.  II 2009, 682 (684) und unter Hinweis auf EuGH v. 21.2.2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, DStR 2008, 450 (452); EuGH v. 20.10.1993 – C-10/92 – Balocchi, DB 1994, 26. Diese Judikate des EuGH haben jedoch keinen insolvenzsteuerrechtlichen Gehalt (näher Witfeld (Fn. 10), S. 201). Bei den in Rede stehenden Begrifflichkeiten handelt es sich um Umschreibungen finanzwissenschaftlicher und steuersystematischer Natur, die im Gesetzesrecht nicht notwendig eine Entsprechung finden; siehe in ganz ähnlichem Kontext Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, 2012, S.  122  ff.; zu den hier einschlägigen, abweichenden gesetzlichen Vorgaben näher im Folgenden. Wie Witfeld (Fn. 10), S. 63 f. herausgearbeitet hat, findet eine Sonderbehandlung der Umsatzsteuer in der Insolvenz keine Stütze in der Rechtsprechung des EuGH. 106 BFH v. 29.1.2009 – V R 64/07, BStBl. II 2009, 682 (684). 107 Schuster, DStR 2013, 1509 (1511); noch weitergehend Stadie (Fn. 96), § 13 UStG Rz. 61 f.: „Fremdgeld“, das in manchen Situationen der Aussonderung unterliege. 108 Gleichsinnig Hölzle, BB 2012, 1571 (1578); Kahlert, DStR 2011, 1973 (1978); Roth (Fn. 9), Rz. 4.332 sowie Ries in Kayser/Thole (Fn. 77), § 38 InsO Rz. 37, der herausstellt, dass der Gesetzgeber bewusst kein die Umsatzsteuer erfassendes Absonderungsrecht eingeführt hat.

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gemäß § 47 InsO auszusondern109. Mit dem von der Rechtsprechung gewählten Ansatzpunkt, nämlich der Abgrenzung zwischen Insolvenzforderung und Masseverbindlichkeit, hat das nichts zu tun110. Der Schluss von der angeblichen Treuhandeigenschaft der Steuer auf ihren Masseschuldcharakter ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einzuordnen111. Wäre es tatsächlich richtig, dass der Steuerbetrag Treuhandvermögen darstellt, dürften Umsatzsteueransprüche niemals Insolvenzforderungen sein, denn sie zählten gar nicht zur Masse. Diese Konsequenz wird jedoch von der Rechtsprechung nicht gezogen112 – und das ist auch richtig, weil es sich bei dem Steuerbetrag nicht um Treuhandgeld handelt113: Wenn ein Unternehmer die Gegenleistung vereinnahmt hat, gehört sie ihm – in voller Höhe, rechtlich wie wirtschaftlich114. Nach dem Gesetz bestehen keinerlei Verfügungsbeschränkungen zugunsten des Staates. Der Unternehmer hat die Umsatzsteuer aus seinen Mitteln zu bestreiten und haftet für die Steuerschuld mit seinem gesamten Vermögen (vgl. § 13a UStG mit § 37 Abs. 1, § 43 Satz 1 AO sowie Art. 62 Abs. 2, Art. 193 MwStSystRL)115. Bei nüchterner steuerschuldrechtlicher Betrachtung ist die Umsatzsteuer mithin eine Verbindlichkeit wie jede andere auch. Fraglich kann daher allein sein, ob die gesetzliche Festlegung eines Aussonderungsrechts für Umsatzsteuerbeträge de lege ferenda vorzugswürdig ist116. Allerdings würde die Verankerung eines Aussonderungsrechts schon daran scheitern, dass Geldsummenansprüche ihrer Natur nach keiner Aussonderung zugänglich sind117. Aber auch losgelöst von diesem eher technischen Gesichtspunkt überzeugt eine insolvenz109 Vgl. nur Brinkmann in Uhlenbruck (Fn. 3), § 47 InsO Rz. 79; so in der Tat Stadie (Fn. 96), § 13 UStG Rz. 62, allerdings offenbar nur für solche Beträge, die vor Verfahrenseröffnung vereinnahmt wurden; klarer in der Festlegung Stadie, UR 2013, 158 (170): Aussonderung „aus dogmatischer Sicht […] vorzuziehen“. 110 A.A. Schuster, DStR 2013, 1509 (1511), die zwar „nicht so weit gehen“ will, eine Aussonderung zuzulassen, denn der Gesetzgeber habe das Fiskusvorrecht ja abgeschafft, aber „doch“ meint, dass „das Wesen der Umsatzsteuer bei der Frage, wann ein Steueranspruch i. S. von § 38 InsO begründet ist, nicht außer Betracht gelassen werden“ darf. Nicht „das Wesen der Umsatzsteuer“ ist jedoch für die insolvenzrechtliche Beurteilung entscheidend, sondern allenfalls ihre steuerschuldrechtliche Ausgestaltung. 111 Inkonsequent auch Stadie (Fn. 96), § 13 UStG Rz. 61 f., der auf die angebliche Fremdgeldeigenschaft der Steuer einerseits ihren Masseschuldcharakter und andererseits ein Aussonderungsrecht des Fiskus stützen will; vgl. auch BFH v. 29.1.2009 – V R 64/07, BStBl. II 2009, 682 (684). 112 Im Schrifttum wird ein solcher Ansatz, soweit ersichtlich, lediglich von Stadie, UR 2013, 158 (169 ff.) vertreten. 113 Vgl. auch Witfeld (Fn. 10), S. 62 ff., S. 208 ff. 114 Siehe auch Roth (Fn. 9), Rz. 4.332. 115 Gleichsinnig Kahlert, DStR 2011, 1973 (1978 f.), der zu Recht darauf hinweist, dass der Fiskus deshalb das Insolvenzrisiko des Unternehmers trägt. 116 Dafür Seer, DStR 2016, 1289 (1297). 117 Siehe nur BGH v. 8.3.1972 – VIII ZR 40/71, BGHZ 58, 257, (258). Ein Aussonderungsrecht bezieht sich notwendig auf einen konkreten Gegenstand, der folglich zumindest bestimmbar sein muss (BGH v. 24.6.2003 – IX ZR 120/02, ZIP 2013, 1404 [1405]); zur Diskussion über die Einführung eines umsatzsteuerbezogenen Absonderungsrechts Ries in Kayser/Thole (Fn. 77), § 38 InsO Rz. 37.

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rechtliche Sonderbehandlung der Umsatzsteuer letztlich nicht, auch wenn einzuräumen ist, dass die neuere Rechtsprechung durchaus mit dem Belastungsgrund der Umsatzsteuer und den ihr zugrunde liegenden Systemgedanken konform geht118. Der Gesetzgeber hat den Grundkonflikt zwischen dem Steuer- und dem Insolvenzrecht in anderer Weise, nämlich zugunsten des prinzipiellen Vorrangs der par conditio creditorum gelöst. Wie unter III. im Einzelnen dargelegt wurde, handelt es sich hierbei um eine wohlbegründete und kluge Entscheidung. Sie sollte nicht mit Blick auf steuerrechtliche Subsysteme zerfasert werden. Der Sündenfall des §  55 Abs.  4 InsO verdient keine Wiederholung. b) Lohnsteuer Auch in Bezug auf die Lohnsteuer lassen sich im insolvenzrechtsnahen Bereich Treuhandüberlegungen ausmachen, die besondere Rechtsfolgen tragen sollen. Den Hintergrund der darauf gerichteten Überlegungen bildet die Geschäftsführerhaftung nach § 69 AO, für die die Rechtsprechung ein Benachteiligungsverbot aufgestellt hat, das eine gewisse Nähe zur par conditio creditorum aufweist und zu einem „Grundsatz der anteiligen Tilgung“ hinführt119. Besagter Grundsatz soll bei Lohnsteuerschulden allerdings weithin leerlaufen120. Nach Auffassung des VII. Senats bildet die Lohnsteuer nämlich einen Teil des Arbeitslohns und ist treuhänderisch für den Arbeitnehmer und den Steuerfiskus einzuziehen121. Bei Lohnsteuerbeträgen handele es sich daher um „treuhänderisch verwaltete Fremdgelder“122. Zeichne sich ab, dass die vorhan­ denen Mittel voraussichtlich nicht zur Abführung des vollen Steuerbetrages ausreichten, müsse der Geschäftsleiter die Nettolöhne in entsprechender Höhe kürzen und den auf die gekürzten Löhne entfallenden Abzugsbetrag für die Steuerzahlung bereitstellen123, und zwar unabhängig davon, ob Insolvenzreife eingetreten ist oder 118 Vgl. Roth (Fn. 9), Rz. 4.332; Seer, DStR 2016, 1289, 1294 ff.; Witfeld (Fn. 10), S. 49 ff. Auch im Abschlussbericht der „Seer-Kommission“ klingen teilweise Sympathien für diese Rechtsprechungslinie an (Seer (Fn. 7), S. 5, S. 8). 119 Vgl. etwa BFH v. 31.3.2000 – VII B 187/99, BFH/NV 2000, 1322 (1323); v. 5.3.1991 – VII R 93/88, BStBl. II 1991, 678 (680). Nur am Rande sei erwähnt, dass die Rechtsprechung, die die Geschäftsführerhaftung auch noch nach Eintritt von Insolvenzreife durchgreifen lässt, abzulehnen ist, weil sie auf eine system- und gesetzwidrige Vorzugsbehandlung des Steuergläubigers hinausläuft. Das gilt auch insoweit, als der Geschäftsführer nur zur anteiligen Tilgung verpflichtet sein soll; eingehend zum gesamten Problemkreis Meyer, DStZ 2014, 228 (230 ff.). 120 Vgl. BFH v. 27.2.2007  – VII R 60/05, BStBl.  II 2008, 508 (509  f.): „Sonderstellung der Lohnsteuer“. 121 BFH v. 1.8.2000  – VII R 110/99, BStBl.  II 2001, 271 (272); v. 26.7.1988  – VII R 83/87, BStBl. II 1988, 859 (860 a.E.); v. 20.4.1982 – VII R 96/79, BStBl. II 1982, 521 (522); siehe auch Intemann in Pahlke/Koenig, 3. Aufl. 2014, § 69 AO Rz. 109; Jochum, DStZ 2007, 335 (337). 122 BFH v. 1.8.2000 – VII R 110/99, BStBl. II 2001, 271 (272). 123 BFH v. 18.8.1999  – VII B 106/99, BFH/NV 2000, 541 (542  f.); v. 21.12.1998  – VII B 175/98, BFH/NV 1999, 745 (746); v. 20.4.1993 – VII 67/92, BFH/NV 1994, 142 (144); FG Berlin-Brandenburg v. 20.12.2011 – 9 K 9051/09, EFG 2012, 1000 (1000); FG München v.

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nicht124. Diese Rechtsprechung soll an dieser Stelle nicht zur Gänze hinterfragt werden125. Jedoch wird im Folgenden nachgewiesen, dass das Treuhandargument, auf dem sie aufbaut, unrichtig ist, so dass sie mit dieser Begründung keinen Bestand haben kann. Im Ausgangspunkt kann festgehalten werden, dass die bestimmungsgemäße Weiterleitung von Treuhandgut keine Konflikte mit dem Insolvenzrecht hervorruft, weil es zu keiner Masseschmälerung kommen kann, denn die entsprechenden Beträge zählen nicht zur Masse, sondern zum Vermögen des Berechtigten126. Allerdings handelt es sich auch bei Lohnsteuerbeträgen nicht um Treuhandvermögen127. Für die gegenteilige Sichtweise scheint zwar zu sprechen, dass die Lohnsteuer für Rechnung des Arbeitnehmers einbehalten wird (§ 38 Abs. 3 Satz 1 EStG) und sodann gemäß § 41a EStG anzumelden und abzuführen ist128. Jedoch ist die Lohnsteuer schon dann im Sinne von § 38 Abs. 3, §§ 39b ff. EStG „einbehalten“, wenn der Arbeitgeber den um die Steuer gekürzten Lohn auszahlt129. Für eine darüber hinausgehende Pflicht zur Absonderung und Bereithaltung des Abzugsbetrags fehlt es demgegenüber an einer Rechtsgrundlage130. Eine derartige „Mittelvorsorgepflicht“131 ist  – mangels Rechtsgrundlage – weder im Rahmen der Geschäftsführerhaftung im Allgemeinen noch in Bezug auf die Lohnsteuer im Besonderen anzuerkennen132.

23.7.2009  – 15 K 3609/06, EFG 2009, 1949 (1950); Rüsken in Klein (Fn. 19), §  69 AO Rz. 71. 124 BFH v. 23.9.2008 – VII R 27/07, BStBl. II 2009, 129 (130 ff.); v. 21.12.1998 – VII B 175/98, BFH/NV 1999, 745 (746); FG Düsseldorf v. 6.6.2007 – 7 K 3484/04 H (L), EFG 2007, 1482 (1482). 125 Dazu ausführlich Meyer, DStZ 2014, 228 (242 ff.). 126 Vgl. nur (mit Blick auf den potentiell konfligierenden § 64 GmbHG) BGH v. 5.5.2008 – II ZR 38/07, NJW 2008, 2504 (2505); Haas, NZG 2004, 737 (740). 127 Ebenso BGH v. 22.1.2004 – IX ZR 39/03, BGHZ 157, 350 (358 f.); Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 41; Haas, Geschäftsführerhaftung und Gläubigerschutz, 1997, S. 194 ff.; Müller, GmbHR 2003, 389 (390); Schön (Fn. 25), S. 1469 (1483); Spriegel/Jokisch, DStR 1990, 433 (437). 128 Beermann, FR 1992, 262 (266); vgl. aus der Rechtsprechung BFH v. 17.7.1984  – VII S 9/84, BFH/NV 1986, 583 (587). 129 Vgl. BFH v. 8.11.1985 – VI R 238/80, BStBl. II 1986, 186 (187); Meyer in BeckOK EStG, § 38 EStG Rz. 57; Trzaskalik in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 38 EStG Rz. D 1; Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichten im Lohnsteuerabzugsverfahren, 1998, S. 142. 130 Trzaskalik (Fn.  129), §  38 EStG Rz.  D 4; für den Normalfall vorausgesetzt in BFH v. 16.7.1996 – VII R 136/95, BFH/NV 1997, 4 (5); siehe auch Boeker in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 69 AO Rz. 18, 40; a.A. Beermann, FR 1992, 262 (266); anscheinend auch BFH v. 1.8.2000 – VII R 110/99, BStBl. II 2001, 271 (272); vgl. ferner BFH v. 27.2.2007 – VII R 67/05, BStBl. II 2009, 348 (351). 131 Vgl. im allgemeineren Kontext, insbesondere mit Blick auf Umsatzsteuersachverhalte BFH v. 16.12.2003 – VII R 77/00, BStBl. II 2005, 249 (251); v. 28.11.2002 – VII R 41/01, BStBl. II 2003, 337 (338); Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 69 AO Rz. 14a. 132 Meyer, DStZ 2014, 228 (241 ff.).

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Hiergegen kann auch nicht eingewendet werden, dass es sich bei den Lohnsteuerbeträgen bei wirtschaftlicher Betrachtung um fremde Geldmittel handele133. Denn zum einen läuft diese Aussage auf einen Zirkelschluss hinaus, da der Abzugsbetrag allenfalls dann (wirtschaftlich) fremd sein könnte, wenn das Gesetz seine Separierung vorschriebe. Und zum anderen wäre zu fragen, wer eigentlich der (wirtschaftliche) Treugeber sein soll. Der Arbeitnehmer kann es nicht sein, denn nach Einbehalt des Abzugsbetrags kann er nicht mehr wegen ausstehender Lohnsteuern in Anspruch genommen werden, sofern nicht der Ausnahmetatbestand des §  42d Abs.  3 Satz  4 Nr. 2 Satz 1 EStG eingreift134. Insbesondere kommt ihm der einbehaltene Betrag auch dann im Wege der Anrechnung (§ 36 Abs. 2 EStG) zugute, wenn der Arbeitgeber seiner Abführungspflicht nicht nachgekommen ist135. Der Arbeitgeber behält die Lohnsteuer daher zwar „für Rechnung des Arbeitnehmers“ ein (§ 38 Abs. 3 Satz 1 EStG), führt sie jedoch nicht auch zugleich für seine Rechnung ab136. Was nach dem Einbehalt der Lohnsteuer passiert, betrifft die Rechtssphäre des Arbeitnehmers folglich im Grundsatz nicht mehr137. Das weitere Risiko trägt stattdessen die Finanzverwaltung138. Für ein Treuhandverhältnis zu ihren Gunsten139 bedürfte es erst recht einer eindeutigen gesetzlichen Grundlage, an der es jedoch fehlt140. Vielmehr bleibt der Arbeitgeber auch im Falle einer Separierung des Abzugsbetrages voll verfügungsberechtigt, was etwa zur Folge hat, dass die entsprechenden Gelder dem Zugriff seiner Gläubiger unterliegen141. Festzuhalten bleibt daher, dass die Lohnsteuerabführung aus eigenen Mitteln des Arbeitgebers erfolgt, so dass die Rechtslage derjenigen bei der Umsatzsteuer gleicht. Die Argumentation mit Treuhandfiguren mag zwar vor dem Hintergrund der Binnensystematik beider Steuerarten auf den ersten Blick naheliegen, hält jedoch einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand und ist daher zu verwerfen.

133 So aber BFH v. 20.4.1982 – VII R 96/79, BStBl. II 1982, 521 (522); v. 19.2.1953 – IV 319/52 U, BStBl. III 1953, 161 (161); Beermann, FR 1992, 262 (265); siehe auch BFH v. 1.8.2000 – VII R 110/99, BStBl. II 2001, 271 (272). 134 Im Ergebnis allgemein anerkannt; siehe etwa BFH v. 8.11.1985 – VI R 238/80, BStBl. II 1986, 186 (187); Heuermann (Fn. 129), S. 252 ff.; Völlmeke, DB 1994, 1746 (1746 ff.). 135 BFH v. 26.7.1988 – VII R 83/87, BStBl. II 1988, 859 (861); Trzaskalik (Fn. 129), § 38 EStG Rz. A 21; Heuermann (Fn. 129), S. 17 f., S. 252 f., S. 335 f. 136 So auch Heuermann (Fn. 129), S. 266, S. 268 f. 137 Heuermann (Fn. 129), S. 269; Meyer in DStJG 40 (2017), S. 192 f. 138 BFH v. 8.11.1985 – VI R 238/80, BStBl. II 1986, 186 (187). 139 So RFH v. 8.5.1935 – VI A 686, StuW 1935, 973 (975); RFH v. 25.7.1934 – VI A 567, StuW 1934, 1328 (1329): „Treuhänder des Staates […] und der Arbeitnehmer“; ausschließlich bezogen auf den Fiskus: BFH v. 28.4.1961 – VI 301/60 U, BStBl. III 1961, 372 (373 a.E.): „in einer Art“; siehe auch BAG v. 30.4.2008  – 5 AZR 725/07, NJW 2008, 3805 (3806); BAG v. 7.3.2001 – GrS 1/00, NJW 2001, 3570 (3573). 140 A.A. Sauer, Die rechtliche Stellung des zur Einbehaltung von Steuern Verpflichteten, 2010, S. 133 ff. 141 Vgl. BGH v. 22.1.2004 – IX ZR 39/03, BGHZ 157, 350 (358 f.); Loose in Tipke/Kruse, § 69 AO Rz. 41; Kayser, ZIP 2007, 49 (52); Müller, GmbHR 2003, 389, (390); Schön (Fn. 25), S. 1469 (1483); Spriegel/Jokisch, DStR 1990, 433 (437).

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V. Schluss 1. Resümee Der in diesem Beitrag untermauerte Gedanke, dass sich das durchsetzungsmächtige Steuerrecht einem anderen Rechtsgebiet unterzuordnen hat, mag gewöhnungsbedürftig erscheinen. Gleiches gilt für die damit verbundene Hintanstellung steuerrechtlicher Binnenwertungen und Subsysteme. Gleichwohl: Macht man mit der im Gesetz angelegten Gleichstellung des Steueranspruchs in der Insolvenz ernst, ist dieses Vorgehen unausweichlich. Die gesetzgeberische Entscheidung, die par conditio creditorum auch auf den Steuergläubiger zu beziehen, ist richtig, jedenfalls aber gut vertretbar. Wer im Rahmen der Rechtsanwendung die Koordinaten zugunsten des Fiskus verschiebt, sollte sich darüber im Klaren sein, dass er Grundwertungen des geltenden Rechts relativiert und die im Gesetz angelegte Rechtsposition der Gläubigergesamtheit schwächt. Der Verfasser dieses Beitrags konnte der Versuchung nicht widerstehen, diesen Zusammenhang an der einen oder anderen Stelle recht deutlich auf den Punkt zu bringen. Dessen ungeachtet möchte er den Appell an die Steuerrechtsprechung richten, sich wieder in stärkerem Maße darauf zu besinnen, dass die Lösung des Knappheitsproblems, das durch die Schuldnerinsolvenz hervorgerufen wird, nach dem Regelungsplan des Gesetzes dem Insolvenzrecht und nicht dem Steuerrecht obliegt. 2. Thesen 1) Die in vielen Bereichen vorzufindenden Disharmonien zwischen Steuerrecht und Insolvenzrecht beruhen nicht nur auf den gegenläufigen Teleologien dieser beiden Rechtsgebiete, sondern auch auf der herausgehobenen Stellung, die der Gesetzgeber der Durchsetzung von Steueransprüchen angedeihen lässt. 2) Der Staat ist kein wehrloser Zwangsgläubiger, der im Rahmen der Rechtsanwendung gegen Übergriffe des Insolvenzrechts verteidigt werden muss. Übergriffig wird häufig genug das Steuerrecht selbst. 3) Nach geltendem Recht haben Steueransprüche in der Insolvenz grundsätzlich keine herausgehobene Stellung, so dass die par conditio creditorum auch mit Blick auf den Steuerfiskus gilt. Die häufig in § 251 Abs. 2 AO hineingelesene Vorrangregel zugunsten des Insolvenzrechts ist deshalb nicht nur verfahrensrechtlicher Natur, sondern hat auch einen materiell-rechtlichen Gehalt. 4) § 55 Abs. 4 InsO, der von der insolvenzrechtlichen Gleichbehandlung von Steueransprüchen abweicht, hat Ausnahmecharakter und ist sachlich nicht gerechtfertigt. Dieser Sündenfall verdient keine Wiederholung. 5) Es ist nicht zielführend, auf breiterer Front insolvenzsteuerrechtliche Sonderregelungen einzuführen. Der gesetzgeberische Eingriff sollte ultima ratio bleiben. Es gibt nur wenige Bereiche, in denen eine besondere insolvenzsteuerrechtliche Regelung unerlässlich ist.

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6) Es ist die Aufgabe der Finanzgerichte, die Gleichbehandlung von Steueransprüchen in der Insolvenz sicherzustellen. Vorschriften mit insolvenzsteuerrechtlichen Bezügen sind im Zweifel insolvenzrechtsfreundlich auszulegen. 7) Die Zuordnung von Steueransprüchen zu den insolvenzrechtlichen Forderungskategorien hat allein nach Maßgabe der dafür einschlägigen insolvenzrechtlichen Grundsätze zu erfolgen. Der neueren Rechtsprechung, die stattdessen die steuerrechtsgefärbte Kategorie der „Tatbestandsverwirklichung“ zugrunde legt, ist nicht zu folgen. Sowohl ertragsteuerrechtlich als auch umsatzsteuerrechtlich ist regelmäßig von entscheidender Bedeutung, wann von Steuerpflichtigenseite geleistet wurde. Die bloße Vereinnahmung einer Gegenleistung durch den Insolvenzverwalter erfüllt die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 InsO nicht. 8) Soweit eine herausgehobene Stellung von Umsatz- und Lohnsteueransprüchen auf Treuhandüberlegungen gestützt wird, handelt es sich um keine valide Argumentation.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … B. VII.

Steuerrechtsprechung und Betriebswirtschaftliche Steuerlehre Von Deborah Schanz

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Zum Verhältnis der Fragestellungen von BFH und Betriebswirtschaftlicher Steuerlehre

IV. Zum Verhältnis von BFH-Rechtsprechung und Betriebswirtschaftlicher Steuerlehre im Bilanzsteuerrecht V. Fazit

III. Zum Verhältnis von Steuerrecht und Betriebswirtschaftlicher Steuerlehre in der Praxis

I. Einführung Blickt der BFH durch die betriebswirtschaftliche Brille? Lässt sich in der BFH-Rechtsprechung ein Einfluss der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre erkennen? Haben BFH-Rechtsprechung und Betriebswirtschaftliche Steuerlehre eine Bedeutung füreinander? Diesen Fragen gilt es  – aus Sicht einer Betriebswirtin  – in dem folgenden Beitrag nachzugehen. Die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre befasst sich mit dem Einfluss von Steuern auf ökonomische Entscheidungen von Individuen und Unternehmen1. Sie umfasst die 1 Welche Teilgebiete – und mit welchem Gewicht – zur Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre gehören, war lange Streitpunkt und dürfte auch heute noch von Vertretern des Fachs unterschiedlich definiert werden. Zu verschiedenen Definitionen vgl. Fischer/Schneeloch/Sigloch, DStR 1980, 699; Wagner, StuW 2004, 237; Wagner/Dirrigl, Die Steuerplanung der Unternehmung, 1980, S.  1  ff.; Wöhe/Bieg, Grundzüge der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, 4.  Aufl. 1995, S.  1  ff.; Breithecker, Einführung in die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, 17. Aufl. 2016, S. 1 ff. Eine von hier abweichende Unterteilung in „betriebswirtschaftliche Steuerwirkungslehre“, „betriebswirtschaftliche Steuergestaltungslehre“, „Steuerberatungswissenschaft“, „steuerliches Rechnungswesen“ und „Gesetzeswissenschaft“ nimmt Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 1 Rz. 20 ff., vor. Zu einer Einführung in die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre vgl. Wagner in Bitz/Dellmann/Domsch/Wagner (Hrsg.), Vahlens Kompendium der Betriebswirtschaftslehre, Bd. 2, 5. Aufl. 2004; Schneider, Grund-

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folgenden drei Teilgebiete: Steuerwirkungs- und Steuergestaltungslehre, rechtskritische bzw. normative Steuerlehre und die empirische Betriebswirtschaftliche Steuerlehre. Das erste Teil- und sicherlich Kerngebiet, die Steuerwirkungs- und Steuergestaltungslehre, beschäftigt sich mit der Wirkung von Steuern auf Entscheidungen. Hierbei werden unter Verwendung von Modellen unterschiedlicher Komplexität die aus den Entscheidungen von Steuerpflichtigen entstehenden Ergebnisse beurteilt und darauf aufbauend alternative Handlungsempfehlungen ableitet. Steuerwirkungen lassen sich beispielsweise in Straßburg noch heute besonders gut beobachten: In der Vergangenheit setzte eine Grundflächensteuer an der bebauten Bodenfläche an. Eine ungeplante Konsequenz der steuerlichen Regelung sind die bekannten Straßburger Häuser, die – zur Minimierung der Grundfläche – von Stockwerk zu Stockwerk breiter werden. Die Besteuerung hatte somit direkten Einfluss auf die Konstruktion der Ge­ bäude. Die Abwesenheit von solchen Entscheidungswirkungen wird als Neutralität von Steuern bezeichnet. Eine solche keine Verzerrungen auslösende Steuer wird als Maßstab zur Beurteilung steuerlicher Wirkungen herangezogen. Neutralität bewirkt, dass die Rangfolge der Vorteilhaftigkeit der einem Steuerpflichtigen zur Verfügung stehenden Alternativen durch die Besteuerung nicht verändert wird. In diesem Fall kann er Steuern in seinen Entscheidungen  – z.B. Investitions-, Finanzierungs-, Rechtsformwahl- oder Konsumentscheidungen  – unberücksichtigt lassen und ihm entstehen keine Steuerplanungskosten. In der Realität tritt Steuerneutralität jedoch nur selten auf. Die Identifizierung bestehender Steuerwirkungen ist daher wichtig, um Optimierungsentscheidungen und Gestaltungsmöglichkeiten von Steuerpflichtigen aufzuzeigen; als andere Seite der Medaille2 dient deren Ermittlung auch dazu, die optimalen Entscheidungen von Steuerpflichtigen als Basis für die Fortentwicklung von Steuergesetzen transparent zu machen. Im zweiten Teilgebiet, der rechtskritischen bzw. normativen Steuerlehre, werden aktuelle oder geplante Bestandteile des Steuerrechts im Hinblick auf betriebswirtschaftliche Entscheidungen geprüft und Verbesserungsvorschläge erarbeitet3. Dieses Teilgebiet ist vom ersten Teilgebiet dahingehend abzugrenzen, dass es maßgeblich auf die „Interpretation und Kritik von Gesetzgebung und Rechtsprechung“4 abzielt; es weist insoweit Überschneidungen mit der Steuerrechtswissenschaft auf. Das dritte Teilgebiet, die wesentlich jüngere empirische Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, beobachtet das tatsächliche – oft auch vom Optimum abweichende – Verhalten der Steuerpflichtigen. Gemeinsam mit dem noch jüngeren Zweig der Behavioral Taxation kann es züge der Unternehmensbesteuerung, 6. Aufl. 1994, S. 70 ff. Zum Stand der Forschungszweige und -ergebnisse der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre vgl. Hundsdoerfer/Kiesewetter/ Sureth, ZfB 2008, 61. 2 Vgl. Wagner, ZfbF 2015, 522 (538). 3 Vgl. Schmiel, Rechtskritik als Aufgabe der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, 2005; Schneider/Bareis/Siegel, DStR 2013, 1145, mit vielen Beispielen. 4 Wagner/Dirrigl, Die Steuerplanung der Unternehmung, 1980, S. 1. Schneider und auch Wagner sehen dies kritisch, sofern die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre sich dabei nicht betriebswirtschaftlicher Methoden bedient, vgl. hierzu später Abschnitt III.

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Der BFH und die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre

beispielsweise bei Steuerreformvorhaben großzahlige-empirische und verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse einbringen, um Ausweichreaktionen von Steuerpflichtigen zu antizipieren5. Nicht die „richtige“ Bilanzierung oder Besteuerung steht hierbei im Vordergrund, sondern deren ökonomische Wirkungen auf Entscheidungen von Steuerpflichtigen und anderen Akteuren6. Seit den 1920er Jahren7 hat sich die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre als eigenständige Disziplin herausgebildet. Sie ist an nahezu jeder betriebswirtschaftlichen oder wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an deutschen Universitäten durch mindestens einen Lehrstuhl oder ein Institut vertreten. Um in Forschung und Lehre in den oben beschriebenen Teilgebieten souverän agieren zu können, ist es für Vertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre dabei unerlässlich, mit den nationalen und internationalen Normen des Steuerrechts vertraut zu sein8. Die Vermittlung des Steuerrechts stellt daher, neben den Grundlagen der Entscheidungslehre, einen großen Teil des Lehrangebots an Universitäten dar. Auch in der Forschung bildet das Steuerrecht – in Abhängigkeit von der Forschungsfrage in unterschiedlicher Intensität – die Grundlage. Hier entstehen dementsprechend Anknüpfungspunkte mit der Steuerrechtswissenschaft als juristische Disziplin9. Die Anknüpfung der Forschung und Lehre an das Steuerrecht wird dabei von Vertretern der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre an den Universitäten unterschiedlich eng gewählt. Sie reicht von großer Nähe, die in Ausbildung der Studierenden und Publikationen der Lehrstühle kaum Unterschiede zu Steuerrechtskollegen erkennen lässt, bis hin zu Ausbildungs- und Forschungsprogrammen ohne Bezug zur Steuerrechtsprechung. Die in der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre behandelten oben beschriebenen Aufgabengebiete könnten in großen Teilen Überschneidungen mit den Aufgaben des Steuerrechts und somit auch dem Tätigkeitsschwerpunkt des BFH haben. Da das Steuerrecht auf wirtschaftliche Sachverhalte angewendet wird und sich „vielfach betriebswirtschaftlicher Begriffe bedient“10, werden Begriffe und Argumente der Betriebswirtschaftslehre bzw. der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre auf dem Gebiet des Steuerrechts benutzt. Die große Nähe des behandelten Objekts „Steuern“ im Steuerrecht und der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre könnten – zumindest im Bereich des materiellen Steuerrechts11  – daher auf eine enge Verzahnung der Disziplinen 5 In der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre nimmt die Empirie immer mehr Raum ein; zugleich ist ein Richtungsstreit darüber entbrannt, ob diese Orientierung der „gesellschaftlichen Verpflichtung“ des Fachs entgegenstehe, vgl. Schneider/Bareis/Siegel, DStR 2013, 1145; Siegel/Bareis/Förster/Kraft/Schneeloch, FR 2013, 1128. 6 Vgl. Ernstberger/Werner, WPg 2015, 383, mit einer Analyse der Verschiebung der Forschungsschwerpunkte in der Rechnungslegung. 7 1919 bot als erster Franz Findeisen an der Universität Frankfurt Vorlesungen zur „Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre“ an; vgl. Fischer/Schneeloch/Sigloch, DStR 1980, 699. 8 Vgl. Schneider/Bareis/Siegel, DStR 2013, 1145; Kußmaul, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, 6. Aufl. 2010, S. 1. 9 Vgl. Schneeloch, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, 6. Aufl. 2012, S. 1 f. 10 Schneeloch, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, 6. Aufl. 2012, S. 2. 11 Das formelle Steuerrecht erfährt in der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre kaum mehr als ein Schattendasein. Zu einer Analyse der Themen und Publikationstätigkeit im Fach

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schließen lassen. Ob dies in der Tat der Fall ist, soll im Folgenden – insbesondere unter Einbezug der Rechtsprechung des BFH – untersucht werden. Das Thema wird dabei sehr breit gefasst und behandelt oftmals das Verhältnis von Steuerrecht insgesamt zur Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre. Der Beitrag widmet sich dem Verhältnis der Fragestellungen von BFH bzw. insgesamt dem Steuerrecht und der Betriebs­wirtschaftlichen Steuerlehre (II.) und dem Verhältnis der beiden Disziplinen in der Steuerpraxis (III.), bevor anschließend das Bilanzsteuerrecht gewählt wird, um aufzuzeigen, wie die in der Betriebswirtschaft verankerten Bilanztheorien und die wirtschaftliche Betrachtungsweise in die Rechtsprechung und Gesetzgebung einfließen (IV.).

II. Zum Verhältnis der Fragestellungen von BFH und ­Betriebswirtschaftlicher Steuerlehre Das Verhältnis der Fragestellungen der Steuerrechtsprechung und der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre untersucht Franz W. Wagner in dem Beitrag „Welche Probleme finden Ökonomen interessant, und welche sind relevant?“12. Relevanz misst er dabei denjenigen Bereichen des Steuerrechts zu, die streitanfällig sind. Ausgehend davon untersucht er für die Jahre 2001 bis 2003 die Häufigkeit von nach Sachverhalten kategorisierten FG- und BFH-Urteilen und stellt diese der Häufigkeit von Literaturbeiträgen von Steuerjuristen und Ökonomen13 (einschließlich Betriebswirten) gegenüber. Die Untersuchung beschränkt sich auf die Einkommensteuer. Die Unterteilung der Bereiche folgt gemäß der in der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre etablierten Einteilung der steuerlichen Entscheidungswirkungen in Zeit-, Bemessungsgrundlagen- und Steuertarifeffekte14. Zeiteffekte treten nur in mehrperiodigen Kalkülen auf, in denen verschiedene Handlungsalternativen von Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten besteuert werden. Ein Beispiel für einen solchen entscheidungsverzerrenden Effekt ist die Investition in Aktien thesaurierender versus ausschüttender Kapitalgesellschaften: Während Dividendenausschüttungen jährlich besteuert werden, wird bei Investition in eine thesaurierende Gesellschaft Einkommen über eine (zu einem späteren Zeitpunkt erfolgende) Veräußerung der vgl. Ertel, Bibliometrische Studie zur Entwicklung und Struktur der deutschsprachigen Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, 2017. 12 Wagner, StuW 2008, 97. 13 Die Zuordnung der Autoren zu Juristen bzw. Ökonomen erfolgte bei Theoretikern (Professoren und deren Mitarbeitern) nach fachlicher Ausrichtung, bei Praktikern nach Abschluss. StB und/oder WP wurden Ökonomen zugeordnet; Rechtsanwälte, Notare, Fachanwälte für Steuerrecht und StB, die gleichzeitig Rechtsanwälte sind, Richter, Mitarbeiter der Finanzverwaltung und Mitarbeiter von Ministerien wurden Juristen in der Kategorie Praktiker zugeordnet. Durch diese Einteilung könnten bei den Praktikern juristische Beiträge Ökonomen zugeordnet sein, wenn nur der StB-Titel ausgewiesen wurde. Solche Fehler dürften bei der Gruppe der Theoretiker nicht enthalten sein, vgl. Wagner, StuW 2008, 97 (110). 14 Vgl. Wagner, BFuP 1984, 201; Wagner in Bitz/Dellmann/Domsch/Wagner (Hrsg.), Vahlens Kompendium der Betriebswirtschaftslehre, Bd. 2, 5. Aufl. 2004, S. 454.

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Anteile erzielt. Die Besteuerung des Einkommens findet somit gegenüber der Dividendenbesteuerung nachgelagert statt; die jährliche Wertsteigerung der Anteile durch Einbehalten der Gewinne bleibt gemäß dem Realisationsprinzip steuerfrei. Bemessungsgrundlageneffekte treten auf, wenn – innerhalb der Totalperiode einer Investition – Einkommen einer Handlungsalternative besteuert wird, das Einkommen einer anderen Handlungsalternative jedoch nicht. Dies lässt sich im deutschen Einkommensteuerrecht beispielsweise bei der Freistellung von Gewinnen aus pri­ vaten Veräußerungsgeschäften gem. §  23 EStG beobachten. Die Entscheidungen Steuerpflichtiger zwischen langfristigen Investitionen, z.B. in steuerfrei veräußerbare Immobilien versus steuerpflichtig veräußerbare Aktien, werden durch diesen Steuereffekt verzerrt. Steuertarifeffekte werden durch Anwendung unterschiedlich hoher Steuersätze auf die Bemessungsgrundlagen ausgelöst. Als Beispiel kann die Kapitalertragsteuer auf Kapitaleinkünfte genannt werden, die von dem progressiven Steuertarif, der z.B. auf den Gewinn eines Einzelunternehmers angewendet wird, abweicht. Abbildung 1 fasst die Ergebnisse der Untersuchung zusammen. Bei der Analyse der Gerichtsurteile stellt Wagner ein Ungleichgewicht fest: Im untersuchten Zeitraum bezieht sich ein Großteil der Rechtsprechung auf Sachverhalte, die die Abgrenzung der Bemessungsgrundlage betreffen (77 % der 5.012 untersuchten Urteile), während Besteuerungszeitpunkte (18 %) und der anzuwendende Tarif (5 %) deutlich weniger konfliktanfällig sind15.

Abbildung 1: Anteil der Urteile und Publikationen nach Steuereffekten und Disziplin der Autoren 2001-2003. Quelle: In geänderter Darstellung entnommen aus Wagner, StuW 2008, 97 (108-110).

15 Vgl. Wagner, StuW 2008, 97 (108); auch zur Beschreibung der Methodik. Die meisten Urteile zur Bemessungsgrundlage beinhalten die Themen Werbungskosten (18 % aller Urteile), den Familienleistungsausgleich (11 %), Betriebsausgaben (6 %), Sonderausgaben (5 %) und verdeckte Gewinnausschüttungen (5 %). Bei Urteilen zu Zeiteffekten dominierten Abschreibungen (7 % aller Urteile), Rückstellungen (3 %) und Verlustabzug (2 %); bei Tarifeffekten außerordentliche Einkünfte (4 % aller Urteile). Für Österreich stellen Niemann/ Kastner, StuW 2009, 128 (131), einen noch höheren Anteil an Urteilen zu Bemessungsgrundlagen fest: 80 % der untersuchten VwGH-Urteile beziehen sich auf Bemessungsgrundlagen, 6 % auf Tarifeffekte und 14 % auf Zeiteffekte.

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Das Verhältnis der von der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre im Vergleich zu den von Steuergerichten bzw. im Steuerrecht bearbeiteten Themen analysiert Wagner durch Gegenüberstellung der thematischen Schwerpunkte der Gerichtsurteile und der Literaturbeiträge der Disziplinen. Die dafür ausgewerteten 2.118 Literaturbeiträge entstammen den Zeitschriften Betriebsberater (297 Beiträge), Der Betrieb (355), Deutsches Steuerrecht (509), Deutsche Steuerzeitung (285), Finanzrundschau (247), Steuern und Bilanzen (282), Steuer und Wirtschaft (81) und Die Wirtschaftsprüfung (62). Abbildung 1 zeigt, dass sich Steuerjuristen als Autoren entsprechend der Relationen der Urteile mit Bemessungsgrundlagen-, Tarif- und Zeiteffekten befassen; dies gilt unabhängig davon, ob sie als „Theoretiker“ oder „Praktiker“ eingeordnet werden. Mit Abstand der größte Teil der Publikationen bezieht sich bei ihnen auf Sachverhalte, die die Steuerbemessungsgrundlage und deren Abgrenzung zum Gegenstand haben (83 % bzw. 76 %). Bei den Publikationen der Autoren, die als Ökonomen zugeordnet werden, sind die Themenschwerpunkte anders gelagert. Während sich bei den Praktikern die Hälfte der Literaturbeiträge mit Bemessungsgrundlagen befasst (50 %), machen diese bei den Theoretikern nur 35 % aus. Ihre Bedeutung ist somit bei den Ökonomen deutlich geringer als bei den Gerichtsstreitigkeiten (77 % der Urteile). Bei den Ökonomen verschiebt sich das Gewicht deutlich zugunsten der Zeiteffekte: 41 % der Publikationen der Praktiker und 48 % der Publikationen der Theoretiker beziehen sich auf zeitliche Verwerfungen. Diese machen bei Juristen als Autoren nur 14 % bzw. 16 % aus; knapp darüber liegen mit 18 % die Gerichtsurteile. Auch Beiträge mit Tarifeffekten sind bei Ökonomen überproportional vertreten. Bei Theoretikern machen sie 17 % aus (Praktiker 9 %), während sie bei Juristen nur 3 % (Theoretiker) bzw. 7 % (Praktiker) ausmachen, was in etwa der Bedeutung der Thematik bei Gerichten (5 % der Urteile) entspricht. Die Analyse dokumentiert somit, dass Steuergerichtsverfahren und Publikationen aus der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre verschiedene Gegenstände zum Schwerpunkt haben. Selbst dann, wenn sich Juristen und Betriebswirte mit ähnlichen Forschungsschwerpunkten befassen, lässt sich in der Literatur eine relativ starke Trennung beider Disziplinen erkennen. Dies wird deutlich anhand einer bibliometrischen Auswertung der Zeitschrift „Steuer und Wirtschaft“ (StuW) für die Jahre 1961–2010. Betting und Wagner16 haben alle in diesem Zeitraum in der StuW erschienenen Beiträge erfasst, nach Disziplinen und Forschungsschwerpunkten kategorisiert und die Zitationen der Beiträge untereinander ermittelt. Sie betrachten insgesamt 1.576 Beiträge, von denen 1.126 von Juristen und 450 von Ökonomen (vorwiegend Betriebswirten) verfasst wurden. Abbildung 2 veranschaulicht die unterschiedlichen Schwerpunkte beider Gruppen.

16 Vgl. Betting/Wagner, StuW 2013, 266.

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Abbildung 2: Forschungsschwerpunkte von 1.576 StuW-Beiträgen aus den Jahren 1961–2010 nach Disziplin der Autoren. Quelle: In geänderter Darstellung entnommen aus Betting/Wagner, StuW 2013, 266 (296– 271).

Die Autoren beider Disziplinen beschäftigen sich gemäß der von Betting und Wagner vorgenommenen Kategorisierung zu ähnlichen Anteilen mit der Steuerdeklaration, definiert als „rechtliche Untersuchungen des geltenden Steuerrechts de lege lata“ (45 % der von Juristen verfassten Beiträge und 40 % der von Ökonomen verfassten Beiträge). Ähnliches gilt für den als „normative Betrachtungen des Steuerrechts de lege ferenda“ definierten Forschungsschwerpunkt Steuerideale, der in 23 % der von Juristen verfassten Beiträge und mit 30 % etwas häufiger in den von Ökonomen verfassten Beiträgen behandelt wird. Die Themenschwerpunkte Steuerplanung und Verfahrensrecht dagegen unterscheiden sich naturgemäß wesentlich stärker: Während sich 1 % der von Juristen verfassten Beiträge und 28 % der von Ökonomen verfassten Beiträge der Steuerplanung, definiert als „Vorteilsanalysen zu steuerlichen Gestaltungsproblemen“, widmen, befassen sich umgekehrt 31 % der juristischen Beiträge, aber nur 2 % der ökonomischen Beiträge mit Verfahrensrecht. Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung wird noch deutlicher, wenn die Beiträge nicht nach Bedeutung innerhalb der Fachdisziplin, sondern nach Fachdisziplin der Autoren innerhalb der Themenschwerpunkte ausgewertet werden. Die Ergebnisse sind in Abbildung 3 abgetragen. Rund drei Viertel aller Beiträge des Bereichs Steuerdeklaration (74 %) und zwei Drittel des Bereichs Steuerideale (66 %) stammen von Juristen. Dies liegt vor allem daran, dass wesentlich mehr StuW-Beiträge von Juristen geschrieben wurden; das Verhältnis entspricht ungefähr dem Gesamtverhältnis der Autoren aller StuW-Beiträge (1.126 Beiträge (71 %) Juristen und 450 Beiträge (29 %) Ökonomen). Ein anderes Bild ergibt sich jedoch bei den Gebieten Steuerplanung und Verfahrensrecht. Von den 141 Beiträgen zur Steuerplanung sind 128 (91 %) von Ökonomen verfasst; somit liegt das Gebiet in der hier verwendeten Kategorisierung fast ausschließlich in ihren Händen. Umgekehrt stammen von den 355 Beiträgen zum Verfahrensrecht 346 (97 %) von Juristen, die dieses Gebiet nahezu allein bearbeiten. 685

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Abbildung 3: StuW-Beiträge aus den Jahren 1961–2010 nach Themenschwerpunkten. Quelle: In geänderter Darstellung entnommen aus Betting/Wagner, StuW 2013, 266 (296– 271).

Im nächsten Schritt zeigen Betting und Wagner, welche Autoren in diesen Beiträgen zitiert werden, wobei sie aufgrund der manuellen Auswertung nur StuW-Zitate berücksichtigen. In 966 der ausgewerteten 1.576 Beiträge wurden andere StuW-Aufsätze zitiert. Von den Zitationen beziehen sich 70 % auf Beiträge von Juristen und 30 % auf Beiträge von Ökonomen. Dies entspricht fast exakt dem Verhältnis der beiden Fachdisziplinen bei den Autoren (71 % Juristen, 29 % Ökonomen). Ein genauerer Blick zeigt jedoch – insbesondere bei den Juristen – ein enges Verhaften in der eigenen Disziplin (vgl. Abbildung 4): Juristen zitieren mit 88 % aller Zitationen weit häufiger andere Juristen, als es ihrem o.g. Anteil an den Beiträgen (71 %) entspricht. Nur 12 % der Zitate beziehen sich auf Beiträge von Ökonomen, die jedoch 29 % der StuW-­Beiträge geschrieben haben. Die Ökonomen zitieren Autoren ihrer eigenen Disziplin ebenfalls überproportional häufig im Hinblick auf deren Anteil an StuW-­ Beiträgen: Jeweils 50 % der Zitationen beziehen sich auf Juristen bzw. Ökonomen. Insgesamt ist die Chance, als Jurist in ökonomischen Beiträgen zitiert zu werden, ­relativ groß (50 % der Zitationen), während Ökonomen eine eher geringe Chance haben, von Juristen zitiert zu werden (12 % der Zitationen). In der Analyse nach Themenschwerpunkten bestätigt sich dies vor allem bei den großen Bereichen Steuerdeklaration und Steuerideale: Juristen zitieren überproportional zur Anzahl der vorhandenen StuW-Beiträge Beiträge von Juristen (87 % bzw. 86 %), während Ökonomen überproportional viele Beiträge von Ökonomen zitieren, aber dennoch 40 % bzw. 55 % ihrer Zitationen auf Beiträge von Juristen beziehen. Im Bereich der Steuerplanung zeigt sich ein noch extremeres Bild zugunsten von Zitationen durch Juristen verfasster Publikationen: Juristen zitieren fast nur Beiträge anderer Juristen (84 % aller Zitationen), obwohl Juristen in diesem Bereich nur 13 StuW-Publikationen (9 % der Steuerplanungsartikel, vgl. Abbildung 3) beitragen. Von Juristen verfasste Publikationen werden auch von Ökonomen extrem häufig zitiert (307 Zitationen bzw. 75 %). Ökonomen zitieren damit ihre eigenen Beiträge in einem ihrer Kernbereiche, der Steuerplanung, in sehr viel geringerem Maße. Eine Ursache könnte darin liegen, dass auch in Beiträgen zur Steuerplanung zunächst die Rechtslage dargestellt werden muss, was die Einbeziehung von durch Juristen verfasste Literatur nahelegt. Im Verfahrensrecht werden erstaunlicherweise von beiden 686

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Disziplinen leicht überproportional häufig Ökonomen zitiert (97 % der StuW-Publikationen stammen von Juristen, vgl. Abbildung 3). In den Bereichen Steuerplanung bzw. Verfahrensrecht sind juristische bzw. ökonomische Autoren jedoch nur in geringer Zahl vertreten, so dass sich hier weniger valide Aussagen treffen lassen als für die Themenschwerpunkte Steuerdeklaration und Steuerideale.

Abbildung 4: Zitationen von StuW-Beiträgen aus den Jahren 1961–2010 nach Themenschwerpunkten und Disziplinen. Quelle: In geänderter Darstellung entnommen aus Betting/Wagner, StuW 2013, 266 (272– 278).

Fraglich ist, ob die Urteilsanalyse und die bibliometrische Analyse repräsentativ und aussagekräftig sind. Sie könnten diversen Limitationen unterliegen. Die Analysen der Gerichtsurteile und Zeitschriftenbeiträge sind rund 15 Jahre alt und daher im Hinblick auf die Aktualität zu hinterfragen. Es gibt jedoch keine Indizien dafür, dass sich die Verhältnisse der Themenschwerpunkte seither signifikant verschoben haben. Falls eine Richtung erkennbar ist, dann ist zumindest in der betriebswirtschaftlichen Wissenschaft die Anzahl der Vertreter, die steuerrechtliche Forschung aus dem Aufgabenkanon ausschließen und damit noch weniger Verzahnung mit Juristen zulassen, eher größer geworden17. Zudem ist die Einordnung der Urteile nach Schwerpunkten manuell (und damit ggf. fehlerbehaftet) und anhand von typischen betriebswirtschaftlichen Kategorien vorgenommen worden. Die betrachteten Zeitschriftenanalysen beziehen sich aufgrund der notwendigen umfangreichen manuellen Arbeitsschritte ausschließlich auf die StuW und lassen andere relevante Zeitschriften aus. Dennoch lassen sich hier keine systematischen Fehler erkennen: So gibt es keinen Grund dafür anzunehmen, dass das Zitationsverhalten in anderen deutschen steuerlichen Fachzeitschriften systematisch abweichen könnte; zumindest gibt es keine Indizien dafür, dass die Verzahnung von Juristen und Ökonomen dort enger wäre.

17 Vgl. Fn. 5.

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Ist die relativ starke Trennung der beiden Schwesterdisziplinen Steuerrecht und Betriebswirtschaftliche Steuerlehre negativ zu bewerten?18 Sie ist m.E. einerseits zu bedauern, da beide Disziplinen im Kern den gleichen Untersuchungsgegenstand behandeln. Andererseits ist sie eine vernünftige Folge unterschiedlicher Ausbildungen und Kompetenzen: Die verschiedenen Schwerpunkte der beiden Disziplinen – und ebenso der Finanzwissenschaft als dritter Schwesterdisziplin – sind daher nicht als problematisch einzustufen, sondern sind Ausprägung einer sinnvollen Arbeitsteilung. Bei der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre steht die Entscheidungswirkung der Be­ steuerung  – unter Verwendung betriebswirtschaftlicher Forschungsmethoden  – im Vordergrund, bei den Juristen die Subsumtion des Sachverhalts unter Verwendung juristischer Auslegungsmethoden. Betriebswirte treffen für ihre Berechnungen und Wirkungsanalysen tendenziell pauschalierende Annahmen, die Grenzfälle oder Umgehungstatbestände auslassen. Diese Annahmen helfen, um grundsätzliche Wirkungsweisen herleiten zu können. Doch gerade diese Grenzfälle können in der Rechtswissenschaft eine wesentlich größere Rolle spielen und haben als Abweichung von eindeutigen Standardfällen eine höhere Chance, von Finanzgerichten entschieden zu werden. Somit haben sowohl die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre als auch das Steuerrecht Relevanz19 und sind geeignet, einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Fehlende Überschneidungen stellen m.E. in weiten Teilen nicht eine falsche Ausrichtung einer Disziplin, sondern eine sinnvolle Arbeitsteilung dar. Ungeachtet dessen wäre es vielfach hilfreich, Publikationen der jeweiligen Schwesterdisziplin stärker zu beachten und zu zitieren, um z.B. Erkenntnisse zu fundieren oder auf mögliche Wirkungen aufmerksam zu machen. Wie in diesem Abschnitt dargelegt, spielt die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre in der juristisch-geprägten Literatur nur eine geringe Rolle. Dies ist sicherlich auch maßgebend für die Rezeption betriebswirtschaftlicher Literatur durch den BFH. Es ist anzunehmen, dass – ohne dass mir hierzu eine systematische Auswertung in der Literatur bekannt wäre – in den steuerrechtlichen Kommentaren Betriebswirte tendenziell noch weniger als in der StuW zitiert werden. In logischer Konsequenz sinkt dadurch auch die Wahrscheinlichkeit, dass eine betriebswirtschaftliche Publikation durch den BFH wahrgenommen wird20. So fanden selbst diejenigen Zeitschriftenbei18 Ein recht negatives, „mauerndes“ Verhältnis beider Disziplinen konstatieren Siegel/Kirchner/Elscher/Küpper/Rückle, StuW 2000, 257, und bereits die StuW-Herausgeber Friauf, Hansmeyer, Mann, Rose, Schmölders und Tipke im Geleitwort der ersten Ausgabe der Neuen Folge, StuW 1971, 1. 19 Deutlich kritischer in seiner Schlussfolgerung Wagner, StuW 2008, 97. 20 Insbesondere bei Sachverhalten, die einer aufwändigen Berechnung bedürfen, nehmen die Literatur und der BFH dennoch auf die Betriebswirtschaftslehre Bezug. Ein Thema, das mit modelltheoretischen Methoden der Steuerplanung sehr gut erfasst werden kann, ist die Begünstigung der nicht entnommenen Gewinne bei Personengesellschaften gem. § 34a EStG. Für die StuW liegen keine themenbezogenen Zitationsanalysen vor. Stichproben in Kommentaren und BFH-Urteilen machen in diesem Bereich jedoch die Bedeutung der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre deutlich: Sowohl in BFH-Urteilen als auch in EStG-­ Kommentaren werden bei §  34a EStG überproportional viele Betriebswirte zitiert, vgl. bspw. BFH v. 20.3.2017 – X R 65/14, BStBl. II 2017, 958 mit Nennung u.a. von Schiffers, DStR 2008, 1805; Blaufus/Hechtner/Hundsdoerfer, BB 2008, 80; Winkeljohann/Fuhrmann

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Der BFH und die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre

träge von Moxter, einem der am häufigsten vom BFH zitierten Betriebswirte, die nicht in steuerrechtlichen Kommentaren und weiterer Literatur aufgenommen wurden, keine Erwähnung in BFH-Urteilen21.

III. Zum Verhältnis von Steuerrecht und Betriebswirtschaftlicher ­Steuerlehre in der Praxis Die Berufswege von Hochschulabsolventen der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre bzw. des Steuerrechts unterscheiden sich kaum. Das Berufsfeld in der Beratung erstreckt sich von einer Tätigkeit bei den „Big Four“ oder Großkanzleien bis hin zur Beschäftigung bei kleinen bzw. mittelständischen Steuerberatungen. Nur wenige Kanzleien fokussieren sich bezüglich der Ausbildung ihrer Mitarbeiter und stellen ausschließlich Juristen oder Betriebswirte ein; in den meisten Beratungen arbeiten Juristen und Betriebswirte in Teams. Gleiches gilt auch für die Steuerabteilungen von Unternehmen. Mit der Verknüpfung einer praktischen Tätigkeit nach dem Studium über einen Zeitraum von zwei bzw. drei Jahren werden die Absolventen zum Steuerberaterexamen zugelassen. Der Berufsstand des Steuerberaters wird dabei zahlenmäßig von der wirtschaftswissenschaftlichen Seite dominiert. Der Anteil an Volljuristen beträgt zum 1.1.2017 nur 5 %22. Der geringe Anteil an Juristen unter den Steuerberatern steht dabei in scheinbarem Widerspruch zu dem im vorherigen Abschnitt diskutierten hohen Anteil an Juristen unter den Autoren der Zeitschrift „Steuer und Wirtschaft“. Ursächlich könnte dabei die weit verbreitete und insbesondere von Dieter Schneider und Franz W. Wagner vertretene Ansicht sein, dass Betriebswirte den Bereich der Rechtsauslegung Juristen überlassen sollten, da sie hierbei mit ökonomischen Methoden keinen Mehrwert erzeugen könnten23. Dies kann zumindest für die Wissenschaft, nicht jedoch für die Praxis, erklären, weshalb nicht mehr Betriebswirte unter den Autoren von Artikeln in Fachzeitschriften, wie der StuW, zu finden sind. In der Unternehmens- und Beratungspraxis gibt es trotz der oben beschriebenen häufigen Zusammenarbeit aufgrund der unterschiedlichen Ausbildungswege natürliche Aufgabenteilungen. So werden Betriebswirte mehr in „zahlenlastigeren“ Bereiin PricewaterhouseCoopers, Unternehmensteuerreform 2008, Rz. 564 ff. Als Beispiel für Kommentare Ratschow in Blümich, § 34a EStG, mit Nennung u.a. von Houben/Maiterth, FR 2008, 1044; Knirsch/Maiterth/Hundsdoerfer, DB 2008, 1405; Schneider/Wesselbaum-­ Neugebauer, FR 2011, 166; Wacker in Schmidt, § 34a EStG, mit Nennung u.a. von Dörfler/ Graf/Reichl, DStR 2007, 645; Kleineidam/Liebchen, DB 2007, 409; Stein in Herrmann/Heuer/Raupach, § 34a EStG, mit Nennung u.a. von Förster, DB 2007, 760; Schiffers, GmbHR 2007, 841, Schiffers, GmbH-StB 2007, 243; 345; Schreiber, DB 2007, 813; Schanz/Kollruss/ Zipfel, DStR 2008, 1702. 21 So Groh in FS Moxter, 1994, S. 63 (65). 22 Vgl. Bundessteuerberaterkammer, Berufsstatistik 2016, S. 11. Juristen ohne Steuerberaterexamen sind nicht enthalten. 23 Ausführlich hierzu Wagner, ZfbF 2015, 522 (537ff); Wagner, StuW 2010, 24 (32).

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chen, wie Verrechnungspreisabteilungen, anzufinden sein, oder speziell dort, wo Sachverhalte mehrperiodig betrachtet werden müssen, wie in der Unternehmensbewertung. Auch im Bereich von nur mehrperiodig sinnvoll zu analysierenden Steuergestaltungen dürften vermehrt Betriebswirte tätig sein, während Juristen ohne größere Berechnungen vor allem im einperiodigen Bereich Gestaltungen analysieren und vor allem auch dort, wo Gestaltungen weitreichendere Betrachtungen in anderen Rechtsbereichen erfordern. So basieren viele Gestaltungen im Kern auf (einperiodigen) Steuersatzvergleichen, für die keine größeren Modellrechnungen notwendig sind; Beispiele hierfür sind internationale Gewinnverlagerungen, hybride Finanzierungen oder Umqualifikationen z.B. von Arbeits- in Kapitaleinkünfte. Die mittlerweile seit vielen Jahren anhaltende Niedrigzinsphase trägt sicherlich dazu bei, dass auch bei Sachverhalten, die nur mehrperiodig sinnvoll betrachtet werden können, Zinseffekte gegenüber Steuertarif- oder Bemessungsgrundlageneffekten in den Hintergrund treten. Als eine nur mehrperiodig durchschaubare Gestaltung hat sich beispielsweise die Thesaurierungsbegünstigung für Personengesellschaften gem. § 34a EStG erwiesen: Ein reiner Steuersatzvergleich würde niemals zu ihrer Inanspruchnahme führen. Es lassen sich in komplexen – typischerweise von Betriebswirten aufgestellten – Modellen Bedingungen aufzeigen, unter denen die Inanspruchnahme vorteilhaft ist; diese sind beispielsweise sehr lange Thesaurierungszeiträume und hohe Zinsen auf Fremdkapital, die ein Steuerpflichtiger zur Begleichung der Steuerschuld zahlen müsste24. In Anbetracht der eher seltenen Vorteilhaftigkeit der Regelung wird sie jedoch überproportional häufig verwendet25; unklar ist, inwieweit fehlende mehrjährige Vorteilhaftigkeitsberechnungen dafür die Ursache sind. Neben Fehleinschätzungen der Vorteilhaftigkeit der Inanspruchnahme der begünstigten Besteuerung gem. § 34a EStG sind weitere Beispiele für falsche Optimierung aufgrund mangelnder betriebswirtschaftlicher Kenntnisse das Ignorieren von Steuern in der Investitionsrechnung, das Ausrichten von Investitionsentscheidungen am Abschreibungspotential anstelle von Kapitalwerten, betriebswirtschaftlich unsinnige übermäßige Fremdkapitalaufnahme zur Minderung der Steuerbemessungsgrundlage oder die Überschätzung der Vorteilhaftigkeit von Steuervergünstigungen wie dem Investitionsabzugsbetrag nach §  7g EStG26. Diesen Beispielen ist gemein, dass die Fehleinschätzungen zu Vermögensverlusten des Mandanten führen, sie wahrscheinlich jedoch nicht vor den BFH gebracht werden, da die Problematik in der Auswahl der Entscheidungsalternativen liegt, nicht jedoch in einer zwischen Steuerpflichtigem/-berater und Finanzverwaltung unterschiedlichen Gesetzesauslegung.

24 Vgl. Knirsch/Schanz, ZfB 2008, 1231. 25 Brähler/Guttzeit/Scholz, StuW 2012, 119 (123), zeigen, dass 13,7 % der 2.469 von ihnen befragten Steuerberater die Begünstigung für ihre Mandanten in Anspruch genommen haben. 26 Die Beispiele sind ausführlich in Schanz, DStR 2015, 2032, dargelegt.

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Als weitere betriebswirtschaftliche Domäne haben sich in jüngerer Zeit Bereiche herausgebildet, die die Optimierung von Unternehmensprozessen zum Ziel haben. Derzeit sind die wichtigsten Bereiche einerseits die Prozesse, die Steuercompliance27 ­sicherstellen und andererseits diejenigen, die aufgrund der Digitalisierung Veränderungen unterworfen sind. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass Unternehmen und Beratungen neben den Mitarbeitern mit hohem Steuerwissen auch solche benötigen, die über andere, bisher im Bereich Steuern als weniger wichtig erachtete Kompetenzen verfügen. Hier sind insbesondere Kommunikationskompetenz, Projektmanagementkompetenz und IT-Kompetenz zu nennen28 . Diese werden notwendig, um der wachsenden Bedeutung der Schnittstellen der Steuerfunktion in Unternehmen zu anderen Bereichen gerecht zu werden. Zudem wird die Relevanz von betriebswirtschaftlicher Beratung durch Steuerberater in Zukunft weiter zunehmen. Betriebswirtschaftliche Beratung – sei es durch Steuerjuristen oder Betriebswirte – ist ein Teil des Dienstleistungsangebots der Steuerberater, den die Bundessteuerberaterkammer als eine „Gestaltungsoption für zukunftsfähige Kanzleien“ einordnet. Hier sieht die Kammer, insbesondere nach Wegfall vieler deklaratorischer Leistungen aufgrund der fortschreitenden Automatisierung, hohes Wachstumspotential29. Im Gegenzug existieren unverändert Bereiche, die fast ausschließlich durch Steuerjuristen bedient werden; hierzu gehört insbesondere das Verfahrensrecht.

IV. Zum Verhältnis von BFH-Rechtsprechung und Betriebswirtschaft­ licher Steuerlehre im Bilanzsteuerrecht Ein Bereich, in dem die Betriebswirtschaft eine besondere Nähe zu den in der Steuerrechtsprechung behandelten Fällen aufweist, ist das Bilanzsteuerrecht30. Vorläufer der Entwicklung des Bilanzsteuerrechts war eine intensive Diskussion, was unter dem Begriff „Gewinn“ zu verstehen sei. In der Betriebswirtschaftslehre sind dabei zwei grundlegend verschiedene Bereiche zu unterscheiden. Auf der einen Seite wurden ökonomische Theorien entwickelt, die als Gewinnbegriff den streng zukunftsorientierten „ökonomischen Gewinn“31 herausgebildet haben, der sich als Differenz zweier durch Diskontierung zukünftiger Zahlungsüberschüsse gebildeter Ertrags27 Die Verschärfung der Selbstanzeige zum 1.1.2015 machte eine bessere Abgrenzung zu einer Berichtigung gem. § 153 AO notwendig. Der zum 23.5.2016 neu erschienene Anwendungserlass zu § 153 AO erwähnt erstmals konkret ein innerbetriebliches Kontrollsystem (IKS), das „ggf. ein Indiz darstellen“ kann, das „gegen das Vorliegen eines Vorsatzes oder der Leichtfertigkeit sprechen kann“ und durch das somit trotz Fehlern eine bloße Berichtigung vorliegt. Vgl. einführend Kowallik, DB 2017, 1344; Wolfersdorff/Hey, WPg 2016, 934. Infolgedessen führen derzeit v.a. große Unternehmen professionellere IKS ein, Schanz/ Sixt, DB 2018, 1097. 28 Vgl. Schanz/Sixt, DB 2018, 1097. 29 Vgl. Bundessteuerberaterkammer, Steuerberatung 2020: Veränderungsnotwendigkeit, Veränderungsmöglichkeiten und Handlungsfelder, 2014, S. 44. 30 Vgl. Schön, StuW 1995, 366. 31 Vgl. Knirsch, Die antizipierte und realisierte Steuerbelastung von Unternehmen, 2005, S. 13.

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werte ergibt. Dieser Gewinn entspricht der Verzinsung des Ertragswerts im Entscheidungszeitpunkt und ist entnahmefähig, ohne das Vermögen (das dem Ertragswert entspricht) zu schmälern. Problematisch an diesem Gewinnbegriff ist, dass sich aus ihm keine Bilanzierungsprinzipien und Ansatz- oder Bewertungsregeln für einzelne Wirtschaftsgüter ableiten lassen. In der Rechtsprechung kann der „ökonomische Gewinn“ daher keine Hilfestellung leisten. Auf der anderen Seite entwickelte die Betriebswirtschaftslehre die Bilanztheorien, die nicht auf ökonomischen Theorien fundieren, aber den Vorteil bieten, eine Abgrenzung von Gewinn und Vermögen auf Basis der Aktivierung und Passivierung einzelner Wirtschaftsgüter zu ermöglichen. Schanz32 entwickelte und publizierte 1896 in dem von ihm gegründeten FinanzArchiv die Reinvermögenszugangstheorie, die als Steuerbemessungsgrundlage die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen operationalisieren und dabei – im Gegensatz zur Quellentheorie – nicht nur regelmäßig wiederkehrende Einkommensbestandteile besteuern will33. Diese Theorie sowie die weitere in der Betriebswirtschaftslehre intensiv geführte Diskussion darüber, zu welchem Zweck ein Gewinn ausgewiesen werden soll und wie dieser gemäß der unterschiedlichen Bilanztheorien auszusehen hat, nahmen Einfluss auf das Gewinnverständnis, das unserem Einkommensteuergesetz zugrunde liegt. In der Gesetzesbegründung zur Einkommensteuerreform 1934 wurde die Erfassung der „Reineinkünfte“34, und somit eine Nettogröße, als Ziel genannt35. Die Reinvermögenszugangstheorie prägte das in § 4 EStG kodifizierte Verständnis vom Vermögensvergleich, wenngleich nichtrealisierte Gewinne allein aus Gründen der Administration nicht mit enthalten sind36. Aus der Idee des Einkommens als „realisiertem Reinvermögenszugang“ ließen sich Bilanzprinzipien und, konkreter, die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, ableiten37. Im Gegensatz zu ihnen schließt die Quellentheorie Wertveränderungen im Vermögensstamm von der Besteuerung aus und prägte mit der Idee der Besteuerung regelmäßig „sprudelnder“ Einkommensquellen die Überschusseinkünfte38.

32 Vgl. Schanz, FinanzArchiv 1896, 1 (1 ff.). 33 Zu Kritik vgl. Schneider, Betriebswirtschaftslehre, Bd. 2: Rechnungswesen, 2. Aufl. 1997, S. 245 ff. 34 RStBl. 1935, 34. 35 Vgl. Schön, StuW 1995, 366 (368). Im Rahmen der Tax Cut Cum Base Broadening-Reformen wurde die Nettobesteuerung immer mehr zurückgedrängt, beispielsweise bei der eingeschränkten Verlustverrechnung (§  10d EStG) oder der Zinsschranke (4h EStG); zu Rechtfertigungsgründen bei der Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips vgl. Drüen, StuW 2008, 3. 36 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 3 Rz. 68; § 7 Rz. 30 ff. 37 Vgl. Schneider, Steuerbilanzen, 1978, S. 60 ff. 38 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 8 Rz. 50.

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Der BFH und die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre

Intensiv wurden in der folgenden Zeit in der Betriebswirtschaft die Gegenpositionen „statische Bilanztheorie“39 versus „dynamische Bilanztheorie“40 nach Eugen Schmalenbach diskutiert. Die dynamische Bilanztheorie wurde vom BFH insbesondere in den 1940er bis 1960er Jahren übernommen41, der dann jedoch mehr und mehr davon abkehrte. Nur noch eine pagatorische Sichtweise42 – eine strenge Ausrichtung an in der Bilanz umperiodisierten Zahlungsvorgängen – prägte spätere Bilanztheorien und deren Rechtsanwendung. In jüngerer Zeit wurden das Steuerbilanzrecht und die Gewinnermittlung insbesondere durch Adolf Moxter geprägt43. Er entwickelte die klassischen Bilanztheorien, ohne sich auf statisch oder dynamisch festzulegen, zu einer von ihm als „modernen Bilanztheorie“ bezeichneten Lehre fort. Diese „moderne Bilanztheorie“ unterscheidet zwischen verschiedenen „Bilanzaufgaben“ und formuliert für jede dieser Aufgaben bzw. Bilanzzwecke eigene Bilanzierungsnormen. Die unterschiedlichen Bilanzzwecke verursachen unterschiedliche Bedeutungen und Gewichtungen der Prinzipien Unternehmensfortführungsprinzip (going concern), Realisationsprinzip, Vorsichtsprinzip usw. Da die Aufgaben und die aus ihnen abgeleiteten Bilanznormen widersprüchlich sein können, leitete Moxter anhand des HGB und des EStG eine gesetzliche Rangordnung der Aufgaben und somit der aus ihnen abgeleiteten Normen her44. Die einzige auf Steuern bezogene Aufgabe der Bilanz sei die „Einkommensbesteuerung“; jedoch lassen sich hieraus keine separaten, ggf. von den anderen Aufgaben abweichenden Bilanzierungsregeln ableiten, soweit die Handelsbilanz und die Steuerbilanz über die Maßgeblichkeit gem. § 5 Abs. 1 EStG auch nach handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung aufzustellen sei45. 39 Die statische Bilanztheorie verfolgt das Ziel, das „korrekte“ Vermögen eines Unternehmens in einer Vermögensbilanz abzubilden. Als Differenz zweier in aufeinanderfolgenden Perioden aufgestellter Vermögensbilanzen ergibt sich „als Abfallprodukt“ der korrekte Vermögenszuwachs, d.h. der Gewinn. Als Aktiva (Passiva) werden – bei der Variante der Fortführungsstatik – alle sog. „Ertragswertkomponenten“ bezeichnet, die bei Fortführung des Unternehmens einen positiven (negativen) Beitrag zum Ertragswert, den diskontierten zukünftigen Erträgen, beisteuern. Vgl. Moxter, Bilanzlehre. Bd. I: Einführung in die Bilanztheorie, 3. Aufl. 1984, S. 7 ff. 40 Die dynamische Bilanztheorie geht  – im Gegensatz zur statischen  – davon aus, dass es nicht möglich ist, das Vermögen anhand einer Vermögensbilanz korrekt zu ermitteln, da das Vermögen nicht der Summe der einzelnen Vermögensgegenstände entspricht. Ziel der Bilanz sei es, die Entwicklung der Vermögenslage – dies entspricht dem Erfolg – zu ermitteln, vgl. Schmalenbach, Grundlagen dynamischer Bilanzlehre, 1919; Moxter, Bilanzlehre. Bd. I: Einführung in die Bilanztheorie, 3. Aufl. 1984, S. 30 ff. 41 Groh in Steuerberaterjahrbuch 1979/80, S. 121 (122). 42 Groh in Steuerberaterjahrbuch 1979/80, S. 121 (124). 43 Die Entwicklung von Bilanztheorien und -prinzipien war einst ein bedeutsamer Kern der Betriebswirtschaftslehre, vgl. Kußmaul et al., DB 2017, 1337 (1338); Schneider, Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie, 1981. 44 Vgl. Moxter, Bilanzlehre. Bd. I: Einführung in die Bilanztheorie, 3. Aufl. 1984, S. 156 ff. 45 Spätestens seit dem BilMoG divergieren Handels- und Steuerbilanz immer mehr, vgl. Schanz/Schanz, StuW 2009, 311 ff. Ballwieser verteidigt das Maßgeblichkeitsprinzip auch als zukünftig sinnvoll, vor allem, da er nicht entscheidungsnützliche Informationsvermittlung, sondern Gläubigerschutz und Ausschüttungsbemessungsgrundlage als Bilanzzwecke hervorhebt, vgl. Ballwieser in FS Schreiber, 2016, S. 103 ff.

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Doch bieten auch die Bilanztheorien und die daraus abgeleiteten Bilanzierungsprinzipien bei Sachverhalten nicht immer eine zwingende Lösung, wie Ansatz und Bewertung vorzunehmen sind. Diese zu finden, verbleibt daher oft die Aufgabe der Gerichte. Da zivilrechtlich wesentlich weniger über Ansatz und Bewertung in der Handelsbilanz gestritten wird – wohl auch, da oft keine direkten monetären Konsequenzen daran geknüpft sind – verbleibt diese Aufgabe in der Regel den Finanzgerichten, die die wirtschaftlichen Sachverhalte beurteilen müssen. Moxter hob dabei stets hervor, dass der BFH in seiner Bilanzrechtsprechung zur Rechtssicherheit beitrüge, da seine Entscheidungen nicht nur lose nebeneinander, sondern in einem systematischen Zusammenhang stünden46. Im Bilanzsteuerrecht wird regelmäßig die wirtschaftliche Betrachtungsweise47 als spezifische Form der teleologischen Auslegung herangezogen. Die Interpretation der wirtschaftlichen Betrachtungsweise wird dabei nicht der Betriebswirtschaftslehre entnommen, sondern erfolgt sowohl durch Betriebswirte als auch durch Juristen; insbesondere werden keine betriebswirtschaftlichen Methoden hierfür verwendet48. Dem Zivilrecht wird gegenüber dem Steuerrecht bzw. der wirtschaftlichen Betrachtungsweise kein übergeordneter Rang zugesprochen49; bei der Feststellung eines steuerlichen Tatbestandes ist dennoch die „Vorherigkeit des Zivilrechts“ zu beachten50. Die Bedeutung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise hat gegenüber der rein zivilrechtlichen Betrachtungsweise im Zeitverlauf zugenommen51. Auch der BFH hat sei-

46 Vgl. Groh in FS Moxter, 1994, S. 63 (74). 47 Die wirtschaftliche Betrachtungsweise als Auslegungsmethode beschränkt sich nicht auf das Steuerrecht, sondern wird auch in anderen Rechtsgebieten verwendet, in denen Rechtsfragen wirtschaftliche Vorgänge betreffen, Pahlke in Schwarz/Pahlke, § 4 AO Rz. 149. Der Begriff bezieht sich einerseits auf die Auslegung von steuerrechtlichen Begriffen und andererseits auf das Verhältnis von „gesetzlichem Tatbestand und Sachverhalt“, Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 320. Während in den Reichsabgabenordnungen seit 1919 (§ 4 RAO) und den ersten Gesetzesentwürfen der AO 1972 die wirtschaftliche Betrachtungsweise noch explizit kodifiziert war, wurde diese in der verabschiedeten Fassung der AO 1972 nicht mehr genannt, weil es sich um eine allgemeingültige Auslegungsregel handelt, die nicht explizit im Gesetz kodifiziert werden muss, Eibelshäuser, DStR 2002, 1426 (1427). Zur verfassungsrechtlichen Akzeptanz und Interpretation vgl. BVerfG  v. 27.12.1991  – 2 BvR 72/90, BStBl. II 1992, 212. Kritisch Hey, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 3 Rz 27. Ottmar Bühler, ZfB 1950, 47 ff., bezeichnete die wirtschaftliche Betrachtungsweise als Angelpunkt der Verwandtschaft von Betriebswirtschaftlicher Steuerlehre und Steuerrecht, vgl. Pohmer, Grundlagen der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, 1959, S. 69. 48 Beisse, DStR 1980, 243 (250 f.), unterscheidet die wirtschaftliche Betrachtungsweise in der BFH-Rechtsprechung von dem Rückgriff auf betriebswirtschaftliche Bilanztheorien. Vgl. auch Wagner, ZfbF 2015, 522 (538) in Bezug auf jede Steuerrechtsauslegung durch Betriebswirte. 49 Vgl. Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, §  1 Rz.  34; Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 5 Rz. 71. 50 Schön, StuW 1995, 306 (375); Moxter in FS Offerhaus, 1999, S. 622 f. 51 So bezogen auf den BFH Weber-Grellet, BB 2017, 43 (50).

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ne ursprüngliche Sichtweise vom „Primat“ des Zivilrechts52 in den 1960er Jahren aufgegeben und sich die von Moxter stets angewandte wirtschaftliche Betrachtungsweise in vielen Entscheidungen zu Eigen gemacht53. An verschiedenen Stellen hat diese auch Einzug in Steuergesetze erhalten. Besonders hervorzuheben ist § 39 Abs. 2 AO, demzufolge ein Wirtschaftsgut einem anderen als dem zivilrechtlichen Eigentümer zuzurechnen ist, wenn Erstgenannter die tatsächliche Herrschaft über das Wirtschaftsgut so ausübt, dass er den zivilrechtlichen Eigentümer im Regelfall für die gewöhnliche Nutzungsdauer von der Einwirkung auf das Wirtschaftsgut wirtschaftlich ausschließen kann; als Gegenbegriff zum zivilrechtlichen Eigentümer hat sich der des wirtschaftlichen Eigentümers herausgebildet54. Das Auseinanderfallen von zivilrechtlichem und wirtschaftlichem Eigentum mit einer – gemäß der wirtschaftlichen Betrachtungsweise  – Zurechnung zum wirtschaftlichen Eigentümer kann, um nur einige Beispiele zu nennen, bei Lieferung unter Eigentumsvorbehalt, bei Sicherungsübereignung, bei bestimmten Finanzierungsleasingverhältnissen55 und bei als selbständigen Wirtschaftsgütern56 geltenden Mietereinbauten57 und Bauten auf fremdem Boden vorliegen. Zu letztgenannten Beispielen: Die Zurechnung zum Bauherrn geht bei Bauten auf fremden Grundstücken (§  266 Abs.  2 HGB) und Mietereinbauten über den Wortlaut des § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 AO hinaus: Das Gebäude oder der Ge52 Vgl. BFH v. 12.7.1960 – I 96/59, BStBl. III 1960, 387, BFHE 71, 368; v. 5.12.1961 – I 106/60 U, BFHE 74, 138; v. 12.7.1967 – I 204/64, BFHE 90, 122. Vgl. auch Müller, Verbindlichkeitsrückstellungen 2008, S. 29, mit weiteren Urteilen. 53 Vgl. Weber-Grellet, StuW 2016, 226 (234 f.); Moxter, Bilanzrechtsprechung, 6. Aufl. 2007. Einen Überblick über die aktuelle Rechtsprechung gibt der seit 2001 jährlich erscheinende BB-Rechtsprechungsreport zu bilanzrechtlichen BFH-Urteilen, vgl. z.B. für das Jahr 2017 Weber-Grellet, BB 2018, 43. 54 Dieser wird in ständiger Rechtsprechung bestätigt; vgl. z.B. BFH v. 3.8.1988 – I R 157/84, BStBl. II 1989, 21; v. 8.8.1990 – X R 149/88, BStBl. II 1991, 70; v. 25.4.2006 – X R 57/04; v. 14.2.2007  – XI R 18/06, BStBl.  II 2009, 957. Beim wirtschaftlichen Eigentum wird kein steuerrechtlicher Eigentumsbegriff geschaffen, Koenig in Koenig, 3. Aufl. 2017, §  39 AO Rz.  13, sondern lediglich die wirtschaftliche Betrachtungsweise in Bezug auf die Zuordnung von Wirtschaftsgütern angewandt, vgl. Winnnefeld, Bilanz-Handbuch, 5. Aufl. 2015, Kapitel D, Rz. 103. 55 Die Zuordnung zu Leasingnehmer oder -geber erfolgt im Handels- und im Steuerrecht gemäß der typisierten Zuordnung des seit 1971 gültigen Leasing-Erlasses. Dieser gilt für Mobilien, BMF v. 19.4.1971; weitere Erlasse kamen später hinzu. Der Mobilien-Leasingerlass folgte dem grundlegenden Urteil BFH v. 26.1.1970 – IV R 144/66, BStBl. II 1970, 264. Zu Leasing mit Kaufoption vgl. BFH v. 12.9.1991 – III R 233/90, BStBl. II 1992, 182; zu Spezialleasing vgl. BFH v. 8.8.1990 – X R 149/88, BStBl. II 1991, 70; bei sale-and-lease-back-Geschäften vgl. BFH v. 13.10.2016 – IV R 33/13, BStBl. II 2018, 81. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise verneinend dagegen noch BFH v. 12.7.1960 – I 96/59 S, BFHE 71, 368, mit dem Leitzsatz: „Miet- und Pachtzinsen im Sinn des § 8 Ziff. 8 GewStG 1950 sind nur solche Entgelte, die auf Grund eines Vertrags gezahlt werden, der seinem wesentlichen rechtlichen Inhalt nach einen Miet- oder Pachtvertrag des bürgerlichen Rechts darstellt“. 56 Zur Abgrenzung vgl. BFH v. 26.2.1975 – I R 32/73, BStBl. II 1975, 443; v. 28.7.1993 – I R 88/92, BStBl. II 1994, 164; v. 15.10.1996 – VIII R 44/94, BStBl. II 1997, 533, vgl. auch Moxter, BB 1987, 1846. 57 BFH v. 28.7.1993 – I R 88/92, BStBl. II 1994, 164. Vgl. Große 2002, DStR 2002, 1517 für eine Aufarbeitung zur Umsetzung der BFH-Rechtsprechung durch die Finanzverwaltung.

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bäudeteil ist dem Bauherrn „wie ein materielles Wirtschaftsgut“58 zuzurechnen. Dies gilt auch, wenn als Benutzungsdauer nicht die gewöhnliche Nutzungsdauer des Wirtschaftsguts, sondern abweichend nur die Dauer des Nutzungsrechts des Mieters gilt59. In jüngerer Rechtsprechung wurde bei Bauten auf fremdem Boden jedoch vermehrt die rein zivilrechtliche Betrachtung angewendet60. Weber-Grellet kritisiert die unzureichende Berücksichtigung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise61; hier zeigt sich, dass das Abwägen von wirtschaftlicher und zivilrechtlicher Betrachtungsweise auch heute nicht zu zwingenden, allgemein akzeptierten Lösungen führen muss.

V. Fazit Viele Fragestellungen, zu deren Beantwortung die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre wertvolle Beiträge liefern kann, werden von Steuergerichten kaum behandelt: Dazu gehören weite Teile der Steuerwirkungslehre, d.h. die Wahl zwischen Handlungsalternativen, und die Steuergestaltung62. Auch die in der Bedeutung für Steuerberater stark wachsenden Bereiche der betriebswirtschaftlichen Beratung, der Steuerprozessoptimierung, der Sicherstellung der Steuercompliance und der Digitalisierung der Besteuerungsprozesse spielen in der Steuerrechtsprechung kaum eine Rolle. Eher noch als der BFH hat der BGH Berührungspunkte, sobald z.B. Zweifel an der Steuercompliance bestehen63 und infolgedessen Ordnungswidrigkeiten oder Steuerstraftaten vorliegen könnten. Auch die Bereiche der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, die sich um empirische Erkenntnisse – z.B. Verhaltensanpassungen infolge von Steuerreformen oder steuerlichen Unterschieden in verschiedenen Jurisdiktionen  – bemühen oder auch normative oder modelltheoretische Beurteilungen von (politischen) Steuerreformvorschlägen vornehmen, haben kaum Berührungspunkte mit dem BFH. Anders als der BFH steht die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre als Wissenschaft nicht „unter Entscheidungszwang“64; sie kann von den bestehenden Problemen und Aufgabenfeldern diejenigen wählen, die sie als relevant und ökonomisch bedeutend erachtet. Das Verhältnis von Steuerrechtsprechung, insbesondere durch den BFH, und Betriebswirtschaftlicher Steuerlehre ist somit von Gemeinsamkeiten, aber auch großen 58 BFH v. 23.8.1999 – GrS 1/97, BStBl. II 1999, 778, vgl. auch Hennrichs, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 9 Rz. 150 f. 59 RFH v. 21.9.1927 – VI A 383/27; vgl. Moxter, Bilanzrechtsprechung, 6. Aufl. 2007, 37. 60 BFH v. 9.3.2016  – X R 46/14, BStBl.  II 2016, 976. Zu möglichen Steuergestaltungen auf Basis dieses Urteils vgl. Kraft/Kraft, NWB 2016, 2031. 61 Weber-Grellet, BB 2016, 2220. 62 Steuergestaltungen, die von der Betriebsprüfung als missbräuchlich gem. § 42 AO eingestuft werden, bilden ein Beispiel, bei dem betriebswirtschaftliche Optimierungsüberlegungen gerichtlich überprüft werden. 63 BGH v. 9.5.2017 – 1 StR 265/16, in dem der 1. Strafsenat darauf hinweist, dass für die Bemessung der Geldbuße gemäß § 30 Abs. 1 OWiG bedeutsam ist, inwieweit ein funktionierendes Compliance Management System installiert ist. 64 Söhn in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 325, konstatiert dies auch für die Steuerrechtswissenschaften.

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Der BFH und die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre

Unterschieden geprägt. Das Steuerrecht bildet den Gegenstand der beiden Arbeitsbereiche, wodurch eine große Nähe gegeben ist. Sinnvolle Arbeitsteilung und bestehende Methodenunterschiede der beiden Disziplinen vergrößern den Abstand zwischen ihnen jedoch. Selbst, wenn Betriebswirte sich zu steuerrechtsnahen Themen äußern, gelangen diese Quellen oft nicht bis zum BFH; dies hat auch damit zu tun, dass solche Publikationen weit weniger als juristische Publikationen in Kommentaren und Zeitschriftenbeiträgen zitiert werden. Eine Ausnahme bildet das Bilanzsteuerrecht, das von den durch Betriebswirte entwickelten Bilanztheorien geprägt ist. Da der Gegenstand der Steuerdisziplinen sich stark überschneidet, sollte auch darüber hinaus in der Rechtsprechung, Literatur und Lehre so weit wie möglich nach Gemeinsamkeiten gesucht und der Austausch intensiviert werden. Denn sonst stellt sich weiterhin die von Ottmar Bühler 1940 aufgeworfene Frage: „Was ist es eigentlich, was die zwei Königskinder bis jetzt nicht hat zueinander kommen lassen?“ 65.

65 Bühler in FS Walb, 1940, S. 5 (6).

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … C. I.

Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Europäischen Steuerrechts Von Georg Kofler

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Positive Integration im materiellen Steuerrecht: Ambition und Wirklichkeit III. Verwaltungszusammenarbeit: ­Geschaffene Fundamente und fort­ schreitender Ausbau

IV. „Stotternder“ Integrationsmotor, das schwingende Pendel und neue Brennpunkte V. Ausblick

I. Einleitung Die Entwicklung der Europäischen Union steht an einem Scheideweg. So skizziert auch das jüngst veröffentlichte „Weißbuch zur Zukunft Europas“1 fünf Szenarien für das Europa des Jahres 2025, die das gesamte Spektrum von Rück- bis zu Fortschritten der Integration abdecken. Eng damit verwoben ist auch die Finanzierung der Union, für die gleichsam eine Reihe von konkreten Überlegungen Eingang in die Diskussion gefunden haben2. Diese Diskussion geht auch am direkten Steuerrecht nicht spurlos vorüber. Wenn nämlich bereits 1980 klar konstatiert wurde, dass die Steuersouveränität „eines der wesentlichen Elemente der nationalen Souveränität  […], und die Mitgliedstaaten […] derzeit alle an der Respektierung dieser Souveränität“ festhalten3, so hat sich an dieser Feststellung bis heute wenig geändert. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich bislang nur in sehr begrenztem Umfang entschlossen, die dem Kernbereich staatlicher Gestaltungsmacht zuzurechnende Materie des Steuerrechts der Union anzuvertrauen und solcherart Hindernisse der freien Allokation von Produktionsfaktoren im Binnenmarkt abzubauen. 1 COM(2017)2025 (1.3.2017). 2 Siehe den Bericht „Future Financing of the EU – Final report and recommendations of the High Level Group on Own Resources“ (December 2016). 3 Bericht der Kommission an den Rat über die Aussichten für eine Angleichung der Steuersysteme in der Gemeinschaft, Bulletin der EG, Beilage 1/80 Rz. 5.

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Georg Kofler

Die Bedeutung der Steuerhoheit eines Staates erklärt sich schon daraus, dass ein modernes Staatswesen westlicher Prägung von den durch Besteuerung erhobenen öffentlichen Mitteln abhängt und darauf letztlich auch die staatsinterne Souveränität einerseits und die völkerrechtliche Unabhängigkeit andererseits basiert. Gerade auch im direkten Steuerrecht wird sich daher die im „Weißbuch zur Zukunft Europas“4 angesprochene Weichenstellung manifestieren, ob es etwa zu einer weiteren Vertiefung nationaler Steuersouveränität und eines Bekenntnisses zum freien Steuerwettbewerb kommen wird, sich „Koalitionen der Willigen“ für eine weitere Steuerharmonisierung finden werden oder es zu einem Zusammenrücken der europäischen Steuersysteme kommen wird. Auch das mögliche Ergebnis einer vertieften Europäisierung des direkten Steuerrechts ist unklar: Wird es ein wahrer Binnenmarkt ohne steuerliche Hindernisse und Verwerfungen oder ein Instrument zur Durchsetzung mitgliedstaatlicher Fiskalinteressen, ein „Europa der Finanzämter“5? Die staatsfundamentale Bedeutung der Besteuerungshoheit mag es im – nicht vom Harmonisierungsauftrag des Art.  113 AEUV erfassten  – direkten Steuerrecht auch erklären, dass nicht nur die „positive Integration“ durch Harmonisierung des direkten Steuerrechts bisher nur punktuell verwirklicht ist und zahlreiche Vorschläge der Kommission letztlich gescheitert sind, sondern in der jüngeren Vergangenheit die Binnenmarktrelevanz nationaler Besteuerungsrechte hervorgehoben und das Unionsrecht auch zur Verwirklichung der Fiskalinteressen der Mitgliedstaaten eingesetzt wird. Der mit unglaublicher Geschwindigkeit vorangeschrittene Ausbau der grenzüberschreitenden Amtshilfe6, das rasche unionsrechtliche Handeln zur Harmonisierung der Körperschaftsteuersysteme spezifisch im Hinblick auf die Bekämpfung verschiedener Steuervermeidungspraktiken7 und der gegenwärtige politische Druck, bei der Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft auf Unionsebene aktiv zu werden8, sind dafür plastische Beispiele, wohingegen die Beseitigung von steuerlichen Hindernissen für Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen derzeit mit weniger Nachdruck und Momentum erfolgt. Dennoch gelingen auch hier Durchbrüche: Nachdem der EuGH in seiner Rechtsprechung z.B. in Kerckhaert-Morres9, Block10, Damseaux11, CIBA12 und Levy  & Sebbag13 die juristische Doppelbesteuerung als grundfreiheitsrechtlich unbedenklich eingestuft und damit eine Beurteilung der Folgefrage vermie 4 COM(2017)2025 (1.3.2017). 5 Siehe zu diesem Bild W. Schön, ifo Schnelldienst 15/2015, 3 (3). 6 Dazu unten Kapitel III. 7 Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates v. 12.7.2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, ABl. EU L 193/1 (19.7.2016), geändert durch Richtlinie (EU) 2017/952 des Rates v. 29.5.2017 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2016/1164 bezüglich hybrider Gestaltungen mit Drittländern, ABl. EU L 144/1 (7.6.2017). 8 Siehe zuletzt etwa die Schlussfolgerungen des Rates „Responding to the challenges of taxation of profits of the digital economy“, Doc. 15175/17 FISC 320 ECOFIN 1064 (30.11.2017). 9 EuGH v. 14.11.2006 – C-513/04, ECLI:EU:C:2006:713 – Kerckhaert und Morres. 10 EuGH v. 12.2.2009 – C-67/08, ECLI:EU:C:2009:92 – Block. 11 EuGH v. 16.7.2009 – C-128/08, ECLI:EU:C:2009:471 – Damseaux. 12 EuGH v. 15.4.2010 – C-96/08, ECLI:EU:C:2010:185 – CIBA. 13 EuGH v. 19.9.2012 – C-540/11, ECLI:EU:C:2012:581 – Levy & Sebbag.

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Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Europäischen Steuerrechts

den hat, welcher Staat unionsrechtlich zum Verzicht auf Besteuerungsansprüche ­angehalten wäre, wird mit der 2019 von den Mitgliedstaaten umzusetzenden StreitbeilegungsRL14 endlich ein unionsrechtlicher Mechanismus vorhanden sein, abkommensrechtliche Streitigkeiten im Bereich der Einkommen- und Körperschaftsteuer einer verbindlichen Lösung zuführen zu können. Umgekehrt ist auch der Europäische Gerichtshof als Motor der „negativen Integration“ durch Beseitigung von steuerlichen Diskriminierungen ins Stottern gekommen15, anerkennt doch der EuGH in seiner Rechtsprechung seit etwa Mitte der 2000er Jahre durchaus die fiskalischen Interessen der Mitgliedstaaten und erzeugt damit zwangsläufig Spannungen zu seiner integrationsfreundlichen Vorjudikatur im direkten Steuerrecht16. Diese Entwicklungen mag man als „Korrekturen“ begrüßen oder als „Rückschritte“ ablehnen. Das Spannungsverhältnis zwischen Binnenmarktziel und nationalen Fiskalinteressen wird aber jedenfalls auch im Lichte des BEPS-Projektes der OECD auch zukünftig für erheblichen Diskussionsbedarf sorgen17. Umgekehrt sind in den vergangenen Jahren zwei weitere – im Folgenden weitgehend ausgesparte18 – Primärrechtsgebiete in den Fokus des Steuerrechts getreten: Das Beihilferecht (Art. 107 f. AEUV) und die unionsrechtliche Charta der Grundrechte19 (Art. 6 Abs. 1 EUV). Während das Beihilferecht die Mitgliedstaaten vor die Frage stellt, welche nationalen Differenzierungen im Steuerrecht als verbotene, selektive Vorteilsgewährung zu beurteilen sein können, bietet die Charta der Grundrechte einen Grundrechtekatalog, den auch die Mitgliedstaaten „bei der Durchführung des Rechts der Union“ zu beachten haben20.

II. Positive Integration im materiellen Steuerrecht: Ambition und ­Wirklichkeit Anders als für den mittlerweile weitgehend harmonisierten Bereich der indirekten Steuern enthält der AEUV keinen expliziten Harmonisierungsauftrag für den Kernbereich der direkten Besteuerung, in dem die Mitgliedstaaten somit ihre Regelungskompetenz behalten haben. Aus der parallelen Existenz des Harmonisierungsauftrages des (nunmehrigen) Art. 113 AEUV für den Bereich der indirekten Steuern und dem gleichzeitigen Fehlen von ausdrücklichen Harmonisierungsvorgaben für direkte Steuern könnte nach dem allgemeinen Rechtstheorem expressio unis est exclusio alte14 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Verfahren zur Beilegung von Doppelbesteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union, COM(2016)686 (25.10.2016). 15 Siehe zu diesem Bild M. Lang, SWI 2005, 365 (365 ff.). 16 Zu Entwicklungslinien der Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern siehe auch den Beitrag von J. Kokott in diesem Band. 17 Dazu Kapitel IV. 18 Siehe die Beiträge von Hermanns, F. Ph. Sutter und R. Ismer in diesem Band. 19 ABl. EG C 303/1 (14.12.2007), sowie nachfolgend auch gleichlautend ABl. EU C 83/389 (30.3.2010) und ABl. C 326/391 (26.10.2012). Die Erläuterungen zur Charta finden sich in ABl. EG C 303/17 (14.12.2007). 20 Siehe zuletzt auch G. Kofler in DStJG 41 (2018), S. 125 ff.

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rius sogar vermeint werden, dass die direkte Besteuerung gänzlich in der Souveränität der Mitgliedstaaten verblieben sei. Eine solch enge Sichtweise war aber vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft bzw. nunmehr der Union kontraindiziert. Sie würde nämlich die Union jeder Kompetenz im Bereich des direkten Steuerrechts berauben und damit unzweifelhaft das Ziel des Gemeinsamen Marktes und seit der Einheitlichen Europäischen Akte21 auch jenes des Binnenmarktes (Art. 26 AEUV) gefährden, der auf eine Gewährleistung des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital abzielt. In Ermangelung expliziter Vorschriften zur Erreichung dieser Zielvorgaben im Bereich des direkten Steuerrechts wird die Harmonisierungskompetenz daher durch die allgemeine Regelung zur Verwirklichung des Binnenmarktes in Art. 115 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 lit. a AEUV impliziert22. Diese Regelung ermöglicht lediglich die Schaffung von Richtlinien und erfordert ein besonderes Gesetzgebungsverfahren sowie die Einstimmigkeit im Rat. Ansätze der Kommission, bei gewissen Steuerthemen auf die Mehrstimmigkeit überzugehen, haben sich in diesem souveränitätssensiblen Bereich bislang nicht durchgesetzt23; im direkten Steuerrecht sind auch keine Ansätze des Rates erkennbar, im Zuge des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens (Art.  48 Abs.  7 EUV) vom Einstimmigkeitserfordernis abzurücken oder vermehrt auf das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit (Art. 20 EUV i.V.m. Art. 326 ff. AEUV) zurückzugreifen. Schon im geltenden Recht ist zudem nicht abschließend geklärt, ob und wie weit diese – unter dem Vorbehalt von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit stehende (Art. 5 EUV) – Harmonisierungskompetenz im Binnenmarkt nach Art. 115

21 ABl. EWG L 169/1 (29.6.1987). 22 Ausdrücklich angesprochen wurde das direkte Steuerrecht lediglich im – mittlerweile entfallenen – Art. 293 Halbs. 2 EG, der den Mitgliedstaaten den Auftrag erteilte, „soweit erforderlich“ untereinander Verhandlungen einzuleiten, um zugunsten ihrer Staatsangehörigen „die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft“ sicherzustellen; auf dieser Regelung beruft sich das Schiedsübereinkommen (Übereinkommen 90/436/ EWG über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, ABl. EWG L 225/10 [20.8.1990]). Siehe zu Art. 293 EG ausführlich Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht (2007) 366 ff., und zu den Gründen für den Wegfall aufgrund von Pkt. 280 des Vertrages von Lissabon (ABl.  EG C  306/1, 130 [17.12.2007]) und den daraus zu ziehenden Konsequenzen z.B. E. Kemmeren, EC Tax Rev. 2008, 156 (156 ff.). 23 Siehe z.B. die Mitteilung der Kommission „Eine Verfassung für die Union – Stellungnahme der Kommission gemäß Artikel  48 des Vertrages über die Europäische Union zum ­Zusammentritt einer Konferenz von Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine Änderung der Verträge“, KOM(2003)548 (17.9.2003), 7, wo sich die Kommission für eine präzisere Abgrenzung der Zuständigkeit der Union ausspricht, die den Rückgriff auf die Einstimmigkeit überflüssig machen sollte und hier „z. B. Steuerrecht im Zusammenhang mit dem ordnungsgemäßen Funktionieren des Binnenmarkts; Modernisierung und Vereinfachung des bestehenden Rechts, administrative Zusammenarbeit, Bekämpfung von Betrug und Steuerhinterziehung und Maßnahmen zur Steuerbemessungsgrundlage für Unternehmen, was die Steuersätze ausschließt; Gesichtspunkte des freien Kapitalverkehrs in Verbindung mit Betrugsbekämpfung; Steuerrecht im Zusammenhang mit der Umwelt“ nennt.

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AEUV letztlich reicht24; diese Unsicherheit betrifft in jüngerer Zeit nicht nur den Vorschlag für eine gemeinsame (konsolidierte) Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage25, sondern gerade auch die Harmonisierung von Maßnahmen gegen Steuervermeidung26 und die – in das System der Amtshilfe eingebundene – vorgeschlagene Ausdehnung einer Offenlegungspflicht für bestimmte grenzüberschreitende Steuergestaltungen27, bei der die Kommission offenbar aufgrund des bloßen Umstandes, dass mehr als ein Mitgliedstaat betroffen sein kann, eine Harmonisierungskompetenz annimmt und sich damit mehr und mehr zum „Mitspieler“ im internationalen Steuerrecht macht. Wenngleich es an Ideen und Vorschlägen nicht gemangelt hat, ist die Tätigkeit der Kommission, in deren Händen die Alleinzuständigkeit für Legislativvorschläge im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren liegt (Art. 289 AUEV), im Bereich des binnenmarktorientierten Ertragsteuerrechts keine besondere Erfolgsgeschichte. So fehlte es zwar schon in den frühen Jahren nicht an großen Berichten – etwa von Neumark28, Segré29, van den Tempel30 und Ruding31 – und steuerlichen Programmen32, die binnenmarkt- und unternehmensfreundlichen Harmonisierungsvorstöße der Kommission im direkten Steuerrecht sind aber zumeist gescheitert. In der Tat finden sich derzeit zu Gunsten der Marktteilnehmer lediglich sachlich eng begrenzte Maßnahmen 24 Siehe umfassend z.B. N. Braun Binder, Rechtsangleichung in der EU im Bereich der direkten Steuern, 2017. 25 Für einen instruktiven Überblick zu den kompetenzrechtlichen Bedenken einzelner Mitgliedstaaten gegen den ursprünglichen, im Jahr 2011 vorgelegten Vorschlag für eine Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage R. Szudoczky in D. Weber (Hrsg), CCCTB: Selected Issues, 2012, S. 93 (93 ff.). 26 Siehe zur ATAD die kompetenzrechtlichen Bedenken bei F. Oppel, IStR 2016, 797 (798 f.), und C. Staringer in M. Lang/A. Rust/J. Schuch/C. Staringer (Hrsg.), Die Anti-Tax-Avoidance-Richtlinie, 2017, S. 1 (11 ff. m.w.N.). 27 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Modelle, COM(2017)335 (21.6.2017), samt Anhang zu den „hallmarks“; siehe auch die Begleitunterlage der Kommissionsdienststellen zur Folgenabschätzung in SWD(2017)236 (21.6.2017) (Zusammenfassung in SWD [2017] 237). 28 The EEC Reports on Tax Harmonization – Report of the Fiscal and Financial Committee (Book II and III) (1962). 29 The Development of a European Capital Market – Report of a Group of Experts appointed by the EEC Commission (1966) 301. 30 Van den Tempel, Körperschaftssteuer und Einkommensteuer in den Europäischen Gemeinschaften (Dok 14138/XIV/69-D), Studien, Reihe Wettbewerb Nr. 15, 1971. 31 Commission of the European Communities (Hrsg), Report of the Committee of Independent Experts on Company Taxation (1992), abgedruckt z.B. auch in BT-Drucks. 13/4138. 32 Siehe z.B. die Mitteilung der Kommission „Steuerpolitisches Aktionsprogramm“, KOM(75)391 (23.7.1975) (abgedruckt z.B. in Intertax 1975, 206); Bericht der Kommission an den Rat über die „Aussichten für eine Angleichung der Steuersysteme in der Gemeinschaft“, KOM(80)139 (26.3.1980) (abgedruckt z.B. in Bulletin Supp.  1/80); Mitteilung der Kommission „Leitlinien zur Unternehmensbesteuerung“, SEK(90)601 (20.4.1990) (abgedruckt z.B. in Intertax 1990, 487 ff.).

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zur Vermeidung der konzerninternen juristischen und wirtschaftlichen Doppelbesteuerung von grenzüberschreitenden Dividenden, Zinsen und Lizenzgebühren sowie zur Erleichterung grenzüberschreitender Konzernumstrukturierungen, die teilweise ihre Wurzeln in den späten 1960er Jahren haben. Diese bilden im Grunde bis heute den „Kernbestand einer unternehmensfreundlichen Richtlinienwelt, deren innere Zielsetzung die freie Allokation von Produktionsfaktoren im Binnenmarkt – namentlich die freie Allokation innerhalb multinationaler Unternehmen  – bildet“33. Binnenmarktorientierte Erleichterungen für Bürgerinnen und Bürger sucht man hingegen überhaupt vergeblich. Es schadet daher nicht, sich ins Gedächtnis zu rufen, welche (eher) zu Gunsten der Markteilnehmer unterbreiteten Kommissionsvorschläge angenommen wurden und welche gescheitert sind: Jahr Vorschlag

Annahme

1968 Vorentwurf zu einem Europäischen Doppelbesteuerungsabkommen34 — 1969 FusionsRL35

36

1969 Mutter-Tochter-RL37

38

33 W. Schön, ifo Schnelldienst 15/2015, 3 (3). 34 Vorentwurf 1968 zu einem Europäischen Doppelbesteuerungsabkommen (Multilaterales Abkommen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften zur Vermeidung der Doppelbesteuerung des Einkommens und des Vermögens und über die gegenseitige Amtshilfe auf dem Gebiet der direkten Steuern), 11.414/XIV/68-D. 35 Vorschlag einer Richtlinie des Rates über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen und die Einbringung von Unternehmensteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, KOM(69)5 (15.1.1969) (abgedruckt z.B. in ABl. EWG C39/1 [22.3.1969]). 36 Ursprünglich Richtlinie 90/434/EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. EWG L 225/1 (20.8.1990), mittlerweile kodifziert als Richtlinie 2009/133/EG des v. 19.10.2009 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, Abspaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, sowie für die Verlegung des Sitzes einer Europäischen Gesellschaft oder einer Europäischen Genossenschaft von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat (kodifizierte Fassung), ABl. EG L 310/34 (25.11.2009), i.d.g.F. 37 Vorschlag einer Richtlinie des Rates über das gemeinsame Steuersystem für Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, KOM(69)6 (15.1.1969) (abgedruckt z.B. in ABl. EWG C 39/7 [22.3.1969] = ET Suppl. No. 7 [July 1969]). 38 Ursprünglich Richtlinie 90/434/EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den ­Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. EWG L 225/1 (20.8.1990); mittlerweile kodifiziert als Richtlinie 2011/96/EU des Rates v. 30.11.2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (Neufassung), ABl. EU L 345/8 (29.12.2011), und diese materiell geändert durch Richtlinie 2014/86/EU des Rates v. 8.7.2014 zur Änderung der Richtlinie 2011/96/EU über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ABl. EU L 219/40 (25.7.2014), und Richtlinie (EU) 2015/121 des Rates v. 27.1.2015 zur Änderung der Richtlinie 2011/96/EU über das gemeinsame Steu-

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Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Europäischen Steuerrechts 1975 Harmonisierung der Körperschaftsteuersysteme und der Regelungen der Quellensteuer auf Dividenden39 —40 1976 SchiedsverfahrensRL41 —42 1978 Ausschüttungen von Investmenteinrichtungen43 —44 1979 Freizügigkeit der Arbeitnehmer45 —46 1984 VerlustvortragsRL47 —48 1990 Zinsen-Lizenzgebühren-RL49 —50

ersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ABl. EU L 21/1 (28.1.2015). 39 Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Körperschaftsteuersysteme und der Regelungen der Quellensteuer auf Dividenden, KOM(75)392 (23.7.1975) (abgedruckt z.B. in ABl. EWG C 253/2 [5.11.1975] = Bulletin Supp. 10/75 = Intertax 1975, 215). 40 Zurückgezogen am 18. 4. 1990; siehe zur Zurückziehung auch die Mitteilung der Kommission zu „Leitlinien zur Unternehmensbesteuerung“, SEK(90)601 (20.4.1990) Rz. 30. 41 Vorschlag einer Richtlinie des Rates über Bestimmungen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung für den Fall der Gewinnberichtigung zwischen verbundenen Unternehmen (Schiedsverfahren), KOM(76)611 (25.11.1976) (abgedruckt z.B. in ABl. EWG C 301/4 [21.12.1976] = Intertax 1977, 7). 42 Zurückgezogen in ABl. EG C 2/6 (4.1.1997). Die Mitgliedstaaten haben statt der Annahme des Kommissionsvorschlages ein multilaterales Schiedsübereinkommen, das Übereinkommen 90/436/EWG über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinn­ berichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, ABl. EWG L  225/10 (20.8.1990), geschlossen; siehe dazu und zu den unionsrechtlichen Problemen dieser „Ausweich­ lösung“ Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 366 ff. 43 Vorschlag einer Richtlinie des Rates über die Anwendung der Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Körperschaftsteuersysteme und der Regelungen der Quellensteuer auf Dividenden auf Investmenteinrichtungen, KOM(78)340 (18.7.1978) (abgedruckt z.B. in ABl. EWG C 184/8 [2.8.1978] = Intertax 1978, 342). 44 Zurückgezogen in ABl. EWG C 228/13 f (24.8.1993). 45 Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Harmonisierung von Regelungen im Bereich der Einkommensteuer im Hinblick auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft, KOM(79)737 (13.12.1979) (abgedruckt z.B. in ABl. EWG C 21/6 [26.1.1980] = Intertax 1980, 194). 46 Zurückgezogen am 9.9.1992. 47 Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der steuerlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zur Übertragung von Unternehmensverlusten, KOM(84)404 (6.9.1984) (abgedruckt z.B. in ABl. EWG C 253/5 [20.9.1984] = Intertax 1985, 22 ff. = ET 1984, 388 ff.). 48 Zurückgezogen in ABl. EG C 2/6 (4.1.1997). 49 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, KOM(90)571 (24.1.1991) (abgedruckt z.B. in ABl. EWG C 53/26 [28.2.1991] = Bulletin Supp. 4/1991, 47 = Intertax 1991, 34 ff.). 50 Zurückgezogen am 7.12.1994.

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Georg Kofler 1990 Grenzüberschreitende VerlustverwertungsRL51 —52 1998 Zinsen-Lizenzgebühren-RL53

54

2011 Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage55 —56 2016 Gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage57 und Konsolidierung58 ? 2017 StreitbeilegungsRL59

60

Die Zurückhaltung der Kommission in den letzten rund 25  Jahren lässt sich wohl auch mit der Neuausrichtung der wirtschaftlichen Integration durch die Einheitliche Europäische Akte begründen61; denn schließlich wurde 199062 ein neuer Ansatz in den Mittelpunkt gerückt, der darauf basierte, dass sich Regelungen im Bereich der direkten Steuern an der Vollendung des Binnenmarktes orientieren, mit dem Subsidiaritätsprinzip in Einklang stehen und außerdem alle Initiativen mit den Mitgliedstaaten abgesprochen werden sollten63. Die „Phase des Strebens nach Subsidiarität“ folge damit auf die „Phase der Vollharmonisierungstendenzen“64. Priorität sollte dabei kurzfristig – bis 1993 – „bei der Aufhebung der steuerlichen Hindernisse für die Vollendung des Binnenmarktes und vor allem bei der Beseitigung aller Fälle von 51 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Regelung für Unternehmen zur Berücksichtigung der Verluste ihrer in anderen Mitgliedstaaten belegenen Betriebsstätten und  Tochtergesellschaften, KOM(90)595 (24.1.1991) (abgedruckt z.B. in ABl. C 53/30 [28.2.1991] = Bulletin Supp. 4/1991, 55 = Intertax 1991, 34 ff.). 52 Zurückgezogen in ABl. EG C 5/20 (9.1.2004). 53 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine gemeinsame Steuerregelung für Zah­ lungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten, KOM(1998)67 (4.3.1998) (abgedruckt z.B. in ABl. EG C 123/9 [22.4.1998]). 54 Richtlinie 2003/49/EG des Rates v. 3.6.2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten, ABl. EG L 157/49 (26.6.2003). 55 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), KOM(2011)121 (16.3.2011). 56 Zurückgezogen in Anhang  IV zum Arbeitsprogramm der Kommission 2017, COM(2016)710 (25.10.2016) und neu vorgeschlagen im Jahr 2016. 57 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, COM(2016) 685 (25.10.2016). 58 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), COM(2016) 683 (25.10.2016). 59 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Verfahren zur Beilegung von Doppelbesteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union, COM(2016)686 (25.10.2016). 60 Richtlinie (EU) 2017/1852 des Rates v. 10.10.2017 über Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union, ABl. EU L 265/1 (14.10.2017). 61 ABl. EWG L 169/1 (29.6.1987). 62 Mitteilung der Kommission zu „Leitlinien zur Unternehmensbesteuerung“, SEK(90)601 (20.4.1990). 63 Dazu insbesondere C. Scrivener, Intertax 1990, 207 (207). 64 N. Herzig in DStJG 19 (1996), S. 121 (124 ff.).

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[Doppelbesteuerung]“ liegen65. Unnötig zu erwähnen, dass dieses Ziel bis heute nicht vollständig erreicht wurde, wenngleich die unlängst erfolgte Verabschiedung der StreitbeilegungsRL66 sicherlich ein erheblicher Schritt in die richtige Richtung ist. Sieht man vom Vorschlag einer gemeinsamen (konsolidierten) Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage ab, deren Zukunft freilich ungewiss ist, liegt in jüngerer Zeit der Fokus der Kommission auf der Steuerkoordinierung und gezielten Einzelmaßnahmen67, was auch in verschiedenen Instrumenten des „Soft Law“, beispielsweise Empfehlungen oder Mitteilungen zum Ausdruck kommt. Deren (positiver) Einfluß auf die Bürden, die das grenzüberschreitende Tätigwerden den Steuerpflichtigen auferlegt, ist allerdings fraglich. Teilweise hat sich der Rat sogar – implizit oder explizit  – gegen die Überlegungen der Kommission positioniert68. Gleichermaßen scheint in den Mitgliedstaaten kein besonderer Eifer zu bestehen, binnenmarktfreundliche Empfehlungen der Kommission frühzeitig und explizit aufzugreifen oder Mitteilungen für das nationale Steuerrecht fruchtbar zu machen. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick zu den entsprechenden Äußerungen der Kommission zu einzelnen Sachthemen: Jahr Maßnahme 1993 Empfehlung zur Besteuerung bestimmter Einkünfte, die von Nichtansässigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Wohnsitzes erzielt werden69

65 Siehe die Mitteilung der Kommission zu „Leitlinien zur Unternehmensbesteuerung“, SEK(90)601 (20.4.1990) Rz. 30; die deutsche Fassung ist hier etwas unglücklich, da von einer „Beseitigung aller Fälle von Doppelbewertung“ die Rede ist, in der englischen Fassung aber klar von „abolishing all forms of double taxation“ gesprochen wird. Siehe auch die Veröffentlichung der Gemeinschaft „Taxation in the Single Market“, Periodical 6/1990, 25: „If the single market is to play the full its role as an instrument of economic progress and optimum allocation of resources, action on the company taxation front is needed. It must ensure that firms operating across frontiers are not subject to less favourable conditions than those applicable to their activities in the Member State in which they are established. The elimination of double taxation of companies must thererfore be the priority objective of the Community“. 66 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Verfahren zur Beilegung von Doppelbesteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union, COM(2016)686 (25.10.2016). 67 Siehe auch die Mitteilung der Kommission „Steuerpolitik in der Europäischen Union  – Prioritäten für die nächsten Jahre“, KOM(2001)260 (abgedruckt z.B. in ABl. EG C 284/6 [10.10.2001]). 68 So etwa beim Thema der Wegzugsbesteuerung (siehe die Kommissionsmitteilung KOM(2006)825 einerseits, die Ratsentschließung beim 2911th Economic and Financial Affairs Council v. 2.12.2008 andererseits) oder bei den Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung im Bereich der direkten Steuern (siehe die Kommissionsmitteilung KOM(2007)785 einerseits, die Ratsentschließung in ABl. EU C 156/1 [16.6.2010] andererseits). 69 Empfehlung 94/79/EG der Kommission v. 21.12.1993 betreffend die Besteuerung bestimmter Einkünfte, die von Nichtansässigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Wohnsitzes erzielt werden, ABl. EG L 39/22 (10.2.1994).

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Georg Kofler 1994 Empfehlungen zur Besteuerung der kleinen und mittleren Unternehmen70 und zur Übertragung von kleinen und mittleren Unternehmen71 2001 Mitteilung zur Beseitigung der steuerlichen Hemmnisse für die grenzüberschreitende betriebliche Altersversorgung72 2003 Mitteilung zur Besteuerung von Dividenden natürlicher Personen im Binnenmarkt73 2006 Mitteilung zu einer wirksameren steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung74 2006 Mitteilung betreffend Koordinierung der Regelungen der Mitgliedstaaten zu den direkten Steuern im Binnenmarkt75 2006 Mitteilung betreffend steuerliche Behandlung von Verlusten bei grenzübergreifenden Sachverhalten76 2006 Mitteilung betreffend Wegzugsbesteuerung und die Notwendigkeit einer Koordinierung der Steuerpolitiken der Mitgliedstaaten77 2007 Mitteilung betreffend Anwendung von Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung im Bereich der direkten Steuern (innerhalb der EU und im Hinblick auf Drittländer)78 70 Empfehlung 94/390/EG der Kommission v. 25.5.1994 zur Besteuerung der kleinen und mittleren Unternehmen, ABl. EG L 177/1 (9.7.1994); siehe auch die Mitteilung der Kommission zur Verbesserung des steuerlichen Umfelds für kleine und mittlere Unternehmen, KOM(94)206 (25.5.1994) (abgedruckt z.B. in ABl. EG C 187/5 [9.7.1994]). 71 Empfehlung der Kommission v. 7.12.1994 zur Übertragung von kleinen und mittleren Unternehmen (94/1069/EG), ABl. EG L 385/14 (31.12.1994). 72 Siehe insbesondere die Mitteilung der Kommission „Beseitigung der steuerlichen Hemmnisse für die grenzüberschreitende betriebliche Altersversorgung“, KOM(2001)214 (19.4.2001), die Mitteilung der Kommission „Ein Binnenmarkt ohne steuerliche Hindernisse  – Strategie zur Schaffung einer konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage für die grenzüberschreitende Unternehmenstätigkeit in der EU“, KOM(2001)582 (23.10.2001) (samt Arbeitspapier der Dienststellen der Kommission „Unternehmensbesteuerung im Binnenmarkt“, SEK(2001)1681 [23.10.2001]), und die Mitteilung der Kommission „Ein Binnenmarkt ohne unternehmenssteuerliche Hindernisse – Ergebnisse, Initiativen, Herausforderungen“, KOM(2003)726 (24.11.2003). 73 Mitteilung der Kommission „Besteuerung von Dividenden natürlicher Personen im Binnenmarkt“, KOM(2003)810 (19.12.2003). 74 Mitteilung der Kommission betreffend Wege zu einer wirksameren steuerlichen Förderung von FuE, KOM(2006)728 (22.11.2006). 75 Mitteilung der Kommission betreffend Koordinierung der Regelungen der Mitgliedstaaten zu den direkten Steuern im Binnenmarkt, KOM(2006)823 (19.12.2006). 76 Mitteilung der Kommission betreffend Steuerliche Behandlung von Verlusten bei grenzübergreifenden Sachverhalten, KOM(2006)824 (19.12.2006), samt Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen betreffend Steuerliche Behandlung von Verlusten bei grenzübergreifenden Sachverhalten – Technische Anhänge, SEK(2006)1690 (19.12.2006). 77 Mitteilung der Kommission betreffend Wegzugsbesteuerung und die Notwendigkeit einer Koordinierung der Steuerpolitiken der Mitgliedstaaten, KOM(2006)825 (19.12.2006). 78 Mitteilung der Kommission betreffend Anwendung von Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung im Bereich der direkten Steuern (innerhalb der EU und im Hinblick auf Drittländer), KOM(2007)785 (10.12.2007).

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Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Europäischen Steuerrechts 2009 Empfehlung über Verfahren zur Quellensteuererleichterung79 2010 Mitteilung zur Beseitigung grenzübergreifender steuerlicher Hindernisse für die Bürgerinnen und Bürger der EU80 2011 Mitteilung der Kommission „Doppelbesteuerung im Binnenmarkt“81 2011 Empfehlung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von Erbschaften82 2017 Code of Conduct on Withholding Tax83

In jüngerer Zeit haben sich die Gewichte erneut massiv verschoben. Das langsame Vorantreiben des steuerlichen Binnenmarkts zu Gunsten der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen steht im Schatten des umso forcierteren „Kampfs“ gegen Steuerumgehung, Steuerbetrug und Steuerhinterziehung. Diese Betätigungsfelder sind nicht neu und fanden schon bisher als „Soft Law“ Niederschlag: Diese Entwicklung begann den 1970er Jahren im Hinblick auf die Bekämpfung der internationalen Steuerflucht und Steuerumgehung84, fand einen ersten Höhepunkt im Jahr 1997 im richtungsweisenden „Code of Conduct“ gegen den „schädlichen“ Steuerwettbewerb der Mitgliedstaaten85 und wurde zuletzt mit Empfehlungen betreffend aggressive Steuerplanung (2012)86, für Maßnahmen, durch die Drittländer zur Anwendung von 79 Empfehlung der Kommission v. 19.10.2009 über Verfahren zur Quellensteuererleichterung, K(2009)7924 (19.10.2009). 80 Mitteilung der Kommission „Beseitigung grenzübergreifender steuerlicher Hindernisse für die Bürgerinnen und Bürger der EU“, KOM(2010)769 (25.10.2010), samt Commission Staff Working Document Accompanying Commission Communication „Removing crossborder tax obstacles for EU citizens“, SEC(2010)1576 (25.10.2010). 81 Mitteilung der Kommission „Doppelbesteuerung im Binnenmarkt“, KOM(2011)712 (11.11.2011). 82 Empfehlung der Kommission v. 15.12.2011 zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von Erbschaften, K(2011)8819; siehe auch die Mitteilung „Abbau grenzübergreifender Erbschaftsteuerhindernisse in der EU“, KOM(2011)864 (15.12.2011). 83 Ref. Ares (2017)5654449 (20.11.2017). 84 Siehe die Entschließung des Rates v. 10.2.1975 über Maßnahmen der Gemeinschaft zur Bekämpfung der internationalen Steuerflucht und Steuerumgehung, ABl. EWG C 35/1 f (14.2.1975). 85 Der Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung ist ein rechtlich nicht verbindliches Instrument, das dazu beitragen soll, wirtschaftliche Verzerrungen und die Erosion der Besteuerungsgrundlagen in der Gemeinschaft zu vermeiden. Die Mitgliedstaaten verpflichten sich zur Beachtung der Grundsätze des lauteren Wettbewerbs und zum Verzicht auf jegliche schädliche steuerliche Maßnahme. Siehe dazu die Mitteilung der Kommission zum Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des schädlichen Steuerwettbewerbs in der Europäischen Union, KOM(97)564; Mitteilung der Kommission zur Koordinierung der Steuerpolitik in der Europäischen Union – Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des schädlichen Steuerwettbewerbs, KOM(97)495; dazu auch die Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten v. 1.12.1997 über einen Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung, ABl. EG C 2/2 (6.1.1998). 86 Empfehlung der Kommission v. 6.12.2012 betreffend aggressive Steuerplanung, C(2012)8806 (6.12.2012), begleitet von einem umfangreichen „Impact Assessment“ SWD(2012)403 (6.12.2012).

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Mindeststandards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veranlasst werden sollen (2012)87 und zur Umsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung des Missbrauchs von Steuerabkommen (2016)88 und einer Reihe von einschlägigen Mitteilungen in den vergangenen Jahren89 weiter intensiviert. Hinzu tritt eine Reihe von Maßnahmen zu Gunsten der mitgliedstaatlichen Fiskalinteressen, etwa zur Amtshilfe90 und zur Vollstreckungshilfe91. Auch außerhalb des originären Steuerrechts steht die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug im Fokus des Unionsrechts, etwa im Bereich der Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung92. In jüngster Zeit wurde die Schlagzahl freilich erheblich erhöht und es stellt sich durchaus die Frage, ob die Union und insbesondere die Kommission mittlerweile als „verlängerte Werkbank“ der Fiskalinteressen der Mitgliedstaaten wirkt, „während die Wahrung eines unternehmensfreundlichen Umfelds tendenziell in den Hintergrund zu treten scheint“93. So ist die Union nicht nur als Mitglied der G20 eine treibende Kraft der laufenden internationalen Bemühungen und nahm an den Arbeiten der OECD etwa am Projekt zu „Base Erosion and Profit Shifting“ (BEPS)94 teil. Dieses Projekt widmete sich auch weniger den „großen“ Grundsatzfragen, sondern der Kritik und Identifikation von Schwächen des bestehenden Systems. Am 5. Oktober 2015 hat die OECD ihre insgesamt rund 2.000 Seiten umfassenden Abschlussberichte zum 87 Empfehlung der Kommission v. 6.12.2012 für Maßnahmen, durch die Drittländer zur Anwendung von Mindeststandards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veranlasst werden sollen, C(2012)8805 (6.12.2012) (begleitet von einem umfangreichen „Impact Assessment“ SWD[2012]403 [6.12.2012]). 88 Empfehlung der Kommission v. 28.1.2016 zur Umsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung des Missbrauchs von Steuerabkommen, C(2016) 271 (28.1.2016). 89 Siehe insbesondere folgende Mitteilungen der Kommission: „Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich“, COM(2009)201 (28.4.2009); „Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung“, COM(2012)722 (6.12.2012); „Steuertransparenz als Mittel gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung“, COM(2015)136 (18.3.2015); „Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union  – Fünf Aktionsschwerpunkte“, COM(2015)302 (17.6.2015); „Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Steuervermeidung: nächste Schritte auf dem Weg zu einer effektiven Besteuerung und einer größeren Steuertransparenz in der EU“, COM(2016)23 (28.1.2016); Mitteilung über eine externe Strategie für effektive Besteuerung, COM(2016)24 (28.1.2016); Mitteilung über weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, COM(2016)451 (5.7.2016); „Einführung eines fairen, wettbewerbsfähigen und stabilen Systems der Unternehmensbesteuerung für die EU“, COM(2016)682 (25.10.2016). 90 Dazu unten Kapitel III. 91 Richtlinie 2010/24/EU des Rates v. 16.3.2010 über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen, ABl. EU L 64/1 (31.3.2010). 92 So wurde etwa in Art. 3 Abs. 4 lit. f der vierten Geldwäscherichtlinie (Richtlinie 2015/849, ABl. EU L 141/73 [5.6.2015]) der Vortatenkatalog um Steuerstraftaten erweitert. 93 W. Schön, ifo Schnelldienst 15/2015, 3 (4). 94 OECD, Addressing Base Erosion and Profit Shifting (12.2.2013), und OECD, Action Plan on Base Erosion and Profit Shifting (19.7.2013).

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großen „Base Erosion and Profit Shifting“ Project (BEPS) abgegeben. Am 15. und 16.  November 2015 wurde das Maßnahmenpaket der OECD auch von den Staatsund Regierungschefs der G20 gebilligt95. Materiell-rechtliche Kernthemen der 15 Aktionen des BEPS-Aktionsplans im materiellen Steuerrecht sind hier die Steuergutverteilung in der „digitalen Wirtschaft“, die Effekte „hybrider Gestaltungen“96, eine Ausdehnung der weltweiten Besteuerung durch Hinzurechnungsbesteuerungssysteme, Fragen des „Abkommensmissbrauchs“, die Festsetzung der Schwelle zur Besteuerung von Unternehmensgewinnen („Absenken“ der Betriebsstättenschwelle) und die Gewinnabgrenzung bei multinationalen Unternehmen. Auch die EU schlug unter anderem mit ihren Aktionsplänen zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung97 und zur Unternehmensbesteuerung98 sowie dem Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Steuervermeidung99 in dieselbe Kerbe. Bereits die konkreten, vom Ende 2012 veröffentlichten EU-Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung angesprochenen Themen gingen über die enge, auf illegale Vorgänge rekurrierende Bezeichnung des Aktionsplanes hinaus und umfassen auch Themen der legalen, aber (politisch) unerwünschten Steuerumgehung und überlappen damit zum Teil auch mit den BEPS-Aktionen der OECD. Die dabei verwendete Terminologie ist daher nicht immer befriedigend: So unterscheidet sich etwa die steuerplanerische Nutzung von Divergenzen („Inkongruenzen“) zwischen den Rechtsordnungen konzeptionell klar sowohl vom Ausnutzen eines (unfairen) Steuerwettbewerbs als auch von missbräuchlichen Gestaltungen oder gar einer „Steuerhinterziehung“100. Sie wird aber bisweilen als „aggressive Steuerplanung“101, als „ungerechtfertigter steuerlicher Vorteil“102 oder 95 Siehe die Pressemitteilung „G20 leaders endorse OECD measures to crack down on tax loopholes, reaffirm its role in ensuring strong, sustainable and inclusive growth“, abrufbar auf http://www.oecd.org. 96 Siehe für einen frühen Überblick G. Kofler in DStJG 33 (2010), S. 213 (213 ff.). 97 COM(2012)722 (6.12.2012). Für einen Überblick siehe G. Kofler, IFF Forum für Steuerrecht 2015, S. 44 (44 ff.). 98 COM(2015)302 (17.6.2015). 99 Dieses Paket v. 28.1.2016 enthält neben einer Allgemeinen Mitteilung (COM(2016)23) insbesondere den Vorschlag einer Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken (COM(2016)26), eine Empfehlung zu Steuerabkommen (C(2016)271), einen Vorschlag zur Änderung der Richtlinie zur Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden – „CbC-Reporting“ (COM(2016)25) sowie eine Mitteilung über eine externe Strategie für effektive Besteuerung (COM(2016)24). 100 Völlig verfehlt daher die Diktion in der Entschließung des Europäischen Parlaments v. 19.4.2012 zur Forderung nach konkreten Maßnahmen zur Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung (2012/2599/(RSP), P7_TA(2012)0137 („Steuerhinterziehungen mit Hilfe hybrider Finanzinstrumente“ bzw. „evasion via hybrid financial instruments“). 101 Siehe aber auch D. Rosenbloom, International Tax Arbitrage and the „International Tax System“, 53 Tax Law Review 2000, 137 (143): „The beauty of international tax arbitrage, when practiced most skillfully, is that none of the objections to aggressive or abusive tax planning should apply anywhere because, from the vantage point of any single country, there is neither aggressiveness nor abuse“. 102 So Rz. 1248 der österreichischen KStR 2013.

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als unerwünschtes Ausnützen eines „Schlupflochs“ angesehen, wodurch Gesellschaften „bei grenzübergreifenden Sachverhalten der Besteuerung entgehen“ könnten, charakterisiert103. So umfasste bereits der EU-Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung eine Vielzahl ertragssteuerliche Punkte104, die sich jeweils sowohl in steuerpolitischer wie auch steuertechnischer Sicht ebenso der Kritik zu stellen haben, wie etwa auch die dem Aktionsplan entspringenden Kommissionsempfehlungen zur aggressiven Steuerplanung105 und zu den Mindeststandards für verantwortliches staatliches Handeln im Steuerwesen106. Auch das Sekundärrecht wurde in diese Überlegungen einbezogen. So hat die Mutter-Tochter-RL auf der Grundlage eines Kommissionsvorschlages107 bereits zwei Änderungen erfahren: Die Richtlinienänderung vom Juli 2014 befasste sich mit „Hybridanleihen“108, jene vom Jänner 2015 mit einem Mindeststandard für die „Missbrauchsabwehr“109. Darüber hinaus wurde eine Expertengruppe „Plattform für die Themenbereiche verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen, aggressive Steuerplanung und Doppelbesteuerung“ eingerichtet. Die EU strebt zudem auch Verbesserungen in Bezug auf schädliche Unternehmensbesteuerung und damit zusammenhängende Bereiche an: Dazu gehören etwa die Arbeiten der Code of Conduct Gruppe zu schädlichem Steuerwettbewerb110, zu-

103 Begründung des Kommissionsvorschlags COM(2013)814 (25.11.2013), 4 f. 104 Ausführlich G. Kofler, IFF Forum für Steuerrecht (FStR) 2015, 44 (44 ff.). 105 Empfehlung der Kommission v. 6.12.2012 betreffend aggressive Steuerplanung, C(2012)8806 (6.12.2012), begleitet von einem umfangreichen „Impact Assessment“ SWD(2012)403 (6.12.2012). Darin empfiehlt sie den Mitgliedstaaten die Verankerung einer Subject-to-Tax-Klausel in ihren DBA und die Einführung eine generelle Antimissbrauchsklausel im nationalen Recht. Dazu ausführlich und kritisch M. Lang, SWI 2013, 62 (62 ff.). 106 Empfehlung der Kommission v. 6.12.2012 für Maßnahmen, durch die Drittländer zur Anwendung von Mindeststandards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veranlasst werden sollen, C(2012)8805 (6.12.2012), begleitet von einem umfangreichen „Impact Assessment“ SWD(2012)403 (6.12.2012). 107 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/96/EU über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, COM(2013)814 (25.11.2013). Dieser Vorschlag war begleitet von einem „Impact Assessment“ (SWD[2013]474), dessen Zusammenfassung (SWD[2013]473), und einem Umsetzungsplan (SWD[2013]475); überdies hat die Kommission in einer Pressemitteilung Fragen und Antworten zu ihrem Vorschlag veröffentlicht (MEMO/13/1040, 25.11.2013). 108 Richtlinie 2014/86/EU des Rates v. 8.7.2014 zur Änderung der Richtlinie 2011/96/EU über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ABl. EU L 219/40 (25.7.2014). 109 Richtlinie (EU) 2015/121 des Rates v. 27.1.2015 zur Änderung der Richtlinie 2011/96/EU über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ABl. EU L 21/1 (28.1.2015). 110 Siehe den Verhaltenskodex im Bereich Unternehmensbesteuerung, ABl. EG C  2/1 (6.1.1998), und auch die Mitteilung der Kommission zur Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich, KOM(2009)201 (28.4.2009).

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letzt etwa zu hybriden Betriebsstätten und „Patentboxen“111, sowie die Kontrolle des Beihilfenrechts durch die Kommission, auch im Hinblick auf „Rulings“112. Einen wesentlichen und wohl weichenstellenden Schritt hat die Union mit ihrem Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Steuervermeidung vom Jänner 2016 getan. Das Maßnahmenpaket enthielt nicht nur eine allgemeine Mitteilung („Chapeau“-Mitteilung)113, die den politischen, wirtschaftlichen und internationalen Hintergrund des Maßnahmenpakets zur Bekämpfung von Steuervermeidung erläutert und einen Überblick der verschiedenen Bestandteile gibt, sondern – neben Vorschlägen im Bereich der Amtshilfe und der Erarbeitung einer externen Strategie  – auch den Vorschlag einer Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken („Anti-­ BEPS-Richtlinie“ bzw. „Anti-Tax Avoidance Directive“ oder kurz „ATAD“)114. Die ATAD steht sowohl im Kontext des G20/OECD BEPS Projekts115 als auch der Arbeiten an der europäischen „Gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage“116 sowie dem Aktionsplan der Kommission zur Körperschaftsbesteuerung117. Er greift dabei auch die Überlegung der Luxemburgischen Ratspräsidentschaft auf, BEPS-relevante Themen der GKKB in einer eigenständigen Richtlinie zu re-

111 Dazu OECD, Action 5: Agreement on Modified Nexus Approach for IP Regimes (2015), und z.B. Rz. 17 ff. des Berichts der Code-of-Conduct-Gruppe an den Rat, Dok. 9912/16 FISC 97 ECOFIN 558 (13.6.2016); siehe weiters auch die Mitteilung über eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union – Fünf Aktionsschwerpunkte, COM(2015)302 (17.6.2015), 11 f. 112 Siehe insbesondere Rz.  169  ff. der Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels  107 Absatz  1 AEUV, ABl. EU C  262/1 (19.7.2016), und DG Competition Working Paper on State Aid and Tax Rulings (3.6.2016). 113 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Steuervermeidung: nächste Schritte auf dem Weg zu einer effektiven Besteuerung und einer größeren Steuertransparenz in der EU“, COM(2016)23 (28.1.2016), begleitet von einem Commission Staff Working Document (SWD[2016] 6/2) and einer „Study on Structures of Aggressive Tax Planning and Indicators“ (Taxation Paper No 61, 2015). 114 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, COM(2016)26 (28.1.2016). Siehe dazu z.B. J. D. Becker/T. Loose, IStR 2016, 153 (153 ff.); S. Eilers/F. Oppel, IStR 2016, 312 (312 ff.). 115 So haben die Finanzminister Deutschlands, Frankreichs und Italiens den für Steuern zuständigen EU-Kommissar aufgefordert, die Kommission möge im Kontext des Abschlusses des BEPS-Projekts im Jahr 2015 auch eine Anti-BEPS-Richtlinie vorschlagen; siehe das Schreiben von Schäuble, Sapin und Padoan an Kommissar Moscovici v. 28.11.2014, das vom Rat am 9.12.2014 zur Kenntnis genommen wurde (Dok. 16603/14 PRESSE 68 [9.12.2014] 18). 116 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), COM(2011)121 (16.3.2011). 117 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union – Fünf Aktionsschwerpunkte“, COM(2015)302 (17.6.2015).

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geln118, und kommt der Entschließung des Europäischen Parlaments zur aggressiven Steuerplanung nach119. Nach erheblichen inhaltlichen Diskussionen im Rat wurde bereits im Juni 2016 Einigung über die Verabschiedung der Richtlinie erzielt120, die grundsätzlich bis 1. Jänner 2019 von den Mitgliedstaaten in nationales Recht um­ zusetzen ist121. Die  – im Bereich der hybriden Gestaltungen bereits durch eine „ATAD II“122 modifizierte – Richtlinie beinhaltet fünf rechtlich verpflichtende Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuervermeidung von Körperschaften123: –– Eine „Zinsschranke“, die die Abzugsfähigkeit des Nettozinsaufwands mit 30% der Erträge des Steuerpflichtigen vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (EBITDA) deckelt, den Mitgliedstaaten aber die Möglichkeit einräumt, Ausnahmen vom Abzugsverbot vorzusehen (Art. 4 ATAD). –– Eine umfassende „Wegzugsbesteuerung“ für die Übertragung von Wirtschaftsgütern, die Verlegung von Betriebsstätten und Sitzverlegungen mit der – offenbar an DMC124 und Verder LabTec125 orientierten – Möglichkeit, im EU- und EWR-Raum die Zahlung auf zumindest 5 jährliche Raten aufzuteilen, wobei umgekehrt aber auch eine Aufwertung auf den Marktwert im Zuzugsstaat erfolgen soll (Art.  5 ATAD). –– Eine generelle Anti-Missbrauchsbestimmung, die Gestaltungen die Anerkennung versagt, deren wesentlicher Zweck im Erlangen eines steuerlichen Vorteils besteht, 118 Siehe die Darlegung des Verhandlungsstandes im Rat in Doc. 14509/15 FISC 169 ECOFIN 916 (1.12.2015), den Richtlinientextvorschlag in Doc. 14544/15 FISC 171 (2.12.2015), die Erläuterungen in Doc. 14544/15 ADD 1 FISC 171 (2.12.2015). 119 Entschließung des Europäischen Parlaments v. 16.12.2015 mit Empfehlungen an die Kommission zur transparenteren Gestaltung, Koordinierung und Harmonisierung der Politik im Bereich der Körperschaftsteuer in der Union (2015/2010(INL)), P8_ TA(2015)0457. 120 Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates v. 12.7.2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, ABl. EU L 193/1 (19.7.2016). 121 Siehe Art. 11 Abs. 1 ATAD. Die Vorgaben bzgl. der Maßnahmen zur Wegzugs- bzw. Entstrickungs- und Verstrickungsbesteuerung sowie der Regelungen über hybride Gestaltungen sind mit Ablauf zum 31.12.2019 umzusetzen und ab dem 1.1.2020 anzuwenden (Art.  11 Abs.  5 und Art.  11 Abs.  5a ATAD); lediglich die Regelungen über „Reverse ­Hybrids“ gem. Art. 9a ATAD sind bis zum 31.12.2021 umzusetzen und ab dem 1.1.2022 anzuwenden. Die Regelungen zur Begrenzung der Abzugsfähigkeit von Zinszahlungen (Art.  4 ATAD) müssen Mitgliedstaaten  – sofern sie nicht vorher zum OECD-Mindeststandard gemacht werden – erst zum 1.1.2024 umsetzen, wenn sie bereits zum 8.8.2016 über Regelungen zur Verhütung von BEPS verfügten, die gleichermaßen wirksam wie die Zinsschranke sind (Art. 11 Abs. 6 ATAD). 122 Richtlinie (EU) 2017/952 des Rates v. 29.5.2017 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2016/1164 bezüglich hybrider Gestaltungen mit Drittländern, ABl. EU L 144/1 (7.6.2017). 123 Siehe dazu etwa die Beiträge in S.  Kirchmayr/G. Mayr/K. Hirschler/G. Kofler (Hrsg.), Anti-BEPS-Richtlinie: Konzernsteuerrecht im Umbruch?, 2017, und in M. Lang/A. Rust/J. Schuch/C. Staringer (Hrsg.), Die Anti-Tax-Avoidance-Richtlinie, 2017). 124 EuGH v. 23.1.2014 – C-164/12, ECLI:EU:C:2014:20 – DMC. 125 EuGH v. 21.5.2015 – C-657/13, ECLI:EU:C:2015:331 – Verder LabTec.

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der Ziel oder Zweck der ansonsten geltenden Steuerbestimmungen zuwiderläuft, sofern „sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln“ (Art. 6 ATAD). –– Ein Hinzurechnungsbesteuerungsregime („Controlled Foreign Company“- bzw CFC-Regeln), wonach unter bestimmten Voraussetzungen gewisse Einkünfte ausländischer, niedrig-besteuerter erzielender Tochtergesellschaften der beherrschenden Muttergesellschaft ohne das Abwarten einer Gewinnausschüttung sofort ­hinzugerechnet wird, wobei für Tochtergesellschaften im EU- und EWR-Raum – wohl in Anlehnung an die grundfreiheitsrechtlichen Anforderungen in Cadbury Schweppes126 – gewisse Einschränkungen vorgesehen sind (Art. 7 und 8 ATAD). –– Regelungen gegen hybride Gestaltungen (Art. 9 ff. ATAD), die den doppelten Abzug von Ausgaben oder der Abzug ohne korrespondierende steuerliche Erfassung der Erträge verhindern sollen, ergänzt um Regelungen für unberücksichtigte ­Betriebsstätten, hybride Übertragungen von Finanzinstrumenten, umgekehrte hybride Gestaltungen und Inkongruenzen bei der Steueransässigkeit. Die Regelungen der ATAD sind allesamt als „Mindestschutzniveau“ ausgestaltet, d.h. sie berühren nicht „die Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Gewährleistung eines höheren Maßes an Schutz der inländischen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlagen“ (Art. 3 ATAD). Ob sich damit eine „Fragmentierung des Marktes verhindern und bezüglich der derzeitigen Inkongruenzen und Verzerrungen Abhilfe schaffen“ lässt127, kann aber bezweifelt werden, wenn es den Mitgliedstaaten weiterhin offensteht, strengere Regelungen vorzusehen oder die vielfältigen, in der ATAD vorgesehenen Optionen auszuüben und damit die Gefahr der Fragmentierung im Grunde weiterbesteht. Dies wirft durchaus die Frage auf, ob eine solche Richtlinie zulässigerweise auf die Binnenmarktkompetenz (Art. 115 AEUV) gestützt werden kann bzw. den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (Art. 5 EUV) entspricht128. Überdies täuscht die – vordergründig nicht zu beanstandende – Zielsetzung der Richtlinie, der Steuervermeidung entgegenzutreten, womöglich darüber hinweg, dass jene Mitgliedstaaten, die bereits bisher ein breites Spektrum an derartigen Vorschriften hatten, ihre relative Steuerwettbewerbsposition gegenüber jenen Mitgliedstaaten stärken, die bislang aufgrund spezifischer steuerpolitischer Überlegungen von derartigen Regelungen Abstand genommen hatten, sich dem politischen Momentum auf OECD- und Unionsebene aber nicht entziehen konnten.

126 Siehe zu den grundfreiheitsrechtlichen Anforderungen an ein solches Regime insbesondere EuGH v. 12.9.2006  – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544  – Cadbury Schweppes; EFTA-GH 9. 7. 2014, E-3/13 und E-20/13 – Fred. Olson; EuGH v. 13.11.2014 – C-112/14, ECLI:EU:C:2014:2369 – Kommission/UK. 127 So Punkt 2 der Präambel des Vorschlags zur ATAD, COM(2016)26 (28.1.2016). 128 Siehe für kritische Analysen der Kompetenzfrage siehe z.B. F. Oppel, IStR 2016, 797 (798  f.), und C. Staringer in M. Lang/A. Rust/J. Schuch/C. Staringer (Hrsg.), Die Anti-­ Tax-Avoidance-Richtlinie, 2017, S. 1 (11 ff. m.w.N.).

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Im Zusammenhang mit der ATAD sowie des G20/OECD BEPS-Projekts gewinnen auch die Arbeiten an der „Gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage“129 einen neuen Fokus, bei dem „in der Tat die steuerliche Gerechtigkeit i.S.  einer Wahrung fiskalischer Interessen über die Effizienz i.S.  einer Verwirklichung des Binnenmarkts“ gestellt wird130. Im Aktionsplan der Kommission zur Körperschaftsbesteuerung131 wurde die gemeinsame (konsolidierte) Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage dementsprechend nicht nur als Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen (z.B. grenzüberschreitender Verlustausgleich, Verhinderung der internationalen Doppelbesteuerung, Entfall der Bepreisung von Innentransaktionen), sondern auch als holistischer Ansatz zur Verhinderung von Gewinnverlagerungen und missbräuchlicher Steuergestaltung präsentiert (z.B. Wegfall von Steuerarbitragemöglichkeiten, Verhinderung von Verrechnungspreisgestaltungen, einheitliche Position gegenüber Drittstaaten etc.) und letztlich im Oktober 2016 als zweistufiges Projekt vorgeschlagen132. Einerseits kommt es hinsichtlich der Bemessungsgrundlage zu einer Reihe von Änderungen gegenüber dem ursprünglichen Vorschlag (z.B. Entfall der Optionalität für große Unternehmen)133, andererseits sollen die Arbeiten an der Konsolidierung zunächst vertagt werden, bis eine ­Einigung über verbindliche Vorschriften für die gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage gefunden wurden. Der Ausgang dieses weitreichenden Harmonisierungsprojekts bedeutet sicherlich eine wichtige Weichenstellung für das Steuerrecht in der Union, für die viele harte politische und rechtliche Fragen zu beantworten sein werden, geht doch Steuerwettbewerbsbefürwortern schon eine Harmonisierung der Bemessungsgrundlage zu weit, während andere sogar die Einführung eines Mindeststeuersatzes fordern. Hinzu kommt, dass eine gemeinsame Körperschaftsteuer auch als Kandidat für eine neue Eigenmittelquelle der Union genannt wird134. In einem politischen Kontext sowohl zum BEPS-Projekt und dem dortigen Aktionspunkt Nr.  1135 als auch zur gemeinsamen (konsolidierten) Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage steht auch das enorme politische Momentum hinsichtlich der

129 Ursprünglich als Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), COM(2011)121 (16.3.2011). 130 W. Schön, ifo Schnelldienst 15/2015, 3 (4). 131 Mitteilung der Kommission „Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union – Fünf Aktionsschwerpunkte“, COM(2015)302 (17.6.2015). 132 Siehe für die Regelung der Bemessungsgrundlage den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, COM(2016)685 (25.10.2016), und hinsichtlich der Konsolidierung und Aufteilung den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), COM(2016)683 (25.10.2016). 133 Für eine detaillierte Analyse des Vorschlags siehe z.B. die Beiträge in D. Weber/J. van de Streek (Hrsg.), The EU Common Consolidated Corporate Tax Base: Critical Analysis, 2017. 134 Siehe den Bericht „Future Financing of the EU – Final report and recommendations of the High Level Group on Own Resources“ (December 2016), 49 ff. 135 OECD, Addressing the Tax Challenges of the Digital Economy, Action 1 – 2015 Final Report, OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project, 2015.

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Besteuerung der digitalen Wirtschaft136: Auf Drängen mehrerer Mitgliedstaaten arbeitet die EU-Kommission derzeit an verschiedenen Konzepten, wobei sowohl die Überarbeitung des Nexuskonzepts in Richtung der „digitalen“ Betriebsstätte als auch kurzfristige Lösungen (etwa „Ausgleichssteuern“) angesprochen werden137. Die gemeinsame (konsolidierte) Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage wird auch hier als bevorzugtes Instrument für die Umsetzung eines unionsweiten Konzepts zur Neuordnung der Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft angesehen; erste Vorschläge, etwa zur Einbindung „digitaler“ Betriebsstätten, wurden bereits vom Europäischen Parlament unterbreitet138. Der von der EU fokussierte „Kampf “ gegen Steuerumgehung, Steuerbetrug und Steuerhinterziehung hat freilich eine weltweite Komponente: So betreffen die materiellrechtlichen Unionsmaßnahmen im Bereich der Unternehmensbesteuerung zur Bekämpfung missbräuchlicher Steuerpraktiken (etwa im Rahmen der ATAD139) vielfach auch das Verhältnis zu Drittstaaten. Die Kommission vertritt darüber hinaus auch die Ansicht, dass sich die Mitgliedstaaten „mit ihren unterschiedlichen Ansätzen zur Bekämpfung der Aushöhlung der Steuerbasis von außen befassen“ müssen; eine koordinierte externe Strategie für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich sei daher unverzichtbar, „um gemeinsame Erfolge der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung der Steuervermeidung zu fördern, eine wirksame Besteuerung zu gewährleisten und ein transparentes und stabiles Umfeld für Unternehmen im Binnenmarkt zu schaffen“140. Basierend auf umfangreichen Vorarbeiten141 wurde daher auf EU-Ebene in einem objektiven und transparenten Prozess eine EU-weite Liste nicht kooperativer Drittstaaten erstellt und es wird an gemeinsamen Gegenmaßnahmen 136 Siehe dazu mit zahlreichen w.N. etwa G. Kofler/G. Mayr/C. Schlager, RdW 2017/267, 369 (369 ff.), und G. Kofler/G. Mayr/C. Schlager, ET 2017, 523 (523 ff.). 137 Siehe die Mitteilung der Kommission „A Fair and Efficient Tax System in the European Union for the Digital Single Market“, COM(2017)547 (21.9.2017), und zuletzt etwa die Schlussfolgerungen des Rates „Responding to the challenges of taxation of profits of the digital economy“, Doc. 15175/17 FISC 320 ECOFIN 1064 (30.11.2017). 138 Siehe die Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage PE 602.948v03-00 (19.9.2017), dort insbesondere die Änderungsvorschläge 6, 12, 15, 16, 19 und 26. 139 Richtlinie (EU) 2016/1164, ABl. EU L193/1 (19.7.2016), i.d.F. der Richtlinie (EU) 2017/952, ABl. EU L 144/1 (7.6.2017) (Änderung bezüglich hybrider Gestaltungen mit Drittländern). 140 Mitteilung über eine externe Strategie für effektive Besteuerung, COM(2016)24 (28.1.2016), 2. 141 Siehe insbesondere die Empfehlung der Kommission v. 6.12.2012 für Maßnahmen, durch die Drittländer zur Anwendung von Mindeststandards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veranlasst werden sollen, C(2012)8805 (6.12.2012), begleitet von einem umfangreichen „Impact Assessment“ SWD(2012)403 (6.12.2012), die Mitteilung der Kommission „Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union“, COM(2015)302 (17.6.2015), 14 f., und schließlich die Mitteilung über eine externe Strategie für effektive Besteuerung, COM(2016)24 (28.1.2016), sowie nachfolgend auch die Mitteilung über weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, COM(2016)451 (5.7.2016), 8 f.

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gearbeitet werden. Der Rat hat diesem Ansatz bereits Mitte 2016 zugestimmt142 und im November 2016 den Ablauf des Prozesses143 und die Kriterien für eine Listung144 näher definiert. Diese Kriterien nehmen Bezug auf die – unter anderem an OECD-­ Evaluierungen festgemachte – Transparenz im Steuerbereich, eine „gerechte Besteuerung“ und die Umsetzung der Anti-BEPS Maßnahmen145. Im Dezember 2017 wurden schließlich (lediglich) 17 Drittstaaten und Gebiete identifiziert, die diesen Kriterien nicht entsprachen,146 und die „schwarze Liste“ wurde nach politischen Gesprächen bereits im Jänner 2018 auf 9 Jurisdiktionen gekürzt147, während eine Reihe von Drittstaaten und Gebieten im Hinblick auf eingegangene Verpflichtungen vorerst auf einer „graue Liste“ genannt werden148. Auf Rechtsfolgenebene besteht Konsens, dass bereits die Aufnahme auf eine „schwarze Liste“ Abschreckungscharakter hat, wobei überdies koordinierte steuerliche Maßnahmen wie Abzugsverbote, Hinzurechnungsbesteuerung, Befreiungsversagung, Quellensteuermaßnahmen, Offenlegungs- und Berichtspflichten sowie Beweislastumkehrungen und eine Reihe möglicher nicht-steuerlicher Gegenmaßnahmen empfohlen werden149. 142 Siehe Pkt. 5 ff. der Schlussfolgerungen des Rates zu einer externen Strategie im Bereich Besteuerung und zu Maßnahmen zur Bekämpfung des Missbrauchs von Steuerabkommen, Pressemitteilung 281/16 (25.5.2016). 143 Für rezente Übersichten siehe Rz.  58 ff. des Berichts der Gruppe „Verhaltenskodex“ an den Rat, Dok 10047/17 FISC 133 ECOFIN 507 (12.6.2017), sowie Rz. 80 ff. des Berichts des Rates (Wirtschaft und Finanzen), Dok. 10397/17 FISC 141 ECOFIN 551 (16.6.2017). 144 Schlussfolgerungen des Rates über die Kriterien und das Verfahren für die Erstellung einer EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke, ABl. EU C 461/2 (10.12.2016). 145 Schlussfolgerungen des Rates über die Kriterien und das Verfahren für die Erstellung einer EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke, ABl. EU C 461/2 (10.12.2016). 146 Siehe die Schlussfolgerungen des Rates zur EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke, ABl. EU C 438/5 (19.12.2017), und zuvor Doc. 15429/17 FISC 345 ECOFIN 1088 (5.12.2017). 147 Siehe die Änderung der EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke in ABl. EU C 29/2 (26.1.2018). 148 In den Ratsschlussfolgerungen (ABl. EU C 438/5 [19.12.2017] i.d.F. ABl. EU C  29/2 [26.1.2018]) werden per Anfang 2018 55 Drittstaaten und Gebiete auf der „grauen Liste“ genannt, da diese die von der Union vorausgesetzten Standards zwar gegenwärtig nicht erfüllen, aber politische Verpflichtungen zur raschen Umsetzung der Grundsätze des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich eingegangenen sind, darunter z.B. auch Barbados, Bermuda, Kaimaninseln, Guernsey, Insel Man, Liechtenstein, Jersey, Macau, Panama und die Schweiz. Vorerst nicht beurteilt wurden jene Karibikstaaten, die im September 2017 von verheerenden Stürmen schwer getroffen wurden (Anguilla, Antigua und Barbuda, Bahamas, Britische Jungferninseln, Dominica, St. Kitts und Nevis, Turksund Caicosinseln sowie Amerikanische Jungferninseln). Umgekehrt entsprechen 20 Drittstaaten völlig dem EU-Standard, darunter z.B. auch Monaco, Singapur und die Vereinigten Staaten. 149 Siehe Anlage  III zu den Schlussfolgerungen des Rates zur EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke, ABl. EU C 438/5 (19.12.2017), sowie z.B. Rz. 71 ff. im Bericht der Gruppe „Verhaltenskodex“ an den Rat, Dok 10047/17 FISC 133 ECOFIN 507 [12.6.2017]).

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Insgesamt ist damit durch das BEPS-Projekt der OECD eine ungeahnte Dynamik eingetreten, deren konkrete Auswirkungen sich noch schwer absehen lassen; es würde aber nicht überraschen, wenn zukünftige Steuerhistoriker die Entwicklung des internationalen Steuerrechts in eine Phase vor und eine Phase nach BEPS einteilen werden. Die vom BEPS-Projekt und den EU-Aktionsplänen und Maßnahmepaketen aufgegriffenen Themen und Sub-Themen zeigen einerseits, dass die Staatengemeinschaft (vorerst) wohl nicht die Grundfesten des internationalen Steuersystems niederreißen möchte (etwa die Besteuerung von Körperschaften), die Steuerpflichtigen aber einem durchaus veränderten internationalen Steuersystem gegenüberstehen. Im „Gegenzug“ und im Lichte vermehrter Doppelbesteuerungsprobleme geht der Trend daher sowohl auf Ebene der OECD150 als auch der EU151 in Richtung eines (besseren) Einsatzes von Schiedsklauseln. Es ist daher im Sinne des Binnenmarktes sehr zu begrüßen, wenn in der EU – wie bereits einleitend erwähnt152 – aufgrund der Richtlinie zur Streitbeilegung in Doppelbesteuerungsfällen153 ab Mitte 2019 eine flächendeckende Lösungsmöglichkeit für Streitigkeiten im Hinblick auf Doppelbesteuerungsabkommen und die Schiedskonvention bestehen wird. Speziell im Bereich der Abgrenzung der Steuerhoheiten zeigt sich die Spannung zwischen unternehmerischer, durch Synergien geprägter Wirklichkeit und steuerlicher, auf Marktpreise rekurrierender Fiktion, die sich in der Diskussion zwischen den Prinzipien des Fremdvergleichs („Arm’s Length“-Standard) und der globalen Gewinnaufteilung, wie sie etwa die EU-Kommission mit der Konsolidierung und formelmäßigen Aufteilung der gemeinsamen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) vorgeschlagen hat154, widerspiegelt. Die Verrechnungsthematik stellt sicherlich auch einen – wissenschaftlichen155 – Fokus der vergangenen Jahre dar: Die OECD widmete nicht weniger als 4 der 15 Aktionspunkte des BEPS-Projekts materiellen und formellen Verrechnungspreisfragen156. Und auch die EU nähert sich dem Thema aus mehreren Perspektiven: So ist zu den Arbeiten an der GKKB und den 150 Aktion Nr. 14 des BEPS-Aktionsplanes. 151 Siehe die Ankündigung im Aktionsplan zur Unternehmensbesteuerung, COM(2015) 302 (17.6.2015), 12, und zuvor z.B. schon die Kommissionsmitteilung zu „Double Taxation in the Single Market“, COM(2011)712, und darauf basierend das Working Paper (Stakeholder meeting) Double Taxation in the Single Market, D(2013) (12.4.2013). 152 Siehe oben Kapitel I. 153 Richtlinie (EU) 2017/1852 des Rates v. 10.10.2017 über Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union, ABl. EU L 265/1 (14.10.2017). Siehe zum vom Rat im Oktober 2017 beschlossenen Text der Richtlinie Dok. 9806/17 FISC 118 ECOFIN 472 (2.10.2017), und vorgehend den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Verfahren zur Beilegung von Doppelbesteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union, COM(2016)686 (25.10.2016); siehe dazu z.B. auch die Mitteilung über eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union  – Fünf Aktionsschwerpunkte, COM(2015)302 (17.6.2015), 13. 154 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), COM(2016)683 (25.10.2016). 155 Siehe z.B. speziell zur Kernfrage der Risikoverteilung im Konzern W. Schön, BIT 2014, 280 (280 ff.); W. Schön, StuW, 2015, 69 (69 ff.). 156 Siehe für einen Überblick G. Kofler, BTR 2013, 646 (646 ff.).

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Überlegungen des Verrechnungspreisforums157 auch die – schon in den 2000er Jahren im Gefolge des Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung im Ansatz aufgetretene158  – wettbewerbsrechtliche Frage hinzugetreten, ob einzelne Verrechnungspreisrulings der Mitgliedstaaten159 oder eine mitgliedstaatliche Rulingpraxis160 verbotene Beihilfen nach Art.  107 AEUV oder schädlichen Steuerwettbewerb darstellen können. Insgesamt verdichtet sich auch hier das Bild, dass von der Kommission zahlreiche unionsrechtliche Instrumente eingesetzt werden, um Themenkomplexe des direkten Steuerrechts auf- und anzugreifen.

III. Verwaltungszusammenarbeit: Geschaffene Fundamente und ­fortschreitender Ausbau Aus dem Blickwinkel des „formellen Steuerrechts“ liegt der internationale und unionsrechtliche Fokus auf Compliancethemen (z.B. länderweise Dokumentationsverpflichtungen161) und deren (finanz)strafrechtlichen Implikationen ebenso, wie auf dem seit 2009 drastisch im Vordergrund stehenden Thema der internationalen Amtshilfe162 und dem dort nunmehr eingeschlagenen Weg zum flächendeckenden automatischen Informationsaustausch, sowohl auf Ebene der OECD163 wie auch jener der EU164. Fragen des innerstaatlichen Rechtsschutzes, der Grundrechte und des Datenschutzes werden durch diese Entwicklungen sicherlich vermehrt aufgeworfen werden165. Zudem darf nicht übersehen werden, dass vordergründig „formale“ Themen auch materiell-steuerrechtliche Implikationen haben können; so lässt z.B. die Einführung einer länderweisen Dokumentationsverpflichtung für Verrechnungspreiszwecke materiell wohl die Möglichkeit eines (vorschnellen) Rückgriffs auf die Wahl der Profit-Split-Methode durch einige Staaten befürchten. 157 Dazu G. Kofler in E. Baistrocchi (Hrsg.), Resolving Tax Treaty Disputes: A Global Analysis, 2017, S. 205 (205 ff.). 158 Siehe z.B. die Kommissionsentscheidung v. 16.10.2002 zu luxemburgischen Koordinationszentren, C 49/2001, K(2002) 3740, ABl. EG L 170/20 (9.7.2003). 159 Dazu Rz. 169-176 der Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 AEUV (19.5.2016), und DG Competition Working Paper on State Aid and Tax Rulings (3.6.2016). 160 Siehe etwa das Verfahren zur belgischen Gewinnüberschussregelung unter SA.37667. 161 Aktion Nr. 13 des BEPS-Aktionsplanes. 162 Siehe z.B. OECD, Update to Article 26 of the OECD Model Tax Convention and its Commentary (17.7.2012). 163 Standard for Automatic Exchange of Financial Information in Tax Matters (21.7.2014); siehe zuvor auch den Standard for Automatic Exchange of Financial Account Information (Common Reporting Standard) (13.2.2014). 164 Richtlinie 2014/107/EU des Rates v. 9.12.2014 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, ABl. EU L 359/1 (16.12.2014). 165 Siehe für eine frühe Analyse die Beiträge in G. Kofler/M. Poiares Maduro/P. Pistone (Hrsg.), Taxation and Human Rights in Europe and the World (2011), und – speziell auch zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Berlioz“ G. Kofler in DStJG 41 (2018), S. 125 ff.

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Im Bereich der Verwaltungszusammenarbeit und Amtshilfe haben sich die Ereignisse in der jüngeren Vergangenheit geradezu überschlagen und werden wohl auch zu dem einen oder anderen Perspektivenwechsel in Fragen der materiellen Besteuerung führen. Den Entwicklungen auf Ebene der OECD folgend wurde auch in der EU der Weg von der vollen Transparenz auf Anfrage bis zum automatischen Informationsaustausch einer Vielzahl von steuerrelevanten Informationen beschritten und die AmtshilfeRL mehrfach geändert166: –– So wurde auf EU-Ebene bereits durch eine Neufassung der AmtshilfeRL im Jahr 2011167 unter anderem die Gewährung von Bankinformationen auf Anfrage ab 1.1.2013 verankert und darüber hinaus auch der automatische Informationsaustausch ab 1.1.2015 für „verfügbare“ Daten zu Vergütungen aus unselbständiger Arbeit, Aufsichtsrats- oder Verwaltungsratsvergütungen, Lebensversicherungsprodukte, Ruhegehälter und Eigentum von bzw Einkünfte aus unbeweglichem Vermögen vorgesehen168. –– Seit Ende 2014 ist zusätzlich auch der verpflichtende automatische Informationsaustausch für Finanzinformationen169 vorgesehen, wobei der erste Informationsaustausch für September 2017 vorgesehen war170. Dieser Entwicklungsschritt geht darauf zurück, dass Kommission bereits im Juni 2013 einen Vorschlag zur Ausdehnung der AmtshilfeRL vorgelegt hat171, dessen Kernüberlegung darauf basierte, dass, wenn die Mitgliedstaaten mit den USA Abkommen zur Umsetzung des „Foreign Account Tax Compliance Act“ (FATCA) geschlossen haben, eine derart umfassende Zusammenarbeit auch zwischen den Mitgliedstaaten bestehen sollte172. Zugleich wurde in der AmtshilfeRL auch der „Common Reporting Standard“ 166 Siehe insbesondere bereits Aktionen 1, 2, 12, 16 und 21 des Aktionsplans zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung, COM(2012)722 (6.12.2012). 167 Richtlinie 2011/16/EU des Rates v. 15.2.2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG, ABl. EU L 64/1 (11.3.2011). 168 Es gibt allerdings keine unmittelbaren rechtlichen Sanktionen, sofern ein Mitgliedstaat diese Daten nicht „verfügbar“ hat (z.B. in den Steuerakten), außer dass ein solcher Staat seinerseits womöglich keine Informationen erhält (Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie). 169 Die Finanzinformationen, die von Finanzinstitutionen gemeldet und zwischen den Mitgliedstaaten ausgetauscht werden müssen, betreffen nicht nur die entsprechenden Einkünfte (Zinsen, Dividenden und ähnliche Einkünfte), sondern auch Kontosalden und Erlöse aus der Veräußerung von Finanzvermögen. 170 Zur besonderen Situation Österreichs siehe Abschnitt X der Richtlinie, die Erklärung für das Ratsprotokoll, Dok. 15995/14 ADD 1 FISC 209 ECOFIN 1090 (28. 11. 2014) sowie die Pressemitteilung Dok. 16644/14 PRESSE 633 (9.12.2014). 171 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, COM(2013)348 (12.6.2013). 172 Die Kommission verwies hier auch darauf, dass die Mitgliedstaaten durch die FATCA-Abkommen „eine umfassendere Zusammenarbeit im Sinne des Artikels  19 der [AmtshilfeRL] eingehen oder eingehen werden, und verpflichtet sind oder sein werden, auch mit anderen Mitgliedstaaten eine solche umfassendere Zusammenarbeit einzugehen“; siehe Pkt. 10 f. der Begründung zu COM(2013)348 (12.6.2013).

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implementiert173, der von der OECD als einheitlicher globaler Standard für den automatischen Informationsaustausch in Steuerfragen erarbeitet wurde. Mit dieser Ausdehnung der AmtshilfeRL auf Finanzinformationen war aber auch das Schicksal der SparzinsenRL174 besiegelt: Diese wurde zwar erst unlängst überarbeitet175, allerdings wurde sie durch die Erweiterung der AmtshilfeRL und den darin vorgesehenen automatischen Austausch von Finanzinformationen zwischen den Mitgliedstaaten hinfällig und daher aufgehoben176. Umgekehrt wurden die auf der SparzinsenRL basierenden Drittstaatsabkommen neu verhandelt und an den aktuellen Standard des automatischen Informationsaustausches angepasst177. –– In weiteren Schritten wurde die AmtshilfeRL in den Jahren 2015 und 2016 um den automatischen Austausch von Informationen über gewisse verbindliche grenzüberschreitende Vorabauskünfte und APAs („Steuerrulings“)178 und von „Coun­ try-by-Country“-Verrechnungspreisberichten179 erweitert und den mitgliedstaatlichen Steuerbehörden der Zugang zu Geldwäscheinformationen, nämlich zu den nach Geldwäschevorschriften identifizierten wirtschaftlichen Eigentümern, gewährt180. Dass der ab 2017 erfolgende Austausch von „Country-by-Country“-Verrechnungspreisberichten zwischen den Finanzverwaltungen der Verschwiegenheit unterliegt und diese Informationen daher nicht der Öffentlichkeit zugänglich sind, hat wiederum zu einem Vorschlag der Kommission zur Änderung der Rechnungs173 Richtlinie 2014/107/EU des Rates v. 9.12.2014 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, ABl. EU L 359/1 (16.12.2014). 174 Richtlinie 2003/48/EG des Rates v. 3.6.2003 im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen, ABl. EG L 157/38 (26.6.2003). 175 Die SparzinsenRL wurde – in Umsetzung der Aktion 2 des Aktionsplanes – zuletzt 2014 geändert und eine – ab 1. Jänner 2017 anzuwendende – Erweiterung der erfassten Zinsenzahlungen und der erfassten Produkte und einen „Durchblicksansatz“ zur Identifikation des Nutzungsberechtigten vorgesehen (Richtlinie 2014/48/EU des Rates v. 24.3.2014 zur Änderung der Richtlinie 2003/48/EG im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen, ABl. EU L 111/50 [15.4.2014]; dazu A. Strub, IStR 2014, 313 [313 ff.]). 176 Dementsprechend wurde die (geänderte) SparzinsenRL reibungslos aufgehoben (durch Richtlinie (EU) 2015/2060, ABl. EU L 301/1 [18.11.2015]). 177 Schweiz: ABl. EU L 333/12 (19.12.2015); Liechtenstein: ABl. EU L 339/3 (24.12.2015); Monaco: ABl. EU L 225/3 (19.8.2016); Andorra: ABl. EU L 268/40 (1.10.2016); San Marino: ABl. EU L 346/3 (31.12.2015). 178 Richtlinie (EU) 2015/2376 des Rates v. 8.12.2015 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/ EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, ABl. EU L 332/1 (18.12.2015). 179 Richtlinie (EU) 2016/881 des Rates v. 25.5.2016 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, ABl. EU L 146/8 (3.6.2016). 180 Bis Mitte 2017 mussten etwa zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung in den Mitgliedstaaten Register der wirtschaftlichen Eigentümer von Gesellschaften, anderen juristischen Personen und Trusts eingerichtet werden (Art. 30 f. der Richtlinie (EU) 2015/849, ABl. EU L 141/73 [5.6.2015]); zu diese Informationen haben auch die Finanzbehörden spätestens ab 1.1.2018 Zugang (Art. 1 der Richtlinie (EU) 2016/2258, ABl. EU L 342/1 [16.12.2016]).

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legungsrichtlinie geführt, durch den eine Offenlegung von Ertragsteuerinformationen großer Unternehmen vorgesehen werden soll („Public Country-by-Country-­ Reporting“)181. Ein weiterhin bestehendes „Transparenzdefizit“ wird von der Kommission darin gesehen, dass Steuerverwaltungen vielfach keine zeitnahen, umfassenden und relevanten Informationen zu aggressiven Steuerplanungsstrategien haben, wohingegen ein frühzeitiger Zugang zu solchen Informationen gewährleisten würde, dass Steuerrisiken durch sachkundige Risikoabschätzungen, Prüfungen und Gesetzesänderungen rasch begegnet werden könnte182. Einige Staaten haben daher bereits entsprechende Meldepflichten eingeführt183 und auch Deutschland hat 2007 erwogen, eine strafbewehrte Anzeigepflicht des „Vermarkters“ für gewisse grenzüberschreitende Steuergestaltungen vorzusehen (§ 138a AO-E)184. Die darin vorgesehenen Maßnahmen hätten zwar keine unmittelbaren materiell-steuerrechtlichen Konsequenzen nach sich gezogen, allerdings sollte es der Finanzverwaltung dadurch ermöglicht werden, „legale, jedoch unerwünschte Gestaltungen früher als bisher [zu] erkennen und entsprechende Maßnahmen auf Verwaltungsebene [zu] ergreifen oder Maßnahmen gesetzgeberischer Art“ anzuregen185. Wenngleich diese Anzeigepflicht seinerzeit nicht in das JStG 2008186 eingegangen ist, steht das Thema weiterhin auf der politischen „Agenda“. Der Bundesrat hat es etwa 2014187 und zuletzt 2017188 aufgegriffen und sieht „unverändert dringenden Handlungsbedarf insbesondere bei der Schaffung von Regelungen für eine gesetzliche Anzeigepflicht für Steuergestaltungen“, weil die-

181 Siehe den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Offenlegung von Ertragsteuerinformationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen, COM(2016)198 (12.4.2016), und die mit großer Mehrheit angenommenen Abänderungen des Europäischen Parlaments v. 4.7.2017 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die ­Offenlegung von Ertragsteuerinformationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen, P8_TA(2017)0284 (4.7.2017). 182 Siehe zum Folgenden auch G. Kofler/P. Pistone, IStR 2017, 705 (707 f.). 183 Siehe dazu die Übersichtsdarstellung in Anhang E des Berichts OECD, Mandatory Dis­ closure Rules, Action 12 – 2015 Final Report, OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project (2015). Für einen Rechtsvergleich im Hinblick auf die – eher auf missbräuchliche Gestaltungen ausgerichteten  – Anzeigepflichten in den USA und im Vereinigten Königreich siehe z.B. auch W. Kessler/R. Eicke, BB 2007, 2370 (2375 ff.). 184 Gesetzesentwurf zur Anzeigepflicht von Steuergestaltungen (25.6.2007). Siehe dazu etwa W. Kessler/R. Eicke, BB 2007, 2370 (2370 ff.); C. Flämig, DStR 2007, Beihefter zu Heft 44, 2 (2 ff.). 185 BR-Drucks. 544/1/07, 69 (11.9.2007). 186 BGBl. I 2007, 3150. 187 Entschließung des Bundesrates zur Bekämpfung internationaler Steuergestaltungen, BRDrucks. 205/14 (23.5.2014). 188 Entschließung zum Gesetz zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz  – StUmgBG), BR-Drucks. 365/17 (2.6.2017).

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se „den Gesetzgeber frühzeitig in die Lage“ versetzen, „zielgerichtet und effektiv auf Steuergestaltungen zu reagieren“189. Es kann auch nicht verwundern, dass die Frage Offenlegung von Steuergestaltungsmodellen Bestandteil des OECD-BEPS-Projekts wurde. Der im Oktober 2015 veröffentlichte Endbericht der OECD zum Aktionspunkt 12 hat hier „Best Practices“ zur Einführung von Bestimmungen über die verbindliche Offenlegung aggressiver oder missbräuchlicher Transaktionen, Strukturen oder Gestaltungen dargelegt190, aber keinen Mindeststandard geschaffen. Auch auf Ebene der EU wurde eine solche ­Offenlegungsverpflichtung bereits frühzeitig thematisiert: Die EU-Kommission hat sie schon 2012 als Teil der Agenda für Steuertransparenz beobachtet191 und der Rat hat sodann Mitte 2016 die Kommission aufgefordert, „Gesetzgebungsinitiativen zu verbindlichen Offenlegungsregelungen in Anlehnung an die Aktion 12 des BEPS-­ Projekts der OECD ins Auge zu fassen, mit dem Ziel, „effektivere Hindernisse für Intermediäre zu errichten, die bei Steuerhinterziehung oder Steuerumgehung Unterstützung leisten“192. Der schließlich im Juni 2017 von der Kommission erstattete Richtlinienvorschlag sieht eine Offenlegungsverpflichtung von Intermediären von potentiell aggressiven Steuerplanungsmodellen gegenüber den Steuerbehörden vor193. Technisch zielt der Richtlinienvorschlag auf eine Änderung der AmtshilfeRL ab, führt aber zugleich auch eine materielle Verpflichtung ein: Die Mitgliedsstaaten müssen durch entsprechende Maßnahmen sicherstellen, dass Intermediäre (z.B. auch

189 BR-Drucks. 365/17 (2.6.2017). Eine Studie des Max Planck Instituts zur „Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle in Deutschland“ im Auftrag das BMF hat schließlich den rechtlichen Rahmen im Detail analysiert. Siehe C. Osterloh-Konrad/C. Heber/T. Beuchert, Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle in Deutschland, Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, 2016. 190 OECD, Mandatory Disclosure Rules, Action 12  – 2015 Final Report, OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project (2015). 191 Siehe die Mitteilung über weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, COM(2016)451 (5.7.2016), 7 f. 192 Siehe Pkt. 12 der Schlussfolgerungen des Rates zu einer externen Strategie im Bereich Besteuerung und zu Maßnahmen zur Bekämpfung des Missbrauchs von Steuerabkommen, Pressemitteilung 281/16 (25.5.2016). Eine daran anschließende öffentliche Konsultation zu der Frage, ob und wie die EU gegen Berater und Intermediäre vorgehen soll, die Hilfe bei der Steuerhinterziehung und -umgehung leisten, wurde im Herbst 2016 durchgeführt. Siehe die Pressemitteilung „Kommission holt Meinungen zu künftigen Maßnahmen gegen Unterstützer von aggressiver Steuerplanung ein“, IP/16/3618 (10.11.2016), sowie vorgehend die entsprechende Ankündigung in der Mitteilung über weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, COM(2016)451 (5.7.2016), 7 f. 193 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Modelle, COM(2017)335 (21.6.2017), samt Anhang zu den „Hallmarks“); siehe auch die Begleitunterlage der Kommissionsdienststellen zur Folgenabschätzung in SWD(2017)236 (21.6.2017) (Zusammenfassung in SWD[2017]237).

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Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer, Steuer- und Finanzberater, Banken und Berater)194 innerhalb von fünf Tagen nach Weitergabe eines meldepflichtigen Steuerplanungsmodells an Kunden gewisse Informationen über dieses an die Steuerbehörden melden195. Der Mitgliedstaat, an den die Modelle gemeldet werden, muss diese Informationen automatisch vierteljährlich über ein Zentralverzeichnis mit allen anderen Mitgliedstaaten teilen196. Die Umschreibung der meldepflichtigen Steuerplanungsmodelle basiert nicht auf einer abstrakten Definition aggressiver Steuerplanung, ­sondern – ebenso wie BEPS-Aktionspunkt 12 und international üblich197 – auf der Nennung von „Merkmalen“ bzw „Kennzeichen“ („hallmarks“), die stark auf Steuervermeidung oder Steuermissbrauch hindeuten. Voraussetzung für die Meldepflicht ist damit lediglich, dass es sich um ein grenzüberschreitendes Modell198 handelt, das zumindest eines dieser – allgemeinen oder spezifischen – „hallmarks“, allenfalls in Kombination mit der „Steuervorteilsklausel“, aufweist199. Nach Vorstellung der Kommission wäre eine entsprechende Richtlinie von den Mitgliedstaaten bis 31. 12. 2018 umzusetzen200. Hinzuweisen ist auch darauf, dass der Richtlinienvorschlag selbst keine konkreten Sanktionen für die Verletzung der Offenlegungspflicht vorsieht, sondern die Mitgliedstaaten verpflichtet, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen festzulegen201, wobei in den Mitgliedstaaten durchaus Tendenzen zu erheblichen Strafdrohungen erkennbar sind202. Erwartungsgemäß ist der Richtli194 Die Meldeverpflichtung geht nur dann auf den Steuerpflichtigen über, wenn der Intermediär nicht in der EU niedergelassen ist oder beruflichen Verschwiegenheitspflichten unterliegt oder es keinen Intermediär gibt, wenn also z.B. das Modell von internen Steuerberatern oder Anwälten entwickelt wurde. Siehe Art.  8aaa Abs.  2 i.d.F. des Vorschlags COM(2017)335 (21.6.2017). 195 Vorgeschlagene Anfügung eines Art. 8aaa der AmtshilfeRL. 196 Vorgeschlagene Änderung des Art. 21 Abs. 5 der AmtshilfeRL. 197 Siehe z.B. die Guidance des UK HMRC, Disclosure of tax avoidance schemes (2014) 26 ff. 198 Art. 3 Nr. 18 i.d.F. des Vorschlags COM(2017)335 (21.6.2017). 199 Art. 3 Nr. 19 i.d.F. des Vorschlags COM(2017)335 (21.6.2017). Die im Anhang zum Vorschlag angeführten „hallmarks“ knüpfen sowohl an äußere Umstände von Gestaltungen („generic hallmarks“), nämlich das Bestehen einer Vertraulichkeitsklausel, ein steuervorteilabhängiges Honorar oder die Verwendung von Standarddokumentation, als auch an Inhalte oder Ergebnisse von Gestaltungen („specific hallmarks“) an. Bei diesen „specific hallmarks“ handelt es sich z.B. um strukturierten Modelle zur Verlustverlagerung, Modelle zur grenzüberschreitenden abzugsfähigen Zahlung an einen verbundenen Empfänger, der z.B. in keinem Steuergebiet oder in einem Nicht- oder Niedrigsteuerland ansässig, und Modelle zur Abschreibung desselben Vermögenswertes in mehr als einem Land; darüber hinaus bestehen „specific hallmarks“ auch im Hinblick auf die Umgehung von Transparenzregeln, etwa durch die Einbeziehung von Steuergebieten oder Rechtspersonen, die nicht vom automatischen Informationsaustausch erfasst sind. 200 Art. 2 des Vorschlags COM(2017)335 (21.6.2017). Allerdings soll es auch zur Meldung jener Modelle kommen, die im Zeitraum von der politischen Einigung bis zum 31.12.2018 umgesetzt wurden; siehe Art. 8aaa Abs. 4 des Vorschlags COM(2017)335 (21.6.2017). 201 Art. 25a i.d.F. des Vorschlags COM(2017)335 (21.6.2017). 202 So ist beispielsweise bei Verletzung von Meldeverpflichtungen i.Z.m. der Umsetzung des Gemeinsamen Meldestandards für Finanzinformationen in Österreich eine Geldstrafdrohung von bis zu 200.000 Euro (§ 107 Abs. 1 Gemeinsamer Meldestandard-Gesetz, BGBl. I 2015/116) und in Deutschland eine Geldbuße von bis zu 50.000 Euro (§ 28 Abs. 1 Finanz-

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nienvorschlag nicht unkritisiert geblieben und etwa ein höherer definitorischer Bestimmtheitsgrad bei den „hallmarks“ und eine klare Unterscheidung zwischen „­normaler“ Beratung und „Massenprodukten“ („Off-the-shelf-Schemes“) gefordert worden203. Auch jenseits der Schaffung von Compliance- und Meldepflichten für grenzüberschreitend tätige Steuerpflichtige und des intensiven grenzüberschreitenden Austauschs von steuerrelevanten Informationen zwischen den Mitgliedstaaten ist der Bereich der Verwaltungszusammenarbeit aus dem Blickwinkel der Kommission ein Thema mit großem Zukunftspotential. Bereits im Aktionsplan des Jahres 2012 ­wurden Themen wie die verstärkte Nutzung koordinierter Außenprüfungen (nach Art. 12 der AmtshilfeRL), gemeinsame Steuerprüfungen durch speziell ausgebildete Prüfteams, die Schaffung einer EU-weiten Steueridentifikationsnummer (TIN), die Verbesserung der Risikomanagementtechniken und insbesondere des Compliance-­ Risikomanagements und die Ausdehnung von EUROFISC auf den Bereich direkte Steuern genannt204.

IV. „Stotternder“ Integrationsmotor, das schwingende Pendel und neue Brennpunkte Die überragende Bedeutung der primärrechtlichen Grundfreiheiten („Marktfreiheiten“) auch für den Bereich der direkten Besteuerung wurde erstmals 1986 deutlich sichtbar, als der EuGH die Rechtsprechung zum Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten im berühmten Avoir Fiscal-Urteil205 auf das direkte Steuerrecht ausdehnte. In diesem  – von der Kommission wohl wegen des zurückhaltenden Harmonisierungswillens der Mitgliedstaaten angestrengten  – Verfahren gelangte der EuGH zu dem Ergebnis, dass die Nichterstreckung einer für französische Gesellschaften vorgesehenen Steuergutschrift („avoir fiscal“) auf französische Betriebsstätten beschränkt steuerpflichtiger EU-Gesellschaften der Niederlassungsfreiheit widerspricht. Unnötig zu erwähnen, dass dieses Urteil die damalige Konzeption internationaler Besteuerung in ihren Grundfesten erschütterte, zumal die Ungleichbehandlung von unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichtigen einen jahrzehntelang akzeptierten Eckpfeiler des internationalen Steuerrechts darstellte. Seit dieser Entscheidung in Avoir Fiscal hat sich die Rechtsprechung des EuGH mit unglaublicher Geschwindigkeit entwickelt und durch sogenannte „negative Integration“ nicht nur zahlreiche Pfeiler des tradierkonten-Informationsaustauschgesetz, BGBl. I 2015, 2531 i.d.F. BGBl. I 2016, 3000) vorgesehen. 203 Siehe aus der Sicht des Berufsstandes z.B. die Stellungnahme der CFE, Opinion Statement PAC 3/2017 on the European Commission Proposal for a Council Directive amending Directive 2011/16/EU as regards mandatory automatic exchange of information in the field of taxation (27 July 2017). 204 Siehe z.B. die Aktionen 19, 22, 25, 26 und 32 des Aktionsplans zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung, COM(2012)722 (6.12.2012). 205 EuGH v. 28.1.1986 – 270/83, ECLI:EU:C:1986:37 – Kommission/Frankreich („avoir fis­ cal“).

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ten Systems grenzüberschreitender Besteuerung in Frage gestellt, sondern sich als der bislang effizienteste, für die Fisci der Mitgliedstaaten aber auch gefährlichste „Motor“ zur Überwindung von steuerlichen Hindernissen grenzüberschreitender wirtschaftlicher Aktivitäten in der Gemeinschaft erwiesen. Während der potentielle Einfluss der Grundfreiheiten zu Beginn der 1990er Jahre allgemein noch skeptisch betrachtet und erheblich unterschätzt wurde, hat sich durch das 1995 ergangene Schumacker-Urteil206 diese Sichtweise innerhalb kurzer Zeit erheblich geändert, indem es den nationalen Staatsgewalten, aber auch den Steuerpflichtigen deren Bedeutung bewusst gemacht hat. Der umfangreichen, binnenmarktfreundlichen Judikatur ist allerdings bereits in der Vergangenheit breite Skepsis entgegengeschlagen207: So wurde etwa gefragt, ob sich der EuGH wie ein „Elefant im Porzellanladen des direkten Steuerrechts“ verhält208, wobei insbesondere die oft auch auf Missverständnissen und Inkonsequenzen209 basierende „Zerschlagung nationaler Besteuerungssysteme“210 durch den nicht auf Steuerrecht spezialisierten EuGH sowohl aus einer steuerrechtsdogmatischen wie auch aus einer souveränitätsschonenden und die zwischenstaatliche Verteilungsgerechtigkeit wahrenden Perspektive kritisiert wurde211. In diesem Sinne wird dem EuGH auch die Ignoranz komplexer steuerlicher Zusammenhänge vorgeworfen und gemutmaßt, dass „Member States will not go on accepting the Court overruling them with the flimsiest of arguments forever“212. Auch hinsichtlich der „ex-tunc-Wirkung“ der auslegenden EuGH-Rechtsprechung verschafften sich zunehmend kritische Stimmen Gehör213, wenngleich eine Vorstoß des Vereinigten Königreichs im Jahr 1996214 zur Sicherung des nationalen Steueraufkommens gescheitert ist. Diese kriti206 EuGH v. 14.2.1995 – C-279/93, ECLI:EU:C:1995:31 – Schumacker. 207 Siehe etwa den bezeichnend mit „Das Ertragssteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshof?  – Können wir uns wehren?“ betitelten Beitrag von K.-R. Ahmann, DStZ 2005, 75 (75); siehe auch die kritischen Analysen bei C. Seiler, StuW 2005, 25 (25 ff.), der von einer „strukturellen ‚Wehrlosigkeit‘ der Mitgliedstaaten gegenüber dem Europarecht“ spricht; weiters etwa P. Wattel, LIEI 2004, 81 (81  ff.), und P. Fischer, FR 2005, 457 (457 ff.) („Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?“); siehe z.B. auch den Überblick zur Kritik bei Schnitger, Die Grenzen der Einwirkungen der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006, S. 2 ff. 208 W. Vermeend, EC Tax Rev. 1996, 54 (54). 209 Siehe dazu die Kritik an der fast bedrückenden Zahl von steuerrechtlichen Fehlleistungen und „Ablenkungsmanövern“ („red herrings“) des EuGH bei P. Wattel, LIEI 2004, 81 (81  ff.). Diese Missverständnisse dürften aber zu einem Gutteil auf den mangelhaften Vorbringen der beteiligten Parteien beruhen; siehe dazu insbesondere P. Farmer, EC Tax Rev. 1998, 13 (14). 210 K.-R. Ahmann, DStZ 2005, 75 (78). 211 Siehe zur Kritik aus der Perspektive internationaler Steuerprinzipien z.B. M. J. Graetz/A. C. Warren, Income Tax Discrimination and the Political and Economic Integration of Europe, 115 Yale L. J., 2006, 1185 (1185 ff.). 212 W. Vermeend, EC Tax Rev. 1996, 54 (55). 213 Dazu etwa N. Wunderlich/L. Albath, DStZ 2005, 547 (552). 214 Siehe das Memorandum des Vereinigten Königreichs vom Juli 1996 betreffend „The European Court of Justice“, wo das Vereinigte Königreich eine Änderung des EG-Vertrages dahin gehend vorschlägt, dass hinsichtlich der Einschränkung der „Rückwirkung“ von

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sche Grundstimmung ist allerdings nicht spurlos vorbeigezogen. So wurde zu Beginn der 2000er Jahre in der Vorbereitungsphase für die Europäische Verfassung offenbar sogar überlegt, das direkte Steuerrecht aus dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten auszunehmen oder die diesbezügliche Kompetenz des EuGH zu beschneiden. Wathelet berichtete etwa, dass „[d]uring the debates leading up to the adoption of the Constitutional Treaty, it was proposed to prohibit the ECJ from drawing any tax-related conclusions whatsoever from the provisions of the Treaty relating to the fundamental freedoms of circulation or to force it to treat Member States’ budgetary concerns as overriding reasons in the public interest to justify a restriction“215. Dieser politische und fachliche Druck auf den EuGH könnte auch ein Grund dafür sein, dass seit Mitte der 2000er Jahre ein gewisses „Stottern des Integrationsmotors“216 zu vermerken ist, zumal der EuGH vermehrt den Fokus auf die Interessen der Mitgliedstaaten zu richten scheint und damit zwangsläufig Spannungen zu seiner integrationsfreundlichen Vorjudikatur hervorruft217. Dies betrifft insbesondere die vermehrte Anerkennung von mitgliedstaatlichen Interessen auf den Ebenen der Rechtfertigung und der Verhältnismäßigkeit, speziell im Hinblick auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrung einer angemessenen Aufteilung der Besteuerungshoheiten und die Missbrauchsverhinderung. In der Tat lässt sich feststellen, dass sich die Judikatur des EuGH in verschiedenen „Rechtsprechungsgenerationen“ entwickelt, die nicht immer der älteren Vorjudikatur entsprechen218. Während nämlich der EuGH in den frühen Phasen ohne politische Beschränkung den Binnenmarkt durch „revolutionäre“ Entscheidungen vorantreiben konnte219, ist diese Rechtsprechung nach und EuGH-Urteilen auch die budgetären Auswirkungen für die Mitgliedstaaten entscheidend in die Betrachtung einzubeziehen sein sollten. Der vom Vereinigten Königreich unterbreitete legislative Vorschlag sah Folgendes vor: „Where the Court of Justice in exercise of any jurisdiction under this Treaty interprets one of its provisions, or a provision of any act adopted under it, it may determine that its judgment shall only have effect from the date on which it is delivered, in particular where (a) application of the provision in question to events which occurred, or legal relations entered into, before the date of the [judgment] will have serious financial consequences for natural or legal persons or the public finances of any Member State; or (b) natural or legal persons or a Member State have acted on the basis of an interpretation of the provision in question – different from that laid down by the Court of Justice in that judgment, in reliance on the conduct of a Community institution or (in the case of persons) a Member State“. 215 M. Wathelet, BTR 2006, 128 (131). 216 Siehe M. Lang, SWI 2005, 365 (365 ff.); siehe auch A. Cordewener/E. Reimer, ET 2006, 239 (239 ff.), und ET 2006, 291 (291 ff.). 217 Siehe dazu insbesondere M. Lang in FS Wacker, 2006, S. 365 (365 ff.); M. Lang, ET 2006, 421 (421 ff.); siehe auch G. Bizioli, ET 2008, 133 (133 ff.); J. Kokott/T. Henze in Forum der Internationalen Besteuerung 30, 2005, S. 67 (67 ff.). 218 Dazu instruktiv P. Wattel, CML Rev. 2004, 177 (177 ff.). 219 Für eine Analyse dieser „Landmark“-Entscheidungen und deren Weiterentwicklung in der Judikatur siehe die Beiträge in W. Haslehner/G. Kofler/A. Rust (Hrsg.), Landmark Decisions of the ECJ in Direct Taxation, 2015. Siehe allgemein auch M. Poiares Maduro, We The Court – The European Court of Justice and the European Economic Constitution, 1998, S. 23; C. Timmermans, CML Rev. 2004, 393 (396); C. Timmermans in A. McDonnell (Hrsg.), A Review Of Forty Years Of Community Law: Legal Developments in the Euro-

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nach in das politische Rampenlicht gerückt, zumal fundamentale steuerpolitische Fragen und signifikantes Steueraufkommen220 zur Rede standen, etwa in den Rechtssachen D221, Marks & Spencer222, ACT Group Litigation223, Cadbury Schweppes224 und Denkavit Internationaal225. Gerade seit 2005 lässt sich ein „Zurückschwingen“ des Pendels gegen den Binnenmarkt ausmachen. Dieser Trend wird gerade bei den „großen“ Themen sichtbar: Dies betrifft etwa die – ohnehin enge – Verpflichtung zur nichtdiskriminierenden Hereinnahme „finaler“ Verluste bei ausländischen Tochtergesellschaften in Marks & Spencer226 und bei befreiten Auslandsbetriebsstätten in Lidl Belgium227 und die immer weiter reichende Eingrenzung dieser Verpflichtung etwa in X Holding228, A Oy229, K230, Nordea Bank231, Kommission/Vereinigtes Königreich232 und Timac Agro233. Zuletzt verneinten etwa auf Basis von Timac Agro sowohl der BFH234 als auch der VwGH235 in Betriebsstättenfällen bereits die Vergleichbarkeit von Inlands- und Auslandssachverhalten, sodass es schon mangels Diskriminierung weder einer Rechtfertigungs- noch Verhältnismäßigkeitsprüfung bedürfe und es damit auf die Frage der ausnahmsweisen steuerlichen Berücksichtigung von finalen Verlusten unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nicht ankam236. Ob und in welchen Situationen damit konkret noch Platz für die „finalen Verluste“ i.S.v. Marks & Spencer und Lidl Belgium bleibt (bei denen der EuGH die Vergleich­ barkeit von Inlands- und Auslandssachverhalt zumindest unterstellt hat), ist zumindest unklar237. Insofern wäre also der Vorschlag der Kommission, im Rahmen einer pean Communities and the European Union, 2005, S. 113 (114); F. de Hosson, Intertax 2006, 294 (295). 220 Siehe z.B. zu einem Dividendenfall die Schlussanträge GA Stix-Hackl v. 5.10.2006  – C-292/04, ECLI:EU:C:2005:676 – Meilicke Rz. 61. 221 EuGH v. 5.7.2005 – C-376/03, ECLI:EU:C:2005:424 – D. 222 EuGH v. 13.12.2005 – C-446/03, ECLI:EU:C:2005:763 – Marks & Spencer. 223 EuGH v. 12.12.2006 – C-374/04, ECLI:EU:C:2006:773 – ACT Group Litigation. 224 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544 – Cadbury Schweppes. 225 EuGH v. 14.12.2006 – C-170/05, ECLI:EU:C:2006:783 – Denkavit Internationaal. 226 EuGH v. 13.12.2005 – C-446/03, ECLI:EU:C:2005:763 – Marks & Spencer. 227 EuGH v. 15.5.2008 – C-414/06, ECLI:EU:C:2008:278 – Lidl Belgium. 228 EuGH v. 25.2.2010 – C-337/08, ECLI:EU:C:2010:89 – X Holding. 229 EuGH v. 21.2.2013 – C-123/11, ECLI:EU:C:2013:84 – A Oy. 230 EuGH v. 7.11.2013 – C-322/11, ECLI:EU:C:2013:716 – K. 231 EuGH v. 17.7.2014 – C-48/13, ECLI:EU:C:2014:2087 – Nordea Bank Danmark. 232 EuGH v. 3.2.2015  – C-172/13, ECLI:EU:C:2015:50  – Kommission/Vereinigtes Königreich. Dazu ausführlich CFE ECJ Task Force, ET 2016, 87 (87 ff.), und E. Pinetz/K. Spies, EC Tax Rev. 2015, 309 (309 ff.). 233 EuGH v. 17.12.2015 – C-388/14, ECLI:EU:C:2015:829 – Timac Agro Deutschland GmbH. 234 BFH v. 22.2.2017 – I R 2/15. 235 VwGH v. 29.3.2017 – Ro 2015/15/0004. 236 Für eine Analyse dieser Judikatur von BFH und VwGH siehe z.B. J. Fuchs, ÖStZ 2017/871, 619 (619 ff.). 237 Dazu allgemein etwa M. Lang, ET 2014, 530 (530 ff.), und konkret im Hinblick auf Timac Agro z.B. W. Niemann/P. Dodos, DStR 2016, 1057 (1057 ff.) (Timac Agro stelle keine Abkehr von der Finalitätsrechtsprechung des EuGH dar); F. Schiefer, IStR 2016, 74 (79  f.)

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gemeinsamen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage bis zur Einigung auf eine Konsolidierung einen grenzüberschreitenden Verlustausgleich mit späterer Nach­ besteuerung vorzusehen, ein durchaus willkommener „Befreiungsschlag“238. Auch hinsichtlich der in du Saillant239 und N240 judizierten zins- und sicherheitsleistungsfreien Aufschubmöglichkeit einer Wegzugssteuer bis zur tatsächlichen Realisierung im Privatvermögen natürlicher Personen wurde vom EuGH für Gesellschaften zunächst in National Grid Indus241 im Hinblick auf Zins- und Sicherheitsleistung und die Berücksichtigung nachträglicher Wertminderungen zurückgerudert und schließlich in DMC242 und Verder LabTec243 sogar eine Staffelung der Wegzugssteuerzahlung in fünf bzw. zehn Jahresraten als verhältnismäßig angesehen, was sich nunmehr auch in Art. 5 ATAD widerspiegelt. Zuletzt hat der EuGH auch in völliger Kehrtwende judiziert, dass er dieser neuen Judikaturlinie nicht nur für natürliche Personen mit Betriebsvermögen folgt, sondern auch angedeutet, dass er sie womöglich auch auf das Privatvermögen ausdehnen wird244. Wenn also ein Mitgliedstaat seinerzeit progressiv auf du Saillant und N reagiert und eine binnenmarktfreundliche Aufschubmöglichkeit der Wegzugs- bzw. Entstrickungssteuer bis zur tatsächlichen Realisierung der stillen Reserven vorgesehen hat, ist ihm nunmehr ein Zurückrudern (zumindest im Bereich des Betriebsvermögens) nicht nur grundfreiheitsrechtlich möglich, sondern liegt im Lichte des Schutzes des eigenen Besteuerungssubstrats auch nahe245 und ist ab dem Jahr 2020 körperschaftsteuerrechtlich sogar verpflichtend (Art. 5 ATAD). Gleichermaßen zu Gunsten der mitgliedstaatlichen Fiskalinteressen verlief auch die prin(nach Timac Agro müsse kritisch hinterfragt werden, ob die Marks & Spencer-Ausnahme bei verbundenen Kapitalgesellschaften weiterhin Gültigkeit besitzt); A. Benecke/W. Staats, IStR 2016, 74 (81  ff.) (Spannungsverhältnis zu den weiteren EuGH-Urteilen zu finalen Verlusten, die allesamt trotz fehlender Vergleichbarkeit der Sachverhalte i.S. einer symmetrischen Nichterfassung von Auslandsgewinnen und -verlusten dennoch eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit unterstellt haben); A. Schnitger, IStR 2016, 72 (72 ff.) (unklar, ob mit den in Timac Agro entwickelten Grundsätzen nicht auch die Verpflichtung zur Berücksichtigung finaler Verluste durch eine grenzüberschreitende Organschaft nach Marks & Spencer faktisch aufgegeben wurde); F. Schumacher, IStR 2016, 473 (473 ff.) (ausgehend von Timac Agro bleibe für die Verlustberücksichtigung von gebietsfremden Tochterkapitalgesellschaften kein Raum mehr). Siehe zusammenfassend z.B. auch D. Eisendle, ISR 2016, 37 (37 ff.). 238 Siehe Art. 42 des Vorschlags für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, COM(2016)685 (25.10.2016). 239 EuGH v. 11.3.2004 – C-9/02, ECLI:EU:C:2004:138 – Hughes de Lasteyrie du Saillant. 240 EuGH v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 – N. 241 EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10, ECLI:EU:C:2011:785 – National Grid Indus. 242 EuGH v. 23.1.2014  – C-164/12, ECLI:EU:C:2014:20  – DMC Beteiligungsgesellschaft mbH. Kritisch dazu z.B. die CFE ECJ Task Force, ET 2015, 111 (111 ff.). 243 EuGH v. 21.5.2015 – C-657/13, ECLI:EU:C:2015:331 – Verder LabTec. 244 EuGH v. 21.12.2016 – C-503/14, ECLI:EU:C:2016:979 – Kommission/Portugal Rn. 52 ff. 245 So die Situation in Österreich, wo im Wesentlichen für das Betriebsvermögen (§ 6 Ziff. 6 EStG) das ursprüngliche, mit dem AbgÄG 2004 (BGBl. I 2004/180) geschaffene Aufschubsystem („Nichtfestsetzungskonzept“) im Lichte von DMC und Verder LabTec mit dem AbgÄG 2015 (BGBl. I 2015/163) durch ein Ratenzahlungssystem (sieben Jahresraten für die stillen Reserven des Anlagevermögens, zwei Jahresraten für jene des Umlaufvermögens) ersetzt hat (siehe auch ErlRV 896 BlgNR 25. GP, 4 ff.).

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zipielle – wenngleich nicht uferlose, sondern auf „Künstlichkeit“ abstellende – Akzeptanz von Missbrauchsüberlegungen und der Bekämpfung von Steueroasen, wie sie sich in der Entwicklung von Lankhorst-Hohorst246 über Cadbury Schweppes247 bis SGI248 und Felixstowe Dock249 manifestiert. In die gleiche Kerbe schlägt auch die „Wiederbelebung“ der Kohärenzrechtfertigung, die sich etwa in der Entwicklung von Bachmann250 über Manninen251 zu K252 abbildet. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Gemeinsam ist ihnen das schrittweise „Beschneiden“ – oder Anpassen – der ökonomischen Funktion der Grundfreiheiten zu Gunsten der nationalen Steuersouveränität, wenngleich nicht übersehen werden darf, dass der EuGH in anderen Bereichen den Schutz der Steuerpflichtigen durchaus nuanciert und ausgebaut hat253. Im Schrifttum wird bereits gemutmaßt, ob möglicherweise „die Finanzkrise und die damit einhergehende Marktskepsis auch in der Grundfreiheitsjudikatur ihre Spuren“ hinterlassen254. Es wäre jedenfalls nicht überraschend, wenn gerade hier das BEPS-Projekt der OECD die Mitgliedstaaten dazu veranlassen würde, die Existenz eines neuen, durch die Ergebnisse des BEPS-Projektes geschaffenen „internationalen Standards“ als Rechtfertigungsgrund für diskriminierende, aber BEPS-induzierte Maßnahmen vorzubringen. Ob und inwieweit der EuGH die BEPS-Ergebnisse als rechtfertigenden „internationalen Standard“ akzeptieren wird, lässt sich noch nicht absehen255. Dass aber gewisse Friktionen zwischen den Marktfreiheiten einerseits und den Ergebnissen des BEPS-Projektes entstehen werden, steht zu vermuten256. Lässt sich etwa Art.  7 ATAD zur Hinzurechnungsbesteuerung zur Gänze mit der Judikatur in Cadbury Schweppes257 vereinbaren? Würde eine Koppelung steuerlicher Präferenzen an die lokale Wertschöpfung (z.B. inländische Forschung) der unionsweiten Betrachtung des 246 EuGH v. 12.12.2002 – C-324/00, ECLI:EU:C:2002:749 – Lankhorst-Hohorst. 247 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544 – Cadbury Schweppes. 248 EuGH v. 21.1.2010 – C-311/08, ECLI:EU:C:2010:26 – SGI. 249 EuGH v. 1.4.2014 – C-80/12, ECLI:EU:C:2014:200 – Felixstowe Dock and Railway Company Ltd. 250 EuGH v. 28.1.1992 – C-204/90, ECLI:EU:C:1992:35 – Bachmann. 251 EuGH v. 7.9.2004 – C-319/02, ECLI:EU:C:2004:484 – Manninen. 252 EuGH v. 7.11.2013 – C-322/11, ECLI:EU:C:2013:716 – K. 253 Siehe etwa im Hinblick auf die Erweiterung der Schumacker-Judikatur durch EuGH v. 9.2.2017  – C-283/15, ECLI:EU:C:2017:102  – X, bzw. zur Klarstellung des Verhältnisses zwischen (binnenmarktbegrenzter) Niederlassungsfreiheit und (weltweiter) Kapitalverkehrsfreiheit zusammenfassend EuGH v. 24.11.2016 – C-464/14, ECLI:EU:C:2016:896 – SECIL, und dazu z.B. CFE ECJ Task Force, ET 2017, 163 (163 ff.). 254 J. Englisch, IStR 2014, 561 (563). 255 Den Rückgriff auf das BEPS-Projekt und internationale Bestrebungen als Rechtfertigung eines möglichen Verfassungsverstoßes (konkret: der deutschen Zinsschranke) ablehnend BFH v. 14.10.2015 – I R 20/15 Rz. 56. 256 Siehe für einen Überblick zu möglichen Konfliktpunkten zwischen dem BEPS-Projekt und Unionsrecht z.B. M. Kreienbaum, IStR 2014, 721 (721 ff.). Siehe umgekehrt auch die Kritik an der bisherigen Rechtsprechung, die den internationalen Kampf gegen Steuervermeidung und aggressive Steuergestaltung behindern würde, L. Faulhaber, Minnesota Law Review 2017, 1641 ff. 257 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544 – Cadbury Schweppes.

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EuGH in Laboratoires Fournier258 entsprechen? Ist die von der OECD erwogene abkommensrechtliche „Limitation-on-Benefits“-Klausel259 tatsächlich durch das Urteil in ACT Group Litigation260 gedeckt?261 Hätte die Einführung einer „Savings Clause“, wonach der Ansässigkeitsstaat bei Verrechnungspreiskorrekturen womöglich nicht mehr an die Fremdvergleichsschranke des Art. 9 Abs. 1 OECD-MA gebunden wäre262, Rückwirkungen auf das Urteil in SGI?263 Allerdings hat der EuGH zuletzt in Eqiom264 und Deister Holding und Juhler Holding265 – unbeeindruckt von diesen BEPS-Folge­ entwicklungen – seine relativ hohen Prüfungsstandards für Anti-Missbrauchsnormen aufrechterhalten und nicht nur darauf abgestellt, ob es um „rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktionen“ geht, die zu dem Zweck errichtet wurden, „ungerechtfertigt einen Steuervorteil zu nutzen“, sondern auch eine Reihe von Anwendungsgarantien bestätigt, etwa dass eine allgemeine Missbrauchsvermutung den unionsrechtlichen Vorgaben nicht genügt. Demgegenüber scheint der auch in der ATAD zum Ausdruck kommende Gedanke einer Vermeidung der doppelten Verlustverwertung aber bereits erste Spuren bei der möglichen Auslegung der Rechtfertigungsgründe hinterlassen zu haben.266 Die Kommission und die Mitgliedstaaten werden sich mit der Grundfreiheitskonformität der BEPS Maßnahmen vertieft auseinandersetzen müssen, und zwar sowohl bei nationalen als auch völkerrechtlichen Maßnahmen als auch im Hinblick auf die Maßnahmen in Umsetzung der ATAD267. Darüber hinaus setzt die Kommission in der jüngeren Vergangenheit ganz aktiv das Beihilferecht gem. Art. 107 f. AEUV ein, um begünstigende nationale Steuervorschrif-

258 EuGH v. 10.3.2005 – C-39/04 – Laboratoires Fournier, Slg 2005, I-2057. 259 Siehe OECD, Preventing the Granting of Treaty Benefits in Inappropriate Circumstances, Action 6 – 2015 Final Report, OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project (2015), 21 ff. 260 EuGH v. 12.12.2006 – C-374/04, ECLI:EU:C:2006:773 – ACT Group Litigation. 261 Kritisch wohl die Kommission „Taxation: Commission asks the Netherlands to amend the Limitation on Benefits clause in the Dutch-Japanese Tax Treaty for the Avoidance of Double Taxation“ im Fact Sheet „November infringements package: key decisions“, MEMO/15/6006 (19.11.2015). 262 Siehe OECD, Preventing the Granting of Treaty Benefits in Inappropriate Circumstances, Action 6 – 2015 Final Report, OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project (2015), 86 ff., und dazu ausführlich G. Kofler, Intertax 2016, 574 (586 ff.). 263 EuGH v. 21.1.2010 – C-311/08, ECLI:EU:C:2010:26 – SGI. 264 EuGH v. 7.9.2017 – C-6/16, ECLI:EU:C:2017:641 – Eqiom SAS. 265 EuGH v. 20.12.2017 – C-504/16 und C-613/16, ECLI:EU:C:2017:1009 – Deister Holding und Juhler Holding. 266 Siehe die Schlussanträge GA Campos Sánchez-Bordona v. 21.2.2018  – C-28/17, ECLI:EU:C:2018:86 – NN A/S, mit dem Vorschlag, im Lichte der jüngeren Entwicklungen und insbesondere von ATAD I und II die Vermeidung der doppelten Verlustverwertung als eigenständigen Rechtfertigungsgrund anzuerkennen. 267 Siehe z.B. die Bedenken der EFTA Surveillance Authority im Hinblick auf die norwegische Zinsschranke in der Entscheidung 086/16/COL (4.5.2016), und allgemein zum Verhältnis zwischen Primär- und Sekundärrecht im direkten Steuerrecht siehe ausführlich G. Kofler in FS Rödler, 2010, S. 433 (433 ff.).

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Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Europäischen Steuerrechts

ten und „Rulings“ der Mitgliedstaaten vor den Vorhang zu zerren268. Hier hat vor allem die Entscheidung des EuGH in World Duty Free Group269 zur spanischen Firmenwertabschreibung deutlich gemacht, dass sich das Beihilferecht als „Kehrseite“ der Grundfreiheiten darstellen kann und an das Kriterium der Selektivität einer nationalen Maßnahme bisweilen nur geringe Anforderungen gestellt werden270. Das Beihilfeverbot ist zugleich vielfach ein Spiegelbild des politischen Themas des unfairen oder schädlichen Steuerwettbewerbs, in dem sich speziell die Code of Conduct-Gruppe zunehmend als treibende Kraft erweist271. Diese Beispiele verdeutlichen zugleich auch die zunehmende Interaktion zwischen OECD und EU und die wechselseitige Berücksichtigung steuerpolitischer Zielsetzungen, die solcherart „verdoppelt“ auf das nationale Recht einwirken. Es verwundert daher nicht, dass mittlerweile auch die Frage im Raum steht, ob „BEPS-Themen“ (z.B. doppelte Nichtbesteuerung aufgrund von Qualifikationskonflikten) auch beihilfenrechtliche Relevanz haben können272.

V. Ausblick Der Fokus der internationalen und europäischen Steuerrechtsentwicklung lag in der Vergangenheit vielfach auf den steuerpolitischen und rechtswissenschaftlichen Aspekten praktischer Probleme, aber auch auf grundsätzlicheren Reformfragen (z.B. der divergierenden Behandlung von Eigen- und Fremdkapital im Steuerrecht273, einer modernen Konzernbesteuerung274, dem Trend zur territorialen Besteuerung von Un-

268 Siehe insbesondere Rz.  169  ff. der Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 AEUV, ABl. EU C 262/1 (19.7.2016), und DG Competition Working Paper on State Aid and Tax Rulings (3.6.2016). 269 EuGH v. 21.12.2016 – C-20/15 P und C-21/15 P, ECLI:EU:C:2016:981 – World Duty Free Group, Banco Santander and Santusa Holding; dazu etwa CFE ECJ Task Force, ET 2017, 354 (354 ff.). 270 Siehe dazu auch die Beiträge von F. Ph. Sutter und R. Ismer in diesem Band. 271 Dazu ausführlich M. F. Nouwen, Intertax 2017, 138 (138 ff.). 272 Dies bejahend P. Rossi-Maccanico, Fiscal Aid, Tax Competition, and BEPS, 75 Tax Notes Int’l 857 (857 ff.) (Sept. 8, 2014), und dazu kritisch R. Luja, EU State Aid Rules and Their Limits, 76 Tax Notes Int’l 453 (453 ff.) (Oct. 27, 2014). Ausführlich zuletzt C. Marchgraber, Double (Non-)Taxation and EU Law (Kluwer Law International, 2018) 340 ff. Hinzuweisen ist konkret insbesondere auf das Beihilfeverfahren in der Sache McDonald’s, in dem die Kommission die in einem Steuervorbescheid bestätigte Auslegung des DBA Luxemburg-USA durch die luxemburgischen Steuerbehörden hinterfragt, wonach eine Zuordnung von Lizenzeinkünften zu einer in den USA belegenen Betriebsstätte (und eine korrespondierende Befreiung in Luxemburg) vorgenommen wurde, was letztlich zu einer Nichterfassung dieser Lizenzeinkünfte geführt hat (Verfahren SA.38945; siehe auch ABl. EU C 258/11 [15.7.2016], Rz. 26 ff.). 273 Umfassend zuletzt auch W. Schön, BIT 2012, 490 (490 ff.); W. Schön in W. Schön (Hrsg.), Eigenkaptial und Fremdkapital  – Steuerrecht  – Gesellschaftsrecht  – Rechtsvergleich  – Rechtspolitik, MPI Series in Tax Law and Public Finance Band 3, 2013, S. 1 (1 ff.). 274 Siehe für Deutschland z.B. IFSt-Arbeitsgruppe, Einführung einer modernen Gruppenbesteuerung – Ein Reformvorschlag –, IFSt Schrift 471 (2011), und für Österreich die Ver-

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ternehmensgewinnen275). Eine Durchsicht der international koordinierten Entwicklungen auf OECD- und EU-Ebene der vergangenen Jahre zeigt hier zunächst nur die unglaubliche Schlagzahl der Anpassungen speziell im Hinblick auf (vermeintlich) aggressive Steuerplanung und steuerliche Transparenz. Zugleich liegt aber – abgesehen vielleicht von den Überlegungen zu einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage – wohl kein Vorschlag „auf dem Tisch“, der eine grundsätzliche Systemänderung brächte; gleichsam hat sich die OECD in ihren BEPS-Überlegungen auch nicht auf eine Neuorientierung etwa der Unternehmensbesteuerung auf eine am Bestimmungsland ausgerichtete Körperschaftsteuer in Abhängigkeit von der Ansässigkeit der Leistungsempfänger bzw Kunden („Destination-Based Corporate Tax“)276 verständigt, sondern lediglich zahlreiche Facetten der traditionellen Besteuerungskonzepte modifiziert und nachgeschärft. In diesem Bereich des verstärkten „Kampfes gegen Steuerumgehung und Steuerbetrug“ und damit einer Fokussierung auf den Fiskalaspekt des Binnenmarktes ist auch die große „Entwicklungslinie“ des Europäischen Steuerrechts der letzten Jahre – und wohl auch der nahen Zukunft – zu sehen. Auch die Rechtsprechung des EuGH lässt durchaus Tendenzen erkennen, gewonnene Integrationsfortschritte aufzuweichen und den Interessen der Mitgliedstaaten durch eine Neugewichtung der grundfreiheitsrechtlichen Rechtfertigungsgründe entgegenzukommen. „Wo bleiben die Visionen?“277, was ist die „Zukunft des Internationalen Steuerrechts“?278 und ist der „Spuk des Europäischen Steuerrechts bald vorbei?“279 Diese Fragen sind wohl in einigen Bereichen durch das BEPS-Projekt der OECD und das in seinem „Fahrwasser“ geschaffene Unionsrecht vorweggenommen, die Weichen sind insofern gestellt und werden die nationale Gesetzgebung, Wissenschaft, Rechtsprechung und Beratungspraxis noch etliche Jahre beschäftigen. Vor ­allem der absehbare „Binnenmarkt für Steuerinformationen“ wird wohl auch Rückwirkungen auf das materielle Steuerrecht haben, etwa ob und inwieweit eine divergierende Besteuerung unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichtiger (z.B. im Hinblick auf die Progression oder das subjektive Nettoprinzip) noch sinnvoll ist, eine begünstigte, schedulare Erfassung von „mobilen“ Einkünften noch mit Steuerwettbewerbsüberlegungen gerechtfertigt werden kann, etc. In anderen Bereichen  – etwa der ­gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage oder einer Neuordnung der Besteuerung im Lichte der digitalisierten Wirtschaft – bedarf es dieser Weichenstellung für die Zukunft des Europäischen Steuerrechts noch. handlungen des Österreichischen Juristentages zum Konzernsteuerrech, 18. ÖJT Band IV/1 und IV/2 (Manz Wien, 2013). 275 Siehe zuletzt auch den Wechsel der USA zur Befreiung ausländischer Dividenden aus qualifizierten Beteiligungen § 245A IRC i.d.F. des Tax Cuts and Jobs Act of 2017 (TCJA), 131 Stat. 2054, und allgemein zu diesem Trend G. Kofler, BIT 2012, 77 (77 ff.). 276 Siehe z.B. M. Devereux/R. de la Feria, Designing and implementing a destination-based corporate tax, Oxford University Centre for Business Taxation WP 14/07 (2014); siehe dazu auch den Schlussbericht der Commission Expert Group on Taxation of the Digital Economy, Report (28.5.2014) 50. 277 M. Lang, IStR 2013, 365 (365 ff.); siehe zur „Tax Science Fiction“ auch M. Lang, IStR 2013, 624 (624 ff.). 278 W. Schön, StuW 2012, 213 (213 ff.). 279 G. Kofler in W. Schön/C. Heber (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Steuerrechts, 2015, S. 1 (1 ff.).

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … C. II.

Entwicklungslinien der Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern Von Juliane Kokott

Inhaltsübersicht I. Kompetenz des EuGH im Steuerrecht II. Grundfreiheiten und die Rechtfertigung ihrer Beschränkungen 1. Diskriminierungsfreie Beschränkungen im Steuerrecht? 2. Prüfung der Vergleichbarkeit 3. Rechtfertigungsgründe für die ­Beschränkung von Grundfreiheiten im Steuerrecht a) Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis b) Bekämpfung von Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten und Betrug im Steuerrecht c) Kohärenz d) Typisierungsbefugnis des Gesetz­ gebers im Steuerrecht

III. Zuständigkeitsgrenzen der Union bei der Durchsetzung des Beihilfeverbots (Art. 107 f. AEUV) 1. Sinn und Zweck des Verbots fiskalischer Beihilfen 2. Voraussetzungen, insbesondere „­Selektivität“ a) Beihilfe durch Steuer(vor)bescheide b) Gesetzliche Beihilfen 3. Zwischenstaatlichkeitsklausel 4. Probleme bei den Rechtsfolgen a) Abstimmung mit den Grundfreiheiten b) Rechtssicherheit und Vertrauensschutz 5. Fazit zum Beihilfeverbot IV. Zusammenfassung der Entwicklungslinien

100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland – aber der EuGH trat erst ab 1967, also vor gut 50 Jahren, ins Bild. Zwar war zu diesem Zeitpunkt der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft/EWGV bereits neun Jahre in Kraft. Aber Zweifel zur Vereinbarkeit des Ratifikationsgesetzes mit dem Grundgesetz hatten den BFH bis 1967 von Vorlagen abgehalten. In seiner Vorlage vom 25. April 1967 setzte sich der BFH über diese Zweifel hinweg und befasste den EuGH mit einer Vorlage zu Agrarabschöpfungen. Im Jahre 1967 hatte die Zahl der gerichtlichen Verfahren in Fällen, in denen es entscheidend auf Gemeinschaftsrecht ankam, bereits in einem außerordentlichen Umfang zugenommen. Ihre Entscheidung sei nunmehr vordringlich geworden, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Gültigkeit des Ratifikationsgesetzes lag aber nicht vor. Daher hielt der BFH am 25. April 1967 eine Entscheidung für notwendig, ob er die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit teilte. Nach Ausführungen zu der auch auf Gemeinschaftsebene verwirklichten Gewaltenteilung 735

Juliane Kokott

wies der BFH diese Zweifel zurück1. Diese Vorlage mit verfassungsrechtlicher Dimension war der Beginn einer äußerst fruchtbaren Kooperation zwischen dem Bundesfinanzhof und dem Gerichtshof der Europäischen Union. Bis Dezember 2017 zählen wir 318 Vorlagen, zum harmonisierten indirekten Steuerrecht, aber auch zum direkten Steuerrecht, das ja an sich nicht zur Kompetenz der Union gehört.

I. Kompetenz des EuGH im Steuerrecht Die Regelung der direkten Steuern als solche fällt zwar nicht in die Zuständigkeit der Union. Gleichwohl liegt es auf der Hand, dass Steuern, besonders wenn sie mittelbar oder unmittelbar diskriminieren, gegen die Grundfreiheiten verstoßen und den Binnenmarkt beeinträchtigen können. Obwohl die Verträge die Union also nicht speziell zur Regelung der direkten Steuern ermächtigen, gilt insoweit keine Bereichsausnahme. Nationale Regelungen zu den direkten Steuern müssen daher das Unionsrecht beachten. Vorgaben machen insbesondere die Grundfreiheiten und das Beihilfeverbot. Beides stellt den Gerichtshof vor Herausforderungen: –– Eine unbegrenzte Anwendung der Grundfreiheiten im Steuerrecht hätte zur Folge haben können, dass die Steuerpflichtigen die Orte, wo sie ihre Gewinne besteuern und ihre Verluste geltend machen, frei wählen können. Gewinne hätten frei innerhalb der Union in Niedrigsteuerländer, Verluste in Hochsteuerländer transferiert werden können. Dem entgegenzutreten war nicht einfach. Denn die Grundfreiheiten enthalten keine spezifischen, für das Steuerrecht passenden Rechtfertigungsgründe für Beschränkungen. Der Gerichtshof hat aber, insbes. seit 20052, vor allem den Rechtfertigungsgrund der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Steuerhoheit entwickelt. –– Unvereinbar mit dem Binnenmarkt sind zwar nur Beihilfen, „die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen… soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen“. Beide Voraussetzungen, die sog. Selektivität und die Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels, wurden aber in der Vergangenheit weit ausgelegt, sodass hier ein gegenwärtig ähnliches Problem entstanden ist wie früher im Hinblick auf die Grundfreiheiten: Wie weit können nämlich Kommission und Gerichtshof bei der Schaffung eines fairen Steuerwettbewerbs mit Hilfe des Beihilfeverbots gehen? Nach welchen Kriterien bemessen sich die Grenzen ihrer Befugnisse? Sowohl bei den Entwicklungslinien der Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern aus der Perspektive der Grundfreiheiten als auch aus derjenigen des Beihilferechts muss die rechte Balance zwischen Missbrauchsbekämpfung auf der einen Seite und den Geboten der Rechtssicherheit auf der anderen gefunden werden. Bloß geht es im Bereich der Grundfreiheiten um Missbräuche der Steuerpflichtigen, während es im Beihilferecht um den Missbrauch des Steuerrechts zu wettbewerbswidrigen 1 BFH v. 25.4.1967 – VII 198/63. 2 EuGH v. 13.12.2004 – C-446/03 – Marks & Spencer.

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Die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern

Zwecken, also Missbrauch seitens der Mitgliedstaaten geht, der sich allerdings zu Lasten der Steuerpflichtigen auswirken kann, die die verbotenen, d.h. missbräuchlichen Fiskalbeihilfen zurückzahlen müssen. Im Folgenden gehe ich zunächst auf die Entwicklungslinien zu den Grundfreiheiten und zur Rechtfertigung ihrer Beschränkungen ein (II.). Dann behandele ich die noch ungeklärten, aber doch notwendigen Zuständigkeitsgrenzen der Union bei der Durchsetzung des Beihilfeverbots (III.). Während der Gerichtshof der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten bei den Grundfreiheiten durch Zurückhaltung auf Tatbestands(dazu II.1.) und Rechtfertigungsebene (dazu II.2.) Rechnung trägt, herrscht bislang, jedenfalls bei der Kommission, eine eher weite Auslegung des Beihilfebegriffs und Beihilfeverbots vor. Die Grundfreiheiten und das Beihilfeverbot sind aber wertungskonsistent auszulegen. Dazu sollen die folgenden Ausführungen beitragen.

II. Grundfreiheiten und die Rechtfertigung ihrer Beschränkungen Dass der Gerichtshof die Steuersouveränität der Mitgliedstaaten achtet, zeigt sich sowohl beim Diskriminierungsbegriff auf der Tatbestandsebene als auch auf der Ebene der Rechtfertigungsgründe. 1. Diskriminierungsfreie Beschränkungen im Steuerrecht? Nach dem weiten Beschränkungsbegriff des Gerichtshofs ist „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen“ (Dassonville-Formel)3. Es reicht, dass eine Maßnahme die Ausübung einer Grundfreiheit weniger attraktiv macht4. Das setzt keine Ungleichbehandlung voraus, sondern erfasst auch Regelungen, die unterschiedslos für rein interne und für grenzüberschreitende Konstellationen gelten5. Für das Steuerrecht hätte die konsequente Anwendung des Konzepts diskriminierungsfreier Beschränkungen allerdings äußerst weitgehende Folgen6. Steuern stellen per se Beschränkungen dar. Jede Besteuerung, und sei sie noch so gering, macht die Ausübung der Grundfreiheiten weniger attraktiv. Ein vom Merkmal der Diskriminierung abstrahierender Beschränkungsbegriff höbe daher alle Abgaben auf den Prüfstand des Unionsrechts. Der Gerichtshof müsste womöglich die Verhältnismäßigkeit der Steuersätze prüfen7. Theoretisch wären die Mitgliedstaaten in jedem Ein3 EuGH v. 11.7.1974 – C-8/74 – Dassonville Rz. 5; v. 17.3.2016 – C-472/14 – Canadian Oil Rz. 43; v. 23.12.2015 – C-333/14 – Scotch Whisky Rz. 31. 4 EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10 – National Grid Rz. 36 ff. 5 EuGH v. 25.7.1991 – C-76/90 – Jäger Rz. 12; v. 31.3.1993 – C-19/92 – Kraus Rz. 32. 6 S.a. SA Bobek v. 14.12.2017 zu EuGH v. 13.4.2018  – C-382/16  – Hornbach-Baumarkt Rz. 28 ff. (34 ff.). 7 SA Kokott v. 21.12.2011 zu EuGH v. 18.10.2012 – C-498/10 – X Rz. 28; SA Kokott v. 5.9.13 zu EuGH v. 5.2.2014 – C-385/12 – Hervis Rz. 82 ff.

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zelfall gehalten darzulegen, dass ihre Abgaben dem Grunde und der Höhe nach gerechtfertigt sind8. Steuererhebung bedarf aber nicht in jedem Einzelfalle der Rechtfertigung und richterlicher Kontrolle, sondern ist grundsätzlich erlaubt. Ein anderer Ansatz würde die Kompetenzaufteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, nach der grundsätzlich keine Kompetenz der Union im Bereich der direkten Steuern vorgesehen ist, in ihr Gegenteil verkehren. Eine Kontrolle jedweder steuerlicher Beschränkungen durch den Gerichtshof beeinträchtigt daher die primärrechtlich verankerte Steuersouveränität der Mitgliedstaaten9. Diese Steuersouveränität bestätigen zahlreiche Bestimmungen des AEUV zur Gesetzgebung in der Union, die für den Bereich des Steuerrechts erhöhte formelle Voraussetzungen vorsehen10. Diese dürfen nicht durch die Rechtsprechung überspielt werden, im Bereich der Grundfreiheiten ebenso wenig wie im Beihilferecht (s.u.). Nach hier vertretener Auffassung kommt eine unzulässige Beschränkung durch eine nicht diskriminierende Abgabe daher allenfalls in Betracht, wenn sie prohibitive Wirkung entfaltet, also ihrer Natur nach einem Betätigungsverbot gleich kommt (sog. Erdrosselungssteuer)11. Denn wenn ein entsprechendes diskriminierungsfreies Verbot bestimmter Tätigkeiten an den Grundfreiheiten zu messen ist, dann muss das auch für ein faktisches Verbot in Form einer prohibitiven Steuer gelten. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs kann zumindest dahin gedeutet werden, dass er, soweit ersichtlich, keine Verstöße ohne das Vorliegen wenigstens mittelbarer Diskriminierungen festgestellt hat. Einige Urteile legen sogar nahe, dass diskriminierungsfreie steuerliche Beschränkungen den Verbotstatbestand nicht erfüllen12. Zwar 8 Ebenso SA Bobek v. 14.12.2017 zu EuGH v. 13.4.2018 – C-382/16 – Hornbach-Baumarkt Rz. 44 und 89. 9 Vgl. SA Kokott v. 21.12.2011 zu EuGH v. 21.12.2011 – C-498/10 – X Rz. 28; SA Kokott v. 5.9.13 zu EuGH v. 5.2.2014 – C-385/12 – Hervis Rz. 83 f.; SA Kokott v. 22.1.2015 zu EuGH v. 10.6.2015 – C-686/13 – X AB Rz. 38 ff. 10 Siehe zur Binnenmarktgesetzgebung Art.  114 Abs.  2 und Art.  115, zur Industriepolitik Art. 173 Abs. 3 Unterabs. 2, zur Umweltpolitik Art. 192 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und zur Energiepolitik Art. 194 Abs. 3 AEUV. 11 EuGH v. 11.6.2015 – C-98/14 – Berlington Hungary Rz. 41. S.a. Kokott/Ost, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, EuZW 2011, 496 (499); SA Kokott v. 28.10.2004 zu EuGH v. 17.2.2005 – C-134/03 – Viacom Outdoor Rz. 62 f. Ähnlicher Ansatz außerhalb des Steuerrechts SA Kokott v. 14.12.2006 zu EuGH v. 4.6.2009 – C-142/05 – Mickelsson und Roos. 12 Mindestens so lesbar EuGH v. 17.2.2005 – C-134/03 – Viacom Outdoor Rz. 37 f. mit SA Kokott v. 28.10.2004 Rz. 60 ff.; v. 8.9.2005 – C-544/03 – Mobistar Rz. 31-34. Ähnlich J. Englisch, Taxation of Cross-Border Dividends and EC Fundamental Freedoms, Intertax 2010, S. 197 (202 f.); vgl. a. S. Douma, Non-discriminatory Tax Obstacles, ecTAXREVIEW 2012, 67  ff.; schwierig interpretierbar ist in diesem Kontext EuGH v. 28.2.2008  – C-293/06  – Deutsche Shell: faktische Diskriminierung durch Nichtberücksichtigung des Währungsverlustes? Im Sinne einer Diskriminierung interpretiert es S. Douma, Non-discriminatory Tax Obstacles, ecTAXREVIEW 2012, 67 (81 f.); R. Szudoczky, The Sources of EU Law and Their Relationships: Lessons for the Field of Taxation, 2014, S.  334  ff. (343, 358  ff.): Im Steuerrecht fallen nur Diskriminierungen in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten.

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Die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern

verweist der Gerichtshof auch in Steuerrechtsfällen auf seine Rechtsprechung zu nicht diskriminierenden Beschränkungen. Die Betrachtung der konkret entschiedenen Fälle bestätigt aber, dass regelmäßig faktische oder mittelbare Diskriminierungen Voraussetzung für die Annahme von „Beschränkungen“ sind13. Auch hat der Gerichtshof ausdrücklich judiziert, dass die Dienstleistungsfreiheit keine Maßnahmen erfasst, „deren einzige Wirkung es ist, zusätzliche Kosten für die betreffende Leistung zu verursachen, und die die Erbringung von Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten in gleicher Weise wie deren Erbringung innerhalb eines einzigen Mitgliedstaats berühren“14. Klar positioniert hat sich die Rechtsprechung zur Frage der konsequenten Anwendung oder Nichtanwendung des Konzepts diskriminierungsfreier Beschränkungen im Steuerrecht jedoch noch nicht. Jedenfalls lässt der Gerichtshof m.E. aber schon bei der Auslegung des Tatbestandes eines Verstoßes gegen die Grundfreiheiten Sensibilität gegenüber der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten erkennen. Nachdem soeben festgestellt wurde, dass im Steuerrecht Verstöße gegen die Grundfreiheiten zumindest faktische oder mittelbare Diskriminierungen enthalten, mag es befremden, dass ich weiterhin den Terminus der „Beschränkung“ von Grundfreiheiten verwende. Der Vertragstext legt eine derartige Terminologie jedoch nahe. Nur die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist als Diskriminierungsverbot formuliert, während alle anderen Grundfreiheiten „Beschränkungen“ verbieten. Entsprechend verwendet auch der Gerichtshof den Begriff Beschränkung oft auf zwei Ebenen: als Oberbegriff für Diskriminierungen und für diskriminierungsfreie Beschränkungen15. 13 EuGH v. 15.5.1997  – C-250/95  – Futura Participations Rz.  24 und 26; v. 22.10.2014  – C-344/13 – Blanco – und 367/13 Rz. 26 (30); v. 9.11.2006 – C-433/04 – Kommission/Belgien Rz. 28-31; v. 20.10.2011 – C-284/09 – Kommission/Deutschland Rz. 94; v. 12.6.2003 – C-234/01 – Gerritse Rz. 55. S. Douma, Non-discriminatory Tax Obstacles, ecTAXREVIEW 2012, 67 (81); ebenso schon GA Geelhoed, SA v. 29.6.2006 zu EuGH v. 13.3.2007  – C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation Rz. 48: Der Begriff der unterschiedslos geltenden Beschränkungen der Freizügigkeit kann nicht sinnvoll auf das Steuerrecht übertragen werden. Vielmehr stelle sich die Frage, ob die nationale Maßnahme im Bereich der direkten Steuern mittelbar oder unmittelbar diskriminierend sei. Vgl. a. EuGH v. 28.10.2004 – C-387/01 – Weigel Rz. 55, s.a. Rz. 53 mit SA Tizzano v. 3.7.2003 Rz. 36; SA Geelhoed v. 23.2.2006 zu EuGH v. 12.12.2006 – C-374/04 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation Rz. 36: Bei näherer Betrachtung im Bereich der direkten Besteuerung kein Unterschied zwischen der Formulierung „Beschränkung“ und „Diskriminierung“. M. Lang in FS Spindler, 2011, S. 297 (300). S. aber EuGH v. 28.2.2008 – C-293/06 – Deutsche Shell, das als Fall einer diskriminierungsfreien Beschränkung im Steuerrecht gewertet werden kann. S.a. F. Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, 2011, S.  346, der unter der Überschrift „Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote“ schreibt: „Es sind also nationale Regeln unzulässig, die In- und Auslandssachverhalte prima facie zwar rechtlich gleich behandeln, aber grenzüberschreitende Betätigungen faktisch gegenüber der innerstaatlichen Tätigkeit erschweren.“ Zur Frage, ob dies eine Anwendung der Keck-Rspr. sein kann s. J. Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, 2018, S. 129 ff. 14 EuGH v. 8.9.2005 – C-544/03 – Mobistar Rz. 31; s.a. EuGH v. 10.6.2015 – C-686/13 – X Rz. 32: Abstellen auf ungünstigere Behandlung. 15 Vgl. z.B. EuGH v. 26.4.2012  – C-456/10  – ANETT Rz.  32  ff.; v. 2.12.2010  – C-108/09  – Ker-Optika Rz. 47 ff.

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2. Prüfung der Vergleichbarkeit Bei Ungleichbehandlungen ist zunächst die Vergleichbarkeit der rein internen und der potentiell diskriminierten grenzüberschreitenden Konstellation zu prüfen. Zwar gibt es im internationalen Steuerrecht und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Formel, wonach Gebietsansässige und Gebietsfremde grundsätzlich nicht vergleichbar sind16. Davon gibt es aber viele Ausnahmen und nicht ohne Weiteres einleuchtende Abgrenzungen: Warum sollen z.B. nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aus- und inländische Töchter gebietsansässiger Unternehmen vergleichbar sein17, aus- und inländische Betriebsstätten dagegen nicht18 – beides im Hinblick auf das Ziel der Vermeidung der Doppelbesteuerung? Dabei ist die Bejahung oder Verneinung der Vergleichbarkeit keine banale Frage, da sie über die Prüfungsintensität, die Darlegungs- und Beweislast entscheidet. Lehnt der Gerichtshof die Vergleichbarkeit beispielsweise inländischer und ausländischer Betriebstätten ab, so endet die Prüfung hier. Die ausländischen Betriebsstätten können ohne Weiteres einer nachteiligeren Behandlung unterworfen werden. Geht man hingegen von einer Vergleichbarkeit beispielweise in- und ausländischer Tochterunternehmen aus, so muss die unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt werden, und zwar von den Staaten. Die Steuerpflichtigen haben die Darlegungslast für die Ungleichbehandlung. Bei Annahme einer Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte tragen die Staaten dagegen die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen einer der im Folgenden zu erörternden Rechtfertigungsgründe, wobei der Kanon der Rechtfertigungsgründe allerdings nicht abgeschlossen ist. Es ist also grundfreiheitsfreundlicher und demnach günstiger für die Steuerpflichtigen, keine hohen Anforderungen an die Vergleichbarkeit zu stellen. Nur bei evident Unvergleichbarem sollte die Prüfung der Grundfreiheiten daher ohne Weiteres schon auf dieser Stufe enden. Die mitgliedstaatenfreundliche Vergleichbarkeitsprüfung sollte m.E. daher nur zur Ausscheidung von Evidenzfällen dienen19. 3. Rechtfertigungsgründe für die Beschränkung von Grundfreiheiten ­im ­Steuerrecht Die Besteuerung als solche bedarf also keiner Rechtfertigung, grundsätzlich auch nicht ihre Höhe. Ob und in welchem Maße die Staaten besteuern, können sie vielmehr im Rahmen ihrer Steuerhoheit grundsätzlich frei entscheiden soweit sie dabei nicht diskriminieren. U.U. dürfen sie sogar rein inländische und grenzüberschreitende Sachverhalte unterschiedlich behandeln, und zwar weil diese zuweilen nach der Rechtsprechung schon gar nicht vergleichbar sind oder wenn dafür eine Rechtferti16 Statt vieler EuGH v. 22.12.2008 – C-282/07 – Truck Center Rz. 38 m.w.N. 17 EuGH v. 21.12.2016  – C-593/14  – Masco Denmark Rz.  29  ff., 31. Nach SA Bobek v. 14.12.2017 zu EuGH v. 13.4.2018 – C-382/16 – Hornbach-Baumarkt Rz. 60 ff. sind in- und ausländische Tochtergesellschaften dagegen nicht vergleichbar. 18 EuGH v. 17.12.2015 – C-388/14 – Timac Agro Rz. 27 und 64: keine Vergleichbarkeit inund ausländischer Betriebstätten. 19 S.a. J. Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, 2018, S. 135.

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gung eingreift. Der Gerichtshof hat eine Reihe von Rechtfertigungsgründen speziell für das Steuerrecht entwickelt. Neben der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse steht gegenwärtig die Missbrauchsbekämpfung im Vordergrund. a) Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis Die Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis liegt letztlich allen Rechtfertigungsgründen im Steuerrecht der Union zu Grunde. Es geht um den Schutz der Besteuerungsbefugnisse der Mitgliedstaaten unter Wahrung der fortbestehenden Autonomie ihrer Steuerrechtsordnungen. Auch weitere spezielle Rechtfertigungsgründe, wie wir sie aus dem innerstaatlichen Steuerrecht kennen, namentlich die Bekämpfung von Missbrauch und Betrug, lassen sich letztlich auf den Schutz, die Wahrung und die Durchsetzung der Besteuerungsbefugnisse zurückführen. aa) Schutz der Steuerhoheit Maßnahmen zur Wahrung einer angemessenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse können Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten rechtfertigen20. Der hinter dieser Formel stehende Rechtfertigungsgrund ist die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten, die der Gerichtshof ausdrücklich achtet. (1) Anerkennung der Autonomie der Steuerrechtsordnungen Gleich eingangs ist in diesem Kontext die Entwicklungslinie der Rechtsprechung zu den direkten Steuern zu erwähnen, wonach der Gerichtshof der Autonomie der Steuerrechtsordnungen der Mitgliedstaaten zunehmend ausdrücklich Respekt zollt21. Das hat drei Folgen: Erstens garantiert der Vertrag einem Unionsbürger nicht, dass die Verlagerung seiner Tätigkeiten in einen anderen Mitgliedstaat als denjenigen, in dem er bis dahin gewohnt hat, hinsichtlich der Besteuerung neutral ist. Eben so wenig garantiert die Niederlassungsfreiheit einer Gesellschaft, dass die Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes steuerneutral ist. Aufgrund der Unterschiede im Steuerrecht der Mitgliedstaaten kann eine solche Verlagerung für die Steuerpflichtigen vielmehr je nach Einzelfall Vor- oder auch Nachteile haben22.

20 S.u. und SA Bobek v. 14.12.2017 zu EuGH v. 13.4.2018 – C-382/16 – Hornbach-Baumarkt Rz. 21 und 95 ff. 21 EuGH v. 12.2.2009 – C-67/08 – Block Rz. 31; v. 1.12.2011 – C-253/09 – Kommission/Ungarn Rz. 83; ausführlich SA Kokott v. 12.5.2016 zu EuGH v. 21.12.2016 – C-593/14 – Masco Denmark Rz. 19 ff. 22 EuGH v. 12.7.2005 – C-403/03 – Schempp Rz. 45; v. 29.4.2004 – C-387/01 – Weigl Rz. 55; v. 15.7.2004 – C-365/02 – Lindfors Rz. 34.; v. 29.11.2011 – C-371/10 – National Grid Indus Rz. 62.

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Zweitens erfassen die Grundfreiheiten im direkten Steuerrecht keine Beeinträchtigungen, die bloße Folgen der parallelen Fortexistenz der unterschiedlichen Steuerrechtsordnungen sind23. Weder verpflichten die Grundfreiheiten die Mitgliedstaaten, ihr eigenes Steuersystem an die unterschiedlichen Besteuerungssysteme der anderen Mitgliedstaaten anzupassen24, noch müssen sie grundsätzlich Belastungen ausgleichen, die sich aus der Ausübung der Besteuerungsbefugnisse eines anderen Mitgliedstaates oder eines Drittstaates ergeben25. Diesen Grundsatz hält der Gerichtshof allerdings nicht immer streng durch26. Drittens könnte es aufgrund des Autonomieprinzips weder ein Doppelbesteuerungsverbot27, noch an sich ein Gebot einmaliger Verlustberücksichtigung28 geben, seien die Verluste nun „final“ oder nicht. Das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten setzt ein Steuersystem als Referenzrahmen voraus29. Die Feststellung der „Finalität“ der Verluste erfordert zudem rechtliche und faktische Ermittlungen in anderen Mitgliedstaaten und führt dazu, dass das nationale Steuerrecht in Abhängigkeit vom Steuerrecht jeweils mitbetroffener anderer Mitgliedstaaten, womöglich auch vom Gebaren der Steuerpflichtigen gilt. Im Übrigen können sich als Kehrseite der Medaille aus dem Nebeneinander der verschiedenen Rechtsordnungen auch Vorteile für die 23 EuGH v. 14.4.2016 – C-522/14 – Sparkasse Allgäu Rz. 24 f.; SA Geelhoed v. 29.6.2006 zu EuGH v. 13.3.2007 – C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation Rz. 40. 24 EuGH v. 10.6.2015  – C-686/13  – X Rz.  33  f.; v. 12.9.2009  – C-67/08  – Block Rz.  31; v. 15.4.2010 – C-96/08 – CIBA Rz. 28. Ausführlich EuGH v. 23.10.2008 – C-157/07 – Krankenheim Ruhesitz am Wannsee Rz.  49  ff.; v. 12.12.2006  – C374/04  – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation Rz. 52 und v. 18.7.2007 – C-231/05 – Oy AA Rz. 52 sowie v. 29.11.2011 – C-371/10 – National Grid Indus Rz. 62; v. 28.2.2008 – C-293/06 – Deutsche Shell Rz. 43; v. 1.12.2011 – C-253/09 – Kommission/Ungarn Rz. 83; v. 6.12.2007 – C-298/05 – Columbus Container Services Rz. 51; v. 12.2.2009 – C-67/08 – Block Rz. 31; v. 10.6.2015 – C-686/13 – X AB Rz. 33; v. 14.4.2016 – C-522/14 – Sparkasse Allgäu Rz. 31. 25 EuGH v. 8.12.2011 – C-157/10 – Banco Bilbao Rz. 39; v. 29.11.2011 – C-371/10 – National Grid Indus Rz. 62. 26 EuGH v. 21.12.2016 – C-593/14 – Masco Danmark – mit abw. SA Kokott v. 12.5.2016. 27 Urteile v. 1.12.2011  – C-253/09  – Kommission/Ungarn Rz.  83 m.w.N.; v. 21.11.2013  – C-310/12 – X Rz. 29. 28 SA Kokott v. 23.10.2013 zu EuGH v. 3.2.2015 – C-172/13 – Kommission/Großbritannien und Nordirland; SA Kokott v. 19.7.2012 zu EuGH v. 21.2.2013 – C-123/11 – A Oy Rz. 48 ff.; ebenso SA Mengozzi v. 21.3.2013 zu EuGH v. 7.11.2013 – C-322/11 – K Rz. 58 ff. S.a. EuGH v. 10.6.2015 – C-686/13 – X AB Rz. 33 f., s. aber EuGH v. 12.6.2018 – C-650/16 – Bevola Rz. 57 ff. 29 So schon J. Kokott in M. Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 1 ff. (9 f.); J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 297 ff.; dezidiert W. Schön in: Schön/Heber (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Steuerrechts, 2015, S.  121; SA Geel­hoed v. 29.6.2006 zu EuGH v. 13.3.2007 – C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation Rz. 50 ff.; SA Geelhoed v. 6.4.2006 zu EuGH v. 14.11.2006 – C-513/04 – Kerckheart Morres Rz. 38; SA Geelhoed v. 6.4.2006 zu EuGH v. 6.12.2006 – C-446/04 – Test Claimants in the FII Group Litigation Rz.  45; SA Geelhoed v. 23.2.2006 zu EuGH v. 12.12.2006 – C-374/04 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation Rz. 55. S.a. EuGH v. 14.11.2006 – C-513/04 – Kerckheart Morres Rz. 20 ff.; v. 10.2.2011 – C-436/08 und 437/08 – Haribo Rz. 170.

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grenzüberschreitend Wirtschaftenden ergeben30. Das ist ja gerade der internationale Nährboden für den großangesagten und notwendigen Kampf gegen die künstliche Reduzierung der Besteuerungsgrundlagen und der Verlagerung der Gewinne in Niedrigsteuerländer (kurz BEPS): Die mangelnde internationale Abstimmung führt zu „doppelter“ Nichtbesteuerung und ist nicht zielführend, noch nicht einmal immer für die Unternehmen31. Relativiert ist die Autonomie der Steuerrechtsordnungen in der Union aber in Bezug auf ein im Diskriminierungsverbot wurzelndes Verbot der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung von Dividenden32 (genauer ein Gebot der Berücksichtigung einer ausländischen Körperschaftsteuervorbelastung von Dividenden), durch sekundärrechtliche Doppelbesteuerungsverbote in bestimmten Bereichen sowie schließlich noch dadurch, dass der Gerichtshof aus Gründen der Verhältnismäßigkeit die Berücksichtigung finaler Verluste fordert33, allerdings mittlerweile unter faktisch kaum erfüllbaren Voraussetzungen34. (2) Schutz der ausgewogenen Steuerhoheit als „Mutter“ spezieller ­Rechtfertigungsgründe Das Ziel der Wahrung einer ausgewogenen Steuerhoheit zwischen den Mitgliedstaaten der Union berechtigt die Staaten insbesondere dazu, Verhaltensweisen zu verhindern, die ihr Recht auf Ausübung der Steuerhoheit für Tätigkeiten, die in ihrem Hoheitsgebiet ausgeführt werden, gefährden35. Darüber hinaus dürfen sie ausgewogen auch solche Tätigkeiten besteuern, die nicht in ihrem Hoheitsgebiet durchgeführt werden, für die es jedoch anerkannte Anknüpfungen gibt, wie beispielsweise in Be30 Vgl. SA Geelhoed v. 23.2.2006 zu EuGH v. 12.12.2006 – C-374/04 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation Rz. 38. 31 Vgl. im Gespräch: Tim Cook, der Vorstandsvorsitzende von Apple „Wir sind der größte Steuerzahler der Welt“, FAZ v. 14.10.2017, S. 19: „… haben wir sehr versucht, auf eine umfassende Steuerreform auf internationaler Ebene zu dringen …“. 32 EuGH v. 7.9.2004  – C-319/02  – Manninen. Vgl. a. J. Englisch in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S.  294  f.; kritisch ders., Dividendenbesteuerung, 2005, S. 300; ders., Taxation of Cross-Border Dividends and EC Fundamental Freedoms, Intertax 2010, S. 197 (208 ff. und 214). 33 EuGH v. 13.12.2005 – C-446/03 – Marcs & Spencer Rz. 55 f.; v. 17.12.2015 – C-388/14 – Timac Agro Rz. 53; v. 21.2.2013 – C-123/11 – A Oy, anders SA Kokott v. 19.7.2012 in derselben Sache. Vgl. a. J. Hey in FS Gosch, 2016, S. 161 ff. 34 EuGH v. 3.2.2015  – C-172/13  – Kommission/Vereinigtes Königreich; v. 17.12.2015  – C-388/14 – Timac Agro. Kritik auch beim BFH, der die EuGH-Rspr. zu den finalen Verlusten als aufgegeben verabschiedet: BFH v. 22.2.2017 – I R 2/15 Rz. 36 ff. 35 EuGH v. 6.9.2012 – C-18/11 – Philips Electronics Rz. 26; v. 22.12.2010 – C-287/10 – Tankreederei; v. 4.12.2008 – C-330/07 – Jobra Rz. 32 f.; v. 25.10.2012 – C-387/11 – Kommission/Belgien Rz.  76; v. 8.11.2007  – C-379/05  – Amurta Rz.  58; v. 29.3.2007  – C-347/04  – Rewe Zentralfinanz Rz.  42; v. 10.5.2012  – C-338/11 bis 347/11  – Santander Asset Management Rz. 47; v. 18.7.2007 – C-231/05 – Oy AA Rz. 54; v. 18.6.2009 – C-303/07 – Aberdeen Property Fininvest Alpha Rz. 66; v. 29.11.2011 – C-371/10 – National Grid Indus Rz. 46 ff.

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zug auf die Tätigkeit ausländischer Betriebsstätten eines inländischen Unternehmens. Im Übrigen ist die „Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis“ sozusagen die Mutter der speziellen Rechtfertigungsgründe, die alle dem übergeordneten Schutz der Steuerhoheit dienen. Diese spezifischen Rechtfer­ tigungsgründe sind größtenteils auch in den nationalen Rechtsordnungen anerkannt, wie die Bekämpfung von Missbrauch, Umgehung, Hinterziehung und Betrug. Besondere Ausprägungen im Unionsrecht hat allerdings die Kohärenz mit ihrem Subprinzip der Symmetrie von Gewinn- und Verlustberücksichtigung36 gefunden. Letzteres ist naturgemäß nur im zwischenstaatlichen Bereich anwendbar. Das Kohärenzprinzip, auf das ich noch zurückkomme, ist zwar Ausdruck des Gleichheitssatzes, da danach ein Steuerpflichtiger nicht einseitig einen Vorteil beanspruchen kann, ohne einen damit unmittelbar verbundenen Nachteil zu tragen37. In seiner Ausgestaltung als Symmetriegrundsatz „rechtfertigt“ es aber insbesondere die Verweigerung des Verlustabzugs bei mangelndem oder nicht ausgeübtem Besteuerungsrecht und dient somit auch dem Schutz des Steuersubstrats. Ebenfalls erklärbar im Kontext des Symmetriegrundsatzes und des Schutzes des Steuersubstrats ist die im Folgenden erörterte Wegzugsbesteuerung. bb) Wegzugsbesteuerung Die Wegzugsbesteuerung steht für eine interessante Entwicklungslinie in der Rechtsordnung der Union. Einiges Aufsehen erregte 2004 das Urteil „de Lasteyrie de Saillant“ des Gerichtshofs, in dem er die Wegzugsbesteuerung Frankreichs für unvereinbar mit den Grundfreiheiten erklärte38. Zwölf Jahre später, seit 2016, schreibt nun die ATAD-I-Richtlinie, also die Richtlinie mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken39 die Wegzugsbesteuerung vor. Entsprechend hatte Frankreich seine Wegzugsbesteuerung mit Vorbeugung gegen Steuerumgehung und -flucht gerechtfertigt und darauf beruhte auch das Urteil40. Trotz dieser beiden Ansätze – Titel der Richtlinie und Argumentation Frankreichs im de-Lasteyrie-Fall – ist auch die Wegzugsbesteuerung vor allem Ausdruck der Aufteilung der Besteuerungshoheit nach dem Territorialitätsprinzip41. Allgemein gefasst bedeutet Wegzugsbesteuerung den letztmöglichen steuerlichen Zugriff, wenn Wirtschaftsgüter den Jurisdiktionsbereich eines Staates verlassen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass viele stille Reserven erst durch günstige nationale Abschreibungsregelungen (mithin eine bisher unterlassene Besteuerung) entste36 Dazu J. Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, 2018, S. 257 ff. 37 EuGH v. 28.1.1992 – C-204/90 – Bachmann Rz. 22 ff.; v. 27.11.2008 – C-418/07 – Papillon Rz. 43 f.; v. 30.6.2016 – C-123/15 – Feilen Rz. 30 ff. 38 EuGH v. 11.3.2004  – C-9/02  – de Lasteyrie du Saillant; s.a. EuGH v. 29.11.2011  – C-371/10 – National Grid Indus Rz. 84. 39 Art. 6 ATAD-I-Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12.7.2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarktes. 40 EuGH v. 11.3.2004 – C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant Rz. 93. 41 EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10 – National Grid Indus Rz. 58 f.

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hen, ist dieses Ansinnen durchaus verständlich. Ein solches Verlassen geschieht normalerweise beim physischen Wegzug aus dem Territorium, kann aber auch anderweitig durch Trennen des Jurisdiktionsbandes erfolgen. Entsprechend bezieht sich Art. 5 der ATAD-I-RL auch weiter auf die „Übertragung von Vermögenswerten und Wegzugsbesteuerung“. Die ATAD-I-Richtlinie mit ihrer Verpflichtung zur Wegzugsbesteuerung steht nun nicht etwa im Widerspruch zur Rechtsprechung des Gerichtshofs. Vielmehr hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung zur Wegzugsbesteuerung, und zwar gestützt auf die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, nach 2004 von Fall zu Fall fortentwickelt42. Danach ist die Wegzugsbesteuerung zulässig sofern gewisse Bedingungen eingehalten werden, die Art.  5 der ATAD-I-Richtlinie nunmehr kodifiziert. Dazu gehört insbesondere das Recht auf Stundung der Besteuerung, wie es der Gerichtshof aus den Grundfreiheiten abgeleitet hat43. Das Beispiel der Wegzugsbesteuerung zeigt sehr gut eine Entwicklungslinie der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten, die der Gerichtshof nicht im Elfenbeinturm, sondern im Kontext der Entwicklung des internationalen Steuerrechts geprägt und die der Unionsgesetzgeber schließlich bestätigt hat. b) Bekämpfung von Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten und Betrug im Steuerrecht Eine ganz ähnliche Entwicklungslinie der Rechtsprechung des EuGH lässt sich anhand der Bekämpfung von Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten und Betrug im Steuerrecht aufzeigen. Zunächst stand Missbrauchs- und Betrugsbekämpfung (zur Abgrenzung aa) als Rechtfertigungsgrund nationaler Maßnahmen ganz im Vordergrund, wobei der Gerichtshof den Begriff des Missbrauchs sehr eng definierte (dazu bb). In neuerer Zeit rückt die unionsrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Bekämpfung von Missbrauch und Betrug in den Vordergrund (dazu cc). aa) Abgrenzung rechtswidrige und rechtmäßige Gestaltungen Der Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten betrifft rechtmäßige Gestaltungen. Der gern verwendete Begriff der Steuerflucht ist hingegen kein Rechtsbegriff, sondern bezeichnet eher und manchmal polemisch unerwünschte rechtmäßige oder rechtswidrige Praktiken. Betrug (darunter fällt auch eine Steuerhinterziehung) schließlich ist rechtswidrig und strafbar. Der Gerichtshof grenzt terminologisch oft nicht genau ab. Das wäre aber wünschenswert, da bei Bekämpfungsmaßnahmen, die die Grundfreiheiten beeinträchtigen, stets zwischen dem Individualinteresse des Steuerpflichtigen an der Anerkennung der für ihn günstigen Gestaltung und dem 42 Vgl. die Entwicklungslinie EuGH v. 11.3.2004  – C-9/02  – de Lasteyrie du Saillant; v. 7.9.2006 – C-470/04 – N; v. 29.11.2011 – C-371/10 – National Grid Indus; v. 21.5.2015 – C-657/13  – Verder Lab Tec; v. 14.9.2017  – C-646/15  – Trustees und v. 23.11.2017  – C-292/16 – A Oy: nur die mangelnde Stundung wird beanstandet. 43 EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10 – National Grid Indus Rz. 75 ff. (86).

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staatlichen Interesse an der Bekämpfung abzuwägen ist. Diese Interessen sind aber je nach vorliegender Fallgruppe unterschiedlich zu bewerten. Das staatliche Interesse an der Bekämpfung rechtswidriger Maßnahmen in Fällen der Steuerhinterziehung fällt dabei stärker ins Gewicht als in Fällen der Missbrauchsabwehr, d.h. wenn es nur um die Bekämpfung formal rechtmäßiger Maßnahmen geht. Zudem muss der Straftatbestand der Steuerhinterziehung nach dem rechtsstaatlichen Gebot „nulla poena sine lege“ klar definiert sein. Der Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten ist dagegen per se schwer zu fassen und nur sehr begrenzt im Vorhinein abstrakt zu definieren. Stets kommt es dabei sehr auf die Umstände des Einzelfalles an. Daher wirft die Bekämpfung von Missbrauch große Probleme auf. bb) Bekämpfung von Missbrauch und Betrug als Rechtfertigungsgrund für nationale Maßnahmen Maßnahmen zur Bekämpfung von Missbrauch und Betrug dienen dem evident legitimen Anliegen des Schutzes des Steueraufkommens der Mitgliedstaaten. Dieser gehört zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die eine Beschränkung der Grundfreiheiten rechtfertigen können44. (1) Missbrauchsbegriff Jedoch legte der Gerichtshof den Missbrauchstatbestand herkömmlicherweise sehr eng aus. Eine nationale Maßnahme, die die Niederlassungsfreiheit beschränkt, konnte danach „gerechtfertigt sein, wenn sie sich speziell auf rein künstliche Gestaltungen bezieht, die darauf ausgerichtet sind, der Anwendung der Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates zu entgehen“45. Hinsichtlich des „darauf ausgerichtet sein“ konnte noch die Frage aufgeworfen werfen, ob der Gerichtshof „Missbrauch“ im direkten Steuerrecht enger definierte als im indirekten Steuerrecht. Im direkten Steuerrecht bezog er sich eher auf Praktiken, „deren einziges Ziel darin besteht, der Steuer zu entgehen“46, wohingegen er im indirekten Steuerrecht oft nur verlangte, dass mit den Umsätzen „im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt“47 wurde. Es ergibt aber keinen Sinn, unterschiedliche Maßstäbe anzulegen. Die Grundfreiheiten, um die es im direkten Steuerrecht geht, sind das Fundament des Binnenmarktes, daher ist insofern der sie begrenzende „Missbrauch“ eng auszulegen. Gleiches gilt aber im Mehrwertsteuerrecht, denn hier steht insbesondere der Grundsatz der Rechtssicherheit in 44 Z.B. EuGH v. 24.11.2016 – C-464/14 – SECIL Rz. 58. 45 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04 – Cadbury Schweppes Rz. 51. 46 EuGH v. 12.9.2006  – C-196/04  – Cadbury Schweppes Rz.  59; v. 3.10.2013  – C-282/12  – Itelcar Rz. 37; v. 5.7.2012 – C-318/10 – SIAT Rz. 50; v. 13.3.2007 – C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation Rz. 82; v. 13.11.2014 – C-112/14 – Kommission/ Vereinigtes Königreich Rz. 27. 47 EuGH v. 21.2.2008 – C-425/06 – Part Services Rz. 44 f. – sehr klar: einziger Zweck ist keine Voraussetzung, „im Wesentlichen“ reicht aus; v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax Rz. 81; v. 17.12.2015  – C-419/14  – WebMindLicences Rz.  36 und 42; v. 22.11.2017  – C-251/16  – Cussens Rz. 52 ff.; s. aber dagegen Rz. 35; s.a. EuGH v. 28.6.2007 – C-73/06 – Pflanzer: differenzierte Prüfung des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit.

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Frage48, der jedenfalls nicht weniger gewichtig als der effektive Schutz der Grundfreiheiten ist. Auch die ATAD-I-Richtlinie differenziert nicht zwischen direktem und indirektem Steuerrecht, sodass ihr einheitlicher – und mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch vereinbarer (s.u.) – Standard der Maßstab ist. Die Richtlinie stellt auf den oder einen der wesentlichen Zwecke der unangemessenen Gestaltung ab49. Dieser nun unionsweit vorgegebene Missbrauchsbegriff muss auch nicht zwingend im Lichte der Grundfreiheiten allzu restriktiv interpretiert werden50. Denn die dynamische Steuerplanung multinationaler Unternehmen und die durch die digitale Wirtschaft eröffneten Möglichkeiten stellen große und neue Herausforderungen im Hinblick auf die Steuersouveränität, die Steuereinkünfte und die Steuerfairness der Staaten untereinander dar. Für einen Konflikt des Missbrauchsbegriffs der ATAD-I-Richtlinie mit den Grundfreiheiten lassen sich auch nicht ohne Weiteres Formulierungen des Gerichtshofs zu einzelstaatlichen Maßnahmen im direkten Steuerrecht heranziehen, die darauf abstellen, dass das einzige Ziel einer missbräuchlichen Praktik in der Steuervermeidung bestehen müsse (s.o.). Zum einen verwendet der Gerichtshof diese Formel nicht durchgängig (s.o.). Zum anderen ist jene Rechtsprechung vor dem Hintergrund der jeweils in Frage stehenden Fallgestaltungen zu betrachten. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass der Gerichthof bei nationalen Missbrauchsbekämpfungsmaßnahmen genauer hinschauen muss. Denn divergierende nationale Missbrauchsvorschriften gefährden den Binnenmarkt und die Grundfreiheiten mehr als ein unionseinheitlicher Missbrauchsbegriff. Erstere unterliegen daher einem strengeren Kontrollmaßstab. Bei dynamischer Anwendung des Beihilfeverbots könnte man unterschiedliche Missbrauchsvorschriften und eine ungleichmäßige Durchsetzung des Missbrauchsverbots in den Mitgliedstaaten sogar als Beihilfe zugunsten derjenigen werten, gegen deren „Missbrauch“ nicht oder nur milder eingeschritten wird51. Diese Problematik ergibt sich bei einem unionsweit einheitlichen Missbrauchsverbot nicht. (2) Missbrauchsverhinderung als Auslegungsprinzip Entsprechend der Innentheorie zum Missbrauch folgt die Nichtanerkennung solcher künstlicher Konstruktionen aus einer teleologischen Auslegung der Niederlassungsfreiheit, die auf gegenseitige reale Durchdringung der Märkte abzielt. Die Missbrauchsbekämpfung ist damit eine Frage der Gesetzesauslegung. Dagegen fordert die 48 Zur Bedeutung rechtsstaatlicher Grundsätze im Mehrwertsteuerrecht EuGH v. 5.12.2017 – C-42/17 – M.A.S. und M.B. („Taricco II“); v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens Rz. 39 ff. Die Problematik zeigt sich gut an EuGH v. 18.12.2014  – C-131/13, C-163/13 und C-164/14 – verb. Rs. Italmoda u.a. 49 Art. 6 ATAD-I-Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12.7.2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarktes. 50 S. aber EuGH v. 8.3.2017 – C-14/16 – Euro Park Service; dazu D. Eisendle, IRS 2017, 157. 51 Vgl. F. Vanistendael, Can EU Tax Law Accommodate a Uniform Anti-Avoidance Concept? in Jochum/Essers et al., Practical Problems in European and International Tax Law, Essays in Honour of Manfred Mössner, 2016, S. 543 ff. (564).

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Außentheorie eigens formulierte Missbrauchstatbestände52. Die Marktdurchdringung auf der Grundlage der Niederlassungsfreiheit setzt herkömmlicherweise eine tatsächliche Ansiedlung im Gegensatz zu rein künstlichen Konstruktionen voraus53. Vor diesem Hintergrund des Verständnisses des „Missbrauchsverbots“ als eines Auslegungsgrundsatzes leuchtet ein, warum es nicht zwingend einer nationalen Umsetzung bedarf, nämlich dann nicht, wenn das vom Steuerpflichtigen missbräuchlich in Anspruch genommene Recht unmittelbar im Unionsrecht begründet und selbst unmittelbar anwendbar ist. In diesem Fall werden nämlich auch die Grenzen dieses Rechts vom Unionsrecht bestimmt. So war es im Fall „Cadbury Schweppes“, der diesen Ansatz für das direkte Steuerrecht begründete. Die Steuerpflichtigen können sich nicht missbräuchlich auf die Grundfreiheiten berufen, um nationale Gesetze unangewendet zu lassen. Schwieriger wird es, wenn das nationale Recht einen Anspruch, z.B. auf Steuerbefreiung, gewährt und dieser nach innerstaatlichem Recht bestehende Anspruch direkt unter Berufung auf das höherrangige Unionsrecht versagt werden soll. In diesen Fällen wird nämlich eine Rechtsposition zu Lasten des Bürgers entwertet. Dies hatte der Gerichtshof im Urteil „Kofoed“ unter Verweis auf die Notwendigkeit zumindest einer „Bestimmung oder eines allgemeinen Grundsatz[es], wonach Rechtsmissbrauch verboten ist, oder andere[r] Vorschriften über Steuerhinterziehung oder -umgehung, die im Einklang mit … der Richtlinie … ausgelegt werden könnten“ abgelehnt. Eine solche Regelung könnte dann im weiteren Sinne als Umsetzungsakt gesehen werden, wodurch die Verwehrung des Vorteils für den Bürger zumindest voraussehbar würde. Die Berufung der Mitgliedstaaten direkt auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot mit dem Ziel, ihr Steuersubstrat zu schützen, ist jedoch problematischer als bestehende innerstaatliche Gesetze, die zur Bekämpfung von Missbrauch Grundfreiheiten einschränken. Denn im ersten Fall kommen zugunsten des Bürgers Erwägungen der Rechtssicherheit und somit der Rechtsstaat ins Spiel, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. cc) Bekämpfung von Missbrauch und Betrug als unionsrechtliche ­Verpflichtung Zwar fokussierte die Rechtsprechung des Gerichtshofs zunächst auf Missbrauchsbekämpfungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten, um die Grundfreiheiten der Steuerpflichtigen und den Binnenmarkt zu schützen. Mittlerweile wird deutlich, dass die Grundfreiheiten i.V.m. der Mobilität und der Digitalisierung der modernen Wirtschaft missbräuchliche Gestaltungen zumindest erleichtern können. Daher trägt die 52 S.a. M. Lang, Rechtsmissbrauch und Gemeinschaftsrecht im Lichte von Halifax und Cadbury Schweppes, SWI 2006, 273 (275 f.); J. Knop, Gesellschaftsstatut und Niederlassungsfreiheit, 2008, S. 181 f.; S. Bergmann, Missbrauch im Anwendungsbereich der Mutter-Tochter-Richtlinie, StuW 2010, 246  ff. (249  f.). Zu Außen- und Innentheorie vgl. T. Franz, Allgemeine Regeln zur Bekämpfung von Steuerumgehung in Deutschland und dem Vereinigten Königreich, 2017, S. 150 ff.; C. Biebinger, Treaty- and Directive-Shopping in den Quellenbesteuerungssystemen europäischer Staaten, 2016, S. 123 ff. 53 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04 – Cadbury Schweppes Rz. 52 ff.

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Union eine Verantwortung, zu ihrer Bekämpfung beizutragen. Zum einen könnte man sich fragen, ob diese Entwicklung darauf beruht, dass die herkömmliche, bisweilen im direkten Steuerrecht verwendete Missbrauchsdefinition („rein künstlich“, „alleiniger Zweck“, s.o.) zu eng war. Zum anderen liegt dies auch daran, dass sowohl von den meisten Mitgliedstaaten, tendenziell von den größeren unter ihnen, als auch auf internationaler Ebene von der Union erwartet wird, dass sie sich effektiv an Maßnahmen zum Schutz der Steuersouveränität, der Steuerfairness und des Steueraufkommens beteiligt54. Schließlich verpflichtet noch Art. 325 AEUV die Union und die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Betrügereien und sonstigen gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen mit Maßnahmen, die abschreckend sind und einen effektiven Schutz bewirken. Das betrifft aber nur die Mehrwertsteuer, an deren Aufkommen die Union über ihre Eigenmittelbeschlüsse partizipiert. Zum Schutz ihrer eigenen finanziellen Interessen gegen Steuerbetrug und sonstige Handlungen verpflichtet der AEUV die Mitgliedstaaten zwar nicht ausdrücklich. Gleichwohl widerspricht die systematische Duldung von Missbrauch oder gar Steuerbetrug mit grenzüberschreitenden Auswirkungen sowohl internationalen Vorgaben der OECD als auch dem Geiste der Union und verzerrt die Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt. dd) Unmittelbare Anwendung des unionsrechtlichen „Missbrauchsverbots“ Allerdings werden die mit der Unbestimmtheit des Missbrauchsbegriffs verbundenen Probleme auf der Ebene des Unionsrechts noch dadurch verschärft, dass vereinzelt – so wie im oben bereits genannten Fall „Kofoed“ – geltend gemacht wird, in einer bestimmten nationalen Rechtsordnung gebe es kein Missbrauchsverbot55. Dann stellt sich die Frage, gleichermaßen im Mehrwertsteuerrecht wie im direkten Steuerrecht, ob unionsrechtliche Missbrauchsbestimmungen im Sekundärrecht der Union oder auch der allgemeine Grundsatz des Unionsrechts, wonach sich der Einzelne nicht missbräuchlich auf Unionsrecht berufen kann, unmittelbar zu Lasten der Steuerpflichtigen wirken. Im Mehrwertsteuerrecht geht der Gerichtshof ohne weiteres von einer unmittelbaren Wirkung des „Missbrauchsverbots“ als allgemeinem Rechtsgrundsatz aus. Er hat jüngst ausdrücklich bestätigt, dass „[d]er Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken … dahin auszulegen [ist], dass er unabhängig von einer nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbar angewandt werden kann“56. Damit stellte der Gerichtshof klar, dass seine zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs entwickelte Rechtsprechung verallgemeinerungsfähig ist: Sie gilt erstens nicht nur bei rechtswidriger Steuerhin54 S.a. J. Kokott, Das Steuerrecht der Union, 2018, S. 41 ff. 55 Die Abwesenheit nationaler Missbrauchsvorschriften war bzw. ist daneben Hintergrund z.B. der Urteile und Verfahren EuGH anhängige Rs. C-299/16  – Z Denmark; C-115/15, C-118/16 und C-119/16 – verb. Rs. N Luxemburg 1 u.a.; C-116/16 und C-117/16 – verb. Rs. T-Denmark u.a.; C-118/16 – X Denmark; C-119/16 – C Denmark I, und im MwStR EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/14 – verb. Rs. Italmoda ua; v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens. 56 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, Tenor Nr. 1.

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terziehung und Betrug57, sondern auch bei Missbrauch. Zweitens hat der Gerichtshof in diesem neueren Mehrwertsteuer-Urteil „Cussens“ auch angedeutet, dass das unionsrechtliche Missbrauchsverbot auch im direkten Steuerecht unmittelbare Wirkung entfalten könnte. Dort hat er nämlich das Urteil „Kofoed“ aus 2007 zum direkten Steuerrecht relativiert. In jenem älteren Urteil hatte der Gerichtshof den Schwerpunkt auf das Vorliegen von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts über Rechtsmissbrauch, Steuerhinterziehung oder Steuerumgehung gelegt, die richtlinienkonform ausgelegt werden können. Danach war es „Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob das dänische Recht eine Bestimmung oder einen allgemeinen Grundsatz kennt, wonach Rechtsmissbrauch verboten ist, oder andere Vorschriften über Steuerhinterziehung oder –umgehung, die im Einklang mit…“ dem Steuerhinterziehungsund Steuerumgehungstatbestand der Fusions-Richtlinie ausgelegt werden können58. Das jüngere Mehrwertsteuerurteil „Cussens“ lässt sich hingegen so lesen, dass der allgemeine Rechtsgrundsatz des „Missbrauchsverbots“ generell unmittelbar wirkt, es sei denn es liegt ein sekundärrechtlicher unionsrechtlicher Missbrauchstatbestand vor. Die genannte Rechtsprechung, die „den Schwerpunkt auf das Vorliegen von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts über Rechtsmissbrauch, Steuerhinterziehung oder Steuerumgehung gelegt [hat], die richtlinienkonform ausgelegt werden können,“ betreffe eine Vorschrift des abgeleiteten Rechts und sei „daher nicht auf den allgemeinen Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken anwendbar“59. Das ist ein ähnlicher Ansatz wie ihn der Gerichtshof in Bezug auf die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte zugrunde zu legen scheint: Sind Richtlinien, also Sekundärrecht im Spiel, kann die unmittelbare Wirkung zu Lasten Privater bezweifelt werden. Wenn aber genau der gleiche Grundsatz als Primärrecht in Frage steht, sei es das Diskriminierungsverbot in der Charta der Grundrechte, sei es das Missbrauchsverbot als allgemeiner Rechtsgrundsatz, scheint die Anwendung zu Lasten Privater als Adressaten der Grundrechte oder des allgemeinen Missbrauchsverbots aus europäischer Sicht unproblematisch zu sein. Bemerkenswert daran ist, dass der Gerichtshof den Grundsatz, dass sich einzelne nicht missbräuchlich auf Unionsrecht berufen können, erweitert. Der Einzelne kann sich auch nicht missbräuchlich auf nationales Recht berufen, welches das Unionsrecht umgesetzt hatte, es sei denn, das umzusetzende Unionsrecht (in der Regel eine Richtlinie) enthält eine spezielle Ermächtigung zur Missbrauchsbekämpfung. Die Existenz einer u.U. nur deklaratorischen Richtlinienvorschrift scheint insofern eine erstaunliche Schutzwirkung zu Gunsten Privater zu zeitigen. ee) Fazit Stets geht es bei der Missbrauchsbekämpfung darum, die rechte Balance zwischen effektiver Besteuerung und der Wahrung der Grundsätze der Bestimmtheit und der 57 Darauf bezog sich noch das Urteil v. 18.12.2014  – C-131/13, C-163/13 und C-164/14  – verb. Rs. Italmoda u.a., Tenor Nr. 2 und Rz. 62. 58 EuGH v. 5.7.2007 – C-321/05 – Kofoed Rz. 46. 59 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens Rz. 38.

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Rechtssicherheit zu wahren. Durch großzügige unmittelbare Anwendbarkeit des unionsrechtlichen „Missbrauchsverbots“ räumt der Gerichtshof einerseits dem legitimen staatlichen Anliegen effektiver Besteuerung großes Gewicht ein; andererseits hält er aber das Gesetzes- und Bestimmtheitsgebot auch zu Lasten der finanziellen Interessen der Union hoch, sofern das innerstaatliche Strafrecht betroffen ist60. Das mag auf den ersten Blick widersprüchlich klingen, zumal die Union und die Mitgliedstaaten gem. Art. 325 AEUV zur Bekämpfung von Betrügereien und sonstigen gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen verpflichtet sind. Der Gerichtshof trägt aber lediglich der besonderen Sensibilität der Mitgliedstaaten im Bereich des Strafrechts Rechnung. Fest steht jedenfalls die Entwicklungslinie, dass der Gerichtshof nicht nur die Grundfreiheiten der Steuerpflichtigen schützt, sondern auch die Bekämpfung von Missbrauch und Betrug nicht nur zulässt, sondern u.U. sogar gebietet. c) Kohärenz aa) Folgerichtigkeit Der Gerichtshof prüft das Gebot der Kohärenz als Schranken-Schranke für Beeinträchtigungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Eine nationale Regelung ist nur dann geeignet, das geltend gemachte Ziel zu erreichen, wenn sie es in kohärenter und systematischer Weise verfolgt61. Insofern ist es gerechtfertigt, die „Kohärenz“ unter den Rechtfertigungsgründen zu prüfen. Im Grunde handelt es sich bei dem Prinzip der Kohärenz aber um keine Rechtsregel, sondern um ein allgemeines Prinzip, wonach jede (Steuer-)Rechtsordnung ein gewisses Maß an Folgerichtigkeit aufweisen muss. Im Steuerrecht muss nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sogar der Gesetzgeber einmal getroffene Belastungsentscheidungen folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umsetzen62. Die beschränkenden Maßnahmen müssen zu denen mit ihnen verfolgten Zielen passen. Dieser Gedanke lag dem schon erwähnten, aber nunmehr nicht mehr aktuellen „de Lasteyrie du Saillant“-Urteil zur Unzulässigkeit einer Wegzugsbesteuerung zu Grunde63. Fehlende Kohärenz kann nicht genannte protektionistische Sekundärziele indizieren64.

60 EuGH v. 5.12.2017 – C-42/17 – M.A.S. und M.B. („Tarico II“). 61 EuGH v. 10.3.2009 – C-169/07 – Hartlauer Rz. 55; in ähnlicher Formulierung findet sich das Kohärenzerfordernis auch schon in früherer Rechtsprechung, s. z.B. EuGH v. 6.3.2007 – C-338/04 – Placanica Rz. 53. 62 Vgl. BVerfGE 117, 1 (31) – Erbschaftsteuer. 63 EuGH v. 11.3.2004 – C-9/02 – Lasteyrie du Saillant Rz. 88 ff. (91). 64 Vgl. N. Petersen, Gesetzgeberische Inkonsistenz als Beweiszeichen, Eine rechtsvergleichende Analyse der Funktion von Konsistenzargumenten in der Rechtsprechung, AöR, Bd. 138 (2013), S. 108-134 (117 ff., 133 f.); s.a. J.H. Ely, Democracy and Distrust, 1981, S. 136 ff.

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bb) Symmetriegrundsatz Im Steuerrecht der Union hat das Kohärenzprinzip eine besondere Ausprägung im Symmetriegrundsatz gefunden. Er steht für die Anwendung des Kohärenzprinzips auf den Zusammenhang der Besteuerung von Gewinnen und der Berücksichtigung von Verlusten65. Beide beruhen auf einer „spiegelbildlichen Logik“66. Die Besteuerungsbefugnis bezieht sich auf positive und negative Einkünfte67. Die Pflicht zur Verlustberücksichtigung und das Recht Gewinne zu besteuern, sind Seiten ein und derselben Medaille und gehören symmetrisch oder spiegelbildlich68 zusammen69. Der Verlustabzug ist nur dem Staat zumutbar, der auch Zugriff auf die entsprechenden Gewinne hat. Das gehört zur ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse und kommt in der Formulierung des Gerichtshofs zum Ausdruck, wonach „sich die Anliegen der steuerlichen Kohärenz und der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis“ decken70. Entsprechend unterliegt der Symmetriegrundsatz auch den gleichen moderaten Einschränkungen durch die Rechtsprechung wie das Autonomieprinzip, das ebenfalls eine Ausprägung der „Mutter“ der Rechtfertigungsgründe, nämlich der Wahrung der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse bzw. des Schutzes der Steuerhoheit ist (s.o.). d) Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers im Steuerrecht Die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers steht nicht im Fokus des Steuerrechts der Union und wurde bislang kaum thematisiert. Vielmehr betont der Gerichtshof gerne, dass Verwaltungsvereinfachung kein Rechtfertigungsgrund für Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten sei71. Dieser Satz steht in einem Spannungsverhältnis zur Typi65 Ähnlich W. Schön in Schön/Heber (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Steuerrechts, 2015, S. 121 (141). 66 Vgl. EuGH v. 30.6.2016 – C-123/15 – Feilen Rz. 33. 67 Vgl. EuGH v. 7.11.2013 – C-322/11 – K Rz. 69; v. 1.12.2012 – C-253/09 – Kommission/ Ungarn Rz. 80; v. 23.10.2008 – 157/07 – Krankenheim Ruhesitz am Wannsee Rz. 42 ff.; v. 21.2.2006 – C-152/03 – Ritter-Coulais Rz. 40; SA Kokott v. 13.3.2014 – C-48/13 – Nordea Bank Rz. 43 (48). 68 Vgl. EuGH v. 10.6.2015 – C-686/13 – X AB Rz. 38; v. 21.1.2010 – C-311/08 – SGI Rz. 60 ff.; v. 29.11.2011 – C-371/10 – National Grid Indus Rz. 58 f. 69 EuGH v. 17.12.2015  – C-388/14  – Timac Agro Rz.  34  ff.; v. 7.11.2013  – C-322/11  – K Rz. 50 f.; v. 17.7.2014 – C-48/13 – SGI Rz. 32 f. Ähnlich W. Schön in Schön/Heber (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Steuerrechts, 2015, S. 121 (143). 70 EuGH v. 29.11.2011  – C-371/10  – National Grid Indus Rz.  80 und SA Kokott hierzu v. 8.9.2011 Rz.  99 sowie v. 13.3.2014  – C-48/13  – Nordea Bank Rz.  43; v. 17.12.2015  – C-388/14 – Timac Agro Rz. 47. S.a. EuGH v. 4.7.2013 – C-350/11 – Argentaa Sparbank Rz. 53 prüft Kohärenz und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse einschließlich Symmetrie als getrennte Rechtfertigungsgründe; v. 7.11.2013 – C-322/11 – K Rz. 50 ff. und 65 ff.; zum Ganzen SA Kokott v. 22.1.2015 zu EuGH v. 10.6.2015 – C-686/13 – X AB Rz. 54 ff. Enges, wenig symmetrisches Verständnis der Kohärenz aber in EuGH v. 28.2.2008  – C-293/06 – Deutsche Shell Rz. 37 ff. 71 EuGH v. 4.3.2004 – C-334/02 – Kommission/Frankreich Rz. 30; v. 7.9.2004 – C-319/02 – Manninen Rz. 54; anders, BVerfG v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348 ff. Rz. 49 f. und wohl J. Englisch in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S. 546.

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sierungsbefugnis des Gesetzgebers. Eine Typisierung kann allerdings auch Erleichterungen für die Steuerpflichtigen bringen. Beispielsweise besteht bei der Besteuerung der EU-Beamten nicht die Möglichkeit, familiäre und betriebliche Aufwendungen in der konkreten Höhe abzuziehen, sondern nur mittels einer Pauschale. Dieser pauschale Abzug erspart den Bediensteten der Union das Sammeln von Belegen und die Erstellung von Steuererklärungen. Vor dem genannten Hintergrund und weil ein Massenfallrecht wie gerade das Steuerrecht nicht ohne Typisierung auskommt, halte ich sie für erörterungswürdig. Die Typisierungsbefugnis ist ein Rechtfertigungsgrund für Gleichheitsverletzungen. Sie bringt unvermeidlich Benachteiligungen atypischer Fälle mit sich, diese werden sogar bewusst in Kauf genommen. Trotz Ablehnung eines Rechtfertigungsgrundes der Verwaltungsvereinfachung per se lässt die Rechtsprechung des Gerichthofs denn auch Ansätze und Verständnis für die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers erkennen. Er gesteht den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu, „legitime Ziele durch die Einführung allgemeiner Vorschriften zu verfolgen, die von den zuständigen Behörden einfach gehandhabt und kontrolliert werden können“72. „Gewisse Ungenauigkeiten“ beeinträchtigen danach nicht notwendiger Weise die Grundfreiheiten, besonders wenn sich Pauschalregelungen zugunsten der Steuerpflichtigen auswirken, indem sie ihnen Verwaltungsaufwand ersparen73. Allerdings dürfen Pauschalregelungen nicht systematisch und nicht übermäßig gegen die Belastungsgleichheit verstoßen74. Die entscheidende Frage in Bezug auf die Anerkennung der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers auch im Unionsrecht ist: Könnte man einem Steuerpflichtigen entgegenhalten, dass die auf ihn anwendbare Regelung Gebietsfremde nicht systematisch benachteilige und seine Schlechterstellung im konkreten Fall nur ein im Rahmen einer zulässigen Typisierung hinzunehmender „Ausrutscher“ sei? Wäre eine solche, nur in isolierten Einzelfällen resultierende Benachteiligung im Rahmen einer Besteuerung, die Gebietsfremde nicht strukturell benachteiligt, unionsrechtskonform75? Dann wäre vollends klar, dass die Typisierungsbefugnis des Steuergesetzgebers im Unionsrecht anerkannt ist76. Auf jeden Fall muss die Typisierungsbefugnis verhältnismäßig ausgeübt werden. Die Vereinfachung für die Verwaltung und für die Steuerpflichtigen muss in rechtem 72 EuGH v. 24.2.2015 – C-512/13 – Sopora Rz. 33, mit ausführlichem SA Kokott v. 13.11.2014 (Rz. 51 ff.). 73 EuGH v. 24.2.2015 – C-512/13 – Sopora Rz. 34. 74 EuGH v. 24.2.2015  – C-512/13  – Sopora, Rz.  33  ff. mit ausführlichem SA Kokott v. 13.11.2014 (Rz.  51  ff., 55); s.a. EuGH v. 29.4.2004  – C-17/01  – Sudholz Rz.  60  ff.; v. 10.7.2008 – C-484/06 – Koninklijke Ahold NV Rz. 39 (Vereinfachungsmaßnahmen im Bereich der MwSt) und v. 19.9.2000 – C-177/99 – Sanofi Rz. 62; zur Unverhältnismäßigkeit einer zu groben Pauschalierung. 75 Das Urteil Sopora könnte man so auslegen, EuGH v. 24.2.2015  – C-512/13  – Sopora Rz. 34 f. 76 Vgl. J. Englisch in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S. 547; J. Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, 2018, S. 264 ff.

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Maße zu den damit verbundenen Benachteiligungen einzelner Steuerpflichtiger stehen. Dieses Kriterium kann nur erfüllt sein, wenn die aus der Typisierung resultierenden Beeinträchtigungen Einzelfälle in dem Sinne bleiben, dass die Vereinfachungsregel in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle zu demselben Ergebnis führt, das auch ohne die Vereinfachung erzielt worden wäre77. Dies entspricht in etwa dem Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, das zudem fordert, dass der Gesetzgeber keinen atypischen Fall als Leitbild wählt, sondern realitätsgerecht den typischen Fall als Maßstab zu Grunde legen muss78. Abschließend kann man wohl sagen, dass auch der Rechtfertigungsgrund der Typisierungsbefugnis jedenfalls im Ansatz eine neuere Entwicklungslinie der Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern ist.

III. Zuständigkeitsgrenzen der Union bei der Durchsetzung des ­Beihilfeverbots (Art. 107 f. AEUV)79 1. Sinn und Zweck des Verbots fiskalischer Beihilfen Das Beihilfeverbot soll ebenso wie die Grundfreiheiten die Märkte offen halten und faire Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt gewährleisten. Es hat aber die umgekehrte Rechtsfolge wie die Grundfreiheiten: Die Grundfreiheiten zielen erst einmal  – bis zum Tätigwerden des Gesetzgebers  – auf Erstreckung der günstigen Behandlung auf die vormals diskriminierte Gruppe. Das Beihilfeverbot dagegen hat als „logische Folge“80 die Beseitigung der Wettbewerbsverzerrung durch Rückforderung der Beihilfe, die privilegierte Behandlung muss also beseitigt werden. Steuerrechtliche Maßnahmen, auch eine Nicht- oder zu niedrige Besteuerung, können Beihilfen darstellen. Denn dadurch kann ein Mitgliedstaat genau das Gleiche erreichen, wie durch die Auszahlung von Subventionen. Dies deutet schon an, wie fiskalische Beihilfen m.E. einzugrenzen sind: Die Erstreckung des Beihilfeverbots auf steuerliche Maßnahmen und insbesondere auf Gesetze soll verhindern, dass bestimmte Unternehmen am Beihilfeverbot vorbei durch steuerliche Maßnahmen privilegiert werden. Dazu dürfen die Staaten ihre Steuersouveränität und ihr Steuerrecht nicht missbrauchen81. 2. Voraussetzungen, insbesondere „Selektivität“ Art.  107 Abs.  1 AEUV enthält die einzelnen Voraussetzungen des Beihilfeverbots. Danach „sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnen77 SA Kokott v. 13.11.2014 zu EuGH v. 24.2.2015 – C-512/13 – Sopora Rz. 51 ff. (55). 78 BVerfG v. 7.4.2015  – 1 BvR 1432/10; v. 7.5.20132  – BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07 Rz. 86 ff. 79 Zum Folgenden auch J. Kokott in DStjG 41 (2018), S. 535 ff. 80 EuGH v. 20.9.2001 – C-390/98 – Banks Rz. 74 m.w.N. 81 SA Kokott v. 9.11.2017 zu EuGH v. 10.4.2018 – C-233/16 – ANGED Rz. 81 f.

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markt vereinbar, soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen“. Der Gerichtshof betont regelmäßig, dass alle die genannten Voraussetzungen erfüllt sein müssen82. De facto geht es bei der Abgrenzung des weit konzipierten Beihilfeverbots, das Beihilfen „gleich welcher Art“ erfasst, aber vor allem um das Merkmal der sog. Selektivität, d.h. dass nur bestimmte Unternehmen oder Unternehmenszweige begünstigt werden. a) Beihilfe durch Steuer(vor)bescheide Das Merkmal der Selektivität wirft bei Einzelbeihilfen durch Steuer(vor)bescheide naturgemäß weniger Probleme auf als bei gesetzlichen Beihilfen. Aktuell greift die Kommission z.B. in den Fällen „Apple/Irland“83 und „Amazon/Luxemburg“84 Steuerbescheide auf, die aufgrund einer steuersparenden Verrechnungspreisgestaltung Beihilfen seien. Maßstab für die Kommission ist dabei der Fremdvergleichsgrundsatz. Wenn man hiergegen einwendet, die europäischen Institutionen könnten sich durch Kontrolle der Verrechnungspreise im Einzelnen zu einer Superfinanzbehörde wandeln, so ist das Gegenargument der Kommission, dass sie nur sog. Ausreißer kontrolliere. In der Tat lässt die Festsetzung von Verrechnungspreisen Spielraum und es gibt auch nicht nur eine einzige Methode, diese zu bestimmen. Vor diesem Hintergrund wird auch eingewendet, dass, da sich die Besteuerung nach nationalem Recht richte, keine Handhabe bestünde, wenn das nationale Recht den Fremdvergleichsgrundsatz nicht vorsehe. Fest steht aber, dass sich die Steuerlast durch Gestaltung der Verrechnungspreise optimieren lässt, sodass im Endeffekt wiederum ähnliche Ergebnisse wie durch Direktzahlungen erreichbar sind. Wenn ein Staat keine alternativen Methoden zur Berechnung der Verrechnungspreise darlegt, sind auch keine anderen Maßstäbe als der auch international anerkannte Fremdvergleichsgrundsatz85 ersichtlich, um diesen Beihilfe-Effekt festzustellen. Gerade im gegenwärtigen Vor-Brexit-Umfeld stellt sich allerdings die Frage, wie strikt eine derartige Beihilfen-Kontrolle ausgeübt werden sollte. Kein schönes Ergebnis wäre die Abwanderung der Investitionen von Unter82 Z.B. EuGH v. 27.6.2017  – C-74/16  – Congrecación de Escuelas Rz.  38; v. 9.11.2017  – C-657/15 P – Viasat Broadcasting Rz. 32. 83 Vgl. EU-Kommission, Pressemitteilung v. 4.10.2017, EU-Kommission verklagt Irland vor dem EuGH wegen Nichtrückforderung illegaler Steuervorteile von Apple. 84 European Commission  – Press release, 4.10.2017, State aid: Commission finds Luxembourg gave illegal tax benefits to Amazon worth around E 250 million. 85 Dazu z.B. EuGH v. 3.3.2007 – C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation Rz. 80 ff. mit SA Geelhoed v. 29.6.2009 Rz. 66 (75, 81); SA Kokott v. 10.9.2010 zu EuGH v. 21.1.2010 – C-311/08 – SGI Rz. 62. S.a. § 1 Abs. 1 AStG; Art. 7 Abs. 2 und 9 OECD Model Convention on Income and on Capital; für die USA 26 US Code § 1.482; H. Schaumburg in FS Joachim Lang, 2010, S. 1099 ff. (1122 ff.). Kritisch zum Fremdvergleichsgrundsatz mit dem Versuch eines alternativen Ansatzes jedoch S.  Greil, Der Fremdvergleichsgrundsatz im Internationalen Steuerrecht – Formelhafte, transaktionsbezogene Gewinnaufteilungsmethode als Alternative –, StuW 2017, 159 ff.; Schreiber/Voget, Internationale Gewinnverlagerung und Publikation länderbezogener Ertragsteuerinformationen, StuW 2017, 145 ff. (147 f.).

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nehmen in das dann unionsrechtsfreie Vereinigte Königreich. Etwas Spielraum, ihre Wirtschaftspolitik und ihre eigene Attraktivität zu gestalten, muss den Mitgliedstaaten auch vor diesem Hintergrund bleiben. Weder kann sich die Kommission also, hält man an einem strikten Beihilfeverbot fest, ganz aus den Steuerbescheiden und Verrechnungspreisen heraushalten, noch kann sie eine engmaschige Kontrolle allzu vieler Steuerbescheide vornehmen. Sie kann nur einzelne herausgreifen. Zwar räumt der Vertrag der Kommission als Hüterin der Verträge Ermessen ein. Dieses Ermessen wirft aber in Bezug auf Fiskalbeihilfen besondere Probleme auf, die aus dem Eingriffscharakter des Steuerrechts folgen. Zudem ist die Kommission sicherlich nicht Hüterin des nationalen Steuerrechts. Vielleicht kann sich die Kommission in Bezug auf die Steuerbescheide und Verrechnungspreise in transparenter Weise auf einige systemrelevante, evidente „Ausreißer“ konzentrieren. Im Bereich der gesetzlichen Beihilfen, auf den ich nunmehr eingehe, scheint dies aber fast unmöglich. b) Gesetzliche Beihilfen Um den Kreis der Begünstigten bei potentiellen gesetzlichen Beihilfen einzugrenzen, verlangt die Rechtsprechung, dass die Begünstigung eine Abweichung vom „normalen“ Besteuerungssystem darstellt, die nicht durch das Wesen oder die allgemeinen Zwecke des Regelwerks, zu dem sie gehört, gerechtfertigt ist86. Dabei führen evident steuerlogische Differenzierungen gar nicht erst zu einem beihilferelevanten Vorteil. Auf dieser Stufe der Prüfung eines Vorteils oder einer Begünstigung können – ähnlich wie im Rahmen der Vergleichbarkeitsprüfung bei den Grundfreiheiten  – Evidenzfälle ausgeschieden werden. Bei der ggf. daran anschließenden Selektivitätsprüfung untersucht der Gerichtshof das nationale Gesetz dann daraufhin, ob der Vorteil von der Gesetzeslogik her gerechtfertigt ist. Diese intensive Befassung mit dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten ist eine Herausforderung und normalerweise nicht die Aufgabe des Gerichtshofs. Daher sollten die europäischen Institutionen hier weitgehend das Verständnis der zur Auslegung des nationalen Rechts berufenen nationalen Gerichte zu Grunde legen. Zudem eröffnet die Wahl des Bezugsrahmens viele Spielräume. Ist z.B. die Möglichkeit des Verlustvortrags mit Genehmigung eine Ausnahme von einem Verbot des Verlustvortrags in bestimmten, missbrauchsanfälligen Konstellationen? Oder ist der Verlustvortrag die Regel, der lediglich in bestimmten Konstellationen einer Genehmigung bedarf? Und ist eine steuerlich günstige Behandlung von Banken die Regel oder ist das eine Abweichung von der Normalbesteuerung aller wirtschaftlich Tätigen?87 Diese Unwägbarkeiten indizieren eine Zurückhaltung der europäischen Institutionen. Wenn das Recht hier keine klaren Maßstäbe bieten kann, können supranationale Gerichte nicht zu Lasten der nationalen Steuerhoheit und der nationalen Gesetzgeber selbst die Maßstäbe setzen. Zudem sollten die Steuerpflichtigen auf die Gesetze vertrauen können. Das gilt umso mehr

86 Z.B. EuGH v. 18.7.2013 – C-6/12 – P Oy Rz. 19 ff. 87 Vgl. EuGH v. 28.6.2018 – C-206/16P – Sanierungsklausel Rz. 76 ff.

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als Steuerrecht Eingriffsrecht ist, das die Steuerpflichtigen zudem empfindlich treffen kann. Daher benötigen sie ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit. Es gibt allerdings eine Kategorie von Gesetzen, bei denen eine solche Zurückhaltung von Kommission und Gerichtshof nicht angemessen, sondern vielmehr ein strikter Prüfmaßstab geboten ist. Das sind Maßnahmen und Gesetze, die an die Staatsangehörigkeit oder eine grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit anknüpfen. Da Beihilfen auf das eigene Territorium und die eigenen Staatsangehörigen begrenzt sein dürfen, geht es hier um Exportbeihilfen in Gestalt der Privilegierung von Investitionen in anderen Mitgliedstaaten. Dadurch werden Vorteile für die eigenen Staatsangehörigen und Unternehmen auf den Märkten anderer Mitgliedstaaten geschaffen und so der Wettbewerb zu Lasten der dort Wirtschaftenden verfälscht. Nach dem WTO-Abkommen über Subventionen und Ausgleichmaßnahmen gelten Subventionen, die von der Ausfuhrleistung abhängig sind, als selektiv88. Es handelt sich dabei offenbar um eine besonders gefährliche, des Protektionismus verdächtige und wettbewerbsschädigende Praktik89. Daher können spezifische Exportsubventionen, und sei es im Wege allgemeiner Gesetze, auch im Unionsrecht das Selektivitätskriterium erfüllen. Sie verstoßen zudem gegen den, allerdings nicht rechtsverbindlichen Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaten von 1998 und ebenso gegen den Grundgedanken des Art. 111 AEUV. Art. 111 AEUV verbietet versteckte steuerliche Subventionen bei der Ausfuhr von Waren und ergänzt das Beihilfeverbot90. Daher subsumieren die Kommission und der Gerichtshof derartige Exportsubventionen zu Recht unter das Beihilfeverbot91. 3. Zwischenstaatlichkeitsklausel Mit dem Binnenmarkt unvereinbar sind des Weiteren gem. Art. 107 AEUV nur Beihilfen, die „den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen,  … soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen“. Diese „Gesamt“-Voraussetzung wurde bislang sehr weit ausgelegt92. Ähnlich wie bei den Grundfreiheiten reichten schon hypothetische Beeinträchtigungen des Handels zwischen den Mitgliedstaaten aus93, dies ist aber nicht in Stein gemeißelt. Ebenso wie bei den Grundfreiheiten gibt es nunmehr Indizien für mehr Zurückhaltung der europäischen Insti88 Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 3 Abkommen der WTO über Subventionen und Ausgleichmaßnahmen. 89 Vgl. a. L. Rubini, The Definition of Subsidy and State Aid, WTO and EC Law in Comparative Perspective, 2009, S. 370. 90 Vgl. a. C. Waldhoff in Calliess/Ruffert, 2016, Art. 111 AEUV Rz. 1. 91 Vgl. EuGH v. 21.12.2016 – C-20/15 und C-21/15 – verb. Rs. World Duty Free u.a.; ähnlich v. 15.11.2011 – verb. Rs. C-106/09 und C-107/09 – Gibraltar Rz. 102 ff.: Begünstigung speziell der off-shore-Unternehmen, d.h. Steuerpflichtiger anderer Mitgliedstaaten, die offshore-­Firmen nach gibraltesischem Recht gründen. Diese steuerlich vorteilhafte Möglichkeit bestand innerhalb der EU sonst nur noch so ähnlich in Zypern. 92 Vgl. z.B. EuGH v. 8.9.2011 – C-78/09 – Paint Graphos Rz. 78 ff. (80). 93 Beginnend mit EuGH v. 17.9.1980 – C-730/79 – Philip Morris Rz. 11 f.; v. 22.11.2001 – C-53/00 Ferring Rz. 21; v. 14.1.2015 – C-518/13 – Eventech Rz. 66 ff. (69 f.). Anders aller-

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tutionen. So betont die Kommission in ihrer Bekanntmachung von 2016, dass „Auswirkungen auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten … nicht bloß hypothetischer Natur sein oder vermutet werden (können). Vielmehr muss auf der Grundlage der vorhersehbaren Auswirkungen der Maßnahmen festgestellt werden, warum die Maßnahme den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht und warum sie Auswirkungen zwischen den Mitgliedstaaten haben könnte“94. Zwar war der Gerichtshof in der Vergangenheit großzügiger95. Wenn er aber bei den Grundfreiheiten als Herz des Binnenmarktes mehr Zurückhaltung zeigt96, so bietet sich das erst recht im Bereich der Fiskalbeihilfen an. Denn insoweit sind die Steuersouveränität, das Budgetrecht der Parlamente und die interne Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten betroffen97. Hinzukommen die rechtsstaatlichen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, die gerade auch im Hinblick auf die Rechtsfolgen Probleme aufwerfen, wie im Folgenden zu zeigen ist. 4. Probleme bei den Rechtsfolgen Schließlich werfen verbotene Fiskalbeihilfen erhebliche Probleme bei den Rechtsfolgen auf. a) Abstimmung mit den Grundfreiheiten Beihilfen sind aufgrund ihrer selektiven Natur Ungleichbehandlungen. Da sie grundsätzlich nur inländischen Empfängern gewährt werden, ist ihre Kehrseite in vielen Fällen eine Benachteiligung ausländischer Unternehmen oder Unternehmensgruppen. Nicht selten kommt daher zugleich eine Verletzung des Beihilfeverbots und der Grundfreiheiten in Betracht. Da die Rechtsfolgen entgegengesetzt sind – Erstreckung der günstigeren Behandlung auf alle vergleichbaren Fälle bei den Grundfreiheiten, Rückforderung der Beihilfe, d.h. Beseitigung der günstigeren Behandlung im Falle einer verbotenen Beihilfe – stellt sich die Frage nach dem Vorrang bei den Rechtsfolgen. Grundsätzlich gebührt dem Beihilfenregime als der spezielleren Regelung Vorrang98. Die Grundfreiheiten gebieten die Vorteilserstreckung nur vorläufig, bis der dings das Spürbarkeitskriterium im Kartellrecht, EuGH v. 13.12.2012 – C-226/11 – Expedia. 94 Nr. 195 der Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe nach Art. 107 Absatz 1 AEUV mit Regelbeispielen für mangelnde Auswirkungen in Nrn. 196 f. 95 S. noch EuGH v. 14.1.2015 – C-518/13 – Eventech Rz. 66 ff. (69): „Die Voraussetzung, wonach die Beihilfe geeignet sein muss, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, hängt daher nicht vom örtlichen oder regionalen Charakter der erbrachten Verkehrsdienste oder von der Größe des betreffenden Tätigkeitsgebiets ab“. 96 Vgl. für die Grundfreiheiten: EuGH v. 13.2.2014 – C-419/12 und C-420/12 – verb. Rs. Crono Service u.a.  – mit SA Kokott v. 26.9.2013 Rz.  26  ff.; für das Vergaberecht: EuGH v. 7.7.2016 – C-214/15 – Pouca de Aguiar Rz. 36 ff. 97 S.a. J. Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, 2018, S. 154. 98 Ebenso R. Szudoczky, The Sources of EU Law and Their Relationships: Lessons for the Field of Taxation, 2014, S. 699 ff. (731 f.); F. Grube, Der Einfluss des unionsrechtlichen Beihilfeverbots auf das deutsche Steuerrecht, 2014, S. 94 f.

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nationale Gesetzgeber tätig geworden ist. Dieser kann frei entscheiden, wie er die Diskriminierung endgültig beseitigt: durch Erstreckung der günstigeren Behandlung auf alle oder durch eine geringer ausfallende Steuervergünstigung für alle Steuerpflichtigen in vergleichbarer Lage oder schließlich durch Abschaffung der Steuervergünstigung. Zudem versteht der Gerichtshof die Rückforderung als „logische Folge“ eines Verstoßes gegen das Beihilfeverbot (s.o.); die Verallgemeinerung der günstigen Behandlung ist dagegen keine „logische“ Folge eines Verstoßes gegen die Grundfreiheiten. Dies liegt daran, dass es im Bereich der Grundfreiheiten ausreichend ist, die Gleichbehandlung für die Zukunft sicherzustellen, da die unterschiedlichen Gruppen nicht zwangsläufig in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen, dessen Verfälschung insbesondere auch in der Vergangenheit ausgeglichen werden muss. Im Gegenteil wählen die nationalen Gesetzgeber oft die sparsamere Methode der Herstellung der gebotenen Gleichheit, indem der Standard allgemein abgesenkt wird. Das ist zulässig, wenn auch aus Sicht der Steuerpflichtigen nicht erwünscht. Im Endeffekt entspricht das dann der Abschaffung der privilegierenden Behandlung im Sinne der Rechtsfolgen bei Verstößen gegen das Beihilfeverbot. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass die Kommission als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Beihilfeverbot eine Erstreckung der günstigen Behandlung in Gestalt einer Nicht- oder niedrigeren Besteuerung ins Spiel gebracht hat99. Das hängt mit den Schwierigkeiten zusammen, die eine Nachbesteuerung mit sich bringt und auf die im Folgenden einzugehen ist. b) Rechtssicherheit und Vertrauensschutz Sollte ein allgemeines Steuergesetz einmal als verbotene Beihilfe zu werten sein, droht im Hinblick auf ihre gebotene Rückforderung eine juristische „Teufelsküche“. Sie beginnt schon mit der Rechtsunsicherheit während der gesamten Dauer des Beihilfeprüfverfahrens vor der Kommission, anschließend vor dem Gericht und ggf. vor dem Gerichtshof. Derweil besteht nach herkömmlicher Doktrin grundsätzlich kein Vertrauensschutz für die Steuerpflichtigen. Jedoch soll die Rückforderung einer Beihilfe die Wettbewerbsbedingungen ohne die Beihilfe wieder herstellen. Die mit dem Beihilfeprüfverfahren verbundene Rechtsunsicherheit soll die Wettbewerbssituation für die betroffenen Unternehmen dagegen nicht verschlechtern100. Das hieße, um mit Generalanwalt Geelhoed zu sprechen: den Teufel durch Beelzebub austreiben101. Ob die Notifizierung der Steuergesetze hiergegen ein probates Mittel ist, lässt sich mit Fug und Recht bezweifeln. Die Kommission kann und will wohl auch kaum jedes Steuergesetz überprüfen. Aber wenn ein Mitgliedstaat nicht alle Steuergesetze notifiziert, besteht die Gefahr fort, dass ein nicht notifiziertes Steuergesetz später als Bei 99 In der mündlichen Verhandlung v. 6.7.2017 in der Rs. ANGED u.a. – C-233/16, C-234/16, C-235/16 und C-237/16. 100 Vgl. J.S.  Pastoriza, The Recovery Obligation and the Protection of Legitimate Expecta­ tions: The Spanish Experience, in: Richelle/Schön/Traversa (Hrsg.), State Aid Law and Business Taxation, 2016, S. 247 ff. (280). 101 SA Geelhoed v. 18.9.2003 zu EuGH v. 29.4.2004 – C-308/01 – Gil Insurance Rz. 75. S.a. J. Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, 2018, S. 170 ff.

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hilfe gewertet wird. Zwar will die Kommission nur „Ausreißer“ in Gestalt von missbräuchlichen Steuergesetzen in Angriff nehmen (s.o.). Aber ist im Vorhinein klar abschätzbar, was der Kommission als ein solcher Ausreißer erscheint? Das katalonische Gesetz über die Abgabe auf große Einzelhandelseinrichtungen102, die deutsche Sanierungsklausel gem. § 8c Abs. 1a KStG103,…? Hinzukommt, dass im Steuerrecht als Eingriffsrecht normalerweise der Gesetzesvorbehalt gilt, auch als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts104. Die Besteuerung bedarf daher grundsätzlich einer präzisen gesetzlichen Grundlage. Ob dafür das Beihilfeverbot der Art. 107 f. AEUV i.V.m. dem Gebot der Rückforderung rechtwidriger Beihilfen ausreicht, darf bezweifelt werden. Art. 16 Abs. 1 VO 2015/1589 regelt zudem ausdrücklich, dass die „Kommission … nicht die Rückforderung der Beihilfe [verlangt], wenn dies gegen einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstoßen würde“105. Die vom Gerichtshof unter engen Voraussetzungen äußerst selten zugelassene Urteilsfolgenbeschränkung auf die Zukunft hilft m.E. auch nicht weiter. Dann würde entgegen der „Logik“ (s.o.) die Beihilfe nicht zurück gefordert, sondern dies liefe auf ein Besteuerungsgebot für die Zukunft hinaus. Das lässt sich kaum mit der Steuersouveränität der Mitgliedstaaten vereinbaren. Eine Alternative wäre vielleicht Vertrauensschutz des Betroffenen auf gesetzliche Entscheidungen und ein entsprechendes Vertragsverletzungsverfahren gegen den Mitgliedstaat, dem abschreckende Sanktionen folgen könnten. Auf diese Weise könnte zwar die Wettbewerbsbeeinträchtigung in der Vergangenheit nicht beseitigt, aber dafür für die Zukunft besser unterbunden werden. So entstünden keine rechtsstaatlichen Probleme des Vertrauensschutzes, insbesondere hinsichtlich des Bestands parlamentarischer Gesetze, und der Rechtssicherheit. Der für die Beihilfe verantwortliche Staat würde sanktioniert und von Wiederholungen abgeschreckt, der dem Gesetz vertrauende Bürger bliebe hingegen verschont. Nach dem gegenwärtigen System können die Mitgliedstaaten hingegen risikolos Beihilfen gewähren. Wenn sie „Pech“ haben und die Kommission den Fall aufgreift, fließt die gewährte Beihilfe lediglich in die Staatskasse zurück. Der eine rechtswidrige Beihilfe gewährende Staat wird doppelt belohnt: Für die Dauer der Beihilfe bis zu ihrer Rückforderung nach Kommis­ sions- und u.U. Gerichtsverfahren sind die Arbeitsplätze und ein entsprechendes Steueraufkommen gesichert. Bei anschließender Rückforderung der rechtswidrigen Beihilfe wird die Staatskasse zusätzlich aufgebessert.

102 Dazu SA Kokott v. 9.11.2017 zu EuGH v. 10.4.2018 – C-233/16 – ANGED u.a. 103 EuG v. 4.2.2016  – T-620/11  – GFKL Financial Services; dazu anhängige Rechtsmittel beim Gerichtshof v. 12.4.2016  – C-203/16 P  – Heitkamp Bauholding und (speziell zu T-620/11) v. 14.4.2017 – C-209/16 P. 104 Dazu J. Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, 2018, S. 20 ff., m.w.N. 105 Artikel 16 VO 2015/1589, Rückforderung von Beihilfen: „(1) In Negativbeschlüssen hinsichtlich rechtswidriger Beihilfen entscheidet die Kommission, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern (im Folgenden „Rückforderungsbeschluss“). Die Kommission verlangt nicht die Rückforderung der Beihilfe, wenn dies gegen einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstoßen würde.“

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5. Fazit zum Beihilfeverbot Die Mitgliedstaaten können geneigt sein, ihr Steuerrecht zur Umgehung des unionsrechtlichen Beihilfeverbots zu missbrauchen. Wie immer, wenn es um die Vermeidung von Missbrauch geht, sei es der Steuerpflichtigen oder der Staaten, gehen damit gravierende Probleme der Rechtssicherheit einher. Zudem muss hier u.U. der Steuerpflichtige die Folgen missbräuchlicher Steuergesetze tragen, auf deren Erlass er keinen Einfluss hatte und deren Anwendung er sich nicht entziehen konnte (Problem der aufgedrängten Beihilfe). Vielmehr müssen die Steuerpflichtigen die Gesetze beachten und sollten daher auch auf deren Geltung vertrauen dürfen. Eine Patentlösung dieses Dilemmas der Durchsetzung des Beihilfeverbots speziell im Steuerrecht und besonders bei gesetzlichen Beihilfen ist nicht unmittelbar absehbar, aber der verstärkte Rückgriff auf Vertragsverletzungsverfahren gegen die verantwortlichen Staaten ist eine Option (s.o.). Jedenfalls muss sich die Kommission m.E., wie sie es immer betont, tatsächlich auf „Ausreißer/outliers“ beschränken, ohne bei der Ausübung ihres Aufgreifermessens zwischen den Staaten zu diskriminieren. Eine extensive Auslegung und Durchsetzung des Beihilfeverbots in diesem Bereich würde demgegenüber die Steuersouveränität der Mitgliedstaaten und die rechtstaatlichen Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes beeinträchtigen.

IV. Zusammenfassung der Entwicklungslinien Deutlich wurde in den letzten Jahren, dass der Gerichtshof die Autonomie der Steuerrechtsordnungen der Mitgliedstaaten anerkennt. Er hat dazu Rechtfertigungsgründe für Beschränkungen der Grundfreiheiten durch das Steuerrecht der Mitgliedstaaten entwickelt. Eine neuere Entwicklungslinie ist der Einsatz der Rechtsprechung zur Bekämpfung von Missbrauch und Betrug im Steuerrecht. Dies ist unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen, technischen und rechtlichen Bedingungen im Dienste einer fairen globalen Steuer- und Finanzordnung geboten. Die aktuelle Herausforderung ist es, hier die richtige Balance zwischen den Rechten der Steuerpflichtigen und den rechtstaatlichen Geboten des Bestimmtheitsgrundsatzes und der Rechtsicherheit auf der einen und der Bekämpfung von Missbrauch und Betrug auf der anderen Seite zu finden. Genau darum geht es gerade auch beim Verbot steuerlicher Beihilfen, das den Gerichtshof vor neue Herausforderungen stellt. Anders als im Bereich der Rechtfertigungsgründe für steuerliche Beschränkungen der Grundfreiheiten konnten hier noch keine festen Entwicklungslinien der Rechtsprechung des EuGH aufgezeigt werden. Der Gerichtshof steht hier noch am Anfang einer Entwicklung, die er hoffentlich in bewährter Kooperation mit dem Bundesfinanzhof bewältigen wird.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … C. III.

Zukunft des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes durch die Europäische Menschenrechtskonvention Von Monika Hermanns*

Inhaltsübersicht I. Entwicklung des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes II. Reichweite des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes 1. Grundlagen 2. Anwendung im Steuerrecht a) Harmonisierte Rechtsbereiche b) Nichtharmonisierte Rechtsbereiche III. Unionsrechtlicher Grundrechtsschutz unmittelbar durch die EMRK? 1. Rechtsgrundlagen 2. Beitrittsverhandlungen und Gutachten des EuGH 3. Rechtsfolgen IV. Mittelbarer Einfluss der EMRK auf den unionsrechtlichen Grundrechtsschutz 1. Grundlagen a) Art. 6 Abs. 1 EUV und Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta

b) Art. 6 Abs. 3 EUV (Gewährleistungen der EMRK als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts) c) EMRK als Rechtserkenntnisquelle für das Unionsrecht 2. Charta der Grundrechte und EMRK a) Tatbestandsvoraussetzung von Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta b) Nicht von allen Mitgliedstaaten ratifizierte Zusatzprotokolle zur EMRK und Vorbehalte c) Rechtsfolge von Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta d) Rechtsprechung des EGMR 3. Art. 6 Abs. 3 EUV und EMRK V. Resümee

I. Entwicklung des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes Die Anfänge des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes sollen, obwohl hinlänglich bekannt, an dieser Stelle kurz skizziert werden, weil darin bereits dessen Zukunft gerade durch die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) angelegt ist. * Dank gebührt Herrn Staatsanwalt Christoph Schmidt für wertvolle Unterstützung bei der Recherche und Redaktion.

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Obwohl das Gemeinschaftsrecht bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zum 1.12.20091 nicht über einen kodifizierten Grundrechtskatalog verfügte, betrachtete der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) schon in seinem Stauder-­ Urteil vom 12.11.1969 Grundrechte als einen Teil der Allgemeinen Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung er zu sichern habe2. Mit Urteil vom 17.12.1970 begründete er seine seitdem ständige Rechtsprechung, dass die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigt würde, wenn bei der Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen würden. Daher könne es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht werde, dass nationales Recht  – und seien es die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung – verletzt seien3. Spätere Entscheidungen konkretisierten dies zu der Formel, dass bei Anwendung nationaler Grundrechte in gemeinschaftsrechtlich geregelten Fällen „der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts“ nicht beeinträchtigt werden dürften4. Ein eigenständiger unionsrechtlicher Grundrechtsschutz stellt sich somit als legitimatorisch notwendiger Bestandteil des Vorrang beanspruchenden Unionsrechts dar5. Der EuGH stützte sich zur Gewinnung konkreter Grundrechtsgehalte im Wege wertender Rechtsvergleichung6 zunächst auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten7. Mit Urteil vom 14.5.1974 erkannte der EuGH darüber hinaus an, dass auch internationale Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, „Hinweise geben [könnten], die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen“ seien8. In der Folgezeit hat er dabei der EMRK besondere Bedeutung eingeräumt9 und sie als vorrangige Rechtserkenntnisquelle für die Entwicklung gemeinschaftsrechtlicher Grundrechte herangezogen.

1 ABl. EG C 306 v. 17.12.2007. 2 EuGH v. 12.11.1969 – 29/69 – Stauder, Slg. 1969, 419 Rz. 7. 3 EuGH v. 17.12.1970 – 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 Rz. 3. 4 EuGH v. 8.9.2010  – C-409/06  – Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rz.  61; v. 26.2.2013  – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 – Melloni Rz. 59 f. 5 Kingreen in Calliess/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 6 EUV Rz. 5; vgl. auch BVerfG v. 29.5.1974 – 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (285); v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (306). 6 Kingreen (Fn. 5), Art. 6 EUV Rz. 6; Zweigert, RabelsZ 28 (1964), 601 (610 f.). 7 EuGH v. 17.12.1970 – 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 Rz. 4. 8 EuGH v. 14.5.1974 – 4/73 – Nold/Kommission, Slg. 1974, 491 Rz. 13. 9 EuGH v. 28.10.1975 – 36/75 – Rutili, Slg. 1975, 1219 (1232) Rz. 32; v. 13.12.1979 – 44/79 – Hauer, Slg. 1979, 3727 Rz.  15; v. 13.7.1989  – 5/88  – Wachauf, Slg. 1989, 2609 Rz.  17; v. 18.6.1991 – C-260/89 – ERT, Slg. 1991, I-2925 Rz. 41; v. 6.3.2001 – C-274/99 P – Connolly / Kommission, Slg. 2001, I-1611 Rz. 37; v. 22.10.2002 – C-94/00 – Roquette Fràres, Slg. 2002, I-9011 Rz.  25; v. 12.6.2003  – C-112/00  – Schmidberger, Slg. 2003, I-5659 Rz.  71; v. 25.3.2004 – C-71/02 – Karner, Slg. 2004, I-3025 Rz. 48; v. 2.4.2009 – C-394/07 – Gambazzi, Slg. 2009, I-2563 Rz. 28; v. 3.9.2008 – C-402/05 – Kadi u.a., Slg. 2008, I-6351 Rz. 283.

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II. Reichweite des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes 1. Grundlagen Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die in der früheren Gemeinschafts- und heutigen Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte immer dann maßgeblich, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt10. Daran hat er auch nach Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GRCharta) festgehalten, obwohl diese gemäß Art.  51 Abs.  1 Satz 1 EU-GRCharta „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union (…) und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gelten soll11. Er stützt sich bei dieser weiten Auslegung auf die durch das Präsidium des Konvents formulierten Erläuterungen zur Charta12, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 EU-GRCharta für deren Auslegung gebührend zu berücksichtigen sind und für den Anwendungsbereich der Charta auf die vorgenannte ältere Rechtsprechung des EuGH verweisen. 2. Anwendung im Steuerrecht Maßgebliche Entscheidungen des EuGH zur Bestimmung der Reichweite des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes sind auf dem Gebiet des Steuerrechts ergangen, wobei der EuGH den Einfluss des Unionsrechts sowohl im Bereich des harmonisierten als auch des nicht harmonisierten Steuerrechts weit ausgedehnt hat. Die damit zusammenhängenden Fragen können an dieser Stelle nicht vertieft behandelt werden, sollen aber kurz skizziert werden, um die Relevanz des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes für das Steuerrecht deutlich zu machen. a) Harmonisierte Rechtsbereiche Ein Beispiel für die erhebliche Reichweite des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes im Bereich des harmonisierten Rechts der indirekten Steuern (Art. 113 AEUV) bietet das Umsatzsteuerrecht. Die Mehrwertsteuersystemrichtlinie ist nach Maßgabe des unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art.  20 EU-­GRCharta) aus-

10 EuGH v. 18.6.1991 – C-260/89 – ERT, Slg. 1991, I-2925 Rz. 42; v. 4.10.1991 – C-159/90 – Society for the Protection of Unborn Children Ireland, Slg. 1991, I-4685 Rz.  31; v. 29.5.1997 – C-299/95 – Kremzow, Slg. 1997, I-2629 Rz. 15; v. 18.12.1997 – C-309/96 – Annibaldi, Slg. 1997, I-7493 Rz.  13; v. 22.10.2002  – C-94/00  – Roquette Frères, Slg. 2002, I-9011 Rz. 25; v. 18.12.2008 – C-349/07 – Sopropé, Slg. 2008, I-10369 Rz. 34. 11 EuGH v. 26.2.2013  – C-617/10, EU:C:2013:105  – Åkerberg Fransson Rz.  17  ff.; zustimmend: Ehlers in Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4.  Aufl. 2014, § 14 Rz. 68 und 74; kritisch dazu: Kingreen, EuR 2013, 446 (451 ff.); Ohler, NVwZ 2013, 1433 (1438); Safferling, NStZ 2014, 545 (548 ff.); Lehner, IStR 2016, 265 (267 f.); vgl. auch BVerfG v. 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, BVerfGE 133, 277 (316 Rz. 91). 12 Erläuterung zu Artikel 51 EU-GRCharta, Abl. EG C 303 v. 14.12.2007, 17 (32).

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zulegen und anzuwenden13. Als „Durchführung“ dieser Richtlinie im Sinne von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EU-GRCharta betrachtet der EuGH nicht nur die Mehrwertsteuererhebung einschließlich der Maßnahmen zu ihrer Sicherung14 und Nacherhebung15. Er fasst unter diesen Begriff auch steuerliche Sanktionen und Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung durch unrichtige Angaben zur Mehrwertsteuer16, obwohl die Mitgliedstaaten grundsätzlich frei wählen können, welche Sanktionen sie anwenden, um die Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union (Art. 325 AEUV) zu gewährleisten17. Auch darauf, dass die den steuerlichen Sanktionen und Strafverfahren zugrunde liegenden nationalen Rechtsvorschriften nicht speziell zur Umsetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie erlassen wurden, kommt es nach Auffassung des EuGH nicht an18. b) Nichtharmonisierte Rechtsbereiche Im nicht harmonisierten Bereich direkter wie indirekter Steuern bilden die Grundfreiheiten das wichtigste Einfallstor für die Anwendung unionsrechtlicher Grundrechte. Bereits vor Inkrafttreten der Charta mussten die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH, beginnend mit der ERT-Entscheidung vom 23.1.199119, die unionalen Grundrechte bei der Einschränkung von Grundfreiheiten beachten. Diese umstrittene ERT-Rechtsprechung führt der EuGH auch nach dem Inkrafttreten der Charta fort20. Wenn sich ein Mitgliedstaat auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses beruft, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung einer Grundfreiheit zu behindern, muss diese Regelung im Einklang mit den Grundrechten der Charta stehen. Als Beispiel für Auswirkungen im Steuerrecht mag die Entscheidung des EuGH vom 11.6.2015 (Berlington Hungary u.a.) zu einer nationalen Spielsteuer auf den Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen dienen. Der EuGH prüfte deren Rechtfertigung wegen ihrer Auswirkungen auf die Dienstleis13 EuGH v. 20.12.2017 – C-462/16, ECLI:EU:C:2017:1006 – Boehringer Ingelheim Pharma Rz. 46; v. 23.4.2009 – C-460/07 – Puffer, Slg. 2009, I-3251 Rz. 52 ff. 14 Vgl. EuGH v. 26.10.2017 – C-534/16, ECLI:EU:C:2017:820 – BB construct Rz. 30 ff. 15 Vgl. EuGH v. 17.12.2015 – C-419/14, ECLI:EU:C:2015:832 – WebMindLicenses Rz. 67. 16 EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105 – Åkerberg Fransson Rz. 24 ff.; v. 8.9.2015 – C-105/14, EU:C:2015:555 – Taricco Rz. 54 ff.; v. 5.12.2017 – C-42/17, ECLI:EU:C:2017:936 – M.A.S. und M.B. Rz. 47 ff.; vgl. auch EuGH v. 16.5.2017 – C-682/15, ECLI:EU:C:2017:373 – Berlioz Investment Fund Rz.  32  ff. betr. Sanktionen zur Durchführung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates v. 15.2.2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung, Abl. EU 2011 L 64, 1. 17 EuGH v. 26.1.2013 –C‑617/10, EU:C:2013:105 – Åkerberg Fransson Rz. 34; v. 8.9.2015 – C‑105/14, EU:C:2015:555 – Taricco Rz 39; v. 5.12.2017 – C-42/17, ECLI:EU:C:2017:936 – M.A.S. und M.B. Rz. 33. 18 EuGH v. 26.1.2013 – C‑617/10, EU:C:2013:105 – Åkerberg Fransson Rz. 28. 19 EuGH v. 18.6.1991– C-260/89 – ERT, Slg. 1991, I-2925 Rz. 43. 20 EuGH v. 26.6.1997– C-368/95  – Familiapress, Slg. 1997, I-368 Rz.  24; v. 1.7.2014  – C-573/12, EU:C:2014:2037 – Ålands Vindkraft Rz. 125; kritisch: Streinz/Michl in Streinz, 2.  Aufl. 2012, Art.  51 EU-GRCharta Rz.  13  f.; Kingreen (Fn.  5), Art.  51 EU-GRCharta Rz. 19 f.; P.M. Huber, EuR 2008, 190 (192 ff.).

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tungsfreiheit (Art. 56 AEUV) an den unionsrechtlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie an Art. 17 Abs. 1 EU-GRCharta (Eigentumsrecht)21, unabhängig davon, dass auch nach seiner Auffassung die Regelung der Glücksspiele zu den Bereichen gehört, in denen beträchtliche sittliche, religiöse und kulturelle Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen und es ihnen in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene grundsätzlich freisteht, die Ziele ihrer Politik festzulegen und gegebenenfalls das angestrebte Schutzniveau genau zu bestimmen22. Im Bereich der nicht harmonisierten Steuern besteht eine Bindung an Unionsgrundrechte ferner über das unionsrechtliche Beihilferecht (Art. 107 ff. AEUV), das nach der Rechtsprechung des EuGH23 auch Steuervorteile umfassen kann, die das nationale Steuerrecht gewährt24. Ob und inwieweit Chartagrundrechte, insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 20 EU-GRCharta), darüber hinaus in anderen Zusammenhängen auf nationales Steuerrecht einwirken, ist bisher nicht abschließend geklärt25.

III. Unionsrechtlicher Grundrechtsschutz unmittelbar durch die EMRK? Die Frage nach der Zukunft des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes unter dem Einfluss der EMRK ist somit auch und gerade für das Steuerrecht von erheblicher Bedeutung. Unionsrechtlichen Grundrechtsschutz unmittelbar „durch“ die EMRK als Bestandteil der Unionsrechtsordnung wird es allerdings jedenfalls in naher Zukunft nicht geben. Er setzt den Beitritt der Union zur EMRK voraus, der zwar in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehen, derzeit aber nicht absehbar ist. 1. Rechtsgrundlagen Seit dem Vertrag von Lissabon erteilt Art.  6 Abs.  2 Satz  1 EUV der Europäischen Union mit der zunächst deskriptiv erscheinenden Formulierung „Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 21 EuGH v. 11.6.2015 – C-98/14, ECLI:EU:C:2015:386 – Berlington Hungary Rz. 74 ff. 22 EuGH v. 11.6.2015 – C-98/14, ECLI:EU:C:2015:386 – Berlington Hungary Rz. 56. 23 Vgl. EuGH v. 21.12.2016 – C-20/15 P und C-21/15 P – Kommission / World Duty Free Group u.a. Rz. 56 m.w.N.; vgl. zur deutschen Sanierungsklausel (§ 8c Abs. 1a KStG) EuG v. 4.2.2016 – T 620/11 – GFKL Financial Services / Kommission, anhängig vor dem EuGH – C‑209/16 P und C-219/16 P. Kritisch zur Ausdehnung des Anwendungsbereichs von Art. 107 ff. AEUV auf die Sanierungsklausel nach § 8c Abs. 1a KStG etwa: Marquart, IStR 2011, 445 (448); Breuninger/Ernst, GmbHR 2011, 673 (682 ff.) m.w.N.; de Weerth, DB 2016, 682 (683). 24 Zum Überblick über Einflüsse des Beihilfenrechts auf steuerrechtliche Regelungen Schnittger, IStR 2017, 421. 25 Vgl. Kokott/Dobratz in Schön/Heber (Hrsg.), Grundfragen des Europäischen Steuerrechts, 2015, S. 25 (30 f.); Lehner, IStR 2016, 265 (269 ff.); BFH v. 19.6.2013 – II R 10/12, BStBl. II 2013, 746 Rz. 27 ff.

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bei“ ausdrücklich den Auftrag, dem völkerrechtlichen Vertrag der EMRK beizutreten. Zugleich wurde mit Art. 6 Abs. 2 EUV eine primärrechtliche Grundlage für den EMRK-Beitritt der Union geschaffen, nachdem der EuGH in seinem ersten Gutachten zum Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur Konvention vom 28.3.199626 die Auffassung vertreten hatte, die Gemeinschaft habe beim damaligen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht über die Zuständigkeit verfügt, der Konvention beizutreten. Die Mitgliedstaaten der EMRK haben ihrerseits den Beitritt der Union zur Konvention vorbereitet, indem sie durch Art.  17 des Protokolls Nr.  14 zur EMRK vom 13.5.2004 in Art. 59 Abs. 2 EMRK die Möglichkeit eines Beitritts verankerten27. 2. Beitrittsverhandlungen und Gutachten des EuGH Verhandlungen zwischen Vertretern der Kommission und des Europarats über die konkreten Bedingungen und Folgen eines Beitritts der Union zur EMRK führten am 5.4.2013 zur Einigung über die Entwürfe der Beitrittsinstrumente28. Auf Antrag der Kommission gemäß Art. 218 Abs. 11 Satz 1 AEUV29 stellte der EuGH jedoch mit Gutachten vom 18.12.2014 fest, dass die ihm zur Begutachtung vorgelegte Übereinkunft nicht mit Art. 6 Abs. 2 EUV und dem Protokoll (Nr. 8) zu Art. 6 Abs. 2 EUV über den Beitritt der Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vereinbar sei30. Die geplante Übereinkunft sei  geeignet, die besonderen Merkmale des Unionsrechts und dessen Autonomie, die  Exklusivität der unionsrechtlichen Streitbeilegungsmechanismen nach Art.  344 AEUV und das ordnungsgemäße Funktionieren des Verfahrens der Vorabbefassung des EuGH nach Art. 267 AEUV zu beeinträchtigen. 3. Rechtsfolgen Aufgrund des ablehnenden Gutachtens kann die geplante Übereinkunft gemäß Art. 218 Abs. 11 Satz 2 AEUV nur in Kraft treten, wenn sie oder die Verträge geändert werden31. Damit ist der Beitritt der Union zur EMRK jedenfalls bis auf Weiteres gescheitert32, auch wenn er politisch unverändert Priorität genießt33.

26 EuGH v. 28.3.1996 – Gutachten 2/94 – EMRK-Beitritt, Slg. 1996, I-1763. 27 Sammlung der Europaratsverträge (SEV) 194, nach erfolgreicher Ratifikation am 1.6.2010 in Kraft getreten (BGBl. II 2010, 1196). 28 Vgl. EuGH v. 18.12.2014 – Gutachten C-2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rz. 48. 29 Vgl. EuGH v. 18.12.2014 – Gutachten C-2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rz. 1, 71. 30 EuGH v. 18.12.2014 – Gutachten C-2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rz. 258. 31 Vgl. zu Lösungsvorschlägen: Kingreen (Fn. 5), Art. 6 EUV Rz. 33 m.w.N. 32 Vgl. die Einschätzung der Generalanwältin am EuGH Kokott im Europaausschuss des Deutschen Bundestags am 11.11.2015, https://www.bundestag.de/presse/hib/2015-11/-/395420. 33 Vgl. Rede des Präsidenten der Kommission Juncker vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats im April 2016, https://ec.europa.eu/germany/news/juncker-beim-europarat-­ beitritt-der-eu-zur-menschenrechtskonvention-ist-priorit%C3%A4t_de.

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Solange die Union der EMRK nicht beigetreten ist, stellt diese kein Rechtsinstrument dar, das förmlich in die Unionsrechtsordnung übernommen worden ist34. Sie ist nicht als solche Bestandteil des Unionsrechts. Erst durch den Beitritt würde sie zu einer für die Union völkerrechtlich verbindlichen Rechtsquelle erstarken35 und die Unionsorgane gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV – wie jede andere von der Union geschlossene internationale Übereinkunft  – unmittelbar binden. Die weiteren Voraussetzungen dafür, dass die EMRK unionsrechtliche Wirkungen (direct effect) entfalten kann36, dürften – wie in den Mitgliedstaaten – gegeben sein37. Ihre grundrechtlichen Bestimmungen sollen nach dem Willen der Vertragsstaaten unmittelbare Wirkung für die geschützten Personen haben und sind inhaltlich unbedingt und hinreichend genau. In seinem Gutachten zur geplanten Beitrittsübereinkunft geht der EuGH vom Vorliegen dieser Voraussetzungen offensichtlich stillschweigend aus38. Im Rang stünde die EMRK nach einem Beitritt zwischen dem Primär- und dem Sekundärrecht39. Sie hätte am Anwendungsvorrang des Unionsrechts teil40, auch dort, wo die EMRK im nationalen Recht, wie in Deutschland41, lediglich im Rang eines einfachen Gesetzes gilt und Wirkungen nur im Einklang mit der Verfassung entfaltet. Ohne einen Beitritt zur EMRK kann eine Verletzung von Konventionsrechten durch Maßnahmen von Organen der Europäischen Union (einschließlich Urteile des EuGH) nicht mit der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK vor dem Europäi34 EuGH v. 24.4.2012– C-571/10, ECLI:EU:C:2012:233  – Kamberaj Rz.  44 und 60; v. 26.2.2013  – C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105  – Åkerberg Fransson Rz.  44; v. 10.7.2014  – C-295/12 P, ECLI:EU:C:2014:2062 – Telefónica Rz. 41; v. 18.12.2014 – Gutachten C-2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rz. 179 f.; v. 3.9.2015 – C-398/13 P, ECLI:EU:C:2015:535 – Inuit Tapiriit Kanatami u.a./Europäische Kommission Rz.  45  f.; v. 15.2.2016  – C-601/15, ECLI:​ EU:C:2016:84 – J.N. Rz. 45; v. 28.7.2016 – C-543/14, ECLI:EU:C:2016:605 – Ordre des barreaux francophones und germanophone u.a. Rz. 23; v. 6.10.2016 – C-218/15, ECLI:EU:C:​ 2016:748 – Paoletti Rz. 21; v. 21.12.2016 – C-203/15 und C-698/15, ECLI:EU:C:2016:970 – Tele2 Sverige u.a. Rz.  127; v. 5.4.2017  – C-217/15 und C-350/15, ECLI:EU:C:2017:264  – Orsi und Baldetti Rz. 15; v. 14.9.2017 – C-18/16, ECLI:EU:C:2017:680 – K. Rz. 32. 35 Kingreen (Fn. 5), Art. 6 EUV Rz. 7; Vondung, Die Architektur des europäischen Grundrechtsschutzes nach dem Beitritt der EU zur EMRK, 2012, S.  126; Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (154); Obwexer, EuR 2012, 115 (143). 36 Vgl. dazu EuGH v. 21.12.2011 – C‑366/10 – Air Transport Association of America (ATTA) u.a., Slg. 2011, I-13755 Rz. 53 ff. und 80 ff. m.w.N. 37 Vgl. Eeckhout in Govaere/Lannon/van Elsuwege/Adam (Hrsg.), The European Union in the World, 2014, S. 87 (93 f.); Vondung (Fn. 35), S. 127. 38 EuGH v. 18.12.2014 – Gutachten C-2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rz.180 ff.; vgl. Eeckhout (Fn. 37), S. 87 (94). 39 Vgl. EuGH v. 3.9.2008 – C-402/05 P und C-415/05 P – Kadi und Al Barakaat, Slg. 2008, I-6351 Rz. 303 und 307 f.; Schorkopf in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art.  6 EUV Rz.  57; Klein in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 167 Rz. 68; Pache/Rösch, EuZW 2008, 519 (521). 40 Obwexer, EuR 2012, 115 (143); Esser in Jahn/Radtke (Hrsg.), Deutsche Strafprozessreform und Europäische Grundrechte (2016), 55 (86). 41 Vgl. BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 (315 ff., 329); v. 4.5.2011 – 2 BvR 2333/08 u.a., BVerfGE 128, 326 (366 ff., 371); v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1 (29 f. Rz. 71 f.).

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schen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gerügt werden. Dadurch werden die subjektiv-rechtliche Bedeutung der Konvention und der Individualrechtsschutz im Anwendungsbereich des Unionsrechts deutlich geschwächt42. Die Urteile des EGMR entfalten zudem für die Europäische Union keine Bindungswirkung gemäß Art. 46 EMRK. Die Mitgliedstaaten selbst sind unmittelbar an die EMRK gebunden, weil sie ihrerseits Vertragsstaaten sind. Sie sind auch völkerrechtlich uneingeschränkt verantwortlich für eine von ihnen durch die Setzung von EU-Primärrecht43 oder die Umsetzung von Sekundärrecht44 (mit-)verursachte Konventionsverletzung. Der EGMR hat allerdings seine Prüfung mit Rücksicht auf die wachsende Bedeutung internationaler Kooperation zurückgenommen und sieht bei der Umsetzung zwingenden Unionsrechts die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Konvention als erfüllt an, solange der Grundrechtsschutz in der Union dem durch die EMRK gewährleisteten zumindest gleichwertig ist45. Von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit geht er trotz des geringeren Individualrechtsschutzes aus46; die Vermutung der Gleichwertigkeit kann jedoch im Einzelfall widerlegt werden47. Dass der EGMR an dieser im Interesse internationaler Kooperation geübten Zurückhaltung auch bei einem dauerhaften Unterbleiben eines Beitritts der Union zur EMRK festhalten wird, ist zumindest nicht sicher48. Der EuGH hat umgekehrt anerkannt, dass ein Mitgliedstaat vom Vorwurf der Verletzung unionsrechtlicher Verpflichtungen entlastet sein kann, wenn er zur Heilung eines vom EGMR erkannten Konventionsverstoßes handelt49.

IV. Mittelbarer Einfluss der EMRK auf den unionsrechtlichen ­Grundrechtsschutz Bis zu einem Beitritt der Union kommt der EMRK nur mittelbarer Einfluss auf den unionsrechtlichen Grundrechtsschutz nach Maßgabe von Art. 6 Abs. 1 und 3 EUV zu.

42 Vgl. Eeckhout (Fn. 37), S. 87 (90, 95); Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (95); Schroeder, EuZW 2011, 462 (464); Vondung (Fn. 35), S.159 ff., 226, 256 ff. 43 EGMR v. 18.2.1999 – 24833/94 – Matthews/Vereinigtes Königreich Rz. 31 ff. 44 EGMR v. 30.6.2005 – 45036/98 – Bosphorus/Irland Rz. 137, 154. 45 EGMR v. 30.6.2005  – 45036/98  – Bosphorus/Irland Rz.  150  ff. (155); v. 6.12.2012 – 12323/11 – Michaud/Frankreich Rz. 103 f. 46 EGMR v. 30.6.2005 – 45036/98 – Bosphorus/Irland Rz. 159 ff.; v. 6.12.2012 – 12323/11 – Michaud/Frankreich Rz. 105 ff. 47 EGMR v. 30.6.2005 – 45036/98 – Bosphorus/Irland Rz. 156; v. 6.12.2012 – 12323/11 – Michaud/Frankreich Rz. 103. 48 Vgl. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 4 Rz. 4. 49 EuGH v. 12.9.2006 – C 145/04, ECLI:EU:C:2006:543 – Spanien / Vereinigtes Königreich Rz. 95.

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Zukunft des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes

1. Grundlagen a) Art. 6 Abs. 1 EUV und Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta Gemäß Art.  6 Abs.  1 Halbs.  1 EUV erkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7.12.2000 in der am 12.12.2007 angepassten Fassung niedergelegt sind. Nach Art. 6 Abs. 1 Halbs. 2 EUV sind die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig, d.h. die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze haben denselben Rang wie das übrige unionale Primärrecht gemäß EUV und AEUV. Die maßgebliche Norm für den Einfluss der EMRK auf den unionalen Grundrechtsschutz ist Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EU-GRCharta. Danach haben Chartarechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Das Recht der Union kann allerdings einen weitergehenden Schutz gewähren (Art. 52 Abs. 3 Satz 2 EU-GRCharta). Demgegenüber normiert Art. 53 EU-GRCharta, dass keine Bestimmung der Charta als Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen ist, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union und das Völkerrecht sowie durch internationale Übereinkünfte, bei denen alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind (insbesondere durch die EMRK) sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden. Die Vorschrift bestimmt anders als Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta nicht das Schutzniveau der Charta, sondern die Auswirkungen der Charta auf andere Grundrechtsgewährleistungen. Sie garantiert die Eigenständigkeit der EMRK und mitgliedstaatlicher Grundrechtsordnungen in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich. Die Frage nach Überschneidungsbereichen zwischen unionsrechtlichem Grundrechtsschutz einerseits und mitgliedstaatlichem bzw. konventionsrechtlichem Grundrechtsschutz andererseits sowie danach, ob Art.  53 EU-GRCharta im Sinne einer Meistbegünstigungklausel in solchen Bereichen einem höheren nationalen bzw. Konventionsrechtsschutz Vorrang vor der Charta einräumt, gehört zu den umstrittensten Fragen des Nebeneinanders der verschiedenen Grundrechtsordnungen50. Der EuGH hat auch nach Inkrafttreten der Charta daran festgehalten, dass die Anwendung der nationalen Grundrechte den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen darf51.

50 Vgl. zum Streitstand: Kingreen (Fn. 5), Art. 53 EU-GRCharta Rz. 1 ff.; Borowsky in Meyer, 4. Aufl. 2014, Art. 53 EU-GRCharta Rz. 7 ff., jeweils m.w.N. Das Bundesverfassungsgericht überprüft nationales Recht, das in Umsetzung von Unionsrecht ergangen ist, am Maßstab des Grundgesetzes, soweit das Unionsrecht Umsetzungsspielräume belässt (vgl. BVerfG v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78 [102 f.] m.w.N.). 51 EuGH v. 26.2.2013  – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107  – Melloni Rz.  60; v. 26.2.2013  – C-617/10, EU:C:2013:105  – Åkerberg Fransson Rz.  29; v. 6.3.2014  – C-206/13, ECLI:EU:C:2014:126 – Siragusa Rz. 32; v. 10.7.2014 – C-198/13, ECLI:EU:C:2014:2055 – Hernández Rz. 47; v. 5.12.2017 – C-42/17, ECLI:EU:C:2017:936 – M.A.S. und M.B. Rz. 47.

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b) Art. 6 Abs. 3 EUV (Gewährleistungen der EMRK als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts) Nach Art. 6 Abs. 3 EUV bilden die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, außerdem als „allgemeine Grundsätze“ einen Teil des Unionsrechts. Eine vergleichbare Regelung fand sich bereits in Art. F Abs.  2 EUV in der Fassung des Maastricht-Vertrags52 bzw. – nach Umbenennung – in Art. 6 Abs. 2 EUV in der Fassung des Amsterdam-Vertrags53. c) EMRK als Rechtserkenntnisquelle für das Unionsrecht Sowohl Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta als auch Art. 6 Abs. 3 EUV weisen den in der EMRK garantierten Rechten einen nur mittelbaren Einfluss auf den Grundrechtsschutz in der Union zu. Dementsprechend findet eine unmittelbare Prüfung der EMRK-Grundrechte durch den EuGH nicht statt54. Die EMRK wirkt lediglich als Rechtserkenntnisquelle55, die den Adressaten – im Unterschied zur Rechtsquelle – nicht unmittelbar normativ bindet56. 2. Charta der Grundrechte und EMRK Soweit die Charta Grundrechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, legt Art.  52 Abs.  3 Satz  1 EU-GRCharta verbindlich fest, dass sie materiell die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der Konven­ tion verliehen wird. a) Tatbestandsvoraussetzung von Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta Tatbestandsvoraussetzung ist, dass sich in der Charta und der EMRK garantierte Rechte „entsprechen“. Daran knüpft Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EU-GRCharta die Rechtsfolge, dass die Chartarechte „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie die Konventions52 Vertrag über die Europäische Union v. 7.2.1992, ABl. EG C 191 v. 29.7.1992. 53 Artikel 12 des Vertrages von Amsterdam v. 2.10.1997, ABl. EG C 340 v. 10.11.1997. 54 EuGH v. 24.4.2012 – C-571/10, ECLI:EU:C:2012:233 – Kamberaj Rz. 63; v. 12.12.2013 – C-523/12, ECLI:EU:C:2013:831  – Dirextra Alta Formazione Rz.  20; vgl. auch EuGH v. 6.11.2012  – C-199/11, ECLI:EU:C:2012:684  – Otis u.a. Rz.  47; v. 16.5.2017  – C-682/15, ECLI:EU:C:2017:373  – Berlioz Investment Fund Rz.  54; v. 5.4.2017  – C-217/15 und C-350/15, ECLI:EU:C:2017:264 – Orsi und Baldetti Rz. 15. 55 Vgl. Schorkopf (Fn. 39), Art. 6 Rz. 51; Kingreen (Fn. 5), Art. 6 EUV Rz. 7 und Art. 52 EU-­ GRCharta Rz. 19; Tsiliotis in Iliopoulos-Strangas u.a. (Hrsg.) Der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK, 2013, S.  51 (56); Hilf in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Band VI/1, 2010, § 164 Rz. 73; Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (94); Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (571); Dederer, ZaöRV 2006, 575 (590); Ludwigs, EuGRZ 2014, 273 (279). 56 Kingreen (Fn. 5), Art. 6 EUV Rz. 7; Skouris in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 157 Rz. 28; Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa?, 2007, S. 138 ff. m.w.N.

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rechte haben. Die gemäß Art. 52 Abs. 7 EU-GRCharta bei der Auslegung von Absatz 3 der Vorschrift gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen (vgl. oben unter II.1.) enthalten einen Katalog von Rechten der Charta, bei denen nach Auffassung des Präsidiums des Konvents davon ausgegangen werden kann, dass sie Rechten aus der EMRK entsprechen, ohne dass dies näher begründet wird. Gegliedert ist der Katalog in Artikel der Charta, die „dieselbe Bedeutung und Tragweite“ wie die entsprechenden Artikel der EMRK haben57, und Artikel der Charta, die „dieselbe Bedeutung haben wie die entsprechenden Artikel der EMRK, deren Tragweite aber umfassender ist“58. Der EuGH stellt für die Frage, ob sich ein Charta- und ein EMRK-Grundrecht entsprechen  – soweit er die Berücksichtigung der EMRK überhaupt noch gesondert ­begründet59 –, im Wesentlichen auf die genannten Erläuterungen ab und behandelt solche Grundrechte als einander entsprechend, die in die dortige Positivliste aufgenommen sind60. Nur vereinzelt hebt er (auch) auf Übereinstimmungen im Wortlaut von Charta- bzw. EMRK-Grundrechten ab61. Im Allgemeinen legt er – wie die Erläuterungen – für die Frage des „Entsprechens“ gleiche oder vergleichbare Bezeichnungen der Rechte zugrunde, um daraus („somit“62 oder „in der Folge“63) auf gleiche Bedeutung und Tragweite zu schließen. Das Schrifttum knüpft für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „entsprechen“ an einen Vergleich der Schutzbereiche64, Rege-

57 Präsidium des Konvents v. 14.12.2007, Abs.  6 Nr.  1 der Erläuterungen zu Art.  52 EU-­ GRCharta, Abl. EG C 303 v. 14.12.2007, 17; Lenaerts, EuR 2012, 3 (12 f.). 58 Präsidium des Konvents v. 14.12.2007, Abs.  6 Nr.  2 der Erläuterungen zu Art.  52 EU-GRCharta, Abl. EG C 303 v. 14.12.2007, 17. 59 Eine Begründung dafür fehlt z.B. in EuGH v. 18.6.2015 – C-583/13 P, ECLI:EU:C:2015:404 – Deutsche Bahn Rz. 19; v. 16.2.2017 – C-578/16, ECLI:EU:C:2017:127 – C.K. Rz. 67. 60 EuGH v. 22.12.2010  – C-279/09  – DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft, Slg. 2010, I-13849 Rz. 32; v. 6.9.2012 – C-619/10, ECLI:EU:C:2012:531 – Trade Agency / Seramico Investments Rz. 52; v. 28.2.2013 – C-334/12 RX-II, ECLI:EU:C:2013:134 – Jaramillo u.a. Rz.  42; v. 18.12.2014  – Gutachten C-2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rz.  169; v. 17.12.2015 – C-157/14, ECLI:EU:C:2015:823 – Neptune Distribution Rz. 65; v. 15.2.2016 – C-601/15, ECLI:EU:C:2016:84 – J.N. Rz. 47; v. 4.5.2016 – C-547/14, ECLI:EU:C:2016:325 – Philip Morris Brands Rz. 147; v. 30.6.2016 – C-205/15, ECLI:EU:C:2016:499 – Vasile Toma u.a. Rz.  40; v. 5.12.2017  – C-42/17, ECLI:EU:C:2017:936  – M.A.S.  und M.B. Rz.  53  f.; v. 14.3.2017 – C-188/15, ECLI:EU:C:2017:204 – Asma Bougnaoui und Association de défense des droits de l’homme (ADDH) Rz. 29; v. 14.3.2017 – C-157/15, ECLI:EU:C:2017:203 – Samira Achbita u.a. Rz. 27, vgl. auch Lenaerts, EuR 2012, 3 (12 f.). 61 EuGH v. 5.10.2010 – C-400/10 – McB, Slg. 2010, I-8965 Rz. 53. 62 Vgl. EuGH v. 5.10.2010  – C-400/10  – McB, Slg. 2010, I-8965 Rz.  53; v. 6.10.2015  – C-256/11  – Dereci u.a., Slg. 2011, I‑11315 Rz.  70; v. 17.12.2015  – C-419/14, ECLI:EU:​ C:2015:832 – WebMindLicenses Rz. 70. Zur Rechtsfolgenwirkung auch: Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, 2009, S. 134. 63 EuGH v. 14.3.2017 – C-188/15, ECLI:EU:C:2017:204 – Asma Bougnaoui und Association de défense des droits de l’homme (ADDH) Rz.  30; v. 14.3.2017  – C-157/15, ECLI:EU:​ C:2017:203 – Samira Achbita u.a. Rz. 28. 64 Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, 2003, S.  77; Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 114 f.; D. von Arnim, Der Standort der EU-Grundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2005, S. 410; Schnei-

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lungsbereiche65 oder Lebenssachverhalte66, an einen (nahezu) identischen Wortlaut67 oder ebenfalls an die Erläuterungen zu Art. 52 der Charta an68. Da die Erläuterungen zwar „gebührend zu berücksichtigen“ sind, ihnen aber die Legitimation für eine verbindliche Auslegung fehlt, wird man für die Frage, ob sich Charta- und Konventionsrechte „entsprechen“, jedenfalls eine grobe Deckung der Regelungsbereiche oder betroffenen Lebenssachverhalte verlangen müssen, wenngleich sich daraus keine erheblichen Abweichungen von der Positivliste der Erläuterungen ergeben dürften. Auf weitere Voraussetzungen kann es für ein „Entsprechen“ indes nicht ankommen, weil andernfalls einander entsprechende Rechte nur solche mit gleicher Bedeutung und Tragweite wären, wodurch Tatbestand und Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta zusammenfielen und die Norm obsolet würde69. Für das Steuerrecht bedeutsam sind insbesondere die in den Erläuterungen angeführten Entsprechungen von Art. 17 EU-GRCharta und Artikel 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK (Eigentum) sowie der Artikel 47 bis 50 EU-GRCharta und Art. 6 f. EMRK, Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK (Justizielle Rechte). b) Nicht von allen Mitgliedstaaten ratifizierte Zusatzprotokolle zur EMRK und Vorbehalte Nach dem Wortlaut von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EU-GRCharta ist unklar, ob die Vorschrift auch auf grundrechtliche Garantien in Zusatzprotokollen zur EMRK Anwendung findet, die nicht von allen Mitgliedstaaten der Union ratifiziert worden sind, und inwiefern ggf. erklärte Vorbehalte von Mitgliedstaaten gegen einzelne Konventionsregelungen zu berücksichtigten sind. Die Erläuterungen des Konvents differenzieren insoweit weder zwischen der EMRK und den Zusatzprotokollen noch nach dem Ratifizierungsstand der verschiedenen Normkomplexe70. Auch der EuGH greift auf Erkenntnisse aus sämtlichen Zusatzprotokollen zurück und legt sie seiner Ausleders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, 2009, S. 160 f.; Maier, Grundrechtsschutz bei der Durchführung von Richtlinien, 2013, S. 278; Hilf (Fn. 55), § 164 Rz. 75. 65 Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (3). 66 Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 2008, S. 205; Grabenwarter in FS Steinberger, 2002, S. 1129 (1135). 67 Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 122 f.; Grabenwarter in FS Steinberger, 2002, S. 1129 (1136); Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (117); ähnlich auch Ziegenhorn (Fn. 62), S. 154. 68 Ehlers (Rz. 11), § 14 Rz. 31; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rz. 473; Strunz, Strukturen des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union in ihrer Entwicklung, 2007, S. 156; Ziegenhorn (Fn. 62), S. 153 f. und 161 f. 69 Vgl. Borowsky (Fn. 50), Art. 52 EU-GRCharta Rz. 31; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 330. 70 Vgl. Präsidium des Konvents v. 14.12.2007, Erläuterungen zu Art. 52 Absatz 3 der Charta; ferner Nr. 3 der Erläuterungen zu Art. 2 der Charta; Abs. 1 der Erläuterungen zu Art. 14 der Charta; Abs. 1 der Erläuterungen zu Art. 17 der Charta; Abs. 1 der Erläuterungen zu Art. 19 der Charta; Abs. 1 der Erläuterungen zu Art. 50 der Charta; Abs. 4 Satz 1 der Erläuterungen zu Art. 52 der Charta, Abl. EG C 303 v. 14.12.2007, 17.

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gung zugrunde71. In der Literatur wird die Auffassung, dass als Rechts­erkenntnisquelle auch alle Zusatzprotokolle zur EMRK unabhängig von ihrem Ratifikationsstand einzubeziehen seien, teilweise damit begründet, dass die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich der Charta nicht mehr autonom handelten72. Auch Rechte der EMRK, gegen die Mitgliedstaaten Vorbehalte nach Art. 57 Abs. 1 Satz 1 EMRK erklärt haben, sollen über Art. 52 Abs. 3 der Charta beachtlich sein73. Dem Wortlaut von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EU-GRCharta lässt sich dies allerdings nicht eindeutig entnehmen. Es ist deshalb zweifelhaft, ob die Mitgliedstaaten mit der Zustimmung zum Inkrafttreten der Charta zugleich einer Einbeziehung auch solcher völkerrechtlichen Übereinkünfte zugestimmt haben, bei denen sie nicht Vertragsstaaten sind74. Dagegen spricht unter systematischen Gesichtspunkten, dass sowohl die Präambel der Charta als auch Art. 53 EU-GRCharta nur die Standards internationaler Übereinkünfte anerkennen und bekräftigen, bei denen alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind und die gemeinsame internationale Verpflichtungen der Mitgliedstaaten begründen, darunter insbesondere die EMRK75. Die Frage ist nicht etwa ein Scheinproblem, weil Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EU-GRCharta nur einen für die Auslegung der Charta relevanten Aspekt neben anderen anspräche76. Die Vorschrift legt Bedeutung und Tragweite von Chartarechten, die in der EMRK garantierten Rechten entsprechen, materiell verbindlich fest77. Für eine ab71 So etwa zur Auslegung von Art. 50 der Charta unter Bezugnahme auf Art. 4 des nicht von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Protokolls  Nr.  7 zur EMRK: EuGH v. 5.6.2014  – C-398/12, ECLI:EU:C:2014:1057 – M Rz. 37; v. 5.4.2017 – C-217/15 und C-350/15, ECLI:EU:C:2017:264 – Orsi und Baldetti Rz. 24. 72 Niedobitek in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Band VI/1, 2010, § 159 Rz. 96; Hilf (Fn. 55), § 164 Rz. 76; Kingreen (Fn. 5), Art. 52 EU-GRCharta Rz. 37 mit Verweis auf die Stellung der EMRK als unverbindlicher Rechtserkenntnisquelle; Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 44; Molthagen (Fn. 64), S. 81 f.; Rengeling/Szczekalla (Rz. 68), Rz. 468; Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht 2005, S. 53 f.; Eisner (Fn. 67), S. 124 f.; Strunz (Fn. 68), S. 157 f.; von Danwitz/Röder in Tettinger/Stern (Hrsg.), Die Europäische Grundrechtecharta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (51); Kober (Fn. 66), S. 207 f.; Maier (Fn. 64), S. 279; Naumann, EuR 2008, 424 (426 f.); für eine flexible Verweisung auf die Zusatzprotokolle nur für die Mitgliedstaaten, die das betreffende Zusatzprotokoll ratifiziert haben: Bühler (Fn.  69), S.  329; für die Ausstrahlung auch solcher Zusatzprotokolle, denen „die meisten“ Mitgliedstaaten zugestimmt haben: Ehlers (Rz. 11), § 14 Rz. 5. 73 Hilf (Fn. 55), § 164 Rz. 76; Molthagen (Fn. 64), S. 123. 74 Pietsch (Fn. 64), S. 107 f. und 109 f.; Schneiders (Fn. 64), S. 166 und 170; Schmitz, JZ 2001, 833 (839); Jarass, EuR 2013, 29 (42); zur Benennung und Bekräftigung übereinstimmender Werte und Überzeugungen durch die Charta auch: Skouris (Fn. 56), § 157 Rz. 44; D. von Arnim (Fn. 64), S. 400; die Ratifikation des Vertrags von Lissabon indes als ausreichend erachtend: Lecheler in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 158 Rz. 96; Hilf (Fn. 55), § 164 Rz. 76. 75 Vgl. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (2); ders., VVDStRL 60 (2001), 290 (341 f.). 76 In diesem Sinne aber Kingreen (Fn. 5), Art. 52 EU-GRCharta Rz. 37. 77 Borowsky (Fn. 50), Art. 52 EU-GRCharta Rz. 34; von Danwitz/Röder (Fn. 72), S. 31 (53); Eisner (Fn. 67), S. 150; Schneiders (Fn. 64), S. 180; Maier (Fn. 64), S. 277 f. und 280; Uerp-

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weichende Auslegung solcher Chartarechte unter Rückgriff auf andere Auslegungsmethoden ist daher nach Maßgabe von Art.  52 Abs.  3 Satz  1 EUGRCharta kein Raum. Das schließt einen auf andere Grundlagen (etwa gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten) gestützten höheren Schutzstandard der Charta gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 2 EU-GRCharta allerdings nicht aus. c) Rechtsfolge von Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta Auch die Rechtsfolge von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EU-GRCharta ist nicht eindeutig. Mit den Begriffen „gleiche Bedeutung und Tragweite“ sind jedenfalls die Schutzbereiche der Charta- und der entsprechenden Konventionsrechte als deckungsgleich definiert, wobei überwiegend entweder beide Begriffe zusammenfassend mit „Schutzbereich“ gleichgesetzt werden78 oder der Differenzierung insoweit keine entscheidende Bedeutung zugemessen wird79. Umstritten ist jedoch, ob der Begriff der Tragweite (zugleich oder nur) auf die Schrankenbestimmungen der EMRK verweist und ihnen Vorrang vor der Schrankenregelung von Art. 52 Abs. 1 EU-GRCharta einräumt. Der EuGH bezieht „Bedeutung und Tragweite“ zunächst allein auf den Schutzbereich und prüft Einschränkungen an Art. 52 Abs. 1 EU-GRCharta80. Die Einschränkungen dürfen aber nach seiner Rechtsprechung81 nicht über die Einschränkungen hinausgehen, die nach der EMRK im Rahmen der entsprechenden Garantie zulässig sind, wenn auch mit dem Vorbehalt, dass mit Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden soll, „ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird“. Die generelle Frage der Beschränkbarkeit von Chartarechten, die durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, beantwortet der EuGH ebenfalls unter Rückgriff auf die entsprechenden Regelungen der EMRK82. Die von Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta angestrebte Kohärenz des Grundrechtsschutzes durch Unionsrecht einerseits und die EMRK andererseits wird nur erreicht, wenn auch die Maßstäbe der EMRK zur Einschränkbarkeit der Konventionsrechte von dem Begriff der „Tragweite“ umfasst und auf das entsprechende Chartagrundrecht mann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (155). Ähnlich auch: Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (119): „Gleichbedeutungsklausel“; Esser (Fn. 42), S. 55 (69): mittelbarer Anwendungsvorrang; Hilf (Fn. 55), § 164 Rz. 80: Unmittelbare Bindung der Union im Innenverhältnis an die EMRK und die EGMR-Rechtsprechung. 78 Philippi (Fn. 72), S. 44. 79 Molthagen (Fn. 64), S. 77 f.; Bühler (Fn. 69), S. 313; Grabenwarter in FS Steinberger, 2002, S. 1129 (1137). 80 Vgl. EuGH v. 17.12.2015 – C-419/14, ECLI:EU:C:2015:832 – WebMindLicenses Rz. 69 ff.; v. 15.2.2016 – C-601/15, ECLI:EU:C:2016:84 – J.M. Rz. 50. 81 Vgl. EuGH v. 15.2.2016 – C-601/15, ECLI:EU:C:2016:84 – J.M. Rz. 47 und 77 f. zu Art. 6 EU-GRCharta und Art. 5 EMRK. 82 EuGH v. 28.2.2013  – C-334/12 RX-II, ECLI:EU:C:2013:134  – Jaramillo u.a. Rz.  43; vgl. auch EuGH v. 16.11.2011 – C-548/09 P – Bank Melli Iran/Rat, Slg. 2011, I-11381 Rz. 89.

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Zukunft des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes

übertragen werden83, also etwa eine Einschränkung der Freiheitsgarantie des Art. 6 EU-GRCharta nur zulässig ist, wenn die Voraussetzungen vorliegen, unter denen Art. 5 Abs. 1 EMRK eine Freiheitsentziehung erlaubt. Davon gehen auch die Erläuterungen des Konvents zu Art.  6 EU-GRCharta aus, ebenso diejenigen zu Art.  2 EU-GRCharta (Recht auf Leben), nach denen die in Art. 2 Abs. 2 EMRK enthaltenen „Negativdefinitionen“ von Tatbeständen, die keine Verletzung des Rechts auf Leben bedeuten, als Teil der Charta betrachtet werden müssen. Insofern kann man von einem Vorrang des Schrankenregimes der EMRK sprechen84. Das schließt aber nicht aus, die Prüfung dieser Schranken in die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 EU-GRCharta zu integrieren85 und zusätzlich zu fordern, dass Einschränkungen den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer entsprechen müssen. Soweit sich daraus überhaupt höhere Anforderungen an die Rechtfertigung eines Eingriffs in Chartagrundrechte ergeben, als sie die EMRK verlangt, ist dies jedenfalls deshalb unbedenklich, weil es der Union gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 2 EU-GRCharta freisteht, einen weitergehenden Schutz zu gewähren als die EMRK86. d) Rechtsprechung des EGMR Bei Heranziehung der EMRK zur Inhalts- und Schrankenbestimmung der durch die Charta gewährleisteten Rechte nach Maßgabe von Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta ist über den Text der Vertragswerke hinaus die Rechtsprechung des EGMR zur Auslegung der Konvention zu berücksichtigen87. Das folgt schon aus der Präambel der Charta, die nicht nur auf die EMRK, sondern daneben ausdrücklich auf die Rechtsprechung des EGMR Bezug nimmt. Nur diese Anerkennung einer Orientierungs-

83 Vgl. Borowsky (Fn.  50), Art.  52 EU-GRCharta Rz.  30; Becker in Schwarze/Becker/Hatje/ Schoo, 3.  Aufl. 2012, Art.  52 EU-GRCharta Rz.  15; Streinz/Michl (Fn.  20), Art.  52 EU-GRCharta Rz. 7; Bühler (Fn. 69), S. 313; Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (2); Schmitz, JZ 2001, 833 (838 f.); Dorf, JZ 2005, 126 (128); Fassbender, NVwZ 2010, 1049 (1051). 84 Vgl. Borowsky (Fn. 50), Art. 52 EU-GRCharta, Rz. 29; Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S.  157; D.  von Arnim (Fn.  64), S.  438; Bühler (Fn. 69), S. 262; Pietsch (Fn. 64), S. 123 ff.; Kober (Fn. 66), S. 215; Schmitz, JZ 2001, 833 (838 f.); Grabenwarter in FS Steinberger, 2002, S. 1129 (1138 f.); Schmitz, EuR 2004, 691 (710  f.); Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); Fassbender, NVwZ 2010, 1049 (1050); Jarass, EuR 2013, 29 (41). 85 Vgl. Jarass, 3.  Aufl. 2016, Art.  52 EU-GRCharta Rz.  59  f.; wohl auch: Kingreen (Fn.  5), Art. 52 EU-GRCharta Rz. 38; Eisner (Fn. 67), S. 152; Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (120); für eine bloße Modifikation der Schranken des Unionsrechts durch die EMRK auch: Ehlers (Rz. 11), § 14 Rz. 100; mit der Möglichkeit einer Überlagerung von Art. 52 Abs. 1 durch Abs. 3 EU-GRCharta: Hilf (Fn. 55), § 164 Rz. 47 und 66. 86 Vgl. Streinz/Michl (Fn. 20), Art. 52 EU-GRCharta Rz. 11; Bühler (Fn. 69), S. 262. 87 Vgl. Erläuterungen des Konvents zu Art.  52 EU-GRCharta; Borowsky (Fn.  50), Art.  52 EU-GRCharta Rz. 37; Jarass, (Fn. 85), Art. 52 EU-GRCharta Rz. 65; Streinz/Michl (Fn. 20), Art. 52 EU-GRCharta Rz. 7; Becker (Fn. 83), Art. 52 EU-GRCharta Rz. 16.

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Monika Hermanns

und Leitfunktion der Rechtsprechung des EGMR auch über den Einzelfall hinaus88 wird dem Ziel einer Kohärenz des Grundrechtsschutzes durch die Charta einerseits und die EMRK andererseits gerecht. Dem trägt der EuGH dadurch Rechnung, dass er bei der Auslegung der maßgeblichen Bestimmungen der Konvention und „somit“ auch der Charta – soweit vorhanden – in erheblichem Umfang auf Rechtsprechung des EGMR rekurriert89. Er kommt damit bei seiner Prüfung der Unionsgrundrechte zu inhaltlichen Ergebnissen, die mit den Maßstäben der EMRK weitgehend übereinstimmen90. Inhaltliche Abweichungen lassen sich allenfalls punktuell feststellen, wenn bei einer Entscheidung des EuGH noch keine vorherige Entscheidung des EGMR ergangen war91; bewusste Abweichungen sind nicht feststellbar92. 3. Art. 6 Abs. 3 EUV und EMRK Ihre wesentliche Bedeutung für den unionsrechtlichen Grundrechtsschutz erlangt die EMRK seit der Kodifikation der Chartagrundrechte wie dargestellt über die Kohärenzklausel des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 der Charta93. Ob und welche Bedeutung den Bestimmungen der EMRK daneben als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts ­gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV zukommt, ist umstritten. Teilweise wird Art. 6 Abs. 3 EUV als gänzlich verzichtbar angesehen94, teilweise wird ihm die Funktion einer Entwicklungsklausel95 oder einer Klausel zur Lückenfüllung96 beigemessen, deren Inanspruchnahme allerdings nicht in Widerspruch zu Art.  6 Abs.  1 EUV und der EU-­ GRCharta geraten darf97.

88 Vgl. dazu BVerfGE 128, 326 (368) m.w.N. 89 EuGH v. 17.12.2015 – C-419/14, ECLI:EU:C:2015:832 – WebMindLicenses Rz. 71 und 77; v. 5.12.2017  – C-42/17, ECLI:EU:C:2017:936  – M.A.S.  und M.B. Rz.  55; v. 5.4.2017  – C‑217/15 und C-350/15, ECLI:EU:C:2017:264 – Orsi und Baldetti Rz. 25; v. 28.3.2017 – C‑72/15, ECLI:EU:C:2017:236 – Rosneft Oil Company Rz. 164 ff.; v. 18.12.2014 – C-562/13 Rz. 47; v. 9.11.2010 – C‑92/09 und C-93/09, C-92/09, C‑93/09 Rz. 51 f. 90 Dies als ausführliches und exaktes Nachzeichnen der EGMR-Rechtsprechung einordnend: Ruffert, EuGRZ 2004, 466 (471). 91 Vgl. etwa EuGH v. 21.9.1989 – 46/87 und 227/88 – Hoechst/Kommission, Rz. 17 f. einerseits und EuGH v. 22.10. 2002(1) – C-94/00, ECLI:EU:C:2002:603 – Roquette Frères Rz. 29 andererseits; zu den wenigen Fällen vgl. im Übrigen Gebauer (Fn. 56), S. 300 ff. und 317 ff.; Schmidt, Grund- und Menschenrechte in Europa, 2013, S. 99 ff. 92 Ebenso Tsiliotis (Fn. 55), S. 51 (81) m.w.N. 93 So auch: Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (198): „Art. 52 Abs. 3 der Charta als Kernstück der Regelungen zum Erhalt der Rechtssicherheit zwischen Charta und EMRK“. 94 Kingreen (Fn. 5), Art 6 EUV Rz. 18: Schmitz, EuR 2004, 691 (697 f.). 95 Schorkopf (Fn. 39), Art. 6 EUV Rz. 52 f.; Grabenwarter/Pabel (Fn. 48), § 4 Rz. 13; Beutler in von der Groeben/Schwarze/Hatje, 7. Aufl. 2015, Art. 6 EUV Rz. 23. Vgl. auch Präsidium des Konvents v. 22.10.2002, CONV 354/02, S.  9; Präsidium des Konvents v. 6.2.2003, CONV 528/03, S. 13. 96 Vgl. Ludwig, EuR 2011, 715 (733); auch Kokott/Sobotta, EuGRZ 2010, 265 (266 f.). 97 Vgl. Kingreen (Fn. 5), Art 6 EUV Rz. 17.

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Zukunft des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes

Die Bedeutung von Art. 6 Abs. 3 EUV hat nach Inkrafttreten der Charta jedenfalls erheblich abgenommen98. Die Bestimmung legitimiert und bestätigt die in jahrzehntelanger Rechtsprechung praktizierte Methode des EuGH, der den unionsrechtlichen Grundrechtschutz aus der EMRK als vorrangiger Rechtserkenntnisquelle entwickelt hat99. Sie betont zudem die Kontinuität des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes vor und nach Inkrafttreten der Charta. Das bereits zuvor erreichte Schutzniveau soll durch die Charta nicht unterschritten werden100.

V. Resümee Durch Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta ist eine weitgehende materielle Bindung des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes an die EMRK eingetreten, auch wenn diese ohne einen Beitritt der Union zur EMRK gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV formell nicht Bestandteil des Unionsrechts ist. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH, der nicht nur die Konventionsrechte, sondern auch die dazu ergangene Rechtsprechung des EGMR nach Maßgabe von Art. 52 Abs. 3 EU-GRCharta innerhalb der durch die Charta garantierten Rechte zur Entfaltung bringt, kommt der EMRK in der Auslegung durch den EGMR auch ohne Beitritt maßgebliche Bedeutung für einen grundrechtlichen Mindestschutz in der Union zu. Dennoch würde mit einem formellen Beitritt der Union zur EMRK ein erheblicher Mehrwert erzielt, insbesondere im Hinblick auf einen verbesserten Individualrechtsschutz bei Durchführung des Rechts der Union und im Hinblick auf die Vermeidung eines möglichen Auseinanderfallens von konventionsrechtlicher und unionsrechtlicher Verpflichtung der Mitgliedstaaten.

98 Vgl. Grabenwarter/Pabel (Fn. 48), § 4 Rz. 13. 99 Hatje in Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, 3. Aufl. 2012, Art. 6 EUV Rz. 16 f.; Grabenwarter/ Pabel (Fn. 48), § 4 Rz. 12; Pache/Rösch, EuZW 2008, 519 (521). 100 Grabenwarter/Pabel (Fn. 48), § 4 Rz. 13; Ohlendorf, Grundrechte als Maßstab des Steuerrechts in der Europäischen Union, 2015, S. 61 und 70; Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (154); Pache/Rösch, EuR 2009, 769 (772).

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … C. IV.

Zur praktischen Konkordanz von Grundfreiheiten und EU- Richtlinienrecht auf dem Gebiet der direkten Steuern Von Roland Wacker

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtsprechung und Schrifttum 1. Rechtsprechung des EuGH a) Grundfreiheitenbindung der Richtlinie

b) Sekundärrechtlicher Harmonisierungsvorrang und dessen Grenzen c) Fazit 2. Schrifttum 3. Stellungnahme 4. Ein kurzer Blick in die ATAD

I. Einleitung Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen EU-Richtlinien in einem durch das primäre EU-Recht nicht vollharmonisierten Rechtsbereich – wie beispielsweise demjenigen der direkten Besteuerung natürlicher oder juristischer Personen, d.h. der Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuer – nach den Maßgaben der Grundfreiheiten des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) auszulegen sind oder ob umgekehrt das Richtlinienrecht dazu führt, dass die EU-Grundfreiheiten keine oder nur noch eine reduzierte Schutzwirkung entfalten mit der weiteren Folge, dass die nationalen Umsetzungsakte lediglich auf ihre Richtlinienkonformität zu überprüfen sind, berührt nicht nur das grundsätzliche Verständnis des Unionsrechts. Das Verhältnis von sekundärem und primärem Unionsrecht hat insbesondere durch die Richtlinie (EU) 2016/1164 vom 12.7.2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts (sog. Anti-Tax Avoidance Directive; im Folgenden ATAD)1 sowie die Richtlinie (EU) 2017/952 vom 7.6.2017 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2016/1164 bezüglich hybrider Gestaltungen mit Drittländern (sog. Anti-Tax Avoidance Directive II)2 an besonderer Aktualität3 gewonnen. 1 Amtsblatt der Europäischen Union, ABl. EU 2016 L 193, 1. 2 ABl. EU 2017 L 144, 1; 3 Henze, ISR 2017, 401: Sekundärrecht spielt immer größere Rolle bei der Bestimmung der mitgliedstaatlichen Spielräume zur steuerrechtlichen Missbrauchsbekämpfung.

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Roland Wacker

Beiden Richtlinien, die sich auf die Binnenmarktkompetenz des Rats (Art. 115 AEUV) stützen, liegt der Entschluss der Europäischen Union zugrunde, die aus der Initiative der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zur Bekämpfung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (Base Erosion and Profit Shifting – BEPS) hervorgegangenen Handlungsempfehlungen, die sog. Aktionspunkte („Anti-BEPS-Maßnahmen“), auf Unionsebene durch „gemeinsame, aber flexible Lösungen […] rasch und koordiniert“ umzusetzen sowie diese um weitere Regelungen zur Sicherung der nationalen Besteuerungsrechte und einer allgemeinen Missbrauchsklausel zu ergänzen (Art. 5 und 6 ATAD)4. Beide Richtlinien zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie die Unterschiede der Unternehmensbesteuerungssysteme in den Mitgliedstaaten unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art. 5 des Vertrags über die Europäische Union – EUV –) anerkennen und deshalb lediglich ein einheitliches Mindestschutzniveau gegen grenzüberschreitende Steuervermeidungspraktiken festlegen5; ein Mindestschutzniveau, das allerdings zum einen weitergehende unilaterale Maßnahmen nicht ausschließt (Art. 3 ATAD), sowie zum anderen – wie z.B. im Rahmen der Hinzurechnungsbesteuerung nach Art.  7 ATAD  – für einzelne Detailregelungen den Mitgliedstaaten Wahlrechte eröffnet. Wesentliches Kennzeichen der Richtlinie ist ferner, dass ihr Geltungsbereich auf körperschaftsteuerpflichtige Steuersubjekte beschränkt ist (Art. 1 ATAD)6. Sie gilt zwar auch für die Gewerbesteuer dieser Steuerpflichtigen7, nicht jedoch  – wiederum im Interesse der Begrenzung des nationalen Anpassungsbedarfs  – für die Einkommensteuer natürlicher Personen und demgemäß auch nicht, soweit diese an in den jeweiligen Mitgliedstaaten „steuerlich transparenten Unternehmen“ beteiligt sind8. Die Handlungsform der Richtlinie wurde aber nicht nur – so der Erwägungsgrund 2 der ATAD – deshalb als „bevorzugte(s) Mittel“ angesehen, weil hierdurch die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts als ein Raum „hochgradig integrierter Volkswirtschaften“ gesichert und durch den „gemeinsamen Rahmen eine Fragmentierung des Marktes“ verhindert werden. Hinzu komme, dass dann, wenn die nationalen Durchführungsmaßnahmen EU-einheitlich ausgerichtet seien, „die Steuerpflichtigen die Gewähr“ hätten, dass „die betreffenden Maßnahmen mit dem Unionsrecht in Einklang“ stehen9. Dem liegt erkennbar die Vorstellung zugrunde, dass das Sekundärrecht dem Geltungsanspruch der primärrechtlichen Grundfreiheiten und damit zugleich den Unwägbarkeiten und zeitgebunden Schwankungen der gerade für den Bereich der direkten Steuern ergangenen Rechtsprechung des EuGH entzogen ist. Dies ist, wie zunächst darzulegen sein wird, deshalb zweifelhaft, weil die Rechtsprechung des EuGH gerade auch mit Rücksicht auf das Verhältnis von Primär- und Sekundärrecht 4 Art. 5 ATAD (Wegzugsbesteuerung) und Art. 6 (Allgemeine Vorschrift zur Verhinderung des Missbrauchs). S. im Einzelnen Fehling, DB 2016, 2862. 5 S. dazu insbesondere ATAD, Erwägungsgrund 3 und 16. 6 Zur KSt-pflichtigen Mitunternehmern s. Eilers/Oppel, IStR 2016, 312 (313); Jochen Lüdicke/ Oppel, DB 2016, 549. 7 Zutr. Hey, StuW 2017, 248 (253) m.w.N. 8 ATAD, Erwägungsgrund 3. 9 ATAD, Erwägungsgrund 2 a.E.

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Praktische Konkordanz von Grundfreiheiten und EU-Richtlinien

erhebliche Unsicherheiten bereithält. Nur so ist auch zu erklären, dass das jüngste Urteil des I. BFH-Senats vom 19.7.2017 – I R 87/1510 zu diesem Problemkreis es ausdrücklich offen gelassen hat, ob die zur Umsetzung der Mutter-Tochter-Richtlinie11 ergangene Vorschrift des § 8b Abs. 6 Nr. 1 KStG 1999 a.F. (Versagung einer Teilwertabschreibung aufgrund grenzüberschreitender Gewinnausschüttung) an den EUGrund­freiheiten zu messen ist.

II. Rechtsprechung und Schrifttum 1. Rechtsprechung des EuGH a) Grundfreiheitenbindung der Richtlinie Aus der Rechtsprechung des EuGH zu den auf dem Gebiet der direkten Steuern erlassen Richtlinien sticht zunächst das Urteil vom 18.9.2003 – C-168/01 – Bosal12 – heraus, mit dem das Gericht zwar die damalige niederländischen Regelung, die den Abzug von Kosten im Zusammenhang mit Beteiligungen an in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochterkapitalgesellschaft ausgeschlossen hatte, als mit Art. 4 Abs. 2 der Mutter-Tochter-Richtlinie13 vereinbar angesehen hat. Da es sich hierbei aber um ein Richtlinien-Wahlrecht („Möglichkeit“) handle, sei dieses im Lichte der Niederlassungsfreiheit mit der Folge auszulegen, dass das Primärrecht einem solchen Abzugsverbot entgegenstehe; der Umstand, dass die Gewinne der Tochtergesellschaft in den Niederlanden nicht besteuert würden, sei weder durch den Aspekt der Wahrung kohärenter Besteuerungssysteme noch nach dem Territorialitätsprinzip geeignet, den Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit zu rechtfertigen. Hieran anschließend hat der EuGH mit Urteil vom 23.2.2006  – C-471/04  – Keller Holding14 – zum Betriebsausgabenabzugsverbot für Finanzierungsaufwendungen im Zusammenhang mit der steuerfreien Ausschüttung ausländischer Einkünfte unter Geltung des früheren Anrechnungsverfahrens erkannt, dass von dem vorgenannten Richtlinienwahlrecht nur unter Beachtung der Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht werden könne; auch in diesem Verfahren lehnte er eine Rechtfertigung der Grundfreiheitsbeschränkung ab, weil die Ausschüttungen inländischer Gewinne zwar bei der deutschen Muttergesellschaft der Körperschaftsteuer unterlägen, sie jedoch infolge der Körperschaftsteueranrechnung „faktisch“ – gleich Ausschüttungen ausländischer Tochtergesellschaften – von der Steuer entlastet seien.

10 DStR 2018, 67; DB 2018, 30. 11 Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten – Mutter-­ Tochter-Richtlinie – (ABl. EG 1990 L 225, 6, ber. ABl. EG 1990 L 266, 20); jetzt Richtlinie 2011/96/EU, Abl. EU L 345, 8, letzte Konsolidierung v. 17.2.2015. 12 EuGH v. 18.9.2003 – C-168/01 – Bosal, Slg. 2003, I-9409. 13 Heute Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/96/EU. 14 EuGH v. 23.2.2006 – C-471/04 – Keller Holding, Slg. 2006, I-2107. Vgl. dazu den Disput zwischen Forsthoff, IStR 2006, 222, 698 und Jürgen Lüdicke/L. Hummel, IStR 2006, 694.

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Mit Urteilen vom 13.6.2006 – I R 78/0415 sowie vom 9.8.2006 – I R 50/0516 hat der BFH sich dieser Rechtsprechung auch für das aus § 8b Abs. 7 KStG 1999 und § 8b Abs.  5 KStG 2001/2002 abgeleitete Betriebsausgabenabzugsverbot i.H. eines Pauschalbetrags von 5 % der Dividenden aus ausländischen Beteiligungen angeschlossen; die Pauschalierungen orientierten sich zwar ersichtlich an Art. 4 Abs. 2 der Mutter-Tochter-Richtlinie (435/90/EWG)17, auch diese Ermächtigung des Sekundärrechts sei aber an der Niederlassungsfreiheit zu messen; nationale Regelungen, die lediglich zu Lasten der ausländischen Beteiligungsgesellschaften ein pauschales Betriebsausgabenabzugsverbot vorsähen, seien – im Anschluss an die Grundsätze des EuGH-Urteils C-168/01 – Bosal – mit dem Primärrecht unvereinbar und innerhalb der EU18 nicht anwendbar. b) Sekundärrechtlicher Harmonisierungsvorrang und dessen Grenzen Im Gefolge des Urteils vom 30.9.2003 – C-167/01 – Inspire Art19 – hat der EuGH – wie bspw. im Urteil vom 8.3.2017 – C-14/16 – Euro Park Service – die vorgenannten Judikate in nunmehr „ständiger Rechtsprechung“20 auch für die Überprüfung von Richtlinien auf dem Gebiet des Ertragsteuerrechts dahin präzisiert, dass zwar jede nationale Regelung in einem auf Ebene der EU abschließend harmonisierten Bereich anhand dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand des Primärrechts zu beurteilen sei. hiervon unberührt bleibe jedoch die Prüfung, ob die im jeweiligen Einzelfall streitige Richtlinienbestimmung und damit auch die hierauf fußende nationale Vorschrift in eine solche abschließende Harmonisierung einbezogen sei. Letzteres hat der EuGH indes für die ihm im Jahr 2016 vorgelegten Richtlinienregelungen auf dem Gebiet der direkten Steuern durchgängig verneint:

15 BStBl. II 2008, 821. 16 BStBl. II 2008, 823. 17 Heute Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/96/EU. 18 Ebenso zur Kapitalverkehrsfreiheit BFH v. 9.8.2006 – I R 95/05, BStBl. II 2007, 279 (betr. Drittstaatengesellschaften). 19 Slg 2003, I-10155, s. insbesondere dort Rz. 58, 68 ff. 20 Das Urteil C-14/16 – Euro Park Service – verweist insoweit auf das Urteil v. 12.11.2015 – C-198/14, EU:C:2015:751 – Visnapuu Rz. 40, LS 1: „Jede nationale Regelung in einem Bereich, der auf Unionsebene abschließend harmonisiert wurde, ist anhand der fraglichen Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand des Primärrechts zu beurteilen. Für die Prüfung, ob die mit einer Richtlinie vorgenommene Harmonisierung abschließenden Charakter hat, hat der Gerichtshof die betreffenden Vorschriften auszulegen und dabei nicht nur ihren Wortlaut, sondern auch ihren Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden. Vgl. ferner EuGH-Urteil v. 11.12.2003 – C-322/01, ECLI:EU:C:2003:664 – Deutscher Apothekerverband Rz. 64: „Zwar ist jede nationale Regelung in einem Bereich, der auf Gemeinschaftsebene abschließend harmonisiert wurde, anhand der fraglichen Harmonisierungsmaßnahme und nicht des primären Gemeinschaftsrechts zu beurteilen (Urteile v. 12.10.1993 in der Rechtssache C-37/92, Vanacker und Lesage, Slg. 1993, I-4947, Rz. 9). Jedoch ist die den Mitgliedstaaten in Artikel 14 Absatz 1 der Richtlinie 97/7 verliehene Befugnis, wie in dieser Bestimmung ausdrücklich gesagt wird, unter Beachtung des EG-Vertrags auszuüben“.

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Praktische Konkordanz von Grundfreiheiten und EU-Richtlinien

Im Urteil C-14/16 – Euro Park Service – war über die Aufwärtsverschmelzung einer französischen Kapitalgesellschaft auf ihre luxemburgische Muttergesellschaft (Euro Park) und damit über eine nach Art. 4 Abs. 1 der Fusionsrichtlinie21 im Grundsatz begünstigte, d.h. zu Buchwerten (rd. 9,39 Mio. Euro) zu vollziehende Fusion zu entscheiden. Kernpunkt des Streits war das in Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie den Mitgliedstaaten eingeräumte Recht, diese Begünstigung der Buchwertverschmelzung „ganz oder teilweise versagen […], wenn eine Fusion… als hauptsächlichen Beweggrund oder als einen der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinterziehung oder -umgehung hat“, wovon nach Satz 2 der Regelung „ausgegangen werden kann, wenn die Fusion […] nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen – insbesondere der Umstrukturierung oder der Rationalisierung der beteiligten Gesellschaften – beruht“. In Umsetzung dieses Wahlrechts sah das französische Steuergesetzbuch für grenzüberschreitende Buchwert-Fusionen das Erfordernis einer Vorabbewilligung vor, die neben der Sicherstellung der künftigen Besteuerung der nicht aufgedeckten stillen Reserven die Rechtfertigung der Umwandlung durch einen wirtschaftlichen Grund erforderte, der insbesondere in der Ausübung einer eigenständigen Tätigkeit durch die die Einlage annehmende Gesellschaft, in einer Strukturverbesserung oder in einem Zusammenschluss zwischen den Parteien liegen kann. Mangels einer solchen Vorabbewilligung hat die französische Steuerverwaltung die Buchwertfortführung abgelehnt; ob dies auch damit zusammenhing, dass die „Einlagen von Euro-Park“ weniger als 5  Monate nach Wirksamwerden der Fusion zum Verkehrswert (rd. 15, 78 Mio. Euro) veräußert wurden22, erschließt sich aus dem mitgeteilten Sachverhalt nicht. Jedenfalls hat der EuGH hierzu ausgeführt23, dass Art. 11 Abs. 1 Buchst. a Fusionsrichtlinie lediglich die „Möglichkeit“ (also ein Wahlrecht) einräume, die Begünstigungen der Fusionsrichtlinie zu versagen und sie deshalb keine abschließende Harmonisierung bezwecke mit der Folge, dass das Vorabbewilligungsverfahrens nicht nur auf seine Richtlinienkonformität, sondern auch auf die Vereinbarkeit mit dem EU-Primärrecht zu überprüfen sei. Abgesehen davon, dass die französischen Verfahrensmodalitäten nach Ansicht des EuGH mangels hinreichender Rechtssicherheit gegen den Effektivitätsgrundsatz24 verstoßen, hat er auch die inhaltlichen Anforderungen des Vorabverfahrens als mit der Missbrauchsregelung des Art.  11 Abs.  1 Buchst. a Fusionsrichtlinie, die angesichts ihres Ausnahmecharakters eng und unter 21 Richtlinie 90/434/EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. EG 1990 L 225, 1; jetzt Art. 15 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2009/133/EG des Rates v. 19.10.2009 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, Abspaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, sowie für die Verlegung des Sitzes einer Europäischen Gesellschaft oder einer Europäischen Genossenschaft von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat, ABl. EG 2009 L 310, 34. 22 S. Rz. 13 des Urteils. 23 S. Rz. 22 ff. des Urteils. 24 Dazu jüngst BFH v. 27.2.2018 – I B 37/17, n.v.

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Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auszulegen sei, nicht vereinbar angesehen, da dieser nur für den Fall, dass der beabsichtigte Vorgang ausschließlich auf die Erlangung eines Steuervorteils abziele und daher nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen beruhe, gestatte, von der Vermutung der Steuerhinterziehung oder -umgehung auszugehen25. Dies schließe eine allgemeine Vermutung der Steuerhinterziehung oder -umgehung aus; erforderlich sei insoweit die Untersuchung der Gesamtumstände des Einzelfalls. Dem entspreche das französische Verfahren auch deshalb nicht, weil hiernach der Steuerpflichtige beweisen müsse, dass der Vorgang durch einen wirtschaftlichen Grund gerechtfertigt sei, ohne dass die Verwaltung ­verpflichtet wäre, auch nur ein Indiz für Vorliegen einer Steuerhinterziehung oder -umgehung beizubringen26. Hieran anknüpfende bejaht das Urteil – auf der zweiten primärrechtlichen Prüfungsstufe – schließlich auch den Verstoß des Bewilligungsvoraussetzungen gegen die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV); zwar gehöre die Bekämpfung der von Steuerhinterziehung und -umgehung zu den eine Beschränkung der Grundfreiheiten rechtfertigenden Gründen, eine hierauf gerichtete allgemeine Vermutung gehe jedoch über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinaus und verletzte den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz27. Methodisch vergleichbar hat der EuGH im Urteil vom 23. November 2017 C-292/16 – A Oy28 – erkannt, bei dem die Einbringung einer österreichischen Betriebsstätte der A Oy (finnische Gesellschaft) in eine österreichische Gesellschaft gegen Gewährung von Anteilsrechten streitig war. Da der Mitgliedstaat der einbringenden Gesellschaft, sofern er ein System der Weltgewinnbesteuerung anwendet, nach Art. 10 Abs. 2 Fusionsrichtlinie berechtigt ist, die anlässlich der Einbringung von Unternehmensteilen entstehenden Veräußerungsgewinne der Betriebsstätte zu besteuern, „vorausgesetzt, dass er die Steuer, die ohne die Bestimmungen dieser Richtlinie auf diese Gewinne oder Veräußerungsgewinne im Staat der Betriebsstätte erhoben worden wäre“, in gleicher Weise und mit dem gleichen Betrag anrechnet, wie wenn diese Steuer tatsächlich erhoben worden wäre und Finnland von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht hatte, wurde der Einbringungsgewinn (Veräußerungsgewinn) im Jahr der Einbringung (2006) besteuert. Da die Fusionsrichtlinie aber weder in Art. 10 Abs. 2 noch in ihren sonstigen Bestimmungen eine Aussage zum Zeitpunkt der Besteuerung treffe, mithin eine (verdeckte) Regelungslücke enthalte, sei dieser Zeitpunkt von den Mitgliedstaaten unter Beachtung der Ziele der Richtlinie sowie der primären Gewährleistungen des EU-Rechts zu bestimmen. Das finnische Steuerrecht, das eine sofortige Besteuerung nur bei Einbringung ausländischer Betriebsstätten in ausländische Gesellschaften vorsehe, sei zwar geeignet, die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse sicherzustellen und damit die Grundfreiheitenbeschränkung zu rechtfertigen; es verletzte aber den Ver­ hältnismäßigkeitsgrundsatz, weil es  – entgegen der Rechtsprechung des EuGH zur

25 Hinweis u.a. auf EuGH v. 17.7.1997 – C-28/95, EU:C:1997:369 – Leur-Bloem Rz. 45. 26 S. Rz. 54 ff. des Urteils. 27 Rz. 69 des Urteils. 28 EuGH v. 23.11.2017 – C-292/16, ECLI:EU:C:2017:888 – A.

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Entstrickungsbesteuerung29 – dem Einbringenden kein Wahlrecht zwischen der sofortigen Zahlung des Steuerbetrags und einer gestreckten (ggf. zinsbelasteten) Besteuerung einräume. Die Höhe der geschuldeten Steuer sei hierbei ohne Bedeutung; die Unverhältnismäßigkeit ergebe sich bereits aus dem Umstand, dass dem Steuerpflichtigen keine Möglichkeit gegeben werde, den Zeitpunkt ihrer Einziehung hinauszuschieben. Der nämliche Befund stellt sich mit Blick auf zwei Urteile zur Mutter-Tochter-Richtlinie ein, deren Art.  5 ausgeschüttete Gewinne der EU-Tochtergesellschaft an ihre EU-Muttergesellschaft (Art.  3) vom Quellenabzug befreit. Letzteres stand allerdings – nach der damaligen Richtlinienfassung30 – „der Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen nicht entgegen“. Hierauf aufbauend sah das französische Steuergesetzbuch vor, dass die Quellenbesteuerung ausgeschlossen ist, wenn die ausgeschütteten Dividenden einer juristischen Person zufließen, die unmittelbar oder mittelbar von einer oder mehreren in Staaten, die nicht Mitglieder der Gemeinschaft sind, ansässigen Personen kontrolliert wird, es sei denn, diese juristische Person weist nach, dass der Hauptzweck oder einer der Hauptzwecke der Beteiligungskette nicht darin besteht, Vorteile aus der Quellensteuerbefreiung zu ziehen. Im Urteil vom 7.9.2017 – C-6/16 – Eqiom und Enka31 – ging es um eine französische SA (Eqiom), die Dividenden an ihre luxemburgische Muttergesellschaft (Enka SA) ausschüttete, an der eine in der Schweiz niedergelassene Holding mittelbar über eine zypriotische Ltd. zu 99 % beteiligt war. Der EuGH hat auch in diesem Zusammenhang zwar den Vorrang des harmonisierten Sekundärrecht betont, den mitgliedstaatlichen Vorbehalt angesichts seines Optionscharakters („steht nicht entgegen“) in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie hiervon jedoch ausgenommen und die zur Prüfung gestellten Regelungen des französischen Steuerrechts sowohl anhand des Sekundär- als auch des Primärrechts geprüft. Auch in diesem Urteil betont der EuGH  – im Anschluss an das Urteil C-14/16  – Euro Park Services  – auf der ersten Prüfungsstufe (­Sekundärrecht) das Gebot, den Vorbehalt des Art. 1 Abs. 2 Mutter-Tochter-Richtlinie – als Ausnahme zum Grundsatz der steuerneutralen Ausschüttung – eng auszule29 Vgl. EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10, EU:C:2011:785 – National Grid Indus; v. 21.5.2015 – C-657/13, EU:C:2015:331 – Verder LabTec. 30 Nach der Richtlinie (EU) 2015/121 des Rates v. 27.1.2015 zur Änderung der Richtlinie 2011/96/EU über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten hat Art. 1 Abs. 2 bis 4 nunmehr folgenden Wortlaut: „(2) Liegt — unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände — eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vor, bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck dieser Richtlinie zuwiderläuft, so gewähren die Mitgliedstaaten Vorteile dieser Richtlinie nicht. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen. (3) Für die Zwecke von Absatz 2 gilt eine Gestaltung oder eine Abfolge von Gestaltungen in dem Umfang als unangemessen, wie sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln. (4) Die vorliegende Richtlinie steht der Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerbetrug oder Missbrauch nicht entgegen“. 31 EuGH v. 7.9.2017 – C-6/16, ECLI:EU:C:2017:641 – Eqiom und Enka.

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gen32. Erfasst würden deshalb – i.S.d. Urteils vom 12.9.2006 – C-196/04 – Cadbury Schweppes33 – nur rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktionen; dies schließe nicht nur allgemeine Vermutungen, sondern nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch generelle Vorschriften für bestimmte Sachverhalte. Nichts anderes gelte für den Aspekt der Kontrolle der Muttergesellschaft durch in Drittstaaten ansässige Personen, da die Herkunft der Anteilseigner für die Begünstigung der unionsansässigen Gesellschaften nach der Mutter/Tochter-Richtlinie keine Rolle spiele. Ebenso sei auf der Stufe der Prüfung des Primärrechts zu entscheiden. Die Beschränkung der vorliegend einschlägigen Niederlassungsfreiheit könne zwar u.a. durch den Gesichtspunkt der Vermeidung von Steuerhinterziehung und -umgehung gerechtfertigt sein, jedoch seien die französischen Bestimmungen auch unter diesem Blickwinkel nicht verhältnismäßig34. Im nämlichen Sinne hat der EuGH schließlich mit Urteil vom 20.12.2017 – C-504/16, C-613/1635 – Deister Holding und Juhler Holding – zur Versagung der Quellensteuererstattung nach bloßer Anhörung des Generalanwalts erkannt. Dem Verfahren Deister Holding lag die 100%ige Beteiligung einer natürlichen Person an der niederländischen Muttergesellschaft zugrunde; im Fall Juhler Holding ging es um eine mittelbare Beherrschung durch die in einem Drittstaat (Singapur) ansässige natürliche Person. Die auf Art. 1 Abs. 2 Mutter-Tochter-Richtlinie gestützte deutsche Regelung (§ 50d Abs. 3 i.d.F. JStG 2007) sah vor, dass „eine ausländische Gesellschaft  … keinen Anspruch auf  … Erstattung der“ Quellensteuer (Kapitalertragsteuer, Solidaritätszuschlag) hat, „soweit Personen an ihr beteiligt sind, denen die Erstattung oder Freistellung nicht zustände, wenn sie die Einkünfte unmittelbar erzielten, und 1. für die Einschaltung der ausländischen Gesellschaft wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe fehlen oder 2. die ausländische Gesellschaft nicht mehr als 10  Prozent ihrer gesamten Bruttoer­ träge des betreffenden Wirtschaftsjahres aus eigener Wirtschaftstätigkeit erzielt oder 3. die ausländische Gesellschaft nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt. (Satz  2) Maßgebend sind ausschließlich die Verhältnisse der ausländischen Gesellschaft; organisatorische, wirtschaftliche oder sonst beachtliche Merkmale der Unternehmen, die der ausländischen Gesellschaft nahe stehen (§ 1 Abs. 2 des Außensteuergesetzes), bleiben außer Betracht. (Satz 3) An einer eigenen Wirtschaftstätigkeit fehlt es, soweit die ausländische Gesellschaft ihre Bruttoerträge aus der Verwaltung von Wirtschaftsgütern erzielt oder ihre wesentlichen Geschäftstätigkeiten auf Dritte überträgt“. Auch diese Vorschrift unterliege – mangels abschließender Harmonisierung – der zweistufigen Prüfung; auch sie widerstreite – in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Urteils C-6/16 – E ­ qiom und Enka – dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (insbesondere keine Beschränkung auf rein künstliche Gestaltungen) und sei deshalb weder mit der Richtlinie noch mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar. 32 EuGH v. 7.9.2017 – C-6/16 – Eqiom und Enka Rz. 26 ff. 33 EuGH v. 12.9.2006  – C-196/04, EU:C:2006:544  – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas. 34 EuGH v. 7.9.2017 – C-6/16 – Eqiom und Enka Rz. 64 i.V.m. Rz. 30 ff. 35 EuGH v. 20.12.2017 – C-504/16, C-613/16, ECLI:EU:C:2017:1009 – Deister Holding und Juhler Holding. S. dazu Kahlenberg, IWB 2018, 145; Schnitger, IStR 2018, 169.

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c) Fazit Kennzeichen aller vorgenannten Entscheidungen aus dem Jahre 2017 ist einerseits das grundsätzliche Bekenntnis des EuGH zum Anwendungsvorrang des Sekundärrechts, andererseits dessen Einschränkung insofern, als den Mitgliedstaaten – sei es offen, sei es verdeckt – Wahlrechte oder Ausgestaltungsbefugnisse eingeräumt werden. Soweit Letzteres zu bejahen ist, sind die hierauf gestützten Maßnahmen nach Maßgabe der Regelungsziele der Richtlinien in einer ersten Prüfungsstufe nicht nur an den verfahrensrechtlichen Gewährleistungen des Unionsrechts (Effektivitäts- und Äquivalenzgrundsatz), sondern auch am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen. Auf der zweiten primärrechtlichen Stufe sind die im nicht abschließend harmonisierten Teilbereich des Sekundärrechts ergangenen nationalstaatlichen Bestimmungen daraufhin zu überprüfen, ob sie den Garantien der Grundfreiheiten entsprechen (Aufhebung des sekundärrechtlichen Anwendungsvorgangs) mit der Folge, dass deren Beschränkung sowohl den bekannten Rechtfertigungsgründen als auch der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unterworfen wird und sich hierdurch in der Gesamtschau beider Prüfungsebenen ein einheitlicher Beurteilungsmaßstab ergibt oder sich jedenfalls ergeben kann. 2. Schrifttum Ein Blick in das jüngere Schrifttum zeigt – wie nicht anders zu erwarten – nicht nur ein uneinheitliches, sondern vor allem ein facettenreiches Bild. Die Ansicht des EuGH zum grundsätzlichen Anwendungsvorrang des Primärrechts wird insbesondere von Kingreen mit dem Hinweis darauf geteilt, dass diese Ansicht den Übergang von der durch die Grundfreiheiten bewirkten negativen Integration zur positiven Integration des Unionsgesetzgebers und der hiermit verbundenen Konkretisierung der grundfreiheitlichen Verbürgungen nachzeichne. Der Umfang der abschließenden Harmonisierung sei durch Auslegung des Rechtakts und unter Berücksichtigung des Binnenmarktziels zu erreichen36. Ähnlich sieht Forsthoff37 die Grundfreiheiten einerseits und das Sekundärrechts andererseits als unterschiedliche Instrumente zur Verwirklichung des Binnenmarkts. Zwar sei der Tatbestand der Grundfreiheiten ungeachtet der Form der sekundärrechtlichen Harmonisierung er36 Kingreen in Callies/Ruffert, 5. Aufl., Art. 34 bis 36 EUV Rz. 18 m.w.N. Gleicher Ansicht z.B. Bumke in Schuppert/Haltern/Pernice, Europawissenschaft, 2005; S. 643 (653): Schwache primärrechtliche Bindung des Sekundärrechts; Callies, DVBl 2007, 336 (345): Grundfreiheiten begründen als transnationale Integrationsnormen nur Abwehrrechte gegen Eingriffe der Mitgliedstaaten; EU-Gesetzgeber baut keine Markzugangshindernisse auf, sondern ab. EU-Gesetzgeber ist an EU-Grundrechte (Art. 6 Abs. 2 EUV) und damit an allgemeinen Gleichheitssatz mit der Folge des Schutzes vor willkürlichen Diskriminierungen gebunden. Ruffert, JuS 2009, 97 (102): Sekundäres Recht zur Binnenmarktharmonisierung verdrängt in der Anwendung die primärrechtlichen Grundfreiheiten und ihre Rechtfertigung. Ebenso zu Art. 57 EGV (Art. 53 AEUV) Everling in GS Knobbe-Keuk, S. 607 (624). Weitergehend Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 151: tatbestandlicher Ausschluss. 37 Forsthoff in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV Rz. 347 ff.; ders., IStR 2006, 222, 698.

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öffnet; auch sei das Richtlinienrecht im Lichte der Freiheiten auszulegen. Zu berücksichtigen sei hierbei aber die unterschiedliche Zielsetzung beider Rechtskreise: während die Grundfreiheiten das mitgliedstaatliche Recht einer einzelfallbezogenen Kontrolle unterwerfe, sei das Sekundärrechte auf eine Koordinierung und Vereinheitlichung der nationalen Rechte gerichtet. Demgemäß ergebe sich unter Berücksichtigung der Gestaltungsfreiheit des EU-Gesetzgebers eine Verschränkung von ­Primär- und Sekundärrecht mit der weiteren Folge, dass eine abschließende Richtlinienbestimmung einerseits die Mitgliedstaaten sowohl im Hinblick auf das Richtlinienziel als auch auf das hierfür vorgegebene Mittel binde; andererseits seien die Mitgliedstaaten keinen über das Sekundärrecht hinausgehenden Anforderungen aus den Grundfreiheiten ausgesetzt38. Die Richtlinie wirke zur Vermeidung einander widersprechender Normbefehle jedenfalls im Grundsatz auf der Ebene der Freiheiten als Rechtfertigungsgrund. Schwierigkeiten könnten sich allerdings mit Rücksicht auf die Feststellung ergeben, ob und in welchem Umfang eine abschließende Richtlinienharmonisierung vorliege39. Räume das Sekundärrecht eine Handlungsalternative oder einen Handlungsspielraum ein, seien auch diese Gestaltungsoptionen gegen eine Grundfreiheitenprüfung immunisiert. In ähnlicher Weise dürfte die die Einschätzung von Teichmann40 zu verstehen sein, der aus seiner ausführlichen Diagnose des EuGH-Urteils C-167/01 – Inspire Art – den Schluss zieht, dass die strengere Kontrolldichte mitgliedsstaatlicher Maßnahmen nach Maßgabe der Beschränkungsverbote durch die spezifische Stoßrichtung nationaler und im Interesse der Marktabschottung ergangener Normen gerechtfertigt sei; eben dies treffe aber  – so Teichmann weiter – für das Sekundärrecht, das grundsätzlich auf eine Marktöffnung ziele, nicht zu. Demgegenüber gehen nach anderer – weit verbreiteter – Ansicht die Grundfreiheiten dem Sekundärrecht im Sinne eines traditionell-hierarchischen Normverständnisses vor. Eine Verletzung der Grundfreiheiten sei von den Mitgliedstaaten als Herren der Verträge ex ante ausgeschlossen worden; die Freiheitsrechte markierten deshalb die Grenze unionaler Rechtssetzung sowie der zulässigen Auslegung des Sekundärrechts41. Diese Ansicht wird im Grundsatz auch von Hey geteilt. Nach ihren Ausführungen zur Harmonisierung der Missbrauchsabwehr durch die ATAD ist die Richtlinie nicht nur vorrangig im Lichte der EU-Freizügigkeitsgarantien auszulegen42, was 38 Hinweis auf EuGH v. 30.9.2003 – C-167/01 – Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 Rz. 58. 39 Vgl. hierzu auch der Vorwurf von Mitschke, IStR 2018, 65 („Staatsstreich gegen den Unionsgesetzgeber“), der EuGH habe im Urteil v. 23.11.2017  – C-292/16  – A (Fn.  28) verkannt, dass Art. 10 Abs. 2 Fusionsrichtlinie im Hinblick auf die sofortige Einbringungs­ gewinnbesteuerung (Normalfall) eine eindeutige und abschließende Regelung getroffen habe. 40 Teichmann in FS Scheuing, 2011, 735. 41 Reimer in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, Rz.  7.19. Gl.A. Jürgen Lüdicke/Lars Hummel, IStR 2006, 694; Englisch in Tipke/Lang, Das Steuerrecht, 2015, 22. Aufl., § 4 Rz 8 ff.; Leible/Domröse, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl., 2015, S. 151 f.; Desens, IStR 2014, 825 (828 f.); Ruffert in Callies/Ruffert, 5. Aufl., Art. 288 AEUV Rz 8. 42 Zur primärrechtskonformen Auslegung s. insbesondere Leible/Domröse, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl., 2015, S. 150 ff.; F. Müller/F.Christensen, Juristische Methodik, Bd. II,

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bspw. im Rahmen des Motivtests zur Vermeidung der Hinzurechnungsbesteuerung nach Art. 7 Abs. 2 Satz 2 ATAD Bedeutung erlangen könne. Darüber hinaus sei der Mindestschutzstandard der Richtlinie an den alle Organe der EU bindenden (Art. 13 Abs. 2 EUV) Grundfreiheiten zu messen43. Berücksichtigung müsse hierbei jedoch die mit der unionsrechtlichen Gewaltenteilung verbundene Gestaltungsfreiheit des Unionsgesetzgebers finden; ihre komme Konkretisierungsfunktion44 zu, ohne aber das Primärrecht außer Kraft zu setzen45. Hiervon zu unterscheiden seien Regelungen, die zur Gewährleistung eines höheren Schutzniveaus über den Mindestschutz der Richtlinie hinausgingen; sie unterlägen einer uneingeschränkten Überprüfung anhand der Grundfreiheiten46. Diese Einschätzung wird im Ergebnis von Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache C-292/16 – A Oy – geteilt. Auch abschließend harmonisierende Richtlinien seien primärrechtskonform auszulegen und inzident auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten zu prüfen wäre. Da Grundfreiheiten auch für Maßnahmen der Unionsorgane gelten, seien sie auch bei ihrer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten zu beachten47. 3. Stellungnahme Der Vorrangthese des EuGH, nach der jede nationale Regelung in einem auf Ebene der EU abschließend harmonisierten Bereich anhand dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand des Primärrechts zu beurteilen sei, fehlt nicht nur eine nachvollziehbare Begründung; offensichtlich ist das Gericht sich selbst auch nicht wirklich sicher. Nur so dürfte die – wie die vorgenannten Entscheidungen zeigen – „eilige Flucht“ in die angeblich bestehenden Harmonisierungslücken zu erklären sein. Auch dies wirkt wenig überzeugend und vermittelt eher die Erleichterung darüber, den Konsequenzen des selbst behaupteten sekundärrechtlichen Primats im Rahmen des Richterspruchs entgehen zu können.

Europarecht, S. 442; Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, Schriften zur Rechtstheorie, Heft 245, 456 ff. 43 StuW 2017, 248 (253 f.). 44 S. dazu auch die Analyse der EuGH-Rspr. bei C. Müller/F.Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Europarecht, S. 440 f. (444 ff.). 45 Hey (Fn. 7), 254. Im Ergebnis ähnlich Schön, JbFStR 2017, 2018, S. 83: freundliche Haltung des EuGH, weil Richtlinie nicht die Gefahr eines einseitigen Protektionismus birgt, sondern Rechtfertigungsgründe für eine Beschränkung der Grundfreiheiten zu vergemeinschaften; Rosenfeld/Würdemann, EUR 2016, 453 (461 f.): Zwar Bindung des Unionsgesetzgebers nach dem Rechtsstaatsprinzip an Grundfreiheiten, aber Ausgleich mit konfligierendem Sekundärrecht auf der Stufe der Rechtfertigung der Grundfreiheitenbeschränkung. Schönberger, EUR 2003, 600: im Vergleich zur Überprüfung des Rechts der Nationalstaaten geringere Kontrollintensität gegenüber dem EU-Sekundärrecht als Folge geringeren Hierarchisierung des Unionsrechts. Zum judicial restraint des EuGH s. auch Nettesheim, EuR 2006, 737 (746 ff.). 46 Hey (Fn. 7), 253. 47 Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 13.7.2017 – C-292/16, ECLI:EU:C:2017:555 – A Oy.

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Ausgangspunkt muss m.E. sein, dass auch das Unionsrecht hierarchischen gegliedert ist und deshalb das von den Mitgliedstaaten durch Übertragung von Hoheitsrechten vertraglich geschaffene Primärrecht Vorrang vor dem durch die Gemeinschaftsorgane erlassenen und auf das Primärrecht gestützten Sekundärrecht hat48. Demgemäß ist – neben den Mitgliedstaaten – auch der Unionsgesetzgeber an die Grundfreiheiten gebunden49, Letztere bilden m.a.W. „Grundlage, Rahmen und Grenze“ aller Rechtsakte der Union50. Nur so ist auch zu erklären, dass das Sekundärrecht wegen Verletzung der Verträge für nichtig erklärt werden kann (Art.  263 Abs.  2 i.V.m. Art. 264 AEUV), die Verträge selbst hingegen Gegenstand der Auslegung durch den EuGH sind (Art. 267 Abs. 1 Buchst. a AEUV). Hiervon ausgehend scheinen sich die juristischen Optionen darauf zu beschränken, die sekundärrechtliche Vorschrift primärrechtskonform auszulegen oder  – allenfalls  – das primäre Recht mit Rücksicht auf das aus dem Gewaltenteilungsprinzip (Art. 13 Abs. 2 EUV) abgeleitete Gebot des judicial self-restraint anhand der sekundärrechtlichen Regelungen zu konkretisieren. Indes: Das normative Feld wird hierdurch nicht ausgeschöpft. Insbesondere ist in den Blick zu nehmen, dass EU-Richtlinien auf dem Gebiet der direkten Steuern auf der Ermächtigungsgrundlage des Art.  115 AEUV beruhen, eine Vorschrift, die als „Urgestein der Verträge“ charakterisiert wird51 und  – unbeschadet des für Steuern nicht anwendbaren Art. 114 AEUV (s. Abs. 2) – den Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren ermächtigt, einstimmig und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses Richtlinien für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erlassen, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts auswirken. Was hiermit gemeint ist, ergibt sich zum einen aus der Zielvorgabe des Art. 3 Abs. 3 EUV, nach der die EU einen Binnenmarkt „errichtet“; dies bringt zutreffend zum Ausdruck, dass es in einem „vorrechtlichen Sinne“ keinen Binnenmarkt gibt52, dieser vielmehr durch Rechtsregeln der Integration der Mitgliedstaaten konstituiert, an veränderte Rahmenbedingungen angepasst und mit Rücksicht auf bisher nicht oder nicht hinreichend berücksichtigte Ziele fortentwickelt wird. Zum anderen ist die Unterscheidung des Art. 26 AEUV zwischen negativer und positiver Integration aufzunehmen. Soweit Art. 26 Abs. 2 AEUV davon spricht, dass der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist, drückt dies die Geltung der Grundfreiheiten und damit die sog. negative Integration aus53. Sie zielt auf freien Markzugang, Gleichbehand-

48 F. Müller/F.Christensen (Fn. 44), S. 440 f. 49 Forsthoff, IStR 2006, 222 (223) m.w.N. 50 EuGH v. 5.10.2017 – 26/78, EU:C:1978:172 – Viola Rz. 9/14; Schlussanträge der GA Kokott in der Rechtssache C-292 (A Oy, Fn. 47) Rz. 20. 51 S. Korte in Callies/Ruffert, Art. 115 AEUV Rz. 2. 52 Unklar Hey, StuW 2017, 248 (249), die von einer „Binnenmarktidee“ spricht. 53 Streinz, Europarecht, 10. Aufl., Rz. 968.

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lung und beschränkungsfreien transnationalen Wettbewerb54und führt im Falle nicht gerechtfertigter Beschränkungen der Grundfreiheiten zur Unanwendbarkeit der nationalen Rechtsregeln, lässt jedoch im Übrigen deren Unterschiede unberührt (negative Rechtsangleichung)55. Demgegenüber findet sich der zweite wesentliche Eckpfeiler des EU-Binnenmarktkonzepts, nämlich der Auftrag zur sog. positiven Integration, in Art. 26 Abs. 1 AEUV, nach dem die Union die erforderlichen Maßnahmen erlässt, um nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen der Verträge den Binnenmarkt zu verwirklichen und dessen Funktionieren zu gewährleisten. Dies zielt  – zugleich als Anknüpfungspunkt für die Ermächtigung in Art.  115 AEUV56  – auf binnenmarktweite homogene Bedingungen und damit auf die Verwirklichung des Binnenmarkts durch positive Rechtsangleichung. Zwar wird das Binnenmarktkonzept durch beide Integrationsaspekte getragen. Dies lässt jedoch unberührt, dass ihnen mit Rücksicht auf die jeweils zu beurteilende sekundärrechtliche Bestimmung unterschiedliches Gewicht beizumessen ist. Methodisch unproblematisch ist dabei die Fallgruppe (1), dass die Richtliniennorm darauf gerichtet ist, die durch die Geltung von Beschränkungsverboten gekennzeichnete Rechtsprechung des EuGH57 zu den Grundfreiheiten umzusetzen und zu konkretisieren. Geschieht dies – bspw. auch im Interesse der Rechtssicherheit –, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass eine nicht eindeutige Fassung der Richtlinie grundfreiheitenkonform auszulegen ist. Zielt die Richtlinie hingegen auf eigenständige Harmonisierung oder Teilharmonisierung des Unionsrechts und nimmt sie damit in Anspruch oder zumindest in Kauf, von der Rechtsprechung des EuGH abzuweichen oder – gleichbedeutend – ihr zuvorzukommen (Fallgruppe 2), so liegt hierin – entgegen den vorgenannten Stimmen des Schrifttums – kein Verstoß gegen die unionsrechtliche Normenhierarchie; ebenso wenig geht es um die sekundärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts. Vielmehr liegt der methodische richtige Ansatz in der Fragestellung, welchen Spielraum das Primärrecht selbst dem Sekundärrecht zur Ausformung der primärvertraglichen Regelungsziele lässt. Hierzu ist Art. 26 AEUV zu entnehmen, dass beide Säulen der Binnenmarktintegration im Sinne praktischer Konkordanz58  – d.h. des angemessenen Ausgleichs unter Wahrung des Kern ihres Ziel- und Gewährleitungsgehalte  – austariert und in Übereinstimmung gebracht werden müssen59. Dies schließt zwar eine vollständige Verdrängung der Grundfreiheiten im Sinne der Vorrangthese aus. 54 S. Korte in Callies/Ruffert, Art. 26 AEUV Rz. 10. 55 Streinz, Europarecht (Fn. 53), Rz. 968. 56 S. Korte in Callies/Ruffert, Art. 115 AEUV Rz. 7. 57 S. hierzu Schön in DStJG 23 (2000), 191 (209 ff.); Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2001, 108, 317, 979 et passim; Frenz, Handbuch Europarecht, 2. Aufl., Bd. 1, S. 173 ff.; Streinz/Müller-Graff, 2. Aufl. 2012, Art. 49 AEUV Rz. 39 ff., 57 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2017, Art. 49 Rz. 88 ff. 58 Zum deutschen Verfassungsrecht, s. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1995, S. 142 f. Ebenso zum Konflikt der Binnenmarktziele mit anderen Bestimmungen der Verträge und deren Prinzipien Schroeder, Das Gemeinschaftssystem, 2002, S. 365 ff. 59 Ähnlich Everling in GS Knobbe-Keuk, 1997, 607 (624): Primär und Sekundärrecht stehen auf gleicher Ebene.

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Bei der Bestimmung des Konkordanzbereich ist indes das besondere Gewicht zu würdigen, das Art. 26 Abs. 1 AEUV der positiven Integration gibt. Sie soll nicht nur ein rechtssicheres und wirksames Instrument gegen neoprotektionistische Tendenzen sein60; darüber hinaus weisen die Zielvorgaben der Art.  26 Abs.  1 und 115 AEUV – die Verwirklichung des Binnenmarktes und die Gewährleistung ihres Funktionieren – die Binnenmarktintegration als Daueraufgabe mit prozess- und kompromisshaftem Charakter61 aus, deren Bewältigung nicht nur den Spielraum für aktuelle Anpassungen und strukturelle Fortentwicklungen, sondern zudem auch den Einklang mit den weiteren Vertragszielen erfordert62. Nimmt man die geringe Regelungsdichte des Primärrechts63 und den hierdurch bedingten Bedarf sekundärrechtlicher Harmonisierung hinzu, so ist im Falle eines Konflikts zwischen unionaler und durch Art. 26 Abs. 1 i.V.m. Art. 115 AEUV legitimierter Rechtvereinheitlichung zur Binnenmarktintegration einerseits und der Wahrung der Grundfreiheiten andererseits zur Bestimmung des Konkordanzbereichs der Schutzgehalt der Grundfreiheiten auf ihren Kernbereich im Sinne eines Willkürverbots zurückzunehmen. Dieses umfasst zwar – was den Erlass des Richtlinienrechts anbelangt – die Wahrung der kompetenzrechtichen Vorgaben einschl. des Subsidiaritätsgrundsatzes und Verhältnismäßigkeitspinzips (Art. 5 Abs. 3 und 4 EUV)64, im Regelfall jedoch nicht den Schutz davor, dass Auslands- und Inlandssachverhalt nach den inhaltlichen Maßgaben des (sekundären) Richtlinienrechts sowie der hierauf fußenden nationalen Umsetzungsakte ungleich behandelt werden65. Anders gewendet: Eine solche Ungleichbehandlung verletzt  – soweit es um die Vereinheitlichung der Rechtsregeln zur Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalt geht – nicht das Willkürverbot, sondern ist Ausdruck der Kompetenz der Mitgliedstaaten zur positiven Harmonisierung. Ebenso wenig ist der Betroffene  – wiederum abweichend von der Ansicht des EuGH – davor geschützt, einer typisierenden Bestimmung zur Missbrauchsvermeidung unterworfen zu werden, die ihn als primären Wissensträger zur Vermeidung von Rechtsnachteilen mit der Obliegenheit belastet, die Beweggründe seines Handels  in nachvollziehbarer und nachprüfbarer Weise darzulegen. M.a.W. nicht nur die  gleichheitsrechtliche Prüfung, sondern auch die Beachtung des Verhältnismä­ ßigkeitsgrundsatzes ist am reduzierten Schutzumfang der Grundfreiheiten auszurichten. Maßstab der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind nicht die von der EuGH60 Vgl. zur Entwicklung des Binnenmarktkonzepts, S. Korte in Callies/Ruffert, Art. 26 AEUV Rz. 1 ff. 61 Zutr. Forsthoff, IStR 2006, 698 (700). 62 S.  Korte in Callies/Ruffert, Art.  26 AEUV Rz.  6 a.E., 12; Art.  115 AEUV Rz.  7, jeweils m.w.N. 63 Dazu z.B. Jestaedt, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL  64 (2005), 298 (322 ff.); Bumke in Schuppert u.a., Europawissenschaften, 2005, 643 (657 f.): Primärrecht als bloße Rahmenordnung; schwache Prägung des Sekundärrechts mit der Folge, dass deren Konkretisierungen einer nur eingeschränkten Kontrolle durch den EuGH unterliegen. 64 S. Korte in Callies/Ruffert, Art. 115 AEUV Rz. 13 f. 65 Zutr. Forsthoff, IStR 2006, 222 (224).

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Praktische Konkordanz von Grundfreiheiten und EU-Richtlinien

Recht­ sprechung zur Sicherung des Beschränkungsschutzes der Grundfreiheiten entwickelten Grundsätze, sondern die primärrechtlichen Vorgaben zur positiven Harmonisierung (Art.  5 Abs.  4 EUV i.V.m. Art.  26 Abs.  1 und 2 sowie Art.  115 AEUV). Nichts anderes kann aus der Überprüfung des Richtlinienrechts anhand der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GRCharta) abgeleitet werden. Zwar bindet die zum Primärrecht der Union gehörende (Art. 6 Abs. 1 EUV) Charta nicht nur die Unionsorgane bei Erlass des Richtlinienrechts66, sondern auch die Mitgliedstaaten, wenn sie Unionsrecht durchführen, also bspw. ihrer Pflicht zur Umsetzung von EU-Richtlinien nachkommen (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Auch wird nach zutreffender Ansicht67 Unionsrecht durchgeführt, wenn das nationale Recht von Handlungsspielräumen Gebrauch macht, die i.S. einer unionsrechtlichen Determinierung innerhalb des Regelungsbereichs der Richtlinie liegen68 und sind – als Folge der Solang II-Rechtsprechung des BVerfG69 – Zweifel über die Vereinbarkeit des Richtlini66 Engler, Steuerverfassungsrecht im Mehrebenensystem, 2014, S. 72 f. 67 Gl.A. z.B. Eilicker, DStZ 2011, 162 (166 f.); Streinz, Europarecht (Fn. 53), Rz. 771. 68 Möglicherweise a.A. BVerfG v. 31.5.2016 – 1 BvR 1585/13 – Sampling, BVerfGE 142, 74 Rz. 115: „Innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine Richtlinie der Europäischen Union in deutsches Recht umsetzen, sind grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, sondern am Unionsrecht und damit auch den durch dieses gewährleisteten Grundrechten zu messen, soweit die Richtlinie den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum überlässt, sondern zwingende Vorgaben macht (vgl. BVerfGE …; zur fortbestehenden Identitätskontrolle zuletzt BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats v. 15.12.2015 - 2 BvR 2735/14 -, NJW 2016, S. 1149 ); zu den Grenzen der Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte EuGH, Urteil v. 10.7.2014, Hernández, C-198/13, EU:C:2014:2055, Rn.  35; Urteil v. 6.10.2015, Delvigne, C-650/13, EU:C:2015:648, Rn.  27). Ob ein Um­ setzungsspielraum besteht, ist durch Auslegung des dem nationalen Umsetzungsrecht ­zugrunde liegenden Unionsrechts zu ermitteln. Die Auslegung unionsrechtlicher Sekundärrechtsakte obliegt auf nationaler Ebene zuvörderst den Fachgerichten. Diese haben dabei gegebenenfalls die Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art.  267 AEUV – auch in Bezug auf den Schutz der Grundrechte – in Betracht zu ziehen …“. S. ferner zur divergierenden Rechtsprechung von EuGH und BVerfG Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 2018, Art. 51 EU-Grundrechte-Charta, Rz. 2 ff.; Kingreen in Callies/Ruffert, Art.  51 EU-GRCharta Rz.  7  ff.; Engler, Steuerverfassungsrecht im Mehrebenensystem, 2014, S. 77 ff. 69 Beschluss v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 – Solange II, BVerfGE 73, 339, LS 2: „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen; entsprechende Vorlagen nach GG Art 100 Abs 1 sind somit unzulässig“. Zur Vorwirkung der ATAD s. Schwenke, Unmittelbare Wirkung von Unionsrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 815; Hey, StuW 2017, 248 (254 f.).

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enrechts mit den Charta-Grundrechten70 im Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) zu klären71. Solche Zweifel bestehen indessen mit Rücksicht auf Richtlinienregelungen, die auf der Grundlage des Art.  115 AUEV zur Rechtsangleichung mit unmittelbarer Wirkung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts ergehen, nicht. Zum einen sind sowohl die Berufsfreiheit (Art.  15 Abs.  2 i.V.m. Art.  52 Abs.  2 EU-GRCharta)72 als auch die Unternehmerische Freiheit (Art.  16 EU-GRCharta)73 nach den für die Grundfreiheiten in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen auszuüben; dies umfasst auch die sich aus Art.  26 AEUV ergebenden Konkordanzerwägungen. Zum anderen kann offen bleiben, ob der allgemeine Gleichheitssatz des Unionsrechts (Art. 20 EU-GRCharta) neben den besonderen Diskriminierungsverboten der Grundfreiheiten zum Tragen kommen kann74. Selbst wenn man dies bejaht, führen etwaige Ungleichbehandlungen – bspw. von innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Sachverhalten – jedenfalls dann nicht zu einem Gleichheitsverstoß im Sinne der Charta, wenn die Differenzierung durch sachliche (objektive) Gründe getragen ist und den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügt75. Hiervon wird man bei Maßnahmen, die sich berechtigterweise auf Art.  115 AEUV stützen, in aller Regel ausgehen können; demgemäß wird es auch im Ergebnis ohne Bedeutung sein, ob und in welchem Umfang dem Unionsgesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zuzugestehen ist. Eine Richtlinienharmonisierung ist nicht nur – worauf das Schrifttum bereits hingewiesen hat  – mit einer justiziellen Kompetenzverschiebung zugunsten des EuGH verbunden76. Er legt die Richtlinie aus, prüft die Wahrung der Grundfreiheiten im  Rahmen der aufgezeigten Konkordanzgrenzen sowie  – soweit daneben noch ­anwendbar – die Charta-Grundrechte. Ferner besteht weder Anlass noch ist ein methodisch zu rechtfertigender Grund dafür erkennbar, den durch die Richtlinie bestimmten Harmonierungsbereich mit Rücksicht auf etwaige Wahlrechte oder Handlungsspielräume aufzubrechen und deren Ausübung einer Prüfung nach Maßgabe der Grundfreiheiten-Rechtsprechung des EuGH zum unionsrechtlich nicht harmonisierten Recht zu unterstellen. Handlungsspielräume innerhalb des Regelungsbereichs der Richtlinie bedeuten keine Abkehr vom Harmonisierungsziel, sondern ­ eachtung bringen zweifelsfrei zum Ausdruck, dass der Unionsgesetzgeber sie unter B des Subsidiaritätsprinzips innerhalb der Toleranzgrenzen der Rechtsvereinheitlichung angesiedelt hat.

70 Zum Schutz personenbezogener Daten (Art.  8 EU-GRCharta) s. ATAD, Erwägungsgrund 15. 71 BVerfG v. 31.5.2016 – 1 BvR 1585/13 – Sampling, BVerfGE 142, 74 Rz. 123 f. 72 So explizit EuGH v. 4.7.2013 – C-233/12, ECLI:EU:C:2013:449 Rz. 39, 41. 73 Ruffert in Callies/Ruffert, Art. 15 GRCh Rz. 26 f. i.V.m. Art. 16 GRCh Rz 6. 74 Bejahend Streinz, 2. Auflage, 2012, Art. 20 GR-Charta Rz. 6; verneinend Rossi in Callies/ Ruffert, Art. 20 GRCh Rz. 17, 26 f. 75 S. die Nachweise bei Streinz, 2. Auflage, 2012, Art. 20 GR-Charta Rz. 9 ff.; Rossi in Callies/ Ruffert, Art. 20 GRCh Rz. 25 ff. 76 Kingreen in Callies/Ruffert, Art. 51 GRCh Rz. 7; Hey, StuW 2017, 248 (255).

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Praktische Konkordanz von Grundfreiheiten und EU-Richtlinien

Folge hiervon ist des Weiteren, dass der Prüfungsmaßstab der Grundfreiheiten verstanden als Beschränkungsverbote – sowie die darauf abgestimmte einzelfallbezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung – erst dann eröffnet wird, wenn der nationale Gesetzgeber nicht nur die Richtlinie umsetzt, sondern deren Harmonisierungsauftrag – sei es in sachlicher, sei es in persönlicher Hinsicht  – überschreitet. Dies führt fast zwangsläufig zu der im abschließenden Teil dieses Beitrags anzusprechenden Anschlussfrage, ob hiermit eine gespaltene unionsrechtliche Prüfung einhergeht oder ob es vielmehr geboten sein kann, die Grundfreiheitenprüfung auch im nicht EU-harmonisierten Regelungsbereich im Sinne einer systematischen Verschränkung an die Richtlinienvorgaben zu binden. 4. Ein kurzer Blick in die ATAD Selbstverständlich bietet dieser Beitrag nicht den Rahmen, die Einzelaussagen der Richtlinie zu interpretieren oder ihre Vereinbarkeit mit dem EU-Primärrecht abschließend zu beurteilen. Jedoch soll mit dem Folgenden am Beispiel der ATAD der Ansatz der Konkordanz von Primär- und Sekundärrecht mit einigen Strichen verdeutlicht werden. Angesichts der plausiblen und nachvollziehbaren Zielsetzung der Richtlinie, die BEPS-Handlungsempfehlungen sowie weitergehende Regeln zur Sicherung der nationalen Besteuerungsrechte im Rahmen eines Mindestschutzniveaus77 EU-einheitlich mit dem Ziel umsetzen, einer Fragmentierung des Binnenmarkts zu begegnen, dessen Resilienz zu stärken78 und das Vertrauen in die Fairness der Steuersysteme79 wiederherzustellen, liegt es auf der Hand, dass die Richtlinie von der Ermächtigung des Art. 115 i.V.m. Art. 26 Abs. 1 AEUV getragen wird80. Demgemäß kann auch in diesem Zusammenhang offen bleiben, ob dem Unionsgesetzgeber ein der gerichtlichen 77 Zum Einfluss des Mindestschutzes auf die Einigungsbereitschaft der Mitgliedstaaten s. instruktiv Fehling, DB 2017, 2862. Kritisch Jochen Lüdicke/Oppel, DB 2016, 549 (550); Hey, StuW 2017, 248 (250 ff.). 78 S.o. zu 1. sowie ATAD, Erwägungsgründe 1 bis 5, 16. Fehling weist ferner zutreffend daraufhin, dass das Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts nicht nur durch übermäßige Doppelbesteuerung, sondern – was eigentlich keiner weiteren Erläuterung bedarf – auch durch eine (weitgehende) Nichtbesteuerung grenzüberschreitender Betätigungen beeinträchtigt wird. 79 Fehling, DB 2016, 2862 (2863) weist zutreffend darauf hin, dass die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts nicht nur durch übermäßige Doppelbesteuerung, sondern – was eigentlich keiner weiteren Erläuterung bedarf  – auch durch eine (weitgehende) Nichtbesteuerung grenzüberschreitender Betätigungen auf der Grundlage „aggressiver Steuerplanungen“ (Erwägungsgründe 1 und 3 ATAD). 80 Abwägend – wenn auch mutmaßlich i.Erg. zustimmend – Staringer in Lang/Rust/Schuch/ Staringer, Die Anti-Tax-Avoidance-Richtlinie, Wien, 2017, S.  7  ff.; Schönfeld, IStR 2017, 721 zur Hinzurechnungsbesteuerung. Nicht zu folgen ist der Kritik des Schrifttums (Hey, StuW 2017, 248 [249]), es gehe um die Abschottung der nationalen Steueraufkommen. Dies verkennt, dass die nationalen Steuerrechte zum Erhalt des unionsweiten Binnenmarkts einer Mindestharmonisierung und damit einer Teilangleichung (d.h. eine Beschränkung des „Steuerwettbewerbs“) bedürfen.

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Überprüfung entzogener Einschätzungsspielraum einzuräumen ist81. Entgegen einzelner Stimmen im Schrifttum wird diese Legitimation weder durch die Wahlrechte der Mitgliedstaaten noch durch die Beschränkung auf die der Körperschaftsteuer unterliegende Rechtssubjekte in Frage gestellt. Beides wird – wie insbesondere in den Erwägungsgründen  3, 4 und 16 in gleichfalls stimmiger Weise erläutert  – von der Wahrung des Subsidiaritätsprinzips sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EUV) getragen. Dass die Geltung der Richtlinie nicht zeitlich befristet ist, sondern lediglich ihre Umsetzung der Bewertung von Kommission und Rat unterliegt82, mag mit Rücksicht auf das Einstimmigkeitserfordernis (Art.  115 AEUV) – sowohl aus der Perspektive der Nationalstaaten als auch unter dem Blickwinkel der Fortentwicklung und Überprüfung des Richtlinienrechts  – rechtspolitische Zweifel wecken; auch diese sind aber nicht geeignet, die Rechtswirksamkeit der ATAD in Frage zu stellen. Hiervon ausgehend bedarf es nach dem Vorstehenden zunächst der Unterscheidung danach, ob die jeweilige Einzelregelung der Richtlinie darauf gerichtet ist, die Rechtsprechung des EuGH umzusetzen und zu konkretisieren (Fallgruppe  1; s.o.). Ist dies – wie bspw. für das Wahlrecht nach Art. 5 Abs. 2 ATAD, nach dem die auf einen Entstrickungstatbestand entfallende Körperschaftsteuer auf Antrag gestundet werden muss83 – zu bejahen, so bestimmt die der Richtlinienbestimmung zugrunde liegende Rechtsprechung i.S.  einer Grundfreiheiten-konformen Auslegung auch das Verständnis der sekundärrechtlichen Norm. Ist die Richtlinie hingegen auf eine eigenständige Harmonisierung gerichtet und beansprucht sie damit, sich im Konfliktfall offen oder auch implizit gegen das Grundfreiheitenverständnis des EuGH (i.S.v. Beschränkungsverboten) zu stellen (Fallgruppe 2, s.o.), so ist dem im Wege der primärrechtlich angelegten Konkordanz von negativer und positiver Integration (Rechtsangleichung) dadurch zu entsprechen, dass die Kontrolle der Grundfrei­heiten auf eine Willkürprüfung zurückzunehmen und demnach ein Verstoß der Regelungen der ATAD gegen das EU-Primärrecht in aller Regel ausgeschlossen ist. Dies gilt  nicht nur für die Anforderungen an den Substanztest im Rahmen der Hinzu­ rechnungsbesteuerung, die in Art.  7 Abs.  2 Buchst.  a Unterabs.  2 ATAD („wesent­ liche wirtschaftliche Tätigkeit des beherrschten Unternehmens, gestützt auf Personal, Ausstattung, Vermögensgegenstände und Räumlichkeiten“, und den „Nachweis durch relevante Faktoren und Umstände“) gegenüber denjenigen des sog. Cadbury-­

81 Bej. S. Korte in Callies/Ruffert, Art. 115 AEUV Rz. 9 i.V.m. Art. 114 AEUV Rz 47. 82 Vgl. ATAD, Erwägungsgrund 17. 83 Eilers/Oppelt, IStR 2006, 312 (314 f.). Hiervon zu unterschieden ist die Frage, ob das Stundungsmodell des Art.  5 Abs.  ATAD als Teil des Mindestschutzstandards zur Anpassung bestehender nationaler Bestimmungen auslöst. Dies ist m.E. mit Rücksicht auf die Ausgleichpostenmethode in § 12 Abs. 1 Satz 1, letzter Halbs. KStG i.V.m. § 4g EStG) zu bejahen (s. dazu Wacker, DStjG 41 (2018), S. 423 ff.).

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Schweppes-­Tests („rein künstliche Gestaltung“)84 zweifelsfrei85 und m.E. aus g­ uten Gründen verschärft wurden86. Nichts anderes gilt für die allgemeine Richtlinienbestimmung zur Missbrauchsverhinderung, die sich gleichfalls vom Rechtsprechungsmerkmal der „rein künstlichen Konstruktion“87 abkehrt und es genügen lässt, dass – bei Fehlen triftiger wirtschaftlicher Gründe  – bereits ein wesentlicher Zweck der Gestaltung darin besteht, einen mit den Intentionen (Ziel und Zweck) des geltenden Steuerrechts nicht vereinbaren Vorteil zu erlangen (Art. 6 ATAD88)89. Folge der Konkordanzerwägungen ist zum anderen, dass die den Mitgliedstaaten innerhalb des Harmonisierungsbereichs der Richtlinie eröffneten Wahlrechte und Handlungsoptionen – z.B. Verzicht auf Substanztest bei Drittstaatengesellschaften nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. a Unterabsatz 3 ATAD90 – entgegen den bisherigen Rechtsprechungsgrundsätzen des EuGH (s. oben zu 2.) lediglich am Maßstab der willkürlichen Ausübung zu messen sind und sie demgemäß ohne über die Richtlinie hinausgehende Begründungserwägungen von den Mitgliedstaaten in Anspruch genommen werden können. Im Schrifttum herrscht  – soweit ersichtlich  – schließlich Einvernehmen darüber, dass dann, wenn der nationale Gesetzgeber sich dazu entschließt, den durch die ATAD vorgegebenen Harmonisierungsbereich zu überschreiten und damit die Gestaltungen zur Steuervermeidung strengeren Restriktionen zu unterwerfen, insoweit die Grundfreiheiten  – verstanden als Beschränkungsverbote – zu beachten sind. Dem ist auch unter dem Blickwinkel der vorstehenden Erwägungen grundsätzlich beizupflichten; wird der Bereich der unionsrechtlich legitimierten positiven Har­ monisierung verlassen, entfällt jedenfalls dann, wenn es um sachliche Verschärfungen geht, auch der methodische Ansatzpunkt, die Prüfungsdichte des Primärrechts 84 EuGH v. 12.9.2006  – C-196/04, ECLI:EU:C:2006:544  – Cadbury Schweppes, IStR 2006, 670, LS 1 „Der Umstand allein, dass eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft eine Zweitniederlassung, wie etwa eine Tochtergesellschaft, in einem anderen Mitgliedstaat gründet, kann nicht die allgemeine Vermutung der Steuerhinterziehung begründen und keine die Ausübung einer vom Vertrag garantierten Grundfreiheit beeinträchtigende Maßnahme rechtfertigen. Eine nationale Maßnahme, die die Niederlassungsfreiheit beschränkt, lässt sich jedoch mit Gründen der Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken rechtfertigen, wenn sie sich speziell auf rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen bezieht, die darauf ausgerichtet sind, der Anwendung der Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats und insbesondere der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet wird“. 85 Vgl. hierzu auch die Abweichung gegenüber der Fassung von Art.  8 Abs.  2 nach dem Richtlinienvorschlag des Rats v. 28.1.2016 (COM(2016) 26 final). 86 Ausführlich Schönfeld, IStR 2017, 721 (726 f.), der aber – was nach der hier vertretenen Ansicht ausgeschlossen ist – für eine Auslegung „unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung“ eintritt. 87 EuGH v. 16.7.1998 – C-264/96 – ICI, Slg. 1998, I-4695: Die Vorschrift muss „speziell bezwecken, rein künstliche Konstruktionen … von einem Steuervorteil auszuschließen“. 88 S. auch Art. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie in der Fassung v. 27.1.2015 (Richtlinie (EU) 2015/121). 89 Vgl. hierzu die ausführliche Untersuchung von Hey, StuW 2017, 248 (258 ff.). 90 A.A. Schönfeld, IStR 2017, 721 (727): Maßgeblichkeit der primärrechtlichen Vorgaben gem. bisheriger Rechtsprechung des EuGH.

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zu reduzieren. Anders dürfte dies allerdings mit Rücksicht auf die personelle Ausdehnung der ATAD-Vorgaben zu beurteilen sein. Im Schrifttum91 ist in diesem ­Zusammenhang in Zweifel gezogen worden, ob eine auf die Körperschaftsteuer ­beschränkte Erfüllung des Harmonisierungsauftrags der Richtlinie mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sei. Der Hinweis ist im Grundsatz berechtigt, jedoch wird man davon ausgehen können, dass der deutsche Gesetzgeber diese Flanke schließen und die sachlichen Harmonisierungsvorgaben – soweit möglich – auch auf die der Einkommensteuer unterliegenden Personenunternehmen erstrecken wird. Damit wäre aber zugleich aus der Perspektive des Unionsrechts das Szenario einer gespaltenen und nach Steuersubjekten differenzierenden Grundfreiheitenprüfung (KStG: Willkürmaßstab als Folge der Konkordanz von negativer und positiver Harmonisierung; EStG: Beschränkungsrechtsprechung des EuGH) eröffnet. Das mag man als stringent ansehen; überzeugen kann es m.E. nicht. Richtig erscheint vielmehr, dass  – soweit der sachliche Harmonisierungsrahmen der Richtlinie gewahrt bleibt – die durch die positive Rechtsvereinheitlichung (Art. 115 i.V.m. Art. 26 Abs. 1 AEUV) legitimierte Primärrechtsfestigkeit des Sekundärrechts, wie im Schrifttum92 bereits angedeutet, als tragfähigen Rechtfertigungsgrund anzusehen, der nicht nur im Rahmen der personellen Erstreckung auf einkommensteuerpflichtige Rechts­ subjekte zu beachten ist, sondern in dieser Ausstrahlung auch einen Rückgriff auf die einzelfallbezogenen Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Sinne der Rechtsprechung des EuGH ausschließt.

91 Hey, StuW 2017, 248 (256). 92 Fehling, DB 2016, 2862 (2864) (Fn. 19) m.w.N.; Schön, JbFStR 2017, 2018, S. 83: Richtlinienharmonisierungen führen zur Vergemeinschaftung der Rechtfertigungsgründe.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … C. V. 1.

Unionsrechtskonforme Auslegung Von Alexander Rust

Inhaltsübersicht I. Bedeutung II. Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung III. Dogmatische Herleitung der unionsrechtskonformen Auslegung IV. Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung

V. Erweiternde Auslegung im Falle der Unanwendbarkeit von Steuerrechts­ normen VI. Auswirkungen der unionsrechtskon­ formen Auslegung auf abgeschlossene Steuerfälle

I. Bedeutung Nach dem Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung haben die Gerichte das nationale Recht soweit wie möglich in Einklang mit den Vorgaben des Unionsrechtes auszulegen. Diese Vorgaben können sich dabei aus dem primären Unionsrecht, also aus dem Vertrag über die Europäische Union (EUV), aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen sowie aus dem sekundären Unionsrecht, also insbesondere aus den Verordnungen, Richtlinien und Beschlüssen ergeben1. In der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes stellt die richtlinienkonforme Auslegung des Umsatzsteuerrechts den wichtigsten Anwendungsfall der unionsrechtskonformen Auslegung dar, zahlreiche Entscheidungen befassen sich allerdings auch mit der Auslegung von Vorschriften des Einkommensteuerrechtes im Lichte der Grundfreiheiten. Die unionsrechtskonforme Auslegung ähnelt der verfassungskonformen Auslegung2. In beiden Fällen sind Normen des nationalen Steuerrechts in Einklang mit höherran1 Grundlegend zur richtlinienkonformen Auslegung s. Schön, Die Auslegung europäischen Rechts, 1. Aufl. 1993, S. 35 ff. 2 Zur verfassungskonformen Auslegung s. BFH v. 20.9.2012 – IV R 36/10, BStBl. II 2013, 498; BVerfG v. 11.1.2005 – 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164 (182 f.): „Die verfassungskonforme

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gigem Recht auszulegen, um so dem höherrangigen Recht zur Geltung zu verhelfen und die Rechtsfolge der Nichtigkeit bzw. Unanwendbarkeit des nationalen Steuerrechts zu vermeiden.

II. Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung Der Bundesfinanzhof geht seit seinem Urteil vom 12.11.1980 in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass nationales Steuerrecht, das der Umsetzung einer Richtlinie der EU dient, richtlinienkonform auszulegen und – ganz generell gesprochen – dass nationales Steuerrecht im Anwendungsbereich des EU Rechts unionsrechtskonform zu interpretieren ist.3 Damit hat der Bundesfinanzhof das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung bereits vier Jahre vor dem ersten Urteil des Europäischen Gerichtshofes anerkannt, in dem dieser die Verpflichtung nationaler Gerichte zur richtlinienkonformen Auslegung hervorgehoben hat. Erst in seinem Urteil in der Rs. „von Colson und Kamann“ aus dem Jahre 1984 führte der Gerichtshof aus: „Allerdings ist klarzustellen, dass die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 EWG-Vertrag, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegen, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten. Daraus folgt, dass das nationale Gericht bei der Anwendung des nationalen Rechts, insbesondere auch der Vorschriften eines speziell zur Durchführung der Richtlinie 76/207 erlassenen Gesetzes, dieses nationale Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen hat, um das in Artikel  189 Absatz  3 genannte Ziel zu erreichen“4. Hinsichtlich der unionsrechtskonformen Auslegung stellte der EuGH klar, dass „[d]as Gebot einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts…dem EG-Vertrag immanent [ist], da dem nationalen Gericht dadurch ermöglicht wird, im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten, wenn es über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheidet“5. Auslegung einer Norm ist dann geboten, wenn unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Zweck mehrere Deutungen möglich sind, von denen nicht alle, aber zumindest eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt…. Durch den Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und den Gesetzeszweck werden der verfassungskonformen Auslegung Grenzen gezogen. Ein Normverständnis, das in Widerspruch zu dem klar erkennbar geäußerten Willen des Gesetzgebers treten würde, kann auch im Wege verfassungskonformer Auslegung nicht begründet werden.“; Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 5 Rz. 92. 3 BFH v. 12.11.1980 – II R 1/76, BStBl. II 1981, 279. 4 EuGH v. 10.4.1980 – 14/83 – von Colson und Kamann Rz. 26. 5 EuGH v. 5.10.2004 – C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer u.a. Rz. 114. Zur relativ späten Anerkennung des Grundsatzes der unionsrechtskonformen Auslegung durch den EuGH s. Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 1. Aufl. 2015 Rz. 13.14.

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Auch das Bundesverfassungsgericht sieht die Notwendigkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung: „[D]er aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgende Grundsatz der Unionstreue [verpflichtet] alle mitgliedstaatlichen Stellen, also auch Gerichte, dazu…, diejenige Auslegung des nationalen Rechts zu wählen, die dem Inhalt einer EU-Richtlinie in der ihr vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung entspricht“6. Die unionsrechtskonforme Auslegung kann sich auch zu Lasten des Steuerpflichtigen auswirken7. Die nachteiligen Wirkungen einer unionsrechtskonformen Auslegungen sind  – anders als bei unmittelbar wirkenden Richtlinienbestimmungen  – auch nicht im Hinblick auf das Treuwidrigkeitsargument ausgeschlossen, da die unionsrechtskonforme Auslegung keine Sanktion für den fehlenden oder fehlerhaften Umsetzungsakt eines Mitgliedstaates darstellt8. Ist der Wortlaut einer nationalen Steuervorschrift günstiger als der durch Auslegung ermittelte Wortsinn einer Richtlinie, kommt es also entscheidend darauf an, ob die nationale Steuervorschrift einschränkend ausgelegt bzw. teleologisch reduziert werden kann. Ist eine solche richtlinienkonforme Auslegung möglich, so ist dem Steuerpflichtigen der Steuervorteil zu versagen. Ist dagegen eine solche Auslegung ausgeschlossen, kommt der Steuerpflichtige in den Genuss des Steuervorteils, da eine Richtlinie zu Lasten des Steuerpflichtigen keine unmittelbare Wirkung entfalten kann9. Die richtlinienkonforme Auslegung kommt ungeachtet dessen zum Tragen, ob die einschlägige Richtlinienbestimmung unmittelbare Wirkung entfaltet. Steuerrechtsnormen sind nicht nur dann richtlinienkonform auszulegen, wenn sie in Umsetzung einer Richtlinie ergangen sind. Auch Steuervorschriften, die bereits vor Inkrafttreten einer Richtlinie erlassen wurden, können Richtlinien ausführen und sind dann richtlinienkonform auszulegen. So hat der Europäische Gerichtshof etwa in der Rs. Wagner-Miret erläutert, dass „jedes nationale Gericht bei der Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts davon auszugehen [hat], dass der Staat die Absicht hat, den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukom6 BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07, NJW 2012, 669 Rz. 46. 7 S.  EuGH v. 5.7.2007  – C-321/05  – Kofoed Rz.  45: „Zweitens ist daran zu erinnern, dass sämtliche Stellen eines Mitgliedstaats bei der Anwendung des nationalen Rechts dazu angehalten sind, dieses so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und der Zielsetzung der gemeinschaftlichen Richtlinien auszulegen, um das mit diesen verfolgte Ziel zu erreichen. Auch wenn dieses Erfordernis der richtlinienkonformen Auslegung nicht so weit reichen kann, dass eine Richtlinie selbst und unabhängig von einem nationalen Umsetzungsakt Einzelnen Verpflichtungen auferlegt oder die strafrechtliche Verantwortlichkeit der ihren Bestimmungen Zuwiderhandelnden bestimmt oder verschärft, so ist doch anerkannt, dass der Staat grundsätzlich Einzelnen eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts entgegenhalten kann.“ S.a. EuGH v. 8.10.1987  – 80/86  – Kolpinghuis Nijmegen Rz. 10–14. 8 Schroeder in Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rz. 129. 9 S.  BFH v. 15.2.1012  – XI R 24/09, BStBl.  II 2013, 712; sehr anschaulich auch EuGH v. 21.9.2017 – C-605/15 – Aviva Rz. 36f. Zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinienbestimmungen s. EuGH v. 4.12.1974  – 41/74  – van Duyn. Dagegen ist eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien zu Lasten der Bürger nicht möglich s. EuGH v. 26.2.1986 – 152/84 – Marshall.

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men. Wie der Gerichtshof im Urteil vom 13.11.1990 in der Rechtssache C-106/89 (Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rz.  8) entschieden hat, muss das nationale Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt – dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um das mit dieser verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Abs. 3 EWG-Vertrag [jetzt Artikel 288 Abs. 3 AEUV] nachzukommen. Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung gilt für ein nationales Gericht besonders dann, wenn ein Mitgliedstaat wie im vorliegenden Fall der Ansicht war, dass die bereits geltenden Vorschriften seines nationalen Rechts den Anforderungen der betreffenden Richtlinie genügten“10. In der Rs. Kücüdeveci machte der EuGH deutlich, dass „der vom Gemeinschaftsrecht aufgestellte Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts (…) zwar in erster Linie die zur Umsetzung der fraglichen Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Bestimmungen [betrifft], [er] sich jedoch nicht auf die Auslegung dieser Bestimmungen [beschränkt], sondern verlangt, dass das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt“11. Auch der Bundesfinanzhof hat nationale Steuervorschriften, die bereits vor Inkrafttreten des Unionsrechts erlassen wurden, im Lichte des Unionsrechts ausgelegt. So stammt etwa die Vorschrift des heutigen § 3 Abs. 4 UStG, die eine Abgrenzung zwischen Lieferung und sonstiger Leistung bei Umsätzen vornimmt, die sowohl Lieferungselemente als auch Elemente sonstiger Leistungen aufweisen, noch aus der Zeit vor Erlass der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie. Nichtsdestotrotz hat der Bundesfinanzhof diese Vorschrift richtlinienkonform dahingehend ausgelegt, dass die Abgrenzung nach unionsrechtlichen Grundsätzen vorzunehmen ist12. Noch ungeklärt ist allerdings, inwieweit Richtlinien auch Vorwirkungen entfalten können, inwieweit sie also auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist Vorgaben für die Auslegung des nationalen Steuerrechts machen können13. Jeder Mitgliedstaat ist verpflichtet, 10 EuGH v. 16.12.1993 – C-334 – Wagner-Miret Rz. 20 f. 11 EuGH v. 19.1.2010 – C-555/07 – Kücükdeveci Rz. 47. 12 BFH v. 9.6.2005 – V R 50/02, BStBl. II 2006, 98: „Dabei ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung das Wesen des Vorganges zu ermitteln. Maßgebend ist die Sicht des Durchschnittsbetrachters. Wenn die Lieferungen nur einen Teil des Umsatzes darstellen, die Dienstleistungen aber überwiegen, ist der Umsatz als Dienstleistung zu beurteilen.“ 13 Schroeder in Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rz. 130; Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 1. Aufl. 2015 Rz. 13.15. Interessant ist diese Frage gegenwärtig im Hinblick auf die Zinsschrankenregelung nach 4h EStG i.V.m. § 8a KStG. Der BFH hat dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob die Zinsschrankenregelung gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, s. BFH v. 14.10.2015 – I R 20/15, BStBl. II 2017, 1240. Deutschland ist nach Art.  4 der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuerver­ meidungspraktiken v. 12.7.2016, RL 2016/1164/EU zuletzt geändert durch RL 2017/952/ EU aber zur Umsetzung einer Zinsschranke verpflichtet, wobei die Richtlinie nach ihrem

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eine Richtlinie bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist in nationales Recht umzusetzen. Erst mit Fristende ist also die Herstellung einer richtlinienkonformen Rechtslage geboten. Setzt aber ein Mitgliedstaat die Richtlinie bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist in nationales Recht um, so ist diese Umsetzungsgesetzgebung auch im Lichte der Richtlinie auszulegen. Es spricht auch viel dafür, bereits bestehendes nationales Recht, das als Umsetzungsakt für die spätere Richtlinie herangezogen wird, vor Ablauf der Umsetzungsfrist – und nicht erst ab Fristende – richtlinienkonform auszulegen. Der Bundesgerichtshof sah sich in seiner Entscheidung vom Februar 1998 dazu befugt, nationale Rechtsvorschriften auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist einer Richtlinie richtlinienkonform auszulegen14. Die entscheidenden Passagen des Urteils lauten wie folgt: „Der BGH ist an einer richtlinienkonformen Auslegung nicht dadurch gehindert, dass die Frist für die Umsetzung der Richtlinie zur vergleichenden Werbung noch nicht abgelaufen ist. Lässt sich Richtlinienkonformität mittels einfacher Auslegung im nationalen Recht herstellen, so ist der Richter jedenfalls nach deutschem Rechtsverständnis befugt, sein bisheriges Auslegungsergebnis zu korrigieren und den geänderten rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen. (…) Der Senat hält es indessen beim gegenwärtigen Stand der Rechtsentwicklung für geboten, die Richtlinie 97–55–EG auch schon vor Ablauf der 30-monatigen Umsetzungsfrist zu berücksichtigen. (…) Im Zuge der Harmonisierung des Lauterkeitsrechts ermöglicht die Generalklausel des §  1 UWG nunmehr eine frühzeitige Anpassung an die europäische Rechtsentwicklung anstelle einer Festschreibung bisheriger (abweichender) Rechtsprechungsgrundsätze, die ohnehin spätestens nach Ablauf der Umsetzungsfrist keinen Bestand mehr haben. (…) Die Bedenken, eine richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Gesetze durch die Gerichte vor Ablauf der Umsetzungsfrist greife in die Kompetenzen des Gesetzgebers ein, (…) sind unbegründet, solange sich die Konformität mittels Auslegung im nationalen Recht – hier der Generalklausel des § 1 UWG – herstellen lässt und soweit dem Gesetzgeber ohnehin kein Spielraum bei der Umsetzung bleibt“15. Der EuGH ist von einer Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts vor Ablauf der Umsetzungsfrist nur in Ausnahmefällen ausgegangen, wenn sonst die Erreichung des mit der Richtlinie verfolgten Zieles nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernsthaft gefährdet wäre16. So führte er in der Rs. Adelener u.a. aus, dass „[i]m Hinblick auf die genauere Bestimmung des Zeitpunktes, ab dem die nationalen Gerichte verpflichtet sind, den Grundsatz der gemeinschaftsrechtkonformen Auslegung anzuwenden, (…) darauf hinzuweisen [ist], dass diese sich aus den Artikeln 10 Absatz 2 EG und 249 Absatz 3 EG sowie der betreffenden Richtlinie selbst ergebende Verpflichtung insbesondere dann zum Tragen kommt, wenn die einschläArt.  3 nur ein Mindestschutzniveau vorschreibt. Aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht könnten die nationalen Regelungen zur Zinsschranke ab dem 12.7.2016 aufgrund der Vorwirkung der Richtlinienbestimmungen damit „verfassungsfest“ geworden sein. 14 BGH v. 5.2.1998 – I ZR 211-95, NJW 1998, 2208. 15 BGH v. 5.2.1998 – I ZR 211-95, NJW 1998, 2208 (2210 f.). 16 S. EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04 – Adelener u.a.

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gige Richtlinienbestimmung keine unmittelbare Wirkung entfaltet, weil sie dafür nicht klar, genau und unbedingt genug ist oder weil es sich um einen Rechtsstreit handelt, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen. Darüber hinaus kann den Mitgliedstaaten vor Ablauf der Frist für die Umsetzung einer Richtlinie nicht zur Last gelegt werden, dass sie die Maßnahmen zu deren Umsetzung in innerstaatliches Recht noch nicht erlassen haben. (…) Bei verspäteter Umsetzung einer Richtlinie besteht die allgemeine Verpflichtung der nationalen Gerichte, das innerstaatliche Recht richtlinienkonform auszulegen, daher erst ab Ablauf der Umsetzungsfrist“17. Von diesem Grundsatz macht der EuGH allerdings die folgende Ausnahme: „[Es] ergibt sich aus den Artikeln 10 Absatz 2 EG und 249 Absatz 3 EG in Verbindung mit der betreffenden Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten, an die die Richtlinie gerichtet ist, während der Frist für deren Umsetzung keine Vorschriften erlassen dürfen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Zieles ernstlich zu gefährden. (…) Da alle Träger öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu garantieren, (…) gilt die (…) Unterlassenspflicht auch für die nationalen Gerichte. Daraus folgt, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie es soweit wie möglich unterlassen müssen, das innerstaatliche Recht auf eine Weise auszulegen, die die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Zieles nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde“18. Der Bundesfinanzhof hat eine unionsrechtskonforme Auslegung ab Inkrafttreten der Richtlinie vorgenommen. Er führte dazu aus: „§ 25 UStG ist eine Sondervorschrift für die Besteuerung von Reiseleistungen, die ihre gemeinschaftsrechtliche Grundlage in Art.  26 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der  Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77–388–EWG (RL 77–388–EWG) hat. Bei der richtlinienkonformen Auslegung des § 25 UStG ist deshalb die EuGH [Rechtsprechung] zu Art. 26 RL 77–388–EWG zu beachten. Das UStG kennt zwar eine entsprechende Regelung nur für das Kommissionsgeschäft bei Lieferungen (§ 3 Absatz 3 UStG). Bei richtlinienkonformer Auslegung des UStG muss jedoch für sonstige Leistungen Entsprechendes gelten. Die entsprechende Anwendung der Vorschrift des § 3 Abs. 3 UStG auf sonstige Leistungen war umstritten. Der Senat hat bislang diese für Warenkommissionäre des Handelsrechts geltende Regelung nicht  – über ihren Wortlaut hinausgehend  – bei Einschaltung einer Mittelsperson zur Weitergabe von sonstigen Leistungen entsprechend angewendet (…); dabei hat er sich entscheidend von der Entstehungsgeschichte der Vorschrift leiten lassen. Dieser Gesichtspunkt kann nur für Fälle vor Inkrafttreten des Artikel 6 Absatz 4 RL 77–388–EWG entscheidend sein. Für die Zeit nach Inkrafttreten dieser Vorschrift ist eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des UStG geboten“19. 17 EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04 – Adelener u.a. Rz. 113 ff. 18 EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04 – Adelener u.a. Rz. 121 ff. 19 BFH v. 7.10.1999 – V R 79, 80/98, BStBl. II 2004, 308.

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III. Dogmatische Herleitung der unionsrechtskonformen Auslegung Im Anwendungsbereich des Unionsrechts geht der Bundesfinanzhof in ständiger Rechtsprechung von der Notwendigkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung aus, wenn dadurch die Unanwendbarkeit der nationalen Steuerrechtsnorm vermieden werden kann. Die erste Entscheidung des Bundesfinanzhofes zur unionsrechtskonformen Auslegung aus dem Jahre 1980 betraf die Interpretation von Vorschriften des früheren Kapitalverkehrsteuergesetzes, die die Vorgaben der Kapitalansammlungsrichtlinie umsetzten20. Hier führte der Bundesfinanzhof Folgendes aus: „Der Erwerb von Genussrechten erfüllt zwar den buchstäblichen Wortlaut des Steuertatbestands; er unterliegt aber gleichwohl nicht der Steuer. Erklärtes Ziel des Gesetzgebers des Kapitalverkehrsteuergesetzes 1972 war die Umsetzung der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital in das nationale Recht. Bei der Anpassung des nationalen Rechtes an die erwähnte Harmonisierungsrichtlinie durch das Kapitalverkehrsteuergesetz 1972 ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass er die Richtlinie umgesetzt habe und vertragsgetreu keine Vorgänge mehr der Steuer unterwerfe, die nach der Zielsetzung der Richtlinie zwingend nicht mehr besteuert werden dürfen. Diese Ausgangslage ist bei der Auslegung des nationalen Rechtes zu berücksichtigen. (…) Sinn und Zweck des Gesellschaftsteuerrechts sowie das aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ableitbare Gebot richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechtes zwingen zu einer teleologischen Reduktion des Wortlautes von § 2 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 2 KVStG 1972 (…)“. Diese Ausführungen lassen zwei unterschiedliche Geltungsgründe für die richtlinienkonforme Auslegung erkennen. Zum einen wird sie subjektiv-teleologisch begründet; der Gesetzgeber hatte bei Erlass der Steuernorm die Absicht, die Richtlinie umsetzen. Er wird bei Erlass des Umsetzungsaktes zweckgerichtet in Erfüllung des Harmonisierungsauftrages tätig. Daher entspricht es der Intention des Gesetzgebers, die Vorschriften des nationalen Umsetzungsrechts im Sinne der Richtlinie auszulegen21. Zum anderen wird die richtlinienkonforme Auslegung aber auch objektiv begründet. Der Bundesfinanzhof spricht hier von einem Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung, das direkt aus dem EWG-Vertrag ableitbar sei. Diese Verpflichtung richtet sich dabei unmittelbar – das heißt, ohne Vermittlung durch den Gesetzgeber – an die Gerichte22. Subjektiv-teleologische Theorie einerseits und objektive Theorie andererseits führen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Im Falle der subjektiv-teleologischen Herleitung ist eine richtlinienkonforme Auslegung dann nicht möglich, wenn der Gesetzgeber 20 BFH v. 12.11.1980 – II R 1/76, BStBl. II 1981, 279. 21 S. hierzu Schön in DStJG 19 (1996), S. 167 (181). 22 S. hierzu Schön in DStJG 19 (1996), S. 167 (183).

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klar zum Ausdruck gebracht hat, dass er die Richtlinie nicht umsetzen möchte23 oder dass er der nationalen Rechtsvorschrift eine ganz bestimmte Auslegung zukommen lassen möchte. Den Gerichten bliebe danach nichts anderes übrig, als die nationale Rechtsvorschrift unangewandt zu lassen. Gegen die subjektiv-teleologische Theorie lässt sich daher einwenden, dass eine richtlinienkonforme Auslegung gegenüber der Nichtanwendbarkeit den souveränitätsschonenderen Eingriff darstellt und daher eigentlich auch im Interesse des Gesetzgebers sein müsste. Bei der objektiven Theorie ergibt sich die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung direkt aus dem EU-Recht. Die Richtlinie selbst, Artikel 288 Absatz  3 AEUV, das Gebot zur loyalen Zusammenarbeit aus Artikel 4 Absatz 3 EUV und Artikel 291 Absatz 1 AEUV verpflichten alle Träger der öffentlichen Gewalt und damit auch die Gerichte, die Richtlinie korrekt umzusetzen, die Effektivität der Richtlinie sicherzustellen und die in der Richtlinie genannten Ziele zu erreichen24. Der Bundesfinanzhof war lange unentschieden, ob er der objektiven Theorie folgen sollte und damit den Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung direkt – und somit ohne Vermittlung über den Willen des nationalen Gesetzgebers – aus dem EURecht herleiten sollte. Er stellte zunächst vor allem auf den Willen des Gesetzgebers ab, die Vorgaben des EU-Rechtes einzuhalten und daher die Richtlinie korrekt umzusetzen25. Der Bundesfinanzhof formulierte dies wie folgt: „Diese Richtlinie ist bei der Auslegung des UStG 1967/1973 zu beachten. Für das UStG 1967/1973 ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber entsprechend der aus Art.  5 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957 (EWGV) folgenden Verpflichtung zur Gemeinschaftstreue (…) die Richtlinie in dem Umfang in nationales Recht umsetzen wollte, wie diese – unter Berücksichtigung der Absätze  2 bis 3 der Begründungserwägungen  – eine Harmonisierung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems bewirken wollte. Dies wird durch die Entstehungsgeschichte des UStG 1967 bestätigt. Es war erklärtes Ziel des Gesetzgebers, im Hinblick auf die 1. und 2. EG-Richtlinien vom 11. April 1967 (…) einen Beitrag zur Harmonisierung der Umsatzsteuern in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften (EG) zu leisten. Hiernach kann dahingestellt bleiben, ob sich die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts  – in den Grenzen dessen möglichen Wortsinns – stets aus Art. 5 EWGV ergibt“26. In vielen (auch jüngeren) Entscheidungen geht der Bundesfinanzhof überhaupt nicht auf die dogmatische Herleitung des Grundsatzes der unionsrechtskonformen Auslegung ein, sondern führt einfach aus, dass er zur Auslegung des nationalen Rechtes im Lichte des Unionsrechtes verpflichtet ist27. 23 Etwa weil er von einem Verstoß der Richtlinie(nbestimmung) gegen primäres Unionsrecht ausgeht. 24 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 4 Rz. 31; Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 1. Aufl. 2015 Rz. 13.15. 25 BFH v. 20.1.1988 – X R 48/81, BStBl. II 1988, 557. 26 BFH v. 20.1.1988 – X R 48/81, BStBl. II 1988, 557. 27 S. etwa BFH v. 16.12.1992 – I R 46/99, BStBl. II 1993, 677: „Für die Entscheidung über den Streitfall kommt es auf die Auslegung der Richtlinie 69/335/EWG deshalb an, weil das

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Häufig leitet er die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung jedoch auch ausschließlich aus den EU-rechtlichen Vorgaben ab und folgt damit der objektiven Theorie. So heißt es etwa im Urteil vom 2. April 1998: „Die Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten sind nach Art. 5 Abs. 1 EGV verpflichtet, alle zur Erfüllung der gemeinschaftsrechtlichen Ziele geeigneten Maßnahmen zu treffen. Deshalb müssen Gerichte der Mitgliedstaaten ein zur Durchführung einer Richtlinie des Gemeinschaftsrechts (Art. 189 Abs. 3 EGV) ergangenes nationales Steuergesetz „im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie“ anwenden (ständige Rechtsprechung des EuGH …). Die Auslegung des einzelstaatlichen Steuergesetzes, das Gemeinschaftsrecht umsetzt, ist richtlinienkonform vorzunehmen. Sie hat sich, soweit wie möglich, am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten und muss die dazu ergangenen Erkenntnisse des EuGH berücksichtigen“28. Ganz ähnlich lautet die Begründung in seinem Urteil vom 14. Mai 1998: „Zu der richtlinienkonformen Auslegung sind die Gerichte in den Mitgliedstaaten nach Art. 5 Abs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verpflichtet“29. Aus den Entscheidungen zu den Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung (s. IV) lässt sich allerdings entnehmen, dass der Bundesfinanzhof bei der richtlinienkonformen Auslegung auch weiterhin dem Willen des Gesetzgebers Bedeutung zumisst und er eine Auslegung ausschließlich im Lichte des EU-Rechts gegen den ausdrücklich geäußerten Willen des Gesetzgebers für nicht zulässig hält.

IV. Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung Eine unionsrechtskonforme Auslegung kommt nur im Rahmen des im jeweiligen Mitgliedsstaat geltenden Kanons der Auslegungsmethoden inklusive der dort anerkannten Methoden der Rechtsfortbildung in Betracht. Die unionsrechtskonforme Auslegung stellt keine eigenständige Auslegungsmethode dar. Sie wirkt nur als Vorrangregelung zugunsten eines mit dem Unionsrecht zu vereinbarenden Auslegungsergebnisses unter mehreren vertretbaren Interpretationsansätzen30. Der EuGH betont, dass die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung ihre Grenzen im Grundsatz der Rechtssicherheit und im Rückwirkungsverbot findet. Eine Verpflichtung zur Rechtsfortbildung contra legem – also außerhalb der nach natioKVStG 1972 der Umsetzung der Richtlinie dient. § 9 Abs. 2 Nr. 3 KVStG 1972 kann daher nicht anders als Art.  7 Abs.  1 Buchst.  b der Richtlinie 69/335/EWG ausgelegt werden.“; BFH v. 20.1.1997 – V R 20/95, DStR 1997, 612 (613): „Bei der Auslegung von § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG 1980 ist die umzusetzende Regelung in Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 77/388/EWG zu berücksichtigen.“; BFH v. 5.11.2014 – XI R 42/12, BStBl. II 2017, 849 Rz. 21; v. 18.3.2015 – XI R 15/11, BStBl. II 2015, 1058 Rz. 28; v. 14.4.2010 – XI R 14/09, BStBl. II 2011, 433 Rz. 26. 28 BFH v. 2.4.1998 – V R 34–97, BStBl. II 1998, 695. 29 BFH v. 14.5.1998 – V R 85/97, BStBl. II 1999, 145. 30 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 4 Rz. 32; Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 1. Aufl. 2015 Rz. 13.16.

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nalem Recht existierenden Auslegungsmethoden – besteht nicht31. In der Rs. Adelener u.a. betonte der EuGH allerdings, dass [d]er Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung [jedoch] verlangt…, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung ihrer Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel übereinstimmt“32. Dieselben Grenzen bei der unionsrechtskonformen Auslegung werden auch vom Bundesverfassungsgericht gefordert. In seiner Entscheidung vom September 2001 setzte es dem nationalen Richter folgendermaßen Grenzen: „Denn die unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet das nationale Gericht zwar, durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erzielen. (…) Besteht ein Auslegungsspielraum, ist das nationale Gericht verpflichtet, diesen soweit wie möglich auszuschöpfen. (…) Mehrere mögliche Auslegungsmethoden sind daher hinsichtlich des Richtlinienziels bestmöglich anzuwenden im Sinne eines Optimierungsgebotes. Allerdings findet die Pflicht zur Verwirklichung des Richtlinienziels im Auslegungswege zugleich ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten. (…) So verlangt auch der Europäische Gerichtshof vom nationalen Gericht nur, bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts dieses soweit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der Richtlinie auszulegen, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so Artikel 249 Absatz 3 EG [heute Art. 288 Abs. 3 AEUV] nachzukommen (…) Ebenso hat der Europäische Gerichtshof erkannt, dass die Pflicht zur gemeinschaftsrechts­ konformen Auslegung insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit ihre Schranken findet und daher nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen darf. (…) Ob und inwieweit das innerstaatliche Recht eine entsprechende richtlinienkonforme Auslegung zulässt, können nur innerstaatliche Gerichte beurteilen“33. Auch der Bundesfinanzhof zieht der unionsrechtskonformen Auslegung Grenzen. Eine unionsrechtskonforme Auslegung darf den nach nationalen Auslegungsme­ thoden zulässigen Rahmen nicht überschreiten34. In seinem Urteil aus dem Febru31 S. EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04 – Adelener u.a. Rz. 110; 32 EuGH v. 4.7.2006  – C-212/04  – Adelener u.a. Rz.  111; s.a. EuGH v. 5.10.2004  – C-397403/01 – Pfeiffer u.a. Rz. 116: „Ermöglicht es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, so ist das nationale Gericht verpflichtet, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.“ 33 BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07, NJW 2012, 669 Rz. 46 f. 34 BFH v. 8.9.2010  – XI R 40/08, BStBl.  II 2011, 661: „Mit dieser Gesetzesauslegung überschreitet der erk. Senat die ihm zustehenden Befugnisse nicht. Die Rechtsprechung ist sowohl nach nationalem (…) als auch nach Unionsrecht verpflichtet, den Sinn und Zweck einer Norm unter Berücksichtigung ihrer Einordnung in das Gesetz und damit ihres syste-

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ar 2012 hat der Bundesfinanzhof die Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung sehr anschaulich beschrieben: „Die (…) richtlinienkonforme Auslegung kommt nur in Betracht, wenn es im konkreten Fall verschiedene Auslegungsmöglichkeiten gibt. (…) Lässt der Gesetzestext mehrere Auslegungen zu und ist nur eine mit dem Unionsrecht vereinbar, so ist (…) der Auslegung der Vorzug zu geben, nach der die Norm nicht als unionsrechtswidrig einzustufen ist. (…) Die in der Vorentscheidung getroffene richtlinienkonforme Auslegung des § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG a.F. ist nach vorgenannten Grundsätzen nicht möglich. Sie geht über Wortlaut und Wortsinn hinaus“35. Da eine richtlinienkonforme Auslegung in dem betreffenden Fall nicht möglich war, kam die Steuerpflichtige in den Genuss der – vom Unionsrecht abweichenden – günstigeren nationalen Steuerrechtsnorm36.

V. Erweiternde Auslegung im Falle der Unanwendbarkeit von ­Steuerrechtsnormen Der nationale Auslegungskanon lässt sowohl eine Analogie als auch eine teleologische Reduktion zu37. Beide Methoden können im Einzelfall zu dem gleichen Ergebnis führen. Sind etwa vom Anwendungsbereich eines Befreiungstatbestandes nur Zahlungen an inländische Institutionen erfasst, so kann die unionsrechtlich gebotene Erstreckung der Steuerbefreiung auf Zahlungen an Institutionen innerhalb der EU auf zweifache Weise erreicht werden: Analog könnte die Vorschrift auch auf solche Zahlungen angewandt werden. Genauso könnte man den Anwendungsbereich der nationalen Steuerbefreiungsvorschrift auch teleologisch reduzieren und gedanklich das Wort „inländisch“ streichen. In dem vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall vom Mai 2017 ging es um die Befreiungsvorschrift des § 3 Nr. 28 EStG38. Diese Vorschrift erfasst nur Ausgleichszahlungen, die in die deutsche gesetzliche Rentenver­ sicherung geleistet werden. Der Bundesfinanzhof entschied, dass aufgrund des Freimatisch-teleologischen Zusammenhangs zu ermitteln. Es bestehen daher keine Bedenken, § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 UStG (…) einschränkend auszulegen.“ Die einschränkende unionsrechtskonforme Auslegung war also nur deshalb zulässig, weil sie auch nach nationalen Auslegungsmethoden vorgenommen werden durfte. S.a. BFH v. 2.7.2014  – XI R 4/13, BFH/NV 2014, 1913 Rz.  32: „Es bestehen daher keine Bedenken, §  12 Absatz 2 UStG i. V. m. Anlage 2 Nr. 1 Buchst. a zum UStG a. F., der nach seinem Wortlaut sowohl Sportpferde als auch solche Pferde erfasst, die gewöhnlich und allgemein für die Zubereitung von Nahrungs- oder Futtermitteln bestimmt sind, und daher grundsätzlich auslegungsfähig ist, dahingehend einschränkend auszulegen, dass ein Pferd im Sinne dieser Vorschrift nur ein zur Schlachtung bestimmtes Tier ist. Allein die richtlinienkonforme Auslegung im vorgenannten Sinne, die weder über Wortlaut noch Wortsinn des Gesetzestextes hinausgeht (…), führt dazu, dass die betreffende nationale Norm als unionsrechtskonform einzustufen ist.“ 35 BFH v. 15.2.1012 – XI R 24/09, BStBl. II 2013, 712 Rz. 18 f. 36 BFH v. 15.2.1012 – XI R 24/09, BStBl. II 2013, 712 Rz. 19: „Das für die Klägerin günstigere nationale Recht geht in diesem Fall dem Unionsrecht vor.“ 37 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 5 Rz. 55 ff., zur Analogie insbesondere Rz. 74 ff. 38 BFH v. 17.5.2017 – X R 10/15, BStBl. II 2017, 1251.

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zügigkeitsabkommens auch im Wesentlichen vergleichbare Ausgleichszahlungen an eine schweizerische Pensionskasse von der Vorschrift erfasst werden müssen. Der Bundesfinanzhof löste den Fall durch Auslegung des § 3 Nr. 28 EStG und entschied dabei wie folgt: „Die nationalen Gerichte haben bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts dieses Recht so weit wie möglich in einer dem Unionsrecht entsprechenden Weise auszulegen, um im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, wenn sie über bei ihnen anhängige Rechtsstreitigkeiten entscheiden. (…) Damit muss wegen des Vorrangs des Unionsrechts bzw. des FZA die Ungleichbehandlung durch eine die Geltung des FZA erhaltende Auslegung beseitigt werden. (…) Die Erfordernisse des Unionsrechts – bzw. im Streitfall die Erfordernisse des FZA – sind in die betroffene nationale Norm hineinzulesen“39. In einem anderen Fall hatte der Bundesfinanzhof über die Auslegung des Befreiungstatbestandes des § 3 Nr. 26 EStG zu entscheiden. Danach waren nur Aufwandsentschädigungen für eine Tätigkeit im Dienst oder Auftrag einer inländischen juristischen Person des öffentlichen Rechts steuerfrei. Auch hier wandte der Bundesfinanzhof eine teleologische Reduktion der Norm an, um den Anforderungen des Unionsrechts gerecht zu werden. Er führte dazu aus: „Aufgrund des Urteils des EuGH vom 18.12.2007, C-281/06 (…) ist indes geklärt, dass der Ausschluss der Steuerbefreiung für Aufwandsentschädigungen, die von ausländischen öffentlichen Körperschaften gezahlt werden, eine nicht zu rechtfertigende Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit…bedeutet und der Kl. dadurch im Vergleich zu denjenigen Steuerpflichtigen diskriminiert wird, die vergleichbare Dienstleistungen im Inland erbringen. Aufgrund des Anwendungsvorrangs gemeinschaftsrechtlichen Primärrechts (und damit der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten) ist nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH der Tatbestand des § 3 Nr. 26 EStG in normerhaltender Weise zu reduzieren, die einschlägige Regelung aber als solche weiter anzuwenden“40. Ist eine Lösung im Rahmen des nationalen Auslegungskanons nicht möglich, so ist eine gegen die Grundfreiheiten verstoßene nationale Steuerrechtsnorm unangewandt zu lassen. In dieser Konstellation stellt sich dann die Frage, inwieweit andere Steuerrechtsvorschriften analog angewandt werden können, da die Unanwendung der für grenzüberschreitende Sachverhalte geltende Steuerrechtsnorm sonst eine vollständige Nichtbesteuerung zur Folge hätte41. In solchen Fällen wendet der Bundesfinanzhof eine Gesamtanalogie an. So hat er etwa im Nachfolgeurteil zum EuGH Urteil in der Rs. CLT-UFA Betriebstätten einer ausländischen Körperschaft einem Steuersatz von 33,5 % unterworfen, um eine Diskriminierung gegenüber der Besteuerung einer inländischen Körperschaft zu vermeiden. Dabei wurde die Gesamtbelastung bei einer Investition über eine Tochtergesellschaft in Höhe der Körperschaftsteuer und der Quellensteuer auf die ausgeschütteten Dividenden analog herangezogen42.

39 BFH v. 17.5.2017 – X R 10/15, BStBl. II 2017, 1251 Rz. 41. 40 BFH v. 22.7.2008 – VIII R 101/02, BStBl. II 2010, 265. 41 S.  Ehrke-Rabel in Schön/Röder (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts II, 2014, S. 40 (51); Rust, IStR 2009, 382; Gosch, DStR 2007, 1553. 42 BFH v. 9.8.2006 – I R 31/01, BStBl. II 2007, 838.

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VI. Auswirkungen der unionsrechtskonformen Auslegung auf ­abgeschlossene Steuerfälle Bestandskräftige Bescheide können auch nach einer klarstellenden Auslegung einer Unionsrechtsnorm durch den Gerichtshof der Europäischen Union nicht mehr abgeändert werden. Ein Steuerbescheid, der auf einer Auslegung einer Vorschrift beruht, die in Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH steht und die daher nicht unionsrechtskonform ist, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig43. Eine Durchbrechung der Bestandskraft ist nicht möglich. So hat der Gerichtshof in der Rs. Emmott ausgeführt, dass die Bestandskraft eines Bescheides einer Abänderung eines Bescheides, der auf einer unionsrechtswidrigen Auslegung beruht, entgegengehalten werden kann44. Im Fall einer richtlinienwidrigen Auslegung umgesetzter Vorschriften durch Behörden und Gerichte ist eine Abänderung von Steuerbescheiden grundsätzlich nach den nationalen Verfahrensvorschriften zu beurteilen. Zu diesen Verfahrensbestimmungen gehören auch die Regeln über die Bestandskraft45. Die Änderung der Rechtsprechung des EuGH bei bestandskräftigen Steuerbescheiden kann nur noch zugunsten des Steuerpflichtigen im Rahmen einer Gegensaldierung nach § 176 AO berücksichtigt werden. Die Änderung der Rechtsprechung des EuGH stellt dagegen kein rückwirkendes Ereignis dar46.

43 BFH v. 21.3.1996 – XI R 36/951006, DStR 1996, 1005. 44 EuGH v. 25.7.1991 – Rs. C-208/90 – Emmott. 45 BFH v. 21.3.1996 – XI R 36/951006, DStR 1996, 1005; Gosch, DStR 2005, 413. 46 BFH v. 21.3.1996 – XI R 36/951006, DStR 1996, 1005.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … C. V. 2.

Unmittelbare Wirkung1 von Unionsrecht Von Michael Schwenke

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Das Urteil „Van Gend & Loos“ 1. Das Konzept der unmittelbaren Wirkung der Grundfreiheiten 2. Das Konzept der unmittelbaren Wirkung von Sekundärrecht a) Verordnungen b) Richtlinien

III. Rezeption des Grundsatzes der unmittelbaren Wirkung durch den BFH IV. Neue Probleme durch Vorwirkung der sog. Anti-BEPS-Richtlinie? V. Fazit

I. Einleitung Am 13. Mai 2013 hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg eine Feier zum 50. Jahrestag des am 5. Februar 1963 verkündeten Urteils „Van Gend & Loos“2 abgehalten. Ungewöhnlich an dieser Veranstaltung dürfte sein, dass der Gerichtshof damit einem einzelnen Urteil aus seiner über 60-jährigen Rechtsprechungstätigkeit3 mit mittlerweile über 11.000 Urteilen4 eine einzigartige und herausgehobene Bedeutung beigemessen hat. Auch heute noch weist der Gerichtshof auf seiner Homepage5 auf diese denkwürdige Veranstaltung hin. Er macht damit deutlich, dass das Urteil „Van Gend & Loos“ sowohl Quelle als auch Leitbild der Grundsätze ist, die das konstitutionelle Gebäude der Europäischen Union geformt hat und

1 Die Begrifflichkeit der unmittelbaren Wirkung wird nicht einheitlich verwandt, synonym findet sich auch der Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit, vgl. Nettesheim in Grabitz/ Hilf, Art. 288 AEUV Rz. 41. 2 EuGH v. 5.2.1963 – 26/62 – Van Gend & Loos, Slg. 1963, I-1 ff. 3 Beginnend mit dem Jahr 1952. 4 Lt. Jahresbericht des EuGH 2016, Teil Rechtsprechungstätigkeit, Rechtsprechungsstatistiken, S. 110. 5 www.curia.europa.eu.

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erst die Möglichkeiten für die künftige Entwicklung der europäischen Konstruktion geschaffen hat6.

II. Das Urteil „Van Gend & Loos“ In seinem Urteil „Van Gend & Loos“ stellte der EuGH mit dem Grundsatz der unmittelbaren Wirkung („effet direct“) einen der tragenden Grundsätze des Rechts der Europäischen Union auf. Nach diesem Grundsatz schafft das Unionsrecht nicht nur gegenseitige Verpflichtungen zwischen den Mitgliedstaaten, sondern erzeugt zugunsten der Bürger und Unternehmen unmittelbare Wirkungen, indem es ihnen individuelle Rechte verleiht, die die nationalen Behörden und Gerichte zu beachten haben. Erst durch das Konzept der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts ergänzt durch den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts hat der EuGH die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich das Unionsrecht und insbesondere die Grundfreiheiten zu einem wirksamen Instrument zur Verwirklichung des Binnenmarkts entwickeln konnten. Der EuGH als „Motor der Integration“7 wäre ohne diese historische Entscheidung kaum möglich gewesen. Aber auch der Beitrag des BFH, der mit 313 Vorlagen zur Vorabentscheidung an den EuGH8 zahlenmäßig die Spitzenposition unter den Gerichten der Mitgliedstaaten einnimmt, zur Harmonisierung des Steuerrechts in der Europäischen Union wäre nicht von dem Gewicht, wie es sich aktuell darstellt. 1. Das Konzept der unmittelbaren Wirkung der Grundfreiheiten Schon bei der Festlegung des Inhalts des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft spielten die Grundfreiheiten eine entscheidende Rolle. Allerdings ist ebenfalls festzustellen, dass die Mitgliedstaaten die schrittweise Ver­ wirklichung des Ziels der Errichtung eines Gemeinsamen Markts als einen Vorgang verstanden haben, der aus einer Kombination von negativen und positiven Integra­ tionselementen bestehen sollte9. Zum einen waren die Hindernisse für den freien Verkehr der Waren, Dienstleistungen, Personen sowie auch der Kapital- und Zahlungsmittel innerhalb des Gemeinschaftsgebiets zu beseitigen, zum anderen galt es, die dadurch betroffenen Regelungsbedürfnisse der Mitgliedstaaten durch eine gemeinschaftsweite Rechtssetzung anzuerkennen. Die Grundfreiheiten sollten dabei lediglich einen Rahmen für die weitere Ausfüllung durch sekundäres Gemeinschaftsrecht vorgeben. Jedenfalls war dies im Gemeinschaftsrecht in den Art. 52, 59 und 67 EWGV (jetzt Art. 49, 56 und 63 AEUV) so angelegt worden, die während der „Über6 Vgl. Pressemitteilung Nr. 56/13 v. 7.5.2013. 7 Hallstein, Die echten Probleme der europäischen Integration, 1965, S. 9. 8 Lt. Jahresbericht des EuGH 2016, Teil Rechtsprechungstätigkeit, Rechtsprechungsstatistiken, S. 113. 9 Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht – „Konvergenz“ des Gemeinschaftsrechts und „Kohärenz“ der direkten Steuern in der Rechtsprechung des EuGH, 2002, S. 41.

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gangszeit“ den „schrittweisen“10 Erlass bestimmter weiterer Maßnahmen durch die Gemeinschaftsorgane zur Verwirklichung der genannten Grundfreiheiten vorsahen. Die Art. 49, 54, 57 und 63 EWGV enthielten zudem Regelungen, wie dieser „schrittweise“ Prozess konkret durch den Gemeinschaftsgesetzgeber in Gang gesetzt werden sollte. Die Verwirklichung des durch den Vertrag intendierten Integrationsprozesses erforderte also nach den Vorstellungen der Gründungsstaaten detaillierte Maßnahmen des Gemeinschaftsgesetzgebers11. Diese Bindung der freien wirtschaftlichen Betätigung an sekundärrechtliche Vorgaben erwies sich jedoch in der Folgezeit als unzureichend, da der Gemeinschaftsgesetzgeber seine „Hausaufgaben“ mit Ablauf der Übergangszeit am 31. Dezember 1969 bei Weitem nicht erledigt hatte12. Als Reaktion auf das fortbestehende Vakuum im Hinblick auf die angestrebte Marktintegration ist daher das Urteil „Van Gend & Loos“ zu verstehen. Darin hat der EuGH dem Einzelnen Rechte aus einer Bestimmung zum freien Warenverkehr zugesprochen, die sich nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut lediglich an die Mitgliedstaaten wendet. Der EuGH ist in teleologischer Auslegung über den Wortlaut der Vorschrift hinweggegangen, indem er praeter legem ausführt, dass Rechte Einzelner nicht nur entstehen, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt13. Er leitet dies aus dem wesentlichen Kennzeichen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ab, die eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt und zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch im begrenzten Umfang, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben14. Als Rechtssubjekte dieser supranationalen Rechtsordnung werden nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen gesehen15. Mit einer Reihe grundlegender Entscheidungen vor allem des Jahres 1974 hat der EuGH die „Van Gend & Loos“-Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Regelungen des EWG-Vertrags auf die Kapitel der Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehrsfreiheit übertragen16. Allerdings hat der EuGH sich in den genannten Urteilen darauf beschränkt, die Grundfreiheiten erst zum Ende der Übergangszeit für unmittelbar anwendbar zu erklären. Eine Entscheidung, die auch nach dem Wortlaut der Grundfreiheiten vertretbar erscheint. Der heutige Vertragstext enthält naturgemäß keinerlei Ausführungen zu Übergangsfristen. Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass das Konzept der unmittelbaren Wirkung der Grundfrei-

10 So der ausdrückliche Wortlaut in den Art. 52, 59 und 67 EWGV. Art. 48 EWGV erwähnte nur die Übergangszeit, der nachfolgende Art. 49 EWGV spricht aber von „fortschreitend“. 11 Everling in Mestmäcker (Hrsg.), Eine Ordnungspolitik für Europa, Festschrift für v.d. Groeben, 1987, S. 115. 12 Roth in Schön (Hrsg.) Gedächtnisschrift für Knobbe-Keuk, 1997, S. 735. 13 EuGH v. 5.2.1963 – 26/62 – Van Gend & Loos, Slg. 1963, I-25. 14 Nettesheim in Grabitz/Hilf, Art. 288 AEUV Rz. 43. 15 Nettesheim in Grabitz/Hilf, Art. 1 AEUV Rz. 65 f. 16 EuGH v. 21.6.1974 – 2/74 – Reyners, Slg. 1974, 631 ff. zur Niederlassungsfreiheit; EuGH vom 3.12.1974 – 33/74 – Van Binsbergen, Slg. 1974, 1299 ff. zur Dienstleistungsfreiheit; EuGH vom 4.12.1974 – 41/74 – Van Duyn, Slg. 1974, 1337 ff.

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heiten kaum aus dem Vertragstext selbst, sondern in erster Linie teleologisch aus dem Vertragsziel der Integration entwickelt wurde17. 2. Das Konzept der unmittelbaren Wirkung von Sekundärrecht a) Verordnungen Die unmittelbare Wirkung von Verordnungen ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut des Art. 288 Abs. 2 AEUV. Danach hat die Verordnung allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar „in“ jedem Mitgliedstaat. Sie gilt demnach nicht nur für die Mitgliedstaaten, sondern auch in ihnen. Die Betroffenen werden unmittelbar berechtigt oder verpflichtet, Behörden und Gerichte müssen die Verordnung anwenden, ohne dass wie bei der Richtlinie ein Umsetzungsakt erforderlich wäre. Entgegenstehendes nationales Recht wird verdrängt. Verordnungen wirken damit wie höherrangige Gesetze. b) Richtlinien Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien ergibt sich dagegen nicht unmittelbar aus dem Wortlaut von Art. 288 AEUV. Richtlinien wenden sich vielmehr nach Art. 288 Abs. 3 AEUV nur an die Mitgliedstaaten und bedürfen grundsätzlich einer Umsetzung in nationales Recht („für jeden Mitgliedstaat“). Sie sind damit zunächst nur für die betroffenen Mitgliedstaaten verbindlich und entfalten keine unmittelbare Wirkung. Eine Richtlinie muss in nationales Recht umgesetzt werden und ist erst darüber auch für den Einzelnen verbindlich. Die Frist für die Umsetzung ergibt sich in der Regel aus der Richtlinie selbst. Der EuGH hat schon früh im Wege der Rechtsfortbildung eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien anerkannt18. In dem Urteil „van Duyn“19 setzt er sich ausdrücklich auch mit dem unterschiedlichen Wortlaut der maßgeblichen Regelung in Art. 288 AEUV in Bezug auf Verordnungen und Richtlinien auseinander: „Zwar gelten nach Art.  189 [EWGV; jetzt Art.  288 AEUV] Verordnungen unmittelbar und können infolgedessen schon wegen ihrer Rechtsnatur unmittelbare Wirkungen erzeugen. Hieraus folgt indessen nicht, dass andere in diesem Artikel genannte Kategorien von Rechtsakten niemals ähnliche Wirkungen erzeugen könnten. Mit der den Richtlinien durch Art. 189 zuerkannten verbindlichen Wirkung wäre es unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, dass betroffene Personen sich auf die durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können. Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die nützliche Wirkung („effet utile“) einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die Einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die 17 Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht – „Konvergenz“ des Gemeinschaftsrechts und „Kohärenz“ der direkten Steuern in der Rechtsprechung des EuGH, 2002, S. 57 m.w.N. 18 St. Rspr. seit EuGH v. 17.12.1970 – 33/70 – S.A.C.E., Slg. 1970, 1213. 19 EuGH v. 4.12.1974 – 41/74 – Van Duyn, Slg. 1974, 1337.

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staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Unionsrechts berücksichtigen könnten“20. Auch hier wird wiederum die Intention des Gerichtshofs deutlich, durch eine auf die größtmögliche Wirksamkeit der rechtlichen Bestimmungen gerichtete Auslegung der Vertragsnormen sowie die Einbeziehung des Marktbürgers in das Gemeinschaftsrecht im Interesse eines wirkungsvollen Rechtsschutzes, der nicht nur über Vertragsverletzungsklagen gesichert werden soll, das Vertragsziel der Integration maximal zu fördern21. Die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie ist aber an bestimmte (einschränkende) Voraussetzungen geknüpft. So muss die Richtlinie hinreichend regelungsintensiv ausgestaltet sein, d.h., sie muss unbedingt und hinreichend bestimmt sein. Inhaltlich unbedingt ist sie, wenn sie weder mit einem Vorbehalt noch mit einer Bedingung versehen ist und keiner weiterer Maßnahmen der Unionsorgane bedarf. Hinreichend bestimmt ist sie, wenn der Inhalt der einzelnen Regelung und der von ihr betroffene Personenkreis eindeutig umschrieben sind. Während früher ein dem Mitgliedstaat verbliebener Beurteilungs-, Ermessens- oder Gestaltungsspielraum einer unmittelbaren Wirkung im Wege stand, genügt dem EuGH inzwischen, dass das Regelungsziel einer Richtlinie unbedingt vorgegeben ist22. Die unmittelbare Wirkung ist zudem auf Fälle beschränkt, in denen die Frist zur Umsetzung durch die Mitgliedstaaten abgelaufen ist. Allerdings bestehen hierzu wiederum Ausnahmen. Denn schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist besteht nach der Rechtsprechung des EuGH für die Mitgliedstaaten die Pflicht, den Erlass von Vorschriften zu unterlassen, die geeignet sind, das in der Richtlinie vorgeschrieben Ziel ernstlich in Frage zu stellen23. Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob die fragliche, nach Inkrafttreten der betreffenden Richtlinie erlassene Regelung des nationalen Rechts deren Umsetzung bezweckt oder nicht24. Weitergehend hat der EuGH im Urteil „Mangold“ diese sog. Vorwirkung auch auf solche nationale Maßnahmen ausgedehnt, die während der Umsetzungsfrist gegen einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts verstoßen25. Nettesheim erklärt diese Rechtsprechung dogmatisch damit, dass die Vorwirkung der Richtlinie die nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts bringe, geht aber im weiteren davon aus, dass der Gerichtshof sich von dieser Weiterung in nachfolgenden Entscheidungen bereits wieder distanziert hat26.

20 EuGH v. 4.12.1974 – 41/74 – Van Duyn, Slg. 1974, 1337 (1348). 21 Vgl. BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 Rz. 43. 22 EuGH v. 22.11.2005 – C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rz. 55 ff. 23 EuGH v. 18.12.1997 – C-129/96 – Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rz. 45. 24 EuGH v. 8.5.2003 – C-14/02 – ATRAL, Slg. 2003, I-4431 Rz. 58 f. 25 EuGH v. 22.11.2005 – C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rz. 79 ff.: Verbot einer Diskriminierung wegen des Alters als „allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“. 26 Nettesheim in Grabitz/Hilf, Art. 288 AEUV Rz. 118 unter Hinweis auf EuGH v. 23.9.2008 – 427/06  – Bartsch, Slg. 2008, I-7245 Rz.  25: „Ein solcher gemeinschaftsrechtlicher Bezug wird … durch die Richtlinie 2000/78 vor Ablauf der dem betreffenden Mitgliedstaat für die Umsetzung dieser Richtlinie gesetzten Frist [nicht hergestellt].“

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Auf der Rechtsfolgenseite führt die unmittelbare Wirkung dazu, dass sich der Bürger gegenüber dem Mitgliedstaat auf die in der Richtlinie beschriebenen Rechte berufen kann. Richtlinienbestimmungen können damit subjektive öffentliche Rechte für Private begründen. Die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie ist aber auch bereits von Amts wegen zu berücksichtigen27. Umgekehrt kann sich ein Mitgliedstaat nicht gegenüber dem Bürger unmittelbar auf eine Richtlinienbestimmung berufen. Dem Bürger können aufgrund einer unmittelbaren Wirkung von Richtlinien also keine Pflichten gegenüber dem Staat auferlegt werden28. Dies wäre mit dem Sanktionsgedanken der unmittelbaren Wirkung unvereinbar, da der Mitgliedstaat es schließlich selbst in der Hand hat, die Richtlinie rechtzeitig und ordnungsgemäß auch zu seinen Gunsten umzusetzen. Nach Auffassung des EuGH ergibt sich aus Art. 288 AEUV i.V.m. Art. 4 Abs. 2 EUV ein Gebot der richtlinienkonformen Interpretation des nationalen Umsetzungsrechts29. Dieses Gebot gilt allerdings erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist, da vor Ablauf dieser Frist ein richtlinienkonformer Rechtszustand noch nicht geboten ist. Es ist eine Frage des nationalen Rechts, ob vor Ablauf der Umsetzungsfrist eine richtlinienkonforme Auslegung bereits zulässig ist30. Eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kann sich ab Inkrafttreten der Richtlinie31 nur ausnahmsweise als Ausfluss der allgemeinen Vorwirkung einer Richtlinie ergeben, weil etwa eine bestimmte Auslegung den Zweck der Richtlinie gefährden könnte.

III. Rezeption des Grundsatzes der unmittelbaren Wirkung durch den BFH In den nationalen Gerichtsbarkeiten der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen. Insbesondere der V. Senat des BFH32 hat in der Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung von Richtlinien eine unzulässige Überschreitung der Grenzen gesehen, die der Gemeinschaftsvertrag in Art.  189 EWGV zwischen der Richtlinie und der Verordnung, als der ausdrücklich unmittelbar geltenden Rechtshandlung, der Union setzt. Im Ergebnis hat der V.  Senat der Sache nach die Bindungswirkung von Vorabentscheidungen des EuGH nach Art. 177 EWGV verneint, sofern durch die Entscheidung des EuGH die Grenzen der der Gemeinschaft im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG übertragenen Hoheitsrechte überschritten werden. Im Fall der Sechsten Umsatzsteu27 Für Gerichte: EuGH v. 19.1.1982 – 8/81 – Becker, Slg. 1982, 53 Rz. 23. 28 EuGH v. 3.5.2005 – 387/02 – Berlusconi, Slg. 2005, 3565 Rz. 73 f. 29 Z.B. EuGH v. 16.12.1993 – C-334/92 – Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911. 30 Nettesheim in Grabitz/Hilf, Art. 288 AEUV Rz. 133 m.w.N. 31 EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04 – Adelener, Slg. 2006, I-6057. 32 BFH v. 16.7.1981 – V B 51/80, BStBl. II 1981, 692; BFH v. 25.4.1985 – V R 123/84, BFHE 143, 383; weitere Parallelentscheidungen v. 25.4.1985 – V R 64/83, V R 175/83, V R 5/84 u. V R 74/84 unter Bezugnahme auf Conseil d‘Etat v. 22.12.1978, Nr. 11604, EuR 1979, 292.

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errichtlinie hat er diese verfassungsrechtlichen Grenzen durch die rechtliche Qua­ lifizierung, die der Gerichtshof der Richtlinie beigelegt hat, als überschritten und nicht mehr vom deutschen Zustimmungsgesetz zu den Römischen Verträgen als gedeckt angesehen. Der EuGH habe im Rahmen des Zustimmungsgesetzes zu den Römischen Verträgen keine Befugnis eingeräumt bekommen, Richtlinien im Wege der Rechtsfortbildung den (unmittelbar geltenden) Verordnungen im Sinne des Art. 189 EWGV gleichzustellen. Die gegen das Urteil des BFH erhobene Verfassungsbeschwerde war erfolgreich und führte zur Aufhebung der Entscheidung des BFH durch das BVerfG33. Das BVerfG hat die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien als kompetenz-rechtlich und materiell-rechtlich sowie methodisch im Rahmen des durch das Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag abgesteckten Integrationsprogramms angesehen. Insbesondere umfasse die dem EuGH nach Art.  177 EWGV übertragene abschließende Entscheidungsbefugnis grundsätzlich auch die Befugnis zur Rechtsfortbildung bei der Auslegung und Konkretisierung der Gemeinschaftsverträge und des aus ihr abgeleiteten Rechts. Die rechtsstaatlichen Grenzen, die einer Übertragung von Hoheitsrechten nach Art.  24 Abs.  1 GG von Verfassungs wegen gesetzt sind, würden hierdurch nicht überschritten. Damit war die Diskussion um den Grundsatz der unmittelbaren Wirkung beendet.

IV. Neue Probleme durch Vorwirkung der sog. Anti-BEPS-Richtlinie? Die Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Marktes (sog. Anti-BEPS-Richtlinie)34 ist am 8.8.2016 in Kraft getreten. Sie enthält in Art. 4 Anti-BEPS-Richtlinie eine Regelung, die einen Mindeststandard35 für eine „Zinsschranke“ vorsieht. Die Regelung entspricht weitgehend der deutschen Regelung in §  4h EStG und § 8a KStG. Nach Art. 11 Abs. 1 Anti-BEPS-Richtlinie ist die Richtlinie und damit auch der Mindeststandard für eine Zinsschranke bis zum 31. Dezember 2018 von den Mitgliedstaaten umzusetzen. In der Literatur ist die Frage aufgeworfen worden, welche Auswirkungen sich aus dem Inkrafttreten der Richtlinie und deren bereits durch die Zinsschrankenregelung in Deutschland erfolgten Umsetzung auf die Verfassungsmäßigkeit der § 4h EStG und § 8a KStG und damit auf das beim BVerfG aufgrund eines Vorlagebeschlusses des I. Senats des BFH36 anhängige Verfahren ergibt37. 33 BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223. 34 RL 2016/1164/EU v. 12.7.2016, ABl. EU 2016 L 193, 1. 35 Vgl. Art. 3 Anti-BEPS-Richtlinie, der ein Mindestschutzniveau enthält. 36 BFH v. 14.10.2015 – I R 20/15, BStBl. II 2017, 1240: Es wird eine Entscheidung des BVerfG darüber eingeholt, ob § 4h EStG 2002 i.d.F. des Bürgerentlastungsgesetzes Krankenversicherung i.V.m. § 8 Abs. 1 und § 8a KStG 2002 i.d.F. des UntStRefG 2008 gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. 37 Vgl. Glahe, ISR 2016, 86; Mitschke, FR 2016, 412; Glahe, FR 2016, 829; Mitschke, FR 2016, 834.

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Soweit die Zinsschrankenregelungen „als solche“ verfassungsrechtlich zu überprüfen ist – was die „abstrakte“ Vorlagefrage nahelegt – und nicht die konkrete Ausgestaltung durch § 4h EStG/§ 8a KStG – hierfür könnte Rz. 56 des Vorlagebeschlusses angeführt werden – ist die Frage zu beantworten, ob eine bereits bei Inkrafttreten einer Richtlinie umgesetzte nationale Rechtsvorschrift nicht mehr an deutschem Verfassungsrecht zu prüfen wäre. Mitschke weist diesbezüglich auf den Anwendungsvorrang einer in Kraft getretenen Unions-Richtlinie sowie deren „Einstrahlwirkung“ auf die Vergangenheit38. Glahe vermag dagegen keinen Konflikt mit dem Vorlageverfahren an das BVerfG zu erkennen und verweist darauf, dass die Anti-BEPS-Richtlinie erst für zukünftige Veranlagungszeiträume europäisches Recht setze und sie deshalb nicht die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der nationalen Zinsschrankenregelungen für die zurückliegenden und vor dem Inkrafttreten der Richtlinie liegenden Streitjahre 2008 und 2009 beeinflussen könne39. Fest steht, dass das BVerfG den Anwendungsvorrang des Unionsrechts nach seiner Solange II-Rechtsprechung anerkannt hat, jedenfalls solange der EuGH weiterhin generell einen wirksamen Grundrechtsschutz gewährleistet und Union mit der Richtlinie nicht ihre Kompetenzen überschreitet40. Im Ergebnis bedeutet dies, dass Europäisches Sekundärrecht deutsches Verfassungsrecht verdrängt. Nach der Rechtsprechung des EuGH betrifft das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung alle Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten selbstverständlich auch die Gerichte. Dabei ist das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung nicht auf das Umsetzungsrecht beschränkt, d.h. es werden sämtliche Normen im Wirkungskreis der Richtlinie einbezogen und zwar unabhängig davon, ob sie vor oder nach dem Inkrafttreten der entsprechenden Richtlinie erlassen worden sind. Einigkeit besteht, dass spätestens mit Ablauf der Umsetzungsfrist das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung zu beachten ist. In der Rechtsprechung des EuGH ist weiter geklärt, dass ab dem Inkrafttreten einer Richtlinie ein gemeinschaftsrechtliches Frustrationsgebot zu beachten ist, d.h., die Mitgliedstaaten dürfen während der laufenden Umsetzungsfrist keine Maßnahmen ergreifen, die die mit der Richtlinie verfolgten Ziele ernstlich gefährden41. Im Ergebnis ist der Rechtsprechung des EuGH damit nur zu entnehmen, dass während der laufenden Umsetzungsfrist keine aktive Anpassungsverpflichtung des innerstaatlichen Rechts besteht, sondern nur eine Unterlassungspflicht. Eine Aussage dahingehend, dass eine richtlinienkonforme Auslegung trotz noch laufender Umsetzungsfrist erfolgen muss, wenn eine innerstaatliche Umsetzung bereits erfolgt ist, ist der Rechtsprechung des EuGH nicht dezidiert zu entnehmen. Allerdings hat der EuGH im Urteil „Brinkmann Tabakfabriken“ entschieden, dass ein nationales Gericht seine Auslegung des nationalen Rechts – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt – soweit 38 Mitschke, FR 2016, 412. 39 Glahe, ISR 2016, 86. 40 BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339. 41 EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04 – Adelener, Slg. 2006, I-6057.

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Unmittelbare Wirkung von Unionsrecht

wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten muss, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen42. Ist eine Anpassung des nationalen Rechts bereits erfolgt und hat der nationale Gesetzgeber damit sein Umsetzungsermessen ausgeübt, ist kein Grund ersichtlich, warum die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung nicht ab diesem Zeitpunkt und damit vor Ablauf der Umsetzungsfrist bestehen sollte. Damit ist allerdings immer noch nicht die sich im Fall der Zinsschrankenregelungen des deutschen Rechts stellende Fragestellung gelöst. Diese lautet: Gilt dies aber auch, wenn die fragliche Norm bereits vor Inkrafttreten der Richtlinie besteht und damit auch für Veranlagungszeiträume vor Inkrafttreten der Richtlinie?

V. Fazit Die unmittelbare Wirkung von Unionsrecht ist das Ergebnis einer bemerkenswerten  teleologischen Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH. Das Urteil „van Gend & Loos“ kann daher in der Tat als einen Meilenstein in der Rechtsprechung des EuGH bezeichnet werden und ist dementsprechend auch zutreffend vom Gerichtshof gewürdigt worden. Die unmittelbare Wirkung von Unionsrecht wirft zusammen mit dem weiteren Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts auch heute noch – angesichts aktueller Richtlinienaktivitäten der Europäischen Kommission sogar vermehrt – Fragen auf, die die nationalen Gerichte zu beantworten haben.

42 EuGH v. 15.6.2000 – C-365/98 – Brinkmann Tabakfabriken GmbH, Slg. 2006, I-6057.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … C. V. 3. a)

Umgang mit dem unionsrechtlichen Beihilfeverbot – Begriff und Tragweite von „Altbeihilfen“ Von Franz Philipp Sutter*

Inhaltsübersicht I. Einleitung

IV. Umgestaltungen bestehender Beihilfen

II. Die verfahrensrechtliche Dichotomie zwischen Alt- und Neubeihilfen

V. Das Vorabentscheidungsersuchen des VwGH zu C-585/17 – Dilly’s Wellnesshotel

III. Begriff und Tragweite von „Altbeihilfen“ 1. Begriff der bestehenden Beihilfen 2. Erkennbarkeit „genehmigter“ Beihilferegelungen

VI. Offenbar gewordene Defizite an der Schnittstelle von Alt- und Neubeihilfen VII. Zusammenfassung und Würdigung

I. Einleitung Art. 107 Abs. 1 AEUV als Ausgangsnorm des Europäischen Beihilfenrechts statuiert ein grundsätzliches Beihilfenverbot1, das allerdings durch die Legalausnahmen des Art. 107 Abs. 2 AEUV und die in der Praxis weitaus bedeutenderen Ermessensausnahmen des Art. 107 Abs.  3 AEUV erheblich eingeschränkt wird. Da letztere der Kommission einen weiten Ermessensspielraum zur Genehmigung von staatlichen Beihilfen einräumen, kann man treffend von einem „Beihilfenverbot mit Erlaubnisvorbehalt“ sprechen2. Dieses erfasst sowohl Einzelbeihilfen an namentlich indivi* Die folgenden Ausführungen stellen selbstverständlich lediglich persönliche Überlegungen dar. Sie bauen auf früheren Überlegungen meinerseits auf und führen diese weiter. Vgl. dazu insbesondere Sutter, Das EG-Beihilfenverbot und sein Durchführungsverbot in Steuersachen (2005) sowie Sutter in Mayer/Stöger, Art. 107 (2014) und Art. 108 AEUV (2014). 1 Gemäß Art. 107 Abs 1 AEUV sind „soweit in den Verträgen nicht etwas anderes bestimmt ist,  … staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.“ 2 Vgl. schon Thiesing in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 92 EGV Rz. 1.

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Franz Philipp Sutter

dualisierte Unternehmer als auch generell-abstrakte Beihilferegelungen. Im Einzelnen ist freilich bereits die Abgrenzung des Beihilfentatbestandes schwierig3, weshalb auch den verfahrensrechtlichen Bestimmungen im Umgang mit dem unionsrechtlichen Beihilfenverbot besondere Bedeutung zukommt.

II. Die verfahrensrechtliche Dichotomie zwischen Alt- und Neubeihilfen Art. 108 AEUV regelt das Verfahren der EU-Beihilfenkontrolle. Die Regelung unterscheidet staatliche Maßnahmen nach dem Stichtag ihrer Einführung/Umgestaltung und knüpft daran zwei vollkommen unterschiedliche Kontrollsysteme. Für „bestehende Beihilferegelungen“ (sog „Altbeihilfen“) installiert Art. 108 Abs. 1 AEUV ein begleitendes repressives Überwachungsverfahren der Kommission. Demzufolge dürfen die Mitgliedstaaten Altbeihilfen bis zum Erlass einer ausdrücklichen Unvereinbarkeitsentscheidung der Kommission rechtmäßig gewähren, und die Kommission kann erst nach Abwicklung eines förmlichen Prüfverfahrens (Art. 108 Abs. 2 AEUV) deren künftige Gewähr untersagen. Für die „beabsichtigte Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen“ (sog „Neubeihilfen“) normiert Art. 108 Abs. 3 AEUV dagegen ein präventives Überwachungsverfahren, das die Mitgliedstaaten verpflichtet, der Kommission alle geplanten Beihilfemaßnahmen schon vor deren Durchführung zur Genehmigung anzuzeigen (sog. Notifikation). Damit kann die Kommission neue unerwünschte Belastungen des Binnenmarkts nicht nur beseitigen, sondern gleich ab ovo verhindern. Da diese Notifi­ kationsverpflichtung in Art. 108 Abs.  3 Satz  3 AEUV durch ein unmittelbar an­ wendbares Durchführungsverbot abgesichert wird, sind in die unionsrechtliche Neubeihilfenaufsicht auch die nationalen Organe mit umfangreichen Aussetzungsund Rückabwicklungsbefugnissen direkt eingebunden. Ihre Einbindung steigert die Prüfdichte in der Neubeihilfenkontrolle beträchtlich, weil die nationalen Organe qua Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV – losgelöst vom Parteivorbringen – von Amts wegen das Unionsinteresse wahren und die Durchführung nicht-notifizierter Beihilfe(regelunge)n stoppen müssen. Dies gilt jedenfalls in einem System der vollreformatorischen Finanzgerichtsbarkeit wie dem österreichischen auch für die Verwaltungsgerichte4. Die verfahrensrechtlichen Folgen der Einordnung als Alt- oder Neubeihilfe sind somit sehr weitreichend. Erweist sich eine staatliche Maßnahme als bestehende Beihil3 Vgl. zu den diesbezüglichen dogmatischen Fragen zuletzt eingehend Sutter in DStJG 39 (2016), S. 169 bis 215 m.w.N. 4 Besteht zwischen Finanzamt und Abgabenpflichtigem beispielsweise ein Streit über die Berechnungsmodalitäten einer steuerlichen Begünstigungsvorschrift, in dem das Finanzamt auf einer strengeren Berechnungsmethode beharrt hat, muss daher ein vom Abgabepflichtigen angerufener Finanzrichter losgelöst vom Parteivorbringen auch die beihilfenrechtliche Legitimität der Begünstigungsvorschrift als solche in Frage stellen und gegebenenfalls zur Überraschung beider Parteien den Steuervorteil überhaupt versagen. Vgl. in diesem Sinne bereits VwGH v. 30.1.2007 – 2004/17/0078.

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„Altbeihilfen“ und EU-Beihilfeverbot

fe, genießt sie „Altbeihilfenschutz“. Das heißt: beihilfenrechtliche Bedenken können nur von der Kommission (und nicht von nationalen Instanzen) geprüft werden (Prüfmonopol der Kommission), und bei negativem Ausgang eines solchen Prüfverfahrens kann lediglich die weitere Gewähr der Beihilfe pro futuro (ohne Rückabwicklungsfolgen) von der Kommission untersagt werden. Erweist sich eine staatliche Maßnahme dagegen als nicht-notifizierte und somit (formell) unionsrechtswidrige Neubeihilfe, kommt einerseits das unmittelbar anwendbare Durchführungsverbot gegen jedwede Beihilfengewähr zum Tragen und unterliegen andererseits Empfänger rechtswidriger Beihilfen dem Risiko der vollständigen Rückzahlungspflicht. Allerdings erweist sich die Sanktionierung rechtswidriger Beihilfengewähr im Lichte der Entwicklung der Rspr. insofern als maßgeblich entschärft, als sich der EuGH in den Rs. C-199/06 – CELF und C-384/07 – Wienstrom gegen einen Rückforderungsautomatismus ausgesprochen hat, wonach im Falle einer nicht-notifizierten Beihilfe immer eine endgültige und dauerhafte Rückerstattung der gesamten Beihilfe für die Zeit der Rechtswidrigkeit zu erfolgen habe. Im Fall einer nachträglich gewährten Kommissionsgenehmigung sei vielmehr nur der Zinsvorteil der frühzeitigen Beihilfengewähr vom Beihilfenempfänger einzufordern5. Freilich setzt dies voraus, dass eine nicht-notifizierte Maßnahme von der Kommission letztlich auch genehmigt wird. Andernfalls bleibt es bei dem vollen Rückzahlungsrisiko. Der EuGH hat die verfahrensrechtliche Dichotomie des EU-Beihilfenkontrollsystems zwischen sanfterem Altbeihilfen- und strengerem Neubeihilfenregime damit erklärt, dass die Beihilfenvorschriften „einerseits auf den schrittweisen Abbau der bestehenden Beihilfen ausgerichtet [seien und …] andererseits verhindern [sollen], dass die einzelnen Staaten durch interne Maßnahmen neue Beihilfen ‚gleich welcher Art‘ einführen“6. Insbesondere neuen Mitgliedstaaten wird durch das weniger einschneidende Altbeihilfenregime ein langsames Hineinwachsen in die EU-Beihilfenkontrolle ermöglicht, das auch deren politische Akzeptanz fördert. Darüber hinaus ist ein schrittweiser Aufrollprozess beihilfenrechtlicher „Altlasten“ für Kommission und Mitgliedstaaten auch verwaltungstechnisch einfacher verkraftbar, als es eine umfassende Bereinigungspflicht zum jeweiligen Beitrittsstichtag eines Mitgliedstaats wäre. In den letzten Erweiterungsrunden der Union ist die in Art. 108 AEUV vorgesehene Zweiteilung des EU-Beihilfenkontrollsystems für die Beitrittsländer jedoch bereits modifiziert worden. So wurde das Altbeihilfenregime in der Beitrittsakte Österreichs, Finnlands und Schwedens für den sensiblen Bereich landwirtschaftlicher Beihilfen verschärft, indem für diese eine Nachnotifikationspflicht auch für zum Bei-

5 Zu den Folgen rechtswidriger Beihilfen vgl. Sutter in Mayer/Stöger, Art. 108 AEUV Rz. 134 ff m.w.N.; Bungenberg in Biernstiel/Bungenberg/Heinrich, Europäisches Beihilfenrecht, 2013, S. 864 Rz. 74. 6 EuGH v. 15.7.1964 – 6/64 – Costa/ENEL, Slg 1964, 1253 (1272); zu den Vor- und Nachteilen beider Systeme vgl. Wouter, Notification, Clearance and Exemption in E.C. Competition Law: An Economic Analysis, ELR 1999, 139 ff.

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Franz Philipp Sutter

trittsstichtag bereits bestehende Beihilfen geschaffen worden ist7. In den Beitritts­ akten der Osterweiterung sind die verfahrensrechtlichen Vorteile von Altbeihilfen dann durch ein allgemeines Übergangsregime noch weiter beschnitten worden8. Hintergrund dieser Entwicklung war die Sorge der Altmitgliedstaaten um die zwischenmitgliedstaatliche Gleichmäßigkeit der EU-Beihilfenaufsicht, weil das Altbeihilfenregime eine wettbewerbsmäßige Bevorzugung junger Mitgliedstaaten mit sich bringt, indem es diesen die dichtere Kontrolle der nationalen Instanzen und die bei Notifikationsverstößen im Raum stehenden Rückabwicklungsdrohungen weitgehend erspart.

III. Begriff und Tragweite von „Altbeihilfen“ 1. Begriff der bestehenden Beihilfen Als „bestehende Beihilfen“ definiert die VerfahrensVO (EU) 2015/15899 in Art. 1 lit. b sublit. i zunächst „alle Beihilfen, die vor Inkrafttreten des AEUV in dem entsprechenden Mitgliedstaat bestanden, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen,  die vor Inkrafttreten des AEUV in dem entsprechenden Mitgliedsstaat eingeführt worden sind und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind“. In den sechs ursprünglichen Mitgliedstaaten ist der Inkrafttretensstichtag des Vertrags der 1.1.1958, in den übrigen Mitgliedstaaten deren jeweiliger Beitrittstag10. Allerdings sind die Sonderregeln in den einzelnen Beitrittsverträgen zu beachten. Für Österreich liegt der allgemeine Stichtag für die Trennlinie zwischen Alt- und Neubeihilfen gemäß Art 172 der österreichischen Beitrittsakte schon im Beitritt zum EWR (1.1.1994) und nicht erst im Beitritt zur EU (1.1.1995). Des Weiteren werden von Art. 1 lit. b VO (EU) 2015/1589 auch „genehmigte Beihilfen“, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die von der Kommission oder vom Rat genehmigt wurden (sublit. ii) und als genehmigt geltende Beihilfen (sublit. iii) als Altbeihilfen genannt. Für letztere erfolgt die Genehmigung der Kommission implizit durch Schweigen innerhalb einer grundsätzlich zwei Monate dauernden Frist nach Anmeldung (Art. 4 Abs. 6 VO (EG) 659/99). Die Reichweite kommissioneller Genehmigungen kann freilich im Einzelnen strittig und nicht so einfach erkennbar sein11.

7 Sutter in Mayer/Stöger, Art. 108 AEUV Rz. 16 m.w.N.; Dreher/Lübbig/Wolf-Posch, Praxis des EU-Beihilferechts in Österreich (2017) Rz. 356 f. 8 Vgl. näher z.B. Bartosch, EU-Beihilfenrecht, 2. Aufl. 2016, 584; Janssen, EWS 2004, 343 ff.; Schütterle, EWS 2004, 485 ff. 9 Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates v. 13.7.2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. EU L 248. Die VO hat die VO (EG) 659/99, ABl. EG L 1999/83, 1 v. 22.3.1999 ersetzt, mit der das Beihilfenverfahrensrecht erstmals sekundärrechtlich kodifiziert worden ist. 10 EuG v. 15.6.2000 – T-298/97 u.a. – Alzetta Mauro Rz. 142. 11 Dazu unten in Kapitel III.2.

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„Altbeihilfen“ und EU-Beihilfeverbot

Handelt es sich bei den Altbeihilfen um „Beihilferegelungen“, also nicht bloß um isolierte punktuelle Zuwendungen („Ad-hoc-Beihilfen“), sondern um abstrakt definierte Beihilfeprogramme12, so erfasst deren Genehmigung auch die auf ihnen basierenden durchzuführenden Einzelbeihilfen. Diese müssen dann, sofern die Genehmigung seitens der Kommission nicht mit einer expliziten Auflage verbunden wurde13, vor ihrer Vergabe nicht neuerlich einzeln angemeldet werden. Damit der Kommission eine seriöse Beurteilung der Auswirkungen solcher Programme auf den Binnenmarkt möglich ist und diese Programme keine Einfallspforten für undeterminierte nationale Ermächtigungsnormen zur Subventionsvergabe werden können, müssen die Voraussetzungen der Beihilfengewährung natürlich bereits im Programm präzise festgelegt sein14. Dies ist auch für eine allfällige beihilfenrechtliche Einordnung von Ermessensvorschriften von zentraler Bedeutung, weil nur eine Verankerung des Beihilfeelements in der Ermessensvorschrift selbst für die darauf gestützten Ermessensübungen den Altbeihilfenschutz vermitteln kann. Dazu ist aber erforderlich, dass schon die Auswirkungen der Ermessensvorschrift derart abschätzbar sind, dass eine Genehmigung der Regelung durch die Kommission bei einer Notifikation denkbar gewesen wäre15. Gemäß Art. 1 lit. b sublit. iv VO (EU) 2015/1589 gilt überdies jede Beihilfe, für die die zehnjährige Rückforderungsfrist des Art. 17 VO 2015/1589 (EU) abgelaufen ist, als bestehende Beihilfe. Da diese Regelung Beihilfen einschließt, die schon zu ihrem Einführungszeitpunkt tatbildlich i.S.d. Art. 107 AEUV waren, kann sie in der von Art. 108 AEUV vorgegebenen Unterscheidung zwischen Alt- und Neubeihilfen keine Deckung mehr finden. Allerdings stellt diese Erweiterung des Altbeihilfenbegriffs inhaltlich eine Verjährungsfrist dar16 und findet daher ihre primärrechtliche Grundlage in Art. 109 AEUV17. Art. 1 lit. b sublit. v VO (EU) 2015/1589 führt schließlich als „bestehende Beihilfen“ noch Beihilfen an, „die als bestehende Beihilfen gelten, weil nachgewiesen werden kann, dass sie zu dem Zeitpunkt, zu dem sie eingeführt wurden, keine Beihilfe waren und später aufgrund der Entwicklung des Binnenmarktes zu Beihilfen wurden, ohne

12 Siehe die Definition in Art. 1 lit. d VO (EG) 2015/1589 („eine Regelung, wonach Unternehmen, die in der Regelung in einer allgemeinen und abstrakten Weise definiert werden, ohne nähere Durchführungsmaßnahmen Einzelbeihilfen gewährt werden können, beziehungsweise eine Regelung, wonach einem oder mehreren Unternehmen nicht an ein bestimmtes Vorhaben gebundene Beihilfen für unbestimmte Zeit und/oder in unbestimmter Höhe gewährt werden können“). 13 Vgl. z.B. Einzelnotifikationspflicht ab Überschreiten gewisser Schwellwerte sowie dagegen etwa die Regionalbeihilfenleitlinien, ABl. EU C 2006/54, 13 Rz. 64. 14 Sutter, Art. 107 AEUV Rz. 22. 15 Siehe näher bereits Sutter, EG-Beihilfenverbot, S. 52 ff. 16 Mederer in Groeben/Schwarze, 6. Aufl. 2004, Art. 88 EGV Rz. 28. 17 Ermächtigung des Rats zum Erlass von „Durchführungsverordnungen zu den Artikeln 107 und 108“ und zur Festlegung derjenigen „Arten von Beihilfen, die von diesem Verfahren [ie der Anwendung des Art. 108 Abs 3 AEUV] ausgenommen sind“.

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dass sie eine Änderung durch den betreffenden Mitgliedstaat erfahren haben“18. Mit dieser Regelung wollte der Rat offenbar der dynamischen Natur des Beihilfenbegriffs Rechnung tragen und Maßnahmen, die in der Vergangenheit gar nicht als potenzielle Beihilfen gesehen und daher nicht angemeldet wurden, nur der repressiven Altbeihilfenkontrolle der Kommission unterwerfen. Zur rechtsdogmatischen Rechtfertigung dieser Bestimmung ist darauf hinzuweisen, dass auch Art. 108 AEUV die Einordnung staatlicher Maßnahmen als notifikationspflichtige Neubeihilfen nur aus der zeitlichen Perspektive ihres Einführungsstichtags heraus treffen kann, will er angesichts eines dynamischen Beihilfenbegriffs nicht unbillige Ergebnisse von unverschuldeten Notifikationsverstößen provozieren. Nach der Rspr. des EuGH ist der Begriff der „Entwicklung des Gemeinsamen Marktes“ [nunmehr des „Binnenmarktes“] dahin zu verstehen, dass es sich „um eine Änderung der wirtschaftlichen und rechtlichen Gegebenheiten in dem von der fraglichen Maßnahme betroffenen Sektor handelt, und betrifft z.B. nicht den Fall, dass die Kommission ihre Beurteilung aufgrund einer strengeren Auffassung der Beihilfevorschriften ändert“19. Die Kommission hat Art. 108 Abs. 1 AEUV in der Vergangenheit aber auch auf Beihilfen angewandt, die sie lediglich in ihrer früheren Praxis als nicht tatbildlich i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV eingestuft hat20. Der erforderliche Nachweis der fehlenden Beihilfennatur zum Einführungsstichtag wird in der Praxis jedoch nur schwer zu erbringen sein, weil die EuGH-Rspr. den Anwendungsbereich von Art. 107 AEUV seit jeher sehr weit gezogen hat. Da für Österreich das EU-Beihilfenregime darüber hinaus erst mit dem Beitritt zum EWR am 1.1.1994 anwendbar geworden ist, muss die praktische Relevanz von Art. 1 lit. b sublit. v VO (EU) 2015/1589 hierzulande besonders gering sein. Die Kommission ist bei dessen Anwendung generell sehr zurückhaltend21. Die restriktive Sicht der Kommission ist mittlerweile auch vom EuG bestätigt worden22. In sensiblen Fällen stützt die Kommission den Verzicht auf die Beihilfenrückforderung eher auf den unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatz als auf eine Anwendung des Art. 1 lit. b sublit. v VO (EU) 2015/158923. Allerdings sind sehr wohl Anwendungsfälle von Art. 1 lit. b sublit. v VO (EU) 2015/1589 denkbar24. 18 Vgl. dazu auch EuG v. 15.6.2000  – T-298/97 u.a.  – Alzetta Maura u.a./Kommission Rz. 143 f. 19 EuGH v. 2.12.2009 – C-89/08 P – Kommission/Irland Rz. 71. 20 ABl. EG C 1998/395, 19 zum irischen Körperschaftsteuersatz für das verarbeitende Gewerbe sowie ABl. EG C 2002/147, 2 Rz. 30 ff. zu den Belgischen Koordinierungszentren; zu dieser Praxis Sinnaeve in Heidenhain, Handbuch des Europäischen Beihilfenrechts, 2003, § 36 Rz. 5. 21 Vgl. etwa die Zurückweisung der niederländischen Position, die im Start der Währungsunion den Hintergrund einer Änderung der beihilfenrechtlichen Einschätzung von steuerlichen Maßnahmen gesehen hat: Kommission, 17.2.2003, Unternehmen mit internationaler Finanzierungstätigkeit (ABl. EG L 2003/180, 52 Rz. 102). 22 EuG v. 30.4.2002 – T-195/01 und T-207/01 – Gibraltar/Kommission Rz. 121. 23 Vgl. Kommission v. 17.3.2003 – Irish Foreign Income Scheme, ABl. EU L 2003/204, 51. 24 Dies für die erstmalige Ausdehnung der Beihilfenkontrolle auf Doppelbesteuerungsabkommen erwägend: Sutter, Die abkommensrechtliche Verteilung der Besteuerungsrechte zwischen Ansässigkeits- und Quellenstaat aus beihilfenrechtlicher Sicht in Gassner/Lang/

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„Altbeihilfen“ und EU-Beihilfeverbot

2. Erkennbarkeit „genehmigter“ Beihilferegelungen Genehmigte Beihilferegelungen und ihre Reichweite sind mitunter aufgrund der sehr unterschiedlichen Genehmigungspraxis der Kommission schwer zu erkennen. Zwar weisen Genehmigungen der Europäischen Kommission vielfach zeitlich klar befristete Laufzeiten auf oder ordnen ausdrücklich verpflichtende Renotifikationen ab einem gewissen Zeitpunkt an. Die Vollzugspraxis der Kommission kennt aber auch unbefristete und sogar implizite Genehmigungen. So hat die Europäische Kommission beispielsweise nach Prüfung einer österreichischen Maßnahme in ihrer Entscheidung v. 9.3.2004 – 2005/565/EG, ABl. EG 2005 L 190/13, konkrete Änderungen von Österreich verlangt und sodann – so die authentische Interpretation der Kommission selbst – einer solcherart modifizierten Maßnahme ohne weitere Befristung implizit eine unbefristete Genehmigung erteilt25. Solche opaken Genehmigungen sind für den Rechtsverkehr sehr schwer erkennbar, zumal allfällige weiterführende Anfragen und Schriftwechsel zur Auslegung der Genehmigungsentscheidung im Allgemeinen nicht öffentlich zugänglich sind. In der Rechtspraxis ist es damit für die Normunterworfenen oftmals alles andere als einfach herauszufinden, ob zu einer bestimmten nationalen Norm eine aktuell noch wirksame beihilfenrechtliche Genehmigung der Kommission vorliegt. Darüber hinaus hat das Rechtsinstitut der Gruppenfreistellung die Abgrenzung zwischen Alt- und Neubeihilfen maßgeblich erschwert. Mit dem Erlass der ErmächtigungsVO 994/98 des Rats vom 7.5.1998 über die Anwendung der Art. 92 und 93 EGV auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen, die später erweitert und schließlich mit der Ratsverordnung (EU) 2015/1588 vom 13.7.2015 neu kodifiziert wurde, wurde der Kommission erstmals der Erlass von Gruppenfreistellungsverordnungen ermöglicht. Diese erlauben der Kommission die Festlegung der Genehmigungskriterien in einer Art und Weise, dass eine Befassung der Kommission mit den konkreten Einzelfällen gar nicht mehr notwendig ist. Die Überwachung der in den Gruppenfreistellungsverordnungen niedergelegten Kriterien obliegt dann in erster Linie den nationalen Gerichten, die damit die Kommission von Routinefällen entlasten sollen26. Auf der Grundlage dieser Ermächtigung hat die Kommission zunächst für mehrere Bereiche einzelne GruppenfreistellungsVO erlassen, die sie schließlich mit der VO (EG) 800/2008, vom 6.8.2008 und später mit der VO (EU) Nr. 651/2014 vom 17.6.2014 durch eine Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) ersetzt

Schuch/Staringer (Hrsg.), Die abkommensrechtliche Verteilung der Besteuerungsrechte zwischen Ansässigkeits- und Quellenstaat, 2005, S. 83 ff. (120). 25 So die im Vorlagebeschluss des VwGH EU 2017/0005 und 0006, Rz. 34 zitierte Stellungnahme der Europäischen Kommission im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zu C-493/14, wonach es sich bei der Energieabgabenvergütung nach dem EAVG in der Fassung des BGBl. I Nr. 92/2004 um eine Beihilfe handelt, die allerdings von der Kommission durch Art.  3 und Rz.  72 der Entscheidung v. 9.3.2004  – 2005/565/EG, ABl.  EG 2005 L 190/13, (implizit und unbefristet) genehmigt ist. 26 Sinnaeve, CMLR 2001, 1479; Sinnaeve, EuZW 2001, 69.

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hat. Nach Angaben der Kommission wurden im Jahr 2015 bereits 96 % aller neu angemeldeten Maßnahmen nach der AGVO eingeführt27. In Kommissionspapieren wird die Gruppenfreistellung euphemistisch als Vereinfachung und Modernisierung des Europäischen Beihilfenrechts beschrieben28, wobei die mit dem Verzicht auf Ex ante Notifikationen einhergehenden Rechtsunsicherheiten völlig ausgeblendet bleiben. Durch den Erlass von GruppenfreistellungsVO ist die Überwachung von Notifikationsgebot und Durchführungsverbot nämlich ungleich schwieriger geworden. Um eine Verletzung des unmittelbar anwendbaren Durchführungsverbots feststellen zu können, ist bei allen nach der AGVO eingeführten Maßnahmen auch zu prüfen, ob die Bedingungen einer Gruppenfreistellung ­erfüllt sind und eine Einzelnotifikation deswegen rechtmäßigerweise entfallen durfte. Damit tritt zur Unschärfe des Beihilfentatbestands noch die vielfach ebenfalls schwierige Frage der Anwendbarkeit einer Gruppenfreistellung29, die sowohl an inhaltliche als auch an formelle Voraussetzungen gebunden ist, als Quelle für mögliche Streitigkeiten und Rechtsunsicherheiten hinzu. Die Rechtsfolgen sind erheblich: Ist eine Maßnahme von einer Gruppenfreistellung erfasst, so gilt sie als genehmigte, bestehende Beihilfe und genießt den „Altbeihilfenschutz“. Ist eine staatliche Maßnahme dagegen nicht mehr von einer Gruppenfreistellung erfasst, so ist sie eine (formell) unionsrechtswidrige Neubeihilfe, gegen die das unmittelbar anwendbare Durchführungsverbot zum Tragen kommt und die unter dem Risiko der vollständigen Rückzahlungspflicht steht30. Dabei geht auch von der Veröffentlichung einer nach der AGVO gemeldeten Beihilferegelung durch die Kommission im Amtsblatt der EU und auf der Website der Kommission31 keine besondere vertrauensstiftende Rechtswirkung aus. Insbesondere 27 Kommission, State Aid Scoreboard 2016, S. 7: „More than 96% of new measures for which expenditure has been reported for the first time were of a GBER nature in 2015“ (http:// ec.europa.eu/competition/state_aid/scoreboard/technical_note_en.pdf). 28 Vgl. Kommission, Scoreboard 2016, Main Summary: „One of the cornerstones of the State Aid Modernisation reform is the new General Block Exemption Regulation (GBER), which simplifies aid granting procedures for Member States by authorising without prior notification a wide range of measures that fulfil EU common interest objectives. Only cases with the highest potential to distort competition in the single market will still face ex ante assessment (notification). As a result of the reform, a significantly larger number of small and unproblematic measures are exempted from prior notification, notably those granting aid to tackle local needs.“ (http://ec.europa.eu/competition/state_aid/scoreboard/ index_en.html). 29 Zum „Subsumtionsrisiko“ hinsichtlich der Freistellungsvoraussetzungen aufgrund der dabei verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe vgl. bereits Jestaedt/Schweda in Heidenhain, Handbuch des Europäischen Beihilfenrechts, § 14 Rz. 86. 30 Jestaedt/Schweda in Heidenhain, Handbuch des Europäischen Beihilfenrechts, § 14 Rz. 72; Sinnaeve in Heidenhain, Handbuch des Europäischen Beihilfenrechts, § 33 Rz. 4 und 20; Bierwagen in Biernstiel/Bungenberg/Heinrich, Europäisches Beihilfenrecht, S. 878 Rz. 143. 31 Nach Art. 9 AGVO 2008 bestätigt die Kommission den Eingang einer vom Mitgliedsstaat nach der AGVO übermittelten Kurzmitteilung einer Beihilferegelung und veröffentlicht diese im Amtsblatt. Nach Art. 10 AGVO 2008 überprüft die Kommission regelmäßig die Beihilfemaßnahmen, von denen sie nach Art. 9 unterrichtet wurde. Nach der AGVO 2014

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„Altbeihilfen“ und EU-Beihilfeverbot

kann die Veröffentlichung nicht als stillschweigende „Genehmigung“ der Kommission angesehen und von einer Unanwendbarkeit des Durchführungsverbots ausgegangen werden32. So hat der EuGH in seinem Urteil vom 21.7.2016 – C-493/14 – Dilly’s Wellnesshotel GmbH I, ausgeführt, dass schon „das Fehlen eines ausdrücklichen Verweises auf diese Verordnung [die AGVO 2008] unter Angabe des Titels sowie eines ausdrücklichen Verweises auf die Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Union in einer Beihilferegelung … der Annahme entgegensteht, dass diese Regelung gemäß Art. 25 Abs. 1 dieser Verordnung die Voraussetzungen für eine Freistellung von der in Art. 108 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Anmeldepflicht erfüllt“. Spiegelbildlich zur Rechtsunsicherheit für die Beihilfenempfänger ist mit dem Ausbau der Gruppenfreistellungen die Verantwortung der beihilfevergebenden staatlichen Stellen im Vorfeld einer Beihilfenvergabe gestiegen, können auch sie sich doch nicht mehr auf eine vorfeldweise Prüfung durch die Kommission verlassen, um Beihilferisken für die Empfänger ihrer Beihilfen zu vermeiden. Zudem hat mit dem unionsrechtlichen Rechtsinstitut der Gruppenfreistellung die Rechtskontrolle der nationalen Gerichte eine neue Qualität bekommen, weil der nationale Verwaltungsrichter über das Durchführungsverbot erstmals auch auf der Ebene der materiellen Beihilfenprüfung der Kommission mitwirkt.

IV. Umgestaltungen bestehender Beihilfen Art. 108 Abs. 3 Satz 1 AEUV bestimmt, dass das Notifikationsverfahren jede beabsichtigte „Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen“ trifft. Die Erstreckung der vorfeldweisen Anmeldepflicht auf Umgestaltungen von Altbeihilfen ist notwendig, um zu verhindern, dass neue Beihilfen innerhalb der Hülle einer bestehenden Beihilferegelung durch Ausdehnungen von Empfängerkreis oder Fördergegenstand an der Präventivkontrolle der Kommission vorbei eingeführt werden können. Der Begriff der „Umgestaltung“ deutet allerdings bereits darauf hin, dass nicht jede marginale Änderung eine Notifikationspflicht auslösen soll33. Dafür könnten auch die ähnlich qualifizierten Formulierungen in der englischen und französischen Sprachfassung ins Treffen geführt werden („alter aid“ und „modifier des aides“ statt der weicheren „change“ und „changer“). Allerdings wird in der Neubeihilfendefinition des Art. 1 lit. c VO (EU) 2015/1589 wieder weit von „Änderungen bestehender Beihilfen“ gesprochen. werden nunmehr die Mitgliedstaaten zur Einrichtung von Beihilfewebsites auf regionaler oder nationaler Ebene, auf die wiederum auf der Website der Kommission verlinkt werden soll, wobei die Kurzbeschreibung jeder freigestellten Beihilfemaßnahme auf der Website der Kommission veröffentlicht werden soll. 32 Einer solchen Veröffentlichung vor dem Erlass des EuGH-Urteils sehr wohl Rechtswirkungen zubilligend VwGH 30.1.2013 – 2012/17/0469; ebenso implizit VfGH v. 4.10.2012 – B 321/12, der bereits eine verfassungsrechtliche Prüfung der novellierten Rechtslage vorgenommen hat, die die Präjudizialität der novellierten Rechtslage (und somit ihre Nichtverdrängung durch Unionsrecht) voraussetzt. 33 Ähnlich Klingbeil, Das Beihilfeverfahren nach Art. 93 EG-Vertrag, 1998, S. 63 f.

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In der Rs. Namur hat der EuGH festgehalten, dass alleiniger „Maßstab für die Einstufung einer Beihilfe als neue oder umgestaltete Beihilfe … die Bestimmungen [seien], in denen sie vorgesehen ist, sowie die dort vorgesehenen Modalitäten und Beschränkungen“. Es komme daher nicht darauf an, „welche Bedeutung die Beihilfe für das Unternehmen im Lauf des Bestehens jeweils hatte und wie hoch sie insbesondere jeweils war“, sondern es sei nur zu prüfen, ob die zu Grunde liegenden Rechtsvorschriften geändert worden sind34. So begleiten beispielsweise insbesondere Judikaturentwicklungen in Form der Klärung strittiger Auslegungsfragen einen Rechtstext schon von Beginn seines verfassungsmäßigen Zustandekommens an; sie sind insofern keine „Änderung“ bestehender Beihilferegelungen, sondern wohnen dem Rechtstext bereits ab ovo inne und sollten daher im Allgemeinen keine Notifikationspflicht auslösen. Eine wirkungsbezogene Betrachtung wird eine Notifikationspflicht von Änderungen der Rechtslage grundsätzlich überdies nur dann bejahen, wenn die Änderung die Auswirkungen der betroffenen Regelung auf den Binnenmarkt in neuem Licht erscheinen lässt35 und „wenn ein Bedürfnis nach neuer Prüfung durch die Kommission besteht“36. Dabei wäre jedoch nur auf die Änderungen der Maßnahme selbst, nicht auf jene des „wettbewerblichen Umfelds“ abzustellen37. Auch die Entscheidungspraxis der Kommission folgt bei der beihilfenrechtlichen Einordnung von Änderungen staatlicher Regelungen einem wirkungsbezogenen Ansatz und prüft dabei bisweilen sehr weiträumig, ob die Änderungen den „wesentlichen Charakter“ der bisherigen Regelung berühren38. Die Grenzziehung ist freilich schwierig, weshalb im Zweifel eine Notifikation ratsam ist39. 34 EuGH v. 9.9.1994 – C-44/93 – Namur Rz. 28 und 32 f. 35 Vgl. Klingbeil, Beihilfeverfahren, S. 63 f. 36 Vgl. Bierwagen in Biernstiel/Bungenberg/Heinrich, Europäisches Beihilfenrecht, S.  884 Rz. 172: „Eine Änderung i.S.d. Art. 1 lit. C VVO liegt wohl dann vor, wenn ein Bedürfnis nach neuer Prüfung durch die Kommission besteht, insbesondere dann, wenn die konkrete Änderung Auswirkungen auf den Wettbewerb im Binnenmarkt haben wird. In Betracht kommen dabei die Erhöhung der Beihilfenintensität, die Verlängerung des Gewährungszeitraums oder die Erweiterung des Empfängerkreises.“ 37 Koenig/Kühling in Streinz, Art. 108 AEUV Rz. 7. 38 Vgl. Kommission v. 24.4.2007 – Staatliche Beihilfe – E 3/2005 (ex- CP 2/2003, CP 232/2002, CP 43/2003, CP 243/2004 und CP 195/2004) – Deutschland Die Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland (http://ec.europa.eu/competition/ state_aid/cases/198395/198395_680516_260_2.pdf) Rz.  202  ff. zu mehrfachen Änderungen der diesbezüglichen nationalen Rechtsakte. Dabei stufte die Kommission beispielsweise auch die Erhöhung der zugewendeten Mittel nicht als anmeldepflichtig ein, weil „die Erhöhungen  … vielmehr die Konsequenz eines gestiegenen Finanzbedarfs der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bei der Erfüllung ihres öffentlich-rechtlichen Auftrags“ seien und sich dieser als solcher nicht wesentlich geändert habe (a.a.O. Rz.  206). Gleiches gelte für die Ausdehnung des Angebots auf neue digitale Verbreitungswege wie das Internet, sofern ein enger Bezug zu den ursprünglichen Aufgaben bestehe. Zu weiteren Beispielen aus der durchaus vielschichtigen Entscheidungspraxis der Kommission vgl. Soltész/Wagner, EuZW 2013, 856 ff. (857 f.). 39 Vgl. zu den Abgrenzungsfragen Soltész/Wagner, EuZW 2013, 856  ff. sowie Fenger, ELR 2012, 147 ff. und Sutter, EG-Beihilfenverbot, S. 174 f.

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In der nach wie vor anwendbaren Durchführungs-VO 794/2004 der Kommission zur VO (EG) 659/99 des Rates, die nunmehr durch die VO (EU) 2015/1589 ersetzt worden ist, sind nähere Regelungen zur Anmeldepflicht von „Umgestaltungen“ getroffen worden. Dabei hat die Kommission auch eine wirkungsorientierte Abgrenzung vorgenommen. So heißt es dazu in Art 4 Abs 1 Satz 1 VO 794/2004: „Für den Zweck von Artikel 1 Buchstabe c) der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 ist die Änderung einer bestehenden Beihilfe jede Änderung, außer einer Änderung rein formaler oder verwaltungstechnischer Art, die keinen Einfluss auf die Würdigung der Vereinbarkeit der Beihilfemaßnahme mit dem Gemeinsamen Markt haben kann“. Darüber hinaus hat die Kommission in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 ihrer VO 794/2004 eine weitreichende Erheblichkeitsschwelle für die Notifikationspflicht von Umgestaltungen eingeführt. Demnach werde „eine Erhöhung der Ausgangsmittel für eine bestehende Beihilfe bis zu 20% […] nicht als Änderung einer bestehenden Beihilfe angesehen“. Diese Regelung ist dogmatisch angreifbar, weil eine Einschränkung des Begriffs der anmeldepflichtigen Neubeihilfe über die Ermächtigung des Art 27 VO (EG) 659/99 bereits hinausgehen dürfte, es kann sich dabei aber auch um eine (dislozierte) Gruppenfreistellung handeln. Darüber hinaus wird in Art 4 Abs 2 VO 794/2004 für weitere Änderungen ein vereinfachtes Anmeldeverfahren normiert. Dies betrifft „über 20%ige Erhöhungen der Mittel für eine genehmigte Beihilferegelung“, „die Verlängerung einer bestehenden genehmigten Beihilferegelung bis zu sechs Jahren, mit oder ohne Erhöhung der Fördermittel“ sowie „die Verschärfung der Kriterien für die Anwendung einer genehmigten Beihilferegelung, die Herabsetzung der Beihilfeintensität oder der förderfähigen Ausgaben“. Dabei soll die Kommission „alles daran [setzen], für die auf dem vereinfachten Anmeldeformular mitgeteilten Beihilfen innerhalb eines Monats eine Entscheidung zu erlassen“. Ein solches vereinfachtes Anmeldeverfahren folgt offenbar eigenen (formellen) Regeln, wobei die VO 794/2004 dazu in ihrem Anhang II ein sehr kurzes einseitiges Formular aufgelegt hat; sein Verhältnis zur Anmeldung nach der AGVO ist unklar. Dies kann rechtlich dann relevant sein, wenn die AGVO Formvorschriften vorsieht, die das vereinfachte Anmeldeverfahren nach Anhang  II der VO 794/2004 nicht kennt40. Die Regelungen über das vereinfachte Anmeldeverfahren zeigen jedenfalls, dass auch die Kommission in der Verschärfung der Kriterien für die Anwendung einer genehmigten Beihilferegelung und in der Herabsetzung der Beihilfeintensität oder der förderfähigen Ausgaben Fallgruppen sieht, die sich von übrigen Veränderungen von Beihilfeprogrammen unterscheiden. Warum eine 20%ige Erhöhung des Beihilfenvolumens nach der DurchführungsVO der Kommission keine „Änderung einer bestehenden Beihilfe“ darstellen und jede Einschränkung sehr wohl (vereinfacht) anzumelden sein soll, wäre freilich dogmatisch schwierig zu erklären. Es könnte daher bei Einschränkungen danach zu differenzieren sein, ob diese das Beihilfenprogramm in seinen Wettbewerbsauswirkungen auf den Binnenmarkt nachteilig verändern können oder ob eine solche Gefahr nicht besteht. In letzterem Fall könnte Art. 4 40 Siehe Kapitel V.

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Abs. 2 VO 794/2004 nicht anwendbar und die Einschränkung daher nicht gesondert anmeldepflichtig sein41. Darauf, dass nicht alle Einschränkungen von Beihilferegelungen anmeldepflichtig sein müssen, deuten auch die Schlussanträge von GA Wahl vom 30.11.2017 in der Rs C-510/16 – Carrefour Hypermarchés u.a., betreffend eine parafiskalische Abgabe auf den Verkauf und die Vermietung von Videofilmen zur Finanzierung von Kinos und Medien. Darin nennt der Generalanwalt „Ausweitungen einer genehmigten Beihilferegelung, sei es in zeitlicher Hinsicht oder in Bezug auf die Begünstigten“ sowie die „komplexen Änderung“ einer genehmigten Beihilferegelung als Beispiele für ein Überschreiten der Anmeldeschwelle42; schlichte Einschränkungen einer geneh­ migten Beihilferegelung sind dagegen nicht genannt. Darüber hinaus macht der ­Generalanwalt darauf aufmerksam, dass „Ausgangspunkt für die Prüfung, ob ein bestimmter Umstand eine ‚Änderung bestehender Beihilfen‘ darstellt (und somit anmeldepflichtig ist), normalerweise die diese Beihilfemaßnahme genehmigende Entscheidung der Kommission sein“ wird. Ob eine Maßnahme als „Änderung bestehender Beihilfen“ anzusehen sei, lasse sich nämlich – sofern die betreffende Beihilfemaßnahme nicht schon vor Inkrafttreten der Verträge oder Beitritt des betreffenden Mitgliedstaats bestanden habe – nicht bestimmen, ohne den die bestehende Beihilfemaßnahme genehmigenden Rechtsakt zu berücksichtigen43. Demnach wäre die Einschränkung einer genehmigten Beihilferegelung vorrangig darauf hin zu untersuchen, ob sie den tragenden Erwägungen oder den Auflagen der von der Kommission erteilten Genehmigung entgegenläuft. Ist dies nicht der Fall, könnte sie sich als unbedenklich und nicht gesondert anmeldepflichtig erweisen. Kommt es dagegen zu einer anmeldepflichtigen Änderung einer bestehenden Beihilfe, ist noch zu klären, ob die Beihilfe in toto neuerlich anzuzeigen ist und damit der Kommission die Möglichkeit eröffnet wird, nicht nur die Änderung, sondern auch die ursprüngliche Maßnahme mit neuen Auflagen zu versehen. Spiegelbildlich entfaltet auch das die Notifikation absichernde Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV seine Sperrwirkung entweder nur gegenüber der Änderung oder der gesamten staatlichen Maßnahme. Das EuG hat sich unter Berufung auf den Wortlaut des Art. 1 lit. c VO (EG) 659/99 grundsätzlich für eine bloße Notifikation der Änderung ausgesprochen. Etwas anderes gelte nur, sofern die Änderung die ursprüngliche Regelung „in ihrem Kern“ betreffe. Entscheidend sei dabei, ob „sich das neue Element eindeutig von der ursprünglichen Regelung trennen lässt“44. Diesfalls 41 Siehe Kapitel V. 42 GA Wahl v. 30.11.2017 – C 510/16 – Carrefour Hypermarchés u.a. Rz. 54: „Einerseits dürften Ausweitungen einer genehmigten Beihilferegelung, sei es in zeitlicher Hinsicht oder in Bezug auf die Begünstigten, zwangsläufig den Inhalt der bestehenden Beihilfe berühren und eine Änderung dieser Beihilfe darstellen. Andererseits bedarf es im Fall einer komplexen Änderung einer eingehenderen Prüfung“. Für weitere Stellungnahmen von GA zur Frage, wann eine Änderung bestehender Beihilfen vorliegt, vgl. Fn. 24 der Schlussanträge von GA Wahl. 43 GA Wahl v. 30.11.2017 – C 510/16 – Carrefour Hypermarchés u.a. Rz. 56. 44 S. im Detail EuG v. 30.4.2002 – T-195/01 und T-207/01 – Gibraltar/Kommission Rz. 109 ff.

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sind die neuen Elemente gesondert als Neubeihilfen anzumelden45. Eine ähnliche Abgrenzung, wenngleich mit umgekehrter Akzentuierung, hat zuvor bereits der EuGH vorgenommen46. Allerdings hat der EuGH zuletzt auch wieder betont, dass der Begriff der Neubeihilfe „nicht nur die Änderung selbst, sondern auch die von dieser Änderung betroffene Beihilfe erfassen“ kann47. Insbesondere dann, wenn eine Änderung „unter Missachtung einer Genehmigungsbedingung“ eingeführt wird, die die Vereinbarkeit der in Rede stehenden Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt gewährleisten soll, kann daher vom Vorliegen einer insgesamt neuen Beihilfe auszugehen sein48.

V. Das Vorabentscheidungsersuchen des VwGH zu C-585/17 – ­Dilly’s Wellnesshotel Mit Beschluss vom 14.9.2017 – EU 2017/0005 und 0006 hat der Verwaltungsgerichtshof dem EuGH einen Fall zur Abgrenzung von Alt- und Neubeihilfen vorgelegt, an Hand dessen die (ungeahnt vielfältigen) Schwierigkeiten dieser Abgrenzung offenbar werden. Dem Fall liegt erneut das Energieabgabenvergütungsgesetz (EAVG) zu Grunde, das schon in der Vergangenheit für österreichische Vorabentscheidungsersuchen zu wichtigen Grundfragen des Beihilfenrechts Anlass gegeben49 und das im Jahr 2010 eine Novellierung erfahren hat. Mit dem EAVG wird eine jährliche Belastungsdeckelung für die Entrichtung österreichischer Energieabgaben vorgesehen, die 45 Vgl. auch EuG v. 28.11.2008 – T-254/00, T-270/00 und T-277/00 – Hotel Cipriani/Kommission Rz.  358; v. 11.6.2009  – T-222/04  – Italien/Kommission Rz.  93  ff. sowie v. 16.12.2010 – T-231/06 – Niederlande/Kommission Rz. 159 ff. (177 ff.). 46 EuGH v. 9.10.1984 – 91/83 und 127/83 – Heineken Brouwerijen Rz. 22. 47 EuGH v. 25.10.2017 – C-467/15 P – Kommission/Italien Rz. 46. 48 EuGH v. 25.10.2017 – C-467/15 P – Kommission/Italien Rz. 49: „Hinzu kommt, dass eine hinreichend weite Auslegung des Begriffs „neue Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 659/1999, die es ermöglicht, dass nicht nur die Änderung, die der betreffende Mitgliedstaat an einer bestehenden Beihilferegelung unter Verstoß gegen die Bedingungen für ihre Genehmigung vorgenommen hat, sondern auch die Beihilferegelung mit ihren Änderungen insgesamt abgedeckt ist, diejenige ist, die es ermöglicht, die Wirksamkeit des Systems der Kontrolle staatlicher Beihilfen in der Union zu gewährleisten, indem die Einhaltung der Bedingungen für die Genehmigung der Beihilferegelung durch den betroffenen Mitgliedstaat gefördert wird. Folglich verfügt ein Mitgliedstaat, wenn er eine bestehende Beihilferegelung unter Verstoß gegen eine Bedingung für deren Genehmigung ändert, über keinerlei Garantie dafür, dass die genehmigte Beihilferegelung durch diese Änderung nicht beeinträchtigt wird und dass die auf der Grundlage dieser Regelung gewährten Vorteile somit bestehen bleiben.“ 49 EuGH v. 8.11.2001 – C-143/99 – Adria Wien Pipeline, v. 5.10.2006 – C-368/04 – Transalpine Ölleitung, sowie dazu einerseits Sutter, The Adria Wien Pipeline Case and the State Aid Provisions of the EC Treaty in Tax Matters, European Taxation 2001, S. 239–250 und Sutter, Urteilsanmerkung, EuZW 2002, 213 ff. sowie andererseits Sutter, EuZW 2006, 321 und Sutter in Mayer/Stöger, Art. 108 AEUV Rz. 82 ff. und 137. Vgl. ferner beispielweise Jaeger, ÖZW 2006, 119; Mamut/Schlager in Jahrbuch Beihilfenrecht, 2007, S. 187 ff. sowie Grabner/Bayer in FS Nolz, 2008, S. 395 ff.

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sich nach einer festgelegten Berechnungsformel bemisst50. Gemäß dem EAVG in der Fassung des BGBl. I Nr. 92/2004 kam diese Belastungsdeckelung – nach einer in der Vergangenheit zuvor aufgegebenen Differenzierung zwischen Dienstleistungsbetrieben und Produktionsbetrieben – bei Erreichen der Vergütungsschwelle allen Betrieben zugute und war von der Kommission nach längeren Beihilfeprüfverfahren durch die Entscheidung vom 9.3.2004 – 2005/565/EG, ABl. EG 2005 L 190/13 implizit und unbefristet genehmigt worden51. Mit dem Budgetbegleitgesetz 2011, BGBl. I Nr 111/2010, beabsichtigte der Gesetzgeber, erneut eine Einschränkung der Beihilferegelung auf Produktionsbetriebe einzuführen52, setzte die Anwendbarkeit dieser Einschränkung allerdings unter den Vorbehalt ihrer beihilfenrechtlichen Genehmigung53. Diese Genehmigung wurde in der Folge seitens Österreichs nicht durch eine Einzelnotifikation an die Kommission, sondern durch eine Anmeldung nach der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (EG) Nr.  800/2008 eingeholt, wobei im Zuge dieser Anmeldung Formfehler unterlaufen sind. Im Hinblick auf das zwischenzeitlich dazu ergangene Urteil des EuGH vom 21.7.2016 – C-493/14 – Dilly’s Wellnesshotel GmbH, dürfte die damals dennoch erfolgte Veröffentlichung der Beihilferegelung durch die Kommission allein aber keinerlei beihilfenrechtliche Genehmigungswirkung für die Neuregelung entfaltet haben54. Die vor dem Verwaltungsgerichtshof auftretenden Dienstleistungsbetriebe verlangen vor diesem rechtlichen Hintergrund nun ihre weitere Einbeziehung in die Energieabgabenvergütung durch die Nichtanwendung der fehlerhaft angemeldeten Einschränkungen des Budgetbegleitgesetzes 2011. Das mögliche Ziehen einer solchen rechtlichen Schlussfolgerung hängt aber in mehrfacher Weise auch von Fragen 50 Nach § 1 Abs. 1 EAVG sind die Energieabgaben für ein Kalenderjahr (Wirtschaftsjahr) insoweit zu vergüten, als sie insgesamt 0,5% des „Nettoproduktionswertes“ (= Differenz zwischen Ausgangsumsätzen und Eingangsumsätzen) übersteigen. Zudem ist nach § 2 Abs. 2 Ziffer 2 EAVG der Vergütungsbetrag mit Mindeststeuern entsprechend der Richtlinie 2003/96/EG des Rates v. 27.10.2003 beschränkt. 51 So jedenfalls das Verständnis der Kommission selbst. Vgl. oben Fn. 25. Der Beihilfencharakter der Maßnahme selbst (und ihre Nichtklassifizierung durch die Kommission als Allgemeine Maßnahme) basiert wohl auf der der Berechnungsformel inhärenten Vergütungsschwelle und damit der Beschränkung des EAVG auf energieintensive Unternehmen. 52 Achatz, taxlex 2012, 293; Bieber, ÖStZ 2012, 60 ff. 53 Vgl. dazu den Vorlagebeschluss des VwGH v. 14.9.2017 – EU 2017/0005 und 0006 Rz. 36: „Mit dem in § 4 Abs. 7 EAVG vorgesehenen bedingten Inkrafttreten dieser Neuregelung wollte der Gesetzgeber offenbar von vornherein sicherstellen, dass die geplante Einschränkung des EAVG nicht die Vorgaben des Europäischen Beihilferechts verletzen und somit die unbefristet erteilte Genehmigung der bisherigen Beihilferegelung als solche gefährden kann. Sollten beihilferechtliche Gründe einer Einschränkung des Kreises der Beihilfeempfänger entgegenstehen bzw. sollte insbesondere eine erforderliche Genehmigung von der Kommission nicht erreichbar sein, sollte die Maßnahme wie bisher in Kraft bleiben.“ 54 Zu diesem EuGH-Verfahren vgl. etwa (jeweils m.w.N.) Caspari, SWK 2016, 544; Kapferer/ Lebenbauer, ÖStZ 2016, 197; Kapferer/Lebenbauer, ÖStZ 2016, 462  ff.; Laudacher, SWK 2016, 542; Pfau, ÖStZ 2016, 325 ff. Siehe bereits oben Fn. 31.

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der Grenzziehung zwischen Alt- und Neubeihilfen ab55, weshalb der Verwaltungsgerichtshof dazu ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richtete. Die ersten beiden Vorlagefragen an den EuGH hat der Verwaltungsgerichtshof dabei für folgende grundsätzliche Fragen zu Notifikationspflicht und Durchführungsverbot im Falle der Einschränkung genehmigter Beihilferegelungen genutzt: 1. Ist eine Änderung einer genehmigten Beihilferegelung, mit der ein Mitgliedstaat auf die weitere Nutzung der Beihilfegenehmigung für eine bestimmte (trennbare) Gruppe von Beihilfeempfängern verzichtet und damit das Beihilfevolumen für eine bestehende Beihilfe lediglich reduziert, in einem Fall wie dem vorliegenden eine nach Art. 108 Abs. 3 AEUV (grundsätzlich) anmeldepflichtige Umgestaltung einer Beihilferegelung? 2. Kann das Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 AEUV im Falle eines Formfehlers im Rahmen der Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 800/2008 der Kommission vom 6. August 2008 (allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung) zur Unanwendbarkeit einer Einschränkung einer genehmigten Beihilfenregelung führen, sodass der Mitgliedstaat im Ergebnis durch das Durchführungsverbot zur Zahlung einer Beihilfe an bestimmte Beihilfeempfänger verpflichtet wird („Durchführungsgebot“)? Die beiden Vorlagefragen betreffen Begriff und Tragweite von „Altbeihilfen“: Hat die Kommission eine Beihilferegelung genehmigt, muss ein Mitgliedstaat  – so die Frage – diese Beihilferegelung auch voll ausschöpfen oder kann er von der Beihilferegelung auch in einer den Binnenmarkt schonenderen Art und Weise nur teilweise Gebrauch machen, ohne ihren Altbeihilfencharakter dadurch aufzugeben? Sieht man in jeder Einschränkung von genehmigten Beihilferegelungen bereits eine notifikationspflichtige Neubeihilfe, kann das vor dem Hintergrund der Zielsetzung des Art. 107 AEUV zu prima vista durchaus verwunderlichen bis bizarren Folgen führen. Das Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV, das der Schonung des Binnenmarktes vor wettbewerbsverzerrenden Beihilfen ohne kommissionelles Placet dient, könnte plötzlich nicht der vorschnellen Gewähr einer Beihilfe, sondern ihrer vorschnellen partiellen Einstellung entgegen stehen und zur Unanwendbarkeit der Einschränkung der genehmigten Beihilferegelung führen. Dadurch würde der betroffene Mitgliedstaat im Ergebnis durch das Durchführungsverbot aber erst wieder zur Zahlung einer Beihilfe an bestimmte Beihilfeempfänger verpflichtet werden, die er gar nicht mehr leisten möchte. Aus dem Durchführungsverbot würde so ein „Durchführungsgebot“ für staatliche Beihilfen (in vollem Umfang ihrer angemeldeten Form). Dem steht gegenüber, dass nach der Rechtsprechung des EuGH eine erreichte Kommissionsgenehmigung grundsätzlich dem Mitgliedstaat „eine Beihilferegelung durch ihre Vereinbarerklärung mit dem Gemeinsamen Markt erlaubt hat, sie dem be­ treffenden Mitgliedstaat aber nicht vorgeschrieben hat“56. Eine Entscheidung der 55 Vgl. auch Fn. 53. 56 EuGH v. 20.5.2010 – C-138/09 – Todaro Nunziatina Rz. 52.

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Kommission betreffend die Vereinbarerklärung einer Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt ist daher nur eine Erlaubnis an den Mitgliedstaat, diese Beihilfe durchzuführen. Eine Verpflichtung, die Beihilfe in vollem Ausmaß durchzuführen, wird damit nicht begründet57. Es stellt sich daher die Frage, ob auf die weitere Nutzung einer Beihilfegenehmigung für eine bestimmte trennbare Gruppe von Beihilfeempfängern zumindest dann verzichtet werden kann, wenn dadurch keine neuen maßgeblichen Wettbewerbsbeeinflussungen am Binnenmarkt entstehen können. In einer ersten „vorläufigen Einschätzung“ ist die Kommission im Jahr 2011 offenbar vom Fehlen einer solchen Wettbewerbsbeeinflussung durch die vorlagegegenständliche Einschränkung des EAVG ausgegangen58. Der zweite Themenkomplex des Vorlagebeschlusses betrifft die Auswirkung der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) auf die Abgrenzung zwischen Alt- und Neubeihilfen. Die bisherige VO (EG) Nr. 800/2008 der Kommission vom 6.8.2008 (AGVO 2008) wurde zwischenzeitlich durch die Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission vom 17.6.2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AGVO 2014) ersetzt. Dabei kennt die neue AGVO 2014 eine besondere „Übergangsregelung“. Nach Art. 58 Abs. 1 AGVO 2014 gilt diese Verordnung nämlich auch für vor ihrem Inkrafttreten gewährte Einzelbeihilfen, sofern diese alle Voraussetzungen dieser Verordnung, ausgenommen Art.  9 betreffend „Veröffentlichung und Information“, erfüllen. Dementsprechend teilte die Europäische Kommission der Republik Österreich auch mit Schreiben vom 21.2.2017 mit, die Energieabgabenrückvergütung, die Österreich aufgrund des BudgetbegleitG 2011 Betrieben gewährt habe, deren Schwerpunkt in der Herstellung körperlicher Wirtschaftsgüter bestehe, könne von der AGVO 2014 abgedeckt sein. Die Energieabgabenvergütungen könnten als Einzelbeihilfe im Sinne 57 VwGH v. 14.9.2017 – EU 2017/0005 und 0006. 58 Vgl. dazu ein im Vorlagebeschluss des VwGH v. 14.9.2017  – EU 2017/0005 und 0006 Rz. 25, zitiertes Schreiben der Kommission zu ihrer „vorläufige Einschätzung“ der EAVG-­ Novelle durch das Budgetbegleitgesetz 2011: „In einem Schreiben v. 17.6.2011 teilte die Europäische Kommission einem Beschwerdeführer (und in der Folge der Ständigen Vertretung Österreichs bei der EU) ihre ‚vorläufige Einschätzung‘ der gegenständlichen Maßnahme Österreichs (BGBl. I Nr. 111/2010) mit. Darin heißt es, die Kommission prüfe in der Regel, ob eine staatliche Beihilfe mit den EU-Beihilfenvorschriften vereinbar ist. Demgegenüber nehme die Kommission normalerweise nicht Stellung dazu, ob sie es für an­ gemessen halte, den Kreis der Unternehmen zu vergrößern oder zu verkleinern oder die begünstigten Sektoren einer speziellen Maßnahme zu ändern. Im Hinblick auf eine potenzielle Diskriminierung bringe die Kommission aber zum Ausdruck, dass der Dienstleistungssektor nicht in direktem Wettbewerb mit dem produzierenden Gewerbe stehe und dass staatliche Beihilfen, die nur einem der beiden Sektoren gewährt werden, ihre Wettbewerbsstellung nicht veränderten. Es könne nicht behauptet werden, dass die betreffende Maßnahme den Wettbewerb zu Lasten des Dienstleistungssektors verzerre. Es könne nur Österreich entscheiden, welche Sektoren die Energieabgabenvergütung in Anspruch nehmen könnten.“

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des Art. 58 AGVO 2014 betrachtet werden. Sie seien zwar vor dem Inkrafttreten der AGVO 2014 gewährt worden, „aber soweit sie die üblichen Voraussetzungen der AGVO erfüllen (mit Ausnahme von Artikel 9 der 2014 AGVO), werden sie, im Einklang mit den Übergangsbestimmungen des Artikels 58, von der AGVO abgedeckt und müssen infolgedessen der EU Kommission nicht gemeldet werden“59. Die Europäische Kommission vertritt somit den Standpunkt, dass Energieabgabenrückvergütungen, die unter Beachtung der Novelle 2010 (Budgetbegleitgesetz 2011) des EAVG an Betriebe, deren Schwerpunkt in der Herstellung körperlicher Wirtschaftsgüter bestehe, gewährt worden seien, als Einzelbeihilfen im Sinne des Art. 58 Abs. 1 AGVO 2014 beurteilt werden könnten. Geht man von dieser Rechtsansicht aus, wäre auch eine anmeldepflichtige Einschränkung des Kreises der begünstigten Betriebe mit dem Budgetbegleitgesetz 2011 mit dem Inkrafttreten der AGVO 2014 nicht mehr als Verstoß gegen das Durchführungsverbot zu werten. Durch die Übergangsregelung der AGVO 2014 können somit auch unter der bisherigen AGVO gescheiterte Notifikationen von Beihilferegelungen insofern Rechtswirkung entfalten, als bereits gewährte Einzelbeihilfen dadurch plötzlich von Neu- zu Altbeihilfen werden. Im Übrigen wäre selbst bei Nichtanwendbarkeit des Art 58 AGVO 2014 nicht zwingend von einer formfehlerhaften Notifikation der Einschränkung des EAVG durch das Budgetbegleitgesetz 2011 auszugehen, weil sich diesfalls die Frage nach dem Vorrang zwischen der Anmeldung nach der AGVO 2008 und nach dem wesentlich formfreieren vereinfachten Anmeldeverfahren gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. c der VO Nr.  794/2004 der Kommission stellen würde60. Darüber hinaus würden sich Vertrauensschutzfragen hinsichtlich einer fehlerhaften Auskunft der Kommission zu Art. 58 AGVO 2014 ergeben. Für den Vorlagefall bedeutet dies: Wenn die Einschränkung einer Beihilfenreglung (bzw. die eingeschränkte Regelung) gar keiner Anmeldung (oder Freistellung von der Anmeldepflicht) bedurft hätte oder wenn das Unterbleiben der Anmeldung (oder Freistellung) der Einschränkung einer genehmigten Beihilfenreglung aus unionsrechtlicher Sicht nicht zu einem Beihilfengebot, also der Verpflichtung zur Gewährung der Beihilfe an den uneingeschränkten Kreis der Beihilfenbezieher führt oder wenn die nationale Regelung durch die AGVO 2014 (oder die vereinfachte Anmeldung gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. c der VO Nr. 794/2004 der Kommission) gedeckt ist, kommt das Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV nicht zum Tragen und steht daher auch dem Inkrafttreten der innerstaatlichen Einschränkung durch das Budgetbegleitgesetz 2011 nicht entgegen. Diesfalls wäre auch die eingeschränkte Beihilferegelung weiterhin als „Altbeihilfe“ anzusehen.

59 Zitiert nach dem Vorlagebeschluss des VwGH v. 14.9.2017  – EU 2017/0005 und 0006 Rz. 45. 60 Siehe bereits oben Kapitel IV. Der VwGH weist auf diese Bestimmung in Rz. 39 seines Vorlagebeschlusses hin.

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Franz Philipp Sutter

VI. Offenbar gewordene Defizite an der Schnittstelle von Alt- und ­Neubeihilfen Durch das Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs sind mehrere Defizite an der Schnittstelle zwischen Alt- und Neubeihilfen offenbar geworden: –– Erstens wurde eine Vollzugspraxis der Kommission offenbar, die beihilfenrechtliche Genehmigungen nicht nach klarem Muster, sondern in unterschiedlichster Form und bisweilen auch lediglich implizit und unbefristet gewährt. Solche opaken „Genehmigungen“ in alten Kommissionsentscheidungen aufzuspüren und auf ihre Aussagekraft für eine nationale Beihilferegelung hin zu untersuchen, ist für die Begünstigten dieser Beihilferegelung ebenso wie für die das Durchführungsverbot wahrenden nationalen Gerichte unter Aspekten von Rechtssicherheit und Tragweite der möglichen beihilfenrechtlichen Folgen unzumutbar. –– Zweitens wurde deutlich, wie sehr das Modell der Gruppenfreistellung die Rechtssicherheit weiter aushöhlen kann. Selbst Anmeldungen, die die Kommission in Empfang nimmt und auf ihrer Website und im Amtsblatt veröffentlicht, können für die Normunterworfenen ungeachtet der Einhaltung der materiellen Freistellungsvoraussetzungen schon aufgrund von Formfehlern bei der Anmeldung weitgehend wirkungslos bleiben. Aus scheinbar genehmigten Altbeihilfen können so – trotz eines gegenteiligen Anscheins durch die amtliche Veröffentlichung – sehr rasch unionsrechtswidrige Neubeihilfen werden. –– Durch das Modell der Gruppenfreistellung ist zudem die Überwachung des Notifikationsgebots über das unmittelbar anwendbare Durchführungsverbot an sich ungleich schwieriger geworden. Um eine Verletzung des Durchführungsverbots feststellen zu können, ist nunmehr von den nationalen Instanzen auch zu prüfen, ob die (inhaltlichen wie formalen) Bedingungen einer Gruppenfreistellung erfüllt sind und eine Einzelnotifikation deswegen rechtmäßigerweise entfallen durfte. Damit tritt für die Beurteilung rechtswidriger Beihilfen zur Unschärfe des Beihilfentatbestands noch die vielfach ebenfalls schwierige Frage der Anwendbarkeit einer Gruppenfreistellung hinzu, was angesichts der Tragweite der daraus resultierenden möglichen Folgen eine erhebliche Belastung des Rechtsverkehrs darstellt. –– Drittens zeigt der Fall, dass bei der verfahrensrechtlichen Einordnung von Beihilfen auch die Übergangsregelungen der AGVO zu beachten sind, können durch sie doch rechtswidrig gewährte Einzelbeihilfen plötzlich von bisherigen unionsrechtswidrigen Neu- zu unionsrechtskonformen Altbeihilfen werden. –– Viertens hat sich gezeigt, dass der Begriff der „Umgestaltung“ bestehender Beihilferegelungen viel Interpretationsraum bietet, der in der Rechtsprechung noch wenig ausgeleuchtet und auch sekundärrechtlich wenig konkretisiert worden ist. Gerade für eine Einschränkung von genehmigten Beihilferegelungen stellt sich die Frage, ob darin überhaupt stets eine notifikationspflichtige Umgestaltung der Maßnahme zu erblicken ist oder ob sie bei fehlender Beeinträchtigung des Binnenmarktes nicht auch ohne neuerliche Befassung der Kommission zulässig sein kann. In letzterem Fall genießt die veränderte Maßnahme weiterhin den Altbeihilfenschutz der ursprünglich erteilten kommissionellen Genehmigung. 842

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VII. Zusammenfassung und Würdigung Wichtige Grundfragen des Europäischen Beihilfenrechts wurden – wie ich an anderer Stelle bereits aufgezeigt habe61 – wiederholt von Wien aus an den Europäischen Gerichtshof herangetragen. Auch zu dem in diesem Beitrag behandelten und im Schrifttum bislang wenig ausgeleuchteten verfahrensrechtlichen Themenkomplex der Abgrenzung von Alt- und Neubeihilfen sind noch viele Einzelfragen offen, wobei das österreichische Vorabentscheidungsersuchen Dilly’s Wellnesshotel II des Verwaltungsgerichtshofs sehr anschaulich zeigt, wie komplex und vielschichtig diese Abgrenzung sein kann. Die aufgezeigten Unklarheiten betreffend Begriff und Tragweite von „Altbeihilfen“ haben für den Rechtsverkehr weitreichende Folgen und werden daher auch die nationalen Höchstgerichte weiterhin beschäftigen. Das Prädikat „Neubeihilfe“ löst nämlich über das unmittelbar anwendbare Durchführungsverbot ganz andere Rechtsfolgen (Rückabwicklungsrisken) und Verantwortlichkeiten (Prüfpflichten der nationalen Gerichte und Organe) aus, als sie für staatliche Maßnahmen unter „Altbeihilfenschutz“ gelten. Dabei ist die Abgrenzung von Alt- und Neubeihilfen durch das Rechtsinstitut der Gruppenfreistellung in den letzten Jahren ungleich schwieriger geworden, weil nunmehr zur Unschärfe des Beihilfentatbestands vielfach noch die Frage nach der Anwendbarkeit einer Gruppenfreistellung hinzutritt. Umso mehr sollte man den von der Kommission als Modernisierung und Vereinfachung gepriesenen „Siegeszug“ der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung, wonach bereits 96 % aller neu angemeldeten Maßnahmen nach der AGVO außerhalb des ordentlichen Notifikationsverfahrens eingeführt werden, in differenziertem Licht sehen. Ziel einer Modernisierung des Beihilfenverfahrensrechts darf nicht allein die Entlastung der Kommission sein, sondern muss in erster Linie die Erhöhung von Rechtsklarheit und Rechtssicherheit in dem ohnedies komplexen Rechtsgebiet des Europäischen Beihilfenrechts sein. Dazu sollte die Kommission sich einerseits zu einer verbesserten Vollzugspraxis mit klaren Genehmigungsklauseln bekennen und andererseits ihre sekundärrechtlichen Regelungen in der AGVO auch im Lichte eines sinnvollen Vertrauensschutzes überprüfen. In dem Zusammenhang stellt sich schon die Frage, ob ein Modell wie die Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung, das die beihilfevergebenden Mitgliedsstaaten in den Genehmigungsprozess der Kommission einbezieht und solcherart zur Entlastung der Kommission die Rollenverteilung zwischen Kontrolleur und Kontrolliertem durchbricht, für die an diesem Prozess unbeteiligten Beihilfenempfänger nicht ein anderes Fehlerkalkül braucht, als es Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV für das ordentliche Notifikationsverfahren vorgesehen hat. So könnte beispielsweise der neue Sanktionsmechanismus des Art. 10 AGVO 2014 (Entzug des Rechtsvorteils der Gruppenfreistellung) gegenüber fehlerhaft notifizierenden Mitgliedsstaaten künftig weiter gestärkt (herangezogen) werden, während der Anscheinslegitimation der Veröffentlichung einer staatlichen Maßnahme nach der AGVO im Europäischen Amtsblatt für den betroffenen Rechtsverkehr de lege ferenda durchaus mehr rechtliche Bedeutung beigemessen werden könnte. 61 Sutter in DStJG 39 (2016), S. 171 ff.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … C. V. 3. b)

Umgang mit dem unionsrechtlichen Beihilfeverbot – aktuelle Herausforderungen Von Roland Ismer1

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Das Beihilfeverbot im System der Diskriminierungsverbote III. Tatbestandsvoraussetzungen einer steuerlichen Beihilfe 1. Referenzsystem der Besteuerung 2. Abweichung vom Referenzsystem

3. Rechtfertigung durch die innere Logik des Systems 4. Einschränkende Auslegung mit Blick auf Sinn und Zweck der Beihilfenkontrolle vor dem Hintergrund des Binnenmarktes IV. Rechtsfolgen einer Beihilfe V. Zusammenfassung und Ausblick

I. Einleitung Die primärrechtlichen Normen der Art. 107 ff. AEUV bilden einen Teil des Wettbewerbsrechts und damit der Europäischen Wirtschaftsverfassung2. Sie sehen eine europäische Aufsicht über mitgliedstaatliche Beihilfen vor, die den Wettbewerb verfälschen und geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Für die unionale Beihilfekontrolle lassen sich – aus ökonomischer Sicht, was aber im Folgenden auch für die Auslegung der Vorschrift auf Tatbestandsebene relevant wird – im Wesentlichen zwei verschiedene Rechtfertigungsgründe anführen3. Zum 1 Der Verfasser dankt Frau Sophia Piotrowski für wertvolle Diskussionen und Hinweise. 2 De Cecco, State Aid and the European Economic Constitution, 2013, S. 5. 3 Vgl. insbesondere Friederiszick/Röller/Verouden, European State Aid Control: An Economic Framework, in Buccirossi (Hrsg.), Handbook of Antitrust Economics, 2007, 625 (638 ff.), die allerdings das Binnenmarktziel als gesonderten Rechtfertigungsgrund nennen; ähnlich wie hier Mause/Gröteke, Journal Industry, Competition and Trade 17 (2017), 185; Spector, State Aids: Economic Analysis and Practice in the European Union, in Vives (Hrsg.), Competition Policy in the EU: Fifty Years on from the Treaty of Rome , 2009, S. 176 (177 ff.). S. auch schon Europäische Kommission, State Aid Action Plan, less and better targeted State aid: a roadmap for State aid reform 2005 to 2009, v. 7.6.2005, COM(2005) 107 final, im Internet abrufbar unter ec.europa.eu/comm/competition/State_aid/reform/saap_en.pdf. S. 3 f.: „State aid control comes from the need to maintain a level playing field for all under­

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Roland Ismer

einen sollen die Beihilfevorschriften verhindern, dass sich die Mitgliedstaaten durch einen Subventionswettlauf wechselseitig schädigen und sich Unternehmen an einem ohne die Subvention eigentlich suboptimalen Ort ansiedeln. Dies lässt sich als klassisch grenzüberschreitende Dimension des Beihilferechts verstehen, wie sie auch dem welthandelsrechtlichen Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen4 zugrunde liegt. Zum anderen weist das Beihilferecht eine marktordnende Dimension auf. Ein durch die Public Choice-Theorie inspirierter Ansatz besagt, dass die Mitgliedstaaten unter politischen Druck geraten können, ineffiziente Subventionen, etwa zur Rettung unwirtschaftlich arbeitender Unternehmen, zu vergeben. Derartige Subventionen verschwenden nicht nur öffentliche Mittel, sondern stören den Wettbewerb, weil die effizient arbeitenden Unternehmen sich nicht im optimalen Maße durchsetzen können. Eine supranationale Beihilfekontrolle bietet dann die Chance, nicht im öffentlichen Interesse liegende Subventionen herauszufiltern5. Diese beiden Ziele werden in der Europäischen Union auch im Wortlaut des Art.  107 Abs.  1  AEUV erwähnten Binnenmarktziel zusammengeführt, das sowohl auf (innerhalb der Union grenzüberschreitend) freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital, als auch mit seiner Komponente „Markt“ auf unverfälschten Wettbewerb gerichtet ist6. Im steuerlichen Bereich hat das Beihilferecht lange eine eher randständige Rolle gespielt. Wenn überhaupt betrafen die Entscheidungen der Kommission und des EuGH zumeist die indirekten Steuern und Abgaben7. Dies hat sich allerdings in den letzten takings active in the Single European Market, no matter in which Member State they are established. There is a particular need to be concerned with those state aid measures, which provide unwarranted selective advantages to some firms, preventing or delaying the market forces from rewarding the most competitive firms, thereby decreasing overall European competitiveness. It may also lead to a build-up of market power in the hands of some firms, for instance when companies that do not receive state aid (e.g. non-domestic firms) have to cut down on their market presence, or where state aid is used to erect entry barriers. As a result of such distortions of competition, customers may be faced with higher prices, lower quality goods and less innovation. [Hervorhebung im Original]“. 4 Die multilaterale Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986- 1994)  – Anhang  1  – Anhang 1A – Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen (WTO-GATT 1994), abgedruckt im Amtsblatt Nr. L 336 v. 23/12/1994, S. 0156 – 0183. 5 Wobei sich dieser Ansatz dann allerdings dem Einwand aussetzt, dass die auf die Public Choice-Theorie gestützten Einwände sich auch gegen die Handlungen der Kommission erheben lassen, vgl. näher Spector (Fn. 2), 176 (178 ff.). 6 Vgl. Schröder in Streinz (Hrsg.), 2. Aufl. 2012, Art. 26 AEUV Rz. 22 ff. unter Hinweis auf Protokoll Nr. 27 zum Vertrag von Lissabon, das den unverfälschten Wettbewerb als Teil des Binnenmarktes definiert. 7 Vgl. etwa EuGH v. 2.7.1974  – 173/73, ECLI:EU:C:1974:71  – Italienische Textilien; v. 8.11.2001 – C-143/99, ECLI:EU:C:2001:598 – Adria Wien-Pipeline; v. 22.12.2008, C-487/06 P, ECLI:EU:C:2008:757 – British Aggregates. Zur inzwischen eher weniger beachteten Frage der Anwendung des Beihilferechts auf die indirekten Steuern s. etwa Europäische Kommission, Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden: Beihilfebekanntmachung), ABl. EU v. 19.7.2016 – C 262/1 Rz. 184; Englisch, State Aid and Indirect Taxation, in Rust/Micheau (Hrsg.), State Aid and Tax Law, 2013, 69 ff. Englisch, EC Tax Review 2013, 9 ff.

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Herausforderungen des EU-Beihilfeverbots

zehn Jahren grundlegend geändert. In zumindest zeitlicher Parallelität zum Eintritt der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise entdeckte die Kommission das scharfe Schwert des Beihilferechts als Instrument der negativen Integration. Nachdem die Koordinationsversuche durch soft law im Rahmen des Code of Conduct8 wenig Erfolg gezeitigt hatten, begann die Kommission Fälle mit herausgehobener Sichtbarkeit herauszugreifen und leitete Beihilfeverfahren ein, um übermäßigen Begünstigungen im Rahmen des innereuropäischen Steuerwettbewerbs entgegenzutreten. Gerade im Kampf gegen allzu großzügige verbindliche Auskünfte (Tax Rulings) hat sich das Beihilferecht zu einem bevorzugten Instrument der Kommission herausgebildet. Die Kommission ist aber auch jenseits des Steuerwettbewerbs aktiv geworden und hat etwa in einer in Deutschland viel beachteten Entscheidung die Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG als unionsrechtswidrige Beihilfe eingeordnet9. Zwischenzeitlich ist schließlich auch in der Rechtsprechung des BFH ein gewachsenes Bewusstsein für die Herausforderungen des Beihilferechts zu verzeichnen, das sich im Jahr 2017 in einer Vorlage an den EuGH zum Beihilfecharakter des Konzernprivilegs in § 6a GrEStG widerspiegelt10. Im selben Zeitraum ist auch die wissenschaftliche Literatur zu einer Flut geschwollen11. Viele der Beiträge betrafen dabei die Frage der Rechtmäßigkeit der Tax Rulings12. Im Rahmen der Diskussion von (abstrakt-generellen) Beihilfen lag der Schwerpunkt auf der Selektivität13, und dort als Reaktion auf die Entscheidung der Kommission zu § 8c Abs. 1a KStG auf der Bildung des Referenzsystems14. Ein weite 8 S.  die auf der Webseite der Kommission http://ec.europa.eu/competition/state_aid/tax_­ rulings/index_en.html nachgewiesenen Verfahren sowie dazu etwa Cachia, EC Tax Review 2017, 23; Douma/Kardachaki, Intertax 2016, 746; Gunn/Luts, EC  Tax Review 2015, 119; Linn, IStR 2015, 114; Luja, EC Tax Review 2016, 312; Rossi-Maccanico, EC Tax Review 2015, 63; Smit, EC Tax Review 2015, 109; Taferner/Kuipers, European Taxation 2016, 134; von Brocke/Wohlhöfler, IWB 2015, 434; Wattel, Intertax 2016, 791. 9 Europäische Kommission v. 30.9.2009 – 2010/13/EG, ABl. EU 2010 L 6/32. Dies bestätigend EuG v. 4.2.2016 – T287/11, ECLI:EU:T:2016:60 – Heitkamp Bauholding; v. 4.2.2016 – T 620/11, ECLI:EU:T:2016:59  – GFKL. Anders nunmehr GA Wahl, Schlussanträge v.  20.12.2017  – C203/16  P, ECLI:EU:C:2017:1017  – Andres (ex-Heitkamp). Dazu näher unter III 1 a). 10 BFH v. 30.5.2017 II R 62/14, BStBl. II 2017, 916. Am Rande diskutiert wird die Beihilfe ferner in BFH v. 6.12.2017 – II R 26/15, DStR 2018, 159 (Grundsteuerbefreiung für ÖPP); v. 22.12.2015 – I R 40/15, BStBl. 2016, II 537 (Keine gewerbesteuerliche Kürzung bei bloßer Weitervercharterung von Handelsschiffen). 11 Ausführliche aktuelle Überblicksdarstellungen des Beihilferechts im steuerlichen Kontext bieten etwa Englisch in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, Rz. 9.1 ff.; Quigley, European State Aid Law and Policy, 3. Aufl. 2015, Kapitel 3; Schön in Hancher u.a. (Hrsg.), EU State Aids, 5. Aufl. 2016, Rz. 13-001 ff.; Sutter, DStjG 39 (2016), 169. S. ferner etwa Ismer in Herrmann/Heuer/Raupach, Einführung Einkommensteuer Rz.  D  510  ff.; Schnitger, IStR 2017, 421. Eine Liste mit potentiell beihilferechtswidrige Normen des deutschen Steuerrechts findet sich bei Brandau/Neckenich/Reich/Reimer, BB 2017, 1175. 12 Vgl. die Nachweise in Fn. 7. 13 Vgl. die Nachweise bei Ismer/Piotrowski, Intertax 2018, 156 sowie unten III 1. 14 Vgl. gegen eine Selektivität etwa Breuninger/Ernst, GmbHR 2010, 561; de Weerth, Intertax 2012, 414; Drüen, DStR 2011, 289; Ehrmann, DStR 2011, 5; Hackemann/Sydow, IStR 2013,

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rer, insbesondere von der deutschsprachigen wissenschaftlichen Literatur verfolgter Gesichtspunkt hat Versuche zum Gegenstand, die scharfen Rechtsfolgen durch die Gewährung von Vertrauensschutz zu beschränken15. Die Bedeutung des Beihilferechts wird in der nächsten Zeit vermutlich weiter zunehmen. Das Durchführungsverbot richtet sich an alle Organe des Mitgliedstaats, und damit insbesondere auch an die Rechtsprechung. Der nationale Richter wird in die Pflicht genommen, das Beihilferecht durchzusetzen. Er muss Beihilferechtsverstöße abstellen und darf keine neuen Beihilfen gewähren. Zwar unterliegen Richter anders als die Finanzverwaltung dem Verbot einer reformatio in peius. Sie können damit eine nicht streitgegenständliche Beihilfe nicht vollständig rückabwickeln, sie aber kompensierend im Falle einer eigentlich klagestattgebenden Entscheidung berücksichtigen. Sie haben damit vor einer der Klage stattgebenden Entscheidung immer umfassend zu prüfen, ob im Streitfall auch an anderer Stelle nicht eine unzulässige Beihilfe gewährt wurde und damit die Entscheidung im Ergebnis zur Gewährung einer Beihilfe führt. Die nationalen Richter sind ferner berufen, sich bei entsprechender Veranlassung durch Vorabentscheidungsersuchen hinsichtlich der Auslegung des Art. 107 AEUV oder beihilferechtlichen Sekundärrechts an den EuGH zu wenden. Vor diesem Hintergrund der wachsenden Relevanz des Beihilferechts gibt der folgende Beitrag einen Überblick über die aktuellen Herausforderungen, die sich aus dem europäischen Beihilferecht ergeben. Um diese nachzuvollziehen, bedarf es zunächst einer Einordnung des Beihilferechts in das System der Diskriminierungsverbote. Dabei wird deutlich, dass das Beihilfeverbot zwar ein Diskriminierungsverbot beinhaltet. Dieses ist jedoch nicht wie der deutsche allgemeine Gleichheitssatz und die unionsrechtlichen Grundfreiheiten subjektiv-rechtlich zur Abwehr von Belastungen, sondern primär objektiv-rechtlich zur Beseitigung nicht gerechtfertigter Begünstigungen ausgestaltet. Daraus ergeben sich Chancen für eine rationalere Besteuerung, aber auch Risiken eines allzu weit gehenden Anwendungsbereichs und der übergroßen Beeinträchtigung der berechtigten Interessen der Unternehmen und der Mitgliedstaaten (II.). Sodann wird ein aktueller Überblick über die Tatbestandsvoraussetzungen einer steuerlichen Beihilfe gegeben, wobei auch die bisher noch recht überschaubare Rechtsprechung des BFH zum Beihilferecht vorgestellt wird. Der vorliegende Beitrag greift dabei einen Ansatz der Generalanwältin Kokott16 auf und plädiert für die Beschränkung der Reichweite der unionalen Beihilfekontrolle auf für die Rechtfertigung der unionalen Beihilfekontrolle sensible Bereiche durch eine Tatbestandlösung. Neben den Exportsubventionen sind hier insbesondere auch Beihilfen für Unternehmen in Schwierigkeiten intensiv zu prüfen (III.). Im Anschluss widmet sich der Beitrag der Rechtsfolgenseite. Dabei wird aufgezeigt, dass zwar nur sehr be786; Hackemann/Momen, BB 2011, 2135; Hey, StuW 2010, 301 (309); dies., FR 2017, 453; Marquart, IStR 2011, 445; im Erg. wohl auch Schön, JbFfSt. 2011/2012, 119 (123 ff.); dafür aber Klemt, DStR 2013, 1057; Ismer/Karch, IStR 2014, 130. 15 S. insbesondere Martini, StuW 2017, 101; Sutter, DStjG 39 (2016), 169 (203 ff.) sowie näher unten IV. 16 Vgl. GA Kokott, Schlussanträge v. 9.11.2017  – verb. Rs. C-234/16 und C-235/16, E ­ CLI:​ EU:C:2017:853 – ANGED; sowie dies., ISR 2017, 395 (398 ff.).

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grenzt Vertrauensschutz gewährt werden kann und es auch bei der Rückgewährung der Beihilfe durch Steuernacherhebung bleiben muss. Jedoch besteht ein Anspruch der begünstigten Unternehmer auf Notifikation der Beihilfe (IV.). Eine Zusammenfassung und ein Ausblick beschließen den Beitrag (V.).

II. Das Beihilfeverbot im System der Diskriminierungsverbote Der allgemeine Gleichheitssatz des deutschen Verfassungsrechts erlaubt es nur in sehr eingeschränktem Maße, nicht gerechtfertigte steuerliche Privilegierungen abzuwehren. Wie das Bundesverfassungsgericht in seiner dritten Erbschaftsteuerentscheidung17 erneut bestätigt hat, kann ein Steuerpflichtiger sich auf dieser Grundlage grundsätzlich nicht gegen die einem anderen eingeräumte, seine eigene Steuerpflicht aber nicht betreffende Steuervergünstigung wenden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die nur einer Gruppe gewährten Vergünstigungen nach Zahl oder Umfang im Falle der Verfassungswidrigkeit der Privilegierungsnorm die lastengleiche Besteuerung auch derjenigen in Frage stellen, die von dieser Privilegierungsnorm an sich nicht erfasst werden und damit die Dritten gewährten Steuervergünstigungen für eine gleichheitsgerechte Belastung durch die betreffende Steuer insgesamt übergreifende Bedeutung haben18. Der Grund für diese Schwäche des allgemeinen Gleichheitssatzes liegt darin, dass die Privilegierung die Rechtssphäre des Nichtprivile­ gierten nicht signifikant tangiert, wenn sie keinen hinreichenden Einfluss auf das Gesamtsteueraufkommen hat19. Auch das Beihilferecht enthält mit dem Selektivitätskriterium eine Gleichbehandlungsverpflichtung20. Indessen liegt sein Ziel nicht in der Abwehr einer Benachteiligung, sondern vielmehr in der Beseitigung von marktverzerrenden Bevorzugungen. Das Beihilferecht ist als Wirtschaftsordnungsrecht denn auch nur schwach subjektiv-rechtlich ausgeformt. Der durch die Begünstigung des Wettbewerbers Benachteiligte hat regelmäßig keine Rechtsposition, die es ihm erlauben würde, gegen die Genehmigung einer Beihilfe durch die Kommission vorzugehen21. Die objektivrechtliche Ausgestaltung mag auf den ersten Blick als Schwäche erscheinen. Sie verheißt aber 17 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 Rz. 97 f. 18 Vgl. BVerfG v. 17.12.2014  – 1 BvL 21/12, 97  f. Dazu etwa Müller-Terpitz in Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 80 BVerfGG Rz. 171 ff.; Wernsmann in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 298. 19 So mit Recht Levedag in Gräber, 8. Aufl. 2015, Anh. FGO Rz. 83. Krit. etwa Crezelius, ZEV 2015, 1 (2), der verstärkt Popularvorlagen an das BVerfG befürchtet. 20 S. etwa O’Brien, European Law Review 2005, 309 (331). Dem folgend Wattel, World Tax Journal 2013, 128 (129 f). Bisweilen wird dies sogar so weit verstanden, dass an die Stelle der Selektivitätsprüfung eine reine Diskriminierungsprüfung treten soll, vgl. etwa Lang, European State Aid Law Review 11 (2012), 411 (418 ff.); ders., State Aid and Taxation – Selectivity and Comparability Analysis, in Richelle/Schön/Traversa (Hrsg.), State Aid Law and Business Taxation, 2016, S. 27 (34). Ähnlich Biondi, Common Market Law Review 50 (2013), 1719 (1733); Prek/Lefèvre, European State Aid Law Review 11 (2012), 335 (344). 21 Vgl. aber unten IV zum Anspruch des Konkurrenten, dass das Durchführungsverbot eingehalten wird.

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bei genauerer Betrachtung Rationalitätsgewinne in Form objektiver Steuergleichheit durch Privilegienabwehr. Diese verspricht der grundrechtliche Gleichheitssatz durch den Folgerichtigkeitsgrundsatz ebenfalls, kann sie aber wegen seiner subjektiv-rechtlichen Dimension eben nur eingeschränkt einlösen22. Das Beihilferecht unterscheidet sich im Übrigen auch von weiteren unionsrechtlichen Gleichheitssätzen, die auch in der Rechtsprechung des BFH schon weitaus größere Bedeutung erlangt haben, nämlich den Grundfreiheiten23. In dieser Hinsicht bestehen Abweichungen mit Blick auf die Struktur: Während das Beihilferecht einen (objektiven) allgemeinen Gleichheitssatz darstellt, verbieten die Grundfreiheiten an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Diskriminierungen und sind damit besondere Gleichheitssätze24. Auch verlangt das Beihilferecht einen Vorteil, der nicht schon in der Sonderbelastung eines unmittelbaren Wettbewerbers liegt25. Zudem haben beide Instrumente zwar das gemeinsame Ziel einer Wettbewerbsgleichheit im Binnenmarkt, der territoriale Anwendungsbereich bezieht im Beihilferecht aber auch rein innerstaatliche Ungleichbehandlungen ein, ohne dass es einer Grenzüberschreitung bedürfte26. Umgekehrt ist das Beihilferecht auch enger, weil sein subjektiver An­ wendungsbereich auf die wirtschaftliche Tätigkeit von Unternehmen27 begrenzt ist. Zusätzlich bestehen mit der Eignung, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, und der Wettbewerbsverfälschung weitere Voraussetzungen, die allerdings in der Rechtsprechung bisher kaum aktiviert wurden. Beihilferecht und Grundfreiheiten unterscheiden sich schließlich in der abweichenden Rechtssatzstruktur: Bei den Grundfreiheiten gibt es eine rechtlich gebundene Entscheidung über Zulässigkeit, während das Beihilferecht in einer zweiteiligen Prüfung über die Zulassung von Durchbrechungen befindet: Abweichungen können zwingend rechtlich zulässig sein, und zwar insbesondere in den Fällen einer internen Rechtfertigung bei der Selektivitätsprüfung. In anderen Fällen, in denen es keine zwingende rechtliche Zulässigkeit gibt, wird hingegen die Genehmigung in das Ermessen der Kommission gestellt. 22 Zum Folgerichtigkeitsgebot Kirchhof in HStR VIII, 3. Aufl. 2010, §  181 Rz.  209  ff. Zum Beihilfeverbot im Bereich der Steuern als Folgerichtigkeitsgebot vgl. etwa Ismer/Piotrowski, Intertax 2015, 559 (563). Dagegen etwa Schön, Tax Legislation and the Notion of State Aid  – A Review of Five Years of European Jurisprudence, in Richelle/Schön/Traversa (Hrsg.), State Aid Law and Business Taxation, 2016, S. 3 (18 ff.). 23 Zu Unterschieden und zum Konkurrenzverhältnis vgl. etwa Wattel, World Tax Journal 2013, 128 (129 f.). Zum Konkurrenzverhältnis zwischen Grundfreiheiten und Beihilferecht Engelen, European Taxation 2012, 204; Lang, IStR 2010, 570; Micheau, European Taxation 2012, 210; O’Brien, European Law Review 2005, 209; Rossi-Maccanico, 22 EC Tax Review 22 (2013), 19; Staes, Intertax 2014, 106; Szudoczky, The Sources of EU Law and Their Relationships: Lessons for the Field of Taxation, 2014; Wattel, Comparing Criteria: State Aid, Free Movement, Harmful Tax Competition and Market Distorting Disparities, in Richelle/ Schön/Traversa (Hrsg.), State Aid Law and Business Taxation, 2016, S. 59. 24 Szudoczky, European State Aid Law Review 2016, 357 (358). 25 Schön in Hancher et. al., EU State Aids, 5. Aufl. 2016, Rz. 13-036 m.w.N. A.A. Englisch in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, Rz. 9.14. 26 Wattel, World Tax Journal 2013, 128 (129). 27 Zur Reichweite dieses Begriffs s. zuletzt EuGH v. ECLI:EU:C:2017:496.

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Der wohl wichtigste und zugleich kontroverseste Unterschied sowohl gegenüber den Grundfreiheiten als auch gegenüber den grundrechtlichen Gleichheitssätzen besteht aber im scharfen Schwert des Beihilferecht auf Rechtsfolgenseite: Mitgliedstaaten dürfen neue Beihilfen, solange sie nicht genehmigt sind, nach Art.  108 Abs.  3 Satz  3  AEUV nicht gewähren (Durchführungsverbot). Werden sie gleichwohl gewährt, sind sie vom betreffenden Mitgliedstaat verzinst zurückzufordern28. Dem Beihilferecht liegt damit im Übrigen auch eine andere Vorstellung über die Temporalität des Rechts zugrunde als der Subventionskontrolle nach dem WTO-Recht29. Indem dieses auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Subventionsgewährung und Besserung für die Zukunft gerichtet ist, akzeptiert es zugleich mit Blick auf die vorübergehende Subventionsgewährung endgültig die falschen Rechtsfolgen für einen bestimmten Abschnitt. Dem Beihilferecht geht es demgegenüber nicht bloß um das Ziel einer künftig richtigen Regelung, sondern um die richtige Regelung für den gesamten Geltungszeitraum. Aus der Struktur ergeben sich einerseits Chancen auf Rationalitätsgewinne, weil Steuervergünstigungen auch dann überprüft und rückabgewickelt werden können, wenn es keinen unmittelbar Benachteiligten gibt. Umgekehrt ist aber gerade die ­Effektivität durch das Durchführungsverbot mit der gegebenenfalls gebotenen Rückforderung gleichwohl gewährter Beihilfen für die betroffenen Unternehmen problematisch. Zugleich droht die mitgliedstaatliche Steuersouveränität überaus stark be­ einträchtigt zu werden. Daraus ergibt sich aktuell die Herausforderung, eine Balance zu finden zwischen der Effektivität des Beihilferechts einerseits und den Interessen der Unternehmen und Mitgliedstaaten andererseits. Als Möglichkeiten dazu kommt insbesondere auf Tatbestandsseite eine teleologische Auslegung mit Blick auf den eingangs gezeigten Sinn und Zweck der Beihilfekontrolle in Betracht30. Auf Rechtsfolgenseite sollte hingegen nicht wie bisweilen gefordert, auf ein System der Strafzahlungen der Beihilfen gewährenden Staaten umgestellt werden. Vielmehr ist an der Rückzahlungsverpflichtung der Unternehmen festzuhalten. Das im Wesentlichen zwischen den Mitgliedstaaten und der Union bestehende Rechtsverhältnis ist aber – schon de lege lata – um das Recht der betroffenen Unternehmen zu ergänzen, eine Notifikation der Beihilfe zu verlangen31.

28 Vgl. dazu näher unter III. 29 Umfassend zum Verhältnis des EU-Beihilferechts und dem WTO-Recht Micheau; State Aid, Subsidy and Tax Incentives, 2014. 30 Dazu näher unten III 4. 31 Dazu näher unten IV.

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III. Tatbestandsvoraussetzungen einer steuerlichen Beihilfe Eine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV hat nach ständiger Rechtsprechung des EuGH32 und Praxis der Kommission33 tatbestandlich vier kumulative Voraussetzungen: Eine mitgliedstaatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel, die dem Mitgliedstaat zuzurechnen ist34, gewährt einem bestimmten Unternehmen oder einem Produktionszweig einen (selektiven) Vorteil. Die Maßnahme muss geeignet sein, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und dabei den Wettbewerb verfälschen oder zumindest zu verfälschen drohen. Probleme bereitet bei steuerlichen Beihilfen zumeist die Selektivität35. Schon seit jeher wird Art. 107 Abs. 1 AEUV dabei recht weit ausgelegt: Der Wortlaut verlangt ja eigentlich, dass bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige gegenüber anderen bevorzugt werden36. Jedoch schließt die abstrakt-generelle Ausgestaltung einer steuerlichen Begünstigung die Selektivität noch nicht aus37. Dies hat auch der EuGH in seinen Entscheidungen der Großen Kammer in den verbundenen Rechtssachen Banco Santander und World Duty Free (ex-Autogrill) noch einmal bestätigt38. Der weitaus wichtigste Fall der Selektivität ist die de jure Selektivität39, die schon seit

32 EuGH v. 24.7.2003 – C-280/00 – Altmark Trans Rz. 75; v. 21.3.1990 – C-142/87 – Belgien/ Kommission Rz. 25; v. 14.9.1994 – C-278/92 bis C-280/92 – Spanien/Kommission Rz. 20; v. 16.5.2002 – C-482/99 – Frankreich/Kommission Rz. 68. 33 Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden: Beihilfebekanntmachung), ABl. EU C 262/1 v. 19.7.2016 Rz. 5. 34 Vergünstigungen, die auf unionsrechtlich geformte Regelungen zurückzuführen sind und den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum belassen, sind daher keine Beihilfen. Zu den wettbewerbsrechtlichen Bindungen dieser Unionsbeihilfen s. Cremer in Callies/Ruffert (Hrsg.), 5. Aufl. 2016, Art. 107 AEUV Rz. 82. 35 Siehe dazu bereits de Broe, The State Aid Review against Aggressive Tax Planning: ‚Always Look a Gift Horse in the Mouth‘, EC Tax Review 24 (2015) 290 (291); Lyal, Fordham International Law Journal 38 (2015). 1017 (1031f.); Ismer/Piotrowski, Intertax 2015, 559; dies., DStR 2015, 1993; dies., Intertax 2018, 156. 36 Vgl. Heidenhain, European State Aid Law Handbook, 2010, § 4, Rz. 57 ff. m.w.N. 37 Ismer/Piotrowski, DStR 2015, 1993 (1995); Kommission, Beihilfebekanntmachung, Rz. 118; EuG v. 13.9.2012 – T-379/09 – Italien/Kommission Rz. 48; a.A. etwa Luts, EC Tax Review 2014, 258 ff.; Sanchez Rydelsky, EC Tax Review 2010, 149 (151 f.). 38 EuGH v. 21.12.2016 – C-20/15 P und C-21/15 P. 39 Daneben gibt es noch die de facto Selektivität. Selektivität liegt demnach auch dann vor, wenn sich eine Maßnahme tatsächlich stärker auf bestimmte Unternehmen auswirkt als auf andere vgl. EuGH v. 15.11.2011 – C-106/09 P und 107/09 P – Gibraltar; Ismer/Piotrowski, Intertax 2015, 559; Kurcz/Vallindas, CML Rev. 2008, 159 (162); Luts, EC Tax Review 2014, 258 (261); Szudoczky, European State Aid Law 2016, 357 (361 f.). Vor diesem Hintergrund lassen sich beispielsweise auch die Ausführungen des GA Szpunar, Schlussanträge v. 3.2.2015 in der Rs. C-5/14 – Kernkraftwerke Lippe-Ems GmbH Rz. 75 verstehen, wo nach Abschluss der dreistufigen Selektivitätsprüfung noch auf die tatsächlichen Auswirkungen eingegangen wird.

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der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Italienische Textilien40 aus dem Jahre 1974 für steuerliche Vergünstigungen durch (abstrakt-generelle) Regelungen eine dreistufige Prüfung erfordert41. So schreibt der EuGH etwa in World Duty Free42: „In diesem Kontext muss die Kommission für die Einstufung einer nationalen steuerlichen Maßnahme als „selektiv“ in einem ersten Schritt die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ Steuerregelung ermitteln und in einem zweiten Schritt dartun, dass die in Rede stehende steuerliche Maßnahme vom allgemeinen System insoweit abweicht, als sie Unterscheidungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern einführt, die sich im Hinblick auf das mit dieser allgemeinen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden … Der Begriff „staatliche Beihilfe“ erfasst jedoch nicht die Maßnahmen, die eine Unterscheidung zwischen Unternehmen einführen, die sich im Hinblick auf das von der in Rede stehenden rechtlichen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, und damit a priori selektiv sind, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass diese Unterscheidung gerechtfertigt ist, weil sie sich aus der Natur oder dem Aufbau des Systems, in das sie sich einfügen, ergeben.“ De jure Selektivität verlangt mithin erstens, das Referenzsystem der Besteuerung herauszuarbeiten, zweitens eine Ausnahme vom Referenzsystem, die zu einer Ungleichbehandlung von Unternehmen in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Lage führt, und drittens die fehlende Rechtfertigung der Ausnahme aus der Natur oder dem Aufbau des (Steuer-)Systems. Im Folgenden wird auf die drei Schritte jeweils näher eingegangen. 1. Referenzsystem der Besteuerung Als erste Stufe ist dementsprechend das Referenzsystem der Besteuerung, d.h. die normale Besteuerung zu bestimmen43. Referenzsystem ist damit die steuerliche Belastungsentscheidung des Mitgliedstaates, die dieser – zumindest dort, wo der Unionsgesetzgeber keine Harmonisierung vorgesehen hat  – als Ausdruck nationaler Steuersouveränität eigenständig treffen kann44. Nach Auffassung der Kommission ist

40 EuGH v. 2.7.1974, Rs. 173/73, ECLI:EU:C:1974:71. 41 Siehe dazu ausführlich: Lyal, 38 Fordham International Law Journal, 1017 (1028 ff.); Ismer/ Piotrowski, IStR  2015, 257 (259  ff.); Mestmäcker/Schweitzer in Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht Bd. 3, 5. Aufl. 2016, Art. 107 AEUV Rz. 220 ff.; Stäsche/Liebheit, EuZW 2015, 894 (896 f.). 42 Rz. 57 f. 43 EuGH v. 8.9.2001 – C-78/08 bis 80/08 – Paint Graphos Rz. 49; v. 18.7.2013 – C-6/12, ECLI:EU:C:2013:525 – P Oy Rz. 19. 44 In Ausnahmefällen kann schon die Wahl des Referenzsystems dazu führen, dass Selektivität zu bejahen ist; siehe dazu Ismer/Piotrowski, Intertax 2015, 559 ff.; dort definiert als „external consistency“; EuGH v. 15.11.2011 – C-106/09 P und C-107/09 P – Gibraltar; Europäische Kommission (Fn. 6), Rz. 130.

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das steuerliche Referenzsystem im Normalfall die Steuer selbst45, also etwa die Körperschaftsteuer. Probleme bereitet die Bestimmung des Referenzsystems immer noch dort, wo wie bei der Sanierungsklausel des §  8c  KStG46 ein Regel-Ausnahme-Gegenausnahme-Verhältnis (Verlustvortrag  – Verlustuntergang bei Anteilseignern  – Ausnahme bei Sanierung) besteht und damit im Ergebnis die Grundregel wiederhergestellt wird47. Eigentlich hatte hier der EuGH in der Entscheidung in der Rechtssache P Oy, die eine finnische Sanierungsklausel zum Gegenstand hatte, schon das Ergebnis vorgegeben48. Dementsprechend hatte das EuG in den Rechtssachen Heitkamp und GFKL die Entscheidung der Kommission bestätigt, wonach im Fortbestehen des Verlusts eine unionsrechtswidrige Beihilfe liege49. Demgegenüber kam der Generalanwalt Wahl in seinen Schlussanträgen im Rechtsmittelverfahren jüngst zum entgegengesetzten Ergebnis, allerdings ohne die Entscheidung P Oy auch nur zu erwähnen50. Er begründete dieses Ergebnis damit, dass die Einordnung als Beihilfe nicht von der gesetzestechnischen Ausgestaltung abhängen dürfe. Letztlich überzeugt dieser Ansatz aber schon deshalb nicht, weil er problematische Unterscheidungen wie eine Wiederherstellung des Verlustvortrags nur für Unternehmen in einer bestimmten Region oder einer bestimmten Branche von der Beihilfenkontrolle ausnähme. 2. Abweichung vom Referenzsystem Auf zweiter Stufe ist zu bestimmen, ob eine Abweichung vom Referenzsystem der Besteuerung vorliegt, die dazu führt, dass Unternehmen unterschiedlich behandelt werden, die sich im Hinblick auf das mit der Steuerregelung verfolgte Ziel in einer rechtlich und tatsächlich vergleichbaren Lage befinden51. Dabei wird grundsätzlich auf das Ziel des Referenzsystems, nicht auf die Begünstigung abgestellt. Dies stellte der EuGH in Paint Graphos klar52. Damit ist etwa bei der Körperschaftsteuer auf das

45 Europäische Kommission (Fn. 6), Rz. 132 ff. 46 Zur partiellen Verfassungswidrigkeit der Norm mit Blick auf den quotalen Verlustuntergang s. BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082. 47 Zur beihilferechtlichen Diskussion in Deutschlands schon Fn. 13. 48 EuGH v. 18.7.2013 – C-6/12, ECLI:EU:C:2013:525 – P Oy. 49 Europäische Kommission v. 30.9.2009 – 2010/13/EG, ABl. EU 2010 L 6/32. Dies bestätigend EuG v. 4.2.2016 – T-287/11, ECLI:EU:T:2016:60 – Heitkamp Bauholding; v. 4.2.2016 – T 620/11, ECLI:EU:T:2016:59 – GFKL. 50 GA Wahl, Schlussanträge v. 20.12.2017 – C-203/16 P, ECLI:EU:C:2017:1017 – Andres (ex-­ Heitkamp). 51 EuGH v. 8.9.2011 – C-78/08 bis 80/08 – Paint Graphos, Slg. I-7611 Rz. 49; v. 18.7.2013 – C-6/12 – P Oy Rz. 19. Ähnlich zuvor bereits EuGH v. 8.11.2001 – C-143/99 – Adria-Wien Pipeline, Slg. 2001, I-8365 Rz. 41; v. 17.6.1999 – C-75/97 – Belgien/Kommission, Slg. 1999, I-3671 Rz. 28 ff.; v. 6.9.2006 – C-88/03 – Portugal/Kommission, Slg. 2006, I-7115 Rz. 54; Europäische Kommission (Fn. 6), Beihilfebekanntmachung, Rz. 135 ff. Externe Ziele können danach nicht herangezogen werden. 52 EuGH v. 8.9.2011 – C-78/08 bis 80/08 – Paint Graphos Rz. 49. Dies wird anhand der englischen Sprachfassung von Paint Graphos besonders deutlich: „objective assigned to the tax

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allgemeine Ziel der Besteuerung der Körperschaften nach der Leistungsfähigkeit abzustellen und nicht auf das Ziel der Begünstigung, etwa die Förderung von Auslandstätigkeiten kleiner Körperschaften. 3. Rechtfertigung durch die innere Logik des Systems Bei Vorliegen einer Abweichung (zweiter Schritt) ist die Maßnahme prima facie selektiv. Jedoch kann Selektivität in einem dritten Schritt trotzdem zu verneinen sein, wenn die Abweichung aufgrund der inneren Logik und der Grund- und Leitgedanken des Referenzsystems der Besteuerung rechtfertigungsfähig ist (interne Rechtfertigung einer Abweichung vom Referenzsystem)53. Es kommen nur interne, der jeweiligen Steuer immanente Zielsetzungen wie die Notwendigkeit der Bekämpfung von Steuerbetrug, der Grundsatz der Steuerneutralität, die Einkommensteuerprogression oder die Vermeidung von Doppelbesteuerung54 in Betracht, während externe Zielsetzungen, also etwa ökonomische oder ökologische Erwägungen, nicht herangezogen werden können. Der EuGH scheint im Übrigen ähnlich wie bei der Prüfung der Grundfreiheiten als Ausdruck der Souveränität der Mitgliedstaaten in Steuersachen auch hier vorrangig von nationalen Wertungen auszugehen, die dann konsequent (wohl im Sinne der Folgerichtigkeit)55 und verhältnismäßig umgesetzt werden müssen56. Dies bedeutet zugleich, dass die Herausarbeitung der immanenten Zielsetzungen des Steuerrechts für die Frage, ob die Rechtfertigung auf der dritten Stufe gelingt, entscheidende Bedeutung hat. Dabei kommt der innerstaatlichen Rechtsprechung, unterstützt von intersubjektiv nachprüfbar arbeitender Steuerrechtswissenschaft, eine bedeutsame Rolle für die Austarierung der Kompetenzen zwischen Mitgliedstaat und Europäischer Union zu. Das Unionsrecht nimmt, wie auch im Bereich der Grundfreiheiten, durchaus Rücksicht auf die Grundwertungen des nationalen Steuerrechts, so sie denn tatsächlich bestehen und vom Gesetzgeber folgerichtig implementiert werden. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass zumindest in den bisher vom EuGH entschiedenen Fällen eine solche Rechtfertigung zwar angesprochen wurde, bisher aber anders als bei den Grundfreiheiten noch nicht zum Ziel geführt hat. Ein Beispiel für eine mögliche Rechtfertigung auf dritter Stufe ist die Problematik des Sanierungserlasses. Hier hatte der Große Senat im Jahre 2017 bekanntlich angenommen, dass dem Vorbehalt des Gesetzes nicht Genüge getan sei, weil §§ 163, 227 AO system“. Siehe auch: Europäische Kommission (Fn. 6), Beihilfebekanntmachung, Rz. 128. Zweifelnd: Lyal, Fordham International Law Journal 38 (2014), 1017 (1035). 53 Vgl. EuGH v. 2.7.1974  – C-173/73  – Kommission/Italien Rz.  33, 35; v. 9.1.2001  – C-143/99 – Adria Wien Pipeline Rz. 42 m.w.N.; v. 15.12.2005 – C-148/04 – Unicredito Italiano, Slg. 2005, I-11137 Rz. 51; v. 8.8.2011 – verb. Rs. C-78/08 bis C-80/08 – Paint Graphos Rz. 64 ff.; v. 18.7.2013 – C-6/12 – P Oy Rz. 22; Europäische Kommission, Beihilfebekanntmachung, Rz. 128, 138 ff. 54 Europäische Kommission, Beihilfebekanntmachung, Rz. 139. 55 Vgl. dazu Ismer/Piotrowski, Intertax 2015, 559 ff. 56 EuGH v. 8.8.2011 – verb. Rs. C-78/08 bis C-80/08 – Paint Graphos Rz. 75; Kommission, Beihilfebekanntmachung, Rz. 140.

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keine hinreichende gesetzliche Grundlage darstellten und das BMF-Schreiben als reine Verwaltungsvorschrift die Gerichte nicht bindet57. In der Begründung sprach der Große Senat wiederholt davon, dass es sich bei dem Erlass um eine Subvention handele58. Aus isolierter Sicht des innerstaatlichen Steuerrechts hat diese Entscheidung durchaus etwas für sich, verspricht sie doch einen Zugewinn an Rechtsstaatlichkeit und eine Rückbindung der Besteuerung an Entscheidungen des Parlaments. Rein aus Perspektive der innerstaatlichen Rechtsordnung betrachtet, konnte der Gesetzgeber die Rechtswirkungen durch eine rückwirkende Gesetzgebung zugunsten der vom Sanierungserlass Begünstigten wiederherstellen. Indessen war diese Entscheidung, wie die im Vorfeld geäußerten abweichenden Stimmen zeigen, nicht wirklich zwingend. Vor allem aber hat sie überaus bedenkliche Auswirkungen, wenn man den Kontext des Mehrebenensystems und damit insbesondere des Beihilferechts berücksichtigt: Durch die Feststellung, dass es sich um eine Subvention handelt, die weder durch das System des Einkommensteuerrechts noch durch das Steuerverfassungsrecht geboten ist, scheidet eine Rechtfertigung auf der dritten Stufe der Selektivitätsprüfung aus. Da die Regelung nach innerstaatlichem Recht derzeit nicht gilt, stellt sie auch keine Altbeihilfe59 dar. Daher ist auch die vom Großen Senat avisierte gesetzliche Neuregelung nur mit Genehmigung der Kommission möglich. Bis dahin unterfällt die Beihilfe dem Durchführungsverbot. Bereits gewährte Beihilfen sind zurückzufordern, Zinsvorteile für die Vergangenheit sind abzuschöpfen. Dem steht im Ergebnis auch der deutsche verfassungsrechtliche Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht entgegen, zumal die fehlende gesetzliche Grundlage im Vorfeld ausführlich diskutiert wurde. Die resultierende Rechtsunsicherheit in der Praxis ist gewaltig. Hätte der BFH hingegen seine Wertungsspielräume genutzt und sich zum verfassungsrechtlichen Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit bekannt60, hätte er die vom deutschen Gesetzgeber allein nicht beherrschbare Problematik voraussichtlich vermeiden können. Allerdings hätte es dann einen Rationalitätenkonflikt zwischen den Vorgaben des Unionsrechts, das tendenziell auf Elimination von nicht wettbewerbsfähigen Firmen gerichtet ist, und dem des deutschen Steuer(verfassungs-)rechts gegeben. Dabei hätte aber einiges dafür gesprochen, den Konflikt jedenfalls im Kernbereich zugunsten der mitgliedstaatlichen Wertung zu lösen61. 4. Einschränkende Auslegung mit Blick auf Sinn und Zweck der ­Beihilfenkontrolle vor dem Hintergrund des Binnenmarktes Wenn sich die Überprüfung von Steuervergünstigungen durch Beihilferegelungen auf die dreistufige Selektivitätsprüfung verengt, so droht dies dazu führen, dass letztlich sämtliche wirtschaftspolitischen Steuervergünstigungen für Unternehmen durch Beihilferegelungen als selektiv zu beurteilen wären und der Kontrolle und dem Er57 BFH v. 28.11.2015 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393. 58 BFH v. 28.11.2015 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393 Rz. 134 und 139. 59 S. unten IV. 60 S. etwa Ismer/Piotrowski, DStR 2015, 1993. 61 Vgl. etwa EuGH 14.10.2004 – C-36/02, ECLI:EU:C:2004:614 – Omega Spielhallen für einen entsprechenden Konflikt bei den Grundfreiheiten.

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fordernis einer diskretionären Vereinbarkeitserklärung durch die Kommission unterlägen. Dies überzeugt mit Blick auf die Steuersouveränität der Mitgliedstaaten und das Subsidiaritätsprinzip, aber auch die Leistungsfähigkeit der Kommission nicht62. Auch bei den Grundfreiheiten hat es durch das Erfordernis einer vergleichbaren Lage und die Anerkennung der rule of reason eine entsprechende Entwicklung hin zur Schonung der Steuersouveränität der Mitgliedstaaten gegeben. Da eine Parallelkonstruktion auf Rechtfertigungsebene im Beihilferecht nur aus steuerimmanenten Gründen möglich ist, sollte zusätzlich eine teleologische Korrektur mit Blick auf den eingangs geschilderten Sinn und Zweck der unionalen Beihilfekontrolle geschaffen werden. Als denkbarer Ansatz könnte die Vergleichbarkeit im Rahmen der zweiten Stufe aufgewertet werden: Die Struktur der Prüfung einer Ausnahme vom Referenzsystem impliziert zunächst, dass es auf die Durchbrechung der eigenen Wertung des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers ankommt. Darüber hinaus kann die tatsächliche und rechtliche Vergleichbarkeit für unionsrechtliche Wertungen geöffnet werden: Eine Durchbrechung der Wertungen des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers ist aus unionsrechtlicher Sicht dann problematisch, wenn zugleich unionsrechtliche Wertungen durchbrochen werden. Die Struktur würde sich dann verschieben hin zu einer Prüfung einer Ausnahme vom mitgliedstaatlichen Referenzsystem, obwohl aus unionsrechtlicher Sicht eine Gleichbehandlung indiziert ist. Dieser Ansatz stünde mit dem bisherigen Case Law des EuGH, das zu derartigen unionsrechtlich kritischen Regelungen entwickelt wurde, im Einklang. Dieser Ansatz würde zunächst erlauben, die von der Generalanwältin Kokott63 beanstandeten Exportsubventionen, wie sie etwa dem Fall World Duty Free zugrunde lagen, der strengen Prüfung durch die dreistufige Selektivitätsprüfung zu unterwerfen. Als unionsrechtlich relevante Ungleichbehandlungen wären darüber hinaus auch Diskriminierungen von EU-Ausländern anzusehen, wobei sich hier dann die Frage des Konkurrenzverhältnisses zu den Grundfreiheiten stellen würde. Letztlich sollte aber ein weitergehender Ansatz verfolgt werden: Eingangs wurde aufgezeigt, dass das Beihilferecht dem Binnenmarktziel dient und dass dieses Ziel sowohl auf (innerhalb der Union grenzüberschreitend) freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital, als auch als „Markt“ auf unverfälschten Wettbewerb gerichtet ist. Dementsprechend sind jedenfalls auch die Hilfen für Unternehmen in Schwierigkeiten einer strengen Prüfung zu unterwerfen. Dies würde namentlich die Sanierungsklausel des § 8c KStG betreffen, aber auch die gesetzliche Neuregelung des früheren Sanierungserlasses in § 3a EStG.

62 Kritisch etwa auch Kokott, ISR 2017, 395 (400); Kube/Reimer/Spengel, ecTax Review 2016, 246 (255 f.). 63 Kokott, ISR 2017, 395 (400).

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IV. Rechtsfolgen einer Beihilfe Soweit tatbestandlich eine Beihilfe vorliegt, ist hinsichtlich der Rechtsfolgen zunächst grundlegend zu unterscheiden zwischen bereits bestehenden Beihilfen und neuen Beihilfen. Bestehende Beihilfen (Altbeihilfen) sind solche, die schon vor Inkrafttreten des EG-Vertrags im entsprechenden Mitgliedstaat bestanden, sowie seither rechtmäßig eingeführte Beihilfen64. Neue Beihilfen sind hingegen alle Beihilfen, die keine bestehenden Beihilfen sind, einschließlich Änderungen bestehender Beihilfen65. Bereits bestehende Beihilfen können gewährt werden, bis die Kommission im Rahmen der repressiven Kontrolle, also der fortlaufenden Überprüfung von bestehenden Beihilfen, ihre Unvereinbarkeit mit dem Binnenmarkt feststellt66. Neue Beihilfen, die nicht unter Gruppenfreistellungsverordnungen fallen, müssen hingegen bei der Kommission vollständig angemeldet werden67. Sie dürfen bis zur abschließenden Entscheidung der Kommission nicht durchgeführt werden und zwar auch, wenn sie einer Ausnahme nach Art. 107 Abs. 2 oder 3 AEUV entsprechen und damit materiell unionsrechtmäßig sind68. Verstöße gegen das Durchführungsverbot sind bei materiell unionsrechtswidrigen Beihilfen, die nicht nach Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar sind, besonders gravierend. Dann wird nicht nur der Zinsvorteil durch die verfrühte Gewährung der Beihilfe abgeschöpft69. Vielmehr ist der Mitgliedstaat verpflichtet, den gesamten gewährten unionsrechtswidrigen Vorteil über einen Zeitraum von 10  Jahren70 zurückzufordern71. Die nationalen Gerichte müssen im Falle von Konkurrentenklagen bei der Feststellung eines Verstoßes gegen die Notifizierungspflicht bzw. das Durchführungsverbot grundsätzlich die vorläufige Aussetzung bzw. gegebenenfalls gar die vorläufige Rückzahlung der Beihilfe anordnen72. Diese Verpflichtung entfällt, sobald eine positive Entscheidung der Kommission zur materiellen Rechtmäßigkeit der Maßnahme vorliegt.

64 Art. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) 2015/1588 des Rates v. 13.7.2015 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen, ABl. L 248/1 v. 24.9.2015 (im folgenden Beihilfeverfahrensordnung oder VfVO). 65 Art. 1 Buchst. c VfVO. 66 EuGH v. 30.6.1992 – C-47/91 – Italien/Kommission, Slg. 1992, I-4145 Rz. 25; v. 15.3.1994 – C-387/92 – Banco Exterior de España/Ayuntamiento de Valencia, Slg 1994, I-877 Rz. 20). 67 Art. 108 Abs. 3 Satz 1 AEUV i.V.m. Art. 2 VfVO. 68 Vgl. dazu insbes. Art. 1a, Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 VfVO. 69 EuGH v. 12.2.2008 – C-199/06 – Celf II, Slg. 2008, I-469 Rz. 40, 55. 70 Vgl. Art. 17 der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates v. 13.7.2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. L 248/9 v. 24.9.2015. 71 Ismer in Herrmann/Heuer/Raupach (Hrsg.), Einführung zum EStG Rz. 527. 72 EuGH v. 11.12.1973  – Rs. 120/73  – Lorenz/Deutschland, Slg. 1973, 1471 Rz.  8; v. 21.11.1991 – C-354/90 – FNCEP, Slg. 1991, I-5505 Rz. 12; v. 11.7.1996 – C-39/94 – SFEI, Slg. 1996, I-3547 Rz. 70 f.

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Die Rückforderung erfolgt nach nationalem Recht, das aber unionsrechtskonform auszulegen ist73. Die Anwendung des nationalen Rechts darf die Rückabwicklung nicht praktisch unmöglich machen und muss das Interesse der Union in vollem Umfang berücksichtigen74. Dies hat insbesondere Auswirkungen auf die Korrekturvorschriften für Steuerbescheide und gleichgestellte Bescheide, die eine Rückforderung nicht unmöglich machen dürfen. Die Bestandskraft von Steuerbescheiden steht einer Rückforderung jedenfalls nicht entgegen. Auch wird nur ein sehr eingeschränkter Vertrauensschutz gewährt75. In der wissenschaftlichen Literatur werden diese Rechtsfolgen häufig für zu weitgehend erachtet und daher eine Eingrenzung der Rechtsfolgen befürwortet76. So wird insbesondere in der deutschsprachigen Literatur angesichts des weitgehenden nationalen Verfassungsrechts die Gewährung von Vertrauensschutz gefordert77. Dabei wird auf die Tatsache verwiesen, dass der Vertrauensschutzgrundsatz auch ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts ist. Zur Abgrenzung von der den Vertrauensschutz stark beschränkenden Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Alcan wird darauf verwiesen, dass die Grundsätze für Einzelbeihilfen nicht für Beihilfe­ regelungen und erst recht nicht für Steuervergünstigungen gelten dürften, wo der Steuerpflichtige regelmäßig aufgedrängt bereichert werde und häufig die Beihilfe gar nicht erkennen könne. Indes erscheint gerade der Weg über die Gewährung von Vertrauensschutz nur eingeschränkt zielführend. Ausgangspunkt hat dabei zu sein, dass das Unionsrecht zwar einen Vertrauensschutz kennt. Jedoch ist die deutsche Vertrauensschutzdoktrin nicht unverändert zu übertragen. Gerade die Eigenschaft als allgemeines Rechtsprinzip zwingt zur Herleitung aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten. Ein Rechtsvergleich ergibt dann, dass der Vertrauensschutz unterschiedlich stark ausgeprägt ist und regelmäßig das deutsche Schutzniveau nicht erreicht. Außerdem würde die Wirksamkeit des Beihilferechts nicht nur in Fällen von Kollusion zwischen Mitgliedstaaten und Steuerpflichtigem gefährdet, sondern ganz allgemein dann, wenn die Mitgliedstaaten durch entsprechende Handlungen Vertrauen generieren und damit die Durchsetzung des Beihilferechts verhindern könnten. Im Ergebnis bedeutet dies, dass Mitgliedstaaten grundsätzlich keine Vertrauenstatbestände schaffen können. Dies gilt im Übrigen auch für parlamentarische Gesetze, zumal schon innerstaatlich defizitäre Gesetze als solche nach deutschem Verständnis keinen Vertrauensschutztatbestand bilden78. Dementsprechend hat sich die europäische Rechtspre73 Cremer in Calliess/Ruffert (Hrsg.), 5. Aufl. 2016, Art. 108 AEUV Rz. 29; Rusche in Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht Bd. 3, 5. Aufl. 2016, Art. 16 Beihilfenverfahrens-­ VO Rz. 1 ff. 74 EuGH v. 20.3.1997 – C-24/95 – Alcan, Slg. 1997, I-1591 Rz. 24 m.w.N. 75 Ismer in Herrmann/Heuer/Raupach (Hrsg.), Einführung zum EStG Rn  527; EuGH v. 20.3.1997 – C-24/95 – Alcan Rz. 25. 76 S.  etwa Kokott, ISR  2017, 395; Martini, StuW  2017, 101; Sutter, DStjG 39 (2016), S.  169 (203 ff.). 77 Martini, StuW 2017, 101; Sutter, DStjG 39 (2016), S. 169 (203 ff.). 78 BVerfG v. 14.11.1961 – 2 BvR 345/60, BVerfGE 13, 215 ff. (224 f.); v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 ff. (272); v. 16.11.1965 – 2 BvL 8/64, BVerfGE 19, 187 ff. (195, 197);

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chung gegen die Gewährung von Vertrauensschutz bei Akten mitgliedstaatlicher Organe ausgesprochen79. Insbesondere hat das EuG in seiner GFKL-Entscheidung80 die in der Rechtssache Alcan eingeschlagene Linie weiterverfolgt und die Gewährung von Vertrauensschutz abgelehnt. Die restriktive Linie erscheint im Übrigen auch schon deshalb weniger problematisch, weil es sich um ein für die Zukunft nicht mehr relevantes Übergangsproblem handelt. Zwar hat sich der praktische Anwendungsbereich des Beihilferechts in den letzten Jahren erheblich und nicht immer für alle Akteure vorhersehbar ausgeweitet. Indessen dürften Fragen der Enttäuschung von berechtigtem Vertrauen und des Vertrauensschutzes zunehmend weniger dringlich werden, da wohlinformierte Unternehmen in Zukunft voraussichtlich nicht mehr von der expansiven Anwendung des Beihilferechts überrascht werden sollten. Der Vertrauensschutzgrundsatz bietet damit letztlich, selbst wenn er anzuerkennen ist, keine dauerhafte und umfassende Lösung. Auch überzeugt es letztlich nicht, die Rechtsfolgen bei Beihilfen durch Steuervergünstigungen zu modifizieren und statt der Rückforderung der Beihilfe durch Nachversteuerung eine Strafzahlung der Mitgliedstaaten zu fordern81. Sie widerspricht nämlich nicht nur dem bisher bestehenden Case Law des EuGH, sondern würde die Effektivität der Beihilfekontrolle reduzieren, indem die Anreize für die Unternehmen vermindert werden, auf eine Einhaltung des Beihilferechts zu achten. Vor diesem Hintergrund sind vielmehr drei Wege zur Begrenzung des Beihilferechts auf Rechtsfolgenseite in Betracht zu ziehen. Erstens sollten die Möglichkeiten genutzt werden, durch Sekundärrecht, aber auch durch soft law die Rechtssicherheit zu ­vergrößern. So könnte zunächst die Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) als Sekundärrecht erweitert werden, bei der bestimmte Sachverhalte einer Beihilfeprüfung entzogen werden können. Zudem ist eine verstärkte Selbstbindung der Kommission über Beihilfeleitlinien denkbar. In den Prozess von deren Entwicklung könnten und sollten sich auch die Mitgliedstaaten verstärkt einbringen. Als zweiter Ansatz im Rahmen der Rechtsfolgenlösung sollte bedacht werden, dass eine Ausweitung der Beihilfe auf alle zulässig ist, so denn in der Ausweitung keine Beihilfe liegt. In der Tat spricht einiges dafür, gerade im Kollisionsfall mit den Grundfreiheiten die grundfreiheitlich als Regelfall gebotene Ausweitung vorrangig sein zu lassen. In einer solchen Situation bleibt dann nur noch das Problem, ob ein Fall vorzeitiger Beihilfegewährung mit daraus resultierender Verpflichtung zur Rückfor­ derung von Zinsen anzunehmen ist. Im Ergebnis dürfte dies zu verneinen sein, da anders als bei einer Genehmigung, die ja abzuwarten wäre, bei rückwirkender Ausv. 25.6.1974  – 2 BvF 2/73, 3/73, BVerfGE 37, 363 ff. (399 f.) m. abw. M. 414 ff. (416); v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 ff. (260 ff.); v. 23.1.1990 – 1 BvL 4/87 u.a., BVerfGE 81, 228 ff. (239); Grzeszick in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 20 GG Rz. 86. 79 Vgl. die Nachweise bei Martini, StuW 2017, 101 (105 f.). 80 EuG v. 4.2.2016 - T-620/11, ECLI:EU:T:2016:59 – GFKL Rz. 185 ff. 81 Martini, StuW 2017, 101 (109 f.).

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weitung des Vorteils auf alle auch rückwirkend tatbestandlich keine Beihilfe mehr vorliegt. Drittens schließlich liegt das eigentliche Problem der Unternehmen darin, dass die Unternehmen keine Planungssicherheit bis zur Entscheidung der Kommission und gegebenenfalls bis zum Abschluss der dagegen gerichteten Rechtsbehelfe haben. Daher ist den Interessen der betroffenen Unternehmen Rechnung zu tragen, indem – entsprechend der Auskunfts- und Klagerechte der Konkurrenten – auch den Unternehmen ein (auch: unions-) grundrechtlich fundierter Anspruch auf Notifikation der Beihilfe durch den diese gewährenden Mitgliedstaat zusteht. Damit würde zugleich wie bei den Grundfreiheiten auch durch Gewährung einer individuellen Rechtsposition die Durchsetzung des Unionsrechts gestärkt.

V. Zusammenfassung und Ausblick Das unionale Beihilferecht befindet sich derzeit in einer dynamischen Entwicklung, die auch den BFH erreicht. Einerseits ist in der nächsten Zeit für die Rechtspraxis von einer Ausweitung auszugehen. Denn die Beihilfekontrolle durch die nationalen  Gerichte ist, wie die derzeit noch geringe Zahl einschlägiger Äußerungen des BFH zeigt, erst im Anrollen. Andererseits erscheint auch auf europäischer Ebene die  Entwicklung noch nicht abgeschlossen. Vielmehr ist hier von einem längeren Prozess des Ausbalancierens zwischen mitgliedstaatlicher Kompetenz und unionaler Kontrolle auszugehen – ein Prozess, der auch schon bei den Grundfreiheiten einige Zeit in Anspruch genommen hat und bei dem eine zunächst überschießende Tendenz durch eine stärkere Berücksichtigung der Souveränitätsinteressen der Mitgliedstaaten kompensiert wurde. Das Beihilferecht verspricht Rationalitätsgewinne für die Steuergesetzgebung der Mitgliedstaaten. Es beinhaltet zwar ein Diskriminierungsverbot. Dieses ist jedoch nicht wie der allgemeine Gleichheitssatz und die Grundfreiheiten subjektiv-rechtlich zur Abwehr von Belastungen, sondern primär objektivrechtlich zur Beseitigung nicht gerechtfertigter Begünstigungen ausgestaltet. Es stellt damit gegen irrationale Steuerbegünstigungen ein wirksameres Instrument zur Verfügung, als dies der allgemeine Gleichheitssatz kann. Zugleich ist aber nicht zu verkennen, dass die weite Anwendung des Beihilferechts auf das Steuerrecht durchaus auch erhebliche Gefahren birgt. Die Ausweitung ist gefährlich für die mitgliedstaatliche Steuersouveränität, und damit insbesondere für die Parlamente, wenn und weil potentiell alle mitgliedstaatlichen unternehmensbezogenen Vergünstigungen auf dem Gebiet des Steuerrechts der umfassenden Kontrolle durch die Kommission unterliegen82. Ferner stellt gerade die diskretionäre Kontrolle durch die Kommission ein Problem dar, da nicht gesichert ist, welche Gründe die Er82 Jaeger, Tax Incentives Under State Aid Law: A Competition Law Perspective, in Richelle/ Schön/Traversa (Hrsg.), State Aid Law and Business Taxation State Aid Law and Business Taxation, 2016, S. 39 (42 ff.); zu den Tax Ruling-Fällen. Kyriazis, European State Aid Law

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messensausübung leiten; auch kann es leicht zu einer strukturellen Überforderung der Kommission kommen, die kaum die gesamten Unternehmensteuerrechtsordnungen aller Mitgliedstaaten kontrollieren kann. Gerade aus Sicht der betroffenen Unternehmen sind diese Unwägbarkeiten, die aus der Ermessensentscheidung resultieren, bedenklich. Die mitgliedstaatlichen Gerichte können und müssen im Übrigen zwar an dieser Kontrolle mitwirken. Sie können aber weder Rechtssicherheit gewährleisten, da eine Aufhebung der gewährten Steuervergünstigung auch noch nach einem rechtskräftigen Urteil in Betracht kommt, noch die Ermessensentscheidung der Kommission über die Genehmigung durch eine eigene Entscheidung ersetzen. Daher sollte in der weiteren Entwicklung das Beihilferecht vor einer überaus großen Ausweitung geschützt werden. Dazu sollten allerdings keine überaus großen Erwartungen in die Gewährung von Vertrauensschutz gestellt werden, zumal es sich dabei letztlich ohnehin nur um ein in der Übergangszeit wirksames Instrument handeln würde. Anders als bei den Grundfreiheiten dürfte aber auch eine für alle akzeptablen Gemeinwohlgründe offene, nur durch Verhältnismäßigkeitserwägungen beschränkte ungeschriebene rule of reason ausscheiden. Denn die Prüfung von steuerexternen Zwecken ist nach der Normstruktur des Beihilferechts nicht rechtlich gebunden, sondern unterliegt dem Ermessen der Kommission. Schließlich erscheint eine starke Ausgestaltung der dritten Stufe der Selektivitätsprüfung als interne Rechtfertigung ebenfalls nicht überaus zielführend angesichts der Tatsache, dass diese in der Rechtsprechung des EuGH bisher noch in keinem Fall zum Erfolg geführt hat83. Die wichtigste Einschränkung sollte im Rahmen einer Tatbestandslösung erfolgen: Das Beihilferecht ist, wie nicht zuletzt seine systematische Stellung zeigt, Teil des Wettbewerbsrechts und damit der grundlegenden Wirtschaftsordnung84. Die strenge Kontrolle mitgliedstaatlicher Steuerbegünstigungen im Rahmen der dreistufigen Selektivitätsprüfung erscheint dort, aber auch nur dort, geboten, wo die raison d’être des Beihilferechts berührt ist. Dies bedeutet, dass der Beihilfebegriff – etwa durch eine dahingehende Ergänzung der zweiten Stufe der Selektivitätsprüfung –auf die relevanten Bereiche zu beschränken ist. Dies dürften zum einen mit Blick auf die Binnenmarktfinalität des Beihilferechts Sonderregeln für grenzüberschreitende Sachverhalte sein, sei es durch den Export privilegierende Regelungen85, sei es durch vergünstigende Sonderregimes mit dem Ziel, mobile ausländische Produktionsfaktoren zu attrahieren. Bezüglich letzterer sollte vielmehr die Bestimmung einer einheit-

Review 15 (2016), 428, (436 f.); Lovdahl Gormsen, Journal of European Competition Law 7 (2016), 369, (370); Smit, EC Tax Review 25 (2016), 109 ff. 83 Vgl. GA Wahl, Schlussanträge v. 20.12.2017 – C-203/16 P, ECLI:EU:C:2017:1017 – Andres (ex-Heitkamp) Rz. 187. 84 O’Brien, European Law Review, 30:4 (2005), 231; Wattel, World Tax Journal 5:1 (2013), 129. 85 So weist GA Kokott, Schlussanträge v. 9.11.2017 – verb. Rs. C-234/16 und C-235/16, ECLI:EU:C:2017:853 – ANGED Rz. 83 zu Recht darauf hin, dass es sich bei der in der Entscheidung World Duty Free streitigen Steuervergünstigung um eine Exportsubvention handelte.

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lichen externen Steuerstrategie im Vordergrund stehen86. Für die Konkretisierung könnte auch das soft law des Code of Conduct herangezogen werden. Zum anderen ist aber auch in Erinnerung zu bewahren, dass die Idee des Beihilferechts in einer verbesserten Effizienz im Binnenmarkt liegt. Hierfür ist im Sinne einer Schumpeter’schen Zerstörung erforderlich, dass schwache und wenig leistungsfähige „Zombie“-Unternehmen den Markt verlassen und effiziente Unternehmen entsprechende Wachstumschancen haben. Dementsprechend sind Regelungen, mit denen Unternehmen in (individuellen, nicht makroökonomischen) Krisen am Leben erhalten werden, besonders problematisch. In solchen Fällen ist dann genau zu prüfen – was indessen eine interne Rechtfertigung nicht ausschließt, vorausgesetzt, dass die Regelung entsprechend zielgenau auf steuerimmanente Gründe beschränkt ist und nicht stattdessen Sozialzwecke verfolgt. Andere steuerpolitische Irrationalitäten wären hingegen hinsichtlich ihrer konkreten Ausgestaltung auf eine unterschiedliche Behandlung von vergleichbaren Unternehmen zu überprüfen. Weitere Beschränkungen könnten auf der Rechtsfolgenseite vorgenommen werden. Insbesondere ist davon auszugehen, dass den betroffenen Unternehmen ein (auch: unions-) grundrechtlich fundierter Anspruch auf Notifikation der Beihilfe durch die sie gewährenden Mitgliedstaaten zusteht. Weiterhin können die problematischen Rechtsfolgen der Beihilfe vermieden werden, wenn eine Ausweitung der Beihilfe auf alle zulässig ist. Drittens schließlich sollten die Möglichkeiten genutzt werden, durch Sekundärrecht, aber auch durch soft law die Rechtssicherheit zu vergrößern. Wenn diese größtenteils schon de lege lata bestehenden Möglichkeiten genutzt werden, kann das Beihilferecht erhebliche ökonomische Effizienzgewinne für Wirtschaft und Bürger bringen. Die Beihilfekontrolle bedeutet dann nicht das Ende der mitgliedstaatlichen Souveränität auf dem Gebiet der Steuerpolitik, sondern beschränkt sich auf die binnenmarktkritischen Bereiche. Es schützt vor Subventionswettlauf der Mitgliedstaaten und sichert eine effiziente Produktion zum Wohle der Unternehmen und der Verbraucher. Solchermaßen verstanden hilft die Beihilfekontrolle, den Binnenmarkt zu verwirklichen, die öffentlichen Haushalte zu schonen und Rationalitätsgewinne für die Steuergesetzgebung zu sichern, ohne die Mitgliedstaaten und ihre Parlamente zu entmündigen.

86 Bedenklich erscheint es aber, wenn die externe Strategie ihrerseits in Drittstaatenabkommen Beihilfeverbote aufnehmen will, solange diese nicht hinreichend präzise sind und die Frage der Kontrollinstanz klären.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … C. V. 4.

Praxis der Vorabentscheidungsersuchen in der Finanzgerichtsbarkeit Von Hans-Friedrich Lange

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtsgrundlagen und Funktion von Vorabentscheidungsersuchen 1. Rechtsgrundlagen von Vorabentscheidungsersuchen 2. Funktion von Vorabentscheidungs­ ersuchen III. Vorabentscheidungsersuchen der Finanzgerichtsbarkeit – zahlenmäßige Betrachtung 1. Entwicklung der Gesamtzahl der Vor­abentscheidungsersuchen an den EuGH 2. Spitzenstellung deutscher Gerichte 3. Spitzenstellung der Finanzgerichts­ barkeit 4. Aufteilung der finanzgerichtlichen ­Vorabentscheidungsersuchen nach Sachgebieten IV. Vorlagepraxis des BFH – Rechtliche Ausgangslage und Umsetzung in der Praxis 1. Gegenstand des Vorabentscheidungs­ ersuchens – Vorlagefrage 2. Vorlagepflicht und Ausnahmen a) Keine Vorlage bei fehlender Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage b) Keine Vorlage bei bereits geklärter Rechtsfrage c) Keine Vorlage bei zweifelsfreier Beantwortung der Rechtsfrage V. Verfassungsbeschwerde wegen Nichtvorlage des BFH an den EuGH 1. Zahl der Nichtvorlagen des BFH an den EuGH

2. Der EuGH als gesetzlicher Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) bei Fragen des Unionsrechts 3. Prüfungsrahmen des Bundesverfassungsgerichts bei Unterlassen einer Vorlage an den EuGH 4. Fallgruppen der Verletzung der Vorlagepflicht a) Grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht b) Bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft c) Unvertretbare Überschreitung des Beurteilungsrahmens VI. Vorlagepraxis der Finanzgerichte – Rechtliche Ausgangslage und ­Umsetzung in der Praxis 1. Vorlagerecht 2. Vorlagepflicht 3. Beispiele für Vorabentscheidungs­ ersuchen der Finanzgerichte VII. Zeitpunkt und Inhalt von Vorab­ entscheidungsersuchen 1. Zeitpunkt von Vorabentscheidungs­ ersuchen 2. Inhalt von Vorabentscheidungs­ ersuchen VIII. Verfahrensfragen IX. Ablauf des Vorabentscheidungs­ verfahrens beim EuGH X. Verfahrensfortgang nach Abschluss des Vorabentscheidungsverfahrens XI. Resümee

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I. Einleitung Das Europäische Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) nimmt – wie sich an der wachsenden Zahl der Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu steuerrechtlichen Fragen ablesen lässt – immer stärkeren Einfluss auf das Steuerrecht der Mitgliedstaaten1. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (Union) hatten neben der Zollunion2 in den Art. 90 ff. EGV auch steuerrechtliche Bestimmungen, und zwar eng umgrenzte Diskriminierungsverbote3 und für den Teilbereich der indirekten Steuern einen Harmonisierungsauftrag4 geschaffen5. Der EuGH hat den Einfluss des Unionsrechts schon frühzeitig auf nicht harmonisierte Bereiche ausgedehnt und klargestellt, dass die Mitgliedstaaten auch ihre Befugnisse im Bereich des nicht harmonisierten Rechts der direkten Steuern unter Wahrung des Unionsrechts, insbesondere der Grundfreiheiten6, ausüben müssen7. Widerspricht das nationale Recht dem Unionsrecht, genießt das Unionsrecht Anwendungsvorrang vor früher oder später ergangenem nationalem Recht8. Der Bürger kann sich unter bestimmten Voraussetzungen sogar auf Unionsrecht berufen, das ihm nicht unmittelbar Rechte verleiht, sondern dessen Adressat nur die Mitgliedstaaten sind, z.B. auf eine Bestimmung aus dem EG-Vertrag oder auf eine Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheint9. 1 Vgl. z.B. Birk in FS Offerhaus, 1999, S. 163; Weber-Grellet in Deutscher Finanzgerichtstag 1, 2004, 39 (48 ff.); Spindler in Deutscher Finanzgerichtstag 3 (2006), S. 19 (20); Seer in Tipke/ Kruse, EURS Rz. 1; Kofler, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Europäischen Steuerrechts, in FS 100 Jahre BFH, S. 699 ff. 2 Art. 23 EGV. 3 Art. 90 f. EGV. 4 Art. 93 EGV. 5 Vgl. dazu Englisch, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Rechts der indirekten Steuern, in FS 100 Jahre BFH, S. 1491 ff. 6 Dies sind die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art.  45 AEUV), die Niederlassungsfreiheit (Art.  49 AEUV), die Dienstleistungsfreiheit (Art.  56 AEUV), die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) sowie der freie Warenverkehr (Art. 34 AEUV); daneben können von Bedeutung sein das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV) sowie die allgemeine Freizügigkeit (Art. 21 AEUV). Vgl. Weber-Grellet in Deutscher Finanzgerichtstag 1 (2004), S. 39 (41 ff., 45 f.). 7 Vgl. EuGH v. 28.1.1986 – C-270/83, ECLI:EU:C:1986:37 – Kommission/Frankreich, NJW 1987, 569 Rz. 24 ff.; v. 14.2.1995 – C-279/93, ECLI:EU:C:1995:31 – Schumacker, NJW 1995, 1207 Rz. 21 ff., m.w.N.; Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, Köln, 2002, 200 ff.(249 ff.); Englisch, StuW 2003, 88 ff.; Weber-Grellet in Deutscher Finanzgerichtstag 1 (2004), S. 39 (41 ff.); Kokott, Entwicklungslinien des EuGH zu den direkten Steuern, in FS 100 Jahre BFH, S. 735 ff. 8 Ständige Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil v. 15.7.1964  – C-6/64, ECLI:EU:C:1964:66  – Costa/E.N.E.L., NJW 1964, 2371; s. dazu Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, Diss. 2013. 9 Vgl. EuGH v. 17.12.1970 – C-33/70, ECLI:EU:C:1970:118 – Spa Sace; v. 19.1.1982 – C-8/81, ECLI:EU:C:1982:7  – Becker, UR 1982, 70; Schwenke, Unmittelbare Anwendung von Unionsrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 815 ff.

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Praxis der Vorabentscheidungsersuchen

Mit dem Vorabentscheidungsverfahren haben die Mitgliedstaaten ein System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH geschaffen10, das durch ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts an den EuGH eingeleitet wird. Dieser Beitrag beschreibt die Praxis der Vorabentscheidungsersuchen in der Finanzgerichtsbarkeit11.

II. Rechtsgrundlagen und Funktion von Vorabentscheidungsersuchen 1. Rechtsgrundlagen von Vorabentscheidungsersuchen Der EuGH entscheidet gemäß Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV12 im Wege der Vorabentscheidung auf Antrag der einzelstaatlichen Gerichte über die Auslegung des Unionsrechts oder über die Gültigkeit der Handlungen der Organe. Dies wird in Art. 267 AEUV13 wie folgt konkretisiert: Nach Art. 267 Abs. 1 AEUV entscheidet der EuGH im Wege der Vorabentscheidung a) über die Auslegung der Verträge, b) über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union. Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen (Art. 267 Abs. 2 AEUV). Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet(Art. 267 Abs. 3 AEUV). 2. Funktion von Vorabentscheidungsersuchen Die nationalen Gerichte haben Unionsrecht anzuwenden und das nationale Recht unionsrechtskonform auszulegen14; sie werden dabei funktional als Unionsgerichte 10 Vgl. z.B. EuGH v. 19.10.2017 – C-101/16, ECLI:EU:C:2017:775 – Paper Consult, MwStR 2017, 991 Rz. 28. 11 Zur Praxis des BFH bei Vorlagen an das BVerfG: Wacker, Vorlagepraxis des BFH, in FS 100 Jahre BFH, S. 781 ff. 12 Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV i.d.F. von 2016. 13 Art.  267 AEUV i.d.F. von 2016 (ursprünglich geregelt in Art.  177 EGV und danach in Art. 234 EGV); ergänzende Bestimmungen finden sich in Art. 23 und 23a der Satzung des EuGH und in Art. 93–118 der Verfahrensordnung des EuGH v. 25.9.2012, ABl. EU L 265, mit späteren Änderungen (curia.europa.eu). Zur Geschichte und Entwicklung des Vorabentscheidungsverfahrens vgl. Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 19 ff. 14 Vgl. dazu Rust, Unionsrechtskonforme Auslegung, in FS 100 Jahre BFH, S. 801 ff.

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tätig15. Die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts durch die Gerichte in den verschiedenen Mitgliedstaaten birgt die Gefahr divergierender Gerichtsentscheidungen. Eine einheitliche Rechtsanwendung innerhalb der Union können auch die obersten Gerichtshöfe der Mitgliedstaaten nicht sicherstellen. Deshalb sichert der EuGH gemäß Art. 19 Abs. 1 EUV die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Die verfahrensrechtliche Verbindung zwischen den nationalen Rechtsordnungen und dem Unionsrechtstellt das Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV i.V.m. Art. 267 AEUV her16. Das Vorabentscheidungsverfahren ist ein in den Rechtsstreit vor einem nationalen Gericht integriertes Zwischenverfahren17. Dabei ersucht ein nationales Gericht den EuGH um Klärung einer unionsrechtlichen Fragestellung, die es in einem konkreten Rechtsstreit für entscheidungserheblich hält. Wenn der EuGH die Frage beantwortet hat, entscheidet das nationale Gericht nach dieser Maßgabe den Rechtsstreit18. Das Vorabentscheidungsverfahren soll die ordnungsgemäße Anwendung und die einheitliche Auslegung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten sicherstellen19 und insbesondere verhindern, dass sich in den Mitgliedstaaten eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des Unionsrechts nicht im Einklang steht20. Es dient daneben aber auch der europäischen Integration, der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit sowie dem Individualrechtsschutz21. Erreicht werden sollen diese Ziele durch einen „Dialog“22, eine „Zusammenarbeit“23, eine „Kooperation“24, ein „Rechtsgespräch“25 zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten. Das Vorabentscheidungsverfahren ist nicht Teil eines hierarchischen Instanzenzugs; es beruht auf einer funktionsteilenden Zusammenarbeit gleichrangiger Rechtsprechungsorgane26. Dabei übt der EuGH seine Befugnis, im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung oder die Gültigkeit des Unionsrechts zu entscheiden, ausschließlich auf Initiative der nationalen Gerichte aus27, und zwar von 15 Vgl. Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 1; Fehling in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S. 932 Rz. 23.1. 16 Vgl. Spindler in Deutscher Finanzgerichtstag 3 (2006), S. 19 (20). 17 Vgl. Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 1; Seer in Tipke/Kruse, EURS Rz. 7. 18 Vgl. Fehling in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S. 933 Rz. 23.6. 19 Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – C-283/81, ECLI:EU:C:1982:335 – CILFIT, NJW 1983, 1257 Rz. 7; v. 9.9.2015 – C-72/14 u.a., ECLI:EU:C:2015:564 – van Dijk, ZESAR 2016, 333 Rz. 54. 20 Vgl. EuGH v. 15.9.2005 – C-495/03, ECLI:EU:C:2005:552 – Intermodal Transports, HFR 2005, 1236 Rz. 29. 21 Vgl. Hirsch in FS Offerhaus, 1999, S. 103 (104, 115); Spindler in Deutscher Finanzgerichtstag 3 (2006), S. 19 (20); Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 1. 22 Vgl. z.B. Hirsch in FS Offerhaus, 1999, S. 103 (111). 23 Vgl. z.B. EuGH v. 19.10.2017 – C-101/16, ECLI:EU:C:2017:775 – Paper Consult, MwStR 2017, 991 Rz. 28. 24 Vgl. Birkenfeld in FS Offerhaus, 1999, S. 133 (162). 25 Vgl. Rösler, EuZW 2014, 606. 26 Vgl. Spindler in Fachkongress der Steuerberaterkammer Stuttgart 2006, 9 (13). 27 Vgl. Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV: „auf Antrag der einzelstaatlichen Gerichte“.

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Amts wegen unabhängig davon, ob die Beteiligten des Ausgangsrechtsstreits eine Anrufung des EuGH angeregt haben28. Das Vorabentscheidungsverfahren nimmt mit etwa 70 % aller Verfahren in der Arbeit des EuGH den größten Raum ein29. Im Jahr 2016 gingen beim EuGH 470 Vorabentscheidungsersuchen ein; noch nie war die Zahl der Vorlagen zur Vorabentscheidung so hoch30.

III. Vorabentscheidungsersuchen der Finanzgerichtsbarkeit – ­zahlenmäßige Betrachtung 1. Entwicklung der Gesamtzahl der Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH Die erste Vorlage an den EuGH stammt aus dem Jahr 1961. Danach stieg die Zahl der beim EuGH eingegangenen Vorabentscheidungsersuchen von Jahr zu Jahr, z.B. über 32 Vorlagen im Jahr 1970, 99 Vorlagen im Jahr 1980, 141 Vorlagen im Jahr 1990, 224 Vorlagen im Jahr 2000, 385 Vorlagen im Jahr 2010 auf 470 Vorlagen im Jahr 201631. Etwa 85  % aller Vorabentscheidungsverfahren betreffen Fragen der Auslegung des Unionsrechts; der Rest entfällt auf Fragen der Gültigkeit32 und der Anwendbarkeit33 von Unionsrecht34. 2. Spitzenstellung deutscher Gerichte Die deutschen Gerichte haben das Vorabentscheidungsverfahren von jeher rege genutzt35. Sie hatten und haben dabei die „Spitzenstellung“ inne36: Von den bis Ende 2016 von den Gerichten der Mitgliedstaaten an den EuGH gerichteten 9.616 Vorlagen zur Vorabentscheidung entfielen 2.300 auf deutsche Gerichte37, also knapp 24 %. Erst mit weitem Abstand folgen Italien mit 1.388, die Niederlande mit 975, Frankreich mit 954, Belgien mit 820 und das Vereinigte Königreich mit 612 Vorabentschei-

28 Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – C-283/81, ECLI:EU:C:1982:335 – CILFIT, NJW 1983, 1257 Rz. 9. 29 Vgl. Hirsch in FS Offerhaus, 1999, S. 103. 30 Vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Jahresbericht 2016, Rechtsprechungstätigkeit, curia.europa.eu, S. 84 (92). 31 Vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Jahresbericht 2016, Rechtsprechungstätigkeit, curia.europa.eu, S. 109 f. 32 Vgl. z.B. FG Düsseldorf v. 20.4.2016 – 4 K 1099/14 Z, juris. 33 Vgl. z.B. BFH v. 27.9.2012 – III R 40/09, BStBl. II 2014, 470. 34 Vgl. Stadler, WuW 1994, 824 (825); Hirsch in FS Offerhaus, 1999, S. 103 (106). 35 Vgl. Stadler, WuW 1994, 824 (828). 36 Vgl. Rösler, EuR 2012, 392. 37 Vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Jahresbericht 2016, Rechtsprechungstätigkeit, curia.europa.eu, S. 111 f.

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dungsersuchen38. Bei der durchschnittlichen Zahl von Vorabentscheidungsersuchen pro Jahr in den Mitgliedstaaten im Zeitraum von 2003 bis 2012 führt Deutschland mit 63 deutlich, gefolgt von Italien mit 42, den Niederlanden mit 28, Belgien mit 26, Frankreich mit 22, dem Vereinigten Königreich mit 19 und Österreich mit 1739. Als mögliche Ursachen dafür, dass die Gerichte einiger Mitgliedstaaten dem EuGH deutlich seltener vorlegen als die Gerichte anderer Mitgliedstaaten, werden genannt (als außerrechtliche Faktoren) der Beitrittszeitpunkt des jeweiligen Mitgliedstaates, seine Größe, seine wirtschaftliche Aktivität, seine sozialen Konflikte und seine spezifischen Interessenlagen sowie (unabhängig davon) die nationalen Gerichtsstrukturen, die Gerichtskosten, die juristische Ausbildung und das juristische „Millieu“ im Allgemeinen40. Es erscheint allerdings „nicht möglich, eine auch nur annähernd verbindliche Formel aufzustellen, die die besagten Unterschiede erklären könnte“41. Als ein zentraler Faktor für die unterschiedliche Zahl der Vorabentscheidungsersuchender Mitgliedstaatendürfte aber anzusehen sein die (insbesondere von der Bevölkerungszahl abhängige) Zahl der bei den nationalen Gerichten anhängigen Rechtssachen, die potentiell Unionsrecht betreffen42. 3. Spitzenstellung der Finanzgerichtsbarkeit Innerhalb der deutschen Gerichte steht die Finanzgerichtsbarkeit seit jeher an der Spitze der EuGH-Vorlagen: Zwischen 1961 und 1994 stammte nahezu die Hälfte aller deutschen Vorlagen von den Finanzgerichten43. Von den bis Ende 2016 beim EuGH eingegangenen Vorabentscheidungsersuchen deutscher Gerichte entfielen auf den Bundesfinanzhof 313, den Bundesgerichtshof 213, das Bundesverwaltungsgericht 120, das Bundessozialgericht 76, das Bundesarbeitsgericht 37, das Bundesverfassungsgericht eines44 und auf andere Gerichte 1.54045. Bis Ende November 2017 belief sich die Zahl der Vorabentscheidungsersuchen deutscher Gerichte an den EuGH auf 2.440; davon stammen 318 vom BFH und 519 von den Finanzgerichten46. 38 Vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Jahresbericht 2016, Rechtsprechungstätigkeit, curia.europa.eu, S. 111 f. 39 Vgl. Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 46. 40 Vgl. Rösler, Die Vorlagepraxis der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2012, 392; s. dazu im Einzelnen Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 47 ff. (59 ff.). 41 So Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 67. 42 Vgl. Rösler, EuR 2012, 392 ff.; Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 67. 43 Vgl. Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, Diss. 2013, S. 263 (266) m.w.N. 44 Vgl. BVerfG v. 14.1.2014  – 2 BvE 13/13 u.a., BVerfGE 134, 366, NVwZ 2014, 501 (sog. „OMT-Beschluss“). 45 Vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Jahresbericht 2016, Rechtsprechungstätigkeit, curia.europa.eu, S. 113. 46 Auskunft der Pressestelle des EuGH v. 30.11.2017.

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Damit kamen knapp 35 % aller Vorlagen deutscher Gerichte aus der Finanzgerichtsbarkeit, die zu Recht als sehr „vorlagefreudig“ bezeichnet wird47. Überraschend ist dies nicht. Denn die Finanzgerichte und der BFH wurden bereits frühzeitig für den Einfluss und die Bedeutung des unmittelbar wirkenden Unionsrechts sensibilisiert48. Die ersten finanzgerichtlichen Vorabentscheidungsersuchen haben im Jahr 1965 das Hessische FG49 und das FG des Saarlandes50 dem EuGH vorgelegt51. Die ersten Vorlagen des BFH an den EuGH stammen aus dem Jahr 196752. Die Bedeutung der Finanzgerichtsbarkeit im Prozess der rechtlichen Integration zwischen Unionsrecht und nationalem Recht kann daher gar nicht hoch genug eingeschätzt werden53. 4. Aufteilung der finanzgerichtlichen Vorabentscheidungsersuchen nach Sachgebieten Die Vorabentscheidungsersuchen des BFH an den EuGH betrafen schwerpunktmäßig die harmonisierten Rechtsbereiche des Zollrechts sowie des Umsatzsteuerrechts54. Dabei dominieren die Auslegungsfragen. Fragen danach, ob Unionsrecht gültig ist, wurden seltener gestellt55. In Zollsachen hat der VII. Senat des BFH bis 2004 dem EuGH insgesamt 140 Vorabentscheidungsersuchen (Auslegung des gemeinsamen Zolltarifs; Auslegung des Zollkodex; gemeinschaftsrechtliche Vorschriften der Kombinierten Nomenklatur 1993) vorgelegt56. Von den bis Ende 2016 beim EuGH eingegangenen 313 Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs57 entfielen 189 auf den u.a. für Zölle zustän­ digen VII. Senat des BFH58. In diesem Zeitraum entfielen 78 Vorabentscheidungser47 Vgl. Spindler in Deutscher Finanzgerichtstag 3 (2006), S. 19 (20); Hirsch in FS Offerhaus, 1999, S. 103. 48 Vgl. Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, Diss. 2013, S. 263. 49 Nicht veröffentlicht (s. dazu EuGH v. 1.12.1965 – C-16/65, ECLI:EU:C:1965:117 – Schwarze, NJW 1966, 319). 50 V. 28.10.1965 – II 357-358/64, EFG 1966, 73 (s. dazu EuGH v. 16.6.1966 – C-57/65, ECLI:EU:C:1966:34 – Lütticke, NJW 1966, 1630). 51 Auskunft der Pressestelle des EuGH v. 30.11.2017. 52 BFH v. 25.4.1967 – VII 198/63, BFHE 88, 266 (s. dazu EuGH v. 13.12.1967 – C-17/67, ECLI:EU:C:1967:56 – Neumann, EuR 1968, 127) und BFH v. 18.7.1967 – VII 156/65, BFHE 89, 52 (s. dazu EuGH v. 3.4.1968 – C-28/67, ECLI:EU:C:1968:17 – Molkerei Zentrale Westfalen-Lippe, EuR 1968, 310). 53 Vgl. Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, Diss. 2013, S. 263 (265). 54 Vgl. Hirsch in FS Offerhaus (1999), S. 103 (112 ff.); 60 Jahre Bundesfinanzhof, Eine Chronik, 2010, S.  65; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, Diss. 2013, S. 263 (264). 55 Juris-Recherche der Dokumentationsstelle des BFH im November 2017. 56 Vgl. Weber-Grellet in Deutscher Finanzgerichtstag 1 (2004), S. 39 (50). 57 Vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Jahresbericht 2016, Rechtsprechungstätigkeit, curia.europa.eu, S. 113. 58 Die ersten 97 Vorabentscheidungsersuchen des BFH (von 1967–1989) ergingen sämtlich zum Zollrecht.

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suchen auf die für das Umsatzsteuerrecht zuständigen Senate V und XI des BFH59. Von den acht im Jahr 2017 ergangenen Vorabentscheidungsersuchen des BFH betreffen sieben das Umsatzsteuerrecht60; sie ergingen zur Frage der Umsatzsteuerfreiheit von Fahrschulunterricht61, zur Frage, ob es sich bei der förmlichen Zustellung von Postsendungen um eine – umsatzsteuerfreie – Universaldienstleistung i.S. der Postrichtlinie handelt62, zur umsatzsteuerrechtlichen Sollbesteuerung63, zur umsatzsteuerrechtlichen Margenbesteuerung bei Reiseleistungen und zum ermäßigten Steuersatz bei Überlassung einer Ferienwohnung64, zur Umsatzsteuerfreiheit bestimmter Leistungen im Bankenbereich65 sowie zur Frage der Umsatzsteuerfreiheit medizinischer Analysen eines Facharztes für klinische Chemie und Laboratoriumsdiagnostik66. Aber auch andere Senate des BFH, insbesondere der I., der II. und der III. Senat, haben in den letzten Jahren zunehmend Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet. So ergingen die übrigen Vorabentscheidungsersuchen des BFH bis Ende 2016 u.a. zum Einkommensteuerrecht67, zum Erbschaftsteuerrecht68 und zum Kindergeldrecht69. Einer der Gründe dafür ist die „Entdeckung“ der direkten Steuern durch den EuGH, der die Ertragsteuern, unbeschadet dessen, dass diese gemeinschaftlich durchweg nicht harmonisiert sind, an den Grundfreiheiten des EG-Vertrages misst70. Nach einer Untersuchung aus dem Jahr 2006 stammte ca. ein Drittel aller anhängigen Vorabentscheidungsverfahren zu den direkten Steuern von der deutschen Finanzgerichtsbarkeit71. Bei den bislang dem EuGH vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen der deutschen Finanzgerichte ergibt sich ein entsprechendes Bild72. 59 Juris-Recherche der Dokumentationsstelle des BFH im November 2017. 60 Juris-Recherche im März 2018. 61 BFH v. 16.3.2017 – V R 38/16, BStBl. II 2017, 1017, Az. beim EuGH: C-449/17. 62 BFH v. 31.5.2017 – V R 30/15, BFHE 259, 453, UR 2018, 157, Az. beim EuGH: C-4/08; v. 31.5.2017 – V R 8/16, BFHE 259, 464, UR 2018, 161, Az. beim EuGH: C-5/08. 63 BFH v. 21.6.2017 – V R 51/16, BFHE 258, 505, HFR 2017, 1159, Az. beim EuGH: C-548/17. 64 BFH v. 3.8.2017 – V R 60/16, BFHE 258, 558, HFR 2017, 1163, Az. beim EuGH: C-552/17. 65 BFH v. 28.9.2017  – V R 6/15, BFHE 259, 562, BFH/NV 2018, 397, Az. beim EuGH: C-42/18. 66 BFH v. 11.10.2017 – XI R 23/15, BFHE 259, 567, HFR 2018, 157, Az. beim EuGH:C-700/17. 67 Vgl. z.B. BFH v. 14.5.2013  – I R 49/12, BStBl.  II 2014, 22 (zu §  50 Abs.  1 EStG); v. 16.9.2015 – I R 62/13, BStBl. II 2016, 205 (zu § 10 Abs. 2 Nr. 1 EStG). 68 Vgl. z.B. BFH v. 1.10.2014  – II R 29/13, BStBl.  II 2015, 232 (zu §  33 Abs.  1 ErbStG); v. 20.1.2015 – II R 37/13, BStBl. II 2015, 497 (zu § 27 Abs. 1 ErbStG). 69 Vgl. z.B. BFH v. 22.12.2011 – III R 32/05, BFHE 236, 11, HFR 2012, 508 (zu §§ 62 ff. EStG und Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71); v. 8.5.2014 – III R 17/13, BStBl. II 2015, 329 (zu § 62 ff. EStG und Art. 60 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009). 70 Vgl. Hirsch in FS Offerhaus, 1999, S. 103 (111 f.); 60 Jahre Bundesfinanzhof, Eine Chronik, 2010, S. 298; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, Diss. 2013, S. 263 (264 f.). 71 Vgl. Wunderlich, EuR Europarecht 2007, 7 (11). 72 Juris-Recherche der Dokumentationsstelle des BFH im November 2017.

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IV. Vorlagepraxis des BFH – Rechtliche Ausgangslage und Umsetzung in der Praxis 1. Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens – Vorlagefrage Welche unionsrechtlichen Fragestellungen vom nationalen Gericht vorgelegt werden können, regelt Art. 267 AEUV. Aus Art. 267 Abs. 1 Buchst. a AEUV ergibt sich zunächst, dass Fragen zur „Auslegung der Verträge“ statthaft sind. Damit ist das ge­ samte geschriebene und ungeschriebene Primärrecht gemeint73. Fragen nach der Gültigkeit des primären Unionsrechts können nicht Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens sein74. Namentlich im Bereich der direkten Steuern betreffen nach Art. 267 Abs. 1 Buchst. a AEUV statthafte Vorlagefragen – in Ermangelung umfassender primärrechtlicher Sonderregelungen  – häufig die Gewährleistung der Grundfreiheiten75. Die sodann in Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV genannte „Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“ umfasst entsprechende Fragen zum gesamten Sekundärrecht, also insbesondere zu den in Art. 288 AEUV aufgezählten Verordnungen, Richtlinien und Beschlüssen76. Zulässig sind auch Fragen nach der Auslegung der Urteile des EuGH, soweit damit nicht die Gültigkeit dieser Urteile in Frage gestellt wird77. Die Vorlagefrage muss auf die abstrakte Auslegung oder Gültigkeit des Unionsrechts beschränkt bleiben; Fragen zur Anwendbarkeit des Unionsrechts im Einzelfall sind grundsätzlich unzulässig78. Das Vorabentscheidungsverfahren darf sich insbesondere nicht auf die Auslegung von Vorschriften des nationalen Rechts oder auf Tatsachenfragen beziehen, die im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits aufgeworfen werden79. Dementsprechend legt der BFH Fragen zur Subsumtion des Sachverhalts unter das Unionsrecht und die dazu entwickelten Grundsätze der Rechtsprechung des EuGH ebenso wenig vor80 wie Fragen, die von einem vom FG nicht festgestellten bzw. anders gewürdigten Sachverhalt ausgehen81. Die zutreffende Formulierung von Vorlagefragen bereitet den nationalen Gerichten immer wieder Probleme. Allerdings ist der EuGH hier in seiner Spruchpraxis groß73 Vgl. Stadler, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art.  177 EG-Vertrag, WuW 1994, 824 (825); Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 3. 74 Vgl. Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 3. 75 Vgl. Fehling in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S. 934 Rz. 23.8. 76 Vgl. Stadler, WuW 1994, 824 (825); Fehling in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S. 934 Rz. 23.8. 77 Vgl. Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 10. 78 Vgl. BVerfG v. 6.10.2017 – 2 BvR 987/16, juris Rz. 4, m.w.N.; Classen in Schulze/Zuleeg/ Kadelbach, Europarecht, 3. Aufl. 2015, § 4 Rz. 70; Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 4. 79 Vgl. die Empfehlungen des EuGH an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (2016/C 439/01), ABl. EU v. 25.11.2016, 2, unter 8.; Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 4. 80 Vgl. BFH v. 14.5.2014 – XI R 13/11, BStBl. II 2014, 734 Rz. 42. 81 Vgl. BFH v. 14.5.2014 – XI R 13/11, BStBl. II 2014, 734 Rz. 42.

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zügig und formuliert unzulässige Vorlagefragen soweit möglich in zulässige Vorlagefragen um82. Problematisch ist dies allerdings, soweit der EuGH Vorlagefragen uminterpretiert und auch im Tenor seiner Entscheidungen über die gestellten Fragen hinausgehende Antworten gibt83. 2. Vorlagepflicht und Ausnahmen Wenn das nationale Gericht den Ausgangsrechtsstreit letztinstanzlich zu entscheiden hat – wie der BFH – ist es gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage verpflichtet. Nach der Rechtsprechung des EuGH84 muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, –– dass diese Frage nicht entscheidungserheblich ist, –– dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war oder –– dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt; ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union zu beurteilen. a) Keine Vorlage bei fehlender Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage Eine EuGH-Vorlage scheidet aus, wenn die Antwort auf die aufgeworfene unionsrechtliche Rechtsfrage nicht entscheidungserheblich ist. Das ist der Fall, wenn die Antwort auf die Frage, wie auch immer sie ausfällt, keinerlei Einfluss auf die Entscheidung des Rechtstreits haben kann85. Dafür ist grundsätzlich die Perspektive des vorlegenden Gerichts maßgebend86, das dabei aber die Funktion des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV zu beachten hat, zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben87. Der EuGH geht allerdings im Regelfall davon aus, dass das vorlegende Gericht, das allein über 82 Vgl. Spindler in Fachkongress der Steuerberaterkammer Stuttgart 2006, 9 (13); Fehling in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S. 935 f. Rz. 23.13. m.w.N. 83 Vgl. Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 7 m.w.N. 84 Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – C-283/81, ECLI:EU:C:1982:335 – CILFIT, NJW 1983, 1257, LS und Rz. 21; v. 9.9.2015 – C-72/14 u.a., EU:C:2015:564 – van Dijk, ZESAR 2016, 333 Rz. 55. 85 Vgl. EuGH v. 6.10.1982  – C-283/81, ECLI:EU:C:1982:335  – CILFIT, NJW 1983, 1257 Rz. 10. 86 Vgl. Fehling in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S. 934 Rz. 23.10. 87 Vgl. z.B. EuGH v. 13.7.2017  – C-354/16, ECLI:EU:C:2017:539  – Kleinsteuber, DB 2017, 1977 Rz. 61 m.w.N.

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Praxis der Vorabentscheidungsersuchen

die unmittelbare Kenntnis des Sachverhalts verfügt, die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils am besten beurteilen kann88, und beantwortet selbst bei erheblichen Zweifeln an der Erforderlichkeit des Vorabentscheidungsersuchens die gestellten Fragen89. Der EuGH spricht von einer „Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts“90 und lehnt es nur dann ab, über eine von einem nationalen Gericht gestellte Frage zu befinden, wenn „offensichtlich“ ist, dass die Frage in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist91 oder wenn er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind92. Da das mit einem Rechtsstreit befasste nationale Gericht die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung zu tragen hat, ist es Sache dieses Gerichts – und allein dieses Gerichts  –, im Hinblick auf die Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache sowohl zu beurteilen, ob ein Vorabentscheidungsersuchen für den Erlass seiner Entscheidung erforderlich ist, als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem EuGH vorlegt93. Dementsprechend sieht der BFH von einem Vorabentscheidungsersuchen ab, wenn einer bestimmten Vorlagefrage die Entscheidungserheblichkeit fehlen würde94. Das ist u.a. der Fall, wenn die von einem Beteiligten aufgeworfene Vorlagefrage für den konkreten Rechtsstreit „lediglich hypothetischer Natur“ ist95.

88 Vgl. z.B. EuGH v. 8.11.1990 – C-231/89, ECLI:EU:C:1990:386 – Gmurzynska-Bscher, UR 1992, 179 Rz. 20 ff.; v. 4.6.2013 – C-300/11, ECLI:EU:C:2013:363 – ZZ, NVwZ 2013, 1139 Rz. 36 m.w.N. 89 Vgl. z.B. EuGH v. 30.9.2003 – C-167/01, ECLI:EU:C:2003:512 – Inspire Art, DB 2003, 2219 Rz. 40 ff.; v. 4.6.2013 – C-300/11, ECLI:EU:C:2013:363 – ZZ, NVwZ 2013, 1139 Rz. 35 ff. 90 So EuGH v. 21.5.2015 – C-657/13, ECLI:EU:C:2015:331 – Verder LabTec, HFR 2015, 808 Rz. 29. 91 Vgl. z.B. EuGH v. 16.7.1992 - C-83/91, ECLI:EU:C:1992:332 – Meilicke, DB 1992, 1076. 92 Vgl. z.B. EuGH v. 4.6.2013  – C-300/11, ECLI:EU:C:2013:363  – ZZ, NVwZ 2013, 1139 Rz. 37 m.w.N.; v. 21.5.2015 – C-657/13, ECLI:EU:C:2015:331 – Verder LabTec, HFR 2015, 808 Rz.  29 m.w.N.; v. 19.10.2017  – C-101/16, ECLI:EU:C:2017:775  – Paper Consult, MwStR 2017, 991 Rz. 29 m.w.N.; Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 24 m.w.N. 93 Vgl. EuGH v. 6.10.1982  – C-283/81, ECLI:EU:C:1982:335  – CILFIT, NJW 1983, 1257 Rz.  10; v. 9.9.2015  – C-72/14 u.a., ECLI:EU:C:2015:564  – van Dijk, ZESAR 2016, 333 Rz. 57; v. 19.10.2017 – C-101/16, ECLI:EU:C:2017:775 – Paper Consult, MwStR 2017, 991 Rz.  29; Empfehlungen des EuGH an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (2016/C 439/01), ABl. EU C 439 v. 25.11.2016, 1 Rz. 3. 94 Vgl. z.B. BFH v. 28.10.2009 – I R 99/08, BStBl. II 2011, 1019 Rz. 32; v. 21.1.2015 – X R 40/12, BStBl. II 2016, 117 Rz. 86, 90; v. 18.2.2016 – V R 46/14, BFHE 253, 421, HFR 2016, 641 Rz. 49; v. 21.12.2017 – III R 14/16, BFHE 260, 379, BFH/NV 2018, 694 Rz. 14. 95 Vgl. BFH v. 28.5.2013 – XI R 11/09, BFHE 242, 84, HFR 2013, 819 Rz. 91.

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b) Keine Vorlage bei bereits geklärter Rechtsfrage Eine Vorabentscheidungsersuchen scheidet nach der Rechtsprechung des EuGH aus, „wenn die betreffende (unionsrechtliche) Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war“96. Diese Formulierung des EuGH ist missverständlich. Eine Vorlagepflicht scheidet nicht schon dann aus, wenn der EuGH eine unionsrechtliche Bestimmung bereits ausgelegt hat. Denn zum einen ist anerkannt, dass auch nach einer Entscheidung des EuGH über die Auslegung des Unionsrechts die entscheidungserhebliche Rechtsfrage bei Zweifeln durch ein anderes Gericht erneut vorgelegt werden kann97. Zum anderen besteht oftmals auch nach Ergehen einer EuGH-Entscheidung noch unionsrechtlicher Klärungsbedarf, so dass sich der EuGH wiederholt mit der Auslegung ein und derselben Bestimmung befassen musste. So ergingen z.B. im Bereich des Mehrwertsteuerrechts zahlreiche EuGH-Urteile zur Eigenschaft als Steuerpflichtiger und zum Vorsteuerabzug. Andererseits muss aber nicht bereits eine „gefestigte Rechtsprechung“ des EuGH vorliegen98. Es kommt vielmehr bei dieser Fallgruppe darauf an, ob die nunmehr zu beantwortende Rechtsfrage bereits durch die Rechtsprechung des EuGH geklärt ist99. Das kann auch schon bei einem einschlägigen EuGH-Urteil der Fall sein. Dementsprechend sieht der BFH von einem Vorabentscheidungsersuchen ab, wenn die Vorlagefrage durch den EuGH schon beantwortet wurde100. c) Keine Vorlage bei zweifelsfreier Beantwortung der Rechtsfrage aa) Theorie Ein Vorabentscheidungsersuchen scheidet nach der Rechtsprechung des EuGH ferner aus, „wenn die richtige Anwendung des (Unionsrechts) derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt“101. Das ist der Fall, wenn die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig ist („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offen lässt („acte éclairé“)102. 96 Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – C-283/81, ECLI:EU:C:1982:335 – CILFIT, NJW 1983, 1257 LS und Rz. 21; v. 9.9.2015 – C-72/14 u.a., ECLI:EU:C:2015:564 – van Dijk, ZESAR 2016, 333 Rz. 55. 97 Vgl. BFH v. 22.2.2017 – I R 2/15, BStBl. II 2017, 709 Rz. 41 m.w.N. 98 So die Empfehlungen des EuGH an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (2016/C 439/01), ABl. EUC 439 v. 25.11.2016, 2 Rz. 6. 99 Vgl. Fehling in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S.  937 Rz.  23.16 m.w.N. 100 Vgl. z.B. BFH v. 30.1.1997  – V R 27/95, BFHE 182, 416, BFH/NV 1997, 241 Rz.  16; v. 21.1.2015 – X R 40/12, BStBl. II 2016, 117 Rz. 86, 95. 101 Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – C-283/81, ECLI:EU:C:1982:335 – CILFIT, NJW 1983, 1257 LS und Rz. 21; v. 9.9.2015 – C-72/14 u.a., ECLI:EU:C:2015:564 – van Dijk, ZESAR 2016, 333 Rz. 55. 102 Vgl. BVerfG v. 28.1.2014  – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (233) Rz.  184; v. 15.12.2016 – 2 BvR 221/11, juris Rz. 37.

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Der EuGH hat in seinem für das Vorabentscheidungsverfahren grundlegenden EuGH-Urteil CILFIT aus dem Jahr 1982 hierzu in Rz.  16 folgendes ausgeführt103: „Schließlich kann die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig sein, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt. Das innerstaatliche Gericht darf jedoch nur dann davon ausgehen, dass ein solcher Fall vorliegt, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, darf das innerstaatliche Gericht davon absehen, diese Frage dem Gerichtshof vorzulegen und sie stattdessen in eigener Verantwortung lösen.“ Diese – lediglich in den Entscheidungsgründen, nicht aber im Leitsatz der EuGH-­ Entscheidung CILFIT zu findenden – Formulierungen haben zu Recht Kritik erfahren104. Denn die seinerzeit (1982) vom EuGH für das Absehen von einer Vorlage verlangte „Überzeugung“ davon, „dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde“, gibt es praktisch nicht105. Sie bedeutet, dass das nationale Gericht eine Unionsvorschrift bzw. eine bestimmte Auslegung erstens aus der eigener Perspektive für eindeutig halten und zweitens klären muss, ob diese Auslegung bar aller vernünftiger Zweifel ist, und zwar sowohl in seinen eigenen Augen als auch in denen der Gerichte der anderen Mitgliedstaaten und des EuGH106. Dieser Prüfungsmaßstab des EuGH wurde deshalb als „nicht hand­ habbar“ und sogar als „unsinnig“ bezeichnet107. Seine strikte Anwendung würde dazu führen, dass die nationalen Gerichte nahezu in jeden Fall, in dem eine Frage des Unionsrechts entscheidungserheblich ist, diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen müssten108 – erst recht dann, wenn (bereits) das FG diese Auslegungsfrage in dem angefochtenen Urteil anders als nunmehr der BFH beantwortet hatte. Der EuGH hat offenbar die Kritik ernst genommen und diese Formulierungen aus Rz. 16 seines CILFIT-Urteils– soweit ersichtlich – später nur noch einmal (zur Abgrenzung) teilweise wiederholt109 und zuletzt nicht mehr verwendet110.

103 Vgl. EuGH v. 6.10.1982  – C-283/81, ECLI:EU:C:1982:335  – CILFIT, NJW 1983, 1257 Rz. 16. 104 Vgl. Lehner in FS Spindler, 2011, S.  329 (333  ff.) m.w.N.; Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 33. 105 Zutreffend: Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 212 ff. 106 Vgl. Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 213. 107 So Generalanwalt Colomer, Schlussanträge v. 30.6.2005 in der Rs. C-461/03, ECLI:EU:C:2005:415 – Gaston Schul Douane-expediteur Rz. 52. 108 Vgl. Fehling in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S. 937 Rz. 23.17: „Vorlagepflicht die Regel“. 109 Vgl. EuGH v. 15.9.2005 – C-495/03, ECLI:EU:C:2005:552 – Intermodal Transports, HFR 2005, 1236 Rz. 39. 110 Vgl. z.B. EuGH v. 9.9.2015 – C-72/14 u.a., ECLI:EU:C:2015:564 – van Dijk, ZESAR 2016, 333 Rz. 55 ff.; Lehner in FS Spindler, 2011, S. 329 (336) m.w.N.

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bb) Praxis Das entspricht der Praxis des BFH. Er hat lediglich in älteren Entscheidungen – zuletzt 2004 (formelhaft)  – ausgeführt, der Senat halte „die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts im vorliegenden Fall für offenkundig“; er sei „davon überzeugt, dass für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den EuGH die gleiche Gewissheit bestünde“111. Nach 2004 hat der BFH – soweit ersichtlich – diese Begründung bei Ablehnung einer EuGH-Vorlage nicht mehr verwendet112. Üblicherweise lehnt der BFH ein Vorabentscheidungsersuchen unter Zitierung des CILFIT-Urteils des EuGH und unter Hinweis auf bereits vorhandene einschlägige EuGH-Rechtsprechung mit der Begründung ab, er halte die Unionsrechtlage für „eindeutig“113, für „zweifelsfrei“114, für „geklärt“115 oder für „hinreichend geklärt“116. Legt der BFH dagegen trotz Vorliegen einschlägiger EuGH-Rechtsprechung dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung vor, begründet er dies damit, diese Rechtsprechung sei nicht eindeutig117, z.B. weil der Inhalt eines bestimmten EuGH-Urteils auslegungsbedürftig ist118oder sein Anwendungsbereich zweifelhaft ist119. Allerdings ist es oft schwierig, das Unionsrecht unter Heranziehung von Präzedenzentscheidungen120 des EuGH zu ähnlichen Auslegungsfragen auszulegen121. Es kommt hinzu, dass die Urteile des EuGH häufig nicht leicht zu verstehen sind, da sie oft in verschachtelten Sätzen formuliert sind und in ihrer deutschen Fassung stets das Ergebnis einer Übersetzung aus dem Französischen, der gerichtsinternen Arbeitssprache des EuGH122, sind – auch wenn in dem Verfahren Deutsch die Verfahrens-

111 Vgl. BFH v. 8.7.2004 – VII R 60/03, BFH/NV 2005, 84 Rz. 19. 112 Vgl. Lehner in FS Spindler, 2011, S. 329 (337 ff.) m.w.N. 113 Vgl. z.B. BFH v. 30.3.2010  – VII R 35/09, BStBl.  II 2011, 74 Rz.  15; v. 19.7.2017  – I R 87/15, BFHE 259, 435, HFR 2018, 151 Rz. 23; v. 27.7.2017 – III R 17/16, BFH/NV 2018, 201 Rz. 15. 114 Vgl. z.B. BFH v. 19.2.2014 – XI R 9/13, BStBl. II 2014, 567 Rz. 46; v. 12.10.2016 – XI R 5/14, BStBl. II 2017, 500 Rz. 47; v. 17.5.2017 – X R 10/15, BStBl. II 2017, 1251 Rz. 42. 115 Vgl. z.B. BFH v. 28.5.2013  – XI R 11/09, BFHE 242, 84, HFR 2013, 819 Rz.  90; v. 30.8.2017 – XI R 37/14, UR 2017, 956 Rz. 26. 116 Vgl. z.B. BFH v. 27.9.2017 – XI R 18/16, ZInsO 2017, 2765 Rz. 26. 117 Vgl. z.B. BFH v. 6.8.2013  – VIII R 39/12, BFHE 242, 324, HFR 2013, 1081 Rz.  88; v. 6.4.2016 – V R 25/15, BFHE 254, 139, HFR 2016, 1010; v. 6.4.2016 – XI R 20/14, BFHE 254, 152, HFR 2016, 1014; v. 3.8.2017 – V R 60/16, BFHE 258, 558, HFR 2017, 1163 Rz. 16 (Az. beim EuGH: C- 552/17); v. 11.10.2017 – XI R 23/15, BFHE 259, 567, HFR 2018, 157 Rz. 32 ff., 36 ff. (Az. beim EuGH: C-700/17). 118 Vgl. z.B. BFH v. 21.9.2016 – V R 29/15, BFHE 255, 315, HFR 2017, 243 (Az. beim EuGH: C-660/16); v. 21.9.2016 – XI R 44/14, BFHE 255, 328, HFR 2017, 247 (Az. beim EuGH: C-661/16). 119 Vgl. z.B. BFH v. 20.2.2013 – XI R 26/10, BStBl. II 2013, 464 Rz. 26 ff.; v. 11.11.2014 – VII R 40/13, BFHE 248, 277, HFR 2015, 353 Rz. 31 ff. 120 Vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, EURS Rz. 13. 121 Zutreffend Lehner in FS Spindler, 2011, S. 329 (338 f.); vgl. z.B. Treiber, UR 2017, 828. 122 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, EURS Rz. 33, 35.

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sprache war123. Es überrascht deshalb nicht, dass in der Literatur einerseits gelegentlich beklagt wird, der BFH habe in einem Rechtsstreit zu Unrecht die einschlägige unionsrechtliche Rechtslage als eindeutig beurteilt und deshalb von einer EuGH-Vorlage abgesehen, und andererseits gelegentlich kritisiert wird, dass der BFH eine bestimmte Rechtsfrage des Unionsrechts als zweifelhaft angesehen und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt habe. Die eine EuGH-Vorlage rechtfertigenden Zweifel des nationalen Gerichts müssen nicht den Grad einer richterlichen Überzeugung im Sinne von §  96 Abs.  1 Satz  1 FGO124 erlangt haben; erforderlich ist aber, dass das Gericht ernsthaft und auf der Basis einer fundierten Abwägung zwischen (mindestens) zwei Auslegungsmöglichkeiten schwankt125. Dementsprechend begründet der BFH ein Vorabentscheidungsersuchen oftmals damit, zur unionsrechtlichen Rechtslage gebe es unterschiedliche (gerichtliche) Rechtsauffassungen126. Geht es dabei um die authentische Interpretation einer von zwei Senaten des BFH unterschiedlich verstandenen Rechtsprechung des EuGH127, besteht ein Vorrang der Anrufung des EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV gegenüber einer dann ebenfalls in Betracht kommenden Anrufung des Großen Senats des BFH gemäß § 11 Abs. 2 und 3 FGO128.

V. Verfassungsbeschwerde wegen Nichtvorlage des BFH an den EuGH 1. Zahl der Nichtvorlagen des BFH an den EuGH Wie oft der BFH in der Vergangenheit ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH erwogen, aber dann doch davon abgesehen hat, lässt sich mit Hilfe einer Juris-Recherche nicht feststellen. Denn der BFH hat von Amts wegen zu prüfen, ob eine Vorlage der Sache an den EuGH nach Art.  267 Abs.  3 AEUV in Betracht kommt129. Deshalb finden sich in den Gründen von BFH-Entscheidungen Ausführungen zur Frage einer EuGH-Vorlage in der Regel nur dann, wenn ein Beteiligter eine EuGH-Vorlage ausdrücklich beantragt oder – richtigerweise – (lediglich) angeregt hat. Eine Juris-Recherche kann deshalb nur Aufschluss darüber geben, in wie vielen Fällen der BFH eine EuGH-Vorlage ausdrücklich abgelehnt hat. So wurde im Jahr 2011 mit Hilfe einer Juris-Recherche festgestellt, der BFH habe 262 Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gestellt, während er in ca. 200 Fällen eine Vorlage

123 Vgl. Lippross, Umsatzsteuer, 24. Aufl. 2017, S. 49 m.w.N. 124 Vgl. dazu z.B. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 96 FGO Rz. 55 ff. m.w.N. 125 Vgl. Fehling in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, S.  934 Rz.  23.9 m.w.N. 126 Vgl. z.B. BFH v. 21.9.2016 – XI R 44/14, BFHE 255, 328, HFR 2017, 247 (Az. beim EuGH: C-661/16). 127 Vgl. dazu z.B. Rauch, UR 2017, 885 (890 f.). 128 Vgl. BFH v. 21.9.2016  – XI R 44/14, BFHE 255, 328, HFR 2017, 247 Rz.  66 (Az. beim EuGH: C-661/16). 129 Vgl. BFH v. 16.7.2007 – VII B 321/06, BFH/NV 2007, 2373 Rz. 11.

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abgelehnt habe130. Nach einer weiteren, überschlägigen Juris-Recherche131 hat der BFH bei Revisionen zum Umsatzsteuerrecht im Jahr 2015 in 14 Fällen und im Jahr 2016 in 9 Fällen ausdrücklich keine Veranlassung für ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gesehen. Tatsächlich ist der Anteil der Fälle, in denen der BFH die Frage einer EuGH-Vorlage geprüft und verneint hat, aber weit höher als in Juris dokumentiert. Das trifft nach den Erfahrungen des Verfassers zweifellos für das Umsatzsteuerrecht zu. Bei den Senatsberatungen über Umsatzsteuer-Revisionen, stellte sich – ohne dass das anschließend in den Entscheidungsgründen zum Ausdruck kam (und kommen musste) – in der Mehrzahl der Fälle die Frage einer Vorlage an den EuGH. Das kann nicht überraschen. Denn das Mehrwertsteuerrecht der Union ist für die Auslegung des nationalen Umsatzsteuerrechts zum bestimmenden Faktor geworden132. Jedenfalls für das Zollrecht dürfte Entsprechendes gelten. 2. Der EuGH als gesetzlicher Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) bei Fragen des Unionsrechts Der EuGH ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG133. Unter den Voraussetzungen des Art.  267 Abs.  3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den EuGH anzurufen134. Kommt ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens daher nicht nach oder stellt es ein Vorabentscheidungsersuchen, obwohl eine Zuständigkeit des EuGH nicht gegeben ist135, kann dem Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsrechtsstreits der gesetzliche Richter entzogen sein136. Allerdings rechtfertigt allein der Umstand, dass der EuGH einen Fall wie den beim nationalen Gericht anhängigen noch nicht entschieden hat, keine EuGH-Vorlage137. Auch ist Art. 267 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen, dass ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, nicht zur Anrufung des EuGH verpflichtet ist, nur weil 130 Vgl. Lehner in FS Spindler, 2011, S. 329. 131 Juris-Recherche der Dokumentationsstelle des BFH im November 2017. 132 Vgl. z.B. Birkenfeld in FS Offerhaus (1999), S. 133 ff.; Mellinghoff, UR 2013, 5 ff.; Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 5 ff.; Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 22 Rz. 300. 133 Vgl. BVerfGE 73, 339 (366); 82, 159 (192); 126, 286 (315); 128, 157 (186 f.); 129, 78 (105); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (230) Rz. 177. 134 Vgl. BVerfGE 82, 159 (192 f.); 128, 157 (187); 129, 78 (105); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (230) Rz. 177. 135 Vgl. BVerfG v. 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, BVerfGE 133, 277 (316) Rz. 91. 136 Vgl. BVerfGE 73, 339 (366 ff.); 126, 286 (315); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (231) Rz. 177; BVerfG v. 6.10.2017 – 2 BvR 987/16, juris Rz. 3 m.w.N. 137 So BFH v. 31.5.2017 – XI R 40/14, BFHE 258, 495, HFR 2017, 961 Rz. 59; v. 27.9.2017 – XI R 18/16, ZInsO 2017, 2765 Rz. 26; Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 228; vgl. aber auch BFH v. 3.8.2017 V R 60/16, BFHE 258, 558, HFR 2017, 1163 Rz. 18, 29.

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ein „niedrigeres“ einzelstaatliches Gericht in einer Rechtssache, die der beim erstgenannten Gericht anhängigen ähnelt und genau die gleiche Problematik betrifft, dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat. Es ist auch nicht verpflichtet, die Antwort auf diese Frage abzuwarten138. Unterlässt dagegen ein FG die Einholung einer Vorabentscheidung nach Art.  267 Abs. 2 AEUV, so wird den Beteiligten dadurch nicht der gesetzliche Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entzogen139. 3. Prüfungsrahmen des Bundesverfassungsgerichts bei Unterlassen einer ­Vorlage an den EuGH Allerdings stellt nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar140. Das BVerfG überprüft nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist141. Durch die zurückgenommene verfassungsrechtliche Prüfung behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das BVerfG wacht allein über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums142. Ein „oberstes Vorlagenkontrollgericht“ ist es nicht143. Waren deshalb früher erfolgreiche Verfassungsbeschwerden wegen Verletzung der Vorlagepflicht144 selten geblieben145, hat sich dieser Befund146 in den letzten Jahren 138 Vgl. EuGH v. 9.9.2015 – C-72/14 u.a., ECLI:EU:C:2015:564 – van Dijk, ZESAR 2016, 333 LS 2 und Rz. 63. 139 Vgl. BFH v. 3.2.1987 – VII B 129/86, BStBl. II 1987, 305 Rz. 8; Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 22 Rz. 303 m.w.N. 140 Vgl. BVerfGE 126, 286 (315); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (231 f.) Rz. 180. 141 Vgl. BVerfGE 126, 286 (315 f.); 128, 157 (187); 129, 78 (106); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BverfGE 135, 155 (232) Rz. 180. 142 Vgl. BVerfGE 126, 286 (316) m.w.N.; BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (232) Rz. 180. 143 Vgl. BVerfGE 126, 286 (316); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (232) Rz. 180; v. 6.10.2017 – 2 BvR 987/16, juris Rz. 6; v. 17.11.2017 – 2 BvR 1131/16, juris Rz. 25 m.w.N. 144 Vgl. grundlegend BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluss, BVerfGE 75, 223 (zu BFH v. 25.4.1985 – V R 123/84, BFHE 143, 383). 145 Vgl. z.B. BVerfG v. 11.1.2008 – 2 BvR 1812/06, HFR 2008, 629 (zu BFH v. 28.3.2006 – VII R 50/04, BFHE 213, 169, HFR 2006, 964); v. 4.9.2008 – 2 BvR 1321/07, HFR 2009, 189 (zu BFH v. 23.11.2006 – V R 67/05, BStBl. II 2007, 436); v. 4.9.2008 – 2 BvR 2150/07, HFR 2009, 177 (zu BFH v. 12.7.2007  – VII R 59/05, BFHE 217, 351, HFR 2007, 1144); v. 9.2.2010 – 2 BvR 1178/07, HFR 2010, 640 (zu BFH v. 10.1.2007 – I R 87/03, BStBl. II 2008, 22). 146 Vgl. Stadler, WuW 1994, 824 (827).

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geändert147, wobei allerdings das BVerfG – soweit ersichtlich – Entscheidungen der Finanzgerichte oder des BFH nach 1987148 nicht mehr beanstandet hat149. 4. Fallgruppen der Verletzung der Vorlagepflicht Das BVerfG hat diese „auf eine Willkürkontrolle reduzierte Prüfungsdichte“150 – die in der Literatur als zu großzügig kritisiert wird151 – anhand „beispielhafter Fallgruppen“ präzisiert152. Dem folgt der BFH153. a) Grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht Danach wird die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit einer unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt und das Unionsrecht somit eigenständig fortbildet (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht)154. Eine solche grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht liegt nicht vor, wenn sich ein letztinstanzliches Gericht mit der Frage, ob es gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zu einem Vorabentscheidungsersuchen verpflichtet ist, intensiv auseinandergesetzt und eine Pflicht zur Vorlage mithin offensichtlich erwogen hat155.

147 Vgl. z.B. BVerfG v. 3.3.2014  – 2 BvR 2083/11, WM 2014, 647; v. 10.12.2014  – 2 BvR 1549/07, ZESAR 2015, 291; v. 19.7.2016 – 2 BvR 470/08, NVwZ 2016, 1553 Rz. 51 ff.; v. 15.12.2016 – 2 BvR 221/11, juris; v. 6.10.2017 – 2 BvR 987/16, juris; v. 19.12.2017 – 2 BvR 424/17, juris. 148 Vgl. BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluss, BVerfGE 75, 223 (zu BFH v. 25.4.1985 – V R 123/84, BFHE 143, 383). 149 Vgl. z.B. BVerfG v. 11.4.2012 – 2 BvR 862/09, juris (Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde eines Finanzamts gegen das BFH-Urteil v. 26.11.2008 – I R 7/08, BFHE 224, 50, HFR 2009, 499). 150 So BVerfG v. 15.12.2016 – 2 BvR 221/11, juris Rz. 33; vgl. z.B. auch BVerfG v. 6.12.2006 – 1 BvR 2085/03, NVwZ 2007, 197 Rz. 36. 151 Vgl. z.B. D. Wolff, AöR 141 (2016), 40 (55 ff.); weitere Nachweise bei Wegener in Callies/ Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 36. 152 So BVerfG v. 15.12.2016 – 2 BvR 221/11, juris Rz. 33. 153 Vgl. BFH v. 13.7.2016 – VIII K 1/16, BStBl. II 2017, 198 Rz. 26 ff.; v. 7.2.2018 – XI K 1/17, BFHE 260, 410, BFH/NV 2018, 690 Rz. 22 ff. 154 Vgl. BVerfGE 82, 159 (195 f.); 126, 286 (316 f.); 128, 157 (187 f.); 129, 78 (106 f.); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (232) Rz. 181; v. 15.12.2016 – 2 BvR 221/11, juris Rz. 34. 155 Vgl. BVerfG v. 17.11.2017 – 2 BvR 1131/16, juris Rz. 31.

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b) Bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wird auch in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (sog. bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft)156. Dies hat das BVerfG z.B. im Fall Kloppenburg157 angenommen158. In dem zugrunde liegenden Fall war der BFH von einer Vorabentscheidung des EuGH159, die das FG in diesem Rechtsstreit in erster Instanz eingeholt hatte, mit der Begründung abgewichen, der EuGH habe seine Kompetenz überschritten160. Das BVerfG gab der gegen dieses BFH-Urteil eingelegten Verfassungsbeschwerde statt. Es führte aus, wenn der BFH der Vorabentscheidung nicht folgen wolle, sei er zu einer neuerlichen Vorlage an den EuGH verpflichtet, bei der er seine Bedenken einbringen könne161. Eine Entscheidung ohne eine solche Vorlage und gegen die Vorabentscheidung verletze willkürlich das Recht auf den gesetzlichen Richter162. c) Unvertretbare Überschreitung des Beurteilungsrahmens Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des EuGH noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), wird Art.  101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet163. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn das Fachgericht das Vorliegen eines „acte clair“ oder eines „acte éclairé“ willkürlich bejaht164. Das Gericht muss sich daher hinsichtlich des materiellen Unionsrechts hinreichend kundig machen. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs muss

156 Vgl. BVerfGE 82, 159 (195 f.); 126, 286 (316 f.); 128, 157 (187 f.); 129, 78 (106 f.); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BverfGE 135, 155 (232) Rz. 182; v. 15.12.2016 – 2 BvR 221/11, juris Rz. 35; v. 17.11.2017 – 2 BvR 1131/16, juris Rz. 27. 157 BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluss, BVerfGE 75, 223. 158 Vgl. BVerfG v. 6.9.2016 – 1 BvR 1305/13, NVwZ 2017, 53 Rz. 8, 12. 159 EuGH v. 22.2.1984 – C-70/83, ECLI:EU:C:1984, 71 – Kloppenburg. 160 BFH v. 25.4.1985 – V R 123/84, BFHE 143, 383 Rz. 37 f. 161 BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluss, BVerfGE 75, 223 Rz. 59. 162 BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluss, BVerfGE 75, 223 Rz. 60. 163 Vgl. BVerfGE 82, 159 (195 f.); 126, 286 (316 f.); 128, 157 (187 f.); 129, 78 (106 f.); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (232 f.) Rz. 183. 164 Vgl. BVerfG v. 28.1.2014  – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (233) Rz.  183; v. 15.12.2016 – 2 BvR 221/11, juris Rz. 36; v. 17.11.2017 – 2 BvR 1131/16, juris Rz. 28.

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es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren165. Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts166 die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offen lässt („acte éclairé“)167. Es bleibt allein dem nationalen Gericht überlassen, zu beurteilen, ob die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, und demgemäß zu entscheiden, ob es davon absieht, eine vor ihm aufgeworfene Frage nach der Auslegung des Unionsrechts dem Gerichtshof vorzulegen und sie stattdessen in eigener Verantwortung löst168. Folglich ist es allein ­Sache der einzelstaatlichen Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, in eigener Verantwortung und unabhängig zu beurteilen, ob sie es mit einem „acte clair“ zu tun haben169. Unvertretbar gehandhabt wird Art. 267 Abs. 3 AEUV im Falle der Unvollständigkeit der Rechtsprechung insbesondere dann, wenn das Fachgericht eine von vornherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage ohne sachlich einleuchtende Begründung bejaht170. Anders ist es, wenn die Einschätzung eines letztinstanzlichen Gerichts auf der Grundlage des von ihm angenommenen Sachverhalts, im konkreten Fall sei keine bislang ungeklärte oder unklare unionsrechtliche Frage entscheidungserheblich, aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden ist171.

VI. Vorlagepraxis der Finanzgerichte – Rechtliche Ausgangslage und Umsetzung in der Praxis 1. Vorlagerecht Nach Art. 267 Abs. 2 AEUV können die Gerichte der Mitgliedstaaten den EuGH mit einer Frage nach der Auslegung oder zur Gültigkeit des Unionsrechts befassen, wenn 165 Vgl. BVerfGE 82, 159 (196); 128, 157 (189); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (233) Rz. 184. 166 Vgl. BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg-Beschluss, BVerfGE 75, 223 (234) (zu BFH v. 25.4.1985  – V R 123/84, BFHE 143, 383); BVerfGE 128, 157 (188); 129, 78 (107); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (233) Rz. 184. 167 Vgl. BVerfGE 129, 78 (107); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (233) Rz. 184; v. 15.12.2016 – 2 BvR 221/11, juris Rz. 37. 168 Vgl. EuGH v. 9.9.2015 – C-72/14 u.a., ECLI:EU:C:2015:564 – van Dijk, ZESAR 2016, 333 Rz. 58 m.w.N. 169 Vgl. EuGH v. 9.9.2015 – C-72/14 u.a., ECLI:EU:C:2015:564 – van Dijk, ZESAR 2016, 333 Rz. 59. 170 Vgl. BVerfGE 82, 159 (196); 126, 286 (317); BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155 (233) Rz. 185; v. 15.12.2016 – 2 BvR 221/11, juris Rz. 38; v. 17.11.2017 – 2 BvR 1131/16, juris Rz. 29. 171 Vgl. BVerfG v. 17.11.2017 – 2 BvR 1131/16, juris Rz. 33.

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sie der Auffassung sind, dass für den Erlass ihrer Entscheidung eine Entscheidung des EuGH über diese Frage erforderlich ist. Ein FG als Instanzgericht ist grundsätzlich nicht verpflichtet, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen172. Daran ändert die Zulassungsabhängigkeit der Revision (§ 115 FGO) nichts173. Denn anders als für den BFH, für den nach Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Vorlagepflicht an den EuGH besteht, wenn sich eine Frage des Unionsrechts stellt, steht eine solche Vorlage gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV im Ermessen des FG („können“)174. Die nationalen Gerichte, deren Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, sind mithin nach dem Unionsrecht bei der Beurteilung, ob es gegebenenfalls erforderlich ist, dem EuGH ein Auslegungsersuchen zur Vorabentscheidung vorzulegen, „frei“175. Sie besitzen deshalb hinsichtlich der Vorlage grundsätzlich ein Wahlrecht, das vom BFH nicht nachgeprüft wird176. Unterlässt das FG die Einholung einer Vorabentscheidung, so liegt darin kein Verstoß gegen Verfahrensrecht177. 2. Vorlagepflicht Allerdings ist ein FG dann zu einer Vorlage an den EuGH verpflichtet, wenn nicht die Auslegung des Unionsrechts in Frage steht, sondern wenn das Gericht eine Bestimmung des Unionsrechts für ungültig hält; hier besteht ein Verwerfungsmonopol des EuGH178. Außerdem ist ein FG zu einer Klärung einer unionsrechtlichen Frage durch eine Vorabentscheidung beim EuGH verpflichtet, wenn unklar ist, ob und inwieweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum belässt, sofern Anlass zur Vorlage des nationalen Umsetzungsrechts wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG besteht179. Dass Art. 267 Abs. 2 AEUV einem nicht letztinstanzlichen Gericht aus unionsrechtlicher Sicht insofern einen größeren Entscheidungsspielraum einräumt, widerspricht dem nicht, weil die hier in Rede ste172 Vgl. z.B. BFH v. 3.4.2001 – V B 34/00, BFH/NV 2001, 1306 Rz. 13; FG Köln v. 24.2.2011 – 13 K 80/06, EFG 2011, 1651 Rz. 39; BFH v. 24.9.2015 – V R 9/14, BStBl. II 2015, 1067 Rz. 30. 173 Vgl. EuGH v. 4.6.2002  – C-99/00, ECLI:EU:C:2002:329  – Lyckeskog, HFR 2002, 945 Rz. 18; Seer in Tipke/Kruse EURS Rz. 7. 174 Vgl. dazu z.B. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 115 FGO Rz. 251. 175 Vgl. EuGH v. 15.9.2005 – C-495/03, ECLI:EU:C:2005:552 – Intermodal Transports, HFR 2005, 1236 Rz. 31. 176 Vgl. Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 22 Rz. 303. 177 Vgl. BFH v. 3.2.1987 – VII B 129/86, BStBl. II 1987, 305 Rz. 8. 178 Vgl. EuGH v. 22.10.1987 – C-314/85, ECLI:EU:C:1987:452 – Foto-Frost, NJW 1988, 1451; v. 6.12.2005 – C-461/03, ECLI:EU:C: 2005:742 – Gaston Schul Douane-expediteur, HFR 2006, 416 Rz.  17  ff.; v. 10.1.2006  – C-344/04, ECLI:EU:C:2006:10  – IATA und ELFAA, NJW 2006, 351 Rz. 27 ff.; Stadler, WuW 1994, 824 (827); Foerster, EuZW 2011, 901 (906). 179 Vgl. BVerfG v. 4.10.2011 – 1 BvL3/08, BVerfGE 129, 186, HFR 2011, 1367 Rz. 52.

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hende Vorlagepflicht ihre Grundlage im Vorbehalt der Entscheidungserheblichkeit nach Art.  100 Abs.  1 Satz  1 GG und damit im nationalen Verfassungsprozessrecht findet180. 3. Beispiele für Vorabentscheidungsersuchen der Finanzgerichte Eine Vorlage zur Vorabentscheidung kann sich namentlich dann als besonders nützlich erweisen, wenn vor dem nationalen Gericht eine neue Auslegungsfrage aufgeworfen wird, die von allgemeiner Bedeutung für die einheitliche Anwendung des Unionsrechts ist, oder wenn die vorhandene Rechtsprechung nicht die Hinweise zu bieten scheint, die in einem bisher noch nicht vorgekommenen rechtlichen oder tatsächlichen Rahmen erforderlich sind181. So liegt nach Auffassung des EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen z.B. dann nahe, wenn Zweifel bestehen, ob eine neu eingeführte Steuerbegünstigung eine nach Art. 107 Abs. 1 AEUV verbotene Beihilfe ist182. Eine entsprechende Frage hat u.a. das FG Hamburg dem EuGH vorgelegt183. Die im Jahr 2017 ergangenen zehn Vorabentscheidungsersuchen der Finanzgerichte184 zeigen die Vielfalt möglicher Fragestellungen. Sie betreffen –– die zolltarifliche Einreihung von Wirbelsäulenfixationssystemen185 und von Instant­ nudelgerichten186; –– die umsatzsteuerrechtliche Differenzbesteuerung für Kunstgegenstände, die einem Wiederverkäufer vom Urheber oder dessen Rechtsnachfolger innergemeinschaftlich geliefert wurden187; –– die Entlastung von Kapitalertragsteuer auf Gewinnausschüttungen an eine ausländische Muttergesellschaft, deren alleiniger Anteilseigner eine Kapitalgesellschaft mit Sitz im Inland ist188;

180 Vgl. BVerfG v. 4.10.2011 – 1 BvL 3/08, BVerfGE 129, 186, HFR 2011, 1367 Rz. 53. 181 So die Empfehlungen des EuGH an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (2016/C 439/01), ABl. EU C 439 v. 25.11.2016, 2 Rz. 5. 182 Vgl. EuGH v. 21.11.2013 – C-284/12, ECLI:EU:C:2013:755 – Deutsche Lufthansa, NVwZ 2014, 641 Rz. 44. 183 FG Hamburg v. 19.11.2013  – 4 K 122/13, DStRE 2014, 1255 (nachgehend EuGH v. 4.6.2015 – C-5/14, ECLI:EU:C:2015:354 – Kernkraftwerke Lippe-Ems, NVwZ 2015, 363); vgl. auch BFH v. 30.5.2017  – II R 62/14, BStBl.  II 2017, 916 zum Beihilfecharakter der Steuerbegünstigung nach § 6a GrEStG, Az. beim EuGH: C-374/17. 184 Juris-Recherche im Mai 2018. 185 FG Düsseldorf v. 19.4.2017 – 4 K 2101/16 U, juris, Az. beim EuGH: C-227/17. 186 FG Hamburg v. 19.7.2017 – 4 K 161/15, juris, Az. beim EuGH: C-471/17; v. 22.9.2017, juris, Az. beim EuGH: C-593/17. 187 FG Münster v. 11.5.2017 – 5 K 177/16 U, EFG 2017, 1222, Az. beim EuGH: C-264/17. 188 FG Köln v. 17.5.2017 -2 K 773/16, EFG 2017, 1518, Az. beim EuGH: C-440/17.

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–– die sofortige Besteuerung eines Wertzuwachses im Zeitpunkt des Wegzugs nach § 6 AStG189; –– die einkommensteuerrechtliche Abzugsbeschränkung von Vorsorgeaufwendungen bei beschränkt Steuerpflichtigen190; –– die Voraussetzungen der zollrechtlichen Bewilligung des Status eines zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten und die Zulässigkeit des Abfragens personenbezogener Daten191; –– die Frage, ob die Belastung ausländischer Pensionsfonds, die Dividenden von inländischen Kapitalgesellschaften beziehen, mit Kapitalertragsteuer gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstößt192 und –– Fragen zum Ort und zur Entstehung der Steuer einer Einfuhr bei Waren aus Drittländern, die über Deutschland nach Griechenland zum dortigen Endverbrauch gelangt sind193.

VII. Zeitpunkt und Inhalt von Vorabentscheidungsersuchen 1. Zeitpunkt von Vorabentscheidungsersuchen Ausgangspunkt für ein finanzgerichtliches Vorabentscheidungsersuchen ist das gerichtliche Verfahren vor dem FG oder dem BFH, bei dem sich eine Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung von Unionsrecht stellt. Ein nationales Gericht kann ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten, sobald es feststellt, dass es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf die Auslegung oder die Gültigkeit des Unionsrechts ankommt194. Wirft ein Rechtsstreit eine Rechtsfrage auf, die ein Gericht (dasselbe oder ein anderes) dem EuGH bereits in einem Rechtsstreit zwischen anderen Beteiligten gemäß Art. 267 AEUV vorgelegt hat, wird der nachfolgende Rechtsstreit in der Regel gemäß § 74 FGO ausgesetzt195. Allerdings ist trotz Anhängigkeit derselben Rechtsfrage beim EuGH auch ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen statthaft196. Dies gilt erst recht, wenn beide Rechtsstreite zwar übereinstimmend Zweifel an der Vereinbarkeit einer bestimmten nationalen Vorschrift mit primärem und sekundärem Unionsrecht be-

189 FG Baden-Württemberg v. 14.6.2017  – 2 K 2413/15, BB 2017, 2727, Az. beim EuGH: C-581/17. 190 FG Köln v. 3.8.2017 – 15 K 950/13, EFG 2017, 1656, Az. beim EuGH: C-480/17. 191 FG Düsseldorf v. 9.8.2017 – 4 K 1404/17 Z, ZD 2017, 581, Az. beim EuGH: C-496/17. 192 FG München v. 23.10.2017 – 7 K 1435/15, EFG 2017, 1963, Az. beim EuGH: C-641/17. 193 Hessisches FG v. 2.11.2017 – 7 K 1158/14, juris, Az. beim EuGH: C-26/18. 194 Vgl. Empfehlungen des EuGH an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (2016/C439/01), ABl. EU C 439 v. 25.11.2016, S. 2 Rz. 12. 195 Vgl. z.B. BFH v. 29.11.2005 – I B 196/04, BFH/NV 2006, 592 m.w.N.; v. 10.5.2011 – V B 80/10, BFH/NV 2011, 1538; v. 12.1.2012 – V R 7/11, BFH/NV 2012, 817 Rz. 8. 196 Vgl. Foerster, EuZW 2011, 901 (903).

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treffen, die Vorlagefragen jedoch angesichts der den Verfahren zugrunde liegenden unterschiedlichen Konstellationen voneinander abweichen197. Ein Vorabentscheidungsersuchen darf in jedem Verfahrensstadium und in sämtlichen Arten gerichtlicher Verfahren, ja sogar im Prozesskostenhilfeverfahren198, an den EuGH gerichtet werden199. In der Regel erfolgt die Anrufung des EuGH durch ein FG allerdings (erst) in einem Klageverfahren und durch den BFH (erst) im Revisionsverfahren. Dabei kann es bei einer Vorlage durch ein FG sinnvoll sein, wenn diese im Klageverfahren erst nach mündlicher Verhandlung erfolgt, damit für den EuGH der Sachverhalt klar ist, auf dessen Grundlage er das Vorabentscheidungs­ ersuchen beantworten soll200. Das gilt für den BFH aufgrund dessen Bindung an den vom FG festgestellten Sachverhalt (§ 118 Abs. 2 FGO) und das daraus folgende grundsätzliche Verbot, erst im Revisionsverfahren vorgetragene Tatsachen zu berücksichtigen201, nicht. Im Verfahren über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes existiert auch für letztinstanzliche Gerichte keine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV202. Überdies scheidet in einem Eilverfahren eine Anrufung des EuGH bei einer durchschnittlichen Verfahrensdauer eines Vorabentscheidungsersuchens von ca. 15 Monaten im Jahr 2016203 allein schon aus praktischen Erwägungen aus. Gleichwohl kann aber (bereits) in einem finanzgerichtlichen Eilverfahren die Frage einer (späteren) EuGH-Vorlage relevant werden. Denn wenn sich in einem finanzgerichtlichen Eilverfahren bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts eine Frage stellt, die im Hauptsacheverfahren voraussichtlich eine Vorlage an den EuGH erforderlich macht, so kann eine Ablehnung des Eilantrags vor Art. 19 Abs. 4 GG nur dann Bestand haben, wenn dieser Umstand – über die notwendig nur vorläufige rechtliche Einschätzung des Gerichts hinausgehend  – in die Abwägung des Interesses des Antragstellers mit dem öffentlichen Vollzugsinteresse einbezogen wird204. Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde (§  116 FGO) ist ein Vorabentscheidungsersuchen zwar ebenfalls unionsrechtlich zulässig205. Dennoch macht der BFH 197 Vgl. FG Köln v. 31.8.2016 – 2 K 721/13, EFG 2017, 51 Rz. 157. 198 Vgl. EuGH v. 7.11.1996 – C-77/95, ECLI:EU:C:1996:425 – Züchner. 199 Vgl. Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 23. 200 In diesem Sinne Empfehlungen des EuGH an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (2016/C 439/01), ABl. EU C 439 v. 25.11.2016, 3 Rz. 13. 201 Vgl. dazu z.B. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 118 FGO Rz. 130 ff. m.w.N.; Seer in Tipke/Kruse, § 118 FGO Rz. 54 ff. m.w.N. 202 Vgl. BVerfG v. 27.4.2005 – 1 BvR 223/05, NVwZ 2005, 1303 Rz. 27; v. 19.9.2017 – 1 BvR 1928/17, HFR 2017, 1165 Rz. 4 m.w.N.; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 69 FGO Rz. 77. 203 Auskunft der Pressestelle des EuGH v. 30.11.2017. 204 Vgl. BVerfG v. 17.1.2017 – 2 BvR 2013/16, NVwZ 2017, 470 Rz. 18. 205 Vgl. EuGH v. 4.6.2002  – C-99/00, ECLI:EU:C:2002:329  – Lyckeskog, HFR 2002, 945 Rz. 18.

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von dieser Möglichkeit in aller Regel keinen Gebrauch206. Er lässt stattdessen ggf.207 die Revision zu. Denn unionsrechtliche Zweifel führen regelmäßig zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§  115 Abs.  2 Nr.  1 FGO)208 oder zur Fortbildung des Rechts (§  115 Abs. 2 Nr. 2 Alt.  1 FGO), um die Unionsrechtslage und die Notwendigkeit, den EuGH anzurufen, in einer Senatsbesetzung mit fünf Richtern (§ 10 Abs. 3 FGO) prüfen zu können. 2. Inhalt von Vorabentscheidungsersuchen Das Vorabentscheidungsersuchen muss außer der (den) dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage(n) enthalten209: a) eine kurze Darstellung des Streitgegenstands und des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhen; b) den Wortlaut der möglicherweise auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschriften und gegebenenfalls die einschlägige nationale Rechtsprechung; c) eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt. Fehlt eines oder mehrere der vorstehend aufgeführten Elemente, so ist es möglich, dass der EuGH sich für unzuständig erklärt, über die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zu entscheiden, oder das Vorabentscheidungsersuchen als unzulässig zurückweist210.

VIII. Verfahrensfragen Liegen die Voraussetzungen des Art.  267 AEUV vor, setzt das FG oder der BFH durch einen begründeten (und regelmäßig veröffentlichten) Beschluss das Verfahren gemäß § 74 FGO aus und legt die Sache dem EuGH – durch Übersendung des Vorabentscheidungsersuchens nebst der den Streitfall betreffenden Akten an die Kanzlei 206 Vgl. z.B. BFH v. 29.10.1998 – V B 87/98, BFH/NV 1999, 681 Rz. 6. 207 Abgelehnt z.B. von BFH v. 6.7.2017 – V B 24/17, BFH/NV 2017, 1337. 208 Vgl. BFH v. 24.9.1996 – VII B 101/96, BFH/NV 1997, 272; BVerfG v. 8.10.2015 – 1 BvR 1320/14, HFR 2016, 279 Rz. 13 m.w.N.; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 115 FGO Rz. 96; Seer in Tipke/Kruse, EURS Rz. 14 f. 209 Vgl. Art. 94 der Verfahrensordnung des EuGH v. 25.9.2012, ABl. EU L 265, mit späteren Änderungen, curia.europa.eu. Weitere inhaltliche Vorgaben finden sich unter 15. ff. der Empfehlungen des EuGH an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (2016/C 439/01), ABl. EU C 439 v. 25.11.2016, 3 f. und im Anhang zu diesen Empfehlungen. 210 Vgl. die Empfehlungen des EuGH an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (2016/C 439/01), ABl. EU C 439 v. 25.11.2016, 3, unter 15.

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des EuGH211 – zur Vorabentscheidung vor. Das FG oder der BFH kann dem EuGH gleichzeitig mehrere Verfahren vorlegen212, ggf. nach vorheriger Verbindung gemäß § 73 FGO213. Die Finanzgerichte entscheiden über die Anrufung des EuGH durch unanfechtbaren Beschluss214 in der Besetzung mit drei Richtern und zwei ehrenamtlichen Richtern (§  5 Abs.  3 Satz  1 FGO). Bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung wirken zwar die ehrenamtlichen Richter gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 FGO nicht mit; diese Vorschrift ist aber bei einer EuGH-Vorlage wegen der Bedeutung einer solchen Entscheidung nicht anzuwenden, so dass auch in diesem Fall – wie bei Vorlagebeschlüssen an das BVerfG – die Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter erforderlich ist215. Eine Vorlage durch einen Einzelrichter des FG (§ 6 FGO) scheidet aus, weil die dafür erforderlichen Voraussetzungen (§  6 Abs.  1 FGO) in einem derartigen Fall nicht vorliegen216. Der BFH entscheidet im Revisionsverfahren über die Anrufung des EuGH stets in der Besetzung von fünf Richtern (§ 10 Abs. 3 Alt. 1 FGO). Zwar sieht § 10 Abs. 3 Alt. 2 FGO bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung nur die Mitwirkung von drei Richtern vor. Bei dem Beschluss zur Vorlage einer Rechtsfrage an den EuGH handelt es sich aber um eine dem Erlass des Urteils vorausgehende Entscheidung. Er ergeht wegen dieses Sachzusammenhangs und wegen der Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsprechung in der für den Erlass eines Urteils vorgesehenen Besetzung217. Eine Anhörung der Beteiligten vor einer Anrufung des EuGH ist nicht erforderlich. Der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) wird nicht in entscheidungserheblicher Weise verletzt, wenn das FG oder der BFH ohne weiteres eine Vorlage an den EuGH beschließt. Denn sie haben die Gelegenheit, gegenüber dem EuGH eine schriftliche Stellungnahme abzugeben218 und sich in der mündlichen Verhandlung zu äußern219. Ergeht eine EuGH-Vorlage nach einer mündlichen Verhandlung vor dem FG oder vor dem BFH, wird allerdings der Senatsvorsitzende im Rahmen der Erörterung der Streitsache (§ 93 Abs. 1 FGO) die Möglichkeit einer EuGH-Vorlage anzusprechen haben. Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens übernimmt der EuGH grundsätzlich die in der Vorlageentscheidung enthaltenen Angaben, einschließlich der Namensan211 Vgl. die Empfehlungen des EuGH an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (2016/C 439/01), ABl. EU C 439 v. 25.11.2016, 3 f., unter 20. 212 Vgl. z.B. BFH v. 15.7.1999 – V R 8/98, BFHE 189, 200 und V R 106/98, BFHE 189, 205. 213 Vgl. z.B. BFH v. 15.10.1998 – V R 38/97 und V R 61/97, BFHE 187, 84 Rz. 22. 214 Vgl. z.B. FG Baden-Württemberg v. 14.6.2017 – 2 K 2413/15, juris Rz. 140. 215 Vgl. FG Baden-Württemberg v. 18.4.2013 – 3 K 4100/12, EFG 2013, 1143 Rz. 53 m.w.N.; Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 5 FGO Rz. 49 m.w.N. 216 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 6 FGO Rz. 8 m.w.N. 217 Vgl. BFH v. 5.5.1994 – V R 23/93, BFHE 174, 565 Rz. 16. 218 Vgl. Art. 23 Abs. 2 der Satzung des EuGH. 219 Vgl. Art. 81 der Verfahrensordnung des EuGH.

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gaben und personenbezogenen Daten. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, in seinem Vorabentscheidungsersuchen, wenn es dies für erforderlich hält, bestimmte Angaben unkenntlich zu machen oder die von dem Ausgangsrechtsstreit betroffene(n) Person(en) oder Einrichtung(en) zu anonymisieren220. Gelegentlich hält sich der EuGH bei seinem Urteil nicht (nur) an die Sachverhaltsdarstellung im Vorlagebeschluss, sondern legt seiner Entscheidung den Sachverhalt zugrunde, wie er sich für ihn „aus den ihm vorliegenden Akten“221 oder aus in der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH vorgenommenen Ergänzungen der Beteiligten222 ergibt223. Dies kollidiert (jedenfalls) bei Vorlagebeschlüssen des BFH mit dessen grundsätzlicher Bindung an den vom FG festgestellten Sachverhalt nach § 118 Abs. 2 FGO und mit dem daraus folgenden grundsätzlichen Verbot, neue Tatsachen zu berücksichtigen224 und kann deshalb Schwierigkeiten für den BFH bei der Frage auslösen, welcher Sachverhalt seiner Nachfolgeentscheidung zugrunde zu legen ist.

IX. Ablauf des Vorabentscheidungsverfahrens beim EuGH Nach Eingang des Vorabentscheidungsersuchens befasst sich der EuGH auf der Grundlage seiner Satzung225 und nach Maßgabe seiner Verfahrensordnung226 – ggf. nach Verbindung mehrerer Verfahren227  – mit der vorgelegten Rechtsache228. Der Kanzler des Gerichtshofs stellt das Vorabentscheidungsersuchen den beteiligten Parteien, den Mitgliedstaaten und der Kommission zu und außerdem den Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, von denen die Handlung, deren

220 Vgl. die Empfehlungen des EuGH an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (2016/C 439/01), ABl. EU v. 25.11.2016, 4, unter 21. 221 Vgl. z.B. EuGH v. 10.12.2009 – C-260/08, ECLI:EU:C:2009:768 – HEKO Industrieerzeugnisse, ZfZ 2010, 16 Rz. 11; v. 15.11.2012 – C-174/11, ECLI:EU:C:2012:716 – Zimmermann, HFR 2013, 84 Rz. 25; v. 13.12.2012 – C-395/11, ECLI:EU:C:2012:799 – BLV Wohn- und Gewerbebau, HFR 2013, 190 Rz. 45; v. 21.2.2013 – C-104/12, ECLI:EU:C:2013:99 – Becker, HFR 2013, 364 Rz. 26. 222 Vgl. z.B. EuGH v. 10.9.2009 – C-201/08, ECLI:EU:C:2009:539 – Plantanol, ZfZ 2010, 24 Rz. 58; v. 13.3.2014 – C-366/12, ECLI:EU:C:2014:143 – Klinikum Dortmund, HFR 2014, 463 Rz. 25, 36. 223 Vgl. Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, S. 341. 224 Vgl. dazu z.B. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 118 FGO Rz. 130 ff. m.w.N.; Seer in Tipke/Kruse, § 118 FGO Rz. 54 ff. m.w.N. 225 Vgl. „Protokoll (Nr. 3) über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union“, ABl. EU C 83/210 v. 30.3.2010, mit späteren Änderungen, curia.europa.eu. 226 Vgl. die „Konsolidierte Fassung der Verfahrensordnung des Gerichtshofs“ v. 25.9.2012, ABl. EU L 265, mit späteren Änderungen, curia.europa.eu; zum Verfahren eingehend z.B. Jann in Das EuGH-Verfahren in Steuersachen, 2000, S. 13 ff. 227 Art. 54 der Verfahrensordnung des EuGH; vgl. z.B. EuGH v. 17.5.2001 – C-322/99 und C-323/99, ECLI:EU:C:2001:280 – Fischer und Brandenstein, HFR 2001, 811 Rz. 39. 228 Vgl. dazu im Einzelnen Seer in Tipke/Kruse, EURS Rz. 30 ff.

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Gültigkeit oder Auslegung streitig ist, ausgegangen ist229. Binnen zwei Monaten nach dieser Zustellung können die Parteien, die Mitgliedstaaten, die Kommission und gegebenenfalls die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, von denen die Handlung, deren Gültigkeit oder Auslegung streitig ist, ausgegangen ist, beim Gerichtshof Schriftsätze einreichen oder schriftliche Erklärungen abgeben230. Die weitere Behandlung der Vorlage zur Vorabentscheidung ist in Art.  93-104 der Verfahrensordnung des EuGH im Einzelnen geregelt. Das Vorabentscheidungsersuchen wird den Mitgliedstaaten in der Originalfassung zusammen mit einer Übersetzung in der Amtssprache des Empfängerstaats zugestellt. Sofern dies aufgrund der Länge des Ersuchens angebracht ist, wird diese Übersetzung durch die Übersetzung einer Zusammenfassung des Ersuchens in der Amtssprache des Empfängerstaats ersetzt, die dann als Grundlage für die Stellungnahme dieses Staates dient231. Ist vom vorlegenden Gericht Anonymität gewährt worden, so wahrt der EuGH diese Anonymität in dem bei ihm anhängigen Verfahren232. Der EuGH kann außerdem auf Ersuchen des vorlegenden Gerichts, auf gebührend begründeten Antrag einer Partei des Ausgangsrechtsstreits oder von Amts wegen eine oder mehrere Personen oder Einrichtungen, die von dem Rechtsstreit betroffen sind, anonymisieren, wenn er es für erforderlich hält233. Ein solches Ersuchen muss allerdings, um wirksam sein zu können, so früh wie möglich im Verfahren gestellt werden, jedenfalls vor der Veröffentlichung der Mitteilung zur betreffenden Rechtssache im Amtsblatt der Europäischen Union und der Zustellung des Vorabentscheidungsersuchens an die in Art. 23 der Satzung des EuGH genannten Beteiligten, die in der Regel ungefähr einen Monat nach Eingang des Vorabentscheidungsersuchens erfolgt234. Wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, über die der EuGH bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, kann der EuGH auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden235. Unbeschadet der in der Verfahrensordnung des EuGH vorgesehenen prozessleitenden Maßnahmen und Beweisaufnahme kann der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts das vorlegende Gericht um Klarstellungen innerhalb einer von ihm 229 Vgl. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 der Satzung des EuGH. 230 Vgl. Art. 23 Abs. 2 der Satzung des EuGH. 231 Vgl. Art. 98 Abs. 1 der Verfahrensordnung des EuGH. 232 Vgl. Art. 95 Abs. 1 der Verfahrensordnung des EuGH. 233 Art. 95 Abs. 2 der Verfahrensordnung des EuGH; vgl. z.B. EuGH v. 21.4.2005 – C-25/03, ECLI:EU:C:2005:241  – HE, BStBl.  II 2007, 24; v. 4.6.2013  – C-300/11, ECLI:EU:C:2013:363 – ZZ, NVwZ 2013, 1139. 234 Vgl. die Empfehlungen des EuGH an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (2016/C 439/01), ABl. EUC 439 v. 25.11.2016, 4 Rz. 22. 235 Vgl. Art. 99 der Verfahrensordnung des EuGH.

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festgesetzten Frist ersuchen236. Es kommt auch vor, dass der EuGH das vorlegende Gericht um Mitteilung bittet, ob es angesichts eines in einer anderen Rechtssache ergangenen EuGH-Urteils die Aufrechterhaltung des Vorabentscheidungsersuchens für sinnvoll hält237. Nach Schluss der in der Regel stattfindenden mündlichen Verhandlung238 und den Schlussanträgen des Generalanwalts239 entscheidet der EuGH durch Urteil über die Vorlagefrage(n). Das Urteil des EuGH wird in öffentlicher Sitzung verkündet240 und mit dem Tag seiner Verkündung rechtskräftig241. Die Auslegung des EuGH ist für die nationalen Gerichte bei der späteren Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits bindend242.

X. Verfahrensfortgang nach Abschluss des Vorabentscheidungs­ verfahrens Im Anschluss daran nimmt das FG bzw. der BFH das von ihm ausgesetzte Verfahren wieder auf und gibt den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zum EuGH-Urteil. Gelegentlich wird dann die Klage- bzw. Revision zurückgenommen oder nach Erlass eines dem Klage- bzw. Revisionsbegehren stattgebenden Änderungsbescheids gemäß § 138 FGO der Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt243. Kommt es dazu nicht, wendet das FG bzw. der BFH das Unionsrecht – in der Auslegung des EuGH – auf den Streitfall an244. Allerdings sind Ausnahmen möglich; denn es ist auch in diesem Verfahrensstadium immer noch denkbar, dass sich herausstellt, dass die Antwort des EuGH für den Streitfall nicht entscheidungserheblich ist. Falls das FG bzw. der BFH die Antwort des EuGH nicht für ausreichend eindeutig hält, kann er ein erneutes Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten245. Fehlen aufgrund der Antwort des EuGH tatsächliche Feststellungen muss das FG diese ermitteln, um den Rechtsstreit sodann entscheiden zu können. Der BFH verweist in 236 Vgl. Art. 101 Abs. 1 der Verfahrensordnung des EuGH. 237 Vgl. EuGH v. 13.6.2006 – C-173/03, ECLI:EU:C:2006:391 – Traghetti del Mediterraneo, HFR 2006, 931 Rz. 21. 238 Vgl. Art. 76 ff. der Verfahrensordnung des EuGH. 239 Vgl. Art. 82 der Verfahrensordnung des EuGH. 240 Vgl. Art. 88 Abs. 1 der Verfahrensordnung des EuGH. 241 Vgl. Art. 91 Abs. 1 der Verfahrensordnung des EuGH. 242 Vgl. EuGH v. 24.6.1969  – C-29/68, ECLI:EU:C:1969:27  – Milch-, Fett- und Eierkontor Rz. 3; BFH v. 18.10.2001 – V R 106/98, BStBl. II 2002, 551 Rz. 25 m.w.N.; Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 48. 243 Vgl. z.B. BFH v. 28.1.2013 – III R 32/05, BFHE 240, 155. Soweit der Senat in diesem Beschluss „aus Gründen der Rechtsklarheit“ seinen Beschluss über das Vorabentscheidungsersuchen v. 22.12.2011 – III R 32/05, BFHE 236, 131 aufgehoben hat, ist dem allerdings nicht zu folgen, weil dafür weder ein Bedürfnis noch eine Rechtsgrundlage bestand. 244 Vgl. dazu Cordewener, Umsetzung von EuGH-Entscheidungen durch die Finanzrechtsprechung, in FS 100 Jahre BFH, S. 895 ff. 245 Vgl. Art. 104 Abs. 2 der Verfahrensordnung des EuGH.

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einem derartigen Fall den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das FG zurück246.

XI. Resümee Geht man davon aus, dass „Erfolg und Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens von der Vorlagefreudigkeit der nationalen Gerichte abhängig“ (sind)247, besteht schon deshalb kein Grund, in Zukunft die in diesem Beitrag dargestellte – intensive – Vorlagepraxis der Finanzgerichtsbarkeit zu ändern. Sie hat sich aber auch inhaltlich bewährt. Das Zusammenspiel zwischen dem EuGH und der Finanzgerichtsbarkeit funktioniert insgesamt sehr gut.

246 Vgl. z.B. BFH v. 14.5.2013 – VII R 45/10, BFHE 242, 466, HFR 2014, 12; v. 1.6.2016 – XI R 17/11, BStBl. II 2017, 581; v. 10.8.2016 – XI R 31/09, BFHE 254, 461, HFR 2016, 1019. 247 So Wegener in Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rz. 34.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … C. V. 5.

Umsetzung von EuGH-Entscheidungen durch die Finanzrechtsprechung Von Axel Cordewener

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die besondere Einbindung von Exekutive und Judikative in die innerstaatliche Durchsetzung des Unionsrechts 1. Die Schlüsselrolle der mitgliedstaatlichen Gerichte 2. Verfahrensrechtliche Absicherung einer Umsetzung von EuGH-Urteilen (auch) durch die Finanzverwaltung III. Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung von EuGH-Entscheidungen durch die Finanzrechtsprechung

1. Zur Bindungs- und Präjudizwirkung von EuGH-Entscheidungen 2. „Techniken“ zur richterlichen Umsetzung von EuGH-Entscheidungen a) Unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts b) Nichtanwendung des nationalen Rechts c) Modifizierende Fortbildung des nationalen Rechts d) Ergänzung des nationalen Rechts um einen Primärrechtsgrundsatz IV. Ausblick

I. Einleitung Die Bedeutung des Rechts der heutigen Europäischen Union für die deutsche Steuerrechtsordnung hat im Laufe der vergangenen sechs Jahrzehnte seit der Gründung der (damaligen) Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ebenso unaufhörlich wie unaufhaltbar zugenommen. Auch für das Steuerrecht, welches oftmals als eine der letzten verbliebenen Bastionen mitgliedstaatlicher Kernsouveränität betrachtet wird, gilt insofern die eindrucksvolle Metapher des berühmten englischen Richters Lord Denning1, der nur knapp ein Jahr nach dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zur EWG die Wirkungen des Gemeinschaftsrechts auf die nationale Rechtsordnung mit einer Flutwelle verglichen hatte, die in die Flussmündungen hinein und die Flüsse

1 Eingehend zu dessen Leben und Wirken Kutzner, Lord Denning – Englische Auslegungstradition und Europäisches Recht, 2001.

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hinauf ströme2; nur wenige Jahre später fügte er noch hinzu, dass diese Flut nicht an der Hochwassermarkierung gestoppt, sondern Deiche wie auch Dämme durchbrochen und das Umland überschwemmt habe3. Während das Vereinigte Königreich sich allerdings nach dem derzeit anlaufenden „Brexit“ zukünftig auf die Trockenlegung der so entstandenen Überschwemmungsgebiete konzentrieren dürfte, wird für Deutschland die Verzahnung (bzw. „Verschraubung“4) zwischen dem nationalen Rechtssystem und dem supranationalen Unionsrecht weiter zunehmen. Im Steuerrecht geschieht dies zum einen durch Maßnahmen der sog. „positiven Integration“, d.h. von den Unionsorganen vor allem auf der Basis von Art.  113 und 115 AEUV für die indirekten bzw. direkten Steuern erlassene ­Harmonisierungsmaßnahmen5. Derartige Sekundär- sowie teilweise auch noch sog. Tertiärrechtsakte6 der Union decken heute bereits weite Bereiche der indirekten Steuern ab wie insbesondere die Mehrwertsteuer und diverse Arten von Verbrauchsteuern7, erfassen außerdem aber z.B. auch Kapitalverkehrsteuern8, die Versicherungs-

2 Court of Appeal (Civil Division) v. 22.5.1974, Bulmer et al. v. Bollinger et al. [1974] 2 All England Law Reports (All E.R.) 1226 (1231): „… when we come to matters with a European element, the Treaty is like an incoming tide. It flows into the estuaries and up the rivers. It cannot be held back“. 3 Court of Appeal (Civil Division) v. 27.4.1978, Shields v. E. Coomes (Holdings) Ltd. [1979] 1 All E.R. 456 (462): „… the flowing tide of Community law is coming in fast. It has not ­stopped at the high water-mark. It has broken the dykes and the banks. It has submerged the surrounding land“. 4 Zu diesem sehr treffenden Begriff vgl. Haltern, Europarecht: Dogmatik im Kontext, Bd. II, 3. Aufl. 2017, u.a. Rz. 586 ff. 5 Während Art. 115 AEUV explizit allein „Richtlinien“ als Harmonisierungsmittel vorsieht, erlaubt Art. 113 AEUV in einem weiter gefassten Sinne den Erlass von „Bestimmungen“ und lässt damit grds. auch den Einsatz von Verordnungen zu. 6 Hierunter fallen sog. delegierte Rechtsakte der Kommission (Art. 290 AEUV) und Durchführungsrechtsakte der Kommission sowie ausnahmsweise auch des Rates (Art. 291 Abs. 2 AEUV), zu deren Erlass dem betreffenden Unionsorgan im zu Grunde liegenden Sekundärrechtsakt (Basisrechtsakt) eine spezielle Befugnis übertragen wurde. Im Steuerrecht sind typischerweise die zweitgenannten Durchführungsakte (i.d.R. Verordnungen) zur Schaffung „einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union“ anzutreffen. Siehe etwa für die Mehrwertsteuer die – auf Art. 397 der Systemrichtlinie 2006/112/EU v. 28.11.2006, ABl. EU 2006 L 347/1, gestützte – neugefasste Durchführungsverordnung (EU) des Rates Nr. 282/2011 v. 15.3.2011, ABl. EU 2011 L 77/1, und deren spätere Änderungen. 7 Auf eine nähere Darstellung wird hier aus Platzgründen verzichtet. Vgl. insofern etwa Gröpl in Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Kap. J: Steuerrecht, Rz. 406 ff. zur Mehrwertsteuer und Rz. 572 ff. zu den Verbrauchsteuern. 8 Siehe ursprünglich Richtlinie 69/335/EWG v. 17.7.1969, ABl. EG 1969 L 249/15, heute Richtlinie 2008/7/EG v. 12.2.2008, ABl. EU 2008 L 46/11. In Deutschland wurde das KVStG mit den Regelungen über die Wertpapier-, die Börsenumsatz- und die Gesellschaftsteuer bereits zu Beginn der 90er Jahre stufenweise aufgehoben. Seitdem beschäftigt die Richtlinie gelegentlich in anderem Kontext die Finanzgerichtsbarkeit, so vor allem bei der Grunderwerbsteuer; vgl. etwa BFH v. 7.2.2012 – II B 90/11, BFH/NV 2012, 998 unter 1.b.cc m.w.N.

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steuer9 und die Kfz-Steuer10. Daneben ist auch bei den direkten Steuern im Anschluss an die punktuellen Harmonisierungsschritte im Bereich der Umstrukturierung11 ­sowie der grenzüberschreitenden Zahlungen von Dividenden12, Zinsen und Lizenzgebühren13 jüngst durch die Verpflichtung zur Einführung bzw. Verschärfung nationaler Bestimmungen gegen „base erosion and profit shifting“ (BEPS)14 die Europäisierung des nationalen Rechts vorangetrieben worden, und nicht übersehen werden sollte schließlich die zuletzt rasant erfolgte Ausdehnung der unionsrechtlichen Regelungen über die Zusammenarbeit nationaler Steuerbehörden15. Zum anderen wölbt sich über den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen aber auch der weite Himmel des EU-Primärrechts, der insbesondere dort Bedeutung entfaltet, wo die Reichweite der grds. sachnäheren Harmonisierungsmaßnahmen endet16. Bekanntermaßen setzen insofern zahlreiche unionsrechtliche Ge- und Verbote der Aus 9 Vgl. ursprünglich allgemein Art. 25 der Richtlinie 88/357/EWG v. 22.6.1988, ABl. EG 1988 L 172/1 (dazu BFH v. 11.12.2013  – II R 53/11, BStBl.  II 2014, 352 unter II.3.c.cc) sowie speziell zur Lebensversicherung Art. 25 der Richtlinie 90/619/EWG v. 8.11.1990, ABl. EG 1990 L 330/50, heute einheitlich Art. 157 der – auf Art. 47 Abs. 2 und Art. 55 EG-Vertrag i.d.F. von Amsterdam (heute Art.  53 Abs.  1 und Art.  62 AEUV) gestützten  – Richtlinie 2009/138/EG v. 25.11.2009, ABl. EU 2009 L 335/1. 10 Siehe zur Richtlinie 92/106/EWG v. 7.12.1992, ABl. EG 1992 L 368/38, etwa BFH v. 5.10.2004 – VII R 73/03, BStBl. II 2005, 222. 11 Fusionsrichtlinie 90/434/EWG v. 23.7.1990, ABl. EG 1990 L 225/1, neu kodifiziert durch Richtlinie 2009/133/EG v. 19.10.2009, ABl. EU 2009 L 310/34. 12 Mutter-Tochter-Richtlinie 90/435/EWG v. 23.7.1990, ABl. EG 1990 L 225/6, neugefasst durch Richtlinie 2011/96/EU v. 30.11.2011, ABl. EU 2011 L 345/8. 13 Richtlinie 2003/49/EG v. 3.6.2003, ABl. EU 2003 L 157/49. 14 Siehe zunächst die Anpassungen der Mutter-Tochter-Richtlinie (Fn. 12) durch Richtlinie 2014/86/EU v. 8.7.2014, ABl. EU 2014 L 219/40, und Richtlinie (EU) 2015/121 v. 27.1.2015, ABl. EU 2015 L 21/1, sowie dann umfassend die Anti-BEPS Richtlinie (EU) 2016/1164 v. 12.7.2016, ABl. EU 2016 L 193/1, mit Ergänzung durch Richtlinie (EU) 2017/952 v. 29.5.2017, ABl. EU 2017 L 144/1. 15 Vgl. zur gegenseitigen Amtshilfe insbesondere beim Informationsaustausch: für die Verbrauchsteuern Verordnung (EU) Nr. 389/2012 v. 2.5.2012, ABl. EU 2012 L 121/1; für die Mehrwertsteuer Verordnung (EU) Nr. 904/2010 v. 7.10.2010, ABl. EU 2010 L 268/1; für alle übrigen Steuern Richtlinie 2011/16/EU v. 15.2.2011, ABl. EU 2011 L 64/1, geändert durch Richtlinie 2014/107/EU v. 9.12.2014, ABl. EU 2014 L 359/1 (mit Aufhebung der Zinsbesteuerungsrichtlinie 2003/48/EG v. 3.6.2003, ABl. EU 2003 L 157/38, durch Richtlinie (EU) 2015/2060 v. 10.11.2015, ABl. EU 2015 L 301/1), durch Richtlinie (EU) 2015/2376 v. 8.12.2015, ABl. EU 2015 L 332/1, durch Richtlinie (EU) 2016/881 v. 25.5.2016, ABl. EU 2016 L 146/8, durch Richtlinie (EU) 2016/2258 v. 6.12.2016, ABl. EU 2016 L 342/1, und durch Richtlinie (EU) 2018/822 v. 25.5.2018, ABl. EU 2018 L 139/1. Siehe außerdem zur Vollstreckungshilfe Richtlinie 2010/24/EU v. 16.3.2010, ABl. EU 2010 L 84/1, sowie speziell zur Streitbeilegung im DBA-Recht Richtlinie (EU) 2017/1852 v. 10.10.2017, ABl. EU 2017 L 265/1. 16 Siehe allgemein z.B. EuGH v. 1.7.2014 – C-573/12, ECLI:EU:C:2014:237 – Ålands Vindkraft Rz. 57 sowie im steuerrechtlichen Kontext jüngst etwa EuGH v. 8.3.2017 – C-14/16, ECLI:EU:C:2017:177 – Euro Park Service Rz. 19 ff. zur Fusionsrichtlinie (Fn. 11) und v. 7.9.2017 – C-6/16, ECLI:EU:C:2017:641 – Eqiom Rz. 15 ff. sowie v. 20.12.2017 – verb. Rs. C-504/16 u. C-613/16, ECLI:EU:C:2017:1009  – Deister Holding u.a. Rz.  45  ff. zur Mutter-Tochter-Richtlinie (Fn. 12).

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übung mitgliedstaatlicher Besteuerungsbefugnisse Grenzen und führen somit zu einer sog. „negativen Integration“. Während diesbzgl. die Relevanz der Verbote zollgleicher und diskriminierender Abgaben auf Waren (Art. 30, 110 AEUV)17 mit fortschreitender Harmonisierung der Mehrwert- und Verbrauchsteuern zunehmend zurückgedrängt wird18, beanspruchen die im AEUV garantierten Grundfreiheiten weiterhin umfassende Beachtung19 und drängt zudem das Beihilfeverbot (Art. 107, 108 AEUV) immer stärker in den Vordergrund20. Hinzu treten Grundfreiheitsgarantien aus Vertragswerken mit Drittstaaten21 sowie allgemeine Primärrechtsgrundsätze wie das Äquivalenz- und das Effektivitätsgebot (s.u. III.2.d), das Verhältnismäßigkeitsprinzip (s.u. III.2.c), Entschädigungs- bzw. Rechtsfolgenbeseitigungsansprüche (s.u. III.2.d) und – die ungeschriebenen Unionsgrundrechte (Art. 6 Abs. 3 EUV) ergänzend und überlagernd – die EU-Grundrechte-Charta (Art. 6 Abs. 1 EUV)22. 17 Zu diesen Regelungen ausführlich Schön, EuR 2001, 216 (218 ff.) sowie 342 ff. 18 Anwendungsfälle sind aber auch hier weiterhin denkbar, soweit nämlich eine bestimmte Frage nicht vollständig harmonisiert ist; vgl. insofern zur Heranziehung von Art.  110 AEUV im Rahmen der Beurteilung einer Bestimmung des TabakStG jüngst noch FG Hamburg v. 9.6.2017 – 4 K 122/15, juris, unter III.2.7.1.2. Vgl. zur (unionsrechtlich vorgegebenen) unterschiedlichen Besteuerung von Bier und Wein auch BFH v. 5.8.2002 – VII R 105/99, BFH/NV 2002, 1630 unter 3. und 4. Im Übrigen hat Art. 110 AEUV auch weiterhin Bedeutung für nichtharmonisierte warenbezogene Steuern: siehe insbesondere zu Kfz-Zulassungssteuern für Pkw zuletzt EuGH v. 9.6.2016 – C-586/14, ECLI:EU:C:2016:421 – Budisan (bzgl. Rumänien) und v. 16.6.2016 – C-200/15, ECLI:EU:C:2016:453 – Kommission/Portugal; zur Nichtanwendbarkeit auf die deutsche Gewerbesteuer hingegen zu Recht BFH v. 18.9.2003 – X R 2/00, BStBl. II 2004, 17 unter II.3.b.aa. 19 Umfassende Darstellungen dazu bei Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationalen Steuerrecht, 2002; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht, 2006; Englisch/Reimer in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, Kap. 7, sowie zu konkreten Anwendungsfragen in Deutschland Schaumburg/Oellerich, ebenda, Kap. 8. 20 Siehe dazu die Beiträge von Sutter, Umgang mit dem unionsrechtlichen Beihilfeverbot – Begriff und Tragweite von „Altbeihilfen“, in FS 100 Jahre BFH, S. 825 ff. und Ismer, Umgang mit dem unionsrechtlichen Beihilfeverbot – aktuelle Herausforderungen, in FS 100 Jahre BFH, S.  845 ff. Außerdem zuletzt etwa Grube, Der Einfluss des unionsrechtlichen Beihilfenverbots auf das deutsche Steuerrecht, 2014; Englisch in Schaumburg/Englisch (Fn. 19), Kap. 9; Linn, IStR 2015, 114 ff.; Cordewener/Henze, FR 2016, 756 ff.; Schnitger, IStR 2017, 421 ff. 21 Hervorgetreten ist diesbzgl. zum einen das EWR-Abkommen v. 2.5.1992, BGBl. II 1993, 267; vgl. allgemein Cordewener, FR 2005, 236 ff. und aus der Rechtsprechung z.B. BFH v. 22.12.2010 – I R 84/09, BStBl. II 2014, 361 und I R 85/09, juris, jeweils unter II.5 sowie I R 87/09, juris, unter II.4. Zum anderen gewinnt auch das Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der Schweiz v. 21.6.1999, BGBl. II 2001, 810, zunehmend an Bedeutung; vgl. allgemein Spies, StuW 2017, 48  ff. sowie etwa BFH v. 17.5.2017  – X R 10/15, BFH/NV 2017, 1655 unter B.I.3.b und zuletzt noch FG Baden-Württemberg v. 14.6.2017  – 2 K 2413/15, EFG 2018, 18 unter B.V.2 (= C-581/17 – Wächtler). Die vorgenannten Vertragswerke sowie zahlreiche weitere Assoziierungsabkommen mit diversen Drittstaaten stehen nach der EuGH-Rspr. in der Normenhierarchie zwischen Primär- und Sekundärrecht; vgl. auch Cordewener, IStR 2008, 536 (537 ff.). 22 Zum unionsrechtlichen Grundrechtsschutz siehe auch den Beitrag von Hermanns, Die Zukunft des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes durch die Europäische Menschenrechts-

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II. Die besondere Einbindung von Exekutive und Judikative in die ­innerstaatliche Durchsetzung des Unionsrechts Schon die Einhaltung allein der vorstehenden unionsrechtlichen Vorgaben ist für alle Staatsgewalten eine extreme Herausforderung, wie die langen „schwarzen Listen“ an potenziellen Verstößen im deutschen Recht zeigen23. Hinzu treten aber – nicht nur für den deutschen Gesetzgeber, sondern auch für die Finanzverwaltung und die Finanzgerichtsbarkeit  – noch EU-rechtliche Vorgaben aus angrenzenden Bereichen, nämlich insbesondere solche des Zollrechts (einschließlich sonstiger Einfuhrabgaben)24, des Handelsbilanzrechts25, des Sozialrechts26 oder gar des Kartellrechts27. 1. Die Schlüsselrolle der mitgliedstaatlichen Gerichte Die korrekte Transformation von Richtlinien (Art. 288 Abs. 3 AEUV) sowie auch die ggf. nötige Anpassung bestehender nationaler Vorschriften an sonstige unionsrechtliche Vorgaben ist grds. Sache des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers. Der allgemeine Primärrechtsgrundsatz der „loyalen Zusammenarbeit“ (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV) verpflichtet aber jeden Mitgliedstaat in seiner Gesamtheit dazu, „alle geeigneten Maßkonvention, in FS 100 Jahre BFH, S. 763 ff. Vgl. speziell zur Grundrechte-Charta in jüngerer Zeit etwa BFH v. 18.8.2015 – VII R 41/13, BFH/NV 2015, 1658 unter II.2.b sowie v. 22.6.2016  – V R 42/15, BFH/NV 2016, 1528 unter II.2.d mit anschließend EuGH v. 20.12.2017  – C-462/16, ECLI:EU:C:2017:1006  – Boehringer; außerdem EuGH v. 16.5.2017  – C-682/15, ECLI:EU:C:2017:373  – Berlioz m. Anm. Henze, ISR 2017, 336  ff. und zuletzt noch FG München v. 27.9.2017  – 3 K 3438/14, EFG 2017, 1981 unter II.4.c (Rev. V R 57/17). 23 Zu möglichen Grundfreiheits- und Richtlinienverstößen bei den direkten Steuern zuletzt Kessler/Spengel, DB 2018, Beilage Nr.  1; zu etwaigen Verstößen gegen das Beihilfeverbot Brandau/Neckenich/Reich/Reimer, BB 2017, 1175 (1180 ff.). 24 Allein hierzu ist die Zahl deutscher EuGH-Vorlage nahezu unüberschaubar. Vgl. bereits frühzeitig etwa BFH v. 25.4.1967 – VII 198/63, BFHE 88, 266; v. 30.7.1969 – VII R 44/67, BFHE 96, 252. Aus jüngerer Zeit z.B. BFH v. 11.12.2012 – VII R 3/12, BFHE 239, 467 sowie auf finanzgerichtlicher Ebene aus der illustren Welt der Zolltarifierung etwa FG Hamburg v. 19.7.2017 – 4 K 161/15, juris (= C-471/17 – Kreyenhop & Kluge I), und v. 22.9.2017 – 4 K 129/17, juris (= C-593/17 – Kreyenhop & Kluge II). 25 Siehe z.B. die Vorlage des FG Köln v. 16.7.1999 – 13 K 812/97, EFG 1997, 1166, und dazu EuGH v. 14.9.1999 – C-275/97, ECLI:EU:C:1999:406 – DE + ES Bauunternehmung; Vorlage des FG Hamburg v. 22.4.1999 – II 23/97, EFG 1999, 1022, und dazu EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, ECLI:EU:C:2003:3  – BIAO. Außerdem etwa BFH v. 15.9.2004  – II R 5/04, BStBl. II 2009, 100 unter II.2, II.5.a u. II.5.c; v. 11.10.2012 – I R 66/11, BStBl. II 2013, 676 unter II.3.b.bb. 26 Dazu etwa die Vorlage des BFH v. 8.5.2014 – III R 17/13, BStBl. II 2015, 329, mit anschließend EuGH v. 22.10.2015  – C-378/14, ECLI:EU:C:2015:720  – Trapkowski. Zudem in jüngster Zeit noch BFH v. 8.9.2016  – III R 48/12, BFH/NV 2017, 296 unter II.2  ff.; v. 27.7.2017 – III R 17/16, BFH/NV 2018, 201 unter 2. und 3.b. 27 Siehe im Kontext des Abzugsverbots nach §  4 Abs.  5 Satz  1 Nr.  8 EStG etwa BFH v. 24.3.2004  – I B 203/03, BFH/NV 2004, 959 unter III.2.d.bb; v. 7.11.2013  – IV R 4/12, BStBl. II 2014, 306 unter II.3.

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nahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben“, zu ergreifen (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV) und zugleich „alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten“, zu unterlassen (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV). Diese vertikale Komponente der Unionstreue erfasst nach der Rechtsprechung des EuGH von jeher alle mitgliedstaatlichen Träger öffentlicher Gewalt28. Exekutive und Judikative unterliegen zudem noch speziellen primärrechtlich näher konkretisierten Loyalitätspflichten. So müssen zum einen die Mitgliedstaaten nach dem im Rahmen der Lissabonner Vertragsreform eingeführten Art.  291 Abs.  1 AEUV „alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht“ ergreifen. Diese Regelung wird allgemein als Anerkennung der sog. „Verwaltungsautonomie“ der Mitgliedstaaten verstanden und bringt zum Ausdruck, dass die Union auf dem Prinzip der dezentralen Ver­ waltungszuständigkeit aufbaut, wonach der Vollzug des Unionsrechts prinzipiell indirekt erfolgt und hierzu im Grundsatz bei den nationalen Exekutiveinrichtungen angesiedelt ist29. Dies bringt geradezu zwangsläufig mit sich, dass auch die mitgliedstaatlichen Verwaltungsbehörden verpflichtet sind, den Anwendungsvorrang des Unionsrechts zu wahren und folglich unionsrechtswidriges nationales Recht nicht anzuwenden30. Zum anderen statuiert Art.  19 Abs.  1 EUV in seinem ersten Unterabsatz zwar die Aufgabe der EU-Gerichtsbarkeit (EuGH, EuG und Gericht für den öffentlichen Dienst), „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ zu sichern. Der gleichfalls durch den Lissabon-Vertrag neu eingefügte zweite Unterabsatz verpflichtet aber die Mitgliedstaaten dazu, „die erforderlichen Rechtsbehelfe“ zu schaffen, „damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist“. Es obliegt folglich den Mitgliedstaaten im Rahmen einer Art „Auffangzuständigkeit“, für die effektive und kohärente Durchsetzung des Unionsrechts zu sorgen und ein nationales Rechtsschutzsystem vorzuhalten bzw. notfalls zu entwickeln, welches diese Rechtsdurchsetzung garantiert31. Damit kommt aber gerade den nationalen Gerichten eine entscheidende Schlüsselrolle bei der effektiven Realisierung des Unionsrechts innerhalb der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung zu32. Diese Schlüsselrolle der Judikative ist in der deutschen Steuerrechtswirklichkeit auch sehr deutlich wahrnehmbar. Zwar bindet Art. 20 Abs. 3 GG „die vollziehende Gewalt 28 Vgl. nur Calliess/Kahl/Puttler in Calliess/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 4 EUV Rz. 46 m.w.N. 29 Siehe Calliess/Kahl/Puttler in Calliess/Ruffert (Fn. 28), Art. 4 EUV Rz. 51, 63 ff. m.w.N. 30 Vgl. nur EuGH v. 22.6.1989 – 103/88, ECLI:EU:C:1989:256 – Fratelli Costanzo Rz. 30 ff. Außerdem etwa Cordewener, DStR 2004, 6 (9 f.); Seer in Tipke/Kruse, Europarechtsschutz (EURS) Rz. 2; BFH v. 18.11.2008 – VIII R 24/07, BStBl. II 2009, 518 unter II.5, und VIII R 2/06, BFH/NV 2009, 731 unter II.4. 31 Calliess/Kahl/Puttler in Calliess/Ruffert (Fn. 28), Art. 4 EUV Rz. 52 m.w.N. 32 Vgl. näher Calliess/Kahl/Puttler in Calliess/Ruffert (Fn. 28), Art. 4 EUV Rz. 79; Voßkuhl/ Lange in Leible/Terhechte, Europäisches Rechtsschutz- und Verfahrensrecht, Bd. 3 (2014), § 6 Rz. 19 ff.

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und die Rechtsprechung“ einheitlich „an Gesetz und Recht“ und damit – über Art. 23 Abs. 1 GG – auch an das gesamte Recht der Europäischen Union. Die Erfahrungen der Praxis zeigen aber, dass vor allem untere Finanzbehörden mit der Vorstellung, geltende nationale Gesetzesbestimmungen wegen eines Verstoßes gegen Unionsrecht vollständig außer Anwendung zu lassen (s.u. III.2.b) oder ggf. nur in modifizierter Form anzuwenden (s.u. III.2.c), oftmals überfordert sind. Übergeordnete Behörden neigen demgegenüber dazu, dem Vorwurf der Unionsrechtswidrigkeit einer deutschen Regelung so lange wie möglich entgegen zu treten33 und den EU-Rechtsverstoß erst dann zu akzeptieren, wenn dieser vom EuGH in einer speziell darauf bezogenen Entscheidung34 – und dann auch eher in einem abstrakt auf die betreffende Norm zielenden Vertragsverletzungsverfahren der Kommission (Art. 258 AEUV) als in einem aus der Normanwendung im konkreten Einzelfall resultierenden Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts (Art. 267 AEUV)35 – explizit festgestellt wurde. Im Grundsatz werden damit Steuerpflichtige, die sich auf eine für sie günstige, vom nationalen Recht allerdings abweichende Unionsrechtsposition berufen wollen, in ein gerichtliches Verfahren gedrängt. Dort ist grds. garantiert, dass sich sämtliche Instanzen mit der Thematik befassen36. Allerdings ist diese Problemverlagerung zu den Gerichten dem insbesondere in Art. 19 EUV angelegten unionsrechtlichen Bild eines vor allem auf der Arbeitsteilung zwischen der Unionsgerichtsbarkeit und den natio33 Siehe nur das „Argumentationspapier“ des Bayerischen LfSt v. 19.2.2010, S 1366.1.1 – 3/10 St32, IStR 2010, 411 f., zur (Nicht-) Berücksichtigung – von Verlusten ausländischer DBA-­ freigestellter Betriebsstätten nach EuGH v. 15.5.2008 – C-414/06, ECLI:EU:C:2008:278 – Lidl Belgium, sowie auch den Nichtanwendungserlass des BMF v. 13.7.2009, IV B 5  – S  2118  – a/07/10004, BStBl.  I 2009, 835, zum daran anschließenden Urteil des BFH v. 17.7.2008 – I R 84/04, BStBl. II 2009, 630. 34 Vgl. etwa zur „Bedeutung von EG-Richtlinien und Anwendungsvorrang, von Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte und von Vorabentscheidungen des EuGH für das deutsche Umsatzsteuerrecht“ – und speziell zu der Frage, wann eine EuGH-Entscheidung „für die Verwaltung … bindend“ sein soll, OFD Hannover v. 28.7.2006, S 7056 b – 1 – StH 441, S 7056 b – 3 – StO 351, juris (nach weniger als drei Monaten ersatzlos aufgehoben durch OFD Hannover v. 19.10.2006, S 7056 b – 3 – StO 171, juris). 35 Vgl. beispielhaft zur zunächst nur punktuellen Anerkennung der Unionsrechtswidrigkeit von § 2a Abs. 1 EStG BMF v. 24.11.2006, IV B 3 – S 2118a – 63/06, BStBl. I 2006, 763 (im Anschluss an EuGH v. 21.2.2006 – C-152/03, ECLI:EU:C:2006:123 – Ritter-Coulais sowie BMF v. 11.6.2007, IV B 3 – S 2118 – a/07/0003, BStBl. I 2007, 488 (im Anschluss an EuGH v. 29.3.2007  – C-347/04, ECLI:EU:C:2007:194  – Rewe Zentralfinanz), dann aber  – nach Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Europäische Kommission  – BMF v. 30.7.2008, IV B 5 – S 2118 – a/07/10014, BStBl. I 2008, 810, sowie schließlich die Neufassung der Norm durch das JStG 2009 v. 19.12.2008, BGBl. I 2008, 2794. 36 Insbesondere handelt es sich beim Unionsrecht nicht um „ausländisches“ Recht, das im Finanzprozess zu den vom FG festzustellenden Tatsachenfragen zählt (vgl. z.B. BFH v. 8.2.2017 – I R 55/14, BFH/NV 2017, 1588 unter II.1.a). Daher ist nicht nur eine EU-rechtliche Würdigung durch das FG voll revisibel, sondern sie kann auch vom BFH erstmals vorgenommen werden. Vgl. dazu jüngst zu §  6a GrEStG i.V.m. dem EU-Beihilfeverbot BFH v. 25.11.2015 – II R 62/14, BStBl. II 2016, 167, und v. 30.5.2017 – II R 62/14, BStBl. II 2017, 916 (= C-374/17 – A-Brauerei).

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nalen Gerichten gestützten lückenlosen Rechtsschutzsystems letztlich immanent. Denn Art.  267 AEUV sieht allein für die nationalen Gerichte die Berechtigung (Abs.  2) bzw. sogar Verpflichtung (Abs.  3) vor, den EuGH mittels eines Vorabentscheidungsersuchens um die „Auslegung der Verträge“ (Abs. 1 Buchst. a) bzw. „der Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“ (Abs.  1 Buchst.  b, 2.  Alt.) oder aber auch um eine Entscheidung über die „Gültigkeit“ der letztgenannten „Handlungen“ (Abs. 1 Buchst. b, 1. Alt.) zu bitten37. Die besondere Relevanz dieses Zusammenwirkens von nationalem und Unionsrichter wird vom EuGH immer wieder hervorgehoben. So hat etwa das Plenum des Gerichtshofs in seinem Gutachten zum Entwurf eines Übereinkommens über ein Europäisches Patentgericht nachhaltig betont, es sei „Sache der nationalen Gerichte und des Gerichtshofs, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den Schutz der Rechte zu gewährleisten, die den Einzelnen aus diesem Recht erwachsen“. Der nationale Richter erfülle insofern „in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof eine Aufgabe, die beiden gemeinsam übertragen ist, um die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung der Verträge zu sichern“38 – die nationalen Gerichte seien insofern selbst „ordentliche Unionsgerichte“39. Es ist also gerade der in Art. 267 AEUV angelegte „Dialog der Richter“, der einerseits die einheitliche Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH, andererseits aber auch die effektive Durchsetzung des Unionsrechts durch den nationalen Richter innerhalb der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung garantieren soll. Um den nationalen Gerichten die bestmögliche Erfüllung dieses unionsrechtlichen Rechtsschutzauftrags zu ermöglichen, gesteht der EuGH ihnen in ständiger Rechtsprechung ein grds. unbeschränktes Vorlagerecht in jedem Moment des bei ihnen anhängigen Verfahrens zu40. Der nationale Richter wird somit nicht allein funktional zum Unionsrichter41, sondern insbesondere auch zum maßgeblichen Bindeglied und Filter zwischen dem nationalen Recht und dem Unionsrecht. 2. Verfahrensrechtliche Absicherung einer Umsetzung von EuGH-Urteilen (auch) durch die Finanzverwaltung Speziell für das Steuerrecht lässt sich an dieser Stelle der Vollständigkeit halber hinzufügen, dass der deutsche Gesetzgeber – im Interesse der Steuerpflichtigen wie auch

37 Vgl. näher zur Vorlagepraxis der deutschen Finanzgerichtsbarkeit den Beitrag von Lange, Praxis der Vorabentscheidungsersuchen in der Finanzgerichtsbarkeit, in FS 100 Jahre BFH, S. 865 ff. 38 EuGH v. 8.3.2011  – Gutachten 1/09, ECLI:EU:C:2011:123  – Europäisches Patentgericht Rz. 68 f. m.w.N. 39 EuGH v. 8.3.2011 (Fn. 38), Rz. 80. 40 Vgl. nur EuGH v. 5.10.2010  – C-173/09, ECLI:EU:C:2010:581  – Elchinov Rz.  26; v. 4.6.2015 – C-5/14, ECLI:EU:C:2015:354 – Kernkraftwerke Lippe-Ems Rz. 35; v. 6.3.2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 – Slowakische Republik/Achmea Rz. 37. 41 Vgl. Calliess/Kahl/Puttler in Calliess/Ruffert (Fn. 28), Art. 4 EUV Rz. 80 m.w.N.

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der Gerichte42 – gezielte Maßnahmen ergriffen hat, um zu verhindern, dass tatsächlich in jedem Einzelfall einer potenziell unionsrechtswidrigen Besteuerung vom Betroffenen ein Gerichtsverfahren angestrengt werden muss. Zum einen erlaubt nämlich § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO eine punktuell vorläufige Steuerfestsetzung, wenn „die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Gerichtshof der Europäischen Union  … ist“; darunter fallen neben Vertragsverletzungsverfahren (Art.  258 AEUV) auch  – rein formal betrachtet auf Auslegung des Unionsrechts gerichtete, in der Sache aber doch letztlich auf Klärung der Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung mit dem Unionsrecht zielende  – Vorabentscheidungsersuchen nach Art.  267 Abs.  1 Buchst.  a und Buchst.  b, 2.  Alt. AEUV43. Zum anderen sieht § 363 Abs. 2 Satz 2 AO bei Fehlen eines entsprechenden Vorläufigkeitsvermerks das zwangsweise Ruhen eines eingeleiteten Einspruchsverfahrens vor, wenn „wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren bei dem Gerichtshof der Europäischen Union … anhängig“ ist und der Einspruch darauf gestützt wird. Die vorgenannten AO-Bestimmungen sollen der Finanzverwaltung – ohne Einschaltung der Gerichte, aber ggf. in Abwartung einer konkretisierenden gesetzgeberischen Korrekturmaßnahme – die „Umsetzung“ eines EuGH-Urteils ermöglichen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass nach h.M. sowohl für die Anwendbarkeit von §  165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO (bzgl. des fraglichen „Steuergesetzes“) als auch des (bzgl. der zu klärenden „Rechtsfrage“) an sich etwas offener formulierten § 363 Abs. 2 Satz 2 AO jeweils ein konkretes gerichtliches „Musterverfahren“ verlangt wird, welches das gleiche Rechtsproblem betreffen muss wie der noch auf Verwaltungsebene im Festsetzungs- bzw. Einspruchsverfahren befindliche andere Fall44. Da letztgenannter Fall notwendigerweise die Anwendung deutschen Steuerrechts durch die deutsche Finanzverwaltung betrifft, läge es zumindest prima facie nahe, auch nur solche EuGH-Verfahren als taugliche „Musterverfahren“ anzusehen, die sich  – wie die gleichfalls in den vorstehenden Bestimmungen angesprochenen Verfahren vor dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht (speziell also dem BFH) – auf konkrete Bestimmungen des deutschen Rechts beziehen, also insbesondere gegen Deutschland gerichtete Vertragsverletzungsverfahren oder Vorabentscheidungsersuchen deutscher Gerichte. Eine solch enge Betrachtungsweise würde jedoch außer Acht lassen, dass die vom EuGH gefundenen Ergebnisse bei der Auslegung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten einheitlich gelten. Legt der Gerichtshof also z.B. in einem Vertragsverlet42 Dass deren Funktionsfähigkeit durch Überlastung erheblich beeinträchtigt werden kann, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Grundlegende Streitigkeiten über die EU-Rechtswidrigkeit nationaler Belastungsvorschriften bringen es aber mitunter mit sich, dass erhebliche Mengen von Steuerpflichtigen ihre potenziellen Rechtspositionen mit dem Ziel der Entlastung auch tatsächlich einklagen. Vgl. insofern das frühe Beispiel zur Umsatzausgleichssteuer (unten III.2.b und Fn. 90). 43 Siehe Cöster in Koenig, 3. Aufl. 2014, § 165 AO Rz. 25; Rüsken in Klein, 16. Aufl. 2016, §  165 AO Rz.  28; i.E. wohl auch Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, §  165 AO Rz. 19. 44 Siehe etwa Cöster in Koenig (Fn.  43), §  165 Rz.  25 und §  363 Rz.  46; Rüsken in Klein (Fn. 43), § 165 Rz. 24 und § 363 Rz. 17.

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zungs- oder Vorabentscheidungsverfahren gegen Mitgliedstaat A eine bestimmte Unionsrechtsnorm (z.B. eine Grundfreiheit oder Richtlinienbestimmung) so aus, dass hieraus die EU-Rechtswidrigkeit der konkret daran gemessenen nationalen Steuervorschrift folgt, so kann dieser Entscheidung sehr wohl eine „kollaterale“ Präjudizwirkung für (nicht zwingend identische, aber doch) strukturell vergleichbare Steuerregelungen der Mitgliedstaaten B, C und D zukommen (vgl. auch unten III.1)45. Dies spricht dafür, die Begriffe des „Steuergesetzes“ in §  165 Abs.  1 Satz  2 Nr. 3 AO46 sowie der „Rechtsfrage“ in § 363 Abs. 2 Satz 2 AO in einem weitergehenden Sinne zu verstehen und für den Vorläufigkeitsvermerk bzw. die Aussetzung eines Einspruchsverfahrens auch solche Verfahren vor dem EuGH zu berücksichtigen, die zwar formal gesehen allein die Auswirkungen des Unionsrechts auf bestimmte Steuerregelungen eines anderen Mitgliedstaats betreffen, aber in der Sache dann eine analoge unionsrechtliche Beurteilung vergleichbarer deutscher Steuerregelungen erwarten lassen. Bei der Formulierung der unlängst mit Wirkung ab dem 1.1.2017 in §  165 Abs.  1 Satz 2 AO neu eingefügten Nr. 2a47 scheint der Gesetzgeber gleichfalls einer solchen weiten Auffassung zuzuneigen: danach kommt ein Vorläufigkeitsvermerk nunmehr auch dann in Betracht, wenn „sich auf Grund einer Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union ein Bedarf für eine gesetzliche Neuregelung ergeben kann“. Die Vorschrift tritt ausdrücklich neben die Regelung in Nr. 2 für Fälle, in denen im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung bereits eine Entscheidung des BVerfG zur „Unvereinbarkeit eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz“ ergangen und „der Gesetzgeber zu einer Neuregelung verpflichtet“ ist; es wird damit eine zuvor bzgl. bereits beendeter EuGH-Verfahren bestehende Lücke geschlossen und die Möglichkeit eröffnet, eine potenziell betroffene Steuerfestsetzung auch ohne Einspruch „offen“ halten zu können48. Da der in der Neuregelung angesprochene „Bedarf für eine gesetzliche Neuregelung“ sich in Deutschland auch dann „ergeben kann“, wenn eine „Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union“ in einem Verfahren zur (Einwirkung des EURechts auf die) Rechtslage eines anderen Mitgliedstaats ergeht, wird im Schrifttum

45 Ein gelegentlich hilfreicher – wenn auch völlig unverbindlicher – „Indikator“ für die mögliche Existenz solcher Regelungen ist die Beteiligung anderer Mitgliedstaaten als Streit­ helfer des betroffenen Mitgliedstaats in einem konkreten EuGH-Verfahren. So traten ­beispielsweise im Verfahren C-196/04 – Cadbury Schweppes – zur britischen Hinzurechnungsbesteuerung elf weitere Mitgliedstaaten (darunter Deutschland) als Streithelfer auf, im Verfahren C-371/10  – National Grid Indus  – zur niederländischen Wegzugsbesteuerung von Gesellschaften waren es derer neun (Deutschland eingeschlossen) und im Verfahren C-446/03 – Marks & Spencer – zur britischen Regelung über Gruppenverluste immerhin sieben (einschließlich Deutschlands). 46 Vgl. dazu wie hier Seer in Tipke/Kruse (Fn. 30), EURS Rz. 4 sowie allgemein zum mittelbaren erga omnes-Effekt auch von Auslegungsurteilen i.S.d. Art. 267 Abs. 1 Buchst. a und Buchst. b, 2. Alt. AEUV Kokott/Henze in FS Spindler, 2011, S. 279 (282 f.). 47 Art. 1 Nr. 31 des Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 18.7.2016, BGBl. I 2016, 1679. 48 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BR-Drucks. 631/15, 103 = BT-Drucks. 18/7457, 851.

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zu Recht für ein von Anfang an weites Normverständnis von §  165 Abs.  1 Satz  2 Nr. 2a AO plädiert49.

III. Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung von ­EuGH-­Entscheidungen durch die Finanzrechtsprechung 1. Zur Bindungs- und Präjudizwirkung von EuGH-Entscheidungen Was nun konkret die Umsetzung von Entscheidungen des EuGH durch die deutschen Finanzgerichte und den BFH betrifft, sind einige Vorbemerkungen und Begriffsklärungen angebracht. So kommen als maßgebliche Entscheidungen des EuGH mit Aussagen zur Auslegung und ggf. auch Anwendung des Unionsrechts im steuerlichen Kontext typischerweise Urteile, in Vorabentscheidungsverfahren ausnahmsweise auch Beschlüsse50 in Betracht. Beachtenswert ist, dass im vorliegenden Kontext neben Vertragsverletzungs- und Vorabentscheidungsverfahren auch Nichtigkeitsklagen (Art. 263 AEUV) gegen Handlungen der Unionsorgane relevant sein können: insofern ist für Klagen natürlicher und juristischer ­Personen51 erstinstanzlich das (nach Art. 19 Abs. 1, 1. UAbs. Satz 1 EUV vom „Gerichtshof der Europäischen Union“ mitumfasste52) EuG zuständig und erst auf Rechtsmittelebene der EuGH; auch in diesen Verfahren kann sich aus einer gerichtlichen Entscheidung indirekt die Unvereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem EU-Recht ergeben, nämlich z.B. bei Klagen begünstigter Unternehmen (oder des betreffenden Mitgliedstaats) gegen eine Kommissionsentscheidung, mit der eine mitgliedstaatliche Beihilferegelung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird. Während nun der EuGH (einschließlich des EuG) „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ zu sichern hat, obliegt den nationalen Gerichten die effektive Durchsetzung des Unionsrechts in der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung (s.o. II.1). Hierzu müssen sie in jedem Einzelfall die relevanten 49 Siehe Seer in Tipke/Kruse (Fn. 30), § 165 AO Rz. 14 sowie insbesondere Oellerich in Beermann/Gosch, § 165 AO Rz. 65.4 f., der offenbar sogar eine größere Bedeutung der Regelung für EuGH-Entscheidungen zu anderen Mitgliedstaaten sieht als für konkret deutsche Normen betreffende Entscheidungen. 50 Möglich nach Art. 99 EuGH-VerfO (v. 25.9.2012, ABl. EU 2012 L 265/1; punktuelle spätere Änderungen hier nicht relevant), „wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, über die der Gerichtshof bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt“. Dies korrespondiert mit der noch anzusprechenden „C.I.L.F.I.T.“-Doktrin zu Situationen, in denen nationale letztinstanzliche Gerichte nicht zur EuGH-Vorlage verpflichtet sind. 51 Also nicht von (anderen) Unionsorganen oder Mitgliedstaaten; vgl. Art. 256 Abs. 1 Satz 1 AEUV i.V.m. Art. 51 EuGH-Satzung (Protokoll Nr. 3 des Lissabon-Vertrags v. 13.12.2007, ABl. EU 2010 C 83/210; punktuelle spätere Änderungen hier nicht relevant). 52 Zur etwas unglücklichen Wahl der Bezeichnungen im EUV vgl. Wegener in Calliess/Ruffert (Fn. 28), Art. 19 EUV Rz. 6 m.w.N.

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Vorgaben des Unionsrechts erst einmal identifizieren und verstehen, d.h. durch Auslegung ihren Inhalt ermitteln, bevor sie sie zur konkreten Anwendung bringen können. Es ist also gerade im Kernbereich dieses Rechtsfindungsprozesses des nationalen Richters, wo die Judikatur des EuGH entscheidende Bedeutung entfaltet: denn der EuGH hat die Aufgabe, den Inhalt des EU-Rechts in einheitlicher, für alle Mitgliedstaaten gleicher Weise festzustellen und wenn nötig auch klarzustellen, zu präzisieren und zu konkretisieren  – und je mehr der EuGH hiervon Gebrauch macht, umso stärker wird auch das Ergebnis der vom nationalen Richter vorzunehmenden Anwendung der betreffenden Unionsrechtsbestimmungen prädeterminiert. Das diesbzgl. dem EuGH zugewiesene „Auslegungsmonopol“ kommt am deutlichsten in den Vorschriften über die Auslegungsvorlage (Art. 267 Abs. 1 Buchst. a und Buchst. b, 2. Alt. AEUV; s.o. II.1) zum Ausdruck, doch ist es auch den übrigen Verfahrensarten – insbesondere den Klagen auf Vertragsverletzung (Art. 258 AEUV) oder Nichtigkeit (Art.  263 AEUV), aber z.B. auch der Gültigkeitsvorlage (Art.  267 Abs.  1 Buchst.  b, 1.  Alt. AEUV; s.o. II.1)  – wesensimmanent, denn bevor der Gerichtshof dort die streitentscheidende(n) Unionsrechtsnorm(en) selbst zu Anwendung bringt, muss er diese erst auslegen. Spiegelbildlich dazu wird es aus Sicht des nationalen Richters im Regelfall so sein, dass die Antwort des EuGH auf ein Vorabentscheidungsersuchen  – entsprechend dem Sinne dieser spezifischen Form des Richterdialogs – eine Auslegung des Unionsrechts mit sich bringt, die für den konkreten Sachverhalt des Ausgangsfalls „maßgeschneidert“ ist. Die Anwendung des so (mit unmittelbarer Bindungswirkung für das vorlegende Gericht wie auch die Instanzgerichte53) ausgelegten Unionsrechts und die „Umsetzung“ der zugehörigen EuGH-Entscheidung sind dann im weiteren Fortgang des Rechtsstreits ein und derselbe Vorgang. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass der nationale Richter – ggf. unter Berücksichtigung der Schlussanträge des Generalanwalts – die vom EuGH vorgenommene Auslegung auch selbst noch einmal im konkreten Kontext des Ausgangsverfahrens punktuell auslegen muss, um ihre Passgenauigkeit für die Lösung des dort aufgeworfenen Rechtsproblems herzustellen54. Im Übrigen ist es nach Art. 104 Abs. 2 EuGH-VerfO „Sache der nationalen Gerichte, zu beurteilen, ob sie sich durch eine Vorabentscheidung für hinreichend unterrichtet halten oder ob es ihnen erforderlich erscheint, den Gerichtshof erneut anzurufen“, doch wird hiervon seitens desselben Gerichts allgemein kaum Gebrauch gemacht55. Eher kommt es vor, dass in demselben Ausgangsfall nach einer zwischenzeitlich eingetretenen Veränderung  – z.B. einem Tätigwerden des Gesetzgebers oder einem Rechtsmittel – eine erneute Vorlage an den EuGH von demselben oder einem anderen nationalen Gericht erfolgt56. 53 Siehe nur Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 135 sowie Wegener in Calliess/Ruffert (Fn. 28), Art. 267 AEUV Rz. 49 m.w.N. 54 Vgl. z.B. BFH v. 3.2.1993 – I R 90/88, BStBl. II 1993, 516 unter II.3. 55 Für eine Ausnahme aus dem Vereinigten Königreich EuGH v. 12.12.2006 – C-446/04, ECLI:EU:2006:774 – FII Group Litigation I und v. 13.11.2012 – C-35/11, ECLI:EU:C:2012:707 – FII Group Litigation II. 56 Siehe aus deutscher Sicht FG Köln v. 24.6.2004 – 2 K 2241/02, EFG 2004, 1374 mit EuGH v. 6.3.2007 – C-292/04, ECLI:EU:C:2007:132 – Meilicke u.a. I, sowie anschließend FG Köln v.

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Ebenso für den nationalen Richter von unmittelbarer Bedeutung sind EuGH-Entscheidungen, die in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen den „eigenen“ Mitgliedstaat ergangen sind und gerade die im innerstaatlich anhängigen Gerichts­ prozess in Streit befindliche nationale Norm betreffen. Sofern der EuGH einen Unionsrechtsverstoß des Mitgliedstaats feststellt, „hat dieser Staat die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben“ (Art. 260 Abs. 1 AEUV). Insofern haben daher nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „alle Organe des betreffenden Mitgliedstaats die Pflicht, in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich die Durchführung des Urteils des Gerichtshofes zu gewährleisten“, d.h. auch „(d)ie Gerichte des betreffenden Staates haben ihrerseits die Pflicht, bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben die Beachtung des Urteils sicherzustellen“57. Wegen der grds. abstrakten, von Einzelfällen gelösten Beurteilung einer nationalen Gesetzesnorm im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens58 ergibt sich daraus für ein nationales Gericht notwendigerweise die Verpflichtung, das EuGH-Urteil auch in dem vor ihm anhängigen Streitfall umzusetzen und die darin vom Gerichtshof vorgegebene Auslegung des Unionsrechts zur Anwendung zu bringen. Dies betrifft vor allem nationale Rechtsstreite in Fällen, in denen der Gesetzgeber erst verzögert auf eine entsprechende Verurteilung des betroffenen Mitgliedstaats durch den EuGH reagiert59. Jenseits der vorstehend genannten Konstellationen können EuGH-Entscheidungen aber noch in zahlreichen weiteren Situationen Relevanz für ein nationales Gericht entfalten: diese reichen prozessual von Vorabentscheidungen auf Vorlagen aus demselben Mitgliedstaat über Vorabentscheidungs- und Vertragsverletzungsverfahren bzgl. anderer Mitgliedstaaten bis zu Entscheidungen über Nichtigkeitsklagen gegen Handlungen der Unionsorgane (z.B. Beihilfenentscheidungen der Kommission; s.o.), die sich ihrerseits gegen (z.B. steuergesetzliche) Maßnahmen desselben oder eines anderen Mitgliedstaats richten, und die betreffenden EuGH-Entscheidungen können sachlich hinsichtlich der adressierten Problematik mehr oder weniger nahe an der vor dem nationalen Gericht anhängigen Streitfrage liegen. Insofern ist zu beachten, dass nach dem Verständnis des EuGH das Rechtsschutzsystem der Union als Präjudiz-System konstituiert ist und somit die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof in einem bestimmten Verfahren zum Präzedenzfall 14.5.2009  – 2 K 2241/02, EFG 2009, 1491 mit EuGH v. 30.6.2011  – C-262/09, ECLI:EU:C:2011:428  – Meilicke u.a. II. Vgl. zu Parallelbeispielen aus den Niederlanden EuGH v. 5.5.1982 – 15/81, ECLI:EU:C:1982:135 – Schul I und v. 21.5.1985 – 47/84, ECLI:EU:C:1985:216 – Schul II; aus dem Vereinigten Königreich zu Folgefragen des in Fn. 55 genannten Falles noch EuGH v. 12.12.2013 – C-362/12, ECLI:EU:C:2013:834 – FII Group Litigation III. 57 EuGH v. 14.12.1982 – verb. Rs. C-314-316/81 u. 83/82, ECLI:EU:C:1982:430 – Waterkeyn u.a. Rz. 14. 58 Zur rein objektiven Rechtskontrolle vgl. Wegener in Calliess/Ruffert (Fn.  28), Art.  258 AEUV Rz. 2 m.w.N. 59 Siehe als Bsp. aus jüngerer Zeit BFH v. 11.1.2012 – I R 25/10, BFH/NV 2012, 871 unter II.2.c.aa, und I R 30/10, BFH/NV 2012, 1105 unter II.2.b.aa, jeweils anknüpfend an EuGH v. 20.10.2011  – C-284/09, ECLI:EU:C:2011:670  – Kommission/Deutschland, in der Zeit vor Verabschiedung des EuGH-Umsetzungsgesetzes v. 21.3.2013, BGBl. I 2013, 561.

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auch für andere Verfahren wird. Diese Denkweise des EuGH lässt sich insbesondere dem grundlegenden „C.I.L.F.I.T.“-Urteil entnehmen, welches letztinstanzliche nationale Gerichte nicht nur dann von der an sich in Art. 267 Abs. 3 AEUV niedergelegten Vorlagepflicht entbindet, wenn eine bestimmte EU-rechtliche Frage „tatsächlich bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen ist“, sondern ebenso, „wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofes vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist, gleich in welcher Art von Verfahren sich diese Rechtsprechung gebildet hat, und selbst dann, wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch sind“60. Dieser auch als „acte éclairé“-Doktrin bezeichnete Teil des Urteils erkennt im Grunde an, dass jeder EuGH-Entscheidung bzgl. der darin vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts Präjudizwirkung zukommt, und zwar auch dann, wenn es dort um anders gelagerte Fallumstände ging61. Es ist dann vom nationalen Gericht im Einzelfall zu prüfen, inwiefern sich die EuGH-Rechtsprechung zu einem bestimmten Punkt bereits hinreichend „verdichtet“ hat. Auf dieser Basis setzt die deutsche Finanzrechtsprechung auch zunehmend Entscheidungen des EuGH in der Weise um, dass sie das dort vorgegebene Verständnis des EU-Rechts in konkreten Rechtsstreiten berücksichtigt und diese ohne weitere EuGH-Vorlage entscheidet. Beachtenswert ist insofern etwa die Rechtsprechungsänderung des BFH zum Werbungskosten- und Betriebsausgabenabzug für Sprachkurse im Ausland, die der VI. Senat auf das „Vestergaard“-Urteil des EuGH62 stützte und dazu auf die dortige „verbindliche Auslegung“ der Dienstleistungsfreiheit (heute Art.  56 AEUV) hinsichtlich ihrer „Bedeutung für die direkten Steuern“ verwies63. ­Exemplarisch hervorzuheben sind zudem eine Reihe von Judikaten des I. Senats: so z.B. die aus zahlreichen EuGH-Entscheidungen abgeleitete Anerkennung der Drittstaatswirkung der Kapitalverkehrsfreiheit (heute Art. 63 Abs. 1 AEUV)64, die (inzident) im Rahmen von § 20 Abs. 2 AStG vorgenommene Beurteilung der §§ 7 ff. AStG am Maßstab der Niederlassungsfreiheit (heute Art. 49 AEUV) im Lichte von „Cadbury Schweppes“ (s.u. III.2.c) oder auch die auf diverse EuGH-Urteile gestützte Vereinbarkeit der vom Senat vertretenen Auslegung des „wirtschaftlichen Zusammenhangs“ von Kosten und Einnahmen i.S.v. §  34c Abs.  1 Satz  4 EStG mit der Kapitalverkehrsfreiheit65. Aber auch auf der Ebene der Finanzgerichte sind bemer60 Siehe EuGH v. 6.10.1982  – 283/81, ECLI:EU:C:1982:335  – C.I.L.F.I.T. u.a. Rz.  13  f., anknüpfend an EuGH v. 27.3.1963 – verb. Rs. C-28-30/62, ECLI:EU:C:1963:6 – Da Costa u.a. 61 Näher dazu z.B. Haltern (Fn. 4), Rz. 288 ff. sowie Kruis (Fn. 53), S. 136 ff. 62 EuGH v. 28.10.1999 – C-55/98, ECLI:EU:C:1999:533 – Vestergaard. 63 BFH v. 13.6.2002 – VI R 168/00, BStBl. II 2003, 765 unter II.2. 64 Siehe insofern – unter Bestätigung von BFH v. 9.8.2006 – I R 95/05, BStBl. II 2007, 279 unter II.3.c, und entgegen dem Nichtanwendungserlass des BMF v. 21.3.2007, IV B 7 – G 1421/0, BStBl. I 2007, 302 unter 2. – BFH v. 26.11.2008 – I R 7/08, BFH/NV 2009, 849 unter II.3.b, sowie auch die Nichtannahme der hiergegen von der Finanzverwaltung (!) erhobenen Verfassungsbeschwerde wegen Entzugs des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG i.V.m. Art. 267 Abs. 3 AEUV durch BVerfG v. 11.4.2012 – 2 BvR 862/09, juris. 65 Vgl. BFH v. 6.4.2016 – I R 61/14, BStBl. II 2017, 46 unter II.5 (auch mit Bezugnahme auf das zum EWR-Abkommen ergangene Urteil des EFTA-Gerichtshofs v. 7.5.2008 – E-7/07 – Seabrokers, IStR 2009, 315).

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kenswerte Entscheidungen zu verzeichnen, so etwa anknüpfend an „de Lasteyrie“66 und „N“67 zur Vereinbarkeit der Wegzugs- und Entstrickungsbesteuerung mit der Niederlassungsfreiheit68. In der Praxis werden die zum Steuerrecht anderer Mitgliedstaaten beim EuGH anhängigen Verfahren von Finanzverwaltung und -gerichtsbarkeit aufmerksam verfolgt69. Dies ist nicht zuletzt deshalb unerlässlich, weil der Gerichtshof seine Rechtsprechung zum Teil – mitunter sogar innerhalb nur weniger Jahre – drastisch ändert, ohne dies deutlich anzuzeigen. Außer für die o.g. Wegzugs- und Entstrickungsbesteuerung70 ist dies mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit vor allem bei der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung virulent geworden71: bzgl. ausländischer Tochtergesellschaften wurde die Diskussion um den Import „finaler“ Verluste innerhalb eines knappen Jahrzehnts nahezu vollständig erstickt72, und für die Parallelentwicklung im Bereich der DBA-freigestellten Betriebsstättenverluste benötigte der EuGH sogar zwei Jahre weniger73. Derartige Kurskorrekturen rechtzeitig zu erkennen und aufzunehmen ist keine leichte Aufgabe für eine Finanzgerichtsbarkeit, die bereits hinreichend damit beschäftigt ist, die ursprünglichen Vorgaben des EuGH innerhalb der nationalen Rechtsordnung in einer Weise umzusetzen, dass diese Vorgaben nicht leerlaufen74. Gerade in solchen Entwicklungsphasen liegt es an den nationalen Ge66 EuGH v. 11.3.2004 – C-9/02, ECLI:EU:C:2004:138 – de Lasteyrie. 67 EuGH v. 7.9.2006 – C-470/04, ECLI:EU:C:2006:525 – N. 68 Vgl. FG München v. 3.8.2006  – 11 V 500/06, IStR 2006, 746 unter 2. (entgegen BFH v. 17.12.1999  – I B 108/97, BStBl.  II 1998, 558) zu §  6 AStG  a.F. sowie v. 4.4.2008  – 11 V 1815/07 B, EFG 2008, 1439 unter II. (aufgehoben durch BFH v. 23.9.2008  – I B 92/08, BStBl. II 2009, 524) und v. 3.6.2009 – 9 V 1438/09, EFG 2009, 1435 unter II.2, jeweils zu § 6 AStG n.F.; FG Rheinland-Pfalz v. 17.1.2008 – 4 K 1347/03, EFG 2008, 680 unter I.4.b zur Betriebsverlegung ins Ausland. 69 Vgl. etwa die Übersicht anhängiger EuGH-Verfahren zum Ertragsteuerrecht bei Dobratz, IStR 2017, 1006 ff. sowie die Aufnahme neuer EuGH-Verfahren in die online-Datenbank des BFH. 70 Speziell dazu Linn, IStR 2016, 103 (105 ff.); Wacker, IStR 2017, 926 ff. 71 Dazu z.B. Cordewener, EC Tax Rev. 2011, 58 ff.; Linn, IStR 2016, 103 (104 f.). 72 Vgl. EuGH v. 13.12.2005  – C-446/03, ECLI:EU:C:2005:763  – Marks  & Spencer; v. 25.2.2010  – C-337/08, ECLI:EU:C:2010:89  – X Holding; v. 3.2.2015  – C-172/13, ECLI:EU:C:2015:50  – Kommission/Vereinigtes Königreich. Dazu auch Cordewener, EuZW 2015, 295 ff. 73 Vgl. EuGH v. 15.5.2008 – C-414/06, ECLI:EU:C:2008:278 – Lidl Belgium; v. 17.7.2014 – C-48/13, ECLI:EU:C:2014:2087  – Nordea Bank; v. 17.12.2015  – C-388/14, ECLI:EU:C:2015:829 – Timac Agro. Siehe im Anschluss an letztere Entscheidung FG München v. 31.5.2016 – 7 V 3044/15, EFG 2016, 1232 unter II.1; BFH v. 22.2.2017 – I R 2/15, BStBl. II 2017, 709 unter B.III.b; FG Münster v. 28.3.2017 – 12 K 3545/14 G, F, EFG 2017, 1740 unter II.2 (Rev. I R 48/17) und 12 K 3541/14 G, F, juris, unter II.2 (Rev. I R 49/17). 74 Siehe zu Betriebsstättenverlusten explizit BFH v. 9.6.2010 – I R 107/09, BFH/NV 2010, 1744 unter B.I.3.b; diesen Ansatz fortführend BFH v. 5.2.2014 – I R 48/11, BFH/NV 2014, 963 unter II.2 u. II.3 sowie daran anknüpfend für Tochtergesellschaften auch BFH v. 9.11.2010 – I R 16/10, BFH/NV 2011, 524 unter II. Vgl. jüngst aber den Wiederbelebungsversuch bei Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona v. 17.1.2018  – C-650/16, ECLI:EU:C:2018:15  – Bevola u.a. und v. 21.2.2018 – C-28/17, ECLI:EU:C:2018:86 – NN A/S.

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richten, den EuGH durch ein Vorabentscheidungsersuchen zu einer bindenden „Momentaufnahme“ zu zwingen75. 2. „Techniken“ zur richterlichen Umsetzung von EuGH-Entscheidungen Auf welche Art und Weise ein bestimmtes EuGH-Urteil vom nationalen Richter „umzusetzen“ ist, hängt letztlich vom jeweiligen Einzelfall ab. Dies soll nachstehend anhand der wichtigsten Konstellationen näher aufgezeigt werden. a) Unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts Nur kurz angesprochen76 sei hier das vom EuGH zunächst im Hinblick auf Richtlinien speziell aus Art. 288 Abs. 3 AEUV77, im Übrigen aber auch allgemein aus Art. 4 Abs. 3 EUV abgeleitete Prinzip der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts, welches nach Auffassung des Gerichtshofs „dem System des AEU-Vertrags immanent“ ist78. Im Kern wird vom nationalen Richter verlangt, dass dieser „unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden“ (jedoch nicht contra legem) alles in seiner Zuständigkeit Liegende tut, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Unionsrechtsnorm zu gewährleisten und in dem vor ihm anhängigen Rechtsstreit zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem Ziel dieser Norm im Einklang steht79. Die unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts ist als Mittel zur innerstaatlichen Realisierung des Unionsrechts und damit auch zur Umsetzung der dazu ergangenen EuGH-Entscheidungen logisch vorrangig, denn die Frage, ob eine nationale Norm wegen ihrer Unionsrechtrechtswidrigkeit unangewendet bleiben muss (s.u. III.2.b), stellt sich erst und nur dann, wenn keine unionsrechtskonforme Auslegung dieser Norm möglich ist80. Deutet sich also in einem konkreten Streitfall ein Konflikt zwischen einer nationalen Norm und einer Vorschrift des Unionsrechts an, muss das nationale Gericht zunächst versuchen, diesen Konflikt dadurch zu entschärfen, dass es beide Bestimmungen durch die unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts in Einklang 75 Musterbeispiel im Kontext der „finalen“ Verluste: FG Köln v. 19.2.2014  – 13 K 3906/09, EFG 2014, 1901. 76 Vgl. eingehend zum Thema Rust, Unionsrechtskonforme Auslegung, in FS 100 Jahre BFH, S. 801 ff. 77 Siehe EuGH v. 10.4.1984  – 14/83, ECLI:EU:C:1984:153  – von Colson u.a. Rz.  26; v. 4.7.2006  – C-212/04, ECLI:EU:C:2016:443  – Adeneler u.a. Rz.  108  ff.; v. 19.1.2010  – C-555/07, ECLI:EU:C:2010:21 – Kücükdeveci Rz. 47 m.w.N. 78 Vgl. z.B. EuGH v. 10.10.2013 – C-306/12, ECLI:EU:C:2013:650 – Welter Rz. 29 m.w.N. 79 Z.B. EuGH v. 24.1.2012  – C-282/10, ECLI:EU:C:2012:33  – Dominguez Rz.  23; v. 10.10.2013 – C-306/12, ECLI:EU:C:2013:650 – Welter Rz. 28. 80 Z.B. EuGH v. 4.2.1988 – 157/86, ECLI:EU:C:1988:62 – Murphy u.a. Rz. 11; v. 24.1.2012 – C-282/10, ECLI:EU:C:2012:33 – Dominguez Rz. 25, 27 m.w.N. Näher dazu Schroeder in Streinz, 2. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rz. 125 ff.; Obwexer in von der Groeben/Schwarze/ Hatje, 7. Aufl. 2015, Art. 4 EUV Rz. 116 ff.

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miteinander bringt. Zwar bieten Vorschriften des Steuerrechts insofern mitunter weniger Elastizität als solche des Zivilrechts, doch mangelt es in der Praxis der Finanzrechtsprechung nicht an entsprechenden Beispielsfällen, in denen eine solche Auslegung vorgenommen wurde, und dies nicht nur in harmonisierten Bereichen81: so hat etwa der I. Senat des BFH den in § 1 AStG verwendeten Begriff der „Geschäftsbeziehung“ (auch) unter Beachtung des Unionsrechts so ausgelegt, dass jedenfalls die im dortigen Streitfall zu beurteilende konzerninterne Garantieerklärung nicht darunter fiel82, und der X. Senat erklärte die Steuerbefreiung für Stipendien nach § 3 Nr. 44 Satz 2 EStG unionsrechtskonform auch dann für anwendbar, wenn die auszahlende Körperschaft zwar (mangels inländischer Ansässigkeit und auch inländischer Einkünfte) nicht konkret von § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG erfasst wird, aber zumindest bei hypothetischer Erzielung inländischer Einkünfte „von der Körperschaftsteuer befreit wäre“83. Überdies hat der I. Senat am Beispiel von § 174 Abs. 1 AO gezeigt, dass auch steuerverfahrensrechtliche Vorschriften unionsrechtskonform auszulegen sind84. b) Nichtanwendung des nationalen Rechts Lässt sich der Konflikt einer nationalen Bestimmung mit einer EU-Rechtsnorm nicht im vorstehenden Sinne durch unionsrechtskonforme Auslegung vermeiden, muss der Konflikt zu Gunsten einer der beiden einander widersprechenden Regelungen gelöst werden. Hierfür hat der EuGH bereits frühzeitig den „Vorrang des Gemeinschaftsrechts“ statuiert: danach ist „jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet …, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist, unangewendet läßt“85. Soweit daher der Verstoß gegen das Unionsrecht reicht, ist die nationale Vorschrift somit zwar nicht „inexistent“ (nichtig), darf aber von nationalen Gerichten (und Behörden; s.o. II.1)  – ohne Notwendigkeit einer gesetzgeberischen Beseitigungsmaßnahme – innerstaatlich nicht angewandt werden86.

81 Vgl. zur richtlinienkonformen Auslegung im MwSt-Recht unlängst noch BFH v. 30.11.2016 – V R 15/16, BFH/NV 2017, 331 unter II.2.b u. II.3.b, sowie v. 15.12.2016 – V R 14/16, BStBl. II 2017, 600 unter II.1.a.aa; für das Energiesteuerrecht BFH v. 13.12.2016 – VII R 3/16, BFH/NV 2017, 704, und VII R 4/16, BFH/NV 2017, 623, jeweils unter II.2, II.3 u. II.5. 82 BFH v. 29.11.2000 – I R 85/99, BStBl. II 2002, 720 unter II.6 („‚gemeinschaftsrechtsfreundliche‘ Handhabung“). 83 BFH v. 15.5.2010 – X R 33/08, BStBl. II 2011, 637 unter II.3.b. 84 BFH v. 12.5.2012 – I R 73/10, BStBl. II 2013, 566 unter II.2.a.bb. 85 Vgl. EuGH v. 15.7.1964  – 6/64, ECLI:EU:C:1964:66  – Costa; v. 9.3.1978  – 106/77, ECLI:EU:C:1978:49  – Simmenthal II Rz.  17/18 u. 21/23; v. 6.9.2012  – C-18/11, ECLI:EU:C:2012:532 – Philips Electronics Rz. 38. 86 Vgl. EuGH v. 22.10.1998  – verb. Rs. C-10 bis C-22/97, ECLI:EU:C:1998:498  – IN.CO. GE’90 Rz.  21; v. 19.11.2009  – C-314/08, ECLI:EU:C:2009:719  – Filipiak Rz.  81  ff.; v. 5.10.2010 (Fn. 40), Rz. 31.

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Wie eng der Anwendungsvorrang als Lösungskonzept mit der (den Konflikt mit der nationalen Bestimmung im jeweiligen Einzelfall typischerweise erst auslösenden) unmittelbaren Anwendbarkeit87 der Unionsrechtsnorm verbunden ist, haben gerade die anfänglichen Schwierigkeiten der deutschen Finanzrechtsprechung im Bereich der Umsatzsteuer gezeigt. Der erste große Streitpunkt entstand insofern noch vor den ersten Schritten der Mehrwertsteuerharmonisierung und betraf die Bedeutung des Diskriminierungsverbots in Art. 95 EWGV (heute Art. 110 AEUV) für die damalige Umsatzausgleichsteuer auf eingeführte Waren: die auf Vorlage des FG des Saarlandes ergangene Vorabentscheidung des EuGH im Fall „Lütticke“88 führte  – u.a.89 – zu massalen Rechtsbehelfen von Steuerpflichtigen, weiteren Vorlagen deutscher Finanzgerichte an den Gerichtshof und schließlich auch zu einem Vorabentscheidungsersuchen des BFH, mit dem die „Lütticke“-Grundsätze offen in Frage gestellt wurden90. Die anschließende Entscheidung des EuGH91 bestätigte dann allerdings mit Nachdruck, dass die betroffenen Steuerpflichtigen sich in der Tat dem Grunde nach auf das Diskriminierungsverbot berufen durften (zu den genauen Folgen noch unten III.2.c). Ein zweiter großer Disput entzündete sich sodann unmittelbar im Kontext der Mehrwertsteuerharmonisierung: da die 6. MwSt-Richtlinie 77/388/EWG in Deutschland statt ab 1978 erst verspätet ab 1980 umgesetzt wurde, beriefen sich für die Zwischenzeit eine Reihe von Steuerpflichtigen (insbesondere Kreditvermittler) auf eine in Art. 13B der Richtlinie vorgesehene Steuerbefreiung, die ihnen aber von der Finanzverwaltung verweigert wurde. Auf die Vorlagen dreier deutscher Finanzgerichte entschied der EuGH grundlegend, dass alle Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung der fraglichen Befreiungsnorm zu Gunsten der Steuerpflichtigen erfüllt seien92. Die Finanzgerichte erklärten daraufhin die gesetzlich weiterhin angeordnete Steuerpflicht für nicht anwendbar, doch auf die Revision der Finanzverwaltung lehnte der BFH die Möglichkeit einer Steuerbefreiung unmittelbar auf der Grundlage der Richt-

87 Siehe dazu den Beitrag von Schwenke, Unmittelbare Wirkung von Unionsrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 815 ff. 88 EuGH v. 16.6.1966 – 57/65, ECLI:EU:C:1966:34 – Lütticke. 89 Vgl. übersichtsweise Haltern (Fn. 4), Rz. 1089 ff., auch mit Hinweis auf die Fortsetzung des „Lütticke“-Falls vor dem BFH mit anschließender Verfassungsbeschwerde und BVerfG v.  9.6.1971  – 2 BvR 255/69, BVerfGE 31, 145  – Milchpulver. Außerdem Kruis (Fn.  53), S. 267 f. 90 Siehe BFH v. 18.7.1967 – VII 156/65, BFHE 89, 52 unter 3. mit dem Hinweis, das „Lütticke“-Urteil des EuGH habe „dazu geführt, daß – soweit dem Senat bekannt – bis jetzt weit über 200.000 Einsprüche in Ausgleichssteuersachen bei den HZÄn eingelegt worden sind, die insgesamt schon zu etwa 15.000 Klagen bei den jeweils zuständigen Zollsenaten der FGe geführt haben, die damit ihrer sonstigen rechtsprechenden Tätigkeit auf Jahre hinaus weitgehend entzogen sind“. 91 EuGH v. 3.4.1968 – 28/67, ECLI:EU:C:1968:17 – Molkerei-Zentrale. 92 EuGH v. 19.1.1982 – 8/81, ECLI:EU:C:1982:53 – Becker Rz. 25 ff.; v. 10.6.1982 – 255/81, ECLI:EU:C:1982:225 – Grendel Rz. 9 ff.; v. 22.4.1984 – 70/83, ECLI:EU:C:1984:71 – Kloppenburg Rz. 8 ff.

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linie sowie auch eine Bindung an die EuGH-Entscheidungen ab93. Auf die Verfassungsbeschwerde einer der Steuerpflichtigen entschied das BVerfG allerdings, dass dem EuGH zu folgen sei94. Seitdem ist es jedoch unbestritten und inzwischen gerade im steuerlichen Kontext von der deutschen Finanzrechtsprechung vielfach gerichtlich bestätigt worden, dass nicht allein unmittelbar anwendbare Primärrechtsnormen (und Verordnungen, Art. 288 Abs. 2 AEUV) Anwendungsvorrang genießen, sondern dass auch Richtlinienbestimmungen (Art.  288 Abs.  3 AEUV)  – nach Ablauf ihres Umsetzungszeitraums – unmittelbare Wirkung besitzen können und entgegenstehendes nationales Recht dann unangewendet bleiben muss95. Bei den direkten Steuern hat dieser Erkenntnisprozess etwas gedauert96, doch steht auch dort das Ergebnis eindeutig fest97. c) Modifizierende Fortbildung des nationalen Rechts Als große Herausforderung für die nationalen Gerichte stellt sich jedoch eine Rechtsprechungslinie des EuGH dar, die gerade im Steuerrecht besondere Bedeutung entfaltet und zu einer extrem engen Verzahnung von nationalem Recht und Unionsrecht führt. Hintergrund dieser Rechtsprechung ist im Kern der Umstand, dass im Falle der Nichtanwendung einer unionsrechtswidrigen nationalen Bestimmung (s.o. III.2.b) eine „Lücke“ im nationalen Recht entstehen kann. Diesbzgl. sind bisher bereits verschiedene Fallsituationen aufgetreten. Ihren Ausgangspunkt nahm die einschlägige Judikatur des EuGH schon sehr früh im Bereich der indirekten Steuern, und zwar im Kontext der oben angesprochenen Diskussion um die Vereinbarkeit der Umsatzausgleichsteuer mit Art. 95 EWGV (Art. 110 AEUV). Auf die Vorlage des VII. Senats des BFH im Fall „Molkerei-Zentrale“ sowie eine parallele Vorlage des FG Düsseldorf in der Rechtssache „Gebrüder Lück“ präzisierte der Gerichtshof seinen Ansatz aus „Lütticke“ (s.o. III.2.b) nämlich dahingehend, dass es in der „Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte“ liege, „unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen 93 BFH v. 25.4.1985 – V R 123/84, BFHE 143, 383 unter B.II.3 u. B.II.5; ebenso V R 64/83, juris, V R 175/83, juris, V R 5/84, BFH/NV 1986, 245, und V R 74/84, alle juris; vorher auch schon BFH v. 16.7.1981 – V B 51/80, BStBl. II 1981, 692. 94 BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85 – Kloppenburg, BVerfGE 75, 223 unter B.II u. B.III. 95 Zum MwSt-Recht z.B. BFH v. 17.2.2009  – XI R 67/06, BStBl.  II 2013, 967 unter II.2; v. 23.10.2014  – V R 20/14, BStBl.  II 2016, 785 unter II.2 u. II.3; v. 31.5.2017  – V R 31/16, BFH/NV 2017, 1334 unter II.2. Zum Verbrauchsteuerrecht etwa BFH v. 30.11.2004 – VII R 25/01, BFH/NV 2005, 588; v. 12.10.2006 – VII B 302/05, BFH/NV 2007, 210 unter II.1.a. Vgl. allgemein im Kontext von § 1 Abs. 1 Satz 2 AO auch BFH v. 18.10.2012 – V B 45/12, juris, unter 1.a. 96 Vgl. zu den Grundfreiheiten nur die Zurückhaltung bei BFH v. 14.4.1993  – I R 29/92, BStBl. II 1994, 27 unter II.B.1 (= C-279/93 – Schumacker) und die Darstellung der raschen Rezeption der EU-rechtlichen Vorgaben durch den I. Senat bei Gosch, DStR 2007, 1553. 97 Siehe explizit etwa BFH v. 13.6.2006 – I R 78/04, BStBl. II 2008, 821 unter III.3; FG Hamburg v. 15.4.2015  – 2 K 66/14, EFG 2015, 1404 unter 2.b.bb, bestätigt durch BFH v. 30.9.2015 – I B 66/15, BFH/NV 2015, 1708 unter II.3.

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diejenigen zu wählen, welche zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht gewährten individuellen Rechte geeignet erscheinen“; so sei es „insbesondere Sache des nationalen Gerichts, nach seinem eigenen Recht darüber zu entscheiden, ob eine Abgabe, die nur über einen bestimmten Betrag hinaus mit Artikel  95 Absatz  1 unvereinbar ist, insgesamt rechtswidrig ist oder nur insoweit, als sie jenen Betrag übersteigt“98. Der BFH setzte diese Vorgaben dann anschließend in der Weise um, dass er den (nach § 7 Abs. 4 Satz 1 UStG 1951) maßgeblichen nationalen Ausgleich­ steuersatz (von 4 %) nur insoweit für nicht anwendbar erklärte, wie dieser im Spitzenbereich ggü. Wareneinfuhren aus anderen EU-Staaten diskriminierend wirkte (i.H.v. 1 %), während der Steuersatz im Übrigen (i.H.v. 3 %) unverändert anwendbar blieb. Durch diese Lösung vermied der BFH, „dass überhaupt keine Abgabe erhoben werden könnte“99. Ganz ähnlich ging der VII. Senat auch in einem Fall zur Tabaksteuer vor. Dort hatte der EuGH zunächst auf die Vorlage des FG Düsseldorf in einem Parallelverfahren entschieden, dass die seinerzeit in § 4 Abs. 1 Nr. 2 TabakStG für Zigarillos enthaltene Kombination einer ad valorem-Steuer (5 % des Kleinverkaufspreises) mit einer Mindeststeuer (3,1 Pfennig) ein Besteuerungsmodell darstelle, das gegen die Verbrauchsteuer-Richtlinie 92/80/EWG verstoße100. Dabei hatte der Gerichtshof es abgelehnt, die unmittelbare Wirkung der Richtlinie nur auf die Mindeststeuer zu begrenzen und die ad valorem-Berechnung im Übrigen aufrechtzuerhalten, zugleich aber auf die Verpflichtung der mitgliedstaatlichen Gerichte hingewiesen, die Auslegung des nationalen Rechts „soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen“101. Der VII. Senat leitete hieraus ab, dass auch aus Sicht des EuGH „die hiernach durchaus in Frage kommende Nichtbesteuerung der Zigarillos“ keine EU-rechtskonforme Lösung darstelle und folglich „das gemeinschaftsrechtswidrige Besteuerungsmodel des § 4 Abs. 1 Nr. 2 TabakStG steuererhaltend auszulegen“ sei: in Orientierung am Richtlinienwortlaut und -zweck bilde die ad valorem-Besteuerung das vom deutschen Gesetzgeber gewählte und dem Grunde sowie der Höhe nach auch von der Richtlinie akzeptierte Modell; dieses sei daher weiterhin anzuwenden und nur der richtlinienwidrigen Komponente des Mindestbetrags die Anwendung zu versagen102. Dieser Ansatz einer „steuererhaltenden“ punktgenauen Dosierung des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs wurde anschließend vom I. Senat des BFH in den Bereich der Ertragsteuern übernommen und weiterentwickelt. Ausgangspunkt war dabei die Antwort des EuGH auf die Vorlage des Senats im Fall „CLT-UFA“, wonach zwar einerseits der für inländische Betriebsstätten gebietsfremder KSt-Subjekte vor 98 Siehe EuGH v. 3.4.1968 (Fn.  91), unter 1.D; v. 4.4.1968  – 34/67, ECLI:EU:C:1968:24  – ­Gebrüder Lück. Vgl. zu Art.  95 Abs.  2 EWGV auch EuGH v. 4.4.1968  – 27/67, ECLI:EU:C:1968:22 – Fink-Frucht. 99 BFH v. 11.7.1968 – VII 156/65, BFHE 92, 405 unter 3. u. 4.; v. 15.1.1969 – VII R 13/67, BFHE 95, 67 unter III. 100 EuGH v. 15.6.2000 – C-365/98, ECLI:EU:C:2000:323 – Brinkmann Rz. 26 ff. 101 EuGH v. 15.6.2000 (Fn. 100), Rz. 34 ff. 102 BFH v. 11.2.2003 – VII R 8/01, BFH/NV 2003, 878 unter 1.b u. 1.c.

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gesehene Steuertarif von damals 42 % (§ 23 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 KStG a.F.) im Verhältnis zur Besteuerung inländischer Tochtergesellschaften unter Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV) diskriminierend wirke103, es andererseits aber dem nationalen Gericht obliege, den tatsächlich auf eine Inlandsbetriebsstätte anzuwendenden KSt-Tarif „nach Maßgabe des Steuersatzes zu ermitteln, der im Fall der Ausschüttung der Gewinne einer Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft insgesamt anzuwenden gewesen wäre“104. Der I.  Senat löste diese Aufgabe nach eigenem Bekunden mittels einer „gemeinschaftsrechtskonformen und normerhaltenden Auslegung“ der im KStG enthaltenen Tarifnormen, und zwar „unbeschadet deren insofern entgegenstehenden Wortlaut“: er ging vom KSt-Tarif bei unterstellter Vollausschüttung aus (30 %) und erhöhte diesen um die (im Streitjahr 1994 nach der Mutter-Tochter-Richtlinie noch in diesem Umfang zulässige) Kapitalertragsteuer auf die Ausschüttung (5  % x 70  %), was letztlich zu einem Steuersatz von 33,5 % führte. Diesen Weg beschritt der I. Senat vor allem, „um eine mangels entsprechender ausdrücklicher gesetzlicher Regelungen anderweitig gänzlich entfallende Besteuerung von Betriebsstätten ausländischer EU-Kapitalgesellschaften zu vermeiden“105. Legt man nun die vorgenannten BFH-Entscheidungen nebeneinander, so lässt sich jene zum Verstoß gegen die Richtlinie 92/80/EWG in „technischer“ Hinsicht noch schlicht durch die teilweise Nichtanwendung der damit konfligierenden nationalen Norm erklären: bei der Besteuerung von Zigarillos wurde der zweite Halbsatz des § 4 Abs.  1 Nr.  2 TabakStG  a.F. („…, mindestens 3,1 Pf pro Stück“) unionsrechtlich verdrängt und daher für Zwecke der Anwendung des deutschen Gesetzes ausgeblendet, die tatsächlich Besteuerung folglich nur noch auf den ersten Halbsatz („5 vom Hundert des Kleinverkaufpreises, …“) gestützt. Schon die Reaktion auf die EuGH-Rechtsprechung zu Art. 95 EWGV (Art. 110 AEUV) ist aber bei näherer Betrachtung weniger schlicht gelagert: da der gesetzlich vorgesehene Ausgleichsteuertarif auf die in den Streitfällen eingeführte Ware (insbes. Milchpulver) explizit „vier vom Hundert“ betrug, ist zwar rein rechnerisch recht einfach, mit Blick auf den expliziten Normtext aber doch schon deutlich schwieriger nachvollziehbar, wie nun genau eine teilweise Nichtanwendung dieser Norm zum Ergebnis „drei vom Hundert“ führen soll. Noch komplexer werden die Dinge schließlich, wenn der BFH aus der Kombination zweier an sich nur auf Tochtergesellschaften und ihre Gesellschafter anwendbaren Regelungen (Ausschüttungstarif und Quellensteuersatz) einen neuen Betriebsstättentarif von 33,5 % überhaupt erst konstruieren muss – mit der teilweisen Nichtanwendung eines gesetzlich explizit auf „42 vom Hundert“ festgelegten Steuersatzes hat dies kaum noch etwas zu tun, und auch durch eine bloße „Auslegung“ der nationalen Tarifregelungen (noch dazu gegen den „insofern entgegenstehenden Wortlaut“; s.o.) lässt sich dieses Ergebnis nicht erklären. Dass dennoch das Ergebnis als solches auch in den beiden letztgenannten Fällen zutreffend ist, wird hier nicht in Frage gestellt. Näher zu untersuchen ist jedoch die 103 EuGH v. 23.2.2006 – C-253/03, ECLI:EU:C:2006:129 – CLT-UFA Rz. 14 ff. 104 EuGH v. 23.2.2006 (Fn. 103), Rz. 37. 105 BFH v. 9.8.2006 – I R 31/01, BStBl. II 2007, 838 unter III.7.

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dorthin führende Methode. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass sowohl der Tarif der Ausgleichsteuer als auch der Betriebsstättentarif gegen ein unionsrechtliches Diskriminierungsverbot verstießen. Gerade für solche Fälle hat der EuGH eine besondere Rechtsprechung entwickelt, die ihren Ursprung im Verbot der geschlechtsbezogenen Diskriminierung von Arbeitnehmern (Art.  119 EWGV; heute Art.  157 AEUV) hat106 und von dort über die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV)107 in den Bereich der Grundfreiheiten transportiert wurde. Speziell im sozialversicherungsrechtlichen Fall „Terhoeve“ hat der Gerichtshof zunächst an seine ständige Rechtsprechung erinnert, wonach jedes nationale Gericht die unionsrechtlichen Positionen der einzelnen schützen und „nötigenfalls jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet“ lassen müsse. Wie der EuGH jedoch sogleich hinzufügte, haben dann, „wenn das nationale Recht unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht eine unterschiedliche Behandlung mehrerer Personengruppen vorsieht, die Angehörigen der benachteiligten Gruppe Anspruch auf die gleiche Behandlung und auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen Betroffenen, wobei diese Regelung, solange das Gemeinschaftsrecht nicht richtig durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt“. Auch die konkreten Rechtsfolgen machte der EuGH deutlich: danach waren nämlich im dortigen Fall „die Sozialversicherungsbeiträge, die von Arbeitnehmern geschuldet werden, die ihren Wohnort von einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegen, um dort einer abhängigen Beschäftigung nachzugehen, in gleicher Höhe wie die Beiträge festzusetzen, die von Arbeitnehmern geschuldet würden, die ihren Wohnort im selben Mitgliedstaat beibehalten haben“108. Quasi als Verlängerungsstück des Anwendungsvorrangs verlangt der EuGH also, zur sofortigen Beseitigung einer EU-rechtswidrigen Diskriminierung (bis zum Ergehen einer nichtdiskriminierenden Lösung durch den nationalen Gesetzgeber) die für die rechtswidrig bevorzugte Personengruppe vorgesehene nationale Regelung als „das einzig gültige Bezugssystem“ zu behandeln und auch auf die benachteiligte Personengruppe anzuwenden. Es kommt also gerade nicht zu einer Unanwendbarkeit der günstigeren Regelung für erstgenannte Gruppe, sondern ganz im Gegenteil zu deren Erhalt als „Bezugssystem“ mit Erstreckung auch auf letztgenannte Gruppe. Wie der Gerichtshof im Kontext des Art. 157 AEUV hervorgehoben hat, wird durch diesen Ansatz vermieden, dass in Diskriminierungsfällen durch das unionsrechtliche Gleichbehandlungsgebot eine „Regelungslücke“ im nationalen Recht entsteht109. Die Umsetzung dieser unionsrechtlichen Vorgabe obliegt dann wiederum im jeweiligen Einzelfall den nationalen Instanzen, insbesondere also den Gerichten. Wenn diese aber einerseits im Rahmen ihrer Pflicht zur EU-rechtskonformen Auslegung der 106 Siehe dort EuGH v. 4.12.1986 – 71/85, ECLI:EU:C:1986:465 – FNV Rz. 22; v. 24.3.1987 – 286/85, ECLI:EU:C:1987:154  – McDermott u.a. Rz.  18; v. 1.7.1993  – C-154/92, ECLI:EU:C:1993:282  – van Cant Rz.  20; v. 21.6.2007  – verb. Rs. C-231 bis C-233/06, ECLI:EU:C:2007:373 – Jonkman u.a. Rz. 39 m.w.N. 107 EuGH v. 15.1.1998 – C-15/96, ECLI:EU:C:1998:3 – Schöning-Kougebetopoulou Rz. 32 f. 108 EuGH v. 26.1.1999 – C-18/95, ECLI:EU:C:1999:22 – Terhoeve Rz. 56-58. 109 Vgl. dazu explizit EuGH v. 15.12.1994 – verb. Rs. C-399, C-409 u. C-425/92 sowie C-34, C-50 u. C-78/93, ECLI:EU:C:1994:415 – Helmig u.a. Rz. 12-14.

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nationalen Regelungen an die Grenzen des Möglichen stoßen und einen Konflikt mit dem Unionsrecht nicht von vornherein vermeiden können (s.o. III.2.a), ihnen andererseits jedoch vom EuGH die Möglichkeit der vollständigen Nichtanwendbarkeit des nationalen Rechts (s.o. III.2.b) versagt wird, bleibt ihnen letztlich nur ein dritter Weg: sie müssen das bestehende nationale Recht in einer solchen Weise unionsrechtskonform modifizieren, dass das „Bezugssystem“ auch für die EU-rechtlich ­geschützten (speziell im Bereich der Grundfreiheiten: grenzüberschreitenden) Sachverhalte gilt. Es geht im Kern also um eine gesetzesübersteigende richterliche Rechtsfortbildung110, die je nach Ausgestaltung der betroffenen Gesetzesbestimmungen mittels teleologischer Reduktion oder aber Analogie (bzw. teleologischer Extension111) erfolgen kann112. In diesem Kontext werden im Schrifttum mit z.T. unterschiedlicher Schwerpunktbildung mehrere Fallgruppen unterschieden113, wobei hier zunächst die Erstreckung der Rechtsfolgen begünstigender Normen auf EU-rechtlich geschützte Sachverhalte im Vordergrund steht. In diese Kategorie fällt zum Beispiel die Entscheidung des I. Senats des BFH im Anschluss an das EuGH-Urteil „Conijn“114: dort wurde zur sofortigen Gleichbehandlung mit Gebietsansässigen nach Maßgabe der Niederlassungsfreiheit die in §  50 Abs. 1 Satz 5 EStG 1997 enthaltene Auflistung von Normen („§§ 9a, 10, 10c, …“), die auf beschränkt Steuerpflichtige „nicht anzuwenden“ sind, so angewandt, als sei darin die Regelung des § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG 1997 über den Sonderausgabenabzug von Steuerberatungskosten nicht enthalten, was dann auch dem auslandsansässigen Kläger den Abzug ermöglichte115. Dies geht über eine reine Auslegung des nationalen Rechts ebenso hinaus wie die in Folge des EuGH-Urteils „Schwarz“116 ergangene 110 Siehe treffend dazu bereits FG Berlin v. 25.8.2003 – 9 K 9312/99, EFG 2003, 1709 unter 3.b. 111 Zur Ähnlichkeit vgl. allgemein Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 202 ff. und S. 216 ff.; speziell zur Analogie im vorliegenden Kontext M. Lang, SWI 2009, 216 (219, 223 ff.). 112 Siehe allgemein Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 233 ff.; ders., EuZW 2007, 396 (399 f.); Kruis (Fn. 53), S. 239 ff.; Ehrke-Rabel in Schön/Röder, Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts II, 2014, S. 39 (S. 46, 53, 58 ff.); Leible/Domröse in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 8 Rz. 58 ff. m.w.N. 113 Siehe dazu Rust, IStR 2009, 382 (384 ff.); M. Lang in FS J. Lang, 2010, S. 1003 (S. 1016 ff.); Hey, StuW 2010, 301 (312  ff.); Kokott/Henze (Fn.  46), S.  279 (S.  293  ff.); Mellinghoff/ Schießl in Lüdicke, Praxis und Zukunft des deutschen Internationalen Steuerrechts, 2012, S. 45 (S. 60 ff.); Levedag in Gräber, 8. Aufl. 2015, Anhang Rz. 191 ff. 114 EuGH v. 6.7.2006 – C-346/04, ECLI:EU:C:2006:445 – Conijn. 115 BFH v. 20.9.2006  – I R 113/03, BFH/NV 2007, 220 unter III.1. Ähnlich gelagert, aber noch eher durch eine (teilweise) Nichtanwendung des nationalen Rechts erklärbar ist die durch die Kapitalverkehrsfreiheit veranlasste Ausblendung des §  5 Abs.  2 Nr.  3 KStG 1996, der beschränkt steuerpflichtige Körperschaften generell von den Steuerbefreiungen nach § 5 KStG 1996 ausschloss, bei BFH v. 20.12.2006 – I R 94/02, BStBl. II 2010, 331 unter III.2, im Anschluss an EuGH v. 14.9.2006 – C-386/04, ECLI:EU:C:2006:568 – Centro di Musicologia. 116 EuGH v. 11.9.2007 – C-76/05, ECLI:EU:C:2007:492 – Schwarz.

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Entscheidung des X. Senats, die zur Gewährleistung der Dienstleistungsfreiheit und der Unionsbürgerfreizügigkeit (Art. 21 Abs. 1 AEUV) die Norm des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG  a.F. über den Sonderausgabenabzug des „Entgelts  … für den Besuch einer  … Ersatzschule sowie einer … Ergänzungsschule“ so anwendete, als ob dort die – allein auf Inlandsschulen bezogenen – weiteren Tatbestandsmerkmale bzgl. der Genehmigung, Erlaubnis oder Anerkennung der Schule nicht enthalten seien117. Gleiches gilt für die Vorgehensweise des VIII. Senats beim Übungsleiterfreibetrag nach § 3 Nr. 26 EStG a.F., den Gesetzestatbestand im Anschluss an das „Jundt“-Urteil des EuGH118 „in normerhaltender Weise zu reduzieren“, so dass das Erfordernis eines „inländischen“ Charakters der die Dienste empfangenden Körperschaft „bei der Rechtsanwendung nicht zu beachten“ sei119. Auf diese Weise muss die nationale Finanzrechtsprechung in Folge der EuGH-Judikatur mitunter ganze Teilbereiche des nationalen Steuerrechts neu „modellieren“, um den unionsrechtlichen Anforderungen zu genügen. Besonders deutlich wurde dies bei der Besteuerung auslandsansässiger Künstler und Sportler, die sich vor den Urteilen des Gerichtshofs in den Fällen „Gerritse“, „Scorpio“ und „Centro Equestre“120 durch einen besonderen abgeltenden Bruttosteuerabzug (§  50 Abs.  5 Satz  1 i.V.m. §  50a Abs.  4 EStG 1990) mit nachgelagertem vereinfachten Erstattungsverfahren (§  50 Abs. 5 Satz 4 Nr. 3 EStG 1997) auszeichnete: mit Blick auf die Dienstleistungsfreiheit ließ der I. Senat des BFH zunächst die „einschränkenden tatbestandlichen Voraussetzungen“ des § 50 Abs. 5 Satz 4 Nr. 3 EStG 1997 hinsichtlich des Umfangs vorhandener Aufwendungen außer Betracht, um den Zugang zum Erstattungsverfahren zu erweitern121, um anschließend § 50a Abs. 4 EStG 1990 „in gemeinschaftsrechtskonformer Weise (so) zu verstehen“, dass der Quellensteuerabzug auch auf Nettobasis erfolgen könne, sofern der Vergütungsgläubiger dem Schuldner nur vorab seine unmittelbar mit der vergüteten Tätigkeit zusammenhängenden Aufwendungen mitteile122. Dies überschreitet in der Sache deutlich den Rahmen einer reinen Gesetzesauslegung, und insbesondere der letztgenannte Schritt beim Quellensteuerabzug geht in Richtung einer zweiten Kategorie, bei der zum Zwecke der Zurückschneidung belastender Normen auf ein unionsrechtskonformes Maß ergänzende entlastende Merkmale in den Gesetzestatbestand „hineingelesen“ werden. Auch insofern hat sich insbesondere der I.  Senat des BFH hervorgetan: er brachte zum einen §  18 Abs.  3 117 BFH v. 17.7.2008 – X R 62/04, BStBl. II 2008, 978 unter II.2.a. 118 EuGH v. 18.12.2007 – C-281/06, ECLI:EU:C:2007:816 – Jundt. 119 BFH v. 22.7.2008 – VIII R 101/02, BStBl. II 2010, 265 unter IV.1. Ebenso anschließend auch BFH v. 21.10.2008 – X R 15/08, BFH/NV 2009, 559 unter II.2.a. 120 EuGH v. 12.6.2003 – C-234/01, ECLI:EU:C:2003:340 – Gerritse; v. 3.10.2006 – C-290/04, ECLI:EU:C:2006:630  – Scorpio; v. 15.2.2007  – C-345/04, ECLI:EU:C:2007:96  – Centro Equestre. 121 BFH v. 10.1.2007 – I R 87/03, BStBl. II 2008, 22 unter III.4.c; v. 24.4.2007 – I R 93/03, BStBl. II 2008, 132 unter III.2.b. 122 BFH v. 24.4.2007 – I R 39/04, BStBl. II 2008, 95 unter IV.5.b. Vgl. außerdem im Anschluss an „Gerritse“ zum Kostenabzug BVerfG v. 9.2.2010 – 2 BvR 1178/07, IStR 2010, 327 unter III.2.c, sowie zur unionsrechtskonformen Ermittlung des anwendbaren Steuersatzes BFH v. 27.7.2011 – I R 56/10, BFH/NV 2012, 181 unter II.2.e m.w.N.

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Umsetzung von EuGH-Entscheidungen

AuslInvestmG in weitreichender Abweichung vom Wortlaut so zur Anwendung, dass Einkünfte von ausländischen sog. schwarzen Fonds „entsprechend den für inländische Fonds geltenden Regelungen des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften und des § 20 EStG 1990“ zu ermitteln seien123; zum anderen las er – in Orientierung an der „Cadbury Schweppes“-Entscheidung des EuGH124 – „im Einklang mit den regelungsimmanenten Wertungen“ in die §§ 7 ff. AStG a.F. hinein, dass dem von einer potenziellen Einkünftehinzurechnung betroffenen inländischen Steuerpflichtigen ein „‚Motivtest‘ über seine tatsächlichen wirtschaftlichen Aktivitäten im Einzelfall zu gewähren“ sei125. Ganz ähnlich entschied er schließlich in Folge des „Glaxo Well­ come“-Urteils des Gerichtshofs126, dass § 50c EStG 1990 aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur insofern angewendet dürfe, wie dies erforderlich sei, „um die Ausgewogenheit der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren und um rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu verhindern, die allein zu dem Zweck geschaffen wurden, ungerechtfertigt in den Genuss eines Steuervorteils zu kommen“127. Wie die vorgenannten Beispiele zeigen, reicht die Skala der rechtsfortbildenden Maßnahmen, zu denen der mitgliedstaatliche Finanzrichter je nach Fallsituation EU-­ rechtlich veranlasst sein kann, von minimalinvasiven Eingriffen in die bestehende nationale Gesetzeslage durch Ausblendung einzelner Teile von Tatbestandsmerkmalen bis hin zum ergänzenden „Hineinlesen“ umfassender neuer Tatbestandsmerkmale. Während jedoch die Anzahl der Anwendungsfälle unaufhörlich zunimmt128, ist die systematische Aufarbeitung der Thematik im wissenschaftlichen Schrifttum noch überschaubar. Fundamentalkritik wurde bislang primär aus der Perspektive des Gewaltenteilungsprinzips erhoben im Hinblick auf die grundfreiheitlich veranlasste Ausdehnung begünstigender (speziell: Sozialzweck-) Normen auf grenzüberschreitende Sachverhalte, da der nationale Richter in diesen Fällen in regelungsgestaltender Weise tätig werden und „eine Art Ersatzgeber spielen“ müsse129. Ein gewisses Echo hat diese Kritik in der Tat jüngst in einer Entscheidung des II. Senats des BFH zum 123 BFH v. 25.8.2009 – I R 88, 89/07, BStBl. II 2016, 438 unter C.III.2; ansatzweise zuvor auch schon BFH v. 18.11.2008 – VIII R 24/07, BStBl. II 2009, 518 unter II.5. 124 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/94, ECLI:EU:C:2006:544 – Cadbury Schweppes u.a. 125 BFH v. 21.10.2009 – I R 114/08, BStBl. II 2010, 774 unter II.4.c.bb. 126 EuGH v. 17.9.2009 – C-182/08, ECLI:EU:C:2009:559 – Glaxo Wellcome. 127 BFH v. 3.2.2010 – I R 21/06, BStBl. II 2010, 692 unter II.3.a sowie im zweiten Rechtszug BFH v. 2.7.2014 – I R 57/12, BFH/NV 2015, 11 unter II.2.a. 128 Vgl. zuletzt noch BFH v. 17.5.2017 – X R 10/15, BFH/NV 2017, 1655 unter B.I.3.b.gg zur Anwendung von § 3 Nr. 28 EStG auf Beiträge zu schweizerischer Pensionskasse; unausgesprochen wohl auch BFH v. 22.6.2017 – VI R 84/14, BFH/NV 2017, 1377 unter II.5.b u. II.5.c bzgl. §  6b Abs.  2a EStG i.d.F. des StÄndG 2015 v. 2.11.2015, BGBl.  I 2015, 1834. Außerdem etwa BFH v. 18.12.2013 – I R 71/10, BStBl. II 2015, 361 unter II.7 nach EuGH v. 28.2.2013 – C-168/11, ECLI:EU:C:2013:117 – Beker, zu § 34c Abs. 1 Satz 2 EStG 2002. 129 Siehe prominent insbesondere Gosch, Ubg 2009, 73 (77 f.) sowie auch ders., DStR 2007, 1553 (1555 mit Fn. 18) und DStR 2007, 1895 (1897). Gegen eine richterrechtliche „geltungserhaltende Reduktion“ (und für ein Tätigwerden des Gesetzgebers) am Beispiel der Berücksichtigung „finaler“ Auslandsverluste auch Jochum, IStR 2006, 621 (622 f.). Anders jedoch Ehrke-Rabel (Fn. 112), S. 54.

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Freibetrag nach § 16 ErbStG bei beschränkter Steuerpflicht gefunden130, doch ist festzustellen, dass gerade die primärrechtskonforme Fortbildung des nationalen Rechts vielfach auch in (sehr) weitem Umfang für zulässig erachtet wird131. d) Ergänzung des nationalen Rechts um einen Primärrechtsgrundsatz Eine sachlich noch weitergehende Umsetzung von EuGH-Rechtsprechung durch die deutsche Finanzrechtsprechung kann in der Weise erfolgen, dass ungeschriebene Primärrechtsgrundsätze zur Ausfüllung von Lücken in der nationalen Rechtsordnung herangezogen werden. Eine solche Entwicklung zeichnet sich derzeit im Bereich der Rechtsfolgen von Unionsrechtsverstößen ab. Dazu hat der Gerichtshof zunächst den Grundsatz aufgestellt, dass „das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte darstellt, die den einzelnen durch die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften eingeräumt worden sind, nach denen Abgaben mit gleicher Wirkung wie Zölle oder – gegebenenfalls – die diskriminierende Erhebung von inländischen Abgaben verboten sind“132. Dieser unmittelbar im Primärrecht verankerte Erstattungsanspruch wurde anschließend auch auf sonstige nationale Abgaben einschließlich der direkten Steuern ausgedehnt133. Die Bedeutung dieses unionsrechtlichen Erstattungsanspruchs für das deutsche Steuerrecht ist an sich gering, da zum einen § 37 Abs. 2 AO bereits einen umfassenden steuerschuldrechtlichen Erstattungsanspruch normiert und zum anderen der EuGH den betroffenen Steuerpflichtigen auch hinsichtlich der Durchsetzung des erstgenannten Anspruchs auf das innerstaatliche Verfahrensrecht verweist134, insbesondere hinsichtlich des fristgemäßen Vorgehens gegen einen Steuerbescheid als Rechtsgrundlage der Steuererhebung135. Lange Zeit offen blieb jedoch die Frage, ob mit dem EU-rechtlichen Erstattungsanspruch zugleich auch ein unionsrechtlicher Anspruch des Abgabenpflichtigen auf Verzinsung des Erstattungsbetrags (und ggf. ab wann sowie in welcher Höhe) verbunden ist136. Die Antwort hierauf ist aus der Perspektive des deutschen Steuerrechts deshalb interessant, weil § 233 Satz 1 AO die Ver130 Siehe BFH v. 10.5.2017 – II R 53/14, BFH/NV 2017, 1389 unter III.4.b. 131 Siehe z.B. Herresthal (Fn. 112), S. 324 ff.; Leible/Domröse (Fn. 112), § 8 Rz. 50; Kokott/ Henze (Fn. 46), S. 279 (S. 292). Vgl. außerdem zur sekundärrechtskonformen Rechtsfortbildung BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 unter B.I.3. 132 EuGH v. 9.11.1983 – 198/82, ECLI:EU:C:1983:318 – San Giorgio Rz. 12 m.w.N. 133 EuGH v. 8.3.2001  – verb. Rs. C-397 u. C-410/98, ECLI:EU:C:2001:134  – Metallgesellschaft u.a. Rz. 84; v. 11.7.2002 – C-62/00, ECLI:EU:C:2012:435 – Marks & Spencer Rz. 30, jeweils m.w.N. 134 Siehe etwa EuGH v. 6.7.1995 – C-62/93, ECLI:EU:C:1995:223 – Soupergaz Rz. 41 m.w.N. 135 Dazu z.B. BFH v. 23.11.2006 – V R 67/05, BStBl. II 2007, 436; v. 16.9.2010 – V R 57/09, BStBl. II 2011, 151. 136 Vgl. etwa EuGH v. 16.12.1976 – 33/76, ECLI:EU:C:1976:188 – Rewe-Zentralfinanz Rz. 3, 9; v. 8.3.2001 (Fn. 133), Rz. 86. Eine ausdrückliche Verzinsung von Erstattungsbeiträgen ist nur in wenigen Ausnahmebereichen sekundärrechtlich vorgesehen: vgl. Art. 1 Abs. 16 der Zins- und Lizenzgebühren-Richtlinie (Fn. 13) sowie Art. 114, 116 Abs. 6 des EU-Zollkodexes, Verordnung (EU) Nr. 952/2013 v. 9.10.2013, ABl. EU 2013 L 269/1.

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Umsetzung von EuGH-Entscheidungen

zinsung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis dem Grunde und der Höhe nach („soweit“) auf die explizit gesetzlich vorgesehenen Fälle begrenzt, die innerstaatlichen Normen der §§ 233a ff. AO – insbesondere § 233a AO – aber jeweils nur punktuelle Verzinsungsanordnungen treffen. Erst innerhalb der letzten Jahre hat der EuGH unmittelbar aus dem EU-Primärrecht eine umfassende Verpflichtung der Mitgliedstaaten abgeleitet, „die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten“137. Laut Gerichtshof kommt es zwar „der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zu, die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen, insbesondere den Zinssatz und die Berechnungsmethode für die Zinsen (einfache Verzinsung oder Zahlung von Zinseszinsen) festzulegen“; nach den (aus Art. 4 Abs. 3 EUV abgeleiteten) Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität dürfen die nationalen Regelungen für diesen Zinsanspruch aber „nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen“138. Speziell aus dem Effektivitätsprinzip leitet der EuGH zudem ab, dass die Zinsen „grundsätzlich im Zeitraum vom Tag der zu Unrecht erfolgten Zahlung der fraglichen Steuer bis zum Tag ihrer Erstattung“ entstehen139. Im unmittelbaren Anschluss an eines der maßgeblichen EuGH-Urteile hat zuerst das FG Düsseldorf diesen unionsrechtlichen Zinsanspruch ergänzend zu dem erst ab Rechtshängigkeit eingreifenden Anspruch auf Prozesszinsen (§ 236 AO) im deutschen Abgabenrecht installiert und sich bzgl. des Beginns des Zinslaufs am Zeitpunkt der Abgabenentrichtung sowie bzgl. der Zinshöhe an § 238 Abs. 1 AO orientiert; ebenso entschied kurz darauf das FG Sachsen-Anhalt, und beide Urteile wurden vom VII. Senat des BFH mit präziser Orientierung an den Vorgaben der EuGH-Judikatur bestätigt140. Obwohl jüngst das FG Düsseldorf  – der Antwort des EuGH auf ein eigenes Vorabentscheidungsersuchen folgend – erneut in gleicher Weise entschieden hat und darin auch vom VII. Senat des BFH bestätigt wurde141, hat die breitere Fachwelt diese Entwicklung bislang kaum zur Kenntnis genommen. Dies mag daran liegen, dass bis137 EuGH v. 19.7.2012 – C-591/10, ECLI:EU:C:2012:478 – Littlewoods Rz. 26; v. 27.9.2012 – verb. Rs. C-113, C-147 u. C-234/10, ECLI:EU:C:2012:591  – Zuckerfabrik Jülich u.a. Rz. 66; v. 15.10.2014 – C-331/13, ECLI:EU:C:2014:2285 – Nicula, Rz. 29; v. 30.6.2016 – C-205/15, ECLI:EU:C:2016:499 – Toma u.a. Rz. 32 m.w.N. (Hervorhebung hier hinzugefügt). 138 EuGH v. 19.7.2012 (Fn. 137), Rz. 27; v. 18.4.2013 – C-565/11, ECLI:EU:C:2013:250 – Irimie Rz. 23. 139 EuGH v. 18.4.2013 (Fn.  137), Rz.  28; v. 15.10.2014 (Fn.  137), Rz.  37; v. 18.1.2017  – C-365/15, ECLI:EU:C:2017:19 – Wortmann Rz. 39. 140 Siehe im Anschluss an EuGH v. 27.9.2012 (Fn. 137) zunächst FG Düsseldorf v. 9.1.2013 – 4 K 189/10 VZr, unveröffentlicht, sowie dann BFH v. 22.9.2015 – VII R 32/14, BStBl. II 2016, 323 unter II.2; außerdem FG Sachsen-Anhalt v. 10.7.2013 – 2 K 477/13, juris, mit BFH v. 22.9.2015 – VII R 33/14, BFH/NV 2016, 440 unter II.2. 141 Siehe FG Düsseldorf v. 3.5.2017 – 4 K 3268/14 Z, juris unter 2., im Anschluss an EuGH v. 18.1.2017 (Fn. 139); anschließend BFH v. 5.12.2017 – VII B 85/17, BFH/NV 2018, 321. Vgl. zudem FG Hamburg v. 19.7.2017  – 4 K 10/17, juris, sowie anschließend BFH v. 18.12.2017 – VII B 132/17, unveröffentlicht.

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her allein die eher „exotischen“ Bereiche der Produktionsabgaben auf Zucker sowie der Antidumpingzölle betroffen waren. Doch die potenzielle Breitenwirkung dieses unionsrechtlichen Zinsanspruchs sollte nicht unterschätzt werden: der VII. Senat hat nämlich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er den 2007er Beschluss des I. Senats, mit dem dieser (wegen § 233a Abs. 1 Satz 2 AO) eine Verzinsung von grundfreiheitswidrig einbehaltenen Quellensteuern ausgeschlossen hatte142, als überholt erachte143. Insofern liegt es nahe, dass zukünftig noch einige Lücken im Verzinsungssystem der §§ 233 ff. AO seitens der Finanzgerichtsbarkeit unionsrechtlich ausgefüllt werden.

IV. Ausblick Die deutsche Finanzrechtsprechung steht hinsichtlich der Beachtung des Unionsrechts und der Umsetzung der dazu ergangenen Judikatur des EuGH vor einer enormen Aufgabe. Sie hat diese Herausforderung in den vergangenen sechs Jahrzehnten seit dem Inkrafttreten des EWGV angenommen und ist ihr vielfach kritisch begegnet, so insbesondere dann, wenn der EuGH juristisches Neuland betreten hat wie etwa bei der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 95 EWGV (Art. 110 AEUV), der unmittelbaren Wirksamkeit von Richtlinien oder auch bei der Messung nationaler Steuervorschriften an den Grundfreiheiten sowie jüngst am Beihilfeverbot. Es ist jedoch gerade die kritische Reflexion seitens des nationalen Richters, die den EuGH zur kohärenten Fortentwicklung des Unionsrechts zwingt, und insofern tun die deutschen Finanzgerichte und der BFH gut daran, den bisherigen Weg konsequent weiterzugehen. Die deutsche Finanzgerichtsbarkeit tritt insofern als ebenbürtiger Gesprächspartner in den „Dialog der Richter“ mit dem Gerichtshof in Luxemburg ein, und vor allem der BFH hat – als vorlagefreudigstes mitgliedstaatliches Gericht überhaupt144 – ganz erheblichen Anteil daran, dass dieser Dialog in intensiver Form aufrechterhalten bleibt. Aus der Sicht des praktizierenden Anwalts ist zudem festzustellen, dass die Berücksichtigung des EU-Rechts im Rahmen eines FG- oder BFH-Verfahrens schon lange den Charakter des „Exotischen“ verloren hat und heute zum Standardrepertoire jedes Finanzrichters zählt. Die Finanzgerichte und der BFH sind sich erkennbar der Tatsache bewusst, dass sie immer mehr (auch) als „Unionsgerichte“ in Anspruch genommen werden und bei der innerstaatlichen Umsetzung des Unionsrechts sowie speziell auch der dazu ergehenden Rechtsprechung des EuGH eine ganz entscheidende Schlüsselrolle spielen. In diesem Bereich wird zukünftig eine wesentliche Herausforderung für den Finanzrichter in der Feinjustierung der Verzahnung zwischen nationalem und europäischem Recht bestehen, wofür ihm die in diesem Beitrag gegebene Übersicht über die möglichen „Techniken“ eine Hilfestellung geben mag.

142 BFH v. 18.9.2007 – I R 15/05, BStBl. II 2008, 332 unter III. 143 Vgl. BFH v. 22.9.2015 – VII R 32/14 (Fn. 140) unter II.2.c sowie VII R 33/14 (Fn. 140) unter II.2.c. Zu möglichen Folgen für die Umsatzsteuer auch Herbert, MwStR 2014, 266. 144 Siehe bereits Kokott/Henze (Fn.  46), S.  279 in Fn.  2 sowie EuGH, Jahresbericht Recht­ sprechungstätigkeit 2016 (https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/201703/ra_2016_de.pdf), S. 113 ff.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … D. I.

Internationalisierung des Internationalen Steuerrechts Von Wolfgang Schön

Inhaltsübersicht I. Die traditionelle Sicht auf das inter­ nationale Steuerrecht II. Internationalisierung der Auslegung 1. Auslegungsregeln für Doppelbesteuerungsabkommen 2. Der Bezug auf ausländische Jurisprudenz und internationales Schrifttum 3. Der Bezug auf Materialien der OECD 4. Vereinheitlichungsziele in der ­Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen III. Internationalisierung der Inhalte 1. Die Schaffung internationaler ­Besteuerungsstandards 2. Die Berücksichtigung ausländischer Steuerwirkungen 3. Die Vernetzung des internationalen Steuerverfahrens

IV. Internationalisierung der Rechtsquellen 1. Die „Multilateralisierung“ der inter­ nationalen Steuernormen 2. Multilateral Competent Authority Agreements 3. Internationales „Soft Law“ V. Internationalisierung der Institutionen VI. Internationalisierung der Streit­ beilegung 1. Internationale oder supranationale Gerichtsbarkeit 2. Verständigungsverfahren und steuerliche Schiedsverfahren 3. Bindung der Gerichte an das Ergebnis von Verständigungsverfahren? VII. Ausblick

Das Jubiläum der Gründung des Reichsfinanzhofs/Bundesfinanzhofs vor 100 Jahren fällt für das internationale Steuerrecht der Bundesrepublik Deutschland in eine Zeitenwende. Das von nationaler Gesetzgebung und bilateralen Abkommen geprägte Rechtsgebiet wird seit der Jahrtausendwende von der Globalisierung eingeholt – in seinen normativen Grundlagen, seinen Methoden, seinen Inhalten und seinen Institutionen. Wie sich dieser Wandel vollzieht und welche Perspektiven sich daraus für die Gerichtspraxis ergeben, wird im Folgenden dargelegt: Das internationale Steuerrecht – so die These – wird (erst) jetzt wahrhaft international.

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I. Die traditionelle Sicht auf das internationale Steuerrecht Das internationale Steuerrecht der Bundesrepublik Deutschland ist seit den Gründerjahren des Reichsfinanzhofs geprägt durch eine Tradition, welche das nationale Steuerrecht (insbesondere das „Außensteuerrecht“ i.S.  des Corpus innerstaatlicher Normen, die auf grenzüberschreitende Sachverhalte Anwendung finden) und das Recht der Doppelbesteuerungsabkommen in einem geschlossenen System aufeinander abstimmt1. Ausgangspunkt der Besteuerung ist immer das nationale Steuergesetz, dessen Erlass den Kompetenzregeln des Grundgesetzes folgt und das inhaltlich den Anforderungen der Grundrechte, aber auch den rechtsstaatlichen Prinzipien der Bestimmtheit und des Vertrauensschutzes genügen muss2. Dieser Zugriff des nationalen Steuergesetzes wird – namentlich auf den Gebieten der Besteuerung von Einkommen, Vermögen und Erbschaften – seinerseits durch die Doppelbesteuerungsabkommen eingeschränkt3. Diese sind ihrem Ursprung nach völkerrechtliche Verträge i.S.  der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) und bedürfen  – so die bis heute herrschende „dualistische“ Lehre in Deutschland4 – zu ihrer innerstaatlichen Wirksamkeit der Transformation durch ein Bundesgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG). Damit stehen die Doppelbesteuerungsabkommen und das innerstaatliche Steuerrecht sich nicht unverbunden gegenüber, sie bilden vielmehr einen geschlossenen Rechtskreis, der beiden Rechtsquellen nicht nur den gleichen verfassungsrechtlichen Status vermittelt, sondern sie auch inhaltlich miteinander verschränkt. Der „Vorrang“ der Doppelbesteuerungsabkommen gegenüber dem innerstaatlichen Steuerrecht, den §  2 AO formuliert, ist lediglich methodischer Natur5: Zugleich ist in diesem verfassungsrechtlichen Rahmen die Konsequenz angelegt, dass der Bundesgesetzgeber die innerstaatliche Wirksamkeit von Doppelbesteuerungsabkommen durch einfaches Gesetz aufheben oder einschränken kann. Das Bundesverfassungsgericht hat im Dezember 2015 in einem Grundsatzbeschluss die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des treaty override6 unbeschadet des damit verbundenen völkerrechtlichen Vertragsbruchs (vgl. Art. 27 WVK) bestätigt7. Die Wahrnehmung des internationalen Steuerrechts – sei es des Außensteuerrechts, sei es des Abkommensrechts – als Bestandteil des innerstaatlichen Rechts setzt sich fort in einer umfassenden Rechtsprechungshoheit der innerstaatlichen Gerichte. Be1 Näher Schön, Internationales Steuerrecht, in Kube et al. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. 2, 2013, § 150. 2 Zum Gesetzesvorbehalt im Verhältnis Völkerrecht/Gesetzesrecht bei staatlichen Eingriffen: Talmon, JZ 2013, 12 (17 f.). 3 RFH RStBl. 1935, 1339; dazu Bühler, 19/4 ZaöRV 1958, 668 (689 ff.). 4 Grundsatzkritik bei Peters, 65 ZöR (2010), 3 ff. 5 Drüen in Tipke/Kruse, § 2 AO Rz. 38a. 6 Zum internationalen Diskussionsstand siehe: Lehner in Vogel/Lehner, 6. Aufl. 2013, Grundlagen des Abkommensrecht Rz. 194 ff.; Schönfeld/Häck in Schönfeld/Ditz, 1. Aufl. 2015, Systematik DBA Rz. 146 ff.; De Pietro, WTJ 2015, 73 ff. 7 BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1.

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reits der Reichsfinanzhof erklärte sich für zur Auslegung und Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen zuständig8  – eine Tradition, die der Bundesfinanzhof ohne Einschränkungen fortgesetzt hat. Der grundgesetzliche Anspruch nach Art. 19 Abs. 4 GG auf gerichtliche Überprüfung staatlicher Akte erstreckt sich auch auf deren Vereinbarkeit mit innerstaatlich bindendem Völkerrecht9. In der Konsequenz dieser Rechtslage hat der Bundesfinanzhof sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem hoch produktiven Kompetenzzentrum für internationale Steuerfragen entwickelt, dessen Jurisprudenz weltweit Beachtung beansprucht und findet. Eng verbunden mit dieser institutionellen Tradition des deutschen internationalen Steuerrechts ist der Drang nach einer inhaltlichen Abstimmung zwischen den innerstaatlichen und den völkerrechtlichen Steuernormen. Aus der Perspektive des innerstaatlichen Rechts zeigt sich dies in der Neigung, Rechtsnormen und Rechtsinstitute der nationalen Steuerordnung auf internationale Sachverhalte zu übertragen – etwa in der Erstreckung der Regeln der verdeckten Gewinnausschüttung auf die Verrechnungspreiskontrolle von Schuldverhältnissen in internationalen Konzernstrukturen10, in der Übertragung der Regeln der Entnahme auf die grenzüberschreitende Verbringung von Wirtschaftsgütern11 oder bei der Anwendung des Veranlassungsprinzips auf die Gewinnzuordnung zwischen Geschäftsleitung und Betriebsstätte12. Aus der Perspektive des Abkommensrechts zeigt sich dies vor allem in einem vielfältigen Rekurs auf die in vielen Abkommen in Anlehnung an Art. 3 Abs. 2 OECD-MA angelegte Befugnis, undefinierte Begriffe in Doppelbesteuerungsabkommen in Übereinstimmung mit dem Begriffsverständnis des nationalen Steuerrechts auszulegen13. Diese Tradition hat große Vorzüge  – Geschlossenheit, Verlässlichkeit, Systematik, Rechtsstaatlichkeit. Sie birgt aber auch einen Nachteil – die Gefahr der Entkoppelung der deutschen Abkommensinterpretation von internationalen Entwicklungen. Die gegenwärtige steuerpolitische Tendenz auf globaler Ebene ist demgegenüber verstärkt darauf gerichtet, das Verständnis und die Praxis des internationalen Steuerrechts aus ihrer Fokussierung auf das jeweilige innerstaatliche Recht herauszuführen. Wie dieser Trend sich vollzieht und wie er zu bewerten ist, bildet den Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen.

8 Umfängliche Nachweise bei Mirre/Dreutter, Handbuch der Reichssteuergesetze, Bd.  2, Körperschaftsteuergesetz, § 2 KStG Nr. 6. 9 BFH v. 16.11.2016 – II R 29/13, BStBl. II 2017, 413 (420) Rz. 76 f. 10 BFH v. 6.4.2005 – I R 22/04, FR 2005, 1030 (1031) Rz. 13, v. 17.10.2001 – I R 103/00, FR 2002, 154 (156) Rz. 37. 11 BFH v. 16.7.1969 – I R 266/65, BStBl. II 1970, 175 (176 f.) Rz. 14 f. 12 BFH v. 12.10.2016 – I R 92/12, BFHE 256, 32 (45) Rz. 43. 13 Sowohl in der Rechtsprechung: BFH v. 11.7.2012 – I R 76/11, BFH/NV 2012, 1966 (1967) Rz. 12; v. 6.6.2012 – I R 52/11, BStBl. II 2014, 240 (242) Rz. 12, v. 19.5.2010 – I B 191/09, BStBl. II 2011, 156 (158) Rz. 18 f.; als auch in der Finanzverwaltung: BMF v. 16.4.2010 – IV B 2 - S 1300/09/10003 Tz. 2.2.1; Pohl in Schönfeld/Ditz (Fn. 6), Art. 3 DBA Rz. 62.

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II. Internationalisierung der Auslegung 1. Auslegungsregeln für Doppelbesteuerungsabkommen Wenn in der Vergangenheit über eine stärkere Internationalisierung des Internationalen Steuerrechts gesprochen wurde, stand im Vordergrund der Gedanke, bei der Anwendung der Doppelbesteuerungsabkommen in den beteiligten Staaten ein einheitliches Verständnis der Abkommensinhalte zu sichern. Ausgangspunkt war die tradierte Zielsetzung dieser Abkommen, die juristische Doppelbesteuerung derselben wirtschaftlichen Sachverhalte in den vertragschließenden Staaten zu vermeiden. Dafür ist eine hinreichende (wenn auch nicht notwendige) Bedingung ein einheitliches – „autonomes“14 – Verständnis der in den Abkommen niedergelegten Grundsätze, namentlich der Verteilungsnormen, in welchen den beteiligten Staaten jeweils der vorrangige Zugriff auf bestimmte Steuergüter zugewiesen wird. Zentralbegriffe wie „Betriebsstätte“, „Zinsen“, „Dividenden“, „Lizenzgebühren“ und andere Tatbestandsmerkmale, die über die Besteuerungsrechte von Ansässigkeitsstaat und Quellenstaat maßgeblich entscheiden, können ihre Funktion vor allem dann sachgerecht erfüllen, wenn zwischen den Steuerbehörden der beteiligten Staaten kein Dissens über deren Interpretation besteht. Ein übereinstimmendes Verständnis der Begriffe und Regeln der Doppelbesteuerungsabkommen in den beteiligten Staaten ist bereits darin angelegt, dass die Auslegung völkerrechtlicher Verträge im Grundsatz keinen je nach Vertragsstaat unterschiedlichen methodischen Regeln unterliegt, sondern in den Auslegungsvorgaben der Art. 31–33 der (von 116 Staaten ratifizierten) Wiener Vertragsrechtskonvention eine gemeinsame Ausgangsbasis findet. Namentlich die in dieser Konvention enthaltenen Hinweise auf ein in den Vertragsverhandlungen unterstelltes allgemeines oder spezielles Begriffsverständnis der Beteiligten (Art.  31 Abs.  1 und 4 WVK), auf gemeinsame begleitende Absprachen (Art.  31 Abs.  2 WVK) oder eine gemeinsame nachträgliche Staatenpraxis (Art. 31 Abs. 3 WVK) belegen das Ziel, ein einheitliches Verständnis der wechselseitigen Rechte und Pflichten zu konstituieren. In der täglichen Praxis ist dies weniger einfach zu gewährleisten, besteht doch eine natürliche Tendenz nationaler Behörden und Gerichte, ihre je eigenen – im nationalen Recht angelegten – Vorverständnisse bewusst oder unbewusst auf die Abkommensinterpretation zu übertragen. 2. Der Bezug auf ausländische Jurisprudenz und internationales Schrifttum Vor diesem Hintergrund besteht ein erster Schritt der „Internationalisierung“ des internationalen Steuerrechts in der Aufnahme und Verarbeitung ausländischer Stellungnahmen zum Verständnis des Doppelbesteuerungsrechts. International stehen exemplarisch für diese Tendenz bereits seit dem Jahre 1938 die Dokumentations-

14 BFH v. 11.12.2013 – I R 4/13, FR 2014, 490 (491) Rz. 35; v. 6.6.2012 – I R 6, 8/11, FR 2012, 1173 (1174) Rz. 22, 24.

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und Forschungsarbeit des International Bureau of Fiscal Documentation15 in Amsterdam sowie die mit umfangreichen Materialien vorbereiteten Kongresse der in Rotterdam ansässigen International Fiscal Association16. Bereits seit Jahrzehnten präsentiert die in den 70er Jahren ins Leben gerufene International Tax Group rechtsvergleichende Erkenntnisse zur Interpretation zentraler Vorschriften der Doppelbesteuerungsabkommen17. Aus deutscher Sicht ist diese Erweiterung des Blicks über die Grenzen des nationalen Schrifttums hinaus namentlich mit dem Kommentarwerk von Klaus Vogel verbunden18, der sowohl in der deutschen als auch in der englischsprachigen Ausgabe seines Kommentars zu den Doppelbesteuerungsabkommen in erheblichem Umfang ausländische Quellen verarbeitet und damit auch der inländischen Praxis zugänglich gemacht hat. Heute kann die international-steuerrechtliche Community gleich auf mehrere von internationalen Arbeitsgruppen erstellte Kommentierungen des Doppelbesteuerungsrechts zurückgreifen, die einen vorzüglichen Einblick in die Staatenpraxis und in die Entwicklung von Rechtsprechung und wissenschaftlicher Diskussion in anderen Jurisdiktionen ermöglichen19. Konferenz- und Schriftenreihen wie das an der Wirtschaftsuniversität Wien jährlich präsentierte „Tax Treaty Case Law around the Globe“20 tragen das ihre dazu bei, den internationalen Dialog zum Verständnis des Doppelbesteuerungsrechts zu fördern. Aus der Sicht des praktischen Rechtsschutzes steht namentlich die Frage im Raum, in welchem Umfang ausländische Gerichtspraxis von der deutschen Finanzgerichts­ barkeit im Einzelfall zur Kenntnis genommen und als „autoritativ“ verwertet wird. Insoweit scheint der Bundesfinanzhof tendenziell Zurückhaltung zu üben und nicht systematisch, sondern eher im Einzelfall (z.B. auf Vortrag der Parteien oder auf Hinweise im inländischen Schrifttum hin) ausländische Judikatur zur Kenntnis zu nehmen. In mehreren wichtigen Verfahren  – etwa zur grenzüberschreitenden Organschaft21 oder zur grenzüberschreitenden Verlustverrechnung22 – hat er einen solchen Blick über die Grenze gewagt23. Auch zu den nach Art. 25 GG in Deutschland verbindlichen allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts nimmt er ausländische Spruchpraxis zur Kenntnis24. Es würde jedoch zu weit gehen, der ausländischen Ge15 Zusammengefasst in der Research Platform des IBFD (www.ibfd.org). 16 Zusammengefasst in den Cahiers de Droit Fiscal International. 17 Siehe zuletzt Austry/Avery Jones/Baker/Blessing/Danon/Goradia/Inoue/Lüdicke/Maisto/Miyatake/Nikolakakis/van Raad/Vann/Wiman, BIT 2016, 683. 18 Vogel/Lehner (Fn. 6). 19 Reimer/Rust (Hrsg.), Klaus Vogel on Double Taxation Conventions, 2015; Vann et al. (Hrsg.), Global Tax Treaty Commentaries, GTTC (IBFD), 2014; Gutmann et al. (Hrsg.), Modèle de Convention fiscale OCDE concernant le revenu et la fortune, 2014. 20 Zuletzt Lang et al., Tax Treaty Case Law around the Globe 2017, 2017. 21 BFH v. 9.2.2011 – I R 54,55/10, FR 2011, 584 (586) Rz. 17 (UK First Tier Tax Tribunal). 22 BFH v. 17.7.2008 – I R 84/04, BStBl. II 2009, 630 (631) Rz. 10 (Tribunal Administratif Luxemburg und Österreichischer Verwaltungsgerichtshof). 23 Siehe auch zu Ausgleichszahlungen an Angehörige des Europäischen Patentamts: BFH v. 7.7.2015 – I R 38/14, BFH/NV 2016, 180 (181 f.) Rz. 17 (Tribunal Administratif Luxemburg). 24 BFH v. 16.11.2016 – II R 29/13, BStBl. II 2017, 413 (419) Rz. 55 (U.S. Court of Appeals, 9th Circuit).

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richtsbarkeit bereits jetzt einen gewichtigen Einfluss auf die deutsche Finanzrechtsprechung zu den Doppelbesteuerungsabkommen zuzuschreiben25. Man wird abwarten müssen, in welchem Umfang die in den letzten Jahren enorm verbesserte elektronische Zugänglichkeit von ausländischen Urteilstexten die Praxis des Bundesfinanzhofs beeinflussen wird. Nicht zuletzt der informelle Austausch zwischen den mit Steuerfragen befassten Richtern verschiedener Länder auf den jährlichen Tagungen der International Association of Tax Judges26 kann hier fruchtbar wirken. 3. Der Bezug auf Materialien der OECD Eine deutlich stärkere Rolle in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs spielen demgegenüber Materialien, die auf der Ebene der OECD erarbeitet und von den Vertretern ihrer Mitgliedstaaten im Konsens verabschiedet werden. So weist der Bundesfinanzhof in seinen Urteilen regelmäßig auf die Inhaltsgleichheit zwischen einer bilateralen Abkommensvorschrift und ihrem Vorbild im OECD-Musterabkommen hin. Auch werden Abweichungen eines konkreten Abkommens vom Text des OECD-­ Musterabkommens auf ihre Bedeutung für das Verständnis des bilateral vereinbarten Textes geprüft27. Diese Vorgehensweise ist zu begrüßen: Sie ermöglicht dem Bundesfinanzhof einerseits, für die Auslegung der einzelnen bilateralen Abkommen die OECD-Materialien, namentlich den OECD-Kommentar zum Musterabkommen verwerten zu können; die Konsequenz ist andererseits, dass die Sachaussagen der ­jeweiligen Entscheidungsgründe des BFH-Urteils (jedenfalls im Rahmen der deutschen Diskussion) – auch für die Auslegung und Anwendung anderer Doppelbesteuerungsabkommen sowie für die wissenschaftliche Diskussion zum OECD-Muster­ abkommen fruchtbar gemacht werden können. Dabei bleibt der Bundesfinanzhof in seiner Verwertung von offiziellen Texten der OECD nicht auf der Ebene des Musterabkommens stehen. Auch der laufend aktualisierte OECD-Kommentar zum Musterabkommen28 sowie bedeutsame offizielle Berichte, etwa der „Partnership Report“29 der OECD aus dem Jahre 2000 (1999) sowie der „Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments“30 aus dem Jahre 2008, werden vom Bundesfinanzhof rezipiert.

25 Dass der Bundesfinanzhof in Fragen des Europäischen Rechts den Blick über die Grenze suchen muss, um die Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens an den Europäischen Gerichtshof zu prüfen, steht auf einem anderen Blatt (beispielhaft zum Umsatzsteuerrecht siehe BFH v. 24.4.2013 – XI R 7/11, BStBl. II 2013, 648 (654) Rz. 58: französischer Conseil d‘État und Finanzgericht Mailand). 26 Näheres unter www.iatj.net. 27 BFH v. 12.10.2016 – I R 92/12, BFHE 256, 32 (43) Rz. 37. 28 OECD, Commentaries on the Articles of the Model Tax Convention, 2014; BFH v. 24.6.2009 – X R 57/06, FR 2010, 83 (85) Rz. 35 f.; v. 12.10.2016, a.a.O. Rz. 42. 29 OECD, The Application of the OECD Model Tax Convention to Partnerships, 1999; BFH v. 25.5.2011 – I R 95/10, BStBl. II 2014, 760 (762) Rz. 16; v. 11.12.2013 – I R 4/13, FR 2014, 480 (481) Rz. 15. 30 OECD, Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments, 2008; BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, FR 2008, 1149 (1154) Rz. 49.

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In der Sache erweist sich der Bundesfinanzhof daher für internationale Entwicklungen als zunehmend offen, allerdings zugleich wenig geneigt, den OECD-Materialien mehr als eine bloß subsidiäre Funktion zuzubilligen. In (zutreffender) Beschreibung der verfassungs- und völkerrechtlichen Rechtslage bezeichnet er die in den Materialien der OECD zu deren Musterabkommen niedergelegten Rechtsauffassungen als „bloße ‚Meinungsäußerung‘ verschiedener Fisci kraft Mehrheitsbeschlusses innerhalb des OECD-Steuerausschusses“31, die „weder maßgeblich noch verbindlich für die (als solche autonome) Abkommensauslegung durch die (nationalen) Gerichte“ sei. Mit anderen Worten: Den Dokumenten der OECD kommt keine Verbindlichkeit zu, die etwa über die in einem BMF-Schreiben geäußerte Rechtsauffassung der deutschen Finanzverwaltung hinausgehen würde. 4. Vereinheitlichungsziele in der Auslegung von Doppelbesteuerungs­ abkommen Während dem Bundesfinanzhof darin zuzustimmen ist, dass weder den Erkenntnissen ausländischer Judikatur als solchen noch den „Meinungsäußerungen“ der OECD im traditionellen Sinne bindende Wirkung für die Rechtsfindung durch die deutschen Gerichte zukommt, stellt sich doch die Frage, ob die in den Doppelbesteuerungsabkommen angelegte Tendenz zur „Ordnung“ und „Aufteilung“ der Besteuerungshoheit zwischen den Staaten in stärkerem Umfang nach einer „Internationalisierung“ der Auslegung verlangt. Konkret bieten sich dafür zwei Wege an. –– Eine Perspektive besteht darin, den von Klaus Vogel zum Doppelbesteuerungsrecht präsentierten Gedanken der „Entscheidungsharmonie“32 fruchtbar werden zu lassen. Dieser Gedanke zielt darauf, dass die Gerichte verschiedener Staaten im Rahmen ihrer jeweiligen (verfassungsrechtlich und methodologisch umgrenzten) Auslegungsspielräume einen inhaltlichen Gleichlauf mit den Gerichtsentscheidungen anderer Staaten anstreben. Diesem methodischen Ziel der „Entscheidungsharmonie“ entspricht inhaltlich die (nach Art. 31 Abs. 1 WVK beachtliche) Zielsetzung der Abkommen, die Doppelbesteuerung durch geordnete Aufteilung der Besteuerungsgrundlagen zwischen den beteiligten Staaten zu beseitigen33. In den Urteilen des Bundesfinanzhofs hat sich der Gedanke der „Entscheidungsharmonie“ indessen noch nicht als Leitlinie etabliert. Um ein Gegenbeispiel zu geben: In der vieldiskutierten Rechtsprechungslinie des I.  Senats zu den Wirkungen der abkommensrechtlichen „Befreiungsmethode“ auf die Verrechenbarkeit ausländischer Verluste mit inländischen Einkünften hat der Bundesfinanzhof seine scharfe „Symmetriethese“ auch nicht deshalb in Frage gestellt, weil mehrere „benachbarte“ Gerichte (der Österreichische Verwaltungsgerichtshof und das luxemburgische Tribunal Administratif) inhaltsgleiche Vorschriften (im Fall Luxemburg sogar dasselbe

31 BFH v. 11.12.2013, a.a.O. Rz. 15; v. 16.1.2014 – I R 30/12, FR 2014, 709 (712) Rz. 19. 32 Vogel in FS Flick, 1997, S. 1043; Vogel in Vogel/Lehner (Fn. 6), Grundlagen Rz. 115. 33 Vogel in Vogel/Lehner (Fn. 6), Grundlagen Rz. 115; zustimmend Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 4. Aufl. 2017, Rz.19.52.

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Abkommen) zugunsten der Steuerpflichtigen interpretiert haben34. Dass der Bundesfinanzhof in dieser Frage seine Interpretation der Doppelbesteuerungsabkommen nicht zuletzt mit einer zum Abkommen komplementären Entwicklung des innerstaatlichen Rechts (Einführung und Abschaffung des § 2a Abs. 3 EStG) begründet, zeigt, wie stark der gedankliche Zusammenhang zwischen Abkommensrecht und innerstaatlichem Recht auf die Interpretation der Abkommen einwirkt. –– Eine zweite Perspektive könnte darin liegen, die laufenden Arbeiten der OECD stärker bei der Auslegung von DBA-Normen zu berücksichtigen und dafür auch aktuelle Modifikationen des Kommentars zum OECD-Musterabkommen in den Blick zu nehmen. Der Bundesfinanzhof35 hat sich – ganz in Übereinstimmung mit seiner an traditionellen rechtsstaatlichen und methodischen Grundsätzen orientierten Grundhaltung36 – in der Vergangenheit vehement gegen eine solche „dynamische“ Bezugnahme der Abkommen auf die fortgeschriebenen Materialien (seien es Kommentare, seien es OECD-Berichte) ausgesprochen. Die OECD selbst37 und wichtige ausländische Stimmen38 treten demgegenüber dafür ein, einen im Rahmen der OECD-Beratungen gebildeten aktuellen „Konsens“ schon deswegen mit Gewicht für alle geltenden Abkommen der OECD-Mitgliedstaaten zu versehen, weil nur eine entsprechende zeitnahe „dynamische“ Auslegung der Doppelbesteuerungsabkommen deren wirklich gleichmäßige weltweite Anwendung sicherstellt. Eine (gegebenenfalls mehrfache) Aufspaltung der internationalen DBA-Welt in ihrem Verständnis der jeweiligen Einzelvorschriften je nach den Zeitpunkten des Inkrafttretens (bzw. der Überarbeitung) von weltweit mehr als 3.000 Doppelbesteuerungsabkommen erscheint demgegenüber wenig erstrebenswert. Staaten, die sich diesem Konsens verweigern, sind eingeladen, bei der Verabschiedung der „Neuauflage“ des Kommentars einen Vorbehalt („observation“) einzulegen39. Das leuchtet aus der Sicht der Staatengemeinschaft ein  – aber aus der Sicht der Steuerbürger muss gefragt werden, in welchem Umfang ein Konsens in dem von der OECD organisierten „Kartell“ der Finanzverwaltungen ohne dazwischentretende Maßnahmen des Gesetzgebers zu seinen Lasten gehen darf. Der Wunsch nach einer „dynamischen“ Interpretation von Doppelbesteuerungsabkommen führt genau in die heikle Abwägung zwischen rechtstaatlichen Garantien für den einzelnen Steuerbürger und den Vorteilen einer weltweiten Koordination von Besteuerungsrechten, die mit der „Internationalisierung“ des internationalen Steuerrechts auf die Tagesordnung kommt. 34 BFH v. 17.7.2008, a.a.O. Rz. 8; eine günstigere Sicht auf die Rechtsprechung des BFH findet sich bei Drüen (Fn. 5) § 2 AO Rz. 42. 35 BFH v. 17.7.2008, a.a.O. Rz. 49; v. 25.5.2011, a.a.O. Rz. 19; v. 11.12.2013, a.a.O. Rz. 15; v. 16.1.2014, a.a.O. Rz. 19 f.; v. 25.11.2015 – I R 50/14, FR 2016, 861 (864) Rz. 31; siehe auch Mellinghoff in FS Wassermeyer, 2015, Kap.6. 36 Zur gleichsinnigen Einschätzung in der internationalen Diskussion siehe Avery Jones in IBFD, Global Tax Treaties Commentaries, 2017, Rz. 3.12 (www.ibfd.org). 37 OECD, Model Convention on Income and Capital, 2017, Introduction, Rz. 35 f. 38 Nachweise bei Lehner in Vogel/Lehner (Fn. 6), Rz. 127, 127a; Wichmann, FR 2011, 1082 (1084); Pistone in Lang/Pistone/Schuch/Staringer, S. 1 (6f.); Sasseville in FS Avery Jones, S. 37 (46 ff.). 39 Zu den unterschiedlichen Standpunkten siehe Erasmus-Koen/Douma, BIT 2007, 339 (351 f.).

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III. Internationalisierung der Inhalte 1. Die Schaffung internationaler Besteuerungsstandards Die Welt des internationalen Steuerrechts, wie sie sich in der bisherigen Praxis der Steuerbehörden, der Rechtsprechung der Steuergerichte und weitgehend auch im wissenschaftlichen Schrifttum darstellt, war in der Vergangenheit wesentlich durch das Ziel geprägt, die doppelte oder mehrfache Besteuerung desselben wirtschaftlichen Sachverhalts zu Lasten eines Steuerpflichtigen zu vermeiden. Diese Zielsetzung war konzeptionell in zweifacher Hinsicht bescheiden. Zum einen verlangte sie nicht nach einer Angleichung der jeweiligen Steuerrechtsordnungen der beteiligten Staaten. Jeder Staat blieb frei in der Entscheidung, welche Steuern eingeführt werden, wie die Bemessungsgrundlage definiert wird und welcher Steuertarif Anwendung findet. Es reichte für die Vermeidung der Doppelbesteuerung vollkommen aus, mit Hilfe des Abkommens im Einzelfall konfligierende Besteuerungsansprüche zu hierarchisieren. Zum anderen verlangte diese Zielsetzung nicht nach einem vollkommen uniformen Verständnis der Doppelbesteuerungsabkommen, sondern eben nur nach einer tatsächlichen Vermeidung der Doppelbesteuerung. Dafür schadet es nicht, wenn ein- und derselbe Vorgang in den beteiligten Staaten unter verschiedene Steuertatbestände (Zinsen oder Dividenden) gefasst oder unterschiedlichen Personen (Gesellschaft oder Gesellschafter) zugerechnet wird, solange dennoch – etwa mit Hilfe der Anrechnung der Quellensteuern durch den Wohnsitzstaat – eine Doppelbesteuerung vermieden wird. Nationale Steuerordnungen können in dieser Welt als Inseln der Souveränität gedeutet werden, bei deren Überlappung sich zwar ein Weg aus der Doppelbesteuerung, nicht aber eine weitergehende inhaltliche Abstimmung zwischen den beteiligten Jurisdiktionen als erforderlich erweist. Diese Welt ist – so der gegenwärtige Konsens der Staatengemeinschaft – die Welt von gestern: Auf internationaler Ebene hat sich seit der Jahrtausendwende – zunächst im Hinblick auf vielfältige Konstellationen grenzüberschreitender Steuerhinterziehung, später auch im Hinblick auf das Phänomen der Steuervermeidung durch multinationale Unternehmen – das Verständnis etabliert, dass das Einkommen von Individuen und Firmen „mindestens einmal“, aber auch „höchstens einmal“ besteuert werden soll. Nicht nur die OECD (im Zuge ihrer Arbeiten am Aktionsprogramm gegen Base Erosion and Profit Shifting)40, sondern auch die G2041, die Europäische Union42 und viele nationale Regierungen haben diesen Grundsatz der „Einmalbesteuerung“ inzwischen zu einem Kernprinzip ihrer internationalen Steuerpolitik erklärt. In promi-

40 OECD, Action Plan on Base Erosion and Profit Shifting (2013), 13. 41 G20-Gipfel in Los Cabos (2012), Leaders’ Declaration, 8, abrufbar unter: https://www.g20. org/profiles/g20/modules/custom/g20_beverly/img/timeline/Mexico/G20-loscabos-­ leaders-declaration.pdf. 42 Aktionsplan der Europäischen Kommission v. 17. Juni 2015, COM(2015) 302 final, 7.

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nenter Weise beschreiben sowohl der neu formulierte Titel43 als auch die Präambel des aktualisierten OECD-Musterabkommens ebenso wie schon seit dem Jahre 2013 die deutsche „Verhandlungsgrundlage“ (VH-DE)44 auch die Verhinderung der Steuerverkürzung und der Steuervermeidung als Ziel der Abkommenspolitik. Zugleich hat sich – gerade im Hinblick auf die Verlagerung von mobilen Einkunftsquellen in Steueroasen – ein neuer materieller Standard herausgebildet: Die internationale Verteilung der Steuergüter soll sich (künftig) nach dem Ort der Wertschöpfung (Value Creation) richten45. Damit geht die internationale Steuerpolitik über die tradierte Aufteilung zwischen „Ansässigkeitsstaat“ und „Quellenstaat“ hinaus und führt – namentlich im Hinblick auf die Anwendung von Verrechnungspreisregeln in multinationalen Konzernen  – eine neue Kategorie der räumlichen Zuordnung von Unternehmensgewinnen ein. Auch wenn verlässliche Folgerungen schwer zu ziehen sind46 (so entwickelt sich schon jetzt zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern eine neue Frontlinie über die Konkretisierung dieses Standards47), besteht doch nicht nur bei den Fachleuten in den Finanzverwaltungen, sondern auch auf der Ebene der Regierungschefs im Rahmen der G20 ein Konsens hin zu diesem Paradigmenwechsel. Für die Durchsetzung dieser beiden neuen materiellen Standards  – Grundsatz der Einmalbesteuerung und Grundsatz der Besteuerung am Ort der Wertschöpfung  – bedarf es einer inhaltlichen Verschränkung zwischen den Steuerrechtsordnungen der Staaten, die qualitativ über die Aufteilungs- und Abgrenzungstechnik der traditionellen Doppelbesteuerungsabkommen hinausreicht. Das zeigt sich in mehreren Dimensionen: Die erste Neuerung der internationalen Steuerpolitik im Gefolge des BEPS-Aktionsplans liegt in der (begrenzten) Selbstverpflichtung der Staaten, ihre mitgliedstaat­ lichen Steuerrechtsordnungen im Interesse einer Einmalbesteuerung nach Wertschöpfung auszugestalten. Beispiele hierfür sind die Schaffung von innerstaatlichen Abzugsverboten für bestimmte Zahlungen ins Ausland (BEPS-Aktionspunkt 2 zu hybriden Finanzinstrumenten und BEPS-Aktionspunkt 4 zur „Zinsschranke“), die Einführung wirksamer Hinzurechnungsregeln für funktionslose Auslandsgesellschaften (BEPS-Aktionspunkt 3), die Aufhebung von Maßnahmen des schädlichen Steuerwettbewerbs (BEPS-Aktionspunkt 5) und auch die Anordnung von Anzeigepflichten für bestimmte Steuergestaltungen (BEPS-Aktionspunkt 12). Mehrere dieser (für sich gesehen nicht als „Mindeststandards“ verbindlichen) Aktionspunkte haben 43 „Convention between (State A) and (State B) for the elimination of double taxation with respect to taxes on income and on capital and the prevention of tax evasion and avoidance“. 44 „Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und (…) zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen“. 45 Siehe Aktionsplan der Europäischen Kommission v. 17. Juni 2015, COM(2015) 302 final, Aktionspunkt 2, 10–12; OECD, Explanatory Statement, OECD/G20 Base Erosion and ­Profit Shifting (2015), 5. 46 Kritisch Devereux/Vella, CESifo DICE Report 4/2014, 3 (6); Hey, BIT 2018, S. 203 ff. 47 Burgers/Mosquera, Erasmus Law Review 2017, 29 ff.

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inzwischen Eingang in die Europäischen Steuerrichtlinien gefunden48 und verpflichten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu weitgehenden „Abwehrmaßnahmen“, aber auch z.B. zur Sicherstellung einer Exit Tax auf die Verlagerung von Wirtschaftsgütern ins Ausland. Insgesamt erweist sich der BEPS-Aktionsplan damit als bedeutsamer Schritt in Richtung auf eine stärkere Abstimmung der innerstaatlichen Steuerrechtsordnungen – und damit auch der innerstaatlichen Regelungstechniken und Rechtsbegriffe des Steuerrechts. Die zweite Neuerung liegt in einem anspruchsvolleren Verständnis der Normen des Doppelbesteuerungsrechts, namentlich derjenigen Vorschriften, die nunmehr die weltweite „Einmalbesteuerung“ des Einkommens sicherstellen sollen. Beispielhaft ist die in BEPS-Aktionspunkt 6 niedergelegte (zwingende) Selbstverpflichtung aller am BEPS-Prozess beteiligten Staaten, einen allgemeinen Missbrauchstatbestand in ihre Doppelbesteuerungsabkommen aufzunehmen (oder alternativ eine weitreichende Limitation-on-Benefits-Klausel und eine Anti-Conduit-Klausel einzufügen). Der Text dieser Missbrauchsklausel (vor allem der sogenannte Principal Purpose Test) ist im Prozess der OECD-Beratungen umfänglich diskutiert und abgestimmt worden. Trotz der hohen Abstraktheit und Vagheit der gefundenen Formulierung ist für die künftige Anwendung dieses Generaltatbestandes seine einheitliche Anwendung in den beteiligten Staaten von herausragender Bedeutung. Es wäre fatal, wenn in den beteiligten Staaten die jeweiligen Gerichte den Principal Purpose Test in erster Linie im Lichte ihrer (gänzlich diversen) Traditionen der Missbrauchsbekämpfung auslegen würden. Das Ergebnis wäre eine Kakophonie, die von allgemeinen substance over form-Argumenten oder engen – auf Scheingeschäfte angelegten – Konzepten bis hin zu diversen gesetzlichen Regelungen i.S. von § 42 AO reichen würde. Gefragt ist ein international einheitliches Missbrauchsverständnis49. Ohne eine verstärkte Interaktion zwischen den jeweiligen staatlichen Gerichten und ohne die laufende Begleitung der sich entwickelnden Praxis durch die staatlichen Steuerbehörden wird dies nicht gelingen. Lang sind die Zeiten her, in denen der Bundesfinanzhof in seinem Monaco-Urteil aus dem Jahre 198150 noch annehmen konnte, dass im Ausland vollzogene steuerlich motivierte Gestaltungen keine Auswirkungen auf die innerstaatliche Steuerrechtslage haben können. Dieser Druck hin zu einer einheitlichen Auslegungspraxis wird auch für andere Vorschriften des Abkommensrechts eine Rolle spielen, bei denen eine divergierende An48 Vgl. die sog. ATAD („Anti-Tax-Avoidance-Directive“) (RL (EU) 2016/1164 des Rates v. 12.7.2016, ABl. EU L 193 v. 19.7.2016, 1), die Regelungen zur Begrenzung der Abzugsfähigkeit von Zinszahlungen (Art. 4), zur Wegzugs- und Entstrickungsbesteuerung (Art. 5), zur Verhinderung von Missbrauch (Art.  6) sowie Regelungen zur Hinzurechnungsbe­ steuerung (Art.  7  f.) und zu hybriden Gestaltungen (Art.  9) enthält. Zudem wurde die Amtshilferichtlinie (RL 2011/16/EU des Rates v. 15.2.2011, ABl. EU L 64/1 v. 11.3.2011, geändert durch RL (EU) 2014/107 des Rates v. 9.12.2014, ABl. EU L 359, 1) um Regelungen zum sog. Country-by-Country Reporting ergänzt, vgl. RL (EU) 2016/881 des Rates v. 25.5.2016, ABl. EU L 146 v. 3.6.2016, 8. 49 Zu den Auslegungsschwierigkeiten des Principal Purpose Tests siehe Danon, BIT 2018, 21 (42 ff.). 50 BFH v. 29.10.1981 – I R 89/80, FR 1982, 101 (102) Rz. 27.

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wendung in den beteiligten Staaten zur „Arbitrage“ zwischen den Besteuerungsordnungen einladen würde. Dies gilt sowohl für die inhaltlichen Definitionen der Verteilungsnormen (Zinsen, Dividenden, Lizenzgebühren) als auch für andere Fragen – etwa zur Ansässigkeit von Steuerpflichtigen oder zur Reichweite des erweiterten Betriebsstättenbegriffs nach BEPS-Aktionspunkt 7. Die neue Präambel der Doppelbesteuerungsabkommen wird diese Tendenzen hin zu einer uniformen Auslegungspraxis verstärken und namentlich der früheren Vorstellung entgegenwirken, es würde für eine angemessene Anwendung der Abkommen ausreichen, dass die nationalen Gerichte den Zugriff des jeweils eigenen staatlichen Rechts unilateral begrenzen. Erforderlich ist nun auch ein Blick über die Grenze – ein Blick, der das Gesamttableau der Belastungen in den Blick nimmt und dem Grundsatz gerecht werden soll, dass jedes Einkommen mindestens einmal, aber auch höchstens einmal besteuert wird. Die zweite Zielsetzung  – Besteuerung am Ort der „Wertschöpfung“  – wird ganz ­wesentlich durch ein verändertes Verständnis des Fremdvergleichsgrundsatzes verwirklicht, auf dessen Grundlage vertraglichen Vereinbarungen innerhalb von Konzernstrukturen künftig weniger Bedeutung als bisher beigemessen werden soll (BEPS-­Aktionspunkte 8–10)51. Hier werden sich eindeutig Spannungen auftun gegenüber einer traditionellen Lesart des Fremdvergleichs, die – wegen der fehlenden unmittelbaren Anwendbarkeit der Art. 9 OECD-MA nachgebildeten bilateralen Abkommensvorschriften – letztlich den Auslegungsrahmen des § 1 AStG oder gar des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG sprengen können52. Dass dies keine leichte Aufgabe ist, lässt sich schon daran erkennen, dass die grundsätzliche Normentechnik unberührt bleibt: Doppelbesteuerungsabkommen begründen auch in Zukunft für sich gesehen keine Besteuerungsansprüche. Daran ändert auch die erweiterte Zielsetzung der Abkommen nichts. Dennoch müssen Art und Umfang der Schrankenwirkungen der Doppelbesteuerungsabkommen gegebenenfalls im Licht der hinzugetretenen Abkommenszwecke (siehe Art. 31 Abs. 1 WVK) neu vermessen werden, wenn es darum geht, „doppelte Nicht-Besteuerungen“ zu vermeiden. 2. Die Berücksichtigung ausländischer Steuerwirkungen Zu den wichtigsten materiellen Folgerungen aus diesem neuen Besteuerungsansatz gehört der Umstand, dass die Anwendung inländischer Steuernormen sowie der maßgeblichen Abkommensregeln zunehmend von den Wirkungen ausländischen Steuerrechts auf dieselben Wirtschaftsvorgänge abhängig gemacht wird. Diese Berücksichtigung ausländischer Steuerlasten ist zwar aus der Sicht des deutschen Steuerrechts nichts grundsätzlich Neues: Schon immer setzte die unilaterale (§ 34c Abs. 1 EStG) als auch die bilaterale (Art. 22 Abs. 1 Nr. 3 VH-DE, Art. 23B OECD-MA) Beseitigung der Doppelbesteuerung nach Maßgabe der Anrechnungsmethode einen 51 OECD, Aligning Transfer Pricing Outcomes with Value Creation, Actions 8-10 – 2015 Final Reports, 9 f. 52 Kritisch zu den Umwälzungen im Verständnis des Fremdvergleichsgrundsatzes siehe Schön, StuW 2015, 69 (78 ff.).

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Blick auf die Anwendung des ausländischen Steuerrechts durch ausländische Steuerverwaltungen voraus. Verwandte Effekte finden sich zunehmend im Bereich der Freistellungsmethode durch die vermehrte Nutzung unilateraler und abkommensrechtlicher Switch-Over-Klauseln53 und Subject-to-Tax-Klauseln54, sie sind aber auch im Korrespondenzprinzip bei der Besteuerung von Dividenden55 angelegt. Schließlich ist das Instrument der Hinzurechnungsbesteuerung im Kern darauf gerichtet, den unmittelbaren Zugriff des inländischen Fiskus auf ausländische „Zwischengewinne“ von dem Steuerniveau im Sitzstaat der Tochtergesellschaft abhängig zu machen. Gegenüber diesen Vorläuferregelungen gehen die Vorgaben des BEPS-Aktionsplans für die Interaktion zwischen inländischer und ausländischer Steuerrechtsordnung allerdings deutlich weiter. Das betrifft zunächst den Umstand, dass das Konzept der „Einmalbesteuerung“ nicht nur  – wie die in Deutschland bereits existierenden gesetzlichen Regeln – im outbound-Fall die Art und Höhe der Besteuerung ausländischer Einkünfte inländischer Steuerpflichtiger vom ausländischen Steuerniveau abhängig machen. Jetzt geht es auch darum, im inbound-Fall die Abzugsfähigkeit von Zahlungen in das Ausland von der korrespondierenden Belastung beim Empfänger (oder dahinterstehenden Personen) abhängig zu machen. Dies betrifft sowohl Zahlungen auf hybride Finanzinstrumente (BEPS-Aktionspunkt 2) als auch – eine Neuerung gerade des deutschen Rechts  – Lizenzzahlungen an ausländische verbundene Unternehmen („Lizenzschranke“ nach § 4j EStG). Schließlich wird im Bereich digitaler Leistungen gegenwärtig darüber nachgedacht, Sondersteuern oder Quellensteuern auf Entgelte von einer angemessenen Vorbelastung im Ansässigkeitsstaat des Leistenden abhängig zu machen56. Von den Gerichten wird diese neue Regelungstechnik für inbound-Situationen in stärkerem Umfang eine inhaltliche Würdigung ausländischer Steuerrechtsordnungen verlangen. Ging es in den bisher geregelten outbound-Fällen „nur“ darum, aus der Sicht eines inländischen Steuerpflichtigen dessen ausländische Steuerlast oder die einer (typischerweise kontrollierten) ausländischen Beteiligungsgesellschaft festzustellen, so muss nunmehr qualitativ und quantitativ festgestellt werden, wie sich die steuerliche Behandlung von Zahlungen bei einem ausländischen Gläubiger (oder einem hinter dieser Person stehenden weiteren Gläubiger) darstellt. Dies steigert den Anspruch an die tatsächliche und rechtliche Würdigung der jeweiligen Transaktionen. 3. Die Vernetzung des internationalen Steuerverfahrens Das Ziel einer „Einmalbesteuerung“, das weder durch Steuerhinterziehung noch durch Steuervermeidung gefährdet werden soll, setzt auf der Seite der beteiligten Steuerverwaltungen nicht zuletzt deren Fähigkeit voraus, sich einen Gesamtüber53 § 20 Abs. 2 AStG; Art. 22 Abs. 1 Nr. 4 VH-DE. 54 § 50d Abs. 9 EStG; Art. 22 Abs. 1 Nr. 5 lit. a und b VH-DE. 55 § 8 Abs. 1 Satz 2 KStG. 56 Schön, BIT 2018, S. 278 ff.

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blick über die wirtschaftlichen und steuerlichen Verhältnisse natürlicher und juristischer Personen zu verschaffen. Diesem Gesamtüberblick dient die in den vergangenen Jahren massiv verstärkte Vernetzung der Steuerverwaltungen. Bis vor wenigen Jahren war der internationale Auskunftsverkehr maßgeblich auf die Auskunftsklauseln in Doppelbesteuerungsabkommen (Art. 25 VH-DE; Art. 26 OECD-MA) gestützt, ergänzt im Bereich der Europäischen Union durch die Richtlinien zur wechselseitigen Amtshilfe und Beitreibung von Steuerforderungen. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der US-amerikanischen Durchsetzung neuer Standards im internationalen Auskunftsverkehr (FATCA)57 hat sich dieses auf Bilateralität und Einzelauskunft gestützte System in Richtung auf Multilateralität und Automatisierung gewandelt. Im Jahre 2010 wurde das „Übereinkommen über gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen“58, welches die OECD und der Europarat bereits im Jahre 1988 zur Anwendung „freigeschaltet“ hatten, aus seinem Dornröschenschlaf geweckt und zur machtvollen Grundlage für den multilateralen Informationsaustausch ausgebaut59. Auf der Grundlage von Art. 6 dieser Multilateralen Konvention wurde im Jahre 2016 der automatische Informationsaustausch für Finanzkonten nach dem Common Reporting Standard ins Leben gerufen60. Seitdem sind weitere Daten zum Gegenstand automatischer Austauschmechanismen erklärt worden: Global hat sich das neue Country-by-Country Reporting mit dieser Technik etabliert61 und in der

57 „Foreign Account Tax Compliance Act“; das am 18.3.2010 in Kraft getretene US-amerikanische Gesetz zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung verlangt von nicht in den USA ansässige Finanzinstituten, Auskünfte über ihre US-amerikanische Kunden bereitzustellen. Andernfalls wird hinsichtlich bestimmter Erträge aus US-Anlagen eine Quellensteuer einbehalten, vgl. Bozza-Bodden in DStJG 36 (2013), S. 133 (153); mit Abschluss des Musterabkommens über den Informationsaustausch am 31. Mai 2013 („Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Förderung der Steuerehrlichkeit bei internationalen Sachverhalten und hinsichtlich der als Gesetz über die Steuerehrlichkeit bezüglich Auslandskonten bekannten US-amerikanischen Informations- und Meldebestimmungen“, BGBl. 2013 II, 1362) wurde das FATCA-Gesetz im Verhältnis zwischen Deutschland und den USA auf zwischenstaatlicher Grundlage umgesetzt; ausführlich zu diesem Abkommen Eimermann, IStR 2013, 774  ff.; Lappas/Ruckes, IStR 2013, 929 ff. 58 OECD and Council of Europe, The Multilateral Convention on Mutual Administrative Assistance in Tax Matters: Amended by the 2010 Protocol, 2011, abrufbar unter http://www. keepeek.com/Digital-Asset-Management/oecd/taxation/the-multilateral-convention-on-­ mutual-administrative-assistance-in-tax-matters_9789264115606-en#.Wnq4qnpZjFQ. 59 Mit Stand v. 15. Dezember 2017 haben 99 Steuerhoheiten das Übereinkommen in Kraft gesetzt, vgl. http://www.oecd.org/tax/exchange-of-tax-information/Status_of_convention. pdf. 60 Der Common Reporting Standard basiert auf einer Veröffentlichung der OECD, vgl. OECD, Standard for Automatic Exchange of Financial Account Information in Tax Matters, 2. Aufl. 2017. Die Umsetzung in Deutschland erfolgte durch das Finanzkonten-Informationsaustauschgesetz (FKAustG) v. 21.12.2015, BGBl.  2015 I, 2531, geändert durch Art.  6 des Gesetzes v. 20.12.2016, BGBl. 2016 I, 3000. 61 OECD, Transfer Pricing Documentation and Country-by-Country Report, Action 13  – 2015 Final Report.

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­ uropäischen Union verpflichtet eine Richtlinie die Mitgliedstaaten für „rulings“ E i. S. von verbindlichen Auskünften, einen automatischen Austausch vorzunehmen62. Gerade das in BEPS-Aktionspunkt 13 eingeforderte – und nunmehr sowohl in einer EU-Richtlinie63 als auch in der deutschen Steuergesetzgebung64 festgeschriebene  – Country-by-Country Reporting verkörpert eine neue Sichtweise auf die Erhebung von Tatsachenmaterial im internationalen Steuerrecht. Das Ziel der „Einmalbesteuerung“ von Unternehmensgewinnen soll u.a. dadurch gefördert werden, dass allen Staaten, in denen ein (großes) multinationales Unternehmen über Konzerngesellschaften oder Betriebsstätten verfügt, ein Gesamtüberblick über das Geschäftsmodell, die Wertschöpfungsketten und die weltweite Allokation der Produktionsfaktoren des Unternehmens ermöglicht wird. Auf der Grundlage dieses Panoramas soll es den Finanzverwaltungen in Zukunft besser möglich sein, die auf ihrem Territorium voll­ zogene Geschäftstätigkeit eines multinationalen Unternehmens einschließlich der Einbindung der lokalen Tochtergesellschaften und Betriebsstätten in die konzerninternen Wertschöpfungsketten rechtlich und wirtschaftlich zu würdigen und steuerlich durch Anwendung der Regeln über Verrechnungspreise (Fremdvergleichsgrundsatz) zu kontrollieren.

IV. Internationalisierung der Rechtsquellen 1. Die „Multilateralisierung“ der internationalen Steuernormen Der entscheidende prozedurale Schritt auf dem Weg zu einer stärkeren „Internationalisierung“ des internationalen Steuerrechts liegt in dem Umstand, dass das bisher weitgehend bilateral gestaltete Netz von Doppelbesteuerungsabkommen mehr und mehr durch „multilaterale“ Vereinbarungen überformt wird. Erneut sind es die mit der Jahrtausendwende einsetzenden Bemühungen der Staatengemeinschaft gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, welche dieser Tendenz zum Durchbruch verholfen haben. Bereits erwähnt wurde das multilaterale „Übereinkommen über gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen“ aus dem Jahre 1988, das seit 2010 zur machtvollen Rechtsgrundlage vor allem für den automatischen Informationsaustausch ausgebaut worden ist. Daher ist zu konstatieren, dass der seit 2012 laufende BEPS-Prozess zur Bekämpfung internationaler Steuervermeidung durch multinationale Unternehmen die „Multilateralität“ der internationalen Steuerregeln massiv befördert hat. So lässt sich sagen, dass bereits die politische Verständigung zwischen allen Mitgliedstaaten der G20 und 62 RL (EU) 2015/2376 des Rates v. 8.12.2015 zur Änderung der RL 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, ABl. EU L 332/1. 63 RL (EU) 2016/881 des Rates v. 25.5.2016, ABl. EU L 146 v. 3.6.2016, 8. 64 Siehe §  138a AO („Mitteilungspflichten multinationaler Unternehmen“), eingefügt durch das Gesetz zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen v. 20.12.2016 (BGBl.  2016 I, S. 3000). Entsprechende Sanktionsvorschriften finden sich in § 379 Abs. 2 Nr. 1 lit. c AO.

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der OECD auf die Ziele und Instrumente des BEPS-Aktionsplans65 einen bedeutsamen multilateralen „Akkord“ in Richtung auf eine einvernehmliche inhaltliche Abstimmung zwischen den Besteuerungsregeln der Staaten gewertet werden kann. Dazu gehört namentlich der Umstand, dass die Mitgliedstaaten der G20 und der OECD sich mit ihrer jeweiligen Zustimmung zum BEPS-Aktionsplan verpflichtet haben, die Einhaltung bestimmter „Mindeststandards“ in ihrem nationalen Recht bzw. ihren Doppelbesteuerungsabkommen zu sichern. Dazu gehört die Aufnahme der o a. standardisierten Anti-Missbrauchsnorm („Principal Purpose Test“) in die bilateralen Abkommen (BEPS-Aktionspunkt 6), die Vereinbarung von Verbesserungen bei den Verständigungsverfahren nach Art. 25 OECD-Musterabkommen (BEPS-Aktionspunkt 14), die Einführung des verbindlichen Country-by-Country-Reporting (BEPS-Aktionspunkt 13) sowie die Identifikation und Zurückführung steuerlicher Präferenzregime durch einen Informationsaustausch über verbindliche Auskünfte („rulings“), dem ein Review-Prozess für schädliche Steuerpraktiken zur Seite steht (BEPS-Aktionspunkt 5). Diese Verpflichtungen haben im Rahmen des weltweiten „Inclusive Framework“ der OECD inzwischen mehr als 100 Staaten für sich akzeptiert66. Das bedeutsamste Instrument zur Durchsetzung des BEPS-Aktionsplans, soweit dessen Empfehlungen und Mindeststandards den Anwendungsbereich der Doppelbesteuerungsabkommen berühren, ist die „Multilateral Convention to Implement Tax Treaty Related Measures to Prevent Base Erosion and Profit Shifting“. Diesem sogenannten „Multilateralen Instrument“ (MLI) sind bisher (Stand Januar 2018) 78 Staaten beigetreten67. Auch wenn es den am BEPS-Prozess beteiligten Staaten freisteht, ihre Verpflichtungen zur Umsetzung der BEPS-Aktionspunkte z.B. durch unilaterale Maßnahmen oder bilaterale Vereinbarungen zu erfüllen, so bietet das Multilaterale Instrument doch einen maßgeschneiderten Rahmen, um eine Vielzahl von Doppelbesteuerungsabkommen simultan umzugestalten. Voraussetzung ist zunächst der Beitritt eines Staates zu diesem multilateralen Abkommen, anschließend die Notifizierung derjenigen Abkommen (covered tax agreements), die nach dem Wunsch eines Staates den Modifikationen des Multilateralen Instruments unterworfen werden sollen (Art.  2 Abs.  1 lit.  a MLI), und schließlich die Ausübung von Optionen und Vorbehalten durch die Vertragsstaaten (siehe die Listen in Art. 28 und 29 MLI), die in erheblichem Umfang bestimmen können, ob und in welcher Form sie den über die genannten „Mindeststandards“ hinausreichenden Empfehlungen des BEPS-Aktionsplan folgen. Dies betrifft eine Vielzahl von sachlich bedeutsamen Themen – die Palette reicht von der Nutzung hybrider transparenter Gesellschaften über Fragen der Ansässigkeit von Unternehmen bis hin zu Erweiterungen des Betriebsstättenbegriffs68. Außerdem müssen die Vertragsstaaten erklären, in welchem Umfang ihre Abkommen bereits Vorschriften enthalten, die den Anforderungen des MLI inhalt65 G20 Gipfel in St. Petersburg (2013), Leaders’ Declaration, 12  f. abrufbar unter: https:// www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/G7_G20/G20-erklaerung-petersburg-­ en.pdf?__blob=publicationFile&v=4. 66 Vgl. http://www.oecd.org/tax/beps/inclusive-framework-on-beps-composition.pdf. 67 Zu Inhalt und Regelungstechnik näher Schön, IStR 2017, 681 ff. 68 Siehe die Liste in Art. 28 MLI.

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lich (wenn auch nicht unbedingt wörtlich) entsprechen. Soweit ein Staat dem MLI beigetreten ist, ein bestimmtes Doppelbesteuerungsabkommen zum covered tax agree­ ment erklärt und keinen Vorbehalt für eine bestimmte inhaltliche Regelung ausgeübt hat, wird das jeweilige bilaterale Abkommen mit Hilfe des Multilateralen Instruments modifiziert. Dabei hat die Bundesrepublik Deutschland allerdings von dem zusätzlichen Vorbehalt des Art. 35 Abs. 7 lit. a i) und ii) MLI Gebrauch gemacht, das Inkrafttreten der Wirkungen des MLI für die einzelnen Abkommen von der Mit­ teilung Deutschlands abhängig zu machen, dass insoweit die erforderlichen „internen Verfahren“ (unter Beteiligung der gesetzgebenden Körperschaften des Bundes) durchgeführt worden sind. Daher werden die Doppelbesteuerungsabkommen in Zukunft in erheblichem Umfang Regelungen enthalten, die entweder unmittelbar auf dem MLI beruhen oder deren inhaltliche Korrespondenz mit dem MLI die Bundesregierung gegenüber der OECD als „Depositar“ des MLI bestätigt hat. Für diese Klauseln wird ein weiterreichender Vereinheitlichungseffekt eintreten als für gewöhnliche DBA-Klauseln, die sich an das OECD-Musterabkommen anlehnen. Zum einen erfüllen die beteiligten Staaten mit Hilfe dieser Klauseln konkrete politische Verpflichtungen aus dem BEPS-Aktionsplan (so dass die Teleologie dieser Regelungen vorrangig im Lichte des gemeinsamen BEPS-Pakets und der zugrundeliegenden Berichte gelesen werden muss). Zum anderen nutzen die Vertragsstaaten hier nicht nur einen multilateral standardisierten Text als unverbindliches „Modell“, sondern sie haben sich mit allen anderen am MLI beteiligten Staaten auf dessen Inhalt im Rahmen eines bindenden völkerrechtlichen Vertrags geeinigt. Nachdem die Bundesregierung sich darauf verständigt hat, für die Implementation des MLI in das deutsche Abkommensnetz den Wortlaut jedes einzelnen Abkommens individuell anzupassen, müssen auch die nachfolgenden Umsetzungsakte im Lichte der vorausgehenden Festlegungen durch das MLI interpretiert werden. Schließlich wird sich die Rechtsprechung darauf einstellen müssen, dass in einem bilateralen Steuerfall  – soweit die maßgeblichen DBA-Normen vom MLI „tangiert“ sind – auf das MLI und dessen autonom-internationales Verständnis zurückgegriffen werden muss. 2. Multilateral Competent Authority Agreements Die geschilderte „Multilateralisierung“ des internationalen Steuerrechts, die sich auf der Ebene der Gesetzgebung durch die auch in Deutschland bindenden Vorgaben des multilateralen Übereinkommens zur wechselseitigen Hilfe in Steuersachen sowie durch das Multilaterale Instrument vollzieht, wird durch entsprechende multilaterale Verwaltungsabkommen ergänzt. Im Vordergrund der aktuellen Praxis stehen zwei Multilateral Competent Authority Agreements, die auf Artikel  6 des multilateralen Amtshilfe-Übereinkommens beruhen und der deutschen Rechtspraxis zwei gewichtige „Innovationen“ beschert haben: den automatischen Informationsaustausch zu Finanzkonten (Common Reporting Standard)69 und den automatischen Informations69 Finanzkonten-Informationsaustauschgesetz (FKAustG) v. 21.12.2015, BGBl. 2015 I, 2531, geändert durch Art. 6 des Gesetzes v. 20.12.2016, BGBl. 2016 I, 3000.

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austausch zu den Country-by-Country-Berichten70. Für den Abschluss und Vollzug ist in der Bundesrepublik Deutschland das Bundeszentralamt für Steuern zuständig. Ebenfalls weitgehend standardisiert erfolgt der Informationsaustausch zu „Rulings“71, für den innerhalb der Europäischen Union eine Richtlinie sogar – über die OECD-­ Anforderungen hinaus  – die „automatische“ Abwicklung vorschreibt72. Es etabliert sich damit neben der „globalisierten“ Ebene des materiellen Abkommensrechts eine zweite Ebene der verwaltungstechnischen Multilateralität, die im künftigen Massenbetrieb des grenzüberschreitenden Informationsaustauschs eine hohe Bedeutung entfalten und auch für den Rechtsschutz des Bürgers neue Herausforderungen mit sich bringen wird. 3. Internationales „Soft Law“ Neben diese „harten“ multilateralen völkerrechtlichen Verträge und Verwaltungsabkommen treten mehr und mehr „weiche“ Vereinbarungen und Verständigungen, welche schon jetzt die tatsächliche Praxis des internationalen Steuerrechts beeinflussen und deren Einfluss auf die Gerichtspraxis nur eine Frage der Zeit sein wird. Schon in der Vergangenheit haben die bereits genannten OECD-Materialien, namentlich die Verrechnungspreis-Richtlinien der OECD, eine solche Rolle gespielt. Zu den „intergovernmentalen“ Vereinbarungen in diesem Sinne gehört bereits seit dem Jahre 1997 der „Verhaltenskodex“ gegen schädlichen Steuerwettbewerb in der Europäischen Union73, dem zwar keine rechtliche, aber doch eine politische Bindungswirkung zukommt und auf dessen Grundlage die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in erheblichem Umfang innerstaatliche Steuerpräferenzen abgeschafft oder modifiziert haben. Die seit dem Jahre 2015 vorliegenden OECD-Berichte zu den BEPS-Aktionspunkten bieten reiches Material in diesem Zusammenhang, auch soweit sie sich nicht in konkreten Änderungen der Doppelbesteuerungsabkommen (etwa mit Hilfe des MLI) niederschlagen. Ein deutliches Indiz für diese Entwicklungen ist die jüngst mit § 4j EStG eingeführte „Lizenzschranke“, welche die Abzugsfähigkeit von Lizenzzahlungen an verbundene ausländische Unternehmen u. a. davon abhängig macht, dass „die Einnahmen des Gläubigers oder des weiteren Gläubigers einer Präferenzregelung unter70 Siehe §  138a AO („Mitteilungspflichten multinationaler Unternehmen“), eingefügt durch das Gesetz zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen v. 20.12.2016 (BGBl.  2016 I, 3000). Entsprechende Sanktionsvorschriften finden sich in § 379 Abs. 2 Nr. 1 lit. c AO. 71 OECD, Harmful Tax Practices – Peer Review Reports on the Exchange of Information on Tax Rulings: Inclusive Framework on BEPS: Action 5, 2017. 72 Richtlinie (EU) 2015/2376 des Rates v. 8.12.2015 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, ABl. EU L 332/1. 73 Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 1. Dezember 1997 über einen Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung, in Schlussfolgerungen des Rates „Wirtschafts- und Finanzfragen“ vom 1.12.1997 zur Steuerpolitik, ABl. EG C 2/1 v. 6.1.1998.

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liegen, die dem Nexus-Ansatz gemäß Kapitel 4 des Abschlussberichts 2015 zu Aktionspunkt 5, OECD (2016) „Wirksame Bekämpfung schädlicher Steuerpraktiken unter ­Berücksichtigung von Transparenz und Substanz“, OECD/G20 Projekt Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, entspricht“. Mit diesem unmittelbaren Verweis auf den OECD-­Bericht wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass sich nicht neben dem multilateralen Konsens der G20/OECD ein eigenständiges „deutsches“ Verständnis der Vorgaben zum schädlichen Steuerwettbewerb entwickeln würde74. Sollte ein deutsches Finanzgericht demnächst in einem Rechtsstreit mit der Frage nach der tatbestandlichen Anwendbarkeit des § 4j EStG konfrontiert sein, wird es möglicherweise nicht umhinkommen, den Bericht der OECD zu Aktionspunkt 5 des BEPS-Aktionsplans (in der Originalsprache Englisch) zu lesen und gegebenenfalls zu interpretieren. Der Fall zeigt erneut die sich vergrößernde Problematik für den Gesetzgeber, entweder mit einer sicheren Verankerung der neuen Bestimmungen im nationalen Recht die internationale Einheitlichkeit des „Konsenses“ zu gefährden oder die Geschlossenheit, Bestimmtheit und Verlässlichkeit des den einzelnen Steuerpflichtigen belastenden Steuerrechts im Interesse der globalen Vereinheitlichung ein Stück weit aufzugeben.

V. Internationalisierung der Institutionen Zu den bedeutsamsten Entwicklungen der vergangenen Jahre gehört der Umstand, dass neben den traditionellen „Spielern“ des internationalen Steuerrechts, insbesondere neben der OECD und den Vereinten Nationen, dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, andere Institutionen in den Vordergrund getreten oder überhaupt erst geschaffen worden sind. Zwar sind die hier und dort formulierten Träume75 von einer World Tax Organisation nicht in den Himmel gewachsen, doch hat sich auf andere Weise eine weltweite institutionelle Ausrichtung der internationalen Steuerpolitik eingestellt. An der Spitze der Bewegung steht die Gruppe der 20 bedeutsamsten Industrienationen und Schwellenländer (G20), die seit der Finanzkrise der Jahre 2007/08 auch im Steuerrecht76 eine internationale Führungsrolle übernommen hat. Sie hat zunächst in gewichtiger Weise die Neuordnung der internationalen Finanzsysteme koordiniert 74 Der Regierungsentwurf hatte noch eine eigenständige Definition schädlicher Präferenz­ regime angeboten. Der Bundesrat sah dies kritisch, vgl. BT-Drucks. 18/11531, 3: „§  4j ­Absatz  1 Satz  4 soll regeln, dass die Lizenzschranke nicht gilt, wenn die ausländische Präferenzregelung dem Nexus-Ansatz der OECD entspricht. Die beiden folgenden Sätze versuchen, den Nexus-Ansatz eigenständig zu definieren. Dies birgt die Gefahr, dass die Definition durch Verwaltung und Rechtsprechung abweichend von der OECD-Auslegung allein nach dem nationalen Wortlaut interpretiert wird. Daher bittet der Bundesrat zu prüfen, ob die Definition des Nexus-Ansatzes durch einen Verweis auf den entsprechenden BEPS-Report der OECD ersetzt werden kann.“ Die Bundesregierung folgte dieser Anregung. 75 Tanzi in Razin/Sadka (Hrsg.), The Economics of Globalization: Policy Perspectives from Public Economics, 1999, S. 173 ff. 76 Blìžkovský, EBLR 2017, 271 ff.

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und in diesem Zusammenhang auch steuerliche Ausgleichs- und Lenkungsmaßnahmen – Finanztransaktionssteuer, Bankenabgabe, Finanzaktivitätssteuer – in die na­ tionalen Politiken eingespeist. In einem zweiten Schritt haben die G20 im Interesse einer Stabilisierung der öffentlichen Haushalte sowohl die internationale Steuerhinterziehung in den Blick genommen als auch die OECD mit ihren Arbeiten zu Base Erosion and Profit Shifting „beauftragt“77. Das entscheidende politische Element dieser Maßnahmen ist darin zu finden, dass hier erstmals auf der Ebene der Regierungschefs dem Kampf gegen die internationale Steuervermeidung hohe Priorität eingeräumt wurde. Die G20 haben sich damit als dauerhafte hochrangige Instanz etabliert und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie diese Rolle wieder aufgeben werden. Im Gegenteil, wichtige Folgefragen – etwa zur Rechtssicherheit im Steuerrecht oder zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft – haben heute ihren Platz auf der Agenda der G2078. Eine entscheidende Rolle für die „globale“ Reichweite der im Zuge der Arbeiten gegen die internationale Steuerhinterziehung sowie des BEPS-Prozesses vereinbarten Besteuerungsregeln spielt die Schaffung von Institutionen, die über den Kreis der Mitglieder der OECD und der G20 hinausreichen. Hier sind zwei bedeutsame Zusammenschlüsse zu nennen: Bereits kurz nach der Jahrtausendwende wurde das „Global Forum on Transparency and Exchange of Information for Tax Purposes“ eingerichtet, das gegenwärtig (Stand: Januar 2018) 148 Mitgliedstaaten zählt und dessen Ziel in der Wahrung einheitlicher Standards auf den Gebieten der Transparenz und des steuerlichen Informationsaustauschs liegt79. Das Global Forum bildet das bedeutsamste Netzwerk im Kampf gegen die grenzüberschreitende Steuerhinterziehung. Im Hinblick auf den BEPS-Prozess wurde im Jahre 2016 auf Wunsch der G20 von der OECD das „Inclusive Framework on BEPS“ ins Leben gerufen, dem Staaten außerhalb der G20 und der OECD beitreten können, die sich zur Einhaltung des BEPS-Aktionsplans verpflichten und an dessen einheitlicher Implementierung mitwirken möchten80. Insgesamt ist es gelungen, mit Hilfe des Inclusive Framework mehr als 100 Staaten auf den BEPS-Prozess festzulegen. Sowohl das Global Forum als auch das Inclusive Framework sind daher unverzichtbar, wenn es darum geht, in großem Umfang auch Schwellen-und Entwicklungsländer in die globalen Standards einzubinden. Für die praktische Rechtsanwendung sind das Global Forum und das Inclusive Frame­ work vor allem deshalb von hoher Bedeutung, weil innerhalb dieser Institutionen jeweils in großem Stil eine wechselseitige „Begutachtung“ der steuerlichen Verwal77 G20-Gipfel in Los Cabos (2012), Leaders’ Declaration, 8, abrufbar unter: https://www.g20. org/profiles/g20/modules/custom/g20_beverly/img/timeline/Mexico/G20-loscabosleaders-­declaration.pdf; Blìžkovský, EBLR 2017, 271 (279 f.). 78 G20-Gipfel in Hamburg (2017), Leaders’ Declaration – Shaping an interconnected world, 7  f. abrufbar unter: https://www.g20.org/profiles/g20/modules/custom/g20_beverly/img/ timeline/Germany/G20-leaders-declaration.pdf. 79 Zusammengefasst unter http://www.oecd.org/tax/transparency/; wegen näherer Einzelheiten vgl. Bozza-Bodden in DStJG 36 (2013), S. 133 (160 f.) m.w.N. 80 OECD, Inclusive Framework on BEPS: Progress report July 2016 – June 2017, 2017, 4.

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tungspraxis (Peer Review) vollzogen wird. Sowohl in Fragen des grenzüberschreitenden Informationsaustauschs (Global Forum)81 als auch bei der Implementierung der BEPS-Mindeststandards (Inclusive Framework)82 soll dauerhaft eine Kontrolle der rechtlichen und der tatsächlichen Wahrung der vereinbarten Standards stattfinden. Bedenkt man, dass diese Kontrolle nicht dabei stehen bleiben wird, die jeweiligen Rechtstexte auf ihre Stimmigkeit zu prüfen, sondern dass auch die praktische Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Rechtsgrundlagen im Raume steht (man denke etwa an die Einhaltung des BEPS-Mindeststandards zum Missbrauchsverbot i. S.  eines Principal Purpose Test), so wird schnell deutlich, dass ein kontinuierlicher Peer Review zwischen den Staaten ein gemeinsames Rechtsverständnis der Finanzverwaltungen erzeugen wird, das auch die Gerichte nicht ohne weiteres unbeachtet werden lassen können. Wer die Entwicklungen im Bilanzrecht verfolgt hat, der weiß, wie schnell sich machtvolle Standard Setter außerhalb verfassungsrechtlicher Ordnungen als wichtige Normgeber etablieren können.

VI. Internationalisierung der Streitbeilegung 1. Internationale oder supranationale Gerichtsbarkeit Dies führt zum letzten Element der fortschreitenden „Internationalisierung“ des internationalen Steuerrechts: der Internationalisierung der Streitbeilegung. Hier stehen die mitgliedstaatlichen Gerichte bisher nicht in Konkurrenz zu überstaatlichen oder supranationalen Spruchkörpern. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag darf über die Auslegung eines völkerrechtlichen Abkommens auf dem Gebiet des Steuerrechts nur dann entscheiden, wenn es von beiden beteiligten Staaten an ihn herangetragen wird83 – das ist nicht die Praxis der Staaten auf dem Gebiet des Steuerrechts. Der Europäische Gerichtshof besitzt bei der Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen (auch zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union) nach den Europäischen Verträgen im Grundsatz keine Kompetenz84. Eine Ausnahme von dieser Regel ist nur dann gegeben, wenn – wie im Abkommen zwischen Deutschland und Österreich – die beteiligten Staaten den Gerichtshof explizit als Schiedsgericht nach Art. 273 AEUV anerkennen85. Und die Spruchkörper der Welthandelsorganisation sind nicht mit Verstößen gegen die Doppelbesteuerungsabkommen befasst, son-

81 Siehe etwa: OECD Global Forum, Exchange of Information on Request: Handbook for Peer Reviews 2016 – 2020, 3. Aufl., 2016; OECD Global Forum, Tax Transparency 2017: Report on progress, 2017. 82 OECD supra, 22 ff. 83 Art. 36 IGH-Statut; vgl. hierzu v. d. Bruggen in Lang/Züger (Hrsg.), Settlement of Disputes in Tax Treaty Law, 2002, S. 501 (523 ff.); Wouters/Vidal in Maisto (Hrsg.), Tax Treaties and Domestic Law, 2006, S. 13 (91 f.). 84 EuGH v. 14.11.2006  – C-513/04  – Kerckhaert und Morres, DStR 2006, 2118 (2120); v. 6.12.2007 – C-298/05 – Columbus Container Services, DStR 2007, 2308 (2311). 85 Art. 25 Abs. 5 DBA Deutschland/Österreich; siehe EuGH v. 12.9.2017 – C-648/15 – Österreich ./. Deutschland, DStR 2017, 1967 (1969).

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dern sie prüfen die nationalen Steuerrechte nur auf ihre Vereinbarkeit mit den Regeln des GATT, des GATS oder des Anti-Subventions-Kodex der WTO86. 2. Verständigungsverfahren und steuerliche Schiedsverfahren Wirkliche Konkurrenz erwächst den nationalen Gerichten bei der Anwendung und Auslegung des internationalen Steuerrechts allerdings in der Form außergerichtlicher Streitbeilegung. Schon seit langem besteht die Institution der Verständigungsverfahren nach Art. 25 OECD-MA/Art. 24 VH-DE, welches die Vertragsstaaten zwar verpflichtet, für einen Besteuerungskonflikt eine Lösung zu suchen, diese aber keinem Einigungszwang unterwirft. Für Verrechnungspreiskonflikte haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft daher bereits im Jahre 1990 eine Schiedsverfahrenskonvention87 geschlossen und deren Anwendungszeitraum mehrfach verlängert, den Inhalt dieser Konvention allerdings bewusst der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs entzogen. Auch im Rahmen der Doppelbesteuerungsabkommen hat sich – ausgehend von den Vereinigten Staaten88 – in den vergangenen 20  Jahren die Institutionalisierung von zwingenden Schiedsverfahren etabliert und nicht zuletzt in der deutschen Abkommenspraxis Fuß gefasst89. Erneut lässt sich allerdings feststellen, dass erst der BEPS-Prozess dieser Entwicklung nachhaltigen Schwung verliehen hat. In der Annahme, dass die Umsetzung der vielfältigen Neuerungen dieser steuerpolitischen Initiative in neue Unklarheiten und neue Besteuerungskonflikte führen würde, drängte insbesondere die Privatwirtschaft auf Verbesserungen der Streitbeilegungsmechanismen90. Dem haben die am BEPS-­ Prozess beteiligten Staaten insoweit nachgegeben, als Aktionspunkt 14 nicht nur einige Verbesserungen der Verständigungsverfahren als „Mindeststandard“ vorgibt91, sondern zugleich die Staaten einlädt, standardisierte Schiedsklauseln (im Rahmen des MLI92) in ihre Doppelbesteuerungsabkommen aufzunehmen. Noch weiter geht die im Oktober 2017 verabschiedete Streitbeilegungs-Richtlinie der Europäischen Union93, die alle Mitgliedstaaten zur Einrichtung eines zwingenden Streitbeilegungsmechanismus nach Maßgabe der Richtlinie verpflichtet. Der damit verbundene Ausbau von Verständigungsverfahren und Schiedsverfahren wird in der Praxis die Rolle der Gerichte bei der Auslegung und Anwendung der 86 Vgl. im Einzelnen Lang/Herdin/Hofbauer, WTO and Direct Taxation, 2005; Schön, RIW 2004, 50 ff. 87 Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen 90/436/EWG, ABl. EU L 225/10 v. 20.8.1990. 88 Altman, Dispute Resolution under Tax Treaties, 2006. 89 Diete, Das obligatorische Schiedsverfahren in der deutschen DBA-Praxis, 2014. 90 Nachweise in OECD, Comments received on public discussion draft, BEPS Action 14: make dispute resolution mechanisms more effective, 2015. 91 Art. 16 f. MLI. 92 Art. 18 ff. MLI. 93 RL (EU) 2017/1852 des Rates vom 10.10.2017 über Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union, ABl. EU L 265/1 v. 14.10.2017.

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Doppelbesteuerungsabkommen auf den Einzelfall ein Stück weit zurückführen. Und doch ist vorläufig nicht damit zu rechnen, dass die Ergebnisse dieser Streitbeilegungsverfahren das Verständnis der zugrundeliegenden Vorschriften und damit die Auslegung der Doppelbesteuerungsabkommen über den Einzelfall hinaus maßgeblich prägen werden. Dafür ist zunächst zu berücksichtigen, dass sowohl das Multilaterale Instrument als auch die Streitbeilegungs-Richtlinie den Vertragsstaaten den Verfahrenstyp der „Last Best Offer Arbitration“ (oder: „Baseball Arbitration“) eröffnen. In einem solchen Verfahren gibt das Schiedsgericht schlicht derjenigen Partei den Vorzug, deren Ergebnisvorschlag von ihm – ohne Angabe eines „rationale or any other explanation of the decision“ – stärker unterstützt wird als der Ergebnisvorschlag der Gegenpartei94. Aber auch dann, wenn der Schiedsspruch vom Schiedsgericht mit regulären „Entscheidungsgründen“ versehen wird, kommt diesem  – wie sowohl Art. 23 Abs. 1 lit. c Satz 4 und Abs. 2 lit. c Satz 3 MLI als auch Art. 15 Abs. 4 Streitbeilegungs-Richtlinie einvernehmlich anordnen  – keinerlei rechtliche Präzedenzwirkung zu. Nur indirekt – etwa über eine inhaltliche Vertrautheit der Finanzverwaltungen und der Beraterschaft mit dem sich langsam vergrößernden Corpus der Schiedssprüche – wird sich ein Einfluss der Ergebnisse dieser Streitbeilegungsverfahren auf die allgemeine Rechtspraxis einstellen können. 3. Bindung der Gerichte an das Ergebnis von Verständigungsverfahren? Ein Schutzwall stand bisher sicher im Raum: Weder in den Verständigungs- und Schiedsverfahren nach dem Multilateralen Instrument noch in dem Verfahrensrecht der Schiedsverfahrens-Richtlinie der Europäischen Union ist vorgesehen, dass der betroffene Steuerbürger seinen Rechtsschutz vor den staatlichen Gerichten verliert. Auch dann, wenn ein Schiedsspruch ergangen ist, wirkt er nur dann gegen und für den Steuerzahler, wenn dieser ihn akzeptiert (Art. 19 Abs. 4 lit. b MLI und Art. 15 Abs. 4 Satz 1 Schiedsverfahrens-Richtlinie). Dieser institutionelle Rahmen wird jedoch nunmehr im OECD-MA durchbrochen: Nach dem Vorbild des US-Musterabkommens können nach Art. 3 Abs. 2 OECD-MA 2017 im Rahmen eines Verständigungsverfahrens die zuständigen Behörden der beteiligten Vertragsstaaten eine gemeinsame „Interpretation“ festlegen, die einerseits die möglicherweise divergierenden Lesarten eines Begriffs im nationalen Recht der Vertragsstaaten verdrängt, andererseits jedoch auch nicht „autonom“ aus dem Text und Kontext des Abkommens entwickelt wird. Dies steht in Kontext mit der in Art. 25 Abs. 3 OECD-MA niedergelegten tradierten Aufgabe der Verständigungsverfahren, Streitfragen zwischen den Vertragsstaaten über die Auslegung der Doppelbesteuerungsabkommen zu klären. Inhaltlich soll damit vor allem verhindert werden, dass ein zwingender Verweis auf nationales Recht in eine Doppelbesteuerung oder Doppel-Nichtbesteuerung hineinführt. Hinter der Neuerung in Art.  3 Abs.  2 OECD-MA steht  – wie die OECD in ihrem Kommentar schreibt – die Vorstellung, dass die zuständigen Gerichte diese Verstän94 Art. 23 Abs. 1 lit. c Satz 1 MLI; Art. 10 Abs. 2 Satz 2 Schiedsverfahrens-Richtlinie.

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digung zwischen den Parteien bei der Auslegung und Anwendung der Normen als „nachträgliche Vereinbarung“ nach Art. 31 Abs. 3 WVK berücksichtigen müssen95. Diese Aussage ist in ihrer Allgemeinheit deshalb zweifelhaft, weil Art.  31 Abs.  3 WVK solche späteren Vereinbarungen nur deshalb und insoweit als Auslegungshilfe akzeptiert, als sie Aufschluss über den ursprünglichen Inhalt der Abkommen geben können. Dafür hätte es auch keiner Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 OECD-MA, sondern schlicht des Rekurses auf das allgemeine Völkervertragsrecht bedurft. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, dass mit der Erweiterung des Art. 3 Abs. 2 OECD-MA eine gegenüber der WVK spezielle Auslegungsregel eingeführt werden soll, die dem im Verständigungsverfahren nach Art.  25 Abs.  3 OECD-MA zwischen den Behörden festgestellten Auslegungsergebnis materiellrechtliche Verbindlichkeit auch gegenüber den Gerichten verschaffen kann. Dies könnte namentlich dazu beitragen, dass dem Grundsatz der „Einmalbesteuerung“ (der nicht nur die Vermeidung der Doppelbesteuerung, sondern auch die Vermeidung der Nicht-Besteuerung einschließt) „lückenlos“ entsprochen werden kann. Anders formuliert: Dem Steuerpflichtigen würde die mit einem robusten Verständnis des Art. 3 Abs. 2 OECD-MA verbundene Möglichkeit genommen, mit Hilfe eines staatlichen Gerichts einen Keil in die zwischen den beteiligten Vertragsstaaten abgesprochene Abkommensanwendung zu treiben. Dies muss in allen Staaten Anstoß erregen, in denen eine Delegation der Rechtssetzungsbefugnis an die Steuerverwaltung im Grundsatz ausgeschlossen ist96. Aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts hatte die Bundesregierung daher bereits im Jahre 1990 zu dem inhaltsgleichen, vom US-Musterabkommen abgeleiteten, Art.  3 Abs. 2 des DBA Deutschland/USA ausgeführt: „Der Rückgriff auf innerstaatliches Recht kann im Verständigungsweg ausgeschlossen werden, wobei sich die Durchführung derartiger Regelungen im nationalen Bereich nach den innerstaatlichen Voraussetzungen hierfür richtet; ob die damit eröffnete Auslegung des Abkommens aus sich selbst heraus dem DBA entspricht, kann, solange eine Umsetzung durch eine Norm mit Gesetzesrang fehlt, von den Gerichten überprüft werden97.“ Im Jahre 2010 hat der deutsche Gesetzgeber allerdings mit § 2 Abs. 2 Satz 1 AO eine Regelung eingeführt, die das Bundesministerium der Finanzen ermächtigt, „durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Rechtsverordnungen zur Umsetzung von Konsultationsvereinbarungen zu erlassen98.“ Die mit dieser gesetzlichen Anordnung verbundene Hoffnung, dem Ergebnis der Konsultationsvereinbarungen auch bindende Wirkungen gegenüber den Finanzgerichten zu verschaffen, hat der 95 OECD-Musterkommentar zu Art. 25 OECD-MA Rz. 6.1–6.3 (Update 2017). 96 BFH v. 2.9.2009 – I R 111/08, BStBl. II 2010, 387 (388 f.) Rz. 14 f.; v. 12.10.2011 – I R 15/11, BStBl.  II 2012, 548 (550  f.); Dürrschmidt in Vogel/Lehner (Fn.  6), §  3 Rz.  127; Pohl in Schönfeld/Ditz (Fn. 6), § 3 Rz. 244. 97 BT-Drs. 11/6530, 41. 98 Ausführlich zur Entstehung der Vorschrift Drüen (Fn.  5), §  2 AO Rz.  43a  ff.; Musil in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 2 AO Rz. 364 ff.

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Bundesfinanzhof indessen in einem Grundsatzurteil zum Verhältnis Deutschland-­ Schweiz eine Absage erteilt99. Der hier identifizierte Konflikt zwischen dem Rechtsstaatsprinzip (ausgeprägt im Vorbehalt des Gesetzes nach Art. 20 Abs. 3 GG sowie dem Grundsatz gerichtlicher Überprüfbarkeit nach Art. 19 Abs. 4 GG) und dem Verlangen nach internationaler Uniformität und Lückenlosigkeit des Abkommensrechts geht mit der Erweiterung des Art.  3 Abs.  2 OECD-MA in eine neue Runde. Dabei steht natürlich auch das Rechtsschutzbedürfnis des Einzelnen unter Druck. Sein Anliegen besteht in der Hauptsache darin, dass es den Vertragsstaaten in einem Verständigungsverfahren gelingt, mit Hilfe einer einvernehmlichen Interpretation der Abkommensbegriffe den Tatbestand der Doppelbesteuerung zu vermeiden. Soll nun der Steuerpflichtige weitergehend darauf bestehen können, nur einem bestimmten Fiskus unterworfen zu sein oder gar „Arbitrage“ in der Lücke zwischen zwei Steuerrechtsordnungen betreiben zu können? Deutschland wird damit rechnen müssen, dass andere Staaten, bei denen die Kompetenz zur Auslegung von Steuernormen zu einem guten Teil an die Behörden delegiert werden kann, kritisch auf die strenge deutsche Praxis sehen werden.

VII. Ausblick Der hier vorgestellte Paradigmenwechsel des internationalen Steuerrechts – in Richtung auf eine Multilateralisierung und eine Internationalisierung der Normen, Methoden und Institutionen – ist auf dem Pfad der internationalen Steuerpolitik seit der Jahrtausendwende angelegt. Dies ist aber nicht die einzige denkbare Zukunftsperspektive. Gerade in den letzten Jahren zeichnen sich sowohl auf der Ebene der „großen Politik“ als auch in internationalen Steuerfragen neue Konflikte und auch eine Wiederkehr nationaler Alleingänge ab. Nicht zuletzt die international-steuerlichen Zielsetzungen des vom U.S.-Kongress im Dezember 2017 verabschiedeten „Tax Cuts and Jobs Act“ könnten eine neue Ära des Isolationismus einleiten. Darauf zurückzuschauen wird indessen Aufgabe der Beiträge sein, die in einer neuen Festschrift in 25 oder 50 Jahren dem obersten deutschen Steuergericht gewidmet werden können.

99 BFH v. 10.6.2015 – I R 79/13, BStBl. II 2016, 326 (328 f.).

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … D. II. 1.

Unabgestimmtheit der nationalen Steuerrechtsordnungen – aus Sicht der Verwaltung Von Martin Kreienbaum

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Problemaufriss 1. Regelungsmaterie 2. Folgen der Unabgestimmtheit a) Doppelbesteuerung b) Doppelte Nichtbesteuerung 3. Unabgestimmtheit und Steuerwett­ bewerb III. Ansatz national IV. Ansatz DBA

V. Ansatz Europa 1. Direkte Harmonisierung durch Richtlinien 2. Richtlinien im Bereich des Verfahrensrechts 3. Exekutive Maßnahmen 4. Zwischenfazit VI. Ansatz International, insbesondere BEPS VII. Fazit

I. Einleitung Die Unabgestimmtheit unterschiedlicher nationaler Steuerrechtsordnungen stellt alle Akteure des Steuerrechts – Gesetzgeber, Steuerpflichtige, Verwaltungen und auch die Finanzgerichtsbarkeit  – zunehmend vor Herausforderungen. Aufgrund der zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaft wirken die aus der Unabgestimmtheit unterschiedlicher nationaler Steuerrechtsordnungen erwachsenden Probleme in immer größeren Bereichen des Wirtschaftslebens und werden damit stärker in den Fokus auch der öffentlichen Diskussion gerückt. Spätestens mit dem von der G20, den zwanzig größten Volkswirtschaften der Welt, initiierten und fachlich von der OECD verantworteten steuerpolitischen Großprojekt zu Maßnahmen gegen die Erosion von Bemessungsgrundlagen und Gewinnverschiebungen („BEPS“1) sind Fragen des grenzüberschreitenden Zusammenspiels und der Verzahnung nationaler Steuerrechtsordnungen auf die internationale steuerpolitische Agenda gehoben worden. 1 Der 15 Handlungsfelder umfassende OECD Aktionsplan (https://www.oecd.org/ctp/BEPS​ ActionPlan.pdf, zuletzt abgerufen am 21.3.2018) zu „Base Erosion an Profit Shifting“ wurde 2012 durch die G20 in Auftrag gegeben.

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Das Zusammenwirken aufeinander nicht oder nicht ausreichend abgestimmter nationaler Steuerrechtsordnungen wurde dort als wesentliche Ursache für unerwünschten Steuergestaltungsspielraum identifiziert, die maßgeblich zu Gewinnverschiebungen und zur Erosion der Bemessungsgrundlagen beitrage. In der Folge wurde ein 15 Punkte umfassender Aktionsplan mit konkreten Handlungsempfehlungen2 erarbeitet, zu dessen Umsetzung sich mittlerweile mehr als 100 Staaten verpflichtet haben. Der Beitrag versucht, die Herausforderungen der Unabgestimmtheit von Steuerrechtsordnungen zu kategorisieren und die gesetzgeberischen Maßnahmen und ihre Umsetzung durch die Verwaltung in die gefundenen Kategorien einzuordnen.

II. Problemaufriss Der Begriff der Steuerrechtsordnung hat bisher keine einheitliche und umfassende Definition gefunden. In einem weiten Sinne ist die Steuerrechtsordnung als die ­Gesamtheit der Normen zu verstehen, die die Regelung des Steueranspruchs eines Staates adressieren3. Dies sind nament­lich das materielle Steuerrecht, das der Durchsetzung dieses Rechts dienende Verfahrensrecht und auch das wiederum der technischen Umsetzung der verfahrensrechtlichen Vorschriften dienende Recht4. Das Recht, Steuern zu erheben, ist dabei ein zentraler Aus­druck staatlicher Souveränität5. Aus diesem Grund sind Steuerrechtsordnungen im Kern natio­nal geprägt. Daraus folgt nahezu zwangsläufig eine Divergenz der Steuerrechts­ordnungen, in der sich nicht nur die jeweiligen nationalen Prägungen, (Verfassungs-) Traditionen und die demo­ kratischen Entscheidungen der jeweiligen Gesetzgeber widerspiegeln, sondern auch die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Interessen der einzelnen Staaten. Die hieraus erwachsenden Probleme stellen sich auf mehreren Ebenen. Auf einer ersten Ebene (unter 1.) ist zwischen den Regelungsmaterien zu unterscheiden. So bestehen Divergenzen nicht ausschließlich im Bereich des materiellen ­Steuerrechts. Vielmehr unterscheiden sich gerade auch die die hochgradig unterschiedlichen Verwaltungs­traditionen der Staaten reflektierenden verfahrensrechtlichen Vorgaben. 2 Der BEPS Aktionsplan mündete 2015 in konkrete Handlungsempfehlungen (OECD-BEPS-­ Package, www.oecd.org/ctp/beps-2015-final-reports.htm, zuletzt abgerufen am 21.3.2018 ) zur Reform internationaler Steuerregelungen, die wiederum von den G20 Finanzministern angenommen wurden. 3 Einen Überblick über das unterschiedliche Verständnis der Begrifflichkeit gebend: Thomas Reith, Internationales Steuerrecht (2017), Rz. 1.8 ff. m.w.N.; im Ergebnis treffend: Klaus Vogel in Vogel/Lehner (Hrsg.), 4. Aufl. 2008, Einleitung DBA Rz. 6. 4 Die Zölle bleiben in diesem Beitrag außer Betracht. Zwar sind Zölle Steuern i. S.  d. §  1 Abs. 1 AO; eine Befassung würde jedoch den gegebenen Rahmen sprengen. 5 Das BVerfG hält „die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen“ für eines der Kernelemente für die „demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates“, BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 Rz. 252 (256); deutlich: Paul Kirchhof in Kirchhof/Isensee (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 214 Rz. 112 ff.

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Unabgestimmtheit der nationalen Steuerrechtsordnungen

Auf einer zweiten Ebene (unter 2.) sind die aus der Unabgestimmtheit entstehenden Folgen für die beteiligten Steuerpflichtigen, aber auch für die betroffenen Fisci, zu untersuchen. Die klassische und schon lange adressierte Folge unabgestimmter nationalstaatlicher Steuerrechtsordnungen ist das Entstehen einer doppelten Besteuerung beim Steuerpflichtigen6, der im Geltungsbereich zweier oder mehr Steuerrechts­ ordnungen wirtschaftlich aktiv ist. Neben den für den Steuerpflichtigen nachteiligen Folgen kann aber auch die für die beteiligten Staaten regelmäßig nachteilige Wirkung einer doppelten Nichtbesteuerung die Konsequenz der Unabgestimmtheit der rele­ vanten Steuerrechtsordnungen sein. Auf einer dritten Ebene (unter 3.) erlangt das Problem der Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen und dessen Verbindung zum zwischenstaatlichen Steuerwettbewerb Bedeutung. Die Unabgestimmtheit kann, ebenso wie eine unzureichende oder man­gelhafte Abgestimmtheit, hierbei (gezielt) als Mittel eingesetzt werden, um einem Staat Wettbewerbsvorteile gegen­über anderen Staaten zu verschaffen. Genauso kann der Steuer­wettbewerb auch zu einer Annäherung der Steuerrechtsordnungen führen, sofern Steuer­regime sich als besonders wettbewerbsfähig erweisen und von anderen Staaten adaptiert werden. Denkbar ist zudem, dass bestimmte Effekte eines völlig freien Steuerwettbewerbs von der internationalen Gemeinschaft als schädlich bewertet werden und sich hieraus Angleichungen des jeweiligen nationalen Steuerrechts ergeben. 1. Regelungsmaterie Die Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen ist zunächst mit Blick auf die jeweilige Regelungsmaterie zu betrachten. Die negativen Folgen wurzeln dabei ursächlich im diver­gierenden materiellen Recht der beteiligten Staaten. Aus dem Zusammenwirken des unab­gestimmten materiellen Steuerrechts ergeben sich Rechtsfolgen, die sowohl für den Steuer­pflichtigen, als auch die Staaten problematisch sein können. Jedoch ist nicht nur die materielle Unabgestimmtheit von Steuerrechtsordnungen problematisch. Vielmehr divergiert auch das Verfahrensrecht der Staaten häufig mindestens im gleichen Maße wie das materielle Recht. Als dienendes Recht7, das auf einer sekundären Ebene wirkt und die Administration der Steuern bestimmt, kann auch das Verfahrensrecht durch seine Unabgestimmtheit Probleme verursachen. Exemplarisch zeigt sich die Divergenz des Ver­fahrensrechts an den Möglichkeiten zur Änderung von Steuerbescheiden. Deutschland sieht traditionell eine lange Frist zur 6 Betrachteten die Arbeiten des Völkerbundes im Jahr 1927 auch noch die Steuervermeidung  (Bericht über Doppelbesteuerung und Steuervermeidung, vorgestellt durch das Expertenkomitee für Doppelbesteuerung und Steuervermeidung, Völkerbund Dok.-Nr. C.216.M.85.1927.II (1927)), gingen die Vorarbeiten zum OECD-MA 1964 im Wesentlichen nur noch auf die Vermeidung der Doppelbesteuerung ein (vgl. Jens Wittendorff, Transfer Pricing and the Arm’s Length Principle in International Tax Law (2010), S. 96 ff.). 7 Zur dienenden Funktion des Verfahrensrecht und zur rechtsdogmatischen Herleitung dieser Funktion, ausführlich: Markus Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007, S. 31 ff.

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Änderung von Steuerbescheiden vor. In anderen Staaten ist eine Änderung nur in einem relativ kurzen Zeitraum möglich. Diese verfahrensrechtliche Unabgestimmtheit kann im Ergebnis dazu führen, dass Korrekturen nur in einem der beiden Staaten möglich sind und dadurch Probleme, die im materiellen Recht gelöst werden konnten, aufgrund divergierenden Verfahrensrechts fortwirken8. Das Problem ist von Gesetz­geber und Verwaltung erkannt. So forciert die Verwaltung beispielsweise die durch den Gesetzgeber geschaffene Möglichkeit der Zusammenarbeit der Steuerbehörden in der EU im Rahmen von sogenannten „Joint Audits“, um eine frühzeitige Lösung von aus dem materiellen Recht ent­stehenden Problemen im Bereich der doppelten Besteuerung und der doppelten Nicht­besteuerung herbeizuführen. Hierbei wurde auf europäischer Eben eine ein­heitliche Rechts­grundlage für die Zusammenarbeit geschaffen9, ohne die grundlegende Divergenz der Ver­fahrensrechtsordnungen der Staaten zu beseitigen10. Im Ergebnis kann aber Verfahrensrecht die materiellrechtlichen Probleme nicht allein lösen, allenfalls kann es dazu beitragen, Problemlösungsmechanismen bereitzustellen11. Dieser Befund gilt noch stärker für die Rechtsebene, auf der die technische Umsetzung des materiellen und des Verfahrensrechts geregelt wird. Zwar ist die Schaffung der rechtlichen Grundlagen für technische Lösungen – bspw. technische Durchführung des automatischen Informationsaustauschs – für eine effiziente Verwaltung, die letztlich dem Ziel der Gewährleistung einer gleichmäßigen Besteuerung dient, elementar. Im Ergebnis kann auch dies nicht zur Beseitigung materiellrechtlich verursachter Probleme, die aufgrund der Unabge­stimmtheit der materiellen Rechtsvorschriften entstehen, führen. Die technisch-rechtliche Koordination kann aber eine nicht zu unterschätzende Hilfestellung sein. So sollen beispielsweise der Informationsaustausch zu Rulings oder auch zum Country by Country-Reporting sicherstellen, dass den Finanzbehörden grenzüberschreitend Informationen zur Verfügung gestellt werden, die sie in die Lage vernetzen, einen auf die Steuersituation im anderen Staat abgestimmte Besteuerung durchzuführen.

8 Insoweit kommt das unabgestimmte Verfahrensrecht seiner der Durchsetzung des materiellen Rechts dienenden Funktion nicht mehr nach. 9 Richtlinie 2011/16/EU des Rates v. 15.2.2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG, ABl. EWG L 64/1 (EU-Amtshilferichtlinie). 10 Inwieweit sich aus den Erfahrungen mit der Zusammenarbeit auch Impulse für eine stärkere Annäherung des Verfahrensrechts der einzelnen Mitgliedsstaaten ergeben, bleibt abzuwarten. Beispielhaft sei hier aber darauf verwiesen, dass Italien die Änderungsmöglichkeiten von Steuerverwaltungsakten in der Folge der Einführung der Regelungen zum Joint Audit angepasst hat (Parlamentsgesetz v. 21.6.2017 (Gesetz Nr. 96), welches auch eine Verrechnungspreiskorrektur zu Lasten des italienischen Staates in der Folge eines Joint Audits ermöglicht). 11 In diese Richtung schon: Johannes Becker/Ekkehart Reimer in Becker et al., Das Verfahrensrecht der Verrechnungspreise, 2016, S. 221 f.

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Unabgestimmtheit der nationalen Steuerrechtsordnungen

2. Folgen der Unabgestimmtheit Auf einer zweiten Ebene sind die ökonomischen Folgen zu untersuchen, die aus den Rechtsfolgen unab­gestimmter Regelungen des materiellen Steuerrechts der jeweiligen Staaten entstehen. Dabei zeigen sich zwei Erscheinungsformen: Die Doppelbesteuerung auf der einen und die doppelte Nichtbesteuerung auf der anderen Seite. a) Doppelbesteuerung Eine offensichtliche Rechtsfolge unabgestimmter Steuerrechtsordnungen ist das Ent­ stehen rechtlicher oder wirtschaftlicher Doppelbesteuerung beim Steuerpflichtigen. Die Doppelbesteuerung ist dabei vor allem aus ökonomischer Perspektive, weniger aus einer originär rechtlichen12, problematisch; sie führt makroökonomisch zur Verzerrung des glo­balen, fairen Wettbewerbs, der freien Kapitalbewegung und des freien Arbeitsaustauschs. Dadurch wird die Konkurrenzfähigkeit von Akteuren auf Auslandsmärkten eingeschränkt13. Im Ergebnis dient das Ziel der Vermeidung doppelter Besteuerung der Sicherstellung glo­baler Wettbewerbsfähigkeit (deutscher) Unternehmen und der Schaffung eines einheitlichen Level-Playing-Fields aller Akteure auf den immer stärker miteinander verzahnten Märkten. b) Doppelte Nichtbesteuerung Spiegelbildlich zum Problem der Doppelbesteuerung stellt sich das Problemfeld der doppelten Nichtbesteuerung. Zeitigt die Doppelbesteuerung vor allem für den Steuerpflichtigen direkte negative Folgen, sind Fälle, bei denen ein wirtschaftlicher Ertrag weder in dem einen noch in dem anderen Staat besteuert wird und dies ein Resultat unabgestimmter Regelungen des jeweiligen materiellen Steuerrechts ist, vor allem für die beteiligten Staaten problematisch. Dabei ist von der aus der Unabgestimmtheit resultierenden Entstehung einer doppelten Nichtbesteuerung die doppelte Nichtbesteuerung zu unterscheiden, die aufgrund gleichlaufender Verschonungsentscheidungen in beiden Staaten resultiert. Entscheiden beide Steuerrechtsordnungen bewusst, einen wirtschaftlichen Ertrag unabhängig von der Besteuerung im anderen Staat nicht zu besteuern, stellt dies für beide Staaten einen bewussten Verzicht auf Steueraufkommen dar. Dieser Fall stellt in der Praxis eine eher vernachlässigbare Ausnahme dar.14 Im Allgemeinen kommt es bspw. aufgrund von Qualifikationskon12 Der Staat ist rechtlich grds. nicht verpflichtet, die Hoheitsausübung eines anderen Staates auf dessen Territorium bei der eigenen Rechtssetzung zu berücksichtigen und damit die Berücksichtigung der dort schon gezahlten Steuern zu gewährleisten, vgl. für das europäische Recht EuGH v. 12.2.2009 – C-67/08 – Margarete Block, ECLI:EU:C:2009:92 m.w.N.; für Deutschland: BFH v. 14.2.1975 – VI R 210/72, BFHE 115, 319, BStBl. II 1975, 497; v. 19.6.2013 – II R 10/12, BFHE 241, 402, BStBl. II 2013, 746 m.w.N. 13 Jacobs/Endres/Sprengel, Internationale Unternehmensbesteuerung, 8. Aufl., S. 4 f. 14 So ist z.B. in Art. 14 Abs.  2 DBA Frankreich in der Fassung des Zusatzabkommens v. 31.3.2015 (BGBl. II 2015, 1335) geregelt, dass aus Deutschland geleistete Zahlungen als

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flikten, die im divergierenden Recht der Staaten wurzeln, zu einer ungewollten und unbewussten doppelten Nichtbesteuerung. Dann tritt der Fall einer aus Sicht der Staaten (unbewussten) Minderung des Steueraufkommens ein und damit ein problematischer Fall doppelter Nicht­besteuerung. Das Problem der doppelten Nichtbesteuerung ist dabei in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der öffentlichen Berichterstattung, der Maßnahmen der Staatengemeinschaft und des nationalen Gesetzgebers gerückt. Hierfür bestehen im We­ sentlichen zwei Ursachen. In Folge der Finanzkrise und der hieraus entstandenen Staatsschuldenkrise der Jahre 2008 und folgende, ist der Finanzbedarf der Staaten erheblich gewachsen, sodass die Erhaltung des Steuersubstrats deutlich stärker in den Fokus gerückt ist. Zeitgleich sind einige große multi­national aufgestellte Unternehmen durch Steuergestaltungsmodelle auf­gefallen, die die Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen gezielt auszunutzen, um ihre Steuerlast auf zum Teil marginale Prozentsätze zu senken. Die Möglichkeiten zu Steuergestaltungen werden durch zwei parallel verlaufende Megatrends der globalen Ökonomie verstärkt  – einer sich immer stärker inter­ nationalisierenden Wirt­schaft und einer Entkopplung vieler Wirtschaftssektoren von der physischen Präsenz in Märkten, in denen sie aktiv sind. Damit verbunden ist die Möglichkeit von Unternehmen, die sich aus der Unabgestimmtheit nationalstaatlicher Steuerrechts­ordnungen und den aus dem Fehlen eines internationalen Regelungsrahmens ergebenden Lücken zu nutzen, Steuergestaltungen zu forcieren und eine doppelte Nichtbesteuerung zu erreichen. Zwischenfazit Sowohl die Doppelbesteuerung, als auch die doppelte Nichtbesteuerung fordern den Gesetzgeber und die Verwaltung laufend heraus. Die Ursachen dafür mögen unterschiedlich sein, dennoch bestehen in dem Bestreben, nach der Vermeidung sowohl der Doppelbesteuerung als auch der doppelten Nichtbesteuerung zwei gleichwertige Handlungsmaximen15. 3. Unabgestimmtheit und Steuerwettbewerb Auf einer dritten Ebene zeigt sich eine erhebliche Wechselwirkung zwischen der Unab­ge­stimmtheit der Steuerrechtsordnungen und dem zwischenstaatlichen SteuerAusgleich für Schäden, die durch Kriegshandlungen oder politische Verfolgung verursacht worden sind, nur in Deutschland besteuert werden dürfen. Gleichzeitig werden diese Leistungen nach § 3 Nr. 8 EStG in Deutschland von der Besteuerung ausgenommen. 15 Dies drücken auch die Überschrift und die Präambel der deutschen Verhandlungsgrundlage zu Doppelbesteuerungsabkommen (BMF v. 22.8.2013 – IV B 2 - S 1301/13/10009 abrufbar im Internet unter: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standard​ artikel/Themen/Steuern/Internationales_Steuerrecht/Allgemeine_Informationen/­201308-22-Verhandlungsgrundlage-DBA-deutsch.pdf?__blob=publicationFile&v=9, zuletzt abgerufen am 23.8.2017) sowie die Überschrift und die Präambel des OECD-Musterabkommens 2017 aus.

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wettbewerb. Zunächst ist festzustellen, dass die Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen zwar nicht ursächlich aus dem Steuerwettbewerb herrührt. Der Steuerwettbewerb beeinflusst aber gleichwohl die Probleme, die aus der Unabgestimmtheit resultieren in nicht zu unterschätzender Weise. Aufgrund der schon oben dargestellten Inter­nationalisierung der Wirtschaft und der immer stärkeren Loslösung der Wertschöpfungs­faktoren von der physischen Präsenz, wurde und wird das Steuerrecht zu einer maß­geblichen Größe im Staatenwettbewerb um unternehmerische Investitionen. Wettbewerb ist dabei eine grund­sätzlich zu begrüßende Erscheinung, so führt er aus ökonomischer Perspektive zu einer effizienten Allokation von Res­ sourcen und zu Disziplin auf der Ausgabenseite. Mit Blick auf die Abstimmung von Steuerrechtsordnungen untereinander wirkt der Steuerwettbewerb in zwei unterschiedliche Richtungen. In einer ersten, regelmäßig zeitlich am Anfang stehenden Perspektive, führt er zu einem weiteren Auseinanderfallen der Steuer­rechtsordnungen der Staaten. Staaten erfinden innovative, für Unternehmen vorteilhafte Steuergesetzgebung, die Investitionen im jeweiligen Staat aktvieren und befördern sollen. Darauf reagieren typischerweise andere Staaten. Einerseits können Staaten zu einer Abwehrgesetzgebung greifen, die das Steuersubstrat im Staat sichern soll und im Ergebnis zu einem weiteren Auseinanderfallen der Steuerrechtsordnungen führt. Auf der anderen Seiter besteht aber auch die Gefahr, dass die Staaten die Regelung adaptieren und damit ein für die Staatsfinanzen der Staatengesamtheit gefährliches sog. „race to the bottom“ einsetzt. Beide Reaktionsmöglichkeiten dienen aber, sei es durch Abwehr­ gesetzgebung oder Angleichung, der Verzahnung der Steuerrechtsordnungen untereinander, selbst wenn diese das Ergebnis einer einseitigen Reaktion und nicht das einer gemeinsamen Abstimmung ist. Die wettbewerbliche Komponente kann damit in einer direkten Wechsel­wirkung zu abgestimmten Steuerrechtsordnungen stehen und ist bei allen Maßnahmen von Gesetz­geber und Verwaltung zu berücksichtigen. Zwischenfazit Die Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen erweist sich für Gesetzgeber und Ver­waltung auch mit Blick auf den Steuerwettbewerb als mehrdimensionale Herausforderung. Hierbei hat sich in den letzten Jahren eine bisher nicht gekannte Geschwindigkeit des Wandels der nationalen und internationalen Steuerrechtsordnung gezeigt, die sich auf wettbewerbliche Situation der Staaten auswirkt. Gleichzeitig ist das Bewusstsein für die negativen Auswirkungen unabgestimmter Steuerrechtsverordnungen auf die steuerwettbewerbliche Situation der Staaten untereinander enorm gewachsen.

III. Ansatz national Der nationale Gesetzgeber ist aufgrund seiner aus der Staatssouveränität folgenden Steuer­hoheit erster Adressat des Auftrags, die Folgen, die sich aus der Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen ergeben, aufzufangen. Dabei wirken die unter II. beschriebenen Probleme in unterschiedlichem Ausmaß auf gesetzgeberische Aktivitäten in Deutschland und anderen Staaten ein. 955

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Zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ist jeder Staat grundsätzlich in der Lage, durch uni­laterale Maßnahmen  – etwa durch Anrechnung oder gänzliche Freistellung – Abhilfe zu schaffen. Deutschland geht unilateral16 regelmäßig den Weg einer Anrechnung bis zu der Höhe, in der auch in Deutschland Steuern gezahlt wurden. Eine (darüber hinausgehende) Erstattung von im Ausland gezahlter Steuer findet nicht statt. Eine unilaterale Regelung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung geht letztlich aber immer nur zu Lasten desjenigen Fis­kus, der die Anrechnung (oder gar Freistellung) zulässt. Dies führt zu praktischen Grenzen der unilateralen Möglichkeiten der Vermeidung der Doppelbesteuerung und stellt einen elementaren Nachteil gegenüber einem bi- oder gar multilateral zwischen den Staaten abgestimmten, wechselseitigen Verzicht von Besteuerungsrechten dar. Der deutsche Gesetzgeber hat sich auch den Herausforderungen des internationalen Steuerwettbewerbs und den Risiken der doppelten Nichtbesteuerung durch die Schaffung einer umfangreichen Abwehrgesetzgebung gestellt. Hierfür seien nur exemplarisch die umfassenden Änderungen des Außensteuergesetzes der letzten ­Jahre17 und die Einführung der Zins- und zuletzt der Lizenzschranke in §§ 4h EStG und 4j EStG genannt. Die Regelungs­möglichkeiten des nationalen Gesetzgebers sind hierbei aber durch europa-18 und völker­rechtliche19 sowie verfassungsrechtliche Vorgaben beschränkt, sodass eine vollkommene Vermeidung der doppelten Nichtbesteuerung und eine wirksame Begegnung von als schädlich erkannten Wettbewerbspraktiken anderer Staaten nur begrenzt möglich ist. Mit Blick auf den Steuer­ wettbewerb ist Deutschland als traditionelles Industrieland mit einem ausgeprägten Sozial- und Wohlfahrtsstaat nicht den Weg gegangen, sich dem internationalen Steuerwettbewerb durch die Teilnahme an dem oben beschriebenen „race to the bottom“ zu beteiligen. Im Kontext der Regelungsmöglichkeiten des nationalen Gesetzgebers sei aber auch auf die auf den ersten Blick problematischen, bestehende Doppelbesteuerungsabkommen über­schreibende Gesetze (sog. Treaty Override), eingegangen. Zunächst ist festzuhalten, dass ein Treaty Override nach der Rechtsprechung des Bundes­verfassungsgerichts auch vor dem Hintergrund der Völkerrechtsfreundlichkeit

16 Im Unterschied zu der in den DBA regelmäßig vorgesehenen Freistellung. 17 Artikel 5 des Gesetzes gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen v. 27.6.2017 (BGBl.  I S.  2074); Artikel  8 des Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 22.12.2014, BGBl.  I 2014,  2417; Artikel  6 des Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetzes (AmtshilfeRLUmsG) v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809. 18 Dabei gibt es sowohl Vorgaben des europäischen Primär- als auch des Sekundärrechts, exemplarisch sei hier nur auf die die Grundfreiheiten verwirklichenden Regelungen der Mutter-Tochter-Richtlinie und der Zins- und Lizenzrichtlinie hingewiesen. 19 Namentlich die Doppelbesteuerungsabkommen, die aber nach der nicht unumstrittenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den innerstaatlichen Gesetzgeber nicht daran hindern, diese durch Gesetz zu überschreiben.

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innerstaatlich zulässig ist20. Dieser Befund hat jedoch mit Blick auf die gegenständliche Frage, ob vertrags­brechende Gesetze vor dem Hintergrund der Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen und der daraus erwachsenden Herausforderungen problematisch sind, nur beschränkte Aussagekraft. Vielmehr kommt es auf die Wirkung des vertragsbrechenden Gesetzes an. Aus Sicht von Verwaltung, Gesetzgeber und Steuerpflichtigen muss ein Treaty Override nicht zwingend zu mehr Unabgestimmtheit führen. Sofern das Gesetz eine Auslegung der Rechtsprechung korrigiert, die entweder mit dem – je nach Sichtweise – erneut oder neu zum Ausdruck kommenden Willen der Vertragsparteien nicht übereinstimmt und im Konflikt zur Vertragsauslegung im anderen Vertragsstaat steht, wird ein Gleichlauf der Vertrags­auslegung in beiden Vertragsstaaten herstellt. Damit werden die Probleme der Unabgestimmtheit durch das innerstaatliche Gesetz nicht verschärft, sondern gerade gelöst. Andererseits kann ein Staat ein DBA aber auch einseitig und gegen den Vertragsinhalt oder die Vertragsauslegung durch den anderen Staat überschreiben.21 Dies mag im Einzelfall vor dem Hintergrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes nicht wünschenswert sein und führt zweifelsohne zu einem völkervertrags­ rechtswidrigen Verhalten Deutschlands, ist aber aufgrund demokratischer Grundsätze hin­zunehmen. Ob eine Verschärfung der Probleme der Unabgestimmtheit der Steuerrechts­ordnung eintritt, lässt sich jedenfalls nicht allein aus dem Vorhandensein eines vertragsbrechenden Gesetzes schließen.

IV. Ansatz DBA Eine rein innerstaatliche Rechtssetzung führt in der Regel nicht zu einer befriedigenden und ausge­wogenen Lösung der aus der Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen erwachsenden Probleme. Deutschland hat daher ein dichtes Netz von Doppelbesteuerungs­abkommen abgeschlossen22, deren Zweck in erster Linie darin besteht, das Problem der doppelten Besteuerung zu adressieren. Die Wirkung des DBA besteht dabei in der Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen den Vertragsstaaten, durch die eine Doppelbesteuerung in der Regel effektiv vermieden werden kann. Das DBA wirkt dabei nicht harmonisierend auf die unabgestimmten Steuerrechtsordnungen ein, sondern stellt eine Art Kollisionsrecht der beiden materiellen Steuerrechtsordnungen dar23. Daneben sehen DBA auch verfahrensrechtliche Mög20 So das BVerfG in seiner Grundsatzentscheidung v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1 ff., a.A. noch der BFH in seiner Vorlageentscheidung v. 10.1.2012 – I R 66/09, BFHE 236, 304. 21 So enthalten z.B. die §§ 50d Abs. 8, 9, 10 und 11 EStG Regelungen, die „ungeachtet des Abkommens“ gelten, auch wenn es sich bei diesen Regelungen nicht zwingend um Treaty Overrides handelt. 22 Ggw. hat Deutschland Doppelbesteuerungsabkommen mit mehr als 100 Staaten abgeschlossen. Zu einer Übersicht zum 1.1.2017 s. BMF-Schreiben v. 18.1.2017  – IV B 2 - S 1301/07/10017 – 08, BStBl. I 2017, 140 ff. 23 Diesen Begriff näher erläuternd: Klaus Vogel in Vogel/Lehner (Hrsg.), 4. Aufl. (2008), Einleitung DBA Rz. 42 f. (68 ff.).

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lichkeiten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung vor. Art. 25 OECD-MA und die ihm folgenden DBA sehen zur Beilegung von Konflikten das Verständigungsverfahren und die Möglichkeit der Durchführung eines Schiedsverfahrens vor. Damit stellen die DBA selbst nicht nur die materiellen Kollisionsnormen zur Verfügung, sonfahrens auch auf dieser Ebene zur dern tragen durch die Schaffung eines Ver­ Vermeidung des Problems der Doppelbesteuerung bei. Neben der traditionellen Zielrichtung der DBA hat das Bundesministerium der Finanzen mit der Veröffentlichung der deutschen Verhandlungsgrundlage für Doppel­ besteuerungs­abkommen24 das Ziel der Vermeidung der doppelten Nichtbesteuerung gleich­berechtigt in die deutsche Verhandlungsgrundlage aufgenommen25. Die Verhandlungsgrundlage sieht neben der allgemeinen Ziel­setzung der Vermeidung doppelter Nichtbesteuerung auch konkrete Regelungen zur Bekämpfung dieser vor26. Den Vorgaben der deutschen Verhandlungsgrundlage folgend werden regelmäßig Rückfallklauseln vereinbart, die beispielsweise im Falle der Nichtausübung des dem Vertragspartner zugebilligten Besteuerungsrechts oder dem Falle eines Qualifikationskonfliktes ein Umschwenken von der Freistellungsmethode zur Anwendungsmethode anordnen. 27 Damit wird dem Entstehen weißer Einkünfte wirksam entgegengetreten. Die gezeigten positiven Wirkungen von Doppelbesteuerungsabkommen bei der Bewältigung der durch unabgestimmte Steuerrechtsordnungen entstehenden Probleme verdeutlichen die Notwendigkeit für Gesetzgebung und Verwaltung, ein möglichst dichtes Netz an Doppel­besteuerungsabkommen zu erhalten und diese laufend an die sich ergebenden inter­nationalen Entwicklungen anzupassen. Diesem Auftrag kommt das Bundesministerium der Finanzen durch zahlreiche Neuverhandlungen und die Anpassung alter Doppel­besteuerungsabkommen nach. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Doppelbesteuerungsabkommen allein nicht alle Probleme lösen können, die durch das Zusammenwirken der unabgestimmten Steuerrechtsordnungen entstehen. Erst das Zusammenspiel aus nationalen Ansätzen, bilateralen völkervertragsrechtlichen Ansätzen und internationalen Vereinbarungen auf multilateraler Ebene ermöglicht eine umfassende Abstimmung von Steuerrechtsordnungen verschiedener Länder. 24 S. BMF v. 22.8.2013 – IV B 2 - S 1301/13/10009 abrufbar im Internet unter: https://www. bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Steuern/Internationa​ les_Steuerrecht/Allgemeine_Informationen/2013-08-22-Verhandlungsgrundlage-DBA-­ deutsch.pdf?__blob=publicationFile&v=3, zuletzt abgerufen am 23.8.2017); mit dem Zusatz zum Zweck der Vermeidung des Abkommensmissbrauchs auch aufgenommen in das OECD-Musterabkommen 2017. 25 Vgl. nur den Titel der dVG „(…) und zur Verhinderung der Steuerverkürzung (…)“ (Fn. 23). 26 Zu einer allgemeinen Übersicht über derartige Regelungen siehe BMF v. 20.6.2013 – IV B 2 - S 1300/09/10006. 27 Bspw.: Artikel 22 Abs. 1 lit. a DBA Bulgarien; Artikel 23 Abs. 1 lit. a DBA Großbritannien 2010; Artikel 22 Abs. 2 lit. a DBA Spanien; Artikel 22 Abs. 1 lit. a DBA Ungarn; Artikel 23 Abs. 4 lit. b Alt. 2 DBA USA.

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V. Ansatz Europa Auch das europäische Recht adressiert die aus der Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen resultierenden Probleme an vielen Stellen. Neben Harmonisierungsansätzen im Bereich der direkten Besteuerung finden sich auch im steuerlichen Verfahrensrecht Angleichungen. Mit Blick auf die Wirkungen des europäischen Rechts ist jedoch zunächst festzustellen, dass kein Anspruch auf Vermeidung der Doppelbesteuerung aus den Grundfreiheiten folgt28; es folgt lediglich ein Anspruch auf Einhaltung der Grundfreiheiten selbst, was gleichwohl zu einer Angleichung nationalen Rechts, insbesondere im Bereich der Abwehrgesetzgebung geführt hat29. Zu denken ist hierbei insbesondere an den Einfluss der Rechtsprechung des EuGH auf die Regelungen zur Wegzugs-30 und Entstrickungsbesteuerung31. Gleichzeitig hat die EU zur Verwirklichung der Grundfreiheiten Richtlinien erlassen, die die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, im Bereich der Unternehmensbesteuerung den Abfluss bestimmter Zahlungen in andere Mitgliedstaaten zu besteuern, einschränken32. Die Grundfreiheiten und die zu ihrer Verwirklichung dienenden Richtlinien der EU wirken im Ergebnis beschränkend auf die Reaktionsmöglichkeiten von Staaten, sich dem Steuerwettbewerb durch Abwehr­ gesetzgebung zu stellen. Neben dieser im Wesentlichen aus dem europäischen Primärrecht folgenden Wirkung des europäischen Rechtsrahmens auf die (Un-)Abgestimmtheit der nationalstaatlichen Steuer­rechtsordnungen hat die EU gerade in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Aktivität im Bereich der Rechtssetzung des materiellen und formellen Steuerrechts gezeigt. 1. Direkte Harmonisierung durch Richtlinien Den ersten und den am stärksten in die Steuerhoheit der Mitgliedsstaaten eingreifenden Ansatzpunkt bildet dabei die Harmonisierung des nationalen materiellen Steuerrechts, um der Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnung schon im Ansatz zu begegnen. Ein Teil der Steuerrechtsordnung stellt sich schon heute als im Wesentlichen 28 EuGH v. 12.2.2009 – C-67/08 – Margarete Block, ECLI:EU:C:2009:92 m.w.N. 29 Der EuGH wirkt im Bereich der direkten Steuern damit als „Motor für die Konvergenz der Steuersysteme“; allgemein zur Frage der Bedeutung des EuGH für die Integration: Martin Höpner, Berliner Journal für Soziologie, 2011, 203 ff.; für den Bereich des Steuerrechts: Juliane Kokott/Thomas Henze, BB 2017, 913 m.w.N. 30 Der EuGH hat durch eine Serie von Entscheidungen den Möglichkeiten der Mitgliedstaaten in der Wegzugsbesteuerung Grenzen gezogen, statt aller: EuGH v. 11.3.2004 – C-9/02 – Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138. 31 Der EuGH hat durch eine Serie von Entscheidungen den Möglichkeiten der Mitgliedstaaten in der Entstrickungsbesteuerung Grenzen gezogen, statt vieler: EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10 – National Grid Indus, ECLI:EU:C:2011:785; v. 21.5.2015 – C-657/13 – Verder LabTec GmbH & Co. KG, ECLI:EU:C:2015:331, jeweils m.w.N. 32 Dies sind in erster Linie die Mutter-Tochter-Richtlinie, die Zins- und Lizenzrichtlinie, aber auch die Fusionsrichtlinie.

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harmonisiertes Recht dar. Durch Art.  113 AEUV hat die europäische Union die Kompetenz zur direkten Harmonisierung des Rechts der indirekten Steuern, die sie durch den Erlass der Mehrwertsteuer-System-Richtlinie33 umfassend ausgenutzt hat. Damit ist ein maßgeblicher Teil der Steuerrechts­ordnungen der Mitgliedsstaaten abgestimmt worden. Im Unterschied zu den indirekten Steuern besitzt die Europäische Union im Bereich der direkten Steuern und im Bereich des Verfahrensrechts keine explizite Kompetenz zum Erlass von Rechtsakten. Ansatzpunkt für Regelungen bildet lediglich die allgemeine Kompetenz­vorschrift des Art.  115 AEUV, der eine Regelung dann zulässt, wenn sie sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes auswirkt. Es mag daher kaum verwundern, dass europäische Rechtssetzungsinitiativen mit dem Zweck der Harmonisierung der direkten Steuern mit der Mutter-Tochter-Richtlinie, der Zins- und Lizenzrichtlinie ,der Fusionsrichtlinie sowie der jüngst verabschiedeten Steuervermeidungsrichtlinie (Anti-Tax-Avoidance Directive, ATAD34) bis heute eher die Ausnahme geblieben sind, auch wenn schon in den 1960ern einen umfassende Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung politisch ange­strebt worden ist35. Die (vorhandene) Teilharmonisierung im Bereich der direkten Steuern birgt ihrerseits die Gefahr, Friktionen hervorzurufen und eine grenzüberschreitende Abstimmung der Steuerrechtsordnungen in Europa zu erschweren oder zu verhindern. So hindert beispielsweise die Zins- und Lizenzrichtlinie europäische Quellenstaaten daran, Zahlungen an der Quelle zu besteuern, selbst wenn im Ansässigkeitsstaat des die Zahlung empfangenden Unternehmens keine Besteuerung stattfindet. Eine übergeordnete steuerpolitische Zielsetzung wie die Vermeidung der doppelten Nichtbesteuerung kann dann nicht mehr erreicht werden. Wirkten die Rechtsprechung des EuGH und die zur Verwirklichung der Grundfreiheiten erlassenen Richtlinien in erster Linie beschränkend auf den Gesetzgeber, um einen möglichst freien Binnenmarkt herzustellen, hat die EU durch den Beschluss der ATAD einen diametral anderen Weg eingeschlagen. Die auch vor dem Hintergrund der OECD-BEPS-Initiative geführte Diskussion zu Gewinnverlagerungen und Erosion von Bemessungsgrundlagen führte auf europäischer Ebene zu dem Schluss, dass zur Herstellung eines fairen Steuerwettbewerbs zwischen den Staaten (neben den Marktfreiheiten) Regelungen not­ wendig sind, die einen gewissen Mindest­ standard im Bereich der Besteuerung festsetzen36. Aus Sicht des Richtliniengebers sind dabei von allen Mitgliedstaaten Regelungen zur „Beschränkung der Abzugsfähig33 Richtlinie 2006/112/EG des Rates v. 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. EG L 347/1. 34 Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates v. 12.7.2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, ABl. EU L 193/1. 35 Siehe hierzu nur den sog. Neumark-Bericht aus dem Jahr 1962, den Van-den-Tempel – Bericht aus dem Jahr 1970 und den Vorschlag für eine Richtlinie zur Angleichung der Steuersätze zwischen 45 % und 55 % aus dem Jahr 1975, die aber alle keine Umsetzung erfahren haben. 36 Vgl. Erwägungsgründe 3–5 der Richtlinie (EU) 2016/1164 (Fn. 37).

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keit von Zinsen (Zinsschranke), Wegzugsbesteuerung, all­gemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch, Vorschriften für beherrschte aus­ländische Unternehmen und Vorschriften für das Vorgehen gegen hybride Gestaltungen“37 zu erlassen. Es wird durch Harmonisierung ein Mindeststandard geschaffen, der zur Herstellung eines einheitlichen Level Playing Fields dient. Gleichzeitig sieht der Richtliniengeber auch das aus den Regelungen zur Herstellung eines fairen Steuerwettbewerbs erwachsende Risiko einer verstärkten Doppelbesteuerung. So sieht die ATAD in Erwägungsgrund 5 vor, dass sofern „diese Vorschriften (der ATAD38) zu Doppelbesteuerung führen, sollten Steuer­pflichtige durch Abzug der in einem anderen Mitgliedstaat oder einem Drittland entrichteten Steuer entlastet werden. Die Vorschriften sollen somit nicht nur Steuerver­ meidungspraktiken unterbinden, sondern auch verhindern, dass Markthemmnisse wie Doppelbesteuerung ent­stehen“. Seit einigen Jahren bemüht sich die EU-Kommission, eine gemeinsame Körperschaft­ steuerbemessungsgrundlage (GKB) in Form einer Richtlinie in der EU einzuführen39. Sah die ursprüngliche Initiative noch eine Konsolidierung anhand bestimmter Kenngrößen vor, beschränkt sich der neue Vorschlag der Kommission nun zunächst und in einem ersten Schritt auf eine einheitliche Bemessungsgrundlage für Zwecke der Körperschaftsteuer. Die Konsolidierung soll erst in einem zweiten Schritt folgen, um die Durchsetzungswahr­scheinlichkeit des Richtlinienvorschlags zu erhöhen40. Die Erfolgschancen des Vorhabens der Kommission bleiben abzuwarten41. Für die Mitgliedsstaaten stellt die Aufgabe der Regelungskompetenz im Bereich der Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuern einen erheblichen Kompetenzverzicht dar, der insbesondere unilaterale konjunkturunterstützende Maßnahmen durch Änderung der steuerrechtlichen Regelungen weitgehend unmöglich macht. Gleichzeitig würde eine GK(K)B aber zu einem einheitlichen level playing field in der EU führen und die Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen zumindest im Bereich der Körperschaftsteuern innerhalb der EU beseitigen. 2. Richtlinien im Bereich des Verfahrensrechts Neben den Rechtssetzungsinitiativen zur Har­monisierung direkter Steuern hat die EU gerade in den letzten Jahren maßgebliche Schritte im Bereich der Abstimmung und Annäherung des Verfahrensrechts der Mitgliedsstaaten ergriffen. Kern des europäischen Regelungssystems bildet dabei der steuerliche Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten, der die steuerliche Transparenz sicherstellen soll und damit einen Beitrag zu einem fairen Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten

37 Erwägungsgrund 5 der Richtlinie (EU) 2016/1164 (Fn. 37). 38 Ergänzung des Autors. 39 Vgl. Vorschlag der Europäischen Kommission v. 25.10.2016 für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage, COM(2016) 685, final, zum Entwurf ausführlich: Andrea Jakob/Daniel Fehling, ISR 2017, 290 ff. 40 So auch Andrea Jakob/Daniel Fehling, ISR 2017, 290, 297. 41 Der erhebliche Widerstand zeigt sich schon an den Subsidiaritätsrügen von insgesamt 7 Mitgliedstaaten, die gem. Art. 7 des Protokolls Nr. 2 des AEUV abgegeben wurden.

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leistet42. Ausgangspunkt der Arbeiten der EU bildet dabei die Zinsrichtlinie43 aus dem Jahr 2003, die einen Austausch bestimmter Daten im Bereich der Zinserträge vorsah. Weitreichender und umfassender sind die Regelungen der Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung aus dem Jahr 2011, die als DAC44 oder Amtshilferichtlinie bezeichnet wird. Diese sieht nicht nur umfassende Regelungen im Bereich des Informations­austausches vor, sondern schafft in Art.  10 und 11 auch eine Rechtsgrundlage für die grenz­überschreitende direkte Zusammenarbeit der Finanzverwaltungen im Rahmen der sogenannten Joint Audits45. Gerade die in den letzten beiden Jahren beschlossenen und die durch die Kommission ange­stoßenen Rechtssetzungsverfahren DAC 1 – 646 haben über den Informationsaustausch hin­aus auch Einfluss auf das Verfahrensrecht der Mitgliedsstaaten. Unter dem Dach des Infor­mationsaustauschs schafft die EU ein Regelwerk, das nicht nur einen automatischen Infor­mationsaustausch vorsieht, sondern auch die Staaten dazu verpflichtet, Informationen zu erheben, die bis dahin regelmäßig nicht erhoben worden sind. Zu nennen sind hier nur das Country-by-Country-Reporting (CbCR) unter DAC 447 und die in der zu DAC 648 enthaltenen Anzeigepflichten für Steuergestaltungen. Auch soll durch den Austausch von Vorabbescheiden die Transparenz und damit der faire Wettbewerb gestärkt werden (DAC 5)49.

42 Siehe nur Erwägungsgrund 2 der Richtlinie (EU) 2016/881 des Rates v. 25.5.2016 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung und Erwägungsgrund 6 des Vorschlags der EU Kommission für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Modelle, COM(2017) 335 final, der auf die Bedeutung für die „gerechte[n] Besteuerung im Binnenmarkt“ hinweist. 43 Richtlinie 2003/48/EG des Rates v. 3.6.2003 im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen, ABl. EG L 157/38. 44 Abkürzung abgeleitet von Directive on Administrative Cooperation. 45 Dazu schon oben unter II. 2. 46 Unter diesem Begriff sind die in der Folge des BEPS-Prozesses durchgeführten Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie bekannt geworden. 47 Richtlinie (EU) 2016/881 des Rates v. 25.5.2016 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, ABl. EU L 146/8. 48 EU-Kommission: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Modelle v. 21.6.2017, COM(2017) 335 final, abrufbar im Internet unter: http://eur-lex.europa.eu/resource. html?uri=cellar:638f0a5d-568f-11e7-a5ca-01aa75ed71a1.0001.02/DOC_1&format=PDF, zuletzt abgerufen am 1.10.2017. 49 Richtlinie (EU) 2015/2376 des Rates v. 8.12.2015 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, ABl. EU L 332/1.

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Auch auf Ebene des Verfahrensrechts  – aber mit gänzlich anderer Zielrichtung  – ­haben sich die EU-Mitgliedstaaten auf die Verabschiedung einer Streitbeilegungsrichtlinie50 geeinigt. Diese zielt auf eine möglichst effiziente Streitbeilegung bei Streitigkeiten, die durch die Auslegung und Anwendung von DBA zwischen den Mitgliedstaaten entstehen, und soll damit dazu beitragen, Doppelbesteuerung in einem effizienten und zügigen Verfahren zu beseitigen51. All diese Maßnahmen der EU dienen in erster Linie dazu, Transparenz über die Besteuerungsgrundlagen herzustellen und damit einen fairen Staatenwettbewerb zu ermöglichen. Gleichzeitig greift die EU dabei aber auch in die Verfahrenshoheit der Länder dadurch ein, dass sie bspw. durch das CbCR oder die Anzeigepflicht für Steuergestaltungen Regelungen schafft, die neue verfahrensrechtliche Vorgaben und Instrumente in den Mitgliedstaaten erfordern. Damit wird eine partielle Abstimmung des Verfahrensrechts der Mitgliedstaaten erreicht. 3. Exekutive Maßnahmen Neben den dargestellten Regelungen versucht die EU auch, auf Ebene der Exekutive gegen schädlichen Steuerwettbewerb der Mitgliedstaaten untereinander, aber auch gegen den von Drittstaaten vorzugehen und damit den dritten Problemkreis unabgestimmter Steuerrechts­ordnungen zu adressieren. Dabei zeigen sich in erster Linie zwei von der Kommission und den Mitgliedstaaten ergriffene Instrumente: das Beihilfenrecht und die Einflussnahme durch die „Gruppe Verhaltenscodex“ (auch „Code of Conduct Group“ genannt). Die in der Literatur schon länger geführte Diskussion52 über die Anwendung des Bei­ hilferechts gegen schädliche Steuerpraktiken einzelner Staaten hat zu ersten Maßnahmen der Kommission in diesem Bereich geführt. Im Zuge einer im Juni 2014 gehenden beihilferechtlichen Prüfung gelangte die Europäische eingeleiteten ein­ Kommission zu dem Ergebnis, dass zwei von Irland an Apple gerichtete Steuervorbescheide in künstlicher Weise eine erhebliche Verringerung der von Apple ab dem Jahr 1991 in Irland gezahlten Steuern bewirkt haben53. Hierin sieht die Kommission einen selektiven Vorteil für Apple, der anderen Unternehmen unter dem geltenden Recht Irlands nicht gewährt worden ist54 und nimmt konsequent einen Verstoß gegen das Beihilfeverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV an. Irland hat gegen die Entschei-

50 EU Kommission: Richtlinie des Rates über Verfahren zur Beilegung von Doppelbesteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union v. 25.10.2016, COM(2016) 686 final (StreitbeilegungsRL-E), abrufbar im Internet: https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/​ 2016/DE/COM-2016-686-F1-DE-MAIN.PDF, zuletzt abgerufen am 1.10.2017. 51 Erwägungsgrund 3–5 des StreitbeilegungsRL-E (Fn. 53). 52 Claus Jochimsen/Guido Kleve, IStR 2017, 265 ff.; Arne Schnittger, IStR 2017, 421 ff.; Alexander Linn, IStR 2015, 114 ff.; jeweils m.w.N. 53 Kommissionsentscheidung v. 30.8.2016 im Beihilfeverfahren SA.38373 (2014/C) (ex 2014/ NN) (ex 2014/CP) gewährt von Irland an Apple; JOCE L/187/2017. 54 Kommissionsentscheidung v. 30.8.2016 im Beihilfeverfahren SA.38373 (2014/C) (ex 2014/ NN) (ex 2014/CP) gewährt von Irland an Apple; JOCE L/187/2017, Rz. 225 ff.

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dung der Kommission Klage vor dem EuGH erhoben55. Es bleibt letztlich die Entscheidung des EuGH, die in der Literatur56 umstrittenen Folgen des Beihilferechts für diverse steuerrechtliche Strukturen einzelner Mitgliedsstaaten zu bewerten. Ob und in welchem Umfang das Beihilferecht einen signifikanten Beitrag zur Schaffung eines fairen Staatenwettbewerbs und zur Verhinderung bestimmter steuerrechtlicher Strukturen und damit zu einer stärkeren Abstimmung der Steuerrechtsordnungen untereinander leisten kann, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch völlig offen. Schon jetzt kann aber festgestellt werden, dass das Beihilferecht allenfalls in Ausnahmefällen einen Beitrag zur Bekämpfung der Probleme aus der Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen leisten können wird57 und die Lösung vorrangig in neu zu schaffenden Sekundärrecht und in einer internationalen Einigung auf Mindeststandards im Bereich des Steuerwettbewerbs zu suchen ist. Mit dem Ziel der Förderung eines fairen Steuer­wettbewerbs und damit auch der Bekämpfung gewisser Folgen aus der Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen der Mitgliedsstaaten hat der ECOFIN die Gruppe „Verhaltenskodex“ (Unternehmensbesteuerung) schon im Jahr 1998 eingerichtet. Sie ist in den letzten Jahren inhaltlich gestärkt und politisch aufgewertet worden58. Kernaufgabe dieser Gruppe ist die Beurteilung steuerrechtlicher Maßnahmen, die in den Geltungsbereich des Verhaltenskodex für Unternehmensbesteuerung (VKU) fallen, und die Bereitstellung von Informationen über diese Maßnahmen zu überwachen59. Der Verhaltenskodex ist kein rechtsverbindliches Instrument, aber mit seiner Annahme haben die Mitgliedstaaten sich verpflichtet, bestehende steuerliche Maßnahmen, die in den Augen der Mitgliedstaaten einen schädlichen Steuerwettbewerb darstellen, abzuschaffen und davon abzusehen, Maßnahmen dieser Art künftig einzuführen. Die Arbeiten wurden vor allem in den letzten Jahren intensiviert und ein Vorgehen gegen Präferenzregime in einigem Mitgliedstaaten, hierunter auch Patentboxen, verabredet60. 55 Vgl. https://www.tpa-global.com/nieuws/2017-07-25/ireland-launches-apple-state-aid-reco​ very-procurement-process, zuletzt abgerufen am 2.10.2017, die Klage ist zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Manuskripts noch nicht im ABl. der EU veröffentlicht worden. 56 Grundsätzlich zur Problematik des Beihilfenrechts: Englisch in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, Rz.  9.51  ff.; und Sutter, Steuerrecht und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten im Lichte des Europäischen Beihilfenrechts, DStJG Bd. 39 (2016), 169 (188 ff.), Janina Brandau/Lennart Neckenich/Daniel Reich/Ekkehart Reimer, BB 2017, 1175 ff. 57 Weitergehend: Janina Brandau/Lennart Neckenich/Daniel Reich/Ekkehart Reimer, BB 2017, 1175 ff., die von einem zentralen Baustein, der schädlichem Steuerwettbewerb innerhalb der Union vorbeuge sprechen. 58 Vgl. Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament und den Rat über eine ­externe Strategie für effektive Besteuerung v. 28.1.2016, EU COM(2016) 24 final, http:// eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=COM%3A2016%3A24%3AFIN. 59 Vgl. Ratsschlussfolgerungen v. 9.3.1988 zur Errichtung der Gruppe „Verhaltenskodex“ (Unternehmensbesteuerung); ABl. EG C 99/1. 60 Vgl. Report of the Code of Conduct Group on patent boxes: state of play and the way forward an den ECOFIN v. 3.11.2016; http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST13924-2016-INIT/en/pdf; zur politischen Zielsetzung in diesem Bereich siehe: Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament und den Rat über eine externe Strategie für

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Weiterhin arbeitet die Gruppe an der Aufstellung einer sog. schwarzen Liste von Staaten, die sich nicht an internationale Vereinbarungen im Bereich des Informationsaustauschs halten oder die schädliche Präferenzregime aufweisen. Damit leistet auch die Gruppe „Verhaltenskodex“ einen immer stärkeren Beitrag zur Bekämpfung des schädlichen Steuerwettbewerbs und damit zu einer Abmilderung der Folgen unab­gestimmter Steuerrechtsordnungen. 4. Zwischenfazit Die europäische Union trägt durch Rechtssetzungsakte maßgeblich dazu bei, den Folgen der Unabgestimmtheit der Steuerrechtsordnungen zu begegnen. Insbesondere die Rechts­setzungsakte der letzten Jahre zielen dabei auf die Stärkung der Transparenz und auf die Schaffung von Mindeststandards ab und sind damit vor allem im Kontext der Schaffung eines fairen Steuerwettbewerbs zu sehen. Hinter diesem Ziel zurück bleiben jedoch die Wirkungen einiger Regelungen des europäischen Sekundärrechts – insbesondere die Zins- und Lizenz­richtlinie – die die Abstimmung der Steuerrechtsordnungen in Form einer Abwehrgesetz­gebung der Staaten erschweren. In diesem Bereich besteht weiterhin Reformbedarf.

VI. Ansatz International, insbesondere BEPS Die OECD widmet sich seit einigen Jahren erfolgreich und im Auftrag der OECD/ G20-Staaten unter Beteiligung maßgeblicher Entwicklungsländer im Rahmen des BEPS-Projekts der Entwicklung eines internationalen Standards zur Bekämpfung von schäd­lichem Steuerwettbewerb und aggressiven Steuergestaltungen durch multinationale Unter­nehmen61. Entgegen anderslautender Hoffnungen oder Befürchtung – je nach Blickwinkel auf das Projekt – ist es den beteiligten Staaten gelungen, umfassende Einigkeit zur Neu­strukturierung des internationalen Steuerrechts in wichtigen Bereichen zu erzielen. Am 5. Oktober 2015 hat die OECD die Ergebnisse des BEPS-Projekts in Form von konkreten und umsetzbaren Empfehlungen erarbeitet. Im Fokus der 15 Maßnahmen standen dabei vor allem folgende vier Ziele: –– doppelte Nichtbesteuerung zu verhindern; –– eine Zuordnung von Besteuerungsrechten an Erträgen dem Ort der unternehmerischen Wertschöpfung sicherzustellen; –– schädliche Steuerpraktiken zu bekämpfen; –– und durch Änderungen im Verfahrensrecht, insbesondere durch eine Intensivierung des Informationsaustauschs, steuerliche Transparenz herzustellen. effektive Besteuerung v. 28.1.2016, EU COM(2016) 24 final, http://eur-lex.europa.eu/­legalcontent/DE/TXT/?uri=COM%3A2016%3A24%3AFIN. 61 Vgl. Erklärung der Staats- und Regierungschefs der G20 v. 5.9.2016, S. 12 ff. Abrufbar im Internet: http://www.mofa.go.jp/files/000013493.pdf, zuletzt abgerufen am 1.10.2017.

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Damit adressiert das BEPS-Projekt drei Bereiche der unter II. beschriebenen Probleme der Unabgestimmtheit der nationalen Steuerrechtsordnungen. Die ausgewogene internationale Zuordnung von Besteuerungsrechten im Einklang mit Wertschöpfung, die Vermeidung der doppelten Nichtbesteuerung und die Schaffung eines fairen Steuerwett­bewerbs zwischen den Staaten. Eine Umsetzung der BEPS Empfehlungen, vor allem die Schaffung eines „Level-Playing-Field“, kann der Natur der Sache nach nur global abgestimmt erfolgen. Zur Erreichung dieses Ziels versuchen die OECD – und G20-Staaten (die den politischen Anstoß zum OECD-BEPS-Projekt gegeben haben), einen international möglichst weitreichenden politischen Geltungsanspruch der im Rahmen des BEPS-Projektes erarbeiteten Standards zu erreichen. Dies ist mit Blick auf die Inhalte des BEPS-Projektes durch die Qualifikation einiger Ergebnisse als „Mindeststandards“ gelungen. Zu diesen als Mindeststandards akzeptierten Ergebnissen haben sich die teilnehmenden Staaten politisch zur innerstaatlichen Bearbeitung und Umsetzung verpflichtet. Mit Blick auf den räumlichen Geltungsanspruch wurde im Jahre 2016 das so genannte „Inclusive Framework on BEPS“ gegründet, ein Zusammenschluss von mittlerweile mehr als 110 Staaten, die die BEPS-Ergebnisse – Mindeststandards wie Empfehlungen – akzeptiert haben. Darüber hinaus setzt das im Rahmen der Maßnahme 15 des BEPS-Aktionsplanes diskutierte Mulitlaterale Instrument (MLI), ein mehr­seitiger völkerrechtlichen Vertrag, die abkommensbezogenen Mindeststandards um, zu deren Implementierung sich alle teilnehmenden Staaten völkerrechtlich verpflichtet haben62. Das MLI steht über den Kreis der G20-Staaten und der OECD-Mitgliedstaaten allen interessierten Ländern offen. Es zielt darauf, verschiedene abkommensbezogene Mindeststandards, die im Rahmen des BEPS-Projekts vereinbart wurden, durch eine Änderung der bilateral zwischen den teilnehmenden Staaten geschlossenen DBA umzusetzen. Über die Mindeststandards hinaus enthält das MLI weitere im Zuge von BEPS erarbeitete Regelungen zur Anpassung von DBA, die die an dem MLI teilnehmenden Staaten wählen können. Der wesentliche Vorteil des MLI besteht in seiner Breitenwirkung und der Schnelligkeit, mit der das mehr als 3000 DBA umfassende weltweite Abkommensnetz an die BEPS-Standards angepasst werden kann. Es trägt damit erheblich zur internationalen Harmonisierung bestimmter abkommensbezogener Steuerfragen bei.

62 Unterzeichnung des MLI am 7.6.2017 in Paris durch mehr als 60 Staaten, vgl. Pressemitteilung des BMF v. 7.6.2017, abrufbar im Internet unter: http://www.bundesfinanzministe​ rium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2017/06/2017-06-06-PM17-beps. html (zuletzt abgerufen am 1.10.2017). Liste der Signatarstaaten abrufbar im Internet unter: http://www.oecd.org/tax/treaties/beps-mli-signatories-and-parties.pdf, zuletzt abgerufen am 1.10.2017.

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Unabgestimmtheit der nationalen Steuerrechtsordnungen

VII. Fazit Der zwischenstaatliche Abstimmungs- und Harmonisierungsbedarf mit Blick auf die ihrer Natur nach national geprägten Steuerrechtsordnungen hat in den vergangenen Jahren enorm zugenommen. Dies ist sowohl eine Folge zunehmenden internationalen Steuerwettbewerb als auch logische Konsequenz aus der voranschreitenden Internationalisierung von Wirtschaftsaktivitäten und Unternehmensstrukturen, der Globalisierung. Die Abstimmung der Steuerrechtsordnungen findet dabei sowohl in unterschiedlichen Regelungsbereichen als auch auf verschiedenen Abstimmungsebenen statt. Abstimmungsbedürftig sind und aufeinander abgestimmt werden Regelungen des materiellen Rechts, Regelungen des Verfahrensrecht, technische Standards und auch exekutive Maßnahmen. Mit Blick auf die Abstimmungsebenen reicht das Spektrum von rein nationalen unilateralen Maßnahmen über zwischen­staatliche Regelungen auf völkervertragsrechtlicher Grundlage bis hin zur Koordination auf supranationaler Ebene in inter­nationalen Foren und Organisationen. Mit dem wachsenden Abstimmungsbedarf hat auch die Bedeutung der internationalen Diskussion um Harmonisierung im Steuerbereich zuge­nommen. Sichtbarer Ausdruck dafür ist das erhebliche Engagement der Regierung im Kreis der G20-Staaten bis hinauf zur Ebene der Staats- und Regierungschefs, das im Jahre 2016 zur Gründung des Inclusive Framework on BEPS mit mittlerweile mehr als 110 Staaten geführt hat. Der Trend der letzten Jahre wird sich weiter fortsetzen: Die Zukunft gehört der internationalen Abstimmung und Koordination weiterhin national geprägten Steuerrechtsordnungen, die sich dadurch mehr und mehr zu einem aufeinander abgestimmten Gesamtgebilde einer internationalen Steuerrechtsordnung entwickeln werden.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … D. II. 2.

Unabgestimmtheit der nationalen Steuerrechtsordnungen – aus Sicht der Unternehmen Von Christian Kaeser

Inhaltsübersicht I. Unterschiede im materiellen Recht 1. Der Steuersatz 2. Die steuerliche Bemessungsgrundlage 3. Gleich, doch ungleich – unterschiedliche Interpretation übereinstimmender Regelungen II. Unterschiede im Verfahrensrecht

III. Unterschiede in „soften“ Faktoren bzw. in der „Steuerkultur“ IV. Bilaterale und multilaterale Maßnahmen zur internationalen Abstimmung V. Versuche unilateraler Verknüpfung VI. Resümee

Nicht nur große Konzerne, sondern fast jedes mittelgroße und viele kleine Unternehmen werden heutzutage international, d.h. auf mehr als einem lokalen Markt tätig. Das hat mannigfaltige Gründe, allen voran schafft aber die Digitalisierung neue Absatzmöglichkeiten und erschließt so neue Märkte. Die Unternehmensbesteuerung muss damit in stetig wachsendem Maße als international relevanter Wirtschaftsparameter betrachtet werden. Dabei existiert für ein Unternehmen jedoch keine „eine“ Unternehmensbesteuerung, sondern es wird in jeder Jurisdiktion, die es mit seiner Wirtschaftstätigkeit berührt, mit einer lokalen Steuerrechtsordnung konfrontiert. Diese lokalen Steuersysteme weichen nicht nur sprachlich voneinander ab, sondern entsprechen sich auch inhaltlich nicht; sie haben sich unterschiedlich entwickelt, spiegeln unterschiedliche Schwerpunkte der lokalen Politik wieder, basieren auf unterschiedlichen Rechtsverständnissen und Gesamtrechtssystemen, wollen unterschiedliche Anreize setzen – die Liste der Einflussfaktoren lässt sich so gut wie beliebig fortführen. Und auch ein einheitliches internationales Regelwerk, das alle Fäden zusammenführen würde, existiert nur in unvollkommener Form. So verstehen sich sowohl die OECD als auch die UN als „Standardsetter“; allerdings weichen bereits das OECD- und das UN-Musterabkommen in mehreren Punkten voneinander ab, was etwa an der Besteuerung von technischen Dienstleistungen überdeutlich wird1.

1 Vgl. Kaeser, IStR 2014, 708.

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Christian Kaeser

Diese Unabgestimmtheit hat Vor- und Nachteile. Und man sollte klar zwischen verschiedenen Bereichen der Unabgestimmtheit unterscheiden.

I. Unterschiede im materiellen Recht Bei der Diskussion zur Angleichung verschiedener lokaler Steuerrechtsordnungen geht es meist um Fragen des materiellen Rechts. Dabei kann man grob zwischen Unterschieden im Steuersatz und solchen unterscheiden, die die Bemessungsgrundlage betreffen. 1. Der Steuersatz Ein Bereich, in dem sich Steuerrechtsordnungen hinsichtlich der Unternehmensbesteuerung regelmäßig unterscheiden werden, ist der Steuersatz. In der öffentlichen Wahrnehmung wird die Steuerdiskussion oft auf diesen einfach verständlichen Aspekt reduziert. Dabei sagt der Steuersatz alleine noch nichts über die Steuerbelastung, ergibt sich diese doch erst aus dem Konzert des Steuersatzes mit den verschiedenen „Instrumenten“ der steuerlichen Bemessungsgrundlage. Gleichwohl hat der Steuersatz auch isoliert eine wichtige Signalwirkung für Investitionsentscheidungen. Es ist daher bislang kein Zufall gewesen, dass Jurisdiktionen, die internationale Investitionen und Kapital anziehen wollten, die Unternehmenssteuersätze weit ab­ senkten2. Auch die U.S.-Steuerreform Präsident Trumps bezweckt, die Auslandsinvestitionen und das Inlandswachstum durch Absenkung des Steuersatzes von 35 % auf 21 % zu befeuern. Andere Staaten, zumeist entwickelte Industriestaaten mit einer hohen lokalen Wertschöpfungs- und Infrastrukturkostenbasis, halten an hohen Unternehmenssteuersätzen fest. Es ist offensichtlich, dass die Bandbreite der Unter­ nehmenssteuersätze wirtschaftliche Folgen haben muss, einige Standorte von neuen Investitionen profitieren werden, andere auf der Stelle treten und bei Investitionsentscheidungen das Nachsehen haben können. Zunächst stellt sich jedoch die Frage, ob unterschiedliche Unternehmenssteuersätze überhaupt als „unabgestimmt“ bezeichnet werden können. Anders als bei Regelungen zur Bestimmung der steuerlichen Bemessungsgrundlage bewirken unterschiedliche Steuersätze für sich nie Doppelbesteuerung oder doppelte Nichtbesteuerung, eröffnen keine Auslegungsspielräume oder sind in irgendeiner Art und Weise unklar. Einen einheitlichen, „abgestimmten“ Steuersatz zu fordern, hieße, die Unterschiede der Staaten zu ignorieren. Ein an natürlichen Ressourcen reiches Land mag auf Ertragsteuern ganz verzichten, ein anderes Land den Schwerpunkt eher auf Verbrauchsoder Verkehrssteuern legen, währenddessen ein Drittes seinen Haushalt aus Unternehmenssteuern bestreitet. Die Frage des Steuersatzes kann niemals losgelöst von der konkreten Situation und sonstigen relevanten Faktoren betrachtet werden. Einen

2 Prominentestes Beispiel dafür dürfte Irland sein, dessen Unternehmenssteuersatz 12,5 % beträgt.

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einheitlichen Steuersatz zu fordern, wäre daher vergleichbar der Forderung nach einer einheitlichen Weltsprache. Für Unternehmen werden daher auch weiterhin die Steuersatzunterschiede eine bedeutende Entscheidungsgrundlage für Strukturierungen und Investitionen bleiben. Sie wirken sich in verschiedener Form aus. Entweder bei der Entscheidung über eine neue Investition sowie über Wertschöpfungsketten als einer der verschiedenen relevanten Standortfaktoren. Oder im Rahmen der Ermittlung der Verrechnungspreise: Solange die Steuersätze der Staaten voneinander abweichen, werden Unternehmen immer versucht sein, die Verrechnungspreisfindung steueroptimal zu gestalten, d.h. mehr Gewinn im Niedrigsteuer- und weniger im Hochsteuerland anfallen zu lassen. Aber selbst bei gleichen Steuersätzen würden nicht alle Verrechnungspreisstreitigkeiten verschwinden. Denn die Frage, welcher Staat wie viel von einem unternehmerischen Gesamtgewinn besteuern darf, hinge nach wie vor zu einem großen Teil an der konzerninternen Verrechnungspreisgestaltung. Ein einheitlicher Steuersatz würde nur offenbaren, inwiefern reine Fiskalinteressen die Streitursache stellen, es um den Verteilungskampf ums Steuersubstrat geht. Gleichwohl hat sich über die letzten gut 20  Jahre ein Trend sinkender Unternehmenssteuersätze entwickelt, der zwar nicht zu einer vollständigen Angleichung der Steuersätze geführt hat, den Korridor derselben aber deutlich verengt hat. Diese ­Entwicklung ist auch sicher nicht abgeschlossen und wird durch die bereits erwähnte Senkung des Unternehmenssteuersatzes in den USA erneut befeuert werden. Eine indirekte Auswirkung dieser Entwicklung auf die Steuerpflichtigen ergibt sich aus nationalen Regelungen, die an ein ausländisches Besteuerungsniveau anknüpfen. Als  Beispiel dafür mag das deutsche Außensteuergesetz (AStG) dienen. Das AStG führt zu einer sog. Hinzurechnungsbesteuerung bestimmter (passiver) Einkünfte, die von einer deutschbeherrschten ausländischen Zwischengesellschaft erzielt werden, sofern diese Einkünfte niedrig besteuert werden. Die Schwelle für die Niedrigbesteuerung setzt § 8 Abs. 3 Satz 1 AStG bei 25 % an. Dabei liegt der deutsche Körperschaftsteuersatz selbst bei lediglich 15 % und auch unter Berücksichtigung des Solidaritätszuschlags und der Gewerbesteuer kommt man, je nach Gemeinde auf eine Gesamtbelastung unter 25 % – so etwa auf gut 24,2 % bei in Grünwald ansässigen Kapitalgesellschaften. Es handelt sich hier eigentlich nicht um eine Unabgestimmtheit zwischen verschiedenen Steuerrechtsordnungen, denn das AStG selbst soll bereits eine Abwehrmaßnahme gegen die Verlagerung von deutschen Einkunftsquellen ins niedrig besteuernde Ausland darstellen und ist damit als Reaktion auf die Unabgestimmtheit der Steuersätze gedacht. Der deutsche Gesetzgeber hat lediglich seit Senkung des Körperschaftsteuersatzes im Jahr 2008 versäumt, im deutschen Steuerrecht selbst für die entsprechende Abstimmung zu sorgen. Auch hier wird aber die praktische Auswirkung der gesetzlich festgelegten Niedrigbesteuerung durch den globalen Trend zur Senkung der Steuersätze verschärft – auch die USA unterschreiten mit dem neuen Körperschaftsteuersatz von 21 % nunmehr die Schwelle zur Niedrigbesteuerung (je nach der Höhe der State Taxes kann die Steuerbelastung auch knapp über 25 % liegen). Aus Sicht der Wirtschaft wäre etwas mehr Agilität des Gesetzgebers auch in den Bereichen wünschenswert, in denen es nicht darum geht, vermeintliche Missbräuche abzuwehren, sondern deutliche Missstände und Unabge971

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stimmtheiten zu beseitigen. Der BFH hat im Bereich des AStG selbst eine solche Unabgestimmtheit erkannt, insofern als der Hinzurechnungsbetrag auch der Gewerbesteuer unterliegen sollte; da die Gewerbesteuer eine inländische Betriebsstätte voraussetzt, diese aber in Hinzurechnungsfällen fehlt, müsse der Hinzurechnungsbetrag gem. § 9 Nr. 3 GewStG wieder gekürzt werden3. Da nach § 12 Abs. 1 Satz 1 AStG die Anrechnung der ausländischen Vorbelastung im Rahmen der Hinzurechnungsbesteuerung nur auf die Körperschaftsteuer und nicht auf die Gewerbesteuer zulässig ist, konnte die Einbeziehung des Hinzurechnungsbetrags in den Gewerbeertrag auch zu einer über dem deutschen Steuerniveau liegenden „Strafbesteuerung“ führen, und zwar immer dann, wenn die ausländische Vorbelastung zwar unter 25 %, wohl aber über 15 % liegt. Selbstredend hat der Gesetzgeber auf dieses Urteil unverzüglich reagiert und in § 7 Satz 8 GewStG fingiert, dass die der Hinzurechnung unterliegenden Einkünfte als in einer deutschen Betriebsstätte erzielt gelten. Es zeigt sich einmal mehr, dass die Menge der gesetzlichen Fiktionen ein passabler Indikator für die Unabgestimmtheit der Gesamtrechtsordnung ist. 2. Die steuerliche Bemessungsgrundlage Weniger offensichtlich sind Unterschiede in den steuerlichen Bemessungsgrundlagen. Dabei ist die Liste der denkbaren Abweichungen so lang und vielfältig wie auch sonst die Nationen sich weltweit rechtlich und kulturell unterscheiden. Sie reichen von unterschiedlichen Abschreibungszeiträumen für Anlagevermögen bis zur steuerlichen Behandlung negativer Zinsen. Aus Sicht der Unternehmen haben diese Unterschiede nicht nur nachteilige Folgen. Zunächst ist das Auseinanderlaufen der steuerlichen Regelungen in administrativer Hinsicht für jede Steuerabteilung ein Ärgernis, muss doch in den verschiedenen Märkten lokale Expertise vorgehalten werden, um die jeweilig geltenden Regelungen korrekt beraten und anwenden zu können. Bei Budgetdiskussionen und Fragen zur richtigen Organisation der Zentralfunktionen erntet man als Steuerabteilungsleiter oft Unverständnis, wenn man die Bündelung der steuerlichen Beratung verschiedener Ländern in „Hubs“ strikt ablehnt bzw. auf bestimmte Themen oder regionale Bereiche beschränken will. Anders als bei den Kollegen von der Buchhaltung, die für den Konzernabschluss stets IFRS anwenden müssen, und zwar egal, in welchem Land der Erde sie tätig sind, ist das Steuerrecht überwiegend eben eine rein lokale Angelegenheit. Im Rahmen von supranationalen Harmonisierungsbemühungen wird insofern auch oft auf die zu erwartende administrative Erleichterung für Unternehmen verwiesen – so etwa im Rahmen des europäischen Evergreens der „GKKB“ (Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage). Und natürlich wäre es für den Unternehmer, der eine Tätigkeit im Ausland plant, einfacher, die steuerlichen Folgen dieser Tätigkeit einzuschätzen, wenn dort dasselbe Steuerrecht gälte wie im Ansässigkeitsstaat. Allerdings werden auch bei einer voll angeglichenen Bemessungsgrundlage noch ausreichend lokale Bezugspunkte verbleiben. So wird die Kommunikation mit der Finanzverwaltung stets in der Landessprache erfolgen 3 BFH v. 11.3.2015 – I R 10/14, BFHE 249, 241, BStBl. II 2015, 1049.

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müssen, die Auslegung der Steuergesetze selbst wird, auch wenn diese einheitlich sein sollten, uneinheitlich ausfallen; und zwar sowohl durch die Finanzverwaltung als auch die Gerichtsbarkeit. Denn bereits unterschiedliche Senate desselben nationalen Gerichts kommen mitunter zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Das Steuerrecht wird daher auch bei (nicht zu erwartender) weitgehender Angleichung im materiellen Recht stets ein Komplexitätstreiber für die Unternehmen bleiben. Das Auseinanderlaufen der steuerlichen Regelungen kann aber vor allem auch ein Investitionshemmnis darstellen. Das wird immer dann der Fall sein, wenn durch die unterschiedlichen Regelungen ein und derselbe Sachverhalt doppelt besteuert wird und zwischen den betroffenen Staaten kein Doppelbesteuerungsabkommen besteht, das für diese Fälle wiederum einen einheitlichen bilateral verbindlichen Rahmen vorgibt. Solche steuerliche Doppelerfassung kann viele Gründe haben, etwa bereits bei der Frage der persönlichen Steuerpflicht ansetzen. Insofern ist insbesondere in letzter Zeit ein Trend zu bemerken, dass die Staaten den Umfang ihres Steuerzugriffs immer weiter auszudehnen versuchen. Das ist teilweise durch die Sorge motiviert, anders nicht auf neue, insbesondere digitale Geschäftsmodelle steuerlich zugreifen zu können. Insofern sei auf die indische „Equalisation Levy“ verwiesen, eine Steuer sui generis auf grenzüberschreitend erbrachte digitale Dienstleistungen4. Besorgniserregend ist dabei, dass diese neuen Steuern bzw. neuen Besteuerungsansätze meist „DBA-fest“ ausgestaltet werden, d.h. dass die Staaten bewusst versuchen, sich mit diesen Steuern dem Anwendungsbereich bestehender DBA zu entziehen, entweder, indem eine Steuer so ausgestaltet wird, dass sie nicht als Ertragsteuer im Sinne des anwendbaren Abkommens zu qualifizieren ist, oder indem gleich ein schlichter Treaty Override formuliert wird. Um nichts anderes handelt es sich auch bei der ­britischen „Diverted Profit Tax“ (auch als „Google Tax“ bekannt)5. Diese erfasst Tatbestände, bei denen Großbritannien kein Besteuerungsrecht hat, weil die entsprechenden Aktivitäten keiner britischen Betriebsstätte zugeordnet werden können – es wird dann eine Betriebsstätte fingiert. Dass damit ein OECD-Mitgliedstaat bewusst und offen aus dem internationalen Konsens zur Zuordnung von Besteuerungsrechten ausschert, lässt sich auch nur in der Boulevardpresse mit Missbrauchsvermeidung erklären. Eine weitere Unabgestimmtheit zeichnet sich durch die Bemühungen der EU zur Regelung der Besteuerung der digitalen Wirtschaft ab. Zwar wird die EU eigener Aussage nach insbesondere deshalb tätig, um unterschiedliche und damit unabgestimmte Ansätze ihrer Mitgliedstaaten in diesem Bereich zu vermeiden. Allerdings wird die wohl favorisierte digitale Betriebsstätte zwangsläufig zu einer unterschiedlichen Behandlung führen müssen. Im Verhältnis zu Drittstaaten, mit denen ein EU-Mitgliedstaat ein DBA abgeschlossen hat, wird die digitale Betriebsstätte bereits daran scheitern müssen, dass derzeit kein existierendes DBA weltweit eine solche in die Definition des Begriffs der Betriebsstätte mit einbezieht. Damit wird das digitale ­Geschäft innerhalb der EU von Unternehmen mit Sitz in abkommensverbundenen Drittstaaten anders besteuert werden, als das von Unternehmen mit Sitz in der 4 Vgl. Ruh/Bairagra, IWB 2018, 24. 5 Vgl. dazu Oppel, IStR 2015, 333.

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EU oder in nicht abkommensverbundenen Drittstaaten. Dass sich daraus Wettbewerbsverzerrungen ergeben müssen, ist offensichtlich. Genauso offensichtlich, wie der Umstand, dass von der digitalen Betriebsstätte betroffene Unternehmen ihr EU-­ Geschäft mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dann über Drittstaaten strukturieren werden, die ihnen insofern Abkommensschutz vermitteln. Damit ist die nächste Abwehrmaßnahme im Sinne einer britischen diverted profit tax vor­ gezeichnet und der spaltende Keil tiefer in den brüchigen internationalen Konsens zur Verteilung der Besteuerungsrechte getrieben. So wird aus dem Bemühen um Abstimmung innerhalb der EU Unabgestimmtheit im großen Stil. Der sinnvolle Lösungsansatz wäre, wenn die EU den Mitgliedstaaten Alleingänge bis zu einer internationalen Einigung zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft verböte. 3. Gleich, doch ungleich – unterschiedliche Interpretation übereinstimmender Regelungen Im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr werden überdies identische Sachverhalte trotz übereinstimmender Regelungen oftmals unterschiedlich behandelt. Aus der aktuellen Diskussion rund um BEPS kennt man dazu das Beispiel der hybriden Finanzierung. Die Zahlung für die Überlassung von Geld wird in einem Staat als steuerlich abzugsfähiger Zins qualifiziert, vom anderen Staat hingegen als steuerfreie Dividende angesehen. Dieser Qualifikationskonflikt geht zu Gunsten des Steuerpflichtigen und soll daher bekämpft werden. Unglücklicherweise stellen diese aus Sicht des Steuerpflichtigen positiven Interpretationsunterschiede jedoch ganz und gar nicht die Mehrzahl der Qualifikationskonflikte dar. Vielmehr kommt es selbst im europäischen Binnenmarkt noch in einer Vielzahl von Fällen zu Doppelbesteuerung wegen negativer Qualifikationskonflikte, die oft allein fiskalisch motiviert sind. Als bestes Beispiel hierfür lässt sich die italienische Betriebsprüfungspraxis anführen. Da, wo der italienische Prüfer eine Betriebsstätte sieht, ist man aus deutscher Sicht von derselben noch Lichtjahre entfernt. Das DBA zwischen Deutschland und Italien sieht zwar ein Verständigungsverfahren vor, nicht aber einen Einigungszwang – und die EU-Schiedskonvention, die einen Einigungszwang enthält, ist auf einen Betriebsstätten-Qualifikationskonflikt nicht anwendbar. Nimmt man dann noch die italienische Verhandlungsstrategie hinzu, auf Betriebsprüfungsfeststellungen 2,5-fache Penalties festzusetzen, diese aber im Fall einer gütlichen Einigung auf 1/6 zu reduzieren und kombiniert das mit den ans Dolce-Far-Niente erinnernden Verfahrensdauern, kann man sich mit Fug und Recht fragen, ob die OECD nicht noch etwas mehr Energie auf ihr angestammtes Ziel der Verhinderung von Doppelbesteuerung hätte verwenden können, anstatt den Steuergestaltungen amerikanischer Multinationals hinterherzujagen.

II. Unterschiede im Verfahrensrecht Genauso wie das materielle Recht laufen auch die Verfahrensrechte der Staaten auseinander. Auf den ersten Blick scheint dies von geringerer Bedeutung für die Steuerpflichtigen zu sein, als die Unterschiede im materiellen Recht. Gleichwohl gibt es 974

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aber auch etliche Themen, bei denen Unterschiede im formellen Recht Steuerpflichtige vor Schwierigkeiten stellen. Ist etwa in einem Staat die Festsetzung für einen bestimmten Veranlagungszeitraum bereits eingetreten, im anderen Staat hingegen noch nicht, und wird für einen in beiden Staaten relevanten Sachverhalt im letzteren Staat eine Feststellung durch die Betriebsprüfung getroffen, kann im ersten Staat keine Gegenkorrektur mehr erfolgen. Die EU-Schiedskonvention oder auch DBA können insofern zwar die Verjährung nach lokalem Recht durchbrechen, in vielen Fällen fehlt es aber an solchen Regelungen und der Steuerpflichtige wird unabhängig von jeglicher Erfolgsaussicht auf eine Gegenkorrektur in materieller Hinsicht bereits verfahrensrechtlich ausgebremst. Diese Problematik ist schwer lösbar, da die Verjährung dem Rechtsfrieden und damit auch dem Schutz des Steuerpflichtigen dient. Multilaterale bzw. bilaterale Ansätze können für klar umrissene Fälle Abhilfe schaffen. Aber auch unilateral wäre eine Verknüpfung denkbar, sofern die entsprechenden Tatbestände ausreichend bestimmt und damit rechtssicher beschrieben werden und es sich nicht lediglich um eine einseitig wirkende Ausnahme von der Verjährung handelt. Neben den Fristen ist in formeller Hinsicht vor allem das unterschiedliche Schutzniveau der diversen Steuerrechtsordnungen interessant. Durch den stetig ansteigenden Informationsaustausch zwischen den Staaten, die neuen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit schon im Stadium der Betriebsprüfung oder auch ­international vereinbarte Reportingverpflichtungen wie das „Country-by-Country-­ Reporting“ kooperieren die verschiedenen Steuerverwaltungen immer stärker miteinander, ohne dass sie aber dasselbe Ziel verfolgen würden. Letztlich versucht jede Finanzverwaltung, ein möglichst hohes Fiskalaufkommen für sich zu erzielen. Im Idealfall streiten die Finanzverwaltungen dabei über den zu verteilenden Kuchen untereinander. In der Praxis wird aber versucht, den Kuchen zu vergrößern – was zu Lasten des Steuerpflichtigen geht. Im privatwirtschaftlichen Bereich würde eine solche Vorgehensweise als Kartell bezeichnet; verschiedene Personen tauschen Informationen aus, um zum eigenen Vorteil eine dritte Person benachteiligen zu können. Es ist offensichtlich, dass in der Interessenlage der Finanzverwaltungen Unterschiede zu den an einem Kartell beteiligten Personen bestehen, gleichwohl lässt sich nicht leugnen, dass das Risiko der Doppelbesteuerung für den Steuerpflichtigen durch die geschilderte Entwicklung zunimmt. Es ist insofern absolut nicht einzusehen, warum nicht alle Staaten auf eine zwingende Streitbeilegung (etwa in Form einer „Mandatory Arbitration“) hinarbeiten und Instrumente, wie der Informationsaustausch oder ein „Joint Audit“ an das Vorhandensein eines solchen Korrekturmechanismusses geknüpft werden.

III. Unterschiede in „soften“ Faktoren bzw. in der „Steuerkultur“ Hand in Hand mit den Unterschieden im materiellen und formellen Steuerrecht sowie der unterschiedlichen Auslegung identischer Sachverhalte geht das stark differierende Qualitätsniveau der jeweiligen lokalen Steuerverwaltungen. Dieses schwankt bereits innerhalb Deutschlands leicht von Bundesland zu Bundesland, noch stärker aber in der EU und immens, sobald man die EU verlässt. Mit Finanzbeamten, die 975

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weder die eigenen Steuergesetze kennen, noch diese anwenden können und wollen, lassen sich Sachthemen nur schwer diskutieren. Ansätze, dies zu ändern sind komplex und langwierig. Die Hoffnungen, die insofern in das Country-per-Country-Reporting gesetzt wurden, werden jedenfalls keine positive Änderung bewirken können. Wer bislang bereits nicht über die Kompetenz verfügte, eine an Recht und Gesetz orientierte Steuerprüfung durchzuführen, wird diese nicht dadurch erlangen, dass ihm zusätzliche Informationen zur Verfügung gestellt werden. Insofern steht zu befürchten, dass durch das Country-by-Country-Reporting sogar ein weiteres Einfallstor für sachfremde Scheinargumente geschaffen wird. In vielen Entwicklungsländern wird die Neigung wachsen, sich nicht mühsam mit den gesetzlichen Grundlagen beschäftigen zu müssen, sondern durch schlichten Zahlenvergleich (bspw. Umsatz-Gewinn-Verhältnis) einen Steueranspruch ableiten zu wollen. Auch Unterschiede in der Steuerkultur machen international tätigen Unternehmen das Leben schwer. So ist die Steuerhinterziehung in einigen Ländern fast schon ein Volkssport; dann erscheint es nachvollziehbar, dass die Betriebsprüfung in diesen Ländern Steuerpflichtige auch eher unter Generalverdacht stellt und damit mit an­ deren Prüfmethoden zu Werke geht, als dies in Ländern mit einer ausgesprochen kooperativen Kultur im Verhältnis von Steuerpflichtigen und Finanzverwaltung der Fall ist. In der Konsequenz wird die Abstimmung der Behandlung bestimmter Sachverhalte schwieriger, die Rechtssicherheit nimmt ab. Beim Erwerb lokaler Gesellschaften muss deutlich mehr Energie in eine umfassende Due Diligence zum steuerlichen Compliance Status gesteckt werden, da eben nicht mit dem gleichen Sorgfaltsniveau gerechnet werden kann. Die Unterschiede in der (Steuer-)Rechtskultur spiegeln sich auch auf der Ebene der Rechtsprechung wider. Eine unabhängige Gerichtsbarkeit ist in Europa größtenteils eine Selbstverständlichkeit, das gilt auch in den meisten entwickelten Industriestaaten. In vielen anderen Ländern hingegen ist bereits die Besetzung der Richterbank dergestalt, dass ein Einfluss der Administrative deutlich zu erkennen ist. Und es ist nicht nur die Neutralität, an der man zweifeln darf. Selbst in Staaten mit vollkommener Unabhängigkeit und hoher Qualität der Rechtsprechung können Verfahren derart in die Länge gezogen werden, dass auch im Fall des Obsiegens der Steuerpflichtige ökonomisch verliert  – bei zweistelliger Inflation und Verfahrensdauern um die und jenseits der zehn Jahre, ist die erkämpfte Steuererstattung eben kaum noch der Rede wert. Es sind vor allem auch solche Unterschiede, die Unternehmen oftmals unzureichend bei der Bewertung unterschiedlicher Standorte berücksichtigen. Dies vor allem, weil sie in einem Businessplan nicht auf Heller und Pfennig beziffert werden können, sondern zunächst abstrakter Natur sind: solange, bis sie sich konkretisieren!

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IV. Bilaterale und multilaterale Maßnahmen zur internationalen ­Abstimmung Das klassische Instrument zur Abstimmung von Besteuerungsrechten und damit zur Vermeidung der aus Unabgestimmtheit resultierenden Doppelbesteuerung ist das Doppelbesteuerungsabkommen (DBA). Mit diesem völkerrechtlichen Vertrag einigen sich in der Regel zwei Staaten auf ein bestimmtes Begriffsverständnis sowie über die Verteilung der Besteuerungsrechte für bestimmte Einkünfte einschließlich der Maßnahmen zur Beseitigung einer verbleibenden Doppelbesteuerung. Das DBA führt damit zu keiner Abstimmung der Steuerrechtsordnung der beteiligten Staaten, sondern löst lediglich die aus der Unabgestimmtheit resultierenden Folgen auf. Sowohl die OECD als auch die UN versuchen jedoch mit ihren Musterabkommen die Blaupause für einheitliche DBA zu legen und damit insoweit eine Abstimmung zu bewirken. Multilaterale Maßnahmen sind hingegen eher die Seltenheit; auch das Multilaterale Instrument (MLI), mit dem die OECD die Umsetzung der aus dem BEPS-Aktionsplan resultierenden abkommensrechtlichen Aktionspunkte einheitlich und zeitnah ermöglichen möchte, ist letztlich keine echte multilaterale Maßnahme, sondern die Bündelung einer Vielzahl von bilateralen Maßnahmen. Multilateral wirken hingegen Richtlinien und Verordnungen der EU. Da diese von dem Leitziel der EU getragen sein müssen, eine Harmonisierung im Binnenmarkt zu bewirken, sind sie auch das Paradebeispiel für Maßnahmen zur Abstimmung verschiedener Steuerrechtsordnungen. Allerdings ist die Kompetenz der EU im Bereich der direkten Steuern begrenzt und wird nicht wie bei den indirekten Steuern von einem Harmonisierungsauftrag getragen. Allein das reicht schon als Erklärung dafür, warum die Anzahl der Harmonisierungsmaßnahmen bei den direkten Steuern überschaubar ist. Eine gegenläufige Tendenz zeichnet sich in der steigenden Zahl der „Treaty Over­ rides“ ab. Mit einem Treaty Override überschreibt der Gesetzgeber die bilateral getroffene Regelung wieder unilateral. Er wird damit völkerrechtlich vertragsbrüchig, hat dafür, zumindest im deutschen Recht, die nationale Gesetzgebungskompetenz6. Der BFH hatte dies in seiner Vorlage an das BVerfG kritisch gesehen7. Konkret ging es in dem Verfahren um die Anwendbarkeit des § 50d Abs. 8 EStG im Rahmen des DBA Türkei von 1985. Die Regelung in § 50d Abs. 8 EStG gewährt die durch ein DBA angeordnete Steuerfreistellung von Einkünften eines unbeschränkt Steuerpflichtigen aus nichtselbständiger Arbeit nur insoweit, wie der Steuerpflichtige nachweist, dass der andere DBA-Vertragsstaat auf sein Besteuerungsrecht verzichtet hat oder aber die von dem anderen Staat festgesetzten Steuern entrichtet wurden. Durch §  50d Abs. 8 EStG werden somit gegenüber dem DBA zusätzliche Voraussetzungen für die Steuerfreistellung in Deutschland verlangt, obwohl das damals geltende und im Streitfall betroffene DBA Türkei von 1985 weder einen Nachweisvorbehalt noch eine Rückfallklausel im Fall der Nichtbesteuerung (subject-to-tax-Klausel) vorsah. Solche 6 So BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, DB 2016, 453. 7 BFH v. 10.1.2012 – I R 66/09, BFHE 236, 304.

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Treaty Overrides wirken der Abstimmung in mehrfacher Hinsicht entgegen. Konkret in ihrem Anwendungsbereich, als sie eine erfolgte Abstimmung wieder unilateral aufheben und damit zu Unabgestimmtheit führen, abstrakt weit darüber hinaus, da sie zeigen, dass die mit einem Abkommen erfolgte Abstimmung jederzeit wieder unilateral konterkariert werden kann und daher auf wackeligen Beinen steht. Der Versuch des BFH, diese Problematik einer verfassungsrechtlichen Lösung zuzuführen ist auch ein Versuch gewesen, die bilateral erreichte Abstimmung zu schützen. Er scheiterte letztlich jedoch am BVerfG.

V. Versuche unilateraler Verknüpfung Nicht erst seit dem OECD-BEPS-Projekt versuchen Staaten, der unterschiedlichen Behandlung ein und desselben Sachverhaltes durch unilaterale Maßnahmen zu begegnen. § 8b Abs. 1 Satz 2 KStG ist dafür ein geeignetes Beispiel im deutschen Steuerrecht. Mit der durch die Jahressteuergesetze 2007 vom 13.12.2006 und 2010 vom 8.12.20108 eingeführten bzw. geänderten Regelung des § 8b Abs. 1 Satz 2 KStG sollten zunächst nur verdeckte Gewinnausschüttungen (vGA) für den Fall von der durch § 8b Abs. 1 Satz 1 KStG vorgesehenen Steuerfreiheit ausgeschlossen werden, dass bei der die verdeckte Gewinnausschüttung vornehmenden Gesellschaft eine Besteuerung der vGA unterbleibt. Diese „korrespondierende“ Besteuerung soll eine doppelte Nichtbesteuerung vermeiden helfen. Die Regelung wurde in der Folgezeit auch auf offene Gewinnausschüttungen ausgedehnt und erfasst nunmehr in der Fassung des KStG v. 26.6.20119 schlicht alle in § 8b Abs. 1 Satz 1 KStG aufgeführten Bezüge und damit solche i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1, 2, 9 und 10 Buchst. a EStG. Diese Erweiterung ist insofern konsequent, als nicht nachvollziehbar wäre, allein bei vGA die offensichtlich ungewünschte doppelte Nichtbesteuerung im Wege der Verknüpfung mit der steuerlichen Behandlung im Ansässigkeitsstaat der ausschüttenden Gesellschaft vermeiden zu wollen. Insofern ist die Vorschrift nunmehr denkbar weit gefasst, und nimmt alle Bezüge von der Steuerbefreiung des § 8b Abs. 1 Satz 1 KStG aus, die das Einkommen der leistenden Körperschaft gemindert haben. Und dies erfolgt gem. §  8b Abs.  1 Satz 3 auch ungeachtet einer eventuellen Steuerbefreiung der Bezüge nach einem anwendbaren DBA10. Die Regelung, die erkennbar als Anti-Hybrid Maßnahme gedacht war, geht in vielen Fällen weit über das Ziel hinaus. So etwa immer dann, wenn ein Drittstaat eine steuerliche Vergünstigung für Ausschüttungen offen gewährt  – wie etwa im Fall Bra­ siliens, das bei Ausschüttungen den Gesellschaftern der ausschüttenden Gesellschaft ein Wahlrecht gewährt, die Ausschüttung als solche (=nichtabzugsfähige Gewinnver 8 Geändert durch Jahressteuergesetz 2010 (JStG 2010) v. 8.12.2010. Anzuwenden ab 1.1.2010. 9 Geändert durch Gesetz zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung ­steuerlicher Vorschriften (Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz – AmtshilfeRLUmsG) v. 26.6.2013. Zur Anwendung vgl. § 34 Abs. 7 Satz 8 und 9. Anzuwenden ab 1.1.2014. 10 Vgl. Fn. 5., nach dem BVerfG ist dieser Treaty Override verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

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wendung) oder als abzugsfähige Betriebsausgabe zu qualifizieren. Der BFH hat auch bei einer Ausübung dieses Wahlrechts im letzteren Sinne entschieden, dass hier aus deutscher Sicht nach wie vor eine Dividende im Sinne des §  8b Abs.  1 KStG vorliegt.11 Die Rücknahme der Steuerfreiheit der Dividende durch Deutschland heißt nunmehr aber nichts anderes, als dass Deutschland die offen durch Brasilien gewährte Steuerbegünstigung selbst einkassiert. Der beratene Steuerpflichtige wird ­seine brasilianischen Beteiligungen über eine nichtdeutsche, z.B. holländische oder österreichische Holding halten, und so der Anwendung des deutschen „Korrespondenzprinzips“ entgehen. Ein Indiz mehr dafür, dass die im Prinzip nachvollziehbare Regelung im Detail unsinnige Ergebnisse produziert. Das Gleiche gilt in Umwandlungsfällen. So können z.B. im Ausland steuerfrei mögliche Umwandlungen die Voraussetzungen des §  8b Abs.  1 KStG erfüllen und in Deutschland eine Steuerpflicht auslösen. Beispielsweise wird der in Sec. 355 (e) des U.S.  Internal Revenue Codes (IRC) vorgesehene „Spin Off “ einer US-Gesellschaft rechtlich im Wege einer durch die Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft beschlossenen Gewinnausschüttung ausgeführt. Insofern liegen aus deutscher steuerlicher Sicht eine offene Gewinnausschüttung im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG und damit nach § 8b Abs. 1 Satz 1 KStG grundsätzlich freizustellende Bezüge vor. Die Anwendbarkeit der Steuerfreistellung des § 8b Abs. 1 Satz 1 KStG entfiele jedoch gem. dessen Satz 2, soweit die Bezüge das Einkommen der leistenden Gesellschaft gemindert haben sollten. Versteht man die Einkommensminderung in dem Sinne, dass die Leistung (der Bezug), als Betriebsausgabe bei der Einkommensermittlung in Abzug gebracht worden sein muss, läge hier keine derartige Einkommensminderung vor. Denn das US-Steuerrecht verzichtet schlicht auf die Besteuerung der in den Anteilen an der abgespaltenen US-Beteiligung enthaltenen stillen Reserven, führt aber nicht dazu, dass der Wert  – und sei es auch nur der Buchwert  – steuerlich als Betriebsausgabe bei der leistenden Gesellschaft zu berücksichtigen wäre. Ein derartiges Verständnis ließe sich mit dem Zweck der Vorschrift in Einklang bringen, die doppelte Nichtbesteuerung zu vermeiden: wird die Steuerlast der leistenden Gesellschaft durch den Abzug der Bezüge bei dieser als Betriebsausgaben gemindert, werden dieselben Bezüge aber gleichzeitig bei der diese empfangenden Gesellschaft steuerbefreit, liegen weiße Einkünfte vor, die durch die Regelung des §  8b Abs.  1 Satz  2 KStG gerade vermieden werden sollen. Zu einem anderen Ergebnis gelangt man hingegen, wenn man die Einkommensminderung im Sinne des § 8b Abs. 1 Satz 2 KStG auch als verhinderte Vermögensmehrung versteht12. Dann wäre die unterbliebene Besteuerung der in den Anteilen an der abgespaltenen US-Beteiligung steckenden stillen Reserven bei der übertragenden US-Gesellschaft als solche eine verhinderte Vermögensmehrung. In der Konsequenz wäre die offene Gewinnausschüttung in Deutschland voll steuerpflichtig. Zu dem 11 BFH v. 6.6.2012 – I R 6, 8/11, BStBl. II 2013, 111. 12 So wohl Gosch in Gosch, 3. Aufl. 2015, § 8 KStG Rz. 253; ebenso Pung in Dötsch/Pung/ Möhlenbrock, § 8b KStG Rz. 81.

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gleichen Ergebnis käme man auch, würde man die offene Gewinnausschüttung um eine vGA ergänzen, insofern als eben die über den Buchwert der Anteile an der abgespaltenen US-Gesellschaft hinausgehenden stillen Reserven dem übernehmenden Rechtsträger zugewandt worden sind. Für das Verständnis der Einkommensminderung auch als verhinderter Vermögensmehrung spricht zunächst der Wortlaut des § 8 Abs. 3 KStG, der im Kontext der vGA und verdeckten Einlage mehrfach von der Einkommensminderung spricht und damit sowohl die Vermögensminderung als auch die verhinderte Vermögensmehrung in diesem Begriff zusammenfasst13. Auch wäre eine Unterscheidung zwischen der offenen und der verdeckten Gewinnausschüttung in gewisser Weise widersinnig, da beide dem Grunde nach Gewinnausschüttungen darstellen und insofern identisch behandelt werden sollten. Letztlich kommt es zu der vorliegenden Frage ohnehin nur bei offenen Gewinnausschüttungen, die nicht auf einen Geldbetrag lauten, sondern Wirtschaftsgüter beinhalten – also Sachdividenden sind. Nur bei diesen stellt sich die Problematik, dass stille Reserven bei Buchwertvorgängen auf Ebene der leistenden Gesellschaft nicht erfasst worden sein können. Insofern fehlt es jedenfalls an einer Rechtfertigung, die unversteuerte Zuwendung stiller Reserven bei einem Verkauf zu Buchwerten (=vGA) anders zu behandeln als bei einer Ausschüttung zu Buchwerten (=offene Gewinnausschüttung). Der Spin Off scheint damit in Deutschland voll steuerpflichtig zu sein. Auch wenn dieses Ergebnis dem Wortlaut der Vorschrift nach zutreffend erscheint, erweckt es doch in höchstem Maße Unbehagen. Warum will Deutschland stille Reserven besteuern, auf deren Besteuerung die USA bewusst verzichtet haben? Und das insbesondere in der vorliegenden Konstellation. Denn in einem vergleichbaren Inlandsfall, also der Sachausschüttung einer deutschen Enkelgesellschaft durch eine deutsche Tochtergesellschaft an die deutsche Muttergesellschaft, wäre es zwar auf Ebene der Tochtergesellschaft zur Aufdeckung der stillen Reserven gekommen. Diese Aufdeckung wäre aber gem. §  8b Abs.  2 KStG steuerfrei gewesen. D.h., auch Deutschland verzichtet auf die Besteuerung der stillen Reserven in einem vergleichbaren Inlandsfall, bedient sich aber dazu einer anderen Technik – der Steuerbefreiung des Einkommens und nicht des Ausschlusses des Einkommens selbst. Es kann damit schlechterdings nicht zutreffend sein, wenn der deutsche Fiskus bei einem grenzüberschreitenden Vergleichsfall zu einer Vollversteuerung kommt. Auch das DBA USA/Deutschland hilft insofern nicht weiter. Zwar sperrt § 8b Abs. 1 Satz 3 KStG lediglich die Befreiung der vom Korrespondenzprinzip erfassten Bezüge durch das Abkommen, also die Anwendung der im jeweiligen Methodenartikel vorgesehenen Befreiungsmethode – nicht aber sonstige Abkommensregeln. Allerdings liegt auch nach der Definition des Art. 10 Abs. 5 DBA USA/Deutschland im vorliegenden Fall eine Dividende im abkommensrechtlichen Sinne vor, so dass Deutschland nach Art. 10 Abs. 1 des DBA das entsprechende Besteuerungsrecht zukommt. Und auch das in Art. 24 DBA USA/Deutschland verankerte Gleichbehandlungsgebot

13 Vgl. Gosch in Gosch, 3. Aufl. 2015, § 8b KStG Rz. 148.

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Unabgestimmtheit nationaler Steuerrechtsordnungen

hilft hier nicht weiter, da den Vertragsstaaten gerade nicht verboten wird, die in ihrem Staatsgebiet ansässigen Steuerpflichtigen untereinander zu diskriminieren.

VI. Resümee Die Unabgestimmtheit der verschiedenen Steuerrechtsordnungen ist eine unvermeidbare Folge der Souveränität sowie der Gesamtheit der Unterschiede zwischen den Staaten. Die Folgen für die Steuerpflichtigen können vorteilhaft sein, sind aber zumeist nachteilig und führen zu erhöhtem Erfüllungsaufwand sowie steigenden Administrationskosten ohne volkswirtschaftlichen Mehrwert sowie zu Doppelbesteuerung. Bemühungen, eine stärkere Abstimmung zwischen den Steuersystemen herbeizuführen, sind insofern stets begrüßenswert; sie sollten sich aber nicht nur in der für die Steuerpflichtigen nachteiligen Angleichung bzw. einer entsprechenden Missbrauchsabwehr erschöpfen, sondern auch Doppelbesteuerung und unnötigen Aufwand vermeiden helfen. Das beste Mittel dazu ist eine funktionierende bilaterale Streitbeilegung mit Einigungszwang. Unilaterale Ansätze als Reaktion auf Abweichungen zwischen den Systemen sind fiskalisch häufig nachvollziehbar, sollten aber sehr zielgenau ausgestaltet werden. Sie bewirken auch nur vordergründig eine Abstimmung, da sie eben nur in einem Staat wirken und damit zwangsläufig oft in der doppelten Belastung von Steuerpflichtigen resultieren werden. Dass solche unilateralen Maßnahmen in vielen Fällen offen oder verdeckt als Treaty Override ausgestaltet sind, unterstreicht, dass es dabei eben gerade nicht um eine Abstimmung zwischen Staaten geht, sondern um eine einseitige Maßnahme. Der Treaty Override selbst ist der Gegenpol zur mit dem DBA verfolgten Abstimmung und sollte damit als Mittel der letzten Wahl verwendet werden. Der aktuelle Trend geht jedoch in vielen Ländern in die entgegengesetzte Richtung. Die Rechtsprechung, allen voran der BFH, hat in etlichen Fällen den Finger in die Wunde gelegt und auf entsprechende Missstände reagiert. Dass der Gesetzgeber regelmäßig auf ihm unliebsame Urteile mit „Nichtanwendungsgesetzen“ reagiert, ist zwar Ausdruck des ihm in der Gewaltenteilung zustehenden Legislativrechts, gleichzeitig aber auch ein bedenkliches Zeichen mangelnder Selbstreflexion.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … D. II. 3.

Auslegung und Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen Von Michael Lang*

Inhaltsübersicht I. Die Herausforderungen für den BFH II. DBA als völkerrechtliche Verträge 1. Die im WÜRV kodifizierten Auslegungsregeln 2. Besonderheiten der Auslegung völkerrechtlicher Verträge 3. Der Abkommensvergleich I II. Das Verhältnis zum nationalen Recht 1. Der Zusammenhang des Abkommens nach Art. 3 Abs. 2 OECD-MA 2. Der Verweis des Art. 3 Abs. 2 OECDMA auf das Recht des Anwendestaates

3. Die sich aus dem Zusammenhang des Abkommens ergebende Maßgeblichkeit des nationalen Rechts der Vertragsstaaten IV. Die Berücksichtigung von nach Vertragsabschluss eingetretenen Entwicklungen 1. Die spätere Praxis 2. Verständigungsvereinbarungen 3. OECD-„Verlautbarungen“ V. Zusammenfassende Würdigung

I. Die Herausforderungen für den BFH In der 100-jährigen Geschichte des BFH und des RFH hat Internationales Steuerrecht schon früh eine große Rolle gespielt. Zum DBA-Recht ist eine große Anzahl von Urteilen ergangen. Im Laufe der Jahre haben sich die Herausforderungen, denen sich der BFH in seiner Rechtsprechung zu den DBA zu stellen hatte, geändert: Die Musterabkommen der OECD haben seit den 1960er-Jahren ihren Siegeszug angetreten und Deutschland ist mit den wichtigsten Industrienationen sowie zahlreichen anderen Staaten in einem dichten Netz an DBA verbunden. Der BFH hatte sich verstärkt damit auseinanderzusetzen, ob er die zu bestimmten DBA-Vorschriften ergan* Frau Lisa Ramharter, MSc., Frau Sofia Rampitsch, MSc., Frau Mag. Desiree Auer, Frau Selina Siller, MSc., Herrn Robin Damberger, MSc., Herrn Mag. Andreas Ullmann, Herrn Hans-­ Peter Gradwohl, MSc., Herrn Thomas Pillichshammer, LL.M. und Herrn Mag. Florian Navisotschnigg danke ich für die kritische Durchsicht und für die Unterstützung bei der Erstellung des Fußnotenapparates.

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genen Urteile auch auf andere DBA übertragen kann, und wie er dabei dem Umstand Rechnung trägt, dass zahlreiche bilaterale Vorschriften aufgrund der Vorbildwirkung des OECD-MA identisch sind, etliche Vorschriften aber auch voneinander abweichen. In den letzten 20  Jahren hat die OECD versucht, sich mittels umfangreicher Kommentierungen zu den Musterabkommen und der Veröffentlichung zahlreicher „Reports“ zum faktischen Rechtssetzer auf dem Gebiet des Internationalen Steuerrechts aufzuschwingen1. Sie hat dabei vielfach auch den Anspruch erhoben, dass die von ihr vertretenen Auffassungen auch für bereits abgeschlossene und von den nationalen Parlamenten ratifizierte DBA Bedeutung haben2. Parallel dazu haben die Finanzverwaltungen zahlreicher DBA-Staaten und insbesondere auch Deutschlands in Form von Verwaltungserlässen und Verständigungsvereinbarungen versucht, die Deutungshoheit über den Inhalt strittig gewordener DBA-Regelungen zu gewinnen. Der BFH stand dabei vor der Herausforderung, offen für internationale Entwicklungen und zugleich Hüter des Rechtsstaates zu bleiben. Er hatte in den letzten Jahren verstärkt dafür zu sorgen, dass der demokratisch legitimierte Normsetzer seine Zuständigkeiten nicht verliert und die Gewaltentrennung gewahrt bleibt. Die hier vorgenommene Analyse der Rechtsprechung konzentriert sich auf die letzten zehn Jahre, in denen die BFH-Judikatur zum DBA-Recht in besonderer Weise von diesen He­ rausforderungen geprägt war.

II. DBA als völkerrechtliche Verträge 1. Die im WÜRV kodifizierten Auslegungsregeln Der BFH greift bei der Auslegung von DBA häufig auf das WÜRV zurück: „Völkerrechtliche Vereinbarungen und die darin enthaltenen Begriffe sind primär autonom nach Maßgabe völkerrechtlicher Grundsätze auszulegen ([…]). Ein völkerrechtlicher Vertrag ist danach nach den Grundsätzen zur Auslegung von Verträgen nach Art. 31 WÜRV nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seiner Bestimmung in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. […] Im Vordergrund steht damit in erster Linie die authentische Interpretation eines im Vertrag verwendeten Begriffs durch den Vertrag selbst ([…]), d.h. maßgebend ist zunächst der Wortlaut der Regelung“3. Der Rechtsgrund für die Maßgeblichkeit des WÜRV ist dabei nicht immer völlig klar. Der BFH betont in vielen seiner Entscheidungen, in denen er sich auf das WÜRV stützt, dessen Transformation durch Zustimmungsgesetz in innerstaatliches Recht. Dadurch erweckt er den Eindruck, er würde das WÜRV bloß als völkerrecht1 Siehe hierzu unter anderem OECD-Musterkommentar, 2017; sowie die 15 BEPS Aktionspläne der OECD; im Internet abrufbar unter: http://www.oecd.org/ctp/beps-2015-final-­ reports.htm. 2 So auch in OECD-Musterkommentar, 2014, Einführung, Nr. 35. 3 BFH v. 7.7.2015 – I R 38/14, Rz. 22; vgl. hierzu auch BFH v. 11.12.2013 – I R 4/13, BStBl. II 2014, 791 Rz. 38 unter Hinweis auf Gosch, ISR 2013, 87 (87 f.) und Gosch in Lüdicke (Hrsg.), Forum der Internationalen Besteuerung, 2013, S. 1 (1).

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lichen Vertrag und nicht als kodifiziertes Völkergewohnheitsrecht anwenden. In seinem Urteil vom 12. Oktober 2011 erwähnt er beispielsweise ausdrücklich, dass das Zustimmungsgesetz vom 3. August 1985, welches das WÜRV in innerstaatliches Recht transformierte, am 20. August 1987 (BGBl. II 1987, 757) und damit nach dem DBA-Frankreich in Kraft getreten ist4. Das hindert ihn aber nicht daran, die Regelungen des WÜRV in weiterer Folge für die Auslegung dieses DBA heranzuziehen. In seinem Urteil vom 10. Juni 2015 ging er sogar ausdrücklich von der Annahme aus, dass „das Wiener Übereinkommen (nach dessen Art.  4) ohnehin nur auf Verträge Anwendung findet, die von Staaten geschlossen werden, nachdem das Übereinkommen für sie in Kraft getreten ist  – und damit, ohne dass dem weiter nachzugehen wäre, nach Lage der Dinge nicht für das DBA Schweiz 1971“5. Der BFH bezeichnet einzelne der im WÜRV enthaltenen Auslegungsvorschriften mitunter aber auch als kodifiziertes Völkergewohnheitsrecht und sieht darin offenbar deren Rechtsgrundlage6. Dies könnte allerdings mit seiner Entscheidung vom 7. Juli 2015 in einem Spannungsverhältnis gesehen werden. Dort hat der BFH nämlich für allgemeine Regeln des Völkerrechts bei der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags keinen Platz gesehen: „Dieser Auslegung […] kann die Revision auch nicht den allgemeinen Rechtsgrundsatz des Verbots missbräuchlichen Verhaltens bzw. des ‚venire contra factum proprium‘ (im Völkerrecht als ‚Estoppel-Prinzip‘ bezeichnet, vgl. hierzu bereits 1935 grundlegend Friede, Das Estoppel-Prinzip im Völkerrecht, ZAOERV 1935, 517) entgegenhalten. […] Und es entspricht der Rechtsprechung des BVerfG, dass allgemeine Regeln des Völkerrechts nicht Völkervertragsrecht auszuhebeln vermögen ([…]), dementsprechend vermittelt ein unterstelltes rechtsmissbräuchliches Verhalten eines Vertragsstaates geltendem Recht keinen anderen inhaltlichen Bedeutungsgehalt“7. Allerdings lässt sich dieses vermeintliche Spannungsverhältnis auflösen, wenn man näher untersucht, welche Konsequenzen der BFH dann in seinen Entscheidungsbegründungen aus den Auslegungsregeln des WÜRV ableitet. Der Eindruck verfestigt sich, dass sich die Vorgangsweise des BFH nicht grundlegend davon unterscheidet, wie er sonst an die Auslegung rein nationaler Rechtsvorschriften herangeht. Er berücksichtigt – wie er beispielsweise in seiner Entscheidung vom 21. August 2015 erläutert – „Wortlaut, Vorschriftenzusammenhang und Zweck eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung“8. Das Urteil vom 11. November 2009 kann als Beleg dafür dienen, dass der BFH auch die „Entstehungsgeschichte“ einer Abkommensregelung berücksichtigt9.

4 BFH v. 12.10.2011 – I R 15/11, BStBl. II 2012, 548 Rz. 16. 5 BFH v. 10.6.2015 – I R 79/13, BStBl. II 2016, 326 Rz. 24. 6 Siehe dazu BFH v. 25.10.2006 – I R 81/04, BStBl. II 2010, 778 Rz. 20; v. 11.11.2009 – I R 15/09, BStBl. II 2010, 602 Rz. 26. 7 BFH v. 7.7.2015 – I R 38/14 Rz. 27. 8 BFH v. 21.8.2015 – I R 63/13 Rz. 13. 9 Siehe BFH v. 11.11.2009 – I R 15/09 (Fn. 6), Rz. 21.

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Der BFH neigt dazu, aus Art. 31 Abs. 1 WÜRV den Vorrang des Wortlauts abzuleiten10. Eine Auslegung gegen den Regelungswortlaut verträgt sich nach Auffassung des BFH „prinzipiell auch dann nicht mit den allgemeinen Grundsätzen für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge (vgl. Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 – WÜRV –, BGBl. II 1985, 927, in innerstaatliches Recht transformiert seit Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes vom 3. August 1985, BGBl. II 1985, 926, am 20. August 1987, BGBl. II 1987, 757), wenn es sich mit den abkommensrechtlichen Regelungszwecken besser vereinbaren ließe“11. Der BFH sieht sich nach Art. 32 lit b WÜRV nur dann befugt, vom Wortlaut abzuweichen, wenn die Auslegung zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt12. Er blendet dabei aus, dass die von Art. 32 lit b WÜRV angesprochene „Auslegung nach Art. 31“ auch die Berücksichtigung von Ziel und Zweck und Zusammenhang zulässt. Häufig spricht der BFH davon, dass der Abkommenswortlaut in abschließender Weise die „Grenzmarke“ für das „richtige“ Verständnis darstellt13. Für Analogie sieht er im Abkommensrecht keinen Platz14. Der BFH geht offenbar von der fragwürdigen Prämisse aus, dass es ihm der für die Auslegung nach dem Wortlaut herangezogene „allgemeine Sprachgebrauch“ ermöglicht, mit dem Wortlaut einer Abkommensvorschrift auch die Grenzen ihrer Auslegung abzustecken. Mitunter muss aber auch der BFH einräumen, dass die Bedeutung nach dem Wortlaut nicht isoliert ermittelt werden kann. Denn der allgemeine Sprachgebrauch muss im Einklang mit dem Sinn und Vorschriftenzusammenhang des Abkommens stehen15. Die Frage nach der Bedeutung einer tatsächlichen oder vermeintlichen Wortlautgrenze ist aber letztlich keine Besonderheit der DBA-Auslegung, sondern stellt sich bei der Auslegung anderer Vorschriften in ähnlicher Weise16. 2. Besonderheiten der Auslegung völkerrechtlicher Verträge Im Bereich des DBA-Rechts ist es allerdings oft noch schwieriger, die Grenze des Wortlauts abzustecken, da der Text der Vorschriften häufig – wie auch bei vielen anderen völkerrechtlichen Verträgen, aber anders als im rein nationalen Recht  – in mehreren Sprachen authentisch ist. Konsequenterweise hat der BFH auch entschieden, dass „die niederländische als auch die französische Fassung, […] bei der Auslegung der Bestimmungen des DBA-Belgien in gleichem Maße wie die deutsche Fas-

10 So etwa BFH v. 10.11.1993 – I R 53/91, BStBl. II 1994, 218 Rz. 11; ebenso v. 21.8.2015 – I R 63/13 Rz. 13. 11 BFH v. 20.8.2008 – I R 39/07, BStBl. II 2009, 234 Rz. 18. 12 BFH v. 20.8.2008 – I R 39/07 (Fn. 11) Rz. 18. 13 Siehe etwa BFH v. 2.9.2009 – I R 90/08, BStBl. II 2010, 394 Rz. 3; v. 2.9.2009 – I R 111/08, BStBl. II 2010, 387 Rz. 16; v. 12.10.2011 – I R 15/11 (Fn. 4) Rz. 16; v. 13.6.2012 – I R 41/11, BStBl. II 2012, 880 Rz. 16; ebenso v. 10.6.2015 – I R 79/13 (Fn. 5) Rz. 16. 14 BFH v. 25.1.2012 – I B 103/11 Rz. 10. 15 BFH v. 26.8.2010 – I R 53/09 Rz. 19. 16 Kritisch zum Wortlaut als Grenze der Auslegung Lang, ÖStZ 2001, 65 (68 f); siehe auch Lang, ÖStZ 2005, 548 (552) und Lang/Massoner in Lang/Schuch/Staringer (Hrsg.), Die Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten im internationalen Steuerrecht, 2009, S. 15 (48).

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sung heranzuziehen sind“17. Allerdings sind solche Aussagen selten. Meist begnügt sich der BFH damit, sich am Wortlaut der deutschen Fassung des Abkommenstextes zu orientieren. Andere Sprachfassungen ignoriert er häufig. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber auch die Entscheidung vom 12. Oktober 2011: Der BFH hatte das DBA-Frankreich auszulegen und führte wie folgt aus: „In der Fassung des Zusatzabkommens in BGBl. II 1990, 771, BStBl. I 1990, 414 ist Art.  13 Abs.  4 Nr.  1 DBA-Frankreich an die Formulierung der 183-Tage-Regelung des Art. 15 Abs. 2 des Musterabkommens der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) aus dem Jahr 1977 – OECD-MustAbk – angenähert worden. Der Wortlaut des OECD-MustAbK wurde dadurch in dem hier in Rede stehenden Passus (‚sich im anderen Staat … aufhält‘) ohne Änderungen übernommen. Das spricht dafür, dass die Vertragsstaaten auch das dortige Abkommensverständnis übernommen haben, welches auf der Grundlage der englischsprachigen Fassung des Art. 15 Abs. 2 Nr. 1 OECD-MustAbk (‚the recipient is present in the other state‘) bzw. der französischsprachigen Fassung (‚le bénéficiare séjourne dans l’autre Etat‘) dahin geht, die Zählung nach den Tagen physischer Anwesenheit vorzunehmen“18. Der BFH hat somit seiner Auslegung nicht nur die französische Fassung des Textes, sondern auch dessen englische Version zugrunde gelegt, obwohl die englische Sprachfassung nach diesem Abkommen nicht authentisch war. Diese Vorgangsweise überzeugt: Vielfach ist die Berücksichtigung von Abkommenstexten in anderen authentischen Sprachen schon deshalb nicht realistisch, weil nicht vorausgesetzt werden kann, dass die Mitglieder des Senates des BFH all diese Sprachen hinreichend beherrschen. Gerade bei Regelungen, die dem OECD-MA nachgebildet sind, ist es wichtiger, auf die englische und französische Fassung dieses Abkommens zurückzugreifen. Schließlich kommt in diesen Sprachen der Inhalt der Vorschrift zum Ausdruck, an den das jeweilige bilaterale Abkommen  – im Falle der vollständigen Übernahme des Textes der Vorschrift des OECD-MA – anknüpft19. Zu weiteren Besonderheiten der DBA-Auslegung gehört die vom BFH aufgestellte Zweifelsregel, „dass sich die Vertragsstaaten wechselseitig dieselben Besteuerungsrechte einräumen wollen“20. Aus diesem Grund war „der belgischen Fassung des Art.  16 DBA Belgien zu folgen, nach der Belgien und Deutschland die nämlichen Rechte für die Besteuerung geschäftsführender Tätigkeiten in ihrem Hoheitsgebiet haben“21. Ebenso würde gegen diesen Grundsatz verstoßen, „wenn man den in der Schweiz ansässigen Vorstand einer deutschen AG dem Anwendungsbereich des Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 zuordnen, den damit vergleichbaren in Deutschland ansässigen ‚Delegierten‘ einer Schweizer AG aber nicht“22. Der BFH machte 17 BFH v. 5.3.2008 – I R 54, 55/07 Rz. 12. 18 BFH v. 12.10.2011 – I R 15/11 (Fn. 4) Rz. 14. 19 Hierzu Lang, IStR 2011, 403 (406 ff.). 20 Vgl. BFH v. 5.3.2008 – I R 54, 55/07 Rz. 12; ebenso Prokisch in Vogel/Lehner, 6. Aufl. 2015, Art.  16 DBA Rz.  22  ff.; Malinski in Debatin/Wassermayer, 47.  Aufl. 2017, Art.  16 DBA Rz. 8; a.A. Herlinghaus, EFG 2007, 1955 (1955 f.). 21 BFH v. 5.3.2008 – I R 54, 55/07 Rz. 12. 22 BFH v. 14.3.2011 – I R 23/10, BStBl. II 2013, 73 Rz. 14.

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aber auch deutlich, dass es sich bloß um eine widerlegbare Vermutung handelt: „Eine solche Handhabung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die Vertragsstaaten den ‚Delegierten‘ einer Schweizer Kapitalgesellschaft bewusst aus dem Anwendungsbereich des Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 ausgeschlossen haben; solche Anhaltspunkte bestehen aber nicht“23. Schwankend ist die Rechtsprechung zur Frage, inwieweit die Vermeidung der Nichtbesteuerung bei der Abkommensauslegung zu berücksichtigen ist: An sich hat der BFH kein Problem damit, dass es als Folge der von ihm vorgenommenen DBA-Interpretation zur Nichtbesteuerung kommt: „Auch wenn es dadurch im Ergebnis für die betreffenden Einkünfte zu einer ‚Keinmalbesteuerung‘ in beiden Vertragsstaaten kommen kann, rechtfertigt das vor dem Hintergrund des absolut wirkenden abkommensrechtlichen Verbots von Diskriminierungen in Art. 24 Abs. 5 OECD-MustAbk (= Art.  XX Abs.  4 DBA-Großbritannien 1964/1970) hiernach nicht die steuerliche Andersbehandlung des ausländerbeherrschten gegenüber dem inländerbeherrschten Inlandsunternehmen in Abhängigkeit von einem ansässigkeitsbegründenden Merkmal i.S.  des Art.  4 Abs.  1 OECD-MustAbk“24. In seiner Entscheidung vom 4. Juni 2008 führte er zur Abstützung eines von ihm bereits mit anderen Argumenten gefundenen Auslegungsergebnisses an, dass die von ihm abgelehnte Interpretation – eine Freistellung in beiden Vertragsstaaten  – „im wirtschaftlichen Ergebnis unbesteuert bleibende Einkünfte nach sich [ziehen würde], weil die Gewinnanteile aus der ‚hybriden‘, stillen Beteiligung in Luxemburg unbeschadet ihrer Behandlung als Dividenden und deren Belastung mit Quellensteuer im Ansässigkeitsstaat als Betriebsausgaben abzugsfähig sind“25. Wenn sich die Nichtbesteuerung als Folge des Zusammenspiels von innerstaatlichem Recht und Abkommensrecht ergibt, besteht an sich kein Grund, die Abkommensvorschrift im Zweifel so zu deuten, dass dieses Ergebnis vermieden wird26. Denn die Behandlung nach dem nationalen Recht des anderen Vertragsstaates kann sich wieder ändern, ohne dass dies dann auch auf den Inhalt der Abkommensvorschrift zurückwirken sollte. 3. Der Abkommensvergleich Viele DBA-Vorschriften orientieren sich an den Regelungen eines OECD-MA. Wenn eine Formulierung des OECD-MA ohne Änderungen in ein bilaterales DBA übernommen wurde, spricht dies dafür, „dass die Vertragsstaaten auch das dortige Abkommensverständnis übernommen haben,  […]“27. Wenn Regelungen aber vom OECD-MA abweichen, kann dies Unterschiedliches bedeuten: „Es gibt keinen Grundsatz, dass Bestimmungen in DBA, die das Besteuerungsrecht hinsichtlich ­bestimmter Einkünfte gegenüber den entsprechenden Regelungen im OECD-Musterabkommen erweitern, im Interesse einer möglichst geringen Abweichung vom 23 BFH v. 14.3.2011 – I R 23/10 (Fn. 22) Rz. 14. 24 BFH v. 9.2.2011 – I R 54, 55/10, BStBl. II 2012, 106 Rz. 21. 25 BFH v. 4.6.2008 – I R 62/06, BStBl. II 2008, 793 Rz. 12. 26 Dazu schon Lang in Haarmann (Hrsg.), Auslegung und Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen, S. 83 (92 ff.). 27 BFH v. 12.10.2011 – I R 15/11 (Fn. 4) Rz. 14.

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OECD-Musterabkommen einschränkend auszulegen sind. […] Zwar ist zu vermuten, dass die Vertragsstaaten die Bestimmung eines DBA, die ihrem Wortlaut nach mit einer Bestimmung des OECD-Musterabkommens übereinstimmt, auch im Sinne des Musterkommentars verstanden haben. Diese Vermutung greift jedoch bei einer vom Wortlaut des OECD-Musterabkommens abweichenden Regelung nicht ein […]“28. So hat der BFH am 12. Jänner 2011 zum DBA-Frankreich entschieden: „Legt man das Verständnis zugrunde, das der Senat in ständiger Spruchpraxis zu Art. 15 Abs. 1 des Musterabkommens der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD-MustAbk) vertritt (z.B. Senatsurteile vom 2. September 2009 I R 111/08, BFHE 226, 276, BStBl. II 2010, 387, sowie I R 90/08, BFHE 226, 267, BStBl. II 2010, 394, m.w.N.), könnte es infolgedessen an der erforderlichen (engen) Kausalität zwischen Leistung und Gegenleistung innerhalb des Arbeitsverhältnisses mangeln (so wohl Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 18 MA Rz 19a). Im Einzelnen kann das im Streitfall aber unbeantwortet bleiben. Denn gleichviel, ob man die beschriebene Schlussfolgerung zieht, wäre sie für das hier anzuwendende DBA-Frankreich nicht maßgebend, weil hiernach – abweichend von Art. 15 Abs. 1 OECD-MustAbk und insofern weiter gehend – alle Einkünfte dem Besteuerungsrecht des Tätigkeitsstaats zugewiesen werden, welche aus der betreffenden Tätigkeit herrühren. Die besagte Kausalitätsfrage stellt sich also nicht; eine Veranlassung durch die Tätigkeit im weiteren Sinne genügt“29. Eine Abweichung vom Wortlaut des OECD-MA muss aber umgekehrt nicht immer bedeuten, dass der Inhalt der bilateralen Regelung nicht mit dem OECD-MA übereinstimmt: „Eine derartige Abkommensregelung, wie sie Art. 24 Abs. 4 OECD-Must­ Abk vorgibt, fehlt im DBA-Schweiz 1971/1992 indessen. Aus diesem Fehlen lässt sich jedoch keineswegs ableiten, dass hinsichtlich von Zinszahlungen ein Diskriminierungsschutz nach dem Willen der Vertragsstaaten des DBA-Schweiz 1971/1992 von vornherein entzogen wäre: Das OECD-Musterabkommen stellt, wie schon das Wort ‚Musterabkommen‘ belegt, keine zwingende inhaltliche Verständigungsvorgabe für die Vertragsstaaten dar; etwaige Abweichungen lassen mithin keinen Rückschluss auf inhaltliche Einschränkungen zu. Es gibt deshalb auch keinen Grund, Zinszahlungen vom Anwendungsbereich des Art.  25 Abs.  3 DBA-Schweiz 1971/1992 auszunehmen“30. Ähnlich hat der BFH zum DBA-Spanien entschieden: „Zu den Einkünften aus unbeweglichem Vermögen gehören auch die Einkünfte aus land- und forstwirtschaftlichen Betrieben, da dort die Nutzung von Grund und Boden im Vordergrund steht ([…]). Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass Art. 6 Abs. 1 DBA-Spanien – anders als Art. 6 Abs. 1 des Musterabkommens der Organisation for Economic Cooperation and Development zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – keinen Klammerzusatz enthält, wonach Einkünfte aus land- und forstwirtschaftlichen Betrieben zu den Einkünften aus unbeweglichem Vermögen gehören. Denn es handelt sich bei

28 BFH v. 23.9.2008 – I R 57/07 Rz. 17. 29 BFH v. 12.1.2011 – I R 49/10, BStBl. II 2011, 446 Rz. 12. 30 BFH v. 8.9.2010 – I R 6/09, BStBl. II 2013, 186 Rz. 27.

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dem angesprochenen Zusatz lediglich um eine Klarstellung und nicht um eine definitorische Erweiterung“31. Ein ebenso differenziertes Bild zeigt die Vorgangsweise des BFH beim Vergleich verschiedener DBA. Der BFH neigt dazu, gleichlautenden Vorschriften in unterschiedlichen DBA auch identischen Inhalt beizumessen. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung des BFH vom 13. Juni 2012, in der er ein zum DBA-Schweiz gefundenes Interpretationsergebnis auf das DBA-Österreich übertragen hat: „Für die Tätigkeit eines Veranstalters hat der erkennende Senat in einem Fall zum DBA Schweiz entschieden, dass dessen Tätigkeit nicht zu den von Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz erfassten Tätigkeiten gehört ([…]). Er hat sich dabei maßgebend darauf gestützt, dass die fragliche Regelung im DBA Schweiz – ebenso wie im OECD-MustAbk – an die persönlich ausgeübte Tätigkeit als Sportler anknüpft. Jedenfalls aus abkommensrechtlicher Sicht stellt sich die Tätigkeit des Veranstalters damit lediglich als Verwertung der durch die einzelnen Sportler persönlich erbrachten Tätigkeiten dar. Die Verwertung wird aber von Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz nicht erfasst. Dies gilt für die insoweit wortgleiche Regelung in Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Österreich 2000 entsprechend. Eine unmittelbar an den Veranstalter gezahlte Vergütung für die (Live-)Fernsehübertragungsrechte fällt somit nicht unter Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-­ Österreich 2000“32. Eine nähere Prüfung der Frage, ob sich aus dem Kontext des DBA-Österreich nicht doch die Notwendigkeit ergeben könnte, die mit dem DBASchweiz übereinstimmende Formulierung inhaltlich anders zu verstehen, unterlässt der BFH. Ähnlich ging der BFH in seiner Entscheidung vom 23. Februar 2011 zum DBA-Niederlande vor: „Zu einer abweichenden Beurteilung führt nicht der Umstand, dass die in Rede stehenden Zinsen aus der Anlage von Liquiditätsüberschüssen stammen, die im Zusammenhang mit der Finanzierung und Bewirtschaftung der in den Niederlanden belegenen Grundstücke angefallen sind. Insbesondere folgt daraus nicht, dass die Zinsen abkommensrechtlich den Einkünften aus der Nutzung unbeweglichen Vermögens zuzuordnen und deshalb in den Niederlanden besteuert werden dürfen (Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 DBA-Niederlande) und im Ansässigkeitsstaat des Zinsempfängers von der Bemessungsgrundlage der Steuer ausgenommen werden müssen (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 DBA-Niederlande). Das hat der Senat zu mehreren anderen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung entschieden (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 9. Dezember 2010 I R 49/09, BFHE 232, 145), und daran ist auch im Hinblick auf das DBA-Niederlande festzuhalten“33. Umgekehrt müssen Unterschiede zwischen den Texten einzelner DBA nicht auf unterschiedliche Norminhalte schließen lassen: Im Urteil vom 4. Juni 2008 entschied der BFH zum DBA-Luxemburg: „Dass das Ergebnis dieser normativen und systematischen Auslegung sich mittlerweile ausdrücklich in einigen in jüngerer Zeit geschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung wiederfindet, so beispielsweise in den Abkommen mit Österreich (vom 24. August 2000, Art.  23 Abs.  1 Buchst.  a Satz  4), mit Rumänien (vom 12. November 2001, Art.  23 Abs.  2 31 BFH v. 27.10.2011 – I R 26/11, BStBl. II 2012, 457 Rz. 14. 32 BFH v. 13.6.2012 – I R 41/11 (Fn. 13) Rz. 12. 33 BFH v. 23.2.2011 – I R 52/10 Rz. 39.

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Buchst. a Satz 3), Kroatien (vom 6. Februar 2006, Art. 23 Abs. 1 Buchst. a Satz 3), Slowenien (vom 3. Mai 2006, Art. 23 Abs. 1 Buchst. a Satz 3) und in dem mit den Vereinigten Staaten von Amerika geschlossenen Abkommen vom 29. August 1989 i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 1. Juni 2006 (Art. 23 Abs. 3 Buchst. a Satz 4) widerspricht dem nicht. Die Verdeutlichung in jenen Abkommen schließt nicht aus, dass es sich nach Wortlaut und Regelungszusammenhängen jedenfalls in dem mit Luxemburg geschlossenen Abkommen ebenso verhält“34. Eine differenzierende Vorgangsweise überzeugt: Jedes DBA ist das Ergebnis bilateraler Verhandlungen. Unterschiedliche Formulierungen können unterschiedliche Ursachen haben. Weicht der Wortlaut einer Abkommensvorschrift vom OECD-MA oder von anderen bilateralen DBA ab, wäre es vorschnell, alleine aus diesem Umstand auf unterschiedliche Abkommensinhalte zu schließen35.

III. Das Verhältnis zum nationalen Recht 1. Der Zusammenhang des Abkommens nach Art. 3 Abs. 2 OECD-MA In ständiger Rechtsprechung hält der BFH Abkommensrecht und das nationale Recht der Vertragsstaaten säuberlich auseinander: Im Urteil vom 17. Dezember 2014 betont der BFH am Beispiel der Art. 9 Abs. 1 OECD-MA entsprechenden Vorschrift des Art. 9 Abs. 1 DBA-USA deren „als Ausprägung der sogenannten Schrankenwirkung des Abkommens begrenzende Wirkung“36. Nur „durch einen einheitlichen und verbindlichen Beurteilungsmaßstab für beide Vertragsstaaten  […] lässt sich erreichen, dass die beanstandeten Preise und Preisbestandteile in den einzelnen Staaten nicht doppelt erfasst werden“37. Eine Vorschrift wie Art. 9 Abs. 1 OECD-MA „erfordert allerdings eine innerstaatliche Rechtsgrundlage, die ihrerseits die Gewinnkorrektur  […] ermöglicht“38. Die DBA legen „lediglich fest, in welchem Umfang die nach innerstaatlichem Recht bestehende Steuerpflicht entfallen soll“39. Scheinbar durchbrochen wird dieser Grundsatz der abkommensautonomen Interpretation durch die Auslegungsvorschrift des Art. 3 Abs. 2 OECD-MA. Dabei ist aber nach Auffassung des BFH „zunächst nach dem Wortlaut und den Definitionen des Abkommens, sodann nach dem Sinn und dem Vorschriftenzusammenhang innerhalb des Abkommens und schließlich nach den Begriffsbestimmungen des innerstaatlichen Rechts auszulegen“40. 34 BFH v. 4.6.2008 – I R 62/06 (Fn. 25) Rz. 13. 35 Hierzu schon Vogel, StuW 1982, 111 (124); Vogel, StuW 1982, 286 (298). 36 BFH v. 17.12.2014 – I R 23/13, BStBl. II 2016, 261 Rz. 18. 37 BFH v. 17.12.2014 – I R 23/13 (Fn. 36) Rz. 18. 38 BFH v. 17.12.2014 – I R 23/13 (Fn. 36) Rz. 18. 39 BFH v. 20.7.2016  – I R 50/15, BStBl.  II 2017, 230 Rz.  15; siehe auch v. 5.6.1986  – IV R 268/82, BStBl. II 1986, 659 Rz. 18. 40 BFH v. 26.8.2010 – I R 53/09 Rz. 14; siehe auch v. 25.2.2004 – I R 42/02, BStBl. II 2005, 14 Rz. 14, m.w.N.

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Diesen Vorrang des Sinns und des Zusammenhangs des Abkommens betont der BFH in ständiger Rechtsprechung. In der Entscheidung vom 8. Dezember 2010 hat er dargelegt, dass entgegen „der Annahme der Revision […] der Besteuerungszugriff der Schweiz nicht aufgrund des Art.  3 Abs.  2 DBA-Schweiz 1971/1992 als abkommensgemäß angesehen werden“ kann. Denn „das Verständnis des in Art.  18 und Art. 19 DBA-Schweiz 1971/1992 verwendeten Begriffs ‚Ruhegehälter‘ durch den Senat [beruht] nicht auf einem auf Art. 3 Abs. 2 DBA-Schweiz gestützten Rückgriff auf das innerstaatliche Recht, sondern auf einer abkommensautonomen Auslegung, für die weder das deutsche noch das Schweizer innerstaatliche Recht von entscheidender Bedeutung sind“41. Im Urteil vom 8. September 2010 ging es um die Zuordnung von Einkünften zu einer abkommensrechtlichen Betriebsstätte: „Es verbleibt mithin bei den allgemeinen Zurechnungserfordernissen des jeweiligen Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und es beantwortet sich die Zurechnungsfrage ihrerseits allein unter autonomer Abkommensauslegung ([…])“42. Im Urteil vom 24. August 2011 argumentierte der BFH auf derselben Linie: „Diese Besteuerungszuordnung folgt allerdings nicht bereits daraus, dass die E-LP nach Maßgabe des deutschen Steuerrechts als gewerblich geprägt i.S. von § 15 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 EStG 1997 zu behandeln ist. Denn die internrechtlich-fiktive Umqualifikation schlägt auf die abkommensrechtliche Einkunftsqualifikation – entgegen der Annahme der Finanzverwaltung ([…]) – nicht durch. Abkommensrechtlich ausschlaggebend ist allein die tatsächlich verwirklichte Einkunftsart“43. Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidung vom 28. April 2010, in der sich der BFH ausdrücklich dagegen stellt, aus der Art.  3 Abs.  2 OECD-MA entsprechenden Abkommensvorschrift auf die Maßgeblichkeit des nationalen Rechts zu schließen: „Schließlich […] würde ein anderes Verständnis ohne hinreichenden Grund die Gefahr fördern, dass das Abkommen in den einzelnen Vertragstaaten (sic) unterschiedlich ausgelegt wird, und damit der im Grundsatz angestrebten Entscheidungsharmonie entgegenwirken. Daher sind auch unter Berücksichtigung des Art. 3 Abs.  2 DBA-USA 1989  a.F. als ‚gewerbliche Gewinne eines Unternehmens’ (Art.  7 Abs. 1 DBA-USA 1989 a.F.) oder als Produkt einer ‚gewerblichen Tätigkeit‘ (Art. 11 Abs.  3 DBA-USA 1989  a.F.) nicht diejenigen Einkünfte anzusehen, die nach deutschem Recht nicht Einkünfte aus Gewerbebetrieb ‚sind‘, sondern nur als solche ‚­gelten‘. Darum handelt es sich aber bei den in §  15 Abs.  3 EStG 1990 genannten ­Einkünften, weshalb diese aus abkommensrechtlicher Sicht nicht zum ‚unternehmerischen‘ oder ‚gewerblichen‘ Bereich gehören“44. Interessant ist auch das zur vermögensteuerlich maßgebenden Verteilungsnorm des DBA-Schweiz ergangene Urteil vom 4. Mai 2011: Der BFH hat zunächst erläutert, dass nach dem Abkommen „bewegliches Vermögen, das Betriebsvermögen einer Betriebsstätte eines Unternehmens darstellt oder das zu einer der Ausübung eines freien Berufes dienenden festen Einrichtung gehört, in dem Vertragsstaat besteuert werden 41 BFH v. 8.12.2010 – I R 92/09, BStBl. II 2011, 488 Rz. 24. 42 BFH v. 8.9.2010 – I R 74/09, BStBl. II 2014, 788 Rz. 20. 43 BFH v. 24.8.2011 – I R 46/10, BStBl. II 2014, 764 Rz. 16. 44 BFH v. 28.4.2010 – I R 81/09, BStBl. II 2014, 754 Rz. 23.

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[kann], in dem sich die Betriebsstätte oder die feste Einrichtung befindet. Der Begriff ‚Unternehmen‘ im Sinne dieser Vorschrift ist im DBA-Schweiz nicht definiert, insbesondere auch nicht in dessen Art. 3 Abs. 1 Buchst. f, und daher nach Art. 3 Abs. 2 DBA-Schweiz für Zwecke der deutschen Besteuerung in der Bedeutung zu verwenden, die ihm nach dem Recht der Bundesrepublik über die Steuern zukommt, welche Gegenstand des DBA-Schweiz sind, soweit der Zusammenhang des DBA-Schweiz nichts anderes erfordert“45. Letztlich hat er den Rückgriff auf nationales Recht aber doch abgelehnt: „Der Rückgriff auf das deutsche Vermögensteuerrecht führt indes nicht weiter; denn weder das VStG noch §§ 95, 97 und 121 BewG oder andere Vorschriften des VStG oder des BewG definieren den Begriff ‚Unternehmen‘. […] Der Begriff ist danach aus dem Zusammenhang des DBA-Schweiz heraus auszulegen. Diese Auslegung ergibt, dass eine vermögensverwaltende Personengesellschaft auch dann kein ‚Unternehmen‘ i.S. des Art. 22 Abs. 2 DBA-Schweiz ist oder hat, wenn sie i.S. des § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG gewerblich geprägt ist. Die gewerbliche Prägung einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft spielt abkommensrechtlich keine Rolle“46. Dem BFH ist im Ergebnis beizupflichten. Die Begründung ist aber fragwürdig, denn sie liefe darauf hinaus, dass der Inhalt der – für beide Vertragsstaaten bedeutenden  – Abkommensvorschrift davon abhinge, ob der Ausdruck „Unternehmen“ im deutschen Vermögensteuerrecht definiert ist. Der in Art.  3 Abs.  2 OECD-MA betonte Zusammenhang des Abkommens macht auch deutlich, dass abkommensrechtliche Begriffe keineswegs ohne weiteres im rein nationalen Recht Bedeutung erlangen können47. Im Urteil vom 17. November 2010 ging es um „den Begriff des ,Stammens‘ von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit i.S. verschiedener Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (Senatsurteile vom 29. November 2000 I R 102/99, BFHE 194, 69, BStBl. II 2001, 195, zum Doppelbesteuerungsabkommen mit Zypern; vom 22. Februar 2006 I R 14/05, BFHE 213, 296, BStBl.  II 2006, 743, zum Doppelbesteuerungsabkommen mit Singapur). Die dort gewählte Anknüpfung an die Ansässigkeit des Arbeitgebers hängt mit Besonderheiten der betreffenden Abkommen zusammen und ist in diesem Sinne normspezifischer Natur (Senatsurteil in BFHE 213, 296, 300, BStBl. II 2006, 743, 745). Sie kann daher auf die Würdigung im Zusammenhang mit §  34c Abs.  6 Satz  4 EStG 1997 n.F. nicht übertragen werden“48. In dieselbe Richtung geht das Urteil des BFH vom 20. Juli 2016: „Nach ständiger Rechtsprechung des BFH legen die Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA) lediglich fest, in welchem Umfang die nach innerstaatlichem Recht bestehende Steuerpflicht entfallen soll. Die in den einzelnen DBA vorgenommene Bestimmung des Begriffs ‚Betriebsstätte‘ ist deshalb grundsätzlich nur im Rahmen der DBA anwendbar (BFH-Urteil[…]). Letzteres ergibt sich ausdrücklich aus den in den Abkommen häufig verwendeten Formulierungen ‚Für die Anwendung dieses Ab45 BFH v. 4.5.2011 – II R 51/09, BStBl. II 2014, 751 Rz. 26. 46 BFH v. 4.5.2011 – II R 51/09 (Fn. 45) Rz. 27 f. 47 Hierzu ausführlich Lang in FS Debatin, 1997, S. 283 (290); siehe auch Lang, IWB 2011, 281 (287). 48 BFH v. 17.11.2010 – I R 76/09, BStBl. II 2012, 276 Rz. 39.

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kommens gilt folgendes …‘ oder – wie im Einleitungssatz von Art. 3 Abs. 1 DBA-Türkei 1985  – aus der Wendung ‚Im Sinne dieses Abkommens  … bedeutet der Ausdruck …‘ “49. 2. Der Verweis des Art. 3 Abs. 2 OECD-MA auf das Recht des Anwendestaates Allerdings finden sich in der Rechtsprechung des BFH auch Entscheidungen, in denen sich der Gerichtshof nicht der Mühe unterzogen hat, aus dem Zusammenhang des Abkommens eine Lösung zu finden. Vielmehr war in diesen Fällen der Hinweis auf die Bedeutung des Zusammenhangs eine leere Floskel. Ein Beispiel für eine Entscheidung, in der der BFH ohne Umschweife auf das rein nationale Recht des Anwendestaates zurückgegriffen und sich damit die Möglichkeit genommen hat, eine in beiden Vertragsstaaten überzeugende Lösung aus dem Zusammenhang zu finden, ist das Urteil vom 13. Februar 2008: „Bei der von X veräußerten Beteiligung an der Z-Inc. handelte es sich sowohl um ‚bewegliches Vermögen‘ ([…]) als auch um ‚Betriebsvermögen‘ i.S. des Art. 13 Abs. 2 DBA-Schweiz. Letzteres folgt aus Art. 3 Abs. 2 DBA-Schweiz. Danach ist, da das DBA-Schweiz den Begriff ‚Betriebsvermögen‘ nicht besonders definiert, für Zwecke der deutschen Besteuerung die Begriffsbestimmung des deutschen Rechts maßgeblich. Dieses zählt die in Rede stehende Beteiligung zum Betriebsvermögen des X“50. Ähnlich knapp war die Argumentation des BFH in seiner Entscheidung vom 28. April 2010: „Der Ausdruck ‚gewerbliche Tätigkeit‘ wird – ebenso wie der in Art. 7 Abs. 1 Satz 1 DBA-USA 1989 a.F. verwendete Ausdruck ‚gewerbliche Gewinne eines Unternehmens‘ – im DBA-USA 1989 a.F. nicht definiert. Daher ist er für Zwecke der deutschen Besteuerung nach Maßgabe des deutschen Steuerrechts auszulegen, sofern nicht der Abkommenszusammenhang eine andere Deutung erfordert oder die zuständigen Behörden sich nach Art. 25 DBA-USA 1989 a.F. auf eine gemeinsame Auslegung geeinigt haben (Art. 3 Abs. 2 DBA-USA 1989 a.F.)“51. In diesem Fall wich die Terminologie des Abkommens vom OECD-MA ab. Es hätte sich daher gelohnt, unter Berücksichtigung der authentischen Sprachfassungen des DBA zu untersuchen, ob die erwähnten Begriffe auf deutsches oder US-amerikanisches Rechtsverständnis zurückzuführen sind. Hätte sich gezeigt, dass die deutschen Regelungen Pate gestanden sind, wäre die Heranziehung deutschen Steuerrechts gerechtfertigt. Dies ergibt sich dann aber nicht aufgrund des Verweises der Art. 3 Abs. 2 OECD-MA nachgebildeten Abkommensvorschrift auf nationales Recht, sondern aufgrund des in dieser Vorschrift ebenfalls erwähnten Zusammenhangs des Abkommens. Im Urteil vom 24. September 2013 hat der BFH bedauerlicherweise darauf verzichtet, den Begriff der unselbständigen Arbeit abkommensautonom zu interpretieren: „Zwischen den Beteiligten besteht zu Recht Einigkeit darüber, dass der Kläger Grenzgänger i.S. des Art. 15a des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf 49 BFH v. 20.7.2016 – I R 50/15 (Fn. 39) Rz. 15. 50 BFH v. 13.2.2008 – I R 63/06, BStBl. II 2009, 414 Rz. 42. 51 BFH v. 28.4.2010 – I R 81/09 (Fn. 44) Rz. 18.

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dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11. August 1971 (BGBl. II 1972, 1022, BStBl. I 1972, 519) i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 21. Dezember 1992 (BGBl. II 1993, 1888, BStBl. I 1993, 928) – DBA-Schweiz – ist und daher dessen Einkünfte aus unselbständiger Arbeit in Deutschland als dem Ansässigkeitsstaat besteuert werden können. Da der Begriff der unselbständigen Arbeit im Abkommen selbst nicht definiert ist, ist  – soweit sich aus der Systematik des DBASchweiz nichts Gegenteiliges ergibt  – gemäß Art.  3 Abs.  2 DBA-Schweiz auf das nationale Recht abzustellen (Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer, Art.  15 DBAMA Rz 53; vgl. BFH v. 29.4.2009 – X R 31/08, BFH/NV 2009, 1625; Brandis in Debatin/Wassermeyer, a.a.O., Art.  15 DBA-Schweiz Rz 26). Denn nach dieser Bestimmung hat bei Anwendung des Abkommens durch einen Vertragsstaat, wenn der Zusammenhang nichts anderes erfordert, jeder nicht anders definierte Ausdruck die Bedeutung, die ihm nach dem Recht dieses Staates über die Steuern zukommt, welche Gegenstand des Abkommens sind“52. Gerade der Begriff der unselbständigen Arbeit ist für das Abkommensrecht zentral, da er den Inhalt mehrerer Verteilungsnormen  – wie jener des Art.  15, des Art.  18 und des Art.  19 OECD-MA  – mitbestimmt. Für andere Verteilungsnormen – wie jene des Art. 7 OECD-MA – ist hingegen die Voraussetzung der Selbständigkeit entscheidend. Die Berücksichtigung dieser Zusammenhänge hätte eine abkommensautonome Lösung ermöglicht53. Ein weiteres Beispiel für diese kritisch zu beurteilende Rechtsprechungslinie ist das Urteil des BFH vom 12. Oktober 2016: „Da weder Art.  13 DBA-Niederlande 1959 noch Nr.  10 des Schlussprotokolls zu den Art.  5, 7 und 13 DBA-Niederlande 1959 (BGBl. II 1960, 1794, BStBl. I 1960, 394) eine Definition des Dividendenbegriffs enthalten (Senatsurteil vom 9. April 1997 I R 178/94, BFHE 183, 114, BStBl.  II 1997, 657) und gleichzeitig ein dem Art. 10 Abs. 3 des Musterabkommens der Organisa­tion for Economic Cooperation and Development (OECD-Musterabkommen – OECD-­ MustAbk –) entsprechender Verweis auf das Recht des Ansässigkeitsstaates fehlt, ist nach der allgemeinen Regelung des Art. 2 Abs. 2 DBA-Niederlande 1959 das Recht des Anwenderstaates maßgeblich (FG Münster, Urteil vom 22. Februar 2008 9 K 509/07 K,F, EFG 2008, 923; Mick in Wassermeyer, Niederlande Art.  13 Rz 14; vgl. auch Senatsurteil vom 19. Februar 1975 I R 26/73, BFHE 115, 327, BStBl.  II 1975, 584). Mithin ist – ungeachtet des niederländischen Steuerrechts – die Einordnung als mitunternehmerische Einkünfte nach §  15 Abs.  1 Satz  1 Nr.  2 EStG auch abkommensrechtlich maßgeblich“54. In diesem Fall hätte sich eine tiefergehende Analyse, auf welche Regelungen die noch vor dem OECD-MA geschaffenen Abkommensvorschriften zurückgehen, empfohlen. Dass der Verweis auf das nationale Recht nur das deutsche Recht als Recht des Anwendestaates für maßgebend erklären kann, nicht aber auch das Recht des anderen Vertragsstaates, hat der BFH in seiner Entscheidung vom 18. Mai 2010 deutlich gemacht: „Ob Zypern die im Anwenderstaat Deutschland gefundene Auslegung des 52 BFH v. 24.9.2013 – VI R 6/11, BStBl. II 2016, 650 Rz. 10. 53 Näher Lang/Zieseritsch in Gassner/Lang/Lechner/Schuch/Staringer (Hrsg.), Arbeitnehmer im Recht der Doppelbesteuerungsabkommen, S. 31 (34 ff.). 54 BFH v. 12.10.2016 – I R 92/12 Rz. 33; siehe hierzu auch Wacker, IStR 2017, 278 (287).

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DBA Zypern teilt – was der Kläger bestreitet und weshalb er die entsprechende (nicht entscheidungstragende) Annahme des FG als groben Rechtsverstoß rügt –, ist keine Auslegungsmaßgabe für die nationale Rechtsanwendung. Ebenfalls kann es bei dieser Rechtsanwendung nicht darum gehen, eine einheitliche Auslegung des Arbeit­ geberbegriffs für alle in Zypern als Besatzungsmitglieder unselbständig Tätigen zu finden oder ungeachtet der Möglichkeit eines Verständigungsverfahrens (Art.  25 DBA-­Zypern) durch eine dazu geeignete Auslegung eine Doppelbesteuerung in allen Einzelfällen stets auszuschließen“55. 3. Die sich aus dem Zusammenhang des Abkommens ergebende ­Maßgeblichkeit des nationalen Rechts der Vertragsstaaten DBA erheben aber auch nicht den Anspruch, alle Fragen autonom – also ohne Heranziehung des nationalen Rechts – zu klären. Vielmehr erklären sie denjenigen zum nach dem DBA Berechtigten, der nach dem nationalen Steuerrecht verpflichtet ist56. Diese persönliche Anknüpfung wird über die Art. 1 und Art. 4 Abs. 1 OECD-MA entsprechende Vorschriften herbeigeführt57. Die Begründung des Urteils des BFH vom 25. Mai 2011 überzeugt daher im Wesentlichen: Die Frage, „welcher Person bestimmte Einkünfte nach steuerlichen Gesichtspunkten zuzurechnen ist, ist nicht Gegenstand der abkommensrechtlichen Zuordnung des Besteuerungssubstrats. Es handelt sich hierbei vielmehr um eine unilateral eigenständig zu beantwortende Rechtsfrage, die Art.  3 Abs.  2 DBA-Ungarn dem jeweiligen Anwenderstaat  – hier Deutschland  – überantwortet. Soweit die Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) in ihrem sog. Partnership Report (‚The Application of the OECD Model Tax Convention to Partnerships, Issues in International Taxation, No. 6‘) aus dem Jahre 1999 (jedenfalls zum Teil und für bestimmte Sachkonstellationen) und dem folgend ein Teil des Schrifttums ([…]) eine andere – ‚abkommensorientierte‘ – Auffassung und damit eine Bindung des Ansässigkeitsstaats an den Quellenstaat vertreten, ist dieser Auffassung  – im Ausgangspunkt mit der Praxis der deutschen Finanzverwaltung (vgl. Bundesministerium der Finanzen – BMF –, Schreiben vom 16. April 2010, BStBl. I 2010, 354 Tz. 4.1.4.1.) – nicht beizupflichten ([…]). Denn eine Bindung des Ansässigkeitsstaats des Gesellschafters – hier Deutschland – an die Qualifikation der in Rede stehenden Beteiligungsgesellschaft im Quellenstaat – hier Ungarn – lässt sich dem OECD-Musterabkommen (OECD-MustAbk) ebenso wenig wie dem DBA-Ungarn entnehmen“58. Missverständlich ist lediglich der Verweis auf die Art. 3 Abs. 2 OECD-MA nachgebildete Abkommensvorschrift, aus dem man ableiten könnte, dass sich die Bedeutung des nationalen Rechts ergäbe, weil der Zusammenhang nichts anderes erfordere59. Vielmehr macht aber gerade der Zu55 BFH v. 18.5.2010 – I B 204/09 Rz. 9; vgl. hierzu auch Macher, NZA 2011, 142 (142). 56 Siehe Lang in Lang/Mössner/Waldburger (Hrsg.), Die Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen, 1998, S. 117 (129). 57 Siehe Prokisch (Fn. 20), Art. 1 DBA Rz. 2 ff. 58 BFH v. 25.5.2011 – I R 95/10, BStBl. II 2014, 760 Rz. 16; siehe hierzu auch Becker/Loose, BB 2011, 2404 (2406). 59 Ähnlich auch BFH v. 12.10.2016 – I R 92/12 Rz. 37.

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sammenhang des Abkommens die Entscheidung über die Zurechnung durch jeden der Vertragsstaaten erforderlich. Ebenso ist auch die Frage der Bemessungsgrundlage durch das nationale Recht zu regeln. Dies ergibt sich auch aus dem Zusammenhang des Abkommens60. Der BFH-Entscheidung vom 20. Juli 2016 ist daher beizupflichten: „Die Frage, ob im Ausland erzielte Einnahmen bei der Ermittlung der Einkünfte zu kürzen sind und auf welche Fälle sich die Möglichkeit einer solchen Kürzung erstrecken soll, ist […] eine Angelegenheit des innerstaatlichen Rechts“61.

IV. Die Berücksichtigung von nach Vertragsabschluss eingetretenen Entwicklungen 1. Die spätere Praxis Im Steuerrecht kommt es häufig vor, dass Verwaltungsbehörden versuchen, durch Erlässe auf den Inhalt gesetzesrangiger Vorschriften Einfluss zu nehmen. Dieses Phänomen ist auch im Bereich des DBA-Rechts bekannt62. Die Antwort eines Gerichts, dessen Aufgabe ist, die Verwaltung zu kontrollieren, liegt auf der Hand63. Wenig überraschend weist der BFH daher Versuche von Verwaltungsbehörden, den Inhalt von DBA-Vorschriften zu beeinflussen, zurück. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung des BFH vom 24. September 2013: „Keinen Erfolg hat schließlich die Berufung der Kläger auf die Verwaltungsvorschrift der Oberfinanzdirektion Karlsruhe in Fach B Teil 2 Nr. 10 des sog. Grenzgängerhandbuchs, aus der sie meinen, ableiten zu können, bei einem schweizerischen Arbeitgeber unterfielen pauschale Zuwendungen insoweit der Steuerbefreiung, als die Sonntags-, Feiertags- bzw. Nachtarbeit durch den Arbeitnehmer im Einzelnen nachgewiesen werde. Ganz abgesehen davon, dass sich der von den Klägern angeführten Bestimmung eine entsprechende Regelung nicht entnehmen lässt, handelt es sich hierbei nur um eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift, die keine Rechtsnormqualität hat und die Gerichte nicht bindet ([…])“64. Im Bereich des DBA-Rechts stellt sich zusätzlich aber noch die Frage, ob eine übereinstimmende Verwaltungspraxis in beiden Staaten von einem Gericht wie dem BFH berücksichtigt werden kann65. Einerseits werden DBA in beiden Vertragsstaaten ausgelegt und angewendet und mangels eines supranationalen Steuergerichts können auch letztinstanzliche gerichtliche Entscheidungen in beiden Staaten keine übereinstimmende Sichtweise garantieren. Die Herausbildung einer übereinstimmenden Auslegung von DBA-Vorschriften durch formelle oder informelle Vereinbarungen 60 Siehe hierzu Lang (Fn. 47), S. 297; Lang, SWI 1999, 61 (68). 61 BFH v. 20.7.2016 – I R 50/15 (Fn. 39) Rz. 15. 62 Vgl. Lochmann, SWI 2017, 127 (127 f.). 63 Siehe hierzu Lang, SWI 1996, 427 (430); Lang (Fn. 56), S. 126. 64 BFH v. 24.9.2013 – VI R 48/12 Rz. 19. 65 Vgl. Loukota, SWI 2000, 299 (303 f.).

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der Behörden oder auf andere Weise ist häufig die einzige Chance um sicherzustellen, dass ein und dieselbe DBA-Vorschrift in beiden Staaten gleich verstanden und auf diese Weise Doppelbesteuerung und Nichtbesteuerung vermieden wird66. Dazu kommt, dass Art. 31 Abs. 3 WÜRV der übereinstimmenden Praxis auch für die Auslegung Bedeutung beimisst67. Andererseits ist klar, dass der BFH seine Kontrollfunktion nicht abgeben kann, indem er den Verwaltungsbehörden beider Staaten einen „Blankoscheck“ erteilt, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, die von ihm von vornherein als rechtskonform angesehen werden68. In seinem Beschluss vom 20. August 2014 erkennt der BFH die Bedeutung des Art. 31 Abs. 3 WÜRV für die Auslegung an: „Exekutive und Legislative sind darin frei, völkerrechtlich verbindlich zu verhandeln und das Vereinbarte umzusetzen. Sie sind wie aufgezeigt, auch darin frei, das zwischenstaatlich Vereinbarte abzuwandeln und sich durch eine spätere zwischenstaatliche ‚Übung‘ für die Zukunft auf eine bestimmte Handhabung einzelner Bestimmungen zu verständigen. Die Gerichte hätten eine solche Handhabung durchaus zu berücksichtigen (vgl. Art. 31 Abs. 3 WÜRV; s. dazu z.B. Senatsurteil vom 2. September 2009 I R 90/08, BFHE 226, 267, BStBl.  II 2010, 394, m.w.N.)“69. Der BFH spricht hier vom Zusammenwirken von Exekutive und Legislative. Der „klassische“ Fall der späteren Praxis betrifft aber DBA-Auslegungen, an denen der Gesetzgeber gar keinen Anteil hat und die ausschließlich von den Verwaltungsbehörden beider Staaten geprägt sind. Eine interessante Überlegung findet sich bereits im BFH-Urteil vom 11. November 2009: „Aus Art. 15a Abs. 4 und Art. 26 Abs. 3 DBA-Schweiz 1992 ergibt sich indessen nur eine  – vom Zustimmungsgesetz nach Art.  59 Abs.  2 Satz  1 des Grundgesetzes (GG) abgedeckte – Ermächtigung zur Auslegung und Lückenfüllung, nicht aber zu einer inhaltlichen Änderung der Abkommensregelungen ([…]); hierzu bedürfte es vielmehr einer Ermächtigung i.S. des Art. 80 Abs. 1 GG ([…]). Dies gilt in gleicher Weise für die Berücksichtigung der Abkommenspraxis der Vertragsstaaten bei der Abkommensauslegung nach Art. 31 Abs. 3 Buchst. a des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (BGBl. II 1985, 927). Danach ist bei der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags neben dessen Zusammenhang in gleicher Weise jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen zu berücksichtigen. Eine spätere Übereinkunft der Vertragsparteien über die Auslegung eines Vertrags kann indessen nicht dazu führen, dass ein völkerrechtlicher Vertrag für das innerstaatliche Recht eine andere Bedeutung erhält, als dies dem Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG entspricht (Senatsurteile in BFHE 157, 39, BStBl. II 1990, 4; vom 10. Juli 1996 I R 4/96, BFHE 181, 158, BStBl. II 1997, 15). Nur darum 66 Ähnlich auch Kofler in Bendlinger/Kanduth-Kristen/Kofler/Rosenberger (Hrsg.), Internationales Steuerrecht, 2015, S. 391 (433); Lochmann, SWI 2017, 127 (127 f.). 67 Siehe hierzu Lang (Fn. 56), S. 120; Kopf in FS Loukota, 2005, S. 253 (257); Gardiner, Treaty Interpretation, 2008, S. 250 ff. 68 Siehe hierzu Gosch, ISR 2013, 87 (92); Lang, SWI 2015, 569 (571 f.). 69 BFH v. 20.8.2014 – I R 86/13, BStBl. II 2015, 18 Rz. 34; siehe hierzu auch Ismer/Baur, IStR 2014, 813 (821 f.).

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könnte es aber im Streitfall gehen“70. Der BFH deutet somit an, dass die spätere Praxis zwar für die Auslegung des Vertrags auf völkerrechtlicher Ebene, nicht aber für das innerstaatliche Recht Bedeutung erlangen kann. Eine derartige Argumentation, nach der der Inhalt des völkerrechtlichen Vertrages auf der völkerrechtlichen und der innerstaatlichen Ebene auseinanderfallen kann, wäre aber höchst problematisch. Schließlich wird der völkerrechtliche Vertrag mit dem ihm auf völkerrechtlicher Ebene zukommenden Inhalt Gegenstand des Zustimmungsgesetzes. Würde die Transformation in das deutsche Recht die nationalen Organe ermächtigen oder gar verpflichten, das DBA nicht mit seinem völkerrechtlichen Inhalt anzuwenden, wäre ein Treaty Override bereits im Transformationsakt angelegt. Im Urteil vom 10. Jänner 2012 zum DBA-Schweiz und in zahlreichen jüngeren Entscheidungen wird ein anderer Zugang des BFH deutlich: „Dem Umstand, dass die Steuerverwaltungen der beiden Abkommensstaaten offenbar bis in das Jahr 1995 hinein übereinstimmend in der Praxis der Vertragsdurchführung für die in Rede stehenden Tätigkeitsvergütungen in Deutschland ansässiger Binnenschiffer für Arbeit an Bord schweizerischer Binnenschiffe von einem alleinigen Besteuerungsrecht der Schweiz ausgegangen sind (s. aus deutscher Sicht z.B. OFD Karlsruhe, Verfügung vom 3. Juli 2000, Recht der Internationalen Wirtschaft 2000, 808 [‚geänderte Ver­ waltungsauffassung‘ anzuwenden frühestens ab Veranlagungszeitraum 1996]; aus schweizerischer Sicht EStV vom 19. Dezember 1975 und vom 11. November 1977, Locher/Meier/von Siebenthal/Kolb, a.a.O., Art. 15 Rz B 15.3 Nr. 2, 3; s.a. Kolb in Festschrift Wassermeyer, a.a.O., S. 757, 768), kommt für die Auslegung der Norm keine entscheidende Bedeutung zu. Denn die dieser Praxis zugrunde liegende Rechtsauffassung hat keinen ausreichenden Rückhalt im Abkommenswortlaut (Senatsurteil in BFHE 204, 102, BStBl. II 2004, 704). Eine übereinstimmende spätere Übung bei der Anwendung eines völkerrechtlichen Vertrages ist aber nur dann gemäß Art. 31 Abs. 3 Buchst.  b des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (BGBl. II 1985, 926) bei der Vertragsauslegung als gewichtiges Indiz zu berücksichtigen, wenn sie im Abkommenswortlaut einen ausreichenden Anhalt findet“71. Diese Entscheidung ist vom Bemühen getragen, völkerrechtliche und innerstaatliche Sicht in Einklang zu bringen und wiederum den Abkommenswortlaut als Grenze der Auslegung zu betrachten. Dies bedeutet aber, dass die übereinstimmende Praxis beider Staaten im Rahmen der Auslegung für eine andere Normhypothese den Ausschlag geben kann, sofern diese auch im Wortlaut der Vorschrift Deckung findet. Allerdings wird die übereinstimmende Praxis nicht das einzige und nicht einmal zwingend das wichtigste Argument sein, das bei der Auslegung zu berücksichtigen ist. Ziel und Zweck, Entstehungsgeschichte oder der Vorschriftenzusammenhang können auch – weiterhin – für ein anderes Ergebnis sprechen und es kommt dann auf die Überzeugungskraft der Argumente im konkreten Fall an, welche Auslegung zu präferieren ist. Die Auslegung, auf die die übereinstimmende Praxis hindeutet, 70 BFH v. 11.11.2009 – I R 15/09 (Fn. 6) Rz. 24 ff. 71 BFH v. 10.1.2012 – I R 36/11 Rz. 21; siehe hierzu auch v. 24.9.2013 – VI R 48/12 Rz. 19; v. 20.8.2014 – I R 86/13 (Fn. 69) Rz. 34; v. 10.6.2015 – I R 79/13 (Fn. 5) Rz. 24; v. 21.8.2015 – I R 63/13 Rz. 19; v. 25.11.2015 – I R 50/14, BStBl. II 2017, 247 Rz. 31.

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muss im Rahmen dieser Abwägung auch weiterhin nicht unbedingt den Sieg davontragen. Das Gewicht der einzelnen Argumente untereinander kann und wird sich aber vermutlich verschieben. Interessant ist, dass für den BFH zum Nachweis der übereinstimmenden Praxis bereits geringe Anforderungen reichen72. Er begnügt sich damit, auf deutscher Seite die Stellungnahme einer einzelnen OFD und auf der Seite des anderen Staates sogar Äußerungen von – immerhin der Finanzverwaltung nahestehenden – Fachautoren zu zitieren. Ob die DBA-Vorschrift tatsächlich flächendeckend so ausgelegt und angewendet wird, ist damit noch nicht erwiesen. Entscheidend ist die Handhabung durch die Finanzämter in beiden Staaten und gegebenenfalls sogar durch die Steuerpflichtigen73. Gerade in einem Rechtsgebiet wie dem Steuerrecht, wo nicht jede Steuererklärung von den Behörden im Detail daraufhin überprüft werden kann, auf Grundlage welcher Rechtsauffassungen sie erstellt wurde, ist ein solcher Nachweis äußert schwierig, wenn nicht unmöglich. Von der literarisch geäußerten Auffassung einzelner Spitzenrepräsentanten der Finanzverwaltungen ohne weiteres auf deren generelle Befolgung durch alle nachgeordneten Dienststellen zu schließen, ist allerdings wenig überzeugend. Möglicherweise hat sich der BFH aber mit den wenigen Hinweisen auf eine übereinstimmende Praxis auch deshalb begnügt, weil er ihr im Ergebnis in den von ihm entschiedenen Fällen im Regelfall ohnehin keine Bedeutung beimaß. Daher ist nicht auszuschließen, dass der BFH viel strengere Anforderungen für den Nachweis einer übereinstimmenden Praxis aufstellt, wenn er einmal die Auffassung, die in einer übereinstimmenden Praxis zum Ausdruck zu kommen scheint, vom Wortlaut der Abkommensvorschrift gedeckt sieht und daher bei der Auslegung berücksichtigt. Die im Ergebnis große Zurückhaltung, die der BFH anlegt, wenn es darum geht, der späteren Praxis rechtliche Bedeutung beizumessen, ist jedenfalls auch aus völkerrechtlicher Sicht gerechtfertigt: Art. 31 Abs. 3 WÜRV schließt eine materienspezifische Anwendung nicht aus und gerade in einem Rechtsgebiet wie dem Steuerrecht, das in vielen Staaten strengen rechtsstaatlichen Anforderungen unterliegt, macht eine restriktive Anwendung dieser Vorschrift Sinn. Dazu kommt, dass es einen Unterschied machen kann, ob aus einem völkerrechtlichen Vertrag nur die Staaten selbst verpflichtet werden, oder ob ein Vertrag wie im Falle der DBA zusätzlich bewirkt, dass auch in die Rechtsverhältnisse einer großen Zahl von Einzelnen eingegriffen wird74.

72 Siehe hierzu BFH v. 10.1.2012 – I R 36/11 Rz. 21. 73 Vgl. ausführlicher Lang, ÖStZ 2006, 203 (208). 74 Hierzu näher Lang in Gassner/Lang/Lechner (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen im Internationalen Steuerrecht, 1994, S. 11 (25 ff.); Lang, SWI 1995, 412 (413 f.); Lang, IStR 2001, 536 (537); Lang, ÖStZ 2006, 203 (208); Lang, IWB 2006, 549 (553 ff.); Lang, IWB 2011, 281 (283 ff.).

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Auslegung und Anwendung von DBA

2. Verständigungsvereinbarungen Ähnlich restriktiv ist der Zugang des BFH zu Verständigungsvereinbarungen: Dies zeigt sich im Urteil vom 27. August 2008: „Der Streitfall bietet keine Veranlassung, die in der mündlichen Verhandlung vom BMF aufgeworfene Frage zu erörtern, ob die genannte Vereinbarung und die ihr folgende Verwaltungspraxis die Auslegung des Abkommens und des Verhandlungsprotokolls durch die Gerichte binden können (vgl. dazu auch Senatsurteil vom 17. Oktober 2007 I R 5/06, BFHE 219, 518, m.w.N.). Denn unabhängig davon kann ein übereinstimmendes Verständnis seitens der Vertragsstaaten für die gerichtliche Entscheidung zumindest insoweit bedeutsam sein, als sie ein aus anderen Umständen abgeleitetes Auslegungsergebnis bestätigen kann (vgl. dazu schon Senatsurteil in BFHE 207, 452 [455]). Diese Wirkung kommt der zitierten Vereinbarung und der ihr folgenden tatsächlichen Übung im Streitfall zu“75. Der BFH hat der Vereinbarung somit nur deshalb Bedeutung beigemessen, weil sie ein bereits anderweitig gewonnenes Auslegungsergebnis bestätigt hat76. Dieselbe Zurückhaltung findet sich auch im Urteil des BFH vom 11. November 2009: „Entgegen der Auffassung des FA kommt Verständigungsvereinbarungen keine unmittelbare Gesetzeskraft zu. Verständigungsvereinbarungen können zwar als Auslegungshilfe insoweit bedeutsam sein, als sie ein aus anderen Umständen abgeleitetes Auslegungsergebnis bestätigen ([…]). Eine solche Situation liegt aber im Streitfall nicht vor, da die Verständigungsvereinbarung in Tz.  14 des BMF-Schreibens in BStBl. I 1994, 683 einerseits vom Wortlaut des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1992 nicht gefordert wird und andererseits dem gedanklichen Hintergrund dieser Regelung widerstreitet. Die Bindung der Gerichte an die Verständigungsvereinbarung lässt sich auch nicht aus Art. 15a Abs. 4 und Art. 26 Abs. 3 DBA-Schweiz 1992 herleiten. Danach können die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten Verständigungsvereinbarungen über die weiteren Einzelheiten sowie die verfahrensmäßigen Voraussetzungen für die Anwendung der Grenzgängerregelung bzw. zur Beseitigung von Schwierigkeiten und Zweifeln bei der Anwendung des Abkommens treffen. Aus Art. 15a Abs. 4 und Art. 26 Abs. 3 DBA-Schweiz 1992 ergibt sich indessen nur eine – vom Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) abgedeckte – Ermächtigung zur Auslegung und Lückenfüllung, nicht aber zu einer inhaltlichen Änderung der Abkommensregelungen ([…]); hierzu bedürfte es vielmehr einer Ermächtigung i.S. des Art. 80 Abs. 1 GG ([…])“77. Interessant ist, dass für den BFH bedeutsam ist, ob die in der Verständigungsvereinbarung vertretene Auslegung vom Wortlaut der Vorschrift „gefordert“ wird. Dies lässt auf einen strengen Maßstab schließen. Zusätzlich erwähnt der BFH, dass auch andere Argumente gegen die von ihm abgelehnte Auslegung sprechen. Im Urteil vom 12. Oktober 2011 wählt der BFH schließlich folgende Begründung: „Zwar ist es  – worauf die Revision zutreffend hinweist  – nicht ausgeschlossen, die Abkommenspraxis der Vertragsstaaten, wie sie in einer Verständigungsvereinbarung 75 BFH v. 27.8.2008 – I R 10/07, BStBl. II 2009, 94 Rz. 21. 76 Siehe auch Gosch, ISR 2013, 87 (92 f.). 77 BFH v. 11.11.2009 – I R 15/09 (Fn. 6) Rz. 24 f.

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Michael Lang

zum Ausdruck kommt, bei der Abkommensauslegung zu berücksichtigen (Grundsatz der Entscheidungsharmonie; […]). In Einklang damit stehen die Grundsätze zur Auslegung von Verträgen nach Art. 31 [WÜRV]: Ein Vertrag ist danach nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seiner Bestimmung in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Außer dem bei der Auslegung zu berücksichtigenden und in Art.  31 Abs.  2 WÜRV näher beschriebenen systematischen Zusammenhang sind nach Art. 31 Abs. 3 WÜRV in gleicher Weise zu berücksichtigen: a) jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrages oder die Anwendung seiner Bestimmungen sowie b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrages, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht. Damit können ein übereinstimmendes Abkommensverständnis und eine gemeinsame Übung der beteiligten Finanzverwaltungen für eine Abkommensauslegung bedeutsam sein, das aber immer nur insofern, als sie sich aus dem Wortlaut des Abkommens ableiten lassen. Der Abkommenswortlaut stellt in abschließender Weise die ‚Grenzmarke‘ für das ‚richtige‘ Abkommensverständnis dar ([…])“78. Hier fällt auf, dass der BFH nicht mehr verlangt, dass die in der Verständigungsvereinbarung vertretene Auffassung vom Wortlaut „gefordert“ sei, sondern dass sie sich – lediglich – aus ihm „ableiten lassen“ müsse. Im Urteil vom 10. Juni 2015 wählt der BFH schließlich folgende Formulierungen: „Der Senat misst einer derartigen zwischenstaatlichen Konsultationsvereinbarung – in Einklang mit den Grundsätzen zur Auslegung von Verträgen nach Art.  31 [WÜRV] – zwar Bedeutung für die Auslegung der Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung bei. Er hat jedoch wiederholt klar zum Ausdruck gebracht, dass die ‚Grenzmarke‘ für das richtige Abkommensverständnis immer nur der Abkommenswortlaut sein kann. Wird das in der Konsultationsvereinbarung gefundene Abkommensverständnis durch den Wortlaut nicht gedeckt, kann die Vereinbarung die Abkommensauslegung durch die Gerichte nicht beeinflussen oder die Gerichte gar binden. Auch daran ist uneingeschränkt festzuhalten und auf das zitierte Urteil in BFHE 226, 276, BStBl. II 2010, 387 ist deswegen zu verweisen“79. Der BFH scheint hier einen kleinen Schritt weiter zu gehen und nur noch zu verlangen, dass die in der Vereinbarung vertretene Auffassung von Abkommenswortlaut „gedeckt“ ist. Auch aus diesem Urteil ist aber nicht abzuleiten, dass einer solchen vom Wortlaut gedeckten Auffassung automatisch der Vorzug zu geben ist: Der BFH sieht die Möglichkeit der Bindung an eine solche Auffassung nur als Extrem an (arg „gar“), und geht offenbar davon aus, dass diese Auffassung die Gerichte „beeinflussen“ kann, also – bloß – neben anderen Argumenten bei der Auslegung auch zu berücksichtigen ist. Im Urteil vom 10. Juni 2015 hat der BFH jedenfalls deutlich gemacht, dass er sich durch die Neufassung des § 2 Abs. 2 Satz 1 AO nicht in seinen Befugnissen eingeschränkt sieht: „Der Abkommenstext belässt aus den  […] beschriebenen Gründen für die Frage der Besteuerungszuordnung von Abfindungen an ehemals nichtselbständig tätige Arbeitnehmer keine Spielräume. Und daran ändert auch das in §  2 78 BFH v. 12.10.2011 – I R 15/11 (Fn. 4) Rz. 16. 79 BFH v. 10.6.2015 – I R 79/13 (Fn. 5) Rz. 16.

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Auslegung und Anwendung von DBA

Abs.  2 Satz  1 AO  n.F. qualifizierte zusätzliche Ermächtigungsziel nichts, doppelte Nichtbesteuerungen zu vermeiden. Das mag  – in Einklang mit ‚neuerem Abkommensdenken‘ der OECD – das eine oder andere neuere Doppelbesteuerungsabkommen bezwecken, und das findet sich jetzt denn auch in der (ministeriellen) ‚Verhandlungsgrundlage für Doppelbesteuerungsabkommen im Bereich der Steuern vom Einkommen und Vermögen‘, BMF-Schreiben vom 17. April 2013, Stand: 22. August 2013 (abgedruckt in IStR, Beihefter  10/2013 unter II. und berichtigt in IStR 2013, 440) wieder. Dieser Paradigmenwechsel aber hat im DBA-Schweiz 1971, das allein die Freistellungsmethode anwendet und damit vorbehaltlos auf eine virtuelle Doppelbesteuerung abhebt (ständige Spruchpraxis, deutlich z.B. Senatsurteil vom 24. August 2011 I R 46/10, BFHE 234, 339, BStBl. II 2014, 764), (noch) keinen Niederschlag gefunden. Durch §  24 Abs.  1 KonsVerCHEV wird indessen genau das sinn- und zweckverändert. Der Regelung käme der Charakter einer Rückfallklausel zu, die im Abkommen nicht angelegt ist, diesem vielmehr widerspricht (Lehner, IStR 2011, 733, 736, dort auch spezifisch für die Situation der Abfindungszahlung an ehemalige Arbeitnehmer). § 2 Abs. 2 AO n.F. ermächtigt jedoch nicht zu Ergänzungen vereinbarter Abkommen; hierzu bedarf es vielmehr der abermaligen Zustimmung des nationalen Parlaments (Lehner, IStR 2011, 733, 735). Solange diese Zustimmung fehlt, bleibt ‚die Grenzziehung zwischen Auslegung und einer an den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG scheiternden Lückenschließung (…)‘, darin ist Lehner (IStR 2011, 733, 739) uneingeschränkt beizupflichten, ‚Aufgabe der Judikative‘“80. 3. OECD-„Verlautbarungen“ In der internationalen Steuerpolitik haben die – um in der vom BFH mitunter gewählten Terminologie zu bleiben – „Verlautbarungen“ der OECD große Bedeutung81. Dazu gehören Kommentierungen zum OECD-MA ebenso wie verschiedene „Reports“. Sie erheben den Anspruch, auch auf die Auslegung von zuvor veröffentlichten Fassungen des OECD-MA und auch bereits auf dieser Grundlage abgeschlossene DBA zurückzuwirken. Die Haltung des BFH dazu ist klar ablehnend: Im Urteil vom 16. Jänner 2014 fasste der Gerichtshof seine Position knapp zusammen: „Es widerspricht  […] der stän­ digen, der überwiegenden Schrifttumsmeinung folgenden Spruchpraxis des Senats, einer späteren (Weiter-)Entwicklung einschlägiger OECD-Verlautbarungen streitentscheidende Bedeutung für die Auslegung eines bereits zuvor verhandelten Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung beizumessen; es gilt insofern ein sog. statischer, kein sog. dynamischer Auslegungsmodus (z.B. Senatsurteile vom 9. Februar 2011 I R 54, 55/10, BFHE 232, 476, BStBl. II 2012, 106; vom 25. Mai 2011 I R 95/10, BFHE 234, 63; vom 8. Dezember 2010 I R 92/09, BFHE 232, 137, BStBl. II 80 BFH v. 10.6.2015 – I R 79/13 (Fn. 5) Rz. 21. 81 Hierzu BFH v. 16.1.2014 – I R 30/12, BStBl. II 2014, 721 Rz. 5, 19 und 20; v. 10.6.2015 – I R 79/13 (Fn.  5) Rz.  24; v. 25.11.2015  – I R 50/14 (Fn.  71) Rz.  31; v. 21.8.2015  – I R 63/13 Rz. 13.

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Michael Lang

2011, 488; vom 23. September 2008 I R 57/07, BFH/NV 2009, 390; Senatsbeschluss vom 19. Mai 2010 I B 191/09, BFHE 229, 322, BStBl. II 2011, 156, jeweils m.w.N.)“82. Im erwähnten Urteil vom 16. Jänner 2014 hat der BFH seine Position wie folgt mit Art. 31 WÜRV in Einklang gesehen: „Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge widerstreitet dem nicht. Dessen Art.  31 Abs.  3 Buchst.  a misst zwar durchaus jeder ‚späteren Übereinkunft‘ zwischen den Vertragsparteien und ‚jeder zwischenstaatlichen Übung‘ maßgebende Auslegungsrelevanz bei. Doch werden zwischenstaatliche Verwaltungsübungen nicht durch den OECDMustKomm reflektiert. Es handelt sich lediglich um das Meinungsbild der beteiligten Fisci, nicht um irgendwelche ‚Übungen‘ der DBA-Vertragsstaaten. Für die Judikative kommt es sonach allein auf den Abkommenstext und -zusammenhang an ([…])“83. Dem BFH ist beizupflichten, dass die bloße Aufnahme einer Auffassung in den OECD-Kommentar dadurch nicht automatisch Ausdruck einer Übung wird. Ebenso geht der Gerichtshof – durchaus berechtigt – offenbar implizit davon aus, dass der OECD-Kommentar auch keine Vereinbarung zwischen den Verwaltungsbehörden ist, die nach Art.  31 Abs. 3 lit b WÜRV Bedeutung haben könnte. Im Urteil vom 25. November 2015 betont der BFH zwar ebenfalls, dass Art. 14 Abs. 1 DBA-USA 1989 „in seiner Interpretation als abkommensrechtlicher Vorschrift einer statischen und keiner dynamischen Auslegung unterworfen“ ist84. In weiterer Folge behandelt er aber die spätere Praxis und Verlautbarungen der OECD in einem Atemzug: „Eine etwaige Verwaltungspraxis, welche sich bei dem einen oder dem anderen Vertragsstaat oder in beiden Vertragsstaaten erst nach Inkrafttreten eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung bildet, kann auf die Auslegung des Abkommens deswegen prinzipiell ebenso wenig zurückwirken, wie Verlautbarungen der OECD in Richtung eines ‚Betriebsstättenmodells‘. Ausschlaggebend ist vielmehr stets der Abkommenswortlaut, und dieser ordnet im Fall des Art.  14 Abs.  1 DBAUSA 1989 eine individualistische Sichtweise an, und das unbeschadet dessen, ob es um einen Einzelpraktizierenden geht oder ob die Tätigkeit, wie im Streitfall, im Rahmen einer Personengesellschaft erfolgt“85. Im konkreten Fall macht es für das Ergebnis keinen Unterschied, weil der BFH die in den „Verlautbarungen“ der OECD zum Ausdruck kommende Auffassung nicht vom Abkommenswortlaut gedeckt sieht. Allerdings könnte sich angesichts dieser Begründungslinie schon die Frage stellen, ob der BFH gewillt wäre, spätere Auffassungen der OECD zu berücksichtigen, wenn sie sich innerhalb der Wortlautgrenze bewegten. Im Hinblick auf den „Partnership-Report“ der OECD lässt der BFH jedenfalls keinen Zweifel offen, dass er ihn für die Auslegung früherer DBA als unzulässig erachtet: „Zu berücksichtigen bleibt überdies, dass die Empfehlungen der OECD, wie sie sich im sog. Partnership Report niederschlagen, lediglich eine Hilfe für die Abkommensauslegung darstellen und so gesehen frühestens ab der entsprechenden Neufassung 82 BFH v. 16.1.2014 – I R 30/12 (Fn. 81) Rz. 19. 83 BFH v. 16.1.2014 – I R 30/12 (Fn. 81) Rz. 19; siehe hierzu auch Gosch, ISR 2013, 87 (87 f.). 84 BFH v. 25.11.2015 – I R 50/14 (Fn. 71) Rz. 31. 85 BFH v. 25.11.2015 – I R 50/14 (Fn. 71) Rz. 31.

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Auslegung und Anwendung von DBA

des OECD-Musterkommentars im Jahre 2000 (s. dort Art. 23A Nr. 32.3 ff.) beachtenswert sein können. Dies gilt aber nicht für seinerzeit schon bestehende Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, wie auch im Streitfall bei dem – bereits am 27. Oktober 1979 in Kraft getretenen (vgl. Art.  29 Abs.  2 DBA-Ungarn, BGBl. II 1979, 1031) – DBA-Ungarn; den Willen der Vertragsparteien jener Abkommen können die neueren Kommentierungen der OECD nicht widerspiegeln ([…])“86. Interessant ist, dass der BFH die im OECD-Partnership-Report enthaltenen Aussagen nicht bereits für ab dem Zeitpunkt seiner Veröffentlichung abgeschlossene DBA für „beachtenswert“ hält, sondern erst ab der „entsprechenden Neufassung des OECD-Musterkommentars im Jahre 2000“87. Damit bringt der BFH zum Ausdruck, dass Auffassungen, die sich bloß in einem der Reports der OECD finden, für ihn überhaupt nicht relevant sind. Erst dann, wenn sie in den Kommentar zum OECDMA Eingang gefunden haben, können sie für Auslegungszwecke berücksichtigt werden. Dass eine zum Zeitpunkt des DBA-Abschlusses vorliegende Fassung des OECD-­ Kommentars bei der Auslegung von Bedeutung sein kann, entspricht der ständigen Rechtsprechung des BFH: In seinem Urteil vom 22. Juni 2011 sieht er „sich in der genannten Deutung zudem durch den Kommentar der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) zum OECD-Musterabkommen (OECD-­ MustKomm) bestätigt. Das heute und auch im Streitjahr geltende OECD-Musterabkommen (OECD-MustAbk) enthält zwar  – im Gegensatz zu seinem aus dem Jahr 1963 stammenden Vorgänger – keine Bezugnahme auf „andere Einkünfte“, die nach dem Recht des Quellenstaats den Einkünften aus Darlehen gleichgestellt sind. Dazu heißt es aber im OECD-Musterkommentar, dass ein zweiseitiges Abkommen um eine entsprechende Passage erweitert werden könne und dass dadurch Einkünfte einbezogen werden könnten, die einerseits nach dem innerstaatlichen Recht eines der Vertragsstaaten wie Zinsen besteuert werden und andererseits nicht von der im OECD-Musterabkommen enthaltenen Definition gedeckt sind (OECD-MustKomm, Nr. 21 zu Art. 11). Der OECD-Musterkommentar geht mithin erklärtermaßen davon aus, dass eine solche zusätzliche Passage eine Erweiterung, nicht aber eine Einschränkung der im OECD-Musterkommentar enthaltenen Zinsdefinition beinhaltet (ebenso zum DBA-Brasilien Krabbe in Debatin/Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 11 Brasilien Rz 16). Damit wäre eine Deutung, die einen entsprechenden Hinweis auf das Steuerrecht des Quellenstaats (auch) auf die – im OECD-Musterabkommen vorbehaltlos genannten – Einkünfte aus Schuldverschreibungen oder aus Forderungen beziehen würde, nicht vereinbar“88. Die in diesem Urteil gewählte Formulierung ist nicht untypisch: Der BFH sieht sich in seiner Auffassung durch die OECD-Musterkommentierung „bestätigt“, zieht sie aber nicht als einzige Begründung seiner Entscheidung heran. Die Annahme, dass den Vertragsstaaten zuzusinnen ist, bei der Übernahme einer Regelung aus dem OECD-MA auch deren in der OECD-Kom86 BFH v. 25.5.2011 – I R 95/10 (Fn. 58) Rz. 19; siehe hierzu auch OECD-Musterabkommen, 2000, Art. 23A, Nr. 32.3 ff. 87 BFH v. 25.5.2011 – I R 95/10 (Fn. 58) Rz. 19. 88 BFH v. 22.6.2011 – I R 103/10, BStBl. II 2012, 115 Rz. 16.

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Michael Lang

mentierung zum damaligen Zeitpunkt zum Ausdruck kommendes Verständnis vor Augen gehabt zu haben, ist jedenfalls berechtigt89. Kritischer ist vor diesem Hintergrund die im Urteil vom 12. Oktober 2011 zu Art. 13 Abs. 4 Nr. 1 DBA-Frankreich gewählte Begründung zu beurteilen. Der BFH ergänzt seine aus dem englisch- und französischsprachigen Wortlaut des Musterabkommens durchaus überzeugend gewonnene Argumentation durch folgender Bemerkung: „Dieses Verständnis erschließt sich auch aus Nr. 5 des Kommentars zum OECDMust­ AbK zu Art. 15, die in zeitlicher Nähe zum Abschluss des deutsch-französischen Zusatzabkommens (am 23. Juli 1992) in den Kommentar eingefügt wurde“90. Angesichts des Umstands, dass das Zusatzabkommen bereits 1990 im BGBl. kundgemacht wurde91, ist fraglich, auf welcher Grundlage der später veröffentlichte OECD-Kommentar zu berücksichtigen ist, auch wenn die entsprechende Passage „in zeitlicher Nähe zum Abschluss des Zusatzabkommens“ in den OECD-Kommentar eingefügt wurde92. Dieses Urteil bleibt aber im Vergleich zur sonst konsequenten Linie des BFH die Ausnahme.

V. Zusammenfassende Würdigung Die Rechtsprechung des BFH zum DBA-Recht ist von klaren Begründungslinien gekennzeichnet. An Details mag man Kritik üben. Im Großen und Ganzen hat es der BFH aber geschafft, die Herausforderungen der letzten Jahre und Jahrzehnte zu bewältigen: Insbesondere im Schoße der OECD wurden eine große Fülle von „Verlautbarungen“ verschiedenster Art produziert, die den Anspruch erhoben, auch auf den Inhalt auch schon früher abgeschlossener DBA zu wirken. Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltentrennung sind dadurch gefordert. Dem BFH ist es gelungen, dieser Entwicklungen Herr zu werden. Er hat deutlich gemacht, solche „Rückwirkungen“ – wenn überhaupt  – nur unter äußerst restriktiven Voraussetzungen zu akzeptieren. Die Rechtsprechung des BFH ist dabei erkennbar von auch im deutschen Verfassungsrecht wurzelnden rechtsstaatlichen Postulaten getragen, ohne dass sie deshalb den völkerrechtlichen Charakter der DBA ignoriert hätte. Lediglich einzelne Entscheidungen leiden darunter, dass sie die Bemühungen, aus dem Zusammenhang des Abkommens – „abkommensautonom“ – zu einem Auslegungsergebnis zu gelangen, frühzeitig abbrechen und die Art. 3 Abs. 2 OECD-MA entsprechende Auslegungsvorschrift zum Vorwand nehmen, vorschnell das nationale Recht zur Bestimmung von Abkommensbegriffen heranzuziehen. Diese Vorgangsweise nimmt den DBA ihre Chance, in beiden Vertragsstaaten übereinstimmend ausgelegt zu werden und 89 Näher Lang (Fn. 74), S. 11 ff.; Lang, SWI 1995, 412 (413 ff.); Lang (Fn. 56), S. 122 ff.; Lang in Grotherr (Hrsg.), Handbuch der internationalen Steuerplanung, 2000, S. 1865 (1868 ff.); Lang, IStR 2001, 536 (537 ff.); Lang, ÖStZ 2006, 203 (206 ff.); Lang, IStR 2007, 606 (606 f.); Brugger/Lang, Australian Tax Forum 2008, 95 (97  ff.); Lang in FS Djanani, 2008, S.  495 (499 f.); Lang, IWB 2011, 281 (287 ff.). 90 BFH v. 12.10.2011 – I R 15/11 (Fn. 4) Rz. 14. 91 BGBl. II 1990, 771; siehe hierzu auch BStBl. I 1990, 414. 92 Siehe hierzu OECD-Musterkommentar, 1992, Art. 15, Nr. 5.

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Auslegung und Anwendung von DBA

dadurch noch größere Wirkung zu entfalten. In solchen Fällen hätte sich der BFH noch stärker auf die völkerrechtlichen Wurzeln der DBA besinnen können. Einzig größerer Kritikpunkt ist allerdings die im Zentrum der Rechtsprechung des BFH zu den DBA stehende Wortlautgrenze: Auslegung ist kein mechanischer Vorgang, sodass die Berücksichtigung von Ziel und Zweck, des Zusammenhangs, der Entstehungsgeschichte und auch des Wortlauts ineinander fließen. Der Wortlaut erhellt sich oft erst im Lichte der anderen bei der Auslegung zu beachtenden Aspekte. Dementsprechend wenig konturiert sind auch seine vermeintlichen Grenzen. Wenn der BFH in Zukunft in seiner Rechtsprechung stärker auch die nichtdeutschsprachigen authentischen Fassungen der Abkommenstexte oder zumindest die englischund französischsprachigen Fassungen des OECD-MA berücksichtigt  – und da besteht durchaus noch Potential –, wird die Wortlautgrenze noch mehr verschwimmen. Eine DBA-Auslegung, die beispielsweise die spätere Praxis oder jüngere OECD-Verlautbarungen bereits dann berücksichtigt, wenn sie bloß vom Abkommenswortlaut gedeckt sind, droht uferlos zu werden oder wird zu willkürlich anmutenden Festlegungen gezwungen sein. Trotz dieser Kritik: Die Qualität der Rechtsprechung des BFH zum DBA-Recht beeindruckt. Der BFH hat im Vergleich zu steuerlichen Höchstgerichten anderer Staaten den Vorteil, dass seine Rechtsprechung von Wissenschaft und Praxis im Fachschrifttum umfassend kritisch begleitet wird. Der BFH zögert nicht, sich diese Kritik zunutze zu machen und Begründungslinien zu überprüfen, besser argumentativ abzusichern oder gegebenenfalls auch zu revidieren. Sichtbares Zeichen dafür ist auch, dass der BFH regelmäßig die Auffassungen im Schrifttum, die seine jeweilige Auffassung stützen und ihr entgegenstehen, zitiert. Das ist international nicht selbstverständlich. Der BFH unterscheidet sich auch wohltuend von anderen Gerichten – wie insbesondere dem EuGH –, indem er nicht zögert ausdrücklich einzuräumen, wenn er an einer früheren Rechtsprechung nicht mehr festhält. Damit ist für die Praxis auch klar, an welchen seiner Aussagen sie sich jeweils orientieren kann. Für die Akzeptanz seiner Rechtsprechung ist auch förderlich, dass sich seine Richter  – und ­zuvorderst die Vorsitzenden Richter des primär maßgebenden I.  Senats  – in lang­ jähriger Tradition der öffentlichen Diskussion stellen und ihre Entscheidungen in Fachveranstaltungen, aber auch im Fachschrifttum erläutern und gegebenenfalls verteidigen. Der daraus erwachsende Diskurs steigert das Niveau der fachlichen Auseinandersetzung und hat daher unschätzbare Vorteile gegenüber der Kultur in anderen Rechtskreisen, für die oft kennzeichnend ist, dass sich Richter bei der Diskussion von Entscheidungen, an denen sie mitgewirkt haben, noble Zurückhaltung auferlegen.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … D. II. 4.

Zusammenspiel von Völkerrecht und nationalem Recht Von Moris Lehner

Inhaltsübersicht I. Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen II. Erste Entwicklungen III. Die prägende Rechtsprechung des RFH zur Beschränkungsfunktion von Doppelbesteuerungsabkommen IV. Ausgewählte Problembereiche im Fokus der Beschränkungswirkungen 1. Konsensfindung durch übereinstimmende Auslegung der Beschränkungs­ wirkungen 2. Das Verbot der virtuellen Doppel­ besteuerung und die Problematik der Doppelnichtbesteuerung

a) Materiellrechtliche Vorgaben b) Verfahrensrechtliche Lösungs­ansätze 3. Treaty Override als Grenze des Zusammenspiels von Abkommensrecht und innerstaatlichem Steuerrecht a) Unterscheidung von der abkommensrechtlichen Beschränkungsfunktion b) Die Vorlagebeschlüsse des BFH c) Verfassungsgerichtliche Klärung V. Unionsrechtliche Vorgaben – Steuerrechtsprechung durch den EuGH VI. Zusammenfassung und Ausblick

Das Zusammenspiel von Völkerrecht und nationalem Recht wird im modernen steuerrechtlichen Schrifttum als Internationales Steuerrecht behandelt1. Dieser funktional gegenstandsbezogene Begriff löst die Bezeichnung Internationales Finanzrecht ab, die ihren Ursprung im 19. Jahrhundert hat2. Beide Begriffe beziehen sich primär auf das Recht der Doppelbesteuerungsabkommen, das auch im Mittelpunkt dieses Beitrags steht. Bereits von ihrem Geltungsgrund unterscheiden sich die auf völkervertraglichem Konsens beruhenden Doppelbesteuerungsabkommen als „Internationales Steuerrecht im engeren Sinn“ von den auf grenzüberschreitende Sachverhalte anwendbaren Normen des originär innerstaatlichen Steuerrechts, die als „Internatio-

1 Bühler, Prinzipien des internationalen Steuerrechts, 1964, S. 1 ff.; Vogel, DStZ 1997, 269. 2 Spitaler, Das Doppelbesteuerungsproblem, 2. Aufl. 1967, Abdruck der 1. Aufl. 1936, S. 548 ff.; Lippert, Handbuch des Internationalen Finanzrechts, 2. Aufl. 1928, S. 1 ff.

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nales Steuerrecht im weiteren Sinn“ bezeichnet werden3. Die Rechtsprechung des RFH und die des BFH verzichtet auf die Verwendung dieser Ordnungsbegriffe.

I. Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen Die völkerrechtsbezogene Steuerrechtsprechung beginnt in einer Zeit, in der das Verhältnis zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht durch ein „uneinheitliches Hin- und Herschwanken zwischen monistischen und dualistischen Auffassungen“4 geprägt war5. In Abkehr von der monistischen Sicht sind Völkerrecht und innerstaatliches Recht nach heute h.M.6 und Rspr.7 jedenfalls nicht als eine Rechtsordnung zu begreifen, vielmehr handelt es sich um ein dualistisches „Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise“, wobei die Natur dieses Verhältnisses aus der Sicht des nationalen Rechts nur durch dieses bestimmt werden kann8. Entscheidend ist aber, dass beide Theorien eine Umsetzung der völkerrechtlichen Normen in das innerstaatliche Recht verlangen9. Nach monistischer Theorie ist dies ein Adoptions- bzw. Vollzugsakt, mit dem die völkerrechtliche Norm, die ihren Rechtscharakter als Völkerrecht behält, in den staatlichen Rechtsraum einbezogen wird10. Anders dagegen die dualistische Theorie, die den Transformationsakt als Umsetzung der völkerrechtlichen Norm in das innerstaatliche Recht versteht11. Dies geschieht auf dem Boden des Grundgesetzes für die Allgemeinen Regeln des Völkerrechts durch Art. 25 GG und für völkerrechtliche Verträge, also auch für Doppelbesteuerungsabkommen, durch 3 Zu dieser begrifflichen Unterscheidung Bühler (Fn. 1), S. 1 ff. und die Nachw. bei Lehner in Vogel/Lehner, 6. Aufl. 2015, Grundlagen Rz. 2 ff.; zum Internationalen Steuerrecht im weiteren Sinn gehören vor allem die Vorschriften über die unbeschränkte und die beschränkte Steuerpflicht sowie das Außensteuergesetz; in Grenzen auch das Umsatzsteuergesetz, soweit es auf grenzüberschreitende Sachverhalte anwendbar ist. 4 Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, unveränderter Neudruck (1960) der 2. Aufl. von 1928, S. 120; zu weiterer Kritik: Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 333 ff. 5 Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts (Fn. 4); zu weiterer Kritik: Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 4); während das Völkerrecht und das innerstaatliche Recht nach vielfältig modifizierter monistischer Sicht eine umfassende Rechtsordnung bilden, geht die ebenso vielfältig modifizierte dualistische Theorie nach der berühmten Kennzeichnung von Heinrich Triepel (Völkerrecht und Landesrecht, 1899, S. 111) davon aus, dass Völkerrecht und Landesrecht „zwei verschiedene Rechtsordnungen“ sind, „zwei Kreise, die sich höchstens berühren, niemals schneiden“. Grundlegend zu den Unterschieden aus der damaligen Zeit: Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, 1933, S. 11 ff. (Dualismus); S. 64 ff. (Monismus). 6 Vöneky, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge, in HStR, Bd.  XI, 3.  Aufl. 2013, § 236 Rz. 9 ff.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 6. Aufl. 2013, S. 16. 7 Vgl. die Nachw. in Fn. 46. 8 BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, BVerfGE 11, 307 (318). 9 Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967, S. 152 ff. 10 Rudolf (Fn. 9), S. 154 ff., 164 ff. 11 Rudolf (Fn. 9), S. 158 ff.; Geiger (Fn. 6), S. 140 ff.; aus der damaligen Zeit: Walz (Fn. 5), S. 369 ff.

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das Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG. Vergleichbare Normen enthielt bereits die Weimarer Reichsverfassung12 in Art. 4 für die Allgemeinen Regeln des Völkerrechts13 und in Art. 45 Abs. 2 für völkerrechtliche Verträge14.

II. Erste Entwicklungen Soweit ersichtlich, erging die erste abkommensrechtliche Entscheidung des RFH am 8.8.1928 zum DBA Deutschland-Italien15, dem zugleich ersten, im Jahre 1925 abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen des Deutschen Reiches16. Von besonderer Bedeutung für die damalige Entwicklung des Abkommensrechts17 sind die grundlegenden Abkommensentwürfe des 1928 gegründeten Völkerbundes18, auf die sich der RFH und der Reichsminister der Finanzen in zwei wichtigen Entscheidungen zur Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen aus den Jahren 193019 und 193320 beziehen. Im engen Zusammenhang mit den Arbeiten des Völkerbundes ist aber auch über bedeutende Beiträge von Herbert Dorn21 zu berichten. Im Rang eines Ministerialdirektors im Reichsfinanzministerium gehörte Dorn als einziger Deutscher im Finanzausschuss des Völkerbundes zu den Experten, die in den Jahren zwischen 1926 und 1928 Muster für den Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen ausgearbeitet haben. In den Folgejahren war er maßgeblich für die Ausgestaltung der deutschen Doppelbesteuerungsabkommen verantwortlich22. Einige Jahre nach seiner Ernennung zum Honorarprofessor an der Handelshochschule Berlin im Jahre 192723 wurde Herbert Dorn mit Wirkung zum 22. Januar 1931 nach Gustav Jahn der zweite 12 Dazu Anschütz/Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd.  II, 1932, S.  324; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Nachdruck (1960) der 14. Aufl. 1933, Art. 45 WRV Rz. 9; Anschütz/Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 493; Poezsch-Heffter, Handkommentar der Reichsverfassung, 3.  Aufl. 1928, Art.  45 WRV, Anm. III. 15; Walz (Fn. 5), S. 369 ff.; Art. 4 des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich (sog. Ermächtigungsgesetz) verzichtet auf die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften. Die Reichsregierung erlässt die für die Durchführung erforderlichen Vorschriften (vgl. dazu Vöneky (Fn. 6), Rz. 12). 13 Art. 4 WRV: Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bindende Bestandteile des deutschen Rechts. 14 Art. 45 Abs. 2 WRV: Bündnisse und Verträge mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung des Reichstages. 15 RFH v. 8.6.1928 – I A 472/27, RFHE 24, 69; vgl. zur Entwicklung Menck, DStZ A 1970, 263 ff. 16 RGBl. II 1925, 1145. 17 Vgl. Spitaler (Fn. 2), S. 1 ff. und die weiteren Nachw. bei Lehner (Fn. 3), Rz. 32 ff. 18 Das Deutsche Reich war allerdings bereits im Oktober 1933 mit Wirkung ab 1935 aus dem Völkerbund ausgetreten. Dazu Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd.  3, 1962, S. 600. 19 RFH v. 12.11.1930 – VI A 726/28, RStBl. 1931, 234 (235). 20 RFH v. 25.4.1933 – VI A 988/31; 1252/31, RStBl. 1934, 417 (419). 21 Zu ihm umfassend: Bräunig, Herbert Dorn (1887–1957), 2015. 22 Bräunig (Fn. 21), S. 176 ff. 233 ff. 23 Bräunig (Fn. 21), S. 265.

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Präsident des RFH24. Am 12. Dezember 1933 wurde Dorn wegen seiner jüdischen Abstammung im Alter von 46 Jahren beurlaubt und am 1. April 1934 in den Ruhestand versetzt25. Dennoch beruft sich der RFH noch in einer Entscheidung aus dem Jahre 1935 zur Begründung einer Auslegungsfrage im Wege einer authentischen Auslegung26 auf Herbert Dorn, indem er feststellt, dass „diese Äußerung von Dorn […] von umso größerem Gewicht [ist], als Dorn für das Deutsche Reich die Doppelbesteuerungsabkommen in erster Linie bearbeitet hat“27. Bemerkenswert ist im Hinblick auf den Zeitpunkt seiner Entlassung auch, dass Herbert Dorn in eben dieser Entscheidung des Jahres 193528 auch mit dem grundlegenden Begriff „Aufteilung der Steuerquellen“ zitiert wird. Im Jahre 1939 hat Dorn nach Entrichtung der ihm auferlegten Reichsfluchtsteuer29 Deutschland verlassen30. Die auch von Dorn stark geprägte Arbeit des Völkerbundes war Grundlage für die Musterabkommen, die von der OECD, beginnend mit der Fassung des Jahres 1968, verabschiedet wurden31. Auf die in diesen Musterabkommen vorgeschlagenen Anleitungen für die Auslegung und Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen bezieht sich der BFH in ständiger Rechtsprechung32. Dabei stellt er sehr differenziert auf zeitliche Relationen zwischen der Fassung eines Doppelbesteuerungsabkommens und der für den entsprechenden Geltungszeitraum verabschiedeten Fassung des OECD-Musterabkommens bzw. Musterkommentars ab33. Eine deutsche „Verhandlungsgrundlage“ wurde im Frühjahr 2013 vorgestellt34. Sie wird bereits vom BFH zitiert35.

24 Bräunig (Fn. 21), S. 291. 25 Bräunig (Fn. 21), S. 308 ff. 26 Dazu Lehner (Fn. 3), Rz. 109c. 27 RFH v. 26.6.1935 – VI A 414/35, RStBl. 1935, 1358 (1359), Hervorhebung durch den Verfasser; vgl. auch RFH v. 19.4.1939 – IV 233/38, RStBl. 1939, 878: „authentische Auskunft für die Auslegung“ sowie BFH v. 25.10.2006 – I R 81/04, BStBl. II 2010, 778 (780). 28 RFH v. 26.6.1935 – VI A 414/35, RStBl. 1935, 1358. 29 Wiedergutmachungsbescheid des Bundesministers der Finanzen vom 19.2.1954, verwahrt in der finanzgeschichtlichen Sammlung in Brühl, zur Verfügung gestellt von Christoph Bräunig, Verfasser der in Fn. 21 zit. Monographie; zur Reichsfluchtsteuer s. Kempny, Unrechtsurteile der NS-Zeit, in FS 100 Jahre BFH, S. 39 ff. 30 Bräunig (Fn. 21), S. 332. 31 Vgl. die Zusammenfassung der Entwicklung bei Lehner (Fn. 3), Rz. 33 ff. 32 Nach einer Auswertung der Lexinform-Datenbank sind dies bisher knapp 300 Entscheidungen; hinzu kommen mehr als 450 Entscheidungen der Finanzgerichte. 33 Vgl. u.a. BFH v. 19.5.2010 – I B 191/09, BStBl. II 2011, 156 (161 f.); v. 23.9.2008 – I R 57/07, BFH/NV 2009, 390 (391); v. 24.3.1998 – I R 49/96, BStBl. II 1998, 649 (651); weitere Nachw. auch zur Rspr. der Finanzgerichte bei Lehner (Fn. 3), Rz. 124 ff. 34 BMF-Schreiben v. 17.4.2013, Stand 22.8.2013, abgedruckt in IStR-Beihefter 10, 2013; dazu Lüdicke, IStR-Beihefter 2013, 26 ff.; Lehner (Fn. 3), Rz. 38 f. 35 BFH v. 10.6.2015 – I R 79/13, BStBl. II 2016, 326 Rz. 25; v. 20.5.2015 – I R 69/14, BFH/NV 2015, 1395 Rz. 16; v. 20.8.2014 – I R 86/13, BStBl. II 2015, 18 Rz. 32.

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III. Die prägende Rechtsprechung des RFH zur Beschränkungsfunktion von Doppelbesteuerungsabkommen Das Zusammenspiel von Völkerrecht und nationalem Recht findet seinen grundlegenden Ausdruck in der Beschränkungsfunktion des Abkommensrechts. Doppelbesteuerung entsteht üblicherweise aus dem Zusammentreffen von unbeschränkter Steuerpflicht im Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen und beschränkter Steuerpflicht im Quellenstaat seiner Einkünfte36. Unter der Voraussetzung hinreichender territorialer Anknüpfung an das Steuersubjekt oder an die Quelle der Einkünfte verbietet das Allgemeine Völkerrecht weder die Wirkungen der beschränkten Steuerpflicht37 noch die Doppelbesteuerung38. Internationale juristische Doppelbesteuerung39 kann deshalb nur durch unilaterale Maßnahmen oder durch Beschränkungen des steuerlichen Zugriffs in einem der beiden oder in beiden Staaten nach Maßgabe von völkerrechtlichen Verträgen vermieden oder beseitigt werden. Mit dieser Beschränkung der steuerpflichtbegründenden Tatbestände des innerstaatlichen Steuerrechts ist die zentrale Funktion von Doppelbesteuerungsabkommen angesprochen40. In der Rechtsprechung des RFH war diese Beschränkungsfunktion des Abkommensrechts bereits klar anerkannt. Grundlegend ist eine Entscheidung vom 3.10.193541, in der der III. Senat die Frage des Verhältnisses von innerstaatlichem Gesetz und Doppelbesteuerungsabkommen im Zusammenhang mit der Wirkung des Abkommensrechts auf das innerstaatliche Steuerrecht aufwirft. Der Senat folgt der Auffassung des beigetretenen Reichsministers der Finanzen, der sich auf die Präambel des DBA mit Schweden aus dem Jahre 1928 bezieht. Danach werden „durch ein Doppelbesteuerungsabkommen die nach dem Steuerrecht der vertragsschließenden Staaten be­ stehenden Steueransprüche nach Maßgabe der in dem Abkommen getroffenen Bestimmungen eingeschränkt oder unberührt gelassen“42. In weiteren Entscheidungen wendet der RFH § 9 StanpG43, den Vorläufer von § 2 AO, ohne weitere Darlegungen in Fällen an, in denen es um die klassische Modifikationswirkung von Doppelbesteuerungsabkommen gegenüber dem innerstaatlichen Steuerrecht geht44. Es findet 36 Vgl. den Überblick über die gängigen Definitionen bei Lehner (Fn. 3), Rz. 7 ff.; zu einem Sonderfall des Zusammentreffens von unbeschränkter Steuerpflicht in zwei Staaten vgl. BFH v. 23.9.2008 – I B 92/08, BStBl. II 2009, 524 (526). 37 Dazu Lehner, Internationale Reichweite staatlicher Besteuerungshoheit, in HStR, Bd. XI, 3. Aufl. 2013, § 251 Rz. 9 ff. 38 Dazu grundlegend Vogel in Vogel, 1. Aufl. 1983, Einl. Rz. 5 ff. 39 Vgl. zum Begriff und zur Abgrenzung von der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung Lehner (Fn. 3), Rz. 7 ff. 40 Grundlegend zu dieser Wirkung Vogel in FS F. Klein, 1994, S. 362 ff.; ders. (Fn. 38), Rz. 24 und die Nachw. bei Lehner (Fn. 3), Rz. 63 ff. 41 RFH v. 3.10.1935 – III A 267/34, RStBl. 1935, 1399. 42 RFH (Fn. 41), 1400. 43 RGBl. I 1934 Nr. 115, 925 (927). 44 RFH v. 22.9.1936 – I A 127/36, RStBl. 1936, 1182 f.; v. 14.12.1937 – I 250/37, RStBl. 1938, 67 f.

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sich im Zusammenhang mit der Anwendung dieser Norm aber auch der ergänzende Hinweis, dass Doppelbesteuerungsabkommen von Amts wegen anzuwenden sind45. Mit diesen grundlegenden Vorgaben zur Funktion von Doppelbesteuerungsabkommen prägt der RFH die gesamte spätere Rechtsprechung des BFH und der Finanzgerichte46. Die Rechtsprechung des RFH wird aber auch in der Rechtsprechung des EuGH47 reflektiert. Sie beeinflusst die herrschende Meinung zur Einwirkung von Doppelbesteuerungsabkommen auf das innerstaatliche Steuerrecht bis heute48.

IV. Ausgewählte Problembereiche im Fokus der Beschränkungs­ wirkungen Die originären Beschränkungswirkungen der Doppelbesteuerungsabkommen sind komplex und vielfältig. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass die abkommensrechtlichen Verteilungs- bzw. Beschränkungsnormen auch ihrerseits auf gegenläufige Beschränkungen durch innerstaatliche, den Verteilungsnormen widersprechende Gesetzgebung treffen49. Darüber hinaus unterliegen die abkommensrechtlichen Beschränkungswirkungen sowohl im Hinblick auf das innerstaatliche Steuerrecht der Vertragsstaaten eines Doppelbesteuerungsabkommens als auch im Hinblick auf das eigentliche Abkommensrecht, von dem sie ausgehen, den Vorgaben des Rechts der Europäischen Union50. Auf einen kurzen Nenner gebracht, bezeichnet das hier im Thema des Beitrags benannte Zusammenspiel von Völkerrecht und nationalem Recht die Problematik von Beschränkungswirkungen im Recht der Doppelbesteuerungsabkommen aus der Perspektive der Steuerrechtsprechung. Zahlreiche Grund- und Spezialfragen, die das Verhältnis des Abkommensrechts zum innerstaatlichen Steuerrecht betreffen, wurden bereits vom Reichsfinanzhof entschieden und ohne gravierende Änderungen von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs übernommen. Daneben stehen ganz neue Fragestellungen und Entscheidungen des BFH und der Finanzgerichte, die aus der zunehmenden Globalisierung, konkret aber auch aus den Einwirkungen des Unionsrechts auf das innerstaatliche Steuerrecht und auf die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen resultieren51.

45 RFH (Fn. 41), 1401; v. 29.2.1940 – III 206/39, RStBl. 1940, 532. 46 Vgl. nur BFH v. 13.4.2017 – 6 K 195/16, EFG 2017, 1176; FG München v. 3.6.2016 – I K 848/13, EFG 2017, 304 und die Nachw. in Fn. 40. 47 Dazu u. V. 48 Vgl. die Nachw. in Fn. bei Lehner (Fn. 3), Rz. 63 ff. 49 Zu diesem sog. Treaty Override s. u. IV. 3. 50 Dazu u. V. 51 Dazu u. VI.

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1. Konsensfindung durch übereinstimmende Auslegung der Beschränkungs­ wirkungen Internationale Doppelbesteuerung kann nur vermieden bzw. beseitigt werden, wenn das Abkommensrecht von den Vertragsstaaten in einem Prozess stetigen Bemühens um Konsens52 übereinstimmend ausgelegt und angewendet wird53. Dieses Streben stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, weil Doppelbesteuerungsabkommen ihren Gegenstand, anders als andere völkerrechtliche Verträge, nicht durch ein vollstän­ diges normatives Regelwerk erfassen. Vielmehr knüpfen die abkommensrechtlichen Verteilungsnormen an bestehende steuerpflichtbegründende Tatbestände des jeweils unterschiedlichen innerstaatlichen Steuerrechts der Vertragsstaaten an54. So gesehen sind Doppelbesteuerungsabkommen unselbständiges, gewissermaßen „hinkendes“ Völkervertragsrecht55. Auf die daraus resultierende Gefahr, dass die „Auslegung von Steuergesetzen des einen Landes durch die Steuerbehörden des anderen Landes zu einander widersprechenden Entscheidungen führen“ könnte, weist der RFH bereits in einer Entscheidung aus dem Jahre 1935 hin56. Das Spannungsverhältnis zwischen der abkommensrechtlichen Beschränkungswirkung und dem jeweiligen innerstaatlichen Steuerrecht kann deshalb nur überwunden werden, wenn die Beschränkungsbzw. Verteilungsnormen der Doppelbesteuerungsabkommen in den jeweiligen Vertragsstaaten übereinstimmend verstanden, d.h. autonom ausgelegt werden57. Das Streben nach autonomer Abkommensauslegung wird jedoch dadurch erschwert, dass Doppelbesteuerungsabkommen in zahlreichen Fällen mit teils schwer interpretierbaren Normen58 selber auf das innerstaatliche Steuerrecht verweisen59. Ein wichtiges Hilfsmittel für die Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen bilden die bereits angesprochenen Arbeiten des Völkerbundes60 und später dann, für den BFH und für die Finanzgerichte, die Musterabkommen der OECD61. Als „Empfehlungen“ vom Rat der OECD verabschiedet, begründen die Musterabkommen und 52 Dazu Lehner, Doppelbesteuerungsabkommen, in Leitgedanken des Rechts, Bd.  II, 2013, S. 1635 ff. 53 Die Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen ist Gegenstand eines gesonderten Beitrags zu dieser Festschrift (s. Lang, Auslegung und Anwendung des Abkommensrechts, in FS 100 Jahre BFH, S. 983 ff.). Aus diesem Grund begnügen sich die nachfolgenden Ausführungen mit wenigen Hinweisen, die das Zusammenspiel zwischen dem völkervertraglichen Abkommensrecht und dem innerstaatlichen Steuerrecht verdeutlichen. 54 Dazu bereits o. III. 55 Wassermeyer in Wassermeyer, Art. 3 OECD-MA Rz. 71a. 56 RFH v. 3.10.1935 – III A 267/34, RStBl. 1935, 1399 (1400); vgl. auch RFH v. 26.10.1937 – I 355/37, RStBl. 1938, 188, wo auf einen „Vergleich mit anderen Doppelbesteuerungsabkommen“ abgestellt wird. 57 Grundlegend Vogel in Vogel/Lehner, 5. Aufl. 2008, Einl. Rz. 158 ff., 179 ff.; M. Lang in FS Debatin, 1997, S. 283 (302); Lehner in FS Frotscher, 2013, S. 387 (390 ff.) und die Nachw. zum Stand der Diskussion bei Lehner (Fn. 3), Rz. 113a ff. 58 Ein wichtiges Beispiel bildet §  3 Abs.  2 OECD-MA; dazu Dürrschmidt in Vogel/Lehner, 6. Aufl. 2015, Art. 3 OECD-MA Rz. 97 ff. 59 Vgl. dazu Lang (Fn. 53), S. 983 ff. 60 Dazu o. I. 61 Dazu o. II.

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Kommentare eine „abgeschwächte Verpflichtung“ der Rechtsanwender, diesen Empfehlungen bei der Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen zu folgen62. Interessant ist in diesem Zusammenhang Rechtsprechung des RFH, in der zur Begründung einer Auslegung des Betriebstättenbegriffs auf das Verständnis in früheren Abkommen Bezug genommen wird63. In einem übergreifenden Kontext wird das Bemühen um einvernehmliche Ab­ kommensauslegung und -anwendung im Zusammenspiel zwischen Doppelbesteuerungsabkommen und innerstaatlichem Steuerrecht im modernen Internationalen Steuerrecht auch durch das Streben der deutschen Finanzgerichte nach Entscheidungsharmonie mit den Finanzgerichten anderer Staaten verdeutlicht. Entscheidungsharmonie zielt auf eine Auslegung, die am ehesten Aussicht hat, in beiden Vertragsstaaten akzeptiert zu werden64. Im Zusammenhang mit diesem Bemühen um Konsens spricht der BFH deutlich von einer „zwischenstaatlich gebotenen Entscheidungsharmonie bei der Auslegung des Abkommens“65. Schließlich unterliegen Doppelbesteuerungsabkommen als völkerrechtliche Verträge auch den Auslegungsgrundsätzen der Wiener Konvention über das Recht der Verträge66, auf die der BFH, soweit ersichtlich, bislang nur in einer Entscheidung Bezug genommen hat67. 2. Das Verbot der virtuellen Doppelbesteuerung und die Problematik der Doppelnichtbesteuerung Besonders deutlich kommt die Beschränkungswirkung des Abkommensrechts gegenüber dem innerstaatlichen Steuerrecht in den Grenzbereichen zulässiger Besteuerung bzw. Nichtbesteuerung zum Ausdruck. a) Materiellrechtliche Vorgaben Die Besteuerung ausländischen Einkommens im Ansässigkeitsstaat nach den Regeln der das Welteinkommen erfassenden unbeschränkten Steuerpflicht, zugleich aber auch die Besteuerung der Einkünfte im Quellenstaat nach den Regeln der beschränkten Steuerpflicht, bildet die Hauptursache für das Entstehen von internationaler Doppelbesteuerung und zugleich die Anknüpfungen für ihre Vermeidung oder Beseitigung. Dies geschieht, in dem der Ansässigkeitsstaat die Einkünfte aus ausländischen Quellen zwar besteuert, die ausländische Steuer dann aber auf die inländische 62 Vogel (Fn. 57), Rz. 124b. 63 RFH v. 19.1.1934 – III A 645/31, RStBl. 1934, 315 (316). 64 Grundlegend Vogel in FS Flick, 1997, S. 1043 ff.; Prokisch, SWI 1994, 52 ff.; Kropholler, Internationales Einheitsrecht 1975, S. 258 ff.; Lehner in FS Spindler, 2011, S. 329 (343 f.). 65 Vgl. BFH v. 11.12.2013 – I R 4/13, BStBl. II 2014, 791 Rz. 14; vgl. auch BFH v. 13.6.2012 – I R 41/11, BStBl. II 2012, 880 Rz. 16; v. 12.10.2011 – I R 15/11, BStBl. II 2012, 548 Rz. 16; v. 2.9.2009 – I R 90/08, BStBl. II 2010, 394 (397). 66 Grundlegend Vogel (Fn. 57), Rz. 105 ff. 67 BFH v. 16.1.2014 – I R 30/12, BStBl. II 2014, 721 Rz. 19.

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Steuer anrechnet, die auf die Auslandseinkünfte entfällt68. Alternativ zur Anrechnungsmethode stellt der Ansässigkeitsstaat die ausländischen Einkünfte, die seiner Welteinkommensbesteuerung nach den inländischen Regeln der unbeschränkten Steuerpflicht unterfallen, im Anwendungsbereich einer entsprechenden abkommensrechtlichen Verpflichtung von der inländischen Steuer auf die betreffenden Auslandseinkünfte frei69. Besteuert der Quellenstaat die aus seinem Gebiet stammenden Einkünfte nicht, so ist dies im Anwendungsbereich der Anrechnungsmethode unproblematisch, weil diese Einkünfte ohnehin der Besteuerungszuständigkeit des Ansässigkeitsstaats unterliegen. Die abkommensrechtliche Verpflichtung zur Anrechnung ausländischer Steuern läuft dann leer. Anderes gilt aber im Anwendungsbereich der Freistellungsmethode. Verzichtet der Quellenstaat auf die Besteuerung, so entsteht die Gefahr einer unerwünschten Keinmal- bzw. Doppelnichtbesteuerung, weil zahlreiche Doppelbesteuerungsabkommen die völkervertragliche Verpflichtung des Ansässigkeitsstaats zur Freistellung nicht von der tatsächlichen Besteuerung dieser Einkünfte im Quellenstaat abhängig machen70. Eine Nichtbesteuerung im Quellenstaat führt somit vorbehaltlich anderweitiger abkommensrechtlicher Sicherungen und Zielsetzungen71 nicht zu einem Wegfall der Freistellungspflicht im Ansässigkeitsstaat72. Doppelbesteuerungsabkommen verhindern deshalb nicht nur eine tatsächliche, sondern auch eine nur denkbare, virtuelle Doppelbesteuerung73. Ein ­solches Verbot virtueller Doppelbesteuerung ist abkommensrechtlich zwar nicht ausdrücklich normiert, wohl aber anerkannt, weil es als Ausprägung staatlicher Souve­ ränität sicherstellen soll, dass keiner der beiden Vertragsstaaten das Recht verliert, seine innerstaatliche Besteuerung außerhalb abkommensrechtlicher Bindungen autonom auszugestalten74. Andererseits kann nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden, dass Doppelnichtbesteuerung gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verstößt75. Der RFH formuliert das Verbot der virtuellen Doppelbesteuerung in einer Entscheidung vom 3. Oktober 193576 zunächst aus der Perspektive des innerstaatlichen Rechts, indem er Herbert Dorn77 zitiert. Danach kann „durch ein Doppelbesteuerungsabkommen, das der Aufteilung der nach innerem Recht bestehenden Steueransprüche dient, […] nicht ohne weiteres ein neuer, nach innerem Steuerrecht bisher 68 Dazu Ismer in Vogel/Lehner, 6. Aufl. 2015, Art. 23 OECD-MA Rz. 120 ff. 69 Dazu Ismer (Fn. 68), Rz. 31 ff. 70 Dazu Dürrschmidt in Vogel/Lehner, 6. Aufl. 2015, Vor Art. 6–22 OECD-MA Rz. 15 ff. 71 Dazu Lehner (Fn. 3), Rz. 38, 71, 73. 72 Dazu Vogel (Fn. 57), Rz. 74 f.; Lehner (Fn. 3), Rz. 69 ff.; dort auch zur Abgrenzung von Fällen einer Doppelnichtbesteuerung die als Folge eines sog. negativen Qualifikationskonflikts entstehen können. 73 Vgl. die Nachw. in Fn. 72. 74 Lüdicke, Überlegungen zur deutschen DBA-Politik, 2008, S. 93; Lehner (Fn. 37), Rz. 53 ff. 75 Vgl. zum räumlichen Anwendungsbereich des Leistungsfähigkeitsprinzips, Schaumburg in FS Tipke, 1995, S. 125 ff.; Lehner (Fn. 37), Rz. 15 ff.; Lehner/Waldhoff in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, § 1 EStG Rz. A 141 ff., 163 ff. 76 RFH v. 3.10.1935 – III A 267/34, RStBl. 1935, 1399 (1400). 77 Zu ihm bereits o. II.

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nicht bestehender Steueranspruch begründet werden“78. In einer Entscheidung vom 1.10.1936 führt der RFH aus, dass „Doppelbesteuerungsverträge […] die durch das inländische Steuerrecht begründete Steuerpflicht nicht erweitern“ sollen79. In beiden Fällen orientiert sich der RFH an der Beschränkungswirkung von Doppelbesteuerungsabkommen80. Schließlich sei auch noch auf eine Entscheidung aus dem Jahre 194081 hingewiesen, in der der RFH das Verbot der virtuellen Doppelbesteuerung im Kontext der Freistellungswirkung mit kaum zu überbietender Deutlichkeit formuliert: „Die Doppelbesteuerungsabkommen bedeuten, daß dem anderen Staat ein bestimmtes Rechtsgut oder eine bestimmte Steuerquelle zur Besteuerung überlassen ist. Ob und wie dieser Staat sein Recht ausnützt, geht den überlassenden Staat nichts an. Es kann insbesondere der Staat, der ein bei ihm selbst der Vermögensteuer unterworfenes Wirtschaftsgut dem anderen Staat zur alleinigen Besteuerung überlässt, nicht nachprüfen, ob der andere Staat dieses Wirtschaftsgut in der Form der Vermögensteuer oder etwa auf dem Weg über eine Ertrags- oder Verbrauchsbesteuerung oder eine Verkehrsabgabe erfassen will, oder ob er aus wirtschaftspolitischen oder bürgerlich-rechtlichen Gründen das Wirtschaftsgut überhaupt nicht besteuern will oder kann, ob er andererseits etwa andere Quellen – oder dieselbe Quelle auf andere Weise – stärker heranziehen will.“ Der BFH hat diese Grundaussagen in ständiger Rechtsprechung übernommen82. In einer Entscheidung aus dem Jahre 199383 erkennt er den „Grundsatz des Verbots der virtuellen Doppelbesteuerung“ ausdrücklich an: Allein die allgemeine Vermutung, dass die Vertragsstaaten durch den Abschluss von DBA keine „weißen“ Einkünfte begründen wollten, lasse es nicht zu, die darauf hinauslaufende Auslegung einer Abkommensnorm als „von vornherein unsinnig und deshalb als nicht gewollt“ zu bezeichnen84. Schließlich erklärt der BFH im Jahre 2012, dass die Abwehr der virtuellen Doppelbesteuerung das „tragende Prinzip der Freistellung“ repräsentiert85. Neben weiteren Sonderfällen86 ist jedoch für die Rechtsprechung des BFH darauf hinzuwei78 RFH (Fn. 76). 79 RFH v. 1.10.1936 – III A 398/34, RStBl. 1936, 1209 (1210); vgl. auch RFH v. 22.11.1938 – I 236/38, RStBl. 1939, 312. 80 Dazu bereits o. III. 81 RFH v. 29.2.1940 – III 206/39, RStBl. 1940, 532. 82 BFH v. 7.7.1967 – III 210/61, BStBl. III 1967, 588 (589); v. 13.9.1972 – I R 130/70, BStBl. II 1973, 57 (59); v. 31.7.1974 – I R 27/73, BStBl. II 1975, 61 (62) dort ausdrücklich auch für den Fall, dass der Steuerpflichtige in den USA keine Steuererklärung abgegeben hat und deshalb dort (trotz bestehender Steuerpflicht tatsächlich) nicht besteuert wurde; v. 10.10.1987 – I R 104/79, BFHE 137, 29 (31): „aus welchem Grunde auch immer“; BFH v. 29.7.1992 – II R 39/89, BStBl. II 1993, 63 (67); v. 14.12.1988 – I R 148/87, BStBl. II 1989, 319 (321); v. 19.5.1993 – I R 64/92, BFH/NV 1994, 11 (12): „unabhängig davon […], ob in dem anderen Vertragsstaat […] eine Besteuerung der Einkünfte rechtlich möglich ist und tatsächlich durchgeführt wird“; vgl. auch BFH v. 11.10.2000 – I R 44-51/99, BStBl. II 2002, 271 (273). 83 BFH v. 19.5.1993 – I R 64/92, BFH/NV 1994, 11. 84 BFH (Fn. 83), 12. 85 BFH v. 10.1.2012 – I R 66/09, BFHE 236, 304 Rz. 22. 86 Vgl. die Übersicht bei Lehner (Fn. 3), Rz. 71 ff.

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sen, dass er bestimmte Konstellationen, in denen sich die Nichtbesteuerung als Ergebnis eines Auslegungsproblems erweist, nicht vom Verbot der virtuellen Doppelbesteuerung umfasst sieht87. Besondere Bedeutung gewinnen in diesem Zusammenhang die Vorgaben der OECD/ G20 Staaten zur Verhinderung von Gewinnverkürzungen und Gewinnverlagerung, die sich in dem bereits 2015 verabschiedeten BEPS-Aktionsplan niedergeschlagen haben88. In seinem auf Angleichung der Doppelbesteuerungsabkommen gerichteten Teil ist der Aktionsplan u.a. auf eine Verpflichtung der OECD-Mitgliedstaaten gerichtet, die Präambeln ihrer Doppelbesteuerungsabkommen nicht nur auf die Vermeidung einer Doppelbesteuerung, sondern zugleich auch auf die Vermeidung der Doppelnichtbesteuerung zu erstrecken89. Freistellung als besondere Ausprägung der Beschränkungswirkung von Doppelbesteuerungsabkommen führt in konsequenter Anwendung nicht nur zu den Problemen der virtuellen Doppelbesteuerung, sondern als Kehrseite der Medaille auch zu einer Nichtberücksichtigung von ausländischen Betriebstättenverlusten im Ansässigkeitsstaat des Stammhauses. Der BFH hat sich mit dieser Problematik unter Berücksichtigung weitreichender Rechtsprechung des EuGH unter dem Stichwort der sog. Symmetriethese ausführlich auseinandergesetzt90. b) Verfahrensrechtliche Lösungsansätze Dem Problem der Doppelnichtbesteuerung wird im innerstaatlichen Recht durch verfahrensrechtliche und durch materiellrechtliche Vorkehrungen begegnet91. Der verfahrensrechtliche Lösungsansatz findet seine Grundlage in § 2 Abs. 2 AO92 in der Fassung des Jahressteuergesetzes 201093. Hintergrund der auf einen Vorschlag von Ismer94 zurückgehenden Regelung ist die „[i]m Interesse der Rechtssicherheit, der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und zur Vermeidung von doppelter Besteue87 BFH v. 24.8.2011 – I R 46/10, BFHE 234, 339 Rz. 28 zum sog. negativen Qualifikationskonflikt; dazu Lehner (Fn. 3), Rz. 71, 158 ff., 162e. 88 OECD/G20, Base Erosion an Profit Shifting Project, Developing a Multilateral Instrument to Modify Bilateral Tax Treaties, 2015, Final Report; deutsche (amtliche) Übersetzung: Mehrseitiges Übereinkommen zur Umsetzung abkommensbezogener Maßnahmen zur Verhinderung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, Stand 16.5.2017 (www. bmf.bund.de). 89 OECD/G20 (Fn. 88), Aktionspunkt 15 vor Teil I; grundlegend dazu und zu den weiteren Zielsetzungen des BEPS-Aktionsplans mit Nachw. der umfangreichen Lit. Schön, IStR 2017, 681. 90 Dazu Rödder, Verluste im grenzüberschreitenden Sachverhalt, in FS 100  Jahre BFH, S. 1099 ff. 91 Dazu u. IV. 92 Dazu u.a. Drüen in Tipke/Kruse, § 2 AO Rz. 43a ff.; Musil in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 2 AO Rz. 308 ff.; Hummel, IStR 2011, 397 (398); Lehner, IStR 2011, 733 ff. 93 JStG v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768 (1792). 94 Ismer, IStR 2009, 366 (370).

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rung bzw. Nichtbesteuerung“ angestrebte Umsetzung abkommensrechtlicher Konsultationsvereinbarungen durch Rechtsverordnungen, die auch die Rechtsprechung binden sollen95. Mit der Zielsetzung, auch die doppelte Nichtbesteuerung zu vermeiden, geht § 2 Abs. 2 Satz 2 AO allerdings weit über die Reichweite der entsprechenden Abkommensregelungen hinaus, die üblicherweise nach dem Vorbild des Art. 25 Abs. 3 OECD-MA formuliert sind96. Danach können die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten zwar miteinander beraten, wie eine Doppelbesteuerung in Fällen vermieden werden kann, die im Abkommen nicht behandelt sind; von der Vermeidung auch der Doppelnichtbesteuerung ist in Art. 25 Abs. 3 OECD-MA und in den entsprechenden Vorschriften der Vertragspraxis jedoch keine Rede. Doppelbesteuerungsabkommen enthalten auch keine den speziellen Verteilungsnormen allgemein übergeordnete Zielsetzung, neben Doppelbesteuerungen auch Doppelnichtbesteuerungen zu vermeiden97. In einer zentralen Entscheidung zu dieser Neuregelung lehnt der BFH98 die im Anwendungsbereich des §  2 Abs.  2 AO intendierte Bindungs­ wirkung der Gerichte zutreffend ab. Die Vorschrift genüge nicht den Bestimmtheitsanforderungen, die der in Art.  80 Abs.  1  GG formulierte Vorbehalt des Gesetzes an  eine Verordnungsermächtigung stellt99. Darüber hinaus betont der Senat, dass „Grenzmarke“ für das richtige Abkommensverständnis „immer nur der Abkommenswortlaut“ sein kann. Werde das in der Konsultationsvereinbarung gefundene Abkommensverständnis durch den Wortlaut nicht gedeckt, dann könne die Konsultationsvereinbarung eine Abkommensauslegung durch die Gerichte „nicht beeinflussen oder die Gerichte gar binden“100. Den daraus naheliegenden Schluss, dass Doppelbesteuerungsabkommen keine allgemeine Zielsetzung einer Vermeidung von 95 Gesetzesbegründung BT-Drs. 17/2249, 86.; zur überwiegenden Ablehnung dieser Bindungswirkung in Rspr. und Lit. Drüen (Fn. 92), § 2 AO Rz. 43b; umfassend Musil (Fn. 92), § 2 AO Rz. 313 ff. 96 Vgl. die Übersicht zur Abkommenspraxis bei Lehner (Fn. 3), Art. 25 OECD-MA Rz. 165. 97 Grundlegend dazu M. Lang Doppelte Nichtbesteuerung, IFA-Generalbericht CDFI 89a, 2004, S. 21, 26 ff., 29: „Es wäre nämlich ein Zirkelschluss, würde man die Frage, ob ein DBA in einer konkreten Situation anwendbar ist, unter Berufung auf die allgemeine Zielsetzung beantworten, wonach DBA der Vermeidung der Doppelbesteuerung dienen, wenn dies nur im Anwendungsbereich der DBA der Fall ist und dieser Anwendungsbereich eben erst ermittelt werden soll“; zustimmend Vogel, IStR 2007, 225 (226 f.); mit differenzierter Systematik auch Lüdicke (Fn. 74), S. 7 ff., 87 ff.; Jankowiak, Doppelte Nichtbesteuerung im Internationalen Steuerrecht, 2009, S. 34 ff.; vgl. auch Lehner, IStR 2011, 733 (735 ff.). 98 BFH v. 10.6.2015 – I R 79/13, BStBl. II 2016, 326 mit Anm. Lehner, IStR 2015, 785. 99 BFH (Fn. 98), Ls. 2. und Rz. 18 ff., 21; die Verfassungswidrigkeit wegen Unbestimmtheit für die Erfassung von Fällen der Doppelnichtbesteuerung bejahend Lehner, IStR 2011, 733 (739); mit Vorbehalten gegen Verfassungswidrigkeit Hummel, IStR 2011, 397 (399 f., 403); Musil (Fn. 92), § 2 AO Rz. 332; Bedenken gegen „eine eher pauschale Überleitung durch entsprechende Rechtsverordnungen“ äußert Gosch in FS Spindler, 2011, S.  379 (421); zurückhaltend im Hinblick auf die Verfassungswidrigkeit, aber gegen eine allgemeine Bindungswirkung der Gerichte auf der Grundlage von §  2 Abs.  2 AO Drüen (Fn. 92), § 2 AO Rz. 43e, 43 f. 100 BFH (Fn.  98), Rz.  16 mit Bezug auf BFH v. 2.9.2009  – I R 111/08, BStBl.  II 2010, 387 (389 f.).

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Doppelnichtbesteuerung enthalten101, zieht der Senat trotz seines ausdrücklichen Bekenntnisses zum Verbot der virtuellen Doppelbesteuerung102 jedoch nicht. 3. Treaty Override als Grenze des Zusammenspiels von Abkommensrecht und innerstaatlichem Steuerrecht a) Unterscheidung von der abkommensrechtlichen Beschränkungsfunktion Von der Beschränkungsfunktion des Abkommensrechts, die durch das Zustimmungsgesetz intendiert wird103, streng zu unterscheiden, ist innerstaatliche Gesetzgebung, die den abkommensrechtlichen Beschränkungswirkungen widerspricht. Ein Beispiel, das auch Anlass für Vorlagebeschlüsse des BFH104 an das BVerfG war, bildet § 50d Abs. 8 EStG105. Die Vorschrift schränkt die abkommensrechtlich vereinbarte Freistellung von ausländischen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit eines unbeschränkt Steuerpflichtigen „ungeachtet des Abkommens“, d.h. entgegen der völkervertraglichen Vereinbarung uneingeschränkter Freistellung, stark ein. Gesetzgeberischer Anlass für diese Durchbrechungen des Abkommensrechts sind neben der Vermeidung von Missbräuchen grundlegende Vorbehalte gegen Doppelfreistellungen mit der Folge der Keinmalbesteuerung106. Vor dem Hintergrund der völkervertraglichen Verpflichtung aus einem Doppelbesteuerungsabkommen und dessen Umsetzung in das innerstaatliche Recht nach Maßgabe des Art. 59 Abs. 2 GG war bereits Mitte der 90er Jahre eine intensive Diskussion über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Treaty Override entstanden107. b) Die Vorlagebeschlüsse des BFH Anlass für eine Klärung dieser wichtigen Frage durch das Bundesverfassungsgericht108 war nicht nur der bereits erwähnte Vorlagebeschluss des BFH zu §  50d Abs. 8109, sondern auch ein weiterer Vorlagebeschluss zu § 50d Abs. 10 EStG110. Der BFH bewertet abkommenswidrige Gesetzgebung in Gestalt eines Treaty Override 101 Vgl. die Nachw. in Fn. 97. 102 Vgl. die Nachw. in Fn. 85 und 87. 103 Dazu o. III. 104 Dazu u. b). 105 Dazu und zu den Fällen der §§ 50d Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 und 2, 40d Abs. 9 EStG vgl. Gosch, IStR 2008, 413  ff.; Frotscher in FS Schaumburg, 2009, S.  687  ff.; Jankowiak (Fn.  97), S. 220 ff.; Portner, IStR 2009, 195 ff.; Lehner, IStR 2012, 389 ff. 106 Zu den Beweggründen insbesondere Gosch, IStR 2008, 413 ff. und die weiteren Nachw. in Fn.  105; speziell zur Missbrauchsabwehr Hey, Nationale Missbrauchsvorschriften im Spannungsfeld zwischen von DBA- und EU-Recht, in: Jürgen Lüdicke (Hrsg.), Wo steht das deutsche Internationale Steuerrecht, 2009, S. 137 ff. 107 Vgl. zum Stand der Diskussion vor der Entscheidung des BVerfG (Fn. 118) Lehner (Fn. 3), Rz. 193 ff.; ders. IStR 2012, 389 ff. 108 BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1 ff. 109 BFH v. 10.1.2012 – I R 66/09, BFHE 236, 304. 110 BFH v. 11.12.2013 – I R 4/13, BStBl. II 2014, 791 mit Anm. Lehner, IStR 2014, 189 ff.

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zwar zunächst als Verstoß gegen den Grundsatz des pacta sunt servanda, er stimmt aber der herrschenden Auffassung im Völkerrecht zu, wonach dieser Grundsatz für die einzelnen Normen völkerrechtlicher Verträge keinen Vorrang vor innerstaatlichem Recht begründet111. Allzu weitgehend ist indes die letztlich tragende Begründung des BFH für eine vermeintliche Verfassungswidrigkeit des Treaty Override. Danach nehme die „prinzipielle Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ dem Gesetzgeber die „Verfügungsmacht über den Rechtsbestand“ des völkerrechtlichen Vertrages und wirke für ihn als materiellrechtliche „Sperre“ gegen abkommenswidrige Gesetzgebung112. Als in diesem Sinne rechtsstaatlich, so der BFH, könne Art. 59 Abs. 2 GG daher nur dergestalt gedeutet werden, dass der Gesetzgeber mit der Umsetzung des Abkommens in innerstaatliches Recht „über seine Gesetzgebungskompetenzen verfügt und dadurch seine ungebundene Normsetzungsautorität in dem Maße, das der völkerrechtliche Vertrag vorgibt, einbüßt“113. Aus dieser Argumentation folgt aber im Ergebnis, dass der BFH dem völkerrechtlichen Vertrag trotz gegenteiliger Aussage114 letztlich doch einen höheren Rang gibt als einfachem Gesetzesrecht. Mit Blick auf die Rechtsprechung des RFH ist es bemerkenswert, dass sich bereits unter der Weimarer Reichsverfassung die Auffassung durchgesetzt hatte, wonach völkerrechtliche Verträge keinen höheren Rang haben als einfaches Gesetzesrecht115. In einer Entscheidung seines V.  Senats vom 26.6.1935, die Auslegungsfragen zum DBA Deutschland-Österreich betrifft, hat sich der RFH zwar nicht ausdrücklich, aber zumindest der Sache nach bereits rudimentär zum Verhältnis zwischen Abkommensrecht und innerstaatlichem Recht geäußert116. Danach hat ein Doppelbesteuerungsabkommen zwar Gesetzeskraft. Es steht aber „gleichwertig neben dem Einkommensteuergesetz“ und es sei nicht ersichtlich, dass der Doppelbesteuerungsvertrag durch spätere Gesetze abgeändert werden sollte, „zumal das Reich hierzu der Zustimmung des österreichischen Staats bedurft hätte“117.

111 BFH (Fn. 109), Rz. 14. 112 BFH (Fn. 109), Rz. 18. 113 BFH (Fn. 109), Rz. 18; bekräftigt in BFH (Fn. 110), Rz. 34. 114 BFH (Fn. 109), Rz. 14. 115 Anschütz/Thoma (Fn. 12); Walz (Fn. 5), S. 391 f.; Triepel (Fn. 5), S. 257; bereits einen Konflikt zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht verneinend: Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 4), S. 330 ff.; für die Zeit vor dem Inkrafttreten der WRV s. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Neudruck (1964) der 5. Aufl. 1911, S. 125 ff. Diese Gleichheit im Rang galt, anders als heute nach Art. 25 GG, auch für die Allgemeinen Regeln des Völkerrechts Anschütz (Fn. 12), Art. 4 WRV Rz. 8. 116 RFH v. 26.6.1935 – VI A 414/35, RStBl. 1935, 1358 (zur Beschränkungsfunktion des Abkommensrechts bereits o. III.) und RFH (Fn. 41 ff.). 117 RFH v. 26.6.1935 (Fn. 116).

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c) Verfassungsgerichtliche Klärung Diese rudimentären Aussagen des RFH stehen in engem Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts118 über die Vorlagebeschlüsse des BFH119. Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner Kernaussage nach aufwändiger Begründung fest, dass Doppelbesteuerungsabkommen, so wie andere völkerrechtliche Verträge, nach Maßgabe des Art. 59 Abs. 2 GG nur den Rang (einfacher) Bundesgesetze erlangen120. Daraus folgt, dass für ranggleiches innerstaatliches Recht im Fall der Kollision mit Abkommensrecht der Grundsatz lex posterior derogat legi priori gilt, es sei denn, dass die ältere Regung spezieller ist als die jüngere oder dass die Geltung des Grundsatzes abbedungen wird121. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG schränkt die Geltung dieses Grundsatzes jedenfalls nicht ein122. Darüber hinaus ist mit dieser Entscheidung klargestellt, dass auch § 2 AO123, die Nachfolgevorschrift des § 9 StAnpG124, im Konfliktfall keinen Vorrang von Doppelbesteuerungsabkommen gegenüber innerstaatlichem Gesetzesrecht zu begründen vermag125. § 2 AO wirkt nur als Direktive für die Auflösung einer Kollision ranggleicher Normen126. Die Vorschrift ist somit zwar keine „Rangerhöhungsnorm“127, wohl aber eine „besondere Rechtsanwendungsregel“128 für die in ihrem Tatbestand genannten Verträge. So begrüßenswert die Entscheidung des BVerfG auch ist, so deutlich gebührt ihr auch Kritik129. Obwohl das Gericht die Verpflichtung deutscher Staatsorgane zur Befolgung der die Bundesrepublik bindenden völkerrechtlichen Verträge und zur Korrektur völkerrechtswidriger Akte ausführlich darlegt130, leitet es daraus keine Folgerungen für ein Bemühen deutscher Staatsorgane um die Vermeidung von Treaty Override ab. Mag auch der Weg über entsprechende Verständigungs- und Konsul­ tationsversuche sowie über Änderungen von Doppelbesteuerungsabkommen nur mit Schwierigkeiten und mit besonderem zeitlichen Aufwand gangbar sein, so sollte zumindest das Scheitern eines solchen Versuchs Voraussetzung für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit abkommenswidriger Gesetzgebung sein. Dies erscheint als Mindestgebot verfassungsfreundlichen Verhaltens deutscher Staatsorgane.

118 BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1 (20) Rz. 49 f. mit Anm. Lehner, IStR 2016, 217 ff. 119 Vgl. die Nachw. in Fn. 109 und 110. 120 BVerfG (Fn. 118), Rz. 43 ff. 121 BVerfG (Fn. 118), Rz. 50; zu den Einzelheiten der Kollisionslösung Drüen (Fn. 92), § 2 AO Rz. 1, 1a, 2; Musil (Fn. 92), § 2 AO Rz. 3. 122 BVerfG (Fn. 118), Rz. 51. 123 Dazu bereits o. III. 124 RGBl. I 1934 Nr. 115, 925 (927). 125 BVerfG (Fn. 118), 20 Rz. 48; so bereits Drüen (Fn. 92), § 2 AO Rz. 2, 49 ff.; Musil (Fn. 92), § 2 AO Rz. 163 ff. 126 Drüen (Fn. 92), § 2 AO Rz. 6a. 127 Drüen (Fn. 92), § 2 AO Rz. 6b. 128 Drüen (Fn. 92), § 2 AO Rz. 6b. 129 Vgl. bereits das Sondervotum der Richterin König zu BVerfG (Fn. 118), S. 44 ff. 130 BVerfG (Fn. 118), Rz. 70 ff.

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Ein weiterer Kritikpunkt resultiert daraus, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsprüfung lediglich auf einen Vergleich zwischen unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichtigen sowie innerhalb der Gruppe von unbeschränkt Steuerpflichtigen abstellt131. Die gerade im Zusammenhang mit Bezug zum Leistungsfähigkeitsprinzip angestellte Prüfung lässt jedoch völlig außer Betracht, dass Keinmalbesteuerung gegen die verfassungsrechtlich gebotene Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verstößt132 und deshalb unter bestimmten Voraussetzungen als Rechtfertigungsgrund für ein Treaty Override in Betracht kommt133. Allein aus diesem Grund ist die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit abkommenswidriger Gesetzgebung noch nicht abschließend entschieden134.

V. Unionsrechtliche Vorgaben – Steuerrechtsprechung durch den EuGH Das Zusammenspiel von Völkerrecht und nationalem Recht wird nach Maßgabe des Art. 23 GG durch das Recht der Europäischen Union nachhaltig überlagert und modifiziert135. Mit besonderer Relevanz für die vorlageverpflichtete Steuerrechtsprechung wirken die durch den EuGH geprägten unionsrechtlichen Vorgaben vielfältig auf das innerstaatliche Steuerrecht ein. Dies gilt speziell für die unionsrechtlichen Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote, aber auch für die Normen über die Zulässigkeit von staatlichen Beihilfen und für das sekundärvertragliche Richtlinienrecht136. Vergleichsweise zurückhaltend bleibt demgegenüber die Rechtsprechung des EuGH zum Recht der innergemeinschaftlichen Doppelbesteuerungsabkommen, dem Kernbereich des Zusammenspiels von Völkerrecht und innerstaatlichem Steuerrecht137. Obwohl auch die innergemeinschaftlichen Doppelbesteuerungsabkommen den Anforderungen der Grundfreiheiten unterliegen138, lässt sich aus den Diskriminierungs- und Beschränkungsverboten mangels bilateraler Aufteilungsvorgaben kein Verbot der internationalen juristischen Doppelbesteuerung ableiten139. Aus diesem Grund betont der EuGH in ständiger Rechtsprechung den Grundsatz, dass es den Mitgliedstaaten, auch wegen der bislang fehlenden Harmonisierung auf dem Gebiet der direkten Steuern, überlassen bleibt, die Kriterien für die Aufteilung ihrer territorialen Steuerhoheit bzw. Besteuerungsbefugnis untereinander festzulegen, um Dop-

131 BVerfG (Fn. 118), Rz. 93 ff. 132 Vgl. den Nachw. in Fn. 75. 133 Vgl. Lehner, IStR 2012, 389 (403 f.). 134 So auch Drüen (Fn. 92), § 2 AO Rz. 5b. 135 Vgl. dazu nur Wollenschläger in Dreier, 3. Aufl. 2015, Art. 23 GG Rz. 105. 136 Vgl. dazu die Beiträge von Kofler, Kokott, Hermanns, Rust, Schwenke, Lange und Cordewener in FS 100 Jahre BFH, 3. Teil C, Steuerrecht und Unionsrecht, S. 699 ff. 137 Dazu Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2007; Lehner (Fn. 3), Rz. 262 ff. 138 Grundlegend bereits EuGH v. 12.5.1998 – C-336/96 – Gilly, HFR 1998, 691 Rz. 24, 36 ff.; v. 21.9.1999 – C-307/97 – Saint Gobain, HFR 1999, 1033 Rz. 56 ff. (st. Rspr.). 139 Vgl. zur begrifflichen Abgrenzung von der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung Lehner (Fn. 3), Rz. 9 ff.

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Zusammenspiel von Völkerrecht und nationalem Recht

pelbesteuerungen zu beseitigen140. Unabhängig von dieser speziellen Aussage bleibt aber die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundfreiheiten auch im Abkommensrecht bestehen141. Es ist zu erwarten, dass sich die bislang sehr zurückhaltende abkommensrechtliche Rechtsprechung des EuGH aufgrund der in den Jahren 2016 und 2017 nach OECD-Vorgaben erlassenen Richtlinien142 zu neuen Ufern bewegen wird143, weil die der Auslegungszuständigkeit des Gerichtshofs unterfallenden Richtlinien zumindest mittelbar auf die innergemeinschaftlichen Doppelbesteuerungsabkommen einwirken144. Dies gilt entsprechend für die zunehmende Beachtung, die der unionsrechtliche Schutz der Menschenrechte für den Bereich der Besteuerung gewinnt145. Für die innerstaatliche Steuerrechtsprechung ist deshalb eine Zunahme von Vorlagen an den EuGH zu erwarten.

VI. Zusammenfassung und Ausblick Die Rechtsprechung des BFH zum Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht findet wichtige Grundlagen in der insoweit nationalsozialistisch nicht beirrten Rechtsprechung des RFH146 und führt diese konsequent fort. Dies gilt vornehmlich für die Entscheidungen zur Beschränkungsfunktion des Abkommensrechts gegenüber dem innerstaatlichen Steuerrecht. Neue Herausforderungen ergeben sich vor allem aus der Umsetzung der abkommensrechtlichen Vorgaben des BEPS-Aktionsplans der OECD/G20-Staaten147. 140 EuGH v. 21.5.2015 – C-657/13 – Verder LabTec, HFR 2015, 809 Rz. 42 ff.; v. 4.7.2013 – C-350/11 – Argenta Spaarbank, HFR 2013, 1076 Rz. 50; v. 12.7.2012 – C-269/09 – Kommission gegen Spanien, HFR 2012, 1025 Rz.  77; v. 13.12.2005  – C-446/03  – Marks  & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rz. 46; v. 12.5.1998 – C-336/96-Gily, Slg. 1998, I-793 Rz. 24, 30; v. 8.12.2011  – C-157/10  – Banco Bilbao, Slg. 2011-I, 13023I Rz.  31; zu dieser Rspr. Lehner (Fn. 3), Rz. 266; im Anschluss an Kofler (Fn. 137), S. 530 ff. sprechen Schönfeld/ Häck in Schönfeld/Ditz, DBA, 2013, Systematik Rz.  104 von einer grundfreiheitlichen Immunisierung. 141 Vgl. die Nachw. in Fn. 140. 142 Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates v. 12.7.2016, Abl. EU v. 19.7.2016, L 193/1; Richtlinie (EU) 2017/952 des Rates v. 29.5.2017, Abl. EU v. 7.6.2017, L/144/1. 143 Vgl. nur Entwicklungslinien und Zukunft des deutsch-europäischen Steuerrechts, Tagungsband zur ifst-Jahrestagung 2017, ifst-Schrift 520 (2017). 144 Vgl. Blumenberg/Kring, BB 2017, 151; Ditz/Quilitsch, DStR 2017, 281; Fehling/Kampermann, IStR 2017, 638; Grotherr, IWB Nr. 8 v. 28.4.2017, 1; Schlager, SWI 2017, 352; Schnitger, IStR 2017, 214; Watrin/Thomsen/Weiß, DStZ 2016, 400. 145 Dazu Hermanns, Die Zukunft des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes durch die Europäische Menschenrechtskonvention, in FS 100 Jahre BFH, S. 763 ff.; speziell zur Bedeutung der EU-Grundrechtecharter für das innerstaatliche und internationale Steuerrecht der Mitgliedstaaten Lehner, IStR 2016, 265. 146 Dies unter der Prämisse, dass die RFH-Rechtsprechung zur Reichsfluchtsteuer (s. dazu Kempny (Fn. 29), S. 39 ff.) keine völkerrechtliche Materie im engeren Sinn betrifft. 147 Dazu o. IV.2.a).

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … D. II. 5.

Betriebsstätte und AOA Von Dietmar Gosch

Inhaltsübersicht I. Die Aufteilung der Unternehmens­ gewinne zwischen Stammhaus und Betriebsstätten II. Bisherige Grundsätze nach Abkommensrecht und nationalem Recht I II. Die neuerlichen Grundsätze des AOA 1. Die Umsetzung des AOA im Abkommensrecht 2. Die Umsetzung des AOA in nationales Recht durch § 1 Abs. 5 und 6 AStG a) Tatbestand b) Allgemeine Gewinnermittlungs- oder „bloße“ Einkünftekorrekturvorschrift? c) Wirkungsweisen und Rechtsfolgen d) Speziell: Die „kausale“ Einkünfte­ minderung e) Der Begriff der Betriebsstätte

IV. Die Rechtsprechung des BFH und der AOA: Was bleibt? Was ändert sich? Eine Auswahl 1. Zuordnung von Beteiligungen 2. Überführung von Wirtschaftsgütern und Entstrickung 3. Vorweggenommene und nachträgliche Einnahmen und Betriebsausgaben 4. Besonderheiten beim Sonderbetriebs­ vermögen? 5. Der Grundsatz des dealing at arm’s length und die ausstrahlende Sperr­ wirkung 6. Dotation und Fremdkapital 7. AOA und Digitalisierung V. Resümee und grundsätzliche Bedenken gegenüber der Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit der ausgelagerten Gesetz­ gebungskompetenzen in die BsGaV VI. Nachtrag

I. Die Aufteilung der Unternehmensgewinne zwischen Stammhaus und Betriebsstätten Betriebsstätten als zivilrechtlich unselbständige Teile eines Gesamtunternehmens sind sowohl im nationalen als auch im internationalen Kontext seit jeher Gegenstand steuerrechtlicher Diskussionen. Unzählige Judikate des BFH1 (ebenso wie zuvor schon 1 Z.B. BFH v. 27.7.1965 – I 110/63 S, BStBl. III 1966, 24 (Darlehen); v. 21.1.1972 – III R 57/71, BStBl. II 1972, 374 (Warenlieferung); v. 20.7.1988 – I R 49/84, BStBl. II 1989, 140 (Kosten für Dienstleistung); v. 16.2.1996 – I R 43/95, BStBl. II 1997, 128; v. 16.2.1996 – I R 46/95, BStBl. II 1996, 588.

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Dietmar Gosch

des RFH)2 nehmen sich dieser Problematik an. Teils ging es darum, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Betriebsstätte anzunehmen ist, teils darum, wie die Betriebsstätteneinkünfte zu ermitteln, welche Einkunftsteile der Betriebsstätte zu­ zurechnen sind, kurzum, in welcher Weise die Unternehmensgewinne zwischen dem sog. Stammhaus und deren Betriebsstätten zu ermitteln und sodann aufzuteilen sind. Schwierigkeiten ergeben sich hier namentlich deswegen, weil innerhalb des Gesamtunternehmens im Gegensatz zu Geschäftsbeziehungen zwischen verbundenen Unternehmen bei reinen Innentransaktionen das schuldrechtliche Band zwischen Stammhaus und Betriebsstätte fehlt.

II. Bisherige Grundsätze nach Abkommensrecht und nationalem Recht Bei alledem war und ist3 zwischen dem abkommensrechtlichen und dem nationalen Rechtsverständnis zu unterscheiden. Für das Abkommensrecht legte Art. 7 Abs. 1 OECD-MA 2000 (und legt nach wie vor auch Art. 7 Abs. 1 OECD-MA 2010) den Grundsatz fest, daß Unternehmensgewinne nur in dem Staat besteuert werden, in dem dieses ansässig ist. In ihrem zweiten Halbsatz trifft die Regelung dazu eine Ausnahme: Der andere Staat darf auf die Gewinne eines nicht ansässigen Unternehmens zugreifen, wenn das Unternehmen in jenem Staat eine Betriebsstätte unterhält, das aber nur insoweit, als die Gewinne dieser Betriebsstätte zugerechnet werden können. Das Ansässigkeitsprinzip wird also durch das Quellenprinzip durchbrochen. Ergänzend lautete Art. 7 Abs. 2 OECD-MA 2000: „Übt ein Unternehmen eines Vertragsstaats seine Geschäftstätigkeit im anderen Vertragsstaat durch eine dort gelegene Betriebstätte aus, so werden vorbehaltlich des Absatzes 3 in jedem Vertragsstaat dieser Betriebstätte die Gewinne zugerechnet, die sie hätte erzielen können, wenn sie eine gleiche oder ähnliche Geschäftstätigkeit unter gleichen oder ähnlichen Bedingungen als selbständiges Unternehmen ausgeübt hätte und im Verkehr mit dem Unternehmen, dessen Betriebstätte sie ist, völlig unabhängig gewesen wäre.“ Gängigem und allseits akzeptierten Verständnis nach bedeutete das: Der (an sich einheitliche) Unternehmensgewinn ist aufzuteilen. Das geschah vor dem Hintergrund des besagten Art. 7 Abs. 1 OECD-MA 2000 durchweg unter Anwendung des Veranlassungsprinzips (und konkretisierte sich hierbei nur gelegentlich in den Maßstäben des Fremdvergleichs). Seinen Rechtsgrund findet das Veranlassungsprinzip in allgemeinen, gewissermaßen „übergesetzlichen“ Rechtsgrundsätzen. Positiv-rechtlich angeordnet ist dieses Prinzip im deutschen Ertragsteuerrecht in § 4 Abs. 4 und § 50 Abs. 1 Satz 1, auch in § 34d Nr. 2 lit. a EStG. Die Aussagekraft dieser innerstaatlichen Vorschriften ist für die gebotenen Abgrenzungen indessen spärlich. Insbesondere fehlen konkrete Anhalte, in welcher Weise einzelne Wirtschaftsgüter dem Stammhaus oder aber der Betriebsstätte zuzuordnen sind. Einer solchen Zuordnung bedarf es aber, um Einnahmen und 2 Z.B. RFH v. 29.10.1935 – I A 76/13, RFHE 38, 305; v. 19.12.1935 – I A 236/35, RFHE 36, 1. 3 Umfassend zur „Rechtshistorie“ der Betriebsstättenzuordnung vgl. Kroppen in Gosch/ Kroppen/Grotherr/Kraft, Art. 9 OECD-MA Rz. 104 ff.

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Ausgaben entsprechend lokalisieren zu können. Diese Lokalisierung orientierte sich bislang an der jeweiligen Unternehmens- und Betriebsstättenfunktion. Anwendung fand im allgemeinen und vorrangig die direkte Gewinnermittlungsmethode, im übrigen, also immer dort, wo sich eine direkte Verwendung der zugeordneten Wirtschaftsgüter verbot oder sie sich nicht nachweisen ließ, erfolgte die (Zuordnung und) Aufteilung vermittels der indirekten Gewinnermittlungsmethode4. Gleichermaßen verhielt es sich für die Kapitalüberlassung und daraus entstehenden Zinsaufwand: Die von der Betriebsstätte genutzten Finanzierungsmittel stellten unter Anwendung des Veranlassungszusammenhangs entweder Fremd- oder Eigenkapital dar. Sofern auf Eigenmittel des Gesamtunternehmens zurückgegriffen wurde, lag Eigenkapital vor, weil die Betriebsstätte, wie bekannt und erwähnt, zivilrechtlich einen unselbständigen Teil des Gesamtunternehmens bildet. Folglich konnten ihr keine fiktiven Zinsaufwendungen zugeordnet werden, die auf Ebene des Stammhauses zu korrespondierenden Zinserträgen führten. Kam es allerdings zu einer Darlehensaufnahme – auch vom Stammhaus – für den konkreten Zweck der Betriebsstätte, konnte der daraus resultierende Zinsaufwand nach der direkten Methode zugeordnet werden. Eine Durchschnittsbetrachtung oder Angleichung der Zinsaufwendungen unterblieb.

III. Die neuerlichen Grundsätze des AOA 1. Die Umsetzung des AOA im Abkommensrecht Die bezeichneten Abgrenzungs- und Aufteilungsmethoden sind in der Fassung des OECD-MA 2010 (i.d.F. vom 22.7.2010) indessen so nicht mehr enthalten. Nunmehr heißt es in besagtem 2. Halbsatz des Art. 7 Abs. 1: „Geht das Unternehmen seiner Geschäftstätigkeit auf die oben dargestellte Weise (nämlich durch eine im anderen Staat belegene Betriebsstätte) nach, kann der gemäß den Bestimmungen des Absatzes  2 der Betriebsstätte zuzurechnende Gewinn im anderen Staat besteuert werden.“ Und in Abs. 2 der Vorschrift heißt es: „Für die Zwecke dieses Artikels sowie des Artikels [23 A] [23 B] ist der in jedem Vertragsstaat der in Absatz 1 bezeichneten Betriebsstätte zuzurechnende Gewinn derjenige Gewinn, den sie insbesondere in ihrem ­Verkehr mit anderen Unternehmensteilen erwartbar erzielen könnte, würde sie als getrenntes und unabhängiges Unternehmen einer gleichen oder ähnlichen Geschäftstätigkeit unter gleichen oder ähnlichen Bedingungen nachgehen, dies unter Berücksichtigung der vom Unternehmen über die Betriebsstätte und über die an­ deren Unternehmensteile ausgeübten Funktionen, genutzten Vermögensgegenstände und eingegangenen Risiken.“

4 Wassermeyer in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch, 2. Aufl. 2017, Einführung Rz. 1.13 ff., 1.16; Andresen, daselbst, Rz. 5.78, 4.1, 5.1, 4.234 ff.; Looks in Looks/ Heinsen, Betriebsstättenbesteuerung, 3. Aufl., 2017, Rz. 727; Wassermeyer in Wassermeyer, Art. 7 OECD-MA Rz. 190.

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Die Änderungen des Abkommenstextes gehen einher mit dem „Authorised OECD Approach“, kurz „AOA“, dessen Inhalt auf dem umfassenden Bericht der OECD vom 17.7.20085 zur Zurechnung von Gewinnen zu Betriebsstätten beruht. Der AOA propagiert die Abkehr vom „Relevant Business Activity Approach“, also der eingeschränkten Selbständigkeit der Betriebsstätte für Zwecke der Gewinnaufteilung, hin zum Functionally Separate Entity Approach, der weitgehenden Selbständigkeit der Betriebsstätte und damit der Annäherung an das (korporationsrechtliche) Verhältnis zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft (Art. 9 Abs. 1 OECD-MA) sowie – bezogen auf Geschäftsbeziehungen  – der Anwendung der OECD Verrechnungspreisrichtlinien (OECD Transfer Pricing Guidelines for Multinational Enterprises and Tax Administrations 2010 vom 18.8.2010)6: Dem Fremdvergleich als „Abgrenzungsmodul“ wird nunmehr dadurch Rechnung getragen, daß der Betriebsstätte jene Gewinne zuzurechnen sind, die sie hätte erzielen können, wenn sie als selbständiges und unabhängiges Unternehmen eine gleiche oder ähnliche Geschäftstätigkeit unter gleichen oder ähnlichen Bedingungen ausgeübt hätte. Bloße Innentransaktionen (sog. Dealings) des Einheitsunternehmens mutieren kraft ausdrücklicher Fiktion als „anzunehmende schuldrechtliche Beziehungen“ (in §  1 Abs.  4 Satz  1 Nr.  2 AStG)7 zu „Quasi-Außentransaktionen“; sie werden in gleicher Weise wie Geschäftsbeziehungen zu anderen (fremden) Personen in den Fremdvergleich einbezogen; die Betriebsstätte wird nach dem Prinzip der funktional separaten Einheit (Separate Legal Entity-Approach) verselbständigt.8 Einen ähnlichen Bezugsgrundsatz enthielt zwar, wie beschrieben, (in Art. 7 Abs. 2) auch bereits das OECD-MA in seinen Vorfassungen (seit 2000). Doch läßt sich gleichwohl nicht von einer Klarstellung sprechen. Die Neuformulierung wirkt vielmehr konstitutiv. Denn der Gewinn der Betriebsstätte wird fortan autonom bestimmt, nicht mehr – wie zuvor – (nur) in Ableitung von dem der betreffenden ­Betriebsstätte zugerechneten Erfolgsbeitrag des Gesamtunternehmens. Die rechtlich-fiktive Verselbständigung bewirkt, daß (Liefer-)Gewinne der Betriebsstätte unabhängig davon „herauszulösen“ und besteuert werden können, ob das Gesamtunternehmen als solches überhaupt Gewinne erwirtschaftet hat. Art. 7 Abs. 1 OECD-MA verbleibt so gesehen lediglich die Funktion, den Besteuerungszugriff des Quellenstaats auf Unternehmensgewinne zu reduzieren, daneben erzielte sonstige Betriebsstättengewinne aber dem Ansässigkeitsstaat zu belassen. Eine weitergehende beschränkende Wirkung auch auf den Aufteilungsmaßstab des Art. 7 Abs. 2 OECD-MA scheidet hingegen aus. Mit diesem juristisch-methodischen „Auslegungskniff “ eines

5 OECD, Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments v. 17.7.2008, 2008. 6 OECD, Transfer Pricing Guidelines for Multinational Enterprises and Tax Administrations, 1995. 7 Wobei das Gesetz in diesem Punkt abweichend von dem OECD-Betriebsstättenbericht 2010 (Teil 1 Tz. 33 ff., 175 ff.) und dazu überschießend jedweden Geschäftsvorfall einbezieht, unbeschadet ihrer wirtschaftlichen Relevanz. 8 Zu dieser Entwicklung allgemein und zum „Werdegang“ des Art. 7 Abs. 1 und 2 OECD-MA s. ausführlich Andresen in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch, 2. Aufl., Rz. 5.1 ff.; Ditz, daselbst, Rz. 6.115 ff.

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verengten Normverständnisses soll es im Ergebnis gelingen, Betriebsstätten und verbundene Unternehmen eins zu eins denselben Maßstäben zu unterwerfen9. „Pferdefuß“ des neu eingeschlagenen Wegs des Separate Legal Entity-Ansatzes ist in Anbetracht dieses Wertungswandels jedoch die konkrete Umsetzung, besser die tatsächliche Umsetzungsmöglichkeit. Denn die überwiegende Zahl der derzeit vereinbarten Abkommen basiert nach wie vor auf dem herkömmlichen Regelungswortlaut des Art. 7 Abs. 2 OECD-MA10. Selbst etliche Abkommen, die erst im Anschluß an die Veröffentlichung des OECD-MA 2010 geschlossen worden sind, gründen (offenbar bewußt) noch auf jener früheren Fassung des Musterabkommens11. Andere Staaten wiederum haben sich vorbehalten, den AOA zu ignorieren und nicht umzusetzen, namentlich Staaten, die nicht Mitglied der OECD sind,12 aber sogar solche Staaten, die dies sind13. Das „Abkommensbild“ ist insoweit höchst heterogen14. Die OECD versucht, derartige „Widerborstigkeiten“ durch eine „dynamische“ Auslegung der Abkommen zu „unterlaufen“: Weil die neuerliche Sichtweise, die zum AOA geführt hat, lediglich einen abweichenden Interpretationsansatz repräsentiere, aber im Kern und de iure gleichwohl auf den bisherigen Abkommensregelungen aufbaue und diese nicht verändere, werde der bisherige „normative Rechtsboden“ nicht berührt. Die fortlaufenden Klarstellungen in (Nr. 7.3., 7.7., 8.3) der Musterkommentierung (ursprünglich in dem OECD-MK 2008 Update vom 18.7.2008)15, ließen sich infolgedessen, so hört sich das an, uneingeschränkt als Auslegungspostulate übernehmen. Problem ist allerdings zum einen, daß die Abweichungen, wie soeben erklärt, konstitutiver Natur sind und sich kaum per Auslegung dem bisherigen Regelungstext „überstülpen“ lassen. Vor allem aber  – zum anderen –, daß die OECD mit diesem Lösungsversuch die „Rechnung ohne den Wirt“ gemacht hat, jedenfalls dann, wenn ein Vertrags- und Mitgliedstaat, wie Deutschland, den strikten verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalt kennt, überdies, ebenfalls aus verfassungsrechtlichen Gründen, nicht der monistischen, vielmehr der dualistischen Transformationstheorie folgt, und der verbindlich geschlossene Völkerrechtsvertrag im nationalen Recht als einfaches Recht (fort-)wirkt. Ein unmittelbares Hineinwirken der OECD-Verlautba 9 Looks in Looks/Heinsen, Betriebsstättenbesteuerung, 3. Aufl., 2017, Rz. 731 m.w.N. 10 Allg. dazu Leonhardt/Tcherveniachki in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht, §  1 Rz.  2815. Looks in Looks/Heinsen, Betriebsstättenbesteuerung, 3.  Aufl., 2017, Rz. 734 ff.. 11 Z.B. Costa Rica. Übernommen wurde das OECD-MA 2010 hingegen z.B. in den neu verhandelten DBA-Liechtenstein, Luxemburg, Niederlande, Japan, oder in den Änderungsund Ergänzungsprotokollen zu den DBA-Norwegen, Großbritannien, Irland, USA. 12 Komplett abgelehnt wird die Selbständigkeitsfiktion in Art. 7 Abs. 3 UN-MA 2011, s. Looks in Looks/Heinsen, Betriebsstättenbesteuerung, 3. Aufl., 2017, Rz. 737. 13 Z.B. Chile, Griechenland, Mexico, Neuseeland, Türkei. 14 S. auch die Übersicht bei Hentschel/Kraft/Moser, Ubg 2016, 146; Looks in Looks/Heinsen, Betriebsstättenbesteuerung, 3. Aufl. 2017, Rz. 734 ff. 15 S. dazu Ditz in Schönfeld/Ditz, Art. 7 (2008) OECD-MA Rz. 11; Kroppen in Gosch/Kroppen/Grotherr/Kraft, Art. 7 OECD-MA Rz. 5, 104/7 f.

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rungen in die normativen Zusammenhänge läßt sich bei diesen Vorgaben nicht rechtfertigen. Das gelänge nur dann, wenn der Gesetzgeber jene Verlautbarungen in sein Regelwerk als positives Gesetz mitaufnähme. Erstaunlicherweise geschieht das zwar hin und wieder (und eher zunehmend); der deutsche Gesetzgeber „sourct“ sein Gesetzgebungsrecht „out“16. Bezogen auf den OECD-Musterkommentar17 ist das indes (bisher noch) nicht der Fall, und solange die Dinge so liegen, kann der Musterkommentar eben nur als rechtlich bedeutsame, aber dennoch unverbindliche Auslegungshilfe dienstbar gemacht werden. Dieses Regelungsverständnis entspricht beständiger Spruchpraxis des BFH18. Es sollte im Normengefüge und vor dem Hintergrund des Gesetzesvorbehalts (Art.  20 Abs. 3 GG) eigentlich auf der Hand liegen, und deswegen gibt es für den BFH auch in der „Neuzeit“ des AOA keinen Grund, seine bisherige Rechtsprechung in diesem Punkt in Frage zu stellen. Um so mehr überrascht es, wenn die deutsche Finanzverwaltung den innerstaatlich durch §  1 Abs.  5 AStG (s. dazu sogleich nachfolgend III.2.) umgesetzten AOA und die dazu ergangenen Verwaltungsvorschriften in der Betriebsstättengewinnaufteilungsverordnung (BsGaV)19 sowie der Verwaltungsgrundsätze Betriebsstättenaufteilung (VWG BsGa)20 sogar im Verhältnis zu solchen Staaten anwenden will, mit denen Abkommen nach dem bis 2010 geltenden Muster vereinbart worden sind21 – unterstellend, daß sich auf diese Weise eines (scheinbar) übereinstimmenden Rechtsverständnisses doppelte Besteuerungen im Ansatz vermeiden ließen22. Selbst wenn dies die (positive) Konsequenz wäre, so fehlt für einen solchen selbsterklärten Geltungsanspruch des AOA doch (nach wie vor) jedwede Rechtsgrundlage. Es ist kaum anzunehmen, daß der BFH das künftig anders einschätzen könnte.

16 S. dazu z.B. Gosch, SWI 2015, 505 mit Beispielen. 17 Anders neuerdings bezogen auf den Abschlußbericht 2015 zu Aktionspunkt 5, OECD (2016) „Wirksamere Bekämpfung schädlicher Steuerpraktiken unter Berücksichtigung von Transparenz und Substanz“, OECD/G20 Projekt Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, und zwar in § 4j Abs. 1 Satz 4 EStG; s. dazu z.B. Gosch in Kirchhof, 17. Aufl., § 4j EStG Rz. 13 ff. 18 Z.B. BFH v. 25.5.2011 – I R 95/10, BStBl. II 2014, 760; v. 9.2.2011 – I R 54/10, BStBl. II 2012, 106; umfassend Gosch, ISR 2013, 87. 19 „Verordnung zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes auf Betriebsstätten nach § 1 Absatz 5 des Außensteuergesetzes“ v. 13.10.2014, BGBl. I 2014, 1603. 20 „Grundsätze für die Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes auf die Aufteilung der Einkünfte zwischen einem inländischen Unternehmen und seiner ausländischen Betriebsstätte und auf die Ermittlung der Einkünfte der inländischen Betriebsstätte eines ausländischen Unternehmens nach § 1 Abs. 5 des Außensteuergesetzes und der Betriebsstättengewinnaufteilungsverordnung“ v. 22.12.2016, BStBl. I 2017, 182. 21 S. VWG BsGa, BMF v. 22.12.2016, BStBl. I 2017, 182, Tz. 1.2.1. – Das steht offenbar in Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers, vgl. BT-Drucks. 17/10000 v. 19.6.2012, 61 (65). 22 VWG BsGa, BMF v. 22.12.2016, BStBl. I 2017, 182 Rz. 427.

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2. Die Umsetzung des AOA in nationales Recht durch § 1 Abs. 5 und 6 AStG a) Tatbestand So oder so formieren das OECD-MA und die auf dieser Basis geschlossenen bilateralen Abkommen mit Art. 7 Abs. 1 und 2 den Fremdvergleichsgrundsatz nur als sog. Non self-executing-Normen. Sie bedürfen der innerstaatlichen Umsetzung, nicht anders als auch Art. 9 Abs. 1 OECD-MA. Das ist in Deutschland zwischenzeitlich auch geschehen, und zwar durch den soeben (unter III.1.) schon erwähnten §  1 Abs.  5 AStG.23 Hiernach erfolgt eine Einkünftekorrektur, wenn zwischen Stammhaus und Betriebsstätte nicht der Fremdvergleichsgrundsatz beachtet wird und infolgedessen die inländischen Einkünfte eines beschränkt Steuerpflichtigen gemindert oder die ausländischen Einkünfte eines unbeschränkt Steuerpflichtigen erhöht werden (s. dazu auch noch einmal nachfolgend 2.c). Zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes ist die Betriebsstätte „wie“ ein eigenständiges und unabhängiges Unternehmen zu behandeln, es sei denn, die Zugehörigkeit der Betriebsstätte zum Unternehmen verlangt eine andere Behandlung“, § 1 Abs. 5 Satz 2 AStG. (Wobei ungeregelt und unbeantwortet bleibt, was letzteres – die Ausnahme von der Selbständigkeitsfiktion – dann bedeutet und wie die „andere Behandlung“ aussehen soll; vermutlich soll dann wieder das allgemein Veranlassungsprinzip Platz greifen24, obschon §  1 Abs.  5 Satz  1 AStG nach wie vor die Anwendung des spezifisch-formierten Fremdvergleichsgrundsatzes nach Maßgabe von §  1 Abs.  1 und 3 AStG gebietet). Anwendung findet die Gegenkorrektur (nach § 1 Abs. 5 Satz 1 AStG, dort zweiter Halbsatz) jedenfalls stets (nur) für „anzunehmende schuldrechtliche Beziehungen“ i.S.  des §  1 Abs.  4 Satz  1 Nr. 2 AStG, § 16 Abs. 1 BsGaV, also für gesetzlich fingierte, gewissermaßen künstliche „Als ob-Geschäftsvorfälle“ zwischen dem Unternehmen und der Betriebsstätte25. Ziel und Zweck der Neuregelung ist es explizit, „die Besteuerung grenzüberschreitender Vorgänge im Hinblick auf die Gewinnabgrenzung bzw. Gewinnverteilung klar und für alle Investitionsalternativen (Kapitalgesellschaften, Personengesellschaften, Betriebsstätten) einheitlich zu regeln.“26 So verstanden baut die Betriebsstättengewinnermittlung nach § 1 Abs. 5 AStG „technisch“ unbeschadet aller Spezifika wie bisher auch auf der Zurechnung nach Veranlassungsgesichtspunkten auf. (Nur) für Zwecke der Einkünftezurechnung ist sodann aber „eine Funktions- und Risikoanalyse der Geschäftstätigkeit der Betriebsstätte (§ 12 der Abgabenordnung) als Teil der Geschäftstätigkeit des Unternehmens durchzuführen“ (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BsGaV), auf deren Basis die Verrechnungspreise nach Maßgabe des Fremdvergleichsgrundsatzes zu ermitteln sind (§  1 Abs.  1 Satz  2 23 I.d.F. des AmtshilfeRLUmsG v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809 ff. 24 Melhem/Dombrowski, IStR 2015, 912 (913). 25 Das ähnelt der Beziehung zwischen der Trägerkörperschaft und dem Betrieb gewerblicher Art, für die die Rechtsprechung seit jeher auch eine Art „Proforma“-Schuldrechtsbeziehung geschaffen hat; vgl. auch Gosch in Lüdicke, Vermeidung der Doppelbesteuerung und ihre Grenzen, 2013, S. 141 ff. (151). 26 Vgl. BT-Drucks. 17/10000, 61.

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BsGaV). Hierbei sind namentlich die Personalfunktionen zu bestimmen, die der Betriebsstätte und dem übrigen Unternehmen zuzurechnen sind (§ 1 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 AStG, § 1 Abs. 2 Nr. 1 BsGaV), und diese Funktionen bestimmen wiederum über die Zuordnung die Vermögenswerte sowie die Chancen und Risiken des Unternehmens (§ 1 Abs. 5 Satz 3 Nrn. 2 und 3 AStG, § 1 Abs. 2 Nr. 2 BsGaV)27. b) Allgemeine Gewinnermittlungs- oder „bloße“ Einkünftekorrektur­vorschrift? Anders als es in Einklang mit der vorstehenden Zielsetzung aus systematischer Sicht vielleicht zu erwarten wäre, ist der hierdurch „umgesetzte“ AOA nicht im EStG (dort im Kontext von § 4 bis 7i EStG) als besondere Form der Gewinnermittlung enthalten28. Darüber, ob diese „Verortung“ sachgerecht ist, streiten sich die „Geister“, und das zu Recht. Denn die Regelungen sind „kraft Natur“ und nach dem Willen ihrer „Urheber“ in der OECD erklärtermaßen als Gewinn- und Unterschiedsbetragsermittlung für (in- und ausländische) Betriebsstätten konzipiert29. Das aber paßt nicht dazu, daß die Norm im AStG und dort in § 1 plaziert ist. Angesichts dessen mag vielleicht nicht hundertprozentig klar sein, ob die Vorschrift (trotzdem) als Teil der allgemeinen Gewinnermittlungs- und Abgrenzungsvorschriften fungiert oder „bloß“ der Einkünftekorrektur dient. Diese (Ausgangs-)Frage harrt nicht zuletzt deswegen der Beantwortung, weil sie darüber entscheidet, ob die Regelung „rechtstechnisch“ innerhalb der aus der Handelsbilanz abgeleiteten Steuerbilanz greift oder aber erst auf einer zweiten Stufe einer außerbilanziell vorzunehmenden Korrektur. Die Antwort auf diese Frage entscheidet zudem darüber, ob das bisherige, von der Rechtsprechung entwickelte Konzept einer veranlassungsgetragenen Zuordnung und Aufteilung von Einkünften und Aufwendungen der Betriebsstätte vollends über Bord zu werfen und durch die Selbständigkeitsfiktion und deren Weiterungen zu ersetzen ist. Die Argumente, welche den AOA-Regeln einen „einheitlichen Standard“ zumessen wollen, lassen sich hören. Ihnen steht vor allem die Zielsetzung zur Seite, daß sich eine bündige Lösung nur erreichen läßt, wird der Fremdvergleichsgrundsatz symmetrisch angewendet, also sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Steuerpflichtigen. Gleichwohl ist ihnen nicht beizupflichten. Dagegen spricht neben der systematisch-­ „örtlichen“ Positionierung der Norm im AStG namentlich der wortlautgetragene enge Bezug auf § 1 Abs. 1 AStG. Dieser Bezug ist eindeutig. Er kann nicht dadurch aus dem Weg geräumt werden, daß die Selbständigkeits- und Unabhängigkeitsfiktion der Betriebsstätte bereits im Rahmen der allgemeinen Gewinnermittlung zugrunde zu legen wäre. Die jeweiligen Konzepte der Gewinnermittlung und der Einkünfte27 Zu den im Ausgangspunkt ähnlichen, dennoch spezifischen Fragen der Zuordnung von Dotationskapital an die Betriebsstätte s. unten IV.6. 28 Kaeser in Wassermeyer, Art. 7 OECD-MA 2014 Rz. 380. 29 Ditz, ISR 2013, 261, wonach die Definition des Ersatztatbestandes im Hinblick auf die Abrechnung unternehmensinterner Liefer- und Leistungsbeziehungen zwischen Stammhaus und Betriebsstätte als Durchbrechung des Realisationsprinzips, die Regelungen zur bilanziellen Zuordnung von Wirtschaftsgütern zum Stammhaus bzw. zur Betriebsstätte, die Ermittlung des Dotationskapitals der Betriebsstätte sowie die Anerkennung eines Betriebsausgabenabzug fiktiver Leistungsentgelte gesetzlich im EStG zu verankern ist.

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korrektur unterscheiden sich vielmehr; gerade anhand der eigens eingeführten Hilfsund Nebenrechnung in § 3 BsGaV erweist sich das. § 1 Abs. 5 AStG ist sonach eine „lupenreine“ Einkünftekorrekturvorschrift30. Das allerdings bezogen nur auf Innentransaktionen, welche durch § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AStG in „anzunehmende schuldrechtliche Beziehungen“ umkonfiguriert werden. Nur daran knüpft § 1 Abs. 5 AStG an. Für Außentransaktionen bleibt § 1 Abs. 5 AStG hingegen bedeutungslos31. Solche sind ausschließlich nach den herkömmlichen Grundsätzen unter Zuhilfenahme des allgemeinen Veranlassungsprinzips, hierbei auch des Fremdvergleichs ohne „Beeinflussung“ durch § 1 Abs. 5 AStG, zuzuordnen32. c) Wirkungsweisen und Rechtsfolgen Die so verstandene (und bei Licht betrachtet ohne „Auslegungsverrenkungen“ auch nur so „verstehbare“) Vorschrift erfordert im Kontext mit § 1 Abs. 1 AStG eine Einkünfteminderung; nicht fremdvergleichsgerecht ausgehandelte Einkünfte des Steuerpflichtigen sind zu erhöhen. Eine Einkünfteerhöhung mit ebenfalls entsprechender Gegenkorrektur der Einkünfteminderung bleibt hingegen ausgespart. Die Grundsätze des AOA werden sonach bloß „einäugig“ asymmetrisch umgesetzt. Der Gesetzgeber macht auf halbem Wege kehrt, vermutlich aus fiskalen Zwecken33. Immerhin verkehrt sich der Korrekturmechanismus (nach § 1 Abs. 5 Satz 1 letzter Halbsatz AStG) dann bei den betroffenen Steuersubjekten gleichermaßen: Ein beschränkt Steuerpflichtiger kann die Minderung seiner inländischen Einkünfte erreichen, ein un­ beschränkt Steuerpflichtiger die Erhöhung seiner ausländischen Einkünfte, immer vorausgesetzt allerdings, die Akteure handeln im räumlichen und sachlichen Anwendungsbereich eines DBA, dem das OECD-MA 2010 mit Umsetzung des AOA zugrunde liegt; nur dann ist das deutsche Besteuerungsrecht in diesem Punkt beschränkt34. d) Speziell: Die „kausale“ Einkünfteminderung Unabhängig von Vorstehendem verknüpfen sich die Tatbestände des § 1 Abs. 1 und Abs. 5 AStG auch an anderer Stelle miteinander, indem sie beide verlangen, daß die Einkünfteminderung kausal auf der Vereinbarung nicht fremdvergleichsgerechter 30 Gosch, IWB 2012, 779 (785 f.); und in Kirchhof, 17. Aufl., § 49 EStG Rz. 18, § 50a Rz. 19a; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 4. Aufl., Rz. 21.22; anders Berner, Betriebsstättenbesteuerung nach dem AOA, 63  ff.; Nientimp/Schwarz/Stein, IStR 2016, 487; Wassermeyer in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht, § 1 AStG Rz. 67. 31 Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 4. Aufl., Rz. 21.22; Kaeser in Wassermeyer, Art. 7 OECD-MA 2010 Rz.  700  f.; Ditz, ISR 2013, 261 (266  f.); Neumann-Tomm, IStR 2015, 907; aber wohl entgegen der Verwaltungsmeinung, BMF v. 26.9.2014, BStBl. I 2014, 1258 Tz. 2.2.3. 32 Gosch in Kirchhof, 17. Aufl., § 49 EStG Rz. 15 f. 33 Dem Versuch, dem dadurch zu entgehen, daß vor Anwendung von § 1 Abs. 1 AStG eine außerbilanzielle Korrektur nach § 1 Abs. 5 AStG in beide Richtungen vorgenommen wird (so Nientimp/Schwarz/Stein, IStR 2016, 487 ff.), fehlt die Rechtsgrundlage. 34 Ditz, ISR 2013, 261; Girlich/Müller, ISR 2015, 169; Schnitger, IStR 2012, 633.

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Preise beruht („dadurch“). Dieses Erfordernis beschränkt den Anwendungs- und Wirkungsbereich der Vorschrift von vornherein. § 1 Abs. 5 AStG erfaßt allein die anzunehmenden schuldrechtlichen Beziehungen und fingiert für diese Beziehungen in seinem Satz 2 „die Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes“. An weiteren Fiktionen fehlt es, insbesondere bezogen auf das beschriebene Kausalitätserfordernis. Dessen aber hätte es bedurft, weil reine Innentransaktionen tatsächlich nun einmal keinen Realisationsakt auslösen. Auch § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG und § 12 Abs. 1 KStG und die dort bestimmten Fiktionen können hier nicht „aushelfen“, weil sie zwar eine Wertkorrektur bewirken, jedoch nicht den Fremdvergleich aktivieren und nicht von einer Fremdunüblichkeit ausgehen. Mit anderen Worten: Dem tatbestandlichen Kausalitätserfordernis wird nicht genügt; die Vorschrift läuft (nicht bloß deshalb, s. nachfolgend unter V.) weitgehend leer: Ein regulatorischer „Stockfehler“ mit beachtlichen Rechtskonsequenzen. Daß der BFH in vergleichbaren Fällen gesetzlicher Fiktionen eine stringente „Fiktionskette“, ein konsequentes „Zu-Ende-Denken der Fiktion als Tatsachenersatz“, verlangt, hat er bereits wiederholt unter Beweis gestellt, etwa im Kontext des §  50d Abs. 10 EStG in seiner ursprünglichen Fassung, dort bezogen auf die fehlende Fiktion einer Betriebsstätte35. Bei dieser Stringenz zu bleiben, zwingt ihn seine Aufgabe als Regelungsinterpret und nicht als Ersatzgesetzgeber. Und deshalb kann auch dahinstehen, daß der BFH über die Konsequenzen, die sich aus dem tatbestandlichen Kausalitätserfordernis ergeben, bislang noch nicht abschließend befunden hat, dort konkret betreffend die Frage, ob auch eine innerstaatliche Ermächtigung zur Teilwertabschreibung (wie in § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG) als „Fernwirkung“ einer fehlenden Forderungsbesicherung dem Kausalitätserfordernis des § 1 Abs. 1 AStG unterfällt36. (Um diese letztere Frage hier aber zu beantworten: Sie tut das nicht)37. e) Der Begriff der Betriebsstätte Daß sich die Voraussetzungen und Wirkungsweisen des AOA auf Betriebsstätten beziehen, liegt in der Natur der Sache. Das gilt eigentlich gleichermaßen, was den Begriff der Betriebsstätte angeht. Dieser sollte sich im Abkommenskontext auf Art. 5 OECD-MA beziehen. Die „Nationalisierung“ des AOA in innerstaatliches Recht durch § 1 Abs. 5 AStG lehrt aber anderes: § 1 Abs. 5 Satz 1 AStG nimmt ausdrücklich Bezug auf §  12 AO. Das ist nachvollziehbar, geht es doch darum, den nationalen Steueranspruch abzusichern. Das ist dennoch unzulänglich, weil das Erfordernis einer Einkünftekorrektur nach § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AStG gerade staatenübergreifend ansetzt, und weil es darum geht, Art. 7 Abs. 1 und 2 OECD-MA 2010 umzusetzen. Zudem erweitert die Bezugnahme auf §  12 AO den Anwendungsbereich regelungsfern auch auf land- und forstwirtschaftliche Betriebe. Immerhin droht in diesem Punkt infolge der streng national definierten Betriebsstätte (vordergründig, s. 35 BFH v. 8.9.2010 – I R 74/09, BStBl. II 2014, 788. 36 BFH v. 17.12.2014 – I R 23/13, BStBl. II 2016, 261 und v. 24.6.2015 – I R 29/14, BStBl. II 2016, 258. 37 Ditz in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch, 2. Aufl., Rz. 2.292.

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aber unten IV. 7.) keine Kollision mit der innerhalb der OECD diskutierten Ausweitung des Betriebsstättenbegriffs.

IV. Die Rechtsprechung des BFH und der AOA: Was bleibt? Was ändert sich? Eine Auswahl Vor diesem Hintergrund der Neukonzeption und auf dieser Basis ist nun zu fragen, ob der BFH die einschlägigen Rechtspositionen, die er in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart eingenommen hat, beibehalten kann oder gar muß. Oder ob der AOA und dessen innerstaatliche Umsetzung ihn nötigen, das eine oder andere zu überdenken. Dieser Frage ist anhand einiger „Auswahlsachverhalte“ nachzugehen. 1. Zuordnung von Beteiligungen Begonnen sei dazu mit einer Kernproblematik, der Zugehörigkeit eines Wirtschaftsguts und hierbei spezifisch von Beteiligungen zu einer Betriebsstätte. Der BFH38 hat sich dazu verschiedentlich geäußert, zumeist39 im Kontext des sog. Betriebsstättenvorbehalts nach Art.  10 Abs.  4, Art.  11 Abs.  4 und Art.  12 Abs.  3 OECD-MA, also des Dividenden-, Zins- und Lizenzartikels. Danach bedarf es einer „tatsächlichen“ Zuordnung der den betreffenden Einkünften zugrundeliegenden „Stammrechte“ zu der Betriebsstätte. Anders verhält es sich bei der bilateralen Zuordnung von Betriebsstätten-Veräußerungsgewinnen nach Art.  13 Abs.  2 OECDMA; hier fehlt das tatbestandliche Erfordernis des „Tatsächlichen“, was wiederum zur Konsequenz hat, daß der BFH für die Zuordnung auf einen „wirtschaftlichen Zusammenhang“ abstellt, der sich seinerseits in bestimmten Situationen am Maßstab des Sonderbetriebsvermögens nach §  15 Abs.  1 Satz  1 Nr.  2 EStG orientieren kann40. Sieht man von dieser letzteren Besonderheit ab, wurzelt die „tatsächliche“ Zugehörigkeit in einer eigenständigen Zuordnungswürdigung, einer solchen im Sinne eines funktionalen Zusammenhangs zur Geschäftstätigkeit der Betriebsstätte, wobei  – ­jedenfalls gedanklich  – auch bei einem funktionsgetragenen, normativ wertenden Veranlassungsprinzip Anlehnung gesucht wird, dieses als Ausdruck des „Fremdvergleichens“ nach herkömmlichen Maßstäben, unbeeinflußt von irgendwelchen artifiziellen gesetzlichen Vorgaben (s. dazu nachfolgend unter III. 2.a und V.). Zivilrechtliche oder abweichende fiktive Zuordnungsmerkmale im Steuerrecht sind prinzipiell davon abzugrenzen. Es entscheidet dann jeweils der Einzelfall, Allgemeingültiges läßt sich schwerlich aufstellen. 38 BFH v. 30.8.1995  – I R 112/94, BStBl.  II 1996, 563; v. 17.12.2003  – I R 47/02, BFH/NV 2004, 771; v. 19.12.2007 – I R 66/06, BStBl. II 2008, 510; v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464. 39 Aber nicht nur, s. zuletzt BFH v. 29.11.2017 – I R 58/15, DB 2018, 804 (dort zu § 32 Abs. 1 Nr. 2 KStG, § 49 Abs. 1 Nr. 2 lit. a EStG in einem Nicht-DBA-Fall). 40 BFH v. 13.2.2008 – I R 63/06, BStBl. II 2009, 414; s. dazu Gosch in Gosch/Kroppen/Grotherr/Kraft, Art. 13 OECD-MA Rz. 80 ff.

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Hat sich an diesen Maßstäben nun etwas geändert? Die Finanzverwaltung verneint das. Sie geht im BMF-Schreiben vom 26.9.201441 davon aus, daß die Grundsätze des § 1 Abs. 5 AStG in ihren „Grundzügen (…) mit der Rechtsprechung zum funktionalen Zusammenhang“ übereinstimmen. Ob dem so ohne weiteres beigepflichtet werden kann, erweist sich allerdings als fraglich, auch wenn sowohl der Spruchpraxis des BFH als auch dem AOA eine „funktionsorientierte Betrachtungsweise“ zugrunde liegen. Denn die bisherige Spruchpraxis des BFH orientiert sich zuvörderst an der „dienenden“ Funktion der Beteiligung und macht anhand dieses „Dienens“ die Zuordnung „fest“. Die Zuordnungsparameter, die der AOA setzt, wurzeln demgegenüber in der maßgeblichen Personalfunktion. Diese, durch § 1 Abs. 5 AStG umgesetzte Bestimmung des AOA soll durch § 7 BsGaV ausgefüllt und handhabbar gemacht werden. Beteiligungen (ebenso wie Finanzanlagen und ähnliche Vermögenswerte) sind danach eigenständig nach jener Personalfunktion zuzuordnen. Was genau unter Personalfunktion zu verstehen ist, wird nicht definiert, weder in § 1 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 AStG noch in § 2 Abs. 3 BsGaV, auch nicht, wenn dort ein Bezug zu den Geschäftstätigkeiten des Unternehmens hergestellt wird. Die Zuordnung soll sich jedenfalls nach der „Nutzung“ der Beteiligung richten, vom Verordnungsgeber als „mittelbarer Gebrauch“ bezeichnet (§ 7 Abs. 1 Satz 1 BsGaV), und diese Nutzung orientiert sich sodann abweichend von dem Nutzungsbegriff bei materiellen Wirtschaftsgütern (§  5 BsGaV) ihrerseits an den funktionalen Zusammenhängen mit der Geschäftstätigkeit der Betriebsstätte. Die derart verstandene Nutzung soll die nach § 1 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 AStG iVm. § 4 Abs. 1 Nr. 1 BsGAV maßgebliche Personalfunktion repräsentieren. „Genutzt“ wird in diesem Sinne wiederum – und damit wird „der „Schwenk“42 zur Rechtsprechung vollzogen –, wenn die Beteiligung der sonstigen Geschäftstätigkeit der Betriebsstätte „dient“43. Die BsGaV löst den Begriff der Nutzung damit von einem allgemeinen Begriffsverständnis des Gebrauchens und der Fruchtziehung und verengt ihn zu einem spezifischen und an sich begriffsfernen „funktionalen Dienen“. Die (früheren) Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze, wonach Beteiligungen von vornherein dem Stammhaus zuzuordnen waren44, werden aufgegeben. – Diese neuerliche innerstaatliche Handhabung geht einem anderweitigen abkommensrechtlichen Ansatz prinzipiell vor, jedenfalls dann, wenn der Steuerpflichtige mit dem Nachweis scheitert, daß es andernfalls zu einer doppelten Besteuerung infolge unterschiedlicher Rechtsausübung in dem anderen Vertragsstaat kommt, § 1 Abs. 5 Satz 8 AStG; insoweit wirkt § 1 Abs. 5 Satz 8 AStG abkommensüberschreibend als (Reverse) Treaty override45. Das alles muß nicht, es kann aber im Detail zu voneinander abweichenden Ergebnissen führen. Es kann doppelte Besteuerungen nach sich ziehen, weil keineswegs gesichert ist, daß die Staaten wechselseitig dasselbe Rechtsverständnis zugrunde legen. 41 BStBl. I 2014, 1258 Tz. 2.2.4.1. 42 Häck in Flick/Wassermeyer/Kempermann, Art. 10 DBA Deutschland/Schweiz Rz. 142. 43 BMF v. 22.12.2016, BStBl. I 2017, 182 Rz. 103. 44 BMF v. 24.12.1999, BStBl.  I 1999, 1076 Rz.  2.; allg. dazu Ditz in Schönfeld/Ditz, Art.  7 (2008) OECD-MA Rz. 127. 45 Andresen in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch, 2. Aufl., Rz. 4.216.

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Zudem entspricht die derart im innerstaatlichen Recht umgesetzte Zuordnung nicht dem von der OECD favorisierten Ansatz, wonach Beteiligungen als quasi-immaterielle Wirtschaftsgüter anhand der Chancen und Risiken hinsichtlich des Erwerbs, der Erstellung, des Verkaufs oder der Verwaltung zugeordnet werden sollen46. § 7 Abs. 2 BsGaV läßt für solche Zuordnungsmaßstäbe indessen nur dann Raum, wenn die Bedeutung einer „anderen Personalfunktion (einer anderen Betriebsstätte im Zusammenhang mit der Anschaffung, Verwaltung, Risikosteuerung oder Veräußerung) „eindeutig … überwiegt“47. Auch diese Inkonsistenz zwischen der tatsächlichen Umsetzung in innerstaatliches Recht und dem von der OECD empfohlenen Ansatz kann in Einzelfällen zu abweichenden Zuordnungen führe, auch sie birgt die Gefahr einer Doppelbesteuerung in sich48. Festzuhalten ist: Der AOA hat seiner „Idee“ nach nichts daran geändert, daß sich die Zuordnung einer Beteiligung zu einer Betriebsstätte nach wie vor an einem funktionsbezogenen Maßstab ausrichtet. Soweit und solange die Betriebsstätte die Beteiligungen für ihren unternehmerischen Zweck nutzt und die Beteiligungserträge zu dem Betriebsstättenergebnis beitragen, sind sie der Betriebsstätte „funktional“ zugehörig. Gleiches gilt dann, wenn die Betriebsstätte ein aktives „Beteiligungsmanagement“ betreibt und die Beteiligungen nicht lediglich passiv „hält“. Im einzelnen läßt sich das Ergebnis solcher Beurteilungen allerdings nur schwer prognostizieren. Die Wertungsaspekte sind oft „schwammig“ und die vom Verordnungsgeber49 apostrophierte „eindeutige“ Zuordnung nach „objektiven Gesichtspunkten“ erscheint eher als behauptend denn als begründend. Das trifft zuweilen zwar gleichermaßen auf die Rechtsprechung des BFH zu. Dennoch oder gerade deshalb, weil keiner der Ansätze einen überzeugenden Vorteil verspricht, ist ungeachtet der Neuregelungen nicht davon auszugehen, daß der BFH seine bisherige Spruchpraxis aufgeben müßte; sie ist prinzipiell beizubehalten50. 2. Überführung von Wirtschaftsgütern und Entstrickung Ein weiteres „großes“ Thema der abgrenzenden Zuordnung der Erfolgsbeiträge zwischen Stammhaus und Betriebsstätte erfordern seit jeher Überlegungen zur Überführung von Wirtschaftsgütern und hierbei einer steuerpflichtigen Entstrickung. Dem herkömmlichen, weitgehend vom BFH geprägten früheren Verständnis nach wurde dazu die sog. finale Entnahmetheorie vertreten51. Danach ist die Überführung eines Wirtschaftsguts in die in dem anderen Vertragsstaat belegene Betriebsstätte fiktiv einer Entnahme aus dem Betriebsvermögen i.S. von § 4 Abs. 1 Satz 2 EStG gleich46 OECD Betriebsstättenbericht 2010, Teil 1, Rz. 79, wonach Beteiligungen von den für immateriellen Wirtschaftsgütern betreffenden Regelungen erfaßt werden. 47 Krit. auch Stellungnahme des IDW v. 17.10.2013 zu § 7 BsGaV-E, S. 9. 48 Kraft/Dombrowski, Ubg 2015, 143. 49 S. die Verordnungsbegründung v. 28.8.2014, BR-Drucks. 401/14, 64. 50 Zutreffend Hruschka, IStR 2016, 437; Häck in Flick/Wassermeyer/Kempermann, Art.  10 DBA Deutschland/Schweiz Rz. 142. 51 S. dazu im einzelnen und m.w.N. BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464.

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behandelt worden. Nur derart und durch den daraus abzuleitenden Teilwertansatz des betreffenden Wirtschaftsguts lasse sich sicherstellen, daß dem „weggebenden“ Vertragsstaat der steuerliche Zugriff auf die aufgelaufenen stillen Reserven erhalten bleibe. Dieser Ansatz stand stark in der Kritik. Zum einen fehle es an der erforderlichen Rechtsgrundlage, um eine solche fiktive Entstrickung annehmen zu können. Zum anderen sei das alles ohnehin unionsrechtswidrig. Das hat den BFH52 in der Folgezeit zu einer (allseits erwarteten) Kehrtwende veranlaßt: Eine Entnahme lasse sich nicht tragfähig begründen, bleibe das Wirtschaftsgut doch vor wie nach Überführung in die Auslandsbetriebsstätte Bestandteil des Betriebsvermögens. Und ohnehin sei die Wirkkraft der zwischenstaatlich verabredeten Freistellung ausländischer Betriebsstätteneinkünfte bislang nicht richtig verstanden worden. Denn es sei aus Abkommenssicht keineswegs so, daß der „abgebende“ Vertragsstaat sein Besteuerungsrecht an dem überführten Wirtschaftsgut endgültig einbüße. Davon könne keine Rede sein, weil jenem Staat der Zugriff auf die stillen Reserven, die bis zum Überführungsstichtag in seinem Territorium aufgelaufen seien, uneingeschränkt erhalten bleibe. Wie dann die anteilige Zurechnung im einzelnen zu bewerkstelligen und technisch umzusetzen ist, blieb ­allerdings offen, entweder stichtagsgenau oder aber nach Maßgabe der jeweiligen Wertschöpfungsbeiträge. Der neueren Sichtweise des BFH ist beizupflichten. Sie gibt zwar keine „rundum“ befriedigende Antwort auf alle Fragen, die sich stellen, beispielsweise auf die Frage, wie es sich verhält, wenn das überführte Wirtschaftsgut im anderen Staat untergeht oder an Wert verliert.53 Sie entspricht aber dem abkommensrechtlich zutreffenden Verständnis, sie deckt sich überdies mit der Rechtsprechung des EuGH54, und sie entsprach auch der früheren Auffassung der OECD – aufbauend auf der Theorie des sog. Functionally Separate Entity-Approach, die seinerzeit allerdings, wie erwähnt, keine Rückkoppelung im OECD-MA hatte. (Zudem ist es nicht Aufgabe der Rechtsprechung, ohne Regelungsgrundlage vollends „fertige“ Lösungskonzepte zu offerieren.) Die vorgestellten Antworten auf die Zuordnungsfragen orientieren sich jedenfalls (nur) an den Maßstäben des Fremdvergleichs, innerstaatlich bislang also an dem Veranlassungsgedanken, abkommensrechtlich an dem damit einhergehenden Maßstab des „dealing at arm’s length“. Auch (siehe bereits oben III. 2.a) daran dürfte sich fortan nichts Wesentliches ändern. Gerade dadurch, daß vermittels der neu installierten Regelungen des § 1 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AStG eine schuldrechtliche Beziehung zwischen Stammhaus und Betriebsstätte fingiert wird, ver­ wirklicht sich die „konsequente Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes“.55 Der gemeine Wert (§  9 Abs.  2 BewG), mit welchem die überführten Wirtschaftsgüter ­anzusetzen sind, entspricht, so verlautbaren die VWG BsGa56, „regelmäßig“ dem Fremdvergleichspreis. 52 BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464. 53 Vgl. Gosch, IWB 2012, 779; a.A. (und mit der ihm zuweilen eigenen Heftigkeit s. auch Fn. 62), Wassermeyer, IStR 2017, 37 (39) „Das Urteil ist … falsch“. 54 Seit EuGH v. 29.11.2011 – C-371/10 – National Grid Indus BV, DStR 2011, 2334. 55 Looks in Looks/Heinsen, Betriebsstättenbesteuerung, 3. Aufl., 2017, Rz. 948. 56 VWG BsGa, BMF v. 22.12.2016, BStBl. I 2017, 182 Rz. 20.

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Letzteres wird zwar oftmals in der Tat zutreffen, ist andererseits nicht zwingend und kann nicht vorbehaltlos unterstellt werden. Eine andere Frage ist es, ob der zwischenzeitlich geschaffene gesetzliche Entstrickungstatbestand in Gestalt von §  4 Abs.  1 Satz  3 EStG und gleichermaßen der fiktive Veräußerungstatbestand in §  12 Abs.  1 KStG die bislang vermißten innerstaatlichen Zugriffstatbestände bewirken. Das ist hochkontrovers. Denn ebenso wie schon bei der im Ausgangspunkt und Kern parallelen und systematisch eng verwandten Situation der sog. finalen Entnahme in § 4 Abs.  1 Satz  3 und 4 EStG verknüpft das Gesetz den Besteuerungszugriff mit dem „Ausschluß“ oder der „Beschränkung“ des Besteuerungsrechts Deutschlands. Gerade ein solcher „Ausschluß“ wird vom BFH57 aber verneint, indem er Deutschland zugesteht, seinen Anspruch auf Teilhabe an den im Inland erwirtschafteten stillen Reserven nachträglich zu erfassen. Ein „Mehr“ an Zugriff stand Deutschland, jedenfalls bei Vereinbarung der Freistellungsmethode und damit des Art. 13 Abs. 2 OECDMA auch zuvor zu keinem Zeitpunkt zu. Von einem „Ausschluß“ kann so gesehen keine Rede sein. Und eine „Beschränkung“ scheidet aus, weil dieser Terminus zweifelsfrei auf dem abkommensrechtlichen Verständnis einer Anrechnung ausländischer Ertragsteuern aufbaut; bloße Schwierigkeiten des Besteuerungsvollzugs sind keine „Beschränkung“ in diesem spezifischen Rechtssinne. Auf diesem Abkommensverständnis baut nicht zuletzt auch, das wurde ja schon erwähnt, die Erkenntnis des EuGH aus Sicht des Unionsrechts auf.58 § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG und das dort gesetzlich festgelegte Regelungsbeispiel sollten an dieser Einschätzung wohl kaum etwas ändern können, es sei denn, man erkennt darin die spezialgesetzliche Fiktion eines Entstrickungsfalles. Schließt man sich dieser, hier vertretenen skeptischen Sichtweise an, fehlt es insoweit nach wie vor an der erforderlichen Rechtsgrundlage, um den Besteuerungszugriff abzusichern.59 Und eine solche Grundlage wird auch nicht durch den AOA und durch § 1 Abs. 5 AStG geschaffen. Die allgemeinen Entstrickungsregeln des § 4 Abs. 1 Satz 3 und 4 EStG und des § 12 Abs. 1 KStG stehen in ihrem tatbestandlich-systematischen Ausgangspunkt wie in ihren Rechtswirkungen „unverbunden“ neben §  1 Abs.  5 AStG. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Es sei erinnert (s. oben unter III.2.b): § 1 Abs. 5 AStG ist mit den Gesetzesmaterialien und im Einklang mit dem Regelungstext als Einkünftekorrekturvorschrift zu qualifizieren; seine Rechtsfolgen sind im Rahmen der zweistufigen Gewinnermittlung auf der zweiten Stufe zu ziehen und bewirken eine außerbilanzielle Korrektur60. § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG hingegen greift bereits auf der ersten Stufe der Gewinnermittlung, also innerbilanziell61. Bei der fiktiven 57 BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464. 58 S. Fn. 54. 59 Gosch in Kirchhof, EStG, 17. Aufl., § 49 Rz. 16, § 36 Rz. 28, m.w.N. 60 Andresen in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch, 2. Aufl., Rz. 4.45 ff., 4.211 f. 61 Allerdings ist auch das hochumstritten. S. z.B. einerseits Wassermeyer, DB 2008, 430; Srebne, StB 2008, 317; Atilgan, NWB 2016, 936, die im Kern von einer Gesamtsteuerbilanz ausgehen, weil sich Entnahmen grundsätzlich erfolgsneutral zu Lasten des Eigenkapitals auswirken; andererseits z.B. einerseits Kramer, DB 2007, 2338, DB 2008, 433: außerbilanzielle Ausbuchung und fiktive Einlage, wobei § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG der Gewinnabgrenzung und

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Veräußerung nach § 12 Abs. 1 KStG sollte es ähnlich liegen, jedenfalls dann, wenn man der fiktiven Veräußerung zeitgleich einen fiktiven Erwerb an die Seite stellt; denn daß das Wirtschaftsgut ja fortdauernd zum Gesamtbetriebsvermögen des Unternehmens zugehört, dürfte fraglos sein62. Davon ausgehend ist das „Entstrickungsregime“ der §  4 Abs.  1 Satz  3 EStG, §  12 Abs. 1 KStG gegenüber § 1 Abs. 5 AStG systematisch vorrangig. „Unterfüttert“ wird das durch die in § 1 Abs. 1 Satz 1 AStG enthaltene Subsidiaritätsanordnung („unbeschadet anderer Vorschriften“), die sich implizit auch in § 1 Abs. 5 Satz 6 AStG bemerken läßt: Danach wird die Möglichkeit, einen Ausgleichsposten nach § 4g EStG zu bilden, durch § 1 Abs. 5 AStG nicht beschränkt; sie ist hiernach folglich nicht gegeben. Kurzum: §  1 Abs.  5 AStG wirkt regelungsergänzend63, nicht regelungsverdrängend. Das entspricht der BsGaV; nach der dazu gegebenen Begründung wirkt die Erstellung einer Hilfs- und Nebenrechnung sich nicht auf eine Entstrickung in der steuerlichen Gewinnermittlung aus64. Überdies bleibt zu beachten, daß der Ausschluß und die Beschränkung des nationalen Besteuerungsrechts, wie das eine oder das andere in § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG und in § 12 Abs. 1 KStG rechtsfolgenauslösend sein sollen, sich nicht automatisch mit jenen Erfordernissen decken, welche die Korrektur des § 1 Abs. 5 AStG nach sich ziehen. Das kann die Frage der Zuordnung der entstrickten Wirtschaftsgüter zu einer Betriebsstätte betreffen. Zudem können der gemeine Wert des einstrickten Wirtschaftsguts und der Fremdvergleichspreis auseinanderfallen. Ist ersterer niedriger als letzterer, bleibt § 1 Abs. 5 AStG als „weitergehende Berichtigung“ nach § 1 Abs. 5 Satz 3 AStG partiell anwendbar. „Ungereimt“ ist allerdings, daß der entsprechende Lebenssachverhalt (= Über­ führungsvorgang) einmal überhaupt nicht, ein anderes Mal vollumfänglich in die Hilfs- und Nebenberechnung eingeht. Ursächlich für diese Ungereimtheit ist zum einen, daß § 1 Abs. 5 AStG als Gewinnkorrektur ausgestaltet ist, aber eigentlich die Abgrenzung „meint“. Zum anderen, daß sich die Zuordnungsmerkmale des Entnahmebeispiels in § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG und die Zuordnungsmerkmale des § 1 Abs. 5 AStG nicht miteinander vertragen: hier gilt uneingeschränkt das allgemeine Veranlassungsprinzip, dort (auf der zweiten Ermittlungsstufe) die Zuordnung nach Maßgabe der Personalfunktion65. Festzuhalten bleibt: Der BFH muß seine bis dato praktizierte Spruchpraxis zur Entstrickung (momentan) nicht ändern, sie sollte von dem AOA unberührt bleiben. Er muß allerdings Farbe bekennen, was die tatbestandlichen Voraussetzungen der § 4 nicht der Gewinnermittlung dienen soll - für eine solche Sichtweise dürfte es aber an der gesetzlich erforderlichen Anordnung einer fiktiven Einlage in das Betriebsvermögen der Betriebsstätte mangeln. 62 Z.B. von Freeden in Rödder/Herlinghaus/Neumann, § 12 KStG Rz. 70. 63 Ditz in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch, 2. Aufl., Rz. 6.133: „Auffangvorschrift“. 64 BR-Drucks. 401/14, 51; Leonhardt/Tcherveniachki in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schön­ feld, § 1 AStG Rz. 2816. 65 Ähnlich wohl Andresen in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch, 2. Aufl., Rz. 4.33.

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Abs. 1 Satz 3 EStG und § 12 Abs. 1 KStG angeht, also zu der Frage, ob jene Tatbestände fiktiv entstrickungs- oder veräußerungsauslösend sein können. Dazu könnte er im Rahmen der anhängigen Revision XI R 24/1566 aufgefordert sein. 3. Vorweggenommene und nachträgliche Einnahmen und Betriebsausgaben Viel „Gegenwind“67 (selbst aus den eigenen Reihen68) mußte der BFH für seine bislang (und im Schulterschluß mit dem BMF69) konsequent verfochtene Rechtsprechung einstecken, wonach – bei Vereinbarung der abkommensrechtlichen Freistellung (Art.  23 A OECD-MA)  – gleichermaßen Einnahmen und Betriebsausgaben „ausgesperrt“ bleiben, die durch die ausländische Besteuerungsquelle veranlaßt sind, und zwar auch dann, wenn sie vorweggenommener70 oder nachträglicher71 Natur sind. Er ist, was die vorweggenommenen Ausgaben anbelangt, sogar noch einen Schritt weitergegangen: Selbst „vergebliche“ Ausgaben beim Scheitern der Betriebsstättenerrichtung unterfallen dem innerstaatlichen Abzugsausschluß und „widerstehen“ der abkommensrechtlichen Schrankenwirkung. Daß es im Ausland an der tatsächlich begründeten Einkunftsquelle mangelt, ja daß eine solche gar nicht erst „geschaffen“ wird, stört ihn nicht. Es verbleibt bei der strikten Orientierung am Veranlassungsprinzip. Gegenüber stehen sich bei dieser Kontroverse zwei Grundpositionen: Die eine Grundposition steckt die Reichweite der Einkunftsfreistellung danach ab, ob die Voraussetzungen der jeweiligen Verteilungs- und Zuordnungsartikel im Zeitpunkt des Zu- oder Abflusses der betreffenden Einkünfte „schon oder noch gegeben sind“72. Fehlt es an einer gegenwärtigen Betriebsstätte, verfängt die abkommensrechtliche Freistellung (noch oder) nicht (mehr). Die andere Position nimmt demgegenüber den Zeitpunkt in Bezug, zu welchem die betreffenden, steuerbegründenden Tatbestandsmerkmale verwirklicht sind. Letzteres wiederum orientiert sich allein am nationalen Recht, dem lex fori. Ein abkommensspezifischer Zeitbezug, der geeignet wäre, diesen „nationalen“ Zeitpunkt (oder Zeitraum) zu derogieren, wird verneint.

66 Ursprünglich I R 95/15; Vorinstanz FG Düsseldorf v. 19.11.2015  – 8 K 3664/11 F, EFG 2016, 209. 67 Vgl. z.B. Wassermeyer, Art. 14 OECD-MA Rz. 86, Art. 7 OECD-MA 2000 Rz. 300; ders. in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch, 2. Aufl., Rz. 7.1 ff., 11.18 und in IStR 2015, 37 (38), dort einmal mehr (Fn. 53) heftig: „eindeutig falsch“; Ditz in Schönfeld/ Ditz, Art.  7 (2008) OECD-MA Rz.  185; Hemmelrath in Vogel/Lehner, 6. Aufl., Art.  7 OECD-MA Rz. 45; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 4. Aufl., Rz. 21.95 ff., 19.532; Kroppen in Gosch/Kroppen/Grotherr/Kraft, Art. 7 OECD-MA Rz. 191. 68 Schwenke in FS Gosch, 2016, S. 377; diff. für den Fall vergeblichen Gründungsaufwands auch bereits Buciek in Flick/Wassermeyer/Kempermann, Art. 7 DBA Deutschland-Schweiz Rz. 216. 69 BMF v. 24.12.1999, BStBl. I 1999, 1076 Tz. 2.9.1. 70 Z.B. BFH v. 26.2.2014 – I R 56/12, BStBl. II 2014, 703. 71 BFH v. 20.5.2015 – I R 75/14, BFH/NV 2015, 1687. 72 Z.B. Wassermeyer, IStR 2015, 37.

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Ändert der AOA an diesen Einschätzungen etwas? Bewegt er den BFH, seine Spruchpraxis aufzugeben? Das ließe sich womöglich aus dem Fremdvergleichsmaßstab ­ableiten, ist es doch zunächst einmal Sache des Stammhauses und damit des Ansässigkeitsstaats, den vorweggenommenen Aufwand im Zusammenhang mit der Errichtung einer (Auslands-)Betriebstätte zu tragen. Dabei verbleibt es, wenn die Betriebsstättengründung scheitert, andernfalls wären die zunächst übernommenen Aufwendungen vom Stammhaus weiterzubelasten. Gleichermaßen liegt es bei nachträglichen Einnahmen und Ausgaben der zwischenzeitlich weggefallenen Betriebsstätte: Die Betriebsstätte geht mit allen Chancen und Risiken wie ein selbständiger Teilbetrieb über, und das wird dann fiktiv unter Annahme einer Schuldrechtsbeziehung und unter Ansatz des Fremdvergleichspreises entgolten (vgl. auch § 3 Abs. 4 Satz 3 BsGAV, Rn. 68 VWG BsGA). Das Besteuerungsrecht für den daraus entstehenden Gewinn oder Verlust steht nach Art.  13 Abs.  2 OECD-MA dem Betriebsstättenstaat zu, wohingegen in Deutschland eine Besteuerung nach § 16 Abs. 3 und 3a EStG erfolgt. Auf den ersten Blick erscheint es so gesehen als allein sachgerecht, die neuerlich angelegte Selbständigkeitsfiktion konsequent durchzuhalten. Denn abweichend von der „reinen“ veranlassungsgetragenen Zuordnung verlangt der AOA den Blick auf die tatsächliche Existenz der Betriebstätte als Zuordnungspol; der Bezugsrahmen des nach wie vor anzuwendenden Veranlassungsmaßstabs hat sich verschoben und erweitert, weil er nunmehr auch virtuelle Schuldrechtsbeziehungen anerkennt. Gleichwohl ist fraglich, ob in diesem Punkt ein Umdenken angesagt ist und ob der BFH seine Spruchpraxis tatsächlich aufgeben muß. Für die (Vor-)Frage, auf welcher Ebene die Aufwendungen zuzuordnen sind, trifft § 1 Abs. 5 AStG in seiner nationalen „Umsetzung“ nämlich keine „Vorsorge“. §  1 Abs.  5 AStG setzt die Existenz der Betriebsstätte mit den bereits „zugeordneten“ Einnahmen und Ausgaben, mithin die „fertig“ mit Personalfunktion ausgestattete Betriebsstätte, vielmehr voraus; auf Basis dieser Voraussetzung wird dann der Fremdvergleich aufgesetzt. Solange es an einer Betriebsstätte (als innerorganisatorischem Akt) mangelt, oder umgekehrt, sobald dieser Akt „beendet“ ist, fehlt § 1 Abs. 5 AStG das „Anwendungsfeld“. Dazu sagt das Gesetz schlicht nichts aus. Die Zuordnung von vorweggenommenen Aufwendungen verbleibt also auf einer Vorstufe zu beantworten  – und das geschieht eben nach wie vor nach den Maßstäben des Veranlassungsprinzips. In Einklang damit steht die Frage, weshalb das Stammhaus „vor“ errichteter Betriebsstätte sämtliche Kosten (zu Lasten des Ansässigkeitsstaats und trotz zwischenstaatlich vereinbarter Freistellung) übernehmen sollte. Auch auf diese Vorfrage gibt die Selbständigkeitsfiktion des Art. 7 Abs. 2 OECD-MA keine Antwort, und Art. 13 Abs. 2 OECD-MA dürfte diesbezüglich ohnehin nicht weiterführend sein, weil dort eine vergleichbare Fiktion fehlt. Die Selbständigkeitsfiktion ist folglich so zu begreifen, daß die danach vorzunehmende (wertende) Veranlassungszuordnung den vorweggenommenen Aufwand dem „Verursacher“ zuweist, mithin der Betriebsstätte. Die „Identifizierungsgrundlage“ dafür kann man in Art. 7 Abs. 1 erster Halbsatz OECD-MA suchen und finden, der ja in einem ersten Schritt auf die betreffende unternehmerische Tätigkeit und erst in einem zweiten Schritt auf die Betriebsstätte abstellt. „Wer anderes gewollt hätte,

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hätte § 1 Abs. 5 AStG anders aufziehen müssen“73. Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze bleiben unangetastet und werden nicht durch die Neufassung des § 1 AStG berührt. Die Finanzverwaltung liegt also im Ergebnis richtig, wenn sie vorweggenommene Ausgaben weiterhin der später oder gar nicht begründeten Betriebsstätte nach dem Veranlassungsprinzip zuordnet74. Sie irrt jedoch, wenn sie umgekehrt die aufgegebene Betriebsstätte einer Schlußbesteuerung unterwerfen und nachträgliche Einnahmen in das (inländische) Stammhaus transferieren will75. Vielmehr gilt das, was für die vorweggenommenen Ausgaben gilt, spiegelbildlich ebenso für nachträgliche Einnahmen. Die Finanzverwaltung wird ihre Position in diesem Punkt nicht aufrechthalten können, und der BFH kann auch hier entscheiden wie bisher. Keine Änderung ist zudem generell bei der Zuordnung der Betriebsausgaben zum Stammhaus oder zur Betriebsstätte geboten; § 1 Abs. 5 AStG „konfiguriert“ nur Innentransaktionen um, nicht aber Außentransaktionen (s. bereits oben III.2.b), und um solche wird es sich bei den Sachverhalten, die den Aufwendungen zugrunde liegen, regelmäßig handeln. Für die „alte“ Sichtweise der Finanzverwaltung76 zur sog. Zentralfunktion des Stammhauses (oder dessen „Attraktivkraft“)77 ist jedenfalls so oder so kein Platz (mehr)78. Auch einer Geschäftsleitungsbetriebsstätte sind nur jene Einkünfte zuzurechnen, die auf die Geschäftsleitungstätigkeit zurückgehen; alles andere „sprengt“ das Veranlassungsprinzip, das in diesem Punkt seinerseits allenfalls und soweit überhaupt einschlägig nach Maßgabe der Personalfunktionen i.S. von § 1 Abs. 5 AStG zu verfeinern ist. 4. Besonderheiten beim Sonderbetriebsvermögen? Wie oben beschrieben „nimmt“ der BFH im Kontext der sog. Betriebsstättenvorbehalte der Art. 10 Abs. 4, Art. 11 Abs. 4 und Art. 12 Abs. 3 OECD-MA für die (bislang uneingeschränkt) gebotene Veranlassung „Maß“ an einem Zusatzmerkmal: jenem der tatsächlichen Zugehörigkeit. Die Maßstäbe gingen insoweit schon bislang in­ einander über und waren fließend, nur in Einzelfällen gelangte man zu voneinander abweichenden Ergebnissen79. Jedenfalls zeigte sich das Ergebnis des Tatsächlichkeitserfordernisses in erster Linie bei den verschiedenen Spielarten des Sonderbetriebsvermögens von Mitunternehmerschaften. Gerade in diesem Bereich sollte sich der 73 Gosch, IStR 2015, 709 (713); Kahle/Kindich, GmbHR 2017, 341; insoweit auch Schwenke in FS Gosch, 2016, S.  377, 385; anders z.B. Busch, DB 2016, 910 (912); Heinsen/Wendland, GmbHR 2014, 1033 (1038); Schnorberger/Dust, BB 2015, 608; Leonhardt/Tcherveniachki in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht, § 1 Rz. 2807, 2993; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 4. Aufl., Rz. 21.95, 21.98. 74 Vgl. VWG BsGa, BMF v. 22.12.2016, BStBl. I 2017, 182 Rz. 66 f. 75 VWG BsGa, BMF v. 22.12.2016, BStBl. I 2017, 182 Rz. 68. 76 BMF v. 24.12.1999, BStBl. I 1999, 1076 Tz. 2. 77 S. bereits oben IV.1. 78 Kraft/Dombrowski, FR 2014, 1105; Schnitger, IStR 2012, 633 (639); Schaumburg, Interna­ tionales Steuerrecht, 4. Aufl., Rz. 20.83. 79 S. bereits Gosch in Kirchhof, 17. Aufl., § 50d EStG Rz. 45a ff., 45d.

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AOA indessen kaum „ändernd“ und beeinflussend auf die bisherige Rechtsprechung des BFH auswirken. Denn § 1 Abs. 5 AStG beläßt aus innerstaatlicher Sicht keinen Zweifel daran, daß Geschäftsbeziehungen zwischen Personalgesellschaften und ihren Gesellschaftern allemal ausgeblendet werden; § 1 Abs. 5 AStG ist für solche Beziehungen nicht einschlägig. Anders könnte es allerdings liegen, was die Zuordnung von Sonderbetriebsvermögen  II angeht; §  1 Abs.  5 AStG ist in seinem Anwendungsbereich dafür nicht beschränkt; für die Anwendung der Vorschrift ist, wie sich vice versa aus §  1 Abs.  5 Satz 8 AStG ergibt, der innerstaatliche Betriebsvermögensbegriff zugrunde zu legen. Der BFH läßt hier im Ergebnis eine wirtschaftliche Zuordnung obwalten, die sich an den Wertungsmaßstäben des § 15 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG orientiert. Ein konkreter ­Tätigkeitsbezug fehlt. Das betraf beispielsweise in den Urteilen vom 26.2.1992 – I R 85/9180 und vom 21.1.2016 – I R 49/1481 die Frage nach der Zuordnung der Beteiligung an einer Komplementär-GmbH zur Betriebsstätte der Kommanditgesellschaft. Der BFH sieht dafür einen tatsächlich-funktionalen Betriebsstättenbezug, weil die Geschäftstätigkeit der Komplementär-GmbH sich in der Übernahme der persönlichen Haftung und der Geschäftsführung erschöpft. Die eigentliche Geschäftstätigkeit der Gesellschafter wird bei dieser Sichtweise indes ausgespart. Das kann, muß aber nicht richtig sein. Nehmen die Gesellschafter die Aufgabe der ihnen obliegenden Kontroll- und Weisungsaufgaben ernst, dann müßte jene Geschäftstätigkeit des Kontrollierens und Weisens die maßgebende Zuordnungsorientierung bieten, nicht die den Gesellschaftern vermittelte Betriebsstätte82. Nur dann, wenn die Kommanditisten keinen tätigkeitsbezogenen Bezug zu der Komplementär-GmbH haben, wäre ihnen die Beteiligung nicht zuzuordnen, sonst aber – in Einklang mit § 1 Abs. 5, AStG, § 7 Abs. 1 BsGAV – wohl schon. Ggf. zieht der AOA an dieser Stelle also Änderungsbedarf für die Rechtsprechung nach sich. 5. Der Grundsatz des dealing at arm’s length und die ausstrahlende ­Sperrwirkung Nicht übersehen werden dürfen im „Übergang“ zur steuerrechtlichen Verselbständigung der Innentransaktionen als fiktive schuldrechtliche Beziehungen jene Effekte, über welche bislang im Zusammenhang mit Art. 9 Abs. 2 OECD-MA diskutiert wird. Der BFH83 vertritt dazu bekanntlich in zwischenzeitlich (scheinbar?)84 gefestigter 80 BStBl. II 1992, 937. 81 BStBl. II 2017, 107. 82 So denn auch ansatzweise BFH v. 19.12.2007 – I R 66/06, BStBl. I 2008, 510, bezogen auf die aktive Vermögensverwaltung und die geschäftsleitende Funktion einer Holding-Betriebsstätte. S. dazu Ditz in Schönfeld/Ditz, Art. 7 (2008) OECD-MA Rz. 132. 83 BFH v. 17.12.2014 – I R 23/13, BStBl. II 2016, 261 und v. 24.6.2015 – I R 29/14, BStBl. II 2016, 258. 84 Es sind diverse Revisionen anhängig: FG Baden-Württemberg v. 12.1.2017 – 3 K 2647/15, EFG 2017, 635 (Rev. I R 5/17); FG Köln v. 17.5.2017 – 9 K 1361/14, EFG 2017, 1738 (Rev. I R 51/17); FG Köln v. 22.2.2017 – 13 K 493/12 (Rev. I R 32/17); FG Münster v. 18.5.2017 – 3 K 2872/14 G, F, juris (Rev. I R 72/17 nach Zulassung durch den BFH auf Beschwerde I B

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Rechtsprechung die Konzeptthese von der abkommensrechtlichen Sperrwirkung85. Eine Einkünftekorrektur könne nur dann in Betracht kommen, wenn der vereinbarte Preis seiner Höhe, also seiner Angemessenheit nach, dem Fremdvergleichsmaßstab nicht standhalte. Zwar sei dem Ausdruck der „vereinbarten Bedingungen“ in Art. 9 Abs. 1 OECD-MA grundsätzlich „alles“ zu subsumieren, das Gegenstand der kaufmännischen oder finanziellen Beziehungen und damit Gegenstand des schuldrechtlichen Leistungsaustauschs zwischen den verbundenen Unternehmen sei, so daß neben dem Preis sämtliche weiteren Geschäftsbedingungen einbezogen seien. Es bleibe indessen dabei, daß sich die Vereinbarungskonditionen vor dem Grundsatz des in Art. 9 Abs. 1 OECD-MA angelegten Prüfmaßstabs nur insofern auswirkten, als deren „Qualität“ die Preishöhe im Fremdvergleich „nach oben“ oder „nach unten“ beeinflußt. Die Konditionen bilden so gesehen stets (nur) die Grundlage für die Überprüfung der Verrechnungspreise. Und deshalb sei es unbeachtlich, wenn § 1 Abs. 1 Satz 1 AStG ausweislich seines Wortlauts die Preisbedingung nur beispielhaft („insbesondere“) als eine der „anderen Bedingungen“ bezeichnet, die an dem Referenzmaßstab der fremdüblichen Bedingungen zu messen sind. Legt man diese „Konzeptthese“ unter der Ägide des Art.  7 Abs.  2 OECD-MA und dessen Kernidee (siehe sub III.1.) nun auch für die Gewinnermittlung von Betriebsstätten zugrunde, dann kann hier wie dort (erneut) nichts anderes gelten. Das bedeutet: Die Gewinnzuordnung und Gewinnaufteilung müssen anhand solcher Maßstäbe erfolgen, die fremdüblich sind und sich allein auf den „Preis“ auswirken. „Künstliche“ Fremdvergleichsmaßstäbe sind auszublenden. Betrachtet sei beispielhaft dazu die Situation, daß Wirtschaftsgüter in eine Betriebsstätte übergehen, dort aber einer Wertminderung unterliegen. Diese Wertminderung wird regelmäßig eine außerplanmäßige Abschreibung auslösen. Stellt man konsequent auf den Zeitpunkt ab, in dem das Wirtschaftsgut auf die Betriebsstätte übergeht, dann wird regelmäßig in Höhe des Unterschiedsbetrags zum Buchwert ein Gewinn realisiert. Anders gewendet: Das Gesamtunternehmen erleidet einen Verlust, doch geht dieser Verlust allein zu Lasten der „empfangenden“ Betriebsstätte. „Veranlassungsgerecht“ ist dieser Effekt nicht. Veranlassungsgerecht wäre es allein, das „Stammhaus“ an dem Verlust zu beteiligen; dort wurde er originär erwirtschaftet. Das deutsche nationale Steuerrecht gibt hier aber die Handhabe einer Gegenkorrektur: § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 Satz 11 und 12 AStG ordnet die nachträgliche Preisanpassung an, wenn sich die (Gewinn-)Prognosen derart verändern, daß ein fremder Dritter nicht bereit wäre, den daraus erwachsenden Verlust zu tragen. Es ist zu bezweifeln, daß der darin zum Ausdruck kommende Anpassungszwang  – von Ausnahmen einer besonderen „Marktmacht“ einmal abgesehen  – fremdvergleichsgerecht ist, und so gesehen böte § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 Satz 11 und 12 AStG keine probate Gegenwehr86. 57/17); FG Düsseldorf v. 10.11.2015 – 6 K 2095/13 K, EFG 2017, 553 (Rev. I R 73/16 nach Nichtzulassungsbeschwerde I B 167/15), FG Düsseldorf v. 27.6.2017  – 6 K 896/17 K,G, EFG 2017, 1332 (Rev. I R 54/17). 85 Umfassend dazu m.w.N. Gosch in FS Crezelius, 2018, S. 735 ff. 86 Wobei unklar ist, ob die Inbezugnahme des § 1 Abs. 3 AStG technisch gelungen ist, weil die Vorschrift nur den Befehl zur entsprechenden „Anwendung“ gibt, also rechtsfolgensei-

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Ähnlich verhält es sich bei dauerhaften Verlustgeschäften, speziell bei Vertriebs-Betriebsstätten. Bislang erforderte das Veranlassungsprinzip den Ausweis eines Vertriebsgewinns, der sich prognostisch „innerhalb eines überschaubaren Zeitraums und unter Berücksichtigung der voraussichtlichen Marktentwicklungen“ erwirtschaften mußte. Danach bemaß sich die Einkommenszurechnung. Nunmehr sieht es anders aus: Bereits im Zeitpunkt der Zuordnungsentscheidung (nach §  16 Abs.  1 Nr. 1 BsGaV) ist der „Preis“ zu bestimmen, wobei die jeweiligen Funktionen und das Preisrisiko zu berücksichtigen sind. Spätere Änderungen wirken sich nicht (mehr) aus. Sie nehmen vor allem keinen Einfluß auf die Gewinnzuordnung. Ausschlaggebend ist wie bei verbundenen Unternehmen allein der Zeitpunkt der Zuordnungsentscheidung. Die Neuausrichtung der normativen Zusammenhänge aufgrund des AOA ändert sonach nichts. Und schließlich verdrängen die Neuregelungen in § 1 Abs. 5 AStG auch nicht jene Sonderbedingungen, denen Kapitalgesellschaft und deren beherrschende Gesellschafter in ständiger Judikatur unterfallen: Schuldrechtliche Abmachungen müssen hiernach bekanntlich vorherig, klar, eindeutig, rechtswirksam und durchgeführt sein. Der BFH hat dazu erkannt, daß solche Anforderungen international unüblich seien und sich gleichfalls nicht mit dem Fremdvergleich vertrügen, wie dieser in Art. 9 Abs. 1 OECD-MA angelegt ist. „Übersetzt“ man ein derartiges Anforderungsprofil nun auch auf die „virtuelle“ Schuldrechtsbeziehung zwischen Stammhaus und Betriebsstätte, dann gibt auch das dem BFH keinen Grund für eine Remedur seiner Rechtsprechung, und das hat er auch schon zum Ausdruck gebracht: „Die (…) ‚virtuell-fiktive‘ Durchbrechung des Einheitsunternehmens und dessen steuerliche Aufteilung zwischen Stammhaus und Betriebsstätte für Zwecke des Fremdvergleichs setzt (…) in keinem Fall auf irgendwelchen Sonderbedingungen der hier behandelten Art auf; sie betrifft gleichermaßen allein die (kaufmännische oder finanzielle) Angemessenheit der Geschäftsbeziehungen“87. 6. Dotation und Fremdkapital Nicht aufrechterhalten lassen werden sich jedoch wohl die (oben sub II.) aufgezeigten Positionen, welche Spruch- wie Verwaltungspraxis bis dato für die „Ausstattung“ von Betriebsstätten eingenommen haben: Bis dato entschied einmal mehr allein der Veranlassungszusammenhang. Von der Betriebsstätte aufgenommene Fremdmittel spiegelten Außentransaktionen und zogen nach der direkten Methode die Zinszuordnung nach sich. Anders lag es bei der der Betriebsstätte von der Zentrale intern zugeführten Finanzausstattung. Hier kam es darauf an, inwieweit eine vom Stammhaus aufgenommene Schuld an einen Dritten bestand und derart mit der Betriebsstätte zusammenhing, daß die gezahlten tig wirkt, jedoch gerade keine tatbestandsbezogenen Vorgaben für den durchzuführenden Fremdvergleich gibt. 87 BFH v. 11.10.2012 – I R 75/11, BStBl. II 2013, 1046. S. auch Andresen in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch, 2. Aufl., Rz. 4.215.

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­ insen die gesondert berechneten Einkünfte der Betriebsstätte (und somit das ihr Z gewidmete Aktivvermögen) berührten. Finanzmittel, die das Stammhaus der Betriebsstätte als Dotationskapital zuweist und für die die Betriebsstätte keine Zinsen zu tragen hat, waren regelmäßig dem Eigenkapital zuzurechnen88. Fortan soll, folgt man der BsGaV (dort §§ 12 f.) sowie den VWG BsGa (dort. Rz. 2.3), Verbindlichkeiten im Rahmen der aufzustellenden Hilfs- und Nebenrechnung nur eine Residualfunktion zukommen, die ggf. zu einer nicht verursachungsgerechten Zuordnung von Passiva und den dazugehörigen Aufwendungen führt: In der sog. Outbound-Situation (unbeschränkt Steuerpflichtiger, § 1 Abs. 1 EStG) wird ausländischen Betriebsstätten inländischer Unternehmen zu Beginn eines Wirtschaftsjahres Dotationskapital nämlich nur zugeordnet, soweit das Unternehmen glaubhaft macht, daß diese Zuordnung aus betriebswirtschaftlichen Gründen für die Betriebsstätte erforderlich ist (sog. Mindestkapitalausstattungsmethode i.S. des § 13 Abs. 1 BsGaV). Gedanklicher Hintergrund ist, daß ein höheres Dotationskapital zu einer geringeren Zuordnung von Verbindlichkeiten des Unternehmens zur ausländischen Betriebsstätte führt, mit der Folge, daß der ausländischen Betriebsstätte ein geringerer Zinsaufwand zugeordnet wird. Die „obere Grenze“ bilden im Rahmen der Finanzierungsfreiheit der Fremdvergleichsgrundsatz und das Verbot der Überdotierung nach der funktions- und risikobezogenen Kapitalaufteilungsmethode, § 1 Abs. 5 Satz 3 und 4 AStG, § 1 Abs. 2 Nr. 3 und § 12 Abs. 1 bis 3 i.V.m. § 13 Abs. 2 BsGaV. Nur – und damit im Ergebnis „unwuchtig“ – die letztere Methode, die Aufteilungsmethode, entscheidet dann (auch) in der Inbound-Situation (beschränkt Steuerpflichtiger, §  1 Abs. 4, § 49 Abs. 1 Nr. 2 lit. a, Nr. 3 EStG) für die Ausstattung inländischer Betriebsstätten ausländischer Unternehmen, § 12 Abs. 1 BsGaV. Diese gegenüber der Outbound-Situation asymmetrische Zuordnung ist (abermals) fiskalmotiviert. Es geht ersichtlich darum, die Zuordnung und Abzugsfähigkeit von Fremdkapitalkosten im Inland zu reduzieren. Den BFH können diese Vorgaben im Ergebnis nicht unberührt lassen. Es besteht zwar (erneut) kein Grund, die veranlassungsbezogene Sichtweise vollends über Bord zu werfen. Doch ist dieser Maßstab zumindest zu modifizieren. Die tatsächliche Verwendung der Kreditmittel allein kann die Zuordnung nicht mehr bestimmen; das inländische Dotationskapital wird strukturell zu erhöhen sein89. Ob die besagte Asymmetrie verfassungs- und unionsrechtsfest ist, ist allerdings ebenso zweifelhaft (und wird vom BFH deshalb zu prüfen sein)90, wie die Beschränkung der Finanzierungsfreiheit des Unternehmers und in diesem Zusammenhang die Vorgabe strikter Zuordnungsmethoden, welche losgelöst von der „freien Methodenwahl“ – und damit (einmal mehr, siehe bereits IV.5) von einem „echten“ Fremdvergleich – vom Gesetzgeber „diktiert“ werden. Vor allem die letztere Abkehr von den diesbezüglichen

88 Z.B. BFH v. 25.6.1986 – II R 213/83, BStBl. II 1986, 785. 89 S. VWG BsGa. BMF v. 22.12.2016, BStBl. I 2017, 182 Rz. 129 ff. 90 Hemmelrath/Keppler, IStR 2013, 42; Kraft/Dombrowski, FR 2014, 111; Busch, DB 2014, 2493.

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OECD-­Vorgaben91 dürfte Doppelbesteuerungen provozieren, weil die Vergleichspositionen in den Vertragsstaaten zwangsläufig unterschiedlich gehandhabt werden92. 7. AOA und Digitalisierung Zu den unveränderlichen „Bedingungen“ des AOA gehört die Existenz einer Betriebsstätte. Sie ist der Gegenstand – oder, wie schon gesagt: der Zuordnungspol – für die entsprechende Gewinnzuordnung. Wann und unter welchen Voraussetzungen nun eine solche Betriebsstätte vorliegt, ist seit jeher Gegenstand einer großen Anzahl höchstrichterlicher Entscheidungen. Im Kern definiert sich die Betriebsstätte danach u.a. über das Merkmal der räumlich-sachlichen Verfügungsmacht93. An die Stelle94 der oder neben die Verfügungsmacht setzt der AOA die Personalfunktion95, das jedenfalls im Grundsatz. Immer wieder mußte sich der BFH aber mit Sachkonstellationen auseinandersetzen, bei denen die „personale“ Komponente völlig fehlte. Markantes Beispiel war und ist die Pipeline-Entscheidung des II. Senats des BFH vom 30.10.1996  – II R 12/9296. Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung werden derartige „menschenlose“ Zuordnungspole zunehmen. Um dem Rechnung zu tragen, gilt es, den maßgeblichen Ort der Wertschöpfung anderweitig, also losgelöst von „physischer Präsenz“, zu justieren. Und gerade deswegen soll mit dem jüngsten Richtlinienentwurf der EU zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft vom 21.3.201897 der Begriff der Betriebsstätte auf eine „signifikante digitale Präsenz“ ausgedehnt werden, „durch die die Geschäftstätigkeit ganz oder teilweise ausgeübt wird“. Wie sich das dann mit der vom AOA zur Abgrenzung favorisierten Personalfunktion vereinbaren läßt, ist derzeit unbeantwortet. Der besagte Richtlinienvorschlag sieht vor, „Geschäftstätigkeiten des Unternehmens in Bezug auf Daten und Nutzer, die über eine digitale Schnittstelle erfolgen, als wirtschaftlich signifikante Funktionen“ anzusehen. Der Gewinn einer solchen „Präsenz“ soll dann nach der Gewinnaufteilungsmethode zugeordnet werden. Umsetzen läßt sich eine solche Vorgabe aber wohl nur, wenn die einschlägigen Abkommensregelungen in Art. 5 und Art. 7 OECD-MA 2010 entsprechend angepaßt werden, und das betrifft dann auch §  1 Abs.  5 AStG; dessen Satz  3 läßt keine anderweitige Ausdeutung zu. Solange das nicht geschieht, gibt es „gewinnlose“ Betriebsstätten, weil sie dem Personalfunktionskonzept nicht genügen. Und ohne eine solche Anpassung hat die Rechtsprechung des BFH derzeit keine Möglichkeit, den neuerlichen Anforderungen nachzukommen. 91 OECD-Betriebsstättenbericht, Teil 1, Rz. 115 ff. 92 Kraft/Dombrowski, Ubg 2015, 143 (149). 93 Umfassend m.w.N. z.B. Leonhardt/Tcherveniachki in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, § 1 AStG Rz. 2819. 94 Wassermeyer, IStR 2015, 37. 95 Wassermeyer, IStR 2017, 37 (39 f.). 96 BStBl. II 1997, 12. 97 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Vorschriften für die Unternehmensbesteuerung einer signifikanten digitalen Präsenz v. 21.3.2018 COM(2018) 147 final; s. auch Europäische Kommission, IP/18/2041.

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V. Resümee und grundsätzliche Bedenken gegenüber der Gesetzund Verfassungsmäßigkeit der ausgelagerten Gesetzgebungs­ kompetenzen in die BsGaV Der AOA hat einen Paradigmenwechsel herbeigeführt. An manchen „Schaltstellen“ haben sich die Maßstäbe der Zuordnung der Gewinnanteile von „Stammhaus“ und „Betriebsstätte“ verändert. Sie nötigen den BFH hier und da, seine zuweilen jahrzehntealte Spruchpraxis auf neue Füße zu stellen. Betroffen von solchen Änderungen sind aber nur „Randbereiche“, wie etwa die Bestimmung des Dotationskapitals oder die Zuordnung von Sonderbetriebsvermögen II. Im Kern besteht für Änderungen der Spruchpraxis jedoch kein Grund. Das gilt vor allem für das altbewährte Veranlassungsprinzip als rechtsmethodisches „A&O“ der Betriebsstättengewinnermittlung. Danach richten sich sowohl in Inbound- als auch in Outbound-Situationen die Zuordnung der erwirtschafteten „Ergebnisanteile“ ebenso wie die Zuordnung der „Vermögensgegenstände“: Die verfeinernde Anwendung dieses Grundprinzips gebührt nach wie vor dem (nationalen) Rechtsanwender, der Anwendungsbereich des Prinzips wird im AOA vorausgesetzt, aber nicht geregelt; der AOA „kümmert“ sich allein um die Aufteilungsmodalitäten nach Zuordnung der Einkünfte und Vermögens­ gegenstände und legt die Strukturmerkmale fest, nach welchen danach der Fremdvergleichspreis zu justieren ist. Nur die dafür durch die OECD geschaffenen Ab­ grenzungsmerkmale sind in Deutschland zwischenzeitlich durch §  1 Abs.  5 AStG umgesetzt worden, das allerdings in systematisch „fehlsamer“ Ausgestaltung in Korrelation zu § 1 Abs. 1 AStG und damit zur Einkünftekorrektur, verbunden mit manchen „Unwuchten“ und „Dissonanzen“ zu den allgemeinen Gewinnermittlungsregeln. Und das zudem (in § 1 Abs. 5 Satz 8 AStG) in einer höchst „kryptischen“ Weise abkommensüberschreibend vorbehaltlich einer vom Steuerpflichtigen nachzuweisenden Doppelbesteuerung infolge abkommensgemäßer Anwendung im anderen Staat98. Ob das verfassungsrechtlichen Anforderungen standhält, sollte der BFH genau prüfen (und aus hiesiger Sicht verneinen). Bei alledem könnte so oder so „Ungemach“ drohen, weil es an einer regelgerechten Umsetzung des AOA in innerstaatliches Recht (immer noch) trotz § 1 Abs. 5 AStG fehlt. Denn der Gesetzgeber lagert mit § 1 Abs. 6 AStG die Bestimmung von Detailfragen in Gestalt einer Verordnungsermächtigung aus, und das erklärtermaßen bezogen auf die Regelung von „Einzelheiten des Fremdvergleichsgrundsatzes im Sinne der Absätze 1, 3 und 5“, zudem auf die Regelung von „Einzelheiten zu dessen einheitlicher Anwendung“ sowie der Festlegung der „Grundsätze zur Bestimmung des Dotationskapitals im Sinne des Absatzes  5 Satz  3 Nummer  4“. Die An­wendung des Fremdvergleichs erzwingt indessen, zunächst in einem ersten Schritt die Selbständigkeitsfiktion der Betriebsstätte, wie sie von dem AOA und diesen aufgreifend sodann in § 1 Abs. 5 Satz 2 AStG intendiert ist, zu bestimmen. Der Fremdvergleich baut da­ rauf in einem zweiten Schritt auf. Beide Schritte sind aufeinander abgestimmt und bedingen einander, sie sind als solche aber voneinander unabhängig, namentlich ist 98 Mit weiteren Einzelheiten Andresen in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-­Hand­ buch, 2. Aufl., Rz. 4.216 ff.

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Dietmar Gosch

die Bestimmung der Betriebsstätte als fiktives Rechtssubjekt nicht bloß „annexe“ Vorstufenfrage für die Bestimmung der Fremdvergleichskoordinaten. An einer Bestimmung der Selbständigkeitsfiktion fehlt es jedoch nach wie vor. Sie hätte als wesentliche gesetzgeberische Entscheidung in das Gesetz gehört, und nicht, wie geschehen, in die BsGaV oder gar in die VWG BsGa99. Und selbst wenn man hier contra legem ebenso wie contra constitutionem großzügiger wäre, würde das nichts nützen, weil die Verordnungsermächtigung dazu nichts aussagt und nichts dem Verordnungsgeber überantwortet. Gleiches gilt, soweit der Verordnungsgeber (in § 3 Abs. 1 Satz 2 BsGaV) offenbar annimmt, § 1 Abs. 5 AStG sei nicht nur einkünfteabgrenzend, sondern auch einkünfteermittelnd einschlägig100. Kurzum: Den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG101 wird hier nicht genügt; die BsGAV läuft (auch deswegen, s. bereits oben sub III.2.d) leer. Das sollte denn doch auch dem BFH im weiteren Verlauf anstehender Entscheidungen zum AOA „zu denken“ geben. Der Wille des Gesetzgebers ersetzt wie so oft (und wie so oft in der Vergangenheit vom BFH dekuvriert) nicht die „Tat“ in Gestalt „ordentlicher“ Gesetze.

VI. Nachtrag Und schließlich ein „Nachtrag“: Beim Schreiben dieser Überlegungen haben mir Gedanken geholfen, die Dr. Philipp Böwing-Schmalenbrock LL.M., Richter am FG Münster und früher Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim I. Senat des BFH, sowie meine Doktorandin Solvejg Glatz, die jetzt am Niedersächsischen FG als Richterin tätig ist (und im Rahmen ihrer Ausbildung als Referendarin ebenfalls beim I. Senat des BFH tätig war), angestellt haben, und auch Nils Petersen M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Helmut Schmidt-­Universität der Bundeswehr in Hamburg und vordem Assistant Manager bei der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, hat noch das eine oder andere beigesteuert. Dafür danke ich allen dreien sehr. Und ich bin dankbar für eine wunderbare Zeit von fast 25 Jahren, davon knapp 11 Jahre lang als Vorsitzender, in denen ich beim BFH in Freiheit und Unabhängigkeit den schönsten aller Berufe, den Richterberuf, ausüben konnte. Es war mir eine Ehre, das tun zu dürfen, und es ist mir eine Ehre, an der Festschrift für die deutsche Steuerrechtsprechung mitzuwirken, einer Rechtsprechung, die in immerhin stolzen 68 Jahren institutionell-demokratisch verfaßt ist und hilft, auch gegenüber einem strikten staatlichen „Eingriff “, wie das ein Besteuern nun einmal mit sich bringt, jene Freiheit und Unabhängigkeit für uns alle zu gewährleisten.

99 Tendenziell ebenso Ditz in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch, 2. Aufl., Rz. 6.141 ff. 100 Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 4. Aufl., Rz. 21.36. 101 Wer sich über die vielfachen rechtsstaatlichen „Gefährdungen“ ins Bild setzen will, denen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG als „Spezialfall des Parlamentsvorbehalts“ im Ertragsteuerrecht ausgesetzt ist, tut das am besten bei P. Kirchhof in Kirchhof, 17. Aufl., § 51 EStG Rz. 2 ff.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … D. II. 6.

Missbrauch und grenzüberschreitende Sachverhalte Von Jürgen Lüdicke

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Missbrauchsverdächtige Strukturen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten 1. Gestaltungen ohne die Zwischenschaltung von Basisgesellschaften a) Betriebsausgabenabzug bei Schachteldividenden – Ballooning b) Nutzung von positivem und negativem Progressionsvorbehalt 2. Gestaltungen mit ausländischen Basisgesellschaften a) Allgemeines b) Allgemeine Maßstäbe für Gestaltungsmissbrauch bei Basisgesellschaften c) Anzuerkennende wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe, Outsourcing im Konzern und „Substanz“

III. Zum Verhältnis zwischen § 42 AO und speziellen Vorschriften zur Verhinderung grenzüberschreitender Missbräuche 1. Allgemeines 2. §§ 7 ff. AStG und § 42 AO 3. § 50d Abs. 3 EStG (§ 50d Abs. 1a EStG a.F.) und § 42 AO 4. § 50c EStG und § 42 AO 5. Spezielle Missbrauchsvorschriften und § 42 AO i.d.F. des JStG 2008 IV. Anrechnung und Abzug ausländischer Steuern in Missbrauchsfällen V. Missbrauch von DBA VI. Missbrauch und europäisches Recht VII. Aktuelle Entwicklungen 1. Umsetzung des BEPS-Projektes (Action 6) / Multilaterales Instrument 2. Anti-Tax Avoidance Directive der EU VIII. Ausblick

I. Einführung Befasst man sich mit der einschlägigen, gegen Ende der 1960er Jahre beginnenden Rechtsprechung des BFH zu Missbräuchen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten, springt wohl als erstes die Tatsache ins Auge, dass eine Vielzahl der Entscheidungen mit griffigen Namen bezeichnet wird, wie man es sonst eher aus manchen ausländischen Staaten oder vom EuGH kennt. So geht es etwa um „niederländische Brüder“, „Monaco“ oder – zuweilen gleich mehrfach – die „Dublin Docks“ und anderes. 1053

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Der folgende Beitrag behandelt potentielle Gestaltungsmissbräuche1 mit einem spezifisch grenzüberschreitenden Sachverhaltsbezug. Nicht Gegenstand der nachfolgenden Betrachtungen sind dabei allerdings Gestaltungen, mit denen Disparitäten zwischen zwei – naturgemäß nicht abgestimmten – nationalen Steuerrechtsordnungen planerisch genutzt werden; aus der isolierten Sicht lediglich eines Steuersystems liegt darin kein Missbrauch2. Ausgangspunkt der Missbrauchsbekämpfung ist die allgemeine Missbrauchsver­ meidungsnorm (general anti-abuse rule – GAAR) in § 42 AO3. Daneben finden sich – zunehmend auf internationale Gestaltungen ausgerichtet  – spezielle Missbrauchsnormen (special anti-abuse rule  – SAAR). Neuere DBA enthalten gelegentlich Bestimmungen zur Vermeidung ihrer missbräuchlichen Inanspruchnahme, etwa einen Principal Purpose Test (PPT) oder eine Limitation-on-benefits-Klausel (LoB). Schließlich sind europarechtliche Regelungen zur Vermeidung von Missbräuchen zu beachten. Neben der BFH-Rechtsprechung nimmt dieser Beitrag auch die aktuellen internationalen Entwicklungen im Bereich der Missbrauchsabwehr in den Blick.

II. Missbrauchsverdächtige Strukturen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten Hinsichtlich der Struktur potentiell missbräuchlicher Gestaltungen sind zwei Grundformen zu erkennen. Der erste Grundtyp internationaler Gestaltungen sucht mit einzelnen Transaktionen in den Anwendungsbereich steuerlich günstiger Regelungen zu gelangen, ohne hierfür eine zusätzliche (ausländische Basis-)Gesellschaft einzuschalten. Beispielhaft seien vom BFH beurteilte Gestaltungen in Bezug auf Dividenden4 oder die bekannten „Goldfinger“-Modelle5 erwähnt. Der zweite Grundtyp ist durch den Einsatz sog. „Basisgesellschaften“ gekennzeichnet. Mit dem Begriff der Basisgesellschaft werden seit den 1960er Jahren auslän­ dische, eher funktionsschwache Gesellschaften bezeichnet, die  – häufig in ihrem

1 Vgl. allgemein Sieker, Missbrauchsabwehr, in FS 100 Jahre BFH, S. 385 ff. 2 Vgl. insb. den im Rahmen des BEPS Projektes veröffentlichten Report der OECD zu Aktions­ punkt 2: Neutralisierung der Effekte hybrider Gestaltungen, 2014, S. 7 Rz. 1: „Hybride Gestaltungen  … verringern die kollektive Steuerbasis der Länder weltweit, auch wenn es manchmal schwierig zu bestimmen ist, welchen Ländern im Einzelnen Steuereinnahmen entgangen sind“. 3 Ferner die Vorgängerregelung in § 6 StAnpG 1934, RGBl. 1934, 925; zuvor § 5 RAO 1919, § 10 RAO 1931. 4 Vgl. unter II.1.a) und III.4. 5 Vgl. unter II.1.b).

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­ nsässigkeitsstaat allgemein oder aufgrund von Vorzugsregelungen niedrig besteuA ert – als Basis für internationale Geschäfts- oder Investitionstätigkeit dienen6. 1. Gestaltungen ohne die Zwischenschaltung von Basisgesellschaften Nachfolgend werden zwei im Grundsatz missbrauchsverdächtige Gestaltungen dargestellt, die den BFH beschäftigt haben7. Die (grenzüberschreitend gestalteten) sog. cum/ex- und cum/cum-Geschäfte8 werden nicht behandelt, weil insoweit keine Aussagen des BFH zu Fragen des Rechtsmissbrauchs vorliegen9. a) Betriebsausgabenabzug bei Schachteldividenden – Ballooning Beim sog. Ballooning wurde das Ausschüttungsverhalten einer ausländischen Tochtergesellschaft steuerlich optimiert. Vor Einführung der allgemeinen Beteiligungsertragsbefreiung (§ 8b Abs. 1 KStG) machten sich inländische Muttergesellschaften die Tatsache zunutze, dass das Abzugsverbot für Betriebsausgaben wie Finanzierungsaufwendungen, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit DBA-befreiten Schachteldividenden standen, gemäß § 3c EStG (a.F.) nach der BFH-Rechtsprechung veranlagungszeitraumbezogen anzuwenden war10. Ausschüttungsfähige Gewinne ausländischer Tochtergesellschaften, die bei Zufluss nach den DBA-Schachtelprivilegien bei der inländischen Muttergesellschaft steuerbefreit gewesen wären, wurden zunächst in den Tochtergesellschaften thesauriert. In einem späteren Jahr wurden die Gewinne kumuliert ausgeschüttet oder im Wege der Veräußerung oder Liquidation der Tochtergesellschaft realisiert. Der BFH entschied, dass ein derart abgestimmtes Verhalten nicht missbräuchlich, sondern systemgerecht sei und allenfalls durch gesetzgeberische Maßnahmen unterbunden werden könne11 – solche wurden freilich nicht ergriffen. b) Nutzung von positivem und negativem Progressionsvorbehalt Namentlich bei hohen Einkünften hat ein positiver Progressionsvorbehalt bekanntlich kaum Auswirkungen, während ein betragsmäßig gleich hoher negativer Pro­ gressionsvorbehalt die Steuer bis auf null absenken kann. Diese im Tarif angelegten Gegebenheiten lassen sich steuerplanerisch nutzen, indem über mindestens zwei 6 Vgl. bspw. den sog. Oasenbericht der Bundesregierung v. 23.6.1964, BT-Drucks. 4/2412, passim; Bühler, Prinzipien des Internationalen Steuerrechts, 1964, S. 108 ff. 7 Vgl. ferner das in Fn. 138 zitierte BFH-Urteil zur Nutzung einer DBA-Befreiung mit der Folge doppelter Nichtbesteuerung. 8 Vgl. zu letzteren auch § 50j EStG. 9 Vgl. insb. BFH v. 16.4.2014 – I R 2/12 – cum/ex-Geschäfte, BFHE 246, 15, juris Rz. 42. 10 BFH v. 29.5.1996 – I R 15/94, I R 167/94 und I R 21/95, BStBl. II 1997, 57 (60 und 63); ebenso BMF v. 20.1.1997, BStBl. I 1997, 99, Tz. 1.1, 1.2. 11 BFH v. 20.3.2002 – I R 63/99 – Delaware, BStBl. II 2003, 50 (unter B.II.2.b)ee)); v. 7.9.2005 – I R 118/04 – Belgische Konzernfinanzierungsgesellschaft, BStBl. II 2006, 537 (unter II.2.).

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Veranlagungszeiträume gegenläufige, dem Progressionsvorbehalt unterfallende DBA-­ befreite Einkünfte generiert werden. Eine solche Möglichkeit eröffnete der BFH sehenden Auges („unbeabsichtigtes Steuersparmodell“12), indem er entschied, dass eine Ansparabschreibung i.S.d. § 7g Abs. 3 EStG a.F. auch für die in einer ausländischen (DBA-befreiten) Betriebsstätte genutzten Wirtschaftsgüter gebildet werden dürfe. Steuerliches Gestaltungspotential zu vermeiden, rechtfertige keine einschränkende Auslegung der Vorschrift. Denn die Ausnutzung eines in der Norm angelegten Steuervorteils begründe keinen Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten i.S.d. § 42 AO. Ähnlich argumentierte der IV. Senat des BFH in den sog. „Goldfinger“-Fällen. Der Steuerstundungseffekt infolge des sofortigen Abzugs von Anschaffungskosten für Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens bei Anfall der Einnahmen aus der Veräußerung erst in späteren Veranlagungszeiträumen sei mit dem Zu- und Abflussprinzip im Gesetz angelegt13. Auch wenn die Betriebsausgaben und ‑einnahmen sich infolge einer DBA-Befreiung zunächst nur über einen negativen und später über einen positiven Progressionsvorbehalt auswirken und zu einer erheblichen endgültigen Reduzierung der Einkommensteuerschuld führen, seien solche Gestaltungen nicht als missbräuchlich zu beurteilen. Denn dies liege in der „technischen Wirkungsweise“14 begründet. 2. Gestaltungen mit ausländischen Basisgesellschaften a) Allgemeines Der BFH griff den Ausdruck „Basisgesellschaft“ erstmals mit Urteil vom 17.7.1968 im Leitsatz („Zur steuerrechtlichen Beurteilung sogenannter Basisgesellschaften“) auf15. In der Entscheidung ging es um die Einschaltung einer liechtensteinischen „Firma“16 durch Steuerinländer (Outbound-Fall). Aus methodischer Sicht interessant ist, dass der BFH nach der Prüfung der abstrakten Körperschaftsteuerpflicht (§§ 1 bis 3 KStG) nach Maßgabe des sog. Typenvergleichs und der Ablehnung eines Scheingeschäfts17 zunächst das Vorliegen eines Missbrauchs prüft18. Bei dessen Bejahung seien die fraglichen Einkünfte den inländischen Gesellschaftern zuzurechnen. Die Prüfung, ob sich die Geschäftsleitung der als „Briefkastenfirma“ eingeschätzten 12 BFH v. 10.8.2011 – I R 45/10 – Ansparabschreibung, BStBl. II 2012, 118 Rz. 20. 13 BFH v. 19.1.2017  – IV  R  10/14  – Goldfinger, BStBl.  II 2017, 466 Rz.  46; v. 19.1.2017  – IV R 50/14 – Goldfinger, BStBl. II 2017, 456 Rz. 98. 14 BFH v. 19.1.2017 – IV R 50/14 – Goldfinger, BStBl. II 2017, 456 Rz. 98. 15 BFH v. 17.7.1968  – I  121/64, BStBl.  II 1968, 695. In Urteilsgründen erstmals in BFH v. 29.1.1975 – I R 135/70, BStBl. II 1975, 553 (unter 2.b)). 16 Deren Rechtsnatur war vom FG nicht festgestellt worden. 17 § 5 StAnpG, § 41 Abs. 2 AO; vgl. ferner BFH v. 17.7.1968 – I 121/64, BStBl. II 1968, 695 (unter 2.a); v. 21.10.1988  – III  R  194/84, BStBl.  II 1989, 216 (unter II.2.a)aa)); vgl. aber auch BFH v. 5.12.2005 – X B 17/05, juris Rz. 31, zu „Durchleitungsgesellschaften“: „Scheingeschäft und Gestaltungsmissbrauch liegen hier oft dicht beieinander“. 18 BFH v. 17.7.1968 – I 121/64, BStBl. II 1968, 695 (unter 1. und 2.).

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Firma womöglich im Inland befinde19, folgte erst danach. Diese Prüfungsreihenfolge erstaunt deswegen, weil sich im Falle der unbeschränkten Steuerpflicht der Firma die Frage des Missbrauchs, nämlich einer Umgehung oder Minderung der Steuerpflicht, in einem anderen Licht darstellen könnte. Dies hat der BFH später zu Recht ebenso gesehen und die Prüfungsreihenfolge umgestellt20. Wird eine funktionsschwache ausländische Basisgesellschaft von Steuerausländern eingeschaltet (Inbound-Fall), etwa zum Zwecke des Treaty oder Directive Shopping oder als Stepping-Stone-Gesellschaft, stellt sich ebenfalls die Frage, ob hierin ein nicht anzuerkennender Gestaltungsmissbrauch liegt. Der BFH hat sich der Annahme eines Missbrauchs durch Steuerausländer bekanntlich recht zögerlich angenähert. In den 1970er Jahren betonte er in zwei Urteilen zu den sog. „Niederländischen Quintett“-Fällen das Recht der Steuerpflichtigen, „ihre Verhältnisse, auch ihre Auslandsbeziehungen, so gestalten [zu] können, wie sie ihnen steuerrechtlich am günstigsten erscheinen“21. Ob die – erkennbar zum Zwecke des Treaty Shopping erfolgte – Aufteilung22 der Beteiligung an der deutschen Kapitalgesellschaft „wirtschaftlich vernünftig war“, bedürfe keiner Prüfung23. Substanzfragen, mithin die persönliche und sachliche Ausstattung der fraglichen Gesellschaften, wurden nicht angesprochen24. Eben diese Fragen, nämlich die Einschaltung einer „funktionslose[n] sog. ­Basisgesellschaft“, hielt der BFH indessen  – nach zwischenzeitlich grundlegender Änderung seiner Inbound-Rechtsprechung – im Jahr 2002 in dem sog. „Britischen-­ Quintett“-Fall für entscheidungserheblich25. Um Treaty Shopping ging es auch in dem bekannten „Monaco“-Urteil von 1981. Der BFH erkannte in der Gründung einer später als Zwischenholding genutzten sub­ stanzschwachen schweizerischen Kapitalgesellschaft durch eine in Monaco ansässige Person keinen Missbrauch. „Bei diesem Vorgang fehlt jede Beziehung zum Inland und damit zu den inländischen Steuergesetzen […]. Die Gründung einer Kapitalgesellschaft im Ausland durch einen Ausländer ist ein das inländische Steuerrecht nicht 19 BFH v. 17.7.1968 – I 121/64, BStBl. II 1968, 695 (unter 3.); ähnlich in der Prüfungsfolge auch noch BFH v. 16.1.1976 – III R 92/74, BStBl. II 1976, 401 (unter 1.c)). 20 BFH v. 1.12.1982 – I R 43/79, BStBl. II 1985, 2 (unter 2.); v. 19.3.2002 – I R 15/01 – Luxemburg, juris Rz. 13, unter – den Sichtwechsel eher verschleierndem – Hinweis auf BFH v. 16.1.1976 – III R 92/74, BStBl. II 1976, 401; vgl. ferner BFH v. 11.4.1984 – I R 82-84/80, juris Rz.  8  ff.; zum Verhältnis zwischen I  R  43/79 und I  R  82-84/80 wiederum BFH v. 5.2.1986 – I B 39/85, BStBl. II 1986, 490 (491). 21 BFH v. 19.2.1975 – I R 26/73 – Niederländisches Quintett II, BStBl. 1975, 584 (unter 2.); ähnlich schon BFH v. 13.9.1972 – I R 130/70 – Niederländisches Quintett I, BStBl. 1973, 57 (unter 6.). 22 Der nach damaliger DBA-Rechtslage zulässige Kapitalertragsteuersatz erhöhte sich bei Beteiligungen ab 25 %. 23 BFH v. 19.2.1975 – I R 26/73 – Niederländisches Quintett II, BStBl. 1975, 584 (unter 2.). 24 Dennoch grenzte der IV. Senat im „Niederländische Brüder“-Fall mit der Begründung ab, dass die fraglichen Gesellschaften „keine reinen Domizilgesellschaften ohne eigene wirtschaftliche Funktion waren“; BFH v. 10.11.1983 – IV R 62/82, BStBl. II 1984, 605 (unter II.1.c)). 25 BFH v. 23.10.2002 – I R 39/01 – Britisches Quintett, juris Rz. 13.

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berührender Vorgang und entzieht sich grundsätzlich der Beurteilung, ob ein Missbrauch von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts (§  6 Abs. 1 StAnpG) oder von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts (§ 42 AO 1977) vorliegt“26. Das trifft zwar zu, ist aber letztlich unerheblich. Richtigerweise wäre nicht die Gründung, sondern allein das spätere Erzielen inländischer Einkünfte durch die ausländische Gesellschaft zu prüfen gewesen. Letzteres maß der BFH zwar an §  6 StAnpG bzw. § 42 AO27. Maßgebend stellte er jedoch nicht auf Substanz und ausgeübte Funktionen der schweizerischen Kapitalgesellschaft ab. Vielmehr stimmte er – unter schwer einzuordnendem Hinweis auf den Eintritt des erstrebten wirtschaftlichen Erfolgs – „dem FG zu, daß W als nicht in der Bundesrepublik ansässige Person nicht gezwungen war, den vom Bundesamt angeführten Weg zu gehen“28. Damit wurde bei In- und Ausländern hinsichtlich der Anerkennung ausländischer Basisgesellschaften mit zweierlei Maß gemessen. Die zu Recht später vom BFH zunächst relativierte29 und im sog. „Sportveranstalter“-Urteil im Jahr 1997 endgültig aufgegebene30 „Monaco“-Rechtsprechung war im Jahr 1993 der gesetzgeberische Anlass zur Einführung der sog. Anti-Treaty-Shopping-Regelung in § 50d Abs. 1a (jetzt Abs. 3) EStG31. Nunmehr bestand ebenso wie für Outbound-Konstellationen in Form der Hinzurechnungsbesteuerung neben der allgemeinen Missbrauchsregelung eine spezielle Regelung, deren Konkurrenzverhältnis zu klären war32. b) Allgemeine Maßstäbe für Gestaltungsmissbrauch bei Basisgesellschaften Seit dem Grundsatzurteil vom 21.1.1975 formulierten verschiedene Senate des BFH den bei Basisgesellschaften anzulegenden Maßstab folgendermaßen: „Basisgesellschaften im Ausland erfüllen den Tatbestand des Rechtsmissbrauchs vor allem dann, wenn für ihre Errichtung wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe fehlen und wenn sie keine eigene wirtschaftliche Tätigkeit entfalten“33. Dabei kommt es nicht auf 26 BFH v. 29.10.1981 – I R 89/80 – Monaco, BStBl. II 1982, 150 (unter III.1.). 27 Hierauf abstellend BFH v. 10.11.1983  – IV  R  62/82  – Niederländische Brüder, BStBl.  II 1984, 605 (unter II.1.a)). 28 BFH v. 29.10.1981 – I R 89/80 – Monaco, BStBl. II 1982, 150 (unter III.1.). 29 BFH v. 21.12.1994  – I  R  65/94  – Niederländische Stiftung  I, juris Rz.  15: „… steht dem nicht entgegen, weil die Klägerinnen sich in keine Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) „eingekauft“ haben.“; ähnlich auch BFH v. 27.8.1997  – I  R  8/97  – Niederländische Stiftung II, BStBl. II 1998, 163 (unter II.3.b)). 30 BFH v. 29.10.1997 – I R 35/96 – Sportveranstalter, BStBl. II 1998, 235 (unter II.3.), mit ausdrücklichem Hinweis, dass kein Widerspruch mehr zu der „Niederländische Brüder“-Entscheidung bestehe. Bestätigend BFH v. 20.3.2002 – I R 38/00 – Hilversum I, BStBl. II 2002, 819 (unter II.2.a)); v. 29.1.2008 – I R 26/06 – SOPARFI, BStBl. II 2008, 978 (unter II.2.a)). 31 StMBG v. 21.12.1993, BGBl. I 1993, 2310. 32 Dazu unter III. 33 BFH v. 29.1.1975 – I R 135/70 – Zweites Treuhand-Urteil, BStBl. II 1975, 553 (unter 1.b)); ähnlich BFH v. 16.1.1976  – III  R  92/74, BStBl.  II 1976, 401 (unter 1.); v. 29.7.1976  – VIII R 142/73, BStBl. II 1977, 263 (unter 1.b)aa)); v. 9.12.1980 VIII R 11/77, BStBl. II 1981, 339 (unter I.1.a)); v. 5.3.1986  – I  R  201/82, BStBl.  II 1986, 496 (unter 3.); v. 28.1.1992  –

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den in den Statuten niedergelegten Gesellschaftszweck, sondern auf dessen tatsächliche Vollziehung und das wirtschaftliche Handeln der Organe an34. Indem der BFH zunächst – nur – auf beachtliche Gründe für die Errichtung der Gesellschaft und auf deren eigenwirtschaftliche Tätigkeit abstellte, begab er sich – wie im sog. „Schweizer Hotel“-Fall – bei gemischt tätigen Gesellschaften der „Möglichkeit, bestimmte Einkunftsteile oder Vermögensgegenstände der ausländischen Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt des § 6 Abs. 1 StAnpG einem hinter ihr stehenden Gesellschafter zuzurechnen. Dies gilt auch dann, wenn die Einkunftsteile oder Vermögensgegenstände in keinem objektiven Zusammenhang zu der erwerbswirtschaftlichen Funktion der Gesellschaft stehen“35. Etwas anderes könne nur gelten, wenn die aktive Tätigkeit von völlig untergeordneter Bedeutung sei oder wenn ihre Verbindung mit dem passiven Erwerb im Einzelfall wegen besonderer Umstände ausnahmsweise als missbräuchlich anzusehen sei36. Gemischt tätige Gesellschaften eröffneten damit einem Missbrauchsvorwurf entzogene Verlagerungsmöglichkeiten37. Mit n.v. Urteil vom 23.10.1991 relativierte der BFH im zweiten Rechtszug unter Hinweis auf Besonderheiten des Sachverhalts seine Erkenntnis, soweit die Bindung an die rechtliche Beurteilung im ersten Rechtszug dies zuließ38. Soweit ersichtlich, waren es die Erkenntnisse aus dem „Schweizer Hotel“-Fall, die den BFH am selben Tag zu einer Neuformulierung des Maßstabs für die Beurteilung von Basisgesellschaften veranlassten39. „Nach inzwischen ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung  (…) erfüllt die Zwischenschaltung von Basisgesellschaften in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft im niedrig besteuernden Ausland den Tatbestand des Rechtsmissbrauchs, wenn für ihre Zwischenschaltung in bestimmte Rechtsgestaltungen [sic!] wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe fehlen. Die Rechtsprechung ist Ausdruck des Grundsatzes, dass das Steuerrecht grundsätzlich die gewählte zivilrechtliche Gestaltung respektiert. Dies gilt jedoch nicht für solche Gestaltungen, die nur der Manipulation dienen. Sie können der Besteuerung nur dann zugrunde gelegt werden, wenn mit ihnen ein angemessener wirtschaftlicher Zweck verfolgt wird“40. Entscheidend war nun nicht mehr die „Errichtung“ der Basisgesellschaft, sondern die „Zwischenschaltung in bestimmte Rechtsgestaltungen“. VIII R 7/88 – Schweizer Hotel III, BStBl. II 1993, 84 (unter 1.); v. 2.6.1992 – VIII R 8/89, juris Rz. 30. 34 BFH v. 16.1.1976 – III R 92/74, BStBl. II 1976, 401 (unter 1.); v. 29.7.1976 – VIII R 41/74, BStBl. II 1977, 261 (unter 2.a)); v. 9.12.1980 VIII R 11/77, BStBl. II 1981, 339 (unter I.1.a)); v. 2.6.1992 – VIII R 8/89, juris Rz. 30. 35 BFH v. 5.3.1986 – I R 201/82 – Schweizer Hotel I, BStBl. II 1986, 496 (unter 5.); a.A. BFH v. 28.1.1992 – VIII R 7/88 – Schweizer Hotel III, BStBl. II 1993, 84 (unter 2.b)). 36 BFH v. 5.3.1986 – I R 201/82 – Schweizer Hotel I, BStBl. II 1986, 496 (unter 5.). 37 Die BFH-Rspr.  – im zweiten Rechtszug  – ablehnend FG Nürnberg v. 17.11.1987  – VI 282/82, RIW 1988, 576 (577). 38 BFH v. 23.10.1991 – I R 52/90 – Schweizer Hotel II, juris Rz. 19. 39 BFH v. 23.10.1991 – I R 40/89, BStBl. II 1992, 1026 (unter II.1.a)). Die Änderung der langjährigen Formulierung ist allerdings im Urteil nicht kenntlich gemacht. 40 BFH v. 23.10.1991 – I R 40/89, BStBl. II 1992, 1026 (unter II.1.a)); v. 10.6.1992 – I R 105/89, BStBl.  II 1992, 1029 (unter II.2.a)); v. 19.1.2000  – I  R  94/97, BStBl.  II 2001, 222 (unter

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Rechtsmissbrauch durch die Einschaltung einer Basisgesellschaft setzt in jedem Fall voraus, dass der Steuerpflichtige oder eine ihm nahe stehende Person an derselben beteiligt ist; inländischen Vertragspartnern einer ausländischen Gesellschaft, die im Verhältnis zu fremden Dritten als „Basisgesellschaft“ qualifizieren mag, ist Letzteres nicht anzulasten41. Ob Voraussetzung für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs auch eine niedrige Besteuerung der Basisgesellschaft ist, hat der BFH nicht immer eindeutig beantwortet. In seiner oben dargestellten Ausgangsentscheidung spielte die Höhe der – vermutlich niedrigen – Besteuerung der liechtensteinischen Firma keine Rolle42. Auch die seit dem „Zweiten Treuhandurteil“ verwendete Missbrauchsformel43 stellt nicht auf das Besteuerungsniveau ab. Nach der im Jahr 1991 eingeführten Formulierung44 schien indessen ein wesensbestimmendes Merkmal von Basisgesellschaften deren Ansässigkeit im niedrig besteuernden Ausland zu sein. Erst im Jahr 1997 stellte der BFH im 3. Leitsatz des sog. „Sportveranstalter“-Urteils – ohne hierzu in den Urteilsgründen weitere Ausführungen zu machen  – fest, dass es auf das Niveau der ausländischen Besteuerung nicht ankomme, wenn im Inland erzielte Einnahmen zur Vermeidung inländischer Steuer durch eine ausländische Kapitalgesellschaft „durchgeleitet“ werden45. Nun ist es in Inbound-Konstellationen offensichtlich, dass die Höhe der Besteuerung der etwa zum Zwecke des Treaty Shopping oder als Stepping Stone zwischengeschalteten Gesellschaft aus deutscher Sicht unerheblich ist. Interessanter und bislang nicht endgültig geklärt ist dagegen die Frage, ob in Outbound-Konstellationen der Missbrauchsvorwurf daran anknüpft, dass ein Steuerinländer inländisches Steuersubstrat in die funktionsschwache ausländische Basisgesellschaft verlagert und dadurch von der inländischen Besteuerung abschirmt, oder ob dieser Missbrauchsvorwurf erst infolge der niedrigen Besteuerung jener Basisgesellschaft gerechtfertigt ist. c) Anzuerkennende wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe, ­Outsourcing im Konzern und „Substanz“ Zu den vom BFH für die Einschaltung ausländischer Gesellschaften anerkannten wirtschaftlichen oder sonst beachtlichen Gründen gehörten unter anderem die Sicherung eines kleinen Teils des „beträchtlichen“ Familienvermögens für KrisenzeiII.1.a)); v. 19.1.2000 – I R 117/97, juris Rz. 12; v. 23.10.2002 – I R 39/01 – Britisches Quintett, juris Rz.  16. In BFH v. 20.3.2002  – I  R  63/99  – Delaware, BStBl.  II 2003, 50 (unter B.II.1.b)), und v. 20.3.2002 – I R 38/00 – Hilversum I, BStBl. II 2002, 819 (unter II.2.b)), ist nur von „Zwischenschaltung“ bzw. „hierfür“ die Rede. 41 BFH v. 9.5.1979 – I R 126/77 BStBl. II 1979, 586 (unter 1.a)aa)); v. 21.10.1988 – III R 194/84, BStBl. II 1989, 216 (unter II.1.a)). 42 BFH v. 17.7.1968 – I 121/64, BStBl. II 1968, 695 (unter 2.b)). 43 Vgl. oben bei Fn. 33. 44 Vgl. oben bei Fn. 40. 45 BFH v. 29.10.1997 – I R 35/96 – Sportveranstalter, BStBl. II 1998, 235, 3. Leitsatz; ebenso  BFH v. 20.3.2002  – I  R  38/00  – Hilversum  I, BStBl.  II 2002, 819 (unter II.2.b)); v. 23.10.2002 – I R 39/01 – Britisches Quintett, juris Rz. 16.

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ten46. Auch der Aufbau einer internationalen Unternehmensgruppe47 bzw. der Erwerb von Beteiligungen von einigem Gewicht48 wurden als beachtlich angesehen. Hingegen erkannte der BFH die – angebliche – Absicht, Tätigkeitsort und Wohnsitz in die Schweiz zu verlegen, nicht als beachtlichen außersteuerlichen Grund an49. Seit Mitte der 1990er Jahre rückte in Bezug auf die Anerkennung der Einschaltung ausländischer (Basis-)Gesellschaften die Frage in den Vordergrund, ob und unter welchen (Substanz-)Voraussetzungen die auch als Outsourcing bezeichnete Ver­ lagerung bestimmter begrenzter Funktionen auf eine separate (Konzern-)Gesellschaft anzuerkennen sei. Die Frage stellte sich gleichermaßen in Inbound- wie in Outbound-Fällen. Nachdem der BFH sich gegenüber solchem Outsourcing zunächst zurückhaltend geäußert hatte50, bekannte er sich in den sog. „Dublin Docks“-Urteilen vom 19.1.2000 zur steuerlichen Anerkennung des Outsourcings in irische Kapitalanlagegesellschaften51, die von eigenwirtschaftlich funktionslosen bloßen Briefkastengesellschaften zu unterscheiden seien52. Unerheblich sei es, wenn die Abwicklung der Wertpapiergeschäfte durch externe Dienstleister (Managementgesellschaft) erfolge53. Hinzu komme die – auch für § 42 AO Maßstäbe setzende54 – Anerkennung passiv tätiger Kapitalanlagegesellschaften durch die speziellen Regelungen der §§ 7 ff. AStG55. Entgegen der in dem Nichtanwendungserlass des BMF vom 19.3.200156 geäußerten Kritik bekräftigte der BFH seine Rechtsprechung für eine ausländische Projektfinanzierungsgesellschaft57 sowie in einem weiteren „Dublin Docks“-Urteil58, welches zur weitge46 BFH v. 21.5.1971 – III R 125-127/70 – Erstes Treuhand-Urteil, BStBl. II 1971, 721 (unter 2.); a.A. BFH v. 5.3.1986 – I R 201/82, BStBl. II 1986, 496 (unter 4.: „nicht plausibel“). 47 BFH v. 21.1.1975 – I R 135/70 – Zweites Treuhand-Urteil, BStBl. II 1975, 553 (unter 1.b)). 48 BFH v. 29.7.1976 – VIII R 41/74, BStBl. II 1977, 261 (unter 2.a)). 49 BFH v. 7.2.1975 – VIII B 61-62/74, BStBl. II 1976, 608 (609). 50 BFH v. 6.12.1995 – I R 40/95 – Marktüberlassung, BStBl. II 1997, 118 (unter II.5.a)). Bereits „offener“ BFH v. 27.8.1997 – I R 8/97 – Niederländische Stiftung II, BStBl. II 1998, 163 (unter II.3.a)); zur Abgrenzung bei abweichendem Sachverhalt vgl. BFH v. 17.11.2004 – I R 55/03 – Niederländische Stiftung III, juris Rz. 16 ff. 51 BFH v. 19.1.2000 – I R 94/97 – Dublin Docks I, BStBl. II 2001, 222 (unter II.1.c)bb)–ff)); v. 19.1.2000 – I R 117/97 – Dublin Docks II, juris Rz. 16–22. 52 BFH v. 19.1.2000 – I R 94/97 – Dublin Docks I, BStBl. II 2001, 222 (unter II.1.c)aa)); v. 19.1.2000 – I R 117/97 – Dublin Docks II, juris Rz. 15. 53 BFH v. 19.1.2000 – I R 94/97 – Dublin Docks I, BStBl. II 2001, 222 (unter II.1.c)bb)); v. 19.1.2000  – I  R  117/97  – Dublin Docks  II, juris, Rz.  16–17; bestätigt durch BFH v. 20.3.2002  – I  R  63/99  – Delaware, BStBl.  II 2003, 50 (unter B.II.2.b)bb)); ebenso  – sehr deutlich – auch BFH v. 25.2.2004 – I R 42/02 – Dublin Docks III, BStBl. II 2005, 14 (unter B.I.2.). 54 Dazu im Einzelnen unter III.2; ferner Schönfeld, Die Rolle des Außensteuergesetzes in der Rechtsprechung, in FS 100 Jahre BFH, S. 1077 ff. 55 BFH v. 19.1.2000 – I R 94/97 – Dublin Docks I, BStBl. II 2001, 222 (unter II.1.c)cc)); v. 19.1.2000 – I R 117/97 – Dublin Docks II, juris Rz. 18. 56 BStBl. I 2001, 243. 57 BFH v. 20.3.2002 – I R 63/99 – Delaware, BStBl. II 2003, 50 (unter B.II.2.b)aa)). 58 BFH v. 25.2.2004 – I R 42/02 – Dublin Docks III, BStBl. II 2005, 14 (unter B.I.3.).

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henden Aufhebung jenes Nichtanwendungserlasses und damit  – jedenfalls für die Outbound-Fälle – zur grundsätzlichen Akzeptanz des Outsourcings durch ein weiteres BMF-Schreiben vom 28.12.2004 führte59. In Fortentwicklung des Outsourcing-Gedankens maß der BFH der Tatsache, dass eine beschränkt steuerpflichtige Gesellschaft fast ausschließlich mit Fremdkapital ausgestattet worden war und abgesehen von ihrer Geschäftsleitung weder über Personal noch Büroräume verfügte, auch in Inbound-Fällen keine ausschlaggebende ­Bedeutung mehr bei60. Tragende Erwägung war, dass die fragliche Gesellschaft im Einklang mit einem konzernweit durchgängig angewandten Struktur- und Strategiekonzept dauerhaft als selbständige Projektgesellschaft errichtet worden war61. An diese „geläuterten Erkenntnisse des Senats“62 knüpfte derselbe in der sog. „Hilversum  II“-Entscheidung an, in der es um die Versagung der Mutter-Tochter-RL nach § 50d Abs. 1a EStG ging. Anders als noch im „Hilversum I“-Urteil63 erkannte er in einer langfristigen konzernstrategischen Ausgliederung von  – als solche passiven  – Beteiligungsaktivitäten in zwei Gesellschaften in den Niederlanden, wo der Konzern auch sein aktives europäisches Kerngeschäft konzentriert hatte, wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe und mithin keinen Missbrauch64. Anders als das „Dublin Docks III“-Urteil65 führte die „Hilversum II“-Entscheidung zu einem Nichtanwendungserlass66 und zu einer Verschärfung des § 50d Abs. 3 EStG durch das JStG 200767. Es ging  – lt. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 25.9.2006  – vor dem Hintergrund der „Hilversum  II“-Entscheidung und in ausdrücklicher „Anlehnung“ an „Hilversum  I“ um „eine Klarstellung, was Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist“68. Namentlich sollten eigenwirtschaftliche „Minimal­ tätigkeiten“ unerheblich, eine „substanzielle“ Geschäftsausstattung erforderlich sowie  Outsourcing und eine „Merkmalsübertragung“ im Konzern ausgeschlossen sein69. Dass dies alles mit den auch vom BMF akzeptierten Rechtsgrundsätzen bei Outbound-Fällen nach „Dublin Docks“ und insbesondere mit den wenige Tage zuvor vom EuGH in der Rs. „Cadbury Schweppes“ aufgestellten Grundsätzen – „rein

59 BStBl. I 2005, 28. 60 BFH v. 17.11.2004 – I R 55/03 – Niederländische Stiftung III, juris Rz. 15 ff. 61 So die Erläuterung des Urteils durch BFH v. 31.5.2005  – I  R  74,  88/04  – Hilversum  II, BStBl. II 2006, 118 (unter II.2.c)aa)). 62 BFH v. 31.5.2005 – I R 74, 88/04 – Hilversum II, BStBl. II 2006, 118 (unter II.4.). 63 BFH v. 20.3.2002 – I R 38/00 – Hilversum I, BStBl. II 2002, 819. 64 BFH v. 31.5.2005 – I R 74, 88/04 – Hilversum II, BStBl. II 2006, 118 (unter II.2.c)bb)). 65 Vgl. oben bei Fn. 59. 66 BMF v. 30.1.2006, BStBl. I 2006, 166. Entgegen dessen Rz. 3 müssen die tatbestandlichen (sachlichen) Voraussetzungen, um den Entlastungsanspruch auszuschließen, „nach dem unmissverständlichen Regelungswortlaut kumulativ“ (und nicht alternativ) vorliegen; so zu Recht BFH v. 29.1.2008 – I R 26/06 – SOPARFI, BStBl. II 2008, 978 (unter II.2.a)). 67 BGBl. I 2006, 2878. 68 BT-Drucks. 16/2712, 60. 69 Vgl. BT-Drucks. 16/2712, 60.

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künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen“ zu verhindern70 – nicht vereinbar war71, hielt den Gesetzgeber nicht auf.

III. Zum Verhältnis zwischen § 42 AO und speziellen Vorschriften zur Verhinderung grenzüberschreitender Missbräuche 1. Allgemeines Spezielle Missbrauchsvorschriften (SAAR) sind an sich keine Besonderheit des deutschen internationalen Steuerrechts; dennoch fällt auf, dass diese Regelungen vornehmlich auf grenzüberschreitende Sachverhalte ausgerichtet sind. Neben der Hinzurechnungsbesteuerung und § 50d Abs. 3 EStG sind als weitere Spezialregelungen beispielsweise zu nennen: § 50c EStG a.F., § 50g Abs. 4 EStG, § 36a und § 50j EStG. Obwohl ebenfalls gegen „unerwünschte“ Gestaltungen gerichtet, sind etwa §  2a Abs. 1 EStG72, § 50d Abs. 9 EStG73 oder § 15 AStG74 keine Missbrauchsregelungen. Die Existenz spezieller Missbrauchsregelungen wirft die Frage nach ihrem Verhältnis zu § 42 AO auf. 2. §§ 7 ff. AStG und § 42 AO Die Diskussion über das Verhältnis der allgemeinen zu speziellen Missbrauchsregelungen wird bis heute durch die Grundsatzentscheidung75 des BFH vom 23.10.1991 beeinflusst, wenn nicht beherrscht76. In  – damaliger77  – Ermangelung einer ausdrücklichen Regelung zu dem Konkurrenzverhältnis sowie unter Berücksichtigung der Gesetzgebungsmaterialien zum AStG kam der BFH zu dem Schluss, dass die Hinzurechnungsbesteuerung das hergebrachte „Instrumentarium“ der Missbrauchsbekämpfung nicht einschränken solle. Aus den unterschiedlichen Rechtsfolgen (Zurechnung bzw. Hinzurechnung) ergebe sich ein logischer Vorrang des § 42 AO. Dessen Rechtsfolge setze „logisch früher, und zwar schon bei der Einkünftezurechnung an“78. Werden danach die fraglichen Einkünfte nicht der ausländischen Basisgesell-

70 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04 – Cadbury Schweppes, Rz. 55. 71 Vgl. zu den Vorlagebeschlüssen des FG Köln und der EuGH-Rechtsprechung unten Fn. 150, 151. 72 BFH v. 17.10.1990  – I  R  182/87, BStBl.  II 1991, 136 (unter II.B.III.b)); v. 17.10.1990  – I  R  177/87, juris Rz.  27; v. 29.1.2008  – I  R  85/06  – Schlussurteil Rewe Zentralfinanz, BStBl. II 2008, 671 (unter II.4.). 73 Vgl. BT-Drucks. 16/2712, 61 f. 74 BFH v. 2.2.1994 – I R 66/92, BStBl. II 1994, 727 (unter II.1.d)); v. 25.4.2001 – II R 14/98, juris Rz. 47. 75 In einem vorangegangenen Urteil zur Hinzurechnungsbesteuerung war das Rangverhältnis nicht zu entscheiden; vgl. BFH v. 12.7.1989 – I R 46/85, BStBl. II 1990, 113 (unter 2.). 76 BFH v. 23.10.1991 – I R 40/89, BStBl. II 1992, 1026. 77 Vgl. jetzt aber § 42 Abs. 1 Satz 2 AO. 78 BFH v. 23.10.1991 – I R 40/89, BStBl. II 1992, 1026 (unter II.1.b)cc)).

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schaft, sondern dem inländischen Beteiligten zugerechnet, scheide eine Hinzurechnung dieser Einkünfte nach Maßgabe der §§ 7 ff. AStG aus. Allerdings setze die logisch vorrangige Anwendung des §  42 AO ihrerseits voraus, dass „die gewählte Gestaltung auch bei einer Bewertung am Gesetzeszweck der §§ 7 ff. AStG sich noch als ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts darstellt“79. § 42 AO ist mithin „im Lichte“ der jeweiligen speziellen Missbrauchsregelung auszulegen. Erkennt die spezielle Missbrauchsvorschrift eine zwischengeschaltete Gesellschaft steuerlich in dem Sinne an, dass die Regelung von der Erzielung der fraglichen Einkünfte durch diese Gesellschaft ausgeht und ihre Rechtsfolgen – Hinzurechnung  – daran anknüpft, ist jedenfalls im Anwendungsbereich dieser Regelung die abweichende Rechtsfolge des § 42 AO – unmittelbare Zurechnung – ausgeschlossen. Die vom Gesetzgeber mit den §§  7  ff. AStG verfolgte Regelungsabsicht hebe das „Missbrauchsverdikt“80 auf. Missbrauch i.S.d. § 42 AO erfordere, dass weitere Umstände hinzuträten81. Diese Erkenntnisse wurden später mehrfach bestätigt82. § 42 AO blieb danach „namentlich bei Einschaltung bloßer Briefkastenfirmen“83 anwendbar84. 3. § 50d Abs. 3 EStG (§ 50d Abs. 1a EStG a.F.) und § 42 AO Im „Sportveranstalter“-Urteil (1997) äußerte der BFH obiter, §  50d Abs.  1a EStG (a.F.) diene „der Konkretisierung des Grundsatzes, dass bilaterale Abkommen unter einem Umgehungsvorbehalt stehen. Die Gesetzesergänzung bezweckte folglich, einer möglichen Unvollständigkeit des § 42 AO 1977 Rechnung zu tragen, nicht aber den Geltungsbereich des § 42 AO 1977 einzuschränken“85. In der sog. „Hilversum II“-Entscheidung (2005) nahm der BFH den Gedanken der Auslegung des § 42 AO „im Lichte“ einschlägiger spezialgesetzlicher Missbrauchsregelungen auf. „Denn indem § 50d Abs. 1a EStG 1990/1994 ausdrücklich auf das (alternative) Erfordernis wirtschaftlicher oder sonst beachtlicher Gründe abstellt, gibt er als gegenüber §  42 AO 1977 spezieller Vorschrift zur Vermeidung von Gestaltungsmissbräuchen den tatbestandlichen Rahmen auch für den ggf. daneben anzuwendenden §  42 AO 1977 abschließend vor. Sollen Wertungswidersprüche ausge-

79 BFH v. 23.10.1991 – I R 40/89, BStBl. II 1992, 1026 (unter II.1.b)dd)). 80 BFH v. 23.10.1991 – I R 40/89, BStBl. II 1992, 1026 (unter II.1.b)dd)). 81 BFH v. 23.10.1991 – I R 40/89, BStBl. II 1992, 1026 (unter II.2.). 82 BFH v. 10.6.1992  – I  R  105/89, BStBl.  II 1992, 1029; v. 19.1.2000  – I  R  94/97  – Dublin Docks I, BStBl. II 2001, 222 (unter II 1.); v. 19.1.2000 – Dublin Docks II – I R 117/97, juris Rz. 11 ff. 83 BFH v. 20.3.2002 – I R 63/99 – Delaware, BStBl. II 2003, 50 (unter II.2.b)cc)). 84 Zur Frage, ob sich aus BFH v. 22.12.2010 – I R 84/09, BStBl. II 2014, 351, Rz. 11, Gegenteiliges ergibt, vgl. unter III.5. 85 BFH v. 29.10.1997  – I  R  35/96  – Sportveranstalter, BStBl.  II 1998, 235 (unter II.3.); v. 20.3.2002 – I R 38/00 – Hilversum I, BStBl. II 2002, 819 (unter II.2.a)) brachte keine weitere Klärung.

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schlossen werden, muss die tatbestandlich enger gefasste Spezialvorschrift auf die allgemeinere Vorschrift durchschlagen“86. In der Entscheidung zur Entlastungsberechtigung einer luxemburgischen SOPARFI (2008) nach der Mutter-Tochter-RL grenzte der BFH jedoch ausdrücklich vom „Sportveranstalter“-Urteil87 ab und erkannte, dass die spezialgesetzlichen Regelungsvoraussetzungen des § 50d Abs. 1a EStG denen der allgemeinen Vorschrift des § 42 AO vorgehen88. Richtigerweise muss dies auch insoweit gelten, als die Spezialregelung wegen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts nicht angewendet werden darf89. Die – legislatorisch – erstaunliche Tatsache, dass § 50d Abs. 3 EStG bei ausländischen Basisgesellschaften nur für Fälle des Steuerabzugs90, nicht aber bei anderen Einkünften anzuwenden ist (beispielsweise aus der späteren Veräußerung der nämlichen inländischen Einkunftsquelle), bei denen mithin keine Gesetzeskonkurrenz besteht, hat die BFH-Rechtsprechung bislang nicht thematisiert. 4. § 50c EStG und § 42 AO § 50c EStG diente ursprünglich dazu, das Verbot der Körperschaftsteueranrechnung für nichtanrechnungsberechtigte Anteilseigner durchzusetzen91. Mit der Einführung92 des Absatzes  11 verlor die Vorschrift jeden Bezug zur Nichtanrechnungsberechtigung und knüpfte an die inländische Steuerpflicht des Veräußerungsgewinns an93. In beiden Fassungen setzte die Regelung „in gewisser Weise systemwidrig“94 bei der Gewinnermittlung des Anteilserwerbers an. Der BFH sah in § 50c EStG eine Spezialvorschrift in Hinblick auf die Anerkennung von ausschüttungsbedingten Teilwertabschreibungen auf erworbene Kapitalgesellschaftsanteile, welche in ihrem abstrakten Anwendungsbereich bei sog. Anteilsrotation die Anwendung des § 42 AO auf solche Teilwertabschreibungen sperrte95. 86 BFH v. 31.5.2005 – I R 74, 88/04 – Hilversum II, BStBl. II 2006, 118 (unter II.2.c)bb)). In BFH v. 19.12.2007 – I R 21/07, BStBl. II 2008, 619 (unter II.2.c)) wurde hingegen unter Bezugnahme auf „Hilversum I“ das Verhältnis (wieder?) als offen bezeichnet. 87 BFH v. 29.10.1997 – I R 35/96 – Sportveranstalter, BStBl. II 1998, 235. 88 BFH v. 29.1.2008 – I R 26/06 – SOPARFI, BStBl. II 2008, 978 (unter II.2.a)); die Entscheidung wird gelegentlich auch – an sich unzutreffend – als „Hilversum III“ bezeichnet. 89 Vorlagebeschluss des FG Köln v. 17.5.2017 – 2 K 773/16, EFG 2017, 1518 (unter B.II.2.c)), Az. des EuGH C-440/17 – GS. 90 § 50d Abs. 1 und 2 EStG. 91 Vgl. BFH v. 15.12.1999 – I R 29/97, BStBl. II 2000, 527 (unter B.II.3.b)aa) m.w.N.). 92 Durch Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform v. 29.10.1997, BGBl. I 1997, 2590. 93 Vgl. Dötsch in Dötsch/Eversberg/Jost/Witt, Die Körperschaftsteuer, §  50c EStG Rz.  95, 198 ff. (Stand: Aug. 1998). 94 BFH v. 3.2.2010 – I R 21/06 – Schlussurteil Glaxo Wellcome, BStBl. II 2010, 692 Rz. 21. 95 BFH v. 23.10.1996 – I R 55/95 – Anteilsrotation, BStBl. II 1998, 90 (unter II.2.); ähnlich bereits in demselben Fall im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes BFH v. 13.7.1994 – I B 53/94, BStBl. II 1995, 65; bestätigt durch BFH v. 18.7.2001 – I R 48/97, juris Rz. 18. Zur

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Die Sperrwirkung bestätigte der BFH auch in Fällen des sog. Dividendenstrippings durch nichtanrechnungsberechtigte Steuerausländer, welche die  – kurzfristigen  – Veräußerungen und Rückkäufe von Aktien formell über die Börse hatten abwickeln lassen. Obwohl die Anwendung des an sich einschlägigen § 50c EStG infolge dessen Börsenklausel ausschied96, hielt der BFH §  42 AO nicht für anwendbar97; der Vorschrift komme „neben und im Anwendungsbereich von § 50c EStG […] keine eigenständige Bedeutung zu“98. Die gesetzgeberische Rechtsfolgenentscheidung des § 50c EStG sei auch im Anwendungsbereich des §  42 AO zu respektieren. „Andernfalls würde der Gesetzesbefehl in § 50c EStG […] in sein Gegenteil verkehrt“99. An diesen Grundsätzen hielt der BFH gegen einen Nichtanwendungserlass des BMF100 und auch nach Einführung des § 42 Abs. 2 AO fest101. Daher war es auch unerheblich, ob die Voraussetzungen des § 42 AO erfüllt wären, wenn „eine vor dem Stichtag durchgeführte Maßnahme alsbald nach dem Stichtag wieder rückgängig gemacht oder substanziell abgeändert“102 wurde. In bemerkenswertem Gegensatz zum Ergebnis der Dividendenstripping-Fälle wendete der BFH im sog. Schlussurteil „Glaxo Wellcome“ § 50c EStG auf das sog. Doppelumwandlungsmodell an. Bei der vom EuGH geforderten Einzelfallprüfung missbräuchlichen Verhaltens103 stellte der BFH104 auf die Umwandlung und nicht auf den Anteilserwerb105 ab, welcher allein § 50c EStG auslöste. 5. Spezielle Missbrauchsvorschriften und § 42 AO i.d.F. des JStG 2008 Insbesondere aufgrund der dargestellten Rechtsprechung zu grenzüberschreitenden Fällen sah der Gesetzgeber Regelungsbedarf, um die Anwendung des § 42 AO neben spezialgesetzlichen Regelungen sicherzustellen106. Nachdem sich §  42 Abs.  2 AO

Abgrenzung bei Einschaltung einer ausländischen Domizilgesellschaft zur formellen Liquidation einer bereits „entleerten“ Gesellschaft vgl. BFH v. 7.7.1998  – VIII  R  10/96, BStBl. II 1999, 729; hierzu wiederum BFH v. 18.7.2001 – I R 48/97, juris Rz. 25. 96 BFH v. 15.12.1999 – I R 29/97 – Dividendenstripping, BStBl. II 2000, 527 (unter B.II.3.a) bb)). 97 BFH (Fn. 96), unter B.II.3.b)cc). 98 BFH (Fn. 96), unter B.II.3.b)aa). 99 BFH (Fn. 96), unter B.II.3.b)aa). 100 BMF v. 6.10.2000, BStBl. I 2000, 1392. 101 BFH v. 20.11.2007 – I R 85/05, BStBl. II 2013, 287 Rz. 13, 18 f. 102 BFH v. 30.7.2002 – III B 50/01, juris Rz. 10 f. 103 EuGH v. 17.9.2009 – C-182/08 – Glaxo Wellcome, Rz. 99. 104 BFH v. 3.2.2010 – I R 21/06 – Schlussurteil Glaxo Wellcome, BStBl. II 2010, 692 Rz. 21. 105 Völlig außer Betracht blieb, dass die „in gewisser Weise systemwidrig[e]“ Besteuerung des Erwerbers überhaupt nur deshalb in Betracht kam, weil die Besteuerung des Veräußerungsgewinns nach dem DBA nicht im Inland, sondern in Großbritannien erfolgte; vgl. dazu die vom Gesetzgeber (BT-Drucks. 8/4157, 5 f.) für den Fall der Besteuerung im Inland „eingeforderte“ Billigkeitsregelung in R 227d Abs. 3 Satz 2 EStR 1993. 106 BT-Drucks. 14/7341, 17.

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i.d.F. des StÄndG 2001107 als untauglich erwiesen hatte108, erhielt die Vorschrift mit dem JStG 2008109 ihre heutige Fassung110. Zwar mag die „eindeutige Prüfungsreihenfolge zur Feststellung eines Missbrauchs“111 tatsächlich geregelt worden sein. Dennoch könnte einiges dafür sprechen, dass die normativen Maßstäbe für die Beurteilung der „Angemessenheit“  – wie nach der bisherigen Rechtsprechung  – dem „umgangenen“ Gesetz und den flankierenden speziellen Missbrauchsvorschriften und eben nicht § 42 AO zu entnehmen sind112. Die Frage geht deshalb dahin, ob spezialgesetzliche Missbrauchsregelungen einen „negativen Sperreffekt“113 gegenüber §  42 AO auch dann haben, wenn ihre Tatbestandsvoraussetzungen nicht – vollständig – erfüllt sind und sie deshalb im Ergebnis unangewendet bleiben. Damit zusammen hängt die Frage, ob die vom BFH entwickelte These noch Geltung beanspruchen kann, § 42 AO sei – da in die Einkünftezurechnung eingreifend  – „logisch“ vorrangig, wenngleich „im Lichte“ der spezialgesetzlichen Missbrauchsregelung anzuwenden114. Es ist durch Auslegung zu ermitteln, welche missbräuchlichen Gestaltungen eine Spezialvorschrift dem Grunde nach verhindern soll. Ist in dem so ermittelten grundsätzlichen Anwendungsbereich ein spezialgesetzliches Tatbestandsmerkmal nicht erfüllt, kann insoweit nicht auf §  42 AO zurückgegriffen werden115. Dies würde den Gesetzesbefehl der Spezialregelung in sein Gegenteil verkehren. Richtigerweise wird man § 42 AO jedoch anwenden können, wenn das missbräuchliche Verhalten gerade darin besteht, die tatbestandlichen Voraussetzungen einer speziellen Missbrauchsregelung zu umgehen116. Die normativen Maßstäbe für die Beurteilung der „Unangemessenheit“ sind dem spezifischen Sinn und Zweck der Missbrauchsregelung zu entnehmen. Rechtsfolge eines Missbrauchs muss dann die Anwendung jener Missbrauchsregelung sein. Gute Gründe sprechen auch für die Anwendung des § 42 AO, wenn das missbräuchliche Verhalten (etwa sich gegenseitig „aufhebende“ Geschäfte) nur „zufällig“ mit einer speziellen Missbrauchsregelung zusammentrifft117. 107 Gesetz v. 20.12.2001, BGBl. I 2001, 3794. 108 BFH v. 20.11.2007  – I  R  85/05  – Dividendenstripping, BStBl.  II 2013, 287 Rz.  18  f.; v. 17.1.2017 – VIII R 7/13 – Stundungsmodelle, BStBl. II 2017, 700 Rz. 43. 109 Gesetz v. 20.12.2007, BGBl. I 2007, 3150. 110 Der Gesetzgeber hatte namentlich die BFH-Rspr. zu §§ 7 ff. AStG und § 50d Abs. 3 EStG im Blick, vgl. BT-Drucks. 16/6290, 81. 111 BT-Drucks. 16/7036, 24. 112 BFH v. 17.1.2017 – VIII R 7/13 – Stundungsmodelle, BStBl. II 2017, 700 Rz. 43. 113 So Gosch, IWB 2017, 876 (878); in der Sache ähnlich schon ders. in FS Reiß, 2008, S. 597 (604 f.); ders., DStJG Bd. 36 (2013), S. 201 (213). 114 Dies ablehnend Gosch, IWB 2017, 876 (877 f.), insb. unter Bezug auf BFH v. 29.1.2008 – I R 26/06 – SOPARFI, BStBl. II 2008, 978. 115 Vgl. den Fall der Börsenklausel in § 50c EStG (oben bei Fn. 96). 116 Zutreffend Drüen in Tipke/Kruse, Vor § 42 AO Rz. 14 m.w.N. 117 So auch für das Verhältnis von PPT und anderen Missbrauchsvorschriften (z.B. LoB) OECD-MK 2017 Rz. 173 zu Art. 29 OECD-MA.

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Das eigentliche Problem dürfte wohl die von Steuerinländern eingeschalteten und als „Briefkastengesellschaften“ bezeichneten, funktions- und substanzlosen Basisgesellschaften betreffen. Da Funktion und Substanz in § 50d Abs. 3 EStG tatbestandsmäßig sind, erfasst die Regelung von Steuerausländern zwischengeschaltete „Briefkastengesellschaften“, ohne dass es daneben eines Rückgriffs auf § 42 AO bedürfte. Die §§ 7 ff. AStG stellen – vorbehaltlich § 8 Abs. 2 AStG – hingegen nicht auf eine Minimalfunktion oder ‑substanz der Zwischengesellschaft ab. Ihr Regelungsziel ist ein anderes. Sie bekämpfen nicht das Fehlen von beachtlichen Gründen, Substanz oder Funktion. Vielmehr setzen sie die Zurechnung der Einkünfte jenseits dieser Hürden voraus. Sie sanktionieren daran anknüpfend die Verlagerung passiver Einkünfte durch Steuerinländer unter der Voraussetzung, dass die Einkünfte niedrig besteuert sind. Nur insofern hat der Gesetzgeber „ein missbrauchsverdächtiges Feld gesichtet und durch eine Spezialvorschrift abgesteckt“118, mithin „seinen Claim abgesteckt“119. Werden die von den §§ 7 ff. AStG vorausgesetzten Substanz- und Funktionserfordernisse verfehlt, hindern die Vorschriften nicht, die Einkünfteverlagerung nach §  42 AO nicht anzuerkennen, und zwar ungeachtet der Frage, ob die Gesellschaft „hoch“ oder „niedrig“ besteuert ist120. „Sperrwirkung“ haben die §§ 7 ff. AStG – trotz § 42 Abs. 1 Satz 3 AO – hingegen bei ausländischen Gesellschaften jenseits der Grenze eines bloßen „Briefkastens“.

IV. Anrechnung und Abzug ausländischer Steuern in Missbrauchsfällen Hat eine als rechtsmissbräuchlich erkannte grenzüberschreitende Gestaltung im Ausland Steuern ausgelöst121, kann sich die Frage nach deren Anrechnung oder Abzug nach §  34c EStG stellen. Die bislang vorliegende BFH-Rechtsprechung betrifft Streitjahre vor Geltung des heutigen § 34c Abs. 6 Satz 6 EStG122. Für Fälle fehlender Subjektidentität lehnte der BFH die Anrechnung123 oder den Abzug124 ausländischer Steuern ab. Die Fiktion einer angemessenen Gestaltung in § 42 Abs. 1 Satz 2 (jetzt Satz 3) AO erlaube nicht, eine missbräuchlich zwischengeschaltete Kapitalgesellschaft in jeder Hinsicht hinwegzudenken125. Doch selbst wenn man deren Existenz ignorieren wollte, scheide ein Abzug solcher – zusätzlichen – ausländischen Steuern aus, die allein infolge der missbräuchlichen Einschaltung der Gesell-

118 BFH v. 17.1.2017 – VIII R 7/13 – Stundungsmodelle, BStBl. II 2017, 700 Rz. 43. 119 Vgl. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rz. 341. 120 Zu europarechtlichen Fragen vgl. unter VI. 121 Fragen der Anrechnung ausländischer Steuern im Rahmen der Hinzurechnungsbesteuerung sind hier nicht zu erörtern. 122 Eingefügt als § 34c Abs. 6 Satz 4 EStG durch das StBereinG 1999 v. 22.12.1999, BGBl. I 1999, 2601. 123 BFH v. 24.2.1976 – VIII R 155/71, BStBl. II 1977, 265 (unter 1.b)). 124 BFH v. 2.3.2016 – I R 73/14, BStBl. II 2016, 887 Rz. 23. 125 BFH v. 2.3.2016 – I R 73/14, BStBl. II 2016, 887 Rz. 23.

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schaft anfallen; denn anderenfalls würde ein Teil der Verdiktsfolge des § 42 AO a.F. entfallen126. Mit Urteil vom 24.3.1998 ließ der BFH hingegen nach § 34c Abs. 3 EStG bei einer aufgrund inländischer Geschäftsleitung in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtigen und DBA-ansässigen schweizerischen AG den Abzug einer zu ihren Lasten abkommenswidrig erhobenen schweizerischen Körperschaftsteuer zu. §  34c Abs.  6 Satz 1 EStG stehe dem Abzug schon nach seinem Wortlaut nicht entgegen, denn die fraglichen Einkünfte stammten nicht aus der Schweiz, sondern aus Deutschland. Auch sei es unerheblich, ob die Doppelbesteuerung vom Steuerpflichtigen „zu vertreten“ sei127 oder auf unrichtiger Anwendung des DBA durch die Schweiz beruhe128. Infolge von Subjektidentität ließ der BFH auch den Abzug einer schweizerischen Verrechnungssteuer zu129. Diese war zu Lasten des inländischen Steuerpflichtigen auf Zahlungen einer dortigen Basisgesellschaft erhoben worden, mit denen sie – aus dem Inland stammende und dem Steuerpflichtigen nach § 42 AO zugerechnete – Entgelte an den Steuerpflichtigen weitergeleitet hatte. Obwohl die Verrechnungssteuer durch den Zahlungsfluss über die Basisgesellschaft ausgelöst wurde, ging der BFH ersichtlich – und überraschend – davon aus, dass „die ausländische Steuer auch bei einer wirtschaftlich angemessenen rechtlichen Gestaltung des Sachverhaltes angefallen wäre“130. Die Bestimmung des (heutigen) §  34c Abs.  6 Satz  6 EStG wurde insbesondere mit Blick auf das erwähnte BFH-Urteil aus 1998 sowie einen AdV-Beschluss aus 1999131 geschaffen, um in DBA-Fällen „Doppelanrechnungen“ zu verhindern und den Abzug in sog. „Missbrauchsfällen“ und bei künstlichen Gestaltungen auszuschließen132. Sie war bislang in Bezug auf eine „Gestaltung“133 beim BFH noch nicht streitentscheidend. Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung zu Anrechnung und Abzug ausländischer Steuern in Missbrauchsfällen muss deshalb als offen angesehen werden134. Allenfalls wird man eine Tendenz dergestalt erkennen können, dass jedenfalls Steuern (namentlich Quellensteuern in Drittstaaten), die auch ohne die missbräuchliche Gestaltung angefallen wären, je nach Lage des Falles angerechnet oder abgezogen 126 BFH v. 2.3.2016 – I R 73/14, BStBl. II 2016, 887 Rz. 24. 127 Das FA war  – ungeachtet einer möglichen Einkünfteverlagerungsabsicht  – zu dem Schluss gekommen, dass für die Einschaltung der Klägerin außersteuerliche Gründe vorlagen; vgl. Vorinstanz FG Baden-Württemberg v. 19.3.1997 – 3 K 171/92, EFG 1997, 984 (unter II.7.). 128 BFH v. 24.3.1998 – I R 38/97, BStBl. II 1998, 471 (unter II.3.). 129 BFH v. 1.4.2003 – I R 39/02, BStBl. II 2003, 869. 130 BFH v. 1.4.2003 – I R 39/02, BStBl. II 2003, 869 (unter II.3.b)bb)). 131 BFH v. 19.4.1999 – I B 141/98, juris; die Rechtsfrage zu § 34c Abs. 3 EStG blieb ausdrücklich offen (LS 3 und Rz. 31). 132 Vgl. BR-Drucks. 475/99, 60. Was „Doppelanrechnungen“ sind, erschließt sich nicht. 133 In BFH v. 17.11.2010 – I R 76/09, BStBl. II 2012, 276 Rz. 34 ff., ging es ausschließlich um den ersten Satzteil des § 34c Abs. 6 Satz 4 (jetzt Satz 6) EStG. 134 Zur Kritik an der bisherigen Rspr. vgl. etwa Gosch in Kirchhof, 17. Aufl. 2018, § 34c EStG Rz. 2, 7 m.w.N.

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werden können – und zwar im Grundsatz unabhängig von der Frage, ob sie zu Lasten des Steuerpflichtigen oder einer missbräuchlich eingeschalteten Gesellschaft135 erhoben werden.

V. Missbrauch von DBA § 42 AO ist nach ständiger BFH-Rechtsprechung136 im Bereich der DBA anzuwenden137. Allerdings ist die Ausnutzung einer DBA-Befreiung für sich genommen nicht unangemessen und damit missbräuchlich, selbst wenn es dadurch zur doppelten Nichtbesteuerung kommt138. Insbesondere soweit die DBA  – wie üblich  – für die persönliche Zurechnung von Einkünften auf das innerstaatliche Steuerrecht Bezug nehmen, darf § 42 AO angewendet werden139. Im Anwendungsbereich der neueren deutschen DBA ist der Rückgriff auf § 42 AO schon deshalb unproblematisch, weil dieselben entsprechend deutscher Abkommenspolitik hierzu einen ausdrücklichen Vorbehalt enthalten140; dasselbe gilt grundsätzlich auch für § 50d Abs. 3 EStG. Anderes gilt indessen, wenn ein DBA eine spezielle und abschließende141 Vorschrift gegen missbräuchliche Inanspruchnahme des Abkommens enthält. Solche Vorschriften gehen sowohl § 42 AO als auch § 50d Abs. 3 (Abs. 1a a.F.) EStG vor142. Der BFH entschied dies zu Art. 23 Abs. 1 DBA-Schweiz (1971) ungeachtet der Tatsache, dass

135 Vgl. die vorsichtige Formulierung „unter den Gegebenheiten des Falles“ in BFH v. 2.3.2016 – I R 73/14, BStBl. II 2016, 887 Rz. 21. 136 BFH v. 7.2.1975 – VIII B 61-62/74, BStBl. II 1976, 608 (609); v. 29.10.1981 – I R 89/80 – Monaco, BStBl. II 1982, 150 (unter III.1.); v. 29.10.1997 – I R 35/96 – Sportveranstalter, BStBl.  II 1998, 235 (unter II.2.); v. 23.10.2002  – I  R  39/01  – Britisches Quintett, juris Rz.  19; inzident auch BFH v. 17.7.1968  – I  121/64, BStBl.  II 1968, 695 (unter 4.); v. 21.5.1971 – III R 125-127/70 – Erstes Treuhand-Urteil, BStBl. II 1971, 721 (unter 2.); v. 17.11.1999 – I R 11/99, BStBl. II 2001, 822 (unter II.2.). 137 Zum Streitstand im Schrifttum vgl. Hey in Lüdicke (Hrsg.), Wo steht das deutsche Internationale Steuerrecht?, S.  137 (145  ff.); Prokisch in Vogel/Lehner, 6.  Aufl. 2015, Art.  1 OECD-MA Rz. 100 ff.; Wassermeyer in Wassermeyer, Art. 1 OECD-MA Rz. 56 ff.; Dremel in Schönfeld/Ditz, Art. 1 OECD-MA Rz. 96 ff. 138 BFH v. 17.11.1999 – I R 11/99, BStBl. II 2001, 822 (unter II.2.). 139 BFH v. 1.4.2003 – I R 39/02, BStBl. II 2003, 869 (unter II.3.b)cc)); zur Zulässigkeit der Hinzurechnungsbesteuerung nach den DBA vgl. BFH v. 12.7.1989 – I R 46/85, BStBl. II 1990, 113 (unter 2.). 140 Vgl. Art.  28 Abs.  1 Nr.  1 der deutschen Verhandlungsgrundlage für DBA (Stand 22.8.2013). 141 Vgl. zu diesem Aspekt Hagemann, IWB 2017, 857 (862 f.). 142 BFH v. 19.12.2007 – I R 21/07, BStBl. II 2008, 619 (unter II.2.); ebenso BMF v. 24.1.2012, BStBl. I 2012, 171 Rz. 10.

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die Voraussetzungen dieser Vorschrift im Streitfall nicht erfüllt waren. Nach zutreffender Auffassung ändert § 42 Abs. 1 Satz 3 AO daran nichts143.

VI. Missbrauch und europäisches Recht Die Bekämpfung von Missbrauch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten muss den Vorgaben des europäischen Rechts genügen144. Die primärrechtlichen Grundfreiheiten gewährleisten innerhalb der Union die freie Ortswahl für Wohnsitz, Gesellschaftssitz, Tätigkeiten und Kapitalanlage145. Die Wahl darf auch steuerlich motiviert sein. Der Schutz inländischen Steueraufkommens vor missbräuchlichen Gestaltungen kann sich vor diesem Hintergrund nur gegen solche grenzüberschreitenden Gestaltungen richten, welche die erforderliche Schwelle der Integration in den ausländischen Markt nicht erreichen. Nach der EuGH-Rechtsprechung gilt dies jedenfalls für „rein künstliche, jeder Realität bare“ Gestaltungen146; damit ist in erster Linie eine gewisse Mindestausstattung mit Substanz angesprochen. Im Übrigen ist eine Diskriminierung grenzüberschreitender Sachverhalte nicht zulässig. Darüber hinaus ist aber bei in einem Mitgliedstaat gegründeten Gesellschaften zu fragen, ob es für ihre  – auch steuerliche  – „Anerkennung“ im Ausgangspunkt nicht ausreichen muss, dass sich ihre tatsächliche Geschäftsleitung in jenem Mitgliedstaat befindet147. So betonte der BFH gelegentlich, dass er „letztlich ‚noch nie eine auf Dauer angelegte Zwischenschaltung inländischer Kapitalgesellschaften als Rechtsmissbrauch qualifiziert [hat], wenn ein Steuerpflichtiger – aus welchen Gründen auch immer – zwischen sich und eine Einkunftsquelle eine inländische Kapitalgesellschaft schaltet und alle sich daraus ergebenden Konsequenzen zieht‘“148. Derartige Überlegungen waren aber bislang in keinem Verfahren in dem Sinne entscheidungserheblich und inhaltlich zweifelhaft, dass es zu einer Vorlage an den EuGH gekommen wäre. Mit einer grundsätzlichen „Anerkennung“ weitestgehend „substanzloser“ Gesellschaften wäre im Übrigen noch nicht entschieden, dass sämtliche von ihr oder mit ihr durchgeführten Transaktionen von vornherein jedem Missbrauchsvorwurf entzogen sind. Das materielle steuerliche Sekundärrecht kann Gegenstand missbräuchlicher Umgehung sein. Innerstaatliche Missbrauchsregelungen sind am Maßstab des einschlägi143 Zutreffend Hey in Lüdicke (Hrsg.), Wo steht das deutsche Internationale Steuerrecht?, S. 137 (146). 144 Vgl. Schön in FS Reiß, 2008, S. 571 ff.; Englisch, StuW 2009, S. 3 ff.; Hey in Lüdicke (Hrsg.), Wo steht das deutsche Internationale Steuerrecht?, 2009, S. 137 (156 ff.). 145 Zur Drittstaatswirkung der Kapitalverkehrsfreiheit vgl. Art. 63 f. AEUV. 146 EuGH v. 12.9.1006 – C-196/04 – Cadbury Schweppes, Rz. 51, 55, 75; v. 20.12.2017 – verb. Rs. C-504/16  – Deister Holding und C-613/16  – Juhler Holding, Rz.  60 m.w.N. der EuGH-Rechtsprechung. 147 Vgl. Schön in FS Reiß, 2008, S. 571 (588 f.); ders., Beihefter zu IStR 2013 Heft 6, 3* (15*). Vgl. auch allgemein EuGH v. 30.9.2003 – C-167/01 – Inspire Art. 148 BFH v. 25.2.2004 – I R 42/02 – Dublin Docks III, BStBl. II 2005, 14 (unter B.I.3.c)); ähnlich schon BFH v. 23.10.1996 – I R 55/95 – Anteilsrotation, BStBl. II 1998, 90 (unter II.2.).

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gen Missbrauchsvorbehalts der jeweiligen Richtlinie und darüber hinaus an den Grundfreiheiten zu messen, solange das fragliche Rechtsgebiet noch nicht vollständig harmonisiert ist149. Insbesondere die Umsetzung der Mutter-Tochter-RL und ihre Absicherung gegen missbräuchliche Inanspruchnahme verfehlte die sekundärrechtlichen Vorgaben in mehrfacher Hinsicht, wie der EuGH auf entsprechende Vorlagen des FG Köln150 entschieden hat151. Den BFH erreichten diese Verfahren nicht.

VII. Aktuelle Entwicklungen Die gesetzlichen Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte waren im Wesentlichen geprägt durch das Bemühen des deutschen Gesetzgebers, ihm unliebsame Erkenntnisse des BFH zur Anwendung der jeweils vorhandenen Abwehrregelungen gegen Missbräuche bei grenzüberschreitenden Fallgestaltungen gesetzlich zu „korrigieren“. Von ganz anderer und neuer Qualität sind die sich aus der internationalen Zusammenarbeit in der OECD im Rahmen des BEPS-Projektes152 ergebenden sowie die von der sog. Anti-Tax Avoidance Directive (ATAD) der Europäischen Union geforderten Änderungen der DBA und des innerstaatlichen Steuerrechts zur Missbrauchsbekämpfung, die unmittelbar vor ihrer Umsetzung stehen. 1. Umsetzung des BEPS-Projektes (Action 6) / Multilaterales Instrument Die OECD schlägt in ihren Abschlussberichten zum BEPS-Projekt eine Reihe von Maßnahmen gegen als missbräuchlich empfundene Praktiken, namentlich gegen die als missbräuchlich eingeschätzte Nutzung von DBA153, vor. Die vorgeschlagenen Maßnahmen können hier weder im Einzelnen vorgestellt noch daraufhin analysiert werden, inwiefern es sich tatsächlich um Missbrauchsregelungen handelt154. 149 EuGH v. 8.3.2017 – C-14/16 – Euro Park Service, Rz. 19 m.w.N. 150 Zur speziellen Missbrauchsregelung (Vorbehaltensfrist) in § 44d Abs. 2 EStG a.F. FG Köln v. 19.9.1994 – 6 K 763/93 – Denkavit, juris; v. 19.9.1994 – 6 K 1024/93 – VITIC, juris; v. 19.9.1994 – 6 K 1327/93 – Voormeer, EFG 1995, 123. Zu § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. des JStG 2007 FG Köln v. 8.7.2016 – 2 K 2995/12 – Deister Holding, EFG 2016, 1801; v. 31.8.2016 – 2 K 721/13 – Juhler Holding, EFG 2017, 51. Zu § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG FG Köln v. 17.5.2017 – 2 K 773/16 – GS, EFG 2017, 1518. 151 Zu §  44d Abs.  2 EStG a.F. vgl. EuGH v. 17.10.1996  – verb. Rs. C-283/94  – Denkavit, C-291/94 – VITIC, C-292/94 – Voormeer. Zu § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. des JStG 2007 vgl. EuGH v. 20.12.2017, verb. Rs. C-504/16 – Deister Holding, C-613/16 – Juhler Holding. Zu § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. BeitrRLUmsG vgl. EuGH v. 14.6.2018, Rs. C-440/17 – GS. 152 Vgl. van Weeghel in Lüdicke (Hrsg.), BEPS – Herausforderungen für die Unternehmen, 2015, S. 23 ff. 153 OECD (2015), Preventing the Granting of Treaty Benefits in Inappropriate Circumstanc­ es, Action 6 – 2015 Final Report, OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project, OECD Publishing, Paris (im Folgenden als „OECD-Bericht zu Action 6“ bezeichnet). 154 Nur beispielhaft sei auf die vorgeschlagene Änderung des Art. 4 Abs. 3 OECD-MA verwiesen, die auch ohne das Vorliegen von Missbrauch zur Versagung der Steuererleichte-

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Missbrauch und grenzüberschreitende Sachverhalte

Von besonderer Bedeutung zur Vermeidung missbräuchlicher Inanspruchnahme von Abkommensvergünstigungen sind die folgenden, als Minimum-Standard vereinbarten155 und auch im sog. Multilateralen Instrument (MLI)156 enthaltenen Bestimmungen: eine Änderung der Präambel der Abkommen157 sowie – unter der Überschrift „Treaty shopping“ vorgeschlagen – ein sog. „Principal Purpose Test“ (PPT)158 und/ oder eine „Limitation-on-benefits rule“ (LoB)159. Nach der (vorläufigen) Position Deutschlands zum MLI160 ist zu erwarten, dass mit der Zeit die geänderte Präambel und der PPT Eingang in die meisten, wenn nicht alle deutschen DBA finden wird. Die Aufnahme einer LoB-Klausel entspricht zwar grundsätzlich nicht der deutschen Abkommenspolitik; auf Wunsch eines Vertragsstaats wird sie aber dennoch vereinbart161. Die neue Präambel enthält zwar eine Richtschnur für die Abkommensanwendung und ‑auslegung, sie vermag aber nach richtiger Ansicht keine Auslegung einer konkreten Abkommensbestimmung gegen deren Wortlaut zu erzwingen162. So gesehen wird ihre Bedeutung auch bei der Missbrauchsbekämpfung eher gering bleiben. Auf die LoB-Klausel soll hier nicht näher eingegangen werden, zumal zu der seit 1990 geltenden, im Kern ähnlichen LoB-Klausel in Art. 28 DBA-USA bislang keine BFH-Rechtsprechung existiert163. Von besonderem Interesse und noch nicht abzuschätzender Bedeutung für die künftige Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen ist der PPT164. Aus den sich aufdrängenden Zweifelsfragen, welche die Rechtsprechung künftig wohl beschäftigen werden, seien nur drei herausgegriffen. Erstens ist es im Ausgangspunkt schädlich, wenn der „Erhalt der Vergünstigung“ des DBA „einer [sic!] der Hauptzwecke“ rungen oder ‑befreiungen nach dem DBA führen kann. Der OECD-Bericht zu Action 6 (Fn. 153) führt dazu aus: „…the view of many countries was that cases where a company is a dual resident often involve tax avoidance arrangements“. 155 OECD-Bericht zu Action 6 (Fn. 153), S. 19 f., Rz. 22 ff. 156 Vgl. OECD (2015), Developing a Multilateral Instrument to Modify Bilateral Tax Treaties, Action 15 – 2015 Final Report; der deutsche Text des MLI ist abrufbar unter https:// www.oecd.org/tax/treaties/beps-multilateral-instrument-text-translation-german.pdf. 157 OECD-Bericht zu Action 6 (Fn. 153), S. 91 ff., Rz. 68 ff.; „Preamble to the Convention“ des OECD-MA 2017; Art. 6 MLI. 158 OECD-Bericht zu Action 6 (Fn. 153), S. 54 ff., Rz. 26; Art. 29 Abs. 9 OECD-MA 2017; Art. 7 Abs. 1 MLI. 159 Im OECD-Bericht zu Action 6 (Fn. 153), S. 20 ff., Rz. 25 lediglich angekündigt; vgl. auch „Platzhalter“ in Art. 29 Abs. 1 bis 7 OECD-MA 2017; Art. 7 Abs. 8 ff. MLI. 160 Abrufbar unter https://www.oecd.org/tax/treaties/beps-mli-position-germany.pdf; vgl. auch Gradl/Kiesewetter, IStR 2018, 1 ff., zu den – vorläufigen – deutschen Positionen. 161 Vgl. etwa die DBA mit den USA (1989) und Japan (2015). 162 Vgl. Nasdala in Vogel/Lehner, 6. Aufl. 2015, Überschrift und Präambel Rz. 19. 163 In der Revisionsentscheidung zu FG Köln v. 18.12.1997 – 2 K 7369/94, EFG 1998, 927, BFH v. 28.10.1999 – I R 35/98, juris, war zu materiellrechtlichen Fragen des Art. 28 DBAUSA nicht Stellung zu nehmen. 164 Einige deutsche DBA enthalten bereits einen nahezu wortgleichen PPT, z.B. Art. 23 Abs. 2 DBA-Australien (2015), Art. 21 Abs. 8 DBA Japan (2015).

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der fraglichen Gestaltung oder Transaktion war; nun werden gerade bei den hier interessierenden wirtschaftlich bedeutenden grenzüberschreitenden Gestaltungen die Steuerfolgen nur selten nebensächlich sein. Die OECD versucht des (selbstgeschaffenen) Problems im OECD-MK 2017165 mit inzwischen166 immerhin 13 Beispielen („purely illustrative“) Herr zu werden. Zweitens dürfte Streit vorprogrammiert sein, ob – was die verfehlte deutsche Übersetzung des letzten Satzteils („es wird nachgewiesen“, im Original „it is established“) nahe legen mag – den Steuerpflichtigen hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals, dass die Vergünstigung nicht mit Ziel und Zweck der fraglichen Bestimmungen in Einklang steht, eine Beweislast trifft167; es handelt sich indessen um eine keinem Beweis zugängliche Rechtsfrage168. Und drittens ist im Falle der Anwendung des PPT alles andere als klar, ob dem Steuerpflichtigen zumindest solche Vergünstigungen zu gewähren sind, die er ohne die als missbräuchlich eingestufte Gestaltung erhalten hätte169. 2. Anti-Tax Avoidance Directive der EU Art. 6 der Richtlinie (EU) vom 12.7.2016 (sog. ATAD I)170 verpflichtet die Mitgliedstaaten, bis zum 31.12.2018 zur Sicherstellung eines „Mindestschutzniveaus“ (Art. 3) eine „Allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch“ (GAAR) mit Geltung für der Körperschaftsteuer unterliegende Steuerpflichtige (Art. 1) zu erlassen. Art. 6 Abs. 1 ATAD I stellt auf die Erlangung eines Steuervorteils als den wesentlichen oder einen wesentlichen Zweck ab171. 165 Vgl. OECD-MK 2017 Rz. 182 zu Art. 29 OECD-MA 2017, Examples A bis M. 166 Im OECD-Bericht zu Action 6, Rz. 26, waren es im Vorschlag für eine Rz. 14 zu Art. X im OECD-MK erst zehn Beispiele. 167 So („Gegenbeweis“) Jochimsen, IStR 2014, 865 (870 f.); ihm folgend Stuffer/Schrepfer in Wassermeyer, Art. 21 DBA-Japan Rz. 38; wohl auch Hackethal in Haase (Hrsg.), Multilaterales Instrument, 2018, Art. 7 Rz. 26. 168 Vgl. zu der ähnlich gelagerten Fragestellung, ob ein außersteuerlicher Grund „beachtlich“ ist, Drüen in Tipke/Kruse, Vor § 42 AO Rz. 33. 169 Der OECD-MK 2017 Rz. 186 zu Art. 29 OECD-MA 2017 scheint dies nur bei Vereinbarung der in Rz. 184 (a.a.O.) formulierten optionalen Klausel eines Art. 29 Abs. 10 OECDMA 2017 (entspricht Art. 7 Abs. 4 MLI) vorzusehen; anders aber wohl Rz. 182, Example M: „… RCO does not derive any benefits that are better than those to which its investors would be entitled …“. Nach § 50d Abs. 3 EStG ist die persönliche Entlastungsberechtigung von (mittelbaren) Gesellschaftern zu berücksichtigen; vgl. nur BMF v. 24.1.2012, BStBl. I 2012, 171 Tz. 4.2. 170 Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates v. 12.7.2016, ABl. EU v. 19.7.2016 L 193/1 (Anti-Tax Avoidance Directive I – ATAD I); geändert durch Richtlinie (EU) 2017/952 des Rates v. 29.5.2017, ABl. EU v. 7.6.2017 L 144/1 (Anti-Tax Avoidance Directive II – ATAD II). Ob Art. 115 AEUV eine ausreichende Rechtsgrundlage für den Erlass der Richtlinie darstellt, ist hier nicht zu erörtern. 171 Vgl. auch schon Art.  5 Abs.  2 der sog. Zins-/Lizenz-Richtlinie 2003/49/EG v. 3.6.2003, ABl. EU v. 26.6.2003 L 157/49, sowie § 50g Abs. 4 EStG: „… der hauptsächliche Beweggrund oder einer der hauptsächlichen Beweggründe  …“. Ähnlich auch Art.  1 Abs.  2 MTRL i.d.F. v. 27.1.2015, ABl. EU 2015 L 21/1. BFH-Rechtsprechung liegt hierzu bislang nicht vor.

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Missbrauch und grenzüberschreitende Sachverhalte

Im deutschen Fachschrifttum wird mit guten Gründen die Ansicht vertreten, dass § 42 AO den bindenden Vorgaben des Art. 6 ATAD I genüge und insofern keine gesetzgeberischen Maßnahmen erforderlich seien172. Auch wenn sich der Gesetzgeber dieser Ansicht anschließen sollte, bedeutet das nicht, dass damit alles beim Alten bleibt. Denn zur Auslegung des Art. 6 ATAD I ist der EuGH berufen173. Jedenfalls im Anwendungsbereich der Richtlinie sind seine Entscheidungen in den Mitgliedstaaten zu beachten. Letztinstanzlich entscheidende Gerichte wie der BFH sind bei Zweifeln zur Vorlage verpflichtet174. Sofern (die Auslegung des) § 42 AO angepasst werden muss, wird zu entscheiden sein, ob dies nur für Körperschaftsteuerpflichtige oder allgemein gelten soll. Auch Auswirkungen auf die DBA sind in den Blick zu nehmen. Schließlich wird die Frage zu überdenken sein, ob die vom BFH in langjähriger Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Konkurrenzverhältnis zwischen § 42 AO und spezialgesetzlichen Missbrauchsregelungen im Anwendungsbereich des „Mindestschutzniveaus“ des Art. 6 ATAD I uneingeschränkt fortgelten.

VIII. Ausblick Es bedarf keiner besonderen prophetischen Begabung, um die Herausforderungen für die Rechtsprechung zu erkennen, die sich aus den umrissenen Änderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Missbrauchsabwehr ergeben werden. Gerade in Bezug auf die international geforderten allgemeinen Missbrauchsregelungen (GAAR, PPT) haben wir in Deutschland – anders als in vielen anderen Staaten – das Fundament einer zwar nicht in allen Einzelaspekten völlig gradlinigen, aber doch gesetzlich untermauerten und dogmatisch begründeten jahrzehntelangen Rechtsprechung, deren Erkenntnisse bei der Anwendung der künftigen neuen Vorschriften von Beginn an eine gewisse Konturenschärfe und damit Rechtssicherheit erwarten lassen. So gesehen besteht begründete Hoffnung, dass die Gefahr175 für einen Verlust der Rule of Law bei der Steuererhebung in missbrauchsverdächtigen Fällen hierzulande nicht so groß ist. Angesichts öffentlicher und veröffentlichter „Beurteilung“ von – namentlich – internationalen Steuerfällen wird es auch die Aufgabe der Rechtsprechung sein, zwischen – steuerpolitisch – Wünschenswertem und – steuergesetzlich – Geregeltem zu unterscheiden. Steueroptimierende grenzüberschreitende Gestaltungen sind freilich nur anzuerkennen, wenn mit ihnen ein angemessener wirtschaftlicher Zweck verfolgt wird und sie nicht nur der Manipulation dienen. Rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktionen mit dem Zweck, ungerechtfertigt einen Steuervorteil zu nutzen, 172 Vgl. nur Hey, StuW 2017, 248 (263). 173 Vgl. hierzu und zum Folgenden Hey, StuW 2017, 248 (256 ff.). 174 Vgl. Art. 267 AEUV. 175 Judikate wie das weltanschaulich geprägte Urteil des RFH v. 21.10.1936  – VI  A  30/36, RFHE 40, 290, zur vermeintlich missbräuchlichen  – dauerhaften  – Einschaltung einer (Familien‑)Kapitalgesellschaft verdeutlichen die Gefahren.

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stellen sich als Missbrauch dar. Hiervon abgesehen gilt aber auch künftig, dass rechtsstaatliche Steuererhebung ordentliche gesetzliche Grundlagen erfordert, dass DBA in erster Linie internationale Doppelbesteuerung vermeiden sollen und dass es  – im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben  – „grundsätzlich jedem Steuerpflichtigen freisteht, seine Angelegenheiten so einzurichten, dass er möglichst wenig Steuern zu zahlen braucht“176.

176 BVerfG v. 14.4.1959 – 1 BvL 23/57, 1 BvL 34/57, BVerfGE 9, 237 (249 f.).

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … D. II. 7.

Rolle des Außensteuergesetzes in der Rechtsprechung Von Jens Schönfeld

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Quantitative Rolle: Zählen, Messen und Wiegen III. Qualitative Rolle: Das Außensteuergesetz in der Rechtsprechung des BFH 1. Grenzüberschreitende Einkünfteberichtigung (§ 1 AStG) a) „Geschäftsbeziehung“ b) § 1 AStG und Doppelbesteuerungs­ abkommen c) § 1 AStG und EU-Recht

2. Wegzugsbesteuerung (§ 6 AStG) a) „Vermögenszuwachs“ b) § 6 AStG und EU-Recht 3. Hinzurechnungsbesteuerung (§§ 7–14 AStG) a) Zentrale (technische) Auslegungs­ fragen innerhalb der Hinzurechnungsbesteuerung b) Hinzurechnungsbesteuerung und § 42 AO c) Hinzurechnungsbesteuerung und EU-Recht IV. Fazit und Ausblick

I. Einführung Bereits am 12. April 1962 hatte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung ersucht, einen Bericht über die Möglichkeiten und das Ausmaß der Nutzung des zwischenstaatlichen Steuergefälles unter dem Gesichtspunkt möglicher Wettbewerbsverfälschungen zu erstellen. Der daraufhin am 23. Juni 1964 vorgelegte sogenannte „Steueroasenbericht“1 legt beredtes Zeugnis über die Diskussion ab, die zu jenem Zeitpunkt in Politik und Öffentlichkeit zur Beurteilung von damals in der Praxis zunehmenden (bis dahin aber legitimen) Steuerverlagerungsstrategien geführt wurde. Diese von Emotionen und mitunter fehlender Sachlichkeit geprägte Steuerflucht­ hysterie erinnert teilweise an die gegenwärtige Debatte um „Base Erosion and Profit

1 Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag über Wettbewerbsverfälschungen, die sich aus Sitzverlagerungen in das Ausland und aus dem zwischenstaatlichen Steuergefälle ergeben, sogenannter „Steueroasenbericht“, BT-Drucks. 4/2412 v. 23.6.1964.

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Shifting“2 und „Anti Tax Avoidance Directive“3 und soll deshalb hier nicht erneut nachgezeichnet werden4. Ihren vorläufigen Schlusspunkt bildete jedenfalls das Gesetz über die Besteuerung bei Auslandsbeziehungen (kurz: Außensteuergesetz)5. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass diese Materie wohl zu den komplexesten und zugleich interessantesten Bereichen (nicht nur des internationalen) Steuerrechts gehört. Das Außensteuergesetz kann man aus materiellrechtlicher Perspektive im Wesentlichen in drei Teilbereiche gliedern: Der erste Teilbereich befasst sich mit ungerechtfertigten Gewinnverlagerungen ins Ausland, die dadurch entstehen, dass verbundene Unternehmen vom Fremdvergleichsgrundsatz abweichende Preise im Rahmen von grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen vereinbaren. Dem versucht § 1 AStG (ergänzend zu den allgemeinen Instrumentarien der verdeckten Gewinnausschüttung und verdeckten Einlage) als Korrekturvorschrift entgegenzuwirken. Der zweite Teilbereich (§§ 2–6 AStG) hat natürliche Personen im Blick, die durch den Wegzug ins (ggf. niedrigbesteuernde) Ausland versuchen, Deutschland in ungerechtfertigter Weise entsprechendes Besteuerungssubstrat zu entziehen. Am praktisch relevan­ testen ist dabei §  6 AStG, der auf den Wegzug des Kaufhausunternehmers Helmut ­Horten in die Schweiz im Jahre 1968 zurückgeht und eine Einmalversteuerung von stillen Reserven in Anteilen an Kapitalgesellschaften i.S.v. § 17 EStG anlässlich des Grenzübertritts anordnet. Im Zentrum des Außensteuergesetzes steht jedoch als dritter großer Teilbereich die Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§ 7–14 AStG (flankiert durch § 20 AStG), die der Verlagerung von bestimmten passiven Tätigkeiten und damit verbundenem Steuersubstrat auf niedrigbesteuerte Auslandsgesellschaften zu begegnen versucht. Ergänzend hierzu ordnet § 15 AStG den einkommensteuerlichen Durchgriff durch ausländische Familienstiftungen an. Allen vorgenannten Bereichen des Außensteuergesetzes ist gemein, dass es ihnen – anders als klassischen Steuergesetzen – weniger darum geht, selbst unmittelbar ein entsprechendes Steueraufkommen zu generieren. Vielmehr sollen die allgemeinen Steuergesetze im Sinne einer Abwehrgesetzgebung flankiert werden, um den daraus resultierenden Aufkommensstrom abzusichern und zu verstetigen. Primäres Ziel der Regelungen des Außensteuergesetzes ist es also, vor bestimmten (unerwünschten) 2 Auch unter dem Akronym „BEPS“ bekannt und diskutiert. S. zu einer Übersicht der bisherigen Berichte, die die OECD zu dieser Thematik verfasst hat, die Webseite http://www. oecd.org/tax/beps/beps-actions.htm (zuletzt abgerufen am 27.2.2018). 3 Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates v. 12.7.2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, Abl. EU 2016 L 193, 1, zuletzt geändert durch Richtlinie (EU) 2017/952 des Rates v. 29.5.2017, Abl. EU 2017 L 144, 1. 4 Zu der damals geführten Steuerfluchtdiskussion vgl. z.B. Jagdfeld, Steuerflucht und Steuerfluchtbekämpfung von Brüning bis Brandt, StuW 1972, 258; Eichhorn, Das „Steuerfluchtgesetz“ im Streitgespräch, DB 1971, 447; Flume, Zur Problematik eines Steuerfluchtgesetzes, DB 1970, 2142. 5 Art. 1 des Gesetzes zur Wahrung der steuerlichen Gleichmäßigkeit bei Auslandsbeziehungen und zur Verbesserung der steuerlichen Wettbewerbslage bei Auslandsinvestitionen v. 8.9.1972 (BGBl. I 1972, 1713).

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Die Rolle des AStG in der Rechtsprechung

Verhaltensweisen (wie z.B. unangemessenen Verrechnungspreisen, Wegzügen oder Verlagerungen von Tätigkeiten in Niedrigsteuerländer) abzuschrecken und diese zu verhindern. Dies wirkt sich selbstverständlich auch auf die Rechtsanwendung aus. In erster Linie sind mit dem Außensteuergesetz die steuerlichen Berater befasst, die ein Eingreifen der Regelungen typischerweise vermeiden oder zumindest aktiv steuern wollen. Nur wenn dies nicht gelingt, mündet ein entsprechender Sachverhalt in einem Steuerbescheid und kann zum Gegenstand eines streitigen Verfahrens vor den Finanzgerichten werden. In quantitativer Hinsicht wird daher die Bedeutung des Außensteuergesetzes in der Rechtsprechung – was sogleich zu zeigen sein wird – möglicherweise nicht besonders groß sein. Allerdings kann man erahnen, dass aufgrund der Komplexität der Regelungen, der Einbettung in das deutsche internationale Steuerrecht sowie der protektionistischen Züge des Außensteuergesetzes die qualitative Bedeutung in der Rechtsprechung der Finanzgerichtsbarkeit und der Europäischen Gerichtsbarkeit umso höher ist.

II. Quantitative Rolle: Zählen, Messen und Wiegen In Zeiten des Internets und umfassender juristischer Datenbanken ist es nicht sonderlich schwierig, die Rolle des Außensteuergesetzes in der Rechtsprechung in quantitativer Hinsicht zu bestimmen. Gibt man bei „juris“6 das Stichwort „AStG“ ein, erhält man insgesamt 599 Treffer, davon entfallend 570 auf die Finanzgerichtsbarkeit (davon BFH: 228), 12 auf die Europäische Gerichtsbarkeit, 11 auf die Ordentliche Gerichtsbarkeit, drei auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit und – man staune – sogar ein Treffer auf die Arbeitsgerichtsbarkeit. Nur zum Vergleich: Dieselbe Suche mit dem Stichwort „EStG“ ergibt 74.694 Rechtsprechungstreffer und mit dem Stichwort „KStG“ immerhin noch insgesamt 10.403 Treffer. Dies bestätigt den bereits eingangs vermuteten Befund, dass aufgrund des Abwehrcharakters des Außensteuergesetzes die Rechtsprechung nur ausnahmsweise mit diesem Regelungskomplex befasst ist. Ungeachtet dessen ergibt sich auch aus dem Zahlenmaterial, dass der auf die Europäische Gerichtsbarkeit entfallende Trefferanteil beim Außensteuergesetz mit ca. 2 % deutlich höher ist als z.B. beim EStG mit nur ca. 0,3 %. Aufgrund des grenzüberschreitenden Bezugs sowie des protektionistischen Charakters des Außensteuergesetzes ist das aber auch nur wenig verwunderlich. Aber auch innerhalb des Außensteuergesetzes sprechen die Zahlen eine eindeutige Sprache: Angeführt wird die Trefferliste von der Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§  7–14 AStG (einschließlich der verfahrensrechtlichen Vorschrift des §  18 AStG) mit insgesamt 275 Treffern, wovon 272 auf die Finanzgerichtsbarkeit entfallen (davon BFH: 110). Danach folgt mit deutlichem Abstand § 1 AStG mit 134 Treffern, davon 132 auf die Finanzgerichtsbarkeit entfallend (davon BFH: 55), sowie weit ab6 Stand: 14.2.2018; www.juris.de.

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geschlagen die übrigen Vorschriften. Die Einzelheiten fasst die nachfolgende Tabelle zusammen: Vorschrift

davon

davon

Finanz­ gerichts­ barkeit

Bundes­ finanzhof

134

132

55

35

32

9

§ 3 AStG (weggefallen)

3

3

2

§ 4 AStG „Erbschaftsteuer“

1

1

0

§ 5 AStG „Zwischengeschaltete Gesellschaften“

1

1

1

33

30

8

162

159

65

§ 15 AStG „Familienstiftungen“

33

32

13

§ 16 AStG „Mitwirkungspflicht des Steuer­ pflichtigen“

30

29

8

3

3

2

113

113

45

5

4

3

§ 20 AStG „Bestimmungen über die Anwendung von DBA“

22

20

9

§ 21 AStG „Anwendungsvorschriften“

17

17

9

§ 1 AStG „Berichtigung von Einkünften“ § 2 AStG „Einkommensteuer“

§ 6 AStG „Besteuerung des Vermögenszuwachses“ § 7–14 AStG „Beteiligung an ausländischen Zwischengesellschaften“

§ 17 AStG „Sachverhaltsaufklärung“ § 18 AStG „Gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen“ § 19 AStG (weggefallen)

Treffer gesamt

Das Ergebnis ist insgesamt wenig überraschend. Etwas überraschend ist lediglich die im Vergleich hohe Trefferzahl bei §  2 AStG, weil die dort geregelte erweitert beschränkte Einkommensteuerpflicht bei entsprechender Beratung sehr leicht vermeidbar ist. Umgekehrt erstaunt es nicht, dass es zu § 5 AStG kaum einen Rechtsprechungstreffer gibt. Der Anwendungsbereich der Regelung wird in der Praxis selbst von erfahrenen steuerlichen Beratern und Finanzbeamten aufgrund der hohen Komplexität (immerhin geht es um das Zusammenwirken von erweitert beschränkter Steuerpflicht und Hinzurechnungsbesteuerung) gern übersehen. Aus guten Gründen haben daher einige Bundesländer sämtliche Fälle im Zusammenhang mit dem Außensteuergesetz bei bestimmten Finanzämtern zentralisiert.

1080

Die Rolle des AStG in der Rechtsprechung

III. Qualitative Rolle: Das Außensteuergesetz in der Rechtsprechung des BFH Während also die quantitative Rolle des Außensteuergesetzes in der Rechtsprechung eher gering ausfällt, ist die qualitative Bedeutung umso größer. Die wenigen Entscheidungen, die insbesondere vom BFH getroffen werden, haben zumeist eine ganz grundlegende Frage zum Gegenstand. Dabei ist es sehr häufig so, dass das Verhältnis einzelner Vorschriften des Außensteuergesetzes zu anderen Regelungen geklärt wird, wie z.B. zum Verfassungsrecht, zum EU-Recht, zu Doppelbesteuerungsabkommen, zum Zivilrecht, zu allgemeinen steuerlichen Vorschriften oder aber einfach zu einzelnen Vorschriften des Außensteuergesetzes untereinander. Neben diesem Rechtsprechungsstrang, der sich primär mit der Einbettung der Vorschriften des Außensteuergesetzes in die übrige Rechtsordnung befasst, lässt sich aus qualitativer Sicht ein weiterer Rechtsprechungsstrang identifizieren, der die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe zum Gegenstand hat. Im Außensteuergesetz ist das deshalb von hervorgehobener Bedeutung, weil hier zum Teil eine eigene Begriffswelt anzutreffen ist, die über kein Pendant in der übrigen steuerlichen Rechtsordnung verfügt. Mit der Klärung derartiger Begrifflichkeiten hängt oftmals auch die dogmatische Einordnung einer vom Außensteuergesetz angeordneten Rechtsfolge und damit deren steuerliche Wirkung für den Steuerpflichtigen zusammen. Nachfolgend sollen diese Rechtsprechungsstränge für die in der Praxis wichtigen Bereiche des Außensteuergesetzes kurz nachvollzogen werden, und zwar mit Blick auf den Gegenstand dieser Festschrift insbesondere auf Grundlage der Entscheidungen des BFH. 1. Grenzüberschreitende Einkünfteberichtigung (§ 1 AStG) Im Rahmen von § 1 AStG lassen sich im Grunde drei dogmatisch relevante Themenkomplexe innerhalb der Rechtsprechung des BFH ausmachen. Zum einen geht es um die tatbestandliche Frage, was eine „Geschäftsbeziehung“ i.S.v. § 1 Abs. 1 AStG darstellt7. Zum anderen geht es um das Verhältnis zu den in Art. 9 OECD-MA nach­ gebildeten Vorschriften in deutschen Doppelbesteuerungsabkommen und inwieweit diese eine Sperrwirkung gegenüber § 1 AStG entfalten können8. Und schließlich

7 BFH v. 30.5.1990 – I R 97/88, BStBl. II 1990, 875; v. 5.12.1990 – I R 94/88, BStBl. II 1991, 287; v. 29.11.2000 – I R 85/99, BStBl. II 2002, 720; v. 28.4.2004 – I R 5/02, BStBl. II 2005, 516; v. 27.8.2008 – I R 28/07, BFH/NV, 2009, 23; v. 29.4.2009 – I R 26/08, BFH/NV 2009, 1648; v. 29.4.2009 – I R 88/08, juris; v. 23.6.2010 – I R 37/09, BStBl. II 2010, 895; v. 7.7.2015 – I B 114/14, BFH/NV 2015, 1425; weitere Verfahren anhängig unter folgenden Aktenzeichen: I R 73/16; I R 5/17; I R 19/17; I R 51/17; I R 54/17. 8 BFH v. 11.10.2012 – I R 75/11, BStBl. II 2013, 1046; v. 17.12.2014 – I R 23/13, BStBl. II 2016, 261; v. 24.3.2015 – I B 103/13, BFH/NV 2015, 1009; v. 24.6.2015 – I R 29/14, BStBl. II 2016, 258.

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ist es geradezu brandaktuell, inwieweit § 1 AStG mit EU-Recht vereinbar ist9. Im Einzelnen: a) „Geschäftsbeziehung“ Fast schon als einen „Evergreen“ in der Rechtsprechung kann man die Frage bezeichnen, was unter einer „Geschäftsbeziehung“ i.S.v. § 1 AStG zu verstehen sein soll. Die Frage wurde zumeist im Zusammenhang mit solchen Leistungen einer inländischen Muttergesellschaft an ihre ausländische Tochtergesellschaft gestellt, die ohne eine Gegenleistung erfolgten. Dies berührt die Korrekturvorschrift des § 1 AStG deshalb im Kern, weil sie ihre Schaffung gerade der kostenlosen Überlassung von Wirtschaftsgütern oder Dienstleistungen verdankt. Denn aufgrund der (vom Großen Senat entschiedenen10) fehlenden Einlagefähigkeit von bloßen Nutzungen konnten derartige Vorgänge nicht über das allgemeine Rechtsinstitut der verdeckten Einlage korrigiert werden. Man mag darüber streiten, ob bereits die Entscheidung des Großen Senats richtig oder zumindest praktisch sinnvoll war, weil man sich doch einiges an dogmatischen Folgekopfschmerzen hätte ersparen können, wenn man die Einlagefähigkeit von Nutzungen bejaht hätte11. Jedenfalls wurde § 1 AStG geschaffen, um u.a. diese Besteuerungslücke zu schließen. Umso frustrierender muss es für den Gesetzgeber gewesen sein, dass ihm dies nach Auffassung des BFH zunächst nur sehr eingeschränkt gelungen war. Denn bereits frühzeitig arbeitete der BFH für den Fall eines zinslosen Darlehens einer deutschen Muttergesellschaft an ihre ausländische Tochtergesellschaft heraus, dass die vom Gesetz geforderte „Geschäftsbeziehung“ aufgrund derartiger kostenloser Gesellschafterbeiträge nur dann gegeben ist, „wenn die (...) unverzinslich gewährten Darlehen als eine selbständige Geschäftsbeziehung i.S. des § 1 Abs.1 AStG zu beurteilen sind. Dies ist nicht der Fall, wenn die Darlehenshingaben steuerrechtlich als nachträgliche Anschaffungskosten auf die Beteiligung (an der Darlehensnehmerin) zu beurteilen sein sollten“12. Und: Dies gilt „nicht nur (für) die Ausstattung einer Gesellschaft mit Eigenkapital. Vielmehr muss dasselbe gelten, wenn der Gesellschafter die Gewährung von Eigenkapital durch die Übernahme von Verpflichtungen zu Gunsten der Gesellschaft ersetzt“13. 9 So bereits BFH v. 21.6.2001  – I B 141/00, BFHE 195, 398; zurückhaltender BFH v. 25.6.2014 – I R 88/12, BFH/NV 2015, 57; zweifelnd nunmehr auch FG Rheinland-Pfalz, EuGH-Vorlage v. 28.6.2016 – 1 K 1472/13, EFG 2016, 1678; dem zustimmend Schlussanträge des Generalanwalts Bobek v. 14.12.2017  – C-382/16, ECLI:EU:C:2017:974  – Hornbach-Baumarkt. 10 BFH v. 26.10.1987 – GrS 2/86, BStBl. II 1988, 348. 11 Deshalb diese Frage auch zu Recht noch einmal aufwerfend BFH v. 9.9.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1998, 307 und BFH v. 4.12.2006 – GrS 1/05, BStBl. II 2007, 508. 12 BFH v. 30.5.1990 – I R 97/88, BStBl. II 1990, 875. 13 BFH v. 29.11.2000 – I R 85/99, BStBl. II 2002, 720.

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Entscheidend ist, inwieweit es um ein Verhalten geht, „das allein in der Nahestehensbeziehung begründet ist und deshalb dem Anwendungsbereich des § 1 AStG nicht unterfällt“14. Später erweiterte der BFH seine Überlegungen auf (unangemessen) verzinste Darlehen, sofern die Einkünfte daraus im Bereich der Vermögensverwaltung anfallen. Denn „(u)nter den Begriff ‚Geschäftsbeziehung‘ fallen nur solche Beziehungen, die von einem Betrieb i.S. der Gewinneinkünfte (§ 2 Abs.2 Nr.1 EStG) eingegangen werden, d.h. die Teil einer selbständigen, nachhaltigen, mit Gewinnerzielungsabsicht und unter Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr ausgeübten Betätigung sind“15. Der Gesetzgeber versuchte, dem durch Reparaturgesetze in 1992 und 2003 zu begegnen, allerdings entweder ohne das legislative Ziel zu erreichen oder ohne das nötige Verständnis des BFH für die rückwirkende (bloße) „Klarstellung“ zu haben16. Und selbst nach über vier Jahrzehnten ist das Bild zur „Geschäftsbeziehung“ immer noch nicht hinreichend klar17. Man wird abwarten müssen, welchen Widerhall die letzte Anpassung von § 1 Abs. 4 AStG im Jahre 2014 in der Rechtsprechung findet. b) § 1 AStG und Doppelbesteuerungsabkommen Eine andere wichtige, allerdings deutlich jüngere Rechtsprechungslinie geht dahin, inwieweit die in deutschen Doppelbesteuerungsabkommen Art. 9 OECD-MA nachgebildeten Vorschriften einer Anwendung von § 1 AStG entgegenstehen. Der BFH hatte dies erstmals für die besonderen Dokumentationspflichten bei beherrschenden Gesellschaftern im Rahmen der verdeckten Gewinnausschüttung entschieden18 und anschließend diese Grundsätze auf § 1 AStG übertragen19. Im Kern geht es darum, dass eine Korrektur auf Grundlage von § 1 AStG nur insoweit möglich sein soll, als der in Art. 9 OECD-MA enthaltene „dealing at arm’s length Grundsatz“ als Maßstab für die Gewinnkorrektur deckungsgleich mit den Vorgaben von § 1 AStG ist. Denn der Vorschrift kommt – so der BFH zu Art. 9 DBA-USA – „als Ausprägung der sog. Schrankenwirkung des Abkommens begrenzende Wirkung zu: Auch wenn Art. 9 Abs. 1 DBA-USA 1989 Korrekturmöglichkeiten des Anwenderstaats nicht schafft, so „sperrt“ sie für ihren Anwendungsbereich doch weiter gehende, innerstaatlich zulässige Korrekturmöglichkeiten jenes Staats. Nur so – durch einen einheitlichen und verbindlichen Beurteilungsmaßstab für beide Vertragsstaaten – lässt sich er-

14 BFH v. 29.11.2000 – I R 85/99, BStBl. II 2002, 720. 15 BFH v. 5.12.1990 – I R 94/88, BStBl. II 1991, 287. 16 BFH v. 27.8.2008 – I R 28/07, BFH/NV, 2009, 23. 17 BFH v. 7.7.2015 – I B 114/14, BFH/NV 2015, 1425. 18 BFH v. 11.10.2012 – I R 75/11, BStBl. II 2013, 1046. 19 BFH v. 17.12.2014  – I R 23/13, BStBl.  II 2016, 261; v. 24.3.2015  – I B 103/13, BFH/NV 2015, 1009; v. 24.6.2015 – I R 29/14, BStBl. II 2016, 258.

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reichen, dass die beanstandeten Preise und Preisbestandteile in den einzelnen Staaten nicht doppelt erfasst werden“20. So schlicht und einleuchtend diese Überlegungen auch klingen, so groß ist die Sprengkraft und damit die Bedeutung der Entscheidung. Entsprechend ordnete die Finanzverwaltung die Nichtanwendung der Entscheidung an21. Auch der Gesetzgeber überlegte noch kürzlich, durch eine Ergänzung von § 1 AStG den Vorrang der Vorschrift „klarstellend“ (und dennoch als „Treaty Override“) zu regeln22. Am Ende ist es dazu aber – auch aufgrund erheblicher Bedenken aus der Praxis – nicht gekommen. c) § 1 AStG und EU-Recht Eine weitere grundlegende und für die Anwendung von § 1 AStG entscheidende Frage ist die, inwieweit diese Regelung mit höherrangigem EU-Recht vereinbar ist. Diese Frage liegt deshalb nahe, weil § 1 AStG ausschließlich grenzüberschreitende Sachverhalte in den Blick nimmt und damit ein grenzüberschreitendes Engagement schlechter behandelt als ein vergleichbares inländisches Engagement. Folgerichtig hat daher auch der BFH bereits im Jahre 2001  (!), also in einer Zeit, in der das Europäische Steuerrecht noch in den „Kinderschuhen“ steckte, entschieden, dass §  1 AStG eine ungerechtfertigte Beschränkung der EU-Grundfreiheiten darstellt. Der Leitsatz ist insoweit an Klarheit kaum zu übertreffen: „Es ist ernstlich zweifelhaft, ob § 1 Abs. 1 AStG mit den Diskriminierungsverboten in Art. 52 ff. und Art. 73b ff. EGV (...) vereinbart werden kann“23. Trotz alledem blieb die Entscheidung in der Folge eigentlich unbeachtet. Dies mag daran gelegen haben, dass diese als (bloßer) Beschluss im Rahmen eines AdV-Verfahrens aufgrund summarischer Prüfung ergangen ist. Eigentlich hätte man aber erwartet, dass die Anwendung von § 1 AStG im Verhältnis zu EU-Staaten künftig unterbleibt oder (auch von der Rechtsprechung) zumindest deutlich kritischer gesehen wird. So brauchte es dann weitere 15 Jahre (!), bis ein Finanzgericht dem EuGH diese Frage im Jahre 2016 vorlegte24. Zwischenzeitlich hatte auch bereits der EuGH zu einer vergleichbaren ausländischen Vorschrift entschieden, dass diese die Grundfreiheiten beschränkt, diese Beschränkung aber bei einer Abweichung vom Fremdvergleichsgrundsatz gerechtfertigt sein kann, weil diese Abweichung eine Vermutung für eine (von den Grundfreiheiten nicht geschützte) „künstliche Konstruktion“ begründet25. Allerdings muss der Steuerpflichtige stets die Möglichkeit haben, diese Vermutung anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu widerlegen. Weil § 1 AStG diese Möglichkeit nicht vorsieht, 20 BFH v. 17.12.2014 – I R 23/13, BStBl. II 2016, 261. 21 BMF v. 30.3.2016 – IV B 5 - S 1341/11/10004-07, BStBl. I 2016, 455. 22 Vgl. noch BT-Drucks. 18/9536, 58. 23 BFH v. 21.6.2001 – I B 141/00, BFHE 195, 398. 24 FG Rheinland-Pfalz, EuGH-Vorlage v. 28.6.2016 – 1 K 1472/13, EFG 2016, 1678. 25 Vgl. EuGH v. 21.1.2010 – C-311/08, SGI, Slg. 2010, I-487, Rz. 67 und 71.

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teilte der zuständige Generalanwalt die Zweifel des FG Rheinland-Pfalz im Rahmen seiner Schlussanträge26. Zugleich hat er damit den BFH viele Jahre später bestätigt (oder man kann fast sagen: „rehabilitiert“). Man wird sehen, ob der EuGH seinem Generalanwalt folgt, es spricht aber auf Grundlage der SGI-Rechtsprechung alles dafür. 2. Wegzugsbesteuerung (§ 6 AStG) Im Rahmen von § 6 AStG sind es weniger grundlegende technische Fragen, die die Rechtsprechung in der Vergangenheit beschäftigt haben. Eine Ausnahme hiervon ist allenfalls die erst kürzlich entschiedene Frage, inwieweit § 6 Abs. 1 AStG nicht nur fiktive Gewinne, sondern auch fiktive Verluste erfasst27. Daneben stand in der Rechtsprechung die zentrale Frage im Mittelpunkt, inwieweit die von Deutschland praktizierte Wegzugsbesteuerung mit höherrangigem EU- und Verfassungsrecht vereinbar ist28, und zwar auch im Verhältnis zu Nicht-EU-Staaten29. Im Einzelnen: a) „Vermögenszuwachs“ Im Schrifttum war seit jeher umstritten, inwieweit anlässlich eines Wegzuges nicht nur stille Reserven, sondern auch stille Lasten gemäß §  6 Abs.  1 AStG i.V.m. §  17 EStG berücksichtigt werden. Der Wortlaut von § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG ist an sich eindeutig. Danach ist bei einer Person, die die übrigen Voraussetzungen von § 6 AStG erfüllt, „auf Anteile im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes im Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht §  17 des Einkommensteuergesetzes auch ohne Veräußerung anzuwenden“. Daraus ergibt sich keinesfalls, dass § 17 Abs. 1 EStG nur auf Anteile anzuwenden sein soll, in denen sich stille Reserven befinden. Die Rechtsfolgenanordnung der fiktiven Anwendung von § 17 EStG („auch ohne Veräußerung“) ist vielmehr eine Allgemeine, die sich auch auf stille Lasten erstreckt. So war es denn auch in erster Linie die Formulierung der Gesetzesüberschrift, die mit „Besteuerung des Vermögenszuwachses“ entsprechende Zweifel an dieser klaren Schlussfolgerung nährte. Für den BFH waren diese Zweifel groß genug, um fiktive Verluste aus dem Anwendungsbereich von § 6 Abs. 1 AStG auszunehmen30. 26 Schlussanträge des Generalanwalts Bobek v. 14.12.2017 – C-382/16, ECLI:EU:C:2017:974 – Hornbach-Baumarkt. 27 BFH v. 26.4.2017, I R 27/15, BFH/NV 2017, 1478. 28 Dazu bereits sehr frühzeitig, allerdings noch ablehnend BFH v. 17.12.1997 – I B 108/97, BStBl.  II 1998, 558; später dann zunehmend zweifelnd (chronologisch) FG München v. 3.8.2006 – 11 V 500/06, IStR 2006, 746; FG Düsseldorf v. 14.11.2007 – 9 K 1270/04 E, EFG 2008, 361; v. 14.11.2007 – 9 K 1274/04 E, juris; FG München v. 4.4.2008 – 11 V 1815/07 B, EFG 2008, 1439; BFH v. 23.9.2008 – I B 92/08, BStBl. II 2009, 524. 29 FG Baden-Württemberg, EuGH-Vorlage v. 14.6.2017 – 2 K 2413/15, EFG 2018, 18. 30 BFH v. 26.4.2017 – I R 27/15, BFH/NV 2017, 1478.

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Die Entscheidung des BFH31 soll hier nicht im Detail nachgezeichnet werden, allerdings sind die vom I. Senat neben dem Wortlaut der Gesetzesüberschrift angeführten teleologischen und systematischen Argumente nicht vollends überzeugend. Denn insbesondere die vom BFH kritisierte fehlende Berücksichtigung von fiktiven Vermögensverlusten in den übrigen Regelungen des § 6 AStG (insbesondere in § 6 Abs. 1 Satz  5, Abs.  3 und Abs.  4 AStG) wirken sich ausschließlich zugunsten des Steuerpflichtigen aus. Um diese Lücke zu schließen ist es aber der falsche Weg, fiktive Verluste generell aus dem Grundtatbestand des §  6 Abs.  1 Satz  1 AStG auszunehmen. Richtigerweise hätte man fiktive Verluste zugelassen und die Regelungslücken entweder teleologisch oder durch einen gesetzgeberischen Akt ergänzt. Denn letztlich widerspricht das Ergebnis auch dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden. Dem betroffenen Steuerpflichtigen kann man nicht wirklich erklären, warum er anlässlich seines Wegzuges etwaige unrealisierte Vermögenszuwächse in bestimmten Anteilen unmittelbar versteuern soll, während unrealisierte Vermögensverluste in anderen Anteilen unberücksichtigt bleiben sollen. Man wird ihm sagen müssen, dass das einer der seltenen Fälle ist, in denen die Medaille eben nur eine Seite hat. b) § 6 AStG und EU-Recht Was die Vereinbarkeit von § 6 AStG und EU-Recht anbelangt, so liegt eine Kollision derart nahe (und vielleicht sogar noch näher als bei § 1 AStG), dass die vom BFH zunächst an den Tag gelegte Zurückhaltung fast schon etwas verwundert. So hat der I. Senat im Jahre 1997 mit vergleichsweiser knapper Begründung entschieden, dass die Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG zwar die Europäischen Grundfreiheiten beschränke, dass die Beschränkung aber gerechtfertigt sei: „Die Steuersouveränität der Mitgliedstaaten erlaubt diesen, ihr Steuersystem nach eigenem Ermessen auszugestalten. Dadurch bedingte Beschränkungen der Grundfreiheiten müssen hingenommen werden, wenn sie unvermeidbar sind, um das Funktionieren des Steuersystems zu gewährleisten32.“ Und aus Sicht des I. Senates ist die Beschränkung unvermeidbar für das Funktionieren des Steuersystems, weil Deutschland anlässlich des Wegzuges aufgrund abkommensrechtlicher Zuordnungen das Besteuerungsrecht für Gewinne aus Anteilen i.S.v. § 17 EStG verliere und damit der Moment des Wegzuges der letzte mögliche Zeitpunkt für den steuerlichen Zugriff sei33. Im Zuge der Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen „Lasteyrie du Saillant“34 und „N“35 sowie eines daraufhin von der EU-Kommission gegen Deutschland eröffneten Vertragsverletzungsverfahrens kamen aber zunehmend Zweifel auf, inwieweit diese Schlussfolgerung noch richtig war. Vielmehr entwickelte die sich ganz einhelli31 BFH v. 26.4.2017 – I R 27/15, BFH/NV 2017, 1478. 32 BFH v. 17.12.1997 – I B 108/97, BStBl. II 1998, 558. 33 BFH v. 17.12.1997 – I B 108/97, BStBl. II 1998, 558. 34 EuGH v. 11.3.2004 – C-9/02 – Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409. 35 EuGH v. 7.9.2006 – C-470/04 – N, Slg. 2006, I-4709.

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ge Meinung dahin, dass eine Besteuerung erst im Zeitpunkt der tatsächlichen Realisation der stillen Reserven erfolgen dürfe und bis dahin eine (zinslose) Stundung zu erfolgen habe. Entsprechend wurde durch SEStEG vom 7.12.200636 die Regelung des §  6 Abs.  5 AStG aufgenommen, die für Wegzüge innerhalb des EU-/EWR-Raums nunmehr eine (zinslose) Stundung für alle noch offenen Fälle anordnet37. In dogmatischer Hinsicht blieb insbesondere die interessante Frage, inwieweit der deutsche Gesetzgeber durch diese „rückwirkende“ Stundungsanordnung in der Lage ist, die EU-Rechtswidrigkeit von § 6 Abs. 1 AStG ebenfalls „rückwirkend“ zu beseitigen. Der BFH bejahte diese Frage, was auch im Kontext anderer Vorschriften von hervorgehobener Bedeutung sein kann: „(D)ie Herstellung eines nunmehr europarechtskonformen Rechtszustands durch rückwirkende „Reparatur“ der ursprünglichen Regelung (stellt) nicht ihrerseits einen Gemeinschaftsrechtsverstoß dar. Zwar darf der „Marktbürger“ in der Durchsetzung seiner Rechte nicht frustriert werden.  (...) So verhält es sich unter den Gegebenheiten des Streitfalls aber gerade nicht: Dem Antragsteller wird fortan nicht länger eine gemeinschaftsrechtswidrige, sondern eine gemeinschaftsrechtskonforme und mildere Belastung auferlegt38.“ Damit blieb noch die Frage zu beantworten, inwieweit dieser Schutz auch auf Wegzüge in Drittstaaten auszudehnen sei, insbesondere im Verhältnis zur Schweiz, mit der ein Freizügigkeitsabkommen39 zur EU besteht, welches (zumindest in Teilen) den Europäischen Grundfreiheiten entsprechende Schutzrechte gewährt. Das Finanzgericht Baden-Württemberg neigt dieser Auffassung zu und hat daher dem EuGH in 2017 diese Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt40. Die ausstehende Entscheidung des EuGH ist allerdings nicht nur unter diesem Gesichtspunkt von Interesse. Vielmehr ist es so, dass jüngeren Entscheidungen des EuGH mitunter eine Tendenz entnommen wird, die Stundungslösung nicht mehr (zwingend) zu präferieren41. Allerdings gilt das nur für Vorgänge im Betriebsvermögen, für im Privatvermögen gehaltene Kapitalgesellschaftsanteile lässt sich der Rechtsprechung keine derartige Kehrtwende entnehmen. Vielleicht ergibt sich ja daher aus der mit Spannung erwarteten Entscheidung des EuGH insoweit eine Klarstellung. Dies wäre jedenfalls sehr zu wünschen, um den Spekulationen rund um die Abschaffung von § 6 Abs. 5 AStG endlich ein Ende zu bereiten. 36 BGBl. I 2006, 2782, berichtigt BGBl. I 2007, 68. 37 Vgl. FG München v. 3.8.2006 – 11 V 500/06, IStR 2006, 746; FG Düsseldorf v. 14.11.2007 – 9 K 1270/04 E, EFG 2008, 361; v. 14.11.2007  – 9 K 1274/04 E, juris; FG München v. 4.4.2008 – 11 V 1815/07 B, EFG 2008, 1439; BFH v. 23.9.2008 – I B 92/08, BStBl. II 2009, 524. 38 BFH v. 23.9.2008 – I B 92/08, BStBl. II 2009, 524. 39 Freizügigkeitsabkommen v. 21.6.1999, BGBl. II 2001, 811, in Kraft getreten am 1.6.2002, BGBl. II 2002, 1692. 40 FG Baden-Württemberg, EuGH-Vorlage v. 14.6.2017 – 2 K 2413/15, EFG 2018, 18. 41 Vgl. zu dieser Analyse der Rechtsprechungslinien insbesondere den instruktiven Beitrag von Wacker, IStR 2017, 926.

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3. Hinzurechnungsbesteuerung (§§ 7–14 AStG) Im Kern des Außensteuergesetzes, der Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§ 7–14 AStG, lässt sich die Rechtsprechung im Wesentlichen in drei Strängen zusammenfassen: Zunächst gibt es diejenigen Entscheidungen, die sich mit zentralen (technischen) Auslegungsfragen innerhalb der Hinzurechnungsbesteuerung befassen42. Darüber hinaus geht es der Rechtsprechung um das Verhältnis der §§  7–14 AStG zu § 42 AO43 sowie um das zum EU-Recht4445. a) Zentrale (technische) Auslegungsfragen innerhalb der Hinzurechnungs­ besteuerung Im Zusammenhang mit zentralen (technischen) Auslegungsfragen innerhalb der Hinzurechnungsbesteuerung sind folgende – von der Rechtsprechung entwickelte – Grundsätze besonders hervorzuheben:

42 Vgl. zum Grundsatz der funktionalen Betrachtungsweise: BFH v. 16.5.1990 – I R 16/88, BStBl. II 1990, 1049; v. 1.7.1992 – I R 6/92, BStBl. II 1993, 222; v. 30.8.1995 – I R 112/94, BStBl. II 1996, 563; v. 13.10.2010 – I R 61/09, BStBl. II 2011, 249; zur Voraussetzung des „fast ausschließlich“ v. 30.8.1995 – I R 77/94, BStBl. II 1996, 122; zum Fehlen einer allgemeinen Bagatellgrenze v. 15.9.2004 – I R 102-104/03, BStBl. II 2005, 255; zur teleologische Reduktion bei vermögensverwaltenden Zwischengesellschaften v. 13.11.1996  – I R 3/96, BFH/NV 1997, 443; v. 21.1.1998 – I R 3/96, BStBl. II 1998, 468; zur Ausnutzung des Stichtagsprinzips als kein Gestaltungsmissbrauch v. 11.10.2000 – I R 99/96, BStBl. II 2001, 22; zum Verhältnis zu § 1 AStG v. 19.3.2002 – I R 4/01, BStBl. II 2002, 644; zum Einfluss sog. „freiwilliger Steuerzahlungen“ auf die Niedrigbesteuerung v. 3.5.2006  – I R 124/04, BStBl. II 2011, 547; zur (fehlenden) Gewerbesteuerpflicht des Hinzurechnungsbetrages v. 21.12.2005 – I R 4/05, BFHE 212, 226, BStBl. II 2006, 555; v. 11.3.2015 – I R 10/14, BStBl. II 2015, 1049; zur Anwendung von § 8b KStG auf nachfolgende Dividenden v. 26.4.2017 – I R 84/15, BFH/NV 2017, 1555 sowie zu verfahrensrechtlichen Fragen u.a. v. 18.7.2001 – I R 62/00, BStBl. II 2002, 334; v. 9.7.2003 – I R 82/01, BStBl. II 2004, 4. 43 BFH v. 23.10.1991 – I R 40/89, BStBl. II 1992, 1026; v. 10.6.1992 – I R 105/89, BStBl. II 1992, 1029; v. 19.1.2000 – I R 94/97, BStBl. II 2001, 222; v. 19.1.2000 – I R 117/97, IStR 2000, 182; v. 20.3.2002 – I R 63/99, BStBl. II 2003, 50; v. 25.2.2004 – I R 42/02, BStBl. II 2005, 14; v. 21.10.2009 – I R 40/09, BFH/NV 2010, 688. 44 BFH v. 21.10.2009 – I R 114/08 – Schlussurteil Columbus Container, BStBl. II 2010, 774; v. 13.10.2010 – I R 61/09, BStBl. II 2011, 249; BFH, EuGH-Vorlage v. 12.10.2016 – I R 80/14, BStBl. II 2017, 615 (für das Verhältnis zu Drittstaaten); Finanzgericht Rheinland-Pfalz v. 16.3.2016 – 1 K 1345/13, EFG 2016, 1318 (zur Bindungswirkung der Feststellung); Finanzgericht Baden-Württemberg v. 12.8.2015 – 3 V 4193/13, EFG 2016, 17 (für das Verhältnis zu Drittstaaten); FG Münster v. 20.11.2015 – 10 K 1410/12 F, EFG 2016, 453 (zum Inhalt von § 8 Abs. 2 AStG). 45 Die Vereinbarkeit der §§  7–14 AStG mit Doppelbesteuerungsabkommen war trotz der Diskussion zum „Treaty Override“ nicht wirklich ein relevantes Thema. Eine Ausnahme bildet hier BFH v. 9.11.1983 – I R 120/79, BStBl. II 1984, 468. Letztlich bedarf die Frage hier aufgrund der klaren Positionierung des BVerfG zum „Treaty Override“ keiner Vertiefung. Vgl. BVerfG v. 15.122015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1.

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aa) Funktionale Betrachtungsweise Ein wesentlicher (ungeschriebener) Grundsatz innerhalb der Hinzurechnungsbesteuerung ist der, dass „(w)irtschaftlich zusammengehörende Tätigkeiten (...) einheitlich zu subsumieren sind (funktionale Betrachtungsweise). Dabei ist die Tätigkeit maßgebend, auf der nach allgemeiner Verkehrsauffassung das wirtschaftliche Schwergewicht liegt“46. Damit wird eine Tätigkeit, die bei isolierter Betrachtung nicht unter den Aktivitätskatalog des §  8 Abs.  1 AStG subsumiert werden kann, zu einer aktiven Tätigkeit, wenn sie unter funktionalen Gesichtspunkten derart eng mit der aktiven Tätigkeit verbunden ist, dass eine Aufspaltung künstlich anmuten würde. Ein klassisches Beispiel ist der Handel mit solchen Waren, die von der ausländischen Gesellschaft selbst hergestellt worden sind. Die Herstellung von Waren ist gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 2 AStG uneingeschränkt aktiv, wohingegen der Handel aufgrund des Mitwirkungstatbestandes in § 8 Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 2 AStG schnell zu einer passiven Tätigkeit werden kann. Der Verkauf selbsterzeugter Waren gehört aber unter funktionalen Gesichtspunkten unbedingt zur Produktion, da diese ohne den Verkauf keinen wirklichen Sinn machen würde. Gleiches gilt für den Verkauf von Wirtschaftsgütern, die einer aktiven Tätigkeit dienen. Unter funktionalen Gesichtspunkten ist das der letzte Akt im Rahmen der aktiven Tätigkeit. Kritisch wird es allerdings immer dann, wenn sich die passive Tätigkeit derart von der aktiven Tätigkeit verselbständigt, dass sie einen eigenständigen und abgegrenzten Bereich mit erheblichem wirtschaftlichem Schwergewicht darstellt. Der Klassiker ist hier die Anlage von (thesaurierten) Mitteln. Die Kapitalanlage kann nur in engen Grenzen unter funktionalen Gesichtspunkten einer aktiven Tätigkeit zugeordnet werden, diese Grenzen kennt allerdings niemand wirklich genau. bb) „fast ausschließlich“ Die §§ 7–14 AStG ordnen an verschiedenen Stellen eine Bagatellgrenze dahingehend an, dass die ausländische Gesellschaft „ausschließlich oder fast ausschließlich“ bestimmte Bruttoerträge erzielt. Dass es zur Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs gegebenenfalls Streit geben kann, liegt auf der Hand. Der BFH führt zu Recht aus, dass „(d)er Begriff „fast ausschließlich“ für sich allein genommen nicht erkennen (lässt), ob die maßgebliche Bagatellgrenze bei 1 v.H., bei 5 v.H., bei 10 v.H. oder bei einem anderen v.H.-Satz der Bruttoerträge liegen soll. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung Rechtsprechung und Schrifttum obliegt“47. Unter Heranziehung der Gesetzeshistorie, von Vorgängervorschriften sowie der Auslegung durch die Finanzverwaltung bestimmte der BFH die maßgebliche Bagatellgrenze schlussendlich mit 10 %. 46 BFH v. 16.5.1990 – I R 16/88, BStBl. II 1990, 1049. 47 BFH v. 30.8.1995 – I R 77/94, BStBl. II 1996, 122.

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Später kam allerdings die Frage auf, inwieweit aus dieser Rechtsprechung eine allgemeine Bagatellgrenze mit der Folge abgeleitet werden kann, dass die §§ 7–14 AStG immer dann nicht eingreifen, soweit die passiven Einnahmen weniger als 10 % der gesamten Bruttoerträge der ausländischen Gesellschaft betragen. Der BFH lehnte dies mit nachvollziehbaren Argumenten ab: „Eine solche durchgängige Bagatellgrenze mag in rechtspolitischer Hinsicht wünschenswert und vom Gesetzgeber im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Außensteuergesetz zunächst auch in Betracht gezogen worden sein (...). Die (...) Regelungen in § 8 Abs. 1 Nr. 7, in § 8 Abs. 2 und in § 9 AStG zeigen indes, dass sich dem Gesetz kein allgemein verwirklichtes gesetzgeberisches „Bagatellprinzip“ entnehmen lässt.  (...) Angesichts des klaren Regelungswortlauts lässt sich ein darüber hinausgehendes „Regulativ“ (...) nicht im Wege richterlicher Lückenfüllung schaffen.“48 cc) Teleologische Reduktion bei vermögensverwaltenden Zwischengesell­ schaften Eine weitere dogmatisch interessante Frage geht dahin, ob Einkünfte aus einer (vermögensverwaltenden) Tätigkeit, die bei unmittelbarem Bezug (ohne Einschaltung einer ausländischen Gesellschaft) nicht steuerbar wären, lediglich aufgrund des Zwischenschaltens einer niedrigbesteuernden ausländischen Gesellschaft über §§  7–14 AStG zu steuerpflichtigen Einkünften mutieren können. Der BFH lehnte dies zutreffend ab49. Bemerkenswert sind dabei die teleologischen Ausführungen des Gerichts: „Der Senat geht mit dem BMF davon aus, dass die getroffene Entscheidung dem Sinn und Zweck der Hinzurechnungsbesteuerung entspricht. Diese soll ungerechtfertigten Steuervorteilen entgegenwirken, die sich Steuerinländer durch den Einsatz von Zwischengesellschaften verschaffen können (...). Es ist jedoch nicht der Sinn und Zweck der Hinzurechnungsbesteuerung, Vermögensmehrungen, die in der Person eines unbeschränkt Steuerpflichtigen nicht steuerbare Einkünfte wären, dadurch in steuerbare umzuwandeln, dass man sie wie Gewinne behandelt und ermittelt50.“ Diese grundsätzlichen Überlegungen sollte man sich (einmal wieder) vergegenwärtigen, wenn es in anderem Zusammenhang durch den Einsatz einer Zwischengesellschaft zu einer (unangemessenen) Überbesteuerung kommen kann. Ein Beispiel ist die Investition einer inländischen Körperschaft in inländisches Immobilienvermögen. Die Einkünfte hieraus unterliegen (bei richtiger Umsetzung) lediglich einer Besteuerung mit Körperschaftsteuer (zzgl. SolZ). Befindet sich dieses inländische Immobilienvermögen allerdings im Portfolio einer ausländischen Gesellschaft (mit Freistellung), dann führt die Besteuerung mit deutscher Körperschaftsteuer zu einer Niedrigbesteuerung. Da auch die Rückausnahme des § 8 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. b AStG nicht eingreift, wären nach dem Wortlaut die Voraussetzungen der Hinzurechnungs48 BFH v. 15.9.2004 – I R 102-104/03, BStBl. II 2005, 255. 49 BFH v. 13.11.1996 – I R 3/96, BFH/NV 1997, 443; BFH v. 21.1.1998 – I R 3/96, BStBl. II 1998, 468. 50 BFH v. 21.1.1998 – I R 3/96, BStBl. II 1998, 468.

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besteuerung erfüllt. Dies hätte zur Folge, dass nach der Ergänzung des § 7 GewStG der Hinzurechnungsbetrag nicht nur der Körperschaftsteuer (zzgl. SolZ), sondern auch der Gewerbesteuer unterläge. Ein Ergebnis, dass so sicher nicht gewollt und auch nicht richtig sein kann. dd) Ausnutzung des Stichtagsprinzips kein Gestaltungsmissbrauch Das Beherrschungserfordernis des § 7 Abs. 2 AStG muss nach seinem klaren Wortlaut „am Ende des Wirtschaftsjahrs“ der ausländischen Gesellschaft gegeben sein. Gerade bei großen Transaktionen, die den Erwerb von Auslandskonzernen zum Gegenstand haben, ist es häufig so, dass sich innerhalb dieser Konzernstrukturen auch ausländische Einheiten befinden, die aus dem Blickwinkel der §§ 7–14 AStG wenig wünschenswert sind. Entsprechend werden im Nachgang zu derartigen Transaktionen entsprechende Umstrukturierungsmaßnahmen ergriffen, die das „Entleeren“ derartiger Gesellschaften zum Gegenstand haben. Leider fallen derartige (nur wohlgemeinte) Maßnahmen häufig selbst unter die §§ 7–14 AStG, so dass sich die Frage stellt, wie man dies vermeiden kann. Eine denkbare Variante ist, die entleerte ausländische Gesellschaft vor Ablauf deren Wirtschaftsjahres an einen (im Ausland ansässigen) Dritten zu veräußern. Dies hat nämlich zur Folge, dass zu dem für Zwecke des §  7 Abs.  2 AStG maßgeblichen Zeitpunkt keine Inländerbeherrschung (mehr) besteht. Es stellt sich die Frage, inwieweit darin ein Gestaltungsmissbrauch gesehen werden kann. Der BFH verneinte dies mit dem zutreffenden Hinweis darauf, dass die Ausnutzung des Stichtagsprinzips dem Grunde nach legitim ist; „hierauf basierende steuerorientierte Gestaltungen können grundsätzlich nur dann dem Anwendungsbereich des § 42 AO 1977 unterfallen, wenn eine vor dem Stichtag erfolgte Maßnahme alsbald nach dem Stichtag rückgängig gemacht oder wesentlich abgeändert wird und sich damit als nur kurzfristig vorgeschoben erweist“51. Dem ist nichts hinzuzufügen. ee) „Freiwillige Steuerzahlungen“ und Niedrigbesteuerung Im Rahmen der Diskussion um substanzarme Dublin Dock-Gesellschaften ist es der Finanzverwaltung besonders schwergefallen, sog. „freiwillige Steuerzahlungen“ zu akzeptieren, die eine ausländische Gesellschaft nach ausländischem Recht leisten konnte, um im Ergebnis dem Zugriff der Hinzurechnungsbesteuerung zu entgehen. Warum sollte man aber überhaupt „freiwillig“ mehr Steuern zahlen? Weil bei einer ausländischen Besteuerung von knapp über 25 % keine Hinzurechnungsbesteuerung stattfindet, wohingegen bei einer ausländischen Besteuerung von mehr als 15 % und weniger als 25 % im Rahmen der Hinzurechnungsbesteuerung eine Überbesteuerung drohte, weil – zumindest ist man damals (wie sich später herausstellte: irrig52) 51 BFH v. 11.10.2000 – I R 99/96, BStBl. II 2001, 22. 52 S.w.u. III. 3. a) ff).

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davon ausgegangen  – der Hinzurechnungsbetrag der Gewerbesteuer unterliegen sollte, eine Anrechnung ausländischer Steuern auf die Gewerbesteuer hingegen nicht möglich sein sollte. Der BFH hatte zu Recht wenig Verständnis für die Finanzverwaltung: Sofern für die „freiwillige Steuerzahlung“ eine Rechtsgrundlage im ausländischen Recht besteht, ist die geleistete Steuer nach dem maßgeblichen ausländischen Recht mit der Folge geschuldet, dass diese für Zwecke des § 8 Abs. 3 AStG zu Grunde zu legen ist. Der Umstand, dass der Steuerpflichtige ggf. an der Höhe seiner Steuerlast mitwirkt, ändert daran nichts. Entscheidend ist im Ergebnis die rechtliche Verpflichtung nach ausländischem Steuerrecht53. ff) Hinzurechnungsbetrag und Gewerbesteuer Hinsichtlich der Frage, inwieweit der Hinzurechnungsbetrag auch der Gewerbesteuer unterliegt, sofern die Anteile an der ausländischen Gesellschaft im Betriebsvermögen gehalten werden, ging man wegen der Formulierung in § 10 Abs. 2 Satz 2 AStG zunächst (wohl) ziemlich einhellig davon aus, dass dies der Fall ist. Auch der BFH bejahte diese Frage zumindest mittelbar in seiner Entscheidung vom 21.12.200554 das Streitjahr 1994 betreffend. Aus der Perspektive der Zielrichtung der §§ 7–14 AStG ist dieses Ergebnis auch völlig nachvollziehbar. Denn geht es der Hinzurechnungsbesteuerung darum, der Verlagerung von (bestimmtem) Steuersubstrat ins niedrigbesteuernde Ausland entgegenzuwirken, indem die steuerliche Abschirmwirkung niedrigbesteuerter Auslandsgesellschaften durchbrochen wird, dann macht das zumindest im Ausgangspunkt nicht nur für einkommen- und körperschaftsteuerliche Zwecke, sondern auch für gewerbesteuerliche Zwecke durchaus Sinn (auch wenn das durch den Gesetzgeber – insbesondere was die Frage der Anrechnung ausländischer Steuern anbelangt – nicht konsequent zu Ende gedacht worden ist). Ungeachtet dessen mehrten sich in jüngster Zeit die Stimmen, die den Hinzurechnungsbetrag nicht der Gewerbesteuer unterwerfen wollten. In erster Linie wurden diese Überlegungen auf die Dividendenfiktion des § 10 Abs. 2 Satz 1 AStG gestützt, aus der insbesondere für EU-Fälle eine Kürzung nach §  9 Nr.  7 Satz  1 Halbs.  2 GewStG oder für DBA-Fälle nach § 9 Nr. 8 GewStG entwickelt worden ist. Den I. Senat des BFH überzeugte das nicht, weil aufgrund der Formulierung in § 10 Abs. 2 Satz 2 AStG für eine Dividendenfiktion im gewerblichen Bereich gerade kein Raum sein sollte. Vielmehr ging der BFH noch einen Schritt weiter und kam zu der Erkenntnis, dass der Hinzurechnungsbetrag auf eine ausländische Betriebsstätte entfalle, was eine Kürzung nach § 9 Nr. 3 GewStG rechtfertige: „Alles andere zöge ohne Not systematische Verwerfungen nach sich, die unsachgemäß wären. Es unterwürfe den anteiligen Gewinn der Gewerbesteuer, obschon dieser Gewinn nicht nur auslandsradiziert ist, sondern auch bei dem Gesellschafter steuerwirksam erfasst wird. Das aber widerspräche dem strukturellen Inlandsbezug der Gewerbe53 BFH v. 3.5.2006 – I R 124/04, BStBl. II 2011, 547. 54 BFH v. 21.12.2005 – I R 4/05, BStBl. II 2006, 555.

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steuer (...) und das zöge zudem eine unsystematische Doppelbesteuerung nach sich, weil die Steuern, welche im Ausland zu Lasten der Zwischengesellschaft von den dem Hinzurechnungsbetrag zugrundeliegenden Einkünften erhoben worden sind,  (...) nur auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer, nicht aber auf die Gewerbesteuer angerechnet werden55.“ Die Fachöffentlichkeit hat nicht schlecht gestaunt, weil man eine derart weitgehende Entscheidung nicht erwartet hätte. Böse Zungen behaupteten sogar, dass sich der damalige Vorsitzende des I. Senats, Dietmar Gosch, mit dieser Entscheidung noch kurz vor seiner Pensionierung ein kleines Denkmal setzen wollte. Bei derartigen Behauptungen wird allerdings regelmäßig übersehen, dass ein BFH-Senat ein Kollegialorgan ist, in welchem mehrere erfahrene Berufsrichter an der Entscheidung mitwirken. Deshalb soll dies hier auch nicht weiter vertieft werden. Der Gesetzgeber hat jedenfalls mit einer Ergänzung des § 7 Satz 7 GewStG reagiert und angeordnet, dass Hinzurechnungsbeträge solche Einkünfte sind, die in einer inländischen Betriebsstätte anfallen. Man darf gespannt sein, ob damit das letzte Wort gesprochen ist. Denn technisch funktioniert diese Fiktion nur auf Basis der fraglichen Entscheidung des BFH, die den Fokus auf die ausländische Betriebsstätte legte. Sollte sich demgegenüber – man weiß es ja nie – doch noch die Erkenntnis durchsetzen, dass auch § 10 Abs. 2 Satz 2 AStG nichts an dem Charakter als fiktive Dividende i.S.v. § 10 Abs. 2 Satz 1 AStG ändert, dann könnte man wieder eine Kürzung auf Basis von § 9 Nr. 7 Satz 1 Halbs. 2 und Nr. 8 GewStG in Erwägung ziehen. gg) Nachfolgende Dividenden und § 8b KStG Völlig überraschend, aber gleichwohl von grundlegender Bedeutung war schließlich die allerjüngste Entscheidung des BFH zur Hinzurechnungsbesteuerung56. Hier ging es um die Frage, inwieweit der (fiktiven) Hinzurechnungsbesteuerung später nachfolgende (echte) Dividendenausschüttungen vollständig von der Besteuerung auszunehmen sind oder ob eine Anwendung der Schachtelstrafe des § 8b Abs. 5 KStG erfolgen darf. Die Finanzverwaltung hatte in der Vergangenheit eigentlich die Auffassung eingenommen, dass der Hinzurechnungsbesteuerung nachfolgende Dividenden gemäß § 3 Nr. 41 EStG von der Besteuerung auszunehmen sind. Eine Anwendung von § 8b Abs. 5 KStG – so hätte man zumindest gedacht – wäre damit eigentlich nur nach Ablauf der (in der Sache im Übrigen nicht gerechtfertigten) Siebenjahresfrist des §  3 Nr. 41 EStG möglich gewesen. Anders der I. Senat des BFH. Er ließ es offen, ob auf die nachfolgende Dividende § 3 Nr. 41 EStG oder § 8b Abs. 1 KStG anzuwenden sei, weil jedenfalls eine Besteuerung nach Maßgabe von § 8b Abs. 5 KStG erfolgen dürfe. Die Entscheidung ist bereits vor dem Hintergrund der Zielrichtung der §§  7–14 AStG kritisch zu sehen. Denn der Hinzurechnungsbesteuerung geht es darum, für bestimmte Einkünfte die Abschirmwirkung ausländischer Gesellschaften zu durch55 BFH v. 11.3.2015 – I R 10/14, BStBl. II 2015, 1049. 56 BFH v. 26.4.2017 – I R 84/15, BFH/NV 2017, 1555.

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brechen und für diese Einkünfte (auch ungeachtet des Anfalls in einer ausländischen Betriebsstätte, s.w.o.) eine Besteuerung beim inländischen Gesellschafter anzuordnen. Nach Durchführung dieser Besteuerung entbehrt es jeder Rechtfertigung, ein weiteres Mal auf dasselbe Besteuerungssubstrat zuzugreifen. Daher ordnet auch die ATAD in Art. 8 Abs. 5 die vollständige Freistellung nachfolgender Dividendenausschüttungen an, um eine drohende Doppelbesteuerung zu vermeiden. Man wird auch ohne weiteres sagen dürfen, dass es sich dabei um einen allgemeinen (selbstverständlichen) Grundsatz des EU-Rechts handelt, weil die diskriminierenden §§ 7–14 AStG anderenfalls über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist. Mit anderen Worten: Die Rechtsprechung des BFH verletzt höherrangiges EURecht; sie ist daher nicht anzuwenden. Aber auch ansonsten überzeugt die Entscheidung nicht. Der BFH lässt es zwar offen, ob auf nachfolgende Dividenden § 8b Abs. 1 KStG oder § 3 Nr. 41 EStG anzuwenden ist. Richtigerweise muss man aber auch die Anwendung von § 8b Abs. 1 KStG bejahen, wenn man § 8b Abs. 5 KStG anwenden möchte. Dann kommt man allerdings richtig in Schwierigkeiten, wenn die Beteiligung des Inländers unter 10 % liegt, weil nämlich § 8b Abs. 4 KStG mit der Folge anwendbar wäre, dass es zu einer vollständigen Doppelbesteuerung im Falle nachfolgender Dividendenausschüttungen käme. b) Hinzurechnungsbesteuerung und § 42 AO Wendet man seinen Blick von diesen grundsätzlichen, aber eher technischen Fragen wieder hin zu wesentlichen dogmatischen Themen innerhalb der §§  7–14 AStG, dann ist hier zunächst das Verhältnis zu § 42 AO zu nennen. Die Frage geht letztlich dahin, inwieweit die typisierenden Missbrauchsbekämpfungsvorschriften der §§ 7–14 AStG als lex specialis die allgemeine Missbrauchsbekämpfungsvorschrift des § 42 AO vollständig verdrängen. Oder ob beide Regelungskomplexe in gewisser Weise unabhängig nebeneinanderstehen, wobei in diesem Fall beide Komplexe gegeneinander abzugrenzen wären, um den jeweiligen Anwendungsbereich zu bestimmen. Oder aber ob vielleicht § 42 AO gegenüber den §§ 7–14 AStG einen Vorrang genießt, wobei auch in diesem Fall die Anwendungsbereiche gegeneinander abzugrenzen wären. Der BFH entschied sich dafür, dass „die Anwendung des § 42 AO 1977 (...) aus logischen Gründen vorrangig vor der der §§ 7 ff. AStG ist. Die Wirkungsweise des § 42 AO 1977 ist gegenüber der der §§ 7 ff. AStG eine grundsätzlich andere. (...) Die logisch vorrangige Anwendung des § 42 AO 1977 (...) setzt allerdings weiter voraus, daß die tatsächlich gewählte Gestaltung auch bei einer Bewertung am Gesetzeszweck der §§ 7 ff. AStG sich noch als ein Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts darstellt. Ist die gewählte Gestaltung typischer- und vom Gesetzgeber gewollterweise nach §§ 7 ff. AStG zu besteuern, so hebt die vom Gesetzgeber mit den Vorschriften verfolgte Regelungsabsicht das Mißbrauchsverdikt auf “57. 57 BFH v. 23.10.1991 – I R 40/89, BStBl. II 1992, 1026; und fast wortgleich BFH v. 10.6.1992 – I R 105/89, BStBl. II 1992, 1029.

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Für den Rechtsanwender blieb gleichwohl etwas unklar, wo genau die Linien zwischen § 42 AO und den §§ 7–14 AStG verlaufen. Der BFH zeichnete diese in seiner „Dublin Dock“-Entscheidung etwas schärfer indem er feststellte: „Um § 42 AO 1977 daneben anwenden zu können, müssten deshalb weitere Umstände hinzutreten, die die Gestaltung als missbräuchlich kennzeichnen, was insbesondere bei Einschaltung bloßer Briefkastenfirmen der Fall sei58.“ Mit anderen Worten: Der Anwendungsbereich von § 42 AO beschränkt sich im Kontext der Zwischenschaltung niedrigbesteuerter Auslandsgesellschaften auf die „echten“ Missbrauchsfälle, in denen sich die ausländische Gesellschaft als substanzloser Briefkasten ohne außersteuerliche Rechtfertigung erweist; im Übrigen kommt es zur Anwendung der §§ 7–14 AStG. Auf diese Abgrenzung wird auch sogleich im Rahmen der EU-rechtlichen Zulässigkeit der Hinzurechnungsbesteuerung zurückzukommen sein. Hinzuweisen ist darauf, dass der BFH dieses für den Outbound-Fall (§§ 7–14 AStG) entwickelte Verständnis auf die korrespondierende Missbrauchsbekämpfung im Inbound-Fall (§ 50d Abs. 3 EStG) übertragen hat. c) Hinzurechnungsbesteuerung und EU-Recht Was die Vereinbarkeit der §§ 7–14 AStG mit EU-Recht anbelangt, so beschäftigt diese Frage die Praxis bis heute. In der Folge der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache „ICI“59 ging man ­ursprünglich davon aus, dass typisierende Missbrauchsbekämpfungsvorschriften generell unzulässig seien. Entsprechend hielt man die §§  7–14 AStG noch vor etwa 15  Jahren aus EU-rechtlicher Sicht für nicht rettbar. In der Rechtssache „Cadbury Schweppes“60 stellte der EuGH jedoch fest, dass (den grenzüberschreitenden Fall ­diskriminierende) typisierende Missbrauchsbekämpfungsvorschriften wie die britische Hinzurechnungsbesteuerung vor den EU-Grundfreiheiten gerechtfertigt werden können, „wenn das spezifische Ziel der Beschränkung darin liegt, Verhaltensweisen zu verhindern, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet wird“61. Zu diesem Zweck muss der Steuerpflichtige allerdings stets die Möglichkeit haben, den typisierenden Missbrauchsvorwurf zu widerlegen, indem er nachweist, dass der Zweck der ausländischen Gesellschaft 58 BFH v. 19.1.2000 – I R 94/97, BStBl. II 2001, 222, sowie später ebenfalls v. 20.3.2002 – I R 63/99, BStBl. II 2003, 50; v. 25.2.2004 – I R 42/02, BStBl. II 2005, 14; v. 21.10.2009 – I R 40/09, BFH/NV 2010, 688. 59 EuGH v. 16.7.1998 – C-264/96 – ICI, Slg. 1998, I-4695; dazu der instruktive Beitrag von Hahn, IStR 1999, 609. 60 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995. 61 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rz. 55.

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„darin besteht, wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeiten (Hervorh. durch den Verf.) im Aufnahmemitgliedstaat nachzugehen. [...] Diese Feststellung muss auf objektiven, von dritter Seite nachprüfbaren Anhaltspunkten beruhen, die sich u. a. auf das Ausmaß des greifbaren Vorhandenseins der beherrschten ausländischen Gesellschaft in Form von Geschäftsräumen, Personal und Ausrüstungsgegenständen beziehen.“ Aufgrund der Tatsache, dass die §§ 7–14 AStG keinen derartigen Gegenbeweis zuließen, reagierte zunächst die Finanzverwaltung mit BMF-Schreiben vom 8.1.200762 sowie der Gesetzgeber mit der Einfügung von § 8 Abs. 2 AStG. Der I. Senat des BFH brachte allerdings bereits ziemlich frühzeitig zum Ausdruck, dass die darin niedergelegten Kriterien zu streng seien und mit der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache „Cadbury Schweppes“ kollidieren63. Seither besteht in der Praxis eine große Unsicherheit, wann eine ausländische Gesellschaft über hinreichend wirtschaftliche Substanz verfügt, um den „Cadbury Test“ zu bestehen. Die Finanzverwaltung hat auch wenig dafür getan, um diese Unsicherheit zu beseitigen. Ganz im Gegenteil: Im Zuge von BEPS und ATAD versucht die Finanzverwaltung vielmehr, die vom EuGH in der Rechtssache „Cadbury Schweppes“ geschriebene Geschichte neu zu schreiben. So wurde etwa die Entscheidung des FG Münster vom 20.11.201564 zum Anlass genommen, um die „Cadbury Doktrin“ generell in Frage zu stellen. Mit (unveröffentlichtem) BMF-Schreiben vom 4.11.201665 werden die Finanzämter angewiesen, sämtliche Fälle zu § 8 Abs. 2 AStG bis zur Revisionsentscheidung des BFH offenzuhalten. Auch Art. 7 Abs. 2 Satz 2 ATAD bestätigt das Gefühl, dass sich die Mitgliedstaaten wünschen, über den Inhalt der „Cadbury Doktrin“ neu nachzudenken. Danach soll nämlich die Hinzurechnungsbesteuerung nicht anzuwenden sein, „wenn das beherrschte ausländische Unternehmen, gestützt auf Personal, Ausstattung, Vermögenswerte und Räumlichkeiten eine wesentliche wirtschaftliche Tätigkeit (Hervorh. durch den Verf.) ausübt, wie durch relevante Fakten und Umstände nachgewiesen.“ Der EuGH hatte hingegen  – wie bereits dargestellt  – entschieden, dass der Steuerpflichtige die Möglichkeit des Nachweises einer „wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeiten“ haben muss. Während also der EuGH den Nachweis einer „wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit“ verlangt, fordert Art. 7 Abs. 2 Satz 2 ATAD den einer „wesentlichen wirtschaftlichen Tätigkeit“. Man muss mittlerweile davon ausgehen, dass es sich dabei nicht nur um ein bloßes Übersetzungsproblem handelt, sondern die Differenzierung bewusst gewählt worden ist. Zwischen „Wirklichkeit“ und „Wesentlichkeit“ besteht 62 BMF v. 8.1.2007 – IV B 4-S 1351-1/07, BStBl. I 2007, 99. 63 BFH v. 21.10.2009, I R 114/08, BStBl. II 2010, 774. 64 FG Münster v. 20.11.2015, 10 K 1410/12F, EFG 2016, 453, Rev. eingelegt: Az.: I R 94/15; dazu z.B. Hielscher, BB 2016, 2217; Peters, EFG 2016, 460; Haase, IStR 2016, 767; Linn/­ Pignot, IWB 2016, 466; Kahlenberg, StuB 2016, 457; Schönfeld, IStR 2017, 949. 65 BMF-Schreiben v. 4.11.2016, Gz.: IV B 5  – S 1351/07/10001, Dok: 2016/1009519; abgedruckt in IStR 2017, 949.

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Die Rolle des AStG in der Rechtsprechung

nämlich nicht nur ein sprachlicher Unterschied: Eine wirtschaftliche Tätigkeit kann deutlich einfacher „wirklich“ sein, ohne zugleich als „wesentlich“ zu erscheinen. Möglicherweise intendiert Art. 7 Abs. 2 Satz 2 ATAD daher, solche Tätigkeiten aus dem Gegenbeweis auszuklammern, die naturgemäß nur wenig wirtschaftliche Substanz erfordern (wie z.B. vermögensverwaltende Tätigkeiten). Das läge auch ganz auf der Linie der britischen Regierung in der Rechtssache „Cadbury Schweppes“, die in der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH vehement dafür eintrat, dass eine konzerninterne Finanzierungstätigkeit bereits dem Grunde nach aus dem Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit (und damit aus dem Gegenbeweis) auszuklammern sei. Hier darf man allerdings daran erinnern, dass der damalige Berichterstatter und jetzige Präsident des EuGH Koen Lenaerts dem ebenso vehement entgegengetreten ist. Letztlich ist die Entscheidung des EuGH auch genauso ergangen. Daher darf man schon die Frage stellen, warum die nationalen Steuerverwaltungen und EU-Behörden diese Diskussion immer wieder anfachen. Der Rechtsprechung wird daher die Aufgabe zukommen, hier einmal einen Schlussstrich zu ziehen. Der EuGH hat das möglicherweise bereits getan, indem er kürzlich (das für den Inbound-Fall geschaffene Missbrauchsbekämpfungspendant des) § 50d Abs.  3 EStG am Fehlen eines „Cadbury Tests“ klassischer Lesart hat scheitern lassen66. Der EuGH wiederholt in seiner Entscheidung wörtlich die Grundsätze der „Cadbury Doktrin“ und bringt damit zum Ausdruck, dass diese nach wie vor am Leben sind, und zwar ohne mündliche Verhandlung (!). Im Rahmen des jüngsten Vorabentscheidungsersuchens des BFH vom 12.10.201667 wird der Gerichtshof nicht nur die Gelegenheit haben, die Frage der Anwendung der §§ 7–14 AStG im Verhältnis zu Drittstaaten zu beantworten, sondern auch den unveränderten Bestand der „Cadbury Doktrin“ klarzustellen. Man darf daher sehr gespannt sein.

IV. Fazit und Ausblick Auch wenn die Rolle des Außensteuergesetzes in der Rechtsprechung in quantitativer Hinsicht eher gering ausfällt, so ist die Bedeutung in qualitativer Hinsicht umso größer: Aufgrund der zahlreichen Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, hoher Komplexität sowie fehlender Aussagen zur Einbettung des Außensteuergesetzes in das übrige Steuerrecht kommt der Rechtsprechung vielfach die Aufgabe zu, die Anwendung der Vorschriften des Außensteuergesetzes überhaupt erst zu ermöglichen. Darüber entwickelt die Rechtsprechung über die Klärung von (technischen) Grundsatzfragen das Außensteuergesetz permanent fort. Dabei besteht häufig ein Spannungsverhältnis zum Gesetzgeber, der dieser Fortentwicklung oft kritisch gegenübersteht und mitunter versucht, im Wege einer „Klarstellung“ berichtigend einzugreifen. Aufgrund der tendenziell protektionistischen Ausrichtung des Außensteuergesetzes ist es zu66 EuGH v. 20.12.2017 – C-504/16 und C-613/16 – Deister u.a., juris. 67 I R 80/14, BStBl. II 2017, 615.

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dem wenig verwunderlich, dass zentrale Vorschriften des Außensteuergesetzes im Verdacht stehen (bzw. standen), mit EU-Recht unvereinbar zu sein. Die hier entwickelte Rechtsprechung hat zum Teil große Bedeutung auch für andere Vorschriften des deutschen internationalen Steuerrechts. Aber auch in Zukunft wird das Außensteuergesetz eine wichtige Rolle in der Rechtsprechung spielen. Dies liegt nicht nur daran, dass noch einige (wesentliche) Fragen unbeantwortet sind. Vielmehr wird insbesondere die Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§  7–14 AStG im Zuge der Umsetzung der ATAD eine vermutlich um­ fassende Reform erfahren, die der Rechtsprechung erneut Anlass geben wird, über zentrale Auslegungs- und Anwendungsfragen zu entscheiden. Im Zeitpunkt der Übergabe dieser Festschrift werden erste Entwürfe vorliegen, die bereits jetzt mit Spannung erwartet werden.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … D. II. 8.

Verluste im grenzüberschreitenden Sachverhalt Von Thomas Rödder

Inhaltsübersicht I. Einleitung

V. Währungsverluste

II. Grundverständnis der grenzüberschreitenden Verlustberücksichtigung

VI. Verluste in der Hinzurechnungs­ besteuerung

III. Anti-Double-Dip-Regelungen

VII. Resümee

IV. Finale Verluste

I. Einleitung Der Verlust ist ein negativer Ergebnissaldo. Steuerlich geht es bei Verlusten regelmäßig um negative Einkünfte oder Einkünftebestandteile. Sie sind nach dem objektiven Nettoprinzip als Ausprägung des Leistungsfähigkeitsprinzips zwar grds. ertragsteuerlich zu berücksichtigen. Schon im nationalen Sachverhalt findet sich insoweit aber eine Vielzahl von gesetzlich geregelten Einschränkungen. Die damit verbundene Komplexität findet noch einmal eine bedeutsame Steigerung im grenzüberschreitenden Sachverhalt vor allem deshalb, weil bei der Beantwortung der Frage nach der Berücksichtigung von Verlusten nach deutschem Steuerrecht auch die mögliche Berücksichtigung nach ausländischem Steuerrecht von Bedeutung ist. Aus der Sicht eines steuerrechtlich beratenden Praktikers geht es dabei um viele wichtige Themen, die z.T. befriedigend geregelt bzw. entschieden, z.T. aber auch noch offen oder nicht zufriedenstellend geregelt bzw. geklärt sind. Sie werden nachstehend (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) mit besonderem Blick auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zusammenfassend dargestellt, zu dessen 100jährigem Jubiläum (unter Einbezug des Reichsfinanzhofs) und zu Ehren der dort tätigen Richterinnen und Richter dieser Beitrag verfasst ist1.

1 Weshalb in diesem Beitrag auch auf die Zitierung von Schrifttum außerhalb von Judikaten verzichtet wird.

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II. Grundverständnis der grenzüberschreitenden ­Verlustberücksichtigung Aus dem Welteinkommensprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht folgt, dass im Rahmen der unbeschränkten Steuerpflicht nicht nur im Ausland erzielte positive, sondern auch dort erzielte negative Einkünfte Berücksichtigung finden müssen2. Sowohl das nationale Recht als auch das Abkommensrecht sehen allerdings verschiedene Ausnahmen von diesem Grundsatz vor.3 So sind Verluste einer in einem Drittstaat4 belegenen Betriebsstätte5, die nicht nachweislich aus einer aktiven Tätigkeit i.S.d. gesetzlichen Regelung stammen, nach § 2a EStG nur sehr eingeschränkt im Inland nutzbar. Das Ausgleichspotential dieser Verluste wird begrenzt auf positive Einkünfte der jeweils selben Art aus demselben Staat (per country limitation). Die damit verbundene Einschränkung des Welteinkommensprinzips und des objektiven Nettoprinzips ist nach Auffassung des BFH nicht als Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zu werten6. Eine Durchbrechung des Welteinkommensprinzips mit der Folge der Nicht-Berücksichtigung ausländischer Verluste kann sich auch abkommensrechtlich ergeben. Hierzu kommt es dann, wenn das DBA die Freistellungsmethode für Einkünfte der ausländischen Betriebsstätte vorsieht und Deutschland als Wohnsitzstaat insoweit abkommensrechtlich das Besteuerungsrecht versagt wird. Denn dabei bezieht sich die gewährte Steuerfreistellung nach der sog. Symmetriethese des BFH7 nicht bloß auf Gewinne, sondern in gleicher Weise auch auf Verluste der ausländischen Betriebsstätte. Schon der RFH hatte so geurteilt8: „Wenn der Doppelbesteuerungsvertrag allgemein anordnet, dass Grundstücke und Gebäude sowie das Einkommen darauf nur im Belegenheitsstaat zu den direkten Steuern herangezogen werden sollen, so muß das dazu führen, daß auch Verluste aus diesem Einkommen in Deutschland nicht abgezogen werden können. Der Vertrag hat zwischen 2 Im Inboundfall können sich steuerrelevante Verluste dagegen grds. nur im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht ergeben (§ 50 Abs. 1 Satz 1 EStG). Zu europarechtlichen Gesichtspunkten insoweit s. exemplarisch EuGH v. 15.5.1997  – C-250/95  – Futura Participations, DB 1997, 1211. 3 Zur Bekämpfung der gleichzeitigen Verlustverrechnung im In- und Ausland im Einzelfall durch Anti-Double-Dip-Regelungen s. unter III. Zu Währungsverlusten s. unter V. 4 Zur Vermeidung von europarechtlichen Problemen ist § 2a EStG nur auf Verluste aus Drittstaaten anwendbar. 5 Eine Beteiligung an einer ausländischen Personengesellschaft zählt ebenfalls als Betriebsstätte, sofern die Personengesellschaft eine ausländische Betriebsstätte unterhält (BFH v. 27.2.1991 – I R 15/89, BStBl. II 1991, 444). 6 Zu § 2a EStG s. z.B. BFH v. 17.10.1990 – I R 182/87, BStBl. II 1991, 136; v. 29.5.2001 – VIII R 43/00, BFH/NV 2002, 14. 7 Zuletzt s. BFH v. 22.2.2017 – I R 2/15, BStBl. II 2017, 709; v. 22.8.2015 – I B 83/14, BFH/NV 2016, 375. 8 RFH v. 26.6.1935 – VIA 414/35, RStBl. 1935, 1358 f. (Auslassungen etc. im Zitat nicht gekennzeichnet).

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dem inländischen und ausländischen Einkommen reinlich geschieden. Er weist das Einkommen aus dem österreichischen Grundbesitz in vollem Umfang der österreichischen Besteuerung zu, während das Deutsche Reich von diesem Einkommen steuerlich überhaupt nicht berührt wird. Dorn weist auf den allen Doppelbesteuerungsverträgen gemeinsamen Grundsatz hin: „Aufteilung der Steuerquellen in der Art, daß für Gesamteinkommenbesteuerung der Wohnsitzstaat zuständig ist, daß aber sowohl für das Gebiet der Personalsteuern wie für das Gebiet der Ertragsteuern dem Belegenheitstaat die Besteuerung des unbeweglichen Guts und des Gewerbebetriebs vorbehalten wird.“ Ob eine Regelung, wie sie der Beschwerdeführer im Auge hat, überhaupt durchführbar wäre, mag dahingestellt bleiben. Es würden sehr wesentliche fachliche Bedenken dagegen bestehen, die offenbar auch bei der Vertragsregelung berücksichtigt worden sind. Wenn z.B. in Österreich, aber nicht in Deutschland, ein Verlust in Frage käme, so würde nach der Auffassung des Beschwerdeführers bei dem von einem in Deutschland wohnenden Steuerpflichtigen in Österreich betriebenen Gewerbe in Deutschland der Verlust vom Einkommen abgezogen werden, in Österreich aber als Verlustvortrag im nächsten Jahr angesetzt werden können. Es würde auch dem deutschen Staat schwer sein, das Einkommen aus dem österreichischen Gewerbe oder Grundbesitz festzustellen, da die deutsche Behörde hierfür nicht die Orts- und Sachkenntnis besitzt, die erforderlich ist, um die Einkommensteuer ordnungsgemäß festzusetzen. Alle diese Gesichtspunkte weisen auch darauf hin, daß die Vertragsregelung nur in der Art vorgenommen worden sein kann, daß die betreffende Steuerquelle aus der Steuergewalt des Wohnsitzstaats schlechthin ausscheidet, also mit ihr überhaupt dort in keiner Weise mehr gerechnet wird. Wenn im einzelnen Fall dadurch die Steuerpflichtigen einen gewissen steuerlichen Nachteil erleiden können, so ist das bei Abschluß der Verträge offenbar berücksichtigt worden. Man hat diesem Gesichtspunkt um deswillen keine entscheidende Bedeutung beigemessen, weil im Regelfall nicht Verlust, sondern Gewinn erzielt wird – und im ganzen gesehen – durch diese Regelung die Steuerpflichtigen wesentliche Vorteile erlangen.“ Und der BFH führt im Anschluss daran aus9: „Ein Anhaltspunkt dafür, daß nur positive Einkünfte von Art. 3, 4 DBA-Österreich erfaßt sein sollen, ist nicht zu erkennen. Der Wortlaut der Vorschrift enthält eine solche Einschränkung nicht. Auch dem Sinn des Abkommens läßt sie sich nicht entnehmen. Insbesondere spricht die Auffassung, daß es dem Ziel eines DBA entspreche, nur die ­positiven Einkünfte von der Besteuerung freizustellen, nur scheinbar dafür, die aus­ ländischen Verluste als nicht vom Begriff „Einkünfte“ umfaßt anzusehen. Denn die ­Verlustberücksichtigung über die Grenze kann nicht losgelöst von der Frage der Verlustabzugsmöglichkeit und der Verlustausgleichsmöglichkeit im jeweils betroffenen ausländischen Staat gesehen werden. Eine uneingeschränkte Berücksichtigung ausländischer Verluste im Inland bei gleichzeitigem Verzicht auf die Besteuerung positiver ausländischer Einkünfte würde – je nach der innerstaatlichen Regelung im ausländischen Staat – häufig zur doppelten Verlustberücksichtigung führen und somit in der Regel ein Ergebnis nach sich ziehen, das durch das DBA ebensowenig gewollt ist wie die doppelte steuerliche Erfassung positiver Einkünfte. Der Senat hegt somit keine Zweifel, daß, 9 BFH v. 11.3.1970 – I B 50/68, BStBl. II 1970, 569 (Auslassungen etc. im Zitat nicht gekennzeichnet).

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ebenso wie der in § 1 EStG verwendete Begriff „Einkünfte“ ausländische Verluste mitumfaßt, sich auch der in Art. 3, 4 DBA-Österreich verwendete Begriff „Einkünfte“ auf in Österreich erlittene Verluste erstreckt.“ Durch die Freistellungsmethode wird das Welteinkommensprinzip damit auf das Territorialitätsprinzip zurückgeführt. Ob das für Verluste richtig ist, wird allerdings auch bezweifelt10. Die DBA sollen danach teleologisch eine Doppelbesteuerung von Gewinnen vermeiden bzw. vermindern, sind jedoch hinsichtlich der Behandlung von Verlusten ohne Aussage, da insoweit keine Doppelbesteuerung, sondern eine doppelte Nichtberücksichtigung droht. Der Gefahr einer Doppelverlustverwertung könne durch Nachversteuerung im Inland bei Verlustverwertung im Ausland begegnet werden11. Außerdem stellt sich die Frage der Auswirkungen von Subject-to-taxund Switch over-Klauseln12 und sog. finaler Verluste (s. auch unter IV.). Die Symmetriethese, die – wie gezeigt – vom RFH stammt, sollte deshalb noch einmal überdacht werden13.14 Unbeschadet dessen bleibt natürlichen Personen die Möglichkeit, den ausländischen Betriebsstättenverlust im Rahmen des negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen. Voraussetzung hierfür ist, dass die Betriebsstätte eine aktive Tätigkeit ausübt15. Durch den negativen Progressionsvorbehalt kann der Steuersatz im Extremfall auf null abgesenkt werden, was dann effektiv doch zu einem vollumfänglichen inländischen Verlustausgleich führt16. Im Gegensatz zur Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer verwirklicht die Gewerbesteuer, welche den im Inland betriebenen Gewerbebetrieb zum Gegenstand hat (§ 2 Abs. 1 GewStG), im Grundsatz nicht das Welteinkommensprinzip, sondern das Territorialitätsprinzip. Die Berücksichtigung ausländischer Verluste ist hier bereits in der Grundstruktur der Steuer nicht vorgesehen. Entsprechend ist nicht nur der Gewinn, sondern auch der Verlust, der auf eine ausländische Betriebsstätte entfällt, gewerbesteuerlich hinzuzurechnen (§ 9 Nr. 3 GewStG)17. Allerdings hat der Gesetzge10 Anders als der BFH z.B. der öVwGH v. 25.9.2001 – 99/14/0217, IStR 2001, 754. Danach müssen ausländische Betriebsstättenverluste bei der Ermittlung der österreichischen Bemessungsgrundlage trotz DBA-Freistellung auf Ebene des Stammhauses abgezogen werden. Soweit die Betriebsstätte in späteren Jahren wieder Gewinne erwirtschaftet, wird ­allerdings nur der um die zuvor abgezogenen Verluste reduzierte Betrag von der österreichischen Besteuerung freigestellt. 11 Auch nochmals Hinweis auf das Abkommensverständnis des öVwGH in der vorangehenden Fn. 12 Z.T. in DBA geregelt, z.T. im deutschen Steuerrecht (z.B. § 50d Abs. 9 Satz. 1 Nr. 2 EStG). 13 Auch Hinweis auf § 2a Abs. 3 EStG a.F. und die aktuellen Überlegungen im Rahmen der GKB (Richtlinienvorschlag v. 25.10.2016, COM (2016) 685 final). 14 Zu sog. finalen Verlusten s. unter IV. 15 S. § 32b Abs. 1 Satz 2 EStG bzw. § 2a Abs. 1 EStG. 16 Vgl. BFH v. 25.5.1970 – I R 109/68, BStBl. II 1970, 660. 17 BFH v. 21.4.1971 – I R 200/67, BStBl. II 1971, 743; v. 10.7.1974 – I R 248/71, BStBl. II 1974, 752. Der Begriff „Betriebsstätte“ bestimmt sich in diesem Zusammenhang nicht abkommensrechtlich, sondern nach innerstaatlichem Recht; BFH v. 20.7.2016 – I R 50/15, IStR 2016, 2457.

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ber dieses Prinzip vor kurzem für die Fälle des § 20 AStG in § 7 Satz 8 f. GewStG aufgeweicht (s. dazu w.u. unter VI.). Aufgrund des Trennungsprinzips finden Verluste ausländischer Tochterkapitalge­ sellschaften grds. keinen Niederschlag in der Sphäre inländischer Gesellschafter. In bestimmten Fällen sind lediglich Betriebsvermögensminderungen durch Teilwert­ abschreibungen auf die Beteiligung an der ausländischen Verlustgesellschaft, Veräußerungsverluste o.Ä. denkbar, welche sich im Rahmen des Teileinkünfte- bzw. Freistellungsverfahrens jedoch nur begrenzt auswirken können18. Außerdem spielen Verluste ausländischer Tochterkapitalgesellschaften bei Anwendung der §§ 7 ff. AStG eine Rolle (dazu auch unter VI.).19

III. Anti-Double-Dip-Regelungen Angesichts – oder vielleicht auch trotz – des unter II. erläuterten Grundverständnisses der grenzüberschreitenden Verlustberücksichtigung sind sog. Double-Dip-Sachverhalte, bei denen Verluste die steuerliche Bemessungsgrundlage in Deutschland und in einem anderen Staat mindern, als eine Fallgruppe sog. hybrider Gestaltungen seit einiger Zeit im Fokus der steuerpolitischen Diskussion.20 Allerdings geht es dabei regelmäßig um einzelne Betriebsausgaben, nicht um Verluste als Saldogrößen aus Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben. Eine Verluste als Saldogröße betreffende Anti-Double-Dip-Regelung ist § 14 Satz 1 Abs. 1 Nr. 5 KStG zur Vermeidung der doppelten Berücksichtigung negativer Einkünfte des Organträgers oder der Organgesellschaft. Die Vorschrift lautet: „Negative Einkünfte des Organträgers oder der Organgesellschaft bleiben bei der inländischen Besteuerung unberücksichtigt, soweit sie in einem ausländischen Staat im Rahmen der Besteuerung des Organträgers, der Organgesellschaft oder einer anderen Person berücksichtigt werden.“ Zu dieser Regelung erging jüngst eine erste Entscheidung des BFH, in der dieser das Grundverständnis der Norm geklärt hat21. „Für die Anwendung des § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 KStG sind die konsolidierten Einkünfte des Organträgers nach der Zurechnung des Einkommens der Organgesellschaft maßgeblich, da der Gesetzgeber die Verlustabzugsbeschränkung gerade der Vorschrift des § 14 Abs. 1 Satz 1 KStG zugewiesen und damit in den Zusammenhang der Einkom18 Ferner können sich Beschränkungen im Rahmen des § 2a EStG ergeben. 19 Zu sog. finalen Verlusten s. unter IV. 20 Vgl. Kapitel  6 des OECD-Abschlussberichts 2015 zum Aktionspunkt 2 (Neutralisierung der Effekte hybrider Gestaltungen, S. 77). Der Bundesrat hatte schon im Jahr 2014 im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Zollkodexanpassungsgesetz mit § 4 Abs. 5a Satz 2 EStG-E eine generelle Regelung zu Double-Dips vorgeschlagen; vgl. BR-Drucks. 432/14, 12 sowie zuvor bereits BR-Drucks. 205/14. Auch Hinweis auf die entsprechenden Vorgaben zu hybriden Strukturen in der ATAD I (Amtsblatt der Europäischen Union v. 19.7.2016, L 193/1) und der ATAD II (Amts­blatt der Europäischen Union v. 7.6.2017, L 144/1). 21 Vgl. BFH v. 12.10.2016 – I R 92/12, DStR 2016, 589 (Auslassungen etc. im Zitat nicht gekennzeichnet).

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menszurechnung als Rechtsfolge der Organschaft gestellt hat.“ Eine isolierte Betrachtung der eigenen Einkünfte des Organträgers ist danach unzulässig. „Zugleich werden durch die Verwendung des Einkünftebegriffs als Saldogröße einzelne, bei dem Organträger angefallene Betriebsausgaben nicht vom Abzug ausgeschlossen, sofern auf Ebene des Organträgers insgesamt positive Einkünfte vorliegen.“ Damit hat der BFH den Anwendungsbereich der Norm zutreffend begrenzt. Nicht beschäftigen musste sich der BFH mit der Frage des in der Norm nicht gelösten Spannungsverhältnisses zu Fällen der Anrechnungsmethode, in denen nicht nur die Verlustberücksichtigung im In- und Ausland erfolgt, sondern auch die Gewinnberücksichtigung. Hier sind grundlegende Klärungen durch den BFH in Zukunft zu erwarten22. Jedenfalls der Idee nach berücksichtigt worden ist dieses Spannungsverhältnis dagegen in der durch das sog. Anti-BEPS-Umsetzungsgesetz I23 mit Wirkung ab dem 1.1.2017 eingeführten Neuregelung des §  4i EStG („Aufwendungen eines Gesellschafters einer Personengesellschaft dürfen nicht als Sonderbetriebsausgaben abgezogen werden, soweit diese Aufwendungen auch die Steuerbemessungsgrundlage in einem anderen Staat mindern. Satz 1 gilt nicht, soweit diese Aufwendungen Erträge desselben Steuerpflichtigen mindern, die bei ihm sowohl der inländischen Besteuerung unterliegen als auch nachweislich der tatsächlichen Besteuerung in dem anderen Staat.“)24. Auch insoweit werden indes zahlreiche Zweifelsfragen zu klären sein25, mit denen sich der BFH wird beschäftigen müssen26. Wesentlich ist insoweit die Er22 In BFH v. 12.10.2016 – I R 92/12, DStR 2016, 589, offen gelassen. 23 Gesetz zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen v. 20.12.2016, BGBl.  I 2016, 3000. 24 Entgegen der Empfehlung der OECD (vgl. Rz.  183 des OECD-Abschlussberichts 2015 zum Aktionspunkt 2 (Neutralisierung der Effekte hybrider Gestaltungen, S.  78); s. auch Art.  9 Abs.  1 des Vorschlags zur Änderung der Richtlinie (EU) 2016/1164, BR-Drucks. 642/16) sieht die gesetzliche Regelung keine vorrangige Nichtberücksichtigung im Ansässigkeitsstaat des Gesellschafters vor, obwohl dort aus deutscher Sicht der systematisch unzutreffende Betriebsausgabenabzug vorgenommen wird. Auch ist nicht geregelt, welche Regelung Vorrang hat, wenn im Ansässigkeitsstaat des Gesellschafters eine vergleichbare Abzugsbeschränkung existiert. Dies führt zum Risiko einer Doppelbesteuerung. Die Vereinbarkeit der Versagung des Betriebsausgabenabzugs im Quellenstaat mit der Niederlassungsfreiheit des Art.  49 AEUV ist auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH in der Rs. Philips Electronics (vgl. EuGH v. 6.9.2012  – C-18/11, IStR 2012, 847) zweifelhaft. Da kein ausdrücklicher Vorrang des § 4i EStG vor den Doppelbesteuerungsabkommen geregelt ist, könnte die Regelung zudem einen Verstoß gegen ein abkommensrechtliches Diskriminierungsverbot entsprechend Art. 24 OECD-MA beinhalten. 25 Unklar ist z.B., in welchem Fall die Aufwendungen die Erträge im Sinne des Gesetzes „mindern“. Eine Verrechnung im Rahmen der ausländischen Bemessungsgrundlage im selben Jahr dürfte nicht erforderlich sein, da nach der Gesetzesbegründung die Besteuerung der Erträge auch in einem vorhergehenden oder nachfolgenden Zeitraum erfolgen kann (vgl. BT-Drucks. 18/10506, 77). 26 Zu einem einschlägigen Fall vor Einführung des § 4i EStG s. BFH v. 12.10.2016 – I R 92/12, DStR 2017, 589.

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wartung der Praxis, dass in Fällen der Anrechnungsmethode systemkonform §  4i EStG auch in Fällen nicht greift, in denen insoweit technisch bei der Anwendung der Norm Probleme gegeben sein könnten27.

IV. Finale Verluste Nach ständiger Rechtsprechung des BFH führt – wie unter II. erläutert – die Freistellung von Betriebsstätteneinkünften entsprechend Art.  23  A OECD-MA dazu, dass auch Betriebsstättenverluste von der inländischen Bemessungsgrundlage auszunehmen sind. Nach der Rechtsprechung der EuGH war bis vor Kurzem allerdings davon auszugehen, dass  – ausgehend von der Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Verlusten ausländischer Tochtergesellschaften28 – darin dann ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV liegt, wenn die im Betriebsstättenstaat vorgesehenen Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten tatsächlich ausgeschöpft sind und keine Möglichkeit besteht, dass die Verluste der Betriebsstätte in diesem Staat für künftige Zeiträume berücksichtigt werden können29. Solche „finalen Verluste“ sollten nach der Rechtsprechung des BFH dann vorliegen, wenn der Betriebsstättenverlust aus tatsächlichen Gründen nicht mehr berücksichtigt werden kann, z.B. bei der entgeltlichen Übertragung der Betriebsstätte30. Allein eine nach dem ausländischen Steuerrecht rechtlich bestehende abstrakte Möglichkeit einer zukünftigen Verlustnutzung sollte danach dem Abzug der Verluste im Inland nicht entgegenstehen. Dies sollte auch bei einem konzerninternen Verkauf der Betriebsstätte gelten, der für sich genommen nicht die Annahme eines Gestaltungsmissbrauchs rechtfertigt31. Der BFH brachte zum Ausdruck, dass in solchen Fällen die im Ausland „erlittenen, aber nach deutschem Steuerrecht ermittelten und ihrer Höhe nach unstreitigen Verluste als sog. finale Verluste in Deutschland trotz der prinzipiellen Freistellung ausnahmsweise abzugsfähig sind, weil sie im Ausland definitiv nicht mehr verwertet werden können und deswegen die unionsrechtlich verbürgte Niederlassungsfreiheit ihre Berücksichtigung in Deutschland als dem Ansässigkeitsstaat einfordert; jenem Staat wird für diesen Fall die „Ausfallbürgschaft“ für die Abzugsfähigkeit der andernfalls gänzlich unberück-

27 So kann die Formulierung „desselben Steuerpflichtigen“ vom Wortlaut her in praxi Probleme aufwerfen, obwohl in der Sache Aufwendungen und Erträge sowohl im In- als auch im Ausland erfasst werden. 28 Grundlegend EuGH v. 13.12.2005 – C-446/03 – Marks & Spencer, IStR 2006, 19. 29 Grundlegend EuGH v. 15.5.2008 – C-441/06 – Lidl Belgium, BStBl. II 2009, 692 Rz. 47. 30 Vgl. BFH v. 5.2.2014 – I R 48/11, BFH/NV 2014, 963. S. auch BFH v. 3.3.2010 – I R 23/09, BStBl. II 2010, 1065; v. 9.6.2010 – I R 107/09, BFH/NV 2010, 1744. 31 Vgl. BFH v. 5.2.2014 – I R 48/11, BFH/NV 2014, 963 (Auslassungen etc. im Zitat nicht gekennzeichnet).

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sichtigt bleibenden Verluste abverlangt.“32 Die Berücksichtigung der finalen Verluste sollte nach Auffassung des BFH sogar gewerbesteuerlich gelten33. Dann allerdings erging das EuGH-Urteil in der Rechtssache „Timac Agro“34. Darin verneinte der EuGH einen Abzug der (freigestellten) finalen Betriebsstättenverluste im Fall der (konzerninternen) Veräußerung der Betriebsstätte und hielt die darin liegende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit für zulässig, weil eine ausländische Freistellungsbetriebsstätte und eine inländische Betriebsstätte sich nicht in einer vergleichbaren Situation befinden würden35. Der BFH urteilte daran anknüpfend kürzlich36: Der EuGH hat der Symmetriethese die Eignung zugesprochen, eine Beschränkung von Grundfreiheiten von vorneherein auszuschließen. Und: „Die Voraussetzungen für eine (nochmalige) Vorlage für eine Vorabentscheidung des EuGH sind im vorliegenden Streitfall nicht erfüllt. Zwar ist anerkannt, dass auch nach einer Entscheidung des EuGH über die Auslegung des Unionsrechts die entscheidungserhebliche Rechtsfrage bei Zweifeln durch ein anderes Gericht erneut vorgelegt werden kann. Allein der Umstand, dass der Begründung der Entscheidung vom 17. Dezember 2015 (Timac Agro) dogmatische Zweifel entgegengehalten werden können oder dass die Reichweite des Urteils auf andere (hier nicht streiterhebliche) Konstellationen ungewiss ist oder dass auf der Grundlage dieser Entscheidung die harmonisierende Bedeutung der Grundfreiheiten in der Fallsituation der Freistellung entwertet werde, reicht nach Überzeugung des Senats jedenfalls dann nicht aus, wenn die Rechtsfrage mit Blick auf den konkret zu entscheidenden Streitfall geklärt ist und kein Raum „für vernünftige Zweifel hinsichtlich der richtigen Auslegung der fraglichen Rechtsnorm“ mehr besteht.“ Er lehnte die Berücksichtigung finaler Verluste damit vermeintlich final ab.

32 Der Anspruch auf Gleichbehandlung von In- und Auslandsinvestition führt danach allerdings nicht dazu, dass der Verlust rückwirkend im Entstehungsjahr berücksichtigt werden muss, vielmehr wird eine Berücksichtigung im Finalitätsjahr für ausreichend erachtet (BFH v. 9.11.2010 – I R 16/00, BFH/NV 2011, 524). 33 BFH v. 9.6.2010 – I R 107/09, BFH/NV 2010, 1744. 34 Vgl. EuGH v. 17.12.2016 – C-388/14, BStBl. II 2016, 362. 35 In Fällen der Anrechnungsmethode bejaht der EuGH dagegen die Vergleichbarkeit. S. EuGH v. 17.7.2014 – C-48/13 – Nordea Bank Danmark, BB 2014, 1813: „Zur Vergleichbarkeit der Situationen ist festzustellen, dass in Bezug auf Maßnahmen eines Mitgliedstaats, die der Vermeidung oder Abschwächung der Doppelbesteuerung der Gewinne einer gebietsansässigen Gesellschaft dienen, sich Betriebsstätten, die in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem anderen Staat des EWR-Abkommens belegen sind, grundsätzlich nicht in einer Situation befinden, die mit der Situation gebietsansässiger Betriebsstätten vergleichbar wäre. Jedoch hat das Königreich Dänemark dadurch, dass es die Gewinne der in Finnland, Schweden und Norwegen belegenen Betriebsstätten der dänischen Besteuerung unterworfen hat, diese Betriebsstätten den gebietsansässigen Betriebsstätten im Hinblick auf den Verlustabzug gleichgestellt“. 36 BFH v. 22.2.2017 – I R 2/15, BStBl. II 2017, 709 (Auslassungen etc. im Zitat nicht gekennzeichnet).

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Indessen: Dies könnte voreilig gewesen sein. Denn der EuGH wird sich in einem ­aktuellen Verfahren erneut mit der Frage der Berücksichtigung finaler Verluste befassen müssen, und der Generalanwalt hält die Berücksichtigung finaler Betriebs­ stättenverluste für europarechtlich geboten37. Dementsprechend setzt der BFH auch wieder aktuelle Verfahren, in denen es um finale Verluste geht, aus. Das Ergebnis einer Nichtberücksichtigung finaler Verluste im Inland ist bzw. wäre mehr als unbefriedigend. Ein erlittener Verlust wirkt sich steuerlich nirgends aus. Es stellt sich auch angesichts immer umfassenderer und möglicherweise auch einmal vollumfassender Subject-to-tax-Klauseln, Switch over-Klauseln etc. die Frage, ob das Ergebnis wirklich richtig sein kann. Jedenfalls in den Fällen, in denen die Freistellung von Betriebsstättengewinnen dann nicht mehr erfolgt, wenn der Betriebsstättenstaat nicht besteuert, muss umgekehrt symmetrisch auch der im Betriebsstättenstaat dort nicht mehr verrechenbare „finale“ Verlust im Stammhausstaat berücksichtigt werden38. Auch verfassungsrechtlich könnte die Frage aufgeworfen werden, ob angesichts des aktuellen Beschlusses des BVerfG zu § 8c KStG39 die Nichtberücksichtigung finaler Betriebsstättenverluste jedenfalls in bestimmten Fällen (z.B. bei einem Symmetrieverstoß) verfassungswidrig wäre. Auch im rein nationalen Sachverhalt wird das Problem nicht berücksichtigungsfähiger finaler Verluste verfassungsrechtlich diskutiert40. Im Verhältnis zu Tochterkapitalgesellschaften ist die Rechtslage allerdings schwieriger, weil der BFH es – problematisch – auch für den nationalen Sachverhalt bisher abgelehnt hat, in der Regelung des § 8b Abs. 3 Satz 3 KStG im Fall finaler Verluste, die auf Ebene der Tochterkapitalgesellschaft nicht mehr genutzt werden können, ein verfassungsrechtliches Problem zu sehen41. Damit bleibt für die Verlusteffektuierung im Inlandsfall nur die Organschaft. Dementsprechend ist auch für den grenzüberschreitenden Fall erörtert worden, ob jedenfalls für den Fall finaler Verluste in der Auslandstochterkapitalgesellschaft aus europarechtlichen Gründen eine grenzüberschreitende Organschaft zugelassen werden muss42. Die vorstehenden Überlegungen 37 Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona v. 17.1.2018 in der Sache C-650/16. 38 Offen gelassen vom BFH v. 22.2.2017 – I R 2/15, BStBl. II 2017, 709. 39 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, GmbHR 2017, 710. 40 So ist z.B. umstritten, ob die Mindestbesteuerung zumindest in dem Fall, in dem sie nicht nur zu einer zeitlichen Streckung des Verlustabzugs, sondern zu einer definitiven Belastung führt (z.B. bei Insolvenz einer Kapitalgesellschaft), mit dem aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitenden Leistungsfähigkeitsprinzip vereinbar ist. Der BFH hat diese Frage dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt (Az. 2 BvL 19/14; vgl. BFH v. 26.2.2014 – I R 59/12, BStBl. II 2014, 1016). 41 BFH v. 13.10.2010 – I R 79/09, BFH/NV 2011, 521. 42 S.  FG Niedersachsen v. 11.2.2010  – 6 K 406/08, EFG 2010, 815; FG Rheinland-Pfalz v. 17.3.2010 – 1 K 2406/07, DStRE 2010, 802; BFH v. 9.11.2010 – I R 16/10, FR 2011, 489. Zu einer inzwischen durch Gesetzesänderung ausgeschlossenen möglichen grenzüberschreitenden Inbound-Organschaft s. BFH v. 9.2.2011 – I R 54/55/10, BStBl. II 2012, 106.

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zu den finalen Verlusten im Ausland gelten insoweit nicht nur entsprechend. Zusätzlich ist der Umstand zu berücksichtigen, dass outbound gesellschaftsrechtlich im Regelfall kein wirksamer Gewinnabführungsvertrag geschlossen werden kann und sich die Frage nach der Zulässigkeit und der Ausgestaltung eines vertraglichen Substituts stellt43. Die Lage ist deshalb aus der Sicht der Steuerpflichtigen schlechter als beim finalen Betriebsstättenverlust.

V. Währungsverluste Der BFH hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass Währungsverluste im Zusammenhang mit DBA-Freistellungsbetriebsstätten in Deutschland steuerlich nicht abzugsfähig sind. „Ergeben sich bei der Umrechnung aus Sicht des umrechnenden Stammhauses Währungsgewinne oder -verluste, so stehen diese in wirtschaftlichem Zusammenhang mit den ausländischen Einkünften aus der Betriebsstätte, aus der sie „stammen“ (vgl. Art. 23 Abs. 1 OECD-MA), und sind infolgedessen auch diesen zuzuordnen. Der nach Maßgabe des deutschen Steuerrechts ermittelte Gewinn beinhalten sonach nicht nur die aus der Tätigkeit der ausländischen Betriebsstätte resultierende Vermögensmehrung in Fremdwährung, sondern zugleich damit in Zusammenhang stehende wechselkursbedingte Wertverluste oder Wertsteigerungen. Solche Wertänderungen beeinflussen dann ihrerseits die Höhe der Betriebsstätteneinkünfte, für die der Bundesrepublik das Besteuerungsrecht nach dem Doppelbesteuerungsabkommen entzogen ist. Ohne Bedeutung ist, dass der ausländische Staat, aus dem die Einkünfte stammen, die betreffenden Währungsverluste regelmäßig nicht berücksichtigen wird, weil sie dort nicht in Erscheinung treten. Die Freistellung in dem einen Vertragsstaat ist grundsätzlich nicht davon abhängig, ob im anderen Vertragsstaat eine tatsächliche Besteuerung erfolgt oder nicht. Unterbleibt eine solche Besteuerung, so kommt dies dem Steuerpflichtigen bei positiven Einkünften zugute. Bei negativen Einkünften schlägt sie für ihn faktisch in einen Nachteil um44.“ Auch unionsrechtlich spreche nichts dagegen45. Das Ergebnis ist zwar unbefriedigend, aber – immerhin – symmetrisch. Für Anteile an Tochterkapitalgesellschaften hat der BFH – anders herum, aber ebenfalls symmetrisch – entschieden, dass wechselkursbedingte Wertänderungen der Anteile in den Gewinn oder Verlust i.S. des § 8b Abs. 2 Satz 1 u. 2 KStG und des § 8b Abs. 3 Satz 3 KStG eingehen46.

43 S.  FG Niedersachsen v. 11.2.2010  – 6 K 406/08, EFG 2010, 815; FG Rheinland-Pfalz v. 17.3.2010 – 1 K 2406/07, DStRE 2010, 802; BFH v. 9.11.2010 – I R 16/10, FR 2011, 489. 44 BFH v. 16.2.1996 – I R 43/95, BStBl. II 1997, 128 (Auslassungen etc. im Zitat nicht gekennzeichnet). 45 S. zuletzt BFH v. 2.12.2015 – I R 13/14, BStBl. II 2016, 927. 46 Vgl. BFH v. 21.9.2016 – I R 63/15, BStBl. II 2017, 357 (Auslassungen etc. im Zitat nicht gekennzeichnet).

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„Erwirbt eine Körperschaft eine Beteiligung an einer Aktiengesellschaft, führen wechselkursbedingte Wertveränderungen im Veräußerungsfall zu Steuerbilanzgewinnen oder -verlusten bzw. können im Bewertungsfall eine Teilwertabschreibung rechtfertigen. ­Außerbilanzielle Kürzungen oder Hinzurechnungen gemäß §  8b Abs.  2 und Abs.  3 Satz 3 KStG sind dann die zwingende Folge. Dass die realisierten Wertveränderungen wechselkursbedingt sind, rechtfertigt es nicht, sie vom Anwendungsbereich dieser Regelungen auszunehmen. Für eine isolierte steuerliche Behandlung wechselkursbedingter Wertveränderungen ist kein Raum.“ Auch unionsrechtlich sei das wegen der bestehenden Regelungssymmetrie nicht zu beanstanden. Eine damit zusammenhängende, praktisch sehr bedeutsame Rechtsfrage ist derzeit als Revisionsverfahren I R 20/16 beim BFH anhängig. Die streitige Rechtsfrage wird auf der Homepage des BFH wie folgt formuliert: Sind Erträge aus einem Devisentermingeschäft im Zusammenhang mit der – von Anfang an beabsichtigten – Veräußerung von in Fremdwährung valutierten Anteilen an Kapitalgesellschaften bei der Ermittlung des nach § 8b Abs. 2 KStG außer Ansatz bleibenden Veräußerungsgewinns einzubeziehen, wenn zwischen dem Grundgeschäft (Halten und Veräußerung der Anteile an der Kapitalgesellschaft) und dem Sicherungsgeschäft (Devisentermingeschäft) handels- und steuerbilanziell eine Bewertungseinheit (§ 254 HGB, § 5 Abs. 1a EStG) gebildet wurde? Das BFH-Verfahren wirft generell die Rechtsfrage der Berücksichtigung von Erträgen und Aufwendungen aus Währungssicherungsgeschäften im Rahmen des §  8b Abs. 2 Satz 1 u. 2 KStG einerseits und des § 8b Abs. 3 Satz 3 KStG andererseits auf. Schon bejaht hat der BFH aufgrund des wirtschaftlichen Zusammenhangs eine Berücksichtigung von Aufwendungen aus einem Sicherungsgeschäft als Veräußerungskosten i.S. des § 8b Abs. 2 Satz 2 KStG47: „Zwar stehen die Zertifikategeschäfte einerseits und die Aktiengeschäfte andererseits in lediglich wirtschaftlichem Zusammenhang und sind als solche voneinander unabhängige, selbständige Geschäfte. Die Zertifikategeschäfte sind aber von vornherein nur zur „Gegenfinanzierung“ der Veräußerungsgewinne eingegangen worden; sie sind ihrem wirtschaftlichen Sinn nach unmittelbar auf die Veräußerung der Beteiligungen bezogen und machen isoliert gesehen „keinen Sinn“. Die gebotene wertende Zuordnung offenbart sonach eine größere Nähe zu den einzelnen Veräußerungsvorgängen als zum allgemeinen Geschäftsbetrieb, und dementsprechend sind die Verluste aus den kompensatorischen Sicherungsgeschäften Aufwand, um den Veräußerungsgewinn zu erzielen.“ Damit sind die Aufwendungen aus dem Sicherungsgeschäft (was auch für Aufwendungen aus einem Währungssicherungsgeschäft gelten sollte) im Ergebnis nicht (bzw. zu 95 % nicht) steuerlich abzugsfähig.

47 Vgl. BFH v 9.4.2014 – I R 52/12, BStBl. II 2014, 861 (Auslassungen etc. im Zitat nicht gekennzeichnet).

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Die Frage nach dem Einbezug von Erträgen aus einem Währungssicherungsgeschäft in den nach § 8b Abs. 2 Satz 1 u. 2 KStG freizustellenden Veräußerungsgewinn ist dagegen die wie erwähnt für das Revisionsverfahren I R 20/16 formulierte Rechtsfrage, die das FG Berlin-Brandenburg als Vorinstanz48 selbst im Fall einer Bewertungseinheit i.S. des § 5 Abs. 1a EStG verneint hat. Im Kern argumentiert das Finanzgericht im Einklang mit der Auffassung der Finanzverwaltung49, dass Bewertungseinheiten nur für die steuerliche Gewinnermittlung, nicht aber für die Einkommensermittlung maßgeblich seien. „Bewertungseinheiten sind zwar für die steuerliche Gewinnermittlung, nicht aber für die Einkommensermittlung maßgeblich. § 8b Abs. 2 KStG kommt die Funktion zu, für die Ermittlung des steuerpflichtigen Einkommens bestimmte Korrekturen an dem vom Körperschaftsteuerpflichtigen erzielten Gewinn vorzunehmen, indem die Vorschrift bestimmte Teile des Gewinns vom steuerpflichtigen Einkommen ausnimmt. Welche Teile des Gewinns dies betrifft, entscheidet sich indes allein nach § 8b KStG, nicht aber nach § 254 HGB in Verbindung mit § 5 Abs. 1a EStG.“50 Im Ergebnis wären dann die Erträge aus dem Sicherungsgeschäft voll steuerpflichtig. Eine Regelungssymmetrie mit dem Fall der Aufwendungen aus dem Sicherungsgeschäft sei, so das FG Brandenburg nicht geboten (was indessen unionsrechtliche Fragen aufwerfen könnte, die das FG nicht thematisiert hat). Der BFH hat diese Frage indes noch nicht entschieden. Im Urteil vom 6.3.201351, nach dem eine vereinnahmte Stillhalterprämie aus einem Optionsgeschäft, das als Sicherungsgeschäft mit Anteilen zu einer Bewertungseinheit zusammengefasst war, bei Ausübung der Option und Veräußerung der Anteile nicht unter die Steuerfreistellung fällt, war diese Frage nicht entscheidungserheblich. Der BFH hat die Anwendung des § 8b Abs. 2 KStG vielmehr verneint, weil die Einräumung von Optionsrechten keine Veräußerung von Anteilen darstellt. Das FG beschäftigt sich überdies nur mit dem Begriff des Veräußerungspreises, nicht dagegen mit dem Begriff des Buchwerts. Der Buchwert der Anteile ist aber ebenfalls Bestandteil des Veräußerungsgewinns i.S.d. § 8b Abs. 2 Satz 2 KStG. Der Gesetzeswortlaut ist insoweit eindeutig. Und: Im Fall einer Bewertungseinheit wird nach den in § 5 Abs. 1a EStG zum Ausdruck kommenden Vorschriften über die steuerliche Gewinnermittlung im Zeitpunkt der Veräußerung der Buchwert unter bestimmten Voraussetzungen bei Anwendung der sog. „Einfrierungsmethode“ erfolgsneutral durch das Ergebnis des Sicherungsgeschäfts gemindert52. Dies führt bei zutreffender Betrachtung zur Berücksichtigung der Erträge aus einem Währungssicherungsgeschäft bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns i.S. des § 8b Abs. 2 Satz 1 u. 2 KStG53. Aufwendungen und Erträge aus Wäh48 FG Brandenburg v. 10.2.2016 – 11 K 12212/13, EFG 2016, 1629. 49 Vgl. BMF v. 25.8.2010, DB 2010, 2024. 50 FG Brandenburg, a.a.O. (Auslassungen etc. im Zitat nicht gekennzeichnet). 51 BFH v. 6.3.2013 – I R 18/12, BStBl. II 2013, 588. 52 IDW RS HFA 35, FN-IDW 2011, 445, Rz. 86 f. 53 Dann könnte es auch dahingestellt bleiben, dass das FG Brandenburg meint, die Erträge seien auch keine negativen Veräußerungskosten i.S.d. § 8b Abs. 2 Satz 2 KStG.

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rungssicherungsgeschäften im Zusammenhang mit Kapitalgesellschaftsbeteiligungen würden symmetrisch behandelt.

VI. Verluste in der Hinzurechnungsbesteuerung Der Hinzurechnungsbetrag gehört nach § 10 Abs. 2 Satz 1 AStG zu den Einkünften im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Er ist ggf. auch Teil der gewerblichen Einkünfte (§ 10 Abs. 2 Satz 2 AStG; § 7 Satz 7 ff. GewStG). Der Hinzurechnungsbetrag ist eine Art Einkünfteerhöhungsbetrag und kann durch Verlustausgleich mit anderen Einkünften verrechnet werden. Die passiven Einkünfte im Sinne des AStG können aber auch negativ sein. Diese sind nicht Gegenstand der Zurechnung und in Deutschland verrechenbar, sondern führen zu einem „Verlustvortrag“ negativer passiver Einkünfte (§ 10 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 3 Satz 5 und 6 AStG), soweit sie nicht schon mit positiven passiven Einkünften saldierbar sind54. Eine solche Saldierung kann auch unter Einbezug des § 14 AStG möglich sein55, nicht dagegen bei Beteiligung des Steuerinländers an mehreren ausländischen Zwischengesellschaften56. Das scheint vergleichsweise unstreitig zu sein. Fraglich ist dagegen, ob § 20 Abs. 2 AStG auch (vorbehaltlich § 2a EStG) zur Verlustberücksichtigung führen kann. Wegen § 7 Satz 8 f. GewStG wäre das dann auch gewerbesteuerlich der Fall57. Der Wortlaut des § 20 Abs. 2 Satz 1 AStG (und des daran anknüpfenden § 7 Satz 8 GewStG) spricht eher dagegen, die Symmetrie-Logik eher dafür. Der BFH hat sich dazu bisher noch nicht geäußert. Im Rahmen der Hinzurechnungsbesteuerung stellt sich schließlich auch noch die praktisch relevante Frage, wie sich Verlustverrechnungen nach ausländischem Steuerrecht auf die Frage nach der Niedrigbesteuerung der passiven Einkünfte auswirken58. Nach dem Gesetz führt eine Minderung der Steuerbelastung aufgrund eines 54 BMF v. 14.5.2004, BStBl. I 2004, Sondernummer 1, Tz. 10.3.5.1. Nach § 8 Abs. 1 Nr. 9 AStG ist eine Verrechnung von Veräußerungsverlusten mit positiven passiven Erträgen nur dann möglich, wenn der Steuerpflichtige nachweist, dass sie auf Wirtschaftsgüter zurückzuführen sind, die Tätigkeiten mit Kapitalanlagecharakter dienen (BMF v. 14.5.2004, BStBl.  I 2004, Sondernummer 1, Tz. 8.1.9.). 55 Die Zurechnung nach § 14 AStG geht der Hinzurechnung logisch voran. Der Hinzurechnungsbetrag der ausländischen (Ober-)Gesellschaft enthält somit auch diese Einkünfte. Die Zurechnung der passiven Einkünfte der Untergesellschaft kann auch einen negativen Betrag umfassen (BFH v. 20.4.1988 – I R 41/82, BStBl. II 1988, 868; v. 28.9.1988 – I R 91/87, BStBl.  II 1989, 13). Auch die umgekehrte Verrechnungssituation ist vorstellbar; BMF v. 14.5.2004, BStBl. I 2004, Sondernummer 1, Tz. 14.1.6. und 14.1.7. 56 BMF v. 14.5.2004, BStBl. I 2004, Sondernummer 1, Tz. 10.1.1.3. 57 Die Einkünfte sollen danach für gewerbesteuerliche Zwecke als in einer inländischen Betriebsstätte des Steuerpflichtigen erzielt gelten. Diese Fiktion gilt unabhängig davon, ob die Betriebsstätte in einem Staat liegt, mit dem ein DBA abgeschlossen ist oder nicht, oder das DBA die Anrechnungsmethode statt der Freistellungsmethode anordnet. 58 Nach § 8 Abs. 3 AStG liegt eine niedrige Besteuerung vor, wenn die in Frage stehenden Einkünfte der ausländischen Gesellschaft einer Be­lastung mit Ertragsteuern von weniger

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Verlustausgleichs mit anderen Einkünften oder eines Verlustvortrags nicht zu einer niedrigen Besteuerung (§ 8 Abs. 3 Satz 1 AStG bezeichnet eine Niedrigbesteuerung als unschädlich, die auf einem Ausgleich mit Einkünften aus anderen Quellen beruht)59. Die Einzelheiten sind allerdings ungeklärt, insbes.: Geht es dabei nur um die Verrechnung von Gewinnen aus passiven Einkunftsquellen mit Verlusten aus aktiven oder auch aus passiven Einkunftsquellen? Ist die Verlustverrechnung nur niedrigbesteuerungsunschädlich, wenn sie auch nach deutschem Recht möglich wäre? Wirkt sich bspw. aus, wenn nach ausländischem Steuerrecht kein § 8b Abs. 3 Satz 3 KStG oder kein § 8c KStG60 oder kein § 10d EStG gegeben ist? Zu diesen und vielen vergleichbaren, praktisch aber wichtigen Fragen hat sich der BFH bisher nicht geäußert. Er hat nur zum Ausdruck gebracht, dass auch Steuervergünstigungen in ansonsten hoch besteuernden Ländern zu einer niedrigen Besteuerung i.S.d. § 8 Abs. 3 AStG führen können61. Mit Umsetzung der ATAD I62 wird die Hinzurechnungsbesteuerung in Deutschland vermutlich ein deutlich größeres Gewicht als bisher bekommen. Dann wird auch der BFH häufiger als bisher die Gelegenheit haben, praktisch wichtige Einzelfragen der Verlustverrechnung in diesem Zusammenhang zu klären.

VII. Resümee Schon der Reichsfinanzhof hat mit seinen Entscheidungen zur sog. Symmetriethese maßgeblich die steuerrechtliche Behandlung von Verlusten im grenzüberschreitenden Sachverhalt geprägt. Der Bundesfinanzhof hat dies mit der bisherigen Aufrechterhaltung der Symmetriethese sowie einer Vielzahl von Entscheidungen z.B. zu finalen Verlusten, zu Anti-Double-Dip-Regelungen, zu Währungsverlusten und zu Verlusten im AStG weitergeführt. Er wird auch in der nächsten Zeit vielfältig Gelegenheit haben, die schlüssige und  – möglichst zufriedenstellende  – Beantwortung der insoweit für die Praxis wesentlichen Rechtsfragen weiterzuentwickeln. Dafür wünscht der Verfasser den beteiligten Richterinnen und Richtern des Bundesfinanzhofs stets eine glückliche Hand.

als 25 % unterliegen. Die Prüfung der niedrigen Besteuerung erfolgt nicht allein anhand des ausländischen Steuersatzes, sondern anhand einer Berechnung der tatsächlichen Belastung. Hierbei sind die Einkünfte grundsätzlich nach den Regelungen des deutschen Steuerrechts zu ermitteln. 59 BMF v. 14.5.2004. BStBl. I 2004, Sondernummer 1, Tz. 8.3.2.5. 60 S. dazu SenFin Berlin v. 6.1.2016, IStR 2016, 308, einerseits, und BMF v. 14.5.2004. BStBl. I 2004, Sondernummer 1, Tz. 10.3.5.3., andererseits. 61 BFH v. 20.4.1988 – I R 197/84, BStBl. II 1988, 983. 62 Amtsblatt der Europäischen Union v. 19.7.2016, L 193/1.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … D. II. 9.

Grenzüberschreitender Steuervollzug – nationale Sicht Von Thomas Eisgruber und Eva Oertel

Inhaltsübersicht I. Theorie und Tatsachen II. Grenzüberschreitende Sachverhaltsermittlung durch die Finanzverwaltung 1. Weltweite Amtsermittlungspflicht 2. Möglichkeiten der weltweiten Ermittlung a) Facetten der Amtshilfe b) Anonymer Datenaustausch und persönliche Entsendung in andere Staaten c) Amtshilfeverpflichtung und nationale Ermittlungsgrundlagen

3. Auslandssachverhalte in der Betriebsprüfung – Aktuelle Situation a) Rechtsgrundlagen für Joint Tax Audits b) Praxisschwierigkeiten von Joint Tax Audits c) Weitere wünschenswerte Entwick­ lungen für Joint Tax Audits 4. Auslandssachverhalte in der Gerichtsbarkeit III. Gewissheiten und Weisheiten

I. Theorie und Tatsachen „Tatsachen sind die Schwachstellen der Theorie“1 lehren die Naturwissenschaften. Diese Erkenntnis könnte gleichsam aus der Steuerwissenschaft hervorgegangen sein, da sich angewandtes Steuerrecht, ebenso wie viele naturwissenschaftliche Bereiche, am Ende aller Überlegungen jeweils in einer einzig richtigen Zahl manifestiert. Jene magische Zahl, die den spezifischen Betrag der festgesetzten Steuer ausmacht, kann nur unter der Bedingung zutreffend berechnet werden, dass alle relevanten Tatsachen bekannt sind, an die ein Steuergesetz eine Rechtsfolge knüpft. Die Kenntnis aller Fakten des Einzelfalls ist für die Rechtsanwender  – und hier soll bewusst nicht nur die Finanzverwaltung genannt sein – conditio sine qua non für die Tatbestandsmäßigkeit der Steuerberechnung. Auf Basis eines theoretisch anzunehmenden Sachverhalts kann zwar eine rechtlich richtige Subsumtion, aber keine zutreffende Berechnung der gesetzlich geschuldeten Steuer erfolgen. Den „Schwachstellen der Theorie“ begegnen Rechtsanwender freilich bereits in rein nationalen Fällen, haben diese Fälle jedoch zusätzlich internationale Bezüge, so potenzieren sich die Heraus1 Helmar Nahr, Mathematiker und Unternehmer, 1931–1990.

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forderungen, alle Fakten zutreffend zusammenzutragen. Da bei Auslandssachverhalten die Möglichkeiten zur Aufklärung durch die nationalen Steuerbehörden gering sind, verbleibt es häufig bei theoretischen Annahmen darüber, welche Ereignisse im Ausland vorgefallen sind und welche Tatbestände verwirklicht wurden. Der folgende Beitrag beschäftigt sich spezifisch mit dem grenzüberschreitenden Steuervollzug. Er geht nicht nur auf die bestehenden Rechtsinstitute zur Aufklärung ein, sondern auch auf die bestehenden Schwachstellen. Dabei versucht er die Rolle der deutschen Gerichtsbarkeit im Blick zu behalten und fragt, wo das Steuerprozessrecht im Vergleich zum Steuerverwaltungsrecht derzeit steht.

II. Grenzüberschreitende Sachverhaltsermittlung durch die ­Finanzverwaltung 1. Weltweite Amtsermittlungspflicht § 88 AO verpflichtet die Finanzverwaltung, die tatsächlichen Grundlagen für die Besteuerung von Amts wegen zu ermitteln. Er ist die Nachfolgevorschrift zu § 204 RAO 1919. Nach Enno Becker kommt dem Amtsermittlungsgrundsatz eine hohe rechtsstaatliche Bedeutung zu, weil er sicherstellt, dass „nicht weniger, aber auch nicht mehr“ als die zutreffende Steuerschuld vereinnahmt wird2. Söhn hat darauf aufbauend herausgearbeitet, dass der Rechtsstaat es nicht der „Willkür der Beteiligten überlassen“ darf, welcher Sachverhalt die Grundlage für die Besteuerung bildet3. Seer bringt es schließlich damit auf den Punkt, dass der Untersuchungsgrundsatz dem „öffentlichen Interesse an der Feststellung des wahren Sachverhalts Rechnung“ trägt, denn eine von den Parteien abhängige Sachaufklärung würde die Gesetzmäßigkeit und vor allem die Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht gewährleisten können4. Dies vorausgeschickt, wird sofort eine Friktion zwischen dem deutschen Verfahrensrecht und dem Ziel und Umfang der deutschen Ertragsbesteuerung sichtbar. Während das Einkommen- und Körperschaftsteuergesetz auf die Besteuerung des Welteinkommens zielen, bleibt die Abgabenordnung in ihrer Reichweite auf das deutsche Hoheitsgebiet beschränkt. Die Abgabenordnung enthält derzeit 458 Paragrafen5, geht aber nur an einer einzigen Stelle bzw. in einem einzigen Absatz, nämlich in §  117 Abs. 4 AO, auf Sachverhaltsermittlungen außerhalb des Hoheitsgebiets ein. Zwar beziehen sich auch andere Paragrafen auf ausländische Gegebenheiten6, jedoch enthalten diese keine Rechtsgrundlage dafür, dass die deutsche Finanzverwaltung im Aus2 Becker, Reichsabgabenordnung – Erläuterte Handausgabe, 1921, § 204 Rz. 1. 3 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 88 AO Rz. 8. 4 Seer in Tipke/Kruse, § 88 AO Rz. 1 m.w.N. 5 Einberechnet sind die geltenden 43 sog. „a-b-c-Paragrafen“. 6 Hervorzuheben sind hier §  2 Abs.  1 AO (der den Vorrang völkerrechtlicher Vorschriften bestätigt), § 2 Abs. 2 AO (der eine Ermächtigungsnorm für die Umsetzung von Konsultationsvorschriften in einer Verordnung enthält), die §§ 117a–117c AO (welche die Übermittlung von Daten ins Ausland regeln und ansonsten lediglich die Nutzung bereits erhaltener Daten einschränken) sowie § 146 Abs. 2a AO (der es unter bestimmten Voraussetzungen zulässt, dass Buchhaltungsunterlagen im Ausland aufbewahrt werden).

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land tätig werden darf. Anstatt die Befugnisse der Verwaltung zur Ermittlung im Ausland zu regeln, bedient sich die AO eines Maßnahmenkatalogs7, der vorrangig an den Steuerpflichtigen adressiert ist: § 90 Abs. 2 und 3 AO überträgt die Pflicht den Sachverhalt aufzuklären und die erforderlichen Beweismittel zu beschaffen auf die Beteiligten8, § 162 Abs. 2 bis 4 erweitert die Schätzungsbefugnis bei mangelnder „internationaler“ Mitwirkung. Die Schätzung ist allerdings gerade kein Mittel der Erkenntnisgewinnung. Dabei sollte es der reinen Lehre nach unerheblich sein, ob die steuerrechtlich relevanten Tatsachen im Inland oder im Ausland verwirklicht wurden. Koch betonte bereits 1979, dass die Sachverhaltsermittlung in internationalen und nationalen Steuerfällen grundsätzlich nicht unterschiedlich intensiv sein darf9. Söhn baut hierauf auf, wenn er ausführt, dass die Bekämpfung der internationalen Steuerflucht und Steuerhinterziehung „nur ein – wichtiger – Anlass für zwischenstaatliche Kooperation in Steuersachen“ ist, gleichwohl letztlich die „volle Aufklärung internationaler Vorgänge immer eine richtige und gleichmäßige Besteuerung sichern“ soll10. Der rechtsstaatliche Auftrag zur Ermittlung von Amts wegen endet auch nicht an der Staatsgrenze. Allein die Tatsache, dass die Abgabenordnung dafür kaum Instrumente dafür zur Verfügung stellt, beschränkt die Reichweite des staatlichen Ermittlungsauftrags nicht, er stößt aber auf die territorialen Grenzen der Staatsgewalt11. Nach allgemein anerkanntem Völkergewohnheitsrecht dürfen die Finanzbehörden außerhalb ihres nationalen Territoriums keine hoheitsrechtlichen Befugnisse wahrnehmen12. Der BFH hat dieses Ergebnis bereits in einer Entscheidung aus dem Jahr 1979 kritisiert und ausgeführt: „Bei steuerlichen Auslandsbeziehungen bleiben daher ihre Möglichkeiten hinter ihrem Auftrag zurück, für die zutreffende Besteuerung zu sorgen. Sich damit abzufinden, hieße Einnahmeausfälle, Besteuerungsungleichheit, mangelnde Steuergerechtigkeit und Wettbewerbsverzerrungen in Kauf nehmen. Es besteht daher ein erhebliches Interesse daran, die Ermittlungsmöglichkeiten der Finanzbehörden bei grenzüberschreitenden Sachverhalten auf das Ausland auszudehnen, zumal die internationale Verflechtung zunimmt.  (…) Diesem Interesse kann im Wesentlichen nur durch Abschluss internationaler Abkommen über eine Zusammenarbeit der Finanzbehörden entsprochen werden13.“

7 Neben den sogleich erwähnten Vorschriften wären auch noch § 138 Abs. 2 und 3 AO (besondere Anzeigepflichten), § 146 Abs. 2 AO (besondere Buchführungsvorschriften) oder § 123 AO (Bestellung eines inländischen Empfangsbevollmächtigten) zu nennen. 8 Die Vorschriften der AO werden ergänzt durch verfahrensrechtliche Bestimmungen in §§ 16, 17 AStG. 9 Koch, DStZ 1979, 4 (5 f.) der sich bereits damals intensiv mit den Vor- und Nachteilen der internationalen Amtshilfe auseinandersetzte. 10 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 117 AO Rz. 2. 11 Staringer in DStjG Band 31 (2008), S. 136. 12 Statt aller: Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 101 f. und 342 f. m.w.N. 13 BFH v. 20.2.1979 – VII R 16/78, BStBl. II 1979, 268 Rz. 34.

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Bei Lektüre der BFH-Entscheidung überrascht heute nicht ihr Inhalt, sondern der Umstand, dass in den letzten 30 Jahren dieser Ansatz nicht weiter aufgegriffen wurde. In einer Zeit, in der relevante grenzüberschreitende Beziehungen nahezu ausschließlich von Unternehmen unterhalten wurden, die im Inland einer Anschlussprüfung durch die Außenprüfungsdienste unterlagen, fand man sich damit ab, dass für die Ermittlung einer materiell-rechtlich komplexen Materie nur schriftliche Anfragen über einen aufwändigen Dienstweg zur Verfügung standen. Die Handlungsweisen der Finanzverwaltung waren geprägt von einer rigorosen Anwendung der §§ 90 Abs. 2 und 160 AO. Die Feststellung, dass Zahlungsempfänger eine sogenannte Domizilgesellschaft war, gehörte bereits zu den präziseren Feststellungen. Über § 90 Abs. 2 AO rechtfertigte man die Annahme nicht erklärter Zinseinnahmen (inklusive Zinseszinsen), wenn ein Abfluss eines Geldbetrages ins Ausland nachgewiesen werden konnte, dessen Verwendung ungeklärt blieb. Den Beweis für die Annahme, dass nicht nur die deutsche Finanzverwaltung aufgrund der zunehmenden Globalisierung mit den Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung unzufrieden war, liefert der Joint Audit Report der OECD aus dem Jahr 201014. Mit ihm signalisierte die OECD, dass für die Ermittlung grenzüberschreitender Sachverhalte die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der nationalen Außenprüfungsdienste das geeignete Mittel sein sollte. Der Joint Audit Report15 enthielt aber keine Anregungen für entsprechende verfahrensrechtliche Regelungen, sondern konzentrierte sich auf die Darstellung eines organisatorischen Verfahrens. Als mögliche Rechtsgrundlagen wurden dargestellt: –– Art. 26 der OECD-MA, –– Tax Information Exchange Agreements (TIEA), ohne spezifische Normen daraus zu nennen, –– die Convention on Mutual Administrative Assistance in Tax Matters (Convention on Mutual Administrative Assistance)16, –– die European Union Mutual Assistance Directive17 und –– Nordic Convention on Mutual Administrative Assistance in Tax Matters18.

14 Sixth Meeting of the OECD Forum on Tax Administration, Istanbul 15.–16. September 2010 – Joint Audit Report, im Internet abrufbar unter http://www.oecd.org/tax/administ​ ration/45988932.pdf. 15 Sowie der Joint Audit Participants Guide, der ebenfalls vom Sixth Meeting of the OECD Forum on Tax Administration, Istanbul 15.-16. September 2010 stammt; im Internet abrufbar unter https://www.oecd.org/ctp/administration/45988962.pdf. 16 OECD & Council of Europe (2008) The Convention on Mutual Administrative Assistance in Tax Matters 20th Anniversary Edition, OECD Paris. 17 Council Directive 77/799/EEC of December 19th, 1977 (Mutual Assistance Directive), ABl. EU L 336 v. 17.12.1977. 18 The Nordic Assistance Convention of 7 December 1989 between Finland, Iceland, Norway, Sweden, Denmark, the Faroe Islands and Greenland.

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Der Bedarf für spezifische Verfahrensregeln wurde entweder nicht gesehen oder als nicht umsetzbar bewertet und deshalb gar nicht erst angesprochen. 2. Möglichkeiten der weltweiten Ermittlung Um die – auch vom BFH – bemängelte Divergenz zwischen „materieller Universa­ lität und formeller Territorialität“19 abzumildern, wurden auf internationaler Ebene zahlreiche Amtshilfevereinbarungen abgeschlossen. Die für Deutschland relevanten Rechtsgrundlagen resultieren aus bilateralen Verhandlungen20, aus dem europäischen Gemeinschaftsrecht21 und aus Arbeiten der OECD22. a) Facetten der Amtshilfe Die Berechtigungen und Verpflichtungen aus den zwischenstaatlichen Amtshilfevereinbarungen lassen sich in drei große Kategorien einteilen: –– Verpflichtender automatischer Informationsaustausch: Für bestimmte Fälle ist eine Informationsbereitstellung bzw. die automatische Übermittlung von Informationen zwingend vorgeschrieben, ohne dass es besonderer Anforderungen durch einen Staat oder sonstiger Anlässe bedarf. In diesem Fall erfolgt der Austausch in der Regel elektronisch, eventuell auch schriftlich durch Übersendung von Dokumenten. 19 Hendricks in Wassermeyer, Vor Art. 1 OECD-MA Rz. 1. 20 Hierzu werden einerseits die geltenden Doppelbesteuerungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit anderen Staaten gerechnet, die regelmäßig Regelungen nach dem Muster von Art. 26 OECD-MA enthalten; umfasst sind aber auch sonstige Staatsverträge, wie etwa der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Rechtsschutz und Rechtshilfe in Abgabensachen, BGBl. 1955 II S. 926, BStBl. 1955 I S.  743 oder das Gesetz zu dem Abkommen v. 31.5.2013 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Förderung der Steuerehrlichkeit bei internationalen Sachverhalten und hinsichtlich der als Gesetz über die Steuerehrlichkeit bezüglich Auslandskonten bekannten US-amerikanischen Informations- und Meldebestimmungen (FATCA), BGBl. 2013 II, 1362. 21 Richtlinie 2011/16/EU v. 15.2.2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG, ABl. EU L 64 v. 11.3.2011, 1 (zuletzt ergänzt und geändert durch RL 2016/2258/EU v. 6.12.2016, ABl. EU L 342 v. 16.12.2016, 1); Verordnung (EU) Nr. 904/201 des Rates v. 7.10.2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, ABl. EU L 268 v. 12.10.2010, 1 (zuletzt geändert und ergänzt durch die Verordnung (EU) Nr. 517/2013 des Rates v. 13.5.2013, ABl. EU L 158 v. 10.6.2013, 1); Verordnung (EU) Nr. 389/2012 des Rates v. 2.5.2012 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Verbrauchsteuern, ABl. EU L 121 v. 8.5.2012, 1 (zuletzt geändert und ergänzt durch die Verordnung (EU) Nr.  517/2013 des Rates v. 13.5.2013, ABl. EU L 158 v. 10.6.2013, 1). 22 Übereinkommen v. 25.1.1988 über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen, in Deutschland umgesetzt durch das Gesetz zu dem Übereinkommen v. 25.1.1988 über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen und zu dem Protokoll v. 27.5.2010 zur Änderung des Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen, BGBl. 2015 II, 966.

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–– Informationsaustausch auf Ersuchen: Amtshilfe ist auf Ersuchen eines Staates zu leisten, wenn davon auszugehen ist, dass die ersuchte Information für den Empfänger voraussichtlich von Bedeutung ist. Ausländische Ersuchen werden in der Regel schriftlich beantwortet. Sofern in den zwischenstaatlichen Vereinbarungen keine besonderen Absprachen bezüglich der Übermittlungsform enthalten ist, können die Fragen gleichwohl auch telefonisch bzw. durch Videokonferenz oder durch Entsendung von Beamten im persönlichen Gespräch vor Ort geklärt werden. Eine zwingende Formvorschrift findet sich in den Vereinbarungen nicht. –– Spontaner Informationsaustausch: Informationen können auch ohne ein Ersuchen aus eigener Initiative eines Staates an einen anderen Staat übermittelt werden, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass die Information im anderen Staat voraussichtlich von Bedeutung ist. Die Übermittlung von Spontanauskünften erfolgt ebenfalls in der Regel schriftlich bzw. durch Übersendung von Dokumenten, kann aber wiederum auch mündlich vorgenommen werden. b) Anonymer Datenaustausch und persönliche Entsendung in andere Staaten Der grenzüberschreitende Informationsaustausch hat in den letzten Jahren massiv an Bedeutung gewonnen23. Dies ist vor allem auf eine erhebliche Erweiterung des automatischen Informationsaustauschs zurückzuführen, der im Zuge des BEPS-Projekts weltweit in kaum vorhersehbarerer Weise ausgebaut wurde24. Während zu beobachten ist, dass Steuerdaten und steuerrechtlich bedeutsame Informationen automatisch und anonym über alle Staatsgrenzen versendet werden, erscheint es fast verwunderlich, dass Behördenvertreter und Steuerbeamte selbst in ihren nationalen Einheiten verbleiben. Auslandsentsendungen von Beamten zur persönlichen Ermittlung vor Ort finden jedenfalls nicht flächendeckend statt. Dabei liegt es auf der Hand, dass komplexe Fragen des Internationalen Steuerrechts – etwa in Bezug auf die Verrechnungspreisgestaltung, Betriebsstättensachverhalte oder Umstrukturierungen  – nur durch umfassende Einarbeitung, Prüfung und Besprechung mit allen Beteiligten im In- und Ausland zuverlässig nachvollzogen und beurteilt werden können. „Der Informationsaustausch mit ausländischen Behörden wird effektiver gestaltet und deren Sachkunde nutzbar gemacht. Die Anwesenheit von Bediensteten eines anderen Mitgliedstaates unterstützt die inländischen Finanzbehörden bei der Bearbeitung eines Informationsersuchens25.“ Um der Frage nachzugehen, weshalb die Möglichkeiten der unmittelbaren Zusammenarbeit noch so selten genutzt werden, sollte der Blick zunächst auf die Voraussetzungen gerichtet werden, unter denen eine Kooperation zustande kommen kann. Die zentralen Bestimmungen findet der deutsche Rechtsanwender in Art.  9 des

23 Einen Einblick in die Statistik gewährt Engelschalk in Vogel/Lehner, 6. Aufl. 2015, Art. 26 OECD-MA Rz. 7. 24 Einen Überblick über den aktuellen Stand der BEPS-Umsetzungsarbeiten liefern Fehling/ Kempermann, IStR 2017, 638. 25 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 117 AO Rz. 282a.

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Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen26 (nachfolgend AHÜ) und §§ 10 und 11 EUAHiG27. Die Normen haben einen ähnlichen Regelungsgehalt, was sich daraus erklärt, dass die EU-Richtlinie auf die Vorarbeiten durch die OECD zurückgegriffen hat. Hervorzuheben ist, dass Art. 9 des AHÜ nur die Entsendung von Beamten zur Teilnahme an Steuerprüfungen einer ausländischen Administration ermöglicht, während die §§  10 und 11 EUAHiG ganz allgemein gestatten, dass Beamte zum Zweck des Informationsaustauschs in andere Mitgliedstaaten entsandt werden dürfen. Voraussetzung ist im EUAHiG lediglich, dass ein Anlass für einen Informationsaustausch besteht, also entweder ein ausländisches Ersuchen beantwortet werden soll (§  4 EUAHiG), einem eigenen Ersuchen nachgegangen (§  6 EUAHiG) wird oder ein Austausch von Spontanauskünften (§ 8 EUAHiG) bewirkt werden soll. §§ 10 und 11 EUAHiG stellen mit anderen Worten nur ein besonderes Vehikel für die Art der Informationsübertragung dar, regeln aber nicht den Anlass für den Informationsaustausch. c) Amtshilfeverpflichtung und nationale Ermittlungsgrundlagen Die neueren Entwicklungen heben ein bisher nur wenig beachtetes Problem hervor: Darf die Verwaltung für einen anderen Staat Daten ermitteln, die für eigene Zwecke gar nicht ermittelt würden dürften, da sie für das deutsche Steuerrecht nicht erheblich sind? Das betrifft die Auslegung des EUAHiG. Nach dessen §  4 Abs.  1 Satz  4 muss das deutsche Finanzamt alle „nach der Abgabenordnung vorgesehenen behördlichen Ermittlungen“ durchführen, wenn sie nicht über die von der ausländischen Administration ersuchten Informationen verfügt. Insbesondere in Zusammenhang mit §  4 Abs.  6 EUAHiG, nach dem ein Ersuchen nicht aus dem Grund abgelehnt werden kann, weil die zu übermittelnden Informationen nach deutschem Recht nicht für steuerliche Zwecke benötigt werden, könnte sich die Folgerung ergeben, dass sich der Prüfumfang bei Amtshilfeersuchen erweitert. Absatz  6 betrifft aber nur die Übermittlung, nicht die Ermittlung der Daten, und Absatz 1 Satz 4 schränkt zugleich die Ermittlungen auf die nach der Abgabenordnung vorgesehenen Ermittlungen ein. Diese umfassen nur solche, die für deutsche Besteuerungszwecke notwendig sind. Die Frage wird durch die noch sehr neue Vorschrift des § 117c Abs. 3 AO angefacht. Darin wird dem Bundeszentralamt für Steuern das Recht eingeräumt, Verhältnisse, die für die Erfüllung der Verpflichtungen aus innerstaatlich anwendbaren völkerrechtlichen Vereinbarungen von Bedeutung sind oder der Aufklärung bedürfen, auch mit Mitteln der Außenprüfung zu prüfen, wenn die Daten direkt an das Bundeszentralamt zu übersenden wären. Da die Vorschrift zwar in Zusammenhang mit FATCA eingeführt wurde, aber für alle völkerrechtlich verpflichtenden Vereinbarun26 Abgeleitet aus dem Übereinkommen v. 25.1.1988 über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen, vgl. BGBl. II 2015, 966. 27 Abgeleitet aus Art.  11 der Richtlinie 2011/16/EU v. 15.2.2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (vgl. Fn. 11).

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gen gilt, könnte sie entweder dahingehend ausgelegt werden, dass es eine solche Ermittlungsmöglichkeit nur in diesen Fällen gibt28, oder dass es sich nur um eine Zuständigkeitsvorschrift handelt29, die eine bereits generell bestehende Möglichkeit für diese Fälle dem Bundeszentralamt für Steuern zuweist. Im aktuellen Umfeld ist der letzteren Auffassung der Vorzug zu geben. Das stünde auch im Einklang mit §  2 Abs. 1 AO, der bestimmt, dass völkerrechtliche Verträge, soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind, den Steuergesetzen vorgehen. Soweit aber in Doppelbesteuerungsabkommen ein Auskunftsaustausch etwa nach Art. 26 OECD-MA vereinbart wurde und dabei klar ist, dass der andere Staat Informationen über seine Tatbestandsvoraussetzungen begehrt, ist die Anwendung des nationalen Verfahrensrechts für die Ermittlungsmöglichkeiten, nicht für das Ermittlungsziel maßgeblich. 3. Auslandssachverhalte in der Betriebsprüfung – Aktuelle Situation „Joint Tax Audits  – Gemeinsame Außenprüfungen  – Koordinierte Außenprüfungen“30 entwickeln sich derzeit zu einem neuen Trend im Bereich des grenzüberschreitenden Steuervollzugs. Die Globalisierung hat damit den Kern der Verfahrensrechte erreicht31. Außenprüfungen sind in unterschiedlicher Ausgestaltung und Intensität in allen bedeutenden Jurisdiktionen der Welt vorgesehen32. Sie werden regelmäßig unilateral durchgeführt. Zwar bestand bereits vor Jahrzehnten die Möglichkeit, Außenprüfungen aufeinander abzustimmen und Ergebnisse über die Grenze auszutauschen, allerdings wurde das Instrument der „Simultanbetriebsprüfung“ nur ganz vereinzelt ­genutzt. Der älteste bekannte Fall mit deutscher Beteiligung datiert aus dem Jahr

28 In diesem Sinne möglicherweise Heidner in Hübschmann/Hepp/Spitaler, §  177c AO Rz. 13, für den § 117c Abs. 3 AO keine Prüfung direkt beim Steuerpflichtigen ermöglicht, ohne andere Rechtsgrundlagen für eine solche Prüfung in Erwägung zu ziehen. 29 In diese Richtung König in Zöllner, § 117c AO Rz. 4 „unnötige Förmelei“. 30 Der Begriff „Joint Tax Audit“ wird vom Joint Audit Report der OECD (FN 14) geprägt. Er wird international einerseits sehr spezifisch im Sinne der Definition der OECD verwendet, ist aber an anderen Stellen auch die allgemeine Sammelbezeichnung für internationale Betriebsprüfungsaktivitäten. Eine Legaldefinition existiert derzeit weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene. Das BMF verwendet in seinem Merkblatt über koordinierte steuerliche Außenprüfungen mit Steuerverwaltungen anderer Staaten und Gebiete vom 6.1.2017 – IV B 6 S 1315/16/10016:002 – DOK 2016/0996151, BStBl. 2017, 89, den Begriff „koordinierte steuerliche Außenprüfung“ als Oberbegriff und bezeichnet „Gemeinsame Außenprüfungen“ als einen Spezialfall. 31 Reimer in Schmidt/Oertel (Hrsg.), International Tax Audit Forum Munich 20.–22. November 2014 (2016), S.  69 (78): „Dieser Durchbruch [des verfahrensrechtlichen Instruments Joint Audits] setzt aber weitere völkerrechtliche, legislatorische und verwaltungsseitige Vorarbeiten voraus.“ 32 Einen Überblick über die OECD-Staaten liefern Spengel/Ortmann-Babel/Matenaer, Ubg 2012, 466.

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196533. Damals nahm ein bayerischer Betriebsprüfer eine abgestimmte Prüfung mit österreichischen Kollegen vor und reiste zur gemeinsamen Ermittlung34 nach Salzburg. Ein weiterer Hinweis auf deutsche Beteiligungen an abgestimmten Außenprüfungen datiert aus dem Jahr 197535. In größerem Umfang sind jedoch erst in den letzten Jahren Aktivitäten zu verzeichnen. Dies ist letztendlich das Ergebnis des ständig steigenden Informationsbedarfs, der rechtlichen Entwicklung infolge der Veröffentlichung des Joint Audit Reports im  Jahr 2010 bzw. im europäischen Raum der EU-Richtlinie RL 2011/16/EU aus dem  Jahr 2011 und deren Umsetzung in nationales Recht36, sowie der durch den BEPS-Prozess beflügelten politischen Bekenntnisse für Steuertransparenz und Fairness. a) Rechtsgrundlagen für Joint Tax Audits Trotz dieser Tendenzen gibt es immer noch keine Rechtsgrundlage, die sich explizit auf die Durchführung von Joint Tax Audits bezieht. Das führt zu wissenschaftlich interessanten Fragestellungen. Fraglich ist bereits, auf Grundlage welchen Verfahrensrechts ein Prüfer im Ausland tätig ist. Es gibt mutige Ansätze, die beschreiben, dass es bereits auf der Grundlage bestehender internationaler Übereinkommen möglich sein könnte, dass ein deutscher Prüfer auf Basis der Abgabenordnung auch im Ausland hoheitlich ermitteln könnte37. Das Problem dieses Lösungswegs ist allerdings, dass es schwer ist, konsistente Rechtsfolgen zu entwickeln, insbesondere – und das ist eigentlich der Regelfall  – wenn inländisches und ausländisches Verfahrensrecht unterschiedliche und nur schwer kompatible Systeme des Rechtsschutzes kennen. Um Joint Tax Audits auf einer verlässlicheren Basis zu verwirklichen, begreift die Verwaltung Joint Tax Audits als eine weitere Form der Amtshilfe. Es werden deshalb verschiedene Amtshilfevorschriften in Kombination38 miteinander angewendet und 33 Eisgruber/Oertel (Hrsg.), International Tax Audit Forum Munich 21.–22. November 2016 (2017), S. 113 ff. und Beilage. 34 Die Entsendung des bayerischen Betriebsprüfers nach Österreich im Jahr 1965 erfolgte auf Grundlage von Art. 3 – 5 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Rechtsschutz und Rechtshilfe in Steuersachen aus dem Jahr 1954. Die Entsendung eines deutschen Beamten nach Österreich ermöglichte Art. 5 Abs. 3 des Abkommens: „Die ersuchende Behörde ist auf ihr Verlangen von der Zeit und dem Ort der auf das Ersuchen vorzunehmenden Handlung zu benachrichtigen. Die Beteiligten sind berechtigt, der Handlung nach den allgemeinen, in dem Gebiet des ersuchten Staates maßgebenden Vorschriften beizuwohnen oder sich dabei vertreten zu lassen.“ 35 Flick, DB 1975, 1727. 36 Harder, „Grenzüberschreitende Betriebsprüfung im Dialog“ in Eisgruber/Oertel (Fn. 33), S. 10 ff. 37 Zu allen denkbaren Konstellationen: Reimer in Schmidt/Oertel (Hrsg.), International Tax Audit Forum Munich 20.–22. November 2014 (2016), S. 69 (72 ff.), Fn. 31. 38 Wie komplex die Darstellung aller Möglichkeiten werden kann, zeigt ein Blick in das „Merkblatt über koordinierte steuerliche Außenprüfungen mit Steuerverwaltungen ande-

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dadurch im Ergebnis zu erreichen, dass die deutschen Prüfer gemeinsam mit ausländischen Kollegen während eines persönlichen Zusammentreffens39 den entscheidenden Fragen nachgehen können. Abhängig von der internationalen Vereinbarung und der nationalen Umsetzung kann dies soweit führen, dass ausländischen Beamten sogar ein aktives Prüfungsrecht eingeräumt wird40. Dann sind sie berechtigt, die Steuerpflichtigen in anderen Staaten direkt zu befragen und Unterlagen unmittelbar einzusehen41. Das ist rechtlich nicht befriedigend und führt zu vielerlei Einzelfragen, die es in den jeweiligen Fällen zu lösen gilt. Andererseits entwickelt sich aber faktisch bzw. bei äußerer Betrachtung hieraus im Ergebnis doch eine klassische Betriebsprüfungssituation, bei der ein ausländischer Beamter im Inland bzw. ein inländischer Beamter im Ausland etwa ein Prüfungsgespräch mit einem Steuerpflichtigen durchführt42. Die Struktur der Joint Tax Audits bleibt indes auch auf dieser Grundlage komplex. Bei rechtlicher Würdigung darf insbesondere ein Umstand nicht übersehen werden, der dem Betrachter in der eben beschriebenen Szene eventuell entgehen könnte: Die Rechtsgrundlagen erfordern bei allen Handlungen eines ausländischen Beamten immer die Anwesenheit eines inländischen Bediensteten. Von diesem werden die Ermittlungsbefugnisse des ausländischen Bediensteten abgeleitet43. Selbst wenn der anwesende inländische Beamte vollständig passiv ist und bei äußerer Betrachtung möglicherweise überflüssig erscheint, ist er rechtlich der Herr des Verfahrens44. Denn er ist das rechtliche Medium für den Auskunftsaustausch zwischen dem inländischen Steuerpflichtigen und der ausländischen Informationsquelle. Ihm werden alle Handlungen zugerechnet45. b) Praxisschwierigkeiten von Joint Tax Audits Auch wenn sich die rechtlichen Voraussetzungen für eine grenzüberschreitende Betriebsprüfung aus einem Baukastenprinzip ergeben, ist die Anzahl der Mitspieler im Ertragsteuerbereich immer noch gering.

rer Staaten und Gebiete v. 6.1.2017 – IV B 6 S 1315/16/10016:002 – DOK 2016/0996151, BStBl. 2017, 89. Dort wird zunächst noch zwischen den speziellen Rechtsgrundlagen für den europäischen Binnenraum und Drittstaaten unterschieden, die getrennte Darstellung sodann jedoch weitgehend aufgegeben. 39 Die wichtigsten Rechtsgrundlagen, welche eine persönliche Entsendung von Beamten gestatten, sind §§ 10, 11 EUAHiG, sowie Regelungen die dem Art. 6 OECD-MAInfAust entsprechen. 40 Hendricks in FS Wassermeyer, 2015, S. 565 (570) bezogen auf Art. 6 OECD-MAInfA; Seer, IWB 2014, 87 (92) bezogen auf § 10 Abs. 3 EUAHiG. 41 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 117 AO Rz. 283a. 42 Eisgruber/Oertel, ISR 2017, 270 (275). 43 Seer, IWB 2014, 87 (92). 44 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 117 AO Rz. 283a. 45 Eisgruber/Oertel, ISR 2017, 270 (275).

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Als Ursachen für die vergleichsweise niedrige Anzahl lassen sich mehrere Umstände identifizieren. Zum einen fehlt es den zuständigen Beamten teilweise (noch) an Kenntnissen darüber, wie Entsendungen initiiert und organisiert werden46. Abhilfe schafft hier wahrscheinlich nur die Zeit. Indem das Institut der Beamtenentsendung  – sei es zur Durchführung kompletter Betriebsprüfungen oder auch nur zur Klärung einzelner Fragen – genutzt wird, baut sich Erfahrung in den Behörden und Institutionen auf. Mit steigender Fallzahl steigen auch die Kenntnisse in den spezifischen Arbeitseinheiten. Des Weiteren ist die Abstimmung aller Formalitäten – insbesondere die Initiierung und Genehmigung über die nationalen zentralen Verbindungsbüros47  – zeitaufwendig. Schließlich gilt es alle weiteren Unwägbarkeiten hinsichtlich der Reiseplanung, der Kontaktaufnahme vor Ort und der sprachlichen und interkulturellen Herausforderungen, die insgesamt als „Organisationsaspekte“ zusammengefasst werden können, zu bewältigen48. Moderne Steuerverwaltungen richten an dieser Stelle den Blick zudem nicht nur auf die Verwaltungseinheiten selbst, sondern verfolgen  – je nach den Gegebenheiten des Einzelfalls  – eventuell auch eine kooperative Kommunikationsstrategie gegenüber dem Steuerpflichtigen. Um das Ziel der bestmöglichen Sachverhaltsaufklärung zu erreichen, werden in der Praxis der Joint Tax Audits die Ermittlungen gezielt vor Ort beim Steuerpflichtigen durchgeführt und das aktive Prüfungsrecht genutzt. So entsteht Transparenz. Ein solcher kooperativer Ansatz49 setzt gleichwohl voraus, dass gegenseitiges Vertrauen aufgebaut und gepflegt wird. Dies bedeutet, dass sich auch das persönliche Verhalten mancher Beamter im Umgang mit dem Steuerpflichtigen verändern muss. Unabhängig von der Frage, wie der Steuerpflichtige in die Ermittlungen einbezogen wird, steht fest, dass der Beamte im Ausland jedenfalls nicht über Hoheitsgewalt verfügt, und mit seinen ausländischen Partnern im Team arbeiten muss. Dies erfordert Geschick im Umgang mit Menschen und hohe soziale Kompetenz. Die Herausforderungen sind damit vielfältigster Natur. c) Weitere wünschenswerte Entwicklungen für Joint Tax Audits Richtet man den Blick in die Zukunft, so ist es spannend zu überlegen, was geschehen wird oder geschehen könnte, um die bereits adressierten Schwachstellen zu verbessern. Nach den bisherigen Erfahrungen sollten zwei Aspekte noch stärker in den Fokus rücken. Zum einen sind die Rechtsgrundlagen für die umfassende und zuver-

46 Hilfreich ist an dieser Stelle auch das Merkblatt über koordinierte steuerliche Außenprüfungen mit Merkblatt über koordinierte steuerliche Außenprüfungen mit Steuerverwaltungen anderer Staaten und Gebiete v. 6.1.2017  – IV B 6 S 1315/16/10016:002  – DOK 2016/0996151, BStBl.  2017, 89, welches auf Basis der ersten Erfahrungswerte der deutschen Finanzverwaltung erarbeitet wurde und typische Abläufe bekannt macht. 47 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 117 AO Rz. 282a. 48 Ein Vorschlag, wie Organisationsfragen innerhalb der Verwaltung strukturell gelöst werden könnten, findet sich bei Oertel/Merx/Reimann, ISR 2015, 153. 49 International lässt sich feststellen, dass manche Staaten insgesamt einen kooperativen Ansatz im Verwaltungsverfahren, vgl. bspw. für Österreich: Stiastny, Horizontal Monitoring, 2015.

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lässige Ermittlung von Sachverhalten im Ausland schwach. Ausgewählte Fragen lauten beispielsweise: –– Welches Recht gilt bei Ermittlungshandlungen im Ausland? Nach hier vertretener Auffassung ist diese Frage durch das Amtshilferecht dahingehend gelöst, dass immer das Recht des Staates gilt, in dem man sich gerade befindet und dessen gesammelte Informationen man aktiv entgegennimmt50. Nur noch zu schaffende bioder multilaterale Verfahrensregeln könnten eine rechtsichere Grundlage für die Anwendung nationalen Verfahrensrecht im Ausland bilden –– Welcher Gerichtsstand gilt für gerichtliche Überprüfungen der Maßnahmen? Wo und wie werden eventuelle Amtshaftungsansprüche gegen die hoheitlichen Maßnahmen durchgeführt? Nach hier vertretener Auffassung ist für das „OB“ einer Maßnahme immer die ersuchende Behörde verantwortlich und für das „WIE“ jeweils die ersuchte Behörde. Nach der Verantwortlichkeit richtet sich auch der Gerichtsstand. Eventuell müssen Gerichte inzident auch ausländische Fragen würdigen. –– Welche Konsequenz haben unterschiedliche verfahrensrechtliche Vorschriften, wie etwa Verjährung, Korrekturmöglichkeiten, Vorschriften über die am Besteuerungsverfahren beteiligten Personen, über Auskunftsberechtigte und Verpflichtete etc.? Auf der Basis der Amtshilferegeln finden sich hier kaum überzeugende Lösungen. Der „Trick“, die grenzüberschreitende Tätigkeit an das Amtshilferecht zu binden, liegt quasi darin, dass man internationale Rechtsfragen auf nationales Recht zurückführt. Wenn aber die nicht-nationale Verfahrensnorm Rechtswirkungen für nationale Verfahrenshandlungen erzeugt, funktioniert dieser „Rückzug“ nicht. Eine Ergänzung dieser Liste der offenen Fragen ist leicht zu bewerkstelligen. Sie sei an dieser Stelle sogleich wieder geschlossen, um den Rahmen nicht zu sprengen und den Blick auf eine letzte Frage zu richten. 4. Auslandssachverhalte in der Gerichtsbarkeit Nach Analyse aller aufgezeigten „Schwachstellen“ des internationalen Steuervollzugs verbleibt die Frage, ob diese zumindest nach Anrufung der Finanzgerichte im Sinne des rechtsstaatlichen Auftrags beseitig werden können. Die oben dargestellten Vollzugsdefizite werfen mit anderen Worten die Frage auf, welche Möglichkeiten zur Aufklärung bzw. Überprüfung verbleibender Unklarheiten im Steuerprozessrecht bestehen, wenn verwaltungsseitig die Instrumente der Amtshilfe ausgeschöpft sind. Die deutsche Finanzgerichtsordnung weist den Gerichten die Verfahrensherrschaft über die Sachaufklärung zu51. Finanzverwaltung und Steuerpflichtige wirken als Beteiligte daran mit, sind jedoch nicht (mehr) die Entscheidungsträger über Art und Umfang der Ermittlungsmaßnahmen. Damit sehen sich die Finanzgerichte ebenso

50 Eisgruber/Oertel, ISR 2017, 270 (274), in diese Richtung auch Söhn in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 117 AO Rz. 283a und Seer, IWB 2014, 87 (92). 51 Manssen in FS Haak, 1997, S. 63.

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der Divergenz zwischen „materieller Universalität und formeller Territorialität“52 ausgesetzt, wie die Finanzbehörden im vorgelagerten Verfahrensabschnitt. Ermittlungsmaßnahmen jenseits der Staatsgrenzen, beispielsweise durch Augenscheinnahme oder Zeugeneinvernahme, stehen wiederum die allgemeinen, territorialen völkerrechtlichen Beschränkungen entgegen. Mit der Erkenntnis, dass der Konflikt im Verwaltungsvollzugsrecht durch Schaffung der Rechtsgrundlagen für eine zwischenstaatliche Amtshilfe zumindest abgemildert wurde, muss der Frage nachgegangen werden, ob auch das Prozessrecht ähnliche Wege eröffnet. Vorausgeschickt werden darf an dieser Stelle bereits, dass man einen Legalverweis auf die zwischenstaatlichen Amtshilfevorschriften in der Finanzgerichtsordnung vergeblich suchen würde. Dies ist auch nicht zu kritisieren, da die Amtshilfebestimmungen auf das Verwaltungshandeln zugeschnitten sind und von der Rechtshilfe abgegrenzt werden müssen53. Amtshilfe beschreibt die Hilfeleistung durch ausländische und an ausländische Finanzbehörden, Rechtshilfe bedeutet Hilfeleistung an ein Gericht. Dem nationalen Gesetzgeber sind insoweit die Hände gebunden, als er nur solche Vorschriften aus internationalen Regelwerken in sein Heimatrecht transformieren kann, die verbindlich abgestimmt sind. Einigen sich die Staaten darauf, Amtshilfe zu leisten, so kann eine hieraus abgeleitete verwaltungsrechtliche Bestimmung nicht unmittelbar oder mittelbar im Prozessrecht zur Anwendung gebracht werden, weil dies im Ausland nicht entsprechend gespiegelt wird. Auf der Suche nach einer anderen Lösung gelangt man in der Finanzgerichtsordnung zunächst über die Beweiserhebungsmöglichkeiten zu dem Verweis auf die Zivilprozessordnung54. Auch hier findet sich in einschlägigen Bestimmungen zunächst keine Befugnisnorm, die eine gerichtliche Beweiserhebung im Ausland gestattet. Steigt man noch tiefer ins Zivilprozessrecht, erscheint mit § 1072 ZPO und der VO (EG) Nr.  1206/200155 ein Hoffnungsschimmer am Horizont. Deren Art.  17 gestattet die unmittelbare Beweisaufnahme ersuchender Gerichte in anderen Mitgliedstaaten und enthält erhebliche Ähnlichkeiten mit den europäischen Amtshilfebestimmungen im Steuerbereich56. In einer europäischen Verordnung verankert, entfaltet der Artikel auch unmittelbare Wirkung im deutschen Recht. Unter bestimmten Voraussetzungen  – insbesondere einem formpflichtigen Ersuchen gegenüber einer Zentralstelle57 – kann „nach Maßgabe des Rechts des Mitgliedsstaats des ersuchenden Gerichts bestimmten Gerichtsangehörigen“58 die Befugnis zur Beweiserhebung im anderen Mitgliedstaat erteilt werden. Wäre diese Bestimmung im Finanzgerichtsprozess an52 Hendricks in Wassermeyer, Vor Art. 1 OECD-MA Rz. 1. 53 Seer in Tipke/Kruse, §  117 AO Rz 5. Hendricks in Wassermeyer, Vor Art.  1 OECD-MA Rz. 1. 54 Vgl. hierzu § 82 AO. 55 Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates v. 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, ABl. EU L 174 v. 27.6.2001, 1. 56 Ausführlich hierzu Rauscher in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl., § 1072 Rz. 1ff. m.w.N. 57 An dieser Stelle zeigt sich eine deutliche Parallele zum „zentralen Verbindungsbüro“ aus der steuerlichen Amtshilfe. 58 Art. 17 Abs. 3 VO (EG) Nr. 1206/2001.

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wendbar, so wäre hinsichtlich der Regelungstechnik und Wirkung weitgehend Einklang mit dem steuerlich Verwaltungsverfahrensrecht hergestellt. Das Ergebnis sieht nach einem Blick auf die allgemeinen Bestimmungen jedoch anders aus. Der Anwendungsbereich der Verordnung erstreckt sich lediglich auf Zivil- und Handelssachen59. Eine unmittelbare oder entsprechende Anwendung im Finanzgerichtsprozess kommt daher bis auf Weiteres nicht in Betracht.

III. Gewissheiten und Weisheiten Im Ergebnis zeigt bereits eine kurze Beschäftigung mit dem Thema, dass die Weiterentwicklung des internationalen Steuervollzugsrechts dringend notwendig ist. Will man die Besteuerung auf der Grundlage der verwirklichten Tatsachen vornehmen und nicht nur auf Basis theoretisch anzunehmender Vermutungen, müssen Auslandssachverhalte von Amts wegen zielgenauer ermittelt werden. Hierzu sind vielfältige Anstrengungen auf nationaler und internationaler Ebene, im politischen wie auch im administrativen Bereich notwendig. Eine Verbesserung des Rechtsrahmens und Weiterentwicklung der bestehenden Rechtsinstitute könnte Impulse setzen. Diese müssten von den Verwaltungen aufgegriffen und in der Praxis eingesetzt werden. Umgekehrt – und hier eröffnet sich wieder ein Spannungsfeld zwischen Theorie und Tatsachen – bedarf es theoretisch zunächst keiner weiteren Verbesserung der internationalen Regelungswerke, solange die Verwaltung bestehende Möglichkeiten kaum ausschöpft und vorwiegend an organisatorischen Fragen scheitert. Tatsächlich sollte dieses Argument nur Ansporn für die internationalen Organisationen sein, alle rechtlichen Defizite schnellstmöglich zu beheben. In die Zukunft geblickt, müssen sich die internationalen Organisationen sicherlich auch mit der Frage beschäftigen, wie die Möglichkeiten der gerichtlichen Überprüfung von Steuerstreitigkeiten mit Auslandsbezug verbessert werden können. Hier ist ebenfalls ein Defizit zwischen Theorie und Tatsachen offensichtlich: Theoretisch können Gerichte das Handeln der Verwaltung vollständig überprüfen und im Laufe des Prozesses die wahren Verhältnisse erforschen und der Entscheidung zugrunde legen – tatsächlich zeigt sich jedoch, dass der Finanzgerichtsprozess die internationalen Vollzugsdefizite derzeit noch nicht beseitigen kann und prozessuale Möglichkeiten noch ausbaufähig sind. Was bleibt, ist die Vorfreude auf weitere spannende Entwicklungen und der Wunsch, diese nach Möglichkeit konstruktiv zu begleiten. Was in der Zukunft tatsächlich geschieht, kann an dieser Stelle nur theoretisch gemutmaßt werden. Wenn die Zukunft zur Gegenwart und sodann zur Vergangenheit wird, verwandeln sich die Zukunftstheorien in historische Tatsachen. Damit kann zumindest die Zeit in mancher Beziehung einen Einklang zwischen „Theorie und Tatsache“ herstellen. 59 Art. 1 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1206/2001.

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3. Teil Steuerrecht in der Gesamtrechtsordnung … D. II. 10.

Grenzüberschreitender Steuervollzug – nachbarschaftliche Außensicht Von Claus Staringer

Inhaltsübersicht I. Einleitung und Abgrenzung des Themas II. Joint Audit – die „Grenzüberschreitende Betriebsprüfung“ 1. Konzept und Rechtsgrundlagen des Joint Audit 2. Souveränitäts-Grenzen für den Joint Audit 3. Ausblick III. Ausbau der Amtshilfe und Transparenz IV. Die Pflicht des Steuerpflichtigen zur Mitwirkung an der Sachverhaltsermittlung 1. Ausgangslage

2. Die Neufassung von § 115 BAO in Österreich 3. Ergebnis V. „One Stop Shop“ – neue Ansätze für eine internationale Zuständigkeit in Steuersachen 1. Mini One Stop Shop (MOSS) bei der Umsatzsteuer auf bestimmte digitale Leistungen 2. Principal Tax Authority bei der CCCTB 3. One Stop Shop bei der Digital Services Tax VI. Schlusswort

I. Einleitung und Abgrenzung des Themas Der Ausdruck „Grenzüberschreitender Steuervollzug“ ist und bleibt ein Paradoxon. Denn nach wie vor ist nicht nur die materielle Steuergesetzgebung weitgehend – abgesehen von den im Rahmen der EU erfolgten Rechtsharmonisierungen – nationale Domäne, sondern erst recht gilt dies für die Vollziehung des Steuerrechts. Das oft zitierte Schlagwort „Business goes global, taxes stay local“ hat insbesondere beim Vollzug von Steueransprüchen in besonderem Maß seine Berechtigung. Der Grund dafür ist rasch erkannt: Themen des Steuervollzugs sind in die nationalen Verfahrensordnungen eingebettet. Es sind nationale Behörden und Gerichte, die Steueransprüche vollziehen bzw. steuerliche Vorschriften anwenden. Deren Autorität endet aber regelmäßig an der Grenze des eigenen Territoriums. So ist z.B. seit jeher offenkundig, dass nationale Verfahrensordnungen, die  – was für die allermeisten Staaten zutrifft  – einem Verifikationsgebot bzw. einem Gebot zur Erforschung der 1127

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materiellen Wahrheit bei der Sachverhaltsermittlung verpflichtet sind, bei Auslandssachverhalten oft – durchaus im Wortsinn – an ihre „Grenzen“ stoßen. Dies ist der traditionelle Ausgangspunkt, an dem sich die gesamte Problematik eines „grenzüberschreitenden Steuervollzugs“ seit jeher entzündet1. Wie der in dieser Festschrift von Eisgruber/Oertel (vorrangig für Deutschland) getroffene Befund zeigt2, ist diese Problematik in ihrem Kern nach wie vor unverändert vorhanden. Freilich macht die heute so intensive internationale Verflechtung von Wirtschaftsbeziehungen das Thema in besonderer Weise aktuell. Dass die traditionelle Begrenzung des Steuervollzugs auf nationale Territorien zumindest steuerpolitisch heutzutage nicht mehr ohne weiteres akzeptiert wird, ist nicht überraschend. In Zeiten einer globalisierten Wirtschaft wird ein an der nationalen Grenze halt machender (oder sogar scheiternder) Vollzug des Steuerrechts oft als regelrechter Anachronismus verstanden. Es ist daher nur folgerichtig, wenn sich die Steuerpolitik in den letzten Jahren vermehrt aus diesem Vollzugsdilemma befreien will. Vor diesem Hintergrund möchte ich einige „Befreiungsversuche“ der jüngeren Steuerpolitik aus diesem Dilemma näher betrachten. Dazu werde ich zunächst kurz auf die schon von Eisgruber/Oertel im Detail behandelten Fragen eines Joint Audit eingehen (unten Abschnitt  II), um sodann jüngere Entwicklungen im Bereich der Amtshilfe und Transparenz darzulegen (unten Abschnitt III), gefolgt von Ausführungen über den vom Steuerpflichtigen in Gestalt der Mitwirkungspflicht an der Sachverhaltsermittlung geforderten Beitrag an einem „Grenzüberschreitenden Vollzug“ (unten Abschnitt IV). Zuletzt werde ich aus aktuellem Anlass auf mögliche zukünftige Tendenzen einer „Internationalisierung“ des Steuervollzugs eingehen (unten Abschnitt V). Insgesamt soll es dabei aber weniger um eine tiefgreifende Detailanalyse von Einzelthemen gehen (dies würde der gegebene Rahmen nicht zulassen). Vielmehr möchte ich die Gelegenheit nutzen, die Effekte der gewählten Einzelthemen auf den „Grenzüberschreitenden Vollzug“ – in einer Art „Querschnittsbetrachtung“ – nebeneinander zu stellen3. Der Themenstellung entsprechend, möchte ich dies – wo angebracht – aus der nachbarschaftlichen Perspektive des mir naheliegenden österreichischen Rechts versuchen. Keineswegs sollen die Ausführungen aber auf das bilaterale Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich eingeschränkt verstanden werden. Das Funktionieren oder Nicht-Funktionieren eines „Grenzüberschreitenden Steuervollzugs“ kann nicht bloß an einer bestimmten Nachbarschafts-Konstellation gemessen werden, in der die gemeinsame Sprache, eine häufige Fallzahl, aber vor allem auch zahlreiche gemeinsame Rechtstraditionen im Steuerrecht die Dinge oft vereinfachen.

1 Für viele z.B. Hendricks, Internationale Informationshilfe im Steuerverfahren, 2004, S. 45; Staringer in DStJG 31 (2008), S. 135 (136). 2 Vgl. Eisgruber/Oertel, Grenzüberschreitender Steuervollzug – nationale Sicht, in FS 100 Jahre BFH, S. 1113 ff. 3 Ausgeklammert sollen von vornherein Themen der Vollstreckung von bereits festgesetzten Steueransprüchen bleiben.

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II. Joint Audit – die „Grenzüberschreitende Betriebsprüfung“ 1. Konzept und Rechtsgrundlagen des Joint Audit Der sogenannte Joint Audit ist in diesem Band bereits ausführlich von Eisgruber/­ Oertel dargestellt worden4. Es handelt sich dabei insoweit um einen im Wortsinn „grenzüberschreitenden“ Steuervollzug, als dabei Organe der Steuerverwaltung (insbesondere der Betriebsprüfung) tatsächlich physisch in einem anderen Staat zur Sachverhaltsermittlung tätig werden. Von vielen Seiten  – insbesondere in den Finanzverwaltungen  – werden in das Modell des Joint Audit große Hoffnungen für eine in der Zukunft effektivere Bearbeitung grenzüberschreitender Steuerfälle gesetzt. Mittlerweile bestehen für einen solchen Joint Audit zumindest innerhalb der EU klare Rechtsgrundlagen, dies in Umsetzung der EU-Amtshilfe-Richtlinie5 oder – für die Umsatzsteuer – in der EU-Verordnung über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung im Bereich der Mehrwertsteuer6. Darin ist unionsweit klar geregelt, dass Organe der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaates physisch in einem anderen Mitgliedstaat tätig werden können, soweit – vereinfacht gesagt – für den konkreten Fall Einvernehmen zwischen den beteiligten Finanzverwaltungen hergestellt worden ist7. Damit liegt beim Joint Audit letztlich ein Unterfall der Amtshilfe vor8. Gerade für das bilaterale Verhältnis zwischen Österreich und Deutschland ist dies freilich nicht neu: So lässt bereits der zwischen diesen beiden Staaten im Jahr 1954 geschlossene Amtshilfe-Vertrag9 eine Vorgehensweise zu, die dem heutigen Schlagwort des Joint Audit zumindest nahekommt10. Aber auch über das Unionsrecht hinaus gibt es Regelungen zu Joint Audits. So spricht das OECD Informationsaustausch-Musterabkommen (OECD Model TIEA) die Möglichkeit des Joint Audit an11. Gleiches gilt für das Multilaterale Amtshilfe-Übereinkommen12, das heute aufgrund seiner hohen Akzeptanz (darunter auch Österreich) eine wichtige Rechtsgrundlage der internationalen Amtshilfe ist. Freilich sehen weder das OECD Model TIEA noch das Amtshilfe-Übereinkommen eine völkerrechtliche Verpflichtung des ersuchten Staates vor, einen Joint Audit auch tatsächlich zulassen zu müssen13. Dies bedarf stets der Zustimmung des ersuchten Staa 4 Eisgruber/Oertel (Fn. 2). 5 Richtlinie 2011/16/EU. 6 Verordnung (EU) Nr. 904/2010. 7 Vgl. in Österreich die §§ 10 f. EU-AmtshilfeG. 8 Ebenso Eisgruber/Oertel (Fn. 2). 9 Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Rechtsschutz und Rechtshilfe in Abgabensachen, BGBl. 1955/249. 10 Art. 5 Abs. 3 des Amtshilfevertrags Österreich – Deutschland. 11 Art. 6 OECD Model TIEA. 12 Art. 9 des Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen in der Fassung des am 1.6.2011 in Kraft getretenen Protokolls, BGBl. III 2014, 193. 13 Vgl. Kofler/Tumpel in Lang/Schuch/Staringer (Hrsg), Internationale Amtshilfe in Steuersachen, 2011, S. 181 (193).

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tes14. Ebenso wenig werden „normale“ bilaterale Amtshilfe-Klauseln (nach dem Vorbild des Artikel  26 OECD-MA) nicht dazu verpflichten können, einen Joint Audit zulassen zu müssen. Die diesbezügliche Stelle im OECD-MK spricht nämlich bloß davon, dass die Vertragsstaaten über die in Art 26 OECD-MA geregelte Amtshilfe hinaus noch weitere Maßnahmen – wie etwa auch einen Joint Audit – unter Gegenseitigkeit zulassen können, verpflichtend ist dies jedoch nicht15. Insoweit ist der Wunsch von Eisgruber/Oertel durchaus nachvollziehbar, wenn sie sich für die Steuerverwaltung (auch) im Völkerrecht eine klare (wohl gemeint: vom ersuchenden Staat einforderbare) Rechtsgrundlage für die Durchführung von Joint Audits wünschen16. Auch die Verankerung einer solchen völkerrechtlichen Regelung bedarf dann aber naturgemäß ebenfalls der Zustimmung des betreffenden ausländischen Partnerstaates (wenn auch nicht mehr als Einzelfallentscheidung). 2. Souveränitäts-Grenzen für den Joint Audit Österreich ist aber als EU-Mitglied – und schon aus der Tradition des Amtshilfe-Vertrags 1954 heraus – an sich ein unproblematischer Partner für Joint Audits der deutschen Steuerverwaltung in Österreich (oder umgekehrt). Insoweit ist das Thema Joint Audit zwischen Deutschland und Österreich nicht bloß Theorie. Gerade die vorhandene Praxis zeigt aber deutlich, dass auch ein Joint Audit letztlich gar keinen tatsächlich „Grenzüberschreitenden Steuervollzug“ herbeiführen kann. Wesentliches Strukturmerkmal des Joint Audits ist es nämlich, dass die Herrschaft über das konkrete Verfahren stets bei der lokalen („ersuchten“) Steuerverwaltung verbleibt. Nur diese ist in der Lage, im konkreten Fall tatsächlich Hoheitsrechte auszuüben. Die ausländische Steuerverwaltung bzw. deren Mitarbeiter sind gleichsam nur „Gäste“ der lokalen Steuerverwaltung. Solche „Gäste“ dürfen jedenfalls an Amtshandlungen teilnehmen. Ob sie auch ein selbständiges Fragerecht habe oder Unterlagen selbständig prüfen dürfen (jeweils im Beisein ihres „Gastgebers“), hängt von der ausdrücklichen Zustimmung der betroffenen Einzelpersonen ab17. Zwangsmaßnahmen der „Gäste“ sind jedenfalls ausgeschlossen18. Diese Beschränkungen machen sichtbar, dass der – freilich nichtsdestoweniger mittlerweile fest etablierte – Begriff des „Joint Audits“ genaugenommen nicht zutreffend ist. Denn es mag zwar so sein, dass die „Gast“-Tätigkeit der ausländischen Ver­ waltung vom Steuerpflichtigen durchaus als hoheitlich  – wie in einer „normalen“ ­Betriebsprüfungssituation – wahrgenommen wird, rechtlich liegt aber stets ein Behördenhandeln der lokalen „Gastgeber“-Verwaltung vor. Dies zeigt sich auch ganz deutlich in der ausschließlichen Anwendbarkeit lokalen Verfahrensrechts, einschließlich lokaler Rechtsschutzinstrumente oder Verfahrensgarantien19. Hier können im Einzelnen durchaus Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtsord14 Ausdrücklich z.B. Art. 9 Abs. 1 AHÜ. 15 Rz. 9.1 OECD-MK zu Art. 16 OECD-MA. 16 Eisgruber/Oertel (Fn. 2). 17 Vgl. im Einzelnen § 10 Abs. 3 EU-AmtshilfeG. 18 § 10 Abs. 3 letzter Satz EU-AmtshilfeG. 19 Zu alldem im Detail Eisgruber/Oertel (Fn. 2).

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nungen bestehen. Gerade das Steuerverfahrensrecht ist nämlich auch in der EU keineswegs harmonisiert. Hier besteht lediglich eine gemeinsame Bindung an Unionsgrundrechte (nach der GRC). Innerhalb der davon zugelassenen Spielräume ist der nationale Verfahrensgesetzgeber aber weiterhin souverän. Damit stößt der Gedanke des „Grenzüberschreitenden Vollzugs“ auch beim Joint Audit rasch an Grenzen nationaler Steuersouveränität. 3. Ausblick Ob das freilich für den praktischen zukünftigen Erfolg des Modells Joint Audit tatsächlich ein gravierendes Hindernis ist, bleibt abzuwarten. Für normale Routine-Ermittlungstätigkeiten werden sich in vielen Staaten (zumal innerhalb der EU) die tatsächlich relevanten Verfahrensunterschiede nämlich wohl doch in Grenzen halten. Auch die Verfahrenshoheit des „Gastgebers“ muss keine echte Hürde sein: Denn nichts spricht dagegen, dass „Gast“ und „Gastgeber“ sich vorweg über den Inhalt der Prüfung, konkrete Prüfungsmaßnahmen etc. abstimmen. Dann spielt es praktisch kaum eine Rolle, wer verfahrensrechtlich die Leitung der Amtshandlung übernimmt. Viel wichtiger dürfte beim Joint Audit aber ohnedies sein, dass damit die unmittelbare Zusammenarbeit mehrerer Steuerverwaltungen „am Fall“ institutionalisiert werden kann. Wenn diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit einmal etabliert ist, werden sich die erwünschten Verbesserungen von Effektivität und Effizienz der Prüfung bald einstellen. Dass dies – wie von Eisgruber/Oertel heftig beklagt20 – von der Praxis der Steuerverwaltungen nur selten angenommen wird, steht auf einem anderen Blatt. Die Möglichkeit zur Kooperation in Gestalt des Joint Audit wäre – wie beschrieben – jedenfalls vorhanden. Wichtig ist aber auch zu erkennen, dass es beim Joint Audit in Wahrheit nicht bloß um eine verbesserte Prüfungseffizienz geht. Denn wenn die beteiligten Steuerverwaltungen den Joint Audit als Plattform für einen konstruktiven Dialog (sinnvollerweise gemeinsam mit dem Steuerpflichtigen) begreifen, dann können grenzüberschreitende Steuerthemen (insbesondere Verrechnungspreisfragen) im kurzem Wege konsensual gelöst werden. Ein richtig verstandener Joint Audit kann daher erhebliches Streitvermeidungspotenzial haben. Dies ist angesichts der nach wie vor prekären Situation bei der Streitbeilegung internationaler Steuerfälle (die Steuerpflichtige noch immer in aller Regel – sofern kein Schiedsverfahren vorgesehen ist – auf das ohne Einigungszwang stattfindende Verständigungsverfahren i.S.v. Art. 25 OECD-MA verweist)21, ein nicht geringer Wert.

20 Eisgruber/Oertel (Fn. 2). 21 Für viele z.B. nur die Beiträge in Lang/Owens (Hrsg.) International Arbitration in Tax Matters, 2016.

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III. Ausbau der Amtshilfe und Transparenz Einer der bedeutendsten Trends in der jüngeren internationalen Steuerpolitik – insbesondere innerhalb der EU  – ist der intensive Ausbau der zwischenstaatlichen Amtshilfe (besser: Informationsaustausch, denn um „Hilfe“ – im Sinne von erbetener Hilfe – geht es bei den bei jüngeren Instrumenten stets auf automatischer Basis erfolgenden Informationsaustausch gar nicht) sowie des Transparenzgedankens im Steuerrecht. Einige wesentliche Aspekte dieser Entwicklung: –– Durch das ursprünglich von Europarat und OECD initiierte Multilaterale Amtshilfe-Übereinkommen hat sich innerhalb kurzer Zeit die Dichte des Netzwerks für eine Amtshilfe in Steuersachen (nunmehr durchwegs mit „großer“ Klausel) für viele Staaten deutlich erhöht22. Die beim Amtshilfe-Übereinkommen verwendete Technik des multilateralen völkerrechtlichen Vertrags ist von der OECD nunmehr erneut beim sog Multilateral Instrument (MLI) eingesetzt worden, um schnellere Ergebnisse als bei traditioneller bilateraler Umsetzung (in DBA) zu erzielen23. –– Mit mittlerweile großer internationaler Reichweite (EU-weit, aber auch mit vielen Drittländern) ist für Bank- oder Finanzinformationen durch den sogenannten Common Reporting Standard ein sehr umfassender automatischer Informationsaustausch verankert worden24. Dies wurde in einigen Ländern – darunter Österreich – durch eine Abschaffung des Bankgeheimnisses25 vorbereitet26. Insbesondere für Privatpersonen mit grenzüberschreitenden Kapitalanlagen hat dies einen deutlichen Zuwachs an Transparenz gegenüber der Finanzverwaltung ihres Wohnsitzstaates bewirkt. –– Darüber hinaus bemüht sich insbesondere die OECD durch laufende Peer Reviews27 die Effektivität der internationalen Amtshilfe in der Praxis der Einzelstaaten zu verbessern. –– Die jüngste Vergangenheit ist – wiederum mit der EU als Vorreiterin – von einem deutlichen Bemühen um mehr Transparenz beim Thema Steuerrecht gekennzeichnet, nicht zuletzt gedrängt durch eine dies einfordernde öffentliche Meinung: So besteht mittlerweile eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum automatischen Austausch bestimmter Tax Rulings mit grenzüberschreitender Relevanz28. Damit soll zum einen die Kenntnis anderer betroffener Mitgliedstaaten von der Existenz 22 Vgl. dazu z.B. Jirousek, ÖStZ 2014, 187 (187 f.). 23 Dazu umfassend Lang/Pistone/Rust/Schuch/Staringer (Hrsg.), The OECD Multilateral ­Instrument for Tax Treaties: Analysis and Effects, 2017. 24 Z.B. in Österreich umgesetzt durch das Gemeinsamer Meldestandard-Gesetz (GMSG), BGBl. III 2015/116. 25 Beginnend mit der Rücknahme des bis dahin bestehenden Vorbehalts Österreichs zu Art. 26 OECD-MA in Bezug auf den Austausch von Bankinformationen. 26 Dazu z.B. Staringer in FS Rödler, S. 885 (886). 27 Veröffentlicht auf der Homepage der OECD www.oecd.org. 28 Richtlinie 2015/2376/EU.

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solcher Tax Rulings sichergestellt werden. Andererseits soll vor allem durch eine gesteigerte Transparenz auch die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der handelnden Verwaltungen bei Tax Rulings beobachtet werden können, und zwar sowohl von den anderen Mitgliedstaaten als auch der Europäischen Kommission. Insoweit geht es bei dieser Transparenzanordnung daher (auch) vor allem um Prävention von unrechtmäßigem Verwaltungshandeln29. –– Stark im Zentrum der öffentlichen Diskussion ist das innerhalb der EU umfassend – und darüber hinaus bei entsprechender bilateraler Vereinbarung, die freilich nach Wunsch der OECD ein politischer minimum standard ist – umgesetzte Country by Country Reporting30. Dabei werden länderbezogene steuerlich relevante Informationen von Großunternehmen ausgetauscht, insbesondere um sichtbar zu machen, wie sich deren Steuerleistung länderweise verteilt. Für die einzelnen Staaten stehen damit hinkünftig nicht nur Informationen über das im eigenen Land erzeugte Steueraufkommen eines solchen Unternehmens zur Verfügung, sondern auch die entsprechenden Informationen über das Steueraufkommen in anderen Ländern31. –– Die tatsächlichen Folgen des Country by Country Reporting werden sich erst in der Praxis zeigen. Regelmäßig wird aber von einer in Zukunft (noch) höheren Streitanfälligkeit der internationalen Gewinnaufteilung ausgegangen32. Denn diese Transparenz-Maßnahme unterstellt schon im Ansatz, dass bei der internationalen Gewinnaufteilung von Unternehmen etwas „faul“ ist. Man darf sich daher nicht wundern, wenn Staaten diesen Anfangsverdacht dann auch tatsächlich aufgreifen und einen höheren Anteil am internationalen „Steuerkuchen“ fordern. Mehr Transparenz würde dann am Ende vor allem zu mehr Streit führen. –– Zuletzt hat die EU im März 2018 auch eine politische Einigung über die Verpflichtung sog. Tax Intermediaries zur sofortigen Anzeige bestimmter steuerlicher Gestaltungen oder Strukturen ihrer Kunden bzw. Mandanten erzielt33. Dies soll mit einem verpflichtenden Informationsaustausch zwischen den EU-Steuerverwaltungen verbunden werden. Ziel dieser Anzeigepflicht ist die rasche Information der Steuerverwaltung (und mittelbar des Gesetzgebers) über bestimmte als gefährlich angesehene Praktiken der sog „Steuervermeidung“, um gegebenenfalls darauf zeitnah reagieren zu können. –– Ebenfalls ins Bild der stark intensivierten Transparenz passen die aus dem Recht der Geldwäschebekämpfung kommenden Meldepflichten über sogenannte „wirtschaftliche Eigentümer“ juristischer Personen in entsprechenden Transparenz-Re29 Insgesamt dazu in Österreich z.B. Lebenbauer in Lang/Haunold (Hrsg), Transparenz und Informationsaustausch, 2017, S. 1 ff. 30 Richtlinie (EU) 2016/881. 31 Dazu Langer in Lang/Haunold (Hrsg), Transparenz und Informationsaustausch, 2017, S. 79 ff.; Petruzzi/Navisotschnigg in Lang/Haunold (Hrsg), Transparenz und Informationsaustausch, 2017, S. 51 ff. 32 So bereits Staringer, SWI 2015, 575 (586). 33 Zur entsprechenden BEPS Action 12 Rzeszut in Lang/Haunold (Hrsg.), Transparenz und Informationsaustausch, 2017, S. 17 ff.

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gistern34. Diese Register dienen zwar primär der Identifikation der sogenannten „wirtschaftlichen Eigentümer“ für Zwecke der Vermeidung von Geldwäsche. Darüber hinaus wird damit aber auch – in vielen Ländern erstmals – eine umfassende Offenlegung der (indirekten) Kontrollverhältnisse über juristische Personen eingeführt, die gerade Steuerverwaltungen einen besseren Einblick in die Eigentümerverhältnisse geben soll. Jede der geschilderten Maßnahmen wäre für sich ein größeres Thema. Auch verfolgen die einzelnen Entwicklungen im Detail durchaus unterschiedliche Zielsetzungen. Gemeinsamer Nenner all dieser Intensivierungen von Informationsaustausch und Transparenz ist aber offenkundig, dass letztlich für die Steuerverwaltungen ein deutliches „Mehr“ an Information über Steuerpflichtige geschaffen wird. Dies gilt vor allem für internationale Fälle: Die allermeisten der neuen Amtshilfe- und Transparenzregeln betreffen nämlich zuvorderst internationale Sachverhalte, die für die interessierten Steuerverwaltungen damit besser verstehbar werden. In diesem weiteren Sinn dienen diese Maßnahmen daher deutlich erkennbar der Verbesserung des „Grenzüberschreitenden Steuervollzugs“. Zwar wird durch keine dieser Maßnahmen der „Grenzüberschreitende Steuervollzug“ im engeren Sinn (d.h. die Setzung eigener Vollzugsmaßnahmen im Ausland) ermöglicht oder unterstützt. Darum geht es aber auch gar nicht: Sinn und Zweck der „neuen Transparenz“ für Steuerverwaltungen ist es, erst gar nicht im Ausland lange nachforschen zu müssen, sondern verwertbare Information gleichsam ins Haus geliefert zu bekommen. Sollten danach noch weitere Ermittlungen im Ausland nötig sein, können diese – mit dem klassischen Instrumentarium – deutlich zielgerichteter angestrengt werden.

IV. Die Pflicht des Steuerpflichtigen zur Mitwirkung an der ­Sachverhaltsermittlung 1. Ausgangslage Einer der Kernpunkte des Steuerverfahrensrechts ist das Zusammenspiel von im Grundsatz bestehender Pflicht der Verwaltung zur amtswegigen Sachverhaltsermittlung (Untersuchungsgrundsatz) mit der gleichzeitig bestehenden Pflicht des Steuerpflichtigen zur Mitwirkung daran. Das Verfahrensrecht vieler Rechtsordnungen  – jedenfalls von Österreich oder Deutschland – setzt ganz zentral auf ein kooperatives Zusammenwirken von Behörde und Steuerpflichtigen zur Sachverhaltsermittlung. Gerade bei grenzüberschreitenden Sachverhalten stellt sich hier zwangsläufig die Frage, ob in solchen Fällen an diese Mitwirkungspflicht umso höhere erhöhte Anforderungen zu stellen sind. Dies hat – in Österreich nicht anders als in Deutschland –

34 In Österreich nach dem Wirtschaftliche Eigentümer Registergesetz  – WiEReG, BGBl. I 136/2017.

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zum Konzept einer erhöhten Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen bei Auslandssachverhalten geführt35. In Deutschland ist dies seit längerem im Gesetz verankert36. Für Österreich wurde die Figur der erhöhten Mitwirkungspflicht bei Auslandssachverhalten zunächst von der Finanzverwaltung entwickelt und sodann auch von der Rechtsprechung dem Grunde nach bestätigt37. Auf der einen Seite geht es dabei um die Mitwirkung bei der Aufarbeitung des Sachverhaltes ex post (z.B. im Zuge einer Betriebsprüfung), auf der anderen Seite ist der Steuerpflichtige bei einem von ihm selbst gestalteten Auslandssachverhalt aber auch ex ante zu einer besonderen Beweisvorsorge bei Auslandssachverhalten verpflichtet. Er kann daher der Behörde somit nicht entgegenhalten, dass er selbst an der späteren Aufklärung dieses Sachverhaltes durch den Auslandsbezug gehindert ist. Inhaltlich bestehen daher zwischen der erhöhten Mitwirkungspflicht nach österreichischem und deutschem Recht erkennbar Parallelen. Für Deutschland ordnet § 90 Abs. 2 Satz 1 AO streng an, dass Steuerpflichtige den Auslandssachverhalt „aufzuklären und die erforderlichen Beweismittel zu beschaffen [haben]“. Von einer Kooperation mit der Finanzverwaltung ist im Gesetz nicht einmal mehr die Rede. Zwar soll damit formal keine echte Beweislast zulasten des Steuerpflichtigen angeordnet sein. Zumindest im praktischen Ergebnis wird dies aber dem Steuerpflichtigen oftmals de facto die Beweislast auferlegen38. Jedenfalls ist ein allenfalls verbleibendes Beweismaß der Behörde bei Auslandssachverhalten deutlich reduziert39. In Österreich wurde hingegen stets betont, dass auch in Fällen der erhöhten Mitwirkungspflicht keinesfalls eine einseitige Beweislast zu Lasten des Steuerpflichtigen bestehen darf. Solche Beweislastregelungen sind dem österreichischen Verfahrensrecht nach der BAO nämlich fremd. Hier gilt vielmehr freies Beweisrecht40. Dementsprechend behutsam war die Rechtsprechung, wenn sie die erhöhte Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen als bloß ergänzende Maßnahme zum wei-

35 Dazu schon ausführlich Staringer in Widmann, Steuervollzug im Rechtsstaat, S.  140  ff. m.w.N. 36 § 90 Abs. 2 AO Satz 1 und 2: „Ist ein Sachverhalt zu ermitteln und steuerrechtlich zu beurteilen, der sich auf Vorgänge außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes bezieht, so haben die Beteiligten diesen Sachverhalt aufzuklären und die erforderlichen Beweismittel zu beschaffen. Sie haben dabei alle für sie bestehenden rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten auszuschöpfen.“ Und weiter Satz 4: „Ein Beteiligter kann sich nicht darauf berufen, dass er Sachverhalte nicht aufklären oder Beweismittel nicht beschaffen kann, wenn er sich nach Lage des Falls bei der Gestaltung seiner Verhältnisse die Möglichkeit dazu hätte beschaffen oder einräumen lassen können.“ 37 Vgl. nur den Überblick über die einschlägige Judikatur seit dem 1960er Jahren bei Ritz, Schätzung (§ 184 BAO) trotz bestehender Ermittlungsmöglichkeiten, SWI 1997, 151 (152 ff). 38 Vgl. z.B. Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 90 AO Rz. 155; ähnlich Tipke/Kruse, § 90 AO Rz. 20. 39 Vgl. Brockmeyer in Klein, § 90 AO Rz. 5. 40 Grundlegend etwa Stoll, BAO (1994) §  115, 1276  ff.; Tanzer in Althuber/Tanzer/Unger, BAO Handbuch, 2016, § 115, 331 f.

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terhin bestehenden Grundsatz der Amtswegigkeit verstanden hat41. Es ist daher stets eine Einzelfallentscheidung gewesen, ob im konkreten (Auslands-)Fall nun erhöhte Mitwirkungspflicht bestand oder nicht42. Grundprinzip war dabei, dass die amtswegige Sachverhaltsaufklärung durch die Behörde einerseits und der Ermittlungsbeitrag des Steuerpflichtigen andererseits kommunizierende Gefäße sind, sodass – nach Art eines beweglichen Systems – die erhöhte Mitwirkungspflicht die strukturell geringeren Ermittlungsmöglichkeiten der Steuerverwaltung bei einem Auslandssachverhalt nicht typisierend (d.h. immer), sondern nur einzelfallbezogen ausgleichen musste43. 2. Die Neufassung von § 115 BAO in Österreich Vor kurzem hat sich aber nun auch in Österreich der Gesetzgeber – bislang wenig beachtet  – dieses Themas angenommen. Versteckt in einem Nebengesetz44 wurde in der einschlägigen Norm des § 115 Abs. 1 BAO eine erhöhte Mitwirkungspflicht nunmehr ausdrücklich gesetzlich verankert. Die Bestimmung hat nun folgenden Wortlaut [Neufassung unterstrichen]: „Die Abgabenbehörden haben die abgabepflichtigen Fälle zu erforschen und von Amts wegen die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu ermitteln, die für die Abgabepflicht und die Erhebung der Abgaben wesentlich sind. Diese Verpflichtung wird durch eine erhöhte Mitwirkungspflicht des Abgabepflichtigen, wie beispielsweise bei Auslandssachverhalten, eingeschränkt“. Auf den ersten Blick scheint diese Änderung auf eine Entpflichtung der Abgabenbehörde von ihrer Pflicht zur amtswegigen Sachverhaltsermittlung abzuzielen, indem diese Verpflichtung „durch eine erhöhte Mitwirkungspflicht des Abgabepflichtigen, wie beispielsweise bei Auslandssachverhalten, eingeschränkt“ wird. Diese Zurücknahme des Untersuchungsgrundsatzes könnte bei flüchtigem Hinsehen als Verankerung einer Beweislast zu Lasten des Steuerpflichtigen verstanden werden45. Richtigerweise ist der Inhalt der Neufassung von § 115 Abs. 1 BAO aber gerade nicht als solche Beweislastregelung zu verstehen. Vielmehr bringt der neue Gesetzestext nur – für Österreich – Selbstverständliches zum Ausdruck: Völlig klar muss nämlich auch nach der Neufassung sein, dass die Amtswegigkeit dann und insoweit zurücktritt, wenn erhöhte Mitwirkungspflicht besteht. Das Bestehen einer solchen Kooperationsma­ xime ist freilich völlig unbestritten und nicht neu. Eine ganz andere Frage ist es aber, ob in einem konkreten Einzelfall nun tatsächlich eine erhöhte Mitwirkungspflicht für den Steuerpflichtigen besteht oder nicht. Diese Frage des „ob“ regelt auch § 115 41 Vgl. zu diesem Unterschied zwischen deutscher und österreichischer Rechtslage schon Staringer in Widmann, Steuervollzug im Rechtsstaat, S. 141. 42 Vgl. dazu die detaillierte Aufarbeitung der Judikatur bei Urtz in FS Loukota, S.  597 (609 ff.); ebenso Ritz, SWI 1997, 152 ff. 43 Explizit zuletzt erneut Tanzer in Althuber/Tanzer/Unger, BAO Handbuch § 115, 331. 44 Dem Wirtschaftliche Eigentümer Registergesetz – WiEReG, BGBl. I 136/2017. 45 So etwa die Befürchtung der Kammer der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer (KSW) im Begutachtungsverfahren des Gesetzesentwurfs (27/SN-313/ME 8).

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Abs.  1 BAO n.F. gerade nicht. Dies spricht dafür, das „ob“ einer erhöhten Mitwirkungspflicht wie bisher aus dem Zusammenspiel von Amtswegigkeit und Mitwirkungspflicht im konkreten Einzelfall herzuleiten. Gerade die anders gefasste deutsche Regelung in § 90 Abs. 2 Satz 1 AO macht den Unterschied deutlich: Dort wird eine Mitwirkungspflicht ausdrücklich statuiert, in § 115 Abs. 1 BAO wird ihr Bestehen (oder Nichtbestehen) hingegen vorausgesetzt. Für unnötige Unsicherheit sorgt allerdings die vom BMF zur BAO-Novelle gegebene Gesetzesbegründung46. Dort heißt es (unter anderem): „Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht des Abgabepflichtigen im Wesentlichen in folgenden Fällen: –– wenn durch faktische Gegebenheiten oder rechtliche Schranken die amtswegige Ermittlung des Sachverhaltes eingeschränkt oder verhindert ist. Dies gilt –– grundsätzlich bei Auslandssachverhalten; die faktische Einschränkung der amtswegigen Ermittlung von Auslandssachverhalten wird auch durch rechtliche Amtshilfemöglichkeiten unter Umständen nicht verbessert.“ Diese Gesetzesbegründung nimmt somit an, dass eine erhöhte Mitwirkungspflicht „grundsätzlich“ bei Auslandssachverhalten gelten soll. Man wird das dabei verwendete Wort „grundsätzlich“ aber keinesfalls im Sinne von „immer“ verstehen dürfen. Dies würde nämlich bei Auslandssachverhalten stets (d.h. in jedem Einzelfall) zur erhöhten Mitwirkungspflicht führen. Dies entspräche aber nicht dem traditionellen Verständnis der erhöhten Mitwirkungspflicht, und es ist kein Indiz zu erkennen, dass der Gesetzgeber bewusst von dieser bisherigen Sicht abweichen wollte. Richtigerweise ist daher das Wort „grundsätzlich“ im Sinne von „kommt in Betracht“ oder ähnlichem zu verstehen. Es ist dann – wie bisher – im konkreten Fall zu entscheiden, ob die Ermittlungsmöglichkeiten der Behörde tatsächlich so eingeschränkt sind, dass der Steuerpflichtige mit seiner erhöhten Mitwirkungspflicht „einspringen“ muss. Unglücklich ist es auch, wenn das BMF in den Gesetzesmaterialien davon spricht, dass „die faktische Einschränkung der amtswegigen Ermittlung von Auslandssachverhalten auch durch rechtliche Amtshilfemöglichkeiten unter Umständen nicht verbessert wird“47. Dies erinnert an eine langjährige Forderung von Vertretern der Finanzverwaltung, die auf eine mögliche Amtshilfe lediglich subsidiär zur erhöhten Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen zurückgreifen wollen48. In der Tat scheint das BMF mit seiner Formulierung suggerieren zu wollen, dass eine „rechtliche Amtshilfemöglichkeit“ (d.h. die Existenz einer Rechtsgrundlage für internationale Amtshilfe) von vornherein für das Bestehen einer erhöhten Mitwirkungspflicht irrelevant wäre49. Ein solches Ergebnis wäre aber abzulehnen: Dies wäre nämlich nichts anderes 46 ErlRV 1660 BlgNR 25. GP 24. 47 ErlRV 1660 BlgNR 25. GP 24. 48 Wohl zurückgehend auf Loukota, Internationale Steuerfälle, 1989, Rz.  434; weiters z.B. Loukota, SWI 1996, 248 (252 f.); Jirousek in 13. ÖJT III/1 (1997), S. 143 (162). 49 Dies u.U. in stillschweigender Anlehnung an das deutsche Recht. Dass hier zwischen österreichischer und deutscher Rechtslage aber ein Unterschied besteht, ist bereits früh erkannt

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als eine pauschale Aufgabe des Grundgedankens der Amtshilfe, der eben gerade darin besteht, die Möglichkeiten der Behörde zur Sachverhaltsermittlung im grenzüberschreitenden Fall auszuweiten. Dafür besteht kein Anlass. Unzweifelhaft wird es zwar in der Praxis Fälle geben, in denen eine „rechtlich mögliche“ Amtshilfe besser funktioniert (d.h. effektiver ist) als in anderen. Gerade diese tatsächliche Effektivität von Amtshilfe hat aber ohnedies in der bisherigen Rechtsprechung eine wichtige Rolle gespielt: Dann (aber auch nur dann), wenn tatsächlich im konkreten Fall feststeht (und dies nicht bloß vermutet wird50), dass Amtshilfe „nichts bringt“, musste der Steuerpflichtige selbst mit seiner erhöhten Mitwirkung einspringen. Das Schrifttum hat dies überzeugend nachgewiesen51. Letztlich dürfte auch die Gesetzesbegründung des BMF mit der Formulierung, wonach die rechtlichen Amtshilfemöglichkeiten „unter Umständen“ nichts an den Ermittlungsmöglichkeiten der Behörde verbessern52, auf dieses Ergebnis einschwenken. Denn es kann eben sein (muss es aber nicht), dass Amtshilfe ineffektiv ist. 3. Ergebnis Insgesamt stiften die Formulierungen in der Gesetzesbegründung daher mehr Verwirrung als Nutzen. Denn richtigerweise geht es bei der Neufassung von § 115 Abs. 1 BAO um nicht mehr oder weniger als um die Kodifizierung des bisherigen Rechtszustandes zur erhöhten Mitwirkungspflicht. Eine Änderung der Rechtslage wird dadurch aber nicht bewirkt. Alles andere wäre auch mehr als überraschend: Denn dass – versteckt in einem Nebengesetz – ein fundamentales Verfahrensprinzip wie das freie Beweisrecht aufgegeben oder die gesamte internationale Amtshilfe pauschal diskreditiert würde, kann dem Gesetzgeber wohl nicht unterstellt werden. Dies gilt umso mehr, als die erhöhte Mitwirkungspflicht  – wie dargelegt  – eben von den tatsächlich bestehenden Möglichkeiten zur Amtshilfe abhängt. Man muss sich vor Augen halten, dass gerade in jüngerer Vergangenheit diese Möglichkeiten zur Amtshilfe ganz substanziell und unübersehbar verbessert wurden53. In dieser Situation wäre es nachgerade unverständlich, warum der Gesetzgeber das Vertrauen in die internationale Amtshilfe gerade jetzt pauschal verlieren sollte. Dies würde völlig gegen den Zeitgeist im Steuerrecht gehen. Vielmehr ist richtigerweise für die Zukunft das Gegenteil zu erwarten: Gerade weil aufgrund ausgebauter Amtshilfe und erhöhter Transparenzanforderungen ein deutworden, vgl. Ritz, SWI 1997, 152 ff.; ebenso Schilcher, Grenzen der Mitwirkungspflichten im Lichte des Gemeinschaftsrechts, 2010, S. 63. 50 Alles andere wäre eine verbotene antizipative Beweiswürdigung. Beweise sind eben zuerst aufzunehmen und dann zu würdigen, nicht umgekehrt. Vgl. Ritz, SWI 1997, 154 f. 51 Vgl. z.B. Schilcher, Grenzen der Mitwirkungspflichten im Lichte des Gemeinschaftsrechts, S. 65 ff.; Schuch/Titz in Lang/Schuch/Staringer (Hrsg.), Internationale Amtshilfe in Steuersachen, 2011, S. 343 ff.; Urtz in FS Loukota, S. 609 ff.; Ritz, SWI 1997, 154 f. 52 ErlRV 1660 BlgNR 25. GP 24. 53 Siehe dazu oben im vorigen Abschnitt.

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lich verbesserter Einblick der Finanzverwaltung in grenzüberschreitende Sachverhalte bestehen wird, dürfte die erhöhte Mitwirkungspflicht konsequenterweise zukünftig in deutlich weniger Fällen als bisher zur Anwendung gelangen. Wenn nun (auch) der „Grenzüberschreitende Steuervollzug“ eben grundsätzlich einem Kooperationsmodell folgt, dann haben die „neue Amtshilfe“ und erhöhte Transparenz auch dort Folgen: Werden der Behörde – wie dargestellt – neue Instrumente an die Hand gegeben, entlastet dies den Steuerpflichtigen entsprechend.

V. „One Stop Shop“ – neue Ansätze für eine internationale ­Zuständigkeit in Steuersachen Auf Ebene der EU wurden in letzter Zeit mehrfach innovative Konzepte vorgestellt, bei denen es  – zumindest teilweise  – um eine Zentralisierung der Verwaltungszuständigkeit bei der Festsetzung bestimmter Steuern in Europa geht. Dies wird regelmäßig mit dem Schlagwort des „One Stop Shop“ verbunden. Dieses Modell wirbt auf der einen Seite beim Steuerpflichtigen stark mit Vereinfachung, da er sich innerhalb der EU nur mit einer einzigen zentralen Behörde herumschlagen muss. Gleichzeitig bringt ein One Stop Shop aber auch für die Verwaltung offenkundige Effizienzen, weil damit ansonsten in jedem einzelnen Mitgliedstaat durchzuführende Routineabläufe zentralisiert werden können. 1. Mini One Stop Shop (MOSS) bei der Umsatzsteuer auf bestimmte digitale Leistungen Ein bereits in Geltung stehendes Beispiel für so einen solchen One Stop Shop ist die Umsatzsteuer für (bestimmte) digitale Leistungen54. Für solche Leistungen  – die nach den umsatzsteuerlichen Leistungsortregelungen im jeweiligen Verbrauchsland steuerpflichtig sind55 – ist es auf Antrag möglich, für steuerpflichtige Umsätze sämtlicher Mitgliedstaaten eine einzige gemeinsame Erklärung in einem Mitgliedstaat des One Stop Shop abzugeben. Nur dort erfolgt auch die Registrierung des Steuerpflichtigen. Dies bedeutet zwar auf der einen Seite, dass die Finanzverwaltung in jedem einzelnen Mitgliedstaat organisatorisch darauf vorbereitet sein muss, eine solche unionsweite zentrale Zuständigkeit zu übernehmen. Auf der anderen Seite belastet das tatsächliche Handling solchermaßen zentral registrierter Unternehmer dann eben auch nur einen einzigen Staat56. Freilich zeigt sich beim näheren Hinsehen rasch, dass es sich in diesem Teilgebiet der Umsatzsteuer tatsächlich nur um einen „Mini One Stop Shop“ (MOSS) handelt (was 54 In Österreich geregelt in § 25a UStG. 55 Es handelt sich um Telekommunikations-, Rundfunk- und Fernsehdienstleistungen sowie elektronisch erbrachte Dienstleistungen an Nichtunternehmer. 56 Vgl. zum Grundprinzip des MOSS z.B. Pfeiffer, Änderungen der Leistungsortregelungen und Einführung des EU-Umsatzsteuer-One-Stop-Shops  – Rechtslage ab 1.1.2015, ÖStZ 2014/600.

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auch die übliche Bezeichnung dafür ist). Der One Stop Shop Gedanke erschöpft sich nämlich dabei im Wesentlichen in Fragen der Registrierung und der Abgabe einer Steuererklärung, und zwar notabene für eine Steuer, deren Festsetzung als Selbstbemessungsabgabe  – im Idealfall  – keine weiteren besonderen Verwaltungsmaßnahmen (wie bescheidmäßige Festsetzung, Eintreibung, etc.) erfordert. Bei reibungslosem Ablauf verbleibt der Mini One Stop Shop-Behörde nur noch die Verteilung des vereinnahmten Steueraufkommens auf die jeweiligen Mitgliedstaaten. Wird hingegen doch einmal eine bescheidmäßige Festsetzung erforderlich (wie etwa bei unrichtiger oder unterlassener Selbstbemessung durch den Steuerpflichtigen), bleibt es bei der traditionellen lokalen Zuständigkeit der Verwaltung der einzelnen Mitgliedstaaten57. Auch Rechtsschutzverfahren sind in diesen Staaten nach lokalem Verfahrensrecht zu führen. Letztlich geht es daher beim Mini One Stop Shop für die Umsatzbesteuerung digitaler Leistungen nicht so sehr um ein tatsächlich fundamental neues Konzept der Zuständigkeit der Finanzverwaltungen in Europa, sondern um eine administrative Vereinfachungsmaßnahme für Routineabläufe58. 2. Principal Tax Authority bei der CCCTB Deutlich weiter geht hingegen der Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission für die Common Consolidated Corporate Tax Base (CCCTB)59. Eines der Kernelemente dieses „großen“ Richtlinienvorschlags zur CCCTB (der auch die grenzüberschreitende Konsolidierung einschließt, wohingegen der parallel unterbreitete „kleine“ Vorschlag einer CCTB ohne Konsolidierung auskommt) ist die Einrichtung einer tatsächlich weitgehend zentralisierten Zuständigkeit bei einer sogenannten Principal Tax Authority60. Diese ist im Mitgliedstaat der Spitzengesellschaft der CCCTB-­Gruppe angesiedelt. Auf den ersten Blick scheinen zwar auch hier die Zentralisierungseffekte durch die Principal Tax Authority begrenzt zu sein. Denn diese nimmt zwar grundsätzlich die Gesamtermittlung der konsolidierten Bemessungsgrundlage sowie deren Aufteilung auf die einzelnen Mitgliedstaaten vor, die tatsächliche Steuerfestsetzung erfolgt jedoch weiterhin durch die betroffenen Mitgliedstaaten selbst. Auch die CCCTB führt eben zu keiner „Europäischen Körperschaftsteuer“, sondern ermittelt nur die Bemessungsgrundlage nationaler Körperschaftsteuern. Daher haben die einzelnen Mitgliedstaaten auch zu Recht ein Initiativrecht für Betriebsprüfungen der konsolidierten Bemessungsgrundlage61. Damit liegen Steuerfestsetzung und Prüfung nicht allein in den Händen der Principal Tax Authority. Dem Mitgliedstaat der Principal Tax Authority kommen nach dem Richtlinienvorschlag der Kommission aber weitreichende Zuständigkeiten für die – in der Praxis 57 Vgl. § 25a Abs 13 UStG. 58 Zum MOSS auch Ecker/Kronsteiner, SWK 2014, 897 ff. 59 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, COM(2016) 683 final (25.10.2016). 60 Vgl. die Art. 46 ff. des Richtlinienvorschlags zur CCCTB. 61 Art. 64 Abs. 1 des Richtlinienvorschlags zur CCCTB.

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ganz wesentliche  – Kompetenz zur Streitbeilegung zu. So sind Streitfälle zwischen den Mitgliedstaaten über die Aufteilung der Bemessungsgrundlage vor den Gerichten des Mitgliedstaates der Principal Tax Authority abzuhandeln62. Ebenso ist eine ausschließliche Zuständigkeit dieses Mitgliedstaates der Principal Tax Authority für Rechtsmittel des Steuerpflichtigen gegen die Ermittlung der konsolidierten Bemessungsgrundlage angeordnet63, obwohl es dabei in der Sache (auch) um Fiskalinteressen der sonstigen betroffenen Mitgliedstaaten geht. Jeder, der mit Steuerrecht in der internationalen Praxis vertraut ist, wird sofort erkennen, dass es einen erheblichen praktischen Unterschied macht, in welchem Staat ein Steuerstreit zu führen ist. Dies gilt auch innerhalb der EU, zumal auch dort Gerichtsoder Behördenorganisation, Verfahrensrechte, aber auch Fragen der „Streitkultur“, damit verbundene Kosten etc. ganz unterschiedlich ausgeprägt sein können. Man mag dies damit überspielen wollen, dass die CCCTB insgesamt nur für relativ wenige international tätige Großunternehmen64 angedacht ist, die durchaus in der Lage sein sollten, sich auf solche Rechts- und Kulturunterschiede einzustellen (erst recht wo es sich immerhin um den Mitgliedstaat der Spitzengesellschaft der CCCTB-Gruppe handelt). Der eigentliche Kulturbruch würde daher wohl weniger für die betroffenen Unternehmen, sondern für die anderen Mitgliedstaaten bzw. deren Steuerverwaltungen stattfinden. Diese wären nämlich letztlich de facto in eigener Sache (d.h. mit dem eigenen Steueranspruch) einem Verfahren vor ausländischen Behörden und Gerichten ausgeliefert, bei dem sie nicht einmal Parteistellung hätten65. Damit ginge ein gutes Stück Steuersouveränität verloren. 3. One Stop Shop bei der Digital Services Tax Zuletzt hat die Europäische Kommission den Gedanken des One Stop Shop auch für die Erhebung der von ihr kürzlich vorgeschlagenen Digital Services Tax (DST) übernommen66. Diese Verkehrsteuer auf ausgewählte digitale Leistungen ist durch ein Erhebungsmodell gekennzeichnet, das dem Mini One Stop Shop bei der Umsatzsteuer ähnelt, aber auch Elemente der CCCTB-Steuererhebung in sich trägt. Hintergrund ist, dass die territoriale Zuordnung von Bemessungsgrundlagen für die von den einzelnen Mitgliedstaaten als jeweils nationale Steuer erhobene DST technisch komplex ist, weil es dabei letztlich um eine formelhafte Aufteilung nach im Richtlinienvorschlag festgelegten Kriterien geht (stark vereinfacht gesagt geht es um die Zahl von „Clicks“ durch Nutzer in einem bestimmten Mitgliedstaat). Diese Auf62 Art. 65 Abs. 1 des Richtlinienvorschlags zur CCCTB. 63 Art. 67 f. des Richtlinienvorschlags zur CCCTB. 64 Mit über EUR 750 Millionen Jahresumsatz. 65 Siehe Art. 67 Abs.  2 und 3 sowie Art. 68 Abs.  2 und 3 des Richtlinienvorschlags zur CCCTB, wo für die anderen Mitgliedstaaten bzw. deren Steuerverwaltungen lediglich eine die Principal Tax Authority beratende bzw. dieser assistierende Rolle vorgesehen ist. 66 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zum gemeinsamen System einer Digitalsteuer auf Erträge aus der Erbringung bestimmter digitaler Dienstleistungen, COM(2018) 148 final (21.3.2018).

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gabe ist weitestgehend an den Anbieter der digitalen Leistungen ausgelagert, der die Bemessungsgrundlagen nach einem bestimmten Mechanismus selbst ermitteln muss67. Die so pro Mitgliedstaat aufgeteilten Bemessungsgrundlagen sollen von einer einzigen Behörde in einem einzigen Mitgliedstaat übernommen werden, die sie sodann an die zuständigen Behörden sämtlicher anderer betroffener Mitgliedstaaten verteilt68. Dieser Mechanismus ähnelt der Funktion der Principal Tax Authority bei der CCCTB, wo es um die formelhafte Aufteilung der konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage geht69. Die weitergehenden, das Streitverfahren zentralisierenden Regelungen der CCCTB hat der Richtlinienvorschlag zur DST aber nicht übernommen. Weiterhin geht es auch bei der DST um jeweils nationale Steuern der Mitgliedstaaten, die nach den jeweils lokalen Verfahrensregelungen zu erheben sind. Insoweit schlägt daher wieder die Parallele zur Umsatzsteuer auf digitale Leistungen durch70. Für eine Einschätzung der Wirkungen dieses One Stop Shops bei der DST ist es wohl noch zu früh. Es ist aber schon jetzt sichtbar, dass der eigentliche Treiber hinter der Zentralisierung der Zuständigkeit bei der DST die erhebliche Komplexität der Ermittlung der Bemessungsgrundlage ist. Diese kann wohl realistisch gar nicht anders bewältigt werden als durch Konzentration der Zuständigkeit (und damit fachliche Spezialisierung), und zwar sowohl auf Seiten der betroffenen Unternehmen als auch der Steuerverwaltungen. Nicht ohne Grund verlangt der Richtlinienvorschlag etwa, dass jeder Mitgliedstaat für die Abwicklung der jeweiligen nationalen DST eine (einzige) spezialisierte Behörde nominiert71.

VI. Schlusswort Angesichts der Vielfalt der Themen rund um den „Grenzüberschreitenden Steuervollzug“ fällt ein verbindendes Schlusswort nicht leicht. Aber vermutlich zeigt sich gerade in dieser Themenvielfalt der Kern der Sache: Das eingangs geschilderte Grundproblem des „Grenzüberschreitenden Steuervollzugs“ liegt in der nach wie vor territorial begrenzten Steuerhoheit von Staaten. Dieses Problem ist deshalb so stark verwurzelt, weil es letztlich eine Folge der Souveränität dieser Staaten ist. Diese will kein Staat aufgeben, erst recht nicht wenn es dabei um die Finanzierung des eigenen Haushalts geht. Eine von staatenunabhängigen Behörden vollzogene „Weltsteuer“ ist nicht in Sicht. Es ist daher keine Überraschung, wenn Steuerpolitik und Verwaltung Verbesserungen beim „Grenzüberschreitenden Steuervollzug“ punktuell – eben mit vielfältigen Einzelmaßnahmen – angehen müssen. Daran wird sich wohl auch noch für die nächste Zeit nichts ändern. 67 Vgl. Art. 5 des Richtlinienvorschlags zur DST. 68 Vgl. Art. 21 des Richtlinienvorschlags zur DST. 69 Dazu oben in diesem Abschnitt. 70 Dazu oben in diesem Abschnitt. 71 Vgl. Art. 19 des Richtlinienvorschlags zur DST.

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100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland Festschrift für den Bundesfinanzhof

STEUERRECHTSPRECHUNG IN DEUTSCHLAND 1918-2018 FESTSCHRIFT FÜR DEN BUNDESFINANZHOF herausgegeben von

Klaus-Dieter Drüen Johanna Hey Rudolf Mellinghoff

Band II 2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-01898-6 ©2018 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Urheberrechte des Fotos auf S. 2062: euroluftbild.de | Gerhard Launer | SZ Photo Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Inhaltsübersicht Band II 4. Teil Materielles Steuerrecht

Seite

A. Einkommensteuer I. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Einkommensteuerrechts . . 1145 Hanno Kube

II. Schwerpunkte des Einkommensteuerrechts im Fokus der ­Finanzrechtsprechung 1. Streitanfälligkeit einzelner Bereiche des Einkommensteuerrechts als Indiz für Reformbedarf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181 Stephan Geserich

2. Bedeutung von Einkommensbegriffen und Einkommenstheorien . . . 1197 Paul Kirchhof

3. Einkunftsartenabgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1229 Rainer Wernsmann

4. Gemischte Veranlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1243 Stefan Schneider

5. Subjektives Nettoprinzip im Einkommensteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . 1261 Roland Krüger

6. Kapitaleinkünfte und Abgeltungsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1279 Monika Jachmann-Michel

7. Altersvorsorge im Ertragsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1295 Rolf Möhlenbrock

B. Unternehmenssteuerrecht I. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Unternehmenssteuerrechts 1317 Klaus-Dieter Drüen

II. Schwerpunkte des Unternehmenssteuerrechts im Fokus der ­Finanzrechtsprechung 1. Bedeutung des Trennungsprinzips bei der Auslegung des KStG . . . . . 1349 Christian Dorenkamp

2. Grund- und Streitfragen des körperschaftsteuerlichen Einkommensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1373 Andreas Herlinghaus

3. Steuersystematische Einordnung der Gewerbesteuer und ihre Bedeutung für die Auslegung des Gewerbesteuergesetzes . . . . . . . . . . . 1393 Stefan Breinersdorfer

V

Inhaltsübersicht

4. Einfluss der Europäisierung und Internationalisierung auf das ­Bilanzsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1411 Joachim Hennrichs

5. Stille Reserven und Buchwertfortführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1433 Christian Graw

6. Maßgeblichkeit des Handelsrechts und außerbilanzielle Korrekturen 1457 Marcel Krumm

7. Gemeinnützige Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1477 Markus Märtens

C. Indirekte Steuern I. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Rechts der indirekten Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1491 Joachim Englisch

II. Schwerpunkte des Umsatzsteuerrechts im Fokus der Finanzrechtsprechung 1. Umsatzsteuer als Verbrauchsteuer in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . 1529 Tina Ehrke-Rabel

2. Umsatzsteuerliche Organschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1551 Bernd Heuermann

3. Umsatzsteuer der öffentlichen Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1569 Marc Desens

4. Gutglaubensschutz im Umsatzsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1591 Christoph Wäger

III. Entlastungen, Ermäßigungen und Befreiungen im Energie- und ­Stromsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1611 Harald Jatzke

D. Sonstige Steuerarten I. Umgang mit den Ergänzungstatbeständen bei der Grunderwerbsteuer . 1637 Matthias Loose

II. Verhältnis von Gesellschaft und Gesellschafter im Erbschaft- und ­Schenkungsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1655 Hermann-Ulrich Viskorf

III. Neues Zollrecht nach dem Unionszollkodex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1671 Ulrich Krüger

IV. Wenig beachtete Steuern aus der Sicht der Finanzgerichtsbarkeit . . . . . . . 1691 Jutta Förster

VI

Inhaltsübersicht

5. Teil Steuerverfahrensrecht A. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Steuerverfahrensrechts . . . . 1717 Roman Seer

B. Besteuerungsverfahren und Finanzrechtsprechung I. Mitwirkungspflichten im Fokus der Steuerrechtsprechung . . . . . . . . . . . . 1747 Ulrich Schallmoser

II. Indienstnahme Privater im Besteuerungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1761 Christian Seiler

III. Vermeidet die Praxis der Betriebsprüfung die Klärung von ­ Steuerrechtsfragen durch die Finanzgerichtsbarkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1781 Stefanie Beinert

IV. Verzinsung als Hemmschuh richterlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . 1801 Heribert Anzinger

6. Teil Rechtsschutz in Steuersachen A. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Steuerrechtsschutzes . . . . . . 1831 Egmont Kulosa

B. Einzelfragen des gerichtlichen Rechtsschutzes im Steuerrecht I. Die Richterschaft am Bundesfinanzhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1867 Walter Bode

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde als Stolperdraht der Rechtssuchenden? 1889 Eckart Ratschow

III. Beitritt des Bundesministeriums der Finanzen zu Verfahren vor dem ­Bundesfinanzhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1905 Michael Sell

IV. Gutachtentätigkeit von RFH/BFH – Historische Bedeutung und ­rechtspolitische Relevanz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1917 Peter Brandis

V. Vergleich der Verfahrensordnungen der öffentlich-rechtlichen ­ Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1935 Ulrich Palm

VII

Inhaltsübersicht

C. Steuerrechtsschutz in anderen Rechtsordnungen I. Rechtsschutz in Steuersachen in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1955 Nikolaus Zorn

II. Zweihundert Jahre Steuerrechtsschutz in den Niederlanden . . . . . . . . . . . 1975 Jaap W. van den Berge/Robert Jan Koopmann

III. Rechtsschutz in Steuersachen in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1995 Thomas Stadelmann

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2015 Fotoanhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2047

VIII

4. Teil Materielles Steuerrecht A. I.

Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Einkommensteuerrechts Von Hanno Kube

Inhaltsübersicht I. Die den Steuerstaat prägende Kraft der Einkommensteuer II. Frühe Herausbildung der Grundstrukturen des heutigen Einkommensteuerrechts 1. Der Weg zur leistungsfähigkeitsgerechten Einkommensbesteuerung im 19. Jahrhundert 2. Weitgehende Vorzeichnung des heutigen Einkommensteuerrechts in der Weimarer Zeit 3. Anknüpfung und Fortführung nach dem Zweiten Weltkrieg III. Die Elemente des Einkommensteuer­ tatbestands – Legislative, exekutive und judikative Entwicklungen und ihre Würdigung 1. Persönliche Steuerpflicht a) Steuerinländer, Steuerausländer und die Verarbeitung des EU-Status b) Personelle Zuordnung unternehme­ rischen Handelns 2. Einkunftsarten und Einkünfteermittlung a) Synthetische Einkommensteuer auf Grundlage erwerbsquellentypisierender Einkunftsarten b) Die abgeltende Quellenbesteuerung von Kapitaleinkünften und ihre Zukunft 3. Objektives Nettoprinzip a) Kontinuität im Grundsätzlichen und Wechselhaftigkeit im Detail b) Eine wachsende Zahl begründungsbedürftiger Abzugsbeschränkungen 4. Subjektives Nettoprinzip a) Berücksichtigung des existenznotwendigen Bedarfs in Abstimmung mit dem Sozialrecht

b) Entwicklung des Familienleistungsausgleichs c) Einrichtung und Ausdehnung des Ehegattensplittings d) Die hergebrachten Kategorien der Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen 5. Tarif a) Die Steuerprogression als weitere Konstante des hergebrachten ­deutschen Einkommensteuerrechts b) Die Anforderungen der Verhältnis­ mäßigkeit, Folgerichtigkeit und demokratischen Transparenz c) Die Alternative des proportionalen Tarifs 6. Inflation der Steuervergünstigungen und ihre verfassungsrechtliche Problematik 7. Zunehmender Einsatz komplizierter unilateraler Regelungen zur internationalen Abstimmung 8. Einkommensbesteuerung in der Zeit 9. Keine Aushöhlung der Einkommensteuer durch die verstetigte Erhebung einer Ergänzungsabgabe IV. Prinzipientreues, zukunftsfähiges Einkommensteuerrecht 1. Fazit zu den Entwicklungen und Herausforderungen in den verschiedenen Bereichen des Einkommensteuertat­ bestands 2. Desiderat von Einfachheit und Konsistenz 3. Materieller Belastungsgrund und Steuerkonkurrenzen 4. Freiheits- und Gleichheitsgerechtigkeit der Einkommensteuer

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I. Die den Steuerstaat prägende Kraft der Einkommensteuer Die Einkommensteuer steht im Zentrum des materiellen Steuerrechts. Sie prägt die Steuerrechtsordnung und gibt dem Steuerstaat sein Gesicht. Dies begründet sich nur an zweiter Stelle durch das im Vergleich der Steuerarten hohe Aufkommen der Einkommensteuer. An erster Stelle rührt die prägende Kraft der Einkommensteuer daher, dass sie sich in besonderer Weise auf die persönliche Situation des Steuerpflichtigen bezieht und deshalb sehr sichtbar und individualisiert wirkt, während sich etwa die ebenfalls aufkommensstarke Umsatzsteuer über die Anonymität des Marktes vermittelt, indirekt und verborgen bleibt. Der individualisierte Zugriff der Einkommensteuer erlaubt eine sehr leistungsfähigkeitsgerechte Belastung, begründet aber zugleich eine besondere staatliche Verantwortung, weil dieser Zugriff grundrechtlich sensibel ist. So ist die Einkommensteuer aufgrund ihrer Freiheits- und Gleichheitsgerechtigkeit tatsächlich die „Königin der Steuern“1, verlangt dabei aber  – um der Rechtsstellung des Einzelnen und um des Gesichts des Steuerstaats willen – besonderer Aufmerksamkeit. Die Grundstrukturen des heutigen Einkommensteuerrechts haben sich früh herausgebildet und wurden nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend unverändert fort­ geführt (II.). Zugleich unterliegen alle Elemente des Einkommensteuertatbestands Entwicklungen, die es nachzuzeichnen und zu würdigen gilt (III.). Tritt man einen Schritt zurück, lassen sich grundsätzlichere Feststellungen zu Stand und Zukunftsfähigkeit des deutschen Einkommensteuerrechts treffen (IV.).

II. Frühe Herausbildung der Grundstrukturen des heutigen ­Einkommensteuerrechts 1. Der Weg zur leistungsfähigkeitsgerechten Einkommensbesteuerung im 19. Jahrhundert Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert begann das Zeitalter der Einkommensteuer, begünstigt durch verschiedene Umstände. So stand der Einzelne dem Staat aufgrund und in Folge des Absolutismus im Wesentlichen unvermittelt gegenüber2. Zudem gewannen die staatlichen Verwaltungen nach und nach an Professionalität, so dass eine Steuer, die die Ermittlung des Einkommens voraussetzt, zunehmend in Betracht kam. Schon bald nach der erstmaligen Einführung einer Einkommensteuer in Großbritannien im Jahr 17993 wurde auch in Deutschland der Versuch unternommen, auf Grundlage des Einkommens zu besteuern. Ebenso wie in Großbritannien, 1 Popitz in Elster/Weber/Wieser (Hrsg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.  3, 4. Aufl. 1926, S. 402. 2 Siehe zur Schwächung und schließlich Abschaffung des ständischen Steuerbewilligungsrechts seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, 2004, S. 38 ff. 3 Zur Entwicklung in Großbritannien Großfeld, Die Einkommensteuer, 1981, S.  7  ff.; Piltz, StuW 2014, 39 (41 ff.).

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wo es Finanzminister William Pitt um die Finanzierung des Krieges gegen Napoleon ging, war auch in Deutschland, insbesondere in Preußen, kriegsbedingte Finanznot der treibende Faktor. Weil Preußen nach der Niederlage gegen Napoleon Entschädigungsleistungen an Frankreich zu erbringen hatte, konzipierte Karl Freiherr vom Stein4 eine – zunächst auf die Provinzen Ostpreußen und Litauen beschränkte – Einkommensteuer nach englischem Muster, die ab 1808 erhoben wurde5. Schon wenig später wurde diese Steuer im Zuge der Hardenberg’schen Finanzreform aber wieder abgeschafft, zum einen wegen der noch unzureichenden Erhebungstechnik, zum anderen aus Furcht vor einer Steuerflucht der Begüterten6. Auch die kurz darauf im Jahr 1812 in Preußen eingeführte Einkommensteuer auf das selbst deklarierte Gesamteinkommen hatte keinen Erfolg7. Bereits zwei Jahre später, 1814, wurde sie wegen großen Steuerwiderstands, vor allem wegen verbreiteter Unehrlichkeit bei der Deklaration, wieder aufgegeben. 1820 trat an ihre Stelle eine Klassensteuer, die die Steuerpflichtigen nach äußeren Wohlstandsmerkmalen, also nicht nach dem tatsächlichen individuellen Einkommen, in mehrere Klassen einteilte und entsprechend belastete8. Auch nach dem Scheitern der Revolution von 1848/499 blieb es in Preußen zunächst bei einer nach Klassen typisierenden, auf geschätztem Einkommen beruhenden Einkommensbesteuerung, dies auf Grundlage des Gesetzes „betreffend die Einführung einer Klassen- und klassifizierten Einkommensteuer“ von 185110. Erst im weiteren Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich der Belastungsmaßstab der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im deutschen Einkommensteuerrecht nachhaltig durch; also rund 100  Jahre, nachdem Johann Heinrich Gottlob von Justi11 oder auch Adam Smith12 in Anbetracht der Loslösung der direkten Besteuerung von konkreten, bedarfs- und damit lastendefinierenden Finanzierungszwecken für diesen Maßstab eingetreten waren13 und nachdem er auch in 4 Heuer, Karl Freiherr vom Stein als Wegbereiter des deutschen Einkommensteuerrechts, 1988. 5 Pausch, FR 1979, 441 (441 f.); Großfeld, Die Einkommensteuer, 1981, S. 29 f.; Mathiak, FR 2007, 544 (544 f.). 6 Mathiak, FR 2007, 544 (545); Clausen in Herrmann/Heuer/Raupach, Dokumentation zur Rechtsentwicklung des EStG Abschn. 1.I. Rz. 1, 1.II. 7 Großfeld, Die Einkommensteuer, 1981, S. 32 ff.; Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 5. 8 Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1820, 140; dazu Mathiak, Zwischen Kopfsteuer und Einkommensteuer. Die Preußische Klassensteuer von 1820, 1999; ders., FR 2007, 544 (545 f.). 9 Siehe zu den einkommensteuerpolitischen Impulsen in der Revolutionszeit, auch in Preußen, Großfeld, Die Einkommensteuer, 1981, S. 36 ff.; Kempny, Die Staatsfinanzierung nach der Paulskirchenverfassung, 2011, S. 293 ff. 10 Großfeld, Die Einkommensteuer, 1981, S.  40  ff.; Mathiak, StuW 2001, 324  ff.; ders., FR 2007, 544 (546 f.). 11 von Justi, Staatswirtschaft, Teil I, 2. Aufl. 1758, § 384. 12 Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776, book V, chap. II, part II. 13 Siehe zur Geschichte der finanzwissenschaftlichen Diskussion Pohmer/Jurke, FinArch. Bd. 42 (1984), 445 ff.

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Art. 13 der Französischen Menschenrechtserklärung von 1789 Niederschlag gefunden hatte14. Schrittweise wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vormalige Steuerprivilegien abgeschafft15 und die Lasten allgemein und gleich nach dem Einkommen bemessen. So sah sich Friedrich Julius Neumann im Jahr 1874 zu der Aussage veranlasst, dass der „Grundsatz der Vertheilung der öffentlichen Last nach Maaßgabe der Leistungskraft … in einer Reihe von Staatsgrund- und Steuergesetzen ausdrücklich anerkannt“ sei16. Eine treibende politische Kraft war bei alldem auch die soziale Bewegung, die die Einkommensteuer als Instrument der Umverteilung erkannte und sich aus diesem Grund für die Steuerbemessung nach der Leistungsfähigkeit einsetzte17. Stellvertretend steht hierfür die Lassalle’sche Steuerstreitschrift von 1863, mit der Ferdinand Lassalle die Abschaffung der als unsozial wahrgenommenen indirekten Steuern zugunsten der Einkommen- und Erbschaftsteuer forderte18. Die Finanzwissenschaft sekundierte, indem Adolph Wagner 1880 den sozialpolitischen Umverteilungszweck der Einkommensteuer hervorhob19. Kurz zuvor hatte John Stuart Mill den in die gleiche Richtung weisenden Grundsatz der steuerlichen Opfergleichheit entwickelt20. Besondere Strahlkraft hatten in dieser Zeit die steuergesetzlichen Entwicklungen in Sachsen und  – wiederum  – in Preußen. In Sachsen wurde das Einkommensteuer­ gesetz im Jahr 1878 am Maßstab der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausge­ richtet21. In Preußen wurde schließlich im Jahr 1891, im Rahmen der Miquel’schen Steuer­reform, eine Einkommensteuer eingeführt, die  – begründet mit dem Argument der Steuergerechtigkeit22  – das Prinzip der Belastung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit umsetzte23. Der preußische Finanzminister Johannes von Mi­ 14 Art. 13 lautet: „Pour l’entretien de la force publique et pour les dépenses d’administration, une contribution commune est indispensable. Elle doit être également répartie entre tous les citoyens, en raison de leurs facultés.“ (Für die Unterhaltung der öffentlichen Gewalt und für die Verwaltungsausgaben ist eine allgemeine Abgabe unerlässlich; sie muss auf alle Bürger, nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten, gleichmäßig verteilt werden.). 15 Siehe dazu die Nachweise in Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, 2004, S. 58. 16 Neumann, Die progressive Einkommensteuer im Staats- und Gemeinde-Haushalt, 1874, S. 63. 17 Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, S. 14 ff. 18 Lassalle, Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen, 1863. 19 Wagner, Finanzwissenschaft, Zweiter Theil, 1880, S. 288. 20 Mill, Grundsätze der politischen Ökonomie, 1869, Fünftes Buch, Zweites Kapitel, § 2. 21 Gesetz- und Verordnungsblatt für Sachsen 1878, 129; dazu Dziadkowski, FR 1995, 46 ff.; Schremmer in Rose (Hrsg.), Integriertes Steuer- und Sozialsystem, 2003, S.  191  ff.; Ma­ thiak, Das sächsische Einkommensteuergesetz von 1874/78, 2005. 22 Siehe die Verweise auf diesbezügliche Äußerungen von Miquels im Preußischen Herrenhaus bei Pausch, Johannes von Miquel, 1964, S. 33; auch Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 6. 23 Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1891, 175; dazu in unmittelbarer zeitlicher Nähe Wagner, FinArch. Bd. 8 (1891), 71 ff.; Fuisting, Das Preußische Einkommensteuergesetz vom 24. Juni 1892, 2. Aufl. 1892; ausführlich auch Thier, Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie. Staatssteuerreformen in

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quel24 und sein Staatssekretär Bernhard Fuisting hatten die Steuer dabei nach der Quellentheorie konzipiert25. Steuerbar waren die aus vier Arten von Erwerbsquellen erwachsenden Einnahmen, namentlich die Einnahmen aus Kapitalvermögen, aus Grundvermögen, aus Handel und Gewerbe und aus gewinnbringender Beschäf­ tigung (§  7 PrEStG 1891). Erwerbsbezogene Aufwendungen konnten nach dem ­Gedanken des objektiven Nettoprinzips in Grenzen abgezogen werden. Der existenzsichernde Aufwand wurde im Rahmen des Tarifs, der erst jenseits eines Grundfreibetrags einsetzte, berücksichtigt. Dieser Tarif war erstmals progressiv gestaltet und reichte von rund 0,6  % bis 4  %. Hinsichtlich der persönlichen Steuerpflicht wurde zwischen preußischen Staatsangehörigen und Angehörigen anderer Staaten unterschieden. Für beide Personengruppen war aber das Vorhandensein eines Wohnsitzes oder auch gewöhnlichen Aufenthalts in Preußen für die Begründung der unbeschränkten Steuerpflicht entscheidend. Die Steuer erwies sich als durchaus aufkommensstark. Die Bedeutung der indirekten Steuern ging korrespondierend zurück. Im Ergebnis hatte sich von Miquel damit gegen Otto von Bismarck durchgesetzt, einen erklärten Feind der direkten Steuern26. 2. Weitgehende Vorzeichnung des heutigen Einkommensteuerrechts in der Weimarer Zeit Obwohl die Reichsebene schon nach der Reichsverfassung von 1871 umfassende Steuerkompetenzen besaß27, scheiterte die Ausgestaltung einer Reichseinkommensteuer bis zum Ersten Weltkrieg am Widerstand der Einzelstaaten. Erst unter der Weimarer Reichsverfassung kam es – im Angesicht der finanziellen Lasten aufgrund des verlorenen Ersten Weltkriegs  – im Zuge der Erzberger’schen Steuerreform im Jahr 1920 zum Erlass eines Reichseinkommensteuergesetzes28. Anders als das auf die Quellentheorie gestützte preußische Einkommensteuergesetz von 1891 ging das Reichsgesetz von einem erweiterten Einkommensbegriff aus, der jedenfalls im Grundsatz auf der von Georg von Schanz entwickelten Reinvermögenszugangstheorie29 beruhte30. Steuerbar waren die „Einkünfte aus Grundbesitz, aus Gewerbebetrieb, aus Kapitalvermögen und aus Arbeit sowie sonstige Einnahmen ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einmalige oder wiederkehrende Einkünfte handelt und aus welPreußen 1871–1893, 1999, S.  432  ff.; siehe weiterhin Großfeld, Die Einkommensteuer, 1981, S. 44 ff.; Mathiak, FR 2007, 544 (549 f.). 24 Pausch, Johannes von Miquel, 1964; Kassner, Der Steuerreformer Johannes von Miquel, 2001. 25 Fuisting, Die preußischen direkten Steuern, Bd. I, 7. Aufl. 1907, S. 57 ff. 26 Pausch, DStZ/A 1977, 459 (461) mit folgendem Zitat aus einer Reichstagsrede Bismarcks: „Sie wissen, dass ich ein Feind der direkten, ein Freund der indirekten Steuern bin“. 27 Insbesondere Art. 4 Nr. 2 RV 1871. 28 RGBl. 1920, 359; dazu Strutz, Handausgabe des Einkommensteuergesetzes vom 29. März 1920, 3. Aufl. 1921. 29 von Schanz, FinArch. Bd. 13 (1896), 1 ff. 30 Siehe zum Einfluss der finanzwissenschaftlichen Einkommenstheorien auf die Ausgestaltung des Einkommensteuerrechts in dieser Zeit Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 36 ff.; ders., FR 1993, 661.

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chem rechtlichen oder tatsächlichen Grunde sie dem Steuerpflichtigen zugeflossen sind“ (§ 5 REStG 1920). Wiederum konnten erwerbssichernde Aufwendungen zum Abzug gebracht werden. Auch hier wurde das Existenzminimum im Rahmen des Tarifs berücksichtigt, der wiederum progressiv gestaltet war, allerdings auf gänzlich anderem Niveau als zuvor (10 % bis 60 %). Die unbeschränkte persönliche Steuerpflicht hing auch nach dem Reichseinkommensteuergesetz 1920 sowohl für deutsche Staatsangehörige wie auch für Nichtdeutsche entscheidend vom Vorhandensein eines inländischen Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts ab. Für juristische Personen, die nach dem preußischen Recht noch der Einkommensteuer unterworfen gewesen waren, wurde die Körperschaftsteuer geschaffen. Mit dem Reichseinkommensteuergesetz 192531 wurde die persönliche Steuerpflicht sodann gänzlich von der Staatsangehörigkeit gelöst und nur noch nach dem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unterschieden. Die Einkunftsarten wurden ausgedehnt und zugleich präziser konturiert. Die Quellentheorie erlangte hierbei erneut Bedeutung. Das Reichseinkommensteuergesetz 1925 sah deshalb erstmals einen Dualismus der Einkünfteermittlungsarten (Gewinnermittlung und Überschussermittlung) vor32. Das Reichseinkommensteuergesetz 193433, das von nationalsozialistischem Gedankengut noch frei war34, baute darauf seinerseits auf. Es kannte sieben Einkunftsarten, differenzierte begrifflich zwischen Einkünften und Einkommen, führte die Kategorien der Sonderausgaben und der außergewöhnlichen Belastungen ein und gestaltete das Lohnsteuer- und das Kapitalertragsteuerabzugsverfahren aus. In der Gesamtschau war das heutige Einkommensteuerrecht damit in seinen Grundstrukturen im Jahr 1934 weitgehend vorgezeichnet. 3. Anknüpfung und Fortführung nach dem Zweiten Weltkrieg Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg35 wurde die Einkommensbesteuerung durch ein Kontrollratsgesetz der Alliierten von 194636, das die Bemessungsgrundlage erheblich verbreiterte und den Tarif bis auf maximal 95 % erhöhte, stark verschärft. Die sich ergebende Belastung wurde dann jedoch durch die Währungsreform und 31 RGBl. 1925, 189; dazu Blümich/Schachian, Das Einkommensteuergesetz vom 10. August 1925, 1925; Strutz, Kommentar zum Einkommensteuergesetz vom 10. August 1925, 1927. 32 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22.  Aufl. 2015, §  8 Rz.  7; Clausen in Herrmann/Heuer/ Raupach, Dokumentation zur Rechtsentwicklung des EStG Abschn. 2.II. Rz. 30. 33 RGBl.  I 1934, 1005; dazu Blümich, Das Einkommensteuergesetz vom 16. Oktober 1934, 1935; Vangerow, Einkommensteuergesetz vom 16. Oktober 1934, 1936. 34 Clausen in Herrmann/Heuer/Raupach, Dokumentation zur Rechtsentwicklung des EStG Abschn. 3.I. Rz. 50. 35 Zu den Modifikationen des Einkommensteuerrechts während der Zeit des Nationalsozialismus Voß, Steuern im Dritten Reich, 1995, S. 84 ff. und S. 107 ff.; Clausen in Herrmann/ Heuer/Raupach, Dokumentation zur Rechtsentwicklung des EStG Abschn. 3.I. Rz. 51 ff. 36 Gesetz Nr. 12 v. 11.2.1946 bezüglich der Änderung der Gesetzgebung in Bezug auf Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Gewinnabführung, ABl. des Kontrollrats, 60.

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durch nachfolgende Gesetzesregelungen, die sich sowohl auf die Bemessungsgrundlage als auch auf den Tarif bezogen, wieder abgemildert37. Hieran schlossen sich im Laufe der Jahrzehnte zahlreiche, ganz unterschiedlich motivierte Änderungen des Einkommensteuerrechts an38, die aber die Grundstrukturen der persönlichen Steuerpflicht, der Einkunftsarten, der Einkünfteermittlung, der Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen wie auch des Tarifs weitgehend unangetastet ließen39. So ist festzustellen, dass es seit dem Einkommensteuergesetz 1934 keine große Rechtsreform der Einkommensteuer mehr gab40.

III. Die Elemente des Einkommensteuertatbestands – Legislative, ­exekutive und judikative Entwicklungen und ihre Würdigung Trotz der Beständigkeit in den Grundstrukturen haben sich die Elemente des Einkommensteuertatbestands im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Einigen bedeutsamen, tatbestandsprägenden Entwicklungen soll im Folgenden nachgegangen werden41. Gegenständlich sind dabei vor allem legislativ42, aber auch exekutiv43 und judikativ44 angestoßene Entwicklungen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich freilich, dass das Handeln der Staatsgewalten im Steuerrecht oftmals in besonderer Weise verschränkt ist45. 37 Pohmer/Jurke, FinArch. Bd. 42 (1984), 445 (467 ff.); im Einzelnen auch Clausen in Herrmann/Heuer/Raupach, Dokumentation zur Rechtsentwicklung des EStG Abschn. 4.I. Rz. 90 ff. 38 Für eine detaillierte Nachzeichnung Clausen in Herrmann/Heuer/Raupach, Dokumentation zur Rechtsentwicklung des EStG Abschn. 5 Rz. 181 ff. 39 So auch Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht, 20. Aufl. 2017, Rz. 20 ff. 40 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22.  Aufl. 2015, §  8 Rz.  7, die diese Feststellung mit der Aussage verbindet, dass „sich der rechtliche Zustand des EStG seit 1934 durch die Steueränderungsgesetzgebung kontinuierlich verschlechtert“ habe. 41 Die Darstellung wird also nach Tatbestandselementen, nicht nach Prinzipien strukturiert; mit anderem, zeitlich und inhaltlich allerdings weiter greifendem Ansatz Reimer, StuW 2014, 29 ff. zur Dogmengeschichte der ertragsteuerlichen Grundprinzipien. 42 Zur besonderen Verantwortung des Steuergesetzgebers Schmidt in Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013, § 160, insb. Rz. 15 ff. 43 Zur Rolle der Steuerverwaltung Schmitt in Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013, § 161, insb. Rz. 14 ff. 44 Zur richterlichen Rechtsfortbildung durch die Finanzgerichtsbarkeit Spindler in Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013, § 165 Rz. 3 ff.; Musil, Richterliche Rechtsfortbildung und Rechtsprechungsinnovationen, in FS 100 Jahre BFH, S. 151 ff.; siehe auch Weckerle, StuW 2012, 281 ff. 45 Dazu Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007; Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011; Reimer, Das Zusammenspiel von Rechtsprechung und Gesetzgebung, in FS 100  Jahre BFH, S.  227 ff.; Schmitt, Das Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung – nationale Sicht, in FS 100 Jahre BFH, S. 251 ff.; Simonek, Das Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung – nachbarschaftliche Außensicht, in FS 100 Jahre BFH, S. 275 ff.

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1. Persönliche Steuerpflicht a) Steuerinländer, Steuerausländer und die Verarbeitung des EU-Status Schon das preußische Einkommensteuergesetz 1891 stellte zur Begründung der unbeschränkten persönlichen Steuerpflicht nicht nur auf die Staatsangehörigkeit, sondern ergänzend auch auf Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt ab46. Das Reichseinkommensteuergesetz 1925 ließ die Staatsangehörigkeit sodann erstmals ganz außer Betracht und knüpfte zur Begründung der unbeschränkten Steuerpflicht allein an Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Steuerpflichtigen an47. Andere Personen waren nur mit ihren inländischen Einkünften steuerpflichtig (§ 3 EStG 1925). Hierbei ist es, heute in der Differenzierung zwischen § 1 Abs. 1 und § 1 Abs. 4 EStG, geblieben48. Das deutsche Einkommensteuerrecht hat sich damit schon früh auf die Situation des Auseinanderfallens von Staatsangehörigkeit und Wohn- oder Aufenthaltsort eingestellt und auch im Angesicht dieser Situation eine Besteuerung nach dem Gedanken der umfassenden Besteuerungszuständigkeit für alle Personen, die einen engen territorialen Bezug zum Staatswesen haben, ermöglicht49. Dies entsprach und entspricht auch heute internationalsteuerrechtlichen Standards50. Die weitere Abstimmung zur Vermeidung von internationaler Mehrfachbesteuerung und Nichtbesteuerung ist sodann dem sachlichen internationalen Steuerrecht aufgegeben, vorrangig dem bi- und multilateralen, subsidiär und ergänzend dem unilateralen internationalen Steuerrecht51. Zusätzliche Herausforderungen ergaben sich aus dem Europarecht; dies insbeson­ dere seit Mitte der 1980er Jahre, als der Gerichtshof der Europäischen Union begann, die Grundfreiheiten auch für das direkte Steuerrecht zu entfalten52. Besondere Bedeutung erlangte die im Jahr 1995 ergangene Entscheidung in der Rechtssache Schumacker zur grundfreiheitsrechtlich gebotenen Abzugsfähigkeit persönlicher Aufwendungen von Grenzpendlern im Tätigkeitsstaat53. In Reaktion auf diese Entscheidung wurde die Kategorie der fiktiv unbeschränkten Steuerpflicht in das EStG eingefügt (§ 1 Abs. 3 EStG); Familienangehörige werden über § 1a EStG berücksichtigt. Ungeachtet der grundsätzlichen Zweifel, die an der Schumacker-Dogmatik des 46 Siehe oben II.1. 47 Siehe oben II.2. 48 Die Staatsangehörigkeit hat heute ausschließlich im Zusammenhang der erweiterten unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 2 EStG Bedeutung. 49 Zu den verschiedenen Dimensionen der Rechtfertigung der Welteinkommensbesteuerung Lehner/Waldhoff in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 1 EStG Rz. A 11 ff. und A 457 ff.; zur Herleitung des subjektbezogenen Universalitätsprinzips aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip Lang in DStJG 24 (2001), S. 49 (61). 50 Dass einige Staaten auch heute an die Staatsangehörigkeit anknüpfen, wie etwa die USA, ist dabei unbenommen. 51 Dazu Schön, Internationalisierung des Internationalen Steuerrechts, in FS 100 Jahre BFH, S. 923 ff. 52 Zur Entwicklung dieser Rechtsprechung Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht  – Stand und Perspektiven, Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht, Vorträge und Berichte, Nr. 171, 2009. 53 EuGH v. 14.2.1995 – C-279/93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225.

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Gerichtshofs bestehen54, haben diese Rechtsänderungen die grundfreiheitsrechtliche Problematik der einkommensteuerrechtlichen Situation von Grenzpendlern insoweit behoben. In der Sache wurde hier eine Beschwernis im Bereich des subjektiven Nettoprinzips55 durch eine Umformung des persönlichen Einkommensteuertatbestands beseitigt. b) Personelle Zuordnung unternehmerischen Handelns Nachdem im Zuge der Erzberger’schen Steuerreform die Steuerpflicht der Körperschaften aus dem Einkommensteuerrecht ausgesondert und im Körperschaftsteuergesetz 1920 geregelt worden war56, erfasste und erfasst das EStG nur noch, zugleich vollumfänglich, das Handeln und damit auch das unternehmerische Handeln natürlicher Personen; sei es das Handeln des Einzelunternehmers, sei es das – nach dem Transparenzprinzip zugerechnete  – Handeln in mitunternehmerischer Verbundenheit. Nach anfänglich materieller Betrachtung durch den Reichsfinanzhof, insbesondere für den Fall der GmbH & Co. KG, wahrt die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs hier eine strikte Akzessorietät zu den gesellschaftsrechtlichen Einordnungen57. Personell weiter untergliedert wurde und wird bei der subjektiven Zurechnung unternehmerischen Handelns im Einkommensteuerrecht demgegenüber nicht. Es wird weder zwischen der Unternehmerperson und der Privatperson noch zwischen dem Mitunternehmer und der Mitunternehmerschaft unterschieden. Das Einkommensteuerrecht hat immer an der Steuerpflicht der natürlichen Person festgehalten, die einen Privatbereich und ein Betriebsvermögen haben oder auch – bei ihr steuererheblich – einen Anteil an einer Personengesellschaft halten kann. Das Transparenzprinzip wird klassisch mit der Mitunternehmerinitiative und dem Mitunternehmerrisiko des (Mitunternehmer-)Gesellschafters der Personengesellschaft begründet58; anders als im Fall der abgeschirmten Kapitalgesellschaft schlägt sich dieses Risiko, so die Argumentation, nicht zuletzt im persönlichen Einstehenmüssen des Gesellschafters für Verluste der Gesellschaft nieder. Ungeachtet der Stellung der Personenmehr54 Siehe etwa Lang, RIW 2005, 336 ff. auch unter Verweis auf die nachfolgende Rechtsprechung des Gerichtshofs. 55 Nach § 50 Abs. 1 EStG können beschränkt Steuerpflichtige persönliche Abzugspositionen grundsätzlich nicht in Ansatz bringen. 56 Siehe oben II.2.; dazu auch Hüttemann, StuW 2014, 58 (61 ff.); zum Zusammenhang dieser Aussonderung mit der Entwicklung des Begriffs der juristischen Person Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2013, S. 4. 57 Der RFH hatte die KG im Fall der GmbH & Co. KG in seiner frühen Rechtsprechung noch unter Verweis auf den Gestaltungsmissbrauch gemäß § 5 RAO als Körperschaftsteuersubjekt eingeordnet; RFH v. 15.5.1925 – I A 104/24, RFHE 16, 306. Der BFH behandelte und behandelt die Konstruktion sodann durchgängig als Personengesellschaft; BFH v. 16.9.1958 – I 351/56 U, BStBl. III 1958, 462; v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751; dazu Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2013, S. 7. Zur Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen Erfassung von Personen- und Kapitalgesellschaften BVerfG v. 21.6.2006  – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (198 ff.) m.w.N. aus der Rechtsprechung. 58 Dazu Hennrichs in Tipke/Lang, 22. Aufl. 2015, § 10 Rz. 35 ff.

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heit als Einkünfteermittlungssubjekt (§§ 179, 180 AO)59 ist eine eigenständige ertragsteuerrechtliche Steuersubjektivität der Personengesellschaft bislang nicht ausgestaltet worden. Dies steht seit längerem in der Diskussion60. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass es die Personengesellschaft ist, die am Markt tätig wird, nicht der Gesellschafter61. Verbreitet wird deshalb die Einbeziehung der Personengesellschaften in die Körperschaftsteuer gefordert62. Einen neuen Weg schlägt demgegenüber Paul Kirchhof im Entwurf eines Bundessteuergesetzbuchs vor63. Er führt Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften in der neuen Figur der steuerjuristischen Person zusammen, die neben der natürlichen Person einkommensteuerpflichtig sein soll (§ 12 BStGB-E). Das gesellschaftsrechtliche Haftungskriterium sei kein hinreichender Differenzierungsgrund für das Steuerrecht. Zudem sei die Rechtswirklichkeit von kapitalistischen Personengesellschaften ebenso wie von personalistischen Kapitalgesellschaften geprägt64. Das Gesellschaftsrecht selbst ebne die Unterscheidung zwischen Personenund Kapitalgesellschaften zunehmend ein und spreche den Personengesellschaften inzwischen weitgehend Rechtspersönlichkeit zu. Auch das Verfassungs- und das Europarecht gingen vielfach über die Unterscheidung hinweg. Das Steuerrecht könne hieran anschließen, zumal es erstrebenswert erscheine, die steuerliche Rechtsfähigkeit für alle Steuern einheitlich zu regeln65. Für diesen Vorschlag sprechen neben den genannten Gründen, wiederum mit der Kommentierung zu dem Gesetzentwurf66, auch die Rechtsformneutralität und die Vollzugssicherheit, die mit der einheitlichen ertragsteuerrechtlichen Einordnung aller Personenzusammenschlüsse erreicht werden können. Der Bedarf nach Anrechnungs- oder auch Teileinkünfteverfahren entfiele bei einer definitiven, zumal proportionalen Besteuerung der steuerjuristischen Person. Die Verluste wären allein auf Ebene dieser Person zu verrechnen. Herausforderungen ergäben sich bei einer Umstellung freilich aus den Erfordernissen der Anpassung an das sonstige Steuerrecht, vor allem an das internationale Steuerrecht67.

59 Diese Stellung begründet sich freilich nicht materiellrechtlich, sondern durch die Wirtschaftlichkeit und Gleichheitsgerechtigkeit des Verfahrens. 60 Zum weiteren Rahmen Drüen, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Unternehmenssteuerrechts, in FS 100 Jahre BFH, S. 1317 ff. 61 Hüttemann in Dötsch u. a. (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, S. 39 (43). 62 Hennrichs in Tipke/Lang, 22. Aufl. 2015, § 10 Rz. 15 m.w.N. 63 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 12 Rz. 1 ff., auch zum Folgenden. 64 Zu denken ist hier an die Publikums-KG einerseits und die Einmann-GmbH andererseits. 65 Vgl. die Situation bei der Gewerbesteuer und der Umsatzsteuer, auch bei der Grunderwerb- und Grundsteuer. 66 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 12 Rz. 5 ff. 67 In ausländischen Steuerrechtsordnungen ist die Besteuerung von Personengesellschaften nach dem Trennungsprinzip aber durchaus geläufig; siehe dazu Hey/Bauersfeld, IStR 2005, 649 ff.; Spengel/Schaden/Wehrße, StuW 2010, 44 ff.; Schön in Dötsch u. a. (Hrsg.), Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, S. 139 ff.

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2. Einkunftsarten und Einkünfteermittlung a) Synthetische Einkommensteuer auf Grundlage erwerbsquellentypisierender Einkunftsarten Seit auf der Basis der individuellen Leistungsfähigkeit, also nicht mehr nach Klassen einkommensbesteuert wird68, unterscheidet das Einkommensteuerrecht zwischen verschiedenen Arten von Einkünften, die steuerbar sind. Das preußische Einkommensteuergesetz 1891 kannte noch vier Einkunftsarten. Deren Zahl erhöhte sich bis 1934 auf sieben. Dabei ist es geblieben69. Der Anstieg beruhte zum einen auf einer zunehmenden Präzisierung der steuertatbestandlichen Anknüpfungspunkte, ist aber auch vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass die Quellentheorie, die dem Recht von 1891 zugrunde lag, zunächst durch die Vermögenszugangstheorie abgelöst wurde, bevor beide Theorien nebeneinander im Recht von 1925 und sodann auch von 1934 ihren Niederschlag fanden70. Die Einkunftsarten haben sich also nach und nach, dabei unter dem Einfluss unterschiedlicher, inkongruenter Einkommenstheorien, ausdifferenziert. In ihrem Zusammenwirken belassen die Einkunftsarten keine wesentlichen Besteuerungslücken. Die einkunftsartspezifischen Einzelregelungen in den §§ 13 ff. EStG beschreiben und erfassen die steuerbaren Vorgänge dabei jeweils sachnah71. Dennoch verbleiben seit Jahrzehnten unbeantwortete Fragen. Insbesondere ist unklar, wie sich die Gewinneinkunftsarten konzeptionell zu den Überschusseinkunftsarten verhalten72. Die Unklarheit findet einen wesentlichen Grund bereits darin, dass nicht gänzlich erschlossen ist, wie sich die Einkunftsarten auf die den Einkünfteermittlungsarten zugrunde liegenden Einkommenstheorien beziehen. Nach der Reinvermögenszugangstheorie ist der Ursprung des Vermögenszugangs grundsätzlich unerheblich. Die modifizierte Vermögenszugangstheorie konzentriert den Blick immerhin auf den Bereich eines Betriebsvermögens und weist damit auf die Maßgeblichkeit bestimmter Erwerbsgrundlagen hin. In den Gewinneinkunftsarten kommt dies aber nur ansatzweise zum Ausdruck73. Die Quellentheorie nimmt zur Begrün68 Siehe zum Übergang oben II. 1. 69 Zu dieser Form eines „Einkünftehistorismus“ Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 222 f.; Drüen, StuW 2014, 16. 70 Siehe Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 36 ff.; vgl. bereits oben II.1. und II.2. 71 Wernsmann, Einkunftsartenabgrenzung, in FS 100 Jahre BFH, S. 1229 ff. 72 Das Bundesverfassungsgericht hat den Dualismus der Einkünfteermittlungsarten verfassungsrechtlich gebilligt; BVerfG v. 9.7.1969  – 2 BvL 20/65, BVerfGE 26, 302 (310  ff.); v. 7.10.1969  – 2 BvL 3/66, 2 BvR 701/64, BVerfGE 27, 111 (127  ff.); v. 11.5.1970  – 1 BvL 17/67, BVerfGE 28, 227 (236 ff.). 73 So gebraucht der BFH einerseits den Begriff Einkunftsquelle (etwa BFH v. 15.12.1976 – I R 58/75, BStBl. II 1977, 250 Rz. 14; v. 27.5.2009 – X R 62/06, juris Rz. 29, 31), geht aber andererseits davon aus, dass das Einkommensteuerrecht einen einheitlichen Begriff des Gewinns aus Gewerbebetrieb kennt und dass darunter das Gesamtergebnis der wirtschaftlichen Betätigung zu verstehen ist (etwa BFH v. 8.5.1958 – IV 115/57 U, BStBl. III 1958, 350; v. 16.3.1967 – IV 72/65, BStBl. III 1967, 318); kritisch Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2013, S. 449 f.

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dung der Steuerbarkeit dagegen unmittelbar auf die Idee der Erwerbsgrundlage Bezug. Die Tatbestände der Überschusseinkunftsarten deuten dies an, verhalten sich aber ebenfalls nicht klar zu diesem Gegenstand. Hilfreich und konsolidierend erschiene es deshalb, in allen Einkunftsarten ausdrücklich von materiell maßgeblichen Erwerbsgrundlagen74 auszugehen, deren Nutzung – möglicherweise durchgängig auch einschließlich deren Veräußerung75 – einen steuerbaren Erfolg nach sich zieht76. Erst diese Konzeption vereinheitlicht die Betrachtung und verklammert die Einkunftsarten trotz des Dualismus in der Methodik der Einkünfteermittlung77. Die Bezugnahme auf Erwerbsgrundlagen lässt auch die seit langem ungeklärte Frage, ob den Einkunftsarten ein allgemeiner Einkommensbegriff übergeordnet ist78, in einem neuen Licht erscheinen. So kann als Einkommen in diesem Sinne der Erfolg aus der Nutzung einer Erwerbsgrundlage definiert werden, dies bei gleichzeitiger Anerkennung einer abschließenden und rechtssicheren Bestimmung der Erwerbsgrundlagen in den Tatbeständen der Einkunftsarten. Zudem erlaubt erst die Bezugnahme auf Erwerbsgrundlagen eine steuertheoretisch und auch verfassungsrechtlich substanzhaltige Steuerrechtfertigung79, insbesondere nach der Markteinkommenstheorie80: Weil und soweit der Staat die Erwerbsgrundlagen mitkonstituiert und gewährleistet, ist eine steuerliche Teilhabe am Erfolg der Nutzung dieser Erwerbsgrundlagen gerechtfertigt. Der Blick von den Erwerbsgrundlagen her öffnet das Denken schließlich auch für eine mögliche Reduzierung der Zahl der Einkunftsarten nach inhaltlichen Gesichtspunkten81. 74 Kirchhof in FS Lang, 2010, S. 451 (464 f.); zum Begriff der Einkunftsquelle im Zusammenhang mit den gesetzlichen Einkunftsarten bereits Ruppe in DStJG 1 (1978), S. 7 (15 ff.). 75 Kritisch zum Einkünftedualismus gerade auch mit Blick auf die Konsequenzen für die Veräußerungsgewinnbesteuerung Hey in Tipke/Lang, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 185. 76 Zur einheitlichen Annahme eines Zustands-, Handlungs- und Erfolgstatbestands, bezogen auf Erwerbsgrundlagen, Kirchhof in FS Lang, 2010, S. 451 (464 ff.); ders., Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 43 Rz. 17 ff. 77 Auch Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2013, S. 446 ff. 78 Ausführlich Kirchhof, Bedeutung von Einkommensbegriffen und Einkommenstheorien, in FS 100  Jahre BFH, S.  1197  ff.; Eisgruber in Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. II, 2013, § 169 Rz. 15 ff. geht von einem „enumerativen Prinzip als Gesamtkonzept der Einkommensteuer“ aus, verweist aber auch auf Rechtsprechung (Rz.  39  ff.), in der eine übergeordnete Form der Steuerbarkeit angenommen zu werden scheint. 79 Seiler in VVDStRL 75 (2016), S. 333 ff., insb. S. 355 f. 80 Kirchhof in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  V, 3.  Aufl. 2007, §  118, Rz.  233; ders. in DStJG 24 (2001), S.  9 (14  f.); ders. in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Hrsg.), §  2 EStG Rz.  A 363  ff.; siehe auch Wittmann, Das Markteinkommen  – einfachgesetzlicher Strukturbegriff und verfassungsdirigierter Anknüpfungsgegenstand der Einkommensteuer?, 1992. 81 Zu den Perspektiven einer Reduzierung der Einkunftsarten Desens in DStJG 37 (2014), S. 95 (112 ff.); Reimer in DStJG 37 (2014), S. 293 (301 ff.); auch Thiel in FS 50 Jahre Arbeitsgemeinschaft der Fachanwälte für Steuerrecht e.V., 1999, S. 75 ff.; Kirchhof verzichtet auf Grundlage des Konzepts der Erwerbsgrundlage gänzlich auf eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Einkunftsarten, belässt es aber beim Dualismus der Einkünfteer­ mittlungsmethoden; Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, vor §  44 Rz.  1; siehe auch

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Im Angesicht des bislang recht unklaren konzeptionellen Verständnisses der historisch entstandenen Einkunftsarten kann es geradezu erstaunen, dass das Modell der einheitlichen, synthetischen Einkommensteuer, also der Summierung aller Einkünfte in einer  – sodann einem einheitlichen Tarif zu unterwerfenden  – Bemessungsgrundlage82, in Deutschland nie ernsthaft in Frage stand. Sieht man von den konzeptionellen Ausgangsschwächen der historisch gewachsenen Zusammenstellung der Einkunftsarten ab, ist dieses Modell freilich nicht nur steuerpolitisch, sondern auch verfassungsrechtlich geboten83. Denn aus freiheits- und insbesondere gleichheitsrechtlichen Gründen hat sich der Staat prinzipiell neutral zu der Art und Weise der Einkünfteerzielung der Steuerpflichtigen zu verhalten. Ob der Einzelne Einkünfte aus unternehmerischem Handeln, aus abhängiger Beschäftigung oder aus Kapital erzielt, kann für den Staat grundsätzlich nicht Anlass zu unterschiedlicher Steuerbelastung sein. b) Die abgeltende Quellenbesteuerung von Kapitaleinkünften und ihre ­Zukunft Mit Wirkung ab dem Jahr 2009 ist der Steuergesetzgeber gleichwohl vom Modell der  synthetischen Einkommensteuer abgerückt und hat mit der Einführung der 25 %-­Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge gemäß §§ 20, 32d und 43 ff. EStG erstmals84 in der Geschichte des deutschen Einkommensteuerrechts eine echte Schedulenbesteuerung ausgestaltet85. Dieser Paradigmenwechsel von der synthetischen zu einer „dualen“ Einkommensteuer86 ist verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen, aber in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig87. Neben einem konsumtheoretischen Rechtfertigungsansatz88 stand bei Einführung der Abgeltungsteuer vor allem eine wettbewerbspolitische Argumentation im Mittelpunkt. Zentrales Lenkungsziel war die Bekämpfung von Kapitalflucht in Steueroasen, damit auch die Bekämpfung von Steuerhinterziehung, durch eine Erhöhung der Attraktivität des Standorts Deutsch-

Goetze, Die Ersetzung der sieben Einkunftsarten des EStG durch eine einzige, 2010; Birk in DStJG 34 (2011), S. 11 (24 f.). 82 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 1 (Gegensatz: analytische Schedulensteuer). 83 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (181). 84 Auch die vorhandenen Begünstigungen einzelner Einkunftsarten oder Erwerbsgrundlagen auf Ebene der Bemessungsgrundlage (siehe etwa §  5a oder §  13a EStG) können als Formen der Schedularisierung betrachtet werden, reichen aber nicht so weit wie die gänzliche Herausnahme bestimmter Einkünfte aus der allgemeinen Bemessungsgrundlage durch die Abgeltungsteuer. 85 Dazu Jachmann-Michel, Kapitaleinkünfte und Abgeltungsteuer, in FS 100  Jahre BFH, S. 1279 ff. 86 Meyer-Sandberg, Die Duale Einkommensteuer als Modell ungleicher Besteuerung von Arbeit und Kapital, 2008. 87 BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (181). 88 Englisch, IFSt-Schrift Nr. 432 (2005), S. 93 ff., insb. S. 136 f.; Hey, JZ 2006, 851 (854 f.).

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land89. Die rechtfertigende Kraft dieser Zielsetzung stand allerdings von Beginn an in Frage90. So wurde der Kreis der einbezogenen Einkünfte recht weit gefasst, obwohl bei Licht betrachtet nur hinsichtlich eines Teils dieser Einkünfte bzw. des zugrunde liegenden Kapitals eine Verlagerung in das Ausland drohte. Ob und inwieweit der Abgeltungsteuersatz tatsächlich dazu beigetragen hat, Steuerpflichtige von einer Auslandsverlagerung abzuhalten, ist unklar; belastbare empirische Erkenntnisse sind dazu nicht ersichtlich. Im Übrigen hat die Einführung der Abgeltungsteuer keineswegs, wie ebenfalls in Aussicht gestellt worden war, zu einer Steuervereinfachung geführt, sondern vielmehr zu einer erheblichen Verkomplizierung des Steuerrechts91. Angesichts dessen ist die im Koalitionsvertrag 2018 von CDU, CSU und SPD vorgesehene Abschaffung der Abgeltungsteuer auf Zinserträge92, also die Rückführung dieser Erträge in die allgemeine Bemessungsgrundlage, zu begrüßen. Die Wiedereingliederung dient der gleichheitsgerechten Besteuerung von Arbeit und Kapital. Zudem wird einer möglichen Steuerhinterziehung durch Auslandsverlagerung – hierauf wird auch im Koalitionsvertrag abgestellt – zunehmend durch den grenzüberschreitenden automatischen Informationsaustausch begegnet. Dass zugleich an der Abgeltungsteuer für Dividenden und Gewinne aus Anteilsveräußerungen festgehalten werden soll, ist systemgerecht. Denn anders als Zinsen sind diese durch Körperschaftsteuer und korrespondierende Gewerbesteuer vorbelastet93. Soll im Ergebnis eine Einmal-Vollbesteuerung erreicht werden, ist die Anlegung des Abgeltungsteuertarifs auf Anteilseignerebene zutreffend (alternativ zur Anwendung des Teileinkünfteverfahrens gemäß § 3 Nr. 40 EStG94). Würde die Abgeltungsteuer auch für Dividenden und Gewinne aus Anteilsveräußerungen abgeschafft werden, müsste dies deshalb mit anderweitigen Maßnahmen zur Verhinderung einer Überbesteuerung in diesem Fall verbunden werden, so mit einer Verallgemeinerung des Teileinkünfteverfahrens oder der Wiedereinführung eines Anrechnungsverfahrens. Dass die Abschaffung der Abgeltungsteuer auf Zinserträge zu einer wachsenden Steuerlast gerade bei wieder steigenden Zinsen führen und damit das Sparen er-

89 Dazu Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken, Jahresgutachten 2008/09, 2008, S. 228 ff.; Pfirrmann in Kirchhof (Hrsg.), 17. Aufl. 2018, § 32d EStG Rz. 2; die Gesetzesbegründung geht in diese Richtung, bleibt aber recht zurückhaltend; BT-Drucks. 16/4841, 33. 90 Wagner, Steuergleichheit unter Standortvorbehalt. Verfassungsrechtliche Grenzen einer ungleichen Einkommensbesteuerung von Kapital und Arbeit, 2010, S. 113 ff. 91 Hingewiesen sei beispielhaft auf die Länge der Regelungen in § 51a Abs. 2b ff. EStG allein zur Berücksichtigung der Kirchensteuer. 92 CDU, CSU und SPD, Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag v. 7.2.2018, 69. 93 Die Gleichbehandlung von Zinsen und Dividenden durch die Abgeltungsteuer ist mithin problematisch; für einen auch in dieser Hinsicht weitreichenden Gestaltungsraum des Gesetzgebers demgegenüber Pfirrmann in Kirchhof (Hrsg.), 17. Aufl. 2018, § 32d EStG Rz. 2 mit Nachweisen aus der BFH-Rechtsprechung. 94 Vgl. § 43 Abs. 5 Satz 2 EStG.

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schweren kann – dies wird kritisch eingewandt95 –, ist zutreffende Konsequenz der freiheits- und gleichheitsgerechten Einkommensbesteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Und auch die möglichen Auswirkungen auf die Unternehmensfinanzierung, namentlich mit Blick auf das Verhältnis zwischen Fremd- und Eigenkapitalfinanzierung, sind im Rahmen einer leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung folgerichtig96. Freilich ist der erneute Systemwechsel mit regulativen Herausforderungen verbunden. Doch sind diese Herausforderungen letztlich nur Reflex der schon im ersten Schritt komplizierten Ausgestaltung des Abgeltungsteuersystems. Probleme könnte jedoch das Erfordernis einer rechtssicheren Abgrenzung zwischen Dividenden und Zinsen bzw. entsprechenden Veräußerungserlösen mit sich bringen. Hier drohen Steuergestaltungen. Als entscheidungsleitendes rechtliches Einordnungskriterium muss insofern das Kriterium dienen, das auch in § 8b Abs. 1 Satz 2 KStG zur Anwendung kommt, das Kriterium der bestehenden oder aber nicht bestehenden Vorbelastung mit Körperschaftsteuer97. Oftmals werden aber Zweifel an der tatsächlichen Existenz einer Vorbelastung mit Körperschaftsteuer im konkreten Fall bleiben. Zumindest in der Praxis wird eine solche Vorbelastung vielfach nicht klar zu verifizieren oder in einem größeren Gefüge zuzuordnen sein. Die erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten, die sich hier auftun, können dafür sprechen, Zinsen und Dividenden doch weiterhin einheitlich zu erfassen. Die Aufgabe, grundsätzliche und systematisch befriedigende Lösungen zu finden, bliebe dann bestehen. Derartige ­Lösungen können auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Der Übergang zu einer proportionalen Besteuerung ließe die Differenz zwischen Abgeltungsteuersatz und persönlichem Steuersatz entfallen, würde aber das Problem der nur teilweisen Vorbelastung von Kapitalerträgen mit Körperschaftsteuer nicht beseitigen. Dieses Pro­ blem könnte demgegenüber, unter anderem, durch die schon angesprochene98 rechtsformneutrale definitive Ertragsbesteuerung aller Gesellschaften, also auch der Personengesellschaften, auf Gesellschaftsebene gelöst werden (Idee der steuerjuristischen Person). 3. Objektives Nettoprinzip a) Kontinuität im Grundsätzlichen und Wechselhaftigkeit im Detail Seit die Einkommensbesteuerung in den letzten Jahrzehnten des 19.  Jahrhunderts am Leistungsfähigkeitsprinzip ausgerichtet wurde, lassen die Einkommensteuergesetze den Abzug derjenigen Aufwendungen von der Bemessungsgrundlage zu, die 95 Stiftung Marktwirtschaft, (Abschaffung der) Abgeltungssteuer  – sinnvoll oder sinnfrei?, Kurzinformation, Februar 2018, 1. 96 Während die Abgeltungsteuer die Fremdfinanzierung begünstigt hat, wird durch ihre Abschaffung die Finanzierung durch Eigenkapital besser gestellt; Fossen/Simmler, DIW Wochenbericht 17/2012, 11 ff. 97 Herlinghaus in Rödder/Herlinghaus/Neumann (Hrsg.), 2015, § 8b KStG Rz. 127 ff. (Korres­ pondenzprinzip). 98 Siehe oben III. 1. b).

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zum Erhalt oder zur Verbesserung der Erwerbsquelle getätigt werden99. Das objektive Nettoprinzip stand mithin von Beginn an außer Frage. Ungeachtet der variierenden legislativen Ausgestaltungen ist hier im Grundsatz eine klare Kontinuität zu erkennen. Die Rechtsprechung nahm sich zugleich der Aufgabe an, sich stellende Abgrenzungsund Einzelfragen zu beantworten. Eine wichtige Wegmarke war die gleichheitsgrundrechtlich induzierte kausale Interpretation des erforderlichen Veranlassungszusammenhangs im Tatbestand der Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG100. Auch zum Umfang der Abzugsfähigkeit vorweggenommener101, nachträglicher102 und vergeblicher103 Erwerbsaufwendungen liegen langjährige und umfangreiche Rechtsprechungslinien vor, ebenso zur subjektiven Zurechnung von erwerbsbezogenen Aufwendungen, zumal in Mehrpersonenverhältnissen104. Während Aufwendungen in der einkommensteuerrechtlich unerheblichen Privatsphäre, die durch § 12 EStG abgegrenzt wird, im Rahmen des objektiven Nettoprinzips von vornherein außer Betracht bleiben, hat der BFH das hergebrachte Aufteilungs- und Abzugsverbot für gemischt veranlasste Aufwendungen105 durch eine Entscheidung von 2009 aufgegeben und die schon zuvor für bestimmte Sachbereiche anerkannte Möglichkeit, gemischte Aufwendungen bei vorhandener Aufteilbarkeit anteilig der Erwerbssphäre zuzuordnen106, verallgemeinert107. Bezüglich einiger Arten von Aufwendungen ist allerdings eine erhebliche Unsicherheit und im Ergebnis Wechselhaftigkeit bei der Zuordnung zur Erwerbs- oder Privatsphäre zu erkennen. Das Zusammenwirken von Gesetzgeber und Rechtsprechung weist gerade hier eine besondere Dynamik auf. Zu nennen sind etwa die Kosten der Fahrt zur Arbeitsstätte, der Aufwand für das häusliche Arbeitszimmer, berufsbedingte Kinderbetreuungskosten oder auch die Kosten der Erstausbildung und des Erststudiums. Zur Diskussion steht hier jeweils das Vorhandensein eines hinreichenden Veranlassungszusammenhangs der Aufwendungen mit einer bestimmten Einkunfts 99 Siehe oben unter II. 1., II. 2. und II. 3. die Hinweise auf die diesbezüglichen Ausgestaltungen. 100 BFH v. 28.11.1977 – GrS 2-3/77, BStBl. II 1978, 105 mit Blick auf § 4 Abs. 4 EStG. 101 BFH v. 3.11.1961 – VI 196/60 U, BStBl. III 1962, 123. 102 BFH v. 14.10.1960 – VI 45/60 U, BStBl. III 1961, 20; v. 16.3.2010 – VIII R 20/08, BStBl. II 2010, 787. 103 BFH v. 13.11.1973 – VIII R 157/70, BStBl. II 1974, 161; v. 28.6.2002 – IX R 51/01, BStBl. II 2002, 758. 104 BFH v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782 (Kostentragungsprinzip); v. 3.4.1987 – VI R 91/85, BStBl.  II 1987, 623; v. 1.4.1965  – IV 3/61 U, BStBl.  III 1965, 359 (Zuwendungsgedanke); v. 24.2.2000 – IV R 75/98, BStBl. II 2000, 314 (abgekürzter Zahlungs- und Vertragsweg). 105 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17; dazu Eisendick, Das Aufteilungs- und Abzugsverbot, 1995; Seiler in Kirchhof (Hrsg.), 17. Aufl. 2018, § 12 EStG Rz. 1. 106 Beispielsweise BFH v. 19.2.1993 – VI R 42/92, BStBl. II 1993, 519 (Versicherungsprämie). 107 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672; zur Entwicklung auch Schneider, Gemischte Veranlassung, in FS 100 Jahre BFH, S. 1243 ff.

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art. Während der RFH beispielsweise das Erststudium noch als Vorbereitung auf den „Lebenskampf “ angesehen und einen einkommensteuererheblichen Veranlassungszusammenhang verneint hatte108, tendierte die jüngere finanzgerichtliche Rechtsprechung immer stärker dazu, einen hinreichenden Konnex der Kosten des Erststudiums mit der Erwerbssphäre zu bejahen109. In Reaktion hierauf schuf der Gesetzgeber sodann im Jahr 2004 die ausdrückliche Regelung des § 12 Nr. 5 EStG, um Klarheit herzustellen. Diese Klarheit wurde darauf allerdings durch eine sehr voraussetzungsreiche Rechtsauslegung des BFH in Zweifel gezogen110, weshalb der Gesetzgeber nachjustierte und damit endgültig regelte, dass die Kosten der Erstausbildung und des Erststudiums regelmäßig nicht als Betriebsausgaben oder Werbungskosten geltend gemacht werden können (§ 4 Abs. 9 und § 9 Abs. 6 EStG). Die Beispiele zeigen, dass die Abgrenzung hier mitunter – aufgrund fließender Übergänge  – nur durch eine klärende, Rechtssicherheit schaffende legislative Entscheidung zu erreichen sein kann. Dies betont auch das Bundesverfassungsgericht, das vom Steuergesetzgeber allein eine folgerichtige Ausgestaltung des objektiven Nettoprinzips verlangt, wenn und soweit dieses Prinzip dem Einkommensteuergesetz zugrunde gelegt wird111. Weder leitet das Bundesverfassungsgericht aus dem verfassungsrechtlichen Leistungsfähigkeitsprinzip also die Abzugsfähigkeit bestimmter Kosten als erwerbsbedingter Kosten ab noch sieht es auch nur das objektive Nettoprinzip als solches als verfassungsrechtlich zwingend an112. Angesichts der grundrechtlichen Wertungen, auf denen das Leistungsfähigkeitsprinzip beruht, könnte demgegenüber zu erwägen sein, das objektive Nettoprinzip durchaus – entsprechend dem subjektiven Nettoprinzip113 – als verfassungsrechtlich verbindliche Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips zu betrachten114, dem Gesetzgeber aber gleichwohl erheblichen Gestaltungsraum bei der Zuordnung und Abgrenzung bestimmter Aufwendungen einzuräumen.

108 RFH v. 24.6.1937 – IV A 20/36, RStBl. 1937, 1089 (1090) („Erlangung der für den Lebenskampf notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten“ als Teil der privaten Lebensführung). 109 Siehe die Nachweise bei Bode in Kirchhof (Hrsg.), 17. Aufl. 2018, § 4 EStG Rz. 257 „Ausbildungskosten“; zur Rechtsentwicklung auch Ismer, Bildungsaufwand im Steuerrecht, 2006; Johenning, Bildungsaufwendungen im Einkommensteuerrecht, 2009; Holthaus, Die Berücksichtigung von Bildungskosten im Einkommensteuerrecht, 2011. 110 BFH v. 28.7.2011 – VI R 7/10, BStBl. II 2012, 557. 111 Für den Fall der Fahrtkosten zur Arbeitsstätte BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 (234); für den Fall des häuslichen Arbeitszimmers BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (278 ff.). 112 Zur Diskussion um den Verfassungsrang des objektiven Nettoprinzips Wendt in DStJG 28 (2005), S. 41 (50); die Beiträge in DStR-Beiheft 2009, S. 77 ff. (zu Heft 34/2009); Seiler in DStJG 34 (2011), S. 62 ff. 113 Siehe dazu unten III. 4. 114 In diese Richtung auch Lehner in ders. (Hrsg.), Verluste im nationalen und Internationalen Steuerrecht, 2004, S. 1 (5 f.); Röder, Das System der Verlustverrechnung im deutschen Steuerrecht, 2010, S. 162 ff.

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b) Eine wachsende Zahl begründungsbedürftiger Abzugsbeschränkungen Nach Maßgabe des objektiven Nettoprinzips bedarf eine nicht unerhebliche, seit einiger Zeit deutlich wachsende Zahl von Regelungen des Einkommensteuerrechts besonderer Begründung. Denn auch jenseits der Grenzziehung des § 12 EStG und der Abgrenzung unangemessener Aufwendungen durch § 4 Abs. 5 und § 9 Abs. 5 EStG tendiert der Steuergesetzgeber verstärkt dazu, den Aufwendungsabzug auf der Ebene der Summe der Einkünfte einzuschränken oder auszuschließen. Beispiele bilden abschließende Aufwandstypisierungen (Sparerpauschbetrag gemäß §  20 Abs.  9 EStG), horizontale und vertikale Verlustverrechnungsbeschränkungen (§ 2a Abs. 1, § 15 Abs. 4, § 15a, § 15b, § 17 Abs. 2 Satz 6, § 20 Abs. 6, § 22 Nr. 3 Satz 3 und 4, § 23 Abs. 3 Satz 7 und 8 EStG)115, die Begrenzung der intertemporalen Verlustverrechnung (Mindestgewinnbesteuerung gemäß §  10d Abs.  2 EStG)116, die ­Regelungen des partiellen oder vollständigen Verlustuntergangs bei Anteilseignerwechsel (§§ 8c und 8d KStG), die besonderen Abzugsbeschränkungen für Zinsaufwendungen und Lizenzgebühren (§§ 4h und 4j EStG) oder auch das Verbot des Abzugs der betrieblich veranlassten Gewerbesteuer (§ 4 Abs. 5b EStG). Die zunehmende Restriktion des einkommensteuerrechtlichen Aufwendungsabzugs ist auffällig. Eine Bewertung erfordert allerdings ein genaues Hinsehen in jedem einzelnen Fall. So heterogen sich die abzugsbeschränkenden Regelungen darstellen, so vielgestaltig sind die ihnen zugrunde liegenden Begründungen. Abschließende Aufwandstypisierungen können eine Vereinfachung bezwecken117, Verlustverrechnungsbeschränkungen der Missbrauchsabwehr dienen118. Die Mindestgewinnbesteuerung dämpft die fiskalischen Auswirkungen des Verlustvortrags119 und steht im größeren Rahmen des Konzepts der Leistungsfähigkeitsgerechtigkeit in der Zeit120. Die §§ 8c und 8d EStG reagieren auf die hergebrachte Problematik des Mantelkaufs und ­verweisen auf die anspruchsvolle Frage nach der Leistungsfähigkeit der Körperschaft und ihrer Identität121. Die Zinsschranke und die Lizenzschranke erklären sich 115 Im Rahmen des verfassungsrechtlich gebotenen Konzepts der synthetischen Einkommensteuer (siehe oben III. 2. a)) ist die Möglichkeit der horizontalen und vertikalen Verlustverrechnung integraler Bestandteil des objektiven Nettoprinzips. 116 Die Möglichkeit der intertemporalen Verlustverrechnung folgt aus der freiheits- und gleichheitsrechtlichen Fundierung des objektiven Nettoprinzips in der Zeit; Kube, DStR 2011, 1781 (1783, 1785). Die Auseinandersetzung über die Richtigkeit einer periodischen oder aber lebenszeitbezogenen Einkommensbesteuerung ist hiervon abzuschichten; siehe dazu unten III. 8. 117 Weber-Grellet in Schmidt (Hrsg.), 36.  Aufl. 2017 (Voraufl.), §  20 EStG Rz.  205 („Der Nichtabzug von WK ist der Preis der AbgeltungSt; anderenfalls wäre die Abgeltung durch den KapEStAbzug nicht administrierbar.“). 118 Zur Einordnung und Kritik Hey in DStJG 33 (2010), S. 139 (156 f.). 119 Zum Konzept des „qualifizierten Fiskalzwecks“ Desens, FR 2011, 745 (749); aus der Rechtsprechung BFH v. 27.1.2006 – VIII B 179/05, BFH/NV 2006, 1150; v. 1.7.2009 – I R 76/08, BStBl. II 2010, 1061; v. 26.8.2010 – I B 49/10, DStR 2010, 2179 (2180 f.). 120 Kube, DStR 2011, 1781 (1789 f.). 121 Zur mangelhaften Typisierung durch § 8c Abs. 1 KStG BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082.

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im Sachverhaltszusammenhang internationalsteuerrechtlich fundierter Gestaltungen und dienen ihrerseits der Missbrauchsbekämpfung122. Das Verbot des Gewerbesteuerabzugs schließlich ist zwar in der Nähe der Regelungen über unangemessene Aufwendungen verankert, verhält sich aber bei Licht betrachtet zu dem ganz grundsätzlichen Problem der Steuerkonkurrenz123. All dies zeigt: Die genannten Regelungen sind je für sich zu beurteilen und zu rechtfertigen oder aber zu kritisieren. Eine an dieser Stelle verallgemeinernde und damit vereinfachende Kritik am Vorgehen des Steuergesetzgebers verbietet sich. Unter diesem Vorbehalt bleibt die empirische Feststellung gleichwohl richtig und wert hervorgehoben zu werden, dass die Zahl der gesetzlichen Einschränkungen des Aufwandsansatzes auf der Ebene der Summe der Einkünfte in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Unabhängig von der Begründbarkeit im Einzelfall ist die Komplexität des Einkommensteuerrechts dadurch weiter angestiegen. Auch dies sollte bei der Ausgestaltung neuer Abzugsbeschränkungen immer mitberücksichtigt werden. 4. Subjektives Nettoprinzip a) Berücksichtigung des existenznotwendigen Bedarfs in Abstimmung mit dem Sozialrecht Ebenso wie das objektive Nettoprinzip ist  – in unterschiedlicher Ausgestaltung  – auch das subjektive Nettoprinzip tief in der Geschichte der deutschen Einkommensteuergesetzgebung verankert124. Insbesondere wurde seit jeher ein Grundfreibetrag zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Steuerpflichtigen gewährt125. Seit der diesbezüglichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von Anfang der 1990er Jahre auf Grundlage von Art.  1 Abs.  1 und Art.  20 Abs.  1 GG126 wird die Höhe des Grundfreibetrags zunehmend auf den existenznotwendigen Bedarf im Sozialrecht abgestimmt. Auch deshalb ist der Grundfreibetrag in den letzten Jahren stetig angepasst worden. Auf eine denkbare Regelung zur Automatisierung der Anpassung wurde dagegen bislang verzichtet.

122 Siehe zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Zinsschranke den Vorlagebeschluss des BFH an das BVerfG; BFH v. 14.10.2015 – I R 20/15, BStBl. II 2017, 1240. 123 Dazu BFH v. 16.1.2014 – I R 21/12, BStBl. II 2014, 531; v. 22.10.2014 – X R 19/12, BFH/ NV 2015, 482; v. 10.9.2015 – IV R 8/13, BStBl. II 2015, 1046; Bode in Kirchhof (Hrsg.), 17. Aufl. 2018, § 4 EStG Rz. 237 weist zutreffend darauf hin, dass die gesetzliche Formulierung („keine Betriebsausgaben“) das Problem nicht trifft. 124 Siehe auch Krüger, Subjektives Nettoprinzip im Einkommensteuerrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 1261 ff. 125 Siehe oben II. 1., II. 2. und II. 3. 126 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20, 26, 184 und 4/86, BVerfGE 82, 60 (85 ff.); v. 25.9.1992 – 2 BvL 5, 8, 14/91, BVerfGE 87, 153 (169 ff.); dazu Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, 2011.

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b) Entwicklung des Familienleistungsausgleichs Signalwirkung hatte die genannte Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts aus den 1990er Jahren auch für die einkommensteuerrechtliche Berücksich­ tigung des Familienexistenzminimums127. Nach hergebrachtem Modell wird der ­typisierte kindbedingte Bedarf (existenznotwendiger Bedarf sowie Betreuungs-, Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes) bei den steuerpflichtigen Eltern als Abzugsposition in Ansatz gebracht (Familiennettoprinzip). Die Höhe dieser Abzugsposition ist ihrerseits regelmäßig angepasst worden. Im Jahr 2004 ist der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gemäß §  24b EStG hinzugetreten, der den früheren Haushaltsfreibetrag (§ 32 Abs. 7 EStG a.F.) abgelöst hat128. Schon seit langem wird über eine Weiterentwicklung der Familienbesteuerung diskutiert. Im Raum stehen dabei insbesondere die Alternativmodelle des Familienrealsplittings und des Familientarifsplittings129. Der Vorschlag des an das Ehegattensplitting angelehnten Familientarifsplittings ist dem konzeptionellen Problem ausgesetzt, dass die Familie – anders als die Ehe – keine Erwerbs-, sondern vielmehr eine Bedarfsgemeinschaft ist, was die Aufteilung des Familieneinkommens auf alle Familienmitglieder in Frage stellt. Das Familienrealsplitting vermag demgegenüber die gesetzlichen Unterhaltspflichten abzubilden und spiegelt deshalb recht genau die Belastungen der Unterhaltsverpflichteten wider130. Im Koalitionsvertrag 2018 wird allerdings am hergebrachten Modell des Familienleistungsausgleichs festgehalten und im Zuge dessen eine weitere Anpassung des Kinderfreibetrags, alternativ des Kindergeldes, avisiert131. c) Einrichtung und Ausdehnung des Ehegattensplittings Festgehalten wird in den aktuellen steuerpolitischen Planungen trotz aller Diskussionen in der Vergangenheit auch am Ehegattensplitting132. Nachdem die Eheleute gemäß dem überkommenen Recht noch gegenüber Nichtverheirateten benachteiligt worden waren, weil ihre Einkommen im Regelfall zusammengerechnet und dann dem progressiven Steuertarif unterworfen worden waren (§  26 Abs.  2 EStG 1951), hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1957 klargestellt, dass eine solche Benach127 Siehe ergänzend BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057, 1226, 980/91, BVerfGE 99, 216; v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246; v. 10.11.1998 – 2 BvR 1220/93, BVerfGE 99, 268; v. 10.11.1998 –2 BvR 1852, 1853/97, BVerfGE 99, 273; dazu Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, S. 65 ff. 128 Kritisch dazu zu Recht Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 103 (unter Verweis darauf, dass der Mindererwerb Alleinerziehender als solcher im Einkommensteuerrecht bereits durch eine Minderbesteuerung verarbeitet wird). 129 Für einen Überblick Seiler, 66. DJT, Gutachten F, 2006, S. F 31 ff.; ders., Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 91 ff.; Kube, StuW 2016, 332 (339 ff.) m.w.N. 130 Ebenso Lang, StuW 1983, 103 (123 f.); ders., StuW 2016, 101 (114); Wendt in FS Tipke, 1995, S. 47 (67 ff.); Kanzler, FamRZ 2004, 70 (79 f.); Kirchhof, DB 9/2016, 1. 131 CDU, CSU und SPD, Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag v. 7.2.2018, 19. 132 Das Ehegattensplitting findet im Koalitionsvertrag 2018 seinerseits keine Erwähnung.

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teiligung mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar ist133. Daraufhin wurde in §§ 26b und 32a Abs.  5 EStG das Ehegattensplitting ausgestaltet, wie es bis heute Bestand hat. Aufgrund einer weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2013134 hat der Steuergesetzgeber das Ehegattensplitting sodann auf eingetragene Lebenspartnerschaften ausgedehnt (§ 2 Abs. 8 EStG). Dass es richtig ist, am Ehegattensplitting festzuhalten, begründet sich nicht steuerpolitisch oder gar ideologisch, sondern verfassungsrechtlich – auch bei Erweiterung des Splittings auf die Ehe Gleichgeschlechtlicher gemäß §  1353 Abs.  1 BGB. Denn nur das Ehegattensplitting sichert den Eheleuten als Erwerbsgemeinschaft die Entscheidungsfreiheit darüber, wie die Lasten aus Heimarbeit und Berufstätigkeit aufgeteilt werden sollen135. Bei getrennter Veranlagung und Besteuerung ergäbe sich demgegenüber ein rechtfertigungsbedürftiger Lenkungsanreiz zu gleich hohem Erwerb beider Ehepartner136. Zudem spiegelt das Ehegattensplitting typisierend die gegenseitigen Unterhaltsverpflichtungen wider, die im Fall von Geschiedenen oder Getrenntlebenden durch § 10 Abs. 1a Nr. 1 und § 22 Nr. 1a EStG abgebildet werden137. Bei Abschaffung des Ehegattensplittings müssten diese gegenseitigen Unterhaltsverpflichtungen auch bei Eheleuten anderweitig Berücksichtigung finden. d) Die hergebrachten Kategorien der Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen Schon im Einkommensteuergesetz 1934 waren auch die Kategorien der Sonderausgaben und der außergewöhnlichen Belastungen voll ausgeprägt. § 10 EStG 1934 handelte bereits von diversen „Sonderausgaben“, nach § 33 EStG 1934 wurde auf „besondere wirtschaftliche Verhältnisse“ Rücksicht genommen, die als „außergewöhnliche Belastungen“ konkretisiert wurden, zum einen „durch Unterhalt von Kindern oder bedürftigen Angehörigen, auch wenn sie nicht zum Haushalt des Steuerpflichtigen gehören“, zum anderen „durch sonstige notwendige Aufwendungen, die nicht zu den Sonderausgaben im Sinn des § 10 gehören, insbesondere Ausgaben wegen Krankheit, Todesfalls oder Unglücksfalls“. Der Katalog der vollumfänglich oder begrenzt abzugsfähigen Sonderausgaben wurde über die Jahrzehnte immer wieder verändert. Der verfassungsrechtliche Maßstab der leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung ist hierfür vergleichsweise offen, weil die 133 BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55. 134 BVerfG v. 7.5.2013 – 2 BvR 909, 1981/06, 288/07, BVerfGE 133, 377. 135 Zur grundrechtlichen Fundierung dieser Entscheidungsfreiheit in Art.  6 Abs.  1 GG BVerfG v. 3.11.1982  – 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79 und 363/80, BVerfGE 61, 319 (346 f.); v. 7.5.2013 – 2 BvR 909, 1981/06, 288/07, BVerfGE 133, 377 (410); Jachmann-Mi­ chel, jM 2016, 168 (169); zur Sicherung dieser Freiheit durch die Summenbildung Hom­ burg, StuW 2000, 261 (262) (Konzept der Globaleinkommensbesteuerung); Sandweg, DStR 2014, 2097 (2099); zur Idee der hälftigen Ertragsteilhabe nach dem Leitbild der Gleichheit Kirchhof, NJW 2000, 2792 (2793); Merkt, DStR 2009, 2221 (2223). 136 Sandweg, DStR 2014, 2097 (2100); Kube, StuW 2016, 332 (336 f.). 137 Jachmann/Liebl, DStR 2010, 2009 (2010); Jachmann-Michel, jM 2016, 168 (170).

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Frage, welche Aufwendungen aus dem privaten Bereich als indisponibel und deshalb leistungsfähigkeitsmindernd anzusehen sind, jenseits des im Grundfreibetrag berücksichtigten Existenzminimums138 in erster Linie durch den Gesetzgeber zu beantworten ist. Einige Regelungen und Anpassungen sind gleichwohl hervorzuheben: §  10 Abs.  1 Nr. 2 EStG stellt weiterhin die Arbeitnehmerbeiträge zu den gesetzlichen Rentenversicherungen als Sonderausgaben abzugsfähig, obwohl der Gesetzgeber nach Maßgabe einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts139 mit Wirkung ab 2005 zum Konzept einer – über die Zeit einzuschleichenden – vollen nachgelagerten Besteuerung der Renten übergegangen ist (§ 22 Nr. 1 Satz 3 lit. a EStG)140, was eine Berücksichtigungsfähigkeit der Beiträge als vorweggenommene Werbungskosten nahelegen kann141. § 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG regelt nunmehr abschließend die Abzugsfähigkeit von Kinderbetreuungskosten; dies unabhängig davon, ob die Kosten berufsbedingt oder nicht berufsbedingt anfallen. Der Gesetzgeber hat sich zu Recht von dem zwischenzeitlich verfolgten Konzept der Abzugsfähigkeit erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten „wie“ Betriebsausgaben oder Werbungskosten (ab 2006 gemäß § 4f und § 10 Abs. 1 Nr. 5 und 8 EStG a.F., von 2009 bis 2011 gemäß § 9c EStG a.F.) verabschiedet142. Die mit Wirkung ab 2006 vorgenommene Streichung der Abzugsfähigkeit von Steuerberatungskosten (§  10 Abs.  1 Nr.  6 EStG a.F.), die keine Betriebsausgaben oder Werbungskosten sind, erscheint rechtsstaatlich problematisch, wenn man bedenkt, dass der Steuerpflichtige die Richtigkeit seiner Angaben in der Steuererklärung strafbewehrt versichert143. Zudem ist § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG hervorzuheben, der seit der Einfügung von § 12 Nr. 5 bzw. § 4 Abs. 9 und § 9 Abs. 6 EStG144 abschließend normiert, in welchem Umfang Kosten der eigenen, zumal ersten Berufsausbildung abgezogen werden können. Die Begrenzung auf den Sonderausgabenabzug lässt insbesondere einen intertemporalen Vortrag der Kosten aus der Ausbildungsphase nicht zu145. Außergewöhnliche Belastungen werden, auf Grundlage der vergleichsweise unbestimmten Tatbestände der §§  33  ff. EStG, von der finanzgerichtlichen Rechtspre138 Siehe oben III. 4. a). 139 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (110 ff.). 140 Näher dazu Möhlenbrock, Altersvorsorge im Ertragsteuerrecht, in FS 100  Jahre BFH, S. 1295 ff. 141 Demgegenüber mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BFH und des BVerfG Fischer in Kirchhof (Hrsg.), 17. Aufl. 2018, § 10 EStG Rz. 15. 142 Es befremdet, wenn Kosten der Kinderbetreuung in die Nähe der Kosten zur Erhaltung und Verbesserung der Erwerbsquelle und damit der Kosten gerückt werden, die das Betriebsergebnis mitbestimmen. Kinder sind Teil der im Privaten angesiedelten Bedarfsgemeinschaft der Familie. 143 Ohne verfassungsrechtliche Bedenken BFH v. 4.2.2010 – X R 10/08, BStBl. II 2010, 617. 144 Siehe dazu oben III. 3. a). 145 Aus genau diesem Grund wurde so heftig um die Zuordnung der Kosten gerungen.

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chung traditionell nur recht eingeschränkt anerkannt. Gerade in den letzten Jahren ist allerdings eine gewisse Wechselhaftigkeit in der Rechtsprechung zur Berücksichtigungsfähigkeit außergewöhnlicher Belastungen zu beobachten, so etwa im Fall von Zivilprozesskosten146. Gleichheit muss, bei allem Streben nach der richtigen Gesetzesauslegung, auch in der Zeit gewährleistet werden147; dies gebietet, so auch in diesem Zusammenhang, maßvolle Rechtsprechungsänderungen148. Soweit in der jüngeren Vergangenheit verstärkt Belastungen durch Heilbehandlungskosten anerkannt werden, die von der Krankenversicherung nicht getragen werden149, stellt sich zudem die Frage nach der tatsächlichen Zwangsläufigkeit derartiger Aufwendungen, auch in Hinsicht auf die Konsequenzen für die Lastentragung im Nebeneinander von Steuerstaat und gesetzlicher bzw. privater Krankenversicherung. 5. Tarif a) Die Steuerprogression als weitere Konstante des hergebrachten deutschen Einkommensteuerrechts Die Geschichte des Einkommensteuertarifs ist in Deutschland die Geschichte der Steuerprogression. Von Beginn an wurde das individuelle Einkommen – in Preußen seit 1891 – progressiv besteuert150. Das Bundesverfassungsgericht hat den progressiven Tarifverlauf verfassungsrechtlich gebilligt151. Der BFH hat den progressiv gestalteten Tarif in einem Vorlagebeschluss aus dem Jahr 1999 als „systemprägende Grundentscheidung des EStG“ bezeichnet152. Das preußische Einkommensteuergesetz von 1891 belastete das steuerbare Einkommen in einer Spanne von rund 0,6 % bis 4 %. Die Eingangs- und Spitzensteuersätze stiegen dann im Laufe der Zeit – bei gleichzeitiger Ausweitung der Abzüge von der Bemessungsgrundlage – deutlich an und erreichten, sieht man von den Exzessen des ab 1946 geltenden Rechts ab153, Mitte der 1970er Jahre Werte von 22 % für den Eingangssteuersatz und 56 % für den Spitzensteuersatz. Hierbei blieb es, bis die Sätze ab 1990  – mit einer gewissen Wellenbewegung beim Eingangssteuersatz  – wiederholt mäßig reduziert wurden. Seit 2009 liegt der Eingangssteuersatz bei 14  % (für den Veranlagungszeitraum 2018 jenseits eines Grundfreibetrags von 9.000 Euro), der 146 BFH v. 9.5.1996 – III R 224/94, BStBl. II 1996, 596; demgegenüber BFH v. 12.5.2011 – VI R 42/10, BStBl. II 2011, 1015; demgegenüber wiederum BFH v. 18.6.2015 – VI R 17/14, BStBl. II 2015, 800. 147 Kirchhof in Maunz/Dürig, Art. 3 GG Rz. 333 ff. 148 Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), 1993; Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 199 ff.; Osterloh/ Nußberger in Sachs (Hrsg.), 7. Aufl. 2014, Art. 3 GG Rz. 128. 149 BFH v. 26.6.2014 – VI R 51/13, BStBl. II 2015, 9; hierzu und zur Auslegung des Begriffs „wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode“ gemäß § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 lit. f EStDV Geserich, NWB 2014, 3396 ff. 150 Siehe oben II. 1., II. 2. und II. 3. 151 BVerfG v. 24.6.1958 – 2 BvF 1/57, BVerfGE 8, 51 (68 f.). 152 BFH v. 24.2.1999 – X R 171/96, BStBl. II 1999, 450 Rz. 131. 153 Siehe oben II. 3.

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Spitzensteuersatz bei 42 % bzw. 45 % (für den Veranlagungszeitraum 2018 ab einem zu versteuernden Einkommen von 54.950 Euro bzw. 260.533 Euro) (§  32a Abs.  1 EStG). b) Die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit, Folgerichtigkeit und ­demokratischen Transparenz Wenngleich der Tarifverlauf von substantieller Bedeutung für die einkommensteuerrechtliche Lastenzuordnung ist, stehen die Tarifregelungen bei Licht betrachtet auf der Schwelle zwischen dem eigentlichen Kernbereich des Steuerrechts, den Vorschriften über die Ermittlung der Bemessungsgrundlage, und dem sonstigen Recht des umverteilenden, auch gebenden Staates. Schon deshalb wird man dem Steuerverfassungsrecht keine detaillierten Vorgaben über zulässige einkommensteuerrechtliche Tarifverläufe entnehmen können. Verlauf und Höhe des Tarifs sind innerhalb äußerer verfassungsrechtlicher Grenzen disponibel. Ebendiese äußeren Grenzen werden seit einiger Zeit stärker betont154. So hat das Bundesverfassungsgericht für die kumulierte Wirkung der Ertragsteuern auf Grundlage von Art.  14 Abs.  1 und Abs.  2 GG im Jahr 1995 den Halbteilungsgrundsatz ­entwickelt155. In einer nachfolgenden Entscheidung von 2006 hat das Gericht die Reichweite des Halbteilungsgrundsatzes für den Fall des Zusammenwirkens von Einkommensteuer und Gewerbesteuer sodann zwar wieder relativiert, gleichwohl aber an der Maßgeblichkeit der eigentumsgrundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung für die Ertragsteuern ausdrücklich festgehalten156. Die Einkommensteuer hat sich nach dieser Maßgabe nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Gleichheitsgerechtigkeit der Lastenverteilung, sondern auch in ihrer absoluten Höhe zu rechtfertigen, dies vor den Freiheitsgrundrechten des einzelnen Steuerpflichtigen. Die Schwierigkeit, diese freiheitsgrundrechtliche Anforderung im Angesicht des seinerseits finanzverfassungsrechtlich fundierten Non-Affektationsprinzips157 zu substantiieren, zeigen die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung von 2006 deutlich158.

154 Siehe bereits Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), S.  213 (226  ff.); ders. in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rz. 67. 155 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (137); kritisch BFH v. 11.8.1999 – XI R 77/97, BStBl. II 1999, 771; v. 18.9.2003 – X R 2/00, BStBl. II 2004, 17; die Entscheidung ist zugleich Beleg für die materielle Bedeutung eines abstrakteren Einkommens- oder auch Ertragsbegriffs; siehe Kube in FS Hufen, 2015, S. 191 (195); vgl. dazu bereits oben III. 2. a). 156 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (108 ff.). 157 Für den Verfassungsrang des Non-Affektationsprinzips auch Waldhoff, StuW 2002, 285 (297 ff.). 158 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (114 ff.); dazu Kube in Jestaedt/ Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 157 (166 ff.); ders. in FS Hufen, 2015, S. 191 (193 ff.).

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Größere Direktivkraft könnte demgegenüber eine weitere verfassungsrechtliche Anforderung entfalten, die in der jüngeren Vergangenheit in den Vordergrund gerückt ist. Es handelt sich um die aus dem allgemeinen Gleichheitssatz hergeleitete Anfor­ derung der Folgerichtigkeit, die das Bundesverfassungsgericht schon seit längerem an die Regelungen zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage anlegt159, die nun aber auch in ihrer möglichen Bedeutung für den Tarifverlauf erkannt wird. Es spricht viel dafür, dass der Steuergesetzgeber nach Art. 3 Abs. 1 GG umso stärker rechtfertigungspflichtig wird, je signifikanter sich Änderungen der Steigung des Tarifverlaufs oder auch Stufen im Tarifverlauf darstellen. So drängt das Gebot der Folgerichtigkeit in der Systematik des progressiven Tarifs160  – vorbehaltlich besonderer Gründe  – auf  eine abgeflacht linear-progressive Ausgestaltung des Tarifverlaufs bis hin zum Spitzensteuersatz161. Durch eine solche Abflachung würde dem unverändert bestehenden, innovationsfeindlichen  – und angesichts seines recht frühen Eingreifens auch sozialstaatlich problematischen – „Mittelstandsbauch“ im Tarifverlauf abgeholfen werden. Ein eigenständiges Problem ist das inzwischen weithin bekannte Phänomen der „kalten Progression“, die sich aus der Geldentwertung über die Zeit bei zugleich unterbliebener Anpassung des Tarifverlaufs ergibt. So ist es über die letzten Jahrzehnte zu einer dramatischen effektiven Stauchung des Tarifverlaufs gekommen. Während im Jahr 1960 der Spitzensteuersatz von 53 % beim 18-fachen des durchschnittlichen Jahresbruttogehalts von damals 3.000 Euro einsetzte, greift im Jahr 2017 der – freilich abgesenkte – Spitzensteuersatz von 42 % bereits beim 1,6-fachen des durchschnittlichen Jahresbruttogehalts von 35.000 Euro162. Dies führt derzeit zu einer Zusatzbelastung der Steuerpflichtigen von über 8 Mrd. Euro pro Jahr allein im Vergleich zum Jahr 2010163. Der Effekt der kalten Progression verschafft dem Staat also erhebliche finanzielle Spielräume ohne politisch sichtbare Belastungsentscheidungen. Die politische Redlichkeit und letztlich das Demokratieprinzip gebieten demgegenüber eine Regelung, die die tatsächliche Belastung der Bürger unter den Bedingungen der Inflation und vorbehaltlich einer bewussten und transparent gemachten, vor dem Wahlvolk zu vertretenden Bundestagsentscheidung konstant hält164. Die auf eine Entschließung des Bundestages von 2012165 zurückgehenden, im Zweijahresturnus zu erstattenden Berichte der Bundesregierung zur kalten Progression166 reichen un159 Ein Schwerpunkt liegt bei den Regelungen, die das objektive Nettoprinzip betreffen; siehe oben III. 3. a). 160 Einen degressiven Tarifverlauf hat das BVerfG im Fall einer Zweitwohnungsteuer als verfassungswidrig angesehen; BVerfG v. 15.1.2014 – 1 BvR 1656/09, BVerfGE 135, 126. 161 So auch Schön, FAZ v. 3.11.2017, 18. 162 Institut der Deutschen Wirtschaft Köln, Die Einkommensteuer im Zeitverlauf. Belastungswirkungen für verschiedene Haushaltstypen, Kurzexpertise, April 2017, 10. 163 Institut der Deutschen Wirtschaft Köln, Die Belastungs- und Aufkommenswirkungen der kalten Progression, IW Policy Paper 14/2016, Dezember 2016, 9 ff. 164 In Betracht kommt insbesondere eine Indexierung des Tarifs; dazu Lemmer, Wirtschaftsdienst 2014, 872 ff.; Dorn u.a., ifo Schnelldienst 3/2017, 28 (30 ff.). 165 BT-Drucks. 17/9201, 1 f. 166 Siehe zuletzt den Zweiten Steuerprogressionsbericht v. 2.11.2016, BT-Drucks. 18/10221.

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ter diesen Gesichtspunkten nicht hin. Erforderlich ist eine auf den jeweiligen Bericht gestützte ernsthafte Befassung und Prüfung durch den Bundestag. c) Die Alternative des proportionalen Tarifs Unverändert im Raum steht die grundsätzliche Alternative eines proportionalen Einkommensteuertarifs, wie ihn Paul Kirchhof in seinem Entwurf eines Bundessteuergesetzbuchs vorgeschlagen hat167. Unter Berücksichtigung der dort vorgesehenen nur anteiligen Einbeziehung kleiner Einkommen in die Bemessungsgrundlage168 ergibt sich ein Belastungserfolg, der sich gerade im Bereich kleinerer Einkommen allenfalls geringfügig von der Belastung auf Grundlage des geltenden Tarifs unterscheidet. Ein proportionaler Satz von 25 % würde, in Anbetracht der derzeitigen Tarifstauchung infolge der kalten Progression, auch den Mittelstand entlasten. Zu finanzieren ist ein 25 %-Tarif dabei durch eine Rückführung von Steuervergünstigungen, von denen gegenwärtig vor allem die Bezieher großer Einkommen profitieren169. Ein proportionaler Satz hätte auch und vor allem ganz erhebliche steuersystematische Vorteile170. Insbesondere Steueranrechnungen und Steuerkumulationen lassen sich hierdurch sehr viel besser ausgestalten als unter den Bedingungen eines je individuellen „persönlichen Steuersatzes“. Dies gilt gerade auch für die Besteuerung von Mitunternehmerschaften und Körperschaften171. 6. Inflation der Steuervergünstigungen und ihre verfassungsrechtliche ­Problematik Während im Grundsatz jede Steuer Entscheidungen beeinflussen kann172, gehen von Steuern, die vom Leistungsfähigkeitsprinzip abweichen, bei einer im Allgemeinen leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung besondere Anreizwirkungen aus173. Derartige Steuern werden deshalb als Lenkungsteuern bezeichnet. Der Schwerpunkt liegt im Einkommensteuerrecht bei den lenkenden Steuervergünstigungen oder auch Verschonungssubventionen, nicht dagegen bei – an anderer Stelle geläufigeren – lenkungsteuerlichen Sonderlasten174. Die Zahl der einkommensteuerrechtlichen Steuervergünstigungen, seien es Abzugsmöglichkeiten auf Ebene der Bemessungsgrundlage, Steuertarif- oder Steuerbetragsvergünstigungen, ist über die Jahrzehnte erheblich angestiegen. Allein die Regelung des § 3 EStG, die neben leistungsfähigkeitsgerech167 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 43 Rz. 47 ff. 168 Nach §  48 des Entwurfs wird von den Einkünften natürlicher Personen „nach ihrem Grundfreibetrag ein Sozialausgleichsbetrag abgezogen. Er beträgt anteilig für die ersten 5.000 Euro 40 vom Hundert und für die folgenden 5.000 Euro 20 vom Hundert“. 169 Siehe dazu sogleich III. 6. 170 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 43 Rz. 47 ff. 171 Vgl. dazu oben III. 1. b). 172 Trzaskalik, 63. DJT, Gutachten E, 2000, S. E 10. 173 Schneider, DB 1992, 1737 (1738, 1740); Trzaskalik, StuW 1992, 135 (139); Jachmann, StuW 1998, 293. 174 Zu nennen sind beispielsweise die Alkopop- oder eine Kampfhundesteuer.

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ten Abzügen von der Bemessungsgrundlage und deklaratorischen Bekräftigungen fehlender Steuerbarkeit auch zahlreiche echte Steuervergünstigungen aufführt175, enthielt im Jahr 1934 noch 14 Positionen, im Jahr 2018 dagegen 71, teils sehr umfangreiche Positionen176. Auch darüber hinaus sind Steuervergünstigungen im EStG, in der Durchführungsverordnung und in Verwaltungsvorschriften breit gestreut177. Außerfiskalische Förderungs- und Lenkungsnormen müssen sich als Abweichungen von den Geboten der leistungsfähigkeitsgerechten und folgerichtigen Ausgestaltung des Steuerrechts durch besondere Gründe rechtfertigen178. Diese Gründe müssen die Tragweite der steuerlichen Ungleichbehandlung überwiegen. Hinzu kommt, dass Verschonungssubventionen haushaltswirksam werden, ohne dass der Budgetgesetzgeber Kontrolle über den Umfang der entstehenden Mindereinnahmen hätte179. Weiterhin ist zu gewärtigen, dass der Bürger durch Verschonungssubventionen mittelbar, durch einen Geldanreiz zu einem Verhalten veranlasst wird, was auch freiheitsgrundrechtlich erheblich ist180. Zugleich bleiben ihm die Rechtsschutzmöglichkeiten, die auf die klassischen Handlungsformen ausgerichtet sind, an dieser Stelle versagt. Auf diese verfassungsrechtlichen Anforderungen und Probleme ist gegenüber einer Steuerpolitik, die gerade aktuell wieder sehr deutlich der Versuchung erliegt, Steuer­ vergünstigungen einzusetzen181, nachdrücklich hinzuweisen; zumal in einer Zeit, in der das regierungsseitige „Nudging“182 noch nicht durchgängig in seiner eigentlichen freiheitsgrundrechtlichen Problematik erkannt und diskutiert wird183. Soweit vergünstigende Abzugspositionen auf Ebene der Bemessungsgrundlage ausgestaltet werden, tritt im Übrigen das Problem der regressiven Wirkung bei einem progressiven Tarifverlauf hinzu184. Diese Wirkung übersetzt sich verfassungsrechtlich in die Frage, ob es das konkrete Lenkungsziel verlangt und damit rechtfertigt, dass Einkommensstärkere von der Tatbestandsverwirklichung stärker profitieren als Einkommensschwächere und damit auch stärker zur Tatbestandsverwirklichung an175 von Beckerath in Kirchhof (Hrsg.), 17. Aufl. 2018, § 3 EStG Rz. 1 f. 176 Zu dieser Entwicklung von Beckerath in Kirchhof (Hrsg.), 17. Aufl. 2018, § 3 EStG Rz. 4. 177 Jochum, Die Steuervergünstigung, 2006, S. 142 ff. 178 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (147); aus jüngerer Zeit BVerfG v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350 (367); v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (181 f.); umfassend Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht 1972; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem 2005. 179 Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, 2004, S. 309 ff. 180 Umfassend zur Problematik Kirchhof, Verwalten durch „mittelbares“ Einwirken, 1977; ders., StuW 1984, 297 (299, 308); Birk, StuW 1983, 293 (299). 181 So sieht der Koalitionsvertrag 2018 von CDU, CSU und SPD eine ganze Reihe neuer, haushaltswirksamer Steuervergünstigungen vor (unter anderem zur Förderung des Wohnungsbaus, von Forschung und Entwicklung und der Digitalisierung). 182 Thaler/Sunstein, Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt, 2009. Die Bunderegierung hat 2015 die Projektgruppe „Wirksam regieren“ eingerichtet, die unter anderem die Möglichkeiten des „Nudging“ ausloten soll. 183 Siehe etwa Kirchhof, ZRP 2015, 136 f.; Kemmerer/Möllers/Steinbeis/Wagner (Hrsg.), Choice Architecture in Democracies. Exploring the Legitimacy of Nudging, 2016. 184 Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, 2004, S. 240 f.

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gereizt werden als Einkommensschwächere185. Ist diese Frage zu verneinen, sollte eine andere Ausgestaltung gewählt werden, namentlich eine Steuerbetragsermäßigung. Alternativ kann auf eine Steuerermäßigung auch immer verzichtet werden, gerade dann, wenn Mitnahmeeffekte drohen oder gar absehbar sind186. 7. Zunehmender Einsatz komplizierter unilateraler Regelungen zur ­internationalen Abstimmung Eine weitere jüngere Entwicklungslinie des deutschen Einkommensteuerrechts ist internationalsteuerrechtlich veranlasst. So werden die derzeitigen Bemühungen, aggressiven und missbräuchlichen Steuergestaltungen auf internationaler Ebene Herr zu werden, in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit verstärkt im staatlichen Einkommensteuerrecht widergespiegelt und komplementiert, dies durch unilaterale Regelungen zum Schutz des Steuersubstrats und zur internationalen Abstimmung der Besteuerungsansprüche. Diese Regelungen tragen allerdings ihrerseits ganz erheblich zur weiteren Verkomplizierung des Einkommensteuerrechts bei. Genannt seien Vorschriften wie die §§ 50b bis 50j EStG – hier an erster Stelle der umfangreiche und wiederholt ausgebaute § 50d EStG –, weiterhin § 4h (Zinsschranke), § 4i (Sonderbetriebsausgabenabzug bei Vorgängen mit Auslandsbezug) und § 4j EStG (Lizenzschranke). Einige der Ergänzungen und Anpassungen, wie beispielsweise § 4h EStG, begründen sich im Ausgangspunkt europarechtlich, vor allem grundfreiheitsrechtlich. Trotz des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts sind die vorgenommenen Ausgestaltungen dabei zumeist keineswegs alternativlos. Anstelle der auch den reinen Inlandsfall belastenden, das objektive Nettoprinzip durchbrechenden187 Zinsschranke nach § 4h EStG (und § 8a KStG), die die als EU-rechtswidrig beurteilte188 Regelung des § 8a KStG a.F. zur Gesellschafter-Fremdfinanzierung im grenzüberschreitenden Fall ersetzt hat, hätte man möglicherweise auch eine andere, auf die Missbrauchsbekämpfung im grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr konzentrierte Vorschrift schaffen können189. Auch die der Zielsetzung von § 8b Abs. 1 KStG zuwiderlaufende190 Einführung der Körperschaftsbesteuerung von Streubesitzdividenden gemäß §  8b Abs.  4 KStG war EU-rechtlich veranlasst191, aber nicht der einzig vorstellbare Weg zur Herstellung von EU-Rechtskonformität192. 185 v. Arnim, VVDStRL 39 (1981), S. 286 (329) nennt als Beispiel für eine bestehende Rechtfertigung die Steuerfreiheit der Einkünfte aus Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit. 186 Dies gilt etwa – in Anbetracht bestehender Erfahrungen – für die steuerliche Wohnungsbauförderung. 187 Siehe oben III. 3. b); BFH v. 14.10.2015 – I R 20/15, BStBl. II 2017, 1240. 188 EuGH v. 12.12.2002 – C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, Slg. 2002, I-11779. 189 Dazu etwa Bohn, Zinsschranke und Alternativmodelle zur Beschränkung des steuerlichen Zinsabzugs, 2009. 190 Mit Bedenken FG Hamburg v. 6.4.2017 – 1 K 87/15 (Rev. I R 29/17). 191 EuGH v. 20.10.2011 – C-284/09 – Kommission/Deutschland, Slg. 2011, I-9879. 192 Die grundsätzliche Alternative wäre hier der Verzicht auf die Besteuerung im grenzüberschreitenden Fall gewesen. Hierdurch hätte sich eine kumulative Belastung im Inlandsfall (Kaskadeneffekt), wie sie sich aus § 8b Abs. 4 KStG ergibt, vermeiden lassen.

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Andere Ergänzungen und Anpassungen reagieren unmittelbar auf Herausforderungen im Bereich des internationalen Steuerrechts. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass in diesem Zusammenhang auch gesetzliche Treaty Overrides verfassungsrechtlich zulässig sind193. Einerseits erfordern die grenzüberschreitenden Steuergestaltungen unserer Zeit wirksame Antworten auf den Ebenen des Steuergesetzes und des Steuervollzugs. Andererseits erscheint es in besonderer Weise zielführend, diese Antworten primär auf dem Feld internationaler Kooperation zu suchen. Unilaterale Maßnahmen sollten dagegen eher hilfsweise in Betracht gezogen werden, weil die Kooperation in diesem Zusammenhang langfristig überlegen sein dürfte und ein unilaterales Vorgehen das staatliche Steuerrecht zudem erheblich verkompliziert. In jedem Fall muss aber auch bei unilateralem Vorgehen große Sorgfalt auf die Tatbestandsbildung gelegt werden. Wenn im Gesetzestext von § 4j Abs. 1 EStG zur Definition einer schädlichen Präferenzregelung pauschal auf den Nexus-Ansatz „­gemäß Kapitel  4 des Abschlussberichts 2015 zu Aktionspunkt 5, OECD (2016) ‚Wirksamere Bekämpfung schädlicher Steuerpraktiken unter Berücksichtigung von Transparenz und Substanz‘, OECD/G20 Projekt Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung“ verwiesen wird, also auf eine niemals als Regelungstext ersonnene Beschreibung eines gedanklichen Konzepts in einem unverbindlichen Bericht der OECD, dann ist dies rechtsstaatlich kaum akzeptabel194. 8. Einkommensbesteuerung in der Zeit Die Einkommensbesteuerung steht in der Zeit. Von Beginn an bezog sich die Veranlagung und Besteuerung des Einkommensteuerpflichtigen auf die in einem bestimmten Zeitraum, namentlich im Kalenderjahr, erwirtschafteten Erträge195. Seit langem wird aber zugleich darüber gestritten, ob dieses heute in § 2 Abs. 7 Satz 1, § 25 Abs. 1 und § 36 Abs. 1 EStG verankerte Jahressteuerprinzip lediglich ein formeller Verfahrensgrundsatz oder aber von einer materiellen Wertung getragen ist. Zum einen wird diesbezüglich vertreten, dass sich die Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte auf den Menschen bezögen und die Einkommensbesteuerung deshalb das Maß der lebenszeitlichen Leistungsfähigkeit wahren, sich also am Lebenseinkommen ausrichten müsse196. Zum anderen wird, demgegenüber, der Zeitbezug des Freiheits- und Gleichheitsmaßstabs betont und hervorgehoben, dass der Steuerpflichtige sein gegenwär­ tiges Einkommen unter Nutzung des gegenwärtigen Marktes erwirtschafte, dessen Infrastrukturen der Staat ebenso gegenwartsbezogen zu gewährleisten und zu finanzieren habe197. 193 BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1 (15 ff.) zu § 50d Abs. 8 EStG, dessen Treaty Override-Wirkung allerdings fraglich ist und vom BVerfG nicht näher überprüft wurde. 194 Dazu Hagemann/Kahlenberg, FR 2017, 1125 ff.; Jochimsen/Zinowsky/Schraud, IStR 2017, 593 ff. 195 So heißt es in § 2 Abs. 1 EStG 1934: „Die Einkommensteuer bemißt sich nach dem Einkommen, das der Steuerpflichtige innerhalb eines Kalenderjahrs bezogen hat.“ 196 Stellvertretend Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 756. 197 Stellvertretend Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 2 EStG Rz. A 136; siehe m.w.N. zum Meinungsstand Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 44.

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Der Mensch lebt in der Zeit, entfaltet seine Freiheit und erhebt auch seine Gleichheitsansprüche in der jeweiligen Gegenwart. Die Freiheits- und Gleichheitsmaßstäbe haben deshalb einen zeitlichen Referenzrahmen, der sie überhaupt erst anwendbar macht. Wie lange ein Mensch lebt, ist in diesem Zusammenhang kontingent. Auch der Steuergesetzgeber, dessen Regelungen zu vollziehen sind, steht in der Zeit; Demokratie verwirklicht sich ihrerseits gegenwartsnah. Die Besteuerung, die demokratisch legitimiert und grundrechtlich gemäßigt ist, ist vor diesem Hintergrund richtigerweise zeitbezogen zu verstehen. Der maßgebliche, zur Ermittlung der zugrunde zu legenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu berücksichtigende Zeitabschnitt ist dabei aber nicht notwendigerweise das Kalenderjahr. Vielmehr können gerade die Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte einen weitergreifenden Blick verlangen. So kommt es zur Beurteilung der Einkünfteerzielungsabsicht auf die jeweilige Totalperiode an. Im Rahmen des objektiven Nettoprinzips ist eine jahresübergreifende Berücksichtigung von Verlusten geboten, dies mit Rücksicht auf die typischen Investitions- und Ertragszyklen in den verschiedenen Einkunftsarten und Branchen198. Verallgemeinerungen verbieten sich hier. Der Zeitbezug der Einkommensbesteuerung ist deshalb unabweislich, dabei aber in den verschiedenen Bereichen des Einkommensteuertatbestands demokratie-, freiheits- und gleichheitsgerecht zu konkretisieren. 9. Keine Aushöhlung der Einkommensteuer durch die verstetigte Erhebung einer Ergänzungsabgabe Schließlich besteht Anlass zu betonen, dass die Einkommen- und die Körperschaftsteuer – vorbehaltlich der eigenständig diskussionsbedürftigen Gewerbesteuer – die verfassungsrechtlich vorgesehenen Formen regelmäßiger Ertragsbesteuerung sind. Ergänzungsabgaben (Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG), die als Zuschlagsteuern im Sinne von § 51a EStG erhoben werden, setzen einen zusätzlichen konkreten Finanzbedarf des Bundes voraus. Sie dürfen die Einkommen- und die Körperschaftsteuer nicht aushöhlen199 und sind im Zeitverlauf stetig zu rechtfertigen. Mit fortschreitender Zeit dürfte dabei die Vermutung stärker werden, dass der zusätzliche konkrete Finanzbedarf nicht mehr besteht oder in einer allgemeinen Deckungslücke aufgegangen ist. Vor diesem Hintergrund ist eine Weitererhebung200 des Solidaritätszuschlags im normativen und tatsächlichen Umfeld des neuen, ab 2020 geltenden Bund-Länder-Finanzausgleichs eindeutig nicht mehr zu rechtfertigen. Sie ist in diesem Rahmen nicht mehr folgerichtig und auch in der Sache nicht mehr begründet201. Angesichts des 198 Siehe zur intertemporalen Verlustverrechnung nach Maßgabe einer freiheits- und gleichheitsrechtlichen Fundierung des objektiven Nettoprinzips in der Zeit oben III. 3 b). 199 BVerfG v. 9.2.1972 – 1 BvL 16/69, BVerfGE 32, 333 (338). 200 Zur Verfassungsmäßigkeit der bisherigen Erhebung unter anderem BFH v. 21.7.2011 – II R 52/10, BFHE 234, 250; siehe auch BVerfG v. 19.11.1999 – 2 BvR 1167/96, HFR 2000, 134; v. 11.2.2008 – 2 BvR 1708/06, DStZ 2008, 229; v. 8.9.2010 – 2 BvL 3/10, NJW 2011, 441. 201 In diese Richtung bereits Deutsche Bundesbank, Monatsbericht August 2015, S. 70; auch Kube, DStR 2017, 1792 ff.

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graduellen Wegfalls des Belastungsgrundes über die Zeit und auch angesichts der erheblichen Auswirkungen auf den Bundeshaushalt erscheint allerdings eine planmäßige, zügige Abschmelzung des Solidaritätszuschlags über wenige Jahre verfassungsrechtlich akzeptabel. Die im Koalitionsvertrag 2018 vorgesehene Reduzierung des Solidaritätszuschlags um einen Betrag von lediglich 10 Mrd. Euro in einem ersten Schritt im Jahr 2021202 ist vor diesem Hintergrund als problematisch einzuordnen. Es fehlt an der Perspektive eines ins Ziel führenden Abbaupfads. Zudem sollen die Steuerpflichtigen durch die geplante Anwendung einer Freigrenzenregelung nur selektiv entlastet werden. Hierdurch wird eine soziale Staffelung erreicht, die auf die Einkommensteuerprogression aufsattelt. Dies begründet eine demokratisch und rechtsstaatlich problematische Intransparenz hinsichtlich des tatsächlichen Ausmaßes der ertragsteuerlichen Umverteilung und zudem die Gefahr von Belastungssprüngen203. Verfassungsgemäßer Zweck des Solidaritätszuschlags war ein konkreter staatlicher Finanzierungs­ bedarf, der sich vom Umverteilungsanliegen unterscheidet. Umverteilung ist im Rahmen des Ertragsteuerrechts in erster Linie Gegenstand des einkommensteuerrechtlichen Tarifverlaufs. Im Übrigen sind einkommensteuerrechtliche Freigrenzen durch die unabweislich entstehenden Grenzsteuerlasten verfassungsrechtlich grundsätzlich problematisch204. Vorliegend lässt sich eine Freigrenze jedenfalls nicht durch den Vereinfachungszweck205 rechtfertigen. Auch eine „Gleitzone“ schafft hier keine durchgreifende Abhilfe. So bleibt es dabei, dass der Solidaritätszuschlag zügig und für alle Steuerpflichtigen gleichmäßig abgeschmolzen werden muss.

IV. Prinzipientreues, zukunftsfähiges Einkommensteuerrecht 1. Fazit zu den Entwicklungen und Herausforderungen in den verschiedenen Bereichen des Einkommensteuertatbestands Tritt man einen Schritt zurück, eröffnet sich eine weitergreifende, allgemeinere Perspektive auf die Entwicklungen und Herausforderungen in den verschiedenen Bereichen des Einkommensteuertatbestands. Die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der unterschiedlichen Arten persönlicher Steuerpflicht erscheinen über die Zeit recht stabil. Weiterer Überlegungen bedarf allerdings die Frage nach der persönlichen Zuordnung unternehmerischen Handelns 202 CDU, CSU und SPD, Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag v. 7.2.2018, 68. 203 Siehe zu den sich aus der koalitionsvertraglichen Planung ergebenden Verwerfungen im Belastungsverlauf die grafische Veranschaulichung in Institut der Deutschen Wirtschaft Köln, Solidaritätszuschlag: Einführung einer Freigrenze gemäß Sondierungsergebnis von CDU/CSU und SPD. Auswirkungen auf die Steuerzahler, IW-Gutachten, Januar 2018, S. 7. 204 Luck, Alles oder Nichts – Die Freigrenze im Steuerrecht, 2014. 205 Zu dieser Begründung für eine Freigrenze Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 3 Rz. 147.

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und Erfolgs; dies insbesondere deshalb, weil Personengesellschaften zivilrechtlich zunehmend verselbständigt werden und sich bei Licht betrachtet oftmals kapitalistisch strukturiert darstellen, während Kapitalgesellschaften bei zivilrechtlicher Verselbständigung nicht selten eine personalistische Prägung aufweisen. Die Rechtfertigung eines nur auf Kapitalgesellschaften anwendbaren strengen Trennungsprinzips steht daher zur Diskussion. Die gegenwärtige Wertungsinkonsistenz kann dabei in die eine (Ausweitung des Trennungsprinzips) oder in die andere (Ausweitung des Transparenzprinzips) Richtung aufgelöst werden. Die einheitliche, synthetische Einkommensteuer ist zu Recht eine Konstante des deutschen Einkommensteuerrechts. Spezielle Regelungen zu den Einkunftsarten rechtfertigen sich insoweit, als sie dazu dienen, die Einkünfte je sachgerecht zu er­ fassen. Darüber hinausgehende Abweichungen sind in besonderer Weise begründungsbedürftig. Wenn die 2009 eingeführte Abgeltungsbesteuerung von Zinseinkünften  – entsprechend den derzeitigen Planungen  – wieder abgeschafft wird und diese Einkünfte in die allgemeine Bemessungsgrundlage zurückgeführt werden, dann wird hierdurch ein bewährtes System gleichheitsgerechter Besteuerung, konkret von Arbeit und Kapital, gestärkt. Der Dualismus von Vermögenszugangstheorie und Quellentheorie bleibt gleichwohl eine historische Last. Er verstellt den Blick für die materiellen Grundlagen der Steuerbarkeit. Weiterführend erscheint es in diesem Zusammenhang, die Einkunftsarten als konstitutive Kategorisierungen von Erwerbsgrundlagen zu verstehen, deren Nutzung am Markt ein steuerbares Einkommen generiert. Dies leitet auf einen allgemeinen Grundtatbestand der Einkommensteuer hin. Das objektive Nettoprinzip ist ebenfalls historisch hergebracht, bedarf aber, dies zeigt die Entwicklung über die Zeit, in besonderer Weise der legislativen Konkretisierung. Eine auch verfassungsrechtliche Anerkennung des Prinzips als Unterprinzip des Leistungsfähigkeitsprinzips trägt, bei einem entsprechenden Konkretisierungsvorbehalt, den freiheits- und gleichheitsgrundrechtlichen Grundlagen des Prinzips Rechnung. Die vielfachen, tendenziell zunehmenden Durchbrechungen des objektiven Nettoprinzips müssen sich – sei es bei verfassungsrechtlicher Anerkennung des Prinzips, sei es nach dem Folgerichtigkeitsgebot – in jedem Fall im Einzelnen rechtfertigen. Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Durchbrechung sind dabei im Hinblick auf das jeweils verfolgte Gemeinwohlziel genau zu prüfen. Regel muss die Abzugsfähigkeit erwerbsbedingter Aufwendungen bleiben, das Abzugsverbot die begründungsbedürftige Ausnahme. Das subjektive Nettoprinzip ist dagegen schon bislang verfassungsrechtlich fest verankert, dies aufgrund deutlicher Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Der existenzbedingte Bedarf des Steuerpflichtigen und seiner Familie wird dementsprechend zunehmend realitätsgerecht in Abzug gebracht. Die Familienbesteuerung ließe sich durch die Einführung eines Familienrealsplittings noch konsequenter vollziehen; denn die Unterhaltsverpflichtungen sind gesetzlich verbindlich und deshalb als pflichtbestimmter, indisponibler und in der Sache existenzbezogener Aufwand im Sinne der Dogmatik zum subjektiven Nettoprinzip einzuordnen. Das Ehegattensplitting erfasst die Eheleute als Erwerbsgemeinschaft zutreffend. Es geht von der je hälf1176

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tigen, auf gleichwertigen Beiträgen beruhenden Zurechenbarkeit des gemeinsamen Erfolgs am Markt aus, ähnlich wie die Besteuerung einer Personengesellschaft auf der anteiligen Zurechnung des Gesellschaftserfolgs an die Mitunternehmer beruht. Inwieweit das Einkommensteuerrecht Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen anerkennt, ist in gewissem Grade in das Ermessen des Steuergesetzgebers gestellt. Er muss dabei allerdings auf dogmatische Folgerichtigkeit achten, so etwa im Fall des Abzugs von Rentenversicherungsbeiträgen unter den Bedingungen einer nachgelagerten Rentenbesteuerung. Der Rechtsprechung verlangen die notwendigerweise unbestimmten Tatbestandsvoraussetzungen der außergewöhnlichen Belastungen besondere Sorgfalt ab, nicht zuletzt vertrauenschützende Beständigkeit über die Zeit. Der Tarif der Einkommensteuer ist historisch hergebracht ein progressiver Tarif. Über den genauen Tarifverlauf zu entscheiden, ist Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Seit einiger Zeit ist erkannt, dass sich die Höhe des Tarifs vor dem freiheitsgrundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtfertigen muss. Zudem hat der Verlauf des Tarifs folgerichtig zu sein, weshalb signifikante Änderungen der Steigung oder auch Stufen im Tarif begründungsbedürftig sind. Immer drängender ist das Problem der kalten Progression geworden. Es sollte aus Gründen der politischen Redlichkeit, letztlich aber auch des Demokratieprinzips, behoben werden. Die grundsätzliche Alternative eines proportionalen Tarifs mit nur anteiliger Einbeziehung kleiner Einkommen in die Bemessungsgrundlage steht weiter im Raum. Ein proportionaler Tarif könnte – zumal bei einer Gegenfinanzierung durch die Abschaffung von Steuervergünstigungen  – klärend wirken und brächte steuersystematisch erhebliche Vorteile mit sich. Steuervergünstigungen verfälschen die leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung, kaufen Freiheit ab und belasten unkontrolliert den Haushalt. Zu Recht werden sie schon lange kritisiert. Gleichwohl scheint ihr Reiz aus politischer Perspektive ungebrochen. In jedem Fall müssen sich Steuervergünstigungen durch das Gewicht des jeweils verfolgten Anliegens und durch ihre Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit im Einzelnen verfassungsrechtlich rechtfertigen, bei Abzügen von der Bemessungsgrundlage auch hinsichtlich ihrer regressiven Wirkung. Die Bemühungen, aggressiven und missbräuchlichen Steuergestaltungen in grenzüberschreitenden Konstellationen durch Anpassungen des materiellen Steuerrechts Herr zu werden, schlagen sich auch im Einkommensteuergesetz nieder. Zunehmend wird das Gesetz um unilaterale Regelungen ergänzt, die in diesem Sinne Abwehrcharakter haben. Dies ist einerseits nachvollziehbar. Andererseits dürfte ein grenzüberschreitend koordiniertes Vorgehen auf internationalsteuerrechtlicher Ebene grundsätzlich vorzuziehen sein, zum einen mit Blick auf die Maßnahmenwirksamkeit, zum anderen und nicht zuletzt mit Blick darauf, dass die unilaterale Abwehrgesetzgebung das deutsche Einkommensteuerrecht ganz erheblich weiter verkompliziert. In jedem Fall muss genau geprüft werden, ob die voraussichtliche praktische Relevanz und der Erfolg einer neuen unilateralen Regelung die durch sie bewirkte Verkomplizierung des Gesetzesrechts rechtfertigen.

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Bezüglich des Gesamtgefüges der Steuerarten bleibt daran zu erinnern, dass die Einkommen- und die Körperschaftsteuer – flankiert durch die Gewerbesteuer – die verfassungsrechtlich vorgesehenen Formen der Ertragsbesteuerung sind. Ergänzungsabgaben sind eine durch einen konkreten Zusatzbedarf des Bundes zu begründende Ausnahme. Der rechtfertigende Grund für den Solidaritätszuschlag ist entfallen. Er muss deshalb zügig und dabei gleichmäßig abgeschmolzen werden. 2. Desiderat von Einfachheit und Konsistenz Tritt man noch einen weiteren Schritt zurück und vergegenwärtigt man sich die Entwicklung des Einkommensteuergesetzes seit 1934 im Ganzen, ist festzustellen, dass das Gesetz in seinen bewährten Grundstrukturen im Wesentlichen unverändert geblieben, zugleich aber immer komplizierter geworden und von vielfältigen Ergänzungs- und Ausnahmeregeln durchsetzt worden ist. Diese zusätzlichen Regeln sind je für sich ganz überwiegend von nachvollziehbaren legislativen Motiven getragen. Und dennoch fragt sich, ob es diese Motive und auch die tatsächlichen Wirkungen der Regeln rechtfertigen, die Klarheit und Systematik des Einkommensteuerrechts immer weiter zu relativieren. Jeder neue Steuergesetzgeber ergänzt Regeln, die zu fehlen scheinen. Kaum jemals erwägt der Steuergesetzgeber, Regeln zu streichen; zumal solche, die sich nicht bewährt haben. So wächst das Einkommensteuergesetz Schicht um Schicht an, wird immer unübersichtlicher und schwerfälliger. Nach über 80 Jahren ist der Zeitpunkt mehr als gekommen, einen Vergleich des aktuellen Bestandes mit dem Einkommensteuergesetz von 1934 vorzunehmen und ernsthaft zu prüfen, ob und inwieweit die seither vorgenommenen Änderungen das Einkommensteuerrecht tatsächlich verbessert haben. Die rechtsstaatlichen Maßstäbe der Klarheit und Verständlichkeit, auch das Erfordernis der  – zumal automatisierten  – Vollziehbarkeit und das Gebot einer angemessenen, die Vollziehbarkeit gewährleistenden und insoweit wiederum gleichheitsförderlichen Typisierung sind dabei zwingend zu berücksichtigen. Durch eine Vereinfachung des Einkommensteuergesetzes könnte seine Binnenkonsistenz gestärkt werden. Jede Ausnahme, die gestrichen wird, jede unnötige Unterscheidung, die aufgehoben wird, unterstützt die Prinzipiengerechtigkeit, Widerspruchsfreiheit und Folgerichtigkeit des Normbestandes. Der Mut zur rechtsvereinfachenden Reform, der seit den 1950er Jahren immer wieder Kommissionen beflügelte206, vor allem aber vor rund 10 Jahren noch sehr deutlich zu spüren war und in dieser Zeit auch die steuerpolitische Diskussion beeinflusste207, ist gerade im politischen Raum vollständig geschwunden. Es bedarf heute dringend einer Revitalisierung des Vorhabens, das Einkommensteuerrecht zu verein206 Rückblickend Lang, FR 1993, 661 (662 f., 667). 207 Zu den verschiedenen Ansätzen ausführlich Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22.  Aufl. 2015, § 7 Rz. 82 ff. m.w.N.; siehe auch die bereits reflektierende Jahrestagung 2013 der DStJG, dokumentiert in Jachmann (Hrsg.), DStJG 37 (2014); zu den Bedingungen von Ertragsteuerreformen aus historischer Sicht Thier, StuW 2014, 77 ff.

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Entwicklung und Zukunft des Einkommensteuerrechts

fachen und dadurch der Rechtsstaatlichkeit, der Zukunftsfähigkeit der Einkommensbesteuerung und dem Standort Deutschland zu dienen. 3. Materieller Belastungsgrund und Steuerkonkurrenzen Soweit diese Vereinfachung die Einkunftsarten und damit den Kern des Einkommensteuerrechts betrifft, kann sie dazu beitragen, den materiellen Belastungsgrund der Einkommensteuer stärker als bislang im Gesetz zu verdeutlichen. Die Steuerrechtsentwicklung könnte damit an eine jüngere Entwicklung in der Steuerrechtswissenschaft anknüpfen, die die Rechtfertigung der materiellen Steuern zunehmend thematisiert208, gerade auch im Rahmen der verfassungsrechtlichen Dogmatik209. Steuerbare Leistungsfähigkeit ist von finanzieller Zahlungsfähigkeit zu unterscheiden. Wäre dies nicht so, wären steuerbare von nicht steuerbaren Vermögensbeständen oder -transaktionen nicht zu unterscheiden, könnte nicht zwischen den Ertragsteuern, den Substanzsteuern und den Konsumsteuern differenziert werden, würden sich die Fragen nach erwerbs- und existenzbedingten Abzugspositionen nicht so stellen. Die Ermittlung der einkommensteuerrechtlich maßgeblichen Leistungsfähigkeit und die dementsprechende Ausgestaltung des Einkommensteuertatbestands kommen ohne ein substanzhaltiges Konzept der Steuerrechtfertigung nicht aus. Die Einkommensteuer knüpft als Ertragsteuer an einen Ertrag an, der am Markt, durch eine Leistung gegen Entgelt210, erwirtschaftet wurde. Steuerbar ist die aus diesem Ertrag erwachsende Leistungsfähigkeit nach der Markteinkommenstheorie, weil der Staat die Grundlagen des Ertrags mitkonstituiert hat und deshalb an dem Ertrag teilhaben soll211. In der Ausgestaltung und Dogmatik der Einkunftsarten kann und 208 Zu Beginn ihrer Blütezeit in den 1920er Jahren legte die Steuerrechtswissenschaft den Schwerpunkt auf die verwaltungsrechtliche Perspektive; die Diskurse über die materielle Steuerrechtfertigung waren zu dieser Zeit noch Diskurse der Staats- bzw. Finanzwissenschaften; dazu Lang, FR 1993, 661 (662 f.); Droege, Eigenheiten der Steuerrechtswissenschaft, 2016, S. 19 ff. m.w.N.; dies erklärt den rechtswissenschaftlichen Beitrag über „Die Rechtfertigung der Steuern: eine vergessene Vorfrage – Zugleich zur ‚heimlichen Steuerrevolte‘ und zum Dreieck Staat/Wirtschaft/Gesellschaft“ von Klaus Vogel aus dem Jahr 1986; siehe Vogel, Der Staat 25 (1986), 481 ff. 209 Seiler in VVDStRL 75 (2016), S. 333 ff., insb. S. 355 f.; Kube in HFSt 4 (2016), S. 69 ff.; Waldhoff, StuW 2014, 19 (27 f.) beobachtet, „dass steuerverfassungsrechtliche Vorgaben der Gegenwart neugewendete finanzwissenschaftliche Postulate der Vergangenheit sind“; zu einem „Übersetzungsproblem“ im Verhältnis zwischen Steuergerechtigkeit und Verfassungsrecht jüngst Osterloh-Konrad, StuW 2017, 305 (318 f.); vgl. umfassend zum Rückbezug des Steuerrechts auf das Verfassungsrecht die Beiträge in JöR 64 (2016), S. 443 ff.; Hey, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Steuerverfassungsrechts, in FS 100 Jahre BFH, S. 451 ff. 210 Ruppe in DStJG 1 (1978), S.  7 (16) („entgeltliche Verwertung von Leistungen (Wirtschaftsgütern oder Dienstleistungen) am Markt“); auch Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, S. 81 („Das verbindende Element aller Einkunftsarten ist die (zumeist entgeltliche) Leistung.“). 211 Zur Markteinkommenstheorie bereits oben III. 2. a).

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sollte sich dies darin widerspiegeln, dass diese Einkunftsarten konzeptionell auf der Vorstellung von Erwerbsgrundlagen und deren marktbezogener Nutzung aufbauen212. Erst dann, wenn der rechtfertigende Grund der Einkommens- bzw. Körperschaftsbesteuerung neu vergegenwärtigt ist, kann auch eine systematische Verzahnung und Abstimmung mit den anderen Steuerarten gelingen213, insbesondere mit der Erbschaft- und Schenkungsteuer als Steuer auf Vermögenszuwächse außerhalb des Marktes und mit der Umsatzsteuer als Steuer auf die konsumtive Marktteilnahme. Die Gewerbesteuer erweist sich in diesem Licht als zweite Form der Besteuerung einer erwerbsgerichteten Marktnutzung. 4. Freiheits- und Gleichheitsgerechtigkeit der Einkommensteuer Im Vergleich der Steuerarten bleibt die Einkommensteuer die „Königin der Steuern“214. Denn nur sie erlaubt und verlangt, unmittelbar an die individuelle wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen anzuknüpfen. Die Einkommensteuer ist deshalb in einem Maß freiheits- und gleichheitsgerecht, das die anderen, stärker typisierenden Steuern nicht erreichen. Dieser Befund begründet die Mahnung, die Einkommensteuer nicht zugunsten der indirekten, bequemer zu erhebenden Steuern zu vernachlässigen, und das Gebot, das Einkommensteuerrecht und seine Dogmatik zu pflegen.

212 Auch dazu bereits oben III. 2. a). 213 Siehe zum Bedarf nach einer Orientierung gebenden, normativ-dogmatisch fundierten Steuerkonkurrenzlehre Seiler in Maunz/Dürig, Art.  105 GG Rz.  78; Kube in HFSt 3 (2016), S. 53 ff. 214 Siehe bereits oben I.

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4. Teil Materielles Steuerrecht A. II. 1.

Streitanfälligkeit einzelner Bereiche des Einkommensteuerrechts als Indiz für Reformbedarf? Von Stephan Geserich

Inhaltsübersicht I. Ausgangsbefund II. Die Unterscheidung nach Einkunfts­ arten 1. Abgrenzung der Einkünfte aus nicht­ selbständiger Arbeit von den Kapital­ einkünften a) Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit b) Einkünfte aus Kapitalvermögen c) Einzelfallwürdigung d) Zuordnung von Erwerbsaufwand 2. Abgrenzung der Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit von den Einkünften aus Gewerbebetrieb a) Einkünfte aus Gewerbebetrieb b) Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit

III. Einkunftsartbezogene Sonderregelungen 1. Bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit a) Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit b) 44 Euro-Freigrenze für Sachbezüge c) (Personal)Rabattfreibetrag 2. Bei den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft IV. Einkünfteübergreifende Sonder­ vorschriften betreffend den Abzug von Erwerbsaufwand V. Fazit

Es ist ein grundsätzliches Gebot der Steuergerechtigkeit, dass die Besteuerung nach der (wirtschaftlichen) Leistungsfähigkeit ausgerichtet wird. Dies gilt insbesondere für die Einkommensteuer. Denn das moderne Einkommensteuerrecht ist auf die Leistungsfähigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen hin angelegt1. Nicht die Fähigkeit zu erwerben, sondern das Erworbene ist deshalb Belastungsgrund der Einkommensteuer2.

I. Ausgangsbefund Den Gegenstand der Einkommensteuer, das steuerbare Einkommen und damit den individuell empfangene, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mehrende Vermö1 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082 m.w.N. 2 Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 2 EStG Rz A 3.

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genszuwachs bemisst der einfache Gesetzgeber nach dem objektiven und dem subjektiven Nettoprinzip. Danach unterliegt der Einkommensteuer grundsätzlich nur das Nettoeinkommen, nämlich der Saldo aus den Erwerbseinnahmen einerseits und den (betrieblichen/beruflichen) Erwerbsaufwendungen sowie den (privaten) existenzsichernden Aufwendungen andererseits. Deshalb sind Aufwendungen für die Erwerbstätigkeit gemäß §§ 4, 9 EStG und existenzsichernde Aufwendungen im Rahmen von Sonderausgaben, Familienleistungsausgleich und außergewöhnlichen Belastungen gemäß §§ 10 ff., 31 f., 33 ff. EStG grundsätzlich steuerlich abziehbar. Die das deutsche Einkommensteuerrecht prägende Trennung zwischen Erwerbs- und Privatsphäre ist insoweit aufgehoben. Trotz dieses in §  2 EStG geregelten, einfachwie verfassungsrechtlich unumstrittenen Ausgangsbefunds ist die Erhebung der Einkommensteuer jedoch ein streitanfälliges Geschehen. Denn nicht stets ist jeder Euro steuerlich gleich viel wert.

II. Die Unterscheidung nach Einkunftsarten Das Einkommensteuergesetz umschreibt das steuerbare Marktgeschehen und damit die Maßgröße objektiver Leistungsfähigkeit3 in sieben Einkunftsarten zwar wirklichkeitsnah, realitätsgerecht und abschließend4. Die Zuordnung von Einkünften nach einer Einkunftsart führt allerdings aufgrund von Schedulenelementen, einkünftebezogenen be- und entlastenden Sonderregelungen, wie Steuerbefreiungen, Freibeträgen und -grenzen, Verlustverrechnungsbeschränkungen und steuerlichen Zusatzbelastungen zu unterschiedlichen Belastungsfolgen. Weiter bestimmt die Einkunftsart die Maßstäbe der Einkünfteermittlung und die Art der Steuererhebung. Belastungs-, Ermittlungs- und Erhebungsunterschiede des geltenden Einkunftsartenrechts5 machen die Einkommensteuer gestaltungs- und nicht zuletzt deshalb in hohem Maße streitanfällig6. 1. Abgrenzung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit von den ­Kapitaleinkünften Dies lässt sich insbesondere bei der Besteuerung von regulär und damit progressiv besteuerten Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG) und denen aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG), die nach § 32d Abs. 1 EStG – jedenfalls bislang noch vollständig7 – einem proportionalen Abgeltungsteuersatz von 25 v.H. unterliegen, verbeispielen. 3 Lang in Kube/Mellinghoff/Morgentahler u.a., Leitgedanken des Rechts, Band 2, 2013, § 168 Rz. 9. 4 Kirchhof in Kirchhof, 17. Aufl., § 2 EStG Rz. 39. 5 Hey in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf.ESt Rz. 732. 6 von Beckerath in Kube/Mellinghoff/Morgentahler u.a., Leitgedanken des Rechts, Band  2, 2013, § 171 Rz. 2; Hey in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf.ESt Rz. 732. 7 Zur geplanten Abschaffung der Abgeltungssteuer auf Zinserträge, s. Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD v. 7.2.2018.

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Streitanfälligkeit einzelner Bereiche des Einkommensteuerrechts

a) Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit Zu den Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit gehören nach §  19 Abs.  1 Satz  1 Nr. 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 EStG alle Güter, die in Geld oder Geldeswert bestehen und die dem Arbeitnehmer aus dem Dienstverhältnis für das Zurverfügungstellen seiner ­individuellen Arbeitskraft zufließen. Vorteile werden „für“ eine Beschäftigung gewährt, wenn sie durch das individuelle Dienstverhältnis des Arbeitnehmers veranlasst sind. Das ist der Fall, wenn der Vorteil mit Rücksicht auf das Dienstverhältnis eingeräumt wird und sich die Leistung im weitesten Sinne als Gegenleistung für das Zurverfügungstellen der individuellen Arbeitskraft des Arbeitnehmers erweist. b) Einkünfte aus Kapitalvermögen Kein Arbeitslohn liegt allerdings vor, wenn die Zuwendung wegen anderer Rechtsverhältnisse oder aufgrund sonstiger, nicht auf dem Dienstverhältnis beruhender Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gewährt wird8. Beteiligt sich ein Arbeitnehmer am Kapital seines Arbeitgebers, beispielsweise durch den Erwerb von Genussrechten oder Aktien, können diese eigenständige Erwerbsgrundlagen sein, so dass damit in Zusammenhang stehende Erwerbseinnahmen in keinem einkommensteuerrechtlich erheblichen Veranlassungszusammenhang zum Arbeitsverhältnis stehen. Der Arbeitnehmer nutzt in diesem Fall sein Kapital als eine vom Arbeitsverhältnis unabhängige und eigenständige Erwerbsgrundlage zur Einkünfteerzielung. Die daraus erzielten Erträge sind dann keine Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, sondern solche aus Kapitalvermögen, auch wenn die Beteiligten zugleich durch ein arbeitsrechtliches Verhältnis verbunden sind. Im Falle der Veräußerung der Kapitalbeteiligung kommt dementsprechend lediglich eine Steuerbarkeit nach den einschlägigen Veräußerungstatbeständen des Einkommensteuergesetzes (§§ 17, 20 Abs. 2, 23 EStG) in Betracht9. Erforderlich ist jedoch, dass ein die Kapitalüberlassung regelndes Sonderrechtsverhältnis begründet wird, das unabhängig vom Arbeitsverhältnis besteht und den gesamten Leistungsaustausch der Vertragspartner abbildet, ohne dass daneben noch dem Arbeitsverhältnis zuzuordnende, lohnsteuerrechtlich erhebliche Leistungen vorliegen10. Entsprechendes gilt, wenn der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber ein Darlehen gewährt11. c) Einzelfallwürdigung Die Beantwortung der Frage, ob ein Leistungsaustausch zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch das Dienstverhältnis veranlasst ist und deshalb den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit oder aufgrund einer Sonderrechtsbeziehung einer anderen Einkunftsart oder dem nicht einkommensteuerbaren Bereich zuzurechnen ist, 8 BFH v. 20.11.2008 – VI R 25/05, BFHE 223, 419, BStBl. II 2009, 382, m.w.N; Schneider, DB 2006, Beilage 6, S. 51 ff. 9 BFH v. 4.10.2016 – IX R 43/15, BFHE 255, 442, BStBl. II 2017, 790. 10 Vgl. BFH v. 5.4.2006 – IX R 111/00, BFHE 213, 341, BStBl. II 2006, 654; v. 17.6.2009 – VI R 69/06, BFHE 226, 47, BStBl. II 2010, 69. 11 BFH v. 28.6.2007 – VI B 23/07, BFH/NV 2007, 1870.

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ist aufgrund einer in erster Linie der Tatsacheninstanz obliegenden tatsächlichen Würdigung zu entscheiden12. In die vom FG vorzunehmende tatsächliche Würdigung sind alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles einzubeziehen und der zu beurteilende Lebenssachverhalt nach seinem wirtschaftlichen Gehalt und nicht nach seiner äußeren Erscheinungsform zu würdigen13. Die tatrichterliche Würdigung ist, wenn sie verfahrensrechtlich ordnungsgemäß durchgeführt wurde und nicht gegen Denkgesetze verstößt oder Erfahrungssätze verletzt, nach § 118 Abs. 2 FGO revisionsrechtlich bindend14. Einzelne Gesichtspunkte, die für die Frage, ob der Vorteil aufgrund des Dienstverhältnisses oder im Hinblick auf eine Sonderrechtsbeziehung gewährt wurde, wesentlich sind, wie beispielsweise den Kreis der Bezugsberechtigten oder die Befristung eines Options- oder Wandlungsrechts auf die Dauer des Arbeitsverhältnisses, hat der BFH in einer Vielzahl von Urteilen herausgearbeitet. Jeder dieser Aspekte hat für sich betrachtet nur indizielle Wirkung15. Gleichwohl müssen alle  – entsprechend ihrer Bedeutung – in die Gesamtwürdigung einfließen16. Deshalb kann ein Veräußerungsgewinn aus einer Kapitalbeteiligung an einem Unternehmen nicht allein deshalb zu Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit führen, weil die Beteiligung von einem Arbeitnehmer des Unternehmens gehalten und veräußert wurde und auch nur Arbeitnehmern im Allgemeinen oder sogar nur bestimmten Arbeitnehmern angeboten worden war17. Hingegen wurde vom BFH auf Arbeitslohn im Zusammenhang mit der Verzinsung von Genussrechten erkannt, wenn die Höhe der Verzinsung völlig unbestimmt ist und von einem aus Arbeitgeber und einem Vertreter der Arbeitnehmer bestehenden Partnerschaftsausschuss bestimmt wird18. Kann der Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber erworbene Genussrechte nur dadurch verwerten, dass er sie nach Ablauf der Laufzeit an diesen veräußert und hängt die Höhe des Rückkaufswerts der Genussrechte davon ab, wie das Anstellungsverhältnis endet, handelt es sich bei dem Überschuss aus dem Rückverkauf der Genussrechte ebenfalls um Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit19.

12 BFH v. 20.11.2008 – VI R 25/05, BFHE 223, 419, BStBl. II 2009, 382, und v. 1.2.2007 – VI R 72/05, BFH/NV 2007, 898. 13 BFH v. 30.6.2011 – VI R 80/10, BFHE 234, 195, BStBl. II 2011, 948. 14 Z.B. BFH in BFHE 223, 419, BStBl. II 2009, 382, und in BFHE 230, 136, BStBl. II 2010, 1069. 15 Z.B. BFH v. 23.6.2005 – VI R 124/99, BFHE 209, 549, BStBl. II 2005, 766 und VI R 10/03, BFHE 209, 559, BStBl.  II 2005, 770; v. 17.6.2009  – VI R 69/06, BFHE 226, 47, BStBl.  II 2010, 69. 16 BFH v. 20.11.2008 – VI R 25/05, BFHE 223, 419, BStBl. II 2009, 382 und v. 7.5.2014 – VI R 73/12, BFHE 245, 230, BStBl. II 2014, 904. 17 BFH v. 17.6.2009 – VI R 69/06, BFHE 226, 47, BStBl. II 2010, 69; v. 21.5.2014 – I R 42/12, BFHE 246, 119, BStBl. II 2015, 4 und v. 4.10.2016 – IX R 43/15, BFHE 255, 442, BStBl. II 2017, 790. 18 BFH v. 21.10.2014 – VIII R 44/11, BFHE 247, 308, BStBl. II 2015, 593. 19 BFH v. 5.11.2013 – VIII R 20/11, BFHE 243, 481, BStBl. II 2014, 275, zur verbilligten Überlassung von GmbH-Anteilen als Arbeitslohn BFH v. 1.9.2016  – VI R 67/14, BFHE 255, 125, BStBl. II 2017, 69.

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Streitanfälligkeit einzelner Bereiche des Einkommensteuerrechts

d) Zuordnung von Erwerbsaufwand Eine gegenläufige Tendenz, nämlich die Flucht aus § 20 EStG nach § 19 EStG, ist bei der Zuordnung von Erwerbsaufwendungen nach einer der beiden Einkunftsarten zu verzeichnen. Dies gilt insbesondere beim fehlgeschlagenen Invest. Streitbefangene Fluchtursache ist zum einen der Umstand, dass entsprechend der steuerlichen Systematik Wertänderungen/Verluste in der privaten Vermögenssphäre bei der Einkunftsermittlung im Rahmen der Überschusseinkünfte und damit – zumindest bislang – auch im Rahmen des § 20 EStG grundsätzlich außer Betracht blieben. Zwar hat der BFH hiervon mittlerweile Abstand genommen und entschieden, dass der endgültige Ausfall einer Kapitalforderung i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG in der privaten Vermögenssphäre nach Einführung der Abgeltungsteuer zu einem steuerlich anzuerkennenden Verlust nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, Satz 2, Abs. 4 EStG führt20. Nachhaltig gebannt ist die Fluchtgefahr nach den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit dadurch jedoch nicht. Vielmehr gründet der Wunsch nach steueroptimierter Zuordnung zum anderen auf der beschränkten Verrechnung von Kapitalvermögensverlusten gemäß §  20 Abs.  6 EStG, insbesondere auf dem Verbot, derartige Verluste mit Einkünften aus anderen Einkunftsarten auszugleichen (§  20 Abs.  6 Satz  1 EStG). Denn nach ständiger Rechtsprechung des BFH können Wertveränderungen/Verluste in der privaten Vermögenssphäre zumindest, wenn besondere Umstände den Schluss rechtfertigen, dass die Gründe für die unfreiwilligen (völligen oder teilweisen) Verluste in der Berufs- bzw. Erwerbssphäre liegen, als Erwerbsaufwand bei § 19 EStG zu berücksichtigen sein21. Die Fluchtroute gibt § 9 Abs. 1 Satz 2 EStG vor. Danach sind Werbungskosten bei der Einkunftsart abzuziehen, bei der sie erwachsen sind. Da die Aufwendungen in diesen Fällen zu mehreren Einkunftsarten in einem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen, entscheidet nach ständiger Rechtsprechung der engere und wirtschaftlich vorrangige Veranlassungszusammenhang22. Folglich sind Aufwendungen der Einkunftsart zuzuordnen, die im Vordergrund steht und die die Beziehungen zu den anderen Einkünften verdrängt23. Maßgeblich hierfür und damit den Fluchterfolg sind die nämlichen Rechtsgrundsätze, die auch für die Frage heranzuziehen sind, ob eine Zuwendung des Arbeitgebers auf dem Arbeitsverhältnis oder auf anderen Rechtsbeziehungen gründet24. aa) Bürgschafts- und Darlehensverluste Diese Rechtsgrundsätze hat der VI. Senat des BFH in ständiger Rechtsprechung in Bezug auf die Frage, ob Bürgschaftsverluste – oder auch Darlehensverluste – durch 20 BFH v. 24.10.2017 – VIII R 13/15; DStR 2017, 2801. 21 BFH v. 30.7.2013 – VI B 7/13, BFH/NV 2013, 1922 m.w.N. 22 Vgl. bereits BFH v. 21.4.1961 – VI 158/59 U, BFHE 73, 449, BStBl. III 1961, 431. 23 Z.B. BFH v. 8.7.2015 – VI R 77/14, BFHE 250, 518, BStBl. II 2016, 60; v. 3.9.2015 – VI R 58/13, BFHE 251, 429, BStBl. II 2016, 305 und v. 17.5.2017 – VI R 1/16, BFHE 258, 365, BStBl. II 1073. 24 BFH v. 3.9.2015 – VI R 58/13, BFHE 251, 429, BStBl. II 2016, 305.

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das Arbeitsverhältnis veranlasst sind, konkretisiert25. Danach spricht in Fällen, in denen der Arbeitnehmer zugleich als Gesellschafter an seiner in Form einer Kapitalgesellschaft betriebenen Arbeitgeberin beteilig ist, umso mehr für eine innere wirtschaftliche Verbindung zu den Einkünften aus Kapitalvermögen und damit für nachträgliche Anschaffungskosten der GmbH-Beteiligung, je höher die Beteiligung des Gesellschafter-Geschäftsführers ist26. Denn ein fremder, nicht mit dem Arbeitgeber durch eine Kapitalbeteiligung verbundener Arbeitnehmer wird nur in Ausnahmefällen bereit sein, zu Gunsten seines offenbar gefährdeten Arbeitsplatzes das Risiko einer Bürgschaft zu übernehmen. Umgekehrt bedeutet dies zugleich, dass bei einem an der Gesellschaft in nur sehr geringem Umfang beteiligten Arbeitnehmer, der eine Bürgschaft für seinen Arbeitgeber übernimmt, dies als Indiz dafür gilt, dass diese Bürgschaftsübernahme durch das Arbeitsverhältnis veranlasst ist. Dies gilt erst recht, wenn der Arbeitnehmer an der Gesellschaft überhaupt nicht beteiligt ist und durch die Bürgschaftsübernahme – anders als etwa bei einem dem Arbeitgeber gewährten verzinslichen Darlehen – keine weiteren Einkünfte erzielt und dementsprechend damit ausschließlich seine Lohneinkünfte zu sichern und zu erhalten sucht. Dies gilt im Grundsatz auch dann, wenn der Arbeitnehmer an seinem Arbeitgeber noch nicht gesellschaftsrechtlich beteiligt ist, aber eine solche Beteiligung anstrebt27. bb) Aufwendungen für den Erwerb einer Beteiligung Hiervon abzugrenzen sind jedoch solche Aufwendungen des Arbeitnehmers, die den Erwerb einer Beteiligung an dem Arbeitgeber betreffen. Derartige Aufwendungen sind nach der Rechtsprechung des BFH jedenfalls „nicht ohne weiteres“ den Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zuzurechnen, weil sie „im allgemeinen“ nicht unmittelbar mit diesen Einkünften, sondern mit solchen aus Kapitalvermögen im Zusammenhang stehen, selbst wenn damit auch die Arbeitnehmertätigkeit gefördert wird28. Vielmehr spricht eine Vermutung dafür, dass der Arbeitnehmer mit dem Erwerb einer Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft nicht nur die Sicherung seines Arbeitsplatzes beabsichtigt, sondern auch die mit der Stellung als Gesellschafter verbundenen Rechte erstrebt29. Dies gilt auch dann, wenn der Erwerb der Beteiligung (arbeitsvertragliche) Voraussetzung für die Erlangung der angestrebten Position ist30 oder wenn der Steuerpflichtige sich beteiligt, um durch die 25 BFH v. 8.7.2015 – VI R 77/14, BFHE 250, 518, BStBl. II 2016, 60 Rz. 21 und v. 3.9.2015 – VI R 58/13, BFHE 251, 429, BStBl. II 2016, 305 Rz. 17. 26 BFH v. 17.7.1992 – VI R 125/88, BFHE 169, 148, BStBl. II 1993, 111 und v. 16.11.2011 – VI R 97/10, BFHE 236, 61, BStBl. II 2012, 343; jeweils m.w.N. 27 BFH v. 8.7.2015 – VI R 77/14, BFHE 250, 518, BStBl. II 2016, 60 und v. 3.9.2015 – VI R 58/13, BFHE 251, 429, BStBl. II 2016, 305. 28 BFH v. 21.4.1961 – VI 158/59 U, BFHE 73, 449 und v. 5.4.2006 – IX R 111/00, BFHE 213, 341, BStBl. II 2006, 654. 29 BFH v. 12.5.1995 – VI R 64/94, BFHE 177, 472, BStBl. II 1995, 644 und v. 4.10.2016 – IX R 43/15, BFHE 255, 442. 30 BFH v. 21.4.1961 – VI 158/59 U, BFHE 73, 449; v. 12.5.1995 – VI R 64/94, BFHE 177, 472; v. 5.4.2006 – IX R 111/00, BFHE 213, 341, BStBl. II 2006, 654 und IX R 80/01, BFH/NV 2006, 1817.

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Zuführung von Kapital den Fortbestand der Gesellschaft und damit gleichzeitig seinen eigenen Arbeitsplatz zu erhalten31. Insoweit besteht nach der Rechtsprechung des BFH ein vorrangiger Zusammenhang mit den Einkünften aus Kapitalvermögen32. cc) Rechtfertigung unterschiedlicher Rechtsfolgen Die unterschiedliche steuerliche Behandlung von Vermögensverlusten in Form eines Darlehens oder einer Bürgschaftsinanspruchnahme einerseits und einer Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft andererseits ist insbesondere deshalb gerechtfertigt, weil der Arbeitnehmer bei der Darlehens- oder Bürgschaftsgewährung ausschließlich das einseitige Risiko eines wirtschaftlichen Verlustes des Darlehens oder der Inanspruchnahme aus der Bürgschaft auf sich nimmt33. Demgegenüber besteht bei der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft nicht nur die Gefahr eines Wertverlustes, sondern das übernommene Risiko enthält umgekehrt auch die Chance einer Wertsteigerung. Ein hieraus resultierender Gewinn wäre im Falle der Veräußerung entweder nach § 17 EStG oder § 23 EStG, nicht aber nach § 19 EStG zu versteuern34. 2. Abgrenzung der Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit von den Einkünften aus Gewerbebetrieb Beispielhaft ähnlich abgrenzungsschwierig und deshalb ebenfalls höchst streitbefangen ist etwa die Unterscheidung der Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit (§  18 Abs.  1 Nr.  1 EStG) von denen zusätzlich zur Einkommensteuer mit  – wenn auch nach § 35 EStG anrechenbarer – Gewerbesteuer belasteten Einkünften aus Gewerbebetrieb (§ 15 EStG). a) Einkünfte aus Gewerbebetrieb Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 GewStG unterliegen nur (inländische) gewerbliche Unternehmen i.S. des EStG der Gewerbesteuer; nicht gewerblich sind danach – gemäß § 15 Abs.  2 Satz  1 EStG  – Betriebe, deren Betätigung als Ausübung eines freien Berufs oder als eine selbständige Tätigkeit (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 EStG) anzusehen ist. Ist allerdings ein Teil der Tätigkeit einer Personengesellschaft gewerblicher Natur, so führt dies auch hinsichtlich ihrer im Übrigen ausgeübten freiberuflichen Tätigkeit nach §  15 Abs.  3 Nr.  1 EStG zur Gewerblichkeit der Einkünfte insgesamt35, es sei 31 BFH v. 5.4.2006 – IX R 111/00, BFHE 213, 341, BStBl. II 2006, 654. 32 BFH v. 17.5.2017 – VI R 1/16, BFHE 258, 365, BStBl. II 2017, 1073. 33 BFH v. 12.5.1995 – VI R 64/94, BFHE 177, 472, BStBl. II 1995, 644, zur Darlehensgewährung durch den Arbeitnehmer. 34 BFH v. 17.5.2017 – VI R 1/16, BFHE 258, 365, BStBl. II 2017, 1073 zu Verlusten im Zusammenhang mit einem geplanten, aber fehlgeschlagenen Erwerb einer qualifizierten Beteiligung. 35 Sog. Abfärbewirkung, BFH v. 3.11.2015 – VIII R 62/13, BFHE 252, 283, BStBl. II 2016, 381, m.w.N.

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denn die gewerbliche Betätigung ist von so untergeordneter Bedeutung, dass die Umqualifizierung der Einkünfte der Klägerin in gewerbliche Einkünfte zu einem unverhältnismäßigen Ergebnis führen würde36. b) Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit Obwohl die freien Berufe im Grundsatz auch die Merkmale eines Gewerbebetriebs i.S. des § 15 Abs. 2 EStG (Nachhaltigkeit, Gewinnerzielungsabsicht, Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr) erfüllen37, schließen sich die Einkunftsarten Gewerbebetrieb und selbständige Arbeit und damit auch die freiberufliche Tätigkeit gegenseitig aus38. Denn die beiden Einkunftsarten unterscheiden sich im Typus. Bei der selbständigen Tätigkeit tritt der Einsatz von Kapital gegenüber der geistigen Arbeit und der eigenen Arbeitskraft in den Hintergrund39. Das bildet das Gesetz in § 18 Abs. 1 EStG ab. Im Vordergrund der Vorschrift stehen die freiberuflichen Tätigkeiten. Nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG gehören zur freiberuflichen Tätigkeit die selbständig ausgeübte wissenschaftliche, künstlerische, schriftstellerische, unterrichtende oder erzieherische Tätigkeit, sowie die selbständige Tätigkeit in einem der dort aufgezählten Berufe oder in einem diesen ähnlichen Beruf. Eine eindeutige Abgrenzung gegenüber dem Gewebebetrieb erlaubt diese einerseits durch tätigkeitsbezogenen Merkmale, andererseits durch die Aufzählung einzelner Katalogberufe geprägte Begriffsbestimmung jedoch nicht40. Insbesondere das Auffinden eines „ähnlichen Berufs“ bereitet Schwierigkeiten. Denn hierzu bedarf es einer wertenden und damit streitanfälligen Betrachtung der zu beurteilenden Tätigkeit in ihrem Gesamtbild41. Ein ähnlicher Beruf liegt nach der Rechtsprechung des BFH vor, wenn er in wesentlichen Punkten mit einem der in § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG genannten Katalogberufe verglichen werden kann. Dazu gehört die Vergleichbarkeit sowohl der Ausbildung als auch der ausgeübten beruflichen Tätigkeit42. Die für den vergleichbaren Katalogberuf erforderlichen Kenntnisse müssen nachgewiesen sein, die so qualifizierte Arbeit muss den wesentlichen Teil der gesamten Berufstätigkeit ausmachen und dem ähnlichen Beruf das Gepräge im Sinne des Katalogberufs geben43. Ist für die Ausübung des Katalogberufs eine Erlaubnis erforderlich oder ist die Ausübung des Katalogberufs ohne Erlaubnis mit Strafe bedroht, so kann eine Ähnlichkeit nur gegeben sein, wenn für die Ausübung des vergleichbaren Berufs ebenfalls eine Erlaubnis erforderlich ist44. 36 BFH v. 27.8.2014 – VIII R 16/11, BFHE 247, 499, BStBl. II 2015, 996, m.w.N. 37 Pfirrmann in Kirchhof, 17. Aufl., § 18 EStG Rz. 3, 39; Wacker in Schmidt, 37. Aufl., § 18 EStG Rz. 5; Hutter in Blümich, § 18 EStG Rz. 30. 38 BFH v. 4.3.1970 – I R 140/66, BFHE 98, 420, BStBl. II 1970, 420. 39 BFH v. 31.5.2001 – IV R 49/00, BFHE 195, 386, BStBl. II 2001, 828. 40 Pfirrmann in Kirchhof, 17. Aufl., § 18 EStG Rz. 4f.; Hutter in Blümich, § 18 EStG Rz. 30. 41 Brandt in Herrmann/Heuer/Raupach, §  18 EStG Rz.  219; Wacker in Schmidt, 37.  Aufl., § 18 EStG Rz. 125; Hutter in Blümich, § 18 EStG Rz. 157. 42 Vgl. z.B. BFH v. 22.1.2004 – IV R 51/01, BFHE 205, 151, BStBl. II 2004, 509 m.w.N. 43 Z.B. BFH v. 22.1.2004 – IV R 51/01, BFHE 205, 151, BStBl. II 2004, 509 m.w.N. 44 Vgl. z.B. BFH in BFHE 205, 151, BStBl. II 2004, 509 m.w.N.

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Setzt der Katalogberuf45 eine qualifizierte Ausbildung voraus, wird auch für den ähnlichen Beruf eine vergleichbare Ausbildung verlangt. Eine solche kann nicht nur in einem förmlichen Ausbildungsgang, wie z.B. in einem Studium, stattfinden. Vielmehr kann ein Steuerpflichtiger, der eine Berufsausbildung, wie sie in den Ingenieurgesetzen der Länder vorgeschrieben ist, nicht besitzt, auch nachweisen, dass er – als Autodidakt – vergleichbare Kenntnisse im Wege der privaten Fortbildung, des Selbststudiums oder im Zusammenhang mit eigener Arbeit erworben hat46. Diesen Nachweis kann der Autodidakt durch Belege über eine erfolgreiche Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen oder ein Selbststudium, anhand praktischer Arbeiten oder durch eine Art Wissensprüfung führen47. Eine solche Wissensprüfung kann als ergänzendes Beweismittel allerdings nur dann in Betracht kommen, wenn sich aus den vorgetragenen Tatsachen zum Erwerb und Einsatz der Kenntnisse bereits erkennen lässt, dass der Steuerpflichtige im Streitzeitraum über hinreichende Kenntnisse verfügt haben könnte48. Denn zum einen weist die Examinierung Defizite im Hinblick auf die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme auf. Zum anderen ist sie nur geeignet, den Nachweis über ein aktuell vorhandenes Wissen zu erbringen, so dass weitere Rückschlüsse auf den Kenntnisstand im Streitzeitraum notwendig sind49. Angesichts dieser auch voluntativ geprägten Privilegierung freiberuflicher Einkünfte gegenüber den Einkünften aus Gewerbebetrieb kann die Streitanfälligkeit der Ähnlichkeitsprüfung nicht verwundern. Eine Vielzahl finanzgerichtlicher Entscheidungen belegen diesen Befund50.

45 Vgl. BFH v. 28.8.2003 – IV R 21/02, BFHE 203, 152, BStBl. II 2003, 919 und v. 6.9.2006 – XI R 3/06, BFHE 215, 124, BStBl. II 2007, 118, zum Beruf des Wirtschaftsingenieurs. 46 BFH v. 7.3.2013 – III B 134/12, BFH/NV 2013, 930 m.w.N. 47 BFH v. 26.6.2002 – IV R 56/00, BFHE 199, 367, BStBl. II 2002, 768 und v. 20.10.2016 – VIII R 2/14, BFHE 257, 556, BStBl. II 2017, 882. 48 BFH v. 19.9.2002  – IV R 74/00, BFHE 200, 326, BStBl.  II 2003, 27; v. 26.6.2002  – IV R 56/00, BFHE 199, 367, BStBl. II 2002, 768 und v. 20.10.2016 – VIII R 2/14, BFHE 257, 556, BStBl. II 2017, 882. 49 BFH v. 20.10.2016 – VIII R 2/14, BStBl. II 2017, 882. 50 Z.B. BFH v. 19.1.2017 – III R 3/14, BFH/NV 2017, 732, Wissensprüfung bei im EDV-Bereich tätigen Autodidakten; v. 3.5.2016 – VIII R 4/13, BFH/NV 2016, 1075, Ähnlichkeitsprüfung bei im EDV-Bereich tätigen Autodidakten; v. 16.9.2014 – VIII R 8/12, juris, Ingenieurähnliche Tätigkeit eines Autodidakten; v. 22.9.2009 – VIII R 63/06, BFHE 227, 386, BStBl. II 2010, 466, EDV-Consulting/Software Engineering als freier Beruf; v. 22.9.2009 – VIII R 79/06, BFHE 227, 390, BStBl.  II 2010, 404, IT-Projektleiter als freier Beruf; v. 18.4.2007  – XI R 34/06, BFH/NV 2007, 1495, einem beratenden Betriebswirt ähnlicher Beruf; v. 28.8.2003 – IV R 21/02, BFHE 203, 152, BStBl. II 2003, 919, Diplom-Wirtschaftsingenieur als beratender Betriebswirt; v. 19.9.2002 – IV R 74/00, BFHE 200, 326, BStBl. II 2003, 27, Beratung in verschiedenen umweltrelevanten Fragen als ähnlich freier Beruf; v. 14.12.2001  – IV B 13/00, BFH/NV 2002, 639, Systemanalytiker kein Freiberufler; v. 23.1.2001 – IV B 68/00, BFH/NV 2001, 893, gewerbliche Tätigkeit eines EDV-Beraters und v. 9.9.1999  – XI B 106/98, BFH/NV 2000, 188, selbständiger Unternehmensberater als Freiberufler; jeweils m.w.N.

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III. Einkunftsartbezogene Sonderregelungen Schließlich nimmt die unterschiedliche Besteuerung bei nämlicher Leistungsfähigkeit durch einkunftsartbezogene Sonderregelungen ihren Fortgang. 1. Bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Dies zeitigen insbesondere die Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags oder Nachtarbeit nach § 3b EStG, die 44 Euro-Freigrenze für Sachbezüge nach § 8 Abs. 2 Satz 11 EStG und der Rabattfreibetrag nach § 8 Abs. 3 EStG. a) Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit Nach § 3b Abs. 1 EStG sind Zuschläge, die für tatsächlich geleistete Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit neben dem Grundlohn gezahlt werden, steuerfrei, soweit sie bestimmte Prozentsätze des Grundlohns nicht übersteigen. Gemäß Abs.  2 Satz  1 Halbs. 1 dieser Vorschrift ist Grundlohn der laufende Arbeitslohn, der dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit für den jeweiligen Lohnzahlungszeitraum zusteht. Die Steuerbefreiung tritt allerdings nur ein, wenn die neben dem Grundlohn gewährten Zuschläge „für“ Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit geleistet werden. Sie dürfen nicht Teil einer einheitlichen Entlohnung für die gesamte, auch an Sonn- und Feiertagen oder nachts geleistete Tätigkeit sein51. Hierfür ist regelmäßig erforderlich, dass in dem Arbeitsvertrag zwischen der Grundvergütung und den Erschwerniszuschlägen unterschieden und ein Bezug zwischen der zu leistenden Nacht- und Sonntagsarbeit und der Lohnhöhe hergestellt ist52. Die Steuerbefreiung greift zudem nur, wenn die neben dem Grundlohn gewährten Zuschläge für tatsächlich geleistete Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit gezahlt worden sind53, und setzt grundsätzlich Einzelaufstellungen der tatsächlich erbrachten Arbeitsstunden an Sonntagen, Feiertagen oder zur Nachtzeit voraus54. Dadurch soll von vornherein gewährleistet werden, dass ausschließlich Zuschläge steuerfrei bleiben, bei denen betragsmäßig ­genau feststeht, dass sie nur für die Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit gezahlt werden und keine allgemeinen Gegenleistungen für die Arbeitsleistung darstellen. Hieran fehlt es jedoch, wenn die Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit lediglich allgemein abgegolten wird, da hierdurch weder eine Zurechnung der Sache nach (tatsächlich geleistete Arbeit während begünstigter Zeiten) noch der Höhe nach (Steuerfreistellung nur nach %-Sätzen des Grundlohns) möglich ist55. § 3b EStG eröffnet damit lohnsteuer51 Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, § 3b EStG Rz. 21. 52 Vgl. BAG v. 27.5.2003 – 9 AZR 180/02, Zeitschrift für Tarifrecht 2004, 212. 53 BFH v. 29.11.2016 – VI R 61/14, BFHE 256, 102, BStBl. II 2017, 718 m.w.N. 54 BFH v. 28.11.1990 – VI R 90/87, BFHE 163, 73, BStBl. II 1991, 293 und v. 8.12.2011 – VI R 18/11, BFHE 236, 97, BStBl. II 2012, 291. 55 Z.B. BFH v. 22.10.2009 – VI R 16/08, BFH/NV 2010, 201 und v. 29.11.2016 – VI R 61/14, BFHE 256, 102, BStBl. II 2017, 718; jeweils m.w.N.

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optimierte Vergütungssysteme, beispielsweise eine variable Grundlohnergänzung56. Das weckt Begehrlichkeiten. Denn die Beteiligten – § 3b EStG subventioniert Arbeitnehmer und Arbeitgeber in gleicher Weise57 – haben es – bis an die Grenze des Gestaltungsmissbrauchs – in der Hand, durch vertragliche Vereinbarung von einer gesetzlich zulässigen Steuerbefreiung in möglichst hohem Maße Gebrauch zu machen58. Zulagen für andere Erschwernisse sind hingegen nicht steuerfrei. Denn nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut der Norm erfasst die Begünstigung ausschließlich Zuschläge für tatsächlich geleistete Sonntagsarbeit, Feiertagsarbeit oder Nachtarbeit. Eine Auslegung von § 3b EStG über den Wortlaut hinaus kommt nicht in Betracht59. Eine solche ist nur ausnahmsweise möglich, wenn nämlich die wortgetreue Auslegung zu einem sinnwidrigen Ergebnis führt, das vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt sein kann. Davon kann bei § 3b EStG keine Rede sein. Vielmehr stimmt der Wortlaut des § 3b EStG mit dem Gesetzeszweck überein60. Darüber hinaus rechtfertigt sich diese „einschränkende“ Auslegung des § 3b EStG aus der Erwägung, dass er als Ausnahmevorschrift das Leistungsfähigkeitsprinzip durchbricht61. Die tatbestandliche Begrenzung auf Zuschläge für tatsächlich geleistete Sonntagsarbeit, Feiertagsarbeit oder Nachtarbeit lässt aber auch unter Berücksichtigung der Grundsätze der verfassungskonformen Auslegung keinen Raum für eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 3b EStG auf überwiegend pauschale Zuschläge für andere Tätigkeiten, auch wenn sie aus sonstigen Gründen subventionswürdig sein könnten. Eine solche Auslegung lässt sich im Sinne dieser Auslegungsgrundsätze aus dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte, dem Gesamtzusammenhang der Ausnahmevorschrift und deren Sinn und Zweck nicht entnehmen62. Insbesondere begründet Art. 3 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG im Falle einer Steuervergünstigung für eine Gruppe keinen Anspruch einer anderen Gruppe auf eine vergleichbare steuerliche Entlastung63. b) 44 Euro-Freigrenze für Sachbezüge Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG sind Sachbezüge mit dem um übliche Preisnachlässe geminderten üblichen Endpreis am Abgabeort anzusetzen. Sie bleiben jedoch nach § 8 Abs. 2 Satz 11 EStG außer Ansatz und damit steuerfrei, wenn die sich nach Anrech56 BFH v. 17.6.2010 – VI R 50/09, BFHE 230, 150, BStBl. II 2011, 43. 57 BFH v. 17.6.2010 – VI R 50/09, BFHE 230, 150, BStBl. II 2011, 43. 58 BFH v. 31.10.1986 – VI R 52/81, BFHE 148, 54, BStBl. II 1987, 139 und v. 17.6.2010 – VI R 50/09, BFHE 230, 150, BStBl.  II 2011, 43; von Beckerath in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 3b EStG Rz. A 251. 59 BFH v. 17.6.2010 – VI R 50/09, BFHE 230, 150, BStBl. II 2011, 43; v. 15.9.2011 – VI R 6/09, BFHE 235, 252, BStBl. II 2012, 144 und v. 15.2.2017 – VI R 30/16, BFHE 257, 96, BStBl. II 2017, 644; jeweils m.w.N. 60 BFH v. 27.5.2009 – VI B 69/08, BFHE 225, 137, BStBl. II 2009, 730 und v. 17.6.2010 – VI R 50/09, BFHE 230, 150, BStBl. II 2011, 43. 61 Vgl. BFH v. 15.9.2011 – VI R 6/09, BFHE 235, 252, BStBl. II 2012, 144. 62 Vgl. BVerfG v. 9.1.1991 – 1 BvR 929/89, BVerfGE 83, 201 (214 f.). 63 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274; v. 20.4.2004 – 1 BvR 610/00, HFR 2004, 696.

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nung der vom Steuerpflichtigen gezahlten Entgelte ergebenden Vorteile im Monat insgesamt 44 Euro (ab 2004) im Kalendermonat nicht übersteigen. Sachbezüge sind alle nicht in Geld bestehenden Einnahmen (§ 8 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ob Barlöhne oder Sachbezüge vorliegen, entscheidet sich nach dem Rechtsgrund des Zuflusses, nämlich auf Grundlage der arbeitsvertraglichen Vereinbarungen danach, welche Leistung der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber beanspruchen kann. Sachbezug unterscheidet sich von Barlohn durch die Art des arbeitgeberseitig zugesagten und daher arbeitnehmerseitig zu beanspruchenden Vorteils selbst und nicht durch die Art und Weise der Erfüllung des Anspruchs auf den Vorteil. Kann der Arbeitnehmer lediglich die Sache selbst beanspruchen, liegen daher Sachbezüge i.S. des § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG vor. Unerheblich ist dann, ob der Arbeitnehmer die Sache unmittelbar vom Arbeitgeber oder von einem Dritten auf Kosten des Arbeitgebers bezieht. Eine Ausdehnung der Freigrenze des § 8 Abs. 2 Satz 9 EStG auf Barlohnzahlungen scheidet zwar aus, weil die Freigrenze nicht bezweckt, dem Arbeitgeber zu ermöglichen, seinen Arbeitnehmern auf wie auch immer geartete Weise einen monatlichen Gegenwert von 50 DM (jetzt 44 Euro) steuerfrei zukommen zu lassen64. Daraus lassen sich indessen keine Grundsätze für eine Unterscheidung zwischen Barlohn und Sachlohn herleiten und dies rechtfertigt es auch nicht, den durch das Tatbestandsmerkmal Geld gekennzeichneten Barlohn zu Gunsten des Begriffs Sachlohn einzuengen. Ein Sachbezug liegt deshalb auch vor, wenn Arbeitnehmern lediglich Gutscheine überlassen werden, die sie zum Bezug einer von ihnen selbst auszuwählenden Sach- oder Dienstleistung berechtigen und die bei einem Dritten einzulösen oder auf den Kaufpreis anzurechnen sind. Unerheblich ist insoweit, dass solche Gutscheine, je nach Aussteller, im täglichen Leben ähnlich dem Bargeld verwendbar sein mögen. Denn trotz einer gewissen Handelbarkeit oder Tauschfähigkeit besteht ein solcher Gutschein nicht in Geld i.S. der Negativabgrenzung in § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG und bleibt daher Sachbezug. Nach diesen Rechtsprechungsgrundsätzen ist auch die Gewährung von Krankenversicherungsschutz durch eine vom Arbeitgeber für seine Arbeitnehmer abgeschlossene Krankenversicherung Sachlohn, wenn der Arbeitnehmer aufgrund seines Arbeitsvertrages von seinem Arbeitgeber ausschließlich Versicherungsschutz verlangen kann65. Insoweit werden sie allerdings von den Finanzbehörden jedoch nicht mitgetragen66. Aber auch jenseits der „Sachlohnversteuerung“ von Versicherungsbeiträgen führt die unterschiedliche Besteuerung von Barlohn und Sachbezügen im Rahmen §  8 Abs.  2 Satz  11 EStG zu Konflikten zwischen Finanzbehörden und (Lohn)Steuer(entrichtungs)pflichtigen. Dies gilt insbesondere bei der Umwandlung von regulär besteuertem Bar- zu steuerfreiem Sachlohn67, der Bewertung von Sachbezügen, etwa 64 BFH v. 27.10.2004 – VI R 51/03, BFHE 207, 314, BStBl. II 2005, 137. 65 Vgl. BFH v. 14.4.2011 – VI R 24/10, BStBl. II 2011, 767; Sächsisches FG v. 16.3.2016 – 2 K 192/16, EFG 2016, 1087; Rev. VI R 13/16 und FG Mecklenburg-Vorpommern v. 16.3.2017 – 1 K 215/16, EFG 2017, 1254; Rev. VI R 16/17. 66 BMF-Schreiben v. 10.10.2013, BStBl. I 2013, 1301. 67 Z.B. Niedersächsisches FG v. 18.2.2015 – 9 K 64/13, EFG 2015, 1257.

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ob sog. Versand- und Handlingskosten in die Bewertung von Sachbezügen und in die Berechnung der Freigrenze von 44 Euro einzubeziehen sind, wenn die zugewendeten Waren direkt von einem Dritten (hier Schwesterunternehmen des Arbeitgebers) an die Arbeitnehmer versandt werden68 oder dem Nebeneinander von Sachbezugsverordnung und 44 Euro-Freigrenze, wenn in Streit steht, ob dem Arbeitnehmer mit der unentgeltlichen Gestellung von unbelegten Brötchen (Laugen-, Käse-, Rosinen-, Schoko- und Roggenbrötchen etc.) und Heißgetränken in den Vormittagsstunden durch den Arbeitgeber ein Frühstück i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SvEV zugewendet wird und somit ein Sachbezug gemäß §  8 Abs.  2 Satz  6 EStG vorliegt, der nicht unter die Freigrenze des § 8 Abs. 2 Satz 11 EStG fällt69. Diese (und andere) detailverliebten Auseinandersetzungen um die monatliche Freigrenze, etwa um Bestimmung der Höhe des geldwerten Vorteils bei einer verbilligte Mitgliedschaft in einem Fitnessstudios70, wurzeln in der einer jeden Freigrenze innewohnenden sog. Fallbeilwirkung71 und dem Umstand, dass eine Übertragung in den Folgemonat und eine Hochrechnung auf einen Jahresbetrag ausscheidet. c) (Personal)Rabattfreibetrag Nämlich streitbefangen erweist sich der in § 8 Abs. 3 EStG geregelte Rabattfreibetrag. Erhält ein Arbeitnehmer auf Grund seines Dienstverhältnisses Waren oder Dienstleistungen, die vom Arbeitgeber nicht überwiegend für den Bedarf seiner Arbeitnehmer hergestellt, vertrieben oder erbracht werden72 und deren Bezug nicht nach § 40 EStG pauschal versteuert wird, so gelten als deren Werte abweichend von § 8 Abs. 2 EStG die um 4 % geminderten Endpreise73, zu denen der Arbeitgeber oder der dem Abgabeort74 nächstansässige Abnehmer die Waren oder Dienstleistungen fremden Letztverbrauchern im allgemeinen Geschäftsverkehr anbietet (§ 8 Abs. 3 Satz 1 EStG). Die sich nach Abzug der vom Arbeitnehmer gezahlten Entgelte ergebenden Vorteile sind steuerfrei, soweit sie aus dem Dienstverhältnis insgesamt 1.080 Euro im Kalenderjahr nicht übersteigen (§ 8 Abs. 3 Satz 2 EStG). 2. Bei den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft Einkunftsartbezogene Sonderregelungen finden sich auch bei den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft. § 13a EStG erlaubt nicht buchführungspflichtige Land68 FG Baden-Württemberg v. 8.4.2016 – 10 K 2128/14, EFG 2016, 2060 mit Anm. Bleschick. 69 FG Münster v. 31.5.2017 – 11 K 4108/14, EFG 2017, 1673. 70 FG Bremen v. 23.3.2011 – 1 K 150/09 (6), DStRE 2012, 144. 71 Z.B. BFH v. 6.4.2011 – IX R 40/10, BFHE 233, 442, BStBl. II 2011, 785 zur Anwendung des Halbabzugsverbots im Verlustfall. 72 Z.B. BFH v. 1.10.2009 – VI R 22/07, BFHE 226, 339, BStBl. II 2010, 204, m.w.N.; FG Mecklenburg-Vorpommern v. 21.9.2016  – 3 K 452/13, n.v., Rev. VI R 39/16; FG Nürnberg v. 1.12.2016 – 3 K 588/16, EFG 2017, 386, Rev. VI R 3/17 und 3 K 1062/16, EFG 2017, 821, Rev. VI R 4/17 sowie Hessisches FG v. 8.2.2017 – 4 K 1925/15, EFG 2017, 932 Rev. 23/17. 73 Z.B. FG München v. 19.5.2017 – 8 K 2605/16, EFG 2017, 1280, Rev. VI R 31/17. 74 Z.B. FG München v. 19.5.2017 – 8 K 2605/16, EFG 2017, 1280, Rev. VI R 31/17.

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und Forstwirte ihren Gewinn nach Durchschnittssätzen ermitteln, wenn die selbstbewirtschaftete Fläche 20 ha, die Tierbestände 50 Vieheinheiten und die Sondernutzungen einen bestimmten Wert nicht überschreiten. Bei Anwendung der Durchschnittssätze wird in der Regel nur ein Teil des tatsächlich erwirtschafteten Gewinns erfasst75. Es handelt sich damit bei §  13a EStG um eine Verschonungsregelung76. Die Gewinnerfassungsquote lag nach Berechnungen des Bundesrechnungshofs für die bis einschließlich bis zum Wirtschaftsjahr 2014/2015 geltende Rechtslage bei ca. 50 % (BT-Drucks. 17/8428, 9 f.). Damit gewinnt beispielsweise die Frage, ob eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit dem Zukauf, der Ausbildung und dem Verkauf von Reitpferden eine den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft zugehörige Tierhaltung i.S. des § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG mit der Folge betreibt, dass sie den Gewinn nach Durchschnittssätzen ermitteln kann (§ 13a EStG), oder statt dessen gewerbliche Einkünfte erwirtschaftet (§  15 EStG), erhebliche Bedeutung77. Gleichermaßen konfliktbehaftet ist § 13a EStG aber auch, wenn unstreitig Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft vorliegen. So führt beispielsweise der Wegfall der Voraussetzungen der Durchschnittssatzbesteuerung in einem späteren Wirtschaftsjahr allein grundsätzlich noch nicht dazu, dass die Gewinnermittlung nicht mehr nach § 13a Abs. 1 Satz 1 EStG vorzunehmen ist. Vielmehr bedarf es gemäß § 13a Abs. 1 Satz 2 EStG zusätzlich einer Mitteilung, mit der der Steuerpflichtige auf den Wegfall der Voraussetzungen hingewiesen wird. Dies gilt auch für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine Besteuerung nach Durchschnittssätzen aufgrund einer Gesetzesänderung entfallen sind78. Erst die Mitteilung gemäß § 13a Abs. 1 Satz 2 EStG, die der Mitteilung gemäß § 141 Abs. 2 AO nachgebildet ist79, schließt als rechtsgestaltender Verwaltungsakt konstitutiv die Möglichkeit der Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen für die der Bekanntgabe der Mitteilung nachfolgenden Wirtschaftsjahre aus80. Ausgehend von diesem der Norm zugrunde liegenden Schutzgedanken und unter Heranziehung des Wortlauts des §  13a Abs.  1 Satz  2 EStG hat der BFH Fallgruppen herausgearbeitet und eine Mitteilung in den Fällen nicht für erforderlich erachtet, in denen der Steuerpflichtige einen Betrieb neu eröffnet81, oder – damit vergleichbar – in denen er einen Betrieb gemäß § 24 des Umwandlungssteuergesetzes in eine Personengesellschaft eingebracht hat82. Daneben hat der BFH das Erfordernis 75 BFH v. 5.12.2002 – IV R 28/02, BFHE 201, 175, BStBl. II 2003, 345 und v. 5.5.2010 – VI R 40/09, BFHE 230, 123, BStBl. II 2011, 164; BT-Drucks. 17/8428, 11. 76 BFH v. 5.5.2010 – VI R 40/09, BFHE 230, 123, BStBl. II 2011, 164; BT-Drucks. 17/8428, 11. 77 FG Münster v. 13.1.2015 – 1 K 2332/12 F, EFG 2015, 907, Rev. VI R 61/15 nach Rücknahme der Revision eingestellt. 78 BFH v. 29.3.2007 – IV R 14/05, BFHE 217, 525, BStBl. II 2007, 816 und v. 23.8.2017 – VI R 70/15, DStR 2017, 2722. 79 Vgl. BT-Drucks. 8/3673, 16. 80 BFH v. 29.3.2007 – IV R 14/05, BFHE 217, 525, BStBl. II 2007, 816 und v. 30.10.2014 – IV R 61/11, BFHE 247, 332, BStBl. II 2015, 478, BFHE 247, 332, BStBl. II 2015, 478. 81 BFH v. 26.6.1986 – IV R 151/84, BFHE 147, 152, BStBl. II 1986, 741; v. 1.7.1997 – IV B 35/96, BFH/NV 1997, 856. 82 BFH v. 26.5.1994 – IV R 34/92, BFHE 175, 105, BStBl. II 1994, 891.

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Streitanfälligkeit einzelner Bereiche des Einkommensteuerrechts

einer Mitteilung auch in den Fällen verneint, in denen das Finanzamt die Voraussetzungen der Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen nur auf Grund wissentlich falscher Angaben des Steuerpflichtigen bejaht hat83. Haben die Voraussetzungen zur Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen dagegen von Anfang an nicht vorgelegen, bedarf es auch dann keiner Mitteilung nach § 13a Abs. 1 Satz 2 EStG, wenn das FA die Gewinnermittlung nach §  13a EStG jahrelang nicht beanstandet hat. Ein schützenswertes Vertrauen des Steuerpflichtigen in den (vorübergehenden) Fortbestand der für ihn günstigen, aber fehlerhaften Verwaltungspraxis besteht nicht84.

IV. Einkünfteübergreifende Sondervorschriften betreffend den Abzug von Erwerbsaufwand Im Rahmen des objektiven Nettoprinzips hat der Gesetzgeber des Einkommensteuergesetzes die Zuordnung von Aufwendungen zum betrieblichen bzw. beruflichen ­Bereich, derentwegen diese Aufwendungen von den Einnahmen grundsätzlich ab­ zuziehen sind, danach vorgenommen, ob eine betriebliche bzw. berufliche Veran­ lassung besteht (vgl. §  4 Abs.  4, §  9 Abs.  1 Satz  1 EStG). Dagegen mindern Auf­ wendungen für die Lebensführung außerhalb des Rahmens von Sonderausgaben, Familienleistungsausgleich und außergewöhnlichen Belastungen nicht die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage (klarstellend § 12 Nr. 1 EStG); dies gilt gemäß § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG auch für solche Lebensführungskosten, „die die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Stellung des Steuerpflichtigen mit sich bringt, auch wenn sie zur Förderung des Berufs oder der Tätigkeit des Steuerpflichtigen erfolgen“85. Allerdings wird die rechtsdogmatisch einheitliche Abgrenzung der Erwerbsaufwendungen (Betriebsausgaben/Werbungskosten) durch vorrangige Sondervorschriften über die Abziehbarkeit bzw. Nichtabziehbarkeit von Aufwendungen gestört86. Mit den historisch gewachsenen Katalogen der § 4 Abs. 5 EStG und § 9 Abs. 1 Satz 3 EStG sucht der Gesetzgeber den Rechtsanwender von schwierigen Handhabungen der allgemeinen Regeln zu entlasten. Allerdings wird durch das punktuelle, typisierende Vorgehen des Gesetzgebers die Rechtsanwendung nicht stets vereinfacht87. Vielmehr entwickeln sich auf Grund der Sondervorschriften umfängliche und damit streitanfällige Spezialmaterien wie etwa das kaum mehr durchschaubare Recht der doppelten Haushaltsführung (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG) oder das kleinteilig geratene seit dem Veranlagungszeitraum 2014 geltende steuerliche Reisekostenrecht. Gleiches gilt für das Abzugsverbot mit Ausnahmevorbehalt betreffend der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer und das Bewertungssonderrecht betreffend die private Nutzung eines betrieblichen PKW gemäß §§ 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2, 8 Abs. 2 Satz 2 EStG. Unzählige Entscheidungen von Finanzgerichten und Bundesfi83 BFH v. 29.11.2001 – IV R 13/00, BFHE 197, 223, BStBl. II 2002, 147. 84 BFH v. 23.8.2017 – VI R 70/15, DStR 2017, 2722. 85 BFH v. 17.7.2014 – VI R 2/12, BFHE 247, 25 und VI R 8/12, BFHE 247, 64. 86 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 250. 87 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 250.

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nanzhof insbesondere zum Arbeitszimmer88 und der privaten Nutzung des „Dienstwagens“89 belegen dies.

V. Fazit Es ist ein grundsätzliches Gebot der Steuergerechtigkeit, dass die Besteuerung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet wird. Dies gilt insbesondere für die Einkommensteuer90. Deshalb kann allein die systematische Unterscheidung nach Einkunftsarten eine steuerliche Ungleichbehandlung nämlicher Leistungsfähigkeit nicht rechtfertigen91. Gleichheit im Belastungserfolg lässt den Anreiz, einer Sonderbelastung in einer Einkunftsart auszuweichen oder eine Sonderentlastung in einer Einkunftsart zu suchen, entfallen und vermeidet streitanfällige Zuordnungsprobleme. Eine am Leistungsfähigkeitsprinzip ausgerichtete Einkommenbesteuerung verlangt jedoch nicht nur nach einer Gleichbehandlung der Einkunftsarten sondern darüber hinaus nach einer folgerichtigen Besteuerung von Einnahmen innerhalb einer Einkunftsart. Die nämliche Wertschätzung eines jeden vereinnahmten Euro auch insoweit befriedet ebenfalls das Recht. Das gilt gleichermaßen für die Steuererheblichkeit von Erwerbsaufwand. Denn nicht alle gesetzgeberischen Typisierung wirken der Streitanfälligkeit des Einkommensteuerrechts entgegen. Vielmehr erstarken kleinteilige Sonderregelungen regelmäßig zu einem undurchschaubaren „Sonderrecht“.

88 Zuletzt BFH v. 9.5.2017 – VIII R 15/15, BFHE 258, 68, BStBl. II 2017, 956 zur mehrfachen Nutzung des Höchstbetrages in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 3 EStG; v. 25.4.2017 – VIII R 52/13, BFHE 258, 53, BStBl. II 2017, 949 zu Aufwendungen für ein im Rahmen mehrerer Einkunftsarten genutztes häusliches Arbeitszimmer; v. 8.3.2017  – IX R 52/14, BFH/NV 2017, 1017 zu Aufwendungen für ein gemischt genutztes häusliches Arbeitszimmer m.w.N.; v. 22.2.2017 – III R 9/16, BFHE 257, 135, BStBl. II 2017, 698 zum häuslichen Arbeitszimmer eines Selbständigen; v. 15.12.2016  – VI R 53/12, BFHE 256, 143, BStBl.  II 2017, 938 und VI R 86/13, BFHE 256, 150, BStBl. II 2017, 941 zum Höchstbetrag bei Nutzung eines Arbeitszimmers zur Einkünfteerzielung durch mehrere Steuerpflichtige; v. 13.12.2016 – X R 18/12, BFHE 256, 323, BStBl. II 2017, 450 zur Vermietung eines häuslichen Arbeitszimmers an den Auftraggeber eines Gewerbetreibenden; v. 22.3.2016 – VIII R 10/12, BFHE 254, 1, BStBl. II 2016, 881 zum Abzugsverbot der Mietaufwendungen für einen durch ein Sideboard vom Wohnbereich abgetrennten Arbeitsbereich; v. 17.2.2016 – X R 32/11, BFHE 253, 148, BStBl. II 2016, 708 zur „Arbeitsecke“ sowie BFH v. 9.5.2017 – X B 23/17, BFH/NV 2017, 1170 zur Abgrenzung eines häuslichen Arbeitszimmers von einer Betriebsstätte und v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BFHE 251, 408, BStBl. II 2016, 265 zum Begriff des häuslichen Arbeitszimmers. 89 Zuletzt BFH v. 15.2.2017  – VI R 50/15, BFH/NV 2017, 1155 zur Feststellung der Ordnungsmäßigkeit eines Fahrtenbuchs; v. 30.11.2016 – VI R 49/14, BFHE 256, 107, BStBl. II 2017, 1011 zur steuerliche Berücksichtigung eines vom Arbeitnehmer selbst getragenen Nutzungsentgelts bei Anwendung der Fahrtenbuchmethode und VI R 2/15, BFHE 256, 116, BStBl.  II 2017, 1014 zur steuerliche Berücksichtigung von selbst getragenen Kraftstoffkosten bei Anwendung der 1 %-Regelung. 90 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082 m.w.N. 91 BVerfG v. 30.11.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88.

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4. Teil Materielles Steuerrecht A. II. 2.

Bedeutung von Einkommensbegriffen und Einkommenstheorien Von Paul Kirchhof

Inhaltsübersicht I. Rechtsbegriff, Rechtstheorie, Rechts­ dogmatik II. Der das EStG dirigierende Ausgangs­ gedanke des „Einkommens“ 1. Der die Steuerbelastung rechtfertigende Einkommensbegriff 2. Der Belastungsgrund der Einkommensteuer: Allgemeinäquivalenz 3. Das theoretisch unterstützte, nicht theoriegeleitete Entstehen des EStG III. Das „Einkommen“ als historisch gewachsener Tatbestand 1. Vom Volkseinkommen zum Individualeinkommen 2. Erwerbseinkünfte und Existenz­ einkommen – zwei Nettoprinzipien 3. Quelleneinkommen und Vermögens­ zuwachs – Der Dualismus im Umbruch 4. Der rechtfertigende Grund: Erwerbs­ einkommen, nicht Markteinkommen 5. Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit – Idee und geschriebenes Recht 6. Das materielle Prinzip der Jahres­ besteuerung

7. Rechtfertigungsgrund für Umvertei­ lungen? a) Zugriff auf Individualeinkommen b) Progression nach Finanzbedarf, weniger nach einem Verteilungs­ konzept IV. Verfassungsrechtliche Maßstäbe 1. Der Verfassungsbegriff „Einkommen“ 2. Der freiheitliche Maßstab des Steuer­ eingriffs a) Steuer als Preis der Freiheit b) Sozialpflichtigkeit, Verhältnismäßigkeit, kumulative Besteuerung 3. Die gleichheitsgerechte Bemessung der Einkommensteuer a) Bereichsspezifische Unterscheidungen b) Folgerichtigkeit, Typisierung, Steuergestaltung, Progression V. Das Erwerbseinkommen 1. Erwerbsgrundlagen 2. Erwerbsnutzung 3. Erwerbserfolg 4. Lebensführungseinkommen

I. Rechtsbegriff, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik Eine Schrift, die dem BFH zum Hundertsten gewidmet ist, sucht zum Gelingen der Rechtsprechung dieses obersten Bundesgerichts in Steuersachen beizutragen, will den Auftrag des Richters unterstützen, das Recht zu verstehen, auszulegen und fortzubilden. Wer sich in diesem Gemeinschaftswerk mit der Einkommensteuer aus­ einandersetzt, braucht einen Begriff vom „Einkommen“, entwickelt rechtstheoretische 1197

Paul Kirchhof

und gesetzesinterpretierende Erwartungen an diesen Begriff. Die Auseinandersetzung mit den Einkommenstheorien vergewissert sich der Denkweisen, in denen das EStG geschaffen, verstanden und erneuert worden ist. Das Verfassungsrecht nimmt in seinen Grundsatzaussagen Begriff und Theorie des Einkommens auf, ohne aber einen Begriff festzuschreiben oder gar einer Theorie Verbindlichkeit zu geben. Das Grundgesetz deutet im Elementartatbestand der „Einkommensteuer“ eine Steuerart an und formt diese in den Grundrechten. Die Einkommenstheorien beobachten Ursprung und Entwicklung des EStG, vergleichen Ideen, Ideale und historischen Anlass der Einkommensteuergesetze in ihren Entwicklungen, machen Unterschiede und Zusammenwirken von rechtspolitischen Vorstellungen und positivem Recht bewusst, vergewissern sich der gedanklichen Quelle und der textlichen Fassung des EStG, fragen rechtspolitisch nach dem besseren EStG1. Rechtstheorie muss überzeugen. Die Rechtsdogmatik beruft sich auf das geschriebene Recht, beansprucht, an dessen Verbindlichkeit teilzunehmen. Sie festigt die Rationalität des Rechts in einer geordneten Rechtssprache, einer strukturierenden Systematik, einer widerspruchsfreien Ordnung, entfaltet die im Gesetzestext angesprochenen oder anklingenden Leitgedanken auch für neuartige Anfragen an das Recht, für Kritik, Änderungsbedarf und Reformvorschläge2. Die Interpretation des EStG findet ihren Anker im Begriff „Einkommen“ 3, spricht damit aber nicht nur Vorgeschriebenes nach, sondern verlangt in der Bindung an die Rationalität der Gesetzessprache und die Verlässlichkeit durch Urkundlichkeit des Gesetzes (Verkündung im Gesetzblatt) ein Nachdenken des Vorgedachten. Das Gesetz greift in die Zukunft der bei Gesetzgebung unbekannten Fälle vor, beantwortet in seiner Allgemeinheit und Abstraktion auch neue Gegenwartsfragen an dieses Gesetz. Dabei sind Richter und Wissenschaftler in ihrem Denken frei, aber diszipliniert. Die Vorgaben des Gesetzes legitimieren Rechtsprechung und entlasten die Begründung einer aus dem Gesetz abgeleiteten Rechtsentscheidung4. Die methodische Disziplin zieht insbesondere die Grenze zwischen dem die Gesetzesauslegung bestimmenden Willen des Gesetzgebers und der gesetzlichen Willkür, die das Gesetz verfassungswidrig und nichtig macht. Dieses Denken über das Recht5 entlässt den Interpreten aber nicht aus seiner Pflicht, alle seine Denkmöglichkeiten und Erfahrungen für die Ge1 Zur grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, Jestaedt in Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), 2010, § 1 Rz. 20, 26; Volkmann in Der Staat 51 (2012), S. 601 (603). 2 Für eine Übersicht über die verschiedenen Definitionen der Dogmatik Waldhoff in G. Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 17 (21 f.); Hassemer in G. Kirchhof/Magen/Schneider, aaO., S. 3 (5 f.); Alexy, Theorie der grundrechtlichen Argumentation, 1983, S. 307 ff.; Ipsen in Der Staat 52 (2013), S. 266 (269). 3 Zur Einkommensdefinition insbesondere Strutz, Kommentar zum EStG 1925, Bd. 1, Einleitung, S. 40; Popitz, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 5, 4. Aufl. 1923, S. 406. 4 P. Kirchhof in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, 3. Aufl. 2014, § 273 Rz. 80. 5 Zum Verhältnis von Gesetz, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik und Gesetzesinterpretation P. Kirchhof (Fn. 4), insbesondere Rz. 1 f., 19 f., 37 f., 60 f.

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Einkommensbegriffe und Einkommenstheorien

setzesinterpretation einzusetzen. Einkommensbegriff und Einkommenstheorien bieten Leitgedanken, Vergewisserungsstufen und Verlässlichkeitshilfen für die Rechtsanwendung.

II. Der das EStG dirigierende Ausgangsgedanke des „Einkommens“ 1. Der die Steuerbelastung rechtfertigende Einkommensbegriff Das EStG widmet seinen II. Abschnitt seinem Steuergegenstand und rechtfertigt in diesem Belastungsgrund die Einkommensteuer. § 2 EStG definiert aber in Abs. 4 das „Einkommen“ als eine Zwischensumme6, die sich aus der um bestimmte Abzugsbeträge verminderten Summe der Einkünfte errechnet und erst nach weiteren Abzugsbeträgen zur Bemessungsgrundlage des „zu versteuernden Einkommens“ wird. Der Navigator des EStG – § 2 – führt zu einer Adresse, die mit „Einkommen“ bezeichnet wird, bei der wir aber weder den Belastungsgrund noch den Ausgangstatbestand der Einkommensteuer7 antreffen. So verkümmert der die Einkommensteuer rechtfertigende Gedanke zu einem Rechenschritt. Das EStG lässt strukturierende Gedanken und Begriffe anklingen, ist aber begrifflich und systematisch wenig diszipliniert. Damit sind Theorie und Dogmatik gefordert. 2. Der Belastungsgrund der Einkommensteuer: Allgemeinäquivalenz Die Einkommensteuer belastet den Steuerpflichtigen im Zuwachs seiner individuellen finanziellen Leistungsfähigkeit. Dazu genügt nicht der vollstreckungsrechtliche Befund, dass bei einem Schuldner „etwas zu holen ist“. Unerheblich ist auch, ob der Steuerpflichtige durch Erwerbsanstrengung sich ein Einkommen beschaffen könnte (Erwerbsfähigkeit). Rechtfertigender Grund ist vielmehr der Einkommenserwerb als individueller Vermögenszugang durch individuelle Nutzung einer Erwerbsgrundlage (Erwerbszuwachs). Die Einkommensteuer fordert typisierend einen allgemeinen Vorteilsausgleich für die Erwerbschancen, welche die Rechtsgemeinschaft dem Steuerpflichtigen bietet. Wer seinem Erwerb in einem Friedensgebiet nachgehen kann, nicht in einem Kriegsgebiet erwerben muss; wer dank der Vertragsfreiheit rechtsverbindliche Absprachen treffen und gerichtlich durchsetzen kann; wer ein leistungsfähiges Geld- und Bankensystem nutzen, gut ausgebildete Arbeitnehmer einstellen, im Umgang mit Kredit und Internet erfahrene Nachfrager ansprechen kann, muss zur 6 Musil in Herrmann/Heuer/Raupach (Hrsg.), § 2 EStG Rz. 10, 800 (Ergebnis eines bloßen Rechenvorgangs); Naujok in Bordewin/Brandt/Bode (Hrsg.), 2017, § 2 EStG Rz. 160 f. (Rechenschritt); Weber-Grellet in Schmidt (Hrsg.), 36.  Aufl. 2017, §  2 EStG Rz.  61 (Besteuerungsgrundlage, nicht Bemessungsgrundlage); Ratschow in Blümich, §  2 EStG Rz.  160 (Zwischengröße); Jäschke in Lademann, 2015, §  2 EStG Rz.  331 (Besteuerungsgrundlage, nicht Bemessungsgrundlage); G. Kirchhof in Kirchhof/Ratschow (Hrsg.), i. E. 2018, § 2 EStG Rz. 297 (Zwischengröße in der Prüffolge des § 2); zu materiellen Systemen: P. Kirchhof in Kirchhof (Hrsg.), 17. Aufl. 2018, § 2 EStG Rz. 2; zum technischen Abzugssystem EStR zu § 2, R 2. 7 Eisgruber in FS Kirchhof, Bd. II, 2013, § 169 Rz. 15 ff.

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Paul Kirchhof

Finanzierung dieses Systems und seiner Voraussetzungen beitragen (Allgemeinäqui­ valenz)8. Er zahlt eine Steuer für den Erwerbszuwachs, der auf seiner Leistung beruht, den aber die Rechtsgemeinschaft ermöglicht hat. Ähnliche Freiheitsvoraussetzungen bieten das Bildungs- und Gesundheitswesen, die Verkehrsinfrastruktur und die Außenhandelsbeziehungen. Auch diese werden vielfach vom Staat getragen, also durch Steuern finanziert. Der steuerbare Erwerbserfolg des Steuerpflichtigen kommt nicht schon in seinen ­Erwerbseinnahmen, sondern erst in dem nach Abzug der notwendigen Ausgaben ­verbleibenden Einkommen zum Ausdruck. Bemessungsgrundlage sind die Erwerbs­ einnahmen, vermindert um erwerbssichernde und existenzsichernde Aufwendungen9. Diese bilden das Einkommen, sind Bemessungsgrundlage und rechtfertigender Grund für die Personensteuer der Einkommensteuer. 3. Das theoretisch unterstützte, nicht theoriegeleitete Entstehen des EStG Der Gesetzgeber findet eine solche Steuer nicht in der Wirklichkeit vor. Er kann die Steuer nicht  – wie die Realität eines Betriebs, eines Arbeitnehmers oder eines Betriebsfahrzeugs – tatbestandlich aufnehmen, sondern trägt einen rechtlichen Gedanken in die Wirklichkeit hinein. Die Steuer beruht auf dem Rechtsgedanken, dass der Staat mit der Garantie von Berufs- und Eigentümerfreiheit auf die Selbstfinanzierung durch Staatsunternehmen strukturell verzichtet, er sich deshalb durch Teilhabe am Erfolg privaten Wirtschaftens, durch Steuern, finanziert. Bei dieser Besteuerung greift er individualisierend auf das Einkommen zu. Diese Belastungsentscheidung ist historisch gewachsen, muss deshalb auch in ihren geschichtlichen Verstehensgründen nachvollzogen werden. Allein das Wort „Einkommensteuer“ formuliert noch nicht den Belastungsgedanken. Es lässt offen, ob das Volkseinkommen in individueller Hand oder das In­ dividualeinkommen gemeint ist, ob das Gesamteinkommen oder nur das im Erwerbsleben sichtbare Einkommen belastet werden soll, ob die staatlich gestützte und rechtlich verfestigte Rechtsposition oder schon die Erwerbserwartung eine Belastung rechtfertigt, ob das fundierte Einkommen anders als das Arbeitseinkommen besteuert werden soll. Für die Ausgestaltung der Einkommensteuer lässt allein das Wort die Frage offen, ob das Roheinkommen oder das Verbrauchseinkommen gemeint ist, ob die Erwerbseinkünfte oder das Lebensführungseinkommen Bemessungsgrundlage sein soll, ob eine Gleichheit im Erwerb oder im Opfer der Steuerzahlung herzustellen ist. 8 Ansätze dazu bereits bei A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Book V, Chap. II, Part II, 1873, S. 347; die anderen drei klassischen Maximen regeln die Bestimmtheit, die Bequemlichkeit und die Wohlfeilheit der Besteuerung; sowie bei von Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaften, 5. Aufl., I und II/1 1885, II/2 und II/3 1886, hier II/1, S. 346 ff., dazu K. Vogel, Der Staat, 1986, S. 481 zu III. 9 BVerfG 43, 108 (120 f.) – Kinderfreibetrag; zur Unterscheidung von objektiver Leistungsfähigkeit und subjektiver Leistungsfähigkeit Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988, S. 34.

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Einkommensbegriffe und Einkommenstheorien

III. Das „Einkommen“ als historisch gewachsener Tatbestand 1. Vom Volkseinkommen zum Individualeinkommen Der BFH10 versteht die Einkommensteuer als eine Personensteuer, die auf den Grundsatz der Individualbesteuerung aufbaut11, den Steuerpflichtigen als Grundrechtsträger erfasst und jeden Zugriff in der Betroffenheit des Einzelnen rechtfertigt. Die Zuordnung des Einkommens als eigenes Recht des Einkommensbeziehers wird damit anerkannt, ist Ausgangspunkt des individuellen Güterzuflusses, an dem der Staat teilhaben will. Die Frage der steuerlichen Umverteilung12 betrifft deswegen nicht den Steuergegenstand „Einkommen“, sondern den Auftrag des Staates, ob und inwieweit er die Unterschiede im Einkommen und Vermögen als Grundlage individueller Freiheit und allgemeiner Chancengleichheit, als Instrument des gesellschaftlichen und politischen Einflusses, als Fundament allgemeinen Friedens und persönlicher Zufriedenheit ausgleichen und dabei das Instrument des Steuerrechts einsetzen soll. Das Verständnis des Individualrechts „Einkommen“ als Steuerquelle hat sich erst in neuerer Zeit entwickelt. Die ursprünglichen Finanzierungsquellen des Staates waren staatseigen. Die Obrigkeit hat sich aus staatlichen Unternehmen finanziert, auch aus Kriegsbeute und Kriegsanleihe, hat das Volk im Rahmen von Lehensverhältnissen zu Dienstleistungen für den Staat verpflichtet13. Doch dann wird die Frage nach der Rechtfertigung der Steuer eng mit der Rechtfertigung des Staates verknüpft. Staat und Steuern werden an ihrem Nutzen für den Einzelnen gemessen14. Auch in der vorgrundrechtlichen Zeit dienen die dem Staat gezahlten Steuern dem Bürger. Erst die organische Staatslehre versteht den Staat als ein gegenüber dem Bürger verselbständigtes Individuum15, als „Makro-Anthropos“16. Die Steuerpflichtigen schulden ihrem Staat die Steuer als persönliche Gabe, nicht als Ausgleich für Mitbeteiligung oder Gegenleistung17.

10 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608; vgl. auch BFH v. 11.4.2005 – GrS 2/02, BStBl. II 2005, 679. 11 Zur subjektbezogenen Ausrichtung des EStG BFH v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782 (784 f.); v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BStBl. II 2008, 608 – als Grundsatz; vgl. aber BFH v. 23.8.1999 – GrS 5/97, BStBl. II 1999, 774 (776); v. 23.8.1999 – GrS 1/97, BStBl. II 1999, 778 (779); v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782 (784 f.); v. 23.8.1999 – GrS 3/97, BStBl. II 1999, 787 (788). 12 Osterloh-Konrad, StuW  2017, 305  f.; vgl. auch das Sondervotum Baer/Gaier/Masing zur Erbschaftsteuerentscheidung v. 17.12.2014, BVerfGE 138, 136 ff., dort 252 ff. 13 Vgl. P. Kirchhof in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IV, 3. Aufl. 2007, § 118 Rz. 5; ders. in FS Sendler, 1991, S. 65 (65). 14 Hobbes, Leviatan, 1651, Part II, Ch. 30; v. Pufendorf, De iure naturae et gentium, 1673; Montesquieu, De l’esprit des lois, 1748. 15 A. Müller, Die Elemente der Staatskunst, Neunte Vorlesung, 1809. 16 Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 1908 im Anschluß an Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 217. 17 Schmoller, Die Lehre vom Einkommen in ihrem Zusammenhang mit den Grundprinzipien der Steuerlehre, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 19 (1863), 1 (46).

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Die Besteuerung des Einkommens wird ideengeschichtlich im Finanzklassizismus vorbereitet. Nach Adam Smith schuldet jeder Bürger der Regierung im Verhältnis seiner Leistungsfähigkeit Steuerzahlungen, die sich nach dem unter dem Schutz des Staates erzielten Einkommen bemessen. Einkommensquellen sind Miete und Pacht, Gewinn und Löhne18. Die Idee, die Bürger „im Verhältnis zu ihrem Einkommen und ihren Einkommensquellen“ zur Steuerzahlung heranzuziehen, trifft auf wachsende Zustimmung19, umfasst allerdings noch nicht die Forderung nach einer allgemeinen Einkommensteuer. Die Besteuerung des Gesamteinkommens wurde als „inquisitorisches“ Eindringen in die Privatsphäre20 verstanden, als eine „verhasste Maßnahme, die den Gefühlen und Gewohnheiten eines freien Landes widerspreche“21. Staats- und die Finanzwissenschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts22 sehen im Volkseinkommen  – der Produktivität  – den gerechten Maßstab der Besteuerung. Einkommen und Ertrag werden bereits als Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben verstanden. Die Merkantilisten belasten Handel und Gewerbe als Grundlage des Einkommens, definieren Einkommen als Überschuss in der Handelsbilanz23. Die Physiokraten stützen die Besteuerung auf das Einkommen eines Volkes. Einzig mögliche Steuerquelle ist die landwirtschaftliche Produktion; das Einkommen wird als landwirtschaftliches Nettoprodukt aus der Differenz zwischen Produktionskosten und Erntebestand bestimmt24. Auch die Kameralisten besteuern die Einnahmen nur nach Abzug der Ausgaben; sie anerkennen insbesondere bei den Steuern auf die Grundstücke einen Abzug der Hälfte der möglichen Einkünfte aus Vermietung „als jährlich aufzuwendende Baukosten“25. 18 Smith (Fn. 8), S. 347. 19 Mann, Steuerpolitische Ideale: vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600–1935; 1937, S.  118; zur Bedeutung von Vauban: Held, Die Einkommensteuer, 1872, S.  122; Tesche­ macher, Die Einkommensteuer und die Revolution in Preußen: eine finanzwissenschaftliche und allgemeingeschichtliche Studie über das preußische Einkommensteuerprojekt von 1847, 1912, S. 7 ff.; ders., HdbFinWiss, Aufl. 1 1912, S. 65, 104 f. 20 Smith (Fn. 8), S. 367; vgl. auch Großfeld, Die Einkommensteuer, 1981, S. 9; Mann (Fn. 19), S. 227. 21 Ricardo, Grundsätze der Volkswirtschaft und Besteuerung, 2. Aufl. 1912, S. 154 f.; vgl. auch Mann (Fn. 19), S. 228. 22 Zur Dogmengeschichte des Einkommensbegriffs vgl.: Bauckner, Der privatwirtschaftliche Einkommensbegriff, 1921; R. Meyer, Das Wesen des Einkommens: eine volkswirthschaftliche Untersuchung, 1887; Moll, Probleme der Finanzwissenschaft: methodologische und finanztheoretische Untersuchungen, 1924, S. 111 ff.; Popitz, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 5, 4. Aufl. 1923, S. 400 (413 ff.); zur Frühgeschichte der Einkommenslehre Schmoller (Fn. 17), S. 1 ff. 23 Bauckner (Fn. 22), S. 12; Schmoller (Fn. 17), S. 2. 24 Schmoller (Fn. 17), S. 2 f.; Bauckner (Fn. 23); vgl. auch Heilmann, Lorenz von Stein und die Grundprobleme der Steuerlehre (1894), 1984, S. 110, 273 ff. 25 von Justi, Staatswirtschaft oder Systematische Abhandlung aller ökonomischen und Cameral-Wissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfordert werden, 2 Bde., 2. Aufl. 1758 (Nachdruck 1963), S. 325, der Belastungsidee nach handelt es sich hierbei um eine AfA; vgl. auch Jenetzky, System und Entwicklung des materiellen Steuerrechts in der wissenschaftlichen Literatur des Kameralismus von 1680 bis 1840, 1978, S. 181, 325.

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Mit der Französischen Revolution, aber auch den sozialen und politischen Bewegungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, tritt die Einzelperson mit ihren Rechten und Pflichten vermehrt in das Blickfeld des Rechts. Die individuell zugemessene Einkommensteuer findet mehr Befürworter. Sie verteile die Steuerlast auf alle Staats­ bürger im Verhältnis ihres Einkommens26, kenne keine Steuerprivilegien27, entspreche deshalb der Forderung nach der Gleichmäßigkeit der Besteuerung gegenüber dem mit eigenen Rechten ausgestatteten Steuerschuldner. Der Staat biete dem Einzelnen die Grundlagen für seine wirtschaftliche Entwicklung. Der Steuerpflichtige gebe dem Staat einen Teil der auf seinem Gebiet erzeugten wirtschaftlichen Werte zurück, zu der er seinerzeit beigetragen habe. Derartige Steuern dürften das Kapital nicht angreifen, seien auf die Deckung des jeweiligen Staatsbedarfs beschränkt und müssten „reproduktiv“ sein. Der Staat müsse deshalb zumindest so viel Staatsleistungen an die Gesamtheit der Bürger zurückgeben, als Steuern erhoben würden28. Jede Steuergesetzgebung finde ihre Grenze dort, wo sie beginne, „das Einkommen so weit zu verringern, dass es seine kapitalbildende Kraft verliert“29. Doch Bedenken30 gegen die Besteuerung des individuellen Einkommens wirken nach31. Das Realeinkommen könne nicht vollständig und genau erfasst werden. Der Staat sei auf eine Selbsteinschätzung des Steuerpflichtigen angewiesen, dem er aber nicht vertrauen dürfe32. Zudem treffe eine allgemeine Einkommensteuer auch das Roheinkommen, gefährde damit die Reproduktion und die Gleichmäßigkeit der Lastenverteilung33. Außerdem nötige die Einkommensteuer den Staat, in die Privat­ sphäre des Bürgers einzudringen34. Deshalb wird eine indirekte Verbrauchsbesteuerung empfohlen, die das reine Einkommen dort erfasse, wo es als Finanzkraft des Steuerpflichtigen in Erscheinung trete35.

26 Zachariae, Vierzig Bücher vom Staate, 7. Bd., 1843, S. 425. 27 Vgl. Pfeiffer, Die Staatseinnahmen, 2 Bände, 1866, S. 257 ff. 28 von Stein (Fn. 8). 29 von Stein (Fn. 8), Bd. I, S. 150. 30 Vgl. im Einzelnen die Nachweise bei Held (Fn. 19), S. 240 ff., und Graffenried, Über die Einkommensteuer, Diss. 1855, S. 33 ff. 31 von Jakob, Die Staatsfinanzwissenschaft, 2. Aufl., 1837, S. 251 ff. (vgl. zu von Jakob auch Meisel, Geschichte der deutschen Finanzwissenschaft im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, HdbFinWiss., Bd. I, 1. Aufl. 1926, S. 250); v. Malchus, Finanzwissenschaft, HdbFinWiss u. FinVerw., 1830, S. 175 ff. (vgl. zu v. Malchus Heilmann, Lorenz von Stein und die Grundprobleme der Steuerlehre, S. 294; Meisel, S. 252; Mann (Fn. 19), S. 253); Rau, Grundsätze der Finanzwissenschaft, 2. Bd., 4. Aufl. 1859, § 399, S. 161 ff.; Hoffmann, Die Lehre von den Steuern als Anleitung zu gründlichen Urtheilen über das Steuerwesen mit besonderer Beziehung auf den Preußischen Staat, 1840, S. 38. 32 Rau (Fn. 31), § 399, S. 161 33 von Malchus (Fn. 31), S. 175 f. 34 Vgl. Mann (Fn. 19), S. 242. 35 Vgl. dazu Heilmann, Lorenz von Stein und die Grundprobleme der Steuerlehre (1894), S. 291 m.w.N.; Graffenried, Über die Einkommensteuer, Diss. 1855, S. 36.

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Mit dem klassischen Gesetzesvorbehalt für Eingriffe der staatlichen Polizei- und Finanzgewalt36 und dem verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutz gewinnt die Besteuerung des Individualeinkommens einen Maßstab, der die subjektiven Rechte stärkt. Der steuerliche Eingriff in die verfassungsrechtlich gefestigte Rechtsposition des individuellen Einkommens muss maßvoll und gleichmäßig ausgestaltet sein. Die Frage, ob das Gesamteinkommen oder nur das sichtbare, im Erwerbsleben offenbare Einkommen besteuert werden soll, hat das EStG durch eine Grundsatzentscheidung für das Gesamteinkommen beantwortet. Auch in der Gegenwart einer datenschutzbewussten Öffentlichkeit werden bei der Einkommensteuererklärung – insbesondere bei den außergewöhnlichen Belastungen und anderen persönlichkeitsbezogenen Abzugsbeträgen – Daten aus der Privatsphäre bereitwillig erklärt. Beim Quellenabzug und den Überschusseinkünften klingen datenschutzrechtliche Rücksichtnahmen an. Gleiches gilt bei typisierenden Elementen einer Besteuerung vermuteter Einkünfte37. Grundsätzlich aber wird nicht die Erwerbserwartung besteuert, sondern die rechtlich geschützte Rechtsposition des erworbenen Einkommens. Die Unterscheidung zwischen fundiertem Besitzeinkommen und unfundiertem Arbeitseinkommen38 verliert an Bedeutung, nachdem der Arbeitnehmer sozialversicherungsrechtlich gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter finanziell gesichert ist, das Arbeitsrecht insbesondere mit seinen Kündigungs- und Mitbestimmungsvorschriften die Unterscheidung zwischen Unternehmen und Arbeitnehmer einebnet, auch das kollektive Arbeitsrecht die Arbeitseinkommen verstetigt39. Das schlichte Roheinkommen weist das EStG als Prinzip der Einkommensbesteuerung zurück. Besteuert wird das nach Abzug der erwerbs- und existenzsichernden Abzüge für den Verbrauch und die Investition verbleibende Einkommen. Das EStG besteuert nicht die Erwerbseinkünfte, sondern das nach Sicherung des existenznotwendigen Bedarfs verbleibende Einkommen. 2. Erwerbseinkünfte und Existenzeinkommen – zwei Nettoprinzipien Im Ergebnis hat sich eine allgemeine Einkommensteuer – wenn auch nicht als einzige40  – bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in fast allen rechtsstaatlich entwickelten Staaten durchgesetzt. Im 20. Jahrhundert wird die Einkommensteuer als die ideale Form der Steuern angesehen41. Dabei ist die Besteuerung nach dem erwerbssichern­ 36 O. Meyer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 1895, S. 245 ff. 37 G. Kirchhof (Fn. 6) Rz. 53 A. 38 Wagner, Finanzwissenschaft, 2. Teil, 2. Aufl. 1890, S. 456; Neumann, Die progressive Einkommensteuer im Staats- und Gemeindehaushalt, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. VIII, 1874, S.  178; Schäffle, Die Steuern, Besonderer Teil, 1897, S.  116  ff.; ders., Die Steuern, Allgemeiner Teil, 1895, S. 280 f. 39 Zu den früheren Differenzierungen zwischen fundiertem Einkommen und dem Arbeitseinkommen vgl. Schäffle (Fn. 38), Besonderer Teil, S. 116. 40 Vgl. dazu Mann (Fn. 19), S. 249 f. m.w.N. 41 Popitz bezeichnet sie als „Königin der Steuer“: Popitz, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 5, 4. Aufl. 1923, S. 402; Lampe erlebt in ihr die „Zentralsonne“, die nur von „Trabantensteuern“ umgeben werde: Lampe, Reine Theorie der Finanzreform, FinArch, NF, Bd. 2 (1934), S. 218 (222); Schumpeter sieht in der Einkommensteuer „die reinste – und technisch und juristisch schönste – Gestalt des Steuergedankens überhaupt“: Schum­

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den Nettoprinzip in Gesetzgebung und Rechtsprechung eine Selbstverständlichkeit42, die Minderung des Einkommens nach dem existenzsichernden Nettoprinzip in seiner gegenwärtigen Ausprägung eher eine Errungenschaft moderner Gesetzgebung und Rechtsprechung43. Die Einkommensteuer belastet die Erträge aus einer fest eingerichteten Erwerbsquelle, die sich auch nach der Besteuerung weiterhin als Erwerbs- und Besteuerungsgrundlage entwickeln soll. Besteuert werden deshalb die nach Abzug des Erwerbsaufwands verbleibenden Erwerbseinkünfte. Das existenzsichernde Nettoprinzip entfaltete sich in der Bewusstheit sprachlicher Tatbestände erst in den sozialpolitischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Ausgangspunkt war der bis heute zutreffende Gedanke, der Staat solle, bevor er den wirtschaftlich Schwachen finanziell helfe, zunächst den steuerlichen Eingriff sozialpo­ litisch gestalten. Minderbemittelte und arme Volksschichten seien steuerlich zu entlasten. Das EStG müsse nach sozialpolitischen Maßstäben weiterentwickelt44, die im „freien Verkehr“ erzielte Einkommensverteilung durch einen progressiven Tarif berichtigt werden45. In dieser Besteuerung des individuellen Zuwachses an Finanzkraft ist die steuerliche Verschonung des existenznotwendigen Mindestbedarfs angelegt. Das ursprüngliche Recht der Daseinsberechtigung gehe dem Recht des Staates auf Steuerleistung vor46. Der Einzelne könne nicht von dem, was er unbedingt zum Leben brauche, auch noch Steuern zahlen47. Überdies sei es sinnlos, wenn der Staat mit der einen Hand Steuern einnehme, um mit der anderen Armen Unterstützung zu zahlen48. Im Übrigen sei das Existenzminimum einkommensteuerlich auch zu verschonen, weil der notwendige Bedarf und die verbreitetsten Genussmittel mit indirekten Steuern belastet seien49. Schließlich sei die Besteuerung der kleinsten Einkommen unökonomisch und stoße auf steuertechnische Schwierigkeiten50. peter, Ökonomie und Soziologie der Einkommensteuer, Der deutsche Volkswirt, IV, 1929/1930, S. 380 ff. (zitiert nach Mann (Fn. 19), S. 359). 42 BFH v. 26.2.2014 – I R 59/12, BFH/NV 2014, 1674 Rz. 18; v. 5.6.2002 – I R 115/00, BFH/ NV 2002, 1549; v. 29.4.2005 – IX B 127/04, BStBl. II 2005, 609; v. 26.2.2014 – I R 59/12, BFH/NV 2014, 1674 Rz. 22 ff., dort Rz. 30 ff. zur Verfassungswidrigkeit einer Mindestbesteuerung mit Definitiveffekt; v. 16.6.2015  – IX R 26/14, DStR 2015, 2321 (2324); v. 17.7.2014 – VI R 61/11, juris Rz. 40 ff.; v. 8.4.2014 – IX R 45/13, DStR 2014, 996. 43 BVerfG v. 13.8.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125 (156 f.) – Kranken- und Pflegeversicherung; BFH v. 14.12.2005 – X R 20/04, BStBl. 2011, 351 (374) – Vorsorgeaufwendung. 44 Mann (Fn. 19), S. 305 ff. 45 Wagner (Fn. 38), S. 207; vgl. auch Lotz, Finanzwissenschaft, 1. Aufl. 1917, 2. Aufl. 1931, S. 246 f.; Schäffle (Fn. 38), Allgemeiner Teil, S. 284 ff.; v. Beckerath, Die neuere Geschichte der deutschen Finanzwissenschaft, in HdbFinWiss Bd.  1, 2.  Aufl. 1952, S.  416 (432  ff.); Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernorm, 1983, S. 24. 46 Vocke, Grundzüge der Finanzwissenschaft, 1894, S. 182. 47 Wagner (Fn. 38), S. 402 ff. 48 Vgl. Moll (Fn. 22), S. 358. 49 Schäffle (Fn. 38), Allgemeiner Teil, S. 278; ders. (Fn. 38), Besonderer Teil, S. 113; Wagner (Fn. 38), S. 405; vgl. auch Neumann (Fn. 38), S. 162 f. 50 Schäffle (Fn. 38), Besonderer Teil, S. 113; zur Begrenzung auf den zur Existenz schlechthin notwendigen Einkommensbetrag, nicht auf den „standesmäßigen Unterhalt“ vgl. Schäffle

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Neben dieses generelle Existenzminimum treten individuelle Steuerentlastungen bei persönlicher Finanzschwäche51. Die Personensteuer müsse besondere persönliche Verhältnisse des Steuerpflichtigen berücksichtigen52, insbesondere die Anzahl der auf ein Einkommen angewiesenen Personen in der Familie53, die Pflicht zur Versorgung hilfsbedürftiger Eltern oder Geschwister54, auch persönliche Sonderbelastungen wie Verschuldung, außergewöhnliche Unglücksfälle, Krankheit oder eine geringere Leistungsfähigkeit der Witwen und Waisen55. Diese Steuerermäßigungen seien nicht eine Gnadenbewilligung, sondern individuelles Recht56. Mit dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit sei es überdies unvereinbar, dass der Ar­ beitsverdienst der Haushaltsmitglieder dem Erwerb des Haushaltsvorstandes hinzugerechnet werde57. Hier wechselt der Begriff der Leistungsfähigkeit dank Erwerbs zur Leistungsfähigkeit dank Erwerbenkönnens. Die in Arbeiterfamilien durch den Arbeitsverdienst ersichtliche Leistungsfähigkeit von Frau und Kindern sei geringer als die aufgrund besserer Ausbildung größere Leistungsfähigkeit der Frauen anderer Stände, die sich statt in verdienender in erhaltender Arbeit, statt im Erwerb in der Pflege, statt in der Sorge für die Jetzt-Zeit in einer Fürsorge für die heranwachsenden Kinder äußern könne. Im Übrigen dürfe das Familienband nicht durch Einberechnung des Erwerbseinkommens der Kinder gelockert werden, da die Steuer sonst zum frühzeitigen Verlassen des elterlichen Hauses bewegen würde58. Wenn das Ein­ kommen einerseits als Mehrung des Vermögensstamms59, andererseits nach seiner Verwendung – der Bedürfnisbefriedigung60 – unterschieden wird, rechtfertigt die Tatbestandsumgrenzung nach der Verwendung des Einkommens nicht einen Steuergegenstand, sondern verteilt die Steuerlast gleichheitsgerecht61. Die freie Verwendbarkeit des Einkommens entwickelt sich später zu einer eigenständigen Grundlage und Rechtfertigung der Steuer62, insbesondere bei der nutzentheoretischen Definition des Einkommens63, dort einschließlich von privatbezogenen Nutzungen der Freizeit.

(Fn. 38), Allgemeiner Teil, S. 278; Wagner (Fn. 38), S. 447; zur Differenzierung dieser Steuerentlastung nach dem Lebensalter Wagner (Fn. 38), S. 405. 51 Schäffle (Fn. 38), Besonderer Teil, S. 113. 52 Frantz, Die soziale Steuerreform als die conditio sine qua non, wenn der sozialen Revolution vorgebeugt werden soll, 1881 (Nachdruck 1972), S. 79. 53 Frantz (Fn. 52), S. 79; Wagner (Fn. 38), S. 447, 457. 54 Frantz (Fn. 52), S. 80. 55 Wagner (Fn. 38), S. 405. 56 Frantz (Fn. 52), S. 80. 57 Neumann (Fn. 38), S. 173 ff. 58 Neumann (Fn. 38), S. 176. 59 von Hermann, Staatswirtschaftliche Untersuchungen, 2. Aufl. 1870, S. 582 f. 60 Schmoller (Fn. 17), S. 52; vgl. auch Schäffle (Fn. 38), Besonderer Teil, S. 232 ff.; v. Hermann (Fn. 59), S. 582 f. 61 Held (Fn. 19), 1872, S. 66 ff. 62 Hackmann, Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF, Bd. 134, (1982) S. 661 (665). 63 Haller, Probleme der progressiven Besteuerung, 1970, S. 45.

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3. Quelleneinkommen und Vermögenszuwachs – Der Dualismus im Umbruch Die klassische Unterscheidung zwischen Quelleneinkommen und Vermögenszuwachs wirkt im Dualismus der Einkunftsarten bis heute fort. Zwar hat der BFH zutreffend die allein in der formalen Unterscheidung angelegten Rechtsfolgeunterschiede gleichheitsgerecht eingeebnet64. Doch Gesetzgebung und Rechtsprechung zeigen eine Tendenz, in der Unterscheidung zwischen Einkünften, die durch Bewirtschaftung einer eigenen Erwerbsgrundlage erzielt worden sind, und Einkünften, die aus einer fremden Erwerbsgrundlage bezogen werden, dem Dualismus eine aktuelle Bedeutung zu geben. Der Tatbestand des Einkommensteuerobjekts besteuerte ursprünglich die Erträge aus ständig fließenden Quellen. Einkommen sind danach die Sachgüter, die dem einzelnen in einer bestimmten Zeitperiode „als Erträge dauernder Quellen der Gütererzeugung zur Bestreitung der persönlichen Bedürfnisse“ für sich und seine Familie zur Verfügung stehen65. Der Entstehensgrund, in dem der Steuerpflichtige durch wirtschaftliche Tätigkeit Werte erzielen kann, ist Anknüpfungspunkt und Rechtfertigungsgedanke der Einkommensteuer. Belastet werden sollten insbesondere Erträge aus den Belastungsquellen Grund und Boden, Arbeit und Kapital66. Diese Unterscheidung zwischen Ertragsquelle und Ertrag67 schützt den Vermögensbestand und besteuert lediglich den Vermögenszuwachs. Die laufenden Einkünfte sind steuerbar. Die Wertveränderungen im Stammvermögen einschließlich der Realisation dieser Werte durch Veräußerung sind Nichteinkommen, sind nicht steuerbar. Demgegenüber erfasst die Reinvermögenszugangstheorie  – richtiger Reinvermögenszuwachstheorie68 – den „Zuwachs von Reinvermögen in einer Wirtschaft während einer gegebenen Periode“ als Einkommen69. Besteuert wird der gesamte periodische Zuwachs an Gütern, der für die Befriedigung von Bedürfnissen geeignet ist. Deswegen bestimmen alle Vermögenszugänge und -abgänge, alle Zuwendungen, insbesondere Geschenke und Erbschaften, auch private Nutzungen und Wertschöpfungen den Tatbe64 Vgl. insbes. die trotz des unterschiedlichen Gesetzeswortlauts inhaltgleiche Handhabung des Betriebsausgaben- und Werbungskostenbegriffs nach dem Veranlasserprinzip: BFH v. 21.11.1983 – GrS 2/82, BStBl. II 1984, 163; v. 11.7.1986 – VI R 39/83, BStBl. II 1986, 866 (867); v. 6.11.1992 – VI R 12/90, BStBl. II 1993, 108; v. 17.12.2002 – VI R 137/01, BStBl. II 2003, 407 (410); v. 6.10.2004 – VI R 27/01, BStBl. II 2004, 1071  (1072), stdRspr., das Aufteilungsgebot bei gemischten Veranlassungen BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BFHE 227, 1, BStBl. II 2010, 672 (680 ff.); die Zusammenführung des Realisationsprinzips der Gewinnermittlung und des Zuflussprinzips der Überschussermittlung in der Ermittlung des tatsächlichen Liquiditätszuflusses vgl. BVerfGE v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07; BVerfGE 133, 302 (331) m.N. der BFH Rspr. 65 Fuisting, Die Preußischen direkten Steuern, Bd. 4, 1902, S. 110. 66 Von Jakob (Fn. 31), S. 199 f.; Murhard, Theorie und Politik der Besteuerung, 1834, S. 337; vgl. auch schon Smith, (Fn. 8), S. 115. 67 Vgl. auch Bauckner (Fn. 22), S. 33 ff.; Vocke (Fn. 46), S. 278; Liefmann, Ertrag und Einkommen auf der Grundlage einer rein subjektiven Wertlehre, 1907, S. 23. 68 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 7 Rz. 30. 69 von Schanz, Der Einkommensbegriff und die Einkommensteuergesetze, FinArch. 13 (1896), 1; ders., Der privatwirtschaftliche Einkommensbegriff, FinArch 39 (1922), 505.

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stand der Einkünfte. Die spätere Tatbestandsbildung eines Einkommens nach dem Vermögenszuwachs stellt die Rechtfertigung der Einkommensteuer aus ihrer Herkunft nicht grundsätzlich in Frage, sondern erweitert diesen Tatbestand und besteuert insbesondere auch Gewinne aus Veräußerung von Grundstücken, Wertpapieren, Patenten, Verlagsrechte, Firmenrechten, Praxisveräußerungen70. Die Reinvermögenszuwachstheorie rechtfertigt weniger – freiheitsrechtlich gesprochen – den Steuereingriff, sondern definiert die Gleichheit der Besteuerung aus der individuellen Belastung eines Vermögenszuwachses. Das EStG folgt mit seinen ursprünglich acht (EStG 1925), ab dem EStG 1934 sieben Einkunftsarten, einer unterscheidenden Definition der Einkünfte. Die Gewinnein­ künfte (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 EStG) erfassen das Gesamtergebnis einer unternehmerischen Betätigung einschließlich Gewinnen und Verlusten aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern des Betriebsvermögens, beruhen deshalb im Kern auf der Reinvermögenszuwachstheorie. Eine bloße Quellenbesteuerung genügt der unternehmerischen Tätigkeit nicht, deren wirtschaftlicher Erfolg nicht allein in den Zuflüssen und Abflüssen zum Ausdruck kommt. Der Land- und Forstwirt mag durch Veräußerung einer guten Ernte hohe Einnahmen erwirtschaften, denen aber ein Verlust in seinem Viehbestand gegenübersteht. Der Gewerbetreibende mag durch den Kleiderverkauf im Sommer hohe Einnahmen erzielen, bleibt aber auf dem inzwischen unverkäuflich gewordenen Bestand von Frühjahrsmoden sitzen. Der Freiberufler erreicht durch ärztliche oder anwaltliche Erfolge hohe Einnahmen, hat aber bei der Digitalisierung auf die falschen Produkte gesetzt. Unternehmerischer Erfolg spiegelt sich im Erwerbs­ vermögen. Die aus fremder Erwerbsquelle abgeleiteten Einkünfte hingegen werden im Zufluss erfasst. Die nichtunternehmerischen Überschusseinkünfte (§  2 Abs.  2 Nr.  2 EStG) belasten nach dem Konzept der Quellentheorie nur die Erträge ständig fließender Quellen, nehmen aber die Quelle selbst aus der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage aus. Die Überschusseinkünfte, insbesondere der Arbeitslohn, bleiben von der Wertentwicklung des den Lohn vermittelnden Unternehmens unberührt. Die Lohneinkünfte und die Sozialversicherungseinkünfte stammen aus einer Einkunftsquelle, die einem anderen gehören – dem Arbeitgeber und dem Versicherungsträger. Die Wertentwicklungen dieser Erwerbsgrundlagen können deshalb dem Lohnempfänger und dem Versicherungsnehmer nicht zugerechnet werden. Die Vermögenszugänge und Vermögensabgänge sind hingegen bei den Gewinneinkunftsarten erheblich, weil dort der Steuerpflichtige mit seiner Erwerbstätigkeit auch die Erwerbsquelle bewirtschaftet, ihm deswegen die Entwicklung seines Betriebsvermögens zuzurechnen ist. Die Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20) und aus Vermietung und Verpachtung (§  21) sowie die Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften im Sinne von § 23 (§ 22 Abs. 1 Nr. 2 EStG) setzen die erwerbswirtschaftliche Herrschaft des Einkünftebeziehers über das Finanzkapital, über die vermieteten und verpachteten Grundstücke und Sachinbegriffe, über veräußerte Aktien und Grundstücke voraus. Deshalb werden diese Überschusseinkünfte den Gewinneinkünften angenähert (§ 20 Abs. 2, § 23 Abs. 1 und 2, § 17 EStG).

70 Bauckner (Fn. 22), S. 31; Moll (Fn. 22), S. 127 f.

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4. Der rechtfertigende Grund: Erwerbseinkommen, nicht Markteinkommen Der rechtfertigende Grund für die Einkommensteuer liegt in dem Erwerbseinkommen. Der BFH hält sich zwar – seiner Rechtsprechungsaufgabe entsprechend – aus dem dogmatischen Streit um den rechtfertigenden Grund des Einkommens heraus, prüft aber in der Sache, ob der Zuwachs an Leistungsfähigkeit jeweils aus einer der in § 2 Abs. 1 EStG genannten sieben Erwerbsgrundlagen erzielt worden ist71. Die Einkommensteuer besteuert nicht jeden Zuwachs an Leistungsfähigkeit – nicht die Geschenke, nicht die Spielgewinne, nicht Erbschaften, nicht die privat geschaffenen ­Güter und Dienstleistungen –, sondern erfasst nur die dank der Rechtsgemeinschaft erworbene Leistungsfähigkeit. Selbstverständlich ist das Einkommen Ausdruck der Leistung dessen, der es durch Arbeit oder Kapitaleinsatz erzielt hat72. Dieser individuelle Leistungserfolg ist aber nur in den Rahmenbedingungen möglich, die Staat, Recht und Wirtschaftswesen bieten73. Das Erwerbseinkommen74 umfasst alle Einnahmen, die aus einer Erwerbstätigkeit herrühren75 und deshalb einen finanziellen Beitrag an die staatliche Rechtsgemeinschaft rechtfertigen, die diese wirtschaftliche Tätigkeit ermöglicht hat76. Die tatbestandliche Entgegensetzung von ursprünglichem (echtem) und abgeleitetem (unechtem) Einkommen unterscheidet die steuerliche Belastbarkeit je nachdem, ob ein Einkommen von dem Produzenten selbst geschaffen oder der Natur abgewonnen ist, ob das Einkommen Folge des Tauschverkehrs ist, also aus dem Markt- und Tauschverkehr abgeleitet, oder privat geschaffen wird77. Vereinzelt wird nur die Steuer auf das abgeleitete Markt-, das Tauschverkehrs-Einkommen anerkannt78. Diese Differenzierung kommt der Besteuerung des Produktions- und des Markteinkommens nahe. Doch die Einkommensteuer ist keine allgemeine Bereicherungssteuer, die alles belastet, was am Markt entgegengenommen worden ist. Der Markt ist für das ursprüngli71 Vgl. unten zu V 1, zu den sieben Einkunftsarten die Übersicht bei P. Kirchhof (Fn. 6), § 2 Rz. 46 ff. 72 Vgl. BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271), 375 – Zinsbesteuerung; v. 25.9.1992, 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153, 810 – Grundfreibetrag; v.  22.6.1995  – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121  – Vermögensteuer; v. 31.3.1998  – 2 BvR 1877/97, 2 BvR 50/98, BVerfGE 97, 350 (370) – Euro. 73 Vgl. oben II 2. 74 P. Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, 1986, § 2 EStG Rz. A 111, A 117 f.; ders., Einkommensteuergesetzbuch, Ein Vorschlag zur Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer, 2004, § 2 Abs. 2 und 3, Erläuterung zu § 2 Rz. 17 f; ders. in FS für J. Lang, 2011, S.  451 (462  ff.); Ruppe in Herrmann/Heuer/Raupach, Einführung EStG Anm. 17; Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, § 9 Rz. 52. 75 Roscher, System der Volkswirtschaft, Bd. I, 5. Aufl. 1864, S. 292; vgl. auch Heilmann, Lorenz von Stein und die Grundprobleme der Steuerlehre, 1894, S. 198. 76 Zum Produktionseinkommen, die Besteuerung eines aufgrund einer wirtschaftlichen Tätigkeit neu produzierten Reichtums vgl. Lotz, Finanzwissenschaft, 1917, S. 445 f.; Roscher (Fn. 75), S. 3, wobei er sich in der Definition des Gutes auf v. Hermann bezieht; Haushofer, Grundzüge der Nationalökonomie, 1879, S. 55; Lorenz v. Stein (Fn. 8). 77 Murhard (Fn. 66), S. 427. 78 Darstellung bei Schmoller (Fn. 17), S. 1 (7).

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che Einkommen – der Bauer erntet das Korn, der Müller mahlt das Mehl – nicht erheblich79, sondern allenfalls für die Realisierung dieses Einkommens. Der bloße Zuwachs an finanzieller Leistungskraft durch Teilnahme am Markt  – die Veräußerung von Privatvermögen, der Spiel- und der Lotteriegewinn – werden nicht besteuert. Es ist unerheblich, ob Einkünfte innerhalb oder außerhalb des Marktes, ob sie privatwirtschaftlich oder hoheitlich erwirtschaftet werden. Die Privatentnahme ereignet sich jenseits des Marktes, greift aber auf die Erwerbsgrundlage des Steuerpflichtigen zu und erzielt insoweit ein Erwerbseinkommen80. Auch der absetzbare Erwerbsaufwand setzt den betrieblichen Anlass, nicht eine Marktwirkung voraus. Er bleibt abziehbar, auch wenn er der späteren Privatentnahme dient oder sich eine Fehlnutzung – der Betriebsunfall – als untauglich erweist. Für die Übertragung von Einkommen ist es unerheblich, ob Eltern ihren Kindern Erwerbsquellen am Markt oder familiär übertragen. Entscheidend ist, ob der Zustandstatbestand der Erwerbsquelle übertragen wird und nicht nur eine Nutzung dieser bei den Eltern verbleibenden Erwerbsquelle. Wesentlich ist nicht der Markt, sondern das steuerjuristische ­Eigentum an der Erwerbsgrundlage81. Das geltende EStG besteuert nicht das „Markteinkommen“82, sondern das Einkommen aus einer Erwerbsgrundlage, das Erwerbseinkommen. Den dogmatischen Erprobungsfall bieten die „Einkünfte aus Leistungen“ (§ 22 Abs. 1 Nr.  3), die nicht als konturenloser Auffangtatbestand einer allgemeinen Bereicherungssteuer verstanden werden dürfen, sondern in einer vom EStG geprägten Dogmatik gedeutet werden müssen. Deswegen sind Einnahmen aus Spiel und Wette, die am Markt erzielt worden sind, grundsätzlich nicht steuerbar. Ihnen fehlt der Zustandstatbestand der Erwerbsgrundlage83, selbst wenn besondere berufliche Kenntnisse ausgenutzt werden84. Wird das Spielen hingegen zum Gegenstand eines Berufs und hat es dort eine Erwerbsgrundlage, sind die Erwerbseinnahmen steuerbar85. 5. Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit – Idee und geschriebenes Recht Die Besteuerung nach der im Einkommen zum Ausdruck kommenden Leistungsfähigkeit ist seit der Antike bewusst und seit dem 18. Jahrhundert ein Leitgedanke86. Der BFH versteht das Leistungsfähigkeitsprinzip als ein „Fundamentalprinzip der 79 Roscher (Fn. 75), S. 307. 80 G. Kirchhof (Fn. 6), § 2 Rz. 150. 81 BFH v. 19.2.2013 – IX R 31/11, BFH/NV 2013, 1075. 82 W. Schön in FS Offerhaus, 1999, S. 385 (395 f.); Tipke, (Fn. 74), S. 629 f. Hey (Fn. 68), § 7 Rz. 31. 83 Vgl. im Ergebnis BFH v. 16.9.1970 – I R 133/68, BStBl. II 1970, S. 865. 84 BFH v. 24.10.1969 – IV R 139/68, BStBl. II 1970, S. 411. 85 BFH v. 11.11.1993 – IX R 48/51; BFH/NV 1994, 622; v. 6.12.1983 – VIII R 172/83, BStBl. II 1984, S. 132 – Spekulatives Warentermingeschäft, das gewerblich betrieben wird; zur Teilnahme an Fernsehspielen BFH v. 24.4.2012 – IX R 6/10, BStBl. II 2012, S. 581; vgl. auch BFH v. 28.11.2007 – IX R 39/06, BStBl. II 2008, S 469; zur fehlenden (umsatzsteuerlichen) Unternehmereigenschaft eines „Berufspokerspielers“ BFH v. 30.8.2017 – XI R 37/14. 86 Birk (Fn. 45), S. 7.

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Steuergerechtigkeit“, das seine Ausprägung insbesondere in der Einkommensteuer findet87. Entscheidungsmaßstab ist aber stets die Regel des EStG. Der Rückgriff auf das Leistungsfähigkeitsprinzip dient der verfassungsrechtlichen Vergewisserung88, veranschaulicht die im EStG enthaltenen Grundprinzipien89. Im Leistungsfähigkeitsprinzip verdeutlicht der BFH interpretationsbedürftige Einzeltatbestände des EStG90. Es dient auch zur Kennzeichnung einer Subvention91 und von Ausnahmevorschriften92. Das Preußische Einkommensteuergesetz 189193 sieht das Leistungsfähigkeitsprinzip mit der Einkommensteuer als deren „Natur“ verknüpft. Die Weimarer Reichsverfas­ sung fordert in Art. 134, dass alle Staatsbürger ohne Unterschied im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze beitragen94. Nach Art. 3 Abs. 1 GG müssen die Steuerpflichtigen bei gleicher Leistungsfähigkeit gleich hoch, bei unterschiedlicher Leistungsfähigkeit unterschiedlich besteuert werden (horizontale und vertikale Steuergerechtigkeit)95. Doch die Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit ist eine allgemeine Rechtswertungsquelle, die das EStG tatbestandlich im Erwerbseinkommen aufgenommen und definiert – begrenzt – hat96. Finanziell leistungsfähig wäre auch derjenige, der sich selbst ein Haus errichtet, der im Lotto gewonnen oder eine Erbschaft gemacht, der einen Schatz gefunden oder Privatvermögen ertragbringend veräußert hat. Die finanzielle Leistungsfähigkeit könnte auch in Wertsteigerungen im Betriebsvermögen gesehen werden, die noch nicht realisiert sind, in der Wertschöpfung im Privatbereich  – durch Hausarbeit, durch Hobbyarbeit, durch Dienstleistung an sich selbst oder seine Familie –, auch in der bloßen Fähigkeit, sich durch Erwerbsanstrengung Finanzmittel zur Steuerzahlung zu beschaffen. Das Preußische Einkommensteuergesetz 1891 verstand die Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit als Besteuerung des Einkommens nach der Quellen87 Jäschke in Lademann, § 2 EStG Rz. 2 f. (Sept. 2011); Ratschow in Blümich, § 2 EStG Rz. 12 (Nov. 2014); G. Kirchhof (Fn. 6), Rz. 40. 88 BFH v. 30.3.2017 – IV R 13/14 Rz. 28; BFH v. 29.8.2017 – VIII R 23/16 Rz. 15 f., stdRspr. 89 Für das Nettoprinzip BFH v. 25.9.2017 – IX S 17/17 Rz. 28, 33; zum Verhältnis von Realisationsprinzip und Subjektsteuerprinzip BFH v. 25.1.2017 – X R 59/14 Rz. 46; zur subjektbezogenen Ermittlung der Einkünfte BFH v. 21.2.2017 – VII R 10/14 Rz. 18; zur Unterscheidung der das EStG und das GewStG prägenden Prinzipien BFH v. 23.2.2017 – III R 35/14 Rz. 25: zum Verhältnis von DBA und EStG-System BFH v. 19.1.2017 – IV R 10/14 Rz. 40; zur Unterscheidung der Zielsetzungen von EStG und Sozialrecht BFH v. 27.7.2017 – III R 1/09 Rz. 2055, jew. stdRspr. 90 BFH v. 31.5.2017 – X R 29/15 Rz. 28 (Bewertungsansatz bei Rückstellungen); v. 31.5.2017 – I R 77/19 Rz. 13 (Abschöpfung eines Liquiditätsvorteils), stdRspr. 91 BFH v. 13.4.2017 – IV R 14/14 Rz. 41. 92 BFH v. 15.2.2017 – IV R 20/16 Rz. 21. 93 Preußisches Einkommensteuergesetz v. 24.6.1891, PrGS 1891, S. 149 f.; 175. 94 BVerfGE 84, 239 (270 f.) – Kapitalertragsteuer. 95 BVerfG v.  12.10.2010  – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (244  f.)  – Körperschaftsteuer; v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (231) – Pendlerpauschale. 96 Hey (Fn. 68), § 7 Rz. 31, § 8 Rz. 52.

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theorie97. Es belastet nicht das Roheinkommen, nicht den gesamten jährlichen Ertrag98, sondern das „reine Einkommen“99, also die Erwerbseinnahmen abzüglich der Erwerbungskosten (§ 9 Abs. 9 Nr. 1) sowie weiterer Abzüge, die heute den Sonderabgaben zugeordnet werden100. Außergewöhnliche Belastungen werden durch eine Tarifermäßigung berücksichtigt (§ 19). § 10 ordnet an, dass nur bei feststehendem Einkommen das tatsächlich zu erwartende Einkommen als Bemessungsgrundlage genommen werde. Bei „unbestimmten oder schwankenden Einnahmen“ sei nach Jahresdurchschnittsergebnissen der Vergangenheit zu besteuern. Schon damals ist also eine feste Erwerbsquelle, ähnlich dem Zustandstatbestand des § 2 Abs. 1 EStG, bekannt101. Die Wiederholungsfähigkeit der Vermögenszuflüsse ist Voraussetzung der Ertragsquelle. Quellen sind „alle Teile des Erwerbsvermögens, alle Arbeitstätigkeiten und Hebungsrechte, welche als maßgebende Einheiten dauernd zur Erzielung von Gütern für den Einzelnen bestimmt sind, ihm einen Ertrag abwerfen sollen“102. Das Preußische Einkommensteuergesetz 1891 besteuert ausgewählte Erwerbsquellen103, verschmilzt die Klassen- und die klassifizierte Einkommensteuer104, definiert das Einkommen mehr nach den persönlichen Verhältnissen. Die Besteuerung nach der im Einkommen ersichtlichen Leistungsfähigkeit wird durch das Reichseinkommensteuergesetz 1920105 neu konzipiert. Das REStG erweitert den Gegenstand der Besteuerung und lehnt sich an die Reinvermögenszugangs­ theorie von Schanz106 an107. Der pragmatische Weg108 der beispielhaften tatbestandli­ 97 Vgl. §§  7, 8 Preußisches EStG 1891, zur Vorgeschichte, insbesondere der Preußischen Klassen- und klassifizierten Einkommensteuer 1891 und zum Entstehen des Preußischen EStG 1891 vgl. P. Kirchhof (Fn. 74), § 2 Rz. A386 f, A392 f., A396 f. 98 Smith (Fn. 8); dagegen ausdrücklich von Hermann (Fn. 59), S. 594, dort: Es gäbe einen Roh- oder Reinertrag, nicht aber ein Roh- oder reines Einkommen. 99 So die Begründung des Preußischen EStG 1891, Begründung zum Entwurf eines Einkommensteuergesetzes vom 3.11.1890, Aktenstück 5, Preußisches Haus der Abgeordneten, Session 1890/91, S. 312, abgedr. in FinArch VII (1890), 2. Halbbd., S. 278. 100 Krit. zu den einzelnen Abzugsposten Wagner (Fn. 38), S 221 ff. 101 von Hermann (Fn. 59), S. 582; Cohn, Grundlegung der Nationalökonomie, 1885, S. 211; Ph. Wagner, Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre, Grundlegung, 2. Aufl. 1879, S. 62. 102 Fuisting (Fn. 65), S. 151. 103 Vgl. insbes. das Ostpreußische EStG von 1806, das im Kern das Grundeigentum, die Domänen, Kapitalien, Erträge aus einem Amt, Gewerbe oder Handel besteuert, auf Arbeiten von Karl Freiherr vom und zum Stein zurückgeht, v. Stein, Briefe und amtliche Schriften, bearb. von Botzenhart, neu hrsg. von Hubatsch, Bd. II/1 (1804–1807), 1959, S. 279 (280 f.) 104 Preußische Klassen- und klassifizierte Einkommensteuer 1851, Gesetz betreffend die Einführung einer Klassen- und klassifizierten Einkommensteuer v. 1.5.1851, PrGS 1851, S. 193. 105 Reichseinkommensteuergesetz v. 29.3.1920, RGBl. 1920, S. 359. 106 von Schanz (Fn. 69), 1 f. 107 So ausdrückliche Begründung zum PrEStG, Entwurf v. 29.11.1919, Verhandlung der verfassunggebenden Nationalversammlung, RT-Drucks. Bd. 340, Nr. 1624 = FinArch. Bd. 37 (1920), S. 591 (593). 108 So der Regierungsentwurf eines dritten Steuerrechtsänderungsgesetzes v.  5.8.1974, BTDrucks. 7/1470, 211.

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chen Umgrenzung des „Einkommens“ mit anschließender Verallgemeinerung (§§ 4, 5 REStG) zeichnet die heutige Unterscheidung zwischen Erwerb in der eigenen Erwerbsquelle und dem Erwerb aus fremder Erwerbsquelle109 vor. Die nachfolgende Entwicklung110 eines tradiert verfestigten, nicht theoriebestimmten Einkommensbegriffs fragt in diesem Dualismus nach der durch Erwerbshandeln erzielten Einkommenssumme, nicht nach den Voraussetzungen des Erwerbs. Es ist unerheblich, ob jemand sein Einkommen durch harte Tag- und Nachtarbeit erzielt oder leichter Hand als Börsengewinn mitgenommen hat, ob er Arbeitseinkommen oder Maschineneinkommen erzielt, ob das Einkommen in einem langen Erwerbsleben regelmäßig über die Erwerbsjahre verteilt oder nach langer Vorbildung und Berufsqualifikation auf wenige Lebensjahrzehnte zusammengedrängt wird, ob es aus eigenerwirtschafteten oder aus anstrengungslos zugewachsenen Erwerbsquellen stammt. Der Leitgedanke einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit fordert somit in der Perspektive des Betriebs als Erwerbs- und Steuerquelle ein Maß staatlicher Teilhabe am Erwerbserfolg, das sich zu einer Besteuerung der Einkünfte verdichtet. Im grundrechtsgeprägten Verfassungsstaat muss dieses Prinzip um eine Verschonung des existenznotwendigen Bedarfs ergänzt werden. 6. Das materielle Prinzip der Jahresbesteuerung Der Staat soll seinen jährlichen Haushalt durch Teilhabe an dem in demselben Jahr vom Steuerpflichtigen erzielten Überschüssen und Gewinnen finanzieren111. Das ma­ terielle Prinzip der Periodenbesteuerung steht im Gegensatz zum Prinzip des Lebens­ einkommens112, das die Gleichheit der Last auf die Lebenszeit bezieht, die einheitliche Besteuerung gleicher Lebenseinkommen fordert. Doch durch die periodische, sukzessive Besteuerung wird die regelmäßige staatliche Teilhabe an dem gegenwärtig ermöglichten Erwerbseinkommen sichergestellt, eine gleich spürbare Belastung in der Zeit gewährleistet. Im Übrigen schützt die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) gegen einen Steuerzugriff am Lebensende. Das vermeintlich Eigene würde kumulativ mit Einkommensteuer und Erbschaftsteuer belastet. Diese Kumulation würde konfiskatorisch wirken und so privatwirtschaftlich gewachsene Strukturen zerstören. Laufende Steuervorauszahlungen auf dieses Lebenseinkommen könnten diesen Strukturfehler nicht lösen, würden vielmehr Solleinkommen besteuern. 7. Rechtfertigungsgrund für Umverteilungen? a) Zugriff auf Individualeinkommen Der Einkommenserwerb wird als freiheitliche Erwerbstätigkeit (Art.  12 Abs.  1 GG) grundrechtlich gewährleistet und im Erwerbserfolg als eigene ökonomische Grund­ 109 Oben zu III. 3. 110 Vgl. im Einzelnen P. Kirchhof (Fn. 74) § 2 Rz. A432 f. 111 P. Kirchhof in ders., 16. Aufl. 2017, § 2 EStG Rz. 122. 112 Hackmann, Die Besteuerung des Lebenseinkommens, 1979, S. 44 ff; vgl. auch Mitschke, StuW 1980, 122, 252; ders., StuW 1975, 69 ff.; Wenger, FinArch, NF, Bd. 41 (1983), S. 207 (212 ff.).

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lage individueller Freiheit garantiert (Art. 14 Abs. 1 GG). Die steuerliche Teilhabe des Staates an diesem Einkommen findet ihr Maß in der Grundrechtsbetroffenheit des Einkommensbeziehers. Das Gegenkonzept einer überindividuellen Besteuerung nach einem ökonomischen Effizienzprinzip113 sucht durch den Einsatz der vorhandenen Erwerbsmittel einen größtmöglichen Erwerbserfolg (Bruttoinlandsprodukt) zu erwirtschaften114. Die Aufmerksamkeit der Ökonomie gilt vorrangig dem Betrieb, weniger dem einzelnen Menschen und seiner Familie. Sie widmet sich den Einkünften und nicht dem Einkommen. Auf dieser Grundlage fordert ein sozialethisches Postulat der Umverteilung Wohlstandskorrekturen im Interesse eines sozialen Ausgleichs115. Das Individualeinkommen wird aus dem Schutz der erworbenen Rechtsposition herausgenommen und zu einem Ausgangstatbestand gemacht, der korrigiert, nicht schonend belastet werden soll. Umverteilung beanstandet die vorgefundene Verteilung. Freiheit heißt, sich unterscheiden zu dürfen. Umverteilung will diese Differenzierungen nicht hinnehmen, verweist auf die durch Marktmechanismus und Marktmacht herbeigeführten Unterschiede, die es zu korrigieren gelte. Ein Freiheitskonzept garantiert die Chancengleichheit zu unterschiedlichem Erwerb. Ein Umverteilungskonzept wehrt sich gegen die unterschiedlichen Erwerbserfolge, die dann unterschiedliche Chancen, auch einen unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Einfluss zur Folge haben können. Verteilungstheoretiker betonen das Problem des ererbten und geschenkten Vermögens; dieses allerdings betrifft die Erbschaftsteuer. Sie verweisen auch auf die Vermögensverzerrungen durch das Gesamtsteuersystem, das insbesondere die Armen durch indirekte Steuer höher belastet; diese Ungleichheit muss allerdings bei den sie verursachenden Steuern korrigiert werden, darf nicht als Unrecht hingenommen werden, um dieses durch gegensteuerndes Recht zu mindern. Strukturpolitisch soll eine Umverteilung der Steuern extremen Verteilungskämpfen und inneren Unruhen, auch schwindender Zustimmung der Bevölkerung zum freiheitlich-demokratischen System vorbeugen. Eine verfassungsbewusste Umverteilungstheorie anerkennt zwar das Einkommen als individuell geschützte Rechtsposition, begründet die Umverteilung aber mit dem abnehmenden Grenznutzen des Geldes, will auch eine unterschiedliche Erwerbsfähigkeit dank Verdienst, Talent und Herkommen ausgleichen, unverschuldete persönliche Nachteile auffangen. Sie unterscheidet zwischen 113 Moes, Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 36; Hey (Fn. 68), § 7 Rz. 7; Schmiel, ORDO 64 (2013), S. 137; Fuest, DStJG 37 (2014), S. 65 (66). 114 Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 6. Aufl. 2010, S. 141 f.; aus juristischer Sicht: Werns­ mann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 111 f. 115 Zu Darstellung und Kritik vgl. Schneider, StuW 1989, 328 (329); Raskolnikov, 98 Cornell Law Review (2013), S.  523, 544  f.; Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 7.  Aufl.  2015, S. 198 ff.; Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 8. Aufl. 2011, S. 89 ff.; Blum­ kin/Margalioth, 25 Virginia Tax Review (2005), S. 1 ff.; Mankiw/Weinzierl/Yagan, Journal of Economic Perspectives 23 (4), 2009, S. 147–174; Kaplow/Shavell, 23 Journal of Legal Studies 23 (1994), S. 667; dies., 29 Journal of Legal Studies 29 (2000), S. 821; Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, S. 16 ff.; Osterloh-Konrad, StuW 2017, 305.

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verdientem und unverdientem Einkommen. Diese Eingriffsermächtigungen berühren die Substanz der Staatsaufgabenlehre, geben dem Staat ein großes Maß an Herrschaft im Erwerbs- und Privatbereich, dulden eine staatliche Lenkungskompetenz über Persönlichkeitsstruktur und Persönlichkeitsentwicklung, geben dem Staat Ausforschungsbefugnisse auch in der höchstpersönlichen Privatsphäre116. Die Einkommensteuer wird als Instrument der Umverteilung gerechtfertigt, wenn das Einkommen durch Teilnahme an der Bildung des Sozialprodukts erzielt worden ist und der Empfänger einen echten Zuwachs an ökonomischer Verfügungskraft ­gewonnen hat117. Allerdings wirkt der theoretische Gegensatz zwischen maßvoller Be­ steuerung des individuellen Einkommens und sozialer Umverteilung eines Sozialpro­ dukts in individueller Hand praktisch nicht so gegenläufig, wie es die individual­ rechtliche und die gesamtwirtschaftliche Betrachtungsweise auszudrücken scheinen. Beide Auffassungen begegnen sich in dem Versuch, das geltende System zu erklären, insbesondere auch in dem Ziel einer entscheidungsneutralen Besteuerung118. Doch bleibt der strukturell verschiedene Ansatz der Verteilungspolitik. Das Grundgesetz besteuert bei der Einkommensteuer als einer direkten Personensteuer ein individuel­ les Gut nach Maßgabe grundrechtlicher Verhältnismäßigkeit und Gleichheit. Die so erwirtschafteten Erträge werden – insbesondere nach dem Sozialstaatsprinzip – durch den Staatshaushalt, also in jährlicher parlamentarischen Verantwortlichkeit für jeden Ausgabetitel, verwendet. Adressat dieser Zuwendungen ist der einzelne Mensch, der Bedürftige, der Schüler und Student, der Wohnungssuchende und Betriebsgründer, der Importeur und Exporteur. Selbstverständlich werden dabei Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts berücksichtigt (Art. 109 Abs. 2 GG). Auch die ökonomische Umverteilung des Sozialprodukts durch Steuern wird in ihrer ausschließlich steuerlichen Sicht den Existenzanspruch des Bedürftigen und den Bildungsanspruch der jungen Menschen nicht unberücksichtigt, den sozialen Ausgleich für Menschen in Bedrängnis und Not nicht außer Betracht lassen. Das grundrechtlich verfestigte Eigentum im Tatbestand des „Einkommens“ ist dort aber nicht ein gesichertes Recht, sondern ein Zwischenbefund, der dem steuerlich generalisierenden Gesetzgeber die Befugnis zuweist, die Freiheit zum Erwerb und damit zu unter­ schiedlichen Erwerbserfolgen deutlich zurückzunehmen. Das „zu versteuernde Einkommen“ in §  2 EStG ist jedenfalls kein Ausgangstatbestand, an den staatliche Umverteilungsvorhaben ansetzen könnten. Eine solche Umverteilung setzt die gesetzliche Beurteilung der Erwerbsgründe voraus. Sie müsste zwischen „berechtigtem“ und „unberechtigtem“ Zuwachs unterscheiden, erarbeitetes, erwirtschaftetes und zugefallenes Einkommen differenzieren, die unterschiedlichen 116 Vgl. zu den Theorien steuerlicher Umverteilung Osterloh-Konrad, StuW 2017, 305; Wissenschaftlicher Beirat beim BMF, Einkommensungleichheit und soziale Mobilität, 2017; Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, S. 95; Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomischer rationale Steuerpolitik, 1970, S. 195; zu den Techniken des Sozialstaates Zacher in Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 28 Rz. 76 ff. 117 Neumark, Theorie und Praxis der modernen Einkommenbesteuerung, 1947, S. 34 ff. 118 Fuist, DStJG 37 (2014), S. 65 (66 ff.); Hey (Fn. 68), § 7, Rz. 7; Homburg (Fn. 115), S. 205 ff.

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Erwerbsvoraussetzungen  – Arbeitslohn, Kapitalertrag, Maschineneinkommen, Zufallsgewinn, Begabung, Vorqualifikation, Berufschance und erwerbsbedingter Lebensführungsverzicht – beurteilen. Eine Relativierung der Grundrechte, die nur am Erwerbserfolg, nicht am Erwerb ansetzen, erscheint auch ökonomisch unvertretbar, weil sie falsche Anreize für Erwerbsanstrengung, Erwerbsverantwortung und Eigentumspflege setzt. b) Progression nach Finanzbedarf, weniger nach einem Verteilungskonzept Die progressive Besteuerung anerkennt das Einkommen als individuelle Rechtsposition, sucht die Höhe der Einkommensbelastung aber durch einen progressiven Tarif sozial zu gestalten. Seit ihrer Einführung wird die Einkommensteuer als progressive Steuer gedacht119. Da die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit dem Einkommen wachse, bleibe auch nach der Besteuerung eine größere Quote als „freies“ Einkommen übrig, das zur Deckung weniger notwendiger Bedürfnisse oder zur Vermögensanlage zur Verfügung stehe120. Die progressive Steuerbelastung war in den Anfangszeiten der Einkommensteuer aus heutiger Sicht gering. Das Preußische Einkommensteuergesetz von 1891121 kannte einen Steuersatz von 0,67 bis 4 Prozent. Mehrere, mit wachsender Bemessungsgrundlage ansteigende Steuersätze sollten das fundierte Besitzeinkommen gegenüber dem Arbeitseinkommen stärker belasten. Die Progression definierte in der Geschichte der bürgerlichen Sozialreform teilweise ein höher belastbares „Luxuseinkommen“ und auch ein „überflüssiges“ Einkommen. Der Steuerprogression lag der Gedanke des mit wachsendem Einkommen verminderten Grenznutzens zugrunde122. Die Grenznutzentheorie konkretisiert die Opfertheorie, die vom Bürger bei der Steuerzahlung ein gleiches Opfer, eine gleiche Einbuße fordert, eigene Bedürfnisse zu befriedigen123. Die Opfergleichheit sei erreicht, wenn die Fähigkeit jedes Steuerpflichtigen zur Befriedigung seines Bedarfs durch die Steuer gleich gemindert sei124. Zudem schütze eine Progression den Mittelstand vor der Übermacht der reichen Fabrikanten und vermeide eine übermäßige Kapitalkumulation125. Auch die Grenznutzentheorie be119 Neumann (Fn.  38); Wagner (Fn.  101), S.  456; Frantz (Fn.  52), S.  70  ff.; Held (Fn.  19), S. 214 f.; kritisch Schäffle (Fn. 38), Besonderer Teil, S. 282 ff.; vgl. zur ideengeschichtlichen Entwicklung des Progressionsgedankens Mann (Fn. 19), S. 262 ff.; K. Schmidt, Die Steuerprogression, 1960. 120 Mann (Fn. 19), S. 457; Neumann (Fn. 38), S. 141 ff. 121 Gesetzsammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1891, S. 175 ff. 122 Vgl. hierzu Mann (Fn. 19), S. 262 f.; Haller (Fn. 63); Birk (Fn. 45). 123 Vgl. zur Opfertheorie: K. Schmidt (Fn. 119), S. 16 ff.; v. Beckerath (Fn. 45), HdbFinWiss, S. 416 (432 ff.); Birk (Fn. 45). 124 Wagner (Fn. 101), S. 44; vgl. zur Grenznutzentheorie v. Beckerath (Fn. 45), S. 449 ff.; K. Schmidt (Fn. 119), S. 17 ff.; Birk (Fn. 45), S. 25, S. 37 f. Dieser allgemeine Gedanke wird dann in verschiedenen Lehren vom gleichen absoluten Opfer, vom gleichen relativen – proportionalen – Opfer und vom gleichen marginalen Opfer (Opferminimierungsprinzip) weiterentwickelt, dazu: K. Schmidt (Fn.  119), S.  16  ff.; ders., HdbFinWiss, 3.  Aufl., Bd. II. S. 145 ff. 125 Frantz (Fn. 52), S. 70.

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misst die Steuerlast allerdings nach dem Nettoeinkommen, erkennt also einen verminderten Grenznutzen nicht beim Erwerbseinkommen, sondern nur beim Lebensführungseinkommen an. Strukturell zeigt die Progression die Grenzen steuerlicher Umverteilung. Selbst eine erdrosselnde Steuer könnte ein relativ gleiches Steueropfer nicht erreichen. Wer eine Million Euro Einkommen erzielt, verfügte bei einem Steuersatz von 90 Prozent noch über 100.000 Euro. Wer 100.000 Euro erwirtschaftet, würde bei einem Steuersatz von 40 Prozent nur 60.000 Euro übrighaben. Eine solche Grenznutzenbelastung würde die Freiheit des Erwerbs zerstören. Erwerbsanstrengung und Erwerbsgeschick begründeten nicht mehr die Chance, sich von anderen zu unterscheiden. Die Ent­ wicklung des Steuertarifs in Deutschland zeigt, dass die Steuersätze von 0,6 bis 95 %126 – kriegs- und ideologiebedingt – extrem schwanken und eher Ausdruck eines staatlichen Finanzbedarfs, weniger eines Verteilungskonzepts waren. § 32a EStG regelt zwei proportionale Tarife  – zwei hohe Regelbelastungen  – mit Entlastung der Anfangs- und mittleren Einkommen.

IV. Verfassungsrechtliche Maßstäbe Das EStG erhält unter Geltung des Grundgesetzes seine systemprägenden Maßstäbe durch die Verfassung. Das Grundgesetz hat das EStG in seinen ursprünglichen Entstehensgründen noch nicht angeleitet. Das geltende EStG muss aber der Verfassung entsprechen. Soweit im Grundgesetz Begriff und Theorien des Einkommens anklingen, wird ein Kern dieser Steuer verbindlich vorgezeichnet. 1. Der Verfassungsbegriff „Einkommen“ Art.  106 Abs.  3 Satz  1 GG verteilt das „Aufkommen der Einkommensteuer“. Diese bundesstaatliche Ertragsverteilungsregel des Art. 106 Abs. 3 GG anerkennt die Einkommensteuer als Steuerart. Wenn das Grundgesetz das „Aufkommen der Einkommensteuer“ Bund und Ländern zuweist, qualifiziert es diesen Steuerertrag als eine verfassungsrechtlich verteilungsfähige Ertragsmasse, billigt also mittelbar die Belastung des Einkommens im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Typenlehre; das Grundgesetz weist in den Art. 105 und 106 die Besteuerungsbefugnis in den dort genannten Steuertypen abschließend zu127. Doch dieser lapidare Text der bundesstaatlichen Finanzverfassung deutet den rechtfertigenden Grund der Einzelsteuern 126 Zur Entwicklung vgl. Siegel in Herrmann/Heuer/Raupach, § 32a EStG Rz. 2. 127 BVerfG v. 13.4.2017  – 2 BvL 6/13, BVerfGE 145, 171 (192) – Kernbrennstoffsteuer; BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (26) – Abfärberegelung (für die Gewerbesteuer); vgl. auch BVerfG v. 22.5.1962 – 1 BvR 301, 302/59, BVerfGE 14, 105 (111) – Branntweinmonopol; v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, 70/63, BVerfGE 21, 12 (26) – Allphasenumsatzsteuer; v. 1.4.1971 – 1 BvL 22/67, BVerfGE 31, 8 (16) – Glücksspielautomat; v. 19.3.1974 – 1 BvR 416/68, 767/68, 779/68, BVerfGE 37, 38 (45) – Umsatzsteuer bei Kleinunternehmen; v. 4.6.1975 – 2 BvR 824/74, BVerfGE 40, 56 (60 ff.) – Vergnügungssteuergesetz; v. 23.3.1976 – 2 BvL 11/75, BVerfGE 42, 38 (40 ff.) – Vergnügungssteuer für den

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nur an, setzt ihn als bekannt voraus. Der Verfassungsbegriff der „Einkommensteuer“ hat die Entwicklung des EStG bisher kaum geprägt, war bei den Systemwechseln von Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer allerdings auch noch nicht mit der heutigen Gestaltungskraft entwickelt. 2. Der freiheitliche Maßstab des Steuereingriffs a) Steuer als Preis der Freiheit Rechtsverbindliche Konturen gewinnt das „Einkommen“ durch die Grundrechte. Der steuerliche Eingriff wird durch die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG gemäßigt. Die Eigentumsgarantie schützt insbesondere gegen die klassischen Eingriffe staatlicher Polizei- und Finanzgewalt128. Dieser historische Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in Freiheit und Eigentum129 bewahrt den Steuerpflichtigen vor einem erdrosselnden Eingriff, vor einer grundlegenden Veränderung seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse durch die Steuer130. Die Eigentumsgarantie setzt voraus, dass der Staat nicht selbst das Produktiveigentum übernimmt und sich aus Staatsunternehmen finanziert, sondern sich auf die steuerliche Teilhabe am Erfolg privaten Wirtschaftens beschränkt. Die Steuer ist der Preis der Freiheit. Die steuerliche Wegnahme von Geldeigentum ist strukturell nicht Enteignung, sondern Bedingung der Ei­ gentumsgarantie. Art. 14 GG schützt deshalb nicht generell vor Steuerlasten, sondern vor einer für den Betroffenen übermäßigen Belastung der ökonomischen Grundlagen individueller Freiheit. Das sind heute nicht mehr nur das Grundeigentum und der Gewerbebetrieb, sondern insbesondere die geldwerten Forderungen des Lohns und des Sozialversicherungsanspruchs. Das Geldvermögen ist heute als Eigentum gleichermaßen geschützt wie die durch Geld erwerbbaren Sachgüter131. Gegenwärtig ist es eine der wesentlichen Kernaufgaben der Eigentumsgarantie, den staatlichen Steuerzugriff auf das Privatvermögen zu mäßigen132. Betrieb von Spielapparaten; v. 26.2.1985 – 2 BvL 14/84, BVerfGE 69, 174 (183 f.) – Getränkesteuer; v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 – Vermögensteuer. 128 O. Meyer (Fn. 36), S. 245 ff. 129 BVerfG v. 28.10.1975, 2 BvR 883/73, 2 BvR 379/74, 2 BvR 497/74, 2 BvR 526/74, BVerfGE 40, 237 (249) – Rechtsschutzverfahren im Strafvollzug, v. 21.12.1977 – 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75, BVerfGE 47, 46 (78 f.) – Sexualkundeunterricht; v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (111) – Obergrenze für Einkommen- und Gewerbesteuer. 130 So das BVerfG von Anfang an, BVerfG v. 20.7.1954 – 1 BvR 459/52, BVerfGE 4, 7 (12) – Investitionshilfe; v. 27.7.1962 – 2 BvL 15 16/61, BVerfGE 14, 221 (241) – Fremdrenten; v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/87, BVerfGE 82, 159 (190) – Absatzfonds, stdRspr. 131 BVerfGE 45, 142 (179) – Kaufpreisanspruch; BVerfGE 51, 193 (216 ff.) – Warenzeichen; BVerfGE 70, 278 (286) – Steuerlicher Erstattungsanspruch; BVerfGE 78, 58 (71) – Ausstattungsschutz; BVerfGE 79, 174 (191)  – Erbbaurecht; BVerfGE 83, 201 (209)  – Vorkaufsrecht; BVerfGE 89, 1 (6) – Mieterrecht; vgl. auch BVerfGE 70, 191 (199) – Fischereirechte; stRspr. 132 P. Kirchhof, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, 1973, S. 20 f.; ders., Besteuerung und Eigentum, VVDStRl. 39 (1981), S. 213 f.; ders., Gutachten zum 57. DJT, 1988, F S. 16 ff.; ders., Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, S.  53  f.; ders., DStJG 24 (2001), S.  14  ff.;

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Obwohl es einer Tradition deutscher Staatsphilosophie entspricht, dem Staat auch in Zeiten dringlichen Finanzbedarfs niemals den Zugriff auf mehr als die Hälfte des pri­ vaten Einkommens zu gestatten133, hat das Bundesverfassungsgericht den Schutz des Privateigentums vor Besteuerungsgewalt nur einmal in dieser Quantifizierung konkretisiert, im Übrigen aber in stetigen Stufen verstärkt134. b) Sozialpflichtigkeit, Verhältnismäßigkeit, kumulative Besteuerung Für die Besteuerung des Einkommens bietet die Eigentumsgarantie drei – theoriebildende und dogmatische – Leitgedanken: –– Die Steuer greift auf (Geld)Eigentum zu, muss sich also vor der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) rechtfertigen, findet in der Sozialpflichtigkeit des Eigentumsgebrauchs (Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG) einen speziellen Maßstab für die Belastung des Eigentumserwerbs, des Einkommens, das in Kenntnis der Steuerlasten erworben wird. Nicht wer beruflich erwerben kann (Art. 12 GG), sondern wer durch Berufstätigkeit und Kapitaleinsatz (Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG) erworben hat, verfügt über die – im EStG konkretisierte  – steuerbare finanzielle Leistungsfähigkeit. Wer kein Eigentum erworben hat, wird von den direkten Steuern verschont135.

ders., Steuern (Fn. 13), § 118 Rz. 117 ff.; ders. (Fn. 74), S. 451 (456 ff.); ders. in Maunz/ Dürig (Hrsg.), 2015, Art. 3 Abs. 1 GG Rz. 323 f.; ders. StuW 2017, 1 (5 f.); ders., StuW 2018, 1 ff. 133 Friedrich der Große, Die politischen Testamente der Hohenzollern, bearbeitet von R. Diet­ rich, 1986, S. 499; BVerfG v. 22.6.1995, 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (138) – Vermögenssteuer; zum Halbteilungsgrundsatz jüngst Mellinghoff, BB 2018, M4 (unter Hinw. auf Flu­ me: „keine höhere Belastung als 50 %“). 134 BVerfGE 4, 7 (12)  – Investitionshilfe; BVerfGE 14, 221 (241)  – Fremdrentengesetz; BVerfGE 19, 119 (129) – Couponsteuer; BVerfGE 82, 159 (190) – Absatzfonds: Die Eigentumsgarantie verbiete einen übermäßigen, erdrosselnden Eingriff, eine grundlegende Veränderung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Steuerpflichtigen; BVerfGE 87, 153 (160) – Grundfreibetrag: dem Steuerpflichtigen müsse die grundsätzliche Privatnützigkeit des Erworbenen und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis über die geschaffenen vermögenswerten Rechtspositionen verbleiben; BVerfGE 93, 121 (137) – Vermögensteuer (Besteuerung in Grenzen der Sozialpflichtigkeit, sog. „Halbteilungsgrundsatz“); BVerfGE 105, 17 (30)  – Sozialpfandbriefe: die Steuer betreffe den Steuerpflichtigen in der Ausprägung seiner persönlichen Entfaltung im vermögensrechtlichen Bereich (Art. 14 GG); BVerfGE 105, 73 (32) – Rentenbesteuerung: dürfe nicht zu einer – schrittweisen – Konfiskation führen; BVerfGE 115, 97 (115) – Einkommen- und Gewerbesteuer: die Eigentumsgarantie schütze das private Innehaben und Nutzen vermögenswerter Rechte, deshalb greife ein Steuergesetz in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie ein; BVerfG v. 18.1.2006, 2 BvR 2194/99, BVerfGE 116, 97 (112) – Obergrenze für Einkommen- und Gewerbesteuer. 135 Die Gewerbekapital- und die Lohnsummensteuer sind entfallen, die Vermögenssteuer wird seit dem 1.1.1997 wegen Verletzung des Art.  3 Abs.  1 GG nicht mehr erhoben, BVerfG v.  22.6.1995, 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (122, 148 f.) – Vermögensteuer. Das VStG wird aber weiterhin im BGBl. veröffentlicht, übt damit – gleichsam als Steuer mit dem Steuersatz 0 – die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 2 GG aus.

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–– Das aus der Eigentumsgarantie folgende Verhältnismäßigkeitsprinzip mit seinen Prinzipien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit läuft nicht leer, weil jede Steuer dem Staat allgemeine Haushaltsmittel zur Verfügung stellen würde. Zwar erscheint die Zahlung einer Geldsumme stets geeignet, den Staat mit Haushaltsmitteln auszustatten. Doch handelt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht von diesen abstrakten Ertragswirkungen, sondern von dem konkreten Ein­ griff in die Vermögensrechtsposition des individuell erworbenen Einkommens. Wie das Recht der Gefahrenabwehr einen Eingriff nicht mit Blick auf das allgemeine Sicherheitsinteresse der Rechtsgemeinschaft sondern auf den konkreten Eingriff in die Freiheit des Störers oder Nichtstörers mäßigt, der Umweltschutz rechtliche Eingriffe nicht an der allgemeinen Belastbarkeit der Industrie, sondern an der konkreten Betroffenheit des individuell in Anspruch genommenen Unternehmens misst, der medizinische Eingriff nicht durch die allgemeine Gesundheitspolitik, sondern durch die konkrete Heilungschance für den Patienten gerechtfertigt wird, so muss auch für den einkommensteuerlichen Eingriff geprüft werden, ob die individuelle Rechtsposition des im jeweiligen Veranlagungszeitraum 2017 vom Steuerpflichtigen erworbenen Einkommens unverhältnismäßig belastet wird. Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den rückwirkenden Steuergesetzen weist diesen Weg sehr anschaulich, wenn sie die „konkret verfestigte Vermögensposition“ gegen rückwirkende Veränderungen schützt136. –– Die Eigentumsgarantie mäßigt den Zugriff der Einzelsteuer, aber auch die steuerliche Gesamtbelastung. Sie schützt gegen ein Übermaß kumulativer Besteuerung137. Art. 14 GG enthält damit auch eine Steuerkonkurrenz – und eine Steuerkollisionsregel. In Zukunft wird auch die Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG das Steuerrecht deutlicher bestimmen. Diese Garantie berechtigt den Steuerpflichtigen, eine Gesellschaftsform nach seiner Wahl zu treffen. Derzeit nimmt das Steuerrecht ihm faktisch diese Wahlmöglichkeiten. Der Auftrag zu einer rechtsformneutralen Besteuerung wird dringlicher. Die Verfassungsrechtsprechung begrenzt die gesetzlichen Optionsmöglichkeiten für steuerliche, freiheitsverfremdende Gestaltungen138. Das Privatrecht macht die auf die Vertragspartner beschränkten Rechtsfolgen eines Vertrages

136 BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1 (21) – Gewinne aus privaten Grundstücksveräußerungsgeschäften; v.  10.10.2012  – 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302 (331)  – Streubesitzbeteiligung, vgl. auch BVerfG v.  7.7.2010  – 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06, BVerfGE 127, 31 (48 f.) – Fünftelregelung; v. 7.7.2010 – 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, BVerfGE 127, 61 (67 f.) – Absenkung der Beteiligungsquote. 137 BVerfGE 93, 121 (137) – Vermögensteuer. 138 BVerfGE 125, 1 (33 f.) – Körperschaftsteuerminderungspotential, Halbeinkünfteverfahren (keine Ausweichmöglichkeit durch „Schütt-aus-Leg-ein-Verfahren“ und „Leg-einHol-zurück-Verfahren); BVerfGE 138, 136 Rz. 246 ff. – Verschonung des Betriebsvermögens im Erbschaftsteuerrecht; vgl. auch BVerfGE 122, 374 (396)  – „Anlagensplitting“ gegenüber dem EEG.

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bewusst139. Das Europarecht verweigert „einer künstlichen, jeder wirtschaftlichen Realität baren Gestaltung“ die steuerliche Anerkennung140. 3. Die gleichheitsgerechte Bemessung der Einkommensteuer a) Bereichsspezifische Unterscheidungen Auch der Gleichheitssatz ist ein Maßstab für die konkrete, individuelle Einkommensteuerschuld. Vergleichsziel ist nicht die Ausstattung des Staatshaushalts, dem jeder gezahlte Euro einen gleichen Finanzwert vermittelt, sondern die Gleichbehandlung des einen individuellen Einkommens im Vergleich mit anderen Einkommen und Ver­ mögenszuwächsen. Einkommensbegriff und Einkommensrechtfertigung bieten einen Leitgedanken der Einkommensbesteuerung, der die Belastung des einen Einkommensbeziehers im Vergleich zum anderen Einkommensbezieher als sachlich begründet und einleuchtend verständlich macht. Der Gleichheitssatz fordert eine Gleichheit „vor dem Gesetz“, dem Unterscheidungs­ instrument des Rechtsstaates, das in seinen Tatbeständen „je nach Eigenart des zu ­regelnden Sachbereichs“141  – bereichsspezifisch  – Unterscheidungen zu treffen hat, die von einem „vernünftigen oder sonst wie einleuchtenden Grund“ gerechtfertigt sind142. Für die Lenkungssteuern gelten verschärfte Maßstäbe143. 139 BGH v. 24.4.1985 – IVb ZR 22/84, NJW 1985, 1833; v. 5.11.2008 – XII ZR 157/06, NJW 2009, 842 (845) – Verzicht auf künftige Unterhaltsvereinbarungen, durch die ein Sozialhilfeträger oder Familienangehöriger unterhaltspflichtig werden soll; v. 1.8.2013 – VII ZR 6/13, NJW 2013, 3167  – Schwarzarbeit, die mit dem Leistungsaustausch verbundene Steuern und Sozialabgaben vermeiden soll; auch der bereicherungsrechtliche Anspruch auf Wertersatz gegen den Besteller wird verneint, BGH v. 10.4.2014  – VII ZR 241/13, NJW 2014, 1805. 140 EuGH v. 22.5.2008 – C-162/07 – Ampliscientifica und Amplifin; v. 10.2.2006 – C-255/02 – Halifax u. a.; v. 20.6.2013  – C-653/11  – Paul Newey; v. 17.12.2015  – C-419/14  – WebMindLicenses – zu den „Steueroasen“. 141 BVerfGE 84, 239 (268) – Kapitalertragsteuer; BVerfGE 107, 127 (146) – Doppelte Haushaltsführung; BVerfGE 110, 412 (432) – Teilkindergeld; BVerfGE 112, 268 (279) – Kinderbetreuungskosten; vgl. auch BVerfGE 75, 108 (157) – Künstlersozialversicherungsgesetz; BVerfGE 78, 249 (287) – Fehlbelegungsabgabe; BVerfGE 93, 319 (348 f.) – Wasserpfennig; zur Sachgerechtigkeit insgesamt Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 82 ff. 142 Seit BVerfGE 1, 14 (52) – Südweststaat, BVerfGE 17, 319 (330) stRspr.; BVerfGE 84, 239 (268) – Kapitalertragsteuer; BVerfGE 90, 226 (239) – Kirchensteuer-Hebesatz; BVerfGE 93, 1 – Kruzifix; BVerfGE 93, 319 (348 f.) – Wasserpfennig; BVerfGE 93, 386 (397) – Auslandszuschlag; BVerfGE 110, 94 (112)  – Spekulationssteuer; BVerfGE 115, 51 (61  f.)  – Analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG; BVerfGE 123, 1 (23) – Spielgerätesteuer; die Formel wird auch im Erfordernis eines „vernünftigen, einleuchtenden Grundes“ vereinfacht BVerfGE 76, 256 (329)  – Beamtenversorgung; BVerfGE 90, 226 (239)  – Bemessung des Arbeitslosengeldes; BVerfGE 108, 52 (67  f.)  – Barunterhaltsanspruch; BVerfGE 123, 1 (23) – Spielgerätesteuer, stRspr. 143 BVerfGE 8, 51 (69) – Parteispendenurteil I (steuerliche Privilegierung von Parteispenden); jenseits der streng formalen Gleichheit: BVerfG v. 18.1.2006, 2 BvR 2194/99, BVerfGE 116,

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Der Gleichheitssatz anerkennt die Besteuerung des Einkommens grundsätzlich als sachlich richtig und einleuchtend, weil der Steuerpflichtige durch seine Erwerbstätigkeit in der ihm dienenden allgemeinen Erwerbskultur einen Einkommenszuwachs erzielt hat. Je erfolgreicher jemand diese Erwerbskultur für den individuellen Einkommenserwerb nutzen konnte (Allgemeinäquivalenz), desto mehr soll er den Steuerstaat an diesem Einkommen teilhaben lassen. b) Folgerichtigkeit, Typisierung, Steuergestaltung, Progression Praktische Bedeutung für die Besteuerung des Einkommens gewinnt der Gleichheitssatz in fünf Prinzipien: –– Die Steuer auf das Einkommen belastet nicht ein dem Eigentümer schon auf Dauer zugeordnetes, sondern das soeben erworbene Einkommen. Damit trifft das EStG eine sachlich vernünftige Unterscheidung. Die Steuer verdrängt den Steuerpflichtigen nicht aus einem ihm vertrauten Vermögensbestand, sondern formuliert Bedingungen für das Erzielen von Einkommen, auf die sich der Steuerpflichtige in Kenntnis des EStG und seiner Belastungswirkungen einlässt. Der Erwerbswillige nimmt die Einkommensteuer als eine Marktbedingung seines Erwerbshandelns hin. Diese Art des Steuerzugriffs ist freiheitsschonend und gleichheitsgerecht. –– Das Leitprinzip der Einkommensbesteuerung, die Belastung des durch Erwerbshandeln erzielten Einkommens (§ 2 EStG), bietet dem Gleichheitssatz ein gesetzes­ dirigierendes Prinzip, das im EStG folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit um­zusetzen ist144. Ausnahmen von einer einmal getroffenen Belastungsentschei-

97 (112) – Obergrenze für Einkommen- und Gewerbesteuer; BVerfGE 19, 101 (116 f.) – Zweigstellensteuer für Wareneinzelhandelsunternehmen; BVerfGE 38, 61 (101) – Leberpfennig; ähnlich schon BVerfGE 85, 264 (316)  – Parteienfinanzierung (Obergrenze); BVerfGE 93, 121 (147 f.) – Vermögensteuer; BVerfGE 105, 17 (32 f., 46 f.) – Sozialpfandbrief; vgl. auch BVerfGE 110, 274 (293 f., 298 f.) – Ökosteuer, Anreiz zum Energiesparen, aber Steuerentlastungen, um die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Unternehmen des produzierenden Gewerbes zu sichern; BVerfGE 122, 210 (244)  – Pendlerpauschale; Wernsmann in FS Paul Kirchhof, Bd. II, 2013, § 152 Rz. 21. 144 BVerfGE 84, 239 (271) – Zinsurteil; BVerfGE 99, 88 (95) – Verlustabzug; BVerfGE 99, 216 (232) – Kinderbetreuungskosten; BVerfGE 105, 73 (125) – Rentenbesteuerung; BVerfGE 107, 27 (46)  – Doppelte Haushaltsführung; ähnlich BVerfGE 116, 164 (180)  – Tarifbegrenzung gewerblicher Einkünfte; BVerfGE 120, 1 (44)  – Abfärberegelung; 121, 108 (119) – Wählervereinigung; BVerfGE 122, 210 (230 f.) – Pendlerpauschale; BVerfGE 123, 1 (19) – Jubiläumsrückstellung; BVerfGE 127, 224 (247) – Pauschalierung eines Betriebsausgabenabzugsverbots; stRspr; vgl. auch BVerfGE 23, 242 (265)  – Einheitswert von Grundstücken und Bewertung von Wertpapierbesitz; BVerfGE 93, 121 (136) – Einheitsbewertung; BVerfGE 99, 280 (290) – Aufwandsentschädigung-Ost; BVerfGE 117, 1 (31) – Erbschaftsteuer (gesonderte Bewertung); vgl. auch BVerfGE 131, 317 (362 f.) – Rauchverbot in Gaststätten; vgl. auch BVerfGE 60, 16 (40)  – Härteausgleich; BVerfGE 107, 186 (197) – Verbot, Impfstoffe an Ärzte zu verwenden; jeweils am Maßstab des Art. 12 GG.; BVerfGE 112, 368 (402  f.)  – Rentenüberleitung VI (auf Bestandsrenten); BVerfGE 125, 175 (238 f.) – Hartz IV; zur gesetzlich geschaffenen Regelungsstruktur und dem Gleich-

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dung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes145. Hat der Einkommensteuergesetzgeber sich in §  2 für eine im Einkommen greifbare Leistungsfähigkeits­ besteuerung146 entschieden, prägt dieses die Bemessungsgrundlage des EStG147. Wenn §  2 das verfassungsrechtlich vorgegebene existenzsichernde Nettoprinzip aufnimmt, und solange er das erwerbssichernde Nettoprinzip zur Leitmaxime macht, müssen die existenznotwendigen Aufwendungen nach den tatsächlichen Bedürfnissen verschont148, die Einkünfte als Nettogröße (Gewinn oder Überschuss der Erwerbseinnahmen über die Erwerbsaufwendungen) bemessen werden149. –– Typisierungen – des existenznotwendigen Mindestbedarfs150, auch Freibeträge151, Abschreibungen oder ein progressiver Tarif152 – sind in dem Auftrag des Gesetzge­ bers zu einer verallgemeinernden Regelung angelegt. Sie müssen die Wirklichkeit realitätsgerecht im Normalfall erfassen. Aus verwaltungspraktischen Gründen sind daneben Sondertypisierungen erforderlich, die dann aber „horizontal“ und „vertikal“ einen rechtfertigenden Grund in sich tragen müssen153. Ein progressiver Tarif fordert „folgerichtig gestaltete Übergänge“154 und ein diese Vorgaben tatsächlich verwirklichendes Besteuerungsverfahren155. –– Wachsende Bedeutung gewinnt der Gleichheitssatz auch für die „Steuergestal­ tung“, die mit Hilfe des Vertragsrechts die Steuerlast zu verringern sucht. Der Steuerpflichtige kann die Einkommensteuer mindern, wenn er sein Einkommen verringert oder er die fehlende Folgerichtigkeit, Formulierungsmängel, Systemheitssatz am Beispiel des Abgabenrechts Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, 2004, S. 424 f. 145 BVerfGE 99, 88 (95) – Verlustabzug; BVerfGE 105, 73 (126) – Rentenbesteuerung; BVerfGE 107, 27 (47) – Doppelte Haushaltsführung; ähnlich BVerfGE 99, 280 (290) – Aufwandsentschädigung-Ost; BVerfGE 121, 108 (119  f.)  – Wählervereinigung; BVerfGE 120, 1 (29) – Abfärberegelung; BVerfGE 122, 210 (231) – Pendlerpauschale. 146 Vgl. BVerfGE 72, 60 (89)  – Steuerfreies Existenzminimum; BVerfGE 99, 246 (260)  – Kinderexistenzminimum; BVerfGE 105, 73 (125 f.) – Rentenbesteuerung; BVerfGE 110, 414 (433) – Teilkindergeld; BVerfGE 112, 268 (279) – Kinderbetreuungskosten. 147 BVerfGE 105, 73 (112) – Rentenbesteuerung; BVerfGE 105, 17 (47) – Sozialpfandbriefe. 148 BVerfGE 66, 214 (223)  – Zwangsläufige Unterhaltsaufwendungen; BVerfGE 87, 153 (172) – Grundfreibetrag; BVerfGE 99, 216 (293) – Familienlastenausgleich; BVerfGE 112, 268 (281)  – Kinderbetreuungskosten; BVerfGE 124, 282 (295)  – Nichtanrechnung von Kindergeld auf Unterhalt. 149 BVerfGE 107, 27 (46) – Doppelte Haushaltsführung; BVerfGE 122, 210 (230) – Pendlerpauschale. 150 BVerfGE 87, 153 (169 ff.) – Grundfreibetrag. 151 BVerfGE 96, 1 (2 f.) – Weihnachtsfreibetrag. 152 BVerfGE 84, 239 (291) – Zinsurteil. 153 BVerfGE 72, 60 (89) – Steuerfreies Existenzminimum; BVerfGE 99, 246 (260) – Kinderexistenzminimum; BVerfGE 105, 73 (125  f.)  – Rentenbesteuerung; BVerfGE 110, 414 (433) – Teilkindergeld; BVerfGE 112, 268 (279) – Kinderbetreuungskosten. 154 BVerfGE 84, 239 (271) – Kapitalertragsteuer; BVerfGE 99, 246 (290) – Kinderexistenzminimum; vgl. auch BVerfGE 93, 121 (137) – Vermögensteuer (Einheitsbewertung). 155 BVerfGE 84, 153 (179) – Zinsurteil; BVerfGE 110, 94 (112) – Spekulationssteuer; Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 527 f.

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brüche oder veraltete Tatbestände steuerentlastend nutzt156. Doch hat das BVerfG gerade in jüngster Rechtsprechung klargestellt, dass Art. 3 Abs. 1 GG es nicht erlaube, materielle Belastungsunterschiede allein durch die formale Rechtsgestaltung zu rechtfertigen157. Der Gesetzgeber muss Ausweichoptionen dementsprechend möglichst ausschließen158. Die gesetzliche Steuerschuld ist grundsätzlich unvermeidlich159. Die Vertragsfreiheit gibt den Vertragspartnern nur eine Verfügungsgewalt über die ihnen zustehenden Güter, nicht über einen dem Staat zustehenden Steuerertrag160. Die Legalität der Be­steuerung – unausweichlich auch gegenüber steuerlichen Gestaltungsversuchen  – ist das verfassungsrechtliche und rechtspolitische Kernproblem des gegenwärtigen Steuerrechts. –– Das EStG trifft in seinem Belastungsgrund auf die Freiheit des Erwerbs – die Freiheit, sich von anderen unterscheiden zu dürfen –, sucht aber im progressiven Tarif eine Gleichheit im individuell tragbaren Steueropfer herzustellen. Diese Opfergleichheit wird allerdings wieder relativiert, teilweise aufgegeben, wenn die gegenwärtige Progression lediglich die Anfangs- und Mitteleinkommen verschont, dann aber sehr früh mit zwei linearen Steuersätzen zu einer linearen Steuerbelastung führt.

V. Das Erwerbseinkommen Das EStG gibt dem Verfassungspostulat freiheitlicher, dem Individuum zugemessener Besteuerung tatbestandsbestimmte Strukturen. Sein Grundtatbestand des Ein­ kommens nennt sachlich gerechtfertigte, einleuchtende Gründe für eine Besteuerung des Erwerbseinkommens. Die steuerliche Teilhabe des Staates am Erfolg privaten Wirtschaftens folgt aus der Freiheitlichkeit des Staates und seines strukturellen Verzichts auf die Finanzquelle des Staatsunternehmens. Der Zugriff auf das Einkommen rechtfertigt sich aus der Allgemeinäquivalenz dieser Steuerart. Der BFH hat den das EStG bestimmenden Kerntatbestand „Einkommen“ systematisierend und rechtsfortbildend für die Rechtspraxis in gefestigter Rechtsprechung verdeutlicht. Seine Ergebnisse lassen sich dogmatisch in vier Schritten erschließen. 156 Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 9 (11 f.); Sieker, Umgehungsgeschäft, 2001; Hensel, FG für Zitelmann, 1923, 230. 157 BVerfGE 125, 1 (33 f.) – Körperschaftsteuerminderungspotential, Halbeinkünfteverfahren (keine Ausweichmöglichkeit durch „Schütt-aus-Leg-ein-Verfahren“ und „Leg-einHol-zurück-Verfahren); BVerfGE, DStR 2015, 31 Rz. 246 ff. – Verschonung des Betriebsvermögens im Erbschaftsteuerrecht; vgl. auch BVerfGE 122, 374 (396) – „Anlagensplitting“ gegenüber dem EEG. 158 BVerfGE 101, 151 – Schwarzwaldklink (GmbH & Co. KG); BVerfGE 125, 1 (33 f.) – Körperschaftsteuerminderungspotential, Halbeinkünfteverfahren (keine Ausweichmöglichkeit durch „Schütt-aus-Leg-ein-Verfahren“ und „Leg-ein-Hol-zurück-Verfahren); BVerfGE 138, 136 – Verschonung des Betriebsvermögens im Erbschaftsteuerrecht; vgl. auch BVerfGE 122, 374 (396) – „Anlagensplitting“ gegenüber dem EEG. 159 BVerfGE 81, 228 (240) – Abzugsverbot für wirtschaftliche Vorteile abschöpfende Geldbußen; dazu Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 277 f. 160 Vgl. oben Fn. 139 und Fn. 140.

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1. Erwerbsgrundlagen §  2 Abs.  1 Satz  1 EStG regelt zunächst die Quelle der Einkünfte in den sieben Er­ werbsgrundlagen161, die dem Steuerpflichtigen jeweils den Zugang zu den allgemeinen Erwerbsmöglichkeiten erschließen. Die Erwerbsgrundlage der Land- und Forstwirtschaft, des Gewerbebetriebs, der Praxis des Selbständigen, des Arbeitsplatzes des Arbeitnehmers, des Kapitalvermögens, der vermieteten und verpachteten Sach- und Realvermögen sowie die Grundlagen sonstiger Einkünfte erfassen die Vorkehrungen des Steuerpflichtigen, die ihm als – in der Regel stetige – Erwerbsquellen dienen sollen. Dieser Zustandstatbestand vermittelt die Zugehörigkeit des Steuerpflichtigen zu der Erwerbsgemeinschaft, die ihre Infrastruktur dem steuerfinanzierten Staat verdankt, deswegen die Finanzierung des Staates zu einer Aufgabe der erfolgreich Erwerbstätigen macht. Der Zustandstatbestand bewährt sich bei den „Einkünften aus Leistungen“ (§ 22 Nr. 3 EStG). Auch dieser Tatbestand belastet nicht jede aus einer Leistung gewonnene Bereicherung, sondern nur das Vertragsentgelt, das Ergebnis einer Erwerbstätigkeit ist162, also einen Zustandstatbestand voraussetzt. Der Zustandstatbestand grenzt auch die Privatsphäre  – die private Wertschöpfung163, die „Liebhaberei“164, die häusliche Pflege165 – nach dem Maßstab ab, ob die Einrichtung bestimmt und geeignet ist, Einkünfte zu erzielen oder der privaten Lebensführung zu dienen. Der Zustandstatbestand wirkt objektivierend auf die in einigen Tatbeständen vorausgesetzte „Gewinner­ zielungsabsicht“, die nicht nach dem Willen des Steuerpflichtigen fragt, sondern den in einer Erwerbsgrundlage betätigten Willen zur Voraussetzung hat166. Die Steuer entfällt nicht, wenn der Steuerpflichtige den Verkauf von Aktien angeordnet hat, der aber versehentlich unterlassen worden ist und deshalb Aktienerträge erzielt werden. Ein unbeabsichtigter Aufwand – z.B. durch einen Betriebsunfall – bleibt steuererheblich. Entscheidend ist, was der Erwerbende dank seines Willens tatsächlich bewirkt. Das EStG fragt nicht nach dem Willen der Menschen, sondern nach dem wirtschaftlichen Erfolg167. Die Erwerbsvorkehrungen fordern eine Gewinnprognose für eine 161 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, S. 751 (765). 162 BFH v. 24.8.2006 – IX R 32/04, BStBl. II 2007, 44. 163 Anders noch die Reinvermögenszuwachstheorie, v. Schanz (Fn. 69), 1 (24). 164 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751; v. 5.4.2017 – X R 6/15, DStR 2017, 2028; zur tatsächlichen Würdigung der Sachverhalte BFH v. 20.9.2012 – IV R 43/2010, BFH/ NV 13, 408; im Einzelnen Ratschow in Blümich, § 2 EStG Rz. 121; zur Frage, ob eine KapGes. eine außerbetriebliche Sphäre, damit einen „Liebhabereibetrieb“ haben kann, vgl. BFH v. 15.2.2012 – I B 97/11, BStBl. II 2012, 697; v. 22.8.2012 – I R 9/11, BStBl. II 2013, 512. 165 BFH v. 14.9.1999 – IX R 88/95, BStBl. II 1999, 776. 166 BFH v. 9.7.2002  – IX R 47/99, DStR 2002, 1611 (1612  f.); v. 22.4.1998  – XI R 10/97, BStBl. II 1998, 663; v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751. 167 Der BFH deutet die „Gewinnerzielungsabsicht“ (§ 15 Abs. 2 Satz 3, vgl. auch § 15 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, § 4 Abs. 5 Satz 2) nach der äußerlich erkennbaren Erwerbsgerichtetheit, nicht als innere Tatsache (so auch § 8 Abs. 2 Satz 2 KStG, § 4 Abs. 1 Satz 2 KStG); BFH v. 25.6.1984  – GrS 4/82, BStBl.  II 1984, 751; v. 12.7.2014  – IX R 21/15, BFH/NV 2016, 1695 Rz. 32; v. 9.7.2002 – IX R 57/00, DStR 2002, 1609 (1610); v. 9.7.2002 – IX R

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größere Zahl von Jahren168 und eine entsprechende „Überschussprognose“169. Werden Einkünfte von Einem auf den Anderen – vom Vater auf den Sohn – übertragen, geht die Einkommensteuerpflicht nur über, wenn die Erwerbsgrundlage – das Grundstück, die Aktie, die Gesellschaftsbeteiligung – auf einen neuen Rechtsträger übertragen worden ist und dieser nunmehr die neue Erwerbsgrundlage nutzt170. 2. Erwerbsnutzung § 2 Abs. 1 Satz 1 EStG setzt neben dem Zustandstatbestand der Erwerbsgrundlage den Handlungstatbestand der Erwerbsnutzung voraus. Steuerpflichtig sind die Einkünfte, die der Steuerpflichtige „aus“ einer der sieben Erwerbsgrundlagen „erzielt“. Dieser Handlungstatbestand der Erwerbsnutzung bestimmt das Steuersubjekt, dem die Erwerbseinnahmen zuzurechnen sind, ordnet den Aufwand tatbestandlich zu, bestimmt die zeitliche (§ 2 Abs. 7 EStG) und räumliche Zuordnung der Einkünfte (§ 1 EStG, § 1 KStG, § 8 AO), grenzt für das Handeln des Steuerpflichtigen auch die Er­ werbssphäre von der Privatsphäre – nach dem typischen Tätigkeitsbild – ab. Der Nutzungstatbestand der Erwerbshandlung meint nicht notwendig die Marktteilhabe. Die Entnahmen aus der Erwerbsgrundlage (Zustandstatbestand) sind Erwerbshandlungen, stehen aber außerhalb des Marktes. Die Ernte des Landwirts ist bereits eine Erwerbshandlung, mag er die Ernte verkaufen oder nicht. Andererseits beruhen Schadensersatzleistungen für private Schäden171 oder Ehrenpreise, die für das Lebenswerk oder eine bestimmte Grundhaltung – nicht für eine einzelne im Wettbewerb ausgelobte Leistung  – verliehen werden172, nicht auf einer Erwerbshandlung. Einen Grenzfall bildet das Preisgeld für die erfolgreiche Teilnahme eines Kandidaten einer Fernsehshow, der sich zwar aktiv gestaltend seinen Preis durch Wissen und Geschick verdient, nicht aber eine eigene Erwerbsgrundlage für einen (einmaligen) Erwerb geschaffen hat173. Erzielen mehrere Personen gemeinsam Einkünfte aus einer Erwerbsgrundlage, werden ihnen die Einkünfte je nach ihrem Anteil an der Leistungserbringung zugerechnet; maßgeblich ist, wer in welcher Intensität die Erwerbsgrundlage genutzt hat174. 47/99, DStR 2002, 1611 (1613); v. 6.11.2001  – IX R 97/00, BStBl.  II 2002, 726; v. 12.9.2002 – IV R 60/01, DStR 2002, 2161 (2162). 168 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751. 169 BFH v. 12.7.2014 – IX R 21/1, BFH/NV 2016, 1695 Rz. 32; bisher: Totalgewinn, Totalüberschuss, BFH v. 9.7.2002 – IX R 57/00, DStR 2002, 1611 (1613); v. 12.9.2002 – IV R 60/01, DStR 2002, 2161 (2162). 170 Vgl. BFH v. 16.5.2001 – I R 76/99, BStBl. II 2002, 487 (490); v. 13.5.1980 – VIII R 128/78, BStBl. II 1981, 299. 171 BFH v. 25.10.1994 – VIII R 79/91, BStBl. II 1995, 121 172 Vgl. BFH v. 28.11.2007 – IX R 39/06, BStBl. II 2008, 469 = FR 2008, 637 m. Anm. Bode; v. 9.5.1985 – IV R 184/82, BStBl. II 1985, 427. f. 173 Für eine Steuerbarkeit BFH v. 28.11.2007 – IX R 39/06, BStBl. II 2008, 469; v. 24.4.2012 – IX R 6/10, BStBl. II 2012, 581. 174 Vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG; zur Ehe vgl. § 26, 26b EStG und BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 1335/78, 1 BvR 1104/79, 1 BvR 363/80, BVerfGE 61, 319 (347) – Ehegattensplitting.

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Der Handlungstatbestand der Erwerbsnutzung ist auch das Leitprinzip für die einkommensteuerrechtliche Beurteilung des Drittaufwandes. Aufwand ist der Einsatz eigener Mittel für die eigene Erwerbsgrundlage. Ein Drittaufwand kann steuerrechtlich grundsätzlich nicht geltend gemacht werden175. Dieser Aufwand betrifft nicht die eigene Erwerbsgrundlage. Etwas Anderes gilt, wenn der Steuerpflichtige Erwerbsaufwendungen zwar einem Dritten – z.B. seinem Ehegatten – leistet, diese Leistung jedoch dem Erwerb des Aufwendenden in seiner Erwerbsgrundlage dient176. 3. Erwerbserfolg Dritte Voraussetzung eines steuerbaren Einkommens ist der Erfolgstatbestand – der Gewinn oder Überschuss (§ 2 Abs. 1, 2 EStG). Wer nicht erworben hat, bleibt steuerfrei. Die Einkommensteuer vermittelt dem Staat eine Teilhabe am Erfolg individuellen Erwerbstrebens durch Nutzung einer Erwerbsgrundlage. Schafft sich der Steuerpflichtige eine private Handlungsmöglichkeit, die nicht auf Erwerb angelegt ist, die in der Regel der Gestaltung des persönlichen Lebens dient177, so sind die daraus hervorgehenden Einnahmen nicht steuerbar. Die Rechtsprechung fordert für die tatbestandliche Unterscheidung zwischen Erwerbsvorkehrungen und Privatvorkehrungen zu Recht weiterhin die Prognose einer auf Dauer angelegten Erwerbstätigkeit178, prüft insbesondere, ob eine verlustbringende Tätigkeit typischerweise bestimmt und geeignet ist, persönliche Neigungen zu befriedigen oder wirtschaftliche Vorteile außerhalb der Erwerbssphäre zu erlangen179. Auch dieser Erfolgstatbestand definiert 175 BFH v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782 (784 f.); v. 23.8.1999 – GrS 5/97, BStBl. II 1999, 774 (776); v. 23.8.1999 – GrS 1/97, BStBl. II 1999, 778 (779 ff.); v. 23.8.1999 – GrS 3/97, BStBl. II 1999, 787 (788); v. 15.1.2008 – IX R 45/07, DStR 2008, 495; v. 25.6.2008 – X R 36/05, DStR 2008, 2204. 176 BFH v. 15.1.2008  – IX R 45/07, DStR 2008, 495; v. 25.6.2008  – X R 36/05, DStR 2008, 2204. 177 Der Begriff „Liebhaberei“ ist etwas unglücklich, bezeichnet aber den richtigen Gedanken, vgl. BFH v. 23.10.1992 – VI 59/91, BStBl. II 1993, 303 (304); v. 17.5.2000 – X R 87/98, BStBl. II 2000, 667 (670 f.). 178 BFH v. 15.12.1999 – X R 23/95, BStBl. II 2000, 267 (270); v. 9.7.2002 – IX R 57/00, DStR 2002, 1609 (1610); v. 12.9.2002 – IV R 60/01, DStR 2002, 2161 (2162). 179 Zur neueren Rechtsprechung vgl. BFH v. 25.11.2004 – IV R 8/03, BFH/NV 2005, 854; v. 14.7.2003 – IV B 81/01, BStBl. II 2003, 804; v. 24.8.2000 – IV R 46/99, BStBl. II 2000 – Weinbaubetrieb; v. 7.11.2001  – I R 14/01, DStR 2002, 667  – Turnierteilnahme; v. 27.3.2001 – X B 60/00, BFH/NV 2001, 1381 – Erfindertätigkeit; v. 30.1.1996 – IX R 80/90, BStBl. II 1997 – Hausgarten; v. 16.4.2002 – X B 102/01, BFH/NV 2002, 1045 – Solarium; v. 31.5.2001 – IV R 81/99, BStBl. II 2002, 276 – Steuerberater; v. 15.7.1996 – IV R 70/95, BFH/NV 1997, 115 – Universitätsassistent; v. 27.1.2000 – IV R 33/99, BStBl. II 2000, 227 – Pferdezucht; v. 2.8.1994 – VIII R 55/93, BFH/NV 1995, 866 – Tennishalle; v. 29.8.2002 – V R 8/02, DStR 2002, 1949; v. 15.2.2005 – IX R 53/03, BFH/NV 2005, 1059 – Ferienwohnung; v. 10.4.2002  – III B 73/01, BFH/NV 2002, 1025  – Bootsvercharterung; v. 23.10.1992 – VI R 59/91, BStBl. II 1993, 303; v. 27.12.2004 – IV B 16/03, BFH/NV 2005, 1078 – Sport; v. 26.3.1993 – III S 42/92, BStBl. II 1993, 723; v. 1.3.2005 – IX B 170/04, BFH/NV 1005, 1066 – Segelyacht; v. 2.7.1993 – III R 70/92, BStBl. II 1994, 102 – Segelsportservice; v. 13.4.2000  – XI 17/99, XI B 18/99, XI B 19/99, BFH/NV 2000, 1200  –

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den rechtfertigenden Grund der Einkommensteuer, der Teilhabe des Staates am Erfolg individuellen Erwerbshandelns. 4. Lebensführungseinkommen Der Mensch erzielt sein Einkommen, um daraus die ökonomische Grundlage für seine individuelle Lebensgestaltung zu gewinnen. Das Freiheitsprinzip besagt, dass jeder sich und seine Familie selbst ernährt, seine Lebensbedingungen selbst gestaltet und finanziert, seine wirtschaftliche Lebensgrundlage selbst verantwortet. Deshalb muss das für den existenznotwendigen Bedarf des Steuerpflichtigen und seiner Familie benötigte Lebensführungseinkommen von der Einkommensteuer verschont werden180. Der Staat darf dem Steuerpflichtigen nicht das nehmen, was er sich für eine menschenwürdige Existenz erworben hat, auch nicht das entziehen, was er ihm nach den Maßstäben der Sozialhilfe geben müsste. Eine Typisierung des Lebensbedarfs nach dem Lebensnotwendigen ist verfassungsrechtlich vertretbar und im System des EStG geboten. Die allgemeine Handlungsfreiheit in Verbindung mit der Garantie der Menschenwürde fordert ein Belassen des existenznotwendigen Einkommens181. Das EStG beschränkt die Steuerverschonung auf das Existenznotwendige. Die Lebensgestaltung im Übrigen ist aus versteuertem Einkommen zu finanzieren. Andernfalls entfiele die wesentliche Besteuerungsgrundlage. Der BFH deutet somit den Kerntatbestand des EStG, das Einkommen, als die Erwerbseinnahmen, die der Steuerpflichtige jährlich durch Nutzung einer Erwerbsgrundlage erzielt, vermindert um die erwerbssichernden Aufwendungen und den existenzsichernden Bedarf. Durch diese gefestigte Rechtsprechung werden Tatbestände des Gesetzes begradigt, das Recht verstetigt und der Rechtsanwender inspiriert. Das oberste Steuergericht entwickelt den Belastungsgrund des EStG gegenüber einer sich ändernden Gesetzgebung folgerichtig, beantwortet gegenwärtige Anfragen an das Gesetz entwicklungsoffen und rechtfertigt so die Einkommensteuer.

Schriftsteller; v. 14.9.1994  – IX R 71/93, BStBl.  II 1995, 116  – Mietkaufmodell; v. 26.1.2000  – IX R 77/98, BFH/NV 2000, 1081  – Motorboot; v. 23.8.2000  – X R 106/97, BFH/NV 2001, 160 – Versicherungsagentur; v. 12.9.2002 – IV R 60/01, DStR 2002, 2161 – Architekt; v. 26.2.2004 – IV R 43/02, BStBl. II 2004, 455 – Arztpraxis; v. 20.1.2005 – IV R 6/03, BFH/NV 2005, 1522 – Forstbetrieb. 180 BVerfGE 82, 60 (85) – Steuerfreies Existenzminimum; 87, 153 (169) – Grundfreibetrag; 99, 216 (232 f.) – Familienlastenausgleich II; 107, 27 (48) – Doppelte Haushaltsführung. 181 BVerfGE 82, 60 (85) – Steuerfreies Existenzminimum; 125, 175 (222 ff.) – Hartz IV.

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4. Teil Materielles Steuerrecht A. II. 3.

Einkunftsartenabgrenzung Von Rainer Wernsmann

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Notwendigkeit und Bedeutung der Einkunftsartenabgrenzung 1. Steuerverstrickung des Vermögens 2. Auslösung weiterer Ertragsteuern (Gewerbesteuer) 3. Einkünfteermittlung 4. Unterschiedliche Steuersätze 5. Spezifische Freibeträge und Freigrenzen sowie Steuerfreiheit 6. Erhebungsverfahren 7. Verlustverrechnung III. Verfassungsrechtliche Anforderungen an Ungleichbehandlungen je nach Einkunftsart IV. Kriterien und Methoden der Einkunftsartenabgrenzung 1. Getrennte oder einheitliche Betrachtung?

2. Typischerweise Abgrenzung der Einkunftsarten durch Typusbegriffe a) Beispiel: Abgrenzung privater Vermögensverwaltung vom Gewerbebetrieb b) Beispiel: Abgrenzung nichtselbständiger Arbeit von selbständiger Tätigkeit sowie Kapitalvermögen c) Allgemeine Problematik von Typusbegriffen 3. Ungeschriebene Tatbestandsmerkmale einzelner Einkunftsarten aufgrund systematischer Gesetzesauslegung 4. Fiktionen 5. Subsidiaritätsregeln bei Vorliegen der Voraussetzungen mehrerer Einkunftsarten V. Rechtspolitische Bewertung

I. Einleitung Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 EStG unterliegen der Einkommensteuer Einkünfte aus sieben dort explizit benannten Einkunftsarten, die der Steuerpflichtige während seiner unbeschränkten Einkommensteuerpflicht oder als inländische Einkünfte (§  49 EStG) während seiner beschränkten Einkommensteuerpflicht erzielt. Zu welcher Einkunftsart die Einkünfte im einzelnen Fall gehören, bestimmt sich nach den §§ 13 bis 24, wie § 2 Abs. 1 Satz 2 EStG ausdrücklich normiert. Das bedeutet: Unterfällt ein Vermögenszufluss keiner der sieben in § 2 Abs. 1 Satz 1 EStG genannten Einkunftsarten, ist dieser nicht steuerbar, wird also nicht der Einkommensteuer unterworfen.

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Unterfällt er einer der sieben Einkunftsarten, ist er steuerbar1. Ist er steuerbar, knüpfen sich an die jeweilige Zuordnung zu einer der sieben Einkunftsarten teils sehr unterschiedliche Rechtsfolgen. Im Folgenden werden zunächst die wichtigsten unterschiedlichen Rechtsfolgen der Zuordnung zur jeweiligen Einkunftsart nach geltendem Recht im Einzelnen dargestellt (II.). Sodann wird die verfassungsrechtliche Frage untersucht, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber differenzierende Rechtsfolgen im Hinblick auf den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vorsehen darf (III.). Anschließend werden die Abgrenzungskriterien und -methoden, die das geltende Recht bereit hält, behandelt (IV.). Schließlich wird rechtspolitisch diskutiert, ob eine Reduzierung (Zusammenfassung) der Einkunftsarten und ggf. auch eine Neubestimmung des steuerbaren Bereichs der Einkommensteuer sinnvoll erscheinen (V.).

II. Notwendigkeit und Bedeutung der Einkunftsartenabgrenzung Die Notwendigkeit der Zuordnung von Zuflüssen zu einer bestimmten Einkunftsart folgt im geltenden Recht aus den zahlreichen unterschiedlichen Rechtsfolgen, die sich daran knüpfen2. Im Folgenden werden zunächst einige wichtige Unterschiede (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) benannt. 1. Steuerverstrickung des Vermögens Bei den sog. Gewinneinkunftsarten (Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb sowie aus selbständiger Arbeit, § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1–3 EStG) ist das zur Einkünfteerzielung eingesetzte Vermögen (Betriebsvermögen) in jedem Fall steuerverstrickt, d.h. realisierte Wertsteigerungen unterliegen in jedem Fall der Besteuerung. Bei den Nichtgewinneinkunftsarten ist das eingesetzte Vermögen (sowie andere Wirtschaftsgüter des Privatvermögens) nur steuerverstrickt, wenn die weiteren Voraussetzungen der §§ 17, 20 Abs. 2 oder 23 Abs. 1 EStG vorliegen, d.h. wenn Anteile an Kapitalgesellschaften (§§ 17, 20 Abs. 2 EStG) oder andere Wirtschaftsgüter innerhalb bestimmter Mindesthaltefristen veräußert werden (§ 23 EStG); nur in diesen Fällen unterliegen (realisierte) Wertsteigerungen des Privatvermögens ausnahmsweise der Einkommensteuer. 2. Auslösung weiterer Ertragsteuern (Gewerbesteuer) Innerhalb der Gewinneinkunftsarten wird die Gewerbesteuer als zusätzliche Ertragsteuer ausgelöst, wenn Einkünfte aus Gewerbebetrieb vorliegen (vgl. §  7 GewStG), 1 Eisgruber in Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 169 Rz. 11, 16, 20 spricht von einem „pragmatischen, segmentierenden“ Ansatz und bestreitet, dass bei zahlreichen unterschiedlichen Ansätzen im EStG eine bestimmte Regelung nicht folgerichtig sein könne. 2 Vgl. auch v. Beckerath in Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts II, 2013, § 171 Rz. 2 ff.

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wobei § 35 EStG mittlerweile eine pauschalierte Anrechnung auf die Einkommensteuer erlaubt, die Zusatzbelastung also gemindert wird. 3. Einkünfteermittlung Auch die Einkünfteermittlung folgt unterschiedlichen Regeln je nach Einkunftsart (§ 2 Abs. 2 EStG). Innerhalb der Gewinneinkunftsarten ist weiter zu differenzieren nach Buchführungspflicht oder freiwilliger Buchführung, §§ 140, 141 AO. 4. Unterschiedliche Steuersätze Besonders eklatant durchbrochen wird das Prinzip der sog. synthetischen Einkommensteuer, wenn unterschiedliche Steuersätze auf Einkünfte aus unterschiedlichen Einkunftsarten angewendet werden. Dies ist derzeit bei Einkünften aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG) der Fall, die gem. § 32d EStG einem proportionalen Steuersatz von 25  % unterworfen werden (mit Veranlagungsoption/Günstigerprüfung), während für die übrigen Einkunftsarten der reguläre progressive Steuersatz gilt (§  32a EStG). 5. Spezifische Freibeträge und Freigrenzen sowie Steuerfreiheit Auf die Höhe der Steuerschuld wirken sich auch unterschiedliche Freibeträge und Freigrenzen aus. Während Freibeträge einen bestimmten Betrag in der Bemessungsgrundlage unberücksichtigt lassen („steuerfrei, soweit …“), stellen Freigrenzen einen bestimmten Betrag vollständig steuerfrei, wenn ein bestimmter Höchstbetrag nicht überschritten wird (Bsp.: § 22 Nr. 3 Satz 2, § 23 Abs. 3 Satz 5 EStG). Das Alles-oderNichts-Prinzip, das hinter der Freigrenze steht, lässt sich nur durch den Vereinfachungszweck rechtfertigen, wenn Verwaltungsaufwand und Steuerertrag in Bagatell-Fällen außer Verhältnis stehen würden3. Bei den Freibeträgen lassen sich einerseits Fiskalzweckbefreiungen, die einer Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit dienen, sowie andererseits Verein­ fachungsnormen (Typisierungen, insbesondere Pauschalierungen als Typisierungen der rechnerischen Grundlagen der Besteuerung4) und Lenkungsnormen unterscheiden5. Während Fiskalzweckbefreiungen (z.B. Kinderfreibeträge) einkunftsartenunabhängig sind und eine Besteuerung nach dem Belastungsgrund der Einkommensteuer (­finanzielle Leistungsfähigkeit) ermöglichen sollen, finden sich hinsichtlich der Vereinfachungsnormen nach Einkunftsarten differenzierende Freibeträge (z.B. Werbungskostenpauschbeträge nach § 9a EStG oder auf Arbeitnehmer begrenzte Be-

3 Vgl. z.B. Wernsmann in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 23 EStG Rz. E 3 f. 4 Vgl. nur Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 3 Rz. 147. 5 Vgl. nur Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S.  77  f. m.w.N.

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freiungen der Trinkgelder nach § 3 Nr. 51 EStG6) und auch im Übrigen einkunftsartenspezifische Freibeträge (z.B. wiederum auf Arbeitnehmer begrenzte Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit nach § 3b EStG7). 6. Erhebungsverfahren Auch das Erhebungsverfahren gestaltet sich unterschiedlich: Für Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und aus Kapitalvermögen gelten die Lohnsteuer (§§ 38 ff. EStG) bzw. die Kapitalertragsteuer (§§ 43 ff. EStG), die eine besondere Erhebungsform der Einkommensteuer darstellen: Hier wird die Steuer gleich an der Quelle einbehalten und an das Finanzamt abgeführt (§§ 38 Abs. 3, 41a Abs. 1 bzw. 44 EStG), während bei den übrigen Einkunftsarten Vorauszahlungen zu leisten sind (§ 37 EStG). 7. Verlustverrechnung Besonderheiten ergeben sich auch bei der Verlustverrechnung: Bei bestimmten Einkunftsarten wird die Verlustverrechnung (Verlustausgleich nach § 2 Abs. 3 EStG und Verlustabzug nach § 10d EStG) begrenzt – entweder auf eine Verlustverrechnung innerhalb derselben Einkunftsart (z.B. § 20 Abs. 6 Sätze 1, 2 EStG) oder sogar auf bestimmte Unterfälle innerhalb derselben Einkunftsart (z.B. § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG: Verluste aus der Veräußerung von Aktien)8. Das geltende Einkommensteuerrecht kennt Beschränkungen der Verlustverrechnung bei gewerblicher Tierzucht und Tierhaltung (§ 15 Abs. 4 EStG), Termingeschäften (§ 15 Abs. 4 Sätze 3–5 EStG), Kommanditbeteiligungen und Steuerstundungsmodellen (§§ 15a, 15b EStG), Einkünften aus Kapitalvermögen generell (§ 20 Abs. 6 Sätze 1, 2 EStG) und verschärft bei solchen aus der Veräußerung von Aktien (§ 20 Abs. 6 Satz 4 EStG), Einkünften aus sonstigen Leistungen (§ 22 Nr. 3 Satz 3 EStG), privaten Veräußerungsgeschäften (§ 23 Abs. 3 Sätze 7, 8 EStG) und bei Einkünften beschränkt Steuerpflichtiger (§ 50 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 EStG).

III. Verfassungsrechtliche Anforderungen an Ungleichbehandlungen je nach Einkunftsart Der allgemeine Gleichheitssatz ist der praktisch wichtigste verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab für Steuergesetze. Das BVerfG sieht in der Ausrichtung der Besteuerung an der finanziellen Leistungsfähigkeit – insbesondere im Einkommensteuerrecht – eine bereichsspezifische Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes9. Gleich Leistungsfähige müssen grundsätzlich gleich besteuert werden (Gebot der horizontalen Gleichheit) und ungleich Leistungsfähige dem Gerechtigkeitsgebot ent6 Vgl. dazu BFH v. 10.3.2015 – VI R 6/14, BStBl. II 2015, 767 (768) – zur Nichtanwendbarkeit des § 3 Nr. 51 EStG auf Notare. 7 Vgl. dazu nur v. Beckerath in Kirchhof, 16. Aufl. 2017, § 3b EStG Rz. 2. 8 Vgl. dazu Thiemann, Verluste im Steuerrecht, 2018. 9 BVerfGE 6, 55 (70); st. Rspr., zuletzt BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11 Rz. 99.

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sprechend ungleich10. Knüpfen sich also an den Zuwachs an finanzieller Leistungsfähigkeit in gleicher Höhe unterschiedliche Rechtsfolgen je nach Zuordnung zu einer bestimmten Einkunftsart, so bedarf dies vor dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Allein die systematische Unterscheidung der Einkunftsarten kann eine steuerliche Ungleichbehandlung im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG ebenfalls nicht rechtfertigen11. Die Unterscheidungen des Gesetzgebers bedürfen also einer anderweitigen, besonderen sachlichen Rechtfertigung. Der Gesetzgeber hat einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Findung des Steuergegenstands und der Bestimmung des Steuersatzes12. Steuerwürdigkeitsentscheidungen beruhen, wie das BVerfG betont, wesentlich auf politischen Entscheidungen, die der Gesetzgeber zu treffen hat13. Die einmal getroffene Belastungsentscheidung hat er jedoch folgerichtig umzusetzen14. Ausnahmen bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes, der die Ungleichbehandlung nach Art und Ausmaß zu rechtfertigen vermag15. Während der rein fiskalische Zweck der staatlichen Einnahmeerzielung Erhöhungen des Steuertarifs oder die Einführung neuer Steuern durchaus zu rechtfertigen vermag16, kommt er für Durchbrechungen des Folgerichtigkeitsgebots bei der Umsetzung der einmal getroffenen Belastungsentscheidung nicht in Betracht17. Das BVerfG unterscheidet zudem hinsichtlich der Bindungsintensität des Gleichheitssatzes: Je mehr sich personenbezogene Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern und je weniger diese für den Einzelnen verfügbar sind, umso strengeren Rechtfertigungsanforderungen unterliegt der Gesetzgeber hinsichtlich der von ihm vorgenommenen Ungleichbehandlungen18. Bei Steuervergünstigungen differenziert das BVerfG: Wenn und soweit der Steuerpflichtige den Erhalt der Vergünstigung durch sein Verhalten beeinflussen kann, kommt dem Gesetzgeber bei Einführung und Ausgestaltung der Steuervergünsti10 BVerfGE 82, 60 (89); st. Rspr. Zuletzt BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11 Rz. 99. 11 BVerfGE 84, 348 (363 f.); 96, 1 (6); 99, 88 (95); 105, 73 (126); 116, 164 (181); st.Rspr. Zum Vorliegen eines entsprechenden rechtfertigenden Grundes siehe etwa BVerfGE 141, 1 (43 Rz. 102). 12 BVerfGE 135, 126 (145 Rz. 56); 138, 136 (181 Rz. 123) m.w.N.; st. Rspr. 13 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11 Rz. 102. 14 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11 Rz. 104. 15 BVerfGE 141, 1 (40 Rz. 96). 16 Wernsmann (Fn. 5), S. 242 ff.; tendenziell anders BVerfGE 110, 274 (296 f., 293). 17 BVerfGE 122, 210 (233); 141, 1 (41 Rz. 96); BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11 Rz. 104.; allgemeine Auffassung auch in der Literatur, s. nur z.B. Wernsmann in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 4 AO Rz. 447. Auch die Abschaffung einer Steuervergünstigung kann aus verfassungsrechtlicher Sicht aus fiskalischen Gründen zur Erzielung von Mehreinnahmen erfolgen, da es insoweit durch die Abschaffung der Steuervergünstigung nicht um eine Ungleichbehandlung, sondern um eine Rückkehr zur Gleichbehandlung geht, die als solche vor Art. 3 Abs. 1 GG nicht der Rechtfertigung bedarf. Vgl. BVerfGE 81, 108 (118 f.); 105, 17 ( 46 f.). 18 Grdl. BVerfGE 88, 87 (96); s. ferner etwa BVerfGE 138, 136 (180  f. Rz.  122); BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11 Rz. 105; st. Rspr.

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gung regelmäßig ein weiter Gestaltungsspielraum zu19. Allerdings steigen die Anforderungen an den Grund, der die Ungleichbehandlung rechtfertigen soll, mit Umfang und Ausmaß der Abweichung20. Wenn ein Steuergesetz Gestaltungen zulässt, mit denen Steuerentlastungen erzielt werden können, die es nicht bezweckt und die gleichheitsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind, so ist dies nach neuerer Rechtsprechung des BVerfG verfassungswidrig21. Zuvor hatte das BVerfG allerdings auch ausgeführt, dass Ausweichoptionen des Steuerpflichtigen das Gewicht und die Intensität der Ungleichbehandlung für den Steuerpflichtigen mindern könnten: Die Gestaltungsmöglichkeiten der Steuerpflichtigen könne einer Regelung ihre übermäßige Belastung nehmen22. Diese Argumentation erscheint freilich angreifbar. Denn wenn die Steuerlast trotz vergleichbarer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gestaltbar wird, die Steuer also nicht mehr unausweichlich ist23, so gefährdet das die steuerliche Lastengleichheit und die Steuer droht zur „Dummensteuer“ zu werden, die nur noch die steuerlich nicht oder schlecht beratenen Steuerpflichtigen entrichten müssen. In diese Richtung geht es auch, wenn das BVerfG das Ziel der Bekämpfung von legalen, jedoch unerwünschten, dem Gesetzeszweck zuwiderlaufenden Steuergestaltungen als legitim qualifiziert, der grundsätzlich Ungleichbehandlungen im Sinne von Art.  3 Abs.  1 GG rechtfertigen kann24. Das BVerfG hält es also für legitim, unerwünschte beeinflussbare Ausweichoptionen zu beseitigen.

IV. Kriterien und Methoden der Einkunftsartenabgrenzung Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 EStG bestimmt sich nach §§ 13 bis 24, zu welcher Einkunftsart die Einkünfte im einzelnen Fall gehören. Hinsichtlich der Abgrenzung der Einkunftsarten ist zu klären, ob für gemischte Tätigkeiten eine getrennte oder eine einheitliche Betrachtung zu erfolgen hat (1.), ob die Zuordnung von Vermögenszuflüssen zu einer Einkunftsart (oder mehreren Einkunftsarten) über sog. Klassen- oder 19 BVerfGE 110, 274 (299); 117, 1 (32); 135, 126 (151 Rz. 80). 20 BVerfGE 138, 136 (181 ff. Rz. 123, 126 f.). 21 BVerfGE 138, 136 (Ls. 5 und S. 235 f. Rz. 254). 22 BVerfGE 120, 1 (51, 52 f.). Ähnlich BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11 Rz. 120: Dort diskutiert das BVerfG, ob das vom Gesetzgeber gewählte Differenzierungskriterium für die betroffene Kapitalgesellschaft „unverfügbar“ sei (und deshalb eine „eher strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung“ angezeigt sei) oder ob die nachteilige Rechtsfolge durch entsprechende gesellschaftsvertragliche Regelungen vermieden werden könne und ob es auf die rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Kapitalgesellschaft oder der hinter ihr stehenden Anteilseigner ankomme. 23 BVerfGE 84, 239 (269); 96, 1 (6); 101, 297 (309) sieht durch den Gleichheitssatz die Regelung eines möglichst unausweichlichen Belastungsgrundes gefordert. Ebenso Wernsmann (Fn. 5), S. 16, 139 m.w.N. 24 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, Rz. 126 unter Bezugnahme auf BVerfGE 13, 290 (316); 26, 321 (326); 99, 88 (97).

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Typusbegriffe vorzunehmen ist (2.), ob aus der Existenz bestimmter Einkunftsarten ggf. ungeschriebene negative Tatbestandsmerkmale bei anderen Einkunftsarten anzunehmen sind (3.), ob das Gesetz Fiktionen hinsichtlich der Einkünftequalifikation vorsieht (4.) und ob bei Konkurrenzen (geschriebene oder systematisch herzuleitende) Subsidiaritätsregeln bestehen (5.). Teils enthält das EStG ausdrückliche Subsidiaritätstatbestände (insbes. §§ 20 Abs. 8, 21 Abs. 3, 22 Nr. 1 Satz 1, Nr. 3, 23 Abs. 2 EStG; auch § 15 Abs. 2 EStG hinsichtlich der Negativtatbestände der Land- und Forstwirtschaft und selbstständiger Arbeit), teils folgt aus der Existenz bestimmter Normen, dass bestimmte Tatbestände aus dem Anwendungsbereich anderer Einkunftsarten ausgegrenzt werden müssen. Dies gilt etwa für das ungeschriebene Merkmal der fehlenden „privaten Vermögens­ verwaltung“ als Voraussetzung des § 15 Abs. 2 EStG, da andere Normen sonst ohne Anwendungsbereich wären oder kaum einen solchen hätten (im Falle der privaten Vermögensverwaltung: § 23 EStG). Zum Teil arbeitet das Gesetz mit Fiktionen, insbesondere erklärt § 8 Abs. 2 KStG alle Einkünfte, die eine Kapitalgesellschaft erzielt, und § 15 Abs. 3 EStG alle dort genannten Einkünfte von Personengesellschaftern zu solchen aus Gewerbebetrieb. 1. Getrennte oder einheitliche Betrachtung? Übt ein einzelner Steuerpflichtiger eine gemischte Tätigkeit aus, sind die unterschiedlichen (z.B. freiberuflichen und gewerblichen) Einkünfte grundsätzlich getrennt zu ermitteln, soweit dies nach der Verkehrsauffassung möglich ist25. Eine einheitliche Zuordnung zu einer Einkunftsart erfolgt nur, wenn die Tätigkeiten derart verbunden sind, dass sie sich gegenseitig unauflöslich bedingen26 oder die Tätigkeiten miteinander verflochten sind und als Einheit erscheinen27. Im Falle einer einheitlichen Betrachtung ist entscheidend für die Zuordnung zu einer Einkunftsart, welche Tätigkeit dem Gesamtbild das Gepräge gibt oder prägend im Vordergrund steht28. 2. Typischerweise Abgrenzung der Einkunftsarten durch Typusbegriffe Geht es um die Qualifikation von Einkünften, so ist die Zuordnung zu einer bestimmten Einkunftsart zu prüfen. Oft enthält das Gesetz selbst bestimmte Definitionen (insbesondere § 15 Abs. 2 EStG: „Gewerbebetrieb“). Viele dieser Begriffe zeichnen sich dadurch aus, dass es sich nicht um sog. Klassenbegriffe handelt, bei der nach Art einer Checkliste geprüft werden muss, ob jedes einzelne Merkmal vorliegt, sondern dass es sich um Typusbegriffe handelt29. Typusbegriffe zeichnen sich dadurch aus, dass der Rechtsanwender prüfen muss, ob nach dem Gesamtbild30 bei wertender 25 BFH/NV 2001, 204; ausführlich Zugmaier, StuW 1998, 334 (342). 26 Wacker in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 18 EStG Rz. 50. 27 Vgl. Wacker (Fn. 26), § 15 Rz. 88 m.w.N. 28 Zugmaier, StuW 1998, 334 (343 f.) m.w.N. 29 Ebenso Hey (Fn. 4), § 8 Rz. 415, 472 (zum Begriff des Gewerbebetriebs und des Arbeitnehmers); Musil in Herrmann/Heuer/Raupach, § 2 EStG Rz. 90. 30 BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13 Rz. 65 m.w.N.

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Betrachtung noch ein typischer Fall vorliegt. Es kann zwar das eine oder andere Merkmal nicht erfüllt sein, jedoch müssen zumindest einige der typischen Wesenszüge vorliegen31. Man könnte auch formulieren: Der zu untersuchende Sachverhalt muss den Namen des gesetzlich geregelten Phänomens (z.B. „Gewerbebetrieb“) verdienen; der konkrete Lebenssachverhalt muss den bekannten typischen und anerkannten Erscheinungsformen hinreichend ähnlich sein, auch wenn nicht alle Merkmale erfüllt sein müssen. a) Beispiel: Abgrenzung privater Vermögensverwaltung vom Gewerbebetrieb Beim Typusbegriff verlagert sich der Schwerpunkt des Entscheidens – anders als bei den Typisierungen  – weg vom Normsetzer hin zum Normanwender32. Die Auslegung eines Typusbegriffs betrifft die Ebene des Obersatzes in der Rechtsanwendung. Der Rechtsanwender gewinnt Gestaltungsmacht durch eine größere Flexibilität. Während bei den sog. Klassenbegriffen (abstrakten Rechtsbegriffen) im Regelfall jede Voraussetzung erfüllt sein muss, kann sich der Rechtsanwender – und damit in letzter Konsequenz der Richter – bei der Auslegung eines Typusbegriffs am Gesamtbild der Verhältnisse und an der Verkehrsanschauung orientieren: Nach der vom BFH entwickelten Drei-Objekt-Grenze, der indizielle Bedeutung zukommen soll, ist jemand, der innerhalb eines engen zeitlichen Zusammenhangs von etwa fünf Jahren mehr als drei Immobilienobjekte anschafft oder herstellt und veräußert33, schon als gewerblicher Grundstückshändler anzusehen, während der private Anleger, der in großem Umfang über das Internet Aktienkauf- und -verkaufaufträge an seine Bank erteilt, im Regelfall nicht zum gewerblichen Wertpapierhändler wird. Denn gewerbliches Handeln liegt erst vor, wenn die bloße private Vermögensverwaltung überschritten wird34. Maßgeblich sind das Gesamtbild der Verhältnisse und die Verkehrsanschauung35. Prägend für einen Gewerbebetrieb sind der „marktmäßige Umschlag“ sowie das Überwiegen der Substanzverwertung vor der Fruchtziehung. Als gewerblicher Wertpapierhändler ist ein Steuerpflichtiger daher erst anzusehen, wenn besondere Umstände vorliegen, insbesondere eine gewisse „professionelle Konturierung“. Kriterien für die Gesamtschau können sein: der persönliche Arbeitseinsatz, Berufsausbildung, Beschäftigung von Hilfskräften, Fremdfinanzierung, Büroräume, Buchführung, Offerierung an Dritte, Handeln auf fremde Rechnung36. Auf den ersten Blick mag es widersprüchlich wirken, dass § 15 Abs. 2 EStG – ergänzt um ungeschriebene Tatbestandsmerkmale – nach Art eines Klassenbegriffs eine Definition des Gewerbebetriebs enthält. Es mag zunächst so wirken, als ob der Begriff 31 BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13 Rz. 65 (zweifelhaft aber in der Subsumtion dort Rz. 161; dazu krit. Wernsmann, JZ 2017, 942 [954, 956 f.]); Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 395. 32 Zum Folgenden s. auch Wernsmann, DStR-Beihefter 2011, 72 (76). 33 Vgl. – auch zu Relativierungen durch die neuere Rechtsprechung – Wacker (Fn. 26), § 15 Rz. 47 ff. 34 Wacker (Fn. 26), § 15 Rz. 46. 35 BFH (GrS) BStBl. II 2002, 291 (292). 36 Vgl. BFH v. 30.7.2003 – X R 7/99, BStBl. II 2004, 408 (410); Wacker (Fn. 26), § 15 Rz. 91 m.w.N.

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des Gewerbetriebs damit kein Typusbegriff sein kann, da § 15 Abs. 2 EStG das Vorliegen aller Tatbestandsmerkmale verlangt37. Richtigerweise sind einzelne Tatbestandsmerkmale der Definition des Gewerbebetriebs in § 15 Abs. 2 EStG jedoch Typusbegriffe38 (insbesondere das ungeschriebene Merkmal der fehlenden privaten Vermögensverwaltung). Das schlägt dann auf den Begriff des Gewerbebetriebs durch und macht diesen insgesamt zu einem Typusbegriff, da einzelne Tatbestandsmerkmale nach der Verkehrsanschauung und dem typischen Bild betrachtet werden. Die Tätigkeit des Steuerpflichtigen muss damit insgesamt auch dem typischen Bild eines Gewerbebetriebs entsprechen. b) Beispiel: Abgrenzung nichtselbständiger Arbeit von selbständiger Tätigkeit sowie Kapitalvermögen Nichtselbständige Arbeit (§ 19 EStG) ist einmal von selbständiger Arbeit (§ 18 EStG), zum anderen von Einkünften aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG) abzugrenzen. Für die Frage, ob ein Steuerpflichtiger „selbstständig“ oder „nichtselbstständig“ agiert, kommt es nicht auf Art oder Intensität der Tätigkeit an, sondern auf den Status des Steuerpflichtigen39, ob er also „Arbeitnehmer“ ist. § 1 Abs. 1 LStDV umschreibt den Begriff des Arbeitnehmers und setzt hier insbesondere ein Dienstverhältnis voraus, das wiederum § 1 Abs. 2 LStDV definiert. Danach liegt ein Dienstverhältnis vor, wenn der Angestellte (Beschäftigte) dem Arbeitergeber seine Arbeitskraft schuldet. Dies ist der Fall, wenn jemand in der Betätigung seines geschäftlichen Willens unter der Leitung des Arbeitgebers steht oder im geschäftlichen Organismus des Arbeitgebers dessen Weisungen zu folgen verpflichtet ist (§  1 Abs.  2 Satz 2 LStDV). Die Begriffe des Dienstverhältnisses und des Arbeitnehmers sind Typusbegriffe40. D.h. die Zuordnung zur Einkunftsart des § 19 EStG erfolgt einzelfallbezogen nach dem Gesamtbild der Verhältnisse, wobei die für und gegen ein Dienstverhältnis sprechenden Merkmale gegeneinander abgewogen werden müssen41. Die Bezeichnung des Berufs ist nicht entscheidend42. Auch der arbeits- oder sozialversicherungsrechtlichen Behandlung kommt nur Indizwirkung zu43, die steuerrechtlichen Begriffe sind autonom auszulegen. Die Rechtsprechung zieht zahlreiche unterschiedliche Kriterien heran, die in ihrer Gesamtheit das Gesamtbild prägen. Vor allem nennt sie44: mangelndes Unternehmerrisiko, fehlende Unternehmerinitiative, persönliche Abhängigkeit, Weisungsgebundenheit hinsichtlich Ort, Zeit und Inhalt der Tätigkeit, Eingliederung in den Betrieb, feste Bezüge und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie Urlaubsanspruch, feste Arbeitszeiten und ggf. Überstundenvergütung, kein Kapitaleinsatz, keine Pflicht 37 So in der Tat Desens/Blischke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 15 EStG Rz. B 3. 38 So auch Desens/Blischke (Fn. 37), § 15 Rz. B 8. 39 Zugmaier, StuW 1998, 334 (348). 40 Krüger in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 19 EStG Rz. 11, 21. 41 BFH v. 18.6.2015 – VI R 77/12, BStBl. II 2015, 903 (905 Rz. 13). 42 BFH v. 14.6.1985 – VI R 150-152/82, BStBl. II 1985, 661 (663). 43 BFH v. 2.12.1998 – X R 83/96, BStBl. II 1999, 534 (537). 44 Vgl. grundlegend BFH v. 14.6.1985 – VI R 150-152, BStBl. II 1985, 661 (663).

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zur Beschaffung der Arbeitsmittel, Schulden der Arbeitskraft und nicht des Arbeitserfolgs (Dienst-, nicht Werkvertrag), Unselbständigkeit in Organisation und Durchführung der Tätigkeit, enge ständige Zusammenarbeit mit anderen Mitarbeiten, Ausführung von einfachen Tätigkeiten, die i.d.R. weisungsabhängig erfolgen, Ausübung der Tätigkeit gleichbleibend am selben Ort. Einige Merkmale können – typisch für den Typusbegriff – ganz fehlen, einige können stärker, andere schwächer ausgeprägt sein. So kann etwa auch ein Arbeitnehmer erfolgsbezogen oder stückbezogen entlohnt werden, was ihn noch nicht zum Unternehmer bzw. zum Vertragspartner im Rahmen eines Werkvertrags macht. Die Abgrenzung der Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit (§ 19 EStG) von Einkünften aus Kapitalvermögen erfolgt danach, welcher Veranlassungszusammenhang hinsichtlich der Einnahmen und Ausgaben enger und wirtschaftlich vorrangig ist. Erfolgt die Zuwendung wegen anderer Rechtsbeziehungen als dem Arbeitsverhältnis, so liegt kein Arbeitslohn vor, vielmehr erfolgt die Zuordnung dann zur einschlägigen Einkunftsart (insbes. § 20 EStG). Fällt ein Darlehen aus, das der Steuerpflichtige dem Arbeitgeber zur Sicherung seines Arbeitsplatzes gewährt hatte, so stellt sich die Frage, welcher Einkunftsart dieser Vorgang zuzuordnen ist. Als Indiz für berufliche Veranlassung (und damit für eine Zuordnung zu Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit) ist anzusehen, wenn ein fremder Dritter (z.B. eine Bank) kein Darlehen mehr gewährt hätte und damit nicht die Erzielung von Zinseinkünften im Vordergrund steht45. c) Allgemeine Problematik von Typusbegriffen Bei der Typisierung greift der Normsetzer die für maßgeblich erachteten Merkmale auf. Er fasst bestimmte in wesentlichen Elementen gleich geartete Sachverhalte normativ zusammen und vernachlässigt generalisierend Besonderheiten im Tatsächlichen46. Er behandelt also Ungleiches gleich, was aus Gründen der Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung gerechtfertigt werden kann, wenn der typische Fall erfasst wird und die Regelung realitätsgerecht ist47. Dagegen überlässt der Normsetzer beim Typusbegriff dem Rechtsanwender die Konkretisierung, ob ein typischer Fall vorliegt. Ein Mehr eines Merkmals kann ein Weniger eines anderen Merkmals ausgleichen und umgekehrt, wie etwa das Beispiel des Mitunternehmers (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG)48 zeigt. Der Typusbegriff gewährt dem Rechtsanwender mehr Flexibilität, er ermöglicht eine wertende und am Regelungszweck der Norm orientierte Zuordnung49, schwächt damit aber gleichzeitig die mit dem Vorbehalt des Gesetzes verbundenen Anliegen, indem er aus rechtsstaatlicher Sicht wegen der möglicherweise geringeren Vorhersehbarkeit von Ergebnissen 45 Vgl. von Beckerath in Kirchhof, 16. Aufl. 2017, § 20 EStG Rz. 184 m.w.N. 46 BVerfGE 133, 377 (413); st. Rspr. 47 Vgl. z.B. Wernsmann (Fn. 17), § 4 AO Rz. 451 ff. m.w.N. 48 Zu diesem etwa Desens/Blischke (Fn. 37), § 15 Rz. C 32 m.w.N. 49 Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 160.

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die Rechtssicherheit reduziert und aus Sicht des Demokratieprinzips die Entscheidungsmacht vom unmittelbar demokratisch legitimierten Parlament stärker auf Exekutive und Judikative verlagert. Wegen der geringeren vom Gesetz bereits vorgezeichneten Schematisierung ist dem Rechtsanwender eine höhere Begründungslast auferlegt50. Allerdings sind „offene Typusbegriffe mit wechselnden Inhaltsmerkmalen“ nicht pauschal als „unbestimmt und damit rechtsstaatswidrig“ zu verwerfen51. Aus der Auslegungsbedürftigkeit von Normen allein folgt nicht ihre Verfassungswidrigkeit52. Der rechtsstaatlich gebotenen Bestimmtheit kann auch bereits dann Genüge getan sein, wenn sich anhand einer langjährigen Konkretisierung durch die Rechtsprechung ihr Sinngehalt ergibt53. Für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Typusbegriffen gelten die gleichen Erwägungen wie bei unbestimmten Rechtsbegriffen54. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit unbestimmter Rechtsbegriffe ist geklärt. Deren Aus­ legung und Anwendung ist grundsätzlich gerichtlich voll überprüfbar, soweit nicht Beurteilungsspielräume der Verwaltung aus dem Grund bestehen, weil die Rechtsprechung anderenfalls an ihre Funktionsgrenzen55 stoßen würde56. Auch die Auslegung und Anwendung von Typusbegriffen seitens der Finanzverwaltung ist gerichtlich voll überprüfbar. Sie wurden gerade durch die Rechtsprechung konkretisiert und präzisiert. Solche Konkretisierungen und Präzisierungen führen dazu, dass sie nicht in verfassungswidriger Weise unbestimmt sind57. Zudem ist zu berücksichtigen, dass einem möglicherweise geringeren Maß an Vorhersehbarkeit ein größeres Maß an sachgerechter und am Regelungszweck orientierter Handhabung der Norm gegenübersteht. 3. Ungeschriebene Tatbestandsmerkmale einzelner Einkunftsarten aufgrund systematischer Gesetzesauslegung Zum Teil folgt aus der Existenz bestimmter Tatbestände, dass die Definitionen anderer Einkunftsarten einschränkend auszulegen sind, da sonst die besonderen Tatbestände keinerlei Anwendungsbereich hätten. Wäre etwa die Veräußerung von Wirtschaftsgütern des Privatvermögens stets als Gewerbebetrieb (§  15 Abs.  2 EStG) zu qualifizieren, so wäre etwa die Existenz des §  23 EStG sinnlos. Dem Einkommen50 Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 397. 51 So aber Weber-Grellet, FS Beisse, 1997, S. 551 (568). Wie hier BVerfG NJW 1996, 2644. 52 Ebenso Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 398. 53 BVerfGE 49, 89 (134 ff.); speziell zum Steuerrecht BVerfGE 78, 214 (226 ff.) m.w.N. 54 So auch Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 105. 55 Vgl. BVerfGE 84, 34 (50) m.w.N. Vgl. ferner Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 7 Rz. 34; Schoch, Jura 2004, 612 (615 f.). 56 Näher Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 5 AO Rz. 65, 66 m.w.N. Ein gerichtlich nicht voll überprüfbarer Beurteilungsspielraum der Verwaltung bei der Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe kann aber nur angenommen werden, wenn außerdem das jeweilige Gesetz die Behörde zur abschließenden Beurteilung ermächtigt (sog. normative Ermächtigungslehre), vgl. nur BVerfGE 88, 40 (56, 61); 129, 1 (22). 57 BVerfGE 54, 143 (144 f.); Jarass in Jarass/Pieroth, 14. Aufl. 2016, Art. 20 GG Rz. 84.

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steuergesetz liegt der sog. Dualismus der Einkunftsarten zugrunde und damit die Grundentscheidung des Gesetzgebers, Vermögensmehrungen im Bereich des Privatvermögens nur unter besonderen Voraussetzungen für steuerbar zu erachten (§§ 17, 20 Abs. 2, 23 EStG). Daher ist die private Vermögensverwaltung als ungeschriebenes negatives Tatbestandsmerkmal in die Definition des Gewerbebetriebs (§  15 Abs.  2 EStG) hineinzulesen58. Liegt private Vermögensverwaltung (vgl. § 14 Satz 3 AO) vor, so handelt es sich begrifflich nicht um Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Erst wenn nach dem Gesamtbild der Verhältnisse und der Verkehrsanschauung der Rahmen privater Vermögensverwaltung überschritten wird, handelt es sich um einen Gewerbebetrieb. Zu prüfen ist etwa, ob der Veräußerer von Immobilien oder Wertpapieren den Namen Grundstücks- bzw. Wertpapier-„Händler“ verdient. Gewerbliches Handeln (und nicht mehr bloße Vermögensverwaltung) ist anzunehmen, wenn nicht mehr die Fruchtziehung aus zu erhaltender Substanz, sondern die Substanzverwertung durch Ausnutzung der Substanzwertsteigerungen im Vordergrund steht59. Der BFH hat hier für die Frage, ob ein gewerblicher Grundstückshandel vorliegt, die sog. Drei-Objekt-Grenze entwickelt, der aber wiederum nur indizielle Bedeutung zukommt60. 4. Fiktionen Zum Teil arbeitet das Gesetz bei der Zuordnung zu bestimmten Einkunftsarten mit Fiktionen. So „gilt“ gem. § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG in vollem Umfang die mit Einkünfteerzielungsabsicht unternommene Tätigkeit einer Personengesellschaft als Gewerbebetrieb, wenn die Gesellschaft auch eine Tätigkeit im Sinne des § 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG (also gewerbliche Tätigkeit) ausübt (Infektions-/Abfärbewirkung)61. Gleiches gilt gem. § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG für eine Personengesellschaft, die keine Tätigkeit i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ausübt und bei der ausschließlich eine oder mehrere Kapitalgesellschaften persönlich haftende Gesellschafter sind und nur diese oder Personen, die nicht Gesellschafter sind, zur Geschäftsführung befugt sind (gewerblich geprägte Personengesellschaft). 5. Subsidiaritätsregeln bei Vorliegen der Voraussetzungen mehrerer ­Einkunftsarten Sofern schließlich die tatbestandlichen Voraussetzungen verschiedener Einkunftsarten gleichzeitig vorliegen (Konkurrenz-Situation), enthält das Gesetz vielfach geschrie58 Methodisch für teleologische Reduktion angesichts des in § 15 Abs. 2 EStG zu weit formulierten Anwendungsbereichs der Definition des Gewerbebetriebs Buge in Herrmann/Heuer/Raupach, § 15 EStG Rz. 1102 m.w.N. 59 S. nur z.B. Wernsmann (Fn. 3), § 23 Rz. C 23 m.w.N. 60 Ausführlich Wacker (Fn. 26), § 15 Rz. 47 ff. 61 Der BFH wendet die Norm aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gegen ihren Wortlaut dann nicht an, wenn die gewerbliche Tätigkeit von völlig untergeordneter Bedeutung ist. Dazu zustimmend ausführlich Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach, §  15 EStG Rz. 1426 m.w.N.

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bene Subsidiaritätsregeln. Als Subsidiaritätsregel i.w.S. lassen sich auch die negativen Tatbestandsmerkmale des Gewerbebetriebs (Land- und Forstwirtschaft, selbstständige Arbeit) in § 15 Abs. 2 EStG verstehen. Ausdrückliche Subsidiaritätsregeln enthalten insbesondere §§ 20 Abs. 8, 21 Abs. 3, 22 Nr. 1, 23 Abs. 2 EStG, die eine bestimmte Einkunftsart oder eine bestimmte Erscheinungsform innerhalb einer bestimmten Einkunftsart (§ 22 EStG) für subsidiär erklären. Soweit die jeweilige Subsidiaritätsregel keinen Vorrang einer Einkunftsart gegenüber einer anderen Einkunftsart anordnet, ist zu prüfen, zu welcher Einkunftsart der engere und wirtschaftlich vorrangige Veranlassungszusammenhang besteht, sofern eine Veranlassung durch verschiedene Einkunftsarten vorliegt62. So hat der BFH bei Inanspruchnahme eines GmbH-Geschäftsführers aus einer Bürgschaft, die er für die GmbH übernommen hatte, im entschiedenen Einzelfall Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (§  19 EStG) verneint (und nachträgliche Anschaffungskosten der GmbH-Beteiligung bejaht). Der BFH ließ sich von dem Gesichtspunkt leiten, ob auch ein fremder Dritter als Arbeitnehmer zur Rettung seines Arbeitgebers eine solche Bürgschaft übernommen hätte. In einem solchen Fall sei von Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit (§ 19 EStG) auszugehen; anderenfalls seien die Zahlungen durch die Gesellschafterstellung veranlasst63 (dazu bereits oben IV 2 b).

V. Rechtspolitische Bewertung Eine Schedulenbesteuerung – also eine unterschiedlichen Besteuerung je nach Einkunftsart – trägt, wie vielfach vertreten wird, wesentlich „zur Chaotisierung des Einkommensteuerrechts“ bei64. Ob eine sog. Schedulenbesteuerung mit unterschiedlichen Rechtsfolgen für die einzelne Einkunftsart vorliegt, hängt jedoch nicht von der Anzahl der Einkunftsarten ab, sondern davon, ob es Sonderregeln für die einzelnen Einkunftsarten gibt. Wie bestimmte Regeln des geltenden Einkommensteuerrechts zeigen, sind Ungleichbehandlungen (die vor Art. 3 Abs. 1 GG der Rechtfertigung bedürfen) auch innerhalb von Einkunftsarten zu finden (z.B. § 15 Abs. 4, § 20 Abs. 6 Satz 4, § 22 Nr. 3, § 22 Nr. 2 i.V.m. § 23 Abs. 3 Sätze 7, 8 EStG). Dass die Zusammenfassung der sieben Einkunftsarten zu nur einer Einkunftsart aus rechtspolitischer Sicht vorzugswürdig ist, erscheint daher zweifelhaft. Im Großen und Ganzen hat sich die traditionelle Differenzierung des deutschen Einkommensteuerrechts nach sieben Einkunftsarten durchaus bewährt65. 62 So BFH v. 8.7.2015  – VI R 77/14, BStBl.  II 2016, 60 Rz.  20. Anders Weber-Grellet in Schmidt, 36. Aufl. 2017, § 20 EStG Rz. 200, der wohl einen generellen Vorrang des § 20 EStG gegenüber § 19 EStG annimmt und von einem Umkehrschluss ausgeht, da § 20 EStG in § 20 Abs. 8 EStG nicht für subsidiär gegenüber § 19 EStG erklärt wird. 63 BFH v. 8.7.2015 – VI R 77/14, BStBl. II 2016, 60 Rz. 19 ff. 64 So schon Tipke in Festschrift für Kruse, 2001, S. 215 (238). 65 So auch Desens, DStJG 37 (2014), 95 (113); Musil (Fn. 29), § 2 Rz. 72, 84. Krit. P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch  – Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, 2011, S. 367; Hey (Fn. 4), § 8 Rz. 402.

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4. Teil Materielles Steuerrecht A. II. 4.

Gemischte Veranlassung Von Stefan Schneider

Inhaltsübersicht I. Das Veranlassungsprinzip … II. … bei gemischten Veranlassungszusammenhängen 1. Gemischt veranlasste Aufwendungen seit 100 Jahren 2. Klärungsversuche, 5 Beschlüsse des Großen Senats a) Typische Sachverhalte b) Einfach aufteilbarer Aufwand c) Rechtsprechungsänderung, und jetzt … d) … Aufteilung aller Aufwendungen? e) Keine Aufteilung bei spezialgesetzlicher Regelung

3. Beruflich und privat veranlasste Einnahmen 4. Durch mehr als eine Einkunftsart veranlasste Aufwendungen … 5. … und durch mehr als eine Einkunftsart veranlasste Einnahmen 6. Privat veranlasste Aufwendungen, die zugleich Sonderausgaben sind 7. Gesetzlich geregelte Fälle gemischter Veranlassung a) … ihre Rechtsfolgen b) … und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen

Der Tatbestand der gemischten Veranlassung stellt Grundfragen des Einkommensteuerrechts. Denn angesprochen ist damit anknüpfend an ein Fundamentalprinzip des Rechts selbst, dem Veranlassungsprinzip, die Vermischung von aus ertragsteuerlicher Sicht unterschiedlich zu qualifizierender Veranlassungsbeiträge und deren Rechtsfolgen. „Gemischte Veranlassung“ erfasst grundsätzlich alle Bereiche der einkommensteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage, ist aber insbesondere in Form gemischt veranlasster Aufwendungen unter dem Schlagwort „Aufteilungs- und Abzugsverbot“ immer wieder ein Thema1; das belegen nicht zuletzt fünf Beschlüsse des

1 Drenseck in FS Offerhaus, Köln 1999, 497; Söhn, ebenda, 477; ders. in FS Spindler, 2011, 795; Gregor Kirchhof in FS Lang, 563; Spindler, ebenda, 589; Raupach in FS Paul Kirchhof, 2013, 1883 jeweils m.w.N.

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Großen Senats des BFH2 dazu. Auch das BVerfG3 hatte sich schon mit gemischt veranlassten Aufwendungen anlässlich der Kinderbetreuungskosten, des häuslichen Arbeitszimmers, der doppelten Haushaltsführung und der Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zu befassen und sprach hinsichtlich der Veranlassung zuletzt von der Unterscheidung zwischen beruflichem und privatem „Veranlassungsgrund“, der Unterscheidung zwischen beliebiger Einkommensverwendung oder pflichtbestimmtem Aufwand sowie multikausalen und multifinalen Wirkungszusammenhängen.

I. Das Veranlassungsprinzip … Das Veranlassungsprinzip ist ein allgemeines Rechtsprinzip, das auf naturwissenschaftlicher Kausalität gründet4, sich darin aber nicht erschöpft, sondern unter ­Rückgriff auf von Rechts wegen vorgegebenen Wertungen Rechtssubjekten Handlungserfolge zurechnet. Das Veranlassungsprinzip ist insoweit Grundlage jedes Zurechnungstatbestandes. Es verbindet Ursache und Wirkung in rechtserheblicher Weise. Es findet in allen Rechtsgebieten Anwendung, auch wenn es angesichts der dort jeweils normierten unterschiedlichen rechtlichen Verantwortlichkeiten unterschiedliche Reichweiten entfaltet. So prüft etwa das Strafrecht den (straf-)tatbestandsspezifischen Ursachenzusammenhang und das Zivilrecht die haftungsrechtliche Zurechnung. Das Veranlassungsprinzip gilt auch im Ertragsteuerrecht. Es wirkt dort als das Grundprinzip der Einkünfteermittlung, wird aus der gesetzlichen Definition der Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 4 EStG, „Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind“), entnommen, findet mittlerweile auch für die Werbungskosten5 Anwendung, nämlich bei den „Aufwendungen, die durch den Beruf des Steuerpflichtigen veran2 Zuletzt BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BFHE 251, 408, BStBl. II 2016, 265; ausführlich dazu BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 mit weiteren Nachweisen zur Rechtsentwicklung seit dem Reichseinkommensteuergesetz 1934 unter Rz. 28 ff. und zum Schrifttum unter Rz. 89 f. der Gründe; zum Aufteilungs- und Abzugsverbot ausführlich auch Krüger, DB 2006, Beilage 6 zu Heft 39, 39. 3 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 1007, 27 Rz. 56; v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 zu der ab dem 1.1.2007 eingeführten Neuregelung der Entfernungspauschale für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. 4 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 8 Rz. 206 ff. mit Gesamtüberblick zum Veranlassungsprinzip, den Kausalitätstheorien und zur Zurechnung von Erwerbseinnahmen und Erwerbsaufwendungen; zur Präzisierung der Veranlassung durch Kausalität und Kausalitätstheorien auch: Söhn in DStJG 3 (1980), S.  13 (19  ff.); Ruppe in DStJG 3 (1980), S.  103 (126 ff.); Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, S. 299 ff.; zur Anwendung des Veranlassungsprinzips bei den Werbungskosten: v. Bornhaupt in DStJG 3 (1980), S. 149 (179 ff.); ders. in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 9 EStG Rz. B 185 ff. 5 BFH v. 10.1.2008  – VI R 17/07, BStBl.  II 2008, 234 Rz.  103  ff.; BFH v. 19.1.2017  – VI R 37/15, BStBl.  II 2017, 526 m.w.N.; v. Bornhaupt in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, §  9 EStG Rz. B 152 ff. (B 178): das Veranlassungsprinzip gehört zu den tragenden Grundsätzen des EStG; zur Gleichstellung von Betriebsausgaben und Werbungskosten Rz.  171  ff.; Kreft in Herrmann/Heuer/Raupach, § 9 EStG Rz. 130 ff.

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lasst sind“; weicht das Gesetz ohne Rechtfertigung davon ab, kann dies dessen Verfassungswidrigkeit begründen6. Es ist scheinbar auch durch nichts Besseres zu ersetzen, wie die vielen Reform- und Alternativentwürfe zum Einkommensteuerrecht7 zeigen, die alle am Veranlassungsprinzip festhalten. Das steuerliche Veranlassungsprinzip ist indessen nicht auf (Erwerbs-)aufwendungen begrenzt. Auch der Tatbestand der (Erwerbs-)einnahmen gründet darauf. So sind (Betriebs-)einnahmen alle durch den Betrieb/Beruf veranlassten Zugänge in Geld oder Geldeswert8. Der kausalitätsbedingten Weite des Veranlassungsprinzips begegnet die Rechtsprechung durch eine wertende Beurteilung eines hinreichenden Veranlassungszu­ sammenhangs. So sind etwa Aufwendungen nur dann als durch eine Einkunftsart veranlasst anzusehen, wenn sie hierzu in einem steuerrechtlich anzuerkennenden wirtschaftlichen Zusammenhang stehen. Maßgeblich dafür, ob ein solcher Zusammenhang besteht, ist zum einen die – wertende – Beurteilung des die betreffenden Aufwendungen „auslösenden Moments“9, zum anderen die Zuweisung dieses maßgeblichen Bestimmungsgrundes zur einkommensteuerrechtlich relevanten Erwerbssphäre. Die wertende Beurteilung entscheidet die Grenzfälle; auch die Frage, ob überhaupt eine gemischte Veranlassung vorliegt, erfordert mitunter eine Bewertung. Typisch dafür ist etwa die Frage, ob Kosten anlässlich der Feier eines Geburtstags mit Arbeitskollegen beruflich oder privat veranlasst sind10; die Frage, ob Aufwendungen für die Ausbildung zu einem Beruf beruflich oder privat veranlasste Aufwendungen sind, liegt dem BVerfG vor11, ähnlich wie schon die Frage, wie die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zu qualifizieren sind.

6 BVerfG v. 9.12.2008  – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 Rz.  66  f., zur verfassungswidrigen Entfernungspauschale: „(…)die Norm weicht von dem nach dem Nettoprinzip maßgeblichen Veranlassungsprinzip ab“. 7 Für alle beispielhaft hier nur Paul Kirchhof, Reformentwurf eines Einkommensteuergesetzbuchs, in den Grundzügen dargestellt in DStR Beihefter 5 zu Heft 37/2003, 4 m.w.N.; ders. in Verhandlungen des 57. Deutschen Juristentags 1988, Gutachten F 41; Joachim Lang u.a., Kölner Entwurf eines Einkommensteuergesetzbuchs, 2005. 8 Das entspricht allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Literatur; vgl. nur jeweils m.w.N. BFH v. 14.3.1989  – I R 83/85, BStBl.  II 1989, 650; v. 22.7.1988  – III R 175/85, BStBl. II 1988, 995; v. 2.9.2008 – X R 25/07, BStBl. II 2010, 550; v. 1.12.2010 – IV R 17/09, BStBl. II 2011, 419; Lohn: Bezüge oder Vorteile, wenn sie durch das individuelle Dienstverhältnis veranlasst sind, BFH v. 26.6.2014 – VI R 94/13, BStBl. II 2014, 864; Weber, StuW 2009, 184; Bode in Kirchhof, § 4 EStG Rz. 153, 170; Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, S. 301 weist zutreffend darauf hin, dass die steuerrechtliche Kausalität den Ausgaben  – wie den Einnahmenbegriff gleichermaßen betrifft, nur weniger häufig beim Einnahmenbegriff abgehandelt werde; Giloy, FR 1975, 157; Prinz, StuW 1996, 267. 9 So BFH v. 4.7.1990 – GrS 2-3/88, BFHE 161, 290, BStBl. II 1990, 817 u.a. mit Hinweis auf Offerhaus, BB 1979, 617 (620); Wassermeyer, StuW 1982, 352 (358); später auch der Große Senat in GrS 1/06 in Rz 93 der Gründe. 10 BFH v. 10.11.2016 – VI R 7/16, BStBl. II 2017, 409; v. 20.1.2016 – VI R 24/15, BStBl. II 2016, 744. 11 BFH v. 17.7.2014 – VI R 8/12 u.a., BFHE 247, 64; HFR 2014, 1064.

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II. … bei gemischten Veranlassungszusammenhängen Der Tatbestand der gemischten Veranlassung fragt nach dem Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, wenn mehrere Ursachen einen bestimmten Erfolg bewirken. Auch dieser Tatbestand ist keine Spezialität des Steuerrechts, so regelt § 948 BGB die eigentumsrechtlichen Folgen einer untrennbaren „Vermischung“ beweglicher Sachen und macht bei untrennbarer Vermischung die bisherigen Eigentümer zu Miteigentümer der durch Vermischung neu entstandenen einheitlichen Sache entsprechend der Einbringungswerte, scheinbar ein allgemeingültiges Prinzip. In der steuerrechtlichen Praxis handelt der Tatbestand insbesondere von gemischt veranlassten Aufwendungen und der daran anknüpfenden Frage, ob Aufwendungen, die nach allgemeinem Konsens nicht allein beruflich sondern privat (mit-)veranlasst sind, trotz dieser „gemischten Veranlassung“ als Erwerbsaufwand (Betriebsausgaben oder Werbungskosten) abziehbar sind, ob jedenfalls ein anteiliger Abzug in Betracht kommt sowie, nach welchen Maßstäben dann der anteilige beruflich/betrieblich veranlasste Aufwand gegenüber dem privat veranlassten Aufwand dem Grunde nach abzugrenzen und der Höhe nach zu ermitteln ist12. Aber nicht nur Aufwendungen sondern auch Einnahmen können „gemischt“ beruflich und privat veranlasst sein und damit nur teilweise einen einkommensteuerrechtlich erheblichen Veranlassungszusammenhang aufweisen. Die Vermischung kann weiter auch darin bestehen, dass nicht nur zu einer Einkunftsart sondern zu mehreren Einkunftsarten ein spezifischer Veranlassungszusammenhang besteht, sowie, dass Aufwendungen teilweise den Betriebsausgaben oder Werbungskosten, teilweise aber den Sonderausgaben zuzurechnen sind. 1. Gemischt veranlasste Aufwendungen seit 100 Jahren Die Frage der steuerlichen Behandlung gemischt veranlasster Aufwendungen stellt sich mit Einführung eines synthetischen Einkommensbegriffs. Eines der ersten Beispiele zu solchen gemischt veranlassten Aufwendungen liefert ein Urteil des preußischen Oberverwaltungsgerichts13 aus dem Jahr 1901; zu entscheiden war, ob die Lohnkosten für einen in einem landwirtschaftlichen Betrieb eingestellten Arbeitnehmer in vollem Umfang zum Betriebsausgabenabzug führen, wenn er gelegentlich auch im privaten Haushalt des Landwirts tätig wurde. Rechtsgrundlagen waren § 7 Nr. 1 und § 9 Abs. 2 Nr. 2 des preußischen EStG14, vom Einkommen in Abzug zu bringen waren die „zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung des Einkommens ver-

12 Nach Söhn in DStJG 3 (1980), S. 13 (32) sind die Aufwendungen, die betrieblich und privat veranlasst sind – die „Mischausgaben“ – die „Nagelprobe“ einer steuerrechtlichen Kausalitätstheorie; Tipke, Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, S. 769, gemischte Aufwendungen, „in besonderem Maße kompliziert“. 13 Pr. OVG v. 26.9.1901  – XI.a.88/01, PrOVGE 10, 86; dazu BFH v. 21.9.2009  – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 35, 97, 98 der Gründe. 14 Preußisches EStG v. 24.6.1891, GS 1891, 175.

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wendeten Ausgaben“ (§ 7), nicht die „zur Bestreitung des Haushalts der Steuerpflichtigen und zum Unterhalt ihrer Angehörigen gemachten Ausgaben“ (§ 9 Abs. 2 Nr. 2). Zum EStG 1925 hatte der Reichsfinanzhof ähnliche Fragen zu beantworten15. Er behandelte die vorrangig privat veranlassten Aufwendungen, die allenfalls einen bloßen mittelbaren Zusammenhang zur Berufstätigkeit aufwiesen, als Repräsentationsaufwendungen, die den nicht abziehbaren Lebenshaltungskosten zuzuordnen seien; mit Hinweis auf die schwierige Abgrenzung zwischen Lebenshaltungskosten und Werbungskosten räumte der RFH der Nichtabziehbarkeit den Vorrang ein. Diese Rechtsprechung war Grundlage für den mit dem EStG 1934 geschaffenen und noch heute geltenden § 12 EStG16, aus dem über Jahrzehnte hinweg das so genannte Aufteilungsund Abzugsverbot abgeleitet worden war, das der Große Senat des BFH erst im Rahmen einer Rechtsprechungsänderung 2009 aufgegeben hat. Normativ wenig verändert gelten für gemischt veranlasste Aufwendungen heute die §§ 4 Abs. 4, 9 Abs. 1 Satz 1, 12 Nr. 1 Satz 2 EStG. Damit regelt nicht anders als vor mehr als 100 Jahren das Gesetz einerseits den Erwerbsaufwand andererseits den Privataufwand, enthält aber keine Grundsatznorm zur einkommensteuerrechtlichen Behandlung gemischt veranlasster Aufwendungen17. Solche Fälle zu entscheiden und Prinzipien zu entwickeln, blieb Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen. 2. Klärungsversuche, 5 Beschlüsse des Großen Senats Die unterschiedlichen Perspektiven und Ansätze der Behandlung gemischt veranlasster Aufwendungen und auch deren praktische Bedeutung zeigen die fünf zwischen Oktober 1970 und Juli 2015 ergangenen Beschlüsse des Großen Senats18 dazu.

15 Dies betraf insbesondere Kosten der Haushaltsführung einschließlich des dazu angestellten Personals, Kosten für Einladungen, Bewirtungen und die Verleihung von Ehrentiteln, zusammenfassend dazu: BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 37 ff. 16 Zur Entstehung und Entwicklung der Vorschrift Arndt in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 12 EStG Rz. A 30 ff. 17 Den Versuch einer grundsätzlichen Regelung unternahm die „Einkommensteuer-Kommission zur Steuerfreistellung des Existenzminimums ab 1996 und zur Reform der Einkommensteuer“, (Bareis-Kommission), BMF-Schriftenreihe 55, 1995, S. 51 (These 8), die für privat mit veranlasste Ausgaben die allgemeine Regelung vorschlug, dass diese nur beschränkt abziehbar seien, dass das amerikanische Prinzip, die Arbeit beginnt beim Fabriktor, gelte und so eine Entfernungspauschale vorschlug, dass Kosten doppelter Haushaltsführung nur auf zwei Jahre begrenzt abziehbar seien sowie Höchstbeträge für häusliche Arbeitszimmer ebenso wie für Anschaffungskosten von Pkws (2.000 DM, 100.000 DM). 18 BFH v. 19.10.1970  – GrS 2/70, 3/70, BStBl.  II 1971, 17; BStBl.  II 1971, 21; BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213; BFH v. 4.7.1990 – GrS 2-3/88, BStBl. II 1990, 817; BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672; BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265.

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a) Typische Sachverhalte Ein als Gerichtsassessor tätiger Steuerpflichtiger hatte die Anschaffungskosten einer Schreibmaschine und eines Tonbandgeräts als Werbungskosten sowie ein als Filmund Fernsehkritiker tätiger Drehbuchautor die Anschaffungskosten eines Fernsehgeräts als Betriebsausgaben geltend gemacht. Der VI.  Senat des BFH wollte die ­Aufwendungen des Gerichtsassessors dem Grunde nach als Werbungskosten berücksichtigen, allerdings einen jeweils geschätzten Privatanteil von 10 % (Schreibmaschine) und 50 % (Tonbandgerät) ansetzen, der IV. Senat die auf die betriebliche Nutzung entfallenden Aufwendungen des Drehbuchautors schätzen und insoweit als Betriebsausgaben anerkennen. Der Große Senat19 widersprach. Eine Kostenaufteilung sei zwar in seltenen Fällen trotz des nach § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG geltenden gesetzlichen Aufteilungs- und Abzugsverbots noch vertretbar, aber angesichts des Wortlauts des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG nicht weiter auszudehnen. Eine Aufteilung sei nur zulässig, wenn die zutreffende und leicht nachprüfbare Trennung der Kosten objektiv möglich und der berufliche Nutzungsanteil auch nicht von untergeordneter Bedeutung sei. Die Gesamtaufwendungen eines Steuerpflichtigen für die Benutzung eines zur Lebensführung gehörenden Vermögensgegenstandes (z.B. Fernsehgerät) könnten nicht durch griffweise Schätzung in nicht abziehbare Lebenshaltungskosten und Betriebsausgaben oder Werbungskosten aufgeteilt werden. Keine sieben Jahre später fragte der I. Senat den Großen Senat, ob Aufwendungen für die Teilnahme an einer Auslandsgruppenreise Betriebsausgaben sein könnten, wenn die Reise programmgemäß auch touristisches Interesse befriedige, die Informationsreise aber auch ohne privaten Reiseanteil unternommen worden wäre, sowie, ob die Gesamtkosten der Reise dann so aufzuteilen seien, dass nur der durch den Privatanteil veranlasste Mehraufwand als Betriebsausgabe ausscheide. Der Große Senat20 verneinte wieder unter Berufung auf das Aufteilungs- und Abzugsverbot, das insbesondere verhindern solle, durch eine mehr oder weniger zufällige oder bewusst herbeigeführte Verbindung zwischen beruflichen und privaten Interessen Aufwendungen für die Lebensführung in einen einkommensteuerlich relevanten Bereich zu verlagern. Im Ergebnis maß er einem mit der Gruppenreise verbundenen privaten Aufenthalt eine Art „Infektionswirkung“ zu. Eine Auslandsgruppenreise zu  Informationszwecken begründe keine Betriebsausgaben oder Werbungskosten, wenn sie nicht objektiv durch den Betrieb/Beruf des Steuerpflichtigen veranlasst sei, insbesondere wenn die Reise programmgemäß auch allgemeintouristischen Interessen von nicht untergeordneter Bedeutung diene. Allerdings könnten einzelne abgrenzbare und ausschließlich betrieblich/beruflich veranlasste Aufwendungen Betriebsausgaben/Werbungskosten sein. Es lag in der Natur der Sache, dass angesichts der grundlegenden Differenzierung zwischen „einzeln abgrenzbaren, ausschließlich betrieblich/beruflich veranlassten 19 BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, 3/70, BStBl. II 1971, 17; BStBl. II 1971, 21. 20 BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213 Rz. 51.

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Aufwendungen“ einerseits und ebensolchen nicht abgrenzbaren Aufwendungen andererseits die Rechtsprechung weiterhin Fälle entscheiden musste, ob solche einzelne abgrenzbare Aufwendungen vorliegen oder nicht. Die Rechtsprechung verlief daher „weiterhin uneinheitlich“21. Teilweise galten Reisen zu Fachkongressen als betrieblich veranlasst, teilweise blieb „trotz beruflicher Mitveranlassung“ der Werbungskostenabzug ausgeschlossen22. b) Einfach aufteilbarer Aufwand Die dritte Entscheidung des Großen Senats zu den gemischt veranlassten Aufwendungen betraf die einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung von Schuldzinsen aus einem betrieblichen Kontokorrentkredit23. Der Große Senat betonte nun das Veranlassungsprinzip; nicht die buchmäßige Behandlung, sondern die Mittelverwendung war maßgeblich24. Die Zinsaufwendungen und die damit schon vorgegebenen zahlenmäßigen Grundlagen waren allerdings auch der ideale Anknüpfungspunkt für das Veranlassungsprinzip. Denn mit der Zinszahlenstaffelmethode war der Zinsaufwand einfach in einen betrieblichen und in einen privat veranlassten Teil aufzuteilen, es blieben keine gemischten Aufwendungen. Es lagen vielmehr „einzeln abgrenzbare, ausschließlich betrieblich/beruflich veranlasste Aufwendungen“ vor. Dementsprechend gab es auch keinen Anwendungsbereich für § 12 Nr.1 Satz 2 EStG und das daraus gefolgerte Aufteilungs- und Abzugsverbot25. Die Aufteilung und Zuordnung der Zinsen entsprechend ihrer Veranlassung boten vielmehr den idealen Anwendungsfall für den Grundsatz, dass Aufwendungen dann als durch eine Einkunftsart veranlasst anzusehen sind, wenn sie hierzu in einem steuerrechtlich anzuerkennenden wirtschaftlichen Zusammenhang stehen. c) Rechtsprechungsänderung, und jetzt … Die vierte Entscheidung26 zu den gemischt veranlassten Aufwendungen gilt als „grundsätzliche Kehrtwende des Großen Senats“27. Die Presse fand holzschnittartige

21 So die Zusammenfassung der diesbezüglichen Rechtsprechung im Beschluss des Großen Senats, BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 50. 22 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 81 ff. ausführlich zur Entwicklung der Rechtsprechung des BFH zu Reiseaufwendungen nach dem Beschluss v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213. 23 BFH v. 4.7.1990 – GrS 2-3/88, BStBl. II 1990, 817. 24 BFH v. 4.7.1990 – GrS 2-3/88, BStBl. II 1990, 817 Rz. 84 ff., 106, 121. 25 BFH v. 4.7.1990 – GrS 2-3/88, BStBl. II 1990, 817 Rz. 114. 26 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672. 27 Wolfgang Spindler, damaliger Präsident des BFH, Pressekonferenz v. 13.1.2010, vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 14. Januar 2010, Seite 11; Ders. in FS Lang, 2010, S. 589 (600): „eine der systematisch bedeutsamsten Entscheidungen… seit vielen Jahren“; Pezzer, DStR 2010, 93; Jochum, DStZ 2010, 665; Bergkemper, DB 2010, 143 (148): „… lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig … beeindruckt durch … eindeutige und strikte Ausrichtung an der Systematik des EStG und … Ablehnung an wolkige Gerechtigkeitserwägungen. Erneut

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Schlagzeilen wie „Workshop und Wellness – der Fiskus zahlt“28, „Finanzamt an Kongress mit Skigaudi beteiligen“29 und „Dienstreisende dürfen Urlaub mit abrechnen“30. Der Große Senat formulierte dagegen nüchtern: „Änderung der Rechtsprechung des Großen Senats: kein allgemeines Aufteilungs- und Abzugsverbot aus § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG“. Tatsächlich entschied er zweierlei. Zum einen beantwortete er die konkrete Frage des Vorlagebeschlusses zu gemischt beruflich/betrieblich und privat veranlassten Reisen, dass diese in Erwerbsaufwendungen und in nicht abziehbare Privataufwendungen nach Maßgabe der beruflich und privat veranlassten Zeitanteile der Reise aufgeteilt werden könnten, sofern diese Zeitanteile feststehen und nicht von untergeordneter Bedeutung sind. Dieses Ergebnis unterschied sich indessen wenig von der vorangegangenen („uneinheitlichen“) Rechtsprechung, die Kostenaufteilungen jedenfalls dann zugelassen hatte, wenn ein Aufteilungsmaßstab zur Verfügung stand. Die grundsätzliche Kehrtwende bestand vielmehr in der ausdrücklichen Rechtsprechungsänderung, dass § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG kein allgemeines Aufteilungsund Abzugsverbot normiere. Grundlage war nun das objektive Nettoprinzip, das dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit dienen und dementsprechend beruflich veranlasste Kostenanteile – soweit abgrenzbar – berücksichtigen müsse. Den bisher eher fiskalischen Ansatz, das EStG enthalte ein Aufteilungs- und Abzugsverbot, damit durch eine zufällige Verbindung beruflicher und privater Interessen keine Aufwendungen der privaten Lebensführung in den einkommensteuerrechtlich erheblichen Bereich verlagert würden31, ersetzte der Große Senat nun zugunsten des objektiven Nettoprinzips und reduzierte § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG auf seinen eigentlichen Regelungszweck, nämlich  – so die Gesetzesbegründung  – die „Repräsentationsaufwendungen“ nur dann zu Erwerbsaufwand zu machen, wenn sie ausschließlich zur beruflichen Tätigkeit gehören. Ein Abzugsverbot folgt daraus nur dann noch, wenn private und berufliche Gründe so zusammenwirken, dass deren Trennung nicht möglich ist. Ein allgemeines Aufteilungsverbot leitet der Große Senat dagegen aus § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG nicht mehr her32. d) … Aufteilung aller Aufwendungen? Mit dem Abschied vom allgemeinen Aufteilungsverbot durch den Beschluss aus dem Jahr 2009 war zugleich die Erkenntnis verbunden, dass eine vermeintlich gemischte Veranlassung so lange keine grundlegenden Probleme bereitet, wie sich abgrenzbare beruflich veranlasste Kostenanteile finden lassen. Steht zweifelsfrei fest, dass ein abgrenzbarer Teil der Aufwendungen tatsächlich beruflich veranlasst ist, soll auch eine schwierige Quantifizierung dieses Anteils dem Abzug nicht entgegenstehen; notfalls hat der BFH das objektive Nettoprinzip als maßgebliche Auslegungsrichtlinie herangezogen“. 28 Süddeutsche Zeitung (SZ) v. 14.1.2010, S. 24. 29 DIE WELT v. 14.1.2010, S. 15. 30 Financial Times Deutschland v. 14.1.2010, S. 11. 31 BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213 Rz. 51. 32 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 105; für die Finanzverwaltung umgesetzt im BMF-Schreiben v. 6.7.2010, BStBl. I 2010, 614.

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ist der Anteil dann zu schätzen. Dieser Grundsatz hätte – ohne weitere Einschränkungen – letztlich auch dazu führen können, dass selbst Aufwendungen für bürgerliche Kleidung, Brillen, Armbanduhren, Schuhsohlen, Hörgeräte und allgemein Aufwendungen zur Förderung der Gesundheit bei entsprechend akribischem Aufschrieb nach zeitlichen Nutzungsanteilen der beruflichen Sphäre hätten zugeordnet und abgezogen werden können. Das erkannte indessen auch der Große Senat und schloss daher den Abzug solcher Aufwendungen mit der Überlegung aus, dass diese schon a priori der grundsätzlich nicht abziehbaren Sphäre der privaten Lebensführung zuzuordnen und entweder durch steuerliche Existenzminima pauschal oder durch Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen nur in engen Grenzen abziehbar sind33. e) Keine Aufteilung bei spezialgesetzlicher Regelung Schuhsohlen, Brillen oder Hörgeräte lassen sich derart einordnen; dies gilt allerdings weniger eindeutig für häusliche Arbeitszimmer, die bemessen nach Zeit- und Raumanteilen („Arbeitsecke“) teils beruflich teils privat genutzt werden und dement­ sprechend ein anteiliger Abzug der Aufwendungen dafür anteilig – nicht anders als bei teilweise beruflich teilweise privat veranlassten Reisen  – in Betracht kommt. Dementsprechend hatte der IX. Senat des BFH34 dem Großen Senat schon 2013 zwei Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt, nämlich ob der Begriff des häuslichen ­Arbeitszimmers voraussetzt, dass der jeweilige Raum (nahezu) ausschließlich für ­betriebliche/berufliche Zwecke genutzt wird sowie, ob die Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer nach den gerade erst 2009 aufgestellten Grundsätzen des Großen Senats aufzuteilen sind. Diese Fragen beantwortete der Große Senat35 schließlich 2015 mit seinem fünften Beschluss zu den gemischten Aufwendungen dahin, dass die vom Großen Senat 2009 entwickelten Maßstäbe zur Aufteilung von Aufwendungen nicht anwendbar seien, weil die spezielle gesetzliche Regelung zum häuslichen Arbeitszimmer (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 1 EStG) einen anteiligen Abzug ausschließe. Dies steht so zwar nicht wörtlich im Gesetz, wird aber aus dem Tatbestand des häuslichen Arbeitszimmers selbst entnommen; ein „Arbeitszimmer“ per se ist schon dann zu verneinen, wenn das Zimmer in nicht geringem Umfang auch anderen Zwecken dient. Im Ergebnis begründete damit der Große Senat seine Entscheidung ähnlich wie schon 2009 zur Aufteilung der Kosten für Schuhsohlen, Brillen etc. mit einer spezialgesetzlichen Regelung, zum anderen unter Rückgriff auf das erste Urteil des BVerfG zum häuslichen Arbeitszimmer36. Danach kann insbesondere dann, wenn Erwerbsaufwendungen Kosten der allgemeinen Lebensführung betreffen – wie dies insbesondere beim häuslichen Arbeitszimmer der Fall ist – der Gesetzgeber zur Vereinfachung klarstellende Regelungen treffen.

33 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 121 ff. 34 BFH v. 21.11.2013 – IX R 23/12, BFHE 243, 563, BStBl. II 2014, 312. 35 BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BFHE 251, 408, BStBl. II 2016, 265. 36 BVerfG v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297, BStBl. II 2000, 162.

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3. Beruflich und privat veranlasste Einnahmen Exemplarisch für gemischt veranlasste Einnahmen steht das wiederum Reisekosten betreffende Portugal-Urteil des BFH. Ein Arbeitgeber wandte seinem Arbeitnehmer eine Reise zu, die nicht nur Dienstreise war, sondern auch Entlohnungscharakter hatte (sog. „Incentive-Reise“). Der Lohnsteuersenat entschied, dass die dadurch beim Arbeitnehmer entstandenen Einnahmen gemischt veranlasst sind, nämlich einerseits – soweit Dienstreise – beruflich, andererseits – soweit „Incentive-Reise“ – privat und der Vorteil daraus dementsprechend aufzuteilen ist. Da die Ebene der Einnahmen betroffen war, stand einer Aufteilung auch kein allgemeines Aufteilungs- und Abzugsverbot entgegen. Die Ebene der Einnahmen ist auch dann betroffen, wenn diese steuerfrei sind. Dieser Fall ist sogar gesetzlich geregelt. Nach § 3c Abs. 1 EStG gilt ein Abzugsverbot und ein Aufteilungsgebot37; „soweit“ die Aufwendungen mit steuerfreien Einnahmen zusammenhängen, dürfen sie nicht abgezogen werden. 4. Durch mehr als eine Einkunftsart veranlasste Aufwendungen … „Gemischte Veranlassung“ ist indessen nicht auf die Fälle begrenzt, bei denen berufliche und private Veranlassungsbeiträge miteinander vermischt wurden. „Gemischt“ sind Aufwendungen auch dann, wenn sie zwar jeweils beruflich/betrieblich veranlasst sind, aber durch unterschiedliche Einkunftsarten. Dient beispielsweise das häusliche Arbeitszimmer sowohl der Erzielung von Lohneinkünften als auch der von Vermietungseinkünften, ist der Erwerbsaufwand dafür durch die eine und durch die andere Einkunftsart veranlasst, aus der Perspektive der Einkunftsarten also gemischt. Ist der Aufwand in diesen Fällen ganz einer Einkunftsart oder anteilig und zu welchem Anteil beiden Einkunftsarten zuzuordnen? Ähnlich liegt der Fall, wenn ein Anteilseigner einer Kapitalgesellschaft weiteres Kapital darlehensweise zur Verfügung stellt, mit dem Darlehen später aber ganz oder teilweise ausfällt38 oder wenn der unmittelbar39 oder auch nur mittelbar beteiligte40 Gesellschafter für die Gesellschaft Bürgschaften übernimmt und daraus in Anspruch genommen wird; beruht die Kapitalüberlassung auf dem Gesellschaftsverhältnis oder auf anderen Rechtsbeziehungen? Je nach Veranlassungszusammenhang sind die Aufwendungen den Einkünften aus Kapitalvermögen (§ 20 EStG), den Einkünften aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften (§ 17 EStG) oder – wenn der Anteilseigner zugleich Arbeitnehmer dieser Kapitalgesellschaft ist – den Lohneinkünften (§ 19 EStG) zuzurechnen und bewirken gänzlich unterschiedliche Rechtsfolgen. Denn sie führen – je

37 Die Vorschrift betrifft steuerfreie Einnahmen, nicht Einnahmen im Sinne von Zuflüssen, die zu nicht einkommensteuerbaren Einkünften führen, BFH v. 11.2.2009  – I R 25/08, BStBl. II 2010, 536; v. 20.12.2017 – III R 23/15, BFHE 260, 271. 38 BFH v. 16.6.2015 – IX R 30/14, BStBl. II 2017, 94; aber Rechtsprechungsänderung: BFH v. 11.7.2017 – IX R 36/15, BFHE 258, 427, HFR 2017, 1032. 39 BFH v. 8.7.2015 – VI R 77/14, BStBl. II 2016, 60. 40 BFH v. 3.9.2015 – VI R 58/13, BStBl. II 2016, 305.

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nach Einkunftsart  – zu Verlusten, zu erhöhten Anschaffungskosten, zu Werbungskosten oder bleiben ganz unberücksichtigt. Die Rechtsprechung verfährt in solchen Konstellationen nicht einheitlich. Teilweise werden die Erwerbsaufwendungen, die zu mehreren Einkunftsarten in einem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen, nur einer Einkunftsart zugerechnet, nämlich zu der die Aufwendungen einen engeren und wirtschaftlich vorrangigen Veranlassungszusammenhang aufweisen. Die Rechtsprechung begründet dies damit, dass eine Einkunftsart im Vordergrund stehe und die Beziehungen zu der anderen Einkunftsart verdränge41. Teilweise werden die Aufwendungen auch anteilig den jeweils ver­ wirklichten Einkunftsarten zugerechnet. So entschieden etwa in den Fällen der gemischten Nutzung eines häuslichen Arbeitszimmers42 oder in dem Fall, dass ein Steuerpflichtiger, der zugleich angestellter und selbständig tätiger Arzt war und sein Kraftfahrzeug sowohl in seiner freiberuflichen Tätigkeit als auch bei seinen Dienstgängen als Angestellter nutzte. Dort wurden die gesamten Kraftfahrzeugkosten schätzungsweise auf die verschiedenen Einkunftsarten aufgeteilt43. 5. … und durch mehr als eine Einkunftsart veranlasste Einnahmen Nicht nur Aufwendungen, auch Einnahmen sind in dieser Weise „gemischt“, wenn sie zwar jeweils beruflich/betrieblich veranlasst, aber nicht eindeutig einer Einkunftsart zuzurechnen sind. Räumt etwa eine Kapitalgesellschaft als Arbeitgeberin ihren Arbeitnehmern verzinsliche Genussrechte ein44, können die daraus von den Arbeitnehmern erzielten Zinseinkünfte unterschiedlichen Einkunftsarten zuzuordnen sein, abhängig davon, ob die Überlassung des Kapitals seitens der Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis oder in einer eigenständigen Rechtsbeziehung gründet45. Zur Abschichtung und Zuordnung der einzelnen Einkunftsarten differenziert die Rechtsprechung nach den jeweils genutzten Erwerbsgrundlagen. Die Beteiligungsrechte können eigenständige Erwerbsgrundlage sein, so dass damit in Zusammenhang stehende Erwerbseinnahmen und Erwerbsaufwendungen in keinem einkommensteuerrechtlich erheblichen Veranlassungszusammenhang zum Arbeitsverhältnis stehen. Entsprechendes gilt für ein zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber begründetes 41 BFH v. 17.5.2017 – VI R 1/16, BStBl. II 2017, 1073; v. 8.7.2015 – VI R 77/14, BStBl. II 2016, 60; v. 3.9.2015 – VI R 58/13, BStBl. II 2016, 305; v. 21.4.1961 – VI 158/59 U, BStBl. III 1961, 431. 42 BFH v. 25.4.2017 – VIII R 52/13, BFH/NV 2017, 1239; v. 18.8.2005 – VI R 39/04, BStBl. II 2006, 428. 43 BFH v. 15.12.1967 – VI R 151/67, BStBl. II 1968, 375. 44 BFH v. 21.10.2014 – VIII R 44/11, BStBl. II 2015, 593: Gesamtwürdigung des FG, Verzinsung von Genussrechten sind Lohneinkünfte nicht Kapitaleinkünfte, weil Höhe der Verzinsung unbestimmt und von Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreter ermittelt. 45 BFH v. 17.6.2009 – VI R 69/06, BStBl. II 2010, 69: Veräußerungsgewinn aus Kapitalbeteiligung nicht allein deshalb Lohn, weil Kapitalbeteiligung von einem Arbeitnehmer des Unternehmens gehalten und nur Arbeitnehmern angeboten; Vorteile sind durch vom Arbeitsverhältnis unabhängige und eigenständige Sonderrechtsbeziehungen veranlasst, wenn ihnen andere Erwerbsgrundlagen als die der Nutzung der eigenen Arbeitskraft des Arbeitnehmers zugrunde liegen.

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Mietrechtsverhältnis; es kann wie unter fremden Dritten bestehen. Das als Erwerbsgrundlage genutzte Gebäude führt so zu Einkünften aus Vermietung und Verpachtung46. Entsprechen sich in derartigen Rechtsbeziehungen allerdings Leistung und Gegenleistung nicht, leistet etwa der Arbeitgeber eine höhere als die marktübliche Miete oder einen höheren als den marktüblichen Zinssatz, liegen insoweit gemischt veranlasste Einnahmen hervor, als im Umfang des zusätzlichen Vorteils eine vom Arbeitgeber stammende Zuwendung besteht, die insoweit nicht durch die Kapitalüberlassung, sondern allein durch das Arbeitsverhältnis veranlasst war und insoweit sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach als Vorteil aus dem Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist47. 6. Privat veranlasste Aufwendungen, die zugleich Sonderausgaben sind Das Aufteilungs- und Abzugsverbot galt schon vor dem Beschluss des Großen Senats von 2009 nicht für Aufwendungen der Lebensführung, soweit als Sonderausgaben abziehbar. Das Aufteilungs- und Abzugsverbot des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG sollte nicht beim Zusammentreffen von Werbungskosten und Sonderausgaben gelten48, weil § 12 EStG zwar Lebenshaltungskosten, freiwillige Zuwendungen und Personensteuern vom Abzug ausschloss, aber der Einleitungssatz des § 12 davon gerade die Sonderausgabentatbestände ausdrücklich ausnahm. Bewarb sich beispielsweise ein Beamter des gehobenen Dienstes der Kriminalpolizei um die Zulassung zum höheren Dienst, waren die Kosten der Prüfungsvorbereitung Ausbildungskosten i.S. des § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG; nutzte der Beamte sein häusliches Arbeitszimmer zur Vorbereitung von Einsatzmaßnahmen im Kriminalpolizeidienst, waren die Kosten für das häusliche Arbeitszimmer Werbungskosten. Insgesamt lagen damit gemischt veranlasste Aufwendungen vor, die entsprechend der anteiligen Nutzung des Arbeitszimmers als Werbungskosten und Sonderausgaben berücksichtigt wurden49. Waren die Auf­ wendungen gleichzeitig und ununterscheidbar sowohl beruflich als auch privat veranlasst, konnten diese sogar insgesamt als Betriebsausgaben/Werbungskosten abgezogen werden, weil der Betriebsausgaben-/Werbungskostenabzug gegenüber dem Sonderausgabenabzug vorrangig ist50. 46 BFH v. 7.6.2002 – VI R 145/99, BStBl. II 2002, 829; v. 16.9.2004 – VI R 25/02, BStBl. II 2006, 10. 47 Von Arbeitgebern zugewandte Wandeldarlehen und Wandelschuldverschreibungen, BFH v. 23.6.2005 – VI R 10/03, BStBl. II 2005, 770; VI R 124/99, BStBl. II 2005, 766; verbilligter Verkauf von Waren durch den Arbeitgeber (Jahreswagen), v. 26.7.2012  – VI R 30/09, BStBl. II 2013, 400; VI R 27/11, BStBl. II 2013, 402; v. 17.6.2009 – VI R 18/07, BStBl. II 2010, 67. 48 Dazu jeweils m.w.N. Fissenewert in Herrmann/Heuer/Raupach, § 12 EStG Rz. 4; Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 10 EStG Rz. J 228. 49 BFH v. 29.4.1992  – VI R 33/89, BFH/NV 1992, 733; zu Promotionskosten BFH v. 18.4.1996 – VI R 54/95, BFH/NV 1996, 740; v. 10.6.1986 – IX R 11/86, BStBl. II 1986, 894. 50 BFH. v. 18.4.1996 – VI R 54/95, BFH/NV 1996, 740; insgesamt dazu: Söhn in Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, § 10 EStG Rz. J 230; Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz. 18 mit weiteren Beispielen.

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7. Gesetzlich geregelte Fälle gemischter Veranlassung Der Gesetzgeber hat bestimmte Lebenssachverhalte, die typische gemischte Veranlassungszusammenhänge aufweisen, für die steuerliche Praxis insbesondere im Sammeltatbestand der nicht abziehbaren Betriebsausgaben51 und Werbungskosten (§  4 Abs. 5, § 9 Abs. 5 EStG) geregelt. So ist die doppelte Haushaltführung privat mitveranlasst. Denn wer einen doppelten Haushalt im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5, § 4 Abs. 5 Nr. 6a EStG einrichtet, trifft die jedenfalls privat mitveranlasste Entscheidung über seinen privaten Wohnort52 und nutzt die Zweitwohnung am Beschäftigungsort im Grundsatz nicht anders als seinen privaten Haupthausstand, dem „eigenen Hausstand“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG für jedenfalls auch privates Wohnen und Leben. Nichts anderes gilt für die Übernachtungskosten bei Geschäftsund Dienstreisen (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5a EStG). Auch hier bleibt das Schlafen im Hotelbett ureigene private Angelegenheit, auch wenn die Tätigkeit am Zielort selbst beruflich veranlasst ist, ebenso das Essen und Trinken des Steuerpflichtigen bei einer solchen auswärtigen betrieblichen/beruflichen Tätigkeit. Und selbst Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte (§  9 Abs.  1 Satz  3 Nr.  4 i.V.m. Abs.  4 EStG), nach althergebrachten steuerrechtlichen Grundsätzen beruflich veranlasst, gelten aus Sicht des BVerfG53 angesichts der regelmäßig privaten Wahl des Wohnorts als privat mitveranlasst. Weiter gehören  – jedenfalls nach Auffassung des Gesetz­ gebers – zu den auch privat veranlassten Aufwendungen die Berufsausbildungskosten (§ 9 Abs. 6, § 4 Abs. 9 EStG) und die mittlerweile als Sonderausgaben qualifizierten Kinderbetreuungskosten54 (§ 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG, früher § 33c, § 4f und § 9c EStG).

51 „sprachlich eine Provokation, systematisch ein Widerspruch, … in vielen Rechtswirkungen jedoch offensichtlich gerecht“ so Paul Kirchhof in DStJG 3 (1980), 201; Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, S. 335 weist zutreffend darauf hin, dass dieser Katalog aus kausaltheoretischer Sicht keine Betriebsausgaben sondern betrieblich und privat veranlasste Ausgaben regelt. 52 Nach Auffassung des BVerfG ein ausreichender Grund für eine private Mitveranlassung, BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27, dazu unten. 53 Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte konnten seit dem ersten Reichseinkommensteuergesetz 1920 als Werbungskosten abgezogen werden, zur Rechtsentwicklung: BFH v. 10.1.2008 – VI R 17/07, BStBl. II 2008, 234 Rz. 49 ff. der Gründe; zur privaten Mitveranlassung: BVerfG v. 9.12.2008  – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 Rz. 72 der Gründe; zur privaten Wahl des Wohnorts in der Entscheidung zur doppelten Haushaltsführung in Fällen der Kettenabordnung und der beidseits berufstätigen Ehegatten BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 Rz. 58 f. der Gründe; für eine gemischte Kausalität dieser Aufwendungen schon Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, S. 337. 54 BVerfG v. 11.10.1977  – 1 BvR 343/73, BVerfGE 47, 1; v. 10.11.1998  – 2 BvR 1057/91, BVerfGE 99, 216; BFH v. 23.4.2009 – VI R 60/06, BStBl. II 2010, 267; v. 29.9.2016 – III R 62/13, BStBl. II 2017, 259; Jachmann, DStR 2010, 2009, BB 2008, 591; jm 2016, 168; Hey, NJW 2006, 2001; Seiler, DStR 2006, 1631.

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a) … ihre Rechtsfolgen Wenn der Gesetzgeber trotz privater Mitveranlassung der Aufwendungen diese jedenfalls dem Grunde nach berücksichtigt, wenn auch der Höhe nach in der einen oder anderen Form den Abzug begrenzt, ist dies keine freigiebige Steuerbegünstigung sondern ganz überwiegend Umsetzung des Grundsatzes, dass der Gesetzgeber nicht allein deshalb Aufwendungen „als beliebig disponibel betrachten darf, weil solche Aufwendungen privat (mit-)veranlasst sind“55. So unterscheiden die Tatbestände zwischen privatem Grundbedarf und beruflichem Mehrbedarf und setzen den Mehrbedarf nur mit Pauschalen an (z.B. Verpflegungsmehraufwand). Der Ansatz des pauschalen Verpflegungsmehraufwands (§§ 4 Abs. 5 Nr. 5, 9 Abs. 4a Satz 3 Nr. 1–3 EStG) ist dadurch gerechtfertigt, dass in Bezug auf den „Mehr“aufwand der berufliche Veranlassungszusammenhang dominiert und die private Mitveranlassung zu vernachlässigen ist. Diesen allgemeinen Gedanken eines deutlich überwiegenden beruflichen Veranlassungszusammenhangs mit entsprechenden Folgen für den Ansatz des beruflichen Anteils hatte der Große Senat in seinem Beschluss von 200956 bereits verankert und der Lohnsteuersenat57 zu Telefonkosten mit Angehörigen angewandt. Die Tatbestände der doppelten Haushaltsführung und des häuslichen Arbeitszimmers lassen den Abzug des tatsächlich entstandenen Mehraufwands zu, begrenzen diesen aber dann betragsmäßig. Ähnliches gilt für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte, die pauschal je Entfernungskilometer abgeltend und grundsätzlich unabhängig vom tatsächlichen Aufwand berücksichtigt werden. Es gilt ein Höchstbetrag von 4.500 Euro, soweit nicht das eigene Kraftfahrzeug oder öffentliche Verkehrsmittel genutzt werden (§  9 Abs.  1 Satz  3 Nr.  4 Satz  2 Halbs. 2 EStG, § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG). Für betrieblich/beruflich veranlasste Geschenke gilt der Höchstbetrag von 35 Euro, für betrieblich/beruflich veranlasste Bewirtungskosten eine Abzugsbegrenzung58 auf 70 % (§ 4 Abs. 5, § 9 Abs. 5 Satz 1 EStG). Die als Sonderausgaben berücksichtigten Kinderbetreuungskosten (§ 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG) werden schließlich ebenfalls nur zu 2/3 der Aufwendungen berücksichtigt und zu55 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 Rz. 69. 56 BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672, zweiter Leitsatz und Rz. 128 f. mit dem Beispiel, dass etwa ein Arbeitnehmer auf Weisung seines Arbeitgebers einen beruflichen Termin wahrnimmt. Dann können die Kosten der Hin- und Rückreise auch dann insgesamt beruflich veranlasst sein, wenn der berufliche Pflichttermin mit einem Privataufenthalt verbunden wird. 57 BFH v. 5.7.2012 – VI R 50/10, BStBl. II 2013, 282; dort waren Kosten privater wöchentlicher Telefongespräche eines Marinesoldaten während eines dreimonatigen Einsatzes auf hoher See Werbungskosten, weil trotz Untrennbarkeit der beruflichen und privaten Veranlassung die Aufwendungen so stark durch die berufliche/betriebliche Situation geprägt waren, dass der private Veranlassungsbeitrag bei wertender Betrachtung ähnlich wie beim Verpflegungsmehraufwand unbedeutend blieb; die Vorinstanz wandte schon den gleichen Rechtsgedanken an, gestützt auf den Tatbestand der doppelten Haushaltsführung, Niedersächsisches FG v. 2.9.2009 – 7 K 2/07, DStRE 2010, 853. 58 Die allerdings nicht greift, wenn ein Arbeitnehmer aus beruflichem Anlass Aufwendungen für die Bewirtung von Arbeitskollegen trägt: BFH v. 10.7.2008  – VI R 26/07, BFH/NV 2008, 1831; v. 20.1.2016  – VI R 24/15, BStBl.  II 2016, 744; v. 10.11.2016  – VI R 7/16, BStBl. II 2017, 409.

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sätzlich auf den Höchstbetrag von 4.000 Euro je Kind begrenzt. Nur ausnahmsweise sind die Aufwendungen auch unbegrenzt in der tatsächlichen Höhe abziehbar, so bei beruflich veranlassten Übernachtungskosten. Nicht nur diese, sondern grundsätzlich alle Aufwendungen können aber auf den angemessenen Aufwand begrenzt werden (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 7 EStG i.V.m. § 9 Abs. 5 Satz 1 EStG)59. b) … und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen Das BVerfG hatte in drei grundlegenden Entscheidungen die verfassungsrechtlichen Grundlagen und Grenzen gesetzlicher Regelungen in Fällen gemischter Veranlassung vorgezeichnet, nämlich zu den Tatbeständen der doppelten Haushaltsführung, des häuslichen Arbeitszimmers sowie der „Pendlerpauschale“. Deren Quintessenz ist, dass auch in Fällen gemischter Veranlassung der Steuerabzug nicht im Belieben des Gesetzgebers steht. Denn natürlich gilt auch hier der verfassungsrechtlich gebotene Grundsatz der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit. Verfassungsrechtlich kommt es auch nicht allein auf die einfachrechtliche Unterscheidung ­zwischen beruflichem oder privatem Veranlassungsgrund für Aufwendungen an, sondern jedenfalls auch auf die „Unterscheidung zwischen freier oder beliebiger Einkommensverwendung einerseits und zwangsläufigem, pflichtbestimmtem Aufwand andererseits“. Das BVerfG entzieht sich – aus seiner Warte zu Recht – der einfachrechtlichen Diskussion um berufliche oder private Veranlassungszusammenhänge und verweist stattdessen auf den Unterschied zwischen der einfachgesetzlichen Qualifikation der Aufwendungen einerseits und der verfassungsrechtlich zulässigen gesetzgeberischen „Bewertung und Gewichtung multikausaler und multifinaler Wirkungszusammenhänge“ im Schnittbereich zwischen beruflicher und privater Sphäre andererseits. Der Veranlassungszusammenhang ist, so das BVerfG, hinsichtlich der „unterschiedlichen Gründe, die den Aufwand veranlassen, auch dann im Lichte betroffener Grundrechte differenzierend zu würdigen, wenn solche Gründe ganz oder teilweise der Sphäre der allgemeinen (privaten) Lebensführung zuzuordnen sind“60. Inwieweit der Gesetzgeber gerade in Fällen gemischter Veranlassung die realitätsgerechte Typisierung der Abzugstatbestände zu beachten hat, zeigen die Entscheidungen des BVerfG dazu. So verfehlte die typisierende gesetzliche Begrenzung der doppelten Haushaltführung auf zwei Jahre das Prinzip realitätsgerechter Typisierung, wenn sie die tatsächlich nicht seltenen Fälle einer mehrfachen Abordnung von Arbeitnehmern an denselben Arbeitsort (Kettenabordnung) sowie die Fälle beiderseits berufstätiger Ehegatten nicht erfasste. In Fällen der Kettenabordnung eine überwiegend private Motivation für das Beibehalten der Zweitwohnung nach Ablauf von zwei Jahren zu unterstellen und im Falle der „Doppelverdienerehe“ bei entsprechend auseinander liegenden Ar59 Angewandt bei Nutzung eines Privatflugzeugs, BFH v.19.1.2017  – VI R 37/15, BStBl.  II 2017, 526; weitere Fälle: Ferrari beim Tierarzt, BFH v. 29.4.2014 – VIII R 20/12, BStBl. II 2014, 679; Goldstücke als Geschenke an Geschäftsfreunde, BFH v. 20.8.1986 – I R 29/85, BStBl. II 1987, 108; Miethubschrauber, BFH v. 27.2.1985 – I R 20/82, BStBl. II 1985, 458. 60 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 Rz. 56.

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beitsplätzen die doppelte Haushaltsführung nach Ablauf von zwei Jahren mit beliebig disponibler privater Einkommensverwendung gleichzusetzen, war eine „offenkundig unzulässige Typisierung“61. Die Pendlerpauschale, welche die Kosten für die ersten 20 Entfernungskilometer vom Werbungskostenabzug ausschloss, typisierte ebenfalls nicht realitätsgerecht; vielmehr hätte der umgekehrte Gedanke dazu getragen, dass nämlich mit zunehmender Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte der berufliche Veranlassungszusammenhang schwindet. Die Grenzen des erheblichen Typisierungsspielraums waren überschritten, trotz der verfassungsrechtlich zu beachtenden „Gewichtung multikausaler und multifinaler Wirkungszusammenhänge im Schnittbereich zwischen beruflicher und privater Sphäre“; der Aufwand konnte nicht „hinwegtypisiert“ werden62. Die Pendlerpauschale erwies sich als singuläre, vom einkommensteuerrechtlichen Nettoprinzip abweichende Regelung. Das „Werkstorprinzip“ war im übrigen Einkommensteuerrecht ein Fremdkörper. Die Regelung zum häuslichen Arbeitszimmer verfehlte das Gebot einer hinreichend realitätsgerechten Typisierung, weil sie die Aufwendungen auch dann vom Abzug ausschloss, wenn für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung stand und die Erforderlichkeit eines häuslichen Arbeitsplatzes objektiv feststand63. Ist ein Aufwand beruflich erforderlich, lässt er sich nicht einfach hinwegtypisieren64. An diese maßstabgebenden verfassungsrechtlichen Grundlagen knüpft der Vorlagebeschluss des VI. Senats zu den Berufsausbildungskosten und legte dementsprechend dem BVerfG die Frage vor, ob § 9 Abs. 6 EStG65 insoweit mit dem GG vereinbar ist, als danach Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung keine Werbungskosten sind66. Der Vorlagebeschluss sieht in §  9 Abs.  6 EStG eine systemfremde singuläre Durchbrechung des Veranlassungsprinzips, die auch nicht mit Typisierung zu rechtfertigen ist. Denn auch hier erscheint die Grundentscheidung des Gesetzgebers, dass die erste Berufsausbildung und das Erststudium grundsätzlich der privaten Lebensführung zuzuordnen ist, aber jede andere Berufsausbildung einschließlich der ersten in einem Ausbildungsverhältnis beruflich veranlasst sind, realitätsfremd. Der Umstand, dass Aufwendungen für eine Ausbildung zu einem Beruf auf einem beruflichen Veranlassungszusammenhang gründen, kann auch nicht durch Gesetz „hinwegtypisiert“ werden. Der Vorlagebeschluss lässt weiter (hilfsweise) dahinstehen, ob Berufsausbildungskosten einfachrechtlich dem berufli61 BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 Rz. 69: der Gesetzgeber darf nicht deshalb Aufwendungen „als beliebig disponibel betrachten …, weil solche Aufwendungen privat (mit-)veranlasst sind“. 62 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 Rz. 75 ff. (78). 63 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 Rz. 48. 64 BVerfG v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297 Rz. 45; erkennbare Erforderlichkeit fungiert als legitimes Hilfsmittel einer typisierenden Abgrenzung von Erwerbs- und Privatsphäre. 65 I.d.F. des BeitrRLUmsG v. 7.12.2011 (BGBl. I 2011, 2592). 66 BFH v. 17.7.2014 – VI R 8/12 u.a., BFHE 247, 64; HFR 2014, 1064.

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chen oder dem privaten Lebensbereich zuzuordnen sind. Denn derartige Aufwendungen der Steuerpflichtigen sind jedenfalls erforderlich, zwangsläufig, zwingend und unabweisbar, also jedenfalls nicht der beliebigen Einkommensverwendung sondern „dem zwangsläufig pflichtbestimmten Aufwand“67 zuzurechnen. Demnach ist es auch aus der Warte des subjektiven Nettoprinzips verfassungsrechtlich geboten, den Aufwand für die eigene Berufsausbildung einkommensteuerrechtlich zu berücksichtigen, und zwar realitätsgerecht.

67 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 Rz. 65; BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27 Rz. 56.

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4. Teil Materielles Steuerrecht A. II. 5.

Subjektives Nettoprinzip im Einkommensteuerrecht Von Roland Krüger

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Das subjektive Nettoprinzip als ­Ausprägung des Leistungsfähigkeits­ prinzips I II. Die Bemessung des Existenzminimums 1. Existenznotwendiger Aufwand

2. Bemessung des existenznotwendigen Aufwands 3. Steuerliche Freistellung des existenz­ notwendigen Aufwands a) Grundfreibetrag b) Unterhaltsaufwendungen c) Vorsorgeaufwendungen d) Außergewöhnliche Belastungen

I. Einführung Das Einkommensteuerrecht unterscheidet zwischen Einkommenserzielung und Einkommensverwendung. Gegenstand der Einkommensteuer ist das erzielte Einkommen. Bei dessen Berechnung werden zwar weitgehend, aber nicht vollständig die zu seiner Erzielung erforderlichen Aufwendungen abgesetzt. Dieser Befund wird auch als das sog. objektive Nettoprinzip bezeichnet. Es bezieht sich auf die Erwerbssphäre. Der Steuerpflichtige darf die Erwerbseinnahmen um die Aufwendungen mindern, die er aus Anlass seiner Erwerbstätigkeit leistet. Denn zur Steuerzahlung steht ihm nur der Saldo zwischen den Erwerbseinnahmen und den Erwerbsaufwendungen zur Verfügung. Die Erwerbssphäre wird bei der Einkommensteuer von der Privatsphäre abgegrenzt. Das subjektive Nettoprinzip bezieht sich auf diese Privatsphäre. Denn es gibt auch dort notwendige Zahlungsverpflichtungen, denen sich der Steuerpflichtige nicht entziehen kann. Die zur Steuerzahlung zur Verfügung stehenden Erwerbseinkünfte müssen auch um solche Aufwendungen gemindert werden. Denn was der Steuerpflichtige zur Existenzsicherung für sich und seine Familie aufwenden muss, steht für die Steuerzahlung nicht mehr zur Verfügung. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Vorschriften des EStG, stößt man auf einen erstaunlichen Befund. Während das objektive, erwerbssichernde Nettoprinzip in § 2 Abs. 2 EStG geregelt ist, existiert für das subjektive Nettoprinzip im EStG keine vergleichbare Bestimmung. Einfachrechtlich finden sich Vorschriften, die das sub1261

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jektive Nettoprinzip verwirklichen sollen z.B. in § 2 Abs. 4 und Abs. 5 EStG durch den Abzug der Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen sowie verschiedener (Frei-)Beträge. Diese Abzugsbeträge wurden aber lange Zeit nicht als Ausdruck des subjektiven Nettoprinzips identifiziert. So sah z.B. die ältere Rechtsprechung den Abzug der außergewöhnlichen Belastungen als eine Billigkeitsregelung an, die eine Wesensverwandtschaft mit § 131 RAO bzw. § 227 AO aufweise1. Es verwundert daher nicht, dass das subjektive Nettoprinzip vor allem verfassungsrechtlich entwickelt und fundiert wurde. Erst auf diesem „Umweg“ fand es auch seine einfachrechtliche Anerkennung.

II. Das subjektive Nettoprinzip als Ausprägung des Leistungsfähigkeitsprinzips Das BVerfG hat in seinem Beschluss zum Kinderfreibetrag vom 23.11.19762 bereits erkannt, dass der Gesetzgeber bei der steuerlichen Berücksichtigung der bei der Einkommens­verwendung entstehenden Lasten nicht bestimmten normübergreifenden Grundsätzen folgt. Er geht in § 12 Nr. 1 EStG allerdings davon aus, dass die für den Haushalt des Steuerpflichtigen und für den Unterhalt seiner Familienangehörigen aufgewandte Beträge weder bei den einzelnen Einkunftsarten noch beim Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden dürfen. Bei diesem Befund ist das BVerfG jedoch nicht stehen geblieben. Es hat hervorgehoben, dass es ein grundsätzliches Gebot der Steuergerechtigkeit sei, die Besteuerung, insbesondere die Einkommensteuer, nach der (wirtschaftlichen) Leistungsfähigkeit auszurichten. Auch wenn das Leistungsfähigkeitsprinzip vieldeutig sei3, ergebe sich daraus aber jedenfalls, dass auch solche Ausgaben einkommensteuerrechtlich zu berücksichtigen seien, die außerhalb der Sphäre der Einkommenserzielung anfielen und für den Steuerpflichtigen unvermeidbar seien. Diese von Desens4 zu Recht als „beherzt“ bezeichnete Aussage hat das BVerfG in seinem Beschluss zum Kinderfreibetrag lediglich in den Raum gestellt, ohne sie näher zu begründen. Die damalige Rechtsbehauptung des BVerfG trifft dennoch zu. Sie ist heute Allgemeingut in Rechtsprechung und Steuerrechtswissenschaft geworden. Aber warum ist das so? Betrachtet man zunächst das Binnensystem der Einkommensteuer, ist zu konstatieren, dass private Aufwendungen nicht die Einkommenserzielung, sondern die Einkommensverwendung betreffen. Damit ist aber weder einfachrechtlich und erst Recht nicht verfassungsrechtlich entschieden, dass solche privaten Aufwendungen vom Abzug ausgeschlossen sind. Der Steuerpflichtige konnte 1976 jede Deutsche Mark und kann heute jeden Euro nur einmal ausgeben. Das bedeutet gleichzeitig, 1 Nachweise bei Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, § 33 EStG Rz. 8. 2 BVerfG v. 23.11.1976 – 1 BvR 150/75, BVerfGE 43, 108. 3 Dazu auch F. Kirchhof, BB 2017, 662. 4 Desens, StuW 2016, 240 (250).

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dass eine Geldeinheit, die er für die Steuerzahlung aufzuwenden hat, nicht mehr anderweitig zur Verfügung steht. Er kann damit weder die Einkommenserzielung noch den privaten Konsum finanzieren. Aus diesem Grund kann der Steuerpflichtige auf der Seite der Einkommenserzielung auch die Erwerbseinnahmen um die Erwerbsaufwendungen mindern (objektives Nettoprinzip). Er muss lediglich auf den positiven Unterschiedsbetrag Steuern zahlen. Bei den Ausgaben für den privaten Konsum stellt sich die Sache dagegen anders dar. Aufwendungen, die die private Lebensführung des Steuerpflichtigen mit sich bringt, sind einfachrechtlich nicht als Betriebsausgaben (§  4 Abs.  4 EStG) oder als Werbungskosten (§ 9 EStG) abziehbar, da sie nicht durch die Erwerbstätigkeit des Steuerpflichtigen veranlasst sind. Der einfache Gesetzgeber hält es für angemessen, dass der Steuerpflichtige aus seinem freien Einkommen, das ihm für den Konsum zur Verfügung steht, Einkommensteuer zahlt. Die Verfassung nimmt insoweit keine abweichende Wertung vor. Von dem Einkommen, das der Steuerpflichtige für den privaten Konsum aufwenden kann, sind jedoch die Beträge abzugrenzen, die er für die Sicherung seiner eigenen Existenz und der seiner Unterhaltsberechtigten aufwenden muss. Auch wenn die Existenz­sicherung nicht der Erwerbs- sondern der Privatsphäre zuzurechnen ist, stehen die hierfür erforderlichen Aufwendungen für eine Steuerzahlung nicht mehr zur Verfügung5. Der Steuerpflichtige kann dieselbe Geldeinheit eben nicht gleichzeitig für die Existenzsicherung und die Steuerzahlung ausgeben. Vor diese Alternative gestellt, kann die der Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verpflichtete Verfassung des GG eigentlich nur eine Antwort bereithalten, wofür der Steuerpflichtige die Geldeinheit auszugeben hat, nämlich für die Sicherung seiner Existenz und die seiner Familie. Und so ist es dann auch. Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Beurteilung ist der Grundsatz, dass der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird. Dieses verfassungsrechtliche Gebot folgt aus Art.  1 Abs.  1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz des Art.  20 Abs.  1 GG. Ebenso wie der Staat nach diesen Verfassungsnormen verpflichtet ist, dem mittellosen Bürger diese Mindest­voraussetzungen erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern, darf er dem Bürger das selbst erzielte Einkommen bis zu diesem Betrag nicht entziehen6. Aus den genannten Verfassungsnormen und aus Art. 6 Abs. 1 GG folgt ferner, dass bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss. Das gilt unabhängig davon, wie die Besteuerung im Einzelnen ausgestaltet ist und welche Familienmitglieder dabei als Steuerpflichtige herangezogen werden. Auch wenn, wie es in aller Regel bei Eltern mit noch nicht selbst verdienenden Kindern der Fall ist, nur einzelne Familienmitglieder ein Ein5 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band II, 2. Aufl. 2003, S. 785. 6 BVerfG v. 25.9.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60.

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kommen erzielen und diese aufgrund gesetzlicher Verpflichtung für den Unterhalt der weiteren Familienmitglieder aufkommen, muss das Existenzminimum für die gesamte Familie steuerfrei bleiben. Denn auch in diesem Fall müsste der Staat, wenn er dem Steuerpflichtigen die Mittel für die Unterstützung der unterhaltsbedürftigen Familienmitglieder entzöge, diese in entsprechender Höhe aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung aus dem Sozialstaatsgebot selbst unterstützen. Überlässt er dagegen in verfassungsmäßiger Weise die Unterstützung dem Bürger, wäre es inkonsequent, diesem die dafür benötigten Mittel im Wege der Besteuerung ganz oder teilweise mit der Folge zu entziehen, dass der Staat die Unterstützung des Bedürftigen selbst übernehmen müsste7. Das subjektive Nettoprinzip fordert den Abzug privater Aufwendungen von der Einkommensteuer hiernach nur in einem eng begrenzten Umfang. Es betrifft nur die unvermeidlichen, für die Existenzsicherung zwingend erforderlichen Aufwendungen. Wie Tipke zu Recht betont, würde es die Einkommensteuer ad absurdum führen, wenn beliebige private Aufwendungen von der Bemessungsgrundlage abgezogen werden dürften8. Das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums hat nicht den Sinn, die Kosten eines über dem Sozialhilfeniveau liegenden Lebensstandards über die Einkommensteuer auf die Allgemeinheit zu verteilen9. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben, die das so begrenzte subjektive Nettoprinzip erfordern, fügen sich in das System der Einkommensteuer ein. Die Einkommensteuer ist eben keine Betriebs- oder Markteinkommensteuer, sondern eine Personensteuer. Sie knüpft zwar einerseits an das Markteinkommen der Steuerpflichtigen an, berücksichtigt nach ihrem traditionellen Bestand in Freibeträgen und Abzügen (z.B. Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen) aber ebenso auch Aufwendungen des Steuerpflichtigen, die nicht zur Erzielung des Markteinkommens getätigt werden10. Die Prämisse, für die Einkommensteuer sei nur die Einkommenserzielung, nicht aber die Einkommensverwendung relevant, trifft daher bereits im Ausgangspunkt nicht zu. Verfassungsrechtlich geboten ist der Abzug von Privataufwendungen aber nur, soweit es sich um existenzsichernde Aufwendungen handelt. Es geht hierbei also nicht um die Abgrenzung der Einkommens­erzielung von der Einkommensverwendung sondern um die Abgrenzung des (für die Steuerzahlung) disponiblen vom indisponiblen Einkommen. Diese Abgrenzung erfolgt auf der Ebene der Einkommenserzielung durch das objektive Nettoprinzip und auf der Ebene der Einkommensverwendung durch das subjektive Nettoprinzip.

III. Die Bemessung des Existenzminimums Existenznotwendiger Aufwand ist hiernach also in angemessener, realitätsgerechter Höhe von der Einkommensteuer freizustellen. Diese, dem Beschluss des BVerfG vom 7 BVerfG v. 25.9.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60. 8 Tipke (Fn. 5), S. 785 (786). 9 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125. 10 Böckenförde, StuW 1986, 336.

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10.11.199811 zum Kinderexistenzminimum entnommene Forderung des GG wirft ihrerseits wieder zahlreiche Folgefragen auf. Zunächst muss die Frage beantwortet werden, was unter dem Begriff des existenznotwendigen Aufwands überhaupt zu verstehen ist. Hat man die entsprechenden, existenznotwendigen Aufwandspositionen dem Grunde nach identifiziert, ist weiter zu fragen, in welcher Höhe dieser Aufwand angemessen und realitätsgerecht ist. Drittens ist zu klären, auf welche Art und Weise die Freistellung von der Einkommensteuer vorgenommen werden soll. Keine dieser Fragen ist einfach und ohne weiteres aus dem GG zu beantworten. 1. Existenznotwendiger Aufwand Ein Mensch benötigt zur Sicherung seiner biologischen Existenz Nahrung. Der Aufwand hierfür ist sicher existenznotwendig. Natürlich bleibt das der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtete GG bei dieser Erkenntnis nicht stehen. Dem Grunde nach existenznotwendig ist daher mindestens der Aufwand, der zur Befriedigung der Bedürfnisse für ein menschenwürdiges Leben anfällt. Dieser umfasst im Sinne eines sächlichen Existenzminimums neben der bereits angesprochenen Nahrung auch Aufwendungen für Kleidung, Hygiene, Hausrat, Wohnung und Heizung. Damit ist der existenznotwendige Aufwand im Sinne des subjektiven Nettoprinzips aber ebenfalls noch nicht erschöpft. Wie bereits dargelegt wurde, hat der Staat des GG dem mittellosen Bürger die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein durch Sozialleistungen zu finanzieren. Es ist vor diesem Hintergrund nur konsequent und folgerichtig, auch den von der Einkommensteuer freizustellenden existenznotwendigen Aufwand nach dem Maßstab zu bestimmen, den das Sozial(hilfe)recht vorgibt. Das BVerfG formuliert dies ganz zutreffend und plastisch, wenn es ausführt: „Was der Staat dem Einzelnen voraussetzungslos aus allgemeinen Haushaltsmitteln zur Verfügung zu stellen hat, das darf er ihm nicht durch Besteuerung seines Einkommens entziehen“12. Die Untergrenze des existenznotwendigen Aufwands konkretisiert das BVerfG dementsprechend durch die Sozialhilfeleistungen, die das im Sozialstaat anerkannte Existenzminimum gewährleisten sollen. Die Sozialhilfe bildet mit ihren Leistungen das unterste soziale Netz. Die Leistungshöhe der Hilfe zum Lebensunterhalt wird vor allem durch die Regelbedarfe bestimmt. Diese umfassen insbesondere Leistungen für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile sowie für persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens einschließlich der gesellschaftlichen Teilhabe. Außerdem werden im Sozialhilferecht Sonderbedarfe berücksichtigt, die unregelmäßige und/oder ergänzende Bedarfe darstellen. Hilfe zum Lebensunterhalt umfasst darüber hinaus auch Bildungs- und Teilhabeleistungen für Kinder sowie (unter dem Vorbehalt der Angemessenheit) die jeweiligen tatsächlichen Wohnkosten, also die Kosten für Unterkunft und die Heizkosten einschließlich Warmwasserbereitung. 11 BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246. 12 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125.

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Auch bei diesen vier Eckpfeilern des Sozialhilfebedarfs (Regelbedarf, Bildungs- und Teilhabebedarf für Kinder, Unterkunftskosten, Heizkosten) ist das BVerfG aber nicht stehen geblieben. Im Jahr 2008 hat es auch Aufwendungen für den Erwerb eines Versicherungsschutzes für den Krankheits- und Pflegefall auf sozialhilferechtlich an­ erkanntem Leistungsniveau als eine weitere Komponente des steuerlich zu verschonenden Mindestbedarfs anerkannt13. Denn die Kranken- und Pflegeversorgung ist integraler Bestandteil des Leistungskatalogs der Sozialhilfe. Das Existenzminimum, das nach dem subjektiven Nettoprinzip steuerfrei bleiben muss, ist nach alledem schon relativ weit gefasst. Ob die momentane Grenzziehung dauerhaft Bestand haben wird, ist dabei keinesfalls sicher. Die Höhe des Existenzminimums hängt nicht nur von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen, sondern auch von dem nach den gesellschaftlichen Anschauungen anzusetzenden Mindestbedarf ab14. Was für ein menschenwürdiges Dasein erforderlich ist, steht nicht explizit im GG sondern kann der Verfassung nur durch Auslegung entnommen werden. Für diese Auslegung besteht  – wie die bisherige Entwicklung zeigt  – mangels klarer grundgesetzlicher Vorgaben ein erheblicher Spielraum. Die Tendenz scheint dahin zu gehen, den existenznotwendigen Bereich immer weiter auszudehnen. 2. Bemessung des existenznotwendigen Aufwands Hinsichtlich der einzelnen Aufwandspositionen des existenznotwendigen Bedarfs gehen Steuer- und Sozialhilferecht dem Grunde nach somit denselben Weg. Bei der Bemessung dieses Aufwands der Höhe nach ergeben sich dann aber doch gewisse Unterschiede. Die Leistungshöhe der sozialhilferechtlichen Regelbedarfe (§ 28 SGB XII) wird basierend auf einer gesamtdeutschen Verbrauchsstruktur anhand der Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ermittelt und entsprechend den gesetzlichen Vorschriften fortgeschrieben (§ 28a SGB XII). Damit ist bei der Sozialhilfe für die Regelbedarfe ein bundesweit einheitliches Leistungsniveau gewährleistet. Dem sächlichen Existenzminimum von Kindern liegen grundsätzlich die gleichen Komponenten zugrunde wie dem Existenzminimum von Erwachsenen. Die sozialhilferechtlichen Regelbedarfe für Kinder sind dabei aber altersabhängig. Hinzu kommen die Bildungs- und Teilhabeleistungen. Die Kosten der Unterkunft werden gemäß § 35 Abs. 1 SGB XII in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht. Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf solange anzuerkennen, als es nicht möglich oder nicht zumutbar ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate. Die Heizkosten berechnen sich sozialhilferechtlich wieder auf der Basis der EVS. 13 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125. 14 BVerfG v. 14.6.1994 – 1 BvR 1022/88, BVerfGE 91, 93.

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Die Höhe der sozialhilferechtlichen Leistungen ist nach alledem einzelfallabhängig. Es liegt auf der Hand, dass das Einkommensteuerrecht das sozialhilferechtliche Leistungsniveau daher nicht in allen Einzelheiten genau nachzeichnen kann. Das BVerfG hat dem Steuergesetzgeber deshalb zugestanden, den existenznotwendigen Bedarf in einer vergröbernden, die Abwicklung von Massenverfahren erleichternden Art und Weise zu typisieren. Er ist dabei aber so zu bemessen, dass die Abzugsbeträge in mög­ lichst allen Fällen den existenznotwendigen Bedarf abdecken. Kein Steuerpflichtiger darf also infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen werden, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von staatlichen Leistungen sichern zu müssen15. Zur Bemessung des steuerlichen Existenzminimums legt die Bundesregierung in regelmäßigen Abständen Existenzminimumberichte vor. Der erste Existenzminimumbericht datiert vom 2.2.1995 für das Berichtsjahr 199616. Gegenstand der Existenzminimumberichte ist die Darstellung der maßgebenden Beträge für die Bemessung der steuerfrei zu stellenden Existenzminima. Für 2018 ist der 11. Existenzminimumbericht vom 2.11.2016 einschlägig17. Auch das steuerliche Existenzminimum geht von den sozialhilferechtlichen Regelbedarfen aus. Dies ist bei Erwachsenen aufgrund der bundeseinheitlichen Ermittlung anhand der EVS ohne weiteres möglich. Hinsichtlich des Existenzminimums für Kinder bestehen dagegen strukturelle Unterschiede zwischen den sozialhilferechtlichen, altersabhängigen Regelbedarfen und den steuerlichen Abzugspositionen. Das BVerfG lässt es zu, die steuerliche Entlastung für einen Einkommensbetrag in Höhe des sächlichen Existenzminimums der Kinder für alle Altersstufen und im ganzen Bundesgebiet einheitlich festzulegen18. Für jedes Kind einer Familie wird daher das Existenzminimum gleich hoch angesetzt. Die altersabhängigen Unterschiede werden für die Ermittlung des steuerfrei zu stellenden Betrages durch die Berechnung eines nach Lebensjahren gewichteten durchschnittlichen Regelbedarfs berücksichtigt. Von den Leistungen für Bildung und Teilhabe nach § 34 SGB XII finden steuerlich nur solche Aufwendungen Berücksichtigung, die typische Bedarfspositionen abdecken (Schulbedarf, Ausflüge, gesellschaftliche Teilhabe). In Anlehnung an die altersspezifische Berechnung des Durchschnittswerts beim Regelbedarf erfolgt auch der Ansatz der hiernach zu berücksichtigenden Beträge aufgrund einer pauschalierenden Altersabgrenzung mit einem gewichteten durchschnittlichen Monatsbetrag. Darüber hinaus gehört zum Existenzminimum von Kindern nach der Rechtsprechung des BVerfG auch der Betreuungs- und Erziehungsbedarf19. Dies gilt unabhängig von der Art der Betreuung und von den konkreten Aufwendungen bzw. vom Fa15 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153; v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125. 16 BT-Drucks. 13/381. 17 BT-Drucks. 18/10220. 18 BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60; v. 14.6.1994 – 1 BvR 1022/88, BVerfGE 91, 93. 19 BVerfG v. 10.11.1992 – 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216.

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milienstand. Beim Erziehungsbedarf sind die allgemeinen Kosten zu berücksichtigen, die Eltern aufzubringen haben, um ihrem Kind eine Entwicklung zu ermöglichen, die es zu einem verantwortlichen Leben in dieser Gesellschaft befähigt20. Ab dem Veranlagungszeitraum 2000 wurde deshalb ein Betreuungsfreibetrag von jährlich zunächst 1.546 Euro für jedes Kind bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres eingeführt. Zum 1. Januar 2002 erfolgte dann die Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zur Berücksichtigung des Erziehungsbedarfs. Hierbei wurde der bisherige Betreuungsfreibetrag um eine Erziehungskomponente erweitert. An die Stelle des Betreuungs- und Erziehungsbedarfs tritt bei volljährigen Kindern der Ausbildungsbedarf, so dass der Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf sowohl für minderjährige als auch für volljährige Kinder in Anspruch genommen werden kann21. Die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft beurteilt sich sozialhilferechtlich nach den individuellen Verhältnissen des Einzelfalls, insbesondere nach der Anzahl der Familienangehörigen, ihrem Alter und Gesundheitszustand, sowie nach der Zahl der vorhandenen Räume, dem örtlichen Mietenniveau und den Möglichkeiten auf dem örtlichen Wohnungsmarkt. Dies kann das Steuerrecht nicht nachzeichnen. Für die steuerliche Bemessung des Existenzminimums geht der 11. Existenzminimumbericht – unter Berücksichtigung der im Steuerrecht notwendigen Typisierung – für Alleinstehende von einer Wohnung mit einer Wohnfläche von 40 m² und für Ehepaare ohne Kinder von einer Wohnung mit einer Wohnfläche von 60 m² als angemessen aus, wobei für 2018 die Bruttokaltmiete mit 7,06 €/m² angesetzt wird. Für ein Kind sieht der 11. Existenzminimumsbericht im Rahmen der steuerrechtlichen Typisierung eine Wohnfläche von 12 m² als angemessen an. Hinsichtlich der Heizkosten wird auch steuerrechtlich auf die EVS zurückgegriffen. Bei der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern sind entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben Aufwendungen für den Erwerb eines Kranken- und Pflegeversicherungsschutzes auf sozialhilferechtlich anerkanntem Leistungsniveau als weitere Komponente des sozialhilferechtlichen Mindestbedarfs in voller Höhe steuerlich zu berücksichtigen. Die entsprechenden Regelungen enthält ab dem Veranlagungszeitraum 2010 § 10 Abs. 1 Nr. 3 EStG über den Sonderausgabenabzug. Der 11. Existenzminimumsbericht22 kommt für das Jahr 2018 zusammenfassend zu folgenden Ergebnissen hinsichtlich des steuerlich zu verschonenden sächlichen Existenzminimums (alle Beträge in Euro):

20 Kritisch zum Erziehungsbedarf Tipke (Fn. 5), S. 825 f. m.w.N. 21 Vgl. Zweites Gesetz zur Familienförderung vom 16. August 2001, BGBl. I 2001, 2074. 22 BT-Drucks. 18/10220.

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Subjektives Nettoprinzip im Einkommensteuerrecht Sächliches Existenzminimum Regelsatz Bildung und Teilhabe Unterkunftskosten Heizkosten Summe

Alleinstehende

Ehepaare

Kinder

4.968

8.952

3.372

0

0

228

3.396

5.088

1.020

636

816

168

9.000

14.856

4.788

Hinzu kommen die bereits angesprochenen Aufwendungen für den Erwerb eines Kranken- und Pflegeversicherungsschutzes auf sozialhilferechtlich anerkanntem Leistungsniveau. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung des sächlichen Existenzminimums nach den Existenzminimunsberichten im Laufe der Zeit (alle Beträge in Euro, gerundet). Sächliches Existenzminimum

Alleinstehende

Ehepaare

Kinder

1996

6.071

10.286

3.215

1999

6.455

10.976

3.424

2001

6.547

11.136

3.460

2003

6.948

11.640

3.636

2005

7.356

12.240

3.648

2008

7.140

12.276

3.648

2010

7.656

12.996

3.864

2012

7.896

13.727

4.272

2014

8.352

14.016

4.440

2016

8.652

14.472

4.608

2018

9.000

14.856

4.788

3. Steuerliche Freistellung des existenznotwendigen Aufwands Die vorgenannten Existenzminima hat der Gesetzgeber steuerfrei zu stellen. Das EStG bedient sich hierzu verschiedener Instrumente. a) Grundfreibetrag Das EStG berücksichtigt in der Nullzone des Steuertarifs gemäß § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr.  1 EStG einen jährlichen Grundfreibetrag. Dieser beläuft sich z.B. für 2016 auf 1269

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8.652 Euro, für 2017 auf 8.820 Euro und für 2018 auf 9.000 Euro. Der Grundfreibetrag entspricht also den jeweiligen sächlichen Existinzminima dieser Jahre bei alleinstehenden Steuerpflichtigen. Hierdurch wird das sächliche Existenzminimum allen (alleinstehenden) Steuerpflichtigen unabhängig von der Höhe ihres Einkommen gewährt. Die Steuerbelastung beginnt erst jenseits des sächlichen Existenzminimums. Diese gesetzgeberische Entscheidung wird teilweise kritisiert. Ihr wird insbesondere entgegengehalten, auch wohlhabenden Steuerpflichtigen komme auf diese Weise das Existenzminimum zugute, obwohl sie auf dessen Steuerfreistellung nicht angewiesen seien. Dieser Befund trifft sicher zu. Die Frage ist aber, ob es hierauf verfassungsrechtlich ankommen kann. Zunächst wird man dem Gesetzgeber unter freiheitsrechtlichen Gesichtspunkten kaum vorwerfen können, wenn er den Steuerpflichtigen mehr von ihrem Einkommen belässt, als dies zur Steuerfreistellung des Existenzminimums möglicherweise erforderlich ist. Gleichheitsrechtlich kommt hinzu, dass auch der Einkommensmillionär Aufwendungen für seine Existenzsicherung tätigen muss. Dieser Teil seines Einkommens ist auch für ihn nicht disponibel und steht für die Steuerzahlung wie bei jedem anderen Steuerpflichtigen nicht zur Verfügung. Daher ist es auch bei einem Einkommensmillionär gerechtfertigt, ihm den Grundfreibetrag zu gewähren. Andernfalls wäre er gegenüber Steuerpflichtigen gleichheitswidrig benachteiligt, die ihre existenznotwendigen Aufwendungen aus unversteuertem Einkommen decken können23. Das BVerfG sieht dies wohl genauso. Der existenznotwendige Bedarf bildet nach seiner Ansicht von Verfassungs wegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer24. Dieser Sichtweise hat sich der BFH angeschlossen. Das einkommensteuerrechtliche Existenzminimum wird hiernach noch nicht allein dadurch in einer verfassungsrechtlich hinreichenden Art und Weise berücksichtigt, dass dem Steuerpflichtigen nach Zahlung der Steuer ein ausreichendes Einkommen verbleibt25. Das einkommensteuerrechtliche Existenzminimum ist für alle Steuerpflichtigen unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz in voller Höhe von der Einkommensteuer freizustellen26. Im Schrifttum wird dies insbesondere von Bareis kritisiert und als Irrtum bezeichnet, der auf fehlerhafter mathematischer Analyse beruhe27. Das für alle Steuerpflichtigen geltende Existenzminimum (Grundfreibetrag) sei bereits vollständig in der Tariffunktion der Einkommensteuer berücksichtigt. Daran ist sicher richtig, dass der Grundfreibetrag nach dem Steuertarif allen Steuerpflichtigen zugutekommt. Eine andere Frage ist aber, ob der Grundfreibetrag das Existenzminimum realitätsgerecht abbildet. Die Antwort auf diese Frage kann keine mathematische Funktion liefern 23 Tipke (Fn. 5), S. 800. 24 BVerfG v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BVerfGE 87, 153. 25 BFH v. 2.9.2015 – VI R 32/13, BFHE 251, 196, BStBl. II 2016, 151. 26 BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246; v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268. 27 Bareis, DStR 2017, 823.

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Subjektives Nettoprinzip im Einkommensteuerrecht

sondern nur eine (juristische) Wertung. Zudem entspricht der Grundfreibetrag regelmäßig (nur) dem sächlichen Existenzminimum. Es wurde oben bereits gezeigt, dass das sächliche Existenzminimum lediglich einen Teilbereich des steuerlich freizustellenden Existenzminimums ausmacht. Das von der Einkommensteuer freizustellende Existenzminimum ist weiter als das sächliche Existenzminimum. Damit kann der Grundfreibetrag allein die Steuerfreistellung des Existenzminimums nicht bewirken. Etwas anderes wäre de lege ferenda anzunehmen, wenn der Gesetzgeber den Grundfreibetrag so hoch ansetzen würde, dass er den gesamten existenznot­ wendigen Bedarf so gut wie aller Steuerpflichtigen in möglichst allen Fällen abdeckt. Diesen Weg ist der Gesetzgeber aus guten Gründen aber nicht gegangen, da er zu sehr hohen Freibeträgen und damit auch zu entsprechend hohen Steuersätzen führen würde, wenn das Steueraufkommen (annähernd) konstant gehalten werden soll. b) Unterhaltsaufwendungen Steuerpflichtige haben nicht nur ihre eigene Existenz zu sichern. Sie sind, z.B. in Fällen des Ehegatten- und des Kindesunterhalts, auch verpflichtet, die Existenzgrundlage für weitere Personen sicherzustellen. Dabei gehen die zivilrechtlichen Unterhaltspflichten regelmäßig über die Sicherung des Existenzminimums der zu unterhaltenden Personen hinaus. Wie bereits dargelegt wurde, erfordert das subjektive Nettoprinzip lediglich den Abzug des existenznotwendigen Bedarfs. Das Steuerrecht knüpft insofern nicht an die zivilrechtlichen Unterhaltsansprüche sondern an den sozialhilferechtlich gewährleisteten existenznotwendigen Bedarf an. Dieser ist auch gemeint, wenn im Folgenden vom Ehegatten- und Kindesunterhalt die Rede ist. aa) Ehegattenunterhalt Jeder Steuerpflichtige kann selbst entscheiden, ob er oder sie heiratet und sich dadurch Unterhaltspflichten aussetzt oder Unterhaltsansprüche begründet. Das GG stellt Ehe und Familie in Art.  6 Abs.  1 GG aber unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Damit gebietet es als verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts einen besonderen Schutz durch die staatliche Ordnung28. Es ist hiernach insbesondere Aufgabe des Staates, alles zu unterlassen, was die Ehe beschädigt oder sonst beeinträchtigt, und sie durch geeignete Maßnahmen zu fördern. Das gilt namentlich im Steuerrecht29. Art.  6 Abs.  1 GG garantiert den Eheleuten nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG eine Sphäre privater Lebensgestaltung, die staatlicher Einwirkung entzogen ist30. Das BVerfG hat schon früh hervorgehoben, dass in diesen Bereich auch die Entscheidung darüber fällt, ob ein Ehepartner sich ausschließlich dem Haushalt und der Erziehung der Kinder widmen oder beruflich tätig sein und eigenes Einkommen er28 BVerfG v. 17.7.2002 – 1 BvF 1/01, 1 BvF 2/01, BVerfGE 105, 313. 29 BVerfG v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07, BVerfGE 133, 377. 30 Z.B. BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27.

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werben will. Der besondere verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie erstreckt sich auf die „Alleinverdienerehe“ daher ebenso wie auf die „Doppelverdienerehe“ und schließt es aus, dass Ehegatten zu einer bestimmten Gestaltung ihrer Ehe gedrängt werden31. Verheiratete Steuerpflichtige, die unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind und nicht dauernd getrennt leben, können gemäß §§ 26, 26b EStG die Zusammenveranlagung wählen. Die Zusammenveranlagung berührt die Einkünfteerzielung durch den jeweiligen Ehepartner nicht32. Erst nach der Zusammenrechnung der Einkünfte setzt die Behandlung der Ehepartner als ein Steuerpflichtiger gemäß §  26b EStG ein33. Zusammenveranlagte Eheleute bilden hinsichtlich der Sonderausgaben und der außergewöhnlichen Belastungen eine Veranlagungsgemeinschaft. Welcher der Ehepartner die Aufwendungen im Einzelnen getragen hat, ist dabei unerheblich. Bei der zumutbaren Belastung (§  33 Abs.  3 EStG) werden zusammenveranlagte Ehegatten begünstigt. Kinderfreibetrag und Betreuungsfreibetrag (§ 32 Abs. 6 Satz 2 EStG) verdoppeln sich bei zusammen veranlagten Ehegatten, wenn das Kind zu beiden in einem Kindschaftsverhältnis steht. Nach § 32a Abs. 5 EStG kommt bei zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Ehegatten das Splitting-Verfahren zur Anwendung. §§ 26, 26b, 32a Abs. 5 EStG haben die Funktion, Ehen, in denen die Ehepartner sich für die Möglichkeit der Zusammenveranlagung entschieden haben, unter sonst gleichen Umständen unabhängig von der Verteilung des Einkommens zwischen den Ehegatten gleich zu besteuern. § 32a Abs. 5 EStG fingiert den hälftigen Beitrag beider Ehegatten zum gemeinsamen Einkommen und führt somit bei Ehepaaren mit gleichem Gesamteinkommen zur immer gleichen steuerlichen Belastung, ohne Rücksicht darauf, welcher Ehegatte tatsächlich in welchem Umfang erwerbswirtschaftlich tätig gewesen ist34. Das Splittingverfahren nimmt den die zivilrechtliche Ausgestaltung der Ehe bestimmenden Grundgedanken der Ehe als Gemeinschaft des Erwerbs und des Verbrauchs auf35. Das BVerfG betrachtet Ehegatten als Erwerbsgemeinschaft und das Ehegattensplitting dementsprechend nicht als steuerliche Vergünstigung, sondern wegen der Teilhabe beider Ehepartner am Einkommen zutreffend als Ausformung des Leistungsfähigkeitsprinzips36. Das Ehegattensplitting ist allerdings nicht unumstritten. Dies gilt einfachrechtlich aber auch verfassungsrechtlich37. Hier ist nicht der Platz, dieser Diskussion weiter 31 BVerfG v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07, BVerfGE 133, 377 m.w.N. 32 Seeger in Schmidt, 36. Aufl., § 26b EStG Rz. 2. 33 Pflüger (Fn. 1), § 26b EStG Rz. 36. 34 Pfirrmann in Kirchhof, 16. Aufl., § 32a EStG Rz. 12. 35 Seiler (Fn. 34), § 26 EStG Rz. 2. 36 BVerfG v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07, BVerfGE 133, 377. 37 Für eine schrittweise Abschaffung z.B. Bareis/Siegel, StuW 2016, 306; für langfristige Ablösung durch Individualbesteuerung z.B. Bach/Geyer/Wrohlich, StuW 2016, 326; Beibe­ haltung und Ergänzung um Familiensplitting z.B. Kube, StuW 2016, 332; s. auch Winhard, DStR 2006, 1729; Jachmann, FR 2010, 123; Maiterth/Chirvi, StuW 2015, 19.

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nachzugehen. Im Hinblick auf das subjektive Nettoprinzip lässt sich jedenfalls sagen, dass die Unterhaltspflichten der Ehepartner im Ehegattensplitting aufgehen38. M.E. hat der Gesetzgeber mit dem Ehegattensplitting eine dem Leistungsfähigkeitsprinzip gerecht werdende Besteuerung von Ehegatten in intakter Ehe verwirklicht39. Die Steuerberechnung gemäß § 32b Abs. 5 EStG bildet die bestehenden Unterhaltsverpflichtungen in typisierender Weise ab. Sie berücksichtigt einerseits die Verminderung der Leistungsfähigkeit des unterhaltsverpflichteten Ehepartners und andererseits die erhöhte Leistungsfähigkeit des Unterhaltsberechtigten. Mehr ist steuerrechtlich nicht gefordert. Das GG zwingt das EStG insbesondere nicht dazu, die zivilrechtlichen Unterhaltsansprüche der Ehegatten exakt nachzuzeichnen. Damit soll nicht gesagt werden, dass das Ehegattensplitting in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung die einzig mögliche, dem subjektiven Nettoprinzip entsprechende ­Besteuerungsform der Ehe darstellt. Das Ehegattensplitting ist m.E. weder verfassungsrechtlich zwingend vorgeschrieben noch verfassungswidrig. Das subjektive Nettoprinzip fordert lediglich, die verminderte Leistungsfähigkeit des unterhaltsverpflichteten Ehepartners steuerlich wirksam werden zu lassen. Dies mag auch in anderer Weise als durch das Ehegattensplitting in seiner gegenwärtigen Form zu gewährleisten sein, z.B. durch ein Realsplitting, ein Familiensplitting oder aber auch durch persönliche Abzugs- oder Freibeträge. bb) Kindesunterhalt Kindesunterhalt ist wie der Ehegattenunterhalt nicht disponibel. Die Familie steht unter dem besonderen Schutz des GG in Art. 6 Abs. 1. Daran kann das Steuerrecht nicht vorbeigehen. Ein (verheirateter) Steuerpflichtiger mit (unterhaltsberechtigten) Kindern darf gegenüber einem Alleinverdiener steuerlich nicht benachteiligt werden. Dies würde aber geschehen, wenn ersterer genauso hoch besteuert würde wie letzterer. Denn Steuerpflichtige mit Kindern können die Beträge, die sie für den Unterhalt ihrer Kinder aufzuwenden haben, nicht auch für die Steuerzahlung verwenden. Ihr disponibles Einkommen ist geringer als das eines Steuerpflichtigen ohne Kinder bei sonst gleich hohen Einkünften. Dies gilt im Übrigen ganz unabhängig von der Höhe der Einkünfte im Einzelfall. Es kommt daher nicht darauf an, dass ein Einkommensmillionär auch ohne Berücksichtigung seiner Unterhaltsleistungen über Einkünfte weit oberhalb des Existenzminimums verfügt. Auch seine Leistungsfähigkeit wird durch den Unterhalt gemindert. Aufgrund der durch Art.  3 Abs.  1 GG gebotenen Gleichbehandlung und des Prinzips der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit muss ihm der Abzug des Kindesunterhalts ebenfalls zugutekommen40. Das EStG nimmt den Abzug des Kinderfreibetrags von der Bemessungsgrundlage vor. Dies ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Hierdurch wird sichergestellt, dass keine Einkommensbestandteile der Besteuerung unterworfen werden, die für eine Steuerzahlung nicht disponibel sind. 38 Tipke (Fn. 5), S. 808. 39 Ebenso Söhn in FS K. Vogel, 2000, 639 (651 ff.). 40 Tipke (Fn. 5), S. 821.

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Der Abzug von der Bemessungsgrundlage führt aber dazu, dass die steuerliche Entlastungswirkung mit steigendem Einkommen ihrerseits ansteigt. Dies ist rein rechnerisch eine Folge des progressiven Tarifs41. Der Vorwurf, diese Sichtweise verkenne die mathematischen Zusammenhänge der Tarifkonstruktion der Einkommensteuer42, greift nicht durch. Es zeigt sich vielmehr, dass Steuerpflichtige mit gleich hohen ­indisponiblen Aufwendungen aber einer (sehr) hohen Einkommensdifferenz eine ­unterschiedliche steuerliche Entlastung erfahren. Der Abstand des frei verfügbaren Einkommens verbessert sich zugunsten des besser Verdienenden. Darin wird ein Wertungswiderspruch zum Konzept des Einkommensteuertarifs gesehen, dessen Verlauf unter der Maxime stehe, wer mehr verdient, müsse auch mehr Steuern zahlen. Der Wenigverdiener werde durch den Tarifverlauf entlastet, während ihn das subjektive Nettoprinzip vergleichsweise stärker belaste. Würde das Konzept des Einkommensteuertarifs korrekt angewendet, müsste der Wenigverdiener eine erheblich höhere Entlastung erfahren als der Vielverdiener, dies wäre der „Reflex“ der Progression43. M.E. ist es nicht zielführend darüber zu streiten, welcher „Reflex“ aus der steuerlichen Progression folgen müsse. Sicher könnten auch bei einem Abzug des existenznotwendigen Aufwands von der Steuerschuld Formeln für die Steuerberechnung ­gefunden werden, die zu gleichen Steuerbeträgen wie beim Abzug von der Bemessungsgrundlage führen würden. De lege ferenda kann das Steuerrecht auch anders gestaltet werden. Der Abzug des existenznotwendigen Aufwands für den Kindesunterhalt von der Bemessungsgrundlage entlastet aber nicht nur den Vielverdiener sondern auch den Wenigverdiener. Dessen Steuerschuld sinkt ebenfalls, allerdings in absoluten Zahlen nicht in demselben Maße wie bei dem Vielverdiener und auch relativ im Verhältnis zum Vielverdiener in geringerem Umfang. Dessen frei verfügbares Einkommen steigt durch den Abzug des indisponiblen Aufwands von der Bemessungsgrundlage mehr als das frei verfügbare Einkommen des Wenigverdieners. An dieser mathematischen Wahrheit kommt niemand vorbei. Die Frage ist aber immer, welche Vergleichspaare gebildet werden. Will man die Entlastungswirkung nicht disponibler Aufwendungen messen (berechnen) oder die Belastungswirkung der Einkommensteuer bei gleich hohem disponiblen Einkommen.  Dann geht es darum, ob ein Steuerpflichtiger mit einem Einkommen von 100.000 Euro und 10.000 Euro indisponiblem Aufwand genauso hohe Steuern zahlen muss wie ein Steuerpflichtiger mit einem Einkommen 90.000  Euro ohne entsprechenden Aufwand. Dieses Ziel wird durch den Abzug des indisponiblen Aufwands von der Bemessungsgrundlage jedenfalls erreicht. Die steuerliche Freistellung des Einkommens in Höhe des sächlichen Existenzminimums einschließlich des Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarfs eines Kindes erfolgt nach derzeitiger Rechtslage durch das als „Familienleistungsausgleich“ (§  31 EStG) bezeichnete Modell. Die Freistellung wird hiernach entweder 41 Locher (Fn. 39), S. 749; Kanzler, DStJG 24 (2001), S. 435. 42 So z.B. Bareis, DStR 2017, 823. 43 Bareis, DStR 2017, 823.

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durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG oder durch Kindergeld nach Abschnitt X des EStG bewirkt. Soweit das Kindergeld für die Freistellung des Existenzminimums nicht erforderlich ist, dient es der Förderung der Familie (§ 31 Satz 2 EStG). Bewirkt der Kindergeldanspruch die Freistellung des Existenzminimums nicht vollständig und werden deshalb bei der Einkommensteuer­veranlagung die Freibeträge nach § 32 Abs.  6 EStG abgezogen, erhöht sich die unter Abzug dieser Freibeträge ermittelte Einkommensteuer um den Anspruch auf Kindergeld. Dieses komplizierte Modell entspricht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts44. c) Vorsorgeaufwendungen Das EStG lässt in § 10 private Ausgaben, die nicht in wirtschaftlichem Zusammenhang mit einer Einkunftsart stehen und daher weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten darstellen dürfen, als Sonderausgaben zum Abzug zu. Zu diesen ­Sonderausgaben, die im Gesetz abschließend aufgezählt sind45, gehören auch die Vorsorgeaufwendungen, deren Abzug das subjektive Nettoprinzip fordert. Der Abzug erfolgt auch hier von der Bemessungsgrundlage. Wegen dieser Problematik kann auf die vorstehenden Ausführungen zum Kindesunterhalt verwiesen werden. In § 10 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 EStG lässt das Gesetz in begrenzter Höhe (§ 10 Abs. 3 EStG) Altersvorsorgeaufwendungen (z.B. Beiträge zu den gesetzlichen Rentenversicherungen oder zu einer kapitalgedeckten Altersversorgung) zum Abzug zu. §  10 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 EStG regelt den Abzug der Beiträge zu Krankenversicherungen, soweit diese zur Erlangung eines sozialhilfegleichen Versorgungsniveaus erforderlich sind, sowie den Abzug der Aufwendungen zur gesetzlichen Pflegeversicherung. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 3a, Abs. 2 EStG sind u.a. auch Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherungen, soweit sie nicht nach Nr. 3 zu berücksichtigen sind, als Sonderausgaben abziehbar. Der Abzug von Vorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 3a EStG ist gemäß § 10 Abs. 4 EStG der Höhe nach begrenzt. Die Berücksichtigung der Vorsorgeaufwendungen durch § 10 EStG wird der Rechtsprechung des BVerfG46 gerecht. Hiernach nicht als Sonderausgaben abziehbare Krankenversicherungsbeiträge können auch nicht als außergewöhnliche Belastungen anerkennt werden47. Der Sonderausgabenabzug ist nur in Höhe der tatsächlich gezahlten Beiträge zulässig48. d) Außergewöhnliche Belastungen Mit dem Abzug von außergewöhnlichen Belastungen will das EStG den Fällen Rechnung tragen, in denen das Existenzminimum durch außergewöhnliche Umstände im Bereich der privaten Lebensführung höher liegt als im Normalfall49. Aus dem An44 BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246. 45 Heinicke (Fn. 32), § 10 EStG Rz. 1. 46 BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125. 47 BFH v. 29.11.2017 – X R 5/17. 48 BFH v. 29.11.2017 – X R 26/16. 49 Loschelder (Fn. 32), § 33 EStG Rz. 1.

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wendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die durch den Grundfreibetrag oder sonstige Abzugsbeträge zur Freistellung des Existenzminimums abgegolten sind50. §  33 EStG soll darüber hinausgehende und existenziell notwendige private Aufwendungen erfassen51. Dies betrifft den persönlichen, auf nicht disponiblen Umständen beruhenden erhöhten Grundbedarf52. §  33 EStG dient damit der Verwirklichung des Grundsatzes der Besteuerung nach der subjektiven wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit53. Die Vorschrift ist daher nicht in das Belieben des Gesetzgebers gestellt. Dies gilt jedenfalls so lange, wie der Gesetzgeber in den allgemeinen Freibeträgen nur das Existenznotwendige ohne Spielräume für einen im Einzelfall erhöhten Grundbedarf berücksichtigt54. Deshalb ist § 33 EStG auch nicht als eine bloße Billigkeitsvorschrift zu verstehen55. Sie ist vielmehr eine verfassungsrechtlich gebotene Ergänzung des Grundfreibetrags und des Kinderfreibetrags56. Der Abzug der außergewöhnlichen Belastungen ist auf den Teil der Aufwendungen begrenzt, der die dem Steuerpflichtigen zumutbare Belastung übersteigt (§ 33 Abs. 3 EStG). Diese Regelung wirft verschiedene Zweifelsfragen auf. Im Schrifttum wird die Verfassungsmäßigkeit der zumutbaren Belastung verschiedentlich in Zweifel gezogen oder verneint57. Diese Auffassung wird von der Rechtsprechung des BFH58 und des BVerfG59 im Ergebnis zutreffend aber nicht geteilt, soweit dem Steuerpflichtigen ein verfügbares Einkommen verbleibt, das über dem Existenzminimum liegt. Dies gilt zunächst, soweit das Gesetz für die Bemessung der zumutbaren Belastung an den Gesamtbetrag der Einkünfte, den Familienstand und die Zahl der Kinder anknüpft und in Abhängigkeit von diesen Bezugsgrößen bestimmte Prozentsätze des Gesamtbetrags der Einkünfte als zumutbare Belastung definiert. Der gestaffelten zu50 BFH v. 11.11.2010 – VI R 17/09, BFHE 232, 40, BStBl. II 2011, 969. 51 BFH v. 19.4.2012 – VI R 74/10, BFHE 237, 156, BStBl. II 2012, 577; Geserich, DStR 2013, 1861. 52 Heger in Blümich, § 33 EStG Rz. 4; Mellinghoff (Fn. 34), § 33 EStG Rz. 1. 53 Kanzler (Fn. 1) § 33 EStG Rz. 9; Jakob/Jüptner, StuW 1983, 206. 54 Heger (Fn. 50) § 33 EStG Rz 8. 55 Kanzler (Fn. 1) § 33 EStG Rz. 8. 56 Heger (Fn. 50) § 33 EStG Rz 8. 57 Z.B. J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, S.  618  f.; Tipke (Fn.  5), S. 830 f.; Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl., § 8 Rz 720; Arndt in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, § 33 EStG Rz. A 6, B 44; Karrenbrock/Petrak, DStR 2011, 552; Haupt, DStR 2010, 960. 58 BFH v. 2.9.2015  – VI R 32/15, BFHE 251, 196, BStBl.  II 2016, 151, die Verfassungsbeschwerde gegen dieses Urteil wurde durch BVerfG v. 23.11.2016 – 2 BvR 180/16 nicht zur Entscheidung angenommen; v. 25.4.2017  – VIII R 52/13, BFHE 258, 53, BStBl.  II 2017, 949; v. 10.1.2003 – III B 26/02, BFH/NV 2003, 616. 59 BVerfG v. 29.10.1987  – 1 BvR 672/87, HFR 1989, 152; v. 14.3.1997  – 2 BvR 861/92, Inf 1997, 543.

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Subjektives Nettoprinzip im Einkommensteuerrecht

mutbaren Belastung liegt die Erwägung zugrunde, dass dem Steuerpflichtigen zugemutet werden kann, entsprechend seiner steuerlichen Leistungsfähigkeit einen gewissen Teil seiner Belastung selbst zu tragen60. Das subjektive Nettoprinzip wird hierdurch zwar insofern eingeschränkt, als zwangsläufig erwachsene außergewöhnliche Aufwendungen nicht in voller Höhe zum Abzug zugelassen werden. Die volle Berücksichtigung solcher Aufwendungen würde aber den unterschiedlichen persönlichen Verhältnissen der Belasteten nicht Rechnung tragen. Daher entspricht der Gedanke eines nach dem Gesamtbetrag der Einkünfte, dem Familienstand und der Kinderzahl gestaffelt zu berücksichtigenden Eigenbeitrags des Steuerpflichtigen durchaus dem Gebot, die Einkommensbesteuerung an der individuellen Leistungsfähigkeit auszurichten61. Zudem gehören längst nicht alle Aufwendungen, die die Rechtsprechung als außergewöhnliche Belastungen anerkennt, zum sozialhilferechtlichen Leistungsniveau. Sie gehen vielmehr oft darüber hinaus. In diesem Bereich ist der Ansatz einer zumutbaren Belastung in Bezug auf das subjektive Nettoprinzip von vornherein unproblematisch. Die Anknüpfung der zumutbaren Belastung an den Gesamtbetrag der Einkünfte bewirkt allerdings, dass insbesondere Sonderausgaben und die als solche abziehbaren Vorsorgeaufwendungen unberücksichtigt bleiben und die zumutbare Belastung nicht vermindern. Dies führt jedoch nicht zur Verfassungswidrigkeit des Gesamtbetrags der Einkünfte als Anknüpfungspunkt für die Ermittlung der zumutbaren Belastung. Die Entscheidung des Gesetzgebers, an den ungekürzten Gesamtbetrag der Einkünfte anzuknüpfen, ist vielmehr als von dessen Gestaltungsspielraum gedeckt anzusehen62. Auch die einkommensabhängige, progressive Erhöhung des Eigenbeitrags widerspricht nicht dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Denn dem Steuerpflichtigen ist es mit zunehmendem Einkommen eher zumutbar, auch zwangsläufige Aufwendungen aus versteuertem Einkommen zu leisten. Schließlich wird durch die einkommensabhängige Staffelung der zumutbaren Belastung der durch den progressiven Tarif unterschiedliche Steuerentlastungseffekt, der oben bereits ausführlich dargestellt wurde, in gewissem Umfang wieder aufgehoben63. Im Schrifttum wird der Ansatz der zumutbaren Belastung insbesondere bei Krankheitskosten als verfassungswidrig angesehen64. Dieser Ansicht hat sich der BFH zu Recht nicht angeschlossen65. Zu dem einkommensteuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimum gehören zwar grundsätzlich auch Aufwendungen des Steuer60 BFH v. 15.11.1991 – III R 30/88, BFHE 166, 159, BStBl. II 1992, 179; v. 13.12.2005 – X R 61/01, BFHE 212, 195, BStBl. II 2008, 16. 61 Kanzler (Fn. 1), § 33 EStG Rz. 216; Heger (Fn. 50), § 33 EStG Rz. 134; jeweils m.w.N. auch zur Gegenauffassung. 62 BFH v. 19.1.2017 – VI R 75/14, BFHE 256, 339, BStBl. II 2017, 684. 63 Kanzler (Fn. 1), § 33 EStG Rz. 216. 64 Karrenbrock/Petrak, DStR 2016, 47; Haupt, DStR 2016, 902. 65 BFH v. 2.9.2015  – VI R 32/15, BFHE 251, 196, BStBl.  II 2016, 151; v. 29.9.2016  – III R 62/13, BFHE 255, 252, BStBl.  II 2017, 259; v. 25.4.2017  – VIII R 52/13, BFHE 258, 53, BStBl. II 2017, 949.

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Roland Krüger

pflichtigen für die Kranken- und Pflegeversorgung. Die Bemessung des existenznotwendigen Aufwands richtet sich dabei aber nach dem sozialhilferechtlich gewährleisteten Leistungsniveau. Das bedeutet einerseits, dass Aufwendungen für (privatärztliche) Behandlungen, die Sozialhilfeempfänger nicht erhalten würden, von vornherein aus dieser Betrachtung auszuscheiden sind, obwohl auch solche Aufwendungen nach ständiger Rechtsprechung außergewöhnliche Belastungen darstellen. Andererseits ist die Krankenversorgung auch für Sozialhilfeempfänger nicht vollständig kostenlos. Sie haben von ihren Sozialleistungen ebenfalls Zuzahlungen aus den ihnen zur Verfügung gestellten Sozialleistungen bis zur Belastungsgrenze selbst zu erbringen. ­Zuzahlungen i.S. des § 61 SGB V gehören folglich nicht zum einkommensteuerrechtlichen Existenzminimum. Denn das Sozialhilferecht gewährleistet gerade keine zu­ zahlungsfreie Krankenversorgung. Aus diesem Grund bildet die sozialrechtliche Belastungsgrenze (§  62 SGB  V) auch von Verfassungs wegen keine betragsmäßige Grenze für den Ansatz der zumutbaren Belastung. Diese ist vielmehr nach den in § 33 Abs. 3 EStG geregelten steuerlichen Grundsätzen zu ermitteln. Eine Zuzahlung mag allenfalls dann nicht mehr zumutbar sein, wenn dadurch in das verfassungsrechtlich gesicherte Existenzminimum eingegriffen werden sollte66. Solange allerdings die tatsächliche Höhe der von dem Steuerpflichtigen zu tragenden Aufwendungen nicht geeignet ist, dieses Existenzminimum zu tangieren, ist eine Begrenzung der zumutbaren Belastung verfassungsrechtlich nicht geboten. Soweit eingewandt worden ist, die zumutbare Belastung verstoße gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip, weil ihre Berechnung zu ungerechtfertigten Progressionssprüngen führe67, hat die Rechtsprechung des BFH diesen Gesichtspunkt aufgenommen und durch einfachrechtliche Auslegung des §  33 Abs.  3 EStG beseitigt. Abweichend von der früheren Auffassung, wonach sich die Höhe der zumutbaren Belastung ausschließlich nach dem höheren Prozentsatz richtete, sobald der Gesamtbetrag der Einkünfte eine der in § 33 Abs. 3 Satz 1 EStG genannten Grenzen überschritt, ist die Regelung nach der neueren Rechtsprechung so zu verstehen, dass nur der Teil des Gesamtbetrags der Einkünfte, der den im Gesetz genannten Grenzbetrag übersteigt, mit dem jeweils höheren Prozentsatz belastet wird68.

66 BSG v. 22.4.2008 – B 1 KR 10/07 R, BSGE 100, 221. 67 Kosfeld, FR 2009, 366; ders., FR 2012, 969; ders., FR 2013, 359; Heger (Fn. 50), § 33 EStG Rz. 136. 68 BFH v. 19.1.2017 – VI R 75/14, BFHE 256, 339, BStBl. II 2017, 684; v. 25.4.2017 – VIII R 52/13, BFHE 258, 53, BStBl. II 2017, 949.

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4. Teil Materielles Steuerrecht A. II. 6.

Kapitaleinkünfte und Abgeltungsteuer Von Monika Jachmann-Michel

Inhaltsübersicht I. Der Übergang zum neuen Recht 1. Wahrung einer bereits eingetretenen Entstrickung 2. Stichtagsbezogene Anwendung von Werbungskostenabzugsverbot und Abgeltungsteuertarif II. Steuertatbestand und Verlustverrechnung 1. Einkünfteerzielungsabsicht 2. Termingeschäfte 3. Besteuerung im Bereich der Einkunftsquelle 4. Werbungskosten

III. Ausnahmen vom Abgeltungssteuersatz / Wege aus der Schedule 1. Angehörigenfälle und Gesellschafterfremdfinanzierung 2. Unternehmerische Beteiligung 3. Antrag gem. § 32d Abs. 4 EStG ­insbesondere zur Verlustverrechnung 4. Günstigerprüfung IV. Ausblick

Mit der Einführung der Abgeltungsteuer 20091 wurde ein partieller Systemwechsel hin zu einer Schedule für die Einkünfte aus Kapitalvermögen vollzogen. Der BFH hat erste Konsequenzen aus diesem Systemwechsel gezogen und erste Linien für die Anwendung des „neuen“ Rechts aufgezeigt. Sie sind Gegenstand der folgenden Ausführungen.

I. Der Übergang zum neuen Recht Tritt ein neues Regelungsregime an die Stelle eines traditionell verankerten, stellen sich allem voran Fragen der Überleitung ins neue Recht. Hinsichtlich der Abgeltungsteuer war v.a. mit Blick auf die umfassende Steuerverstrickung von Kapitalanlagen sowie die Einschränkungen von Werbungskostenabzug und Verlustverrechnung gem. § 20 Abs. 2, 4, 6 und 9 EStG n.F. für vor 2009 angeschaffte Anlagen über die Anwendbarkeit der neuen bzw. Fortgeltung der alten Regeln zu entscheiden.

1 Unternehmenssteuerreformgesetz 2008 v. 14.8.2007 – UntStRefG 2008, BGBl. I 2007, 1912.

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Monika Jachmann-Michel

1. Wahrung einer bereits eingetretenen Entstrickung Mit Ablauf der Veräußerungsfrist des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG a.F. konnten u. a. Aktien steuerfrei veräußert werden. Veräußerung ist nach traditioneller Sichtweise auch der Tausch2. Im Kontext des neuen § 20 Abs. 4a EStG, wonach für bestimmte Fälle des Tausches der Steuerzugriff auf die stillen Reserven verschoben wird, stellt sich die Frage, ob durch diese Verschiebung nach altem Recht bereits entstrickte Anlagen erneut der „späteren“ Besteuerung unterliegen. Der VIII.  Senat des BFH hat sich grundsätzlich dagegen ausgesprochen3. Wird bei einem Aktientausch für vor dem 1. Januar 2009 erworbene ausländische Aktien ein Barausgleich gezahlt, so ist dieser nicht gem. § 20 Abs. 4a Satz 2 EStG in eine einkommensteuerpflichtige Dividende umzuqualifizieren, wenn die Anteile wegen Ablaufs der einjährigen Veräußerungsfrist bereits steuerentstrickt waren. Denn die Anwendung von § 20 Abs. 4a Satz 2 EStG setzt voraus, dass es sich um eine steuerbare Gegenleistung für den Erhalt der Anteile handelt; der Regelungsgehalt der Vorschrift beschränkt sich auf die bloße Umqualifizierung der Barkomponente in eine Dividende. Sie begründet kein Besteuerungsrecht4. Andernfalls käme es zu einem verfassungsrechtlich unzulässigen Steuerzugriff auf bereits steuerentstrickte Vermögenspositionen5. Eine ähnliche Verstrickungsproblematik stellt sich im Rahmen von §  20 Abs.  4a Satz  4 EStG, wonach der Teil der Anschaffungskosten von Altanteilen, der auf ein Bezugsrecht entfällt, mit 0 Euro angesetzt wird. Die Regelung erfasst auch die Veräußerung von jungen Aktien, die aufgrund der Ausübung eines Bezugsrechts erworben wurden6. Eine Kapitalerhöhung gegen Einlage führt grundsätzlich zu einer Substanzabspaltung von den Altanteilen auf die erworbenen Neuanteile. Daher sind die Anschaffungskosten der bereits bestehenden Anteile aufzuteilen und anteilig auch den neuen Anteilen zuzuordnen (Gesamtwertmethode)7. §  20 Abs.  4a Satz  4 EStG soll diese in der Praxis problematische Aufteilung vermeiden8. Dies führt lediglich zu einer zeitlichen Verschiebung der Besteuerung9. In Fällen von Kapitalerhöhungen gegen Einlage bei Altanteilen, die vor dem 1. Januar 2009 angeschafft wurden und bei denen die Veräußerungsfrist des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG a.F. zum Zeitpunkt der Veräußerung der jungen Aktien bereits abgelaufen war, würde dies allerdings zu einer erneuten Steuerverhaftung von stillen Reserven 2 Weber-Grellet in Schmidt, 37. Aufl. 2018, § 23 EStG Rz. 51. 3 BFH v. 9.5.2017 – VIII R 54/14, BFHE 258, 111, BFH/NV 2017, 1245 Rz. 15 ff. 4 BFH v. 20.10.2016 – VIII R 10/13, BFHE 255, 537, BStBl. II 2017, 262 Rz. 7; v. 20.10.2016 – VIII R 42/13, BFH/NV 2017, 283 Rz. 12. 5 Vgl. BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1 (21 ff.), BStBl. II 2011, 76. 6 BFH v. 9.5.2017 – VIII R 54/14, BFHE 258, 111, BFH/NV 2017, 1245 Rz. 14, 24. 7 BFH v. 9.5.2017 – VIII R 54/14, BFHE 258, 111, BFH/NV 2017, 1245 Rz. 16. 8 BFH v. 9.5.2017 – VIII R 54/14, BFHE 258, 111, BFH/NV 2017, 1245 Rz. 3, 19; BT-Drucks. 16/10189, 50. 9 BFH v. 9.5.2017 – VIII R 54/14, BFHE 258, 111, BFH/NV 2017, 1245 Rz. 19.

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Kapitaleinkünfte und Abgeltungsteuer

führen. Denn die jungen Aktien werden im Zeitpunkt der Ausübung des Bezugsrechts angeschafft10 und fallen demnach unter das Regime der Abgeltungsteuer. Bei einem Ansatz der Anschaffungskosten der jungen Aktien in Höhe von 0 Euro wären auch die gesamten von den Altanteilen auf die jungen Aktien übergegangenen stillen Reserven wieder steuerbar. Waren aber die übergegangenen stillen Reserven aufgrund des Ablaufs der Veräußerungsfrist des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG a.F. nicht mehr steuerbar, dürfen sie nicht lediglich aufgrund der Kapitalerhöhung bei einer Weiterveräußerung der jungen Aktien erneut steuerverhaftet werden11; denn einen weiteren Wertzuwachs (hinsichtlich der stillen Reserven) erfährt der Gesellschafter durch diese „Verwässerung“ seiner Beteiligung nicht. § 20 Abs. 4a Satz 4 EStG ist bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns einer Aktie, die durch die Ausübung eines Bezugsrechts erworben wurde, das von einer vor dem 1. Januar 2009 erworbenen und bereits steuerentstrickten Aktie abgespalten wurde, dahingehend verfassungskonform12 zu reduzieren, dass die Anschaffungskosten des Bezugsrechts in der tatsächlichen Höhe angesetzt werden. 2. Stichtagsbezogene Anwendung von Werbungskostenabzugsverbot und Abgeltungsteuertarif Geklärt ist, dass das Werbungskostenabzugsverbot auch dann Anwendung findet, wenn nach dem 31. Dezember 2008 getätigte Ausgaben mit Kapitalerträgen zusammenhängen, die vor dem 1. Januar 2009 zugeflossen sind13. Ausgaben vor dem 1. Januar 2009 sind voll abzugsfähig, auch wenn die Zinsen erst im Veranlagungszeitraum 2009 zugeflossen sind14. Diese Stichtagsregelung bewegt sich im Rahmen des gesetzgeberischen Pauschalierungs- und Typisierungsspielraums. Gerade beim Systemwechsel zur Abgeltungsteuer war aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität eine Stichtagsregelung wie § 20 Abs. 9 EStG i.V.m.§ 52a Abs. 2 und Abs. 10 Satz 10 EStG a.F. möglich, weil der Abzug in Gänze neu geregelt wurde und die Stichtagsregelung dem der Einkommensteuer zugrunde liegenden Prinzip der Abschnittsbesteuerung entspricht. Eine Ausnahme hätte zur Verkomplizierungen geführt, die mit der mit Einführung der Abgeltungsteuer bezweckten Vereinfachung unvereinbar gewesen wäre15. Stichtagsbezogen anzuwenden ist auch der Abgeltungsteuertarif von 25  % (§  32d Abs. 1 Satz 1 EStG) und zwar erstmals auf Kapitalerträge, die dem Gläubiger nach dem 31. Dezember 2008 zufließen, d.h. ab dem 1. Januar 2009 (§ 52a Abs. 1 EStG a.F.). Dies ermöglicht eine zielgerichtete Nutzung des alten höheren Regeltarifs für Verluste bzw. des neuen Tarifs für positive Erträge, z. B. durch die entsprechende zeitliche 10 So auch BMF v. 18.1.2016 – IV C 1 S 2252/08/10004, BStBl. I 2016, 85 Rz. 110. 11 BFH v. 21.9.2004 – IX R 36/01, BFHE 207, 543, BStBl. II 2006, 12. 12 BFH v. 9.5.2017 – VIII R 54/14, BFHE 258, 111, BFH/NV 2017, 1245 Rz. 21 m.w.N. 13 BFH v. 2.12.2014 – VIII R 34/13, BFHE 248, 51, BStBl. II 2015, 387; v. 9.6.2015 – VIII R 12/14, BFHE 251, 401, BStBl. II 2016, 199. 14 BFH v. 27.8.2014 – VIII R 60/13, BFHE 247, 198, BStBl. II 2015, 255. 15 BFH v. 9.6.2015 – VIII R 12/14, BFHE 251, 401, BStBl. II 2016, 199.

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Monika Jachmann-Michel

Zuordnung von Zwischengewinnen16. Dabei führen hohe (negative) Zwischengewinne beim Erwerb von Anteilen an einem Investmentfonds nicht ohne Weiteres zur Annahme eines Steuerstundungsmodells i.S. des § 20 Abs. 7 Satz 1 EStG (§ 20 Abs. 2b Satz 1 EStG a.F.) i.V.m. § 15b EStG. Eine Einschränkung der Verlustverrechnung folgt auch nicht aus § 20 Abs. 7 Satz 2 EStG, wenn der Steuerpflichtige positive Einkünfte aus Fondsanteilen erzielt, die dem progressiven Einkommensteuertarif gemäß § 32a EStG unterliegen. Denn für die Annahme eines Steuerstundungsmodells reicht es nicht aus, dass eine (in Fachkreisen) bekannte Gestaltungsidee mit dem Ziel einer sofortigen Verlustverrechnung aufgegriffen wird. Vielmehr muss eine umfassende und regelmäßig an mehrere Interessenten gerichtete Investitionskonzeption erstellt werden17. Nichts anderes ergibt sich aus § 20 Abs. 7 EStG. Wenngleich die Norm Modelle erfassen sollte, die das Steuersatzgefälle zwischen tariflicher Einkommensteuer und dem gesonderten Steuertarif für Einkünfte aus Kapitalvermögen gemäß § 32d EStG i.d.F. des UntStRefG 2008 auszunutzen versuchen, kommt dies im Gesetzeswortlaut nicht zum Ausdruck18.

II. Steuertatbestand und Verlustverrechnung Schon der Steuertatbestand des § 20 EStG wirft im Lichte der Abgeltungsteuer Fragen auf, die sich nach altem Recht nicht in gleicher Weise stellten. 1. Einkünfteerzielungsabsicht Eine erste dieser Fragen betrifft das Ob und Wie der Prüfung der Einkünfteerzielungsabsicht im Rahmen der Abgeltungsteuer19. Der BFH hat sich in zwei Verfahren für deren Vermutung ausgesprochen20. Denn die Prüfung der Einkünfteerzielungsabsicht ist in der Schedule der Abgeltungsteuer durch besondere Determinanten vorbestimmt: die umfassende Steuerbarkeit aller Kapitalanlagen, auch realisierter Wertsteigerungen des Kapitalstamms (§ 20 Abs. 2 EStG)21, Werbungskostenabzugsverbot (§  20 Abs.  9 EStG) und Verlustverrechnungsbeschränkungen (§  20 Abs.  6 EStG). Weiter haben im Abzugsverfahren der Schuldner der Kapitalerträge bzw. die auszahlende Stelle die Einkünfteerzielungsabsicht zu prüfen.

16 BFH v. 28.6.2017 – VIII R 57/14, BFHE 258, 421, BStBl. II 2017, 1144. 17 BFH v. 28.6.2017 – VIII R 57/14, BFHE 258, 421, BStBl. II 2017, 1144 Rz. 17; vgl. auch BFH v. 17.1.2017 – VIII R 7/13, BFHE 256, 492, BStBl. II 2017, 700; v. 6.2.2014 – IV R 59/10, BFHE 244, 385, BStBl. II 2014, 465. 18 BFH v. 28.6.2017 – VIII R 57/14, BFHE 258, 421, BStBl. II 2017, 1144 Rz. 23 ff. 19 Vgl. BFH v. 14.3.2017 – VIII R 38/15, BFHE 258, 240, BStBl. II 2017, 1040; v. 14.3.2017 – VIII R 25/14, BFHE 258, 237, BStBl.  II 2017, 1038; dazu Jachmann-Michel, DStR 2017, 1849 ff. 20 BFH v. 14.3.2017 – VIII R 38/15, BFHE 258, 240, BStBl. II 2017, 1040; v. 14.3.2017 – VIII R 25/14, BFHE 258, 237, BStBl. II 2017, 1038. 21 Gesetzesbegründung zum Unternehmenssteuerreformgesetz 2008 v. 14.8.2007, BGBl.  I 2007, 1912 in BT-Drucks. 16/4841, 33.

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Kapitaleinkünfte und Abgeltungsteuer

Ist ein negativer Kapitalertrag ohnehin ausgeschlossen, erübrigt sich die nähere Prüfung der Einkünfteerzielungsabsicht, so, wenn positive laufende Erträge oder Gewinne i.S.v. § 20 Abs. 1 oder 2 EStG gleich welcher Art und Höhe absehbar sind und das Werbungskostenabzugsverbot greift (§ 20 Abs. 9 EStG). Allgemein muss es bei realitätsgerechter, wirtschaftlicher Auslegung reichen, wenn ein irgendwie gearteter positiver Ertrag in Zukunft möglich ist. Hiervon ist regelmäßig auszugehen, es sei denn, es gäbe ex ante konkrete Anhaltspunkte für dauerhaft negative Ergebnisse. Insoweit kann eine etwaige Einkünfteerzielungsabsicht nicht für einen Veranlagungszeitraum deshalb entfallen, weil – aus der Perspektive des Anlegers fremdbestimmt – der Zins negativ wird und wieder aufleben, wenn die Währungspolitik ihn wieder positiv gestaltet. Widerlegt wäre die tatsächliche Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht, wenn ein positives Ergebnis einer Kapitalanlage in laufenden Erträgen oder Gewinnen i.S.v. § 20 Abs. 2 EStG auf Dauer von vorneherein ausgeschlossen erscheint. Die praktische Unmöglichkeit, Marktentwicklungen zuverlässig vorherzusagen, kann insoweit nicht zu Lasten des Steuerpflichtigen gehen. Die Feststellungslast trifft das Finanzamt. Die Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht wäre beispielsweise bei der festen Vereinbarung eines Negativzinses (negative Einnahmen) widerlegt. Wenngleich es sich hier nicht um Liebhaberei im Sinne der Verfolgung persönlicher Neigungen geht, kommen doch Motive aus dem nicht steuerbaren Bereich in Betracht, insbesondere Negativzins für sichere Verwahrung von Geld. Sind künftig positive Zinseinnahmen möglich, greift die Vermutung. Im Verfahren VIII R 38/1522 war zu entscheiden, ob ein Verlust aus der Veräußerung von Ansprüchen aus einer Lebensversicherung bei den Einkünften aus Kapitalvermögen nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 EStG zu berücksichtigen ist. Dabei handelte es sich um den Verkauf eines Alt-Vertrages, bei dem die 12-Jahresfrist für die Besteuerung der Zinsen aus den Sparanteilen nach § 20 Abs. 1 Nr. 6 EStG a.F.23 zwar noch nicht abgelaufen war, dessen Verkauf insgesamt als Kapitalstamm vor dem 1. Januar 2009 nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG wegen Ablaufs der Jahresfrist aber bereits nicht mehr steuerbar gewesen wäre. Erst bei einem Verkauf nach dem 31. Dezember 2008 waren die Gewinne/Verluste in Form des Unterschiedsbetrages zwischen den Einnahmen aus der Veräußerung nach Abzug der Aufwendungen, die im unmittelbaren sachlichen Zusammenhang mit dem Veräußerungsgeschäft stehen, und den Anschaffungskosten (§ 20 Abs. 4 Satz 1 und 4 EStG n.F.) wieder steuerbar. Für den streitigen Verlust war zu entscheiden, ob das FG dessen Anerkennung wegen fehlender Einkünfteerzielungsabsicht verneinen durfte. Maßgeblicher Zeitpunkt hierfür konnte nur der Zeitpunkt der Veräußerung sein, mit welcher der Kläger seine ursprüngliche Investitionsplanung geändert hat. Erst diese erfüllt den maßgeblichen Steuertatbestand des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 EStG n.F. Bei ursprünglich geplantem Lauf der Dinge wären weder hinsichtlich der Substanz (Jah-

22 BFH v. 14.3.2017 – VIII R 38/15, BFHE 258, 240, BStBl. II 2017, 1040. 23 Fassung vor Einführung des Alterseinkünftegesetzes v. 5.7.2004, BGBl. I 2004, 1427.

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resfrist nach §  23 EStG  a.F.) noch für die Erträge (12-Jahresfrist nach §  20 Abs.  1 Nr. 6 EStG a.F.) steuerbare Einkünfte angefallen. Ausgehend vom maßgeblichen Veräußerungszeitpunkt genügt jedoch allein das negative Ergebnis der Veräußerung nicht für die Widerlegung der Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht. Denn nach der gesetzgeberischen Intention sollten nicht nur Veräußerungen mit positivem Ergebnis steuerbar sein; der Steuertatbestand aus § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 EStG soll gerade auch den Verlustfall erfassen. Etwas anderes wäre nicht folgerichtig (Art.  3 Abs.  1 GG)24. Wie dem Inhaber einer notleidenden Option nicht zugemutet wird, sie mit einem noch höherem Verlust ausüben zu müssen, um den Verlust des Verfalls geltend machen zu können25, ist auch die Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht im Rahmen von § 20 Abs. 2 EStG nicht dadurch widerlegt, dass der Steuerpflichtige sich zu einer Veräußerung entschließt, um eine sich negativ entwickelnde Anlage zu beenden und so einen noch höheren Verlust zu vermeiden. Allein das negative Ergebnis eines Veräußerungsverlusts genügt also nicht, die Vermutung der Einkünfterzielungsabsicht zu widerlegen. In dem vom BFH weiter zu entscheidenden Fall des Rückkaufs einer Sterbegeldversicherung26 ging es darum, der Frage nach Erfordernis und Vorliegen der Einkünf­ teerzielungsabsicht die Regeln der Überschussermittlung speziell für eine Sterbe­ geldversicherung zu Grunde zulegen. Die Kläger kündigten je eine im Jahr 2005 abgeschlossene Sterbegeldversicherung, worauf die Versicherung diese zurückkaufte. Das Versicherungsunternehmen stellte die eingezahlten Beiträge den Rückkaufwerten gegenüber und bescheinigte den Klägern einen Verlust aus Kapitalerträgen. Hier war die Einkünfteerzielungsabsicht für eine Anlage zu prüfen, die bei geplantem Lauf der Dinge weder in der Substanz noch in den Erträgen steuerbar ist – bei einer Sterbegeldversicherung ist kein Erlebensfall geplant, §  20 Abs.  1 Nr.  6 EStG. Wollte man dabei vom Zeitpunkt des Erwerbs ausgehen, würde verkannt, dass mit dem Entschluss zu der den Rückkauf auslösenden Kündigung der Versicherungen die ursprüngliche Investitionsplanung geändert wurde. Im Übrigen wäre eine Prognose für den Fall des Scheiterns der ex ante intendierten Anlage aufzustellen, während es in der Systematik der Prüfung von Einkünfte- und Gewinnerzielungsabsicht liegt, vom Plan des Steuerpflichtigen zur Einkünfteerzielung auszugehen27. Die Steuerpflichtigen hatten im entschiedenen Fall aber ex ante (plankonform) nicht die Absicht, steuerbare Einkünfte zu erzielen. 24 BFH v. 29.6.1995 – VIII R 68/93, BFHE 178, 160, BStBl. II 1995, 722 Rz. 26 zu § 17 EStG. 25 So bereits BFH v. 26.9.2012 – IX R 50/09, BFHE 239, 95, BStBl. II 2013, 231; v. 10.11.2015 – IX R 20/14, BFHE 251, 381, BStBl. II 2016, 159. Vgl. zur neuen Rechtslage auch BFH v. 12.1.2016  – IX R 48/14, BFHE 252, 423, BStBl.  II 2016, 456; v. 12.1.2016  – IX R 49/14, BFHE 252, 430, BStBl. II 2016, 459; v. 12.1.2016 – IX R 50/14, BFHE 252, 436, BStBl. II 2016, 462; v. 20.10.2016 – VIII R 55/13, BFHE 256, 56, BStBl. II 2017, 264. 26 BFH v. 14.3.2017 – VIII R 25/14, BFHE 258, 237, BStBl. II 2017, 1038. 27 Grundlegend BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BFHE 141, 405, BStBl. II 1984, 751 Rz. 186. Vgl. auch BFH v. 10.5.2012 – X B 57/11, BFH/NV 2012, 1307 Rz. 8; v. 28.5.2009 – VIII B 76/08 Rz. 7, 15; v. 15.1.2004 – VIII B 300/02 Rz. 2; v. 29.6.1995 – VIII R 68/93, BFHE 178, 160, BStBl. II 1995, 722 Rz. 26.

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Wollte man aber im maßgeblichen Zeitpunkt des Rückkaufs auf die Prognose ab dem Zeitpunkt des Abschlusses der Versicherung abstellen, wäre das eine unzulässige ex tunc Beurteilung der Einkünfteerzielungsabsicht. Es handelt sich bei §  20 Abs.  1 Satz 1 Nr. 6 EStG auch nicht um einen gestreckten Tatbestand, der mit dem Abschluss des Versicherungsvertrages beginnen würde. Es war also nach Aspekten für die Widerlegung der Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht ab dem Entschluss zum Rückkauf zu fragen. § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 EStG ordnet explizit die Steuerbarkeit des Unterschiedsbetrags zwischen Versicherungsleistung und entrichteten Beträgen an, d.h. gerade nicht lediglich die eines positiven Unterschiedsbetrags. Dem würde es widersprechen, wollte man die Steuerbarkeit eines negativen Unterschiedsbetrags verneinen, indem man die Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht allein wegen des negativen Unterschiedsbetrags als widerlegt betrachtete. 2. Termingeschäfte Seit Einführung der Abgeltungsteuer zählen gem. § 20 Abs. 1 Nr. 11 EStG und § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a EStG Wertzuwächse aus Termingeschäften zu den Einkünften aus Kapitalvermögen. Im Unterschied zu den Gewinnen aus dem Termingeschäft nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG sind gem. § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 EStG die (Brutto-)Stillhalterprämien anzusetzen. Lediglich die in einem Glattstellungsgeschäft gezahlten Prämien (§ 20 Abs. 1 Nr. 11 Halbs. 2 EStG) sowie der Sparer-Pauschbetrag sind abziehbar, nicht dagegen die Barausgleichszahlungen und die übrigen tatsächlichen Werbungskosten (§ 20 Abs. 9 Satz 1 EStG). § 20 Abs. 1 Nr. 11 EStG betrifft ausschließlich die Besteuerung der Stillhalterprämie und der Glattstellungsgeschäfte, ohne zugleich auch eine Regelung für den Bar­ ausgleich zu treffen28. Dieser fällt jedoch – so der BFH im Verfahren VIII R 55/13 – unter § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a EStG, wonach der vom Stillhalter gezahlte Barausgleich als negativer Differenzausgleich und damit als Verlust aus einem Termingeschäft abzugsfähig ist29. Diese Barausgleichszahlung kann somit entgegen der Ansicht der Finanzverwaltung30 über den Umweg der Verlustverrechnung doch von der vereinnahmten Stillhalterprämie abgezogen werden. Für eine analoge Anwendung des § 20 Abs. 1 Nr. 11 EStG ist mangels einer planwidrigen Regelungslücke kein Raum31. 3. Besteuerung im Bereich der Einkunftsquelle Im Zuge der umfassenden steuerlichen Erfassung aller Wertzuwächse im Privatvermögen32 wurden in § 20 Abs. 2 EStG auch die Gewinne aus Veräußerungsvorgängen bezüglich Kapitalanlagen i.S.v. § 20 Abs. 1 EStG in die Besteuerung einbezogen und 28 BFH v. 20.10.2016 – VIII R 55/13, BFHE 256, 56, BStBl. II 2017, 264 Rz. 32. 29 BFH v. 20.10.2016 – VIII R 55/13, BFHE 256, 56, BStBl. II 2017, 264 Rz. 30. 30 BMF v. 18.1.2016 – IV C 1 - S 2252/08/10004, BStBl. I 2016, 85 Rz. 26, 34. 31 BFH v. 20.10.2016 – VIII R 55/13, BFHE 256, 56, BStBl. II 2017, 264 Rz. 28. 32 BT-Drucks. 16/4841, 56.

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damit nach allgemeinen Grundsätzen auch die entsprechenden Veräußerungsverluste33. Gerade dieser Bruch mit der bisherigen Nichtsteuerbarkeit der „Quelle“ im Rahmen der Überschusseinkunftsart des §  20 EStG birgt vielfache Systemfragen. Eine erste Antwort hat der VIII. Senat des BFH für den Forderungsausfall gegeben. Im Verfahren VIII R 13/1534 wurde entschieden, dass der endgültige Ausfall einer Kaptialforderung i.S.  des §  20 Abs.  1 Nr.  7 EStG in der privaten Vermögenssphäre nach Einführung der Abgeltungsteuer zu einem steuerlich anzuerkennenden Verlust führt. Hier hatte der Kläger einem Dritten 2010 ein verzinsliches Darlehen gewährt. Nach anfänglichen Zahlungen stellte der Darlehensschuldner die vereinbarten Rückzahlungen ein. Über sein Vermögen wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Kläger meldete die noch offene Darlehensforderung zur Insolvenztabelle an und machte den Ausfall der Darlehensforderung als Verlust bei den Einkünften aus Kapitalvermögen geltend. Dieser Forderungsausfall führt mangels eines Rechtsträgerwechsels nicht zu einer Veräußerung i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG. Jedoch sollte mit Einführung der Abgeltungsteuer eine vollständige steuerrechtliche Erfassung aller Wertveränderungen im Zusammenhang mit Kapitalanlagen erreicht werden, dies durch Aufgabe der traditionellen quellentheoretischen Trennung von Vermögens- und Ertragsebene für Einkünfte aus Kapitalvermögen. In der Folge dieses Paradigmenwechsels führt der endgültige Ausfall einer Kapitalforderung i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG zu einem gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, Satz 2, Abs. 4 EStG steuerlich zu berücksichtigenden Verlust. Insoweit ist eine Rückzahlung der Kapitalforderung, die – ohne Berücksichtigung der in § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG gesondert erfassten Zinszahlungen – unter dem Nennwert des hingegebenen Darlehens bleibt, dem Verlust bei der Veräußerung der Forderung gleichzustellen. Wie die Veräußerung ist die Rückzahlung ein Tatbestand der Endbesteuerung. Danach liegt ein steuerbarer Verlust aufgrund eines Forderungsausfalls erst dann vor, wenn endgültig feststeht, dass (über bereits gezahlte Beträge hinaus) keine (weiteren) Rückzahlungen (mehr) erfolgen werden. Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners reicht hierfür in der Regel nicht aus. Etwas anderes gilt, wenn die Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse abgelehnt wurde oder aus anderen Gründen feststeht, dass keine Rückzahlung mehr zu erwarten ist. Da der VIII.  Senat lediglich über den endgültigen Ausfall einer Kapitalforderung i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG in der privaten Vermögenssphäre zu entscheiden hatte, konnte er offen lassen, inwieweit gleiches für vergleichbare Konstellationen eines die sog. Quelle betreffenden Verlustes gilt. Gleichwohl werden sich künftig diese Fragen stellen, insbesondere im Kontext von Gesellschafterdarlehen35 und anderen Finan33 Vgl. BFH v. 12.1.2016 – IX R 48/14, BFHE 252, 423, BStBl. II 2016, 456. 34 BFH v. 24.10.2017 – VIII R 13/15, BFHE 259, 535, DStR 2017, 2801; dazu Kahlert, DStR 2018, 229; ein Parallelverfahren ist beim X. Senat anhängig, X R 9/17, dazu Dötsch, juris-SteuerR 2/2018 Anm. 3. 35 Vgl. Stahl, Aktuelle Brennpunkte der Abgeltungsteuer, 2018, S. 30 ff.

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zierungshilfen des Gesellschafters zugunsten seiner Gesellschaft36 sowie bei Auflösungsverlusten aus unwesentlichen Beteiligungen37. 4. Werbungskosten Der Abgeltungsteuersatz von nur 25 % (§ 32d Abs. 1 Satz 1 EStG) ist gekoppelt mit einem Ausschluss des Abzugs der tatsächlichen Werbungskosten (§ 20 Abs. 9 EStG). An dessen Stelle tritt der Sparer-Pauschbetrag in Höhe von 801 Euro bzw. 1.602 Euro bei Ehegatten. Demgegenüber ist ein Abzug des Sparer-Pauschbetrags gem. §  20 Abs. 9 EStG von Einkünften aus Kapitalvermögen, die gem. § 32d Abs. 2 EStG tariflich besteuert werden, ausgeschlossen38. Verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestehen nach Auffassung des BFH nicht39.

III. Ausnahmen vom Abgeltungssteuersatz / Wege aus der Schedule Der Vereinfachungseffekt der Abgeltungsteuer soll durch das Steuerabzugsverfahren (§§ 43 ff. EStG) mit grundsätzlicher Abgeltungswirkung des Steuereinbehalts (§ 43 Abs. 5 EStG) erreicht werden. Dem korrespondieren materiellrechtlich insbesondere der Abgeltungsteuersatz (§ 32 d Abs. 1 EStG) sowie Verlustverrechnungsbeschränkungen (§ 20 Abs. 6 EStG) und Werbungskostenabzugsverbot (§ 20 Abs. 9 EStG). Ist dieses typisierende Regelungsregime im Einzelfall nicht sachgerecht, kann dem nur im Veranlagungsverfahren gem. §  32d Abs.  2–4, Abs.  6 EStG Rechnung getragen werden. Dabei korrespondiert die jeweilige Veranlagung mit einer z.T. unterschiedlichen Anwendung von Steuersatz, Werbungskostenabzugsverbot und Verlustverrechnungsbeschränkungen. Gilt der Abgeltungsteuersatz in den Ausnahmefällen des § 32d Abs. 2 EStG nicht, so bedeutet dies regelmäßig eine Ungleichbehandlung, die der BFH bislang als gerechtfertigt betrachtet hat, da die Ausnahmen nicht willkürlich, sondern auf sachlichen Gründen beruhend gesehen wurden40 bzw. die Ausnahmeregelung aus verfassungsrechtlichen Gründen bereits einschränkend ausgelegt wurde41.

36 Vgl. Stahl, Aktuelle Brennpunkte der Abgeltungsteuer, 2018, S. 32 ff. 37 Vgl. Stahl, Aktuelle Brennpunkte der Abgeltungsteuer, 2018, S. 42 ff. 38 BFH v. 30.11.2016 – VIII R 11/14, BFHE 256, 455, BStBl. II 2017, 443. 39 BFH v. 1.7.2014 – VIII R 53/12, BFHE 246, 332, BStBl. II 2014, 975; v. 28.1.2015 – VIII R 13/13, BFHE 249, 125, BStBl. II 2015, 393; v. 30.11.2016 – VIII R 11/14, BFHE 256, 455, BStBl.  II 2017, 443; v. 9.6.2015  – VIII R 12/14, BFHE 251, 401, BStBl.  II 2016, 199; v. 12.1.2016 – IX R 48/14, BFHE 252, 423, BStBl. II 2016, 456. 40 BFH v. 29.4.2014 – VIII R 23/13, BFHE 245, 352, BStBl. II 2014, 884 Rz. 16. 41 BFH v. 29.4.2014 – VIII R 9/13, BFHE 245, 343, BStBl. II 2014, 986 Rz. 23; v. 29.4.2014 – VIII R 35/13, BFHE 245, 357, BStBl. II 2014, 990 Rz. 17; v. 29.4.2014 – VIII R 44/13, BFHE 245, 361, BStBl. II 2014, 992 Rz. 23. Verfassungsbeschwerden gegen diese Entscheidungen des BFH wurden vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen: BVerfG v. 7.4.2016 – 2 BvR 2325/14, 2 BvR 623/15.

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Die Schnittstellen zwischen Steuerabzugsverfahren und Veranlagungsverfahren machen die Abgeltungsteuer jedoch „kompliziert“. Der BFH hat hierzu erste klarstellende Worte gesprochen, die im Folgenden genannt seien: 1. Angehörigenfälle und Gesellschafterfremdfinanzierung Gem. §  32d Abs.  2 Nr.  1 Buchst.  a EStG vom Abgeltungsteuertarif ausgeschlossen sind Kapitalerträge i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 4 und 7 EStG, wenn Gläubiger und Schuldner  einander nahestehende Personen sind und die Zahlungen beim Schuldner Betriebsausgaben oder Werbungskosten darstellen, die der inländischen Besteuerung unterliegen. Der Begriff der nahestehenden Person ist dabei normspezifisch ohne Rückgriff auf § 1 Abs. 2 AStG oder § 138 InsO auszulegen. Ein lediglich aus der Familienangehörigkeit abgeleitetes persönliches Interesse reicht nicht aus42. Die fragliche Person muss auf den Steuerpflichtigen einen beherrschenden Einfluss ausüben können oder umgekehrt der Steuerpflichtige auf diese Person, eine dritte Person muss auf beide einen beherrschenden Einfluss ausüben können oder die Person oder der Steuerpflichtige muss imstande sein, bei der Vereinbarung der Bedingungen einer Geschäftsbeziehung auf den Steuerpflichtigen oder die nahestehende Person einen außerhalb dieser Geschäftsbeziehung begründeten Einfluss auszuüben. Gleiches gilt, wenn einer von ihnen ein eigenes wirtschaftliches Interesse an der Erzielung der Einkünfte des anderen hat43. Im entschiedenen Fall44 hatte der Ehemann den Erwerb und die Renovierung eines Vermietungsobjektes seiner Ehefrau zu 100% finanziert45. Zwingend ausgeschlossen vom Abgeltungsteuersatz sind Fälle der Gesellschafterfremdfinanzierung, in denen der Gläubiger der Kapitalerträge i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 4 und 7 EStG zu mindestens 10 % an der Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft beteiligt ist (§ 32d Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b Satz 1 EStG). Korrespondierend gelten Werbungskostenabzugsverbot (§ 20 Abs. 9 EStG) und Verlustverrechnungsbeschränkungen (§ 20 Abs. 6 EStG) nicht (§ 32d Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 EStG). § 32d Abs. 2 Satz 1 Nr.  1 Buchst.  b Satz  2 EStG erweitert den Ausschluss von der Abgeltungsteuer auf Fälle eines Nahestehens zu einem mindestens 10  % beteiligten Anteilseigner einer Schuldner-Kapitalgesellschaft oder -Genossenschaft. Dabei gilt es zwei Konstellationen zu unterschieden: Geht es um eine natürliche Person, so sind die Grundsätze zur nahestehenden Person46 heranzuziehen (§ 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a EStG). Ist Anteilseigner am Schuldner eine juristische Person, lässt der Gesetzeswortlaut zunächst offen, ob eine Beteiligung an dieser mittelnden Kapitalgesellschaft nach den Grundsätzen des § 32d Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b Satz 1 EStG zu beurteilen ist mit der 42 BFH v. 14.5.2014 – VIII R 31/11, BFHE 245, 531, BStBl. II 2014, 995. 43 BFH v. 14.5.2014 – VIII R 31/11, BFHE 245, 531, BStBl. II 2014, 995 Rz. 14; v. 29.4.2014 – VIII R 9/13, BFHE 245, 343, BStBl. II 2014, 986 Rz. 21; v. 29.4.2014 – VIII R 35/13, BFHE 245, 357, BStBl. II 2014, 990 Rz. 15; v. 29.4.2014 – VIII R 44/13, BFHE 245, 361, BStBl. II 2014, 992 Rz. 21; jeweils unter Verweis auf BT-Drucks. 16/4841, 61. 44 BFH v. 28.1.2015 – VIII R 8/14, BFHE 249, 133, BStBl. II 2015, 397. 45 Die Finanzverwaltung hat sich dieser Rechtsauffassung mittlerweile angeschlossen, BMF v. 18.1.2016 – IV C 1 S 2252/08/10004, BStBl. I 2016, 85 Rz. 136. 46 BFH v. 14.5.2014 – VIII R 31/11, BFHE 245, 531, BStBl. II 2014, 995 Rz. 14.

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Folge, dass eine 10 % Beteiligung an dieser mittelnden Kapitalgesellschaft genügt, oder ob die Beteiligung den Grundsätzen des § 32d Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG folgt, sodass eine absolute Beherrschung erforderlich ist. Der BFH verlangt hier – wie bei Buchst. a – ein Beherrschungs- und Abhängigkeitsverhältnis47, d.h. der Gläubiger der Kapitalerträge muss seinen Willen in der Gesellschafterversammlung durchsetzen können48. Wollte man demgegenüber nur mittelbare Beteiligungen von 10 % ausreichen lassen49, könnte es zu einem Kaskadeneffekt kommen, nach wenigen Stufen verbliebe es bei einer nur „homöopathischen“ Zielbeteiligung. Indessen gewährleistet die Orientierung an einem Beherrschungs- und Abhängigkeitsverhältnis, dass der Ausschluss von der Abgeltungsteuer gem. § 32d Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b Satz 2 EStG auf diejenigen Fälle beschränkt ist, in denen der Gläubiger beim Schuldner tatsächlich noch eine Einflussmöglichkeit hat50. Nicht ausgeschlossen sind atypische Fälle, in denen dem Gläubiger ohne die Mehrheit der Stimmrechte aufgrund anderweitiger besonderer Umstände eine faktische Beherrschung der Anteilseigner-Kapitalgesellschaft möglich ist51. 2. Unternehmerische Beteiligung § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG eröffnet eine fakultative Ausnahme von der Abgeltungsteuer für Einkünfte i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 EStG und lässt einen begrenzten Werbungskostenabzug (§ 3c Abs. 2 EStG) zu, § 20 Abs. 6 EStG (Verlustverrechnungsbeschränkung) und § 20 Abs. 9 EStG (Verbot des Werbungskostenabzugs), aber auch der Sparer-Pauschbetrag gem. § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG52 sind nicht anwendbar. Die erforderliche unternehmerische Beteiligung liegt nach § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG vor, wenn der Gläubiger unmittelbar oder mittelbar zu  25 % an der Kapitalgesellschaft beteiligt ist (Buchst. a) oder er zu 1 % beteiligt und für diese beruflich tätig ist (Buchst. b). Im Rahmen dieser beruflichen Tätigkeit musste der Anteilseigner auf die Geschäftsführung der Kapitalgesellschaft keinen maßgeblichen Einfluss ausüben können53. Mit dieser Auslegung widersprach der BFH dem BMF54, das eine beruf­ liche Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung nicht genügen ließ55. Diese Rechtsprechung wurde zwischenzeitlich durch das Gesetz zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen56 überholt, wonach die berufliche Tätigkeit einen maßgebli47 BFH v. 20.10.2016 – VIII R 27/15, BFHE 256, 248, BStBl. II 2017, 441 Rz. 20. 48 FG Köln v. 18.1.2017 – 9 K 267/14, EFG 2017, 988, Rev. eingelegt (Az. des BFH: X R 9/17). 49 So BMF v. 18.1.2016 – IV C 1 - S 2252/08/10004, BStBl. I 2016, 85 Rz. 137. 50 Vgl. BT-Drucks. 16/5377, 14. 51 BFH v. 20.10.2016 – VIII R 27/15, BFHE 256, 248, BStBl. II 2017, 441 Rz. 23, HFR 2017, 511 mit Anm. Stahl. 52 BFH v. 30.11.2016 – VIII R 11/14, BFHE 256, 455, BStBl. II 2017, 443, dazu sogleich. 53 BFH v. 25.8.2015 – VIII R 3/14, BFHE 250, 423, BStBl. II 2015, 892 Rz. 14 ff. 54 BMF v. 22.12.2009 – IV C 1 S 2252/08/10004, BStBl. I 2010, 94; v. 9.10.2012 – IV C 1 S 2252/10/10013, BStBl. I 2012, 953 jeweils Rz. 138. 55 BMF v. 9.10.2012 – IV C 1 S 2252/10/10013, BStBl. I 2012, 953 Rz. 138. 56 Sog. „BEPS-Umsetzungsgesetz I“ v. 23.12.2016, BGBl. I 2016, 3000.

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chen unternehmerischen Einfluss auf deren wirtschaftliche Tätigkeit des Schuldners voraussetzt57. Hierdurch sollen „Hilfstätigkeiten“ aus der Antragsmöglichkeit ausgeschlossen werden; gleichwohl bleibt offen, welcher Einfluss im Einzelnen erforderlich ist. In diesem Zusammenhang steht die Frage im Raum, ob eine mittelbare Tätigkeit für die Schuldner-Kapitalgesellschaft, insbesondere in Form der Tätigkeit als Partner einer Partnerschaftsgesellschaft, der ausschließlich für die Kapitalgesellschaft als Mandantin der Partnerschaftsgesellschaft tätig ist58, oder in Fällen einer körperschaftsteuerlichen Organschaft59 ausreicht. Besonders streitanfällig ist die Antragstellung gem. § 32d Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 4 EStG. Sie kann nur bis zur Abgabe der Einkommensteuererklärung erfolgen, ggf. aber konkludent60. Eine konkludente Antragstellung liegt aber nicht schon ohne Weiteres in einem Antrag auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG. Denn einerseits kann jedenfalls von einem fachkundigen Berater erwartet werden, dass er die rechtlichen Besonderheiten und Fristen kennt und entsprechend handelt, andererseits sind die nur für den Veranlagungszeitraum zu stellende Günstigerprüfung und der bis zum Widerruf für insgesamt fünf Veranlagungszeiträume geltende Antrag auf Teileinkünfteverfahren derart wesensverschieden, dass eine konkludente Antragstellung des einen durch den anderen nicht angenommen werden kann. Hierfür bedürfte es konkreter Anhaltspunkte. Ob diese für einen steuerlich Beratenen entwickelten Maßstäbe auch für einen nicht beratenen Steuerpflichtigen gelten, ließ der BFH zunächst offen61; im Verfahren VIII R 33/1562 gewährte er einem solchen jedoch Wiedereinsetzung (§  110 AO)63. Die Versäumung der Antragsfrist war unverschuldet, da in der Anleitung zur Anlage  KAP ein Hinweis auf die Möglichkeit, kumulative Anträge gemäß §  32d Abs.  6 EStG und gemäß § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG stellen zu können sowie zu den Rechtsfolgen, die sich bei einer Kombination der Anträge ergeben, fehlte. 3. Antrag gem. § 32d Abs. 4 EStG insbesondere zur Verlustverrechnung Für Altverluste aus Aktienveräußerungen, die nach der Rechtslage vor der Abgeltungsteuer als Verlust aus einem Veräußerungsgeschäft nach § 22 Nr. 2 i.V.m. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG a.F. erzielt wurden, sah § 23 Abs. 3 Satz 9 EStG i.d.F. des UntStRefG 2008 die Verrechenbarkeit mit Einkünften aus Kapitalvermögen i.S.v.

57 Vgl. Weiss, BB 2017, 2071 (2072). 58 So FG Düsseldorf v. 14.3.2017 – 13 K 3081/15 E, EFG 2017, 990; vgl. auch Weiss, DB 2017, 1871 (1875); ders., BB 2017, 2071 (2074). 59 So FG Rheinland-Pfalz v. 9.12.2014 – 3 K 2697/12, EFG 2015, 405, Rev. eingelegt (Az. des BFH: VIII R 1/15). 60 BFH v. 28.7.2015  – VIII R 50/14, BFHE 250, 413, BStBl.  II 2015, 894 Rz.  15; BMF v. 18.1.2016 – IV C 1 - S 2252/08/10004, BStBl. I 2016, 85 Rz. 141. 61 BFH v. 28.7.2015 – VIII R 50/14, BFHE 250, 413, BStBl. II 2015, 894 Rz. 21. 62 BFH v. 29.8.2017 – VIII R 33/15, BFHE 259, 213, BStBl. II 2018, 69. 63 So auch BMF v. 18.1.2016 – IV C 1 - S 2252/08/10004, BStBl. I 2016, 85 Rz. 141.

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§ 20 Abs. 2 EStG für einen Übergangszeitraum bis 201364 vor. Diese Verrechnung bedarf einer Veranlagung65 und ist nach §§ 20 Abs. 6 Satz 1, 23 Abs. 3 Satz 9 und 10 EStG i.d.F. des UntStRefG 2008 zwingend, wenn keine Ausgleichsmöglichkeit der Altverluste mit Gewinnen aus privaten Veräußerungsgeschäften i.S.  des §  23 EStG besteht. Die Verrechnung der Altverluste im Veranlagungsverfahren geht dabei auch einer Verrechnung mit „neuen“ Verlusten aus § 20 Abs. 2 EStG vor und ist nicht von der Ausübung eines Wahlrechts abhängig66. Wird eine Veranlagung nach § 32d Abs. 4 EStG beantragt, um eine Verrechnung mit Altverlusten zu erreichen, so wird die materielle Rechtmäßigkeit der Besteuerung der Kapitalerträge dem Grunde und der Höhe nach voll überprüft. Die Verlustverrechnung durch die auszahlende Stelle der Kapitalerträge erfolgt nur zeitlich vorrangig, ist jedoch materiellrechtlich nicht endgültig67. Die insbesondere von der Finanz­ verwaltung68 angenommene Bindungswirkung der Verlustverrechnung der auszahlenden Stelle gem. § 43a Abs. 3 Satz 2 EStG nach § 20 Abs. 6 Satz 1 EStG i.d.F. des UntStRefG 2008 für eine spätere weitergehende Verlustverrechnung mit Altverlusten nach §  23 Abs.  3 Satz  9 und 10 EStG i.d.F. des UntStRefG 2008 würde eine Über­ prüfung des Steuereinbehalts durch das Finanzamt ausschließen. Einerseits würde dies zu unterschiedlichen steuerlichen Ergebnissen führen, je nachdem, wie die Erträge des Steuerpflichtigen auf inländischen Depots erzielt werden, andererseits wäre diese Bindungswirkung in rechtsstaatlicher Hinsicht im Bereich der Eingriffsverwaltung problematisch. Daher hat der VIII.  Senat69 §  20 Abs.  6 Satz  1 EStG i.d.F. des UntStRefG 2008 nur im Sinne einer zeitlichen Reihenfolge der Verrechnung ausgelegt. Die erweiterte Verlustverrechnung nach § 23 Abs. 3 Satz 9 EStG bezieht sich i.Ü. ihrem eindeutigen Wortlaut und ihrem Zweck nach nicht auf positive Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S. von § 20 Abs. 1 EStG. Denn durch die Übergangsregelung sollte die bestehende Verlustverrechnung innerhalb der ursprünglich selben Einkunftsquelle nur beibehalten, nicht hingegen auf andere Einkunftsquellen erweitert werden70. Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften nach §  22 Nr.  2 i.V.m. §  23 Abs. 1 EStG a.F. waren auch vor Einführung der Abgeltungsteuer nur innerhalb des Verlustverrechnungskreises des § 23 EStG a.F. und nicht mit Einkünften nach § 20 Abs. 1 EStG a.F. verrechenbar. Dass Altverluste dadurch schlechter behandelt werden als Neuverluste, die auch mit positiven Einkünften aus § 20 Abs. 1 EStG verrechnet werden können, sieht der VIII. Senat als sachlich gerechtfertigt an71. Die Fortgeltung 64 Letztmalige Anwendung für den Veranlagungszeitraum 2013 (§ 52a Abs. 11 Satz 11 EStG i.d.F. des UntStRefG 2008). 65 Vgl. Lohse, DStR 2017, 641 (642). 66 BFH v. 9.8.2016 – VIII R 27/14, BFHE 255, 51, BStBl. II 2017, 821 Rz. 24. 67 BFH v. 29.8.2017 – VIII R 23/15, BFHE 259, 213, BStBl. II 2018, 69. 68 BMF v. 18.1.2016 – IV C 1 S 2252/08/10004, BStBl. I 2016, 85 Rz. 118. 69 BFH v. 29.8.2017 – VIII R 23/15, BFHE 259, 213, BStBl. II 2018, 69. 70 BFH v. 20.10.2016 – VIII R 55/13, BFHE 256, 56, BStBl. II 2017, 264 Rz. 25. 71 BFH v. 20.10.2016  – VIII R 55/13, BFHE 256, 56, BStBl.  II 2017, 264 Rz.  25, 26; v. 3.11.2015 – VIII R 37/13, BFHE 252, 274, BStBl. II 2016, 273 Rz. 23.

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der Verlustverrechnungsbeschränkung für Altverluste liegt im Rahmen des weiten Gestaltungsspielraumes des Gesetzgebers bei der gesetzlichen Ausgestaltung des Übergangs der Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte zur Besteuerung als Kapitaleinkünfte im Rahmen der Abgeltungsteuer. Auch die Beschränkung der Übergangsregelung auf fünf Jahre stößt nicht auf verfassungsrechtliche Bedenken72. Zwar kann die zeitliche Beschränkung des Ausgleichs von Altverlusten mit Neugewinnen aus Aktienverkäufen zu einer ungleichen Belastung von Steuerpflichtigen mit Altverlusten führen. Dies ist jedoch dem zulässigen Systemwechsel geschuldet, den der Gesetzgeber auch in überschaubarer Zeit abschließen durfte73. Mit der zeitlichen Beschränkung ist indessen kein völliger Ausschluss der Verlustverrechnung verbunden. Die Altverluste können weiterhin ohne zeitliche Begrenzung mit zukünftigen steuerbaren Gewinnen aus privaten Veräußerungsgeschäften verrechnet werden74. 4. Günstigerprüfung Ein erfolgreicher Antrag auf Günstigerprüfung bewirkt, dass die Kapitalerträge einschließlich der Beteiligungserträge (§  20 Abs.  1 Nr.  1 EStG) den regelbesteuerten Einkünften hinzuzurechnen sind (§ 32d Abs. 6 Satz 1 EStG). Gegen diese Ausnahme vom Abgeltungsteuertarif bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken75, insbesondere auch nicht insoweit, als trotz des Antrags in der Veranlagung der Günstigerprüfung das Werbungskostenabzugsverbot nach §  20 Abs.  9 EStG weiter gilt. Der ­dabei maßgebliche Vergleich (Art. 3 Abs. 1 GG) ist gegenüber den mit dem Abgeltungsteuersatz belasteten Steuerpflichtigen zu ziehen. Für die hinzugerechneten Beteiligungserträge kann die anteilige Steuerbefreiung des § 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. d EStG gem. § 3 Nr. 40 Satz 2 EStG nicht in Anspruch genommen werden, da es sich um Beteiligungseinkünfte im Privatvermögen handelt. Erst ein Antrag gem. § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG eröffnet für diese die anteilige Steuerfreistellung. § 3 Nr. 40 Satz 2 EStG ist nicht anzuwenden76. Der Antrag auf Günstigerprüfung ist im Gegensatz zu den Anträgen nach §  32d Abs. 2 Nr. 3 Satz 4 und Abs. 4 EStG nicht befristet77. Gleichwohl kann er nur bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung gestellt werden78. Wird der Antrag auf Günstigerprüfung gestellt, können auch negative Einkünfte aus Kapitalvermögen, die grundsätzlich dem gesonderten Tarif des §  32d Abs.  1 EStG unterliegen, mit positiven tariflich besteuerten Einkünften aus Kapitalvermögen ver72 BFH v. 6.12.2016 – IX R 48/15, BFHE 256, 136, BStBl. II 2017, 313. 73 BFH v. 6.12.2016 – IX R 48/15, BFHE 256, 136, BStBl. II 2017, 313 Rz. 12. 74 BFH v. 6.12.2016 – IX R 48/15, BFHE 256, 136, BStBl. II 2017, 313 Rz. 18. 75 BFH v. 28.1.2015 – VIII R 13/13, BFHE 249, 125, BStBl. II 2015, 393 Rz. 14. 76 BFH v. 29.8.2017 – VIII R 33/15, BFHE 259, 213, BStBl. II 2018, 69. 77 BFH v. 12.5.2015 – VIII R 14/13, BFHE 250, 64, BStBl. II 2015, 806 Rz. 8. 78 BFH v. 12.5.2015 – VIII R 14/13, BFHE 250, 64, BStBl. II 2015, 806 Rz. 10 f.

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rechnet werden79. Dies ist konsequent, da die negativen Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.v. § 32d Abs. 1 EStG durch die Antragstellung zu Einkünften i.S.v. § 2 Abs. 2 bis 5 EStG werden, die dem Tarif des § 32a EStG unterliegen80. Somit können auch Steuerpflichtige, deren Steuersatz oberhalb von 25 % liegt, von einem Antrag auf Günstigerprüfung profitieren81. In diesen Fällen ist allerdings eine verlusterhöhende Berücksichtigung des Sparer-Pauschbetrags wegen § 20 Abs. 9 Satz 4 EStG ausgeschlossen; er gilt als Bestandteil der Schedule nicht für Einkünfte aus Kapitalvermögen, die gem. § 32d Abs. 2 EStG tariflich besteuert werden82.

IV. Ausblick Seit 2009 ist die Abgeltungsteuer geltendes Recht. Sie war schon bei ihrer Einführung in Deutschland schwer umkämpft im Spektrum zwischen internationaler Wettbewerbsfähigkeit, Steuergerechtigkeit in Relation zu dem Arbeitseinkommen und Steuervereinfachung83. Kaum ist sie auch beim BFH angekommen, wird sie in der politischen Diskussion bisweilen schon wieder zur Disposition gestellt84. Der BFH hat 79 BFH v. 30.11.2016 – VIII R 11/14, BFHE 256, 455, BStBl. II 2017, 443; entgegen BMF v. 18.1.2016 – IV C 1 - S 2252/08/10004, BStBl. I 2016, 85 Rz. 119a. 80 BFH v. 30.11.2016 – VIII R 11/14, BFHE 256, 455, BStBl. II 2017, 443 Rz. 47. 81 Levedag, HFR 2017, 606. 82 BFH v. 30.11.2016 – VIII R 11/14, BFHE 256, 455, BStBl. II 2017, 443 Rz. 50. 83 Die Verfassungsmäßigkeit der Abgeltungsteuer als Schedule im Gesamtsystem der Einkommensbesteuerung ist in der Literatur nach wie vor umstritten: für Verfassungswidrigkeit: Englisch, StuW 2007, 221 (223 ff.); ders., Die Abgeltungsteuer für private Kapitalerträge ein verfassungswidriger Sondertarif, 2016; ders., Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des Sondersteuersatzes nach § 32d Abs. 1 EStG nebst Abgeltungsregelung des § 43 Abs. 5 EStG („Abgeltungsteuer“) im Auftrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, 4.3.2015; Klotz, Die Abgeltungsteuer, 2017, 79  ff.; kritisch: Tipke, StuW 2007, 201 (209); Scheffler/Christ, Ubg 2016, 157; für Verfassungsmäßigkeit: Eckhoff, FR 2007, 989; Weber-­ Grellet, NJW 2008, 545; Boochs in Lademann, § 32d EStG Rz. 26; Kühner in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 32d EStG Rz. 6. Der BFH sieht unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG v. 27.6.1991  – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239  = BStBl.  II 1991, 654, unter ­C.II.4.b. keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Schedule der Abgeltungsteuer: BFH v. 29.4.2014  – VIII R 23/13, BFHE 245, 352, BStBl.  II 2014, 884 Rz. 10; v. 14.5.2014 – VIII R 31/11, BFHE 245, 531, BStBl. II 2014, 995 Rz. 9; v. 28.1.2015 – VIII R 8/14, BFHE 249, 133, BStBl. II 2015, 397 Rz. 14; v. 29.4.2014 – VIII R 9/13, BFHE 245, 343, BStBl. II 2014, 986 Rz. 23; v. 29.4.2014 – VIII R 35/13, BFHE 245, 357, BStBl. II 2014, 990 Rz. 17; v. 29.4.2014 – VIII R 44/13, BFHE 245, 361, BStBl. II 2014, 992 Rz. 44. 84 Der Koalitionsvertrag v. 7.2.2018 (S. 69, Zeile 3116) sieht die Abschaffung der Abgeltungsteuer auf Zinserträge vor. Hiergegen Weggenmann, DB 2018, M4 f., vgl. auch Broer, DB 2018, 393 (394 f., 399); Schäfers, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.1.2018, 17. Vgl. i. Ü. zur Diskussion um die Abschaffung der Abgeltungsteuer: Hey, DStZ 2017, 632 (635  f.); Schwab, DB 2017, Heft 33, M4 f.; Dürr, BB 2017, 854 ff.; Beck, Das Grundeigentum, 2017, 881; Lemmer, Abgeltungsteuer erhalten, Mehrbelastungen für Sparer vermeiden, Sonderinformationen Deutsches Steuerzahlerinstitut des Bundes der Steuerzahler e.V. Nr. 4, November 2016; Scheffler/Christ, Ubg 2016, 157; Cropp, FR 2015, 878  ff.; Englisch (Fn.  83) sowie die parlamentarische Initiativen von Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, BT-

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erste Linien zur Anwendung des „neuen“ Rechts der Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen aufgezeigt. Insbesondere hinsichtlich der Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht im Rahmen von § 20 EStG und der Steuerbarkeit des Ausfalls einer Darlehensforderung konnte er bisher für die notwendige Klärung sorgen. Hieraus werden sich auch mit Blick auf die neue Rechtsprechung des IX.  Senats zur Thematik der nachträglichen Anschaffungskosten im Rahmen von § 17 EStG85 Konsequenzen für den Umgang mit Gesellschafterdarlehen und Bürgschaften ergeben. An der Schnittstelle von Abgeltungsteuer und Regelbesteuerung / Kapitalertragsteuerabzugsverfahren und Veranlagungsverfahren bestehen Ungereimtheiten und Unklarheiten der gesetzlichen Vorgaben der Abgeltungsteuer, die der BFH bislang nur z.T. klarzustellen Gelegenheit hatte. Insbesondere hinsichtlich der Ausnahmen von der Abgeltungsteuer in § 32d Abs. 2 und Abs. 6 EStG hat er jedoch Rechtssicherheit geschaffen. Manches Detail der Abgeltungsteuer birgt die Gefahr der Verfassungswidrigkeit – so insbesondere das fehlende Teileinkünfteverfahren bei privaten Beteiligungen, die Besserstellung von Zinsen gegenüber Beteiligungserträgen und das Verlustverrechnungsverbot für Aktienverluste. Gerade aber wegen der Kompliziertheit des abgeltenden Kapitalertragsteuerabzugs besteht Reformbedarf. Die Abgeltungsteuer sollte zu dem gemacht werden, was sie ursprünglich sein sollte – eine einfache Steuer. Dies ist aber kein Grund, sie ganz abzuschaffen.

Drucks. 17/4878; BT-Drucks. 18/2014; BT-Drucks. 18/6064 sowie die Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2017 der CDU v. 3.7.2017, 33; SPD v. 23.5.2017, 52; Die Linke v. 9.11.6.2017, 39. 85 BFH v. 11.7.2017 – IX R 36/15, BFHE 258, 427.

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4. Teil Materielles Steuerrecht A. II. 7.

­­Altersvorsorge im Ertragsteuerrecht Von Rolf Möhlenbrock

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gesetzliche Grundlagen 1. Rechtslage bis 1954 2. Rechtslage ab 1954 I II. Entwicklung der Rechtsprechung 1. Rentenbesteuerung vor 1955 a) Entgeltlich erworbene Ansprüche b) Unentgeltlich erworbene Ansprüche c) Versorgungszusagen in Verbindung mit Vermögensübergaben d) Betriebliche Rentenansprüche 2. Rentenbesteuerung nach 1954 a) Ungleichbehandlung gesetzlicher und privater Renten b) Versorgungsleistungen gegen Vermögensübertragungen (dauernde Lasten)

3. Zeitalter der nachgelagerten Besteuerung a) Verfassungswidrigkeit des Systems vor dem AltEinkG b) Verfassungsgemäßheit der nachgelagerten Besteuerung c) Verfassungskonformer Systemwechsel bezüglich sämtlicher erfasster Renten d) Werbungskosten vs. Sonderausgabenabzug e) Übergangsregelung – Kohortengrundsatz f) Restunsicherheit: Was ist Doppel­ besteuerung? IV. Fazit

I. Einleitung Der Begriff Altersvorsorge genießt in Zeiten demographischen Wandels nicht nur eine hohe politische Bedeutung. Er ist als nicht allein rechtlich geprägte Vokabel einer Vielzahl an Deutungen zugängig. Im hier zu behandelnden rechtlichen Kontext soll er als die Gesamtheit der Maßnahmen einer Person verstanden werden, um im Alter oder nach dem Ende der Erwerbstätigkeit den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Zwar waren es zuvorderst die Bismarck’schen Sozialreformen, mit denen die Sozialrente heutiger Prägung für eine breitere Bevölkerung erstmals eingeführt wurde. Das Phänomen der Altersvorsorge in einem weiteren Begriffsverständnis existierte allerdings schon im Mittelalter, vor allem in Städten, in die die Geldwirtschaft Einzug gehalten hatte und in denen sich wohlhabendere Bürger zur Sicherung des Lebens im Alter eine Rente kauften. Häufig geschah dies unter Beteiligung der Kirche, etwa gegen Überlassung eines Grundstücks an ein Kloster oder Spital. Gelegentlich finan1295

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zierten sich Städte den Bau ihres Rathauses, indem sie gegen die Zusage von Renten auf Lebenszeit Kapital einsammelten. Dieses Konzept war später auch die Grundlage der Kriegsanleihen1. Den neuzeitlichen Konturen der Altersvorsorge entspringen dem 17.  Jahrhundert, wo die ersten Pensionssysteme für Staatsbedienstete und Militärpersonal entstanden. Alterssicherungseinrichtungen im Handwerk  und  Bergbau  gelten als Vorläufer der heutigen Sozialversicherung; das Preußische Gesetz über die Vereinigung der Berg-, Hütten- und Salinenarbeiter in  Knappschaften2 war die erste landesgesetzliche, öffentlich-rechtliche Arbeiterversicherung. Es kamen vereinzelte betriebliche Versorgungssysteme hinzu, bis schließlich Bismarck im ausgehenden 19. Jahrhundert3 eine zunächst teils nach dem Prinzip der Kapitaldeckung organisierte gesetzliche Invaliditäts- und Altersrente schuf. Der Kapitalstock dieser Versicherungen fiel dann allerdings den Turbulenzen der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts (zwei Weltkriegen, Inflation, Weltwirtschaftskrise) zum Opfer, sodass mit dem Wiederaufbau der gesetzlichen Altersrente nach dem Zweiten Weltkrieg 19574 das Umlagesystem verbunden mit einer dynamisierten Rente Einzug hielt. Dessen Prosperität scheinen angesichts einer alternden Gesellschaft nunmehr ebenfalls Grenzen gesetzt zu sein, wie die seit der Wiedervereinigung Deutschlands verschärft geführte Diskussion zu den Folgen der Überalterung der Gesellschaft für die gesetzliche Rente zeigt. Der Staat fordert seither eine stärkere individuelle Verantwortung der Betroffenen, für die er den regulatorischen Rahmen und entsprechende Steueranreize setzt. Daraus resultierten die alternativen Formen zur staatlich organisierten Altersvorsorge, deren steuerliche Behandlung die aktuelle steuerpolitische Diskussion prägt.

II. Gesetzliche Grundlagen 1. Rechtslage bis 1954 Steuerlich spielt die Altersvorsorge insbesondere bei den sonstigen Einkünften und den nach heutiger Lesart der subjektiven Leistungsfähigkeit zuzuordnenden Sonderausgaben eine Rolle. Schon nach §§ 5, 11 Nr. 1 EStG 19205 gehörten sonstige Ein­ nahmen unabhängig davon zum steuerbaren Einkommen, ob sie als Einmalzahlung oder wiederkehrende Bezüge flossen. § 6 EStG 19256 definierte acht Einkommensarten, davon als Nr.  7 die wiederkehrenden Bezüge, welche in §  40 EStG 1925 dann einzeln aufgezählt wurden, u.a. als vererbliche Renten (Nr. 1), Leibrenten, Leibgedinge, Zeitrenten und andere unvererbliche Renten (Nr. 2). Durch die Steuerreform im Jahre 1934 erlangte das EStG im Wesentlichen die heute bekannte Struktur7: Die 1 Beyerle, ZeitOnline v. 16.2.2016. 2 Von 1854. 3 Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung v. 22.6.1889, RGBl. 1889, 97. 4 Rentenreform 1957. 5 RGBl. 1920, 359. 6 RGBl. I 1925, 189. 7 RGBl. I 1934, 1005.

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Altersvorsorge

Steuerpflicht der wiederkehrenden Bezüge ist seither in § 22 Nr. 1 EStG geregelt. Die als andere wiederkehrende Bezüge bezeichneten Leistungen wurden bis 1954 steuerlich vollumfänglich erfasst. Die Besteuerung mit dem Ertragsanteil oder die am Fördergedanken ausgerichtete weitere Unterscheidung der sog. nachgelagerten (= vollumfänglichen) von der am Ertragsanteil orientierten Besteuerung spielte noch keine Rolle. Die Beiträge zur Altersvorsorge waren schon damals nur innerhalb bestimmter Grenzen als Sonderleistungen/Sonderausgaben abziehbar. So waren etwa Beiträge und Versicherungsprämien des Steuerpflichtigen für sich, seine Ehefrau und seine Kinder, zu Kranken-, Unfall-, Haftpflicht-, Angestellten-, Invaliden- und Erwerbslosenversicherungen, zu Versicherungen auf den Lebens- oder Todesfall und zu Witwen-, Waisen-, Versorgungs- und Sterbekassen abziehbar. Der Abzug war, teilweise abhängig vom Familienstand und der Zahl der Kinder, gedeckelt8. Unbegrenzt absetzbar waren nur die auf besonderen privatrechtlichen, öffentlich-rechtlichen oder gesetzlichen Verpflichtungsgründen beruhenden Renten und dauernden Lasten, soweit sie nicht zu den Werbungskosten gehörten9. 2. Rechtslage ab 1954 Nach dem 2. Weltkrieg war Altersarmut weit verbreitet, denn die bestehenden Sozialsysteme vermochten keine ausreichende Absicherung im Alter zu schaffen. Ihre heutige Bedeutung erlangten Sozialrenten durch die 1957 vollzogene Rentenreform und die damit verbundenen Dynamisierung der Rente. Schon 195410 war die Besteuerung von durch Vermögensumschichtung erworbenen Leibrenten auf den Ertragsanteil beschränkt worden, weil die zuvor volle Besteuerung zu unbefriedigenden Ergebnissen geführt hatte11. Ansonsten beließ es das StNG aber bei der mit dem EStG 1934 vorgezeichneten Grundstruktur der Rentenbesteuerung. Die Rechtslage im EStG wurde lediglich redaktionell geändert und auf die weitere Erwähnung des Leibgedinges verzichtet. Denn letzteres konnte ohne weiteres unter den Begriff der wiederkehrenden Bezüge eingeordnet werden und fällt seither unter diese Sammelbezeichnung12. Knapp fünfzig Jahre später kehrte der Gesetzgeber mit dem Altersvermögensgesetz (AVmG) vom 26.6.200113 teilweise zur vollen nachgelagerten Besteuerung zurück. Leistungen aus Altersvorsorgeverträgen, Pensionsfonds, Pensionskassen und Direkt 8 § 13 Nr. 3, 4, 5 EStG 1920 (absetzbar vom Gesamtbetrag der Einkünfte); § 17 Abs. 1 Nr. 1, 3 EStG 1925 (abzugsfähige Sonderleistungen); § 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG 1934 (Sonderausgaben). 9 § 13 Nr. 2 EStG 1920; § 15 Abs. 1 Nr. 3 EStG 1925; § 10 Abs. 1 Nr. 2 EStG 1934. 10 § 22 Nr. 1 Buchstabe a) EStG i.d.F. des Gesetzes zur Neuordnung von Steuern (StNG) v. 16.12.1954, BGBl. I 1954, 373. 11 Killat-Risthaus in Herrmann/Heuer/Raupach, § 22 EStG Rz. 4. 12 Vgl. Amtliche Begründung zum Entwurf des StNG 1954, BT-Drucks. 2/481, 85. 13 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens, BGBl. I 2001, 1310.

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versicherungen wurden in eine gesonderte Regelung überführt (§  22 Nr.  5 EStG). Anlass war die Einführung der sog. Riesterrente, die zwar wie die übrigen in §  22 Nr. 5 Satz 1 EStG genannten Leistungen ebenfalls das Ergebnis umgeschichteten Vermögens ist. Die Vermögensbildung zu Altersvorsorgezwecken ist hier jedoch in der sog. Ansparphase steuerlich gefördert und rechtfertigt daher eine volle Besteuerung in der Auszahlungsphase14. Seit dem Alterseinkünftegesetz (AltEinkG)15 gehören der Sache nach auch die der Basisversorgung dienenden Renten – und damit insbesondere die gesetzliche Rente – in diese Kategorie, denn auch sie genießen den Abzug als Sonderausgabe und gelten damit als „steuerlich gefördert“16. Die Überführung dieser Renten von der Ertragsanteilsbesteuerung in die volle nachgelagerte Besteuerung ist allerdings noch nicht abgeschlossen; sie dauert bis 2040 an und erfolgt stufenweise nach Kohorten. Sie ist Folge einer Entscheidung des BVerfG, wonach die bis dahin unterschiedliche Besteuerung von Pensionen und Renten nicht mit der Verfassung vereinbar war17. Im Ergebnis wird damit insoweit der Rechtszustand vor 1954 wiederhergestellt und mit einer in der Ansparphase erfolgten steuerlichen Berücksichtigung gerechtfertigt (Wiedererstarken des Korrespondenzgedankens)18. Die jüngeren Veränderungen im Bereich des Steuerrechts mit Bezug zur Altersvorsorge betrafen im Kern den Ausbau der steuerlichen Förderung19 und die Herstellung der Korrespondenz auch in grenzüberschreitenden Fällen. Das derzeitige System der Alterssicherung lässt sich seit dem AVmG dreischichtig20 darstellen. Die erste Schicht bildet die gesetzliche Rentenversicherung nebst den Ersatzsicherungen (Alterssicherung der Landwirte, Berufsständische Versorgung sowie Künstlersozialversicherung und die Beamtenversorgung); diese ist klassisch umlage14 Reform der gesetzlichen Rentenversicherung  2000/2001, bei der das Nettorentenniveau des Eckrentners, eines idealtypisch sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, der 45 Jahre lang Sozialversicherungsbeiträge eingezahlt hat, von 70 % auf 67 % reduziert wurde. Stattdessen sollte dem Bürger mit der Riesterrente eine Möglichkeit an die Hand gegeben werden, steuerlich gefördert Eigenvorsorge zu betreiben. 15 Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen v. 5.7.2004, BGBl. I 2004, 1427. 16 Abkehr vom Gedanken, wonach Leistungen einer Einrichtung, die auf dem Versicherungsprinzip beruhen, grundsätzlich der Ertragsanteilbesteuerung unterliegen; Förster, DStR 2009, 141 (142). Tatbestandlich wird diese Tatsache aber nicht nachempfunden, und die Renten der Basisversorgung sind in § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a) Doppelbuchstabe aa) EStG zu finden. 17 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BGBl. I 2002, 1305. Das BVerfG forderte eine gleichheitsgerechte Abstimmung der Besteuerung aller Altersvorsorgesysteme aufeinander. Diese erfolgte dann mit dem AltEinkG, vgl. Förster, DStR 2009, 141. 18 Einen etwas detaillierteren, guten Überblick über das „neue“ Besteuerungssystem bietet Weber-Grellet, DStR 2012, 1253 ff. 19 Etwa: Eigenheimrentengesetz v. 29.7.2008 (BGBl. I 2008, 1509; Einführung des sog. Wohnriesters); Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens v. 3.4.2009 (BGBl. I 2009, 700). 20 Vgl. Abschlussbericht der Sachverständigenkommission zur Neuordnung der Besteuerung von Altersvorsorgeaufwendungen und Alterseinkommen, Schriftenreihe des BMF, Bd. 74, 13 ff.

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finanziert. Komplementär hierzu verhält sich die zweite Schicht bestehend aus der betrieblichen Altersversorgung sowie der Riester- und Basisrente als vornehmlich nichtstaatlich organisierte aber dennoch geförderte Formen der Vorsorge; sie folgen weitgehend dem Kapitaldeckungsverfahren. Schließlich existiert als dritte Schicht die private Vorsorge, zu der sämtliche Formen der Kapitalbildung gezählt werden dürfen. Allgemeiner gesprochen ist vom sog. „Drei-Säulen-Modell“ die Rede. Die 1. Säule betrifft die gesetzliche Vorsorge nach dem Umlageverfahren. Dazu zählen die Sozialversicherungsrente der Arbeitnehmer, die Alterssicherung der Landwirte, die Berufsständische Versorgung, die  Künstlersozialversicherung und die Beamtenversorgung. Die 2. Säule bildet die ergänzende erwerbsbasierte Alterssicherung mit der betrieblichen Altersversorgung und der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes. Die 3. Säule schließlich besteht aus den Maßnahmen der privaten Vorsorge, z.B.: Fondssparpläne, Riesterrente, Basisrente, Lebensversicherungen und Immobilienbesitz.

III. Entwicklung der Rechtsprechung Ein Blick auf die Geschichte der Rentenbesteuerung in Deutschland zeigt einen zen­ tralen Zielkonflikt, an dem sich Rechtsprechung und Rechtsetzung in den vergangenen 100 Jahren abgearbeitet haben, ohne dabei zu einer vollends zufriedenstellenden Lösung gekommen zu sein: die Bemessung der Höhe, mit der eine Rente der Besteuerung unterworfen werden darf. Die Herausforderungen bei der Beantwortung dieser Frage verdeutlicht mit Blick auf die Systematik des Einkommensteuerrechts und das Zusammenspiel von Sonderausgabenabzug, Werbungskostenabzug und Besteuerungsfolge die Rechtsprechung des RFH. Nimmt man die in den letzten Jahrzehnten in aller Regel aus sozialpolitischen Erwägungen in das einschlägige Regelungsgeflecht hinein genommenen Lenkungsnormen hinzu, steigt der Grad an Komplexität weiter. Hinzu kommt, dass sich die Steuerbürger bei der Besteuerung ihrer Renten besonders sensibel zeigen. Haben sie doch deren Stammrecht nahezu ausnahmslos durch Beiträge erwirtschaftet, die aus ihrem (vermeintlich) versteuerten Vermögen stammen. Angesichts der zwei größeren Rechtsetzungsmaßnahmen der Vergangenheit, dem StNG21 und dem AVmG22, ergeben sich in der Rechtsprechungsentwicklung drei Betrachtungszeiträume: 1. Rentenbesteuerung vor 1955 Schon vor 1955 handelte es sich bei den anderen wiederkehrenden Bezügen um eine eigenständige „Einkommensart“, ähnlich den sonstigen Einkünften nach heutigem Recht. Sie hatte gegenüber den anderen Einkunftsarten eine komplementäre Funktion und kam nur subsidiär zum Zuge. In den Fällen der Veräußerung eines Betriebs gegen wiederkehrende Bezüge etwa sollten diese als nachträglicher Gewinn gelten. 21 Gesetz zur Neuordnung von Steuern v. 16.12.1954, BGBl. I 1954, 373. 22 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens, BGBl. I 2001, 1310.

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Aber auch wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer für geleistete Dienste eine „Rente“ einräumte, war diese als Arbeitslohn zu versteuern23. Bei der Besteuerung einer klassischen Rente unterschied die Rechtsprechung zwischen entgeltlich und unentgeltlich erworbenen Ansprüchen mit jeweils unterschiedlichen Besteuerungsfolgen. a) Entgeltlich erworbene Ansprüche Als entgeltlich erworben galten Rentenansprüche in der Regel dann, wenn sie der Berechtigte gegen die Hingabe eigener Vermögenswerte erworben hatte. Sofern es sich hierbei um einen betrieblichen Vorgang handelte, die „Rente“ also etwa als Gegenleistung für die Übertragung eines Betriebs gewährt wurde, konnte die Abwicklung grundsätzlich unter Anlehnung an die Maßstäbe der Gewinnermittlung erfolgen. Leistung und Gegenleistung konnten gegeneinander verbucht werden, und versteuert werden musste nur jener Teil der Rentenzahlungen, der das Buchvermögen überstieg. Bei einer rentenweisen Auszahlung des Kaufpreises stellte sich allerdings die Frage nach der zeitlichen Zuordnung. Nach den Grundsätzen des Bestandsvergleichs hätte der Kaufpreis zum Zeitpunkt des Verkaufs eingebucht (und ein daraus resultierender Gewinn oder Verlust versteuert) werden müssen, und zwar auch hinsichtlich der erst in späteren Jahren fälligen Teilbeträge. Dies erschien dem RFH unbillig, und er sah eine Versteuerung des Gewinns erst im Jahr der Vereinnahmung vor. Eine Steuerpflicht sollte dabei erst in dem Zeitpunkt eintreten, in dem die Summe der vereinnahmten Beträge das investierte Eigenkapital (das Kapitalkonto) überstieg24. Allerdings waren längst nicht alle entgeltlich erworbenen Ansprüche auf Zahlung einer Rente betriebliche Vorgänge. Der Zahlungsanspruch konnte z.B. auch gegen die Übertragung eines Privatgrundstücks oder gar gegen eine Einmalprämie erworbenen worden sein. Im Sprachgebrauch jener Zeit war deshalb bei Vorgängen dieser Art auch von einer sog. Veräußerungsrente die Rede. Die Behandlung dieser Art der Renten war vor allem dann ein Problem, wenn sie sich nicht unter eine der anderen Einkunftsarten einordnen ließen und der Wert der Gegenleistung nicht als Betriebsausgabe, Werbungskosten oder als Buchwert des hingegebenen Vermögens gegengerechnet werden konnte. Die Rente wurde dem Grunde nach als vollumfänglich steuerbar behandelt, und gegenüber einer ratenweisen Kaufpreiszahlung im betrieblichen Bereich war die in diesem Fall resultierende Übermaßbesteuerung augenfällig. Der verrentete Kaufpreis hätte bei wirtschaftlicher Betrachtung auch hier nur in Höhe eines evtl. Mehrwerts der Rente über die Gegenleistung hinaus zu steuerpflichtigen Einkünften führen dürfen; im Übrigen bestand er in einer Vermögensumschichtung. Die Rechtsprechung des RFH ging in der Frage der Abgrenzung von Kaufpreiszahlung und Rente trotz dieser Gemengelage anfangs dennoch davon aus, dass die steuerliche Einordnung einer Zahlung bzw. eines Bezugs als Rente nicht nach den zugrundeliegenden Rechtsverhältnissen, sondern vornehmlich nach der äußeren Form

23 RFH v. 4.9.1929 – VI A 1099/29, RStBl. 1929, 568; v. 7.5.1930 – VI A 827/27, RStBl. 1930, 578 f. 24 RFH v. 14.5.1930 – VI A 706/28, RStBl. 1930, 580.

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zu erfolgen habe25. Maßgeblich für die Annahme einer Rente sollte nach Auffassung des VI. Senats des RFH sein, dass jemand mit einer gewissen Regelmäßigkeit oder auf eine gewisse Dauer mit dem Zufließen von Einnahmen rechnen konnte. Die Dauer der Zahlungen sei in der Weise von Bedeutung, dass einige wenige Zahlungen innerhalb kurzer Zeit als Kaufpreisraten, viele Zahlungen innerhalb langer Frist als Rentenbezüge anzusehen seien. Der VI. Senat erkannte zwar das durch diese Auslegung neu geschaffene Problem, ab wann eine Zahlung als innerhalb kurzer oder langer Zeit erbracht zu gelten habe. Gleichwohl sah sich der VI. Senat des RFH zunächst nicht in der Lage, dem Problem der Übermaßbesteuerung durch Gegenrechnung der „Anschaffungskosten“ für das Rentenrecht zu begegnen26. Schon bald zeigte sich derselbe Senat jedoch aufgeschlossener. Zwar sollte die Steuerpflicht bei der „Einkommensart wiederkehrende Bezüge“ unverändert an die äußere Form knüpfen. Wiederkehrende Bezüge lagen allerdings dann nicht mehr vor, wenn sich die einzelnen Leistungen bei entgeltlicher Begründung wirtschaftlich noch als Kapitalrückzahlung aus einem darlehensähnlichen Geschäft (Stundung des Kaufpreises) auffassen ließen. Nur wenn die Dauer der Bezüge unbestimmt (Leibrenten) oder das Vertragsverhältnis aleatorischer Natur sei (Versicherungsleistungen), könne in diesen Fällen keine Kapitalrückzahlung angenommen werden; es komme dann eine Spaltung der einzelnen Bezüge in steuerfreie „Amortisation“ und steuerpflichtige Zinsen in Betracht27. Im Verlaufe der nachfolgenden Jahre differenzierte der RFH diese Abgrenzung weiter aus. Ohne Rücksicht auf die Bezeichnung durch die Vertragsparteien sollten dann bald überall dort Kaufpreis- oder allgemeine Tilgungsraten – und damit keine Renten – gegeben sein, wo die einzelnen Zahlungen wirtschaftlich als Kapitalrückzahlung (gegebenenfalls zuzüglich einer Verzinsung) aus einem darlehensähnlichen Geschäft (Stundung des Kaufpreises) angesehen werden konnten. Dagegen seien Renten anzunehmen, wenn der Gesichtspunkt des Rentenbezugs als einer nicht mehr unmittelbar Teile eines Entgelts darstellenden, sondern in einem besonderen Rechtsverhältnis begründeten Leistung im Vordergrund stehe28. Der Gedanke der Versorgung durch regelmäßig wiederkehrende Einnahmen spielte nunmehr eine zentrale Rolle. Entgeltlich erworbene Zeitrenten von bestimmter Dauer sollten hingegen – auch bei längerem Rentenbezug – in der Regel als Kapitalrückzahlungen zu behandeln sein. Lediglich die auf die Kapitalrückzahlung entfallenden Zinsen wurden als Einkünfte aus Kapitalvermögen der Besteuerung unterworfen29. Beim Zahlenden wurden sie insoweit als Betriebsausgabe oder Werbungskosten zum Abzug zugelassen30.

25 RFH v. 18.1.1928 – VI A 192/27, RStBl. 1928, 97. 26 RFH v. 14.3.1928 – VI A 877/27, RStBl. 1928, 212. 27 RFH v. 7.5.1930 – VI A 827/27, RStBl. 1930, 578 f. 28 RFH v. 29.3.1944 – VI 28/44, RStBl. 1944, 651 f. 29 RFH v. 29.3.1944  – VI 28/44, RStBl.  1944, 651  f. So später auch das BMF-Schreiben v. 23.12.1996, BStBl. I 1996, 1508 Rz. 47 ff. 30 BFH v. 22.9.1955 – IV 451/53 U, BStBl. III 1955, 320; v. 29.9.1955 – IV 326/53 U, BStBl. III 1956, 194.

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Nach dem 2. Weltkrieg knüpfte der BFH mehr oder weniger nahtlos an diese Rechtsprechung des RFH an. So sollte bei Renten, die durch Veräußerung von Betrieben, Mietwohngrundstücken, sonstigen Grundstücken oder ähnlichen Vermögenswerten erworben worden waren, eine steuerpflichtige Rente nur insoweit gegeben sein, als die durch die Veräußerung erzielten Einnahmen den Wert des veräußerten Vermögensgegenstandes überstiegen. Der BFH ging dann sogar noch weiter. Die genannten Grundsätze galten auch, wenn die Rente durch Entrichtung eines bestimmten Kaufpreises oder eines einheitlichen Betrags erworben worden waren: Die Besonder­ heiten des Ertragsteuerrechts im Nachkriegsdeutschland, insbesondere die stark erhöhten Steuertarife und die Währungsumstellung, ließen es nicht mehr vertretbar erscheinen, die Grundsätze des § 2 Abs. 4 Ziff. 2 EStG31 bei Auslegung des § 22 Ziff. 1 EStG in dem Maße wie bisher zurückzustellen. Eine Veräußerungsrente im Sinne dieser Ausführungen liege auch dort vor, wo ein Rentenrecht nicht gegen Veräußerung eines Grundstücks usw., sondern durch Zahlung eines bestimmten Kaufpreises erworben worden sei. Rechtlich könne es keinen Unterschied machen, ob Sachwerte oder Geld für den Erwerb des Rentenrechtes hingegeben würden32. Bei der Bestimmung des Wertes der Gegenleistung verabschiedete sich der BFH von dem bis dahin vorherrschenden „Amortisationsgedanken“ und stellte auf deren gemeinen Wert am Veräußerungstag ab. Dieser war ggf. zu schätzen33. b) Unentgeltlich erworbene Ansprüche Zu der Gruppe der unentgeltlich erworbenen Renten zählten in den Augen des RFH vor allem jene Ansprüche, die durch laufende Prämienzahlungen aufgebaut wurden. Sie unterlagen anfangs der (vollen) Rentenbesteuerung. Auf der Ausgabenseite korrespondierte die Besteuerung mit einem Sonderausgabenabzug34. Auch wenn der Sonderausgabenabzug in nur beschränktem Umfang Entlastung versprach, wurde die volle Besteuerung von der Rechtsprechung als unausweichlich empfunden. Einen über den Sonderausgabenabzug in der Bezugsphase hinausgehenden Abzug der Prämienzahlung – etwa in Form von Werbungskosten – gab es nicht35. Auch in der Anwendung der Grundsätze zur Abgrenzung entgeltlicher und unentgeltlicher Renten blieb der BFH im Wesentlichen den Grundsätzen des RFH treu. Ein Veräußerungsgeschäft sollte nur dort anzunehmen sein, wo Leistung und Gegenleistung in gleicher Weise wie zwischen nicht verwandten Personen abgewogen wurden, Leistungen und Gegenleistungen sich also im Wesentlichen ausglichen. Eine 31 Einkünfte sind bei den anderen Einkunftsarten der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten. 32 BFH v. 18.9.1952 – IV 70/49 U, BStBl. III 1952, 290. 33 BFH v. 15.2.1957 – VI 150/55 U, BStBl. III 1957, 134. 34 Der Sonderausgabenabzug stand für einen beachtlichen Katalog weiterer Vorsorgeaufwendungen zur Verfügung und war insgesamt begrenzt, sodass das Abzugsvolumen schon durch andere Aufwendungen verbraucht sein konnte; vgl. BFH v. 5.2.1953 – IV 41/49 U, BStBl. III 1953, 105. 35 RFH v. 11.3.1942 – VI A 42/42, RStBl. 1942, 601 f.; nach anfänglicher Unsicherheit, RFH v. 19.10.1927 – VI A 481/27, RStBl. 1928, 44.

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Rente mit dem vornehmlichen Zweck, die Versorgung der Eltern sicherzustellen, unterlag damit der vollen Besteuerung36. Auch Renten als Teil der Regelung erbrechtlicher Verhältnisse in einem Testament sollten keine Veräußerungsrenten, sondern Versorgungsrenten darstellen. Hier erwerbe der Rentenberechtigte Vermögen unentgeltlich von dem Erblasser37. Der BFH regte insoweit allerdings an, die Rentenbesteuerung durch den Gesetzgeber neu zu regeln38. c) Versorgungszusagen in Verbindung mit Vermögensübergaben Eine Sonderrolle in der Nomenklatur der Rentenbesteuerung nahmen Versorgungszusagen eines Abkömmlings oder Nahestehenden des Zusageempfängers für die Übernahme eines landwirtschaftlichen Betriebs, Gewerbebetriebs oder Grundstücks ein. Vermögensübergabe in diesem Sinne war die Vermögensübertragung kraft einzelvertraglicher Regelung unter Lebenden mit Rücksicht auf die künftige Erbfolge, bei der sich der Vermögensübergeber in Gestalt der Versorgungsleistungen typischerweise Erträge seines Vermögens vorbehielt, die vom Vermögensübernehmer erwirtschaftet werden mussten. Nach dem Willen der Beteiligten sollte der Vermögensübernehmer wenigstens teilweise eine unentgeltliche Zuwendung erhalten. Der RFH ordnete diese Vorgänge als solche des Familien- und Erbrechts ein39. Die Leistungen des Übernehmers minderten deshalb nicht seinen Gewinn oder seine Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, sondern konnten als dauernde Lasten abgesetzt werden. Sie waren nicht zu den geschäftlichen Vorfällen zu rechnen, selbst wenn sie als solche verbucht worden waren. Das sah auch der BFH so40. Seiner Ansicht nach bestand für die familiäre Ausrichtung sogar eine zu widerlegende Vermutung. Diese Vermutung war erst widerlegt, wenn die Beteiligten Leistung und Gegenleistung nach kaufmännischen Gesichtspunkten gegeneinander abgewogen hatten und subjektiv von der Gleichwertigkeit der beiderseitigen Leistungen ausgehen durften, auch wenn Leistung und Gegenleistung objektiv ungleichgewichtig waren. Im Ergebnis wurden solche Versorgungsrenten voll besteuert und waren beim Übernehmer als Sonderausgaben voll absetzbar41. Eine Ausnahme sollte nur im Falle der Umgehung des Abzugsverbots für Zuwendungen auf gesetzliche Unterhaltspflichten gelten. Selbst Fälle der Veräußerungsrente sollten erfasst werden42.

36 BFH v. 4.5.1955 – IV 579/53 U, BStBl. III 1955, 302. 37 BFH v. 17.11.1955 – IV 160/54 U, BStBl. III 1956, 281; v. 2.10.1959 – VI 64/57 U, BStBl. III 1960, 36. 38 BFH v. 18.9.1952  – IV 70/49 U, BStBl.  III 1952, 290 (292); v. 5.2.1953  – IV 41/49 U, BStBl. III 1953, 105. 39 RFH v. 8.10.1931 – VI A 770/31, RStBl. 1931, 946; v. 1.2.1933 – VI A 2056/32, RStBl. 1933, 583. 40 BFH v. 15.7.1991  – GrS 1/90, BStBI. II 1992, 78; wiedergegeben in BMF v. 23.12.1996, BStBl. I 1996, 1508 Rz. 3, 4. 41 Vgl. das bereits erwähnte Urteil des BFH v. 4.5.1955 – IV 579/53, BStBl. III 1955, 302; v. 3.8.1966 – IV 190/62, BStBl. III 1966, 679. 42 RFH v. 1.2.1933 – VI A 2056/32, RStBl. 1933, 583.

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Ausgleichszahlungen des Vermögensübernehmers an Geschwister hingegen wurden vom RFH wie entgeltliche Vorgänge behandelt43. Der BFH ordnete diese später dann aber den unentgeltlichen Vorgängen zu44. Offenbar erkannte er keine hinreichend klaren Kriterien der Abgrenzung dieser Zahlungen von den Versorgungsleistungen. d) Betriebliche Rentenansprüche Die Finanzgerichte hatten sich schon früh mit betrieblichen Rentenanwartschaften und deren Besteuerung auseinanderzusetzen. So wurden etwa Zuwendungen eines Arbeitgebers an eine Unterstützungs- oder Pensionskasse der Lohnbesteuerung unterworfen oder konnten unter bestimmten Voraussetzungen pauschal lohnversteuert werden. In beiden Fällen wurde zum Ausgleich von Härten ein Freibetrag (von anfangs 312 RM) gewährt45. Als Pensionskasse galt im Unterschied zur Unterstützungskasse eine Einrichtung, die dem Versorgungsempfänger selbst einen Rechtsanspruch auf die Leistung gewährte. In der Auszahlungsphase waren die Leistungen aus einer Einrichtung der betrieblichen Zukunftssicherung für den Versorgten steuerfrei. In der Nachkriegszeit führte dieses System der vorgelagerten Besteuerung allerdings zu Problemen, da einzelne Arbeitgeber den durch die Währungsumstellung ausgelösten Wertverlust bei den Anwartschaften ihrer Arbeitnehmer durch Nachschüsse kompensierten. Damit kam die Frage auf, ob diese Nachschüsse ebenfalls als Arbeitslohn zu versteuern seien. Die Rechtsprechung der Finanzgerichte zu Fragen der betrieblichen Altersversorgung befasste sich ferner zu einem guten Teil mit der zulässigen Dotierungshöhe von Unterstützungskassen. Zuwendungen an Unterstützungskassen ohne Rechtsanspruch der Leistungsempfänger konnten in der Regel nicht mehr steuerfrei zugelassen werden, wenn das Kassenvermögen das Fünffache der durchschnittlichen Jahresleistung erreicht hatte46. Die Steuerfreiheit bezog sich dabei auf den Betriebsausgabenabzug. Denn nach einem Runderlass des Reichsministers der Finanzen wurden die Zuwendungen an Pensions- und Unterstützungskassen, die von der Körperschaftsteuer und Vermögensteuer befreit waren, nur insoweit als Betriebsausgaben angesehen, als sie sich in angemessenem Umfang hielten47. Daran orientierte sich auch die Rechtsprechung. 43 RFH v. 8.11.1933 – VI A 1488/31, RStBl. 1934, 295. 44 BFH v. 21.8.1962 – I 82/60 U, BStBl. III 1963, 178. 45 Erlass des Reichsministers der Finanzen v. 22.12.1941 – S 2176 - 181 III, RStBl. 1941, 969; später: § 2 Abs. 3 Ziff. 2 LStDV. 46 RFH v. 12.1.1943 – 127/42, RStBl. 1943, 558. 47 Erlass v. 15.12.1938 – S 2513 - 40 III/S 3506 - 8 III), RStBl. 1938, 1181. Als angemessen galten Zuwendungen in der Regel nur insoweit, als sie 20 % der Lohn- und Gehaltssumme, die der Steuerpflichtige im Jahre der Zuwendung für die Leistungsberechtigten der Kasse aufwandte, nicht überstiegen. Durch Rund-Erlass v. 11.5.1940 – S 2513 - 210 III/S 3506 24 III, RStBl. 1940, 529/530 wurde die Abzugsfähigkeit weiter eingeengt. Zuwendungen an Kassen, die dem Leistungsberechtigten einen Rechtsanspruch gewährten, waren insoweit nicht abzugsfähig, als durch die Zuwendungen das nach versicherungsmäßigen Grundsätzen erforderliche Deckungskapital der Kasse überschritten wurde. Zuwendungen an Kas-

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2. Rentenbesteuerung nach 1954 Mit dem StNG stellte der Gesetzgeber die Rentenbesteuerung auf die Besteuerung nach dem Ertragsanteil um. Damit wurde bei der Berechnung des steuerpflichtigen Teils der Rente ausdrücklich nicht die Erfassung des Zinsanteils pro rata temporis oder eine volle Besteuerung nach dem Verbrauch des Rentenstammrechts eingeführt. Ein solches Verfahren war dem Gesetzgeber zu verwaltungsaufwändig und hätte zu sozialen Härten führen können, indem eine volle Besteuerung der Leibrente im vorgeschrittenen Lebensalter stattgefunden hätte. Als jährlich gleichbleibender Ertragsanteil wurde die Differenz zwischen dem Jahresbetrag der Rente und dem auf die Jahre der voraussichtlichen Laufzeit gleichmäßig verteilten Kapitalwert der Rente zugrunde gelegt. Die voraussichtliche Laufzeit ergab sich aus der Sterbetafel anhand der mittleren Lebenserwartung einer männlichen Person bei Beginn des Rentenbezugs. Der Kapitalwertberechnung lag ein Zinsfuß von 4 % zugrunde. Die Ertragsanteilbesteuerung erfasste sowohl entgeltlich wie unentgeltlich erworbene Renten48. Mit der Umstellung des Besteuerungssystems waren die „Gerechtigkeitsfragen“ im Zusammenhang mit der Rentenbesteuerung allerdings mitnichten geklärt. Die Diskussion ging weiter und erlangte schnell eine verfassungsrechtliche Dimension. Vor allem die Vermögensübertragungen gegen Versorgungsleistungen sorgten für eine Fülle an weiteren Entscheidungen, vornehmlich weil es die Rechtsprechung der Vertragspraxis großzügig gestattete, die Abziehbarkeit der dauernden Last zu gestalten. Dadurch „kam es auch beim Bezieher von wiederkehrenden Leistungen zu steuerrechts­ systematisch nicht erklärbaren Rechtsfolgen, die den Grundsätzen der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, der grundsätzlichen Nichtsteuerbarkeit von Vermögensumschich­ tungen in der Privatsphäre, sowie dem objektiven Nettoprinzip – Notwendigkeit der Ab­ ziehbarkeit von erwerbssicherndem Aufwand (Finanzierungskosten und Absetzung für Abnutzung – AfA – ) – und dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 des Grund­ gesetzes – GG – ) widersprachen“49. Und auch die unterschiedliche Behandlung von Renten und Pensionen erreichte die Gerichte schon früh. a) Ungleichbehandlung gesetzlicher und privater Renten Gelegentlich wurde gegen die Ertragsanteilsbesteuerung von Leibrenten vorgebracht, der einheitliche Ertragsanteil führe angesichts einer deutlich geringeren Rentabilität der Sozialversicherungsrenten gegenüber privaten Renten zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung. Es werde nicht geprüft, ob überhaupt unter Einschluss der sen, die Leistungen ohne Rechtsanspruch von Fall zu Fall gewährten, waren insoweit nicht abzugsfähig, als sie zur Ansammlung eines Vermögens führten, das nicht mehr in angemessenem Verhältnis zu der durchschnittlichen Jahresleistung der Kasse stand. Nach dem Rund-Erlass v. 26.1.1944 – S 2513 – 155 III, RStBl. 1944, 33 waren dann nur noch 10 % der Lohn- und Gehaltsumme abzugsfähig. Die EStR 1946 übernahmen die Erlasse in die Richtlinien. Später erging hierzu eine Verordnung (v. 1.12.1950, BGBl.  1950, 779). Zur Rechtsentwicklung insoweit siehe auch BFH v. 8.9.1953 – I R 33/53 U, BStBl. III 1953, 318. 48 Reg-E, BT-Drucks. 2/481, 87. 49 BFH v. 10.11.1999 – X R 46/97, BStBl. II 2000, 188.

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„Ansparphase“ der Rentenversicherung ein tatsächlicher Kapitalertrag vorliege. Hinter diesem Vorwurf stand die Frage, wie weit eine im Gesetz vorgesehene pauschalierende Besteuerungslösung von den tatsächlichen Gegebenheiten abweichen und damit letztlich zu einer einheitlichen Besteuerung partiell ungleicher Sachverhalte führen darf. Der BFH folgte dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit nicht. In ständiger Rechtsprechung sah er es als verfassungsmäßig an, dass Sozialversicherungsrenten vor dem Inkrafttreten des AltEinkG steuerrechtlich als Leibrenten behandelt wurden50. b) Versorgungsleistungen gegen Vermögensübertragungen (dauernde Lasten) Wiederkehrende, als Entgelt für die Hingabe eines Vermögensgegenstandes erbrachte Versorgungsleistungen waren auch weiterhin unter den vom RFH entwickelten Voraussetzungen vom Einkommen des Zuwendenden abzusetzen und vom Empfänger voll zu versteuern. Die Rechtsprechung hielt also einstweilen an den althergebrachten Grundsätzen fest51. Allerdings kam es durch die erste Entscheidung des Großen Senats des BFH zu einer Änderung der Behandlung von Ausgleichs- und Abstandszahlungen. Hatte der BFH diese in Abweichung von der RFH-Rechtsprechung den unentgeltlichen Vorgängen zugeordnet52, kehrte der Große Senat des BFH zu der ursprünglichen Auffassung des RFH53 zurück und behandelte sie wie entgeltliche Vorgänge. Aus steuerrechtlicher Sicht erbe der Übernehmer zwar grundsätzlich unentgeltlich, auch wenn er Teile des übertragenen Vermögens Angehörigen zu überlassen habe. Wenn der Vermögensübernehmer eine Abstandszahlung an den Übergeber leiste, sei dies dagegen anders. Er erbringe eigene Aufwendungen, um das Vermögen übertragen zu erhalten. Der Übergeber erlange einen Gegenwert für das übertragene Vermögen. Dies gelte auch, wenn sich der Übernehmer zu Ausgleichszahlungen an Dritte verpflichtet habe. Es sei nicht von Bedeutung, ob sich der Übergabevertrag in zivilrechtlicher Sicht als gemischte Schenkung oder als Auflagenschenkung darstelle54. Dies nimmt der Große Senat sinngemäß für die Übernahme von Verbindlichkeiten an. In Anknüpfung an die auch heute noch nach § 6 Abs. 3 EStG vorgesehene Buchwertfortführung bei unentgeltlichen Übertragungsvorgängen sollten diese Vorgänge aber trotzdem als unentgeltlich behandelt werden. Denn es finde ja wegen der Buchwertfortführung auch keine Besteuerung eines Veräußerungsvorgangs statt55. In seiner zweiten Entscheidung befasst sich der Große Senat mit der begrifflichen Angrenzung von Leibrenten und dauernden Lasten und hält auch insoweit an dem tradierten, historisch über lange Jahre gewachsenen Verständnis fest. Danach findet 50 BFH v. 29.10.1965 – VI 142/64 U, BStBl. III 1966, 19; v. 10.10.1969 – VI R 267/66, BStBl. II 1970, 9; v. 17.7.2008 – X R 29/07 (NV), BFH/NV 2008, 1834. 51 BFH v. 24.4.1970 – VI R 212/69, BStBl. II 1970, 541. 52 BFH v. 21.8.1962 – I 82/60 U, BStBl. III 1963, 178. 53 RFH v. 8.11.1933 – VI A 1488/31, RStBl. 1934, 295. 54 BFH v. 5.7.1990 – GrS 4–6/89, BStBl. II 1990, 847 mit zahlreichen weiteren Belegen zur Entstehungsgeschichte der Besteuerung von Versorgungsleistungen. 55 BFH v. 5.7.1990 – GrS 4–6/89, BStBl. II 1990, 847.

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die Abgrenzung im Wesentlichen mit Blick auf das Vorhandensein einer Abänderungsklausel statt, die Merkmal der dauernden Last sein soll (ausgerichtet an § 323 ZPO). Dabei setzte die Rechtsprechung voraus, dass die Abänderbarkeit ausdrücklich vereinbart ist, insbesondere durch Bezugnahme auf § 323 ZPO56. Der Große Senat gab allerdings zu verstehen, dass sich eine Abänderbarkeit durchaus auch aus der  Rechtsnatur des Versorgungsvertrages ergeben könne. Darüber hinaus verwies er auf die Bedeutung des § 12 EStG für die Abgrenzung zwischen abziehbaren pri­ vaten Versorgungsleistungen und den nicht abziehbaren Unterhaltsleistungen und nahm auch insoweit die Rechtsprechung des RFH in Bezug, nach der Sinn und Zweck von Versorgungsleistungen nicht die Erfüllung einer gesetzlichen Unterhaltspflicht war, sondern die Folgerung aus der Übergabe von Vermögen seitens der ­Eltern an die  Kinder57. Wenn der Wert der Gegenleistung bei überschlägiger und großzügiger Berechnung allerdings weniger als die Hälfte des Wertes der Rentenverpflichtung ­betrug, konnte darin nach der frühen Rechtsprechung des BFH ein wesentlicher ­Anhaltspunkt für das Überwiegen des Unterhaltscharakters gesehen werden. Ein wirtschaftlich einheitlicher Vorgang müsse auch steuerlich möglichst einheitlich behandelt werden. Eine Aufspaltung der einheitlichen Leistung setze eine genaue Berechnung der Werte voraus und führe zu praktischen Schwierigkeiten. Bei Über­wiegen des Unterhaltscharakters der Rente liege daher in vollem Umfange eine nicht abziehbare Unterhaltsrente (§ 12 Nr. 2 EStG) und bei Überwiegen des Gesichtspunktes der Gegenleistung in vollem Umfang eine außerbetriebliche Versorgungsrente vor58. Das letzte Thema, nämlich die Abgrenzung zur nicht steuerbaren Unterhaltsrente, griff der Große Senat in seiner dritten Entscheidung erneut auf und nahm dazu ausführlicher Stellung. In seiner Entscheidung hatte er sich mit dem sog. „Typus 2“ Wirtschaftseinheiten nach dem BMF-Schreiben vom 23.12.1996 auseinanderzusetzen59. Dabei handelte es sich um eine Vermögensübergabe, deren Gegenstand eine existenzsichernde und ihrem Wesen nach Ertrag bringende Wirtschaftseinheit war, deren Erträge aber nicht ausreichten, um die wiederkehrenden Leistungen zu erbringen. Voraussetzung für eine Anerkennung als Vermögensübergabe war nach Auffassung der Finanzverwaltung, dass der Wert des Vermögens im Zeitpunkt der Vermögensübergabe bei überschlägiger und großzügiger Berechnung mindestens die Hälfte des Kapitalwerts der wiederkehrenden Leistungen betrug60. Der vorlegende X. Senat vertrat hierzu die Auffassung, dass die für die Erfüllung des 50%-Merkmals erforderliche Vergleichsrechnung kein zulässiges Typus begründendes Tatbestandsmerkmal sei. Hätten wiederkehrende Leistungen keinen Bezug zu einem dafür erhaltenen Vermögenswert, seien sie  – weil nicht durch die Anschaffung veranlasst  – als Zuwen56 BFH v. 19.9.1980 – VI R 161/77, BStBl. II 1981, 26. 57 BFH v. 15.7.1991 – GrS 1/90, BStBl. II 1992, 78. 58 Unter Verweis auf BFH v. 23.1.1964 – IV 8/62 U, BStBl. III 1964, 422; v. 28.7.1983 – IV R 174/80, BStBl. II 1984, 97. Ebenso BMF v. 23.12.1996, BStBl. I 1996. 1508 und v. 26.8.2002, BStBl. I 2002, 893. 59 BStBl. I 1996, 1508. 60 BMF v. 23.12.1996, BStBl. I 1996, 1508 Rz. 18 unter Berufung auf den Beschluss des Großen Senats v. 15.7.1991 – GrS 1/90, BStBI. II 1992, 78.

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dungen aufgrund freiwillig begründeter Rechtspflicht im Sinne des § 12 Nr. 2 EStG nicht abziehbar. Insoweit könne nichts anderes gelten als beim Erwerb gegen Einmalzahlung. Dies gebiete eine verfassungskonforme Auslegung des §  10 Abs.  1 Nr.  1a EStG mit der Folge, dass die auf die Wertrelation von übergebenem Vermögen und Rente abhebende Vergleichsrechnung keine selbstständige Tatbestandsfunktion habe61. Dieser Auffassung folgte der Große Senat im Ergebnis. Wiederkehrende Leistungen könnten nur dann als Sonderausgaben abgezogen werden bzw. seien als wiederkehrende Bezüge zu versteuern, wenn die damit zusammenhängende Übertragung des Vermögens als unentgeltlicher Vorgang anzusehen sei. Die wiederkehrenden Leistungen dürfen sich nicht als Gegenleistung für das übertragene Vermögen darstellen. Versorgungsleistungen stellten nur dann kein Entgelt für das im Gegenzug überlassene Vermögen dar, wenn die erzielbaren Nettoerträge des überlassenen Wirtschaftsguts im konkreten Fall – soweit bei überschlägiger Berechnung vorhersehbar – ausreichten, um die Versorgungsleistungen abzudecken. Außerdem werden u.a. die übertragbaren Vermögensarten (durch Vergleich mit dem Vorbehaltsnießbrauch), die Ermittlung des erzielbaren Nettoertrags definiert62. Im Ausgangsfall des vierten Verfahrens beim Großen Senat ging es um eine Spezialfrage der Ermittlung des erzielbaren Nettoertrags, nämlich bei der Übergabe von Vermögen, aus dessen laufenden Erträgen zwar die Versorgungsleistungen erbracht werden konnten, das jedoch weder positiven Substanz- noch Ertragswert aufwies. Der Große Senat stellte den Grundsatz auf, dass zur Ermittlung des Ertragswerts eines Unternehmens die zugrunde gelegten Gewinne um einen Unternehmerlohn zu kürzen seien63. 3. Zeitalter der nachgelagerten Besteuerung a) Verfassungswidrigkeit des Systems vor dem AltEinkG Parallel zu der Rechtsprechung unseres obersten Finanzgerichts zu den dauernden Lasten eröffnete sich eine ebenfalls verfassungsrechtlich determinierte Paralleldiskussion zu der Frage, ob die unterschiedliche Besteuerung von Renten (mit dem Ertragsanteil) und Pensionen (vollumfänglich) dem Gleichheitssatz entspreche. Der Sache nach unterliegt die klassische Beamtenpension bekanntermaßen der Besteuerung als Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit, während Sozialversicherungsrenten der Besteuerung mit dem Ertragsanteil unterworfen wurden. Die Diskussion war anhaltend und konnte durch einzelne gesetzgeberische Korrekturen wie etwa dem ab 1966 gewährten Versorgungsfreibetrag nicht befriedet werden. Das BVerfG hatte sich deshalb in gleich drei Judikaten mit der Materie zu befassen. In seiner ersten Entscheidung aus dem Jahre 1980 entschied das Gericht zwar noch, dass die unterschiedliche Besteuerung der Beamtenpensionen und der Renten aus 61 BFH v. 10.11.1999 – X R 46/97, BStBl. II 2000, 188. 62 BFH v. 12.5.2003 – GrS 1/00, BStBl. II 2004, 95. 63 BFH v. 12.5.2003  – GrS 2/00, BStBl.  II 2004, 100. Der Große Senat äußert hier bereits Zweifel am Aufteilungsverbot bezogen auf gemischt veranlasste Aufwendungen.

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der gesetzlichen Rentenversicherung sowie der Zusatzversorgung jedenfalls in den Jahren 1969 und 1970 mit dem Gleichheitssatz vereinbar sei. Der BFH hatte sich zuvor ähnlich geäußert64. Allerdings konstatierte das BVerfG bereits damals, dass der Umfang der steuerlichen Begünstigung der Rentner gegenüber den pensionierten Beamten durch die veränderten Verhältnisse inzwischen ein Ausmaß erreicht habe, das eine Korrektur notwendig erscheinen lasse65. Mit seiner zweiten Entscheidung räumte das BVerfG dem Gesetzgeber noch eine „erhebliche Zeitspanne“ zu einer dem Gleichheitssatz entsprechenden umfassenden Neuregelung der Besteuerung der Altersbezüge ein66. Mit der Entscheidung aus dem Jahre 2002 erklärte das BVerfG die unterschiedliche Besteuerung der Alterseinkünfte dann allerdings für seit dem Jahre 1996 mit dem Gleichheitssatz unvereinbar67. Gleichzeitig gab es dem Gesetzgeber auf, im Rahmen der gebotenen Neuregelung die Besteuerung von Altersvorsorgeaufwendungen und die Besteuerung von Bezügen aus dem Ergebnis der Vorsorgeaufwendungen so aufeinander abzustimmen, dass eine Doppelbesteuerung vermieden werde. Diese Neuregelung erfolgte im Jahre 2004 mit dem AltEinkG68. Trotz der vom BVerfG festgestellten Verfassungswidrigkeit der unterschiedlichen Besteuerung der Beamtenpensionen und der Renten aus der gesetzlichen Rentenver­ sicherung bildete diese Tatsache für die Steuerpflichtigen keinen tauglichen Berufungsgrund hinsichtlich der konkreten Besteuerung ihrer Alterseinkünfte. Nach Auffassung des BFH musste die gegenüber einer der Ertragsanteilsbesteuerung vergleichsweise (zu) hohe Besteuerung der Pensionen bis auf weiteres hingenommen werden69. Das entsprach im Ergebnis auch dem Befund des BVerfG in seinem Rentenurteil70: Aus der Feststellung der Unvereinbarkeit einer Norm folge zwar in der Regel die Verpflichtung des Gesetzgebers, rückwirkend die Rechtslage verfassungsmäßig umzugestalten. Anders könne die Rechtslage dagegen bei haushaltswirtschaftlich bedeutsamen steuerrechtlichen Normen sein. Hier habe das Bundesverfassungsgericht wiederholt im Interesse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung die weitere Anwendbarkeit verfassungswidriger Normen für gerechtfertigt erklärt. Eine rückwirkende Besserstellung allein der Ruhestandsbeamten scheide mit Blick auf andere, nicht vergleichbar begünstigte Altersbezüge aus. b) Verfassungsgemäßheit der nachgelagerten Besteuerung Mit der Umstellung der Besteuerung der Alterseinkünfte auf die (volle) nachgelagerte Besteuerung ist eine – abermals verfassungsrechtlich geprägte – Diskussion darü64 BFH v. 28.11.1975 – VI R 165/74, BStBl. 1976, 228. 65 BVerfG v. 26.3.1980 – 1 BvR 121/76, 1 BvR 122/76, BStBl. II 1980, 545. 66 BVerfG v. 24.6.1992 – 1 BvR 459/87, 1 BvR 467/87, BStBl. II 1992, 774. 67 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BStBl. II 2002, 618. 68 Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen v. 5.7.2004, BGBl. I 2004, 1427. 69 BFH v. 17.6.2010 – X B 218/09, BFH/NV 2010, 1633. 70 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BStBl. II 2002, 618 unter C. II.

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ber entbrannt, ob die nur begrenzte Absetzbarkeit der Altersvorsorgebeiträge und die hohe Besteuerung der daraus resultierenden Renten zusammengenommen zu einer Übermaßbesteuerung führen würden. Denn die Vorgabe des BVerfG für die Neuordnung der Besteuerung der Alterseinkünfte bestand auch darin, eine Doppelbesteuerung zu vermeiden. Der BFH hat hierauf eine abschließende Antwort gegeben. Er erachtet die Umstellung der Besteuerung der Alterseinkünfte mit dem AltEinkG auf die nachgelagerte Besteuerung grundsätzlich als verfassungsgemäß71 und führt aus, der Gesetzgeber habe mit der Ausgestaltung der Besteuerung der Alterseinkünfte nach dem Konzept der nachgelagerten Besteuerung eine folgerichtige und dem Gleichheitssatz nicht verletzende Regelung geschaffen72. Das Konzept folge dem Ansatz der „intertemporalen Korrespondenz“. Altersrenten seien als solche steuerbar. Das Lebenseinkommen solle nur einmal, aber auch mindestens einmal besteuert werden. Die Besteuerung setze erst bei der Auszahlung der investierten Beträge an, sodass der hierdurch erzeugte Stundungseffekt und die in der Auszahlungsphase verglichen mit der Ansparphase niedrigeren Steuersätze den Steuerpflichtigen zusätzlich entlasteten. Aus Gleichheitsgründen müsste dieses System der Besteuerung nicht nur für Bezieher von Alterseinkünften aufgrund einer früheren unselbstständigen Arbeit, sondern auch für vormals selbstständig Tätige gelten, soweit diese ihre Rentenanwartschaften unter vergleichbaren Bedingungen wie die Arbeitnehmer gebildet hätten. c) Verfassungskonformer Systemwechsel bezüglich sämtlicher erfasster Renten Der mit dem AltEinkG eingeleitete Systemwechsel zur nachgelagerten Besteuerung in der ersten und zweiten Schicht ist allumfassend73. Der BFH hat ihn in allen ihm zur Entscheidung vorgelegten Fallkonstellationen als verfassungsrechtlich zulässig erachtet. So verhält es sich etwa für die einkommensteuerliche Behandlung von Erwerbsminderungs- oder Berufsunfähigkeitsrenten74. Auch Rentennachzahlungen für Zahlungszeiträume vor 2005, die erst nach dem 31.12.2004 zufließen, werden verfassungsrechtlich zulässig von § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a) Doppelbuchstabe aa) EStG

71 BFH v. 26.11.2008 – X R 15/07, BStBl. II 2009, 710, DStR 2009, 32 ff.; bestätigt mit Urteil v. 19.1.2010 – X R 53/08, BStBl. II 2011, 56 und v. 6.4.2016, BStBl. II 2016, 733; nunmehr auch BVerfG v. 29.9.2015  – 2 BvR 2683/11, BStBl.  II 2016, 310; v. 30.9.2015  – 2 BvR 1066/10, HFR 2016, 72 und 2 BvR 1961/10, HFR 2016, 77; kritisch dagegen Stützel, DStR 2010, 1545; Seckelmann, DStR 2013, 69 ff.; Scholtz, DStR 2013, 75 ff. 72 Mittlerweile bestätigt durch Beschlüsse des BVerfG v. 29.9.2015 – 2 BvR 2683/11, BStBl. II 2016, 310 Rz. 26 ff.; v. 30.9.2015 – 2 BvR 1066/10, HFR 2016, 72 und 2 BvR 1961/10, HFR 2016, 77. Der X. Senat erstreckt diese Einschätzung auch auf die nur begrenzte Abziehbarkeit der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung als Sonderausgaben, BFH v. 18.11.2009 – X R 34/07, BStBl. II 2010, 414. Zum Thema siehe auch Förster, DStR 2009, 141; Weber-Grellet, DStR 2012, 1253 (1256). Siehe auch BVerfG v. 14.6.2016  – 2 BvR 290/10, BStBl. II 2016, 801. 73 Vgl. die umfangreiche Aufzählung bei Weber-Grellet, DStR 2012, 1253 (1258). 74 BFH v. 13.4.2011 – X R 54/09, BStBl. II 2011, 910.

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erfasst75. Entschieden wurde dies u.a. für Leistungen aus einem berufsständischen Versorgungswerk an einen Selbstständigen mit Blick auf die Übergangsregelung76. Arbeitnehmer waren insoweit in der Aufbauphase vor Geltung des AltEinkG zwar begünstigt, da die Arbeitgeberanteile zur gesetzlichen Rentenversicherung nach § 3 Nr.  62 EStG in voller Höhe steuerfrei waren, während Selbstständige ihre Alters­ vorsorgeaufwendungen vollständig aus eigenen Mitteln aufbringen mussten. Eine Schlechterstellung von Selbstständigen durch die Gleichbehandlung in der Auszahlungsphase ergab sich, soweit die steuerfrei gestellten Arbeitgeberanteile den Vorteil des Selbstständigen durch den ungekürzten Vorwegabzug überstiegen. Für die gleichheitsrechtliche Prüfung soll es indessen nicht allein auf diesen Vergleich ankommen. Denn Selbstständigen stehen zusätzlich zum ungekürzten Vorwegabzug andere steuerliche Vergünstigungen offen (z.B. Freibeträge nach §  16 Abs.  4 EStG oder die Tarifermäßigung in § 34 EStG). Der BFH belegt hier durch einen Vergleich des Beitragsaufkommens an die entsprechenden gesetzlichen und berufsständischen Altersversorgungseinrichtungen von Arbeitnehmern und Selbstständigen auf der einen Seite und Arbeitgebern auf der anderen Seite, dass die Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung zum weit überwiegenden Anteil aus Arbeitnehmern bestehen, während bei den Versorgungswerken die nicht selbstständig tätigen Mitglieder der Versorgungswerke eher die Ausnahme bilden77. Der selbstständig Tätige mit einer Altersversorgung durch ein Versorgungswerk und der Angestellte mit einer Altersversorgung durch die gesetzliche Rentenversicherung stellen also die typischen Fälle dar, an denen sich der Gesetzgeber im Rahmen seiner Typisierungsbefugnis orientieren durfte. Die Übergangsregelung bewegt sich noch innerhalb des weiten Gestaltungsspielraums, der dem Gesetzgeber bei der angestrebten umfassenden Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen zukommt. Außerdem hat der Gesetzgeber dem Sonderfall, in dem typischerweise für Selbstständige die Gefahr einer übermäßigen Besteuerung besteht, durch die Öffnungsklausel des §  22 Nr.  1 Satz  3 Buchstabe  a Doppelbuchstabe bb Satz 2 EStG Rechnung getragen78. d) Werbungskosten vs. Sonderausgabenabzug Spätestens seit der Umstellung der Besteuerung der Alterseinkünfte auf das Prinzip der nachgelagerten Besteuerung und der damit verbundenen noch engeren systematischen Verflechtung von Anspar- und Auszahlungsphase wird verschärft darüber diskutiert, ob Altersvorsorgeaufwendungen nicht besser als vorweggenommene Werbungskosten statt als Sonderausgabe zu behandeln seien79. BFH und BVerfG beanstanden das derzeitige System, das dem Steuerpflichtigen in der Ansparphase für 75 BFH v. 13.4.2011 – X R 1/10, BStBl. II 2011, 915. 76 BFH v. 26.11.2008 – X R 15/07, BStBl. II 2009, 710, DStR 2009, 32 ff.; im Ergebnis bestätigt durch BVerfG v. 29.9.2015 – 2 BvR 2683/11, BStBl. II 2016, 310. 77 BFH v. 26.11.2008 – X R 15/07, BStBl. II 2009, 710 Rz. 58 ff. 78 BVerfG v. 29.9.2015 – 2 BvR 2683/11, BStBl. II 2016, 310 Rz. 36 ff. 79 Vgl. Heidrich, DStR 2005, 861 ff.; Stützel, DStR 2010, 1545 f., der dies verfassungsrechtlich für geboten hält.

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die steuerlich geförderten Formen von Altersvorsorge einen Sonderausgaben- und keinen Werbungskostenabzug gewährt, verfassungsrechtlich nicht80. Der BFH verweist dabei u.a. auf die Tatsache, dass die gesetzliche Rentenversicherung nach dem Grundsatz „Rehabilitation vor Rente“ auch Leistungen der medizinischen Rehabilitation und der Teilhabe am Arbeitsleben abdeckt. Der hierauf entfallende Beitrags­ anteil stelle keine vorweggenommenen Werbungskosten dar. Dasselbe gelte für den Zuschuss zur Krankenversicherung. Die einheitliche Behandlung der Altersvorsorgeaufwendungen als Sonderausgaben mache eine Beitragsaufteilung entbehrlich und diene der Praktikabilität81. Das BVerfG bestätigt dies. Für Lebenssachverhalte im Schnittbereich zwischen beruflicher und privater Sphäre sei eine gesetzgeberische Bewertung und Gewichtung der dafür kennzeichnenden multikausalen und multifinalen Wirkungszusammenhänge verfassungsrechtlich zulässig. Dem Gesetzgeber stehe es grundsätzlich frei, ob er sie wegen ihrer Veranlassung durch die Erwerbstätigkeit den Werbungskosten und Betriebsausgaben zuordne oder ob er sie wegen der privaten Mitveranlassung durch eine spezielle Norm als Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastungen qualifiziere. Ein verfassungsrechtliches Gebot der Qualifizierung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung oder zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen als Werbungskosten beziehungsweise Betriebsausgaben sei dagegen gleichbedeutend mit einem Verbot der vorgelagerten Besteuerung in der Aufbauphase. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seien lediglich die Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen für die Alterssicherung und die Besteuerung von Bezügen aus dem Ergebnis der Vorsorgeaufwendungen so aufeinander abzustimmen, dass eine doppelte Besteuerung vermieden werde. Damit ist keine Aussage darüber verbunden, ob die Besteuerung von Altersbezügen vor- oder nachgelagert zu erfolgen habe82. Gegen die Beschränkung der steuerlichen Berücksichtigung der Altersvorsorgeaufwendungen sieht der BFH ebenfalls keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Es sei nicht sachwidrig, dass der Gesetzgeber diese Begrenzung zur Verhinderung von Missbräuchen für geboten gehalten habe. Da die maximal zulässigen Abzugsbeträge die Höchstbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung erheblich überstiegen, beruhten über das Niveau des § 10 Abs. 3 Sätze 1 und 2 EStG hinausgehende Beiträge auf einer freiwilligen Entscheidung des Steuerpflichtigen, Rentenansprüche zu erwerben, die über die bloße Existenzsicherung hinausgingen83. Die Hinzurechnung der steuerfreien Arbeitgeberbeiträge bei der Ermittlung der Höhe der abzugsfähigen Vorsorgeaufwendungen sei mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, weil damit zwei Steuerpflichtige, von denen nur einer einen steuerfreien Arbeitgeberanteil oder ‑zuschuss erhalten habe, hinsichtlich des steuerlich abziehbaren Gesamtaufwands für die Altersversorgung gleichbehandelt würden. Auch der Arbeitgeberanteil bilde 80 BFH v. 8.11.2006 – X R 45/02, BStBl. II 2007, 574; v. 7.12.2011 – X R 116/11, BFH/NV 2012, 416; BVerfG v. 14.6.2016  – 2 BvR 290/10, BStBl.  II 2016, 801. Siehe auch Förster, DStR 2010, 137 ff. 81 BFH v. 18.11.2009 – X R 9/07 (NV), BFH/NV 2010, 412 Rz. 37 ff. 82 BVerfG v. 14.6.2016 – 2 BvR 290/10, BStBl. II 2016, 801 Rz. 41, 49. 83 BFH v. 18.11.2009 – X R 9/07 (NV), BFH/NV 2010, 412 Rz. 43 ff.

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letztlich einen Teil der Gegenleistung, die sich der Arbeitnehmer erarbeiten müsse84. Die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen im System der nachgelagerten Besteuerung bildet freilich abermals das Verbot der Doppelbesteuerung. Eine verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers, die Absicherung des aktuellen Lebensstandards des Erwerbstätigen im Alter steuerlich zu fördern, folgt aus dem subjektiven Nettoprinzip dagegen nicht85. e) Übergangsregelung – Kohortengrundsatz Mit Blick auf die Übergangsregelung zur nachgelagerten Besteuerung (sog. Kohortenbesteuerung) anerkennen BFH und BVerfG diese ebenfalls als verfassungskonform, sehen deren verfassungsmäßigen Grenzen aber – wie sollte es anders sein – im Verbot der Doppelbesteuerung86. Diese Einschätzung erstreckt der BFH auch auf die Tatsache, dass Steuerpflichtige im Rahmen der Übergangsregelung ihre Aufwendungen nur in beschränktem Umfang abziehen können, indem er die Übergangsregelung im Ganzen (Abzug und Besteuerung zusammengenommen) konsequent, folgerichtig und ausnahmslos für alle Gruppen von Steuerpflichtigen umgesetzt sieht87. Das Übergangssystem ist dadurch gekennzeichnet, dass in verwaltungspraktikabler Weise einerseits die außerhalb des Systems der nachgelagerten Besteuerung stehenden Steuervergünstigungen in der Phase der Besteuerung schrittweise abgebaut werden (vor allem der Versorgungsfreibetrag nach § 19 Abs. 2 EStG und der Altersentlastungsbetrag nach § 24a EStG) sowie die Erfassung sämtlicher Alterseinkünfte der ersten Schicht bis zum Jahre 2040 sukzessive auf 100 % angehoben werden. Andererseits wird der vom Steuerpflichtigen zur Erlangung des Anspruchs auf diese Leistung erbrachte Beitrag schrittweise ansteigend steuerfrei gestellt; die Endstufe mit einer 100%igen Freistellung der Altersvorsorgeaufwendungen innerhalb der Abzugshöchstbeträge ist 2024 erreicht. Zur Bewertung der übergangsweise vorgesehenen Besteuerung nach Kohorten ist nach Auffassung des erkennenden X. Senats zu berücksichtigen, dass es sich um die Regelung komplexer Lebenssachverhalte handelt, bei denen dem Gesetzgeber gröbere Typisierungen und Generalisierungen zugestanden werden. Auch insoweit habe sich der Gesetzgeber im Rahmen des ihm gewährten weiten gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums gehalten. Bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung seien nicht nur die nominalen Entlastungsbeträge, sondern auch die bestehenden Systemunterschiede zwischen den gesetzlichen Rentenversicherungen und den berufsständischen Versorgungseinrichtungen zu berücksichtigen. Ein annähernd exaktes Nachzeichnen solcher unterschiedlichen Wirkungen könne vom Gesetzgeber nicht verlangt werden, solange er sie nicht willkürlich ignoriere. Allerdings fordere das BVerfG, dass eine Doppelbesteuerung vermieden werden müsse, ohne den Begriff „doppelte Besteuerung“ zu konkretisieren. Einigkeit bestehe darüber, dass entsprechend der steu84 BFH v. 18.11.2009 – X R 9/07 (NV), BFH/NV 2010, 412 Rz. 47 ff. 85 BVerfG v. 14.6.2016 – 2 BvR 290/10, BStBl. II 2016, 801 Rz. 61. 86 Siehe hierzu Nachweise unter Fn. 20. 87 BFH v. 18.11.2009 – X R 9/07 (NV), BFH/NV 2010, 412 Rz. 75.

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erlichen Grundsystematik vom Nominalwertprinzip auszugehen und keine Barwertbetrachtung anzustellen sei88. Damit ist die Übergangsregelung dem Grunde nach auch in jenen Fällen gerechtfertigt, in denen die Rente nach 2039 beginnt und deswegen vollumfänglich zu versteuern ist, während die Aufwendungen zur Erlangung des Rentenanspruchs nur beschränkt abziehbar waren. f) Restunsicherheit: Was ist Doppelbesteuerung? In der Rechtsprechung der Finanzgerichte ist noch nicht abschließend geklärt, wie eine Doppelbesteuerung der Renteneinkünfte zu ermitteln ist. Der Gesetzgeber stellt mit dem AltEinkG auf die Höhe des steuerunbelasteten Zuflusses ab. Das bedeutet im Ergebnis eine bezogen auf die Renteneinkünfte anzuwendende (antei­lige) Berücksichtigung von Abzugsbeträgen (in der Gesetzesbegründung exemplarisch durch­ gerechnet anhand des Grundfreibetrags)89. In der Literatur wird hingegen größtenteils der steuerfreie Rentenzufluss mit der Höhe der aus versteuertem Einkommen geleisteten Beiträge verglichen90. Nach Ansicht des X. Senats, in der er sich durch das BVerfG bestätigt sieht, liegt eine doppelte Besteuerung vor, wenn die steuerliche Belastung der Vorsorgeaufwendungen höher ist als die steuerliche Entlastung der da­ rauf beruhenden Altersrenten91. Einige der in diesem Zusammenhang zu entscheidenden Rechtsfragen schlüsselt er in seinem Urteil vom 21.6.201692 auf93. Ungeachtet der genauen Methodik zur Berechnung fordert der BFH das Verbot der Doppelbesteuerung für jeden Einzelfall ein. Er fordert dies unter Hinweis auf den verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz und eingedenk der Tatsache, dass bei einer langfristig angelegten Altersvorsorgeplanung mit einem solch einschneidenden Systemschwenk wie jenem durch das AltEinkG kaum hätte gerechnet werden können94. Der BFH leitet aus einem Verstoß gegen dieses Verbot im Einzelfall zwar keine systemischen Konsequenzen ab. Dem Steuerpflichtigen soll aber ggf. ein Anspruch auf eine Milderung des Steuerzugriffs in der Rentenbezugsphase zustehen95. In der Konsequenz steht also nicht die durch das AltEinkG vollzogene Neu88 Bestätigt durch BVerfG v. 29.9.2015  – 2 BvR 2683/11, BStBl.  II 2016, 310 Rz.  51; v. 14.6.2016 – 2 BvR 290/10, BStBl. II 2016, 801 Rz. 35 mit Verweis auf seine frühere Rechtsprechung BVerfG; kritisch Stützel, DStR 2010, 1545 (1551 f.). 89 BT-Drucks. 15/2150, 23 f. 90 Stützel, DStR 2010, 1545 (1547 ff., 1551); Weber-Grellet, DStR 2012, 1253 (1257), der auf den doppelt besteuerten Betrag – analog zur Wirkungsweise der Öffnungsklausel – die Ertragsanteilsbesteuerung anwenden will. 91 BFH v. 6.4.2016, BStBl. II 2016, 733 Rz. 53. 92 DStR 2016, 2575 Rz. 42 ff. 93 Das finanzgerichtliche Verfahren war bei Redaktionsschluss noch nicht abgeschlossen. 94 Siehe zuletzt BFH v. 6.4.2016, BStBl. II 2016, 733 Rz. 50 ff., v. 21.6.2016, DStR 2016, 2575 Rz. 20 ff. wiederum unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG; ebenso Förster, DStR 2009 141 (146) m.w.N. 95 BFH v. 21.6.2016, DStR 2016, 2575 Rz. 24 ff. Auch der Beschluss des BVerfG (v. 29.9.2015 – 2 BvR 2683/11 (BStBl. II 2016, 310) spricht insoweit vom Verbot der doppelten Besteuerung im jeweiligen Einzelfall, ungeachtet der Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung im All­ gemeinen.

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Altersvorsorge

strukturierung der Besteuerung von Alterseinkünften als solche „auf der Kippe“. Die Finanzverwaltung hat in Einzelfällen nur eine genauere Überprüfung im Hinblick auf eine etwaige Doppelbesteuerung vorzunehmen und diese ggf. zu unterbinden.

IV. Fazit Die Rechtsprechung des RFH und des BFH zur steuerlichen Behandlung der Altersvorsorge ist seit Anbeginn an geprägt von der (ewigen) Suche nach der zutreffenden Besteuerungshöhe. Anfangs spielte dabei insbesondere die Tatsache eine Rolle, dass der Erwerb von Rentenansprüchen häufig mit einer eigenen Leistung des Steuerpflichtigen in der Ansparphase verbunden ist. Nach 1945 trat dann immer stärker die soziale Bedeutung der Altersvorsorge bei ihrer steuerlichen Beurteilung hervor. Die Beschränkung der Besteuerung auf den Ertragsanteil war sicherlich auch systematischen Erwägungen geschuldet, erfolgte ganz maßgeblich aber wegen der in dieser Zeit empfindlich niedrigen und für die Masse der Empfänger kaum auskömmlichen Renten. Schließlich ist auch die Einführung der modernen sog. nachgelagerten Besteuerung von Zahlungen aus bestimmten Altersvorsorgeinstrumenten eher sozialen Erwägungen zu verdanken als steuerlich motiviert. Im Sinne einer Ermutigung der Steuerpflichtigen zu zusätzlicher Altersvorsorge soll die Sparleistung während des Erwerbslebens steuerlich gefördert werden. Die notwendige Folge ist die volle Besteuerung bei Auszahlung. Die Suche nach der (zutreffenden) Höhe der Besteuerung ist indes geblieben und angesichts einer mit dem modernen Fördergedanken gewonnenen zusätzlichen Komplexität dieser Rechtsmaterie nicht eben einfacher geworden.

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4. Teil Materielles Steuerrecht … B. I.

Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Unternehmenssteuerrechts Von Klaus-Dieter Drüen

Inhaltsübersicht I. Ausgangslage: Das Unternehmens­ steuerrecht im Zusammenspiel von Rechtsetzung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft II. Bestandsaufnahme: Zentrale ­Entwicklungsfelder und -linien des Unternehmenssteuerrechts 1. Grund- und Vorfragen der Unter­ nehmensbesteuerung a) Legislative Konkretisierung der Leistungsfähigkeit von Unternehmen b) Strukturprinzipien: Trennungsprinzip bei Kapitalgesellschaften vs. Transparenzprinzip bei Personengesellschaften 2. Vorgabe der rechtsformabhängigen Unternehmensbesteuerung a) Legislatorische Weichenstellung der rechtsformorientierten Unternehmensbesteuerung b) Besteuerung von Kapitalgesellschaften c) „Besteuerung“ von Personengesellschaften

d) Gespaltene Unternehmerbesteuerung – oder: Der verlorene Blick auf das Ganze 3. Besteuerung von verbundenen Unternehmen 4. Begriff des steuerrechtlichen Unter­ nehmens 5. Unternehmensgewinn und Recht­ sprechung a) Konkretisierung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung durch die Steuerrechtsprechung b) Totalität des steuerrechtlichen Gewinnbegriffs und richterrechtliche Ausnahmen III. Ausblick: Zukunftsfragen des Unter­ nehmenssteuerrechts 1. Perspektive: Neues Unternehmens­ steuerrecht als neuer Boden der Rechtsprechung? 2. Fortschreitende Inter- und Suprana­ tionalisierung des Unternehmens­ steuerrechts

I. Ausgangslage: Das Unternehmenssteuerrecht im Zusammenspiel von Rechtsetzung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft Die Spuren der Rechtsprechung von Reichsfinanzhof und Bundesfinanzhof im Recht der Unternehmensbesteuerung in den letzten 100 Jahren sind vielfältig und tief. Verschiedene Entwicklungen im Unternehmenssteuerrecht sind maßgeblich der höchstrichterlichen Rechtsprechung oder Reaktionen des Gesetzgebers auf diese zu verdan1317

Klaus-Dieter Drüen

ken. Den Beitrag der Rechtsprechung zum Unternehmenssteuerrecht gilt es in dieser Festschrift für den Bundesfinanzhof aus Anlass von 100 Jahren Steuerrechtsprechung in Deutschland herauszustellen und zu bewerten. Dabei lassen sich Beitrag und Rolle der Rechtsprechung nur im Zusammenwirken aller Staatsgewalten in ihren spezifischen Funktionen und Grenzen beurteilen1. Die Rechtsprechung ist trotz ihrer Breiten- und Tiefenwirkung im Unternehmenssteuerrecht die dritte Staatsgewalt2. Die judikative Gewalt und gerade der Bundesfinanzhof als oberster Gerichtshof des Bundes für Steuern (Art. 20 Abs. 2, 92, 95 Abs. 1 GG) entfaltet im Dreiklang der Staatsgewalten eine eigenständige Rationalität gegenüber den anderen Staatsgewalten3. ­Rationalitäts- und Gestaltungsansprüche der dritten Gewalt sind aber im gewaltengegliederten Verfassungsstaat immer aus Gesetz und Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitet. Der Gesetzgeber setzt die Grundlage und den Rahmen der Rechtsprechung. Gegenüber dem „Makrokosmos des gesetzlichen Rechts“ ist die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes – mit den Worten von Heinrich Wilhelm Kruse in der Festschrift zum 75-jährigen Bestehen von Reichsfinanzhof und Bundesfinanzhof  – der „Mikrokosmos des Steuerrechts“4. Die Rechtsprechung als dritte Gewalt fußt konstitutionell auf dem Boden des Gesetzes5, ist daran gebunden und darauf beschränkt. Es liegt nicht in ihrer Macht, ein Rechtsgebiet wie das Unternehmenssteuerrecht autonom zu entwickeln und seine Zukunft nach eigenen Entwürfen zu gestalten. Der Rechtsetzung durch die Rechtsprechung sind verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt. In einer Festschrift zu Ehren des höchsten deutschen Steuerfachgerichts finden naturgemäß die Fragen der Wechselwirkung der Rechtsprechung mit dem Gesetzgeber6 und speziell der Rechtsfortbildung7 besondere Aufmerksamkeit. Die Fälle des einträchtigen Zusammenwirkens erscheinen – wie allgemein im Leben – als Grundlage der Funktionsfähigkeit unspektakulär und wenig berichtenswert. Ungleich höhere Aufmerksamkeit finden dagegen – gerade unter Richtern – die Fälle administrativer

1 Allgemein zum Zusammenwirken der drei Staatsgewalten Reimer, Das Zusammenspiel von Rechtsprechung und Gesetzgebung, in FS 100 Jahre BFH, S. 227 ff.; Schmitt, Das Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung, in FS 100 Jahre BFH, S. 251 ff.; Simonek, Das Zusammenspiel von Rechtsprechung und Verwaltung, in FS 100 Jahre BFH, S. 275 ff. 2 Dies ist keine Aussage über die Wertigkeit der Rechtsprechung, aber über ihre Funktionsgrundlagen und -grenzen. 3 So Jachmann, Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs als Ausübung der dritten Staatsgewalt, in FS Spindler, 2011, S. 115 (116). 4 Kruse, Kontinuität und Fortschritt der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 239 (241, 245). 5 Im Bild von Kruse (Fn.  4), S.  239 (245  f.): „Änderungen im Makrokosmos des gesetzten Rechts setzen sich (mittelbar) im Mikrokosmos der Rechtsprechung fort. … Bebt die Erde, so bebt auch das Gericht“. 6 Kruse (Fn. 4), S. 239. 7 Knobbe-Keuk, Rechtsfortbildung als Aufgabe des obersten Steuergerichts; erlaubte und unerlaubte Rechtsfortbildung durch den Bundesfinanzhof, in FS 75  Jahre RFH–BFH, 1993, S. 303.

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Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Unternehmenssteuerrechts

Nichtanwendungserlasse8 und der Korrekturgesetzgebung9. In der Mehrzahl der Fälle erkennt die Finanzverwaltung die höchstrichterliche Gesetzesauslegung als zutreffend und allgemein anwendbar an10. In mehreren Fällen bestätigt auch der Gesetzgeber die höchstrichterliche Rechtsprechung und greift diese legislativ auf. Manche gelungene Rechtsfortbildung wurde durch die „Aufnahme“ ins Gesetz „geadelt“. Beispiele für „rechtsprechungsumsetzende“ Gesetzgebung gibt es im Unternehmenssteuerrecht im Großen (z. B. bei der Organschaft; s. II. 3.) wie im Kleinen11, gerade im Recht der Gewinnermittlung von Unternehmen (s. II. 5.). Die Funktion der positiven Inspiration des Gesetzgebers durch Rechtsprechungserkenntnisse des Bundesfinanzhofes ist darum nicht zu unterschätzen. In Festschriften werden die Vorzüge des Jubilars ins helle Licht gestellt, Schwächen dagegen regelmäßig schweigend übergangen, um die Feststimmung nicht zu trüben. Eine Institution, die wie die Rechtsprechung auf das fortwährende Rechtsgespräch mit der sie begleitenden Rechtswissenschaft12 angewiesen ist, bedarf dagegen keiner besonderen Schonung. Die Rechtswissenschaft ist primär eine anwendungsbezogene, normative Wissenschaft, die sich traditionell in den Dienst der Rechtsanwendung stellt. Rechtswissenschaft als „Theorie“ und Rechtsprechung als „Praxis des Rechts“ sollten sich gegenseitig befragen, befruchten und korrigieren13. Darum ist im Folgenden auch kritisch der Blick auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes zum Unternehmenssteuerrecht zu werfen. Wenngleich in dieser Festschrift zu Ehren des Bundesfinanzhofes nicht von „Rechtsprechungsirrtümern“ die Rede sein soll14, darf und muss aber manche Rechtsprechungslinie im Unternehmenssteuerrecht kritisch hinterfragt werden, um der selbstgesetzten „Kontrollfunktion“ der Rechtswissenschaft gegenüber der Rechtsprechung zu genügen.

8 Zum Verhältnis der Rechtsprechung zur Exekutive aus Richtersicht näher Jachmann in FS Spindler, 2011, S. 115 (121 ff.). 9 Exemplarisch Gosch, Über das Nichtanwenden höchstrichterlicher Rechtsprechung – aufgezeigt am Beispiel der Spruchpraxis des I. Senats, in FS Spindler, 2011, S.  379; Herden, Nichtanwendung von Entscheidungen des Bundesfinanzhofs, in FS Spindler, 2011, S. 445. 10 Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011, S. 5 ff., 65 ff. 11 Jüngstes Beispiel ist die „klarstellende“ Kodifikation (so Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 12.8.2016, BR-Drucks. 407/16, 1) der Pflicht zur Einzelaufzeichnung von Geschäftsvorfällen von Unternehmen in § 146 Abs. 1 AO mit Wirkung ab 29.12.2016 durch Gesetz zum Schutz vor Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen v. 22.12.2016, BGBl. I 2016, 3152 (3154) im Anschluss an BFH v. 16.12.2014 – X R 42/13, BStBl. II 2015, 519 Rz. 18 (dazu Drüen in Tipke/Kruse, § 146 AO Rz. 26 ff. [April 2018] m. w. N.). 12 Zu diesem Verhältnis näher Drüen, Über Steuerrechtswissenschaft und Steuerrechtsprechung, StuW 2013, 72. 13 Insgesamt Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 8. Aufl. 2015, Rz. 19. 14 Dazu an anderer Stelle bereits Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 310 (Okt. 2001) m. w. N.

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II. Bestandsaufnahme: Zentrale Entwicklungsfelder und -linien des ­Unternehmenssteuerrechts Steuerrecht ist gewachsenes Recht15. Das gilt auch und insbesondere für das Unternehmenssteuerrecht16. Das deutsche Steuerrecht kennt traditionell keine eigenständige „Unternehmenssteuer“ und kein spezielles Unternehmenssteuergesetz. Die Unternehmensbesteuerung als Besteuerung des Einkommens von Unternehmen basiert auf den Grundfesten der Einkommensbesteuerung17. Grundlage der Rechtsprechung zum Unternehmenssteuerrecht ist das jeweils geltende Gesetz. Der Reichsfinanzhof hat ab Oktober 1918 seine Rechtsprechung noch vor den Erzberger’schen Steuerreformen und vor Einführung der reichseinheitlichen Gesetze zur Einkommen- und Körperschaftsteuer im Jahre 192018 aufgenommen. Bei der Gewerbesteuer wurde die landesrechtliche Rechtszersplitterung erst durch die Realsteuerreform im Jahre 1936 überwunden. Seither wurden die einschlägigen Gesetze zur Unternehmensbesteuerung vielfach geändert und fortentwickelt. Neben zahllosen Detailänderungen musste der Bundesfinanzhof mit der Körperschaftsteuerreform 1977 und der Gegen-Reform mit dem Wechsel vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren19 aber nur einzelne strukturelle Reformen der Unternehmensbesteuerung20 verarbeiten. Natürlich hat sich die normative Ausgangslage der Rechtsprechungstätigkeit im Unternehmenssteuerecht in den letzten 100 Jahren verfassungsrechtlich, supra- und interna­ tional grundlegend geändert. Ein vollständiges Bild vom Einfluss der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf die Unternehmensbesteuerung lässt sich in diesem Rahmen nicht zeichnen. Vielmehr sollen im Folgenden exemplarisch und naturgemäß ohne Anspruch auf Vollständigkeit21 zentrale Entwicklungsfelder und -linien der laufenden Besteuerung von Unter-

15 Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, Allgemeiner Teil, 1991, S. 1 ff., 12, 64 f. 16 Zur Historie Seer, Die Entwicklung der GmbH-Besteuerung, 2005, S. 24 ff.; Höller, Eine kritische Analyse zur Unternehmenssteuerreform 2008 im historischen Kontext, 2011; Hüttemann, Besteuerung von Unternehmen  – Entwicklungen und Ausdifferenzierung, StuW 2014, 58. 17 Dazu Kube, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Einkommensteuerrechts, in FS 100 Jahre BFH, S. 1145 ff. 18 Dazu Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, S. 9 ff. m. w. N. 19 Dazu Reiß, Zurück zu den Wurzeln? – Zur Geschichte der Körperschaftsteuer in Deutschland, in Akademie für Steuer- und Wirtschaftsrecht des Steuerberater-Verbandes Köln GmbH, 50 Jahre Steuerreformen in Deutschland, 2003, S. 65 (91 ff., 101 ff.). 20 Bareis, Steuerreform, in FS Paul Kirchhof, Bd. II, 2013, § 166 Rz. 13. 21 Ausgeklammert bleiben z. B. auch die Verbindungslinien zum Verfahrensrecht (dazu Seer, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Steuerverfahrensrechts, in FS 100 Jahre BFH, S. 1717 ff.; speziell zu den Mitwirkungspflichten Schallmoser, Mitwirkungspflichten im Fokus der Finanzrechtsprechung, in FS 100 Jahre BFH, S. 1747 ff.) und Besonderheiten des Unternehmenssteuervollzugs.

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Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Unternehmenssteuerrechts

nehmen22 beleuchtet werden23. Dabei impliziert bereits der Begriff „Entwicklungsli­ nien“ die notwendige Selektion und Vergröberung. Beim folgenden Rückzug auf die großen Entwicklungslinien ohne Einzelverästelungen soll nur grundlegenden Entwicklungsfeldern des Unternehmenssteuerrechts, die von der Rechtsprechung (mit-) beeinflusst wurden und werden, Aufmerksamkeit geschenkt werden. 1. Grund- und Vorfragen der Unternehmensbesteuerung a) Legislative Konkretisierung der Leistungsfähigkeit von Unternehmen Das Unternehmenssteuerrecht ist – abgesehen vom finanzverfassungsrechtlich tolerierten Dualismus der Einkommen- und Körperschaftsteuer (Art. 106 GG) – nicht durch die Verfassung oder die Natur der Sache im Detail vorgezeichnet24. Auch die Unternehmensbesteuerung lebt aus dem „Dictum des Gesetzgebers“25. Die Kriterien steuerwürdiger Leistungsfähigkeit festzulegen und zu konkretisieren ist zugleich Recht und Pflicht des Gesetzgebers. Für die Besteuerung von (Unternehmens-)Einkommen ist – trotz mancher Kritik – der einzig sachgerechte Maßstab das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit26. Allerdings ist das Leistungsfähigkeitsprinzip im Ausgangspunkt ein hoch abstraktes Leitprinzip, das der Konkretisierung aufgrund zusätzlicher Werturteile bedarf27. Die gesetzgeberische Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips ist dabei nicht gänzlich ungebunden28, aber allein dem Gesetzgeber gebührt zu bestimmen, welche Leistungsfähigkeit er wie und wann steuerlich erfassen will29. Dabei lässt sich bereits vorgelagert über die Frage des Trägers der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und die Vorfrage 22 Zur Besteuerung der Unternehmensnachfolge mit Erbschaft- und Schenkungsteuer Cre­ zelius, Unternehmenserbrecht, 2.  Aufl., 2009; zuletzt Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 15 Rz. 5 f., 29 ff., 70 ff. m. w. N.; zur umstrittenen Reichweite der Schenkungsteuerpflicht von Leistungen an Kapitalgesellschaften nach § 7 Abs. 8 ErbStG Loose in v. Oertzen/Loose, ErbStG, 2017, § 7 Rz. 563 ff.; Hannes/Holtz in Meinecke/Hannes/Holtz, ErbStG, 17. Aufl. 2018, § 7 Rz. 168 ff. m. w. N.; zur Abgrenzung von Ertragsteuern zur Erbschaft- und Schenkungsteuer zuletzt BFH v. 13.9.2017  – II R 54/15, BStBl.  II 2018, 292 (und Parallelentscheidungen vom selben Tag) zur Schenkungsteuer bei Zahlung eines überhöhten Entgelts durch eine GmbH an eine dem Gesellschafter nahestehende Person (unter erklärter – und berechtigter – Aufgabe von BFH v. 7.11.2007 – II R 28/06, BStBl. II 2008, 258). 23 Zu (steuerneutralen) Umstrukturierungen vgl. Graw, Stille Reserven und Buchwertfortführung, in FS 100 Jahre BFH, S. 1433 ff. 24 Drüen in Prinz/Witt, Steuerliche Organschaft, 2015, Rz. 4.2. 25 Zuletzt BVerfG v. 5.11.2014 – 1 BvF 3/11, BVerfGE 137, 350 Rz. 33 m. w. N. 26 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 290 ff., 479 ff.; Bd. III, 2. Aufl. 2012, S. 1251 ff. sowie Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 3 Rz. 40 ff. 27 J. Lang, Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, in FS Kruse, 2001, S. 313 (314 ff.). 28 Grundlegend Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, S. 54 ff., 57. 29 Insgesamt, auch zum Folgenden bereits Drüen, Prinzipien und konzeptionelle Leitlinien einer Einkommensteuerreform, in DStJG 37 (2014), S. 9 (47 f.).

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streiten, ob Unternehmen überhaupt besteuert werden dürfen30. Der internationale Rechtsvergleich liefert heterogene Antworten auf die Vorfrage, ob, wie und wann Unternehmen besteuert werden sollen. Dahinter stehen grundlegende Wertungen über die Funktion der Unternehmensbesteuerung31 und ihre Ziele innerhalb des jeweiligen Steuersystems. Mit diesen Grundfragen des Unternehmenssteuerrechts muss sich zunächst der Gesetzgeber auseinandersetzen. Dem Richter obliegt sodann die folgerichtige Umsetzung der legislativen Grundentscheidung bei der Rechtsanwendung32. Die Frage, ob einer juristischen Person – zumindest temporär33 – eine eigenständige steuerrechtliche Leistungsfähigkeit zukommt34, hat der deutsche Steuergesetzgeber mit dem KStG positiv beantwortet. Als steuerwürdig qualifiziert er die Körperschaft mit ihrem eigenen Einkommen35. Die Körperschaft hat eine eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit36. Das Bundesverfassungsgericht erachtet diese legislative Vorgabe der Unternehmensbesteuerung als verfassungsrechtlich zulässig37. Nach dieser Weichenstellung stellt sich für den Gesetzgeber und den Rechtsanwender trotz des rückläufigen Beitrags der Körperschaftsteuer zum Gesamtsteueraufkommen38 nicht mehr die steuersystematische Frage, ob die Körperschaftsteuer zur Gewähr einer hinreichenden Vorbelastung oder von Wettbewerbsgleichheit erforderlich39 oder aber verzichtbar ist.

30 Zu dieser „Vorfrage“ vertiefend Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd.  II, 2.  Aufl. 2003, S. 1193 ff. 31 Schön, Die Funktion der Unternehmensbesteuerung im Einkommensteuerrecht, in DStJG 37 (2014), S. 217 (219 f.). 32 Zum Gebot der folgerichtigen Gesetzesanwendung Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 362a (Okt. 2011) m. w. N. 33 Hennrichs, Dualismus der Unternehmensbesteuerung aus gesellschaftsrechtlicher und steuersystematischer Sicht, StuW 2002, 201 (205). 34 Dazu J. Lang, Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen, in DStJG 24 (2001), S. 49 (58 f., 62). 35 Drüen in Frotscher/Drüen, Vor § 1 KStG Rz. 13 (Sept. 2017). 36 Intemann in Rödder/Herlinghaus/Neumann, 2015, § 8 KStG Rz. 14. 37 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106 Rz. 110, 114: „Der Gesetzgeber erkennt Körperschaften im Sinne von § 1 KStG, insbesondere Kapitalgesellschaften, eine eigenständige und objektive Leistungsfähigkeit zu, die von der individuellen und subjektiven Leistungsfähigkeit der hinter der Kapitalgesellschaft stehenden Personen getrennt ist und unabhängig von dieser besteuert wird. Er misst die Leistungsfähigkeit der Kapitalgesellschaft nach deren Einkommen (§§ 7 f. KStG) und damit nach der Ertragskraft des Unternehmens“. Das BVerfG sieht „in der abgeschirmten Vermögenssphäre eine eigenständige Leistungsfähigkeit …, die getrennt von der individuellen Leistungsfähigkeit der hinter der Kapitalgesellschaft stehenden Personen besteuert werden darf “. 38 Desens in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf. KSt Rz. 140 (Aug. 2014) m. w. N. und internationalem Vergleich. 39 Zur Komplementärfunktion der Körperschaftsteuer für die Besteuerung des Einkommens juristischer Personen des Zivilrechts (Vereine, Stiftungen) und des öffentlichen Rechts (Betriebe gewerblicher Art), die auf der Ebene natürlicher Personen nicht erfasst werden können Drüen in Frotscher/Drüen, Vor § 1 KStG Rz. 14 (Sept. 2017) m. w. N.

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Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Unternehmenssteuerrechts

Die Körperschaftsteuer als „Einkommensteuer der Körperschaften“ ist systematisch und steuerartentypologisch keine allgemeine Unternehmenssteuer40, sondern wie die Einkommensteuer41 eine allgemeine Personensteuer42. Allerdings führt §  8 Abs.  2 KStG gerade in seiner höchstrichterlichen Auslegung (s. noch II. 2. b] bb]) dazu, dass bei betroffenen Kapitalgesellschaften die Körperschaftsteuer neben der Gewerbesteuer (§ 2 Abs. 2 Satz 2 GewStG) als zweite Unternehmenssteuer wirkt. b) Strukturprinzipien: Trennungsprinzip bei Kapitalgesellschaften vs. ­Transparenzprinzip bei Personengesellschaften Für die deutsche Unternehmensbesteuerung sind ihre rechtsformabhängigen Strukturprinzipien43 prägend: Das Trennungsprinzip für Kapitalgesellschaften gegenüber dem Transparenzprinzip bei Personenunternehmen44. Die Kapitalgesellschaft ist ein eigenständiges Steuerrechtssubjekt, das von dem Anteilseigner und dessen selbstständigen Besteuerungssubstrat zu unterscheiden ist45 und unabhängig von den hinter der Kapitalgesellschaft stehenden Personen getrennt besteuert werden darf46. Bei Ausschüttungen von Kapitalgesellschaften kommt es entsprechend dem Trennungsprinzip zu einer zweifachen Besteuerung auf der Ebene der Gesellschaft und des Gesellschafters, die zu einer wirtschaftlichen Doppelbelastung führt47. Zur Abmilderung dieser wirtschaftlichen Doppelbelastung auf zwei Besteuerungsebenen sieht das Gesetz im Entwicklungsverlauf wechselnde Maßnahmen vor48. 40 Weitergehend Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 1164: „Die klassische Körperschaftsteuer ist eine Unternehmenssteuer, wenn auch nur eine partielle“. 41 Steuersubjekt der Einkommensteuer sind allein natürliche Personen (§ 1 EStG). Anders als bei der Gewerbesteuer als Objektsteuer unterliegt nicht das Unternehmen als solches der Besteuerung, sondern die Einkünfte aus dem Unternehmen sind als betriebliche Einkünfte Teil des Einkommens (§ 2 EStG). Die positiven oder negativen Ergebnisse aus dem Unternehmen gehen neben anderen Einkünften des Steuerpflichtigen in die Ermittlung der Bemessungsgrundlage („zu versteuerndes Einkommen“) der progressiven Einkommensteuer ein. Die Höhe der Steuerlast auf die unternehmerischen Einkünfte hängt darum nicht allein vom Gewinn des Unternehmens, sondern auch von der Höhe der anderen Einkünfte und zahlreichen weiteren in der Person des Steuerpflichtigen und seiner Familie liegenden leistungsfähigkeitsmindernden Faktoren ab. 42 Drüen in Frotscher/Drüen, Vor § 1 KStG Rz. 8 (Sept. 2017). 43 Ähnlich Heurung in Erle/Sauter, 3. Aufl. 2010, Einführung KStG Rz. 14: „Trennungskonzept“ vs. „Transparenzkonzept“ und Intemann in Rödder/Herlinghaus/Neumann, 2015, § 8 KStG Rz. 13: „systemtragendes Prinzip“. 44 Drüen, Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung als verfassungsrechtlicher Imperativ?, GmbHR 2008, 393 (395); Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 11 Rz. 1 f.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 1165 ff. 45 Drüen in Frotscher/Drüen, Vor § 1 KStG Rz. 13, 15 (Sept. 2017). 46 BFH v. 4.3.2008 – IX R 78/06, BStBl. II 2008, 575. 47 Teufel in Lüdicke/Sistermann, Unternehmensteuerrecht, 2. Aufl. 2018, § 2 Rz. 2. 48 Ab 1977 im Körperschaftsteuer-Anrechnungsverfahren durch die Anrechnung der Körperschaftsteuerschuld nach § 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG a. F. beim Anteilseigner. Seit 2002 gilt das Halb-, später Teileinkünfteverfahren im betrieblichen Bereich (§ 3 Nr. 40 EStG). Bei Kapitalgesellschaften als Anteilseigner gilt das Freistellungsverfahren nach § 8b KStG, um

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Nach dem Trennungsprinzip erfolgt die Besteuerung der Kapitalgesellschaft grundsätzlich unabhängig von den Verhältnissen der Gesellschafter allein nach Besteuerungsmerkmalen, die durch die Körperschaft selbst verwirklicht werden49. Entsprechend muss die Besteuerung der Anteilseigner unabhängig von den auf der Ebene der Körperschaft verwirklichten Besteuerungsmerkmalen erfolgen. Sie darf nur Besteuerungsgrundlagen berücksichtigen, die auf der Ebene der Anteilseigner verwirklicht und ihnen zuzurechnen sind. Durchbrechungen des Trennungsprinzips bedürfen einer Rechtfertigung50. Das Transparenzprinzip bei Personengesellschaften führt im Gegensatz zum Trennungsprinzip bei Kapitalgesellschaften dazu, dass die anteiligen Einkünfte direkt und unabhängig von der Ausschüttung beim Mitunternehmer nach §  15 Abs.  1 Satz  1 Nr. 2 EStG zu besteuern sind51. Personen(handels)gesellschaften sind weder Steuersubjekt der Einkommen- noch der Körperschaftsteuer. Es gibt im Gegensatz zu Kapitalgesellschaften keine zwei Besteuerungsebenen und kein Doppelbelastungsproblem, aber das Urproblem, ob und inwieweit Merkmale der Personengesellschaft (Einheit) für die Besteuerung der verschiedenen Mitunternehmer (Vielheit) von Bedeutung sind (dazu II. 2. c] aa]). Bei der Gewerbesteuer stellt die Rechtsprechung auf die Ebene der Personengesellschaft (Unternehmen) und auf die der Gesellschafter (Unternehmer) ab. Trennungsund Transparenzprinzip werden insoweit kombiniert. Trotz der Steuerschuldnerschaft der Gesellschaft (§  5 Abs.  1 Satz  3 GewStG) sieht der Bundesfinanzhof die Mitunternehmer einer Personengesellschaft in eigener Person als sachlich gewerbesteuerpflichtig an52. Bei der Verlustregelung des §  10a GewStG fordert der Große ­Senat  – entgegen beharrlicher, systematisch und methodisch fundierter Kritik53  – ­neben dem aus dem Objektsteuerprinzip ableitbaren54 Erfordernis der Unternehmensidentität zusätzlich das – systemwidrige55 – Erfordernis der Unternehmeridenbei mehrstufigen Beteiligungsstrukturen Doppel- und Mehrfachbelastungen mit Körperschaftsteuer in Gestalt sog. Kaskadeneffekte zu vermeiden (Gosch in Gosch, 3. Aufl. 2015, § 8b KStG Rz. 1; Rengers in Blümich, § 8b KStG Rz. 1 [April 2017]). Seit dem Jahr 2009 gilt bei natürlichen Personen als Gesellschafter von Kapitalgesellschaften die Abgeltungsteuer für im Privatvermögen erzielte Einkünfte aus Kapitalvermögen (§§ 32d, 43 Abs. 5 EStG). 49 Drüen in Frotscher/Drüen, Vor § 1 KStG Rz. 15 (Sept. 2017). 50 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106 Rz. 110. 51 Verfahrensrechtlich ist hierfür eine gesonderte und (für alle Mitunternehmer) einheitliche Feststellung der gemeinschaftlich erzielten Einkünfte vorgeschrieben (§ 179 i. V. m. § 180 Abs. 1 Nr. 2a AO). 52 BFH v. 3.5.1993 – GrS 3/92, BStBl. II 1993, 616; BFH v. 3.2.2010 – IV R 26/07, BStBl. II 2010, 751 Rz. 22 ff. 53 Drüen in Blümich, §  10a GewStG Rz.  62, 67 (März 2018); Kleinheisterkamp in Lenski/ Steinberg, § 10a GewStG Rz. 47 (Okt. 2016) m. w. N. 54 Kleinheisterkamp in Lenski/Steinberg, § 10a GewStG Rz. 18 (Okt. 2016). 55 Hey, Besteuerung von Unternehmen und Individualsteuerprinzip, in Schön/Osterloh-­ Konrad, Kernfragen des Unternehmenssteuerrechts, 2010, S. 1, 21; näher Dudek, Rechtsformabhängige Ungleichbehandlungen beim gewerbesteuerlichen Verlustabzug nach § 10a GewStG, 2013, S. 69 ff. m. w. N.

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tität56. Das führt beim Wechsel von Gesellschaftern, gerade wegen des im Interesse der Gemeinden nicht vorgesehenen gewerbesteuerrechtlichen Verlustrücktrags, zu einer maximalen Verlustabtötung. Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber im Jahressteuergesetz 2007 in seinen Willen aufgenommen und ihr in § 10a Sätze 4 und 5 GewStG erstmals eine (mittelbare) gesetzliche Grundlage verschafft57. Insgesamt kollidieren Unternehmens- und Unternehmerprinzip bei der Gewerbesteuer vielfach58. 2. Vorgabe der rechtsformabhängigen Unternehmensbesteuerung a) Legislatorische Weichenstellung der rechtsformorientierten Unternehmens­besteuerung Die Rechtsprechung baut auf dem Gesetz auf. Darum ist ihr die Rechtsformorientierung der Unternehmensbesteuerung als Datum vorgegeben, soweit diese im Einklang mit der Verfassung steht. Die laufende Besteuerung von Unternehmen baut in Deutschland seit jeher auf den unterschiedlichen Zivilrechtsformen auf. Die Entwicklungslinie der Unternehmensbesteuerung führte von der allgemeinen Gewerbesteuer über Sondergewerbesteuern für Eisenbahnaktiengesellschaften59 bis hin zur allgemeinen Körperschaftsteuer60. Schrittweise hat der Gesetzgeber eine selbständige Besteuerung von Körperschaften61 bis zur „Emanzipation“ der Körperschaftsteuer in der Weimarer Republik62 eingeführt: Waren noch im preußischen Einkommensteuergesetz von 1891 juristische Personen neben „physischen Personen“ im Katalog der Einkommensteuersubjekte vereint einer progressiven Besteuerung unterworfen, ist seit den reichseinheitlichen Gesetzen des Jahres 1920 die Besteuerung gesetzestechnisch getrennt für natürliche Personen im EStG und für Körperschaften im KStG geregelt. Seitdem herrscht der Dualismus zwischen der progressiven Einkommensteuer (§ 32a EStG) für natürliche Personen und der proportionalen Körperschaftsteuer mit einem aktuellen Steuersatz von 15 v. H. (§ 23 Abs. 1 KStG). Trotz der besonderen zahlenmäßigen Verteilung von Kapital- und Personengesellschaften in Deutschland63 und der Gestaltungsfreiheit bei der praktischen Verwendung der Rechtsformen im Gesellschaftsrecht64 mit der partiellen Substituierbarkeit von Kapital- und Personengesellschaften, hat der Steuergesetzgeber an der traditionellen Rechtsformorientie-

56 Grundlegend BFH v. 3.5.1993 – GrS 3/92, BStBl. II 1993, 616. 57 Kleinheisterkamp in Lenski/Steinberg, § 10a GewStG Rz. 47 (Okt. 2016). 58 Roser, Kritische Bestandsaufnahme der Gewerbesteuer, in DStJG 35 (2012), S. 189 (201 f.). 59 Näher Rasenack, Die Theorie der Körperschaftsteuer, 1974, S. 25 ff. 60 Hüttemann, StuW 2014, 58 (61 ff.). 61 Dazu Seer, Die Entwicklung der GmbH-Besteuerung, 2005, S. 3 ff. sowie Höller, Eine kritische Analyse zur Unternehmenssteuerreform 2008 im historischen Kontext, 2011, S. 36 ff. 62 Reiß in 50 Jahre Steuerreformen in Deutschland, 2003, S. 65 (73 ff., 81 ff.). 63 Zur zuletzt sinkenden Zahl (wettbewerbsrelevanter) Personenunternehmen Hey in Tipke/ Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 7 Rz. 90 m. w. N. 64 Plastisch K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 47.

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rung festgehalten. Die letzten Reformschritte haben die Rechtsformunterschiede bei der Unternehmensbesteuerung noch ausgebaut65. Die rechtsformorientierte Unternehmensbesteuerung missachtet das ökonomische Postulat der Rechtsformneutralität, wonach das Steuerrecht die Entscheidung zwischen verschiedenen Rechtsformen nicht verzerren sollte66. Die fehlende Rechtsformneutralität des deutschen Unternehmenssteuerrechts ist immer wieder als Verstoß gegen die Verfassung, insbesondere den Gleichheitssatz67 gerügt worden68. Die Gerichte haben bislang dagegen den Dualismus der Unternehmensbesteuerung als verfassungsgemäß erachtet69. Nach der Rechtsprechung enthält Art. 3 Abs. 1 GG kein allgemeines Verfassungsgebot einer rechtsformneutralen Besteuerung70. Ist die legislatorische Weichenstellung der rechtsformorientierten Unternehmens­ besteuerung zwar aus betriebswirtschaftlicher und rechtspolitischer Sicht kritikwürdig, aber verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden71, so legt die Rechtsform eines Unternehmens und nicht die wirtschaftliche Struktur oder Potenz des Unternehmens das Besteuerungsregime fest. Die Gestaltungsfreiheit im Gesellschaftsrecht eröffnet die vertragliche Ausgestaltung der Zivilrechtsformen als personalistische Kapitalgesellschaft oder als kapitalistische Personengesellschaft72. Nach der gesetzlichen Wertung unterliegt eine personalistisch ausgerichtete Kapitalgesellschaft (Ein-Personen-GmbH) unabhängig von Größe und Gewinn der Körperschaftsteuer. Dagegen sind selbst kapitalistisch ausgerichtete Personengesellschaften (wie eine Publikums-­ GmbH & Co KG als Kapitalsammelgesellschaft) kein Körperschaftsteuersubjekt. Der Große Senat hat im Jahre 1984 eindrucksvoll allen Gleichheitsforderungen widerstanden, die Rechtsformschranken bei Publikumspersonengesellschaften zu überwinden73: Zu Recht hat er nicht im Wege (analoger) Anwendung von § 1 oder § 3 KStG die Körperschaftsteuerpflicht einer Publikums-GmbH  & Co KG angenommen74. Der Rechtsprechung sind aufgrund der legislatorischen Anknüpfung an die Rechtsformen des Zivilrechts Grenzen gesetzt, die nicht mit einer wirtschaftlichen Betrachtung überwunden werden dürfen. Diese darf allein der Gesetzgeber neu setzen. Die GmbH  & Co. KG ist historisch ein Kind des Steuerrechts75 und eröffnet zahlreiche Steuergestaltungsmöglichkeiten76. Den häufig steuerrechtlich motivierten 65 Höller, Eine kritische Analyse zur Unternehmenssteuerreform 2008 im historischen Kontext, 2011, S. 35 ff. 66 Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 7. Aufl. 2015, S. 263 ff. 67 Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2013, S. 545 ff. (559, 566); zuletzt Hennrichs in Tipke/ Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 10 Rz. 4 m. w. N. 68 Näher Drüen, GmbHR 2008, 393 (398 ff.). 69 Namentlich BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (197 ff.); zuletzt BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106 Rz. 112. 70 Explizit BVerfG v. 24.3.2010 – 1 BvR 2130/09, NJW 2010, 2116. 71 Zuletzt Drüen in Frotscher/Drüen, Vor § 1 KStG Rz. 31 (Sept. 2017). 72 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 47 m. w. N. 73 Dafür zuvor aber Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, S. 345 ff. 74 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 Rz. 95 ff. 75 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 22. 76 Grundsatzkritik bei P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, Leitgedanken der Steuerreform Rz. 51.

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„Publikumsmassengesellschaften“77 könnte der Gesetzgeber einen Riegel vorschieben. Da er indes den rechtspolitischen Vorschlag, jedenfalls die GmbH & Co. KG in die Körperschaftsteuer einzubeziehen78, nicht aufgegriffen hat, darf nicht die Rechtsprechung an seiner Stelle die Grenzlinien der rechtsformorientierten Unternehmensbesteuerung „wirtschaftlich“ neu vermessen. b) Besteuerung von Kapitalgesellschaften Bei der Besteuerung von Kapitalgesellschaften79 findet die Rechtsprechung feste Bahnen in der zivilrechtlichen Verselbstständigung des Rechtsträgers vor. Es gilt das Trennungsprinzip der Folge von zwei Besteuerungsebenen von Gesellschaft und Gesellschaftern (s. II. 1. b]). Dabei hat die Rechtsprechung das Recht stets als entwicklungsoffen angesehen und auch ausländische Rechtsformen nach Maßgabe eines Typenvergleichs in den Kreis der Körperschaftsteuersubjekte des §  1 KStG integriert. Auch Kapitalgesellschaften ausländischen Rechts unterfallen der Körperschaftsteuerpflicht, sofern sie nach einem am rechtlichen Strukturtypus des deutschen Steuerrechts ausgerichteten Vergleich der Rechtstypen (Typenvergleich) in ihrer gesellschaftsrechtlichen Struktur einer inländischen Kapitalgesellschaft entsprechen80, wie insbesondere die zeitweise auch in Deutschland modische englische private limited company81. aa) Rechtsprechungsgrundsätze zur verdeckten Gewinnausschüttung bei ­Kapitalgesellschaften Bei der Kapitalgesellschaft als juristischer Person zieht bereits das Zivilrecht mit der eigenständigen Rechtssubjektivität und dem Trennungsprinzip82 eine klare Trennlinie zwischen Unternehmen und Unternehmer, auf der die Unternehmensbesteuerung aufbaut83. Das richterliche Instrument der verdeckten Gewinnausschüttung (vGA) fungiert als Korrektiv zum Trennungsprinzip84. Die zwischen einer Kapital77 Begriff nach BGH v. 7.2.1994 – II ZR 191/92, BB 1994, 592 (593). 78 Dafür Hey, Unternehmenssteuerreform: Integration von Personenunternehmen in die niedrige Besteuerung thesaurierter Gewinne, in FS Raupach, 2006, S. 479 (492). 79 Darauf ist mein Beitrag beschränkt. Zur Besteuerung gemeinnütziger Unternehmen, mit dem Widerstreit von Gemeinwohlförderung mit Wettbewerbsschutz und den zeitgebundenen Konkretisierungen der Rechtsprechung, näher Märtens, Gemeinnützige Unternehmen, in FS 100 Jahre BFH, S. 1477 ff.; zur Ertragsbesteuerung der öffentlichen Hand zuletzt Hidien/Jürgens, Die Besteuerung der öffentlichen Hand, 2017, § 3 ff. 80 St. Rspr. seit RFH v. 4.4.1939 – I 327/38, RStBl. 1939, 854; zuletzt BFH v. 8.2.2017 – I R 55/14, BFH/NV 2017, 1588. 81 Hummel in Gosch, 3. Aufl. 2015, § 1 KStG Rz. 72. 82 Hirte, Kapitalgesellschaftsrecht, 8.  Aufl. 2016, Rz.  1.7; Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 13 GmbHG Rz. 5, 11. 83 Zur zivilrechtlichen Rechtsformklarheit als Ausgangsbasis bereits Hüttemann, Einkünfteermittlung bei Gesellschaften, in DStJG 34 (2011), S. 291 (310). 84 Sachlich nicht divergierend Gosch in Gosch, 3. Aufl. 2015, § 8 KStG Rz. 156, 158: Komplettierung und Verwirklichung des Trennungsprinzips.

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gesellschaft und ihrem Gesellschafter vereinbarten (schuldrechtlichen) Leistungs­ beziehungen werden steuerrechtlich als Folge des Trennungsprinzips grundsätzlich anerkannt85, stehen allerdings unter dem allgemeinen Vorbehalt einer Angemessenheitskontrolle. Es bedarf dieses Korrektivs, um vom gleichgerichteten Interesse der Steuerminimierung geleitete Vereinbarungen von Leistungsbeziehungen steuerrechtlich zurückzuweisen. Diese Gefahr ist bei Kapitalgesellschaften greifbar, weil juristische Personen Zweckschöpfung ihrer Gründer und Mitglieder sind, die sich nach Belieben für deren Interessen einsetzen lassen86. Die rechtliche Selbstständigkeit der Kapitalgesellschaft wird indes durch wirtschaftliche Verbindung und durch das übergreifende Interesse, die Steuerlast auf beiden Ebenen zu minimieren, überlagert. Bereits aus dem Trennungsprinzip erwächst ein besonderes Kontroll- und Korrek­ turbedürfnis der Rechtsbeziehungen zwischen der Kapitalgesellschaft und ihren Gesellschaftern87. Der Gesetzgeber hat die Rechtsprechung aufgegriffen, aber mit der „Hülle“ des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG keine Begriffsdefinition, sondern nur eine Rechtsfolgenbestimmung der vGA normiert. Aufgrund dieser Abstinenz des Gesetzgebers ist es weiterhin Aufgabe der Rechtsprechung, die Definition der vGA auszufüllen88. Die Rechtsprechung hat für beherrschende Kapitalgesellschafter89 mit dem „formellen“ Fremdvergleich90 verschärfte Anforderungen entwickelt. Richtiger Kern der Rechtsprechung ist, dass im Falle der Beherrschung der Kapitalgesellschaft rechtliche Trennung und wirtschaftliche Verflechtung vielfach unauflösbar verwischen. Allerdings dürfen die von der Rechtsprechung für beherrschende Kapitalgesellschafter wegen des fehlenden Interessengegensatzes und eingeschränkter Kontrollmöglichkeiten entwickelten Indizien nicht als unwiderlegbare Vermutung oder als Tatbestandsmerkmale fehlgedeutet werden91. VGA sind seit Langem das Hauptstreitfeld bei der Besteuerung von Kapitalgesellschaften. Zahlreiche Fälle der Angemessenheit von Leistungsbeziehungen zwischen Kapitalgesellschaften und ihren Gesellschaftern stehen – typischerweise nach einer Außenprüfung  – im Streit mit den Finanzbehörden. Dabei obliegt dem Bundesfinanzhof nach der Klärung der allgemeinen Rechtsgrundsätze noch die Aufsicht über die Finanzgerichte als Tatsachengericht (§ 118 Abs. 2 FGO) bei der Umsetzung dieser Grundsätze. Revisionen im Bereich von vGA werden nur ausnahmsweise zugelassen, 85 Intemann in Rödder/Herlinghaus/Neumann, 2015, § 8 KStG Rz. 15. 86 Schön, Die verdeckte Gewinnausschüttung – eine Bestandsaufnahme, in FS Flume, 1998, S. 265 (269, 275). 87 Auch zum Folgenden Drüen, Verdeckte Gewinnausschüttungen in Theorie und Praxis, in Deutscher Finanzgerichtstag 6 (2009), S. 95. 88 Zur inzwischen eingespielten höchstrichterlichen Definition der vGA BFH v. 1.2.1989  – I R 73/85, BStBl. II 1989, 522; v. 21.12.1994 – I R 98/93, BStBl. II 1995, 419; v. 26.6.2013 – I R 39/12, BStBl. II 2014, 174; v. 11.10.2017 – I R 42/15, BFH/NV 2018, 616 m. w. N.; zur Kritik zuletzt Schwedhelm in Streck, 9. Aufl. 2018, § 8 KStG Rz. 168. 89 BFH v. 26.6.2013 – I R 39/12, BStBl. II 2014, 174; v. 9.2.2015 – I B 32/14, BFH/NV 2015, 862. 90 Dazu Gosch in Gosch, 3. Aufl. 2015, § 8 KStG Rz. 318 ff. 91 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 11 Rz. 78 m. w. N.

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weil die abstrakten Grundsätze geklärt und die Frage der Angemessenheit im Einzelfall nicht revisibel ist92. bb) Ständige Rechtsprechung zur fehlenden Privatsphäre inländischer ­Kapitalgesellschaften Ein Beispiel für Kontinuität der Rechtsprechung trotz eines grundlegend veränderten Rechtsrahmens ist das Festhalten des Bundesfinanzhofes an der fehlenden Privatsphäre einer inländischen Kapitalgesellschaft auch nach dem Übergang vom Anrechnungsverfahren zum (Teil-)Freistellungsverfahren. Nachdem die ältere Rechtsprechung noch angenommen hatte, dass Aufwendungen einer Kapitalgesellschaft auch einem außerbetrieblichen Bereich zugeordnet werden könnten93, geht der Bundesfinanzhof nunmehr in „mittlerweile ständiger Rechtsprechung“ davon aus, dass Kapitalgesellschaften steuerlich gesehen über keine außerbetriebliche Sphäre verfügen94. Die Kapitalgesellschaft hat danach steuerrechtlich ausschließlich Betriebsvermögen95. Das gesamte Vermögen einer Kapitalgesellschaft ist demnach handelsbilanziell auszuweisen und auch für die Steuerbilanz maßgeblich96. Wirtschaftsgüter einer Kapitalgesellschaft, die der Einkommenserzielung dienen, sind stets Betriebsvermögen und damit im Zusammenhang stehende Einnahmen sind stets Betriebseinnahmen97. Folge dieser höchstrichterlichen Sicht ist, dass bei einer Kapitalgesellschaft jede Vermögensminderung außerhalb der Gewinnverteilung als Betriebsausgabe (§ 4 Abs. 4 EStG) erfolgswirksam ist, sofern kein spezielles Abzugsverbot (z. B. § 4 Abs. 5 EStG) entgegensteht98. Spiegelbildlich ist jede Vermögensmehrung außerhalb von Gesellschaftereinlagen als Betriebseinnahme erfolgswirksam. Die Annahme der fehlenden außerbetrieblichen Sphäre bei Kapitalgesellschaften ist  wiederholt auf Kritik gestoßen99. Jedenfalls aus dem Handelsrecht lässt sie sich 92 Beispielhaft BFH v. 16.12.2009 – I B 76/09, BFH/NV 2010, 1135 Rz. 4 ff.; zum Maßstab allgemein Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 46 f. (Okt. 2012). 93 BFH v. 2.11.1965 – I 221/62 S, BStBl. III 1966, 255; v. 4.3.1970 – I R 123/68, BStBl. II 1970, 470. 94 So BFH v. 31.3.2004 – I R 83/03, BFHE 206, 58 Rz. 16 unter Hinweis insbesondere auf BFH v. 4.12.1996  – I R 54/95, BFHE 182, 123; dazu Roser in Gosch, 3.  Aufl. 2015, §  8 KStG Rz. 66 ff. 95 Zustimmend Rengers in Blümich, § 8 KStG Rz. 63 f. (Aug. 2017). 96 Frotscher in Frotscher/Drüen, § 8 KStG Rz. 53 (Jan. 2017); ebenso Berninghaus in Rödder/ Herlinghaus/Neumann, 2015, § 8 KStG Rz. 81. 97 Wernicke/Staiger in Lademann, § 8 KStG Rz. 20 (Dez. 2014). 98 So bereits Thiel/Eversberg, Die Privatsphäre der Kapitalgesellschaft - Das Atlantis des Körperschaftsteuerrechts – Zugleich Besprechung des BFH-Urteils v. 24.3.1993 – I R 131/90, DStR 1993, 1881 (1883). 99 Nippert, Die außerbetriebliche Sphäre der Kapitalgesellschaft im Körperschaftsteuerrecht, 2006; Hüttemann, Zur körperschaftsteuerrechtlichen Behandlung dauerdefizitärer Unternehmen der öffentlichen Hand, DB 2007, 1603 (1608 f.); ders., Liebhaberei bei Kapitalgesellschaften, in FS Raupach, 2006, S. 495 (502); Fehrenbacher in Schnitger/Fehrenbacher, 2012, § 8 KStG Rz. 189; zum Streit zuletzt Schwedhelm in Streck, 9. Aufl. 2018, § 8 KStG Rz. 50, 55 m. w. N.

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nicht ableiten100. Das Argument des handelsrechtlichen Vollständigkeitsgebots (§ 246 HGB) trägt nicht, weil in der Handelsbilanz nur das dem Handelsgeschäft gewidmete Vermögen (Betriebsvermögen), nicht aber das Privatvermögen des Kaufmannes auszuweisen ist101. Dass Kapitalgesellschaften auch steuerrechtlich102 kein Privatvermögen haben, ist eine steuerrechtliche Wertung, die man treffen kann, aber nicht treffen muss. Für die Gegenansicht spricht die Gleichbehandlung von Liebhaberei-Sachverhalten ungeachtet der Rechtsform, unter der das „Privatvergnügen“ des Gesellschafters organisiert und finanziert wird. Der Bundesfinanzhof hat an seiner gewandelten Ansicht trotz der Kritik auch nach Aufgabe des Anrechnungsverfahrens festgehalten und keine hinreichende Veranlassung gesehen, „die ständige Spruchpraxis zugunsten eines anderen Rechtsverständnisses aufzugeben“103. Die Konsequenz der Rechtsprechung ist der umfassende Einkommensbegriff bei unbeschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaften. Aufgrund der Fiktion gewerblicher Einkünfte104 nach §  8 Abs.  2 KStG sind bei Kapitalgesellschaften (§  1 Abs.  1 Nr. 1 KStG) alle Einkünfte unabhängig von der konkret ausgeübten Tätigkeit als Einkünfte aus Gewerbebetrieb einzuordnen. Andere Einkunftsarten sind bei ihnen da­ rum nicht relevant105. Erfasst werden nach der Rechtsprechung aber auch Vermögensmehrungen, die nicht unter eine der sieben Einkunftsarten des § 2 Abs. 1 EStG fallen106. Die für das Einkommensteuer­recht unter dem Stichwort des „Totalitätsprinzips“ erhobene Forderung, das gesamte Einkommen des Steuerpflichtigen zu erfassen107, ist jedenfalls bei unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Kapitalgesellschaften verwirklicht. Insoweit gilt – vorbehaltlich besonderer Steuerbefreiungen – für Kapitalgesellschaften das körperschaftsteuerrechtliche Totalitätsprinzip. Unlängst hat der Bundesfinanzhof die umfassende Reichweite der Erwerbssphäre einer Kapitalgesellschaft bekräftigt und die Erbschaft einer inländischen Kapitalgesellschaft als Betriebseinnahme eingestuft108. Das schafft zwar klare Abgrenzungslinien für das Einkommen einer Kapitalgesellschaft, vertieft indes die Rechtsformunterschiede.

100 Schulte in Erle/Sauter, 3. Aufl. 2010, § 8 KStG Rz. 58. 101 Merkt in Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, § 246 HGB Rz. 24; Kahle/Baltromejus/Basch­ nagel in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 246 HGB Rz. 67. 102 Parallel zur handelsrechtlichen Annahme, dass Kapitalgesellschaften kein Privatvermögen haben (dazu Merkt in Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, § 246 HGB Rz. 24). 103 Explizit BFH v. 22.8.2007 – I R 32/06, DStR 2007, 1954 (1956) m. w. N. 104 Berninghaus in Rödder/Herlinghaus/Neumann, 2015, § 8 KStG Rz. 80. 105 Fehrenbacher in Schnitger/Fehrenbacher, 2012, § 8 KStG Rz. 165; F. Lang in Dötsch/Pung/ Möhlenbrock, § 8 KStG Rz. 25 (Juni 2009). 106 BFH v. 22.8.1990 – I R 67/88, BStBl. II 1991, 250; zuletzt BFH v. 6.12.2016 – I R 50/16, BStBl. II 2017, 324 Rz. 6; a. A. Schwedhelm in Streck, 9. Aufl. 2018, § 8 KStG Rz. 48. 107 Allgemein zum Totalitätsprinzip Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23.  Aufl. 2018, §  3 Rz. 123, § 8 Rz. 23. 108 BFH v. 6.12.2016 – I R 50/16, BStBl. II 2017, 324 Rz. 6 m. w. N.

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c) „Besteuerung“ von Personengesellschaften Auf dem Gebiet der Unternehmensbesteuerung ist die Rechtsprechung bei Personengesellschaften109 den größten Herausforderungen ausgesetzt, kann aber auch die größten Spielräume bei der Rechtskonkretisierung ausfüllen. Die Offenheit der gesetzlichen Vorgaben des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zur Besteuerung von Mitunternehmern hat die Rechtsprechung im Laufe der Jahrzehnte bei unverändertem Wortlaut durchaus verschieden interpretiert110 und verschiedene Mitunternehmerkonzepte dem Gesetz untergelegt. Der dürre Wortlaut des Gesetzes111 fordert geradezu die Deutungskraft und den Gestaltungswillen der Rechtsprechung heraus112. aa) Einheit der Mitunternehmerschaft und Vielheit der Mitunternehmer Die Rechtsprechung beschäftigt bei Personengesellschaften seit Jahrzehnten das Spannungsverhältnis zwischen der Einheit der gemeinschaftlichen Einkünfteerzielung der Gesellschafter unter dem Dach der Personengesellschaft und der Vielheit der Gesellschafter als Subjekte der Einkommen- oder Körperschaftsteuer. Von einem „dualen System als Besteuerungsmodell für Personengesellschaften“ ist die Rede113. Bei unverändertem Gesetzeswortlaut ist die höchstrichterliche Rechtsprechung im Zeitenlauf zu bemerkenswert variierenden Ergebnissen gekommen. Dabei hat sich der zivilrechtliche Streit über das „Wesen“ der Gesamthand und die daraus ableitbaren Folgen114 im Steuerrecht fortgesetzt. Die schrittweise Verselbständigung der Gesamthand gegenüber ihren Mitgliedern, die im Zivilrecht in der „erstaunlichen … gesellschaftsrechtlichen Rechtsfortbildung“115 des Bundesgerichtshofes im Fall „Arge Weißes Ross“116 ihren Höhepunkt fand, wurde auch im Ertragsteuerrecht nachvollzogen. Der Bundesfinanzhof hat nach der Brandrede des Bundesrichters Kurt Meß­ mer117 die Bilanzbündeltheorie mit der bloßen Bündelung eigenständiger Gewerbebetriebe mit den Einzelbilanzen der Mitunternehmer118 (Vielheit) aufgegeben. Seither 109 Speziell zur Rechtsprechung zu Familienpersonengesellschaften zuletzt Reiß in Kirchhof, 17. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 217 ff., 370 m. w. N. 110 Zusammenfassend Desens/Blischke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 15 EStG Rz. C 5 ff. (Aug. 2016) m. w. N. 111 Kritisch zur geringen Aussagekraft bereits Kruse, Gewinnanteil und Sondervergütungen der Gesellschafter von Personengesellschaften de lege lata und de lege ferenda, in DStJG 2 (1979), S. 37 (38 ff.). 112 Deutlich Kruse, Der Standort der Finanzgerichtsbarkeit gegenüber der Finanzverwaltung und der Steuergesetzgebung, in DStJG 18 (1995), S. 115 (135): Besteuerung der Mitunternehmer als „Tummelplatz richterlicher Rechtsfortbildung“. 113 Cordes/Kotzenberg in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, Anh.  2 §§ 238–263 HGB Rz. 7; zuvor Desens/Blischke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 15 EStG Rz. C 16 (Aug. 2016). 114 Stellvertretend C. Schäfer in Ulmer/Schäfer, 7. Aufl. 2017, § 718 BGB Rn. 6, § 719 BGB Rz. 8 m. w. N. 115 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht im Spiegel der NJW, NJW 2017, 3350 (3354). 116 BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341. 117 Meßmer, Die Bilanzbündeltheorie, StbJb. 1972/73, S. 127. 118 E. Becker, Grundlagen der Einkommensteuer, 1940, S. 40, 94.

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nimmt die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes in Aufnahme der zivilrechtlichen (Teil-)Rechtsfähigkeit der Personengesellschaft eine fortschreitende Verselbständigung der gemeinschaftlichen Marktteilnahme durch die Personengesellschaft (Einheit) an. Danach ist die Personengesellschaft zwar kein Steuersubjekt bei der Besteuerung von Einkommen, aber Subjekt der Einkünfteerzielung, der Einkünfteermittlung und der Gewinnermittlung119. Dabei ist zum Teil ein mehrfach zwischen der Mitunternehmerschaft und dem einzelnen Mitunternehmer wechselnder Blick erforderlich, um zu der gemeinschaftlichen Einkünfteerzielung die richtigen Besteuerungsfolgen beim Mitunternehmer als Steuersubjekt ziehen zu können120. Die Betrachtung changiert zwischen Einheit und Vielheit, was in der Besteuerungspraxis zu Friktionen führt121. bb) Niederschwellige Mitunternehmerkriterien Der Gesellschafter muss nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG „als Unternehmer (Mitunternehmer) des Betriebs anzusehen“ sein. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes muss auch der Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft Mitunternehmerinitiative entfalten und Mitunternehmerrisiko tragen122. Die zivilrechtliche Gesellschafterstellung bei einer Personenhandelsgesellschaft allein reicht nicht aus123. Allerdings begreift die Rechtsprechung die dispositiven Vorschriften des HGB (Regelstatut)124 als Normallinie der Mitunternehmerstellung zur Beurteilung des offenen Typusbegriffs des Mitunternehmers125. Ein Kommanditist ist nach ständiger Rechtsprechung Mitunternehmer, wenn seine Stellung nach dem Gesellschaftsvertrag und der tatsächlichen Durchführung nicht wesentlich hinter derjenigen zurückbleibt, die handelsrechtlich das Bild des Kommanditisten bestimmt126. Dies gilt gleichermaßen auch für Gesellschafter von Publikums-Personengesellschaften127. Das rechtsmethodische Verständnis des Typusbegriffs erlaubt dabei eine Gesamtwürdigung mit (teil119 Grundlegend BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 (761 f.); ebenso Hüttemann in DStJG 34 (2011), S. 291 (293, 297). 120 Z.B. im Rahmen der Begrenzung des Schuldzinsenabzugs nach § 4 Abs. 4a EStG, näher Bode in Kirchhof, 17. Aufl. 2018, § 4 EStG Rz. 194 m. w. N. 121 Ähnlich Lüdicke in Lüdicke/Sistermann, Unternehmensteuerrecht, 2. Aufl. 2018, §  1 Rz. 8. 122 BFH v. 8.4.2008 – VIII R 73/05, BStBl. II 2008, 681 Rz. 25 ff.; dazu zuletzt Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 10 Rz. 35 ff. 123 BFH v. 3.3.1993 – GrS 3/92, BStBl. II 1993, 616 Rz. 61; gl.A. Reiß in Kirchhof, 17. Aufl. 2018, §  15 EStG Rz.  206; a. A. Knobbe-Keuk, Bilanz und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 381, 383. 124 Wacker in Schmidt, 37. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 266 m. w. N. 125 BFH v. 8.4.2008 – VIII R 73/05, BStBl. II 2008, 681 Rz. 27; Dötsch in Dötsch/Herlinghaus/ Hütte­mann/Lüdicke/Schön, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 2011, S.  7 (27); Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 10 Rz. 38; Schustek in Zimmermann/Hottmann/Kiebele/Schaeberle/Scheel/Schustek/Szczeny, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 12. Aufl. 2017, S. 70; Wacker in Schmidt, 37. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 261; a. A. Weber-Grellet, Der Typus des Typus, in FS Beisse, 1997, S. 551 (568). 126 Zuletzt BFH v. 22.6.2017 – IV R 42/13, BFHE 259, 258 Rz. 44. 127 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 Rz. 208.

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weiser) wechselseitiger Kompensation der Mitunternehmerkriterien128, führt aber mitunter zu unvorhersehbaren Ergebnissen129. Besonders fragwürdig ist das Kriterium der Mitunternehmerinitiative, verstanden als Teilhabe an unternehmerischen Entscheidungen130. Nach der Rechtsprechung kann die Ausübung von Rechten ausreichend sein, die den Stimm-, Kontroll- und Widerspruchsrechten eines Kommanditisten (§§  164, 166 HGB) wenigsten angenähert sind131. Das Kontrollrecht des § 166 HGB ist danach unverzichtbar, aber auch ausreichend132. Damit wird die relevante Schwelle für die Mitunternehmerinitiative so weit unten festgelegt, dass am Sinn dieses Merkmals zu zweifeln ist133. Bereits das Kon­ trollrecht des §  166 HGB als steuerrechtlicher Ansatzpunkt134 ist überprüfungsbedürftig. Es dient der Kontrolle der Geschäftsführung zur Wahrung von Teilhaberechten135. Die Initiative, die sich dahinter verbirgt, bezieht sich mithin nicht auf Rechte zur Unternehmensleitung, sondern auf die retrospektive Kontrolle der Bemessung des Anteils des Kommanditisten am Unternehmenserfolg. § 166 Abs. 1 HGB begründet nur ein Informationsrecht des Kommanditisten gegen die Gesellschaft, das auf die Kontrolle des Jahresabschlusses beschränkt ist136. Es erscheint verfehlt, aus einem zeitlich nachgelagerten Einsichtsrecht zur Prüfung der Richtigkeit des Jahresabschlusses137 Ansatzpunkte für die notwendig zeitlich vorgelagerte Initiativstellung des Kommanditisten ableiten zu wollen. Die Rechtsprechung beruft sich insoweit zu Unrecht auf die handelsrechtliche Wertung des Regelstatuts des HGB und leitet da­ raus steuerrechtlich unzutreffende Folgen ab. Auch in zeitlicher Hinsicht138 legt der Bundesfinanzhof ein niedriges Maß an die Mitunternehmerstellung: Mitunternehmer kann auch sein, wer einen Anteil an einer Personengesellschaft erwirbt, um ihn kurze Zeit später weiter zu veräußern139. Insgesamt knüpft er an äußerst geringe sachliche und zeitliche Anforderungen für die steuerrechtliche Mitunternehmerqualifikation aufgrund der (rechtsfolgenreichen) 128 Reiß in Kirchhof, 17. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 213. 129 Zuletzt kritisch Schreiber, Die Mitunternehmerstellung des persönlich haftenden Gesellschafters, in FS Crezelius, 2018, S. 207 (208 ff.) m. w. N. 130 Zur Definition Wacker in Schmidt, 37. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 263 m. w. N. 131 BFH v. 4.11.1997 – VIII R 18/95, BStBl. II 1999, 384 Rz. 14 m. w. N.; ebenso Wacker in Schmidt, 37. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 263. 132 Schustek in Zimmermann/Hottmann/Kiebele/Schaeberle/Scheel/Schustek/Szczeny, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 12.  Aufl. 2017, S.  75; ebenso Reiß in Kirchhof, 17. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 213. 133 Zuletzt Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 10 Rz. 37 m. w. N. 134 Relativierend auch Desens/Blischke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, §  15 EStG Rz.  C 62 (Aug. 2016) m. w. N. 135 Kindler in Kohler/Kindler/Roth/Morck, 8. Aufl. 2015 § 166 HGB Rz. 1. 136 Roth in Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, § 166 HGB Rz. 1, 4. 137 Zu diesem Zweck des Einsichtsrechts Roth in Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, § 166 HGB Rz. 4. 138 Zur Diskussion Desens/Blischke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, §  15 EStG Rz.  C 50  ff. (Aug. 2016) m. w. N. 139 BFH v. 22.6.2017 – IV R 42/13, BFHE 259, 258.

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Gleichstellungsthese mit einem Einzelunternehmer (dazu noch II. 2. c] cc]) mit einschneidenden Gewerblichkeitsfolgen. Bereits im Binnenbereich der Personengesellschaften und erst recht im Vergleich zu Kapitalgesellschaften (dazu noch II. 2. d]) stellt sich die Frage hinreichender Wertungskonsistenz: Denn trotz der niederschwelligen Anforderungen an die Mitunternehmerqualifikation auf der Qualifikationsebene sind die Rechtsfolgen der Mitunternehmerstellung weitreichend und für den Vollzug von Massenfallrecht arg ambitioniert. cc) Additive und korrespondierte Gewinnermittlung der ­Mitunternehmerschaft Zur Gleichstellung des Mitunternehmers mit dem Einzelunternehmer erfasst §  15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Halbs. 2 EStG schuldrechtliche Leistungsabreden zwischen der Personengesellschaft und ihren Gesellschaftern als Sondervergütungen und qualifiziert sie als gewerbliche (und damit gewerbesteuerbare) Einkünfte. Für die steuerrechtliche Gewinnermittlung einer Mitunternehmerschaft durch Betriebsvermögensvergleich sind neben der Bilanz der Personengesellschaft selbst (Gesamthandsbilanz) zusätzlich die jeweiligen Sonderbilanzen der Gesellschafter mit dem dort auszuweisenden Sonderbetriebsvermögen erforderlich140. Das setzt nach heute überwiegender Ansicht dieselbe Gewinnermittlungsmethode für Sondervergütungen wie für den Gesamthandsgewinn voraus141. Darüber geht die h. M. inzwischen hinaus und fordert die zeit- und betragsmäßig abgestimmte Erfassung im Wege der additiven und korrespondierenden Verbindung beider Gewinnermittlungsstufen bei Personengesellschaften142. Dabei sind Herleitung und Rechtsfolgen umstritten143. Der Bundesfinanzhof hat sich zuletzt im Falle des Honorars eines freiberuflich tätigen Steuerberaters einer KG, an der er als Kommanditist beteiligt ist, zur korres­ pondierenden Bilanzierung in Höhe der Rückstellung für die Erstellung des Jahresabschlusses bekannt144. Tragender Grund ist für ihn das Ziel, „den Gewinn des Mitunternehmers demjenigen eines Einzelunternehmers anzugleichen, der mit sich selbst keine schuldrechtlichen Verpflichtungen eingehen und deshalb auch den Ge140 Drüen, Die Bilanzen der Personenhandelsgesellschaft – Zur bilanziellen Gewinnermittlung nach Handels- und Steuerrecht, SteuerStud 2005, 199. 141 Zuletzt Grottel/Baldamus in BeckBilanzkommentar, 11. Aufl. 2018, § 247 HGB Rz. 757; Reiß in Kirchhof, 17. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 241; a. A. Kruse in DStJG 2 (1979), S. 37 (56 f.). 142 Wacker in Schmidt, 37. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 404 m. w. N. 143 Näher zuletzt Reiß in Kirchhof, 17. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 238 ff. m. w. N. und Kritik (Rz. 241). Auch der Streit über die persönliche Zuordnung der Buchführungspflicht für das Sonderbetriebsvermögen (dazu Reiß in Kirchhof, 17. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 236; Desens/Blischke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 15 EStG Rz. F 25 [Aug. 2016] m. w. N.) illustriert die unzureichende gesetzliche Steuerung. 144 Jüngst BFH v. 21.12.2017 – IV R 44/14, DStR 2018, 400, wonach in Höhe der in der Gesamthandsbilanz einer Personengesellschaft gebildeten Rückstellung für die Erstellung des Jahresabschlusses in der Sonderbilanz des Gesellschafters eine Forderung zu aktivieren ist, wenn zum Bilanzstichtag feststeht, dass der Jahresabschluss gegen eine entsprechende Vergütung durch den Gesellschafter aufgestellt werden wird.

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winn seines Einzelgewerbes nicht um einen Unternehmerlohn mindern kann“145. Diese Grundsätze wendet der IV. Senat auch auf (mittelbare) Mitunternehmer an146. Ob die Besteuerungspraxis diesem hehren Ziel der Gleichstellung mit dem Einzelunternehmer auch bei mittelbaren Mitunternehmern gerecht werden kann, erscheint zweifelhaft. Auch zeitlich ist das Überwachungsprogramm ambitioniert: Die korrespondierende Bilanzierung setzt die Mitunternehmerstellung voraus und entfällt bei Veräußerung des Mitunternehmeranteils147. Das führt bei Gesellschafterwechseln zum Wandel einer Darlehensforderung von funktionalem Eigenkapital der Gesellschaft in Fremdkapital et vice versa. All das ist konsequent, wirft aber nicht nur die Frage der Administrierbarkeit, sondern auch die Grundfrage auf, ob an die Mini­ malstellung eines (mittelbaren) Mitunternehmers derart weitreichende Folgen zur Gleichstellung mit einem Einzelunternehmer geknüpft werden dürfen. d) Gespaltene Unternehmerbesteuerung – oder: Der verlorene Blick auf das Ganze Die rechtsformgespaltene Unternehmensbesteuerung führt naturgemäß zu Rechtsformunterschieden, aber der Dualismus als „Crux“ des geltenden deutschen Unternehmenssteuerrechts148 bedingt nicht alle aufgezeigten Folgewirkungen. Die Intensität der steuerrechtlichen Rechtsformspaltung folgt zum Teil  erst aus der  – in sich folgerichtigen – Rechtsprechung zur Besteuerung von Kapital- und Personengesellschaften, deren Prämissen aus Sicht der Unternehmensbesteuerung als Ganzem zum Teil  überprüfungsbedürftig erscheinen. Gerade die Zuweisung in die Rolle eines ­Unternehmers erfolgt bei Personen- und Kapitalgesellschaften derzeit ungleichgewichtig149. Die Abgrenzung des Unternehmers vom Kapitalanleger folgt gerade nach Einführung der Abgeltungsteuer keiner konsistenten Leitlinie mehr150. Bei Kapitalgesellschaften eröffnet die Option des § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG nur „qualifizierten“ Anteilseignern (mindestens 25  % Beteiligung an der Kapitalgesellschaft oder mindestens 1 % Beteiligung und berufliche Tätigkeit bei der Kapitalgesellschaft) die Besteuerung im Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40 EStG) als „betrieblicher Kapitalanleger“151. Dagegen sind Kommanditisten, deren gesellschaftsvertragliche Stellung dem Regelstatut des HGB entspricht, regelmäßig als Mitunternehmer anzusehen (s. be-

145 BFH v. 21.12.2017 – IV R 44/14, DStR 2018, 400 Rz. 28. 146 BFH v. 21.12.2017 – IV R 44/14, DStR 2018, 400 Rz. 35 zur erkannt GoB-widrigen Bilanzierung in der Sonder(mitunternehmer)bilanz bei einer GmbH & atypisch Still. 147 BFH v. 16.3.2017 – IV R 1/15, BStBl. II 2017, 943. 148 So Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 1. 149 Dazu und zum Folgenden bereits Drüen, Leitlinien des Unternehmenssteuerrechts, DStZ 2014, 564 (567). 150 Zur Kritik an der Systemlosigkeit des unternehmerischen Kapitaleinsatzes in Einzelunternehmen, Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften näher Loritz, Die Besteuerung des unternehmerischen Einsatzes von Kapital und Arbeit in Deutschland – Systemfehler und Reformbedarf, in Schön/Osterloh-Konrad, Kernfragen des Unternehmenssteuerrechts, 2010, S. 31, 34 ff., 41 f., 49 f., 53 f. 151 So Schön, Steuerpolitik 2008 – Das Ende der Illusionen?, DStR Beihefter 2008, 10* (17*).

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reits II. 2. c] bb]) und werden nur in Extremfällen als bloße Kapitalgeber eingestuft152. Das führt zu Friktionen gegenüber beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführern von Kapitalgesellschaften. Darum fordert Roman Seer die Gleichbehandlung ihrer „Sondervergütungen“ mit denen von Mitunternehmern und die Unterwerfung unternehmerischer Kapitalgesellschafter als Gewerbetreibende unter die Gewerbe­ steuer153. Ob und inwieweit diese Gleichstellung de lege lata von der Rechtsprechung zu leisten ist, mag an dieser Stelle dahinstehen. Immerhin hat die Gleichstellungsthese des Mitunternehmers mit dem Einzelunternehmer zu weitreichenden Rechtsfolgen motiviert (s. bereits II. 2. c] cc]). Anstelle der geforderten Gleichstellung des GmbH-Alleingesellschafters mit einem Einzelunternehmer könnte es an der Zeit sein, der Gleichstellung des Mitunternehmers mit dem Einzelunternehmer richterliche Grenzen zu ziehen. Die nicht zu leugnenden Wertungswidersprüche der steuerrechtlichen Qualifikation der Gesellschafter von Kapital- und Personengesellschaften ließen sich durch eine Neujustierung der Mitunternehmerkriterien zumindest relativieren. Denn der weitreichende Begriff des Mitunternehmers erfasst auch den normalen Kapitalanleger und lädt zu Gestaltungen ein, die der Gesetzgeber – trotz abweichender rechtspolitischer Vorschläge – hinnimmt. Der Gesetzgeber versucht nur, äußerste Auswüchse durch Spezialnormen wie §  15a EStG zum negativen Kapitalkonto des Kommanditisten oder § 15b EStG zu Verlusten bei Steuerstundungsmodellen einzuschränken oder zu unterbinden. Dadurch fühlt sich die Rechtsprechung zu den niederschwelligen Mitunternehmerkriterien im Ausgangspunkt bestärkt. Sie verzichtet darauf, nochmals die Grundfrage zu stellen, ob die Abgrenzung der Mitunternehmerkriterien auch nach Einführung der Abgeltungsteuer weiterhin sachgerecht und wertungskonsistent ist. Das vom Gesetzgeber für Kapitalgesellschaften und ihre Anteilseigner seit 2009 geschaffene Subsystem könnte aus Sicht der Unternehmensbesteuerung als Ganzem durchaus Folgewirkungen für die wertende Bestimmung des (Mit-)Unternehmers in Abgrenzung zum Kapitalanleger zeitigen. Gerade wegen der weitreichenden Folgen der Mitunternehmerschaft mit dem von der Rechtsprechung ent- und fortentwickelten Sonderbetriebsvermögen des Mitunternehmers in Form der richterrechtlichen Subkategorien des Sonderbetriebsvermögens I und II154 gehören die höchstrichterlichen Mitunternehmerkriterien auf den Prüfstand. Denn bei einer Binnenbetrachtung passt bereits die „Tiefe“ der Rechtsfolgen nicht zu den niederschwelligen Eintrittsvoraussetzungen. Überdies verträgt sich die gezogene Grenzlinie nicht mit den jüngeren Wertungen des Gesetzgebers zur Besteuerung von Kapitalanlegern.

152 Seer, Der unternehmerische Kapitalgesellschafter, in Schön/Osterloh-Konrad, Kernfragen des Unternehmenssteuerrechts, 2010, S. 97 (99 bis 101). 153 Seer in Schön/Osterloh-Konrad, Kernfragen des Unternehmenssteuerrechts, 2010, S. 97 (101  ff.); ders., Die ertragsteuerliche Qualifizierung des beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführers einer GmbH, GmbHR 2011, 225 (232). 154 Zum Stand aus Sicht der Praxis Hottmann in Zimmermann/Hottmann/Kiebele/Schaeberle/Scheel/Schustek/Szczeny, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 12.  Aufl. 2017, S.  139  ff. m. w. N. Die Rechtsgrundlage verneinend noch Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, S. 388.

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3. Besteuerung von verbundenen Unternehmen Eine Entwicklungslinie der Unternehmensbesteuerung, die entscheidend auf die Steuerrechtsprechung zurückgeht, ist die Besteuerung von verbundenen Unternehmen. Das deutsche Körperschaftsteuerrecht basiert auf der legislativen Entscheidung, dass grundsätzlich jede Kapitalgesellschaft selbst mit den von ihr verwirklichten Besteuerungsgrundlagen besteuert wird. Es knüpft auch bei zu einem Konzern verbundenen, rechtlich selbständigen Unternehmen an deren zivilrechtliche Rechtsfähigkeit an155. Damit folgt es der Trennungstheorie und nicht der (betriebswirtschaftlichen) Einheitstheorie156. Verbundene Unternehmen bilden zwar eine wirtschaftliche Einheit, nichtsdestotrotz werden sie nach dem Trennungsprinzip rechtsformabhängig besteuert157. Das geltende Recht kennt kein (synthetisches) Konzernsteuerrecht im eigentlichen Sinne158, bei dem auf der Grundlage der konsolidierten Konzernbilanz die Konzernleistungsfähigkeit besteuert wird, indem der Gesamtgewinn des Konzerns einheitlich unter Elimination innerkonzernlicher Zwischengewinne der Besteuerung unterworfen wird159. Zur steuerrechtlichen Behandlung von Unternehmen, die trotz rechtlicher Selbständigkeit wirtschaftlich eine Einheit bilden, hat die Steuerrechtsprechung unter Aufweichung der strengen Rechtsformorientierung das Rechtsinstitut der steuerlichen Organschaft entwickelt160. Es basiert auf einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise161 und relativiert die grundsätzlich rechtsformal orientierte Unternehmensbesteuerung (s. II. 2. a]). Die Rechtsfigur der Organschaft ist ein „Kind der Rechtsprechung“162, geboren mit richterlicher Hilfe zum Schutze des Gewerbesteueraufkommens. Dem Preußischen Oberverwaltungsgericht163 ging es nicht um eine sachgerechte Erfassung der „Konzernleistungsfähigkeit“ von Unternehmensgruppen, sondern um das Fiskalinteresse der Steuergläubiger zum Schutze vor Steuerverlagerungen im Konzern164. Auf der Grundlage der gesetzgeberischen Entscheidung für die zivil- und steuerrechtliche Selbständigkeit von Organträger und Organgesellschaft sah die Rechtsprechung zur Körperschaftsteuer im Fall der finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Eingliederung und der vereinbarten sowie durchgeführten Gewinnabführung bzw. Verlustübernahme lediglich für Zwecke der Einkommensermittlung das Einkommen der Organgesellschaft wirtschaftlich als Einkommen des Organträgers an und rechnete es diesem für steuerliche Zwecke zu165. 155 Kröner in Kessler/Kröner/Köhler, Konzernsteuerrecht, 2008, § 3 Rz. 1. 156 Desens in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf. KStG Rz. 12 (Aug. 2014). 157 Kessler in Kessler/Kröner/Köhler, Konzernsteuerrecht, 2008, § 1 Rz. 1 f. m. w. N. 158 Drüen in Frotscher/Drüen, Vor § 1 KStG Rz. 135 f. (Sept. 2017). 159 Drüen in Prinz/Witt, Steuerliche Organschaft, 2015, Rz. 4.4 f. 160 Näher Hüttemann, StuW 2014, 58 (64 f.) m. w. N. 161 Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 321 (Okt. 2011). 162 Hüttemann, Organschaft, in Schön/Osterloh-Konrad, Kernfragen des Unternehmenssteuerrechts, 2010, S. 127 (129). 163 PrOVGSt v. 31.5.1902 – VI G. 38/01, PrOVGSt 10, 391 (392 ff.). 164 Hüttemann, StuW 2014, 58 (64). 165 Zur Entwicklung der Rechtsprechung zur Organschaft BFH v. 4.3.1965  – I 249/61 S, BStBl. III 1965, 329 m. w. N.

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Im Laufe der Zeit haben den Bundesfinanzhof indes Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner eigenmächtigen Besteuerung verbundener Unternehmen beschlichen. Der Vorsitzende des I. Senates schrieb am 4. April 1962 an den Bundesminister der Finanzen und Wirtschaftsverbände166 und äußerte „erhebliche Bedenken …, ob diese für das Körperschaftsteuerrecht von der Rechtsprechung entwickelte Organlehre, die reines Richterrecht darstellt“, mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Die Bitte um Stellungnahme zu der „den Senat schon länger beschäftigenden Zweifelfrage“ lässt das höchstrichterliche Unwohlsein deutlich erkennen: „Das Problem berührt die Grundlagen des Verhältnisses von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung im Rahmen der durch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland geschaffenen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung“. Die Reaktion des Gesetzgebers blieb indes zunächst aus. Im Jahre 1966 äußerte der Bundesfinanzhof nochmals Zweifel an der gesetzlichen Verankerung seiner bisherigen Rechtsprechung167. Erst im Jahr 1969 führte die vom Bundesfinanzhof reklamierte Gesetzmäßigkeit der Besteuerung zu einer Kodifikation der bisherigen Rechtsprechung in §  7a KStG 1969168 (nunmehr §§ 14 ff. KStG). Dieselbe richterliche Forderung setzte sich bei der Organschaft im Detail fort: Als Reaktion auf die Rechtsprechung erfolgten Nachjustierungen, indem zunächst die bisherige Verwaltungspraxis zu Mehr- und Minderabführungen in § 14 Abs. 3 und 4 KStG normiert wurde169. Auch die ab 2014 eingeführte gesonderte und einheitliche Feststellung des dem Organträger zuzurechnenden Einkommens der Organgesellschaft und damit zusammenhängender anderer Besteuerungsgrundlagen nach §  14 Abs.  5 Satz  1 KStG ist eine Antwort auf von der Rechtsprechung aufgedeckte Schwachstellen des auf Organschaften nicht zugeschnittenen Verfahrensrechts170. Der Gesetzgeber versuchte mit diesen nachträglich eingeführten Vorschriften zur Organschaft die Probleme der Besteuerung verbundener Unternehmen gesetzlich zu lösen, die das Richterrecht aufgeworfen und nicht rechtssicher auflösen konnte. Diese Entwicklung lehrt die höchstrichterliche Rechtsprechung, dass Rechtsfortbildungen im Unternehmenssteuerecht wohl bedacht sein wollen: Für die Schaffung neuer richterrechtlicher Rechtsinstitute reicht allein die höchstrichterliche Überzeugung. Ein späterer Ausstieg – das zeigt auch die Betriebsaufspaltung (s. II. 4.) – gelingt bei Annahme des Rechtsinstituts durch die Praxis kaum mehr aus eigener Kraft und es bedarf der Hilfe des Gesetzgebers. Aber auch beim Festhalten an einem Rechtsinstitut treten in der Besteuerungspraxis Folge- und Detailfragen auf, die zur Grundfrage der funktionsgerechten Gewaltengliederung im Verfassungsstaat (s. I.) zurückführen.

166 BFH v. 4.4.1962 – I 249/61, BB 1962, 438 f. 167 BFH v. 17.11.1966 – I 280/63, BStBl. III 1967, 118. 168 Gesetz v. 15.8.1969, BGBl. I 1969, 1182 f. 169 Zu Entwicklung und verbleibenden Fragen eingehend v. Freeden, Minder- und Mehrabführungen nach § 14 Abs. 4, § 27 Abs. 6 KStG, 2011, S. 23 ff. 170 Im Einzelnen Drüen in Prinz/Witt, Steuerliche Organschaft, 2015, Rz. 4.11, 4.14, 4.21 ff.

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4. Begriff des steuerrechtlichen Unternehmens Der Grundbegriff des Unternehmens ist ein rechtsgebietsübergreifender Begriff, insbesondere des Wirtschafts- und Steuerrechts. Die Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts für Staatssteuersachen hat die Kriterien des steuerrechtlichen Gewerbebetriebes entwickelt171, an die der Reichsfinanzhof angeknüpft hat und die der Bundesfinanzhof fortentwickelt hat172. Der Gesetzgeber hat sich diesen Begriff des Gewerbebetriebs zunächst in § 1 Abs. 1 GewStDV und sodann in § 15 Abs. 2 EStG zu eigen gemacht173. Hinzugekommen ist das subjektive Merkmal der Gewinnerzielungsabsicht für dessen Verständnis und die praktische Rechtsanwendung nach wie vor die Entscheidung des Großen Senats des Bundesfinanzhofes vom 25. Juni 1984 mit dem Streben nach einem betrieblichen Totalgewinn174 leitend ist175. Den steuerrechtlichen Gewerbebetrieb versteht die Rechtsprechung als offenen Typusbegriff176. Das negative Abgrenzungsmerkmal der Vermögensverwaltung (vgl. §  14 Satz 3 AO) ist dabei ungeschrieben und führt zu einer Kasuistik der Abgrenzung zwischen Gewerblichkeit und privater Vermögensverwaltung177. In der Besteuerungspraxis kommt es aufgrund des Wandels der Lebenswirklichkeit und der Modalitäten der Wirtschaftstätigkeit (z. B. Aktienhandel durch Daytrader178) zum Teil  zu Verschiebungen der Grenzlinien beim Begriff des Gewerbebetriebs zulasten privater Vermögensverwaltung. Der Vorzug des steuerrechtlichen Typusbegriffs, flexibel und entwicklungsoffen zu sein, führt als Nachteil zu oft nur schwer vorherbestimmbaren Ergebnissen179. Diese rechtsfolgentragende Offenheit steuerrechtlicher Grundbegriffe des Unternehmensrecht ist zwar bedenklich, aber die „Rechtsform des Typus“ ist als solche nicht verfassungswidrig180. Das Wechselspiel von Rechtsprechung und Gesetzgeber zur Reichweite des Begriffs des Gewerbebetriebs verdeutlicht das „Reizphänomen“ der Betriebsaufspaltung. Die positivistisch orientierten „Altvorderen“ sahen die Betriebsaufspaltung als unzulässi171 Aus der Rechtsprechung PrOVGSt v. 5.5.1898 – VI. G. 254/97, PrOVGSt 7, 481 (421 ff.); PrOVGSt v. 6.2.1901 – J.N. III. 504 – III. 321/00, PrOVGSt 9, 128 (131). 172 Näher zur Rechtsprechung zum Begriffs des Gewerbebetriebs Seiler in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, § 4 EStG Rz. B 51 (Okt. 2012) m. w. N. 173 Zum Streit über den engen, mittleren und weiten Betriebsbegriff Seiler in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, § 4 EStG Rz. B 51 (Okt. 2012); Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Vor §§ 4–7 EStG Rz. 88 ff. (Jan. 2015) m. w. N. 174 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751 Rz. 174 ff. 175 Überblick zu den höchstrichterlichen Anforderungen zuletzt bei Wacker in Schmidt, 37. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 24 f. m. w. N. 176 Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach, § 15 EStG Rz. 1004 (Aug. 2017) m. w. N.; zur Kritik Mössner, Typusbegriffe im Steuerrecht, in FS Kruse, 2001, S. 161 (172 ff.). 177 Überblick zur Rechtsprechung zuletzt bei Wacker in Schmidt, 37. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 46 ff. m. w. N. 178 BFH v. 30.7.2003 – X R 7/99, BStBl. II 2004, 408 Rz. 22 ff., 47. 179 Vertiefend Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 395 ff. (Aug. 2014) m. w. N. 180 BVerfG v. 20.5.1996 – 1 BvR 21/96, NJW 1996, 2644; Pahlke, Typusbegriff und Typisierung, DStR Beihefter 2011, 66* (68*); Wernsmann, Typisierung und Typusbegriff, DStR Beihefter 2011, 72* (76*); a. A. Weber-Grellet in FS Beisse, 1997, S. 551 (568).

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ges Produkt richterlicher Rechtsfortbildung181 ohne gesetzliche Grundlage an182. Ro­ land Wacker hält dagegen das von der Rechtsprechung in „wertender Betrachtung des richtig verstandenen Gewerbebetriebsbegriffs“ geschaffene Rechtsinstitut der Betriebsaufspaltung für verfassungsgemäß183. Das entspricht der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes184. Der Gesetzgeber hatte in den 1980er Jahren seinen ursprünglichen Plan, die Betriebsaufspaltung zu kodifizieren, im Vertrauen auf das Fortbestehen der Rechtsprechung aufgegeben185. Inzwischen hat der Gesetzgeber die Betriebsaufspaltung unzweifelhaft in seinen Willen aufgenommen und sie bei den erbschaftsteuerrechtlichen Verschonungstatbeständen (§ 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 lit. a ErbStG) sowie unlängst im EStG geregelt. Letzteres erfolgte indes nicht beim Grundtatbestand des Gewerbebetriebs in § 15 EStG, sondern im Rahmen der „Sonstigen Vorschriften … und Schlussvorschriften“ (IX. Abschnitt) im Tatbestand des § 50i Abs. 1 Satz 4 EStG, beim dem es um die steuerrechtliche „Bewältigung von Altfällen“ wegen der rein national wirkenden Gewerblichkeitsfiktionen geht186. Nach Michael Wendt scheint die „vielfach und nicht zu Unrecht erhobene Klage, das ‚Rechtsinstitut‘ der Betriebsaufspaltung entbehre einer gesetzlichen Grundlage, … vom Gesetzgeber erhört worden zu sein“187. Es fragt sich aber, ob die nacheilende und „versteckte“188, systematisch falsch verortete Rechtsgrundlage tatsächlich befriedigen kann. Die Rechtsprechung muss sich vorhalten lassen, dass die in der Praxis erforderliche Rechtssicherheit und Berechenbarkeit der tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Betriebsaufspaltung trotz jahrzehntelanger Judikatur nicht besteht189. Dieses Testat verdeutlich die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung als „Quasi-Gesetzgeber“190 im Unternehmenssteuerrecht. Deren sollte sich die Rechtsprechung wegen der weitreichenden Folgen der Gewerblichkeitsqualifikation mit dem umfassenden Unternehmensgewinn (dazu sogleich II. 5.) bewusst sein. Einen Ausweg aus einem richterlich

181 Kruse in DStJG 18 (1995), S. 115 (129). 182 Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd.  I, 1991, S.  388; Knobbe-Keuk, Bilanz und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 864 m. w. N. 183 So Wacker in Schmidt, 37. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 807. 184 BFH v. 25.6.2013 – X B 96/12, BFH/NV 2013, 1802. 185 Entwurf eines Steuerbereinigungsgesetzes 1985, BT-Drucks. 10/4513, 22: „Auf die klarstellende Regelung zur sog. Betriebsaufspaltung in § 15 Abs. 2 EStG wird verzichtet. Dabei geht der Finanzausschuß auf Grund neuerer Entscheidungen davon aus, daß der Bundesfinanzhof auch im Anschluß an den Beschluß des Großen Senats des Bundesfinanzhofs vom 25. Juni 1984 … die Grundsätze über die ertragsteuerrechtliche Beurteilung der Betriebsaufspaltung beibehalten wird.“ 186 Gosch in Gosch, Kirchhof, 17. Aufl. 2018, § 50i EStG Rz. 1 f. 187 So jüngst Wendt, Keine Betriebsaufspaltung zwischen Eigentümer und Mieter bei Vermietung durch Erbbauberechtigten – Mittelbare sachliche Verflechtung – Gesetzliche Regelung der Betriebsaufspaltung in § 50i EStG, FR 2016, 273. 188 Ebenso Wendt, FR 2016, 273. 189 Zuletzt Kudert/Mroz, Die Betriebsaufspaltung im Spannungsverhältnis zwischen gesetzlichen Regelungen und richterlicher Rechtsfortbildung, StuW 2016, 146 (147, 158), die selbst die Betriebsaufspaltung nicht als „rein profiskalisches Konstrukt der Rechtsprechung“ einstufen. 190 So Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, S. 387 f.

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geschaffenen Rechtsinstitut kann in der Regel nur der Gesetzgeber ermöglichen (s. bereits II. 3.). 5. Unternehmensgewinn und Rechtsprechung Der konstruktive Beitrag der Steuerrechtsprechung für die Definition des steuerrechtlichen Gewinns191 und seiner Ermittlung ist theoretisch wie praktisch kaum zu unterschätzen. Persönlich haben sich namentlich die Bundesrichter Georg Döllerer und Heinrich Beisse in besonderem Maße hierum verdient gemacht192. a) Konkretisierung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung durch die Steuerrechtsprechung Aufgrund des Maßgeblichkeitsprinzips (§ 5 Abs. 1 EStG) haben Kaufleute beim steuerrechtlichen Betriebsvermögensvergleich (§ 4 Abs. 1 EStG) das Vermögen nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) auszuweisen193. Die GoB als unbestimmte Rechtsbegriffe194 waren ursprünglich „Stücke offengelassener Gesetzgebung“195, deren Konkretisierung auch der Rechtsprechung oblag. Die traditionelle Dominanz der Steuerrechtsprechung gegenüber nur einzelnen zivilrechtlichen Judikaten196 hat ihre Ursache in der Maßgeblichkeit und im früheren Erfordernis der ordnungsgemäßen Buchführung als Voraussetzung für Steuersubventionen. Die Steuerrechtsprechung hat die GoB zeitgebunden konkretisiert197 und an die Veränderung der wirtschaftlichen Realitäten angepasst198. Der Gesetzgeber hat sich Schritt für Schritt mit den Ordnungsvorschriften der §§ 145 f. AO und im großen Stile im Handelsrecht (§§ 238 HGB) durch das Bilanzrichtliniengesetz im Jahre 191 Grundlegend zum steuerrechtlichen Gewinnbegriff Knobbe-Keuk, Bilanz und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 11 ff. 192 Ihnen ist jeweils eine Festschrift gewidmet worden, die bereits im Titel dieses gemeinsame Arbeitsfeld trägt: Handelsrecht und Steuerrecht, Festschrift für Dr.  Dr.  h.c. Georg Döllerer, 1988; Handelsbilanzen und Steuerbilanzen, Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. h.c. Heinrich Beisse, 1997. 193 Zur Maßgeblichkeit samt sondersteuerrechtlichen Durchbrechungen und näher zur bilanziellen Gewinnermittlung im Steuerrecht Krumm, Maßgeblichkeit des Handelsrechts und außerbilanzielle Korrekturen, in FS 100 Jahre BFH, S. 1457 ff.; zur europäischen und internationalen Perspektive der Gewinnermittlung Hennrichs, Einfluss der  Europäisierung und Internationalisierung auf das Bilanzsteuerrecht, in FS 100 Jahre BFH, S. 1411 ff. 194 Zu ihrer Konkretisierung als Rechtsproblem zuletzt Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 9 Rz. 50 m. w. N. 195 Kruse, Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung  – Rechtsnatur und Bestimmung, 3. Aufl. 1978, S. 111. 196 Dazu Drüen in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 238 HGB Rz. 3 m. w. N. 197 Näher Moxter, Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung – ein handelsrechtliches Faktum, von der Steuerrechtsprechung festgestellt, in FS 75 Jahre RFH–BFH, 1993, S. 533. 198 Näher Kruse, Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 3. Aufl. 1978, S. 27 ff., 68 ff.; Beisse, Wandlungen der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, in GS Knobbe-­ Keuk, 1997, S. 385.

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1986199 zahlreiche Rechtsprechungserkenntnisse zu eigen gemacht und zentrale GoB kodifiziert. Der geltende Gesetzestext geht zum Teil wörtlich auf Formulierungen der Rechtsprechung des höchsten Steuergerichts zurück200. Das dritte Buch des HGB als „Grundgesetz des Bilanzrechts“201 und Grundordnung für Handels- und Steuerbilanz basiert auf dem Fundament der Rechtsprechung von Reichsfinanzhof und Bundesfinanzhof. Durch diese Übernahme und die Kodifikation der GoB sind diese und ihre Fortentwicklung der Rechtsprechung nicht entzogen. GoB als Regeln zur Abbildung der wirtschaftlichen Realität sind flexibel und planmäßig entwicklungsoffen202. Auch nach der Kodifikation haben die GoB ihre Bedeutung nicht verloren203 und ihre verbindliche Bestimmung obliegt am Ende weiterhin den (Steuer-)Gerichten. b) Totalität des steuerrechtlichen Gewinnbegriffs und richterrechtliche ­Ausnahmen Nach dem durch § 4 Abs. 1 EStG normierten Gewinnbegriff, der über die Brückenvorschrift des §  8 Abs.  1 KStG auch für die Körperschaftsteuer und via §  7 Satz  1 GewStG auch für den Gewerbeertrag gilt, unterliegen alle Veränderungen des Wertes des Betriebsvermögens der Besteuerung. Der umfassende Betriebsvermögensvergleich, der auch das Anlagevermögen des Unternehmens erfasst, ist Folge der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts und des Sächsischen Ober­ verwaltungsgerichts204. Obwohl die damaligen Einkommensteuergesetze auf der Quellentheorie Fuistings205 fußten, nutzten die Gerichte die Technik der Bilanz mit ihrem vollständigen Ausweis des betrieblichen Vermögens zur vollständigen Steuerverhaftung dieses Vermögens. Die dogmatischen Fernwirkungen der zur Vereinfachung der Steuererklärung auf Wunsch der Kaufleute eingeführten Maßgeblichkeit bei der Bemessung des Gewinns aus Handel und Gewerbe206 resultieren erst aus der Rechtsprechung zum preußischen und sächsischen EStG207. Diese bezog – entgegen der Quellentheorie, aber ganz im Sinne der auf dem Denken in Bilanzen aufbauen-

199 Gesetz zur Durchführung der Vierten, Siebenten und Achten Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts (Bilanzrichtlinien-Gesetz), BGBl. I 1985, 2355. 200 Drüen in Tipke/Kruse, § 145 AO Rz. 2 f. (Okt. 2010). 201 Merkt in Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, Einl. v. § 238 HGB Rz. 2. 202 Drüen in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 238 HGB Rz. 25. 203 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 9 Rz. 50; näher Marx, Bedeutung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung im geltenden Steuerbilanzrecht, FR 2016, 389. 204 Dazu Nachweise bei Drüen, Periodengewinn und Totalgewinn, 1999, S. 30 ff. (35 f.). 205 Fuisting, Die preußischen direkten Steuern, Kommentar zum EStG i. d. F. v. 19.6.1906, 2. Aufl. 1907, § 6 Anm. 1, § 13 Anm. 14. 206 Hüttemann, StuW 2014, 58 (60 f.) m. w. N. 207 Zu Sachsen näher Stadie, Bemerkenswertes aus der Rechtsprechung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts zum Steuerrecht, in FS zum 100-Jährigen Jubiläum des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, 2002, S. 221 (232 ff.) m. w. N.

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den Reinvermögenszugangstheorie v. Schanzs208 – nicht allein die Wertveränderungen im Umlaufvermögen, sondern auch die des Anlagevermögens in die Besteuerung von Unternehmen ein. Der Reichsgesetzgeber hat die divergierenden finanzwissenschaftlichen Einkommensbegriffe im Jahre 1920 eingehend reflektiert209 und seit 1925 pragmatisch eine darauf basierende Aufspaltung des Einkommensbegriffs für Gewinn- und Überschusseinkunftsarten eingeführt210. Die Zuspitzung dieses Dualismus mit dem bilanziellen Totalitätsprinzip bei der Besteuerung von Unternehmensvermögen ist dabei in der älteren Rechtsprechung angelegt. Umgekehrt hat bereits der Reichsfinanzhof den Gewinnbegriff wertend eingegrenzt. Prominentes Beispiel hierfür sind die richterrechtlich entwickelten Grundsätze der sog. Rücklage für Ersatzbeschaffung211. Eine Gewinnrealisierung einer Ersatzleistung für ein betriebliches Wirtschaftsgut (z. B. Schadensersatz durch Versicherung) kann nach der Rechtsprechung212 in engen Sonderfällen (z. B. bei höherer Gewalt) wahlweise vermieden werden, damit das Unternehmen ungeschmälert durch die Steuer Ersatz beschaffen kann. Ein solches Wahlrecht des Steuerpflichtigen besteht auch im Falle einer Entschädigung nach einem behördlichen Eingriff (z. B. einer Enteignung)213. Die Rechtsgrundlage für die Möglichkeit einer Übertragung ist umstritten214. Der Bundesfinanzhof nimmt zum Teil Gewohnheitsrecht an215, zum Teil wird die Reduktion des steuerrechtlichen Gewinnbegriffs auf Billigkeitserwägungen gestützt216. Der Gesetzgeber hat dieses Institut durch ausdrückliche Erwähnung in § 13a Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 EStG a. F. anerkannt217. Das belegt das einträchtige Aufbauen des Gesetzgebers auf der Steuerrechtsprechung auch beim Ausbau und der Eingrenzung des weitreichenden Gewinnbegriffs im Steuerrecht218.

208 v. Schanz, Der Einkommensbegriff und Einkommensteuergesetze, FinArch. 13 (1896), Bd. 1, 1 ff. 209 Begründung zum Reichseinkommensteuergesetz 1920, Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 340 (1920), Nr. 1624, 24. 210 Dazu Kube, in FS 100 Jahre BFH, S. 1145 ff. 211 Zusammenfassend Bode in Kirchhof, 17. Aufl. 2018, § 4 EStG Rz. 256 „Rücklage für Ersatzbeschaffung“; Kulosa in Schmidt, 37.  Aufl. 2018, §  6 EStG Rz.  101  ff.; aus Verwaltungssicht R 6.6. Einkommensteuer-Richtlinien (EStR) 2012. 212 Grundlegend seit RFH v. 2.4.1930 – VI A 514/30, RStBl. 1930, 313; dem folgend z. B. BFH v. 29.4.1982 – IV R 10/79, BStBl. II 1982, 568. 213 Zu den Voraussetzungen Kulosa in Schmidt, 37. Aufl. 2018, § 6 EStG Rz. 105. 214 Nachweise bei Kanzler in Kanzler/Kraft/Bäuml/Marx/Hechtner, 3. Aufl. 2018, § 6b EStG Rz. 42. 215 BFH v. 12.1.2012 – IV R 4/09, BStBl. II 2014, 443 Rz. 13: „inzwischen gewohnheitsrechtlich anerkanntes Rechtsinstitut“. 216 BFH v. 13.10.2010 – I R 79/09, BStBl. II 2014, 943 Rz. 16. 217 So Kulosa in Schmidt, 37. Aufl. 2018, § 6 EStG Rz. 102. 218 Neben der Besteuerung des Unternehmensgewinns ist die 30jährige „Leidensgeschichte der Verlustnutzungsvorschriften“ (so Prinz, 65. Berliner Steuergespräch: Die Entscheidung des BVerfG zu § 8c KStG und ihre Folgen – Statement, FR 2018, 76 [80]) ein eigenes – hier auszusparendes – Thema, bei dem der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes ebenfalls eine zentrale Rolle zukommt.

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III. Ausblick: Zukunftsfragen des Unternehmenssteuerrechts 1. Perspektive: Neues Unternehmenssteuerrecht als neuer Boden der ­Rechtsprechung? Der Zustand des deutschen Unternehmenssteuerrechts ist keineswegs ideal, aber Unternehmen, Finanzverwaltung und Rechtsprechung müssen bis zu einer grundlegenden Reform mit dem gesetzten Recht leben. An Reformideen und -konzeptionen zum Unternehmenssteuerrecht besteht kein Mangel219. Vor allem die rechtspolitische Forderung nach einer rechtsformneutralen Besteuerung ist schon so alt wie der Dualismus der Unternehmensbesteuerung selbst220. Bereits seit dem 33. Deutschen Juristentag im Jahre 1924 wird gefordert, „dass die Gewerbetreibenden nicht genötigt werden, der Einkommen- oder Körperschaftsteuer wegen bestimmte Rechtsformen zu wählen oder von einer Rechtsform zur anderen überzugehen“221. Rechtspolitisch sind der traditionellen rechtsformabhängigen Unternehmensbesteuerung immer wieder rechtsformneutrale Reformvorschläge entgegengesetzt worden222. So hat die Kommission „Steuergesetzbuch“ unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft vor einigen Jahren das Modell einer allgemeinen Unternehmenssteuer vorgeschlagen, bei der die Steuerlast an das Unternehmen und nicht an dessen Rechtsform anknüpft und auch bei Personenunternehmen zwischen der Unternehmensebene und der Unternehmerebene getrennt wird223. Paul Kirchhof plädiert im Entwurf eines Bundessteuergesetzbuches dafür, die Körperschaftsteuer durch eine Re-Integration in die Einkommensteuer mittels der Rechtsfigur der „steuerjuristischen Person“ entfallen zu lassen224. Überdies werden seit Jahrzehnten zahlreiche Modelle zur Reform der Gewerbesteuer akademisch und in mehreren Reformkommissionen diskutiert225. Das frühere rechtspolitische Versprechen einer modernen Gruppenbesteuerung statt des deutschen Sonderwegs einer Organschaft mit Ergebnisabführungsvertrag wurde bislang nicht eingelöst. Neben einer grundlegenden und systematischen Neuregelung der Verlustkompensation bei Körperschaften statt §§ 8c, 8d KStG wären eine Vielzahl weiterer Reformwünsche im Unternehmenssteuerrecht zu nennen226. Der Forderung nach einem zukunftsfähigen Einkommensteuerrecht227 ist die nach einem 219 Vertiefend Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 1190 ff. 220 Ebenso Hey, Besteuerung von Einkommen - Aufgaben, Wirkungen und europäische Herausforderungen, JZ 2006, 852 (856). 221 E. Becker/Lion, Zweite Sitzung der III. Abteilung für Steuer- und Wirtschaftsrecht, Gutachten zum 33. Juristentag, 1925, S. 429, 495. 222 Letzter Überblick zur Reformdiskussion bei Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23.  Aufl. 2018, § 7 Rz. 823 ff. m. w. N. 223 Lang/Eilfort, Strukturreform der deutschen Ertragsteuern: Bericht über die Arbeit und Entwürfe der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, 2013, S. 247 (250). 224 P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, §§ 12, 42, 52 ff. BStGB-E. 225 Näher J. Lang, Bestandsaufnahme der kommunalsteuerlichen Reformmodelle, in DStJG 35 (2012), S. 307 (311 ff., 319 ff.). 226 Dazu bereits Drüen, DStZ 2014, 564 ff. m. w. N. 227 Kube, in FS 100 Jahre BFH, S. 1175 ff. [unter IV.].

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zukunftsfähigen Unternehmenssteuerrecht an die Seite zu stellen. Angesichts der globalen und europäischen Wettbewerbslage bei der Besteuerung von Unternehmen ist diese Forderung vordringlich, kann aber freilich allein vom Gesetzgeber erfüllt werden. Bislang hat die Politik in den letzten Jahren substantielle Reformvorschläge für das Unternehmenssteuerrecht nicht aufgegriffen. Die bisherige Entwicklung des deutschen Unternehmenssteuerrechts lässt es nicht als wahrscheinlich erscheinen, dass der Gesetzgeber ohne hinreichenden Druck der Rechtsprechung oder durch eine wirtschaftliche Krise den bekannten Entwicklungspfad verlassen und sich grundlegend neue Konzepte und Systementwürfe zu eigen machen wird. Dafür ist der externe Reformdruck bislang nicht ausreichend228. Die Zukunft der Rechtsprechung zum Unternehmenssteuerrecht hängt von legislativen Grundentscheidungen ab. Rechtsprechung ist konstitutiv gesetzespfadabhängig. Im gewaltengegliederten Staat lässt sich die Kompetenzabgrenzung der Staatsgewalten auf der Zeitachse verdeutlichen: Der Gesetzgeber regelt die Zukunft, die Verwaltung ordnet die Gegenwart und die Rechtsprechung entscheidet über die Vergangenheit229. Zukunftsfragen der Unternehmensbesteuerung kann der Bundesfinanzhof als oberstes Gericht, bei dem im Rechtsschutzverfahren unter engen prozessualen Vo­ raussetzungen (§  115 Abs.  2 FGO) individuelle Streitfälle zur Entscheidung angebracht werden, nicht eigenständig stellen und beantworten. Aufgabe der Rechtsprechung ist es, historische Streitfälle zu entscheiden. Darum ist sie prima vista kein aktiver Gestalter der Zukunft eines Rechtsgebiets. Gleichwohl kann die Rechtsprechung Anstöße zur künftigen Neugestaltung des Unternehmenssteuerrechts geben. Das hat sich – allerdings mit erheblichem Zeitverzug – bei der Besteuerung verbundener Unternehmen durch die gesetzliche Regelung der Organschaft gezeigt (s. bereits II. 3.). Auf die jüngste Ablehnung einer hinreichenden Rechtsgrundlage für Billigkeitsmaßnahmen der Finanzverwaltung bei Unternehmenssanierungen durch den Großen Senat230 hat der Gesetzgeber unmittelbar mit der Steuerbefreiung der Sanierungserträge nach §  3a EStG und die gewerbesteuerrechtliche Sonderregelung des § 7b GewStG geantwortet231. Den „Weckruf “ der Rechtsprechung hat der Gesetzgeber aufgrund des Zeitdrucks nicht als Impuls für die gesetzliche Regelung eines systematischen Sanierungssteuerrechts genutzt. Über die ad-hoc-Maßnahmen hinaus, sollte der Gesetzgeber über eine grundlegende, beihilfefeste Kodifikation von Unternehmenssanierungen als überperiodisches Korrektiv zur Gewähr einer intertemporal leistungsgerechten Unternehmensbesteuerung232 nachdenken. Dieses jüngste Beispiel illustriert, dass die Rechtsprechung eine neue Gesetzgebung nur anstoßen kann. 228 Zu den Gelingensbedingungen einer Reform des Steuerrechts näher Drüen in DStJG 37 (2014), S. 9 (10 f., 62 f.). 229 Zu diesem „Zeitschema“ der Gewaltengliederung bereits P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. X, 3. Aufl. 2012, § 214 Rz. 151. 230 BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393. 231 Eingehend zur Entwicklung Krumm in Blümich, § 3a EStG Rz. 2 ff. (Nov. 2017). 232 Dazu Drüen in Blümich, § 7b GewStG Rz. 3 (März 2018).

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Die Ausgestaltung des neuen Gesetzes hängt in der Demokratie von parlamentarischen Mehrheiten ab. Insgesamt darf der Zukunftsbeitrag der Steuerrechtsprechung zwar nicht marginalisiert, aber auch nicht überschätzt werden. 2. Fortschreitende Inter- und Supranationalisierung des Unternehmens­ steuerrechts Die offene Staatlichkeit, die das Grundgesetz verfasst, beeinflusst durch Inter- und Supranationalisierung das Recht der Unternehmensbesteuerung. Beide Treiber können in Zukunft auch zu Verschiebungen der nationalen Spruchtätigkeit auf dem Gebiet des Unternehmenssteuerrechts führen. International forcierten OECD/G-20 in den letzten Jahren früher kaum für möglich gehaltene Fortentwicklungen der internationalen Steuerkooperation und ihrer Instrumente233, die das nationale Unternehmenssteuerrecht unter Anpassungsdruck gesetzt haben. Zunehmende internationale Steuertransparenz mit intensiviertem interadministrativem grenzüberschreitendem Informationsaustausch werden die informationelle Ausgangsbasis für nationale Verwaltungs- und Gerichtsverfahren verändern. Als Folge dürfte auch234 die Zunahme finanzgerichtlicher Streitigkeiten zur Angemessenheit grenzüberschreitender Konzernverrechnungspreise eine absehbare Zukunftsfrage sein. Der Bundesfinanzhof hat mit seinem bahnbrechenden Urteil vom 17. Oktober 2001235 den Gesetzgeber bewogen, in §  90 Abs.  3 AO eine besondere Verpflichtung einzuführen, bestimmte grenzüberschreitende Geschäftsbeziehungen einschließlich der Grundlagen ihrer Entscheidungen über die Festsetzung von Verrechnungspreisen und sonstigen Geschäftsbedingungen zu dokumentieren236. Die Regelung sollte – als erklärte Reaktion auf die Rechtsprechung  – vor allem die Möglichkeit der Prüfung der Einkunftsabgrenzung zwischen international verbundenen Unternehmen (Verrechnungspreisprüfung) durch die Finanzverwaltung sichern237. Neben der Pflicht zur Sachver­ haltsdokumentation besteht jedenfalls seit 2016238 eine ausdrückliche gesetzliche Pflicht zur Erstellung einer Angemessenheitsdokumentation239. Trotz vereinzelter 233 Dazu Schön, Internationalisierung des Internationalen Steuerrechts, in FS 100 Jahre BFH, S. 923 ff. 234 Neben der Intensivierung von Streitigkeiten über den grenzüberschreitenden Informationsaustausch und gemeinsamen Außenprüfungen nationaler Steuerbehörden. 235 BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171. 236 Eingefügt durch Art. 9 Nr. 3 Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen (Steuervergünstigungsabbaugesetz – StVergAbG) v. 16.5.2003, BGBl. 2003 Teil I, 660 (665). 237 Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN v. 2.12.2002, BTDrucks. 15/119, 52. 238 Diese Pflicht entsprach zwar unzweifelhaft schon immer dem gesetzgeberischen Willen (Schmitz in Schwarz/Pahlke, § 90 AO Rz. 82 [März 2016]), kam aber im Wortlaut des § 90 Abs. 3 Satz 2 AO nicht hinreichend klar zum Ausdruck (kritisch auch Roser in Gosch, § 90 AO Rz. 137 ff. [Juni 2014]). 239 Gesetz zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen v. 20.12.2016, BGBl. I 2016, 3000.

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Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Unternehmenssteuerrechts

verfassungsrechtlicher Kritik der Literatur an einer „Strafbesteuerung“240 enthält § 90 Abs. 3 AO aus Sicht der Rechtsprechung eine verfassungsmäßige241 und insbesondere verhältnismäßige erhöhte Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen zur effektiven Überprüfung der Verrechnungspreise durch die Finanzverwaltung242. Da diese Überprüfung im Rahmen der Außenprüfung immer mehr an Bedeutung gewinnt und – im Gegensatz zu früheren Zeiten – Streitigkeiten über die Gestaltung von grenzüberschreitenden Konzernverrechnungspreisen und ihre hinreichende Dokumentation auch vor den Finanzgerichten ausgetragen werden, wird hierin ein Zukunftsfeld auch der höchstrichterlichen Steuerrechtsprechung liegen. Auch dem Bundesfinanzhof werden zukünftig vermehrt interessante Rechtsfragen zur internationalen Einkunftsabgrenzung ins Haus stehen. Dabei steht der nationale Rechtsschutz in Konkurrenz zu zwischenstaatlichen Verständigungs- und Schiedsverfahren243. Überdies führt das neue internationale Ziel der Verhinderung einer doppelten Nichtbesteuerung bzw. einer Minderbesteuerung verstärkt zu einer Bezugnahme des deutschen Unternehmenssteuerrechts auf die Besteuerung im Ausland, insbesondere aufgrund des Korrespondenzprinzips (§  8b Abs.  1 Satz  2 KStG)244. Internationale Steuerkoordination fordert von Verwaltung und Rechtsprechung zukünftig verstärkt die Anwendung und Abstimmung mit dem ausländischen Unternehmenssteuerrecht. Auch insoweit werden sich zukünftig vermehrt Fragen der Abstimmung der Spruchzuständigkeit und der Revisibilität durch den Bundesfinanzhof stellen. Die Zukunft des Unternehmenssteuerrechts hängt im besonderen Maße von künftigen europäischen Entwicklungen ab245. Die fortschreitende Europäisierung des Unternehmenssteuerrechts hat mit der ATAD I für die Körperschaftsteuer weiter Fahrt aufgenommen246, wobei die Kompetenzgrundlage für die Richtlinie durchaus fragwürdig erscheint. Die Ausweitung unionsrechtlicher Regelungen im Bereich der direkten Steuern als Rechtsangleichung zur Verwirklichung des Binnenmarktes ­ (Art. 114 AEUV) hat greifbare Folgen für die Rechtsprechungszuständigkeit im Unternehmenssteuerrecht247. Die Europäisierung verlagert Entscheidungskompetenzen

240 Frotscher, Verfassungsrechtliche Fragen zu den Dokumentationspflichten bei Verrechnungspreisen und den Rechtsfolgen ihrer Verletzung, in FS Wassermeyer, 2005, S.  391 (406 f.). 241 Näher Schwenke, Angemessenheitskontrolle bei Leistungsbeziehungen, in DStJG 33 (2010), S. 273 (279 ff., 283). 242 Grundlegend BFH v. 10.4.2013 – I R 45/11, BStBl. II 2013, 771 Rz. 46 ff. 243 Zum Verhältnis Drüen, Verständigungs- und Schiedsverfahren, in FG Wassermeyer, 2015, Nr. 68 Rz. 17 ff. m. w. N. 244 Vertiefend Jü. Lüdicke, Maßgeblichkeit ausländischer Besteuerung für Nichtbesteuerung und Verlustberücksichtigung im Inland, in FS Frotscher, 2013, S. 403 (408 ff.). 245 Dazu Kofler, Entwicklungslinien und Zukunftsfragen des Europäischen Steuerrechts, in FS 100 Jahre BFH, S. 699 ff. 246 Dazu Wacker, Zur praktischen Konkordanz von Grundfreiheiten und EU-Richtlinienrecht auf dem Gebiet der direkten Steuern, in FS 100 Jahre BFH, S. 781 ff. 247 Näher Drüen in Tipke/Kruse, Vor § 42 AO Rz. 41i (Juli 2017); Hey, Harmonisierung der Missbrauchsabwehr durch die Anti-Tax-Avoidance-Directive (ATAD), StuW 2017, 248 (256 ff.).

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auf den Gerichtshof der Europäischen Union248. Die Letztentscheidung des nationalen Falls liegt zwar weiterhin beim nationalen Gericht, aber die verbindliche Auslegung des Unionsrechts beim Gerichtshof der  Europäischen Union. Der Bundes­ finanzhof ist ihm als letztinstanzlich entscheidendes Gericht nach Art.  267 AEUV bei Zweifeln vorlagepflichtig. Deutsche Finanzgerichte können ihre Spitzenposition bei Vorabentscheidungsersuchen249 zukünftig auch in zentralen Feldern der (nicht harmonisierten) Unternehmensbesteuerung ausbauen. Eine weitere Konsequenz ist die gespaltene Rechtsprechungszuständigkeit bei der Auslegung des §  42 AO für Körperschaften und andere Steuerpflichtige. Diese Entwicklung ist durchaus eine Herausforderung für den europäischen Rechtsprechungsverbund. Es ist eine offene Zukunftsfrage, ob dadurch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes zum Unternehmenssteuerrecht einen Bedeutungsverlust erleiden wird. Es bleibt abzuwarten, ob und wann die deutsche Steuerrechtsprechung die Frage ausbrechender Hoheitsakte des Unionsgesetzgebers auf dem Gebiet des Unternehmenssteuerrechts stellt und ob es – diesmal bei den direkten Steuern – zu einer zweiten „Rebellion“ deutscher Finanzgerichte250 zur Verteidigung ihrer künftigen Rechtsprechungsrelevanz kommen wird. Insgesamt verändert die zunehmende Inter- und Supranationalisierung die zukünftigen Wirkungsbedingungen und Themenfelder für die nationale Rechtsprechung zum Unternehmenssteuerrecht.

248 Jü. Lüdicke, Missbrauch und grenzüberschreitende Sachverhalte, in FS 100 Jahre BFH, S. 1053 ff. 249 Dazu Lange, Praxis der Vorabentscheidungsersuchen in der Finanzgerichtsbarkeit, in FS 100 Jahre BFH, S. 865 ff. 250 Zur „Rebellion nationaler Gerichte gegen den Vorranganspruch des EuGH“ bei der Umsatzsteuer mit Analyse der Rechtsprechung des BFH Haltern, Europarecht, Bd. II, 3. Aufl. 2017, Rz. 1112 ff.

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4. Teil Materielles Steuerrecht … B. II. 1.

Bedeutung des Trennungsprinzips bei der Auslegung des KStG Von Christian Dorenkamp

Inhaltsübersicht I. Einleitung – Gegenstand und Gang der Untersuchung II. Körperschaftsteuerliches Trennungsprinzip 1. Wesensgehalt 2. Wesentliche Ausprägungen des ­Trennungsprinzips a) Kein Ergebnistransfer von Gesellschaft zu Gesellschaftern b) Besteuerung stiller Reserven bei Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern c) Fremdvergleichsmaßstab für ­Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern 3. Wesentliche Beschränkungen des Trennungsprinzips a) Anteilseignerbesteuerung: (Pauschale) Berücksichtigung der körperschaftsteuerlichen Vorbelastung bei Dividendenbesteuerung b) Konzernbesteuerung (Organschaft, Umwandlungssteuerrecht) c) Missbrauch steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten – Spezialgesetzliche Ausprägungen, insb. Mantelkauf, Gesellschafterfremdfinanzierung und Hinzurechnungsbesteuerung

III. Begrenzungen des Trennungsprinzips im Lichte steuerlicher Gestaltungen 1. Mantelkauf (§ 8c KStG) a) § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG – Anteilseignerwechsel zwischen 25 % und 50 % b) § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG – Anteils­ eignerwechsel größer 50 % 2. Zinsschranke (§ 4h EStG i.V.m. § 8a KStG) a) Escape-schädliche Gesellschafterfremdfinanzierung, § 8a KStG n.F. b) Unterkapitalisierung mit Anteils­ eignerbezug 3. Hinzurechnungsbesteuerung (§§ 7 ff. AStG) a) „Piercing the Corporate Veil“ b) Cadburry Schweppes IV. Zukunft des Trennungsprinzips 1. Internationale Besteuerung von Unternehmensgruppen 2. Niedrige Belastung thesaurierter Gewinne im Standortwettbewerb – (­Optionale) Besteuerung von Personengesellschaften als Kapitalgesellschaften V. Fazit und Ausblick

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Christian Dorenkamp

I. Einleitung – Gegenstand und Gang der Untersuchung Das körperschaftsteuerliche Trennungsprinzip stellt den Wesensgrundsatz der Besteuerung von Kapitalgesellschaften dar, und zwar nicht nur in der deutschen Steuerrechtsordnung, sondern weltweit. Auch in der abgabenrechtlichen Rechtsprechung der letzten 100 Jahre nimmt der Grundsatz, steuerlich zwischen der Gesellschaft und ihren Gesellschaftern zu trennen, einen wesentlichen Raum ein, insbesondere auch im Hinblick auf Limitierungen dieses Besteuerungsprinzips, begonnen mit der Schaffung des richterrechtlichen Rechtsinstitut der körperschaftsteuerlichen Organschaft durch den Reichsfinanzhof vor rd. 90  Jahren1 und einen vorläufigen Höhepunkt erreichend mit der jüngsten „Paukenschlag“-Entscheidung des BVerfG vom 29.3.20172 zur ex  tunc-Verfassungswidrigkeit der Mantelkaufsvorschrift des §  8c Abs. 1 Satz 1 KStG. Hiernach „überleben“ Verlustvorträge nunmehr zumindest schon einmal einen Anteilseignerwechsel zwischen 25 % und 50 %. Zwei jüngere internationale „Mega-Trends“ sprechen hierbei dafür, dass die Bedeutung des Trennungsprinzips in der Unternehmensbesteuerung eher noch weiter zunehmen wird. Dies gilt zum einen für den sog. Authorized OECD Approach (AOA), nach dem auch rechtlich unselbstständige Betriebsstätten im Verrechnungspreiskontext wie legal separierte Einheiten besteuert werden. Zum anderen geht die Revitalisierung der zwischenstaatlichen Steuersatzwettbewerbs infolge von „Brexit“ und Trump’scher US-Steuerreform3  – in vielen anderen Staaten bereits beobachtbar, in Deutschland womöglich perspektivisch – mit einer immer stärkeren Spreizung4 zwischen unternehmenssteuerlicher Thesaurierungsbelastung und Einkommensteuer einher. Auch Personengesellschaften könnten hiervon unproblematisch profitieren, wenn sie wie Kapitalgesellschaften besteuert würden. Eine Optionsmöglichkeit von Mitunternehmerschaften zur Körperschaftsteuer und damit zum Trennungsprinzip wäre daher de lege ferenda auch in Deutschland naheliegend5. Ein erster Abschnitt der vorliegenden Untersuchung stellt das körperschaftsteuerliche Trennungsprinzip in seinen Grundzügen dar, insbesondere auch einschließlich der wesentlichen Begrenzungen, die die getrennte Besteuerung von Kapitalgesellschaften und ihrer Anteilseigner üblicherweise erfährt. Somit wird nicht nur auf die wesentlichen Bestandteile des Trennungsprinzips wie fehlende Verlustverrechnung 1 Vgl. RFH v. 11.11.1927 – I A 75/27, RStBl. 1928, 52 u. v. 30.1.1930 – I A 226/29, RStBl. 1930, 148 (151) zur Organschaft als Ausprägung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht, auf einer ein weiteres Vierteljahrhundert zurückliegenden Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts aufbauend (v. 31.5.1902 – VI G 38/01, OVGSt X, 391). 2 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BGBl. I 2017, 1289. 3 Im Vereinigten Königreich von Großbritannien sinkt der Körperschaftsteuersatz bis 2020 auf 17 %, die Vereinigten Staaten von Amerika haben den Bundeskörperschaftsteuersatz ab 2018 von 35 % auf 21 % und damit um 40 % reduziert, während der Einkommensteuerspitzensatz nur vergleichsweise geringfügig von 39,6 % auf 37 % und damit um rd. 6,6 % reduziert wurde, jeweils ergänzt um 3–5 % lokale Steuern je nach US-Bundesstaat. 4 Vgl. hierzu z.B. bereits Dorenkamp, StuW 2000, 121 (128 f.). 5 Vgl. jüngst Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW), IDW Positionspapier zum Einstieg in eine rechtsformneutrale Besteuerung („Optionsmodell“), 2017, 5 ff.

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Trennungsprinzip und KStG

zwischen Gesellschaft und Gesellschafter oder Besteuerung stiller Reserven bei einem Wirtschaftsgütertransfer zwischen diesen beiden Ebenen eingegangen, die sich aus dem Vergleich mit dem Transparenzprinzip ergeben. Auch Ausnahmen von dem Grundsatz der gesonderten Besteuerung einer Kapitalgesellschaft und ihrer Anteilseigner wie die (pauschale) Berücksichtigung der körperschaftsteuerlichen Vorbelastung bei der Dividendenbesteuerung oder Elemente einer Konzernbesteuerung im Organschaft- sowie Umwandlungssteuerrecht werden beleuchtet, die ebenfalls regelmäßig Gegenstand finanz- oder sogar bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung sind6. Ein dritter Abschnitt, der den Schwerpunkt dieses Beitrags bildet, widmet sich den Ausnahmen vom Trennungsprinzip, die aufgrund anderenfalls entstehender steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten geboten erscheinen. Zuvörderst ist hier die Mantelkaufsvorschrift des § 8c KStG zu nennen, die einer Abhandlung über die Bedeutung des Trennungsprinzips bei der Auslegung des Körperschaftsteuergesetzs eine besondere Aktualität verleiht. So hat das BVerfG in einem für die gesamte Steuerrechtsordnung wegweisenden Beschluss entschieden, dass der ratierliche Untergang von Verlustvorträgen einer Kapitalgesellschaft bei einem Anteilseignerwechsel zwischen 25 % und 50 % den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, und zwar sogar als Verstoß gegen das Willkürverbot und mit der Rechtsfolge einer voraussichtlichen Unanwendbarkeit bereits ab 2008 als dem Einführungsjahr von § 8c KStG7. Wesentlicher Entscheidungsgrund war der (ungerechtfertigte) Verstoß gegen das Trennungsprinzip, und vieles spricht dafür, dass es der „Schwestervorschrift“ des § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG zum mehrheitlichen Anteilseignerwechsel nicht wesentlich anders ergehen wird, die ebenfalls bereits „in Karlsruhe“ liegt8. Neben dieser Vorschrift, die als Paradebeispiel des steuerpolitischen Ringens um ein sachgerechtes Maß an steuerlicher Trennung zwischen Kapitalgesellschaft und ihren Anteilseignern gilt9, behandelt der Abschnitt zu Ausnahmen vom Trennungsprinzip zwecks Abwehr steuerlicher Gestaltungen auch die Zinsschranke der §§ 4h EStG; 8a KStG sowie die Hinzurechnungsbesteuerung gemäß §§ 7 ff. AStG, die mit ihrem seit rd. 50  Jahren verfolgten „piercing the corporate veil“-Ansatz auch international die älteste Ausnahme vom Trennungsprinzip darstellen dürfte.

6 Vgl. zur 5%igen Fiktion von Dividenden als nichtabzugsfähige Betriebsausgaben gemäß § 8b Abs. 5 KStG z.B. BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 ff. 7 Vgl. BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BGBl. I 2017, 1289. Zur fehlenden rückwirkenden Heilbarkeit vgl. z.B. Dorenkamp, FR 2018, 83 (84 f.); auch Röder, FR 2018, 52 (58) („rückwirkende Anwendung eines neu geschaffenen Mantelkauftatbestands sowohl aus Vertrauensschutzgründen problematisch als auch zur Verhinderung unerwünschter Mantelkaufgestaltungen unnötig“). 8 Vgl. FG Hamburg v. 29.10.2017 – 2 K 245/17, EFG 2017, 1906 (beim BVerfG anhängig unter Az. 2 BvL 19/17). 9 Vgl. z.B. auch die zweibändige Dissertation von Hohmann, Beschränkung des subjektbezogenen Verlusttransfers im Kapitalgesellschaftsteuerrecht, 2017, S. 51.

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Ein vierter Teil des vorliegenden Beitrags adressiert die Perspektiven des Trennungsprinzip als Auslegungsmaßstab im Körperschaftsteuerrecht, die wie eingangs erwähnt durchaus „rosig“ erscheinen, insbesondere aufgrund aktueller internationalsteuerlicher Entwicklungen sowie in Gestalt einer jedenfalls mittelfristig auch in Deutschland eher wahrscheinlichen (optionalen) steuerlichen Behandlung von Personengesellschaften als Kapitalgesellschaften. Beschlossen wird die Untersuchung von einem vierten Abschnitt, der in einem Fazit und Ausblick die Zukunft des Grundsatzes der separaten Besteuerung von Kapitalgesellschaften und ihrer Anteilseigner aufzeigt.

II. Körperschaftsteuerliches Trennungsprinzip 1. Wesensgehalt Wer „Körperschaftsteuer“ und „Trennungsprinzip“ googelt, erhält als erstes Suchergebnis einen Wikepedia-Link mit den folgenden – wie so häufig durchaus zutreffenden – Ausführungen: „Das Trennungsprinzip ist ein Prinzip der Unternehmensbesteuerung in Deutschland, insbesondere bei der Besteuerung von Kapitalgesellschaften. Dabei werden im Gegen­ satz zum Transparenzprinzip, welches bei Einzelunternehmen und Personengesellschaf­ ten Anwendung findet, Gesellschaft und Gesellschafter getrennt besteuert. Getrennt wird zwischen dem Gewinn der Gesellschaft und den Einkünften des Gesellschafters durch Ausschüttungen aus der Gesellschaft (i.d.R. Dividenden)10.“ Steuertechnischer, letztlich aber inhaltsgleich liest sich zum Trennungsprinzip in der Kommentarliteratur zu § 1 KStG, dass durch dessen „subjektive Eingrenzung“ insbesondere auf Kapitalgesellschaften, aber auch andere juristische Personen „die Körperschaft als eigenständiges Steuersubjekt eine Abschirmwirkung im Verhältnis zu ihren Mitgliedern [entfaltet], denen gegenüber sie steuerlich eine getrennte Vermögenssphäre besitzt (sog. Trennungsprinzip)“ mit der Folge, dass die Besteuerung der Mitglieder „mithin bis zur Ausschüttung seitens der Körperschaft hinausgeschoben“ wird11.

10 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Trennungsprinzip_(Steuer). 11 Vgl. Hummel in Gosch (Hrsg.), 3.  Aufl. 2015, §  1 KStG Rz.  1. Ausführlicher zum Trennungsprinzip als Grundlage des Körperschaftsteuersystems ebd. Rz. 20 („gängige Rechtfertigung der eigenständigen KSt. als Ergänzungsteuer zur ESt. der natürlichen Personen“, basierend auf der „organisatorischen (verbands- oder vermögensrechtlichen) Verselbstständigung von Körperschaften: Würde man die KSt. nämlich hinwegdenken, blieben Gewinne, welche seitens der Körperschaftsteuer nicht ausgeschüttet werden, steuerfrei.“).

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Bereits im Jahre 1970 stellte Klaus Tipke zur zugleich leistungsfähigkeitsorientierten12 wie wettbewerbspolitischen13 Begründung des körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzips fest: „Das Körperschaftsteuergesetz zieht die Konsequenz aus der rechtlichen und wirtschaft­ lichen Selbständigkeit der juristischen Personen und sorgt dafür, daß auch deren nicht ausgeschüttete Gewinne steuerlich erfasst werden14.“ Damit fußt die gesamte Rechtfertigung der Körperschaftsteuer als „Einkommensteuer der juristischen Personen“ letztlich auf der auch steuerlichen Separierung zwischen der Sphäre der Körperschaft (mit der Kapitalgesellschaft als deren häufigster Ausprägung) und ihrer Mitglieder (z.B. GmbH-Gesellschafter sowie Aktionäre)15, die eben nicht als „Teilhaber“16 entsprechend des wirtschaftlichen Erfolgs ihres inkorporierten Wirtschaftsmediums unmittelbar steuerlich belastet werden. 2. Wesentliche Ausprägungen des Trennungsprinzips Gemäß § 7 Abs. 1 KStG bemisst sich die Körperschaftsteuer nach dem zu versteuernden Einkommen der Körperschaft. Auch hieraus folgt, dass dieses Einkommen der 12 Grundlegend Tipke, Steuerrechtsordnung, Bd.  2, 2.  Aufl. 2013, S.  1173 („Wenn man mit dem Verfasser unter steuerlicher Leistungsfähigkeit die Fähigkeit versteht, Steuerleistungen aus dem Einkommen oder Gewinn – entsprechend der Höhe des Einkommens oder Gewinns – erbringen zu können, kann nicht zweifelhaft sein, dass Körperschaften steuerlich objektiv leistungsfähig sind.“); vgl. z.B. auch Hey in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf. KSt Rz. 28 („Das so definierte Leistungsfähigkeitsprinzip findet – nach nicht unbestrittener Auffassung – auch auf Unternehmen Anwendung.“) sowie Rz. 4 („Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist Ausfluss des allgemeinen Gleichheitssatzes, der auch das Verhältnis zwischen juristischen Personen ausformt.“); dies. in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 9 Rz. 51. 13 Vgl. z.B. Graffe in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, §  1 KStG Rz.  2 („Grundsatz der Wettbewerbsneutralität“; „Daraus folgt konsequenter Weise, dass die von diesen Gebilden erwirtschafteten Gewinne – zumindest soweit sie wieder im betreffenden Unternehmen eingesetzt werden – gleichermaßen unter Berücksichtigung der persönlichen Leistungsfähigkeit (der Körperschaft) zu besteuern sind, wie die Gewinne mit ihr vergleichbar im Wettbewerb stehender natürlicher Personen.“). 14 Tipke, Steuerrecht und bürgerliches Recht, JuS 1970, 149 (150). 15 Vgl. auch BVerfG v. 24.1.1962  – 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331 (340): „Es gehört zum Wesen juristischer Personen wie der GmbH und der AG, dass diese Kapitalgesellschaften mit ihrer Verselbstständigung gegen ‚Durchgriffe‘ auf Tatbestände im Kreise oder in der Person ihrer Gesellschafter grundsätzlich abgeschirmt sind“. 16 Vgl. zum Gedanken einer „Teilhabersteuer“, bei der sowohl ausgeschüttete als auch thesaurierte Gewinne einer (auch Kapital-)Gesellschaft der Einkommensteuer beim Anteilseigner unterworfen würden, und zwar besteuerungstechnisch im Hinblick auf thesaurierte Gewinne durch eine anrechenbare Kapitalertragsteuer, Engels/Stützel, Teilhabersteuer, 2. Aufl. 1968; die Kapitalgesellschaft nur als Medium der Einkünfteerzielung betrachtend und deshalb die Leistungsfähigkeit den Anteilseignern zurechnend bereits Fuisting/Strutz, Die Preußischen direkten Steuern, Erster Band, 8. Aufl. 1915, § 1 EStG Rz. 5 (zitiert nach Gosch in FS Kirchhof, 2013, S. 1937 [1938 Fn. 3]).

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Körperschaft nicht in die steuerliche Bemessungsgrundlage ihrer Mitglieder, insbesondere also Anteilseigner von Kapitalgesellschaften einfließt. § 8 Abs. 2 Sätze 1 und 2 KStG verfestigen den Grundsatz, wonach die Einkommensermittlung der Körperschaft und ihrer Mitglieder unabhängig, d.h. getrennt voneinander erfolgt. So ist es für die Bestimmung des Einkommens der Körperschaft ohne Bedeutung, ob das Einkommen z.B. im Wege einer Dividendenausschüttung verteilt wird, und auch verdeckte Gewinnausschüttungen mindern das zu versteuernde Einkommen der Körperschaft nicht. Zu den Einkünften aus Kapitalvermögen der Anteilseigner gehören hingegen gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 Sätze 1 und 2 EStG sowohl Dividenden als auch verdeckte Gewinnausschüttungen. a) Kein Ergebnistransfer von Gesellschaft zu Gesellschaftern Spiegelbildlich bleiben auch Verluste der Körperschaft bzw. Kapitalgesellschaft auf der Unternehmensebene nutzbar, z.B. in zukünftige Veranlagungseiträume vortragsfähig, auf der Ebene ihrer Anteilseigner aber steuerlich unberücksichtigt, worin „der wesentliche Unterschied zu einer mitunternehmerischen Beteiligung an einer Personengesellschaft [liegt], bei der das Transparenzprinzip zugrunde liegt und Verluste grundsätzlich mit den übrigen Einkünften der Mitunternehmer verrechnet werden können“17. Dieser Umstand bzw. besser: der hieraus resultierende erhebliche steuerliche Belastungsvorteil ist vermutlich die mit Abstand wesentlichste Ursache für die zutreffende Feststellung von Albert Rädler: „Deutschland ist seit langem ein Land der Personengesellschaften18.“ b) Besteuerung stiller Reserven bei Übertragung von Wirtschaftsgütern ­zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern Auch andere Wesensbestandteile des körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzips lassen sich aus dem Umkehrschluss des Unternehmenssteuerrechts für Personengesellschaften herleiten. So kann Betriebsvermögen, das keine umwandlungssteuerlich privilegierte Sachgesamtheit wie einen Teilbetrieb darstellt, z.B. also ein einzelnes Grundstück oder Betriebsteile, die nicht für sich lebensfähig sind und damit vom strengen steuerlichen Teilbetriebsbegriff ausgegrenzt werden, sowohl zwischen dem Gesellschafter einer Personengesellschaft bzw. umgekehrt und sogar zwischen zwei Personengesellschaftern steuerneutral übertragen werden, obgleich jeweils stille Reserven interpersonal „überspringen“, § 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1–3 EStG. Besteuerungssubstrat wird von einem Mitunternehmer auf einen personenverschieden anderen übertragen, ohne dass dieser Transfer besteuert wird – eine undenkbare Rechtsfolge im System der Besteuerung von Kapitalgesellschaften, die eben dem Trennungsprinzip folgt. Ähnlich verhält es sich mit dem allein der Personengesellschaftsbesteuerung vorbehaltenen Modell einer sog. „Treuhand KG“, bei der ein Mini-Kommanditanteil treuhänderisch für eine vermögensmäßig vollumfänglich beteiligte Komplemen17 Desens in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf. KSt Rz. 90. 18 Rädler in FS Raupach, 2006, S. 97 (98).

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tär-GmbH gehalten wird, um trotz rechtlicher Separierung der KG ertragsteuerlich ein „Einheitsunternehmen“ zu begründen19. c) Fremdvergleichsmaßstab für Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern Schließlich stellen die Einkommenskorrekturinstitute verdeckte Gewinnausschüttung (vGA) und verdeckte Einlage eine wesentliche Ausprägung des Trennungsprinzips dar. Zwar könnte man auf den ersten Blick denken, dass dies gerade nicht der Fall sei, korrigiert z.B. die vGA doch nach Fremdvergleichsgrundsätzen das unangemessen hohe Geschäftsführergehalt, das zwischen einer GmbH und ihrem Gesellschaftergeschäftsführer zivilrechtlich wirksam vereinbart wurde und damit gemäß Trennungsprinzip  – keine Vermischung der steuerlichen Sphären von Gesellschaft und Gesellschafter – steuerlich vordergründig ebenso anzuerkennen wäre wie dies hinsichtlich von Gehaltsvereinbarungen mit Nicht-Gesellschaftern selbstverständlich geschieht. Tatsächlich stellt die Einkommenskorrektur nach vGA-Grundsätzen die Gleichbehandlung zwischen dem externen und dem Gesellschaftergeschäftsführer und damit das Trennungsprinzip aber erst her, nämlich indem der wirtschaftlich unangemessene – und damit im Gesellschafts- statt Angestelltenverhältnis begründete, weil von einem ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiter gegenüber einem Dritten unter sonst gleichen Umständen regelmäßig nicht akzeptierte20  – Teil des Gehalts diesem Gesellschaftsverhältnis (im Wege der außerbilanziellen Hinzurechnung) auch zugeordnet und von der Körperschaft als Gewinn besteuert wird, um beim Gesellschafter folgerichtig Einkünfte aus Kapitalvermögen statt nichtselbstständiger Arbeit zu begründen. 3. Wesentliche Beschränkungen des Trennungsprinzips a) Anteilseignerbesteuerung: (Pauschale) Berücksichtigung der körperschaftsteuerlichen Vorbelastung bei Dividendenbesteuerung Die wohl wesentlichste Limitierung erfährt das Trennungsprinzip durch die – u.U. pauschale  – Berücksichtigung der körperschaftsteuerlichen Vorbelastung von Gewinnen, die an Gesellschafter ausgeschüttet werden. Allein das auch global kaum noch anzutreffende sog. „klassische System“ besteuert Dividenden ebenso wie andere Einkunftsarten und negiert damit vollumfänglich – und aus Leistungsfähigkeitsperspektive kaum vertretbar – den Umstand, dass ausgeschüttete Gewinne einer Kapitalgesellschaft lediglich das sind, was nach einer Besteuerung der Körperschaft, d.h.

19 Vgl. z.B. Prinz, FR 2010, 736 (737). 20 Vgl. zu den Voraussetzungen der vGA m.zahlr.w.N. Desens in Herrmann/Heuer/Raupach, Einf. KSt Rz. 97.

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­einem „first level of tax“ verblieben ist (wirtschaftliche Doppelbelastung von Dividenden mit zweitem Steuerzugriff)21. Sog. Shareholder Relief-Systeme, zu denen auch das deutsche Halb- bzw. nunmehr Teileinkünfteverfahren zählt, welches 50  % bzw. 40  % der Dividendeneinnahmen von der Einkommensbesteuerung natürlicher Personen freistellt (§ 3 Nr. 40 EStG), tragen der Erhebung von Körperschaftsteuer dahingehend Rechnung, dass die Summe aus unternehmenssteuerlicher Vorbelastung (z.B. 25 %) und Nachbelastung via Dividendenbesteuerung (z.B. 25 % von 75 Gewinnausschüttung nach Körperschaftsteuer = 15 % von 100 Kapitalgesellschaftsgewinn vor Körperschaftsteuer) zumindest ungefähr der einkommensteuerlichen Regelbelastung von z.B. 40 % entspricht. Das Trennungsprinzip wird hierdurch durchbrochen, Kapitalgesellschaftsgewinne und z.B. Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit aber gleichmäßig belastet. Letztlich mutiert die Körperschaftsteuer im Hinblick auf ausgeschüttete Gewinne zu einer anrechenbaren Vorauszahlung auf die Einkommensteuer des Gesellschafters, wenn auch lediglich in typisierter Form – Dividenden sind aus steuersystematischer Sicht nicht etwa steuerfrei oder werden niedriger besteuert, sondern unterliegen der Regelbelastung, auf die die unternehmenssteuerliche Vorbelastung im Sinne einer Gleichbehandlung aller Einkünfte (und Rechtsformen) pauschal „anrechenbar“ ist, d.h. entlastend berücksichtigt wird. Wo es einer Nachbelastung nicht bedarf, weil jedenfalls bei pauschaler Betrachtung kein nennenswerter Unterschied zwischen dem Besteuerungsniveau des Dividendenempfängers und der gewinnausschüttenden Legaleinheit besteht, erfolgt in Share­ holder Relief-Systemen auch keine Nachversteuerung, insbesondere also bei Divi­ denden, die von gleichermaßen der Körperschaftsteuer unterliegenden Tochter- zu Mutterkapitalgesellschaften ausgeschüttet werden. Gemäß § 8b Abs. 1 KStG bleiben Dividenden bei der Besteuerung außer Ansatz. Allerdings unterliegen (nur?) 5 % der vereinnahmten Dividenden oder erzielten Gewinne aus der Veräußerung von Kapitalgesellschaftsanteilen als fiktive nicht abzugsfähige Betriebsausgaben im Ergebnis doch der Körperschaftsteuer, §  8b Absätze  3 und 5 KStG. Insbesondere wohl weil die durch diesen „Pauschalierungseffekt hervorgerufene Belastung schließlich als eher geringfügig einzustufen“ sei bzw. eine „verhältnismäßig geringe Steuerlast“ nach sich ziehe und „folglich die mit der Pauschalierung und Typisierung durch die vorgelegten Bestimmungen verbundene Ungleichbehandlung regelmäßig nicht sehr intensiv“ sei bzw. „sich bei der Mehrzahl der Körperschaften  […] im Ergebnis als vorteilhaft erweisen“ werde, hält sich der Gesetzgeber hierbei ausweislich des Beschlusses des Ersten Senats des BVerfG vom 12. Oktober 2010 im Rahmen der verfassungsrechtlich rechtfertigenden Grundsätze der Typisierung bei der gleichmäßigen Austeilung der Steuerlasten22. Verkannt wird insoweit allerdings – ebenso wie von Art. 4 Abs. 2 Satz 2 der Mutter-Tochter-Richtli21 Vgl. zu unterschiedlichen Methoden der Vermeidung einer wirtschaftlichen Doppelbe­ lastung von Kapitalgesellschaftsgewinnen z.B. Hey, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22.  Aufl. 2015, § 11 Rz. 6 ff. 22 BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 (251).

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nie23, dem auch die deutsche „Schachtelstrafe“ letztlich folgt und der die „mit der Beteiligung zusammenhängenden Verwaltungskosten“ steuerlich auf eben jene 5 % limitiert  – der steuersystematische Hintergrund von Shareholder Relief-Systemen, wonach das Außer-Ansatz-Lassen von Dividenden gerade nicht mit deren (vermeintlicher) Steuerfreiheit in einem § 3c EStG-Sinne einhergeht, sondern eine pauschale Entlastung vollumfänglich (körperschaftsteuerlich) vorbelasteter Gewinne darstellt. Dies verdeutlicht folgende Kontrollüberlegung: Im körperschaftsteuerlichen Vollanrechnungsverfahren waren Dividendeneinkünfte zwar auch bei Kapitalgesellschaften voll steuerpflichtig. Wegen der vollumfänglichen Anrechnung der auf diesen Dividenden lastenden Ausschüttungsbelastung entstand beim Dividendenempfänger typischerweise aber keine Steuerschuld. Dennoch erscheint der volle Betriebsausgabenabzug selbstverständlich, auch wenn ebenfalls kein Euro „Residualsteuer“ beim Dividendenempfänger entstanden ist. Systematisch vergleichbar hiermit ist die sogar 10 %- statt 1,5-%ige Schachtelstrafe des § 8b Abs. 4 KStG. Hiernach unterliegen Gewinnausschüttungen von sog. Portfolio-Beteiligungen bis 10 % einer vollen Besteuerung beim Kapitalgesellschaftsanteilseigner, obgleich die zugrunde liegenden Reinvermögensmehrungen nicht etwa „steuerfrei“ waren, sondern typischerweise zur Gänze der Körperschaftsteuer (und Gewerbesteuer) bei der ausschüttenden Kapitalgesellschaft unterlegen haben24. Mit dem Trennungsprinzip lässt sich eine derartige wirtschaftliche Doppelbelastung jedenfalls nicht rechtfertigen, stellt die Berücksichtigung der körperschaftsteuerlichen Vorbelastung bei der Dividendenbesteuerung doch gerade eine aus Leistungsfähigkeitssicht zwingende Ausnahme vom Grundsatz der separaten Besteuerung von Kapitalgesellschaft und Anteilseigner dar, die der Gesetzgeber im Übrigen durch das Teileinkünfteverfahren bzw. die Steuerbefreiung des § 8b Abs. 1 KStG auch systemgerecht und folgerichtig umgesetzt hat. b) Konzernbesteuerung (Organschaft, Umwandlungssteuerrecht) Eine weitere Durchbrechung des körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzips geht mit den – wenn auch in Deutschland vergleichsweise gering ausgeprägten – Elementen der Unternehmensbesteuerung einher, die der wirtschaftlichen Einheit von Unternehmensgruppen Rechnung zu tragen suchen (Konzernbesteuerung). Zwar findet sich in der deutschen Steuerrechtsordnung grundsätzlich das Prinzip der Individualbesteuerung sowohl natürlicher als auch juristischer Personen verwirklicht. Gewisse Ausnahmen hiervon, die die Besteuerungswirklichkeit größerer und mittlerer Unternehmen nicht unmaßgeblich prägen, sind aber bei der Ergebniszurechnung und Reorganisationsmaßnahmen innerhalb verbundener Unternehmen vorgesehen. Bei der körperschaftsteuerlichen Organschaft wird unter bestimmten Voraussetzungen, die in Konzernsachverhalten in der Regel gegeben oder herstellbar sind (insbe23 90/435/EWG v. 23.8.1990. 24 Krit. z.B. Weiss, Ubg 2017, 671 (676). Keinen Gleichheitssatzverstoß erkennend FG Hamburg v. 6.4.207 – 1 K 87/15, EFG 2018, 1117 (Revision beim BFH anhängig unter Az. I R 29/17).

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sondere mehrheitliche Anteilseignerschaft sowie Ergebnisabführungsvertrag), das Einkommen der nachgeordneten Kapitalgesellschaft dem Einkommen ihrer Muttergesellschaft zugerechnet, §§  14  ff. KStG. Zwar kommt es hierbei nicht formal bzw. rechtstechnisch zu einer Durchbrechung des Trennungsprinzips, wird das Einkommen der Tochtergesellschaft doch separat ermittelt (und inzwischen auch einheitlich und gesondert festgestellt, §  14 Abs.  5 KStG). Der im Rahmen einer körperschaftsteuerlichen (und gewerbesteuerlichen) Organschaft erfolgende Gewinn- und Verlusttransfer (von der Tochter- zur Muttergesellschaft) hebt aber die wohl wesentlichste Ausprägung des Trennungsprinzips  – keine Verrechnung von Gewinnen und Verlusten über die Gesellschaftsgrenzen hinweg  – faktisch auf, weshalb Dietmar Gosch die Organschaft auch als „einschlägiges Beispiel für Transparenzen in der Intransparenz“ anführt, um „einerseits Überbesteuerungen, andererseits ungerechtfertigte Minderbesteuerungen zu vermeiden“25. Ähnlich verhält es sich mit den Spaltungs- und Einbringungsvorschriften des Umwandlungssteuerrechts, §§ 11 ff. und 20 ff. UmwStG. So können steuerliche Sachgesamtheiten, die die steuerlichen Teilbetriebsvoraussetzungen erfüllen, innerhalb verbundener Unternehmen entgegen dem Grundsatz der Individualbesteuerung jeder Legaleinheit steuerneutral transferiert werden (Gewährung eines Besteuerungsaufschubs). Gerade die Begleitvorschriften dieser umwandlungssteuerlich privilegierten Rechtsträgerwechsel ohne umgehende Besteuerung der stillen Reserven verdeutlichen hierbei den eigentlichen Hintergrund der Konzernbesteuerungsausnahmen vom kör­ perschaftsteuerlichen Trennungsprinzip. Solange man innerhalb des Subsystems Kapitalgesellschaft verbleibt (körperschaftsteuerliche Organschaft – wohl lediglich in Deutschland ist die Gruppenbesteuerung nicht auf Kapitalgesellschaften beschränkt, d.h. Kapitalgesellschaftsgewinne können steuerlich an natürliche Personen transferiert werden) oder keine steuerliche Statusverbesserung nutzt (zu 95  % steuerfreie Veräußerung von Betriebsvermögen, das zuvor in eine separate Kapitalgesellschaft übertragen wurde, § 8b Abs. 2 KStG), „sticht“ der Konzernbesteuerungsaspekt das Trennungsprinzip, um einem „Einmauerungseffekt“ der Besteuerung entgegen zu wirken, und zwar sowohl wirtschaftspolitisch als auch markteinkommenstheoretisch gut begründet26 (Steuerneutralität trotz Rechtsträgerwechsel: lediglich Fortführung der Unternehmenstätigkeit „in anderem Rechtskleid“ sowie möglichst kein Zwang zum betriebswirtschaftlich wohl ineffizienten „Einheitsunternehmen“). Wird aber z.B. nach drei Jahren ein vormaliger Teilbetrieb im nunmehrigen Rechtskleid einer Kapitalgesellschaft veräußert, werden die bei der Ausgliederung oder Abspaltung 25 Gosch in FS Kirchhof, 2013, S.  1937 (1947). Ob dieser Gleichmäßigkeitsbefund „Konsequenz aus der zivilrechtlich verabredeten Ergebnisabführung“ ist oder eher der Sachgerechtigkeit einer Konzernbesteuerung aufgrund des Gedankens der wirtschaftlichen Einheit Rechnung trägt, sei dahingestellt, insbesondere in Anbetracht des wachsenden Ausmaßes von Abweichungen zwischen zivilrechtlicher Ergebnisabführung und steuerlicher Einkommenszurechnung infolge der zunehmenden „Durchlöcherung“ der Maßgeblichkeitsprinzips. 26 Vgl. z.B. Rödder in Rödder/Herlinghaus/v. Lishaut, 2. Aufl. 2013, Einf. UmwStG Rz. 3.

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übertragenen stillen Reserven rückwirkend besteuert (vorstehend entweder zu vier Siebteln, § 22 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 UmwStG, oder vollumfänglich, § 15 Abs. 2 Satz 4 UmwStG). c) Missbrauch steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten – Spezialgesetzliche Ausprägungen, insb. Mantelkauf, Gesellschafterfremdfinanzierung und Hinzurechnungsbesteuerung Die gewisse „Künstlichkeit“ des körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzips, die durch die Inkongruenz von rein legaleinheitsbezogener Besteuerung und wirtschaftlicher Einheit verbundener Unternehmen in Gestalt von mitunter zahlreichen Kapitalgesellschaften einer Unternehmensgruppe hervorgerufen wird, fordert die Steuerpflichtigen naturgemäß heraus, hieraus ergebende Gestaltungsmöglichkeiten zur Reduzierung steuerlicher Lasten zu nutzen. In diesem Bereich entfaltet das Trennungsprinzip das größte Gewicht bei der Auslegung der entsprechenden körperschaftsteuerlichen Bestimmungen. So hängt die Enge oder Weite des Anwendungsbereichs sowohl allgemeiner als auch spezialgesetzlicher Vorschriften zur Missbrauchsvermeidung nicht zuletzt von Wertungen des Rechtsanwenders ab, die wiederum aus Grundsätzen wie dem körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzip abzuleiten sind. Deshalb bilden die Limitierungen des Trennungsprinzips, die der Adressierung steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten dienen, den Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung und werden in einem eigenständigen nachfolgenden Abschnitt behandelt.

III. Begrenzungen des Trennungsprinzips im Lichte steuerlicher ­Gestaltungen Vorangestellt sei die Feststellung des ehemaligen Vorsitzenden des I. BFH-Senats Dietmar Gosch, wonach „im Grundsatz der BFH das ‚auf Dauer angelegte‘ Engagement ‚über‘ eine Kapitalgesellschaft“ anerkenne, üblicherweise also nicht „die Körperschaft in ihrer Existenz ‚hinweggedacht‘ wird, um die Zurechnung bestimmter Einkünfte unmittelbar beim Gesellschafter zu ermöglichen“27. Diese eher restriktive Auslegungspraxis des BFH, gepaart mit den infolge des fehlenden Interessengegensatzes hohen Gestaltungsmöglichkeiten, die mit einer durch und durch konsequenten Umsetzung des körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzips einhergehen, hat den Gesetzgeber zu zahlreichen Abwehrmaßnahmen veranlasst bzw. wohl besser: gezwungen, von denen einige gut und andere weniger gut gelungen sind. Von ganz besonderer steuersystematischer und auch besteuerungspraktischer Bedeutung ist hier §  8c KStG als Mantelkaufvorschrift der Unternehmenssteuerreform 2008, deren Satz 1 vom BVerfG bereits als Verstoß gegen das gleichheitsrechtliche Willkürverbot beanstandet wurde und deren zweite Tatbestandsvariante, nämlich der Untergang von Verlustvorträgen bei einem mehrheitlichen Anteilseignerwechsel, nunmehr 27 Gosch in FS Kirchhof, 2013, S. 1937 (1948) („Es bleibt aber dabei: Das stellt eine Ausnahme dar.“).

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ebenfalls verfassungsgerichtlich überprüft wird, erneut wegen einer Richtervorlage des FG Hamburg28. 1. Mantelkauf (§ 8c KStG) Anders als natürliche Personen sind juristische Personen zunächst einmal unsterblich – es sei denn, sie werden „liquidiert“, was aber letztlich vom Willen ihrer Ge­ sellschafter abhängt. Insbesondere bedeutet ein wirtschaftlicher Misserfolg, der gemeinhin mit hohen steuerlichen Verlustvorträgen einhergeht, nicht zwingend das „Ableben“ einer Kapitalgesellschaft. Vielmehr kann der Eigentümer den „Verlustmantel“ nutzen, um die Gesellschaft mit neuen Einkunftsquellen auszustatten. Oder der Gesellschafter verkauft – z.B. in Ermangelung eigener nennenswerter Einkunftsquellen – die Kapitalgesellschaftsanteile an jemanden, der über gewinnträchtiges Geschäft verfügt. Ist dieser profitable Betrieb erst in die Verlustgesellschaft steuerlich integriert (z.B. durch eine Teilbetriebsausgliederung oder ein „Einhängen“ einer Gewinnbeteiligung mit Abschluss eines Ergebnisabführungsvertrags zur Verlustmantelund neuen Mutterkapitalgesellschaft), können die Verlustvorträge steuermindernd eingesetzt werden, die zuvor infolge fehlender „tax capacity“ der Verlustgesellschaft nicht nutzbar waren, obgleich diese nun „wirtschaftlich“ eine andere ist. Die Rechtsprechung hatte hierin keinen Missbrauch steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten erkennen können  – entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung sah sich der BFH außerstande, § 42 AO zu aktivieren, um unter Negierung des körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzips den Verlustabzug wegen des Zusammenspiels eines Anteilkaufvertrags mit der Einbringung neuer Einkunftsquellen zu verwehren29. Daraufhin sah sich der Steuergesetzgeber – wohl nachvollziehbarerweise – veranlasst, im Jahre 1990 mit § 8 Abs. 4 KStG a.F. die Vorgängervorschrift des § 8c KStG zu implementieren, die neben einem mehrheitlichen Anteilseignerwechsel („change of control“) zusätzlich auf das qualitative Merkmal der (Nicht-)Zuführung überwiegend neuen Betriebsvermögens abstellte. Dass diese in einer rückblickenden Gesamtschau doch eher maßvolle Mantelkaufbestimmung mit der Unternehmenssteuerreform 2008 durch die „Verlustvernichtungsvorschrift“30 des § 8c Abs. 1 Sätze 1 und 2 KStG mit deren ausschließlichem Anteilseignerbezug ersetzt wurde, mag auch durch die im Übrigen eher enge Auslegung der Vorgängervorschrift durch den BFH begründet gewesen sein, insbesondere im Hin-

28 Vgl. FG Hamburg v. 29.8.2017 – 2 K 245, 17, EFG 2017, 1906 (Az. BVerfG 2 BvL 19/17). 29 Vgl. BFH v. 29.10.1986  – I R 202/82 u. I R 318-319/83, BStBl.  II 1987, 308 u. 310; ursprünglich hatte der BFH eher im Sinne einer wirtschaftlichen Identität statt rein rechtlichen Identität judiziert, vgl. z.B. BFH v. 15.2.1966 – I 112/63, BStBl. III 1966, 289, diese Rechtsprechung dann aber Mitte der 80er Jahre aufgegeben, so dass bis zum Steuerreformgesetz 1990 vier Jahre dem Vernehmen nach ein regelrechter Handel mit Verlustmantelgesellschaften zu beobachten war, die z.B. in Zeitungsanzeigen angeboten wurden. 30 FG Hamburg v. 4.4.2011 – 2 K 33/10, DStR 2011, 1172 („teloslose und mechanisch wirkende Verlustvernichtungsvorschrift“).

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blick auf die Tatbestandsmäßigkeit allein unmittelbarer Anteilseignerwechsel31, aufgrund derer die Gestaltungspraxis die Vorgängervorschrift von §  8c KStG durch schlichte „Einziehung“ ebenfalls zu übertragender Zwischenholdings faktisch leerlaufen lassen konnte32. a) § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG – Anteilseignerwechsel zwischen 25 % und 50 % Das BVerfG attestiert dem Unternehmenssteuerreformgesetzgeber 2008, bei der Verabschiedung des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG „willkürlich“ gehandelt zu haben, nämlich nicht nur „unter mehreren Lösungen nicht die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste gewählt“, sondern eine „evident“ unsachliche Differenzierung vorgenommen zu haben, für die sich „ein sachgerechter Grund nicht finden“ lasse33. So erkenne der Gesetzgeber Körperschaften eine „eigenständige und objektive Leistungsfähigkeit zu, die von der individuellen und subjektiven Leistungsfähigkeit der hinter der Kapitalgesellschaft stehenden Personen getrennt ist und unabhängig von dieser besteuert wird“, und folge damit einer „formellen Betrachtungsweise, die die rechtliche Selbstständigkeit der Kapitalgesellschaft gegenüber den dahinter stehenden Personen betont und in den Vordergrund rückt (Trennungsprinzip)“34, behandle diese Kapitalgesellschaften mit §  8c KStG aber steuerlich unterschiedlich allein in Abhängigkeit von Veränderungen im Gesellschafterbestand, ohne dass ein rechtfertigender bzw. schon „sachlich einleuchtender“35 Grund für diese Ungleichbehandlung ersichtlich sei. Insbesondere fehle es bei einem schlichten 25,1–50,0%-Erwerb (ohne jedwede wirtschaftliche Veränderungen bei der Verlustvortragsgesellschaft) an einer auch für generalisierende Regelungen erforderlichen realitätsgerechten Orientierung am „typischen Missbrauchsfall ‚Mantelkauf ‘“, bei dem eine „Kapitalgesellschaft, die zwar noch über Verlustvorträge verfügt, aber mangels Geschäftsbetriebs und nennenswerten Vermögens sonst nur einen leeren Mantel darstellt, von einem Investor mit einer neuen, gewinnträchtigen Aktivität gefüllt wird, um die Verluste steuerlich nutzbar zu machen“36. Hinzu komme, dass auch die „wirtschaftliche Identität“ einer Kapitalgesellschaft, auf die es im Rahmen einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise (als „systematisch-teleologischer Gesetzesinterpretation“37 steuerlicher Bestimmun31 Vgl. BFH v. 20.8.2003 – I R 81/02 u. R 61/01, BStBl. II 2004, 614 u. 616. 32 Eine Überreaktion des Gesetzgebers stellte hingegen die – mit der Konzernklausel des § 8c Abs. 1 Satz 5 KStG durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz 2009 etwas korrigierte – Schädlichkeit von unmittelbaren Anteilseignerwechseln dar, soweit die mittelbare Anteilseignerschaft unverändert geblieben ist, vgl. kritisch z.B. wohl auch Gosch in FS Kirchhof, 2013, 1937 (1942) (soweit ebenfalls auf den „ultimate parent“ abstellend: „Weswegen sollte sich die ‚Identität‘ einer juristischen Person ändern, nur weil sich durch ‚Umhängen‘ der Beteiligung auf einer dritten oder vierten oder gar noch höheren Beteiligungsebene die personalen Verhältnisse ändern?“). 33 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11 Rz. 101. 34 (Fn. 32), Rz. 110 f. 35 (Fn. 32), Rz. 121. 36 (Fn. 32), Rz. 128. 37 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 5 Rz. 70.

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gen) ankomme, „nicht allein durch die Personen der Anteilseigner, sondern jedenfalls auch, wenn nicht sogar nur durch den Unternehmensgegenstand und das Betriebsvermögen geprägt“38 sei. Aus diesen doch sehr deutlichen Ausführungen des BVerfG, denen erstmals in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechungshistorie hinsichtlich einer Steuervorschrift eine Unvereinbarkeitsfeststellung mit Wirkung für die Vergangenheit folgte39, lässt sich schließen, dass allein wirklich zielgenaue Missbrauchsbekämpfungtatbestände eine Abweichung vom körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzip rechtfertigen können. Steuerpolitisch werden der Gesetzgeber und sein Berater, die Ministerialbürokratie, sich zukünftig noch mehr als bislang jeweils fragen müssen, ob die regelmäßig generalisierenden Regelungen den typischen Missbrauchsfall auch wirklich realitätsgerecht abbilden, gerade  – denn hierzu ist die 2017er BVerfG-Entscheidung zu §  8c  Satz  1 KStG nun einmal ergangen  – wenn das für die Körperschaftsteuer so grundlegende Trennungsprinzip betroffen ist. b) § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG – Anteilseignerwechsel größer 50 % Vor diesem Hintergrund dürfte vieles dafür sprechen, dass das BVerfG auch in einem Verlustvortragsuntergang bei einem allein mehrheitlichen Anteilseignerwechsel (ohne Änderung der konkreten Geschäftstätigkeit der übernommenen Gesellschaft) eine Gleichheitssatzverletzung erkennt40. Zwar besteht bei einer Mehrheitsbeteiligung zumindest die Möglichkeit, die Geschicke der Gesellschaft zu dominieren und damit potentiell auch deren wirtschaftliche Identität zu ändern. Ob eine Kapitalgesellschaft, so das BVerfG, unter anderer Herrschaft aber „wirtschaftlich als ‚eine andere‘ erscheint, kann erst anhand der Maßnahmen beurteilt werden, die die Anteilseigner (mehrheitlich) treffen“41. Im Lichte dieser Beschlussgründe des BVerfG, die gerade nicht auf Optionalitäten abstellen, die durch mehrheitlichen Eigentümerwechsel geschaffen werden mögen, sondern auf tatsächliche Veränderungen in der Kapitalgesellschaft, erscheint es fiskalisch einigermaßen risikobehaftet, nicht auch unverzüglich § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG „proaktiv“ in Richtung wirtschaftlicher Identität zu adjustieren42. So steht hier ebenfalls zu vermuten, dass das Trennungsprinzip Pate eines systemgerechteren Unternehmenssteuerrechts wird, sei es infolge einer zweiten BVerfG-Entscheidung zu § 8c KStG in einigen Monaten bzw. Jahren oder aufgrund vorheriger Einsicht eines gut beratenen Steuergesetzgebers.

38 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11 Rz. 133. 39 Vgl. BVerfG v. 29.3.2017  – 2 BvL 6/11 Rz.  162 (Verpflichtung des Gesetzgebers, Verfassungsverstoß „rückwirkend zu beseitigen“, anderenfalls tritt „festgestellte Unvereinbarkeit rückwirkend ein“). 40 So z.B. Ernst/Roth, Ubg 2017, 366 (377). 41 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11 Rz. 140. 42 Vgl. warnend vor „verfassungsrechtlichem Grenzverhalten“ trotz rückwirkender Nichtigkeitsfeststellung im § 8c KStG-Kontext z.B. Dorenkamp, FR 2018, 83 (85).

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2. Zinsschranke (§ 4h EStG i.V.m. § 8a KStG) Die Zinsschranke des § 4h EStG ist ebenso wie ihre „Schwestervorschrift“ § 8c KStG Nachfolgeregelung zu einer Bestimmung, die infolge einer Steuerpflichtigen-freundlichen Rechtsprechung des BFH zum Trennungsprinzip entstanden ist, nämlich § 8a KStG a.F. Nachdem der BFH unter Hinweis auf den Grundsatz der Finanzierungsfreiheit, der letztlich aus dem körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzip folgt – ein Gesellschafter soll infolge der separaten, d.h. voneinander unabhängigen Besteuerungsebenen von Gesellschaft und Anteilseigner frei sein, seine Beteiligung nach Belieben mit Eigen- oder Fremdkapital auszustatten –, einen Missbrauch steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten auch bei übermäßiger Minderung der inländischen Bemessungsgrundlage durch Gesellschafterfremdfinanzierung aus dem Ausland abgelehnt hatte43, zog der Steuergesetzgeber 1994 mit §  8a KStG  a.F. insoweit gewisse ­Begrenzungen der betriebsausgabenabzugsfähigen Zinsen auf Gesellschafterfremdkapital ein. Um eine „Gewinnabsaugung über die Grenze“ durch ein schlichtes „Bedrucken von Papier“ (paper shuffling) zu verhindern, durfte das steuerabzugsfähige Gesellschafterfremdkapital das Anderthalbfache des Eigenkapitals nicht länger überschreiten, und zwar aus steuerpolitischer Sicht nachvollziehbarerweise: So sind Fremd- und Eigenkapital aus Konzernsicht in vielen Fällen zumindest in Teilbereichen beliebig austauschbar (z.B. gesellschafterfremdfinanzierte Dividenden als „linke Tasche, rechte Tasche“ aus Konzernsicht) weshalb sich Instrumente wie „debt push down“-Gestaltungen mit der Folge einer „thin capitalization“ hoch besteuerter Auslandstöchtern zur Steuerminimierung anbieten, jedenfalls in einer Welt mit nennenswerten Zinssätzen. Vordergründig weist die Nachfolgevorschrift des § 4h EStG nicht länger einen Bezug zum körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzip auf, gilt die 30%ige EBITDA-Begrenzung des steuerlichen Zinsabzugs doch unabhängig davon, ob die Finanzierung aus Gesellschafterhand oder der eines fremden Dritten stammt. Allerdings ist das Gesellschaftsverhältnis und damit das Trennungsprinzip auch beim Zinsabzug bei näherer Betrachtung weiterhin von Relevanz, und zwar zum einen direkt – und insoweit auch bereits in der Rechtsprechung des BFH aufgegriffen, nämlich bei der Begrenzung der sog. stand alone- und Eigenkapital-Escape von § 4h Abs. 2 Buchst. b) und c) EStG auf Fälle, in denen die Gesellschafterzinsen unter einer de minimis-Grenze von 10 % liegen (vgl. folgenden Abschnitt), und zum anderen indirekt, indem die Zinsschranke im Wesentlichen internationale Unternehmensgruppen tangiert. a) Escape-schädliche Gesellschafterfremdfinanzierung, § 8a KStG n.F. Mit seinem Beschluss vom 14. Oktober 201544 holt der I. BFH-Senat die Entscheidung des BVerfG zur Frage der Vereinbarkeit der Zinsschranke gemäß § 4h EStG i. Vm. § 8a KStG mit dem allgemeinen Gleichheitssatz von Art. 3 Abs. 1 GG ein.

43 Vgl. BFH v. 5.5.1990 – I R 127/90, BStBl. II 1992, 532. 44 BFH v. 14.10.2015 – I R 20/15, BStBl. II 2017, 1240 (Az. BVerfG 2 BvL 1/16).

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Hier soll nun nicht der Frage nachgegangen werden, ob sich der Bundesfinanzminister über die aktive Mitwirkung im EU-Rat bei der Verabschiedung der sog. ATAD-I-­ Richtlinie45 „zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts“ des Prüfungsmaßstabs von Art. 3 Abs. 1 GG „entledigt“, der Richtervorlage des BFH also sozusagen den „Boden unter den Füßen weggezogen“ hat (weil die 30%ige EBITDA-Begrenzung des Zinsabzugs nun EU-Sekundärrecht und nach einer Übergangsfrist bis 2024 verpflichtend in das mitgliedstaatliche Steuerrecht umzusetzen ist und damit zumindest dann allein dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsschutz des Art.  20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unterliegen könnte46, wenn der EU-Richtliniengeber innerhalb seiner Kompetenzen gehandelt hätte, was einen hier wohl nicht unmittelbar auf der Hand liegenden direkten Binnenmarktbezug eines Mindeststandards zum steuerlichen Zinsabzug voraussetzt, und sei es nur, weil das BVerfG sich mit einem „Altfall“ der Veranlagungszeiträume 2008 und 2009 zu beschäftigen hat, d.h. der Gleichheitssatzkonformität einer Anwendung der Zinsschranke vor Inkrafttreten des hier u.U. vorrangigen (soweit kompetenzgemäß erlassenen) Akt sekundären Gemeinschaftsrechts. Jedenfalls moniert der BFH aber als gleichheitsrelevanten Widerspruch zum Trennungsprinzip, dass ein gewisses – mit 10 % zugegebenermaßen vergleichsweise geringfügiges und wohl praxistauglicher ausgestaltbares  – Maß an Gesellschafterfremdfinanzierung „ohne Gegenbeweismöglichkeit als Missbrauch typisiert“47 wird. Hierdurch entferne sich die vom I. BFH-Senat dem BVerfG vorgelegte Regelung in den Worten von Dietmar Gosch als damaligem Vorsitzenden des erkennenden Senats „von der ‚Grundidee‘ des Trennungsprinzips in nicht mehr hinnehmbaren Maße“48. b) Unterkapitalisierung mit Anteilseignerbezug Während sich gegen die Gleichheitssatzkonformität der Zinsschranke zahlreiche gute Gründe anführen lassen dürften, insbesondere – so auch der I. BFH-Senat in seinem Vorlagebeschluss – die fehlende realitätsgerechte Orientierung am typischen Einzel(missbrauchs)fall, der eine verfassungsgemäße Missbrauchstypisierung bedarf (z.B. keine Beschränkung auf eine grenzüberschreitende Finanzierung, die allein zu Steuerminderungseffekten führen kann), sowie die wenig zielgenaue Ausgestaltung von §§ 4h EStG i.V.m. 8a KStG (Betroffenheit junger oder kapitalintensiver Unternehmen mit einem folglich hohen Finanzierungsbedarf), zählt ein Verstoß gegen das Trennungsprinzip wohl eher nicht dazu. Gerade die Beliebigkeit der Hingabe von entweder Fremd- oder Eigenkapital im Konzernkontext begründet ja die Gestaltungsgeneigtheit der gruppeninternen Zuordnung von Fremd- oder Eigenmitteln („linke Tasche, rechte Tasche“), weshalb ziel45 EU-Richtlinie 2016/1164 v. 16.7.2016, Art. 4 (Zinsschranke) i.V.m. Art. 11 Abs. 6 (Übergangsfrist). 46 2000/C 364/01, ABl. EG v. 18.12.2000 („Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich.“). 47 BFH v. 14.10.2015 – I R 20/15, Gl.-Pkt. B.II.5c)cc). 48 Gosch in FS Kirchhof, 2013, S. 1937 (1944).

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genauere Unterkapitalisierungsvorschriften, zu denen anders als § 4h EStG z.B. auch § 8a KStG a.F. gehörte, die Limitierung des Betriebsausgabenabzugs auf Gesellschafterzinsen beschränken, third party interest bei jeglichen Steuersanktionsbemühungen also gänzlich außen vor lassen. Diese Sichtweise wird auch dadurch bekräftigt, dass der Eigenkapital-Escape des § 4h Abs. 2 Buchst. c) EStG, der, wenn er denn funktionierte und nicht wegen einer unzureichenden Technik bei der Kürzung von Beteiligungsbuchwerten bei sämtlichen Inlandskonzernen faktisch leer liefe49, die allgemeine Zinsabzugsbeschränkung auf 30  % EBITDA erst zu einer einzelfallgerechten Missbrauchsabwehr werden ließe, und zwar gerade indem auch auf die Verhältnisse der Anteileigner geschaut wird (durch einen Vergleich der Eigenkapitalquote des Konzerns mit dem des deutschen Betriebs, der den u.U. übermäßigen Zinsabzug begehrt). Insoweit verhält es sich hier im Hinblick auf die Unbedenklichkeit einer (missbrauchsbedingten) Ausnahme vom Trennungsprinzip nicht wesentlich anders als bei dem ebenfalls steuersystematisch nachvollziehbaren Abzugsverbot für Substanzverluste aus Gesellschafterdarlehen gemäß § 8b Abs. 3 Sätze 4 ff. KStG (es sei denn ein fremder Dritter hätte der notleidend gewordenen Gesellschaft Geld geliehen) – nur ein Gesellschafter kann Fremdkapital statt (nicht abzugsfähiges) Eigenkapital zur Verfügung stellen50. Jeweils ist ein Gesellschafterbezug und damit eine Bereichsausnahme vom Trennungsprinzip unerlässlich, um Steuergestaltungspotential durch generalisierende Regelungen zu adressieren, die die „verfolgte“ Fallkonstellation allerdings realitätsgerecht abzubilden haben. 3. Hinzurechnungsbesteuerung (§§ 7 ff. AStG) Die wohl älteste gesetzgeberische Durchbrechung des Trennungsprinzips, deren Motivation in der Verhinderung missbräuchlicher Gestaltungen liegt, stellt die Hin­ zurechnungsbesteuerung für passive und niedrig besteuerte Auslandseinkünfte gemäß § 7 ff. AStG dar, deren US-Vorläuferbestimmungen im Subpart F des Internal Revenue Code von der Kennedy-Regierung und damit noch in den 1960er Jahren implementiert wurden. Fehlte es einer Zurechnung von niedrig besteuerten z.B. Zinseinkünften über Kapitalgesellschafts- und Ländergrenzen hinweg, könnten Steuerpflichtige aus Hochsteuerländern ihre passiven Einkunftsquellen in Staaten mit niedriger Kapitaleinkommensbesteuerung verlagern und die (höhere) inländische Besteuerung von Kapitalerträgen auch dauerhaft vermeiden.

49 Vgl. Dorenkamp, DStJG 33 (2010), 301 (319 ff.). 50 A.A. hier wohl Gosch in FS Kirchhof, 2013, 1937 (1944), der auch für andere als „kapi­ talersetzende“ Gesellschafterdarlehen unter Verweis auf das Trennungsprinzips die be­ dingungslose Abzugsfähigkeit fordert („kein Grund für einen spezialiter angeordneten Abzugsausschluss“, den der Verfasser dieses Beitrags in der weitgehend beliebigen Austauschbarkeit von Eigenkapital und (anderenfalls abzugsfähigem) Gesellschafterfremdkapital sieht).

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a) „Piercing the Corporate Veil“ Indem § 7 Abs. 1 AStG die Steuerpflicht beim (inländischen) Anteilseigner von passiven Einkünften, insbesondere also z.B. Zinsen und Lizenzen, einer zwar „deutsch-­ beherrschten“, aber ausländischen Kapitalgesellschaft, die mit unter 25 % „niedrig“ besteuert ist, anordnet, wird das körperschaftsteuerliche Trennungsprinzip insoweit vollständig eliminiert. Auslegungsbedarf besteht infolge dieses expliziten steuergesetzlichen Befehls nicht länger, „lediglich“ die Vereinbarkeit der entsprechenden AStG-Vorschriften mit höherrangigem Recht lässt hierfür Raum. Ihr Grundsatz aber, nämlich die Ausnahme vom Trennungsprinzip, ist wiederum immanent, weil erst die gemeinsame Betrachtung von Gesellschaft und Gesellschafter die Adressierung von Missbrauchsgestaltungen ermöglicht, die letztlich aus der wirtschaftlichen Einheit verbundener Unternehmen folgt51. b) Cadburry Schweppes In Sachen Vereinbarkeit der (mitgliedstaatlicher) Hinzurechnungsbesteuerung mit höherrangigem (primären) Gemeinschaftsrecht hat das EuGH-Urteil vom 12. September 2006 in der Rechtssache Cadburry Schweppes52 hinsichtlich der britischen „controlled foreign corporation (CFC)“-Regelungen die Richtung vorgegeben, die dem deutschen AStG-Konzept durchaus vergleichbar waren. Gegen die primärrechtlich verbürgte Niederlassungsfreiheit gemäß Art.  49 AEUV wird hiernach verstoßen, wenn nicht allein „rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck, der Steuer zu entgehen“53 sanktioniert werden. Entsprechend hat der deutsche Gesetzgeber die Hinzurechnungsbesteuerung im Hinblick auf potentielle EU-Zwischengesellschaften auch signifikant entschärft, nämlich indem von einer Durchbrechung des Trennungsprinzips abgesehen wird, falls die deutsch-beherrschte Gesellschaft mit niedrig besteuerten Passiveinkünften in einem EU-Mitgliedstaat ansässig ist und „einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit in diesem Staat nachgeht“. Ähnliche Anforderungen hatte der deutsche Gesetzgeber auch an Vergünstigungen beim Quellensteuerabzug geknüpft, die neben einer abkommensberechtigten ausländischen Kapitalgesellschaft, die dem Trennungsprinzip bereits genügen würde, zusätzlich voraussetzt, dass ein „angemessen eingerichteter Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt“, § 50d Abs. 3 EStG. In zwei sehr jungen Entscheidungen vom 20. Dezember 201754 hat der EuGH allerdings diese Regelungen als EU-rechtswidrig erkannt, und zwar sowohl wegen eines Verstoßes gegen pri51 Vgl. zum Verhältnis von § 42 AO als allgemeiner Missbrauchsvermeidungsvorschrift und den §§ 7 ff. AStG als (sperrende) spezialgesetzliche Bestimmungen z.B. BFH v. 20.3.2002 – I R 63/99, BStBl. II 2003, 50 ff. 52 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04 – Cadburry Schweppes, DStR 2006, 1686. 53 (Fn. 51), Rz. 55. 54 EuGH v. 20.12.2017  – C-504/16  – Deister Holding sowie C-613/16  – Juhler Holding A/S.  Vgl. zur Altregelung des §  50d Abs.  1 EStG mit ähnlichem Duktus auch BFH v. 29.1.20008 – I R 26/06, BStBl. II 2008, 978.

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märes Gemeinschaftsrecht (Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV) als auch sekundäres Unionsrecht (Mutter-Tochter-Richtlinie55), jeweils auf eine Vorlage des – für den Beklagten Bundeszentralamt für Steuern sonderzuständigen – FG Köln hin, das dem EuGH auch bereits ein Vorabentscheidungsverfahren hinsichtlich der Nachfolgevorschrift vorgelegt hat, die ab dem Veranlagungszeitraum 2012 gilt56. Letztlich dürfte vieles dafür sprechen, dass das Gemeinschaftsrecht für einen zulässigen Eingriff in das körperschaftsteuerliche Trennungsprinzip eine individuelle Prüfung sämtlicher Aspekte des jeweiligen Einzelfalls sowie eine Gegenbeweismöglichkeit des Steuerpflichtigen voraussetzt. Dies erscheint trotz der Missbrauchsgeeignetheit der Allokation von Kapitaleinkünften im Konzern angesichts der großen Bedeutung des Trennungsprinzips auch angemessen, wird hierdurch doch letztlich die realitätsgerechte Orientierung generalisierender Regelungen am typischen Missbrauchsfall systemimmanent sicher gestellt.

IV. Zukunft des Trennungsprinzips Hinsichtlich der Bedeutung eines Grundsatzes für die Gesetzesauslegung spielt dessen Zukunftstauglichkeit in der Wahrnehmung der Gesetzesanwender eine bedeutende Rolle. Deshalb: Wird dem Trennungsprinzip im Körperschaftsteuerrecht auch in zukünftigen Jahren eine maßgebliche Bedeutung zukommen oder befindet es sich „auf dem absteigenden Ast“? 1. Internationale Besteuerung von Unternehmensgruppen Insoweit lassen sich zunächst aus internationalsteuerlicher Sicht zwei Strömungen identifizieren, die letztlich in die gleiche Richtung wirken, nämlich das Trennungsprinzip bei der Besteuerung von Unternehmen jeweils stärken dürften. Zum einen ist davon auszugehen, dass Elementen einer Konzernbesteuerung perspektivisch eine größere Bedeutung zukommt. Das Steuerrecht wird bezüglich verbundener Unternehmensgruppen mehr dem Umstand Rechnung tragen, dass es sich insoweit um eine „wirtschaftliche Einheit“ handelt, deren „Schnitt“ in Legaleinheiten im Wesentlichen nur noch Steuerrechtsanwender interessiert57, nicht länger aber die übrigen Entscheidungsträger in Unternehmen oder Politik. Dies gilt umso stärker je mehr die Wirtschaft grenzüberschreitend verschmilzt, bilden nationalstaatliche Grenzen doch häufig einen letzten „Haltepunkt“ legalrechtlicher Limitierungen eines wirtschaftlich einheitlichen Gebildes (kein Einheitsunternehmen „über die Grenze“ z.B. wegen des lokalen Arbeits- oder Sozialversicherungsrechts). 55 90/435/EWG v. 23.8.1990. 56 Anhängig beim EuGH unter Az. C-440/17. 57 Vgl. z.B. Pöllath, FR 2016565 (566): „Der steuerliche Nicht-Durchgriff durch die Kapitalgesellschaft wirkt befremdlich, je mehr die Wirtschaftswelt auf Konsolidierung und Konzernabschluss achtet und der Einzelabschluss im Geschäftsbericht nur mehr ‚hinten angebunden‘ oder gar nur lose beigelegt und in vielem ignoriert wird“.

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So sind Ausprägungen der Leitidee einer Konzernbesteuerung nicht nur der Eigenkapital-Escape in § 4h Abs. 2 Buchst. c) EStG, mit dem erstmals der internationale Konzernrechnungslegungsstandard IFRS Eingang in das deutsche Steuerrecht gefunden hat und darüber hinaus Besteuerungsfolgen direkt an einen Konzernvergleich geknüpft werden. Eine entsprechende Abkehr vom Gedanken der vollumfänglichen Unabhängigkeit der Besteuerung der (Tochter-)Gesellschaft von den steuerlich relevanten Verhältnissen ihrer Gesellschafter findet sich auch bei der Gewinnaufteilungsmethode „(indirect) profit split“58. Hiernach wird ein Konzerngewinn nicht länger einzeltransaktionsbezogen nach Fremdvergleichsgrundsätzen auf Legaleinheiten und damit regelmäßig auch Länder verteilt, sondern gelangen eher pauschale Zurechnungsmethoden zur Anwendung, geschuldet den Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von Wertschöpfungsbeiträgen insbesondere bei geistigem Eigentum und international eng miteinander verwobenen Produktionsstandorten. Steuerperspektivisch sei hier darüber hinaus auf die Bemühungen auf EU- sowie auch mitgliedstaatlicher Ebene59 verwiesen, die nationalen Körperschaftsteuersys­ teme durch eine EU-weit harmonisierte und letztlich auch konsolidierte unter­ nehmenssteuerliche Bemessungsgrundlage zu ersetzen (common consolidated corpo­ rate tax base, CCCTB60), die durch ein sog. „formular apportionment“, d.h. eine formelhafte Zuteilung orientiert an lokaler Lohnsumme, Betriebsvermögen und erzielten Umsätzen auf die einzelnen Mitgliedstaaten verteilt würde61. Transaktionale Verrechnungspreise zwischen Gesellschaft und Gesellschafter gemäß dem herkömmlichen Fremdvergleichsmaßstab als Ausdruck einer strikten Anwendung des körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzips würden jedenfalls innerhalb des Wirtschafts­ raums der Europäischen Union weitgehend an Bedeutung verlieren. Dies gilt allerdings lediglich innerhalb einer Unternehmensgruppe, d.h. an der „Außenkante“ zwischen Konzern und nicht beherrschenden Anteilseignern wird das Trennungsprinzip bei der Besteuerung von Kapitalgesellschaften und ihren Gesellschafter in keiner Weise aufgeweicht. Vielmehr gilt umgekehrt: Je mehr sich eine einheitliche Besteuerung innerhalb verbundener Unternehmen sogar grenzüberschreitend durchsetzt, desto größer wird auf der anderen Seite die Abgrenzung „nach draußen“. Zeugnis hiervon legen Börsenkapitalisierungen einzelner Unternehmen ab, die sich im hohen dreistelligen Milliardenbereich bewegen und bei denen ein unmittelbarer Konnex zwischen Unternehmensgewinn und wirtschaftlicher Leistungs58 Vgl. z.B. Greil, StuW 2017, 159 f. 59 Vgl. z.B. Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD v. 7.2.2018, 8: „Wir unterstützen in Europa eine gemeinsame Bemessungsgrundlage und Mindestsätze bei den Unternehmenssteuern. Hier wollen wir mit Frankreich Initiativen ergreifen […]“. 60 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage v. 25.10.2016, COM(2016)685, https://ec.europa.eu/taxation_customs/ sites/taxation/files/com_2016_685_de.pdf. 61 (Fn. 59), 2: „In diesem Zusammenhang [‚gerechte und effiziente Besteuerung von Unternehmensgewinnen‘] ist die GKKB ein wirksames Instrument, um Einnahmen dort zuzuweisen, wo die Wertschöpfung erfolgt, und zwar mithilfe einer Formel, die auf drei gleich gewichteten Faktoren (Vermögen, Arbeit und Umsatz) beruht“.

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fähigkeit der Unternehmenseigner lebensfremd erscheint (zunehmende Skalierung z.B. digitaler Geschäftsmodelle). Zum anderen ist aus dem Umfeld der grenzüberschreitenden Besteuerung ein umgekehrter Trend zu einem „Mehr“ an transaktionaler Verrechnungspreisbestimmung unübersehbar, nämlich infolge der DBA-rechtlichen Umsetzung des sog. Authorized OECD Approach (AOA) bei der Besteuerung (rechtlich unselbstständiger) Betriebsstätten. Auch hieraus dürfte im Ergebnis ein Bedeutungsgewinn für das körperschaftsteuerliche Trennungsprinzip resultieren, gelangte es doch nicht länger nur zwischen verbundenen, aber rechtlich selbstständigen Unternehmen zur Anwendung, sondern auch innerhalb einer Legaleinheit62. Teile einer Kapitalgesellschaft werden in grenzüberschreitenden Sachverhalten nach AOA-Grundsätzen künftig wie rechtlich selbstständige, voneinander unabhängige Kapitalgesellschaften behandelt, d.h. der Trennungsgrundsatz gilt zusätzlich dort, wo dies bislang nicht der Fall war. Die Besteuerung von Stammhaus und Niederlassung erfolgt zukünftig als eine von Mutter- und Tochterkapitalgesellschaft, Fiktionen rechtlicher Trennung bereiten den Boden für eine wohl erhebliche Ausweitung der Anwendung trennungsprinzipsgeleiteter Auslegungsgrundsätze, gerade in Zeiten, in denen auch „virtuelle Betriebsstätten“ als eine Besteuerungsantwort auf die Digitalisierung der Geschäftsmodelle auf EU- und OECD-Ebene diskutiert werden (Stichwort „Google Tax“63). 2. Niedrige Belastung thesaurierter Gewinne im Standortwettbewerb – (­Optionale) Besteuerung von Personengesellschaften als Kapital­ gesellschaften Ein womöglich ungleich größerer Bedeutungsgewinn für das körperschaftsteuerliche Trennungsprinzip jedenfalls in Deutschland könnte aber aus einer anderen internationalen Entwicklung folgen, nämlich dem zwischenstaatlichen Standortwettbewerb, signifikant intensiviert durch die Trump’sche US-Steuerreform, die den US-Körperschaftsteuersatz von 35 % auf 21 % reduziert hat. Ähnlich wie im Jahre 2000, als der Körperschaftsteuersatz in Deutschland von 40 % auf 25 % gesenkt wurde, begleitet von einer Nachbelastung ausgeschütteter Kapitalgesellschaftsgewinne mit rd. 15  % durch das Halbeinkünfteverfahren (ergänzt durch die Begünstigung nicht entnommener Gewinne von Personengesellschaften gemäß § 34a EStG und letztlich fortgeführt durch die Unternehmenssteuerreform 2008, die den Körperschaftsteuertarif auf 15 % und die Gesamtbelastung von Kapitalgesellschaften einschließlich Gewerbesteuer somit auf rd. 30 % reduzierte), spricht vieles dafür, dass sich die steuerliche Belastung thesaurierter Gewinne in Deutschland erneut nach unten anpassen wird, 62 So auch Gosch in FS Kirchhof, 2013, S. 1937 (1949) („Gegenbewegung“ zu einer „gewissen Notwendigkeit, Gesellschafts- und Gesellschafterebene aus steuerlicher Sicht miteinander zu verschränken“). 63 Die EU-Kommission hat am 21.3.2018 einen Richtlinienentwurf zu einer sog. „Digital Service Tax“ (COM(2018)148) sowie zu einer signifikanten digitalen Präsenz (COM(2018)147) vorgelegt und die OECD am 19.3.2018 einen Zwischenbericht zur Besteuerung digitaler Geschätsfelder veröffentlicht.

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um international wettbewerbsfähig zu werden, z.B. durch Abschaffung des Soli­ daritätszuschlags auf die Körperschaftsteuerschuld, die Reduzierung des Körperschaftsteuertarifs von 15 % auf 12,5 % und/oder die Reduzierung der Gewerbesteuermesszahl von 3,5  % auf 3  % bzw. alternativ eine (pauschale) Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Körperschaftsteuer oder auch der Wiederherstellung der Abzugsfähigkeit der Gewerbesteuer von der Körperschaftsteuer (Streichung § 4 Abs. 5b KStG). Welcher Instrumentenmix zur steuerlichen Entlastung von Kapitalgesellschaften auch immer gewählt wird, von einer belastungsähnlichen Reduzierung der Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer, der letztlich für die Besteuerung von Mitunternehmerschaften relevant ist, dürfte aus umverteilungspolitischen und/oder fiskalischen Gründen nicht auszugehen sein. Dann aber stellt sich unweigerlich die Frage nach der „Mitnahme“ von Personengesellschaften in ein wettbewerbsfähiges deutsches Unternehmenssteuerrecht, machen insbesondere GmbH & Co. KGen, die trotz ihrer zivilrechtlichen Selbstständigkeit und auch haftungsrechtlichen Abgrenzung transparent und damit gerade nicht nach dem Trennungsprinzip besteuert werden, doch weiterhin wohl 80–90 % der Unternehmensanzahl in Deutschland aus, in denen ein erheblicher Teil der Wertschöpfung hierzulande erbracht wird. Sollte man sich de lege ferenda hierfür nicht weiterhin des § 34a EStG bedienen wollen, der in mehrerlei Hinsicht als komplex (ähnlich übrigens wie die transparente Besteuerung von größeren Personengesellschaften insgesamt mit ihrer Vielzahl an Sonder- und Ergänzungsbilanzen) und im Belastungsergebnis unbefriedigend kritisiert wird64, bietet sich eine Option von Personengesellschaften zur steuerlichen Behandlung als Kapitalgesellschaft und damit Körperschaftsteuer an, vergleichbar einer Vorschrift des § 4a KStG-E, der bereits im Entwurf des Steuersenkungsgesetzes 2000 enthalten war65, letztlich aber keine Gesetzeskraft erlangt hatte (wohl nicht zuletzt aus erbschaftsteuerlichen Vergünstigungsgründen, die infolge von mehr Rechtsformneutralität bei der Erbschaftsteuer nicht länger bedeutsam scheinen). So wird z.B. jüngst in einem IDW-Positionspapier das „Optionsmodell“ für eine rechtsformneutrale Unternehmensbesteuerung gefordert bzw. angeboten, und zwar „aus Gründen der Gleichbehandlung“ sowie wegen eines „erheblichen zusätzlichen Verwaltungsaufwands im Vergleich zur Kapitalgesellschaftsbesteuerung“ und „Friktionen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten“66. Da die Besteuerung der Personengesellschafter „optierter“ mitunternehmerischer Außenpersonengesellschaften 64 Vgl. z.B. Niehus/Wilke in Herrmann/Heuer/Raupach, § 34a EStG Rz. 3 a.E.; Fechner, FR 2010, 744. 65 Vgl. BT-Drucks. 14/2683 v. 15.2.2000, 77, 122 ff.; vgl. auch Brühler Empfehlungen zur Re­ form der Unternehmensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe Heft 66, 1999. Vgl. auch bereits Bühler, Unternehmungssteuer, DB 1948, 3 („Körperschaftsteuer auch auf Personalunternehmungen erstreckt“). 66 Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW), IDW Positionspapier zum Einstieg in eine rechtsformneutrale Besteuerung („Optionsmodell“), August 2017, 4; krit. zur Gleichheitssatzkonformität der Dualität in der Unternehmensbesteuerung z.B. auch Graffe in Dötsch/ Pung/Möhlenbrock, § 1 KStG Rz. 2 („zumindest fraglich“ hinsichtlich „verfassungsrechtli-

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mit Gewinneinkünften ebenfalls der von Kapitalgesellschaftsanteilseignern angeglichen würde (insbesondere Teileinkünfteverfahren gemäß § 3 Nr. 40 EStG), könnten sämtliche trennungsprinzipsbasierten Auslegungsgrundsätze vollumfänglich auf den GmbH  &  Co. KG-Kontext übertragen werden, einschließlich der Mantelkaufsbestimmungen, die insoweit von besonderer Bedeutung sind, aber eben auch der Aufgabe der gleich „doppelt fehlerhaften“67 transparenten Berücksichtigung der Gewinne und Verluste von Personengesellschaften direkt bei den Gesellschaftern, deren steuersystematische Fragwürdigkeit sich gewiss auch für eine zwingende statt fakultative Einbeziehung zumindest größerer Personengesellschaften in die Körperschaftsteuerpflicht anführen ließe68. Auch wenn es verfassungsrechtlich weiterhin (gerade noch?) gerechtfertigt sein mag, die zivilrechtlich vorgefundene, aber wirtschaftlich eben weitgehend bedeutungslose duale Struktur aus Gesamthandsgesellschaften und GmbHs mit zwei unterschiedlichen Besteuerungsregimen zu adressieren69, und damit Rufe aus dem Schrifttum für eine rechtsformneutrale Besteuerung weiterhin geflissentlich überhört werden können70, wird der internationale Wettbewerbsdruck dem Trennungsprinzip u.U. auch in der Personengesellschaftswelt zum Durchbruch verhelfen71 und damit die Anzahl der Steuersachverhalte vervielfältigen, in denen der Grundsatz einer separaten Besteuerung von Gesellschaft und Gesellschafter zur Auslegung von Steuergesetzen heranzuziehen wäre.

V. Fazit und Ausblick Die Zukunft des körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzips sieht derzeit „rosig“ aus, d.h. vielversprechender als in vorherigen Jahren bzw. Jahrzehnten. Gegenwind cher Grundsätze der Wettbewerbsgleichheit und der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“). 67 Hennrichs, FR 2010, 721 (727) („überschießende“ Zurechnung handelsrechtlich noch nicht entnommener Gewinne sowie „gar nicht persönlich getragener Verluste allein wegen der abstrakten persönlichen Haftung“). 68 So jedenfalls für die GmbH  & Co. KG auch Hennrichs, FR 2010, 721 (729): „Denn die GmbH & Co. KG entspricht wirtschaftlich betrachtet der GmbH, bewirkt nämlich wie diese sowohl eine Abschirmung der Vermögenssphäre als auch ein Haftungsprivileg. Bilanzrechtlich ist die gebotene Gleichstellung der GmbH & Co. KG mit der GmbH gem. § 264a HGB denn auch längst anerkannt. Zumindest hier sollte das Steuerrecht folgen“. 69 So BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (198 ff.), letztlich trotz einer zunehmenden Vermischung der Wesenskomponenten beider Rechtsformen weiterhin folgend BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331 (339): „Der Steuergesetzgeber hat sich dafür entschieden, der zivilrechtlichen Einteilung der Gesellschaften zu folgen und Personengesellschaften der Einkommensteuer, Kapitalgesellschaften der Körperschaftsteuer zu unterwerfen“. 70 Vgl. für viele Lang in FS Reiß, 2009, S. 379 (386 ff.). 71 Schwer nachzuvollziehen ist hingegen die positive Prognose von Julian Böhmer (StuW 2012, 33 [41]) zur Zukunft des Trennungsprinzips, soweit hierfür die im Übrigen gemeinhin negativ angesehene Rechtsformneutralität angeführt wird: „Würde [das Trennungsprinzip] aufgegeben, würde man damit den einzigen Unterschied [in der Besteuerung von Personen- und Kapitalgesellschaften] nivellieren“.

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wie ein Trend zur Teilhabersteuer z.B. in Gestalt eines körperschaftsteuerlichen Vollanrechnungsverfahrens ist gegenwärtig, anders als in den 70er Jahren, kaum zu beobachten – zu groß sind hierfür die körperschaftlich organisierten Konglomerate geworden als dass ein Anteilseigner der mehrere Hundert Milliarden „schweren“ Multinationals z.B. aus dem Silicon Valley ernsthaft meint, das Einkommen der Kapitalgesellschaft würden sich über die Wertentwicklung des Aktie hinaus unmittelbar auf seine eigene Leistungsfähigkeit auswirken. Rückenwind hingegen entfaltet nicht nur die DBA-rechtliche Umsetzung des von der OECD empfohlenen AOA-Konzepts, der das Trennungsprinzip auch bei der Besteuerung von Betriebsstätten und damit sogar innerhalb von Legaleinheiten zur Geltung bringt. Insbesondere ist hier auch das Wiederaufleben des internationalen Steuerwettbewerbs zu nennen, der mit perspektivisch wohl weiter reduzierten Unternehmenssteuersätzen und damit einer Zunahme der Spreizung zwischen Körperschaftsteuertarif und Einkommensteuerspitzensatz einhergehen dürfte. Womöglich kann sich der deutsche Gesetzgeber im Ergebnis doch entschließen, Personengesellschaften zumindest ein Wahlrecht zur Besteuerung als Kapitalgesellschaft einzuräumen und damit dem zahlenmäßig ganz überwiegenden Teil der deutschen Unternehmenslandschaft den fakultativen Zugang zum körperschaftsteuerlichen Trennungsprinzip zu öffnen. Letztlich hat aber auch das BVerfG mit seiner § 8c KStG-Entscheidung vom 29. März 2017 und damit die Finanzrechtsprechung im weiteren Sinne dem Trennungsprinzip zu neuerlicher Durchschlagskraft bei der Gesetzesauslegung verholfen. An einer separaten Besteuerung von Kapitalgesellschaften und ihrer Gesellschafter kommt der Gesetzgeber nunmehr nur mit typisierenden Missbrauchsvermeidungsvorschriften vorbei, die sich realitätsgerecht an dem in den Fokus genommenen Gestaltungtypus orientieren. Dann aber ist eine Ausnahme vom Trennungsgrundsatz nicht nur gleichheitsrechtlich gerechtfertigt, sondern zwecks gleichmäßiger Austeilung der Steuerlasten auch geboten. Daran dass der Trennungsgrundsatz auch in Zukunft in der Auslegung des Körperschaftsteuergesetzes im Sinne einer leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung Berücksichtigung findet, wird der Bundesfinanzhof gewiss auch in den nächsten einhundert Jahren bedeutenden Anteil haben.

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4. Teil Materielles Steuerrecht … B. II. 2.

Grund- und Streitfragen des körperschaftsteuerlichen Einkommensbegriffs Von Andreas Herlinghaus

Inhaltsübersicht I. Die Verbindung zum einkommensteuerlichen Einkommensbegriff 1. Der anwendbare Normenbestand 2. Steuerbarkeit der Einkünfte 3. Einkunftsarten und Gewerblichkeits­ fiktion (§ 8 Abs. 2 KStG) a) Zur Entstehung der Gewerblichkeitsfiktion aus Richterrecht b) Die Linie des BFH c) Kritik in der Literatur d) Stellungnahme und Ausblick II. Besonderheiten der Einkommens­ ermittlung für Körperschaften nach §§ 8 ff. KStG 1. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG 2. § 1 AStG 3. Offene und verdeckte Einlagen 4. Mitgliedsbeiträge (§ 8 Abs. 5 KStG) 5. Steuerfreie Einkünfte, insbesondere § 8b KStG

6. Zinsschranke (§ 8a KStG) 7. Verlustabzug und Verlustverrech­ nungsbeschränkungen (insbesondere § 8c KStG) a) § 8 Abs. 1 Satz 1 KStG i.V. mit § 10d EStG b) Besondere Verlustverrechnungs­ beschränkungen, insbesondere § 8c KStG 8. Abziehbare Aufwendungen (§ 9 KStG) 9. Nicht abziehbare Aufwendungen (§ 10 KStG) 10. Liquidation (§ 11 KStG) 11. Besonderheiten bei Organschaft und nach dem UmwStG 12. Ausländische Einkünfte a) Allgemeines b) Einkünfte von Zwischengesellschaften c) Ausländische Verluste III. Fazit

Körperschaften kommt nach Maßgabe des § 1 Abs. 1 KStG eine eigene Steuersubjektivität zu, womit – anders als bei Personengesellschaften – die Frage nach dem Subjekt der Einkünfteerzielung und -ermittlung gesetzlich eindeutig entschieden1 und das Einkommen der jeweiligen Körperschaft getrennt von demjenigen ihrer Gesellschafter zu ermitteln ist. Die Körperschaftsteuer bemisst sich dabei nach dem zu versteuernden Einkommen (§ 7 Abs. 1 KStG), welches als dasjenige i.S. des § 8 Abs. 1 KStG, vermindert um die Freibeträge der §§  24 und 25 KStG, definiert wird (§  7 1 Umfassend Hüttemann in DStJG 34 (2011), 291 (310).

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Andreas Herlinghaus

Abs. 2 KStG). Einen eigenen Einkommensbegriff enthält das KStG nicht, sondern es verweist mit dem Ziel der Gleichheit der Besteuerungsgrundlagen für natürliche und andere Personen auf die Vorschriften des EStG2. Was als Einkommen gilt und wie das Einkommen zu ermitteln ist, bestimmt sich ausweislich § 8 Abs. 1 Satz 1 KStG nach den Vorschriften des EStG und des KStG. Schon daraus ergibt sich, dass der einkommensteuerliche und der körperschaftsteuerliche Einkommensbegriff nicht kongruent sind3, weil die einkommensteuerrechtlichen Einkommensermittlungsvorschriften durch die §§ 8 ff. KStG teils ergänzt, teils aber auch verdrängt werden4. Die Beschäftigung mit den Grund- und Streitfragen des körperschaftsteuerlichen Einkommensbegriffs verlangt damit einerseits eine solche mit eben diesen Fragen zum einkommensteuerlichen Einkommensbegriff, andererseits aber auch mit den körperschaftsteuerlichen Sondervorschriften zur Einkommensermittlung in §§ 8 ff. KStG. Dabei soll im Folgenden besonderes Augenmerk auf die bedeutende Rolle gelegt werden, welche die höchstrichterliche Finanzrechtsprechung im vorgenannten Bereich immer wieder gespielt hat und auch weiterhin spielt.

I. Die Verbindung zum einkommensteuerlichen Einkommensbegriff 1. Der anwendbare Normenbestand Soweit in § 8 Abs. 1 Satz 1 KStG in Form einer dynamischen Blankettverweisung5 auf den Einkommensbegriff und die Ermittlung des Einkommens nach dem EStG verwiesen wird, ist nach Maßgabe der §§ 2 ff. EStG zu fragen, ob überhaupt steuerbare Einkünfte erzielt werden und wie diese genau zu bestimmen sind. Es sind dabei alle Vorschriften des EStG und der EStDV anwendbar, die nicht an natürliche Personen gebunden sind6. Vorschriften, die an die persönlichen Verhältnisse einer natürlichen Person anknüpfen (etwa §§ 10 ff., 24a, 32 Abs. 6, 32a und 33 ff. EStG), können deshalb denknotwendig nicht zur Anwendung gelangen. 2. Steuerbarkeit der Einkünfte Es können – vorbehaltlich der Spezialregelung des § 8 Abs. 2 KStG – nur solche Vermögensmehrungen der Körperschaftsteuer unterliegen, die nach dem EStG überhaupt steuerbare Einkünfte darstellen7. So kann etwa ein nicht steuerbefreiter Verein

2 Roser in Gosch, 3. Aufl. 2015, § 8 KStG Rz. 14; Schallmoser in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8 KStG Rz. 51. 3 Dazu Herlinghaus in Rödder/Herlinghaus/Neumann, § 7 KStG Rz. 21 m.w.N. 4 Zum Dualismus der Unternehmensbesteuerung als Hindernis zur Herstellung völliger Kongruenz vgl. Intemann in Rödder/Herlinghaus/Neumann, § 8 KStG Rz. 26. 5 Schallmoser (Fn. 2), § 8 KStG Rz. 50 und 52. 6 BFH v. 8.5.1991 – I R 33/90, BStBl. II 1992, 437; vgl. zu den aus Sicht der Finanzverwaltung anwendbaren Normen R 29 Abs. 1 KStR. 7 Ebenso Hüttemann in DStJG 34 (2011), 291 (310).

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Fragen des körperschaftsteuerlichen Einkommensbegriffs

mangels Gewinnerzielungsabsicht eine „Liebhabereisphäre“ haben8. Lediglich §  8 Abs. 1 Satz 2 KStG enthält insoweit als Reaktion auf eine in der Wissenschaft geführte Diskussion darüber, ob dauerdefizitäre Betriebe gewerblicher Art i.S. des § 4 KStG überhaupt körperschaftsteuerpflichtig sein können9, eine Ausnahme vom Erfordernis der Gewinnerzielungsabsicht und der Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr, die sicherstellen soll, dass die Verluste der angesprochenen Betriebe weiter genutzt werden können10. 3. Einkunftsarten und Gewerblichkeitsfiktion (§ 8 Abs. 2 KStG) a) Zur Entstehung der Gewerblichkeitsfiktion aus Richterrecht Körperschaftsteuerpflichtige Steuersubjekte können wegen der Verweisung in §  8 Abs.  1 Satz  1 KStG grundsätzlich Einkünfte aus allen sieben Einkunftsarten erzielen11. Indessen bestimmt § 8 Abs. 2 KStG, dass bei unbeschränkt Steuerpflichtigen i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 KStG (Kapitalgesellschaften, Genossenschaften, Versicherungs- und Pensionsvereine auf Gegenseitigkeit) alle Einkünfte als Einkünfte aus Gewerbebetrieb zu behandeln sind. Das Gesetz fingiert also für die genannten Steuerrechtssubjekte die Gewerblichkeit ihrer gesamten Einkünfte. Diese Fiktion geht auf Judikate des RFH zurück, der unter Verweis auf die „andernfalls entstehenden Unstimmigkeiten mit dem Zivilrecht“ - primär zur Vereinfachung der körperschaftsteuerlichen Einkommensermittlung12 - entschieden hatte, dass „das Einkommen jeder Art bei den zur kaufmännischen Buchführung verpflichteten Erwerbsgesellschaften wie gewerbliches Einkommen ermittelt und steuerlich behandelt wird“13 bzw. für diese Gesellschaften der Grundsatz gelte, dass „ihr Einkommen, aus welcher Einkommensart es auch herrühren mag, so behandelt und ermittelt wird, als ob es gewerblich wäre“14. Nachdem sich der Gesetzgeber diese Linie zu eigen gemacht hatte und die Gewerblichkeitsfiktion an die handelsrechtliche Buchführungspflicht anknüpfte, vertrat indessen der BFH15 zu dem mit § 8 Abs. 1 KStG 1977 identischen § 6 Satz 1 KStG 1959 die Auffassung, eine Kapitalgesellschaft könne auch ohne entsprechende gesetzliche Anordnung nur Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielen, weil eine verfassungskonforme Auslegung der Norm es gebiete, die „Ordnungsstruktur des Zivilrechts“ (hier: die gesetzliche Kaufmannseigenschaft der GmbH mit ihren Rechtsfolgen) auch im Regelungskreis des Steuerrechts zu beachten. Die anderweitige Behandlung der Personenhandelsgesellschaften rechtfertige sich aus dem Umstand, dass die Ordnungsstruktur

8 Vgl. BFH v. 16.12.1998 – I R 36/98, BStBl. II 1999, 366. 9 Vgl. dazu Hüttemann, DB 2007, 1603 ff. 10 BT-Drucks. 16/10189, 69. 11 Rengers in Blümich, § 8 KStG Rz. 50. 12 Hüttemann in DStJG 34 (2011), 291 (312 f). 13 RFH v. 19.10.1927 – I A 3/27, RStBl. 1928, 6. 14 RFH v. 13.3.1928 – I A 395/27 S, RStBl. 1929, 521. 15 BFH v. 20.10.1976 – I R 139-140/74, BStBl. II 1977, 96.

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Andreas Herlinghaus

des Zivilrechts dort wegen der nur steuerlichen Abbildung von Sonderbetriebsvermögen nicht durchgehend gewahrt werde. Mit dem SEStEG hat der Gesetzgeber zwar mit dem Blick vor allem auf doppelt ansässige Kapitalgesellschaften die Anknüpfung an die inländische Buchführungspflicht aufgegeben, an der Gewerblichkeitsfiktion aber festgehalten, obwohl mit Recht bezweifelt werden kann, dass es einer entsprechenden Fiktion überhaupt noch bedarf. Immerhin ist seit dem Inkrafttreten des SEStEG die Anknüpfung an das Handelsrecht erheblich gelockert und trägt der Vereinfachungsgedanke insoweit immer weniger16. b) Die Linie des BFH Der BFH versteht §  8 Abs.  2 KStG (jedenfalls in der Fassung bis zum SEStEG) in ständiger Rechtsprechung17 als Rechtsfolgenverweis und begründet mit diesem Verständnis eine umfassende Steuerpflicht und Steuerverhaftung für sämtliche Vermögensmehrungen der in der Norm genannten Körperschaften, während für alle anderen Körperschaftsteuersubjekte die Abgrenzung der steuerpflichtigen Sphäre nach einkommensteuerlichen Grundsätzen erfolgt18. So urteilte der I. Senat des BFH im sog. Segelyacht-Urteil19 noch unter Geltung des Anrechnungsverfahrens, eine Kapitalgesellschaft verfüge steuerlich über keine außerbetriebliche Sphäre20 und es gelte ihre Tätigkeit nach § 8 Abs. 2 KStG auch insoweit als Gewerbebetrieb, als sie nicht unter eine der sieben Einkunftsarten des § 2 Abs. 1 EStG falle. Der Einkünftebegriff des § 8 Abs. 2 KStG sei in einem weiten Sinne zu verstehen, was sich bereits aus der Diktion der Vorschrift („alle“ Einkünfte) ergebe. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz (§ 5 Abs. 1 Satz 1 EStG) führe zudem dazu, dass das handelsrechtliche Vollständigkeitsgebot (§§ 238 Abs. 1 Satz 1, 246 Abs. 1 Satz 1 HGB) zu einer steuerlichen Verstrickung sämtlicher Vermögensgegenstände führe21. Abgesehen davon, dass ein Wertungswiderspruch zu § 2 Abs. 2 Satz 1 GewStG zu vermeiden sei, folge etwas anderes für die Gewinnermittlung natürlicher Personen allein aus der Vorschrift des §  12 Nr. 1 EStG, die ihrem Wortlaut nach auf Kapitalgesellschaften aber nicht anwendbar und auch nicht auf diese übertragbar sei. Dies spreche dafür, dass der Gesetzgeber das Vorhandensein einer außerbetrieblichen Sphäre bei Kapitalgesellschaften verneint habe. Nicht zuletzt verbiete sich die Anerkennung einer außerbetrieblichen Sphäre auch deshalb, weil das KStG 1977 keine Vorschriften enthalte, welche die Überführung von Wirtschaftsgütern aus dem Betriebsvermögen in das außerbetriebliche Vermögen und umgekehrt wie eine Ausschüttung/Entnahme bzw. eine Einlage 16 Hüttemann in DStJG 34 (2011), 291 (312). 17 BFH v. 4.12.1996 – I R 54/95, BFH/NV 1997, 190; v. 8.8.2001 – I R 106/99, BStBl. II 2003, 487; v. 15.5.2002 – I R 92/00, BFH/NV 2002, 1538; v. 22.8.2007 – I R 32/06, BStBl. II 2007, 961; v. 20.11.2007 – I R 54/05, BFH/NV 2008, 617. 18 Roser (Fn. 2), § 8 KStG Rz. 66. 19 BFH v. 4.12.1996 – I