Festschrift 30 Jahre Kölner Juristische Gesellschaft 9783504384975

Die Existenz juristischer Gesellschaften ist keine Erfindung der jüngsten Vergangenheit – so ist die altehrwürdige "

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Festschrift 30 Jahre Kölner Juristische Gesellschaft
 9783504384975

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Festschrift 30 JAHRE KÖLNER JURISTISCHE GESELLSCHAFT

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FESTSCHRIFT 30 JAHRE KÖLNER JURISTISCHE GESELLSCHAFT herausgegeben von der

Kölner Juristischen Gesellschaft 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-01897-9 ©2015 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Die Existenz juristischer Gesellschaften ist keine Erfindung der jüngsten Vergangenheit. So ist die altehrwürdige „Juristische Gesellschaft zu Berlin“ bereits mehr als 150 Jahre alt. Aber erst nach 1949 ist das Bedürfnis gewachsen, ein Forum zu schaffen, um Juristen aller Berufsrichtungen miteinander zu verbinden und ins Gespräch zu bringen. In Köln ist diese Idee im Jahre 1984/85 aus der Kölner Anwaltschaft heraus entstanden und hat bei den Kölner Gerichten und der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln ein offenes Ohr gefunden (vgl. die folgenden Beiträge von Laum und Bürglen). So kam es am 5. Dezember 1985 zu einer Erstveranstaltung, bei der der damalige Präsident des Bundesgerichtshofs, Prof. Dr. Gerd Pfeiffer, über Rechtsfortbildung durch den BGH sprach. Zum 10jährigen Jubiläum gab es im November 1995 eine festliche Veranstaltung in der Flora, bei der Prof. Dr. Wolfgang Zöllner über die Privatrechtsgesellschaft im Gesetz- und Richterstaat sprach. Auch die Festver­anstaltung zum 20jährigen Jubiläum fand in der Flora statt. Der inzwischen verstorbene Prof. Dr. Ralf Dahrendorf stellte am 3. November 2005 die Frage: Gibt es Europa? – welch ein Thema im Lichte der Flüchtlingskrise des Herbstes 2015. So war es für den Vorstand der Kölner Juristischen Gesellschaft ein besonderes Anliegen, auch das 30jährige Jubiläum festlich zu gestalten. Darüber hinaus besteht nach 30 Jahren die große Gefahr, dass die Kenntnis über mancherlei aufregende Vorträge und spannende Diskussionen langsam verloren geht. So haben Vorstand und Beirat der KJG die Herausgabe einer Festschrift beschlossen, die folgende Ziele im Auge hat: Es soll die Erinnerung an 30 höchst erfolgreiche Jahre bewahrt werden, es sollen einige besonders bedeutsame Vorträge aus jüngerer Zeit publiziert werden und die Mitglieder der KJG sollen zum Dank für ihre Treue zu diesem Jubiläum die Festschrift als Geschenk erhalten. Soweit in Einzelfällen die abgedruckten Vorträge früher schon einmal publiziert worden waren, haben die jeweiligen Autoren den Text aus heutiger Sicht noch einmal bearbeitet. Köln, im Oktober 2015

Hanns Prütting Johannes Riedel Rainer Klocke

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Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX H. Dieter Laum Beginn und Entwicklung der Kölner Juristischen Gesellschaft . . . . . . 1 Bernd Bürglen 30 Jahre Kölner Juristische Gesellschaft 1985 bis 2015 . . . . . . . . . . . .

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Otto Depenheuer Politik und Geld – Unzeitgemäße Betrachtungen zur ­Parteienfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Politik und Geld II – Parerga zu einer unendlichen Geschichte . . . . . 46 Norbert Feldhoff Kirchensteuer in der Diskussion – Publizistisch, politisch, volkswirtschaftlich, rechtlich und theologisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Kirche und Geld Ein Dauerthema – Schwerpunkte heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Hans-Peter Haferkamp Das Bürgerliche Gesetzbuch während des ­Nationalsozialismus und in der DDR – mögliche Aspekte und Grenzen eines Vergleichs . . . . . 101 Johanna Hey Die Zukunft der Besteuerung von Vermögen aus ­rechtlicher  Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Wolfram Höfling Reprogenetik und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Jürgen Mittelstraß Die Geisteswissenschaften und die Zukunft der Universität . . . . . . . 219 Hanns Prütting Wahrheit und Gerechtigkeit durch Verfahren? – Ist der ­staatliche Zivilprozess ein Auslaufmodell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

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Verzeichnis der Autoren

Bürglen, Bernd Dr., Rechtsanwalt in Köln Depenheuer, Otto Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Allgemeine Staatslehre, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie sowie Direktor des Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik an der Universität zu Köln Feldhoff, Norbert Dr. jur. utr. h.c., Domprobst em. Haferkamp, Hans-Peter Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Neuere Privatrechtsgeschichte und Deutsche Rechtsgeschichte, Direktor des Instituts für Neuere Privatrechtsgeschichte, Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte an der Universität zu Köln Hey, Johanna Dr., Universitätsprofessorin, Direktorin des Instituts für Steuerrecht an der Universität zu Köln und Wissenschaftliche Direktorin des Instituts Finanzen und Steuern in Berlin Höfling, Wolfram Dr., M.A., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Staatsrecht an der Universität zu Köln, seit 2012 Mitglied des Deutschen Ethikrats Laum, H. Dieter Dr. jur., Präsident des Oberlandesgerichts Köln a.D., Vorsitzender der Gutachtenkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein in Düsseldorf (bis 30. November 2015) Mittelstraß, Jürgen Dr. Dr. h.c. mult., em. Professor für Philosophie an der Universität Konstanz Prütting, Hanns Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Verfahrensrecht, des Instituts für Anwaltsrecht sowie des Instituts für internationales und europäisches Insolvenzrecht an der Universität zu Köln

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Beginn und Entwicklung der Kölner Juristischen Gesellschaft Als ich Anfang 1984 das Amt als Präsident des Oberlandesgerichts Köln angetreten hatte, bezogen mich Professor Dr. Lieb und Rechtsanwalt Dr. Bürglen alsbald in ihre Überlegungen ein, in Köln eine Juristische Gesellschaft zu gründen. Sofort habe ich mich für dieses Vorhaben engagiert, hatte ich doch die Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe und die Rechts- und Staatswissenschaftliche Vereinigung Düsseldorf kennen und schätzen gelernt. In Köln gab es zwar schon den Verein der Richter und Staatsanwälte, den Kölner Anwaltverein, den Verein für das Rheinische Notariat und den Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft. Wir Gründer waren uns aber einig: Köln braucht noch ein Forum für alle Juristen aus der Universität, alle Zweige der Gerichtsbarkeit, der Staatsanwaltschaft, der Rechtsanwaltschaft, des Notariats, der Verwaltungsbehörden des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen, der Stadt Köln, der Industrie, des Handels sowie der Banken und Versicherungen. Wir planten, hervorragende Wissenschaftler und Praktiker mehrmals jährlich zu Fachvorträgen einzuladen, die in von uns herauszugebenden Einzelschriften veröffentlicht werden sollten. Gelegentlich sollten Mitglieder und Gäste auch durch nichtjuristische Veranstaltungen angesprochen werden. An den Vortrag und die Diskussion sollte sich jeweils ein geselliger Teil anschließen, um persönliche Gespräche zu fördern. Unsere erste Veranstaltung fand am 5. Dezember 1985, also vor fast 30 Jahren, statt. Der damalige Präsident des Bundesgerichtshofs Professor Dr. Pfeiffer sprach über die Rechtsfortbildung durch den Bundesgerichtshof unter besonderer Berücksichtigung des Arztrechts. Mit überzeugenden Argumenten und praktischen Beispielen zeigte er, dass richterliche Rechtsfortbildung angesichts verbreiteter Zurückhaltung des Gesetzgebers unverzichtbar, die rückwirkende Anwendung einer neuen oder geänderten Rechtsprechung allerdings durchaus problematisch sein kann. Im Einzelnen wies er nach, wie das Richterrecht der Arzthaftung die Beweisnot des Patienten einerseits und die Gefahrenneigung der ärztlichen Tätigkeit andererseits ausgewogen berücksichtigte, und zwar „besser als abstrakt formulierte und generell geltende Gesetze“. Die Geschichte hat Pfeiffer bestätigt. Im jetzt geltenden Patientenrechtegesetz ist die Substanz dieses Richterrechts kodifiziert, aber kaum verändert worden. Am 10. Juni 1986 sprach als damaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts Professor Dr. Roman Herzog in seiner zupackenden Art über das Thema „Der Integrationsgedanke und die obersten Staatsorgane“. Er hatte schon in der Festschrift zum 70. Geburtstag von Carl Carstens 1984 den Bundespräsidenten und das Bundesverfassungsgericht in der Pflicht gesehen, „den Gedanken des über den Parteien stehenden, dem Gemeinwohl verpflichteten Staates wach zu halten“ und „ein Kontrastprogramm zu den Verfassungsorganen Bundestag und Regierung“ zu bilden. In einer parlamentarischen Demokratie müssten Regierung und Opposition polarisieren, um politische Streitfragen zu lösen und Al1

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ternativen deutlich zu machen. Jedoch müsse auch der Bundespräsident Themen ansprechen, die dem Volk auf den Nägeln brennen, und dabei das Recht zu Äußerungen haben, die nicht allen Politikern gefallen. Er müsse aber „zunächst herausarbeiten, was den politischen und sozialen Gruppierungen in unserem Land gemeinsam ist“. Die Vorträge der obersten Richter Deutschlands wirkten wie Paukenschläge. Sie hatten ein großes Echo, verschafften der Kölner Juristischen Gesellschaft viele neue Mitglieder und trugen dazu bei, dass die Gründer in der Lage waren, ihre Pläne umfassend zu verwirklichen. Die Liste der Kölner Vorträge liest sich wie eine Aufzählung aller wichtigen rechtlichen oder rechtspolitischen Streitfragen der letzten drei Jahrzehnte. Sie ist so umfangreich, dass ich neben den eingangs genannten Vorträgen nur noch wenige andere ansprechen kann. Am 26. Januar 1987 sprach Professor Dr. Hanau über „Aktuelle Probleme des Arbeitskampfrechts“ vor dem Hintergrund damals angekündigter Warnstreiks den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an, den der berühmte Kölner Wissenschaftler und Richter Hans Carl Nipperdey in das Privatrecht übernommen und das Bundesarbeitsgericht im Arbeitskampfrecht angewendet hatte. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist immer noch relevant, wie die Streiks der Piloten und Lokführer gezeigt haben. Gegenstand des Vortrags war auch eine Novellierung des § 116 AFG, die damals wegen möglicher Folgen für die arbeitsrechtliche Kampfparität umstritten war. Hanau kam zu dem Schluss, dass das geltende Arbeitskampfrecht auch ohne gesetzliche Basis dank Nipperdey „auf klaren Prinzipien beruht und folgerichtig aufgebaut ist“. Dem ist nichts hinzuzufügen. Am 10. Dezember 1987 fand eine gemeinsame Veranstaltung mit der Kölner Medizinischen Gesellschaft statt. Professor Dr. jur. Erwin Deutsch sprach über „Rechtliche Probleme bei Aids“ und der Virologe Professor Dr. med. Hans Eggert über „Neue medizinische Erkenntnisse bei Aids“. Eggert hatte die Sorge, es könne eine katastrophale Epidemie ausbrechen. Sie ist zum Glück nicht eingetreten. Drohende Tragödien lassen sich manchmal abmildern. Ein volles Haus mit vielen Mitgliedern und Gästen bescherte uns am 18. Januar 1988 Marcel Reich-Ranicki. Über das Thema „Deutsche Literatur hier und heute, hüben und drüben“ sprach er in seiner oft nachgeahmten, aber nie erreichten Diktion eindringlich und überzeugend. Als ich mich von seinen druckreif formulierten Diskussionsbeiträgen beeindruckt zeigte, antwortete er mir mit ungewohnter Bescheidenheit: „Die Leute fragen immer dasselbe.“ Auch nach dem Vortrag unterhielt er uns bei einem gemeinsamen Essen noch lange mit seinem sprühenden Witz. Unser Mitgründer Professor Dr. Manfred Lieb sprach am 29. April 1988 über Rechtsfragen der nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Er schilderte umfassend die Konflikte, die gelöst werden müssen, wenn früher gemeinsam wirtschaftende Lebenspartner nach ihrer Trennung Rechtsansprüche gegeneinander stellen, obwohl sie Rechtsregeln eigentlich vermeiden wollten. Lieb stellte die von den Gerichten und der Rechtswissenschaft gefundenen Lösungen vor und nahm dazu zustimmend oder kritisch eingehend Stellung. 2

Beginn und Entwicklung der Kölner Juristischen Gesellschaft

Professor Dr. Helmut Coing erinnerte am 5. Juni 1989 unter dem Thema „Von Bologna bis Brüssel – Europäische Gemeinsamkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ daran, dass ab dem Jahre 1200 die Jurisprudenz in Bologna das antike corpus iuris Justinians als Quelle zur Lösung aktueller Rechtsprobleme entdeckte und ihm gemeinsam mit dem Kanonischen Recht für zwei Jahrhunderte als ius commune in Mittel- und Westeuropa Geltung verschaffte, bis es in der Aufklärung von nationalen Kodifikationen abgelöst wurde. Coings Hoffnung, das Bewusstsein einer gemeinsamen Rechtsgeschichte biete die Chance auf eine Wiedergeburt eines einheitlichen Rechtsdenkens in Europa, ist bisher nicht in Erfüllung gegangen. Die Euro-Krise zeigt vielmehr, dass die Völker Europas immer noch vorrangig national denken. Die Wiedervereinigung Deutschlands führte alsbald zu mehreren Vorträgen: Professor Dr. Georg Brunner, der inzwischen leider viel zu früh verstorben ist, sprach über „Politischer Systemwandel und Verfassungsreform in Osteuropa“ und Professor Dr. Norbert Horn über „Markt und Recht – Der Übergang der DDR zur Marktwirtschaft“. Beide Vorträge enthielten hervorragende Problem­ analysen. Sie weckten große Sorgen, aber auch die Hoffnung, dass sich die Transformationsprobleme nach und nach bewältigen lassen. Diese Hoffnung hat sich weitgehend als gerechtfertigt erwiesen. In Osteuropa herrschen Freiheit und gewachsener Wohlstand. In der früheren DDR gibt es Freiheit und verbreitet „blühende Landschaften“, weil ihre Bürger die Erfahrung machten, dass sich Arbeit wieder lohnt, und die Menschen in der alten Bundesrepublik bereit waren, mit Rat und Tat Hilfe zu leisten. Am 15. November 1990 sprach Landespolizeipräsident i. R. Dr. Alfred Stümper über „Die Herausforderung des Rechtstaats auf dem Hintergrund eines weltweiten Umbruchs im Kriminalitätsgeschehen“. Er schilderte das Entstehen eines neuen „kriminalgeographischen Raums“ durch die europäische Integration und die deutsche Wiedervereinigung sowie die weltweite Verflechtung des Verbrechens unter Nutzung neuester technischer Errungenschaften. Neue Betätigungsfelder für die Kriminalität ergäben sich auch durch die internationale Verflechtung der industriellen Fertigung und die dadurch entstehenden weltweiten Abhängigkeiten. Die kriminelle Integration vollziehe sich viel schneller als die internationale Zusammenarbeit der Polizeien. „Ermittlungen gegen eine raffinierte, abgeschottete, professionell und vor allem international gekonnt konspirativ agierende Kriminalität“ müssten Polizeibehörden begegnen mit umfangreichem „Sammeln, Bewerten, Auswerten und Austauschen von kleinsten Informationen aus unterschiedlichen Bereichen über einen längeren Zeitraum“. Der Datenschutz mache das schwer. Die Vorbehalte gegen die „negative Rasterfahndung“ hätten sich ideologisch so verfestigt, dass auch ein „bloßes Überdenken anderer Meinungen“ kaum möglich sei. – Geändert hat sich seither wenig. Probleme aufzeigen heißt nicht, sie zu lösen. Offenbar sind Ideologien meist stärker als die Vernunft. Am 2. Juli 1991 befasste sich Professor Dr. Isensee mit der Frage: „Braucht Deutschland eine neue Verfassung?“, eine Frage, die er überzeugend mit „Nein“ beantwortete. Die DDR-Bürger hatten das DDR-Regime gestürzt, um an Freiheit und Wohlstand teilzuhaben, aber auch, um das Bonner Grundgesetz zu 3

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erhalten, „die beste Verfassung, die Deutschland je hatte“. Inzwischen gibt es in Ost und West „Verfassungspatriotismus“. Der Vortrag von Professor Dr. Klaus Lüderssen am 7. Mai 1992 „Was lässt der Rechtsstaat vom Unrecht übrig? Zur Problematik der strafrechtlichen Bewertung der DDR-Vergangenheit“ zeigte mir Parallelen zur Bewältigung der NS-Vergangenheit. Strafprozesse eignen sich wohl nicht zur historischen Aufarbeitung. Wer staatliches Unrecht erleiden musste, erwartet mit Recht, dass die Täter bestraft werden. In einem Unrechtsstaat mutmaßlich begangene strafbare Handlungen vor Gericht zu beweisen, ist jedoch meist sehr schwer. Der Rechtsstaat wird daher stets etwas „vom Unrecht übrig“ lassen müssen. Thesen, die nicht jedem gefallen, erörterte auch Professor Dr. Arnulf Baring am 14. Juni 1992 in seinem Vortrag mit dem Thema „Die Krise der Bundesrepublik: Ist unsere Gesellschaft neuen Herausforderungen gewachsen?“ Er hat in seinem 1997 in der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart erschienenen Buch „Scheitert Deutschland?“ substantiiert vorausgesagt, dass hohe Transferzahlungen fällig würden, wenn man unterschiedlich leistungsstarke Gebiete in einer Währungsunion zusammenfasse. Am 2. Februar 1994 sprach der damalige sächsische Justizminister Steffen Heitmann, Mitglied der CDU und des Sächsischen Landtages, Wunschkandidat Helmut Kohls und der CDU für die Nachfolge Ernst von Weizsäckers im Amt des Bundespräsidenten, zum Thema „Gedanken zu Recht und Justiz im wiedervereinigten Deutschland“. Er wurde damals von politischen Gegnern und in vielen Medien attackiert, weil er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 18. September 1994 zum Umgang mit der NS-Vergangenheit gesagt hatte: „Das Merkwürdige ist in der Bundesrepublik Deutschland, dass es ein paar Bereiche gibt, die sind tabuisiert… Es gibt eine intellektuelle Debattenlage, die nicht unbedingt dem Empfinden der Bürger entspricht, die man aber nicht ungestraft verlassen kann. Dazu gehört das Thema Ausländer. Dazu gehört das Thema Nazi-Vergangenheit Deutschlands. Dazu gehört das Thema Frauen. Ich glaube, dass man diese Debatten aufbrechen muss, selbst auf die Gefahr hin, dass man in bestimmte Ecken gestellt wird, in denen man sich gar nicht wohl fühlt.“ Diese Analyse erscheint mir zutreffend. Jedenfalls muss sie in einer offenen Gesellschaft vertretbar sein. Trotzdem brach gegen Heitmann eine Kampagne los. Nur wenige wagten, für ihn einzutreten. Einer von ihnen war Roman ­Herzog, als er sagte, er habe Heitmann als klugen Justizminister kennen und schätzen gelernt, der wirklich „ungerecht behandelt“ worden sei. Die prominente Unterstützung hat Heitmann nicht geholfen. Am Ende musste er auf seine Kandidatur verzichten und als Justizminister zurücktreten. In der Kölner Juristischen Gesellschaft hielt er einen inhaltlich und rhetorisch brillanten Vortrag. Das Publikum dankte ihm mit anhaltendem Beifall und einer lebhaften Diskussion.

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Beginn und Entwicklung der Kölner Juristischen Gesellschaft

Seine Prophezeiung hat sich leider verwirklicht. Die Eurokrise schwelt immer noch. Wer sie wirksam zu lösen sucht, muss mit Diskriminierung rechnen. Professor Dr. Hanns Prütting befasste sich am 7. Dezember 1999 mit dem Thema „Rechtsmittelreform 2000 oder: Der Staat spart und der Rechtsstaat leidet“. Sein Plädoyer gegen die allgemeine Einführung eines dreigliedrigen Gerichtsaufbaus hatte zum Glück Erfolg: Die Amtsgerichte sind uns erhalten geblieben. Prütting sprach zudem die Entlastung der Gerichte durch außergerichtliche Streitschlichtung an. Auf diesem Gebiet habe ich im Ruhestand als inzwischen langjähriger Vorsitzender der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein die Erfahrung gemacht, dass unsere Kommission und die anderen ärztlichen Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen in Deutschland in der Lage sind, Konflikte zwischen Patient und Arzt durch fachliche Beurteilung von Diagnostik und Therapie schnell beizulegen und dadurch viele lang dauernde Gerichtsverfahren zu vermeiden, ohne die Beteiligten und den Steuerzahler mit Kosten zu belasten. Zudem nutzen Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen ihre Bescheide für Fachaufsätze und Fortbildungsveranstaltungen und tragen dadurch zur künftigen Vermeidung von ärztlichen Behandlungsfehlern bei. Sie sind ein wegweisendes Beispiel für erfolgreiche Streitschlichtung und Qualitätssicherung. Auch in anderen Bereichen sollte man prüfen, ob Streitigkeiten eher durch Moderation oder durch sachverständige Beurteilung zu lösen sind. Die Kölner Juristische Gesellschaft hat die richtigen Themen ausgewählt, bedeutende Persönlichkeiten als Referenten gewonnen, die Vorträge durch Veröffentlichung in ihrer Schriftenreihe allen Interessierten zugänglich gemacht, im Rückblick Entwicklungslinien der Rechtswissenschaft und -praxis verdeutlicht und in politisch streitigen Problemfeldern mutig, aber differenziert Stellung bezogen. In den letzten Wochen habe ich fast die ganze Schriftenreihe noch einmal studiert und dabei viele Erinnerungen an meine Kölner Zeit, eine der schönsten in meinem Berufsleben, belebt. Die Kölner Juristische Gesellschaft gehört inzwischen zu den besonders angesehenen Institutionen ihrer Art nicht nur im Bezirk des Oberlandesgerichts Köln, sondern weit darüber hinaus. Ich bin davon überzeugt, dass sie noch lange lebt, blüht und gedeiht.

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30 Jahre Kölner Juristische Gesellschaft 1985 bis 2015 Als zum Jubiläumsanlass „175 Jahre Oberlandesgericht Köln“ (1994) die Aktivitäten der „Kölner Juristischen Gesellschaft“ vorgestellt wurden, sind die zu deren Gründungszeitpunkt (1985) angestellten Überlegungen erörtert worden: Auf die bestehenden Institutionen in Bonn einerseits („Bonner Rechtspolitische Vereinigung“) und Düsseldorf andererseits („Rechts- und Staatswissenschaftliche Vereinigung e.V.“) war nicht nur räumlich, sondern auch in Bezug auf deren Ausrichtung Rücksicht zu nehmen. Das ist im Beitrag Bürglen1 geschildert worden. Zu den Vereinigungen hatte Gero Kellermann2 geschrieben, dass die Bonner Gesellschaft „anscheinend nicht mehr existent“ ist (S. 276) bzw. zu Düsseldorf auf S. 277 „nicht mehr existent“. Die „Bonner Rechtspolitische Vereinigung“ hatte – statutenmäßig – eine andere Ausrichtung. Am Sitz der Bundesregierung lag es nahe, die Rechtsetzung des Bundes zu begleiten, weswegen die Ministerialen des Bundesministeriums der Justiz deutlichen Einfluss auf die Themen hatten. Die grundsätzlich unterschiedliche Themenstellung beider Gesellschaften war der Ausgangspunkt dafür, den Kontakt der „KJG“ nicht nur auf den Landgerichtsbezirk Aachen, sondern auch nach Bonn zu erstrecken. Das hat seinen Ausdruck darin erfahren, dass die Landgerichtspräsidenten Kurt Pillmann bzw. Gräfin von Schwerin Mitglieder im Beirat der „KJG“ waren bzw. sind. Mit dem Wechsel der Bundesregierung nach Berlin hat die Bonner Gesellschaft einen Statuten- und Auftrittswechsel zum „Bonner Juristischen Forum“ vollzogen. Eine Berührungsscheu Bonn und Köln gibt es nicht, was die Tatsache belegt, dass der Unterzeichner auch Mitglied im „Bonner Juristischen Forum“ geworden ist. Der Namenswechsel in Bonn mag zu der vorerwähnten Bemerkung in der Schrift Kellermanns beigetragen haben. Anders in Düsseldorf. Nachfolgend wird nochmals erwähnt, dass der frühere Vorsitzende des Kölner Anwaltvereins Ludwig Koch als Referent in Düsseldorf vorgetragen hatte. Auf wiederholte Rückfrage ist aus Düsseldorf bestätigt worden (was von einzelnen Mitgliedern der „KJG“ hier in Köln betont worden war), dass die Düsseldorfer Vereinigung unverändert prosperiert.

1 Bernd Bürglen, Die Kölner Juristische Gesellschaft, in: Dieter Laum/Adolf Klein/Dieter Strauch (Hg.), Rheinische Justiz. Geschichte und Gegenwart. 175 Jahre Oberlandesgericht Köln, 1994, S. 833 ff. 2 Gero Kellermann, Juristische Studiengesellschaften im deutschsprachigen Rechtsraum, 2005.

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I. In Köln war die Gründungsinitiative vom Kölner Anwaltverein ausgegangen, der – bis heute – den Schreibtisch der „Kölner Juristischen Gesellschaft“ stellt. Im vorerwähnten Beitrag Bürglen ist die „Initialzündung“ durch den früheren Vorsitzenden des Kölner Anwaltvereins Ludwig Koch geschildert worden, als er von den eigenen Erfahrungen seines Vortrags vor der Düsseldorfer „Rechtsund Staatswissenschaftlichen Vereinigung“ berichtete. Die vom Kölner Anwaltverein verstärkt verfolgte Fortbildung seiner Mitglieder sei doch kein Hinderungsgrund, dass im Rahmen einer „Kölner Juristischen Gesellschaft“ – wie in Düsseldorf – Fachvorträge zu Gehör kommen und sich die Anwesenden im Anschluss daran im Gespräch über die Akzente des Vortrags, aber auch über andere Interessenpunkte austauschen können, nachdem Richter aller Fachrichtungen, Anwälte und Justitiare, Mitglieder der Juristenfakultät und Staatsanwälte zusammentreffen. Unverändert ist dies als der typisch „rheinische Akzent“ dieser Gründungsüberlegungen anzusprechen. Mehr noch – ganz bewusst war ins Auge gefasst worden, die Mitglieder einer solchen Gesellschaft nicht nur mit abstrakten Rechtsthemen zu konfrontieren (wie das ein Vergleich mit den damaligen Themen der Bonner Gesellschaft nahe legte). Gezielt wurde zusätzlich die Überlegung verfolgt, den überwiegend juristischen „Pflicht“-Themen jährlich eine „Kür“, bevorzugt aus dem Kölner Kulturleben, zur Seite zu stellen, um die Veranstaltungen nicht nur den Mitgliedern, sondern auch deren Angehörigen und Freunden zu öffnen. Entsprechend waren weder Bonn noch Düsseldorf angelegt. Wohl aber entsprach es der langjährigen Erfahrung des Kölner Anwaltvereins, dass die fachspezifischen Fortbildungsveranstaltungen (um die es bei der Themenwahl einer „Kölner Juristischen Gesellschaft“ nicht gehen konnte und sollte) durch Vorträge kulturellen Inhalts erfolgreich ergänzt werden konnten.3

II. Im Kölner Anwaltverein war von vornherein klar, dass den Kopf der Gesellschaft der Repräsentant der Juristischen Fakultät der Kölner Universität stellen sollte. Ganz früh ist dazu das Gespräch mit Prof. Dr. Manfred Lieb aufgenommen worden, der – universitäts- bzw. fakultätsintern – abstimmte, dass die Gründungsabsichten nicht mit anderen Planungen konkurrierten. Für einen Außenstehenden stellt sich das Bild der Kölner Juristischen Fakultät ganz anders dar als in Universitäten wie Tübingen, Marburg oder auch Freiburg. 3 Im Kölner Anwaltverein waren dies u. a. Beiträge von Becker, „Ein Spaziergang durch die Rechtsgeschichte Kölns“, weiter der römischrechtliche Vortrag von Luig, „Die Herstellung von Diatretgläsern als Vertrag sui generis“ (anl. der Ausstellung „Glas der Cäsaren“ im Römisch-Germanischen Museum) oder der Vortrag von Rüthers, „Carl Schmitt im Dritten Reich“ bzw. die Lesung von Rosendorfer aus „Ballmanns Leiden“ (Einführung in das Insolvenzrecht).

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Wie kaum eine andere Universität in Deutschland wird das Bild der Kölner Fakultät durch Institute geprägt, die von Fördervereinen unterstützt bzw. getragen werden. Ziel der Fördervereine ist es unter anderem, finanzielle Mittel über die Mitglieder der Fördervereine einzuwerben, was Eigenaktivitäten und Veranstaltungen voraussetzt. Im aktuellen Bild der Kölner Juristischen Fakultät gibt es insgesamt 28 Institute. Selbst wenn nicht jedes dieser Institute einen eigenen Förderverein hat, prägt das doch das Erscheinungsbild: Als Ludwig Raiser einen Ruf der Kölner Fakultät abgelehnt hatte, um seinen Tübinger Lehrstuhl beizubehalten, wurde ihm von den Studenten ein Fackelzug gebracht. Zur Erklärung seiner Entscheidung, in Tübingen zu bleiben, hat er auf das Bild der Kölner Fakultät verwiesen: Die Vielzahl der Institute gemahne ihn an eine Sandburgenlandschaft am Meer, wo sich die Interessen der Institute und ihrer Fördergesellschaften gegeneinander abgrenzten, so dass er ein einheitliches Erscheinungsbild der Kölner Fakultät vermisst habe. Sicherlich war diese Bewertung auch dem abendlichen Fackelzug geschuldet. Tatsächlich ist das aber ein Unterschied, der bei den Gründungsüberlegungen zu berücksichtigen war, wenn es darum ging, Repräsentanten der Fakultät zur Mitgliedschaft zu gewinnen.

III. Zu den Regelerfahrungen eines erfolgreichen Vereinslebens zählt es, dass auf die Satzung zwar die entscheidenden Anfangsüberlegungen konzentriert werden, dass aber – zumindest in Köln (und dabei von den Üblichkeiten im „Oberbergischen“ abweichend) – der Inhalt einer solchen Satzung ganz selbstverständlich gelebt wird. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass mit den Rechtspflegern beim Kölner Vereinsregister über Einzelpunkte dieser Satzung zu korrespondieren war, nachdem der Text der Satzung von den drei späteren Vorständen vorgelegt worden war. Es war nicht zu übersehen, dass es der Rechtspflegerseite wichtig war, ihre Gegenvorstellungen durchzusetzen, nachdem auf Antragstellerseite der Präsident des Oberlandesgerichts Köln mitgewirkt hatte. 1. Kern der Satzung ist der Vereinszweck (§ 2): „Der Verein verfolgt das Ziel, Juristen aller Berufsrichtungen miteinander ins Gespräch zu bringen und einen Gedankenaustausch über aktuelle rechtliche, rechtspolitische und allgemein interessierende Fragen zu ermöglichen. Zu diesem Zweck sollen insbesondere Vortragsveranstaltungen mit anschließender Diskussion organisiert werden, die den Mitgliedern fachliche Anregungen vermitteln, ihnen Zugang geben zu den Kenntnissen und Erfahrungen anderer Mitglieder und persönliche Begegnungen ermöglichen.“

Die Formulierung dieses Vereinszwecks hat sich – auch nach 30 Jahren – als Erfolgsrezept erwiesen. Auch wenn man die oben erörterte „Kür“ kultureller Veranstaltungen, die zumindest einmal im Jahr stattfinden sollten, wohl kaum hinter den „allgemein interessierende[n] Fragen“ suchen oder gar finden wird, wie das die Satzung formuliert.

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Bernd Bürglen

Für den Erfolg des Vereinszwecks spricht, dass die Fassung des § 2 erfolgreich in die „Leipziger Juristische Gesellschaft“ exportiert werden konnte, die – von anderen Voraussetzungen her startend – zu einem ähnlichen Vereinserfolg geführt werden konnte. 2. Der Vorstand besteht nach § 6 aus drei bis sieben Mitgliedern, wobei – seit Anbeginn – stets nur drei Vorstandsmitglieder bestimmt worden sind. Die von Anfang an verfolgte Vorstellung, dass die Universität den „Kopf“ der Gesellschaft stellen und dass der zweite Vorsitz beim jeweiligen Präsidenten des Oberlandesgerichts Köln liegen, während die Schriftführung bzw. das Schatzmeisteramt vom Repräsentanten des Kölner Anwaltvereins gestellt werden sollten, ist satzungsmäßig nicht festgeschrieben. Der Grundsatz ist aber über 30 Jahre befolgt worden. Er hat sich bewährt. Zur Kontinuität hat insbesondere beigetragen, dass die Person des ersten Vorsitzenden bislang nur einmal gewechselt hat. 3. Zum Beirat schreibt die Satzung (in § 7), dass er aus mindestens sieben und höchstens fünfzehn Mitgliedern besteht. Die Höchstzahl ist zur Besetzung immer in Anspruch genommen worden, um die unterschiedlichen Rechtsberufe aus den Mitgliederkreisen zu berücksichtigen. Das hat erfreulicherweise nicht dazu geführt, dass die Vielzahl das persönliche Engagement gemindert hätte. Der Beirat tritt jeweils einmal im Jahr zusammen und erörtert – zusammen mit dem Vorstand – die möglichen Themen und Referenten des Vortragsprogramms sehr eingehend, wobei die Aktualität des Tagesgeschehens berücksichtigt wird. Als Beispiel dafür mag der Vortrag aus den Reihen der vierten Gewalt, Dr. Heribert Prantl, Leiter des Ressorts Innenpolitik der SZ, zum „Missbrauch der dritten Gewalt? – Überlegungen zur Bildung von Superministerien zu Lasten von Justiz und Rechtspolitik“ (14.1.1999) stehen, als die Landesregierung NRW den damaligen Innenminister (Polizeiminister) zugleich mit den Aufgaben eines Justizministers betraute. Das Thema hat damals (erfolgreiche) politische Wellen geschlagen.

IV. Im Vergleich zu Satzungen anderer Juristischer Gesellschaften sind die Voraussetzungen zur Mitgliedschaft recht liberal formuliert. § 4 Abs. 1 entspricht der Üblichkeit: „Mitglied des Vereins kann jeder werden, der eine juristische Staatsprüfung bestanden oder einen juristischen akademischen Grad erworben hat oder eingeschriebener Student der Rechtswissenschaften ist.“

Die in Anspruch genommene Liberalität äußert sich im zweiten Absatz: „Andere an der Rechtswissenschaft und ihrer Förderung interessierte natürliche und juristische Personen aus Wirtschaft und Gesellschaft können aufgenommen werden, wenn dies dem Gesellschaftszweck dient.“

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30 Jahre KJG 1985–2015

Dabei soll nicht übersehen werden, dass jede Einladung zu Veranstaltungen der „KJG“ ohnehin mit den Worten beschlossen wird, dass Gäste und Freunde zur Teilnahme gerne willkommen sind.

V. Die Erfahrungen des Kölner Anwaltvereins haben sich bei den Beiträgen niedergeschlagen. Die Neuregelung in § 5 Ziff. 7 bestimmt, dass Studierende und Rechtsreferendare für das Jahr ihrer Aufnahme und das Folgejahr beitragsfrei bleiben. Die gleiche Regelung gilt für jüngere Juristen, wenn ihr Beitritt zur „KJG“ in die ersten drei Jahre ihrer beruflichen Tätigkeit fällt. Dieser Beitrittsanreiz ist wichtig, weil die Beitrittsbereitschaft in den Jahren um 1985 noch eine deutlich höhere war als heute. Das ist eine Erfahrung, die nicht auf Köln beschränkt ist.

VI. Die „Kölner Juristische Gesellschaft“ hat ihr Vereinsleben mit einem großen Auftritt und geglücktem werblichen Aplomb gestartet. Zur Gründungsveranstaltung am 5.12.1985 referierte der Präsident des BGH, Prof. Dr. Gerd Pfeiffer, zur „Rechtsfortbildung durch den Bundesgerichtshof unter Berücksichtigung des Arztrechts“, gefolgt durch den Vortrag des damaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Prof. Dr. Roman Herzog: „Der Integrationsgedanke und die obersten Staatsorgane“ (1986). Bereits das dritte Vortragsthema: Prof. Dr. Karsten Schmidt, „Stiftungswesen, Stiftungsrecht, Stiftungspolitik“ fiel mit einem lokalen Kölner Ereignis zusammen – der Eröffnung des neu gebauten Museums Ludwig. Der Vortrag: Marcel Reich-Ranicki, „Deutsche Literatur hier und heute, hüben und drüben“ (18.1.1988) deckte alle Zielvorstellungen ab, die die Gründer mit der „Kür“ zur Abrundung der juristisch bestimmten Vorträge im Auge hatten. Auch die spätere Vortragsveranstaltung: Prof. Dr. Peter Ludwig, „Gedanken eines Kunstsammlers“ verbuchte einen großen Publikumserfolg, dem sich später Vorträge von Prof. Dr. Werner Spies, „Picasso – Malen gegen die Zeit. Das Spätwerk“ bzw. Prof. Dr. Robert Suckale, „Die rheinischen Damenstifte des Mittelalters als Bastionen der Frauenmacht“ anschlossen. Auch der jüngste Vortrag: Prof. Dr. Barbara Schock-Werner, „Aufgabe und Organisation der Dombauhütten im Mittelalter und heute“ bestätigte diese Erfolgsschiene.

VII. Die „Kölner Juristische Gesellschaft“ hat eine Schriftenreihe aufgelegt, in der (§ 3 der Satzung) „die im Rahmen des Vereins gehaltenen Vorträge … nach Möglichkeit veröffentlicht werden“ sollten. Dieses Ziel konnte in den ersten 11

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Jahren durchgehalten werden, wobei die Publikationen der Schriftenreihe zunächst noch auf privaten Schreibmaschinen gesetzt und dann im Verlag Josef Eul (Bergisch Gladbach/Köln) veröffentlicht worden sind. Ab Heft 14: Walter Odersky, „Anwaltliches Berufsrecht und höchstrichterliche Rechtsprechung“ (1991) ist die Schriftenreihe im Verlag Dr. Otto Schmidt (Köln) erschienen. Dabei soll und kann nicht verschwiegen werden, dass die Schriftenreihe zu Beginn mit größerer Stetigkeit durchgesetzt werden konnte. Nicht jeder der Vorträge eignet sich zur Veröffentlichung. Nicht jeder Referent wünscht eine Veröffentlichung, weil er konkurrierende Ansprüche seines eigenen Verlages zu berücksichtigen hat. Mancher Vortrag liegt nur mit dem gesprochenen Wort vor. Die Tagesgeschäfte halten den Autor von der Schlussarbeit einer Veröffentlichung ab. Die Gründe sind vielfältig. Die Tatsache, dass nicht jeder Vortrag in der Schriftenreihe erscheint, hat den ungewollten Vorteil, dass die Kassensituation der „Kölner Juristischen Gesellschaft“ geschont wird. Denn die Beiträge, die zunächst bei 60,00 DM im Jahr lagen und sich heute bei 60,00 EUR im Jahr eingependelt haben, decken nicht nur die Unkosten für die Referenten ab, sondern auch den laufenden Verwaltungsaufwand und insbesondere die Kosten der Steh­empfänge im Anschluss an die Vorträge und die Kosten der Schriftenreihe.

VIII. Der Erfolg auch Juristischer Gesellschaften wird häufig an der Zahl der Mitglieder gemessen. In Köln hatte die „KJG“ – im Schwung der Anfangsveranstaltungen – mehr als 700 Mitglieder erreicht. Die Gesamtzahl hat sich in der Zwischenzeit auf 554 Mitglieder (Stand 14.1.2015) eingependelt. Das hat mit der Erfahrungstatsache zu tun, dass jüngere Juristen heute nicht mehr die gleiche Bereitschaft zeigen, sich wie 1985 in Institutionen dieser Art zu engagieren. Das ist eine Entwicklung, die nicht nur in Köln zu beobachten ist. Sie gilt in den neuen Bundesländern in besonderem Maße. Aber auch die heutige Mitgliederzahl ist – gemessen an den Mitgliederzahlen anderer Juristischer Gesellschaften – relativ hoch. Selbst eine Traditionsgesellschaft wie die „Juristische Gesellschaft zu Berlin“, die 2009 ihr 150jähriges Jubiläum begehen konnte, hat trotz ihrer hochgesteckten Ziele immer nur Mitgliederzahlen bestritten, die im vergleichbaren Bereich (und niedriger) gelegen haben.

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30 Jahre KJG 1985–2015

IX. Die bisherigen Themen der „Kölner Juristischen Gesellschaft“ machen ihren Aktivitätsrahmen deutlich: 5.12.1985 Präs. des BGH Prof. Dr. Gerd Pfeiffer Rechtsfortbildung durch den BGH unter besonderer Berücksichtigung des Arztrechts 10.6.1986 Präs. des BVerfG Prof. Dr. Roman Herzog Der Integrationsgedanke und die obersten Staatsorgane 10.11.1986 Prof. Dr. Karsten Schmidt Stiftungswesen – Stiftungsrecht – Stiftungspolitik 26.1.1987 Prof. Dr. Peter Hanau Aktuelle Probleme des Arbeitskampfrechts 25.5.1987 Prof. Dr. Hans-Ludwig Schreiber Steuerstrafrechtliche Problematik der indirekten Parteienfinanzierung 10.12.1987 Prof. Dr. Erwin Deutsch Rechtliche Probleme bei Aids Prof. Dr. Hans Eggert Neue medizinische Erkenntnisse bei Aids 18.1.1988 Marcel Reich-Ranicki, FAZ Deutsche Literatur hier und heute, hüben und drüben 29.4.1988 Prof. Dr. Manfred Lieb Die nichteheliche Lebensgemeinschaft 6.3.1989

Prof. Dr. Peter-Christian Müller-Graff Die Rechtsordnung auf dem Weg zum europäischen Binnenmarkt

5.6.1989

Prof. Dr. Helmut Coing Von Bologna nach Brüssel. Europäische Gemeinsamkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

30.11.1989 Prof. Dr. Siegfried Trotnow und Prof. Dr. Dagmar Coester-Waltjen Möglichkeiten, Gefahren und rechtliche Schranken gentechnischer Eingriffe unter besonderer Berücksichtigung des Entwurfs eines Embryonenschutzgesetzes 31.1.1990 Prof. Dr. Georg Brunner Politischer Systemwandel und Verfassungsreform in Osteuropa 3.5.1990

Kurt Rossa, ehem. Oberstadtdirektor Köln Gedanken zur Kommunalreform

5.7.1990

Prof. Dr. Norbert Horn Markt und Recht. Der Übergang der DDR zur Marktwirtschaft

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15.11.1990 Dr. Alfred Stümper, Landespolizeipräsident Baden-Württemberg i. R. Gewalt und Kriminalität 21.1.1991 Prof. Dr. Walter Odersky, Präs. des BGH Anwaltliches Berufsrecht und höchstrichterliche Rechtsprechung 6.5.1991

Prof. Dr. Christian Watrin Ökonomische und ordnungspolitische Fragen beim Übergang vom sozialistischen zum privaten Eigentum

2.7.1991

Prof. Dr. Josef Isensee Braucht Deutschland eine neue Verfassung? Überlegungen zu Art. 146 GG

22.10.1991 Prof. Dr. Franz Klein, Präs. des BFH Steuerrecht unter Verfassungskontrolle 10.12.1991 Prof. Dr. Hartmut Schiedermair Staatengemeinschaft und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, insbesondere zur Rechtslage in Jugoslawien und im Baltikum 10.2.1992 Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier und Präs. des VerwG Prof. Dr. Ernst Kutscheidt Asylrechtsfragen im Spannungsfeld von Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht und Politik 7.5.1992

Prof. Dr. Klaus Lüderssen Was lässt der Rechtsstaat vom Unrecht übrig? Zur Problematik der strafrechtlichen Bewältigung der DDR-Vergangenheit

14.6.1992 Prof. Dr. Arnulf Baring Die Krise der Bundesrepublik – Ist unsere Gesellschaft neuen Herausforderungen gewachsen? 23.11.1992 Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Ludwig Gedanken eines Kunstsammlers 25.1.1993 Prof. Dr. Dieter Medicus Abschied von der Privatautonomie? 12.5.1993 Prof. Dr. Detlef Linke, Neurochirurgische Klinik der Univ. Bonn Hirntod und personale Identität: Grenzen ärztlicher Möglichkeiten? 30.6.1993 Prof. Dr. Marcus Lutter Haftungsrisiken für Gesellschafter und Geschäftsführer in der GmbH 9.11.1993 Prof. Dr. Wilhelm Hennis Verfassungsreform ohne Augenmaß? – Warum die gemeinsame Verfassungskommission scheitern musste 2.2.1994

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Steffen Heitmann, Justizmin. Sachsen Gedanken zu Recht und Justiz im wiedervereinten Deutschland

30 Jahre KJG 1985–2015

10.5.1994 Prof. Dr. Peter Hommelhoff Der Einfluß des europäischen Rechts auf das Privatrecht 3.11.1994 Prof. Dr. Peter J. Tettinger Die Ehre – ein ungeschütztes Verfassungsgut? 9.2.1995

Prof. Dr. Bernd Rüthers Das Ideologische an der Jurisprudenz

2.5.1995

Prof. Dr. Werner Ende Der Heilige Krieg findet nicht statt

27.6.1995 Prof. Dr. Hans Joachim Hirsch Strafrecht als Mittel zur Bekämpfung neuer Kriminalitätsformen? 28.9.1995 Generalvikar Norbert Feldhoff Kirchensteuer in der Diskussion Publizistisch, politisch, volkswirtschaftlich, rechtlich und theologisch 30.11.1995 10 Jahre „Kölner Juristische Gesellschaft“ Prof. Dr. Wolfgang Zöllner Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetz- und Richterstaat 6.2.1996

Prof. Dr. Elisabeth Noelle-Neumann Wertewandel und ungeschriebene Gesetze zur Theorie der öffentlichen Meinung

22.4.1996 Prof. Dr. Klaus Luig Was hat uns die Rechtsgeschichte heute noch zu sagen? 18.6.1996 Prof. Dr. Jens Peter Meincke Hat das Wohnraummietrecht eine Zukunft? 14.11.1996 Prof. Dr. rer. pol. h.c. E.-J. Mestmäcker Staatsaufgaben und Marktversagen: Zur Funktion von Daseinsvorsorge und Grundversorgung im deutschen und europäischen Recht 3.2.1997

Prof. Dr. F. J. Radermacher Globalisierung als politisch-gesellschaftliche Herausforderung

22.4.1997 Generalbundesanwalt Kay Nehm Der Untersuchungshäftling als Interviewpartner 27.5.1997 Prof. Dr. Meinhard Miegel Perspektiven der Arbeitsmärkte frühindustrialisierter Länder – Das Beispiel Deutschland 13.11.1997 Prof. Dr. Reinhard Zimmermann Geschichtliche Rechtswissenschaft heute? 16.2.1998 Prof. Dr. Günter Hirsch, Richter am EuGH Der Europäische Gerichtshof: eine Ansicht von innen

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22.4.1998 Gerd Nobbe, Richter am BGH Freigabepflicht und Deckungsgrenze bei Sicherungsverträgen 16.6.1998 OStA Hans Jürgen Fätkinheuer Kriminalitätsentwicklung in Deutschland 5.11.1998 Prof. Dr. Werner Knopp Kultur für die Hauptstadt – von Preußens Königen zum Bundeskulturminister 14.1.1999 Dr. jur. Heribert Prantl, SZ Missbrauch der dritten Gewalt? – Überlegungen zur Bildung von Superministerien zu Lasten von Justiz und Rechtspolitik 8.4.1999

Vizepräs. LG Amberg Günter Müller Vor- und Nachteile des deutschen Strafprozeßrechts im europäischen Vergleich

7.6.1999

Prof. Dr. Wolfgang Löwer Wen oder was steuert die Öko-Steuer?

7.12.1999 Prof. Dr. Hanns Prütting Rechtsmittelreform 2000 Oder: Der Staat spart und der Rechtsstaat leidet 8.2.2000

Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Rürup Das Elend mit der Rentenreform

25.5.2000 Prof. Dr. Robert Suckale Halb geistlich schon und halb noch weltlich … – Die Rheinischen Damenstifte des Mittelalters als Bastionen der Frauenmacht und ihre schrittweise Entrechtung im Laufe der Geschichte 13.11.2000 Dr. Jürgen Schmidt-Räntsch, Min.Rat. BJM Die große Schuld­rechtsreform 31.1.2001 Prof. Dr. Otto Depenheuer Politik und Geld: Unzeitgemäße Betrachtungen zur Parteienfinanzierung 26.4.2001 Prof. Dr. Barbara Dauner-Lieb Pech für Gretchen – Grenzen der Vertragsfreiheit bei der Eheschließung 3.7.2001

Prof. Dr. Wolfram Höfling Menschenwürde oder Biomaterial? – Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik und des sog. therapeutischen Klonens

22.10.2001 Hans Olaf Henkel, BDI Prof. Dr. h.c. Michael Streeck, Dir. Max Planck Institut f. Gesellschaftsforschung Zwie- und Streitgespräche 50 Jahre (Montan-)Mitbestimmung

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30 Jahre KJG 1985–2015

31.1.2002 Joachim Gauck, Bundesbeauftragter f. die Stasi-Unterlagen Der lange Schatten der Diktatur – Wie steht es mit der inneren Einheit der Deutschen? 16.5.2002 Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß Geisteswissenschaften und die Zukunft der Universität 16.1.2003 Prof. Dr. Wulf-Henning Roth Der nationale Zivilrichter und das europäische Privatrecht 8.4.2003

Johnny Erling, Journalist China – Der große Sprung ins Ungewisse

5.5.2003

Prof. Dr. Stephan Hobe, LL.M. Eine europäische Verfassung: Wünschenswert oder überflüssig?

4.12.2003 Prof. Dr. Eduard Picker Verdrängung der Privatautonomie durch neues Privatrecht? 25.3.2004 RA Prof. Dr. Egon Müller Zur Rolle der Staatsanwaltschaft im Alltag der Strafverfolgung 24.6.2004 Prof. Dr. Hans-Peter Haferkamp Das Bürgerliche Gesetzbuch während des Nationalsozialismus und in der DDR. Mögliche Aspekte und Grenzen eines Vergleichs 10.11.2004 Prof. Dr. Heinz-Peter Mansel Divergenzen im transatlantischen Rechtsverkehr und die Anerkennung US-amerikanischer Urteile in Deutschland 16.6.2005 Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Isensee Auflösung des Bundestages durch inszeniertes Misstrauen? 3.11.2005 20 Jahre „Kölner Juristische Gesellschaft“ Prof. Dr. Ralf Dahrendorf Gibt es Europa? 25.1.2006 Prof. Dr. Angelika Nußberger Abschied vom Rechtsstaat in Russland? 7.12.2006 Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Werner Spies Picasso – Malen gegen die Zeit. Das Spätwerk 1.2.2007

Prof. Dr. Markus Gehrlein, Richter am BGH Braucht Deutschland einen Bundespräsidenten?

10.5.2007 Prof. Dr. Haimo Schack Der Sammler und sein Recht 25.9.2007 Prof. Dr. Elisabeth Kieven, Rom Vom Weltwunder zum Weltkulturerbe: Kultur als Gemeinschaftsgut

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18.10.2007 Prof. Dr. Wolfgang Römer Reform des Versicherungsvertragsrechts: Das 100 Jahre alte Gesetzeswerk VVG wird modernisiert 12.2.2008 Prof. Dr. Martin Henssler Prof. Dr. Ulrich Preis Der Entwurf eines Arbeitsgesetzbuches 12.3.2008 Prof. Dr. Günter Hirsch, Präs. des BGH Auf dem Weg zum oligarchischen Richterstaat? 29.4.2008 Prof. Dr. med. Jürgen Hescheler, Inst. f. Neurophysiologie, Köln Priv.-Doz. Dr. med. Christiane Woopen, Inst. f. Geschichte und Ethik der Medizin, Köln Prof. Dr. Christian Hillgruber, Bonn Die Forschung an embryonalen Stammzellen 21.5.2008 Prof. Dr. Udo Steiner, RiBVerfG Was geht der Sport die Juristen an? 1.12.2008 Prof. Dr. Thomas von Danwitz, RiEuGH Die Entwicklung des Schutzes der Grundrechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung 15.1.2009 Prof. Dr. Christian Fischer Mythos Auslegung – Über Grundfragen juristischer Entscheidungen 11.2.2009 Dr. Brigitte Hamann Hitlers Wien – Lehrjahre eines Diktators 6.5.2009

Prof. Dr. Claus Kreß Das erste Staatsoberhaupt im Visier des Weltstrafgerichts – Der Fall Al Bashir vor dem Internationalen Strafgerichtshof

30.6.2009 Prof. Eduard Beaucamp, FAZ Die deutsch-deutsche Kunstgeschichte 20 Jahre nach dem Fall der Mauer 9.11.2009 Prof. Dr. Horst Dreier Das Grundgesetz im Spiegel seiner Vorläufer – Betrachtungen aus Anlass seines 60jährigen Jubiläums 12.1.2010 Lord Justice Rupert Jackson, London Costs of Civil Litigation – a Comparative View of the German and English System 15.6.2010 Prof. Dr. Richard M. Buxbaum, Berkeley Die globalen Auswirkungen nationaler Wirtschaftspolitik und die transatlantische Finanzkrise

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30 Jahre KJG 1985–2015

6.10.2010 Prof. Dr. Michael Stolleis Zwei Kulturen des Öffentlichen Rechts in Deutschland (1949– 1989) 7.12.2010 Andreas Mundt, Präs. des BKA Neue kartellrechtliche Instrumente? Aktuelle Entwicklungen im deutschen und europäischen Kartellrecht 14.4.2011 Generalstaatsanwalt Jürgen Kapischke RA Prof. Dr. Franz Salditt Der Strafprozess: Herausforderungen für Staatsanwaltschaft und Verteidigung 5.5.2011

RA Dr. Jörg Risse Stuttgart 21 und die Sarrazin-Affäre: Zwei erfolgreiche Mediationen?

28.6.2011 Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Winfried Hassemer Neurowissenschaft und Strafrecht: Muss Strafe sein? 8.9.2011

Dr. Andreas Blühm, Dir. Wallraf-Richartz-Museum Das Wallraf-Richartz-Museum und die Juristen

19.10.2011 Prof. Dr. Heinz-Peter Mansel Der Stand des europäischen Zivilrechts 23.1.2012 Prof. em. Dr. Klaus Marxen Verräter vor dem Volksgericht 30.1.2012 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, BMinisterin der Justiz Der Stand der Rechtspolitik in der Mitte der Legislaturperiode – Rückblick und Ausblick 6.9.2012

Prof. Dr. Juergen B. Donges Aktuelle Probleme und Irritationen im Euro-Raum

22.10.2012 Prof. Dr. Johanna Hey Staatlicher Zugriff auf privates Vermögen: Zur Zukunft von Vermögen- und Erbschaftsteuer 12.12.2012 Prof. Dr. Mathias Rohe Das islamische Recht 30.1.2013 RA Prof. Dr. Peter Raue Der Kunstfälscherskandal Beltracchi 27.3.2013 Prof. Dr. Frank Neubacher Gewalt unter Gefangenen – Ergebnisse eines kriminologischen Forschungsprojekts in Nordrhein-Westfalen und Thüringen 18.4.2013 Dr. Claudia Ott Kriminalgeschichten aus Tausendundeiner Nacht 2.7.2013

Prof. Dr. Cornelius Nestler Der Eichmann-Prozess 1962 und das Demjanjuk-Verfahren 19

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25.9.2013 Prof. Dr. Barbara Schock-Werner Aufgabe und Organisation der Dombauhütten im Mittelalter und heute 2.12.2013 Dr. Werner Hoyer, Präs. d. Europ. Investitionsbank, Luxemburg Der Beitrag der Europäischen Investitionsbank in Luxemburg zur Überwindung der Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa 2.4.2014

Thomas Kutschaty, JustizMin. NRW RA Dr. Klaus Moosmayer, Siemens AG Ein Strafrecht für Unternehmen?

12.5.2014 RA Bernhard Töpper, ZDF Entwicklung der aktuellen Gerichtsberichterstattung im Fernsehen (von Hallstein über Honecker bis Hoeneß) 25.6.2014 RA Prof. Dr. Thomas Mayen, Präs. DJT, Bonn Vorstellung der Themen und ersten Gutachterergebnisse zum 70. Deutschen Juristentag Prof. Dr. Dr. h.c. em. Peter Hanau Vorstellung und Diskussion der Abteilung Arbeitsrecht mit dem Thema „Stärkung der Tarifautonomie: Welche Änderungen des Tarifrechts empfehlen sich?“ 23.9.2014 Prof. Dr. Hanns Prütting Wahrheit und Gerechtigkeit durch Verfahren? Ist der staatliche Zivilprozess ein Auslaufmodell? 4.11.2014 Prof. Dr. Claus Kreß Völkerrechtliche Aspekte der aktuellen Konflikte in Syrien und im Irak 2.12.2014 Prof. Dr. Christian Rolfs Die Entscheidung des BSG zum Syndikus-Anwalt und ihre Konsequenzen 24.6.2015 OStA a.D. Gerhard Wiese Der erste Auschwitz-Prozess vor dem Landgericht Frankfurt

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Politik und Geld – Unzeitgemäße Betrachtungen zur ­Parteienfinanzierung* Inhaltsübersicht Vorwort I. Oberflächenstruktur eines Parteien­ finanzierungsskandals II. Parteienfinanzierung als Problem der Demokratie 1. Die unendliche Geschichte der Parteienfinanzierung 2. Parteienfinanzierung als welt­ weites Problem 3. Überblick über den Gang der Überlegungen III. Logik politischer Macht IV. Politische Funktionen und Wirkungen von Geld 1. Abstraktheit des Geldes: Entfremdung und Verführung 2. Fluch des Geldes V. Käuflichkeit der Politik? 1. Notwendige Distanz von Politik zu Geld 2. Schwächung der Politik durch Geld

3. Die Funktion des Transparenz­ gebotes 4. Das Dilemma der Politik VI. Politik durch Geld VII. Die Finanzierung politischer Parteien 1. Skandalindizierter Änderungs­ bedarf 2. Dogmatische Konsistenz und prinzipielle Angemessenheit des geltenden Finanzierungsrechts 3. Das Sanktionensystem 4. Der Präsident des Bundestages als Festsetzungsbehörde 5. Politisches Sponsoring 6. Geringfügigkeitsgrenze 7. Vermögens- und Unternehmens­ besitz VIII. Parteienfinanzierung – Entscheidung des Parlaments in eigener Sache? IX. Wider die grassierende Politik- und Parteienverdrossenheit

Vorwort In der modernen, funktionsorientierten Gesellschaft sind Politik und Wirtschaft, Macht und Geld getrennt. Politische Entscheidungen dürfen nicht käuflich sein. Da aber der politische Betrieb – Staat und Parteien – gleichwohl finanziert werden muss, bedient sich der Staat der abstrakten, gegenleistungsfreien Steuer zur Einnahmeerzielung und orientiert sich an formalen, gemeinwohl­ orientierten Maßstäben bei seinen Ausgaben. Gleichwohl schwelt das Problem unter der Oberfläche weiter und jeder Skandal im Umfeld von Politik und Wirtschaft nährt den latent stets präsenten Verdacht, dass die Politik letztlich doch vom Geld abhängig ist, das Kapital den Überbau der Politik bilde. Eine derartige Sichtweise überschätzte indes den Einfluss des Geldes im Bereich der Politik deutlich.

* Vortrag, gehalten am 31.1.2001 vor der Kölner Juristischen Gesellschaft, veröffentlicht in der Schriftenreihe der Kölner Juristischen Gesellschaft Band 26, 2001.

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Nachfolgende Studie sucht das Problem von Politik und Geld am Beispiel der Parteienfinanzierung zu analysieren. Dringlich erforderlich dafür erscheint, mögliche normative Lösungsansätze mit einer möglichst realistischen Beschreibung des zugrunde liegenden Sachverhalts zu fundieren. Der CDU-Finanzierungsskandal bildet dabei nur Anlass und Folie, das zugrunde liegende allgemeine Strukturproblem zu analysieren und manche Vorurteile zu hinterfragen, um derart zu einer angemessenen Bewältigung der Probleme beizutragen. Die hier vorgelegten Überlegungen gehen zurück auf den Vortrag, den ich am 31. Januar 2001 vor der Kölner Juristischen Gesellschaft gehalten habe. Der Vortragsstil ist beibehalten, die Anmerkungen wurden auf das Notwendige beschränkt.

I. Oberflächenstruktur eines Parteienfinanzierungsskandals Über staatliche Parteienfinanzierung zu sprechen, muss in gegenwärtigen Zeiten nicht eigens begründet werden: Zu frisch noch wirkt die Erinnerung an den Parteifinanzierungsskandal der CDU nach,1 der Anfang 2000 seinem Höhepunkt zustrebte, die CDU an den Rand ihrer moralischen Glaubwürdigkeit und politischen Existenz brachte und der in diesen Tagen nach fast genau einem Jahr erste gerichtliche und staatsanwaltliche Antworten erfährt. Aus juristischer Perspektive stellt sich der Skandal freilich im Rückblick als weit weniger dramatisch dar, als er den meisten Beteiligten und Beobachtern seinerzeit erschien. Die Justiz kann in der rechtlichen Bewältigung des Skandals ihre vorzüglichste Gabe und funktionale Kompetenz im System der Gewaltenteilung ausspielen: In zeitlicher und sachlicher, personaler und emotionaler Distanz zu den Ereignissen, materiell gebunden allein an das maßgebliche Gesetz, prozessual und verwaltungsverfahrensrechtlich auf formale Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensgänge verpflichtet, kanalisiert und neutralisiert sie politische Aufgeregtheiten, Verschärfungen und Emotionen, korrigiert mediale Vergröberungen und Verzerrungen des Geschehens und schafft damit die Voraussetzungen für ihre ureigenste Aufgabe: Gerechtigkeit zu finden und Recht zu sprechen. Lässt man einmal die jeder Kriminalstory adäquaten Begleitumstände der Affäre – schwarze Koffer voller Bargeld, schmierig-schmierende Schreiber, jüdische Vermächtnisse und ein beklagenswerter Selbstmord – sowie alle parteipolitischen Emotionen beiseite, dann erweist sich gerade dieser Skandal freilich kaum als ein solcher, der nach einer grundlegenden Reform der Parteienfinanzierung verlangte. Dass Menschen – auch Parteivorsitzende und Schatzmeister sind Menschen – sich zuweilen nicht an die Buchstaben des Gesetzes zu halten pflegen, ist nicht nur historische Erfahrung, statistische Wahrscheinlichkeit und allgemein bekannt. Seit dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Pa-

1 Erste positions- und zeitgeprägte Darstellungen: Helmut Kohl, Mein Tagebuch 1998– 2000, 2000; Wolfgang Schäuble, Mitten im Leben, 2000; Friedbert Pflüger, Ehrenwort. Das System Kohl und der Neubeginn, 2000.

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radies ist der Rechtsbruch vielmehr Schicksal des Menschen schlechthin: ein Umstand übrigens, dem nicht zuletzt Juristen ihre Existenzberechtigung verdanken. Aber es gibt darüber hinaus auch eine Dialektik des Rechtsbruchs: Indem die Negierung des für alle geltenden Rechts den „Kampf ums Recht“2 notwendig herausfordert, lenkt jeder Rechtsbruch den Blick auf das richtige Recht, dient also – wenn auch ungewollt – zugleich der Stärkung des Rechtsempfindens wie der Entwicklung des Rechts. Wie dem auch sei: Gegen Verstöße gegen geltendes Recht gibt es und kann es keine rechtliche Versicherung geben und selbst die beste Reform der Parteienfinanzierung wird gegen vorsätzliche oder fahrlässige Gesetzesverstöße keine Vorsorge treffen können. Daraus folgt: Helmut Kohls geheime Spender und die in der Schweiz versteckten Millionen der hessischen CDU sind zwar klare Verstöße gegen das Transparenzgebot des Parteiengesetzes3 und damit rechtswidrig, aber aus rechtsstruktureller Sicht gleichwohl ziemlich uninteressant. Selbst die absolute Größenordnung des Skandals – Kohls 2 Mio. DM und die außer Landes gebrachten 13 Mio. DM des hessischen Landesverbands – wären vielleicht im Verhältnis zum Gesamtvolumen des Haushalts der CDU in einem Rechnungsjahr von ca. 251 Mio. DM4 von nicht unerheblicher Bedeutung; stellt man hingegen den Gesamtzeitraum der Verfehlungen in Rechnung – zwischen vier Jahren im Falle Kohl und nahezu 17 Jahren im Falle der Nichtdeklarierung von Vermögenswerten –, dann erscheint selbst dieser Betrag in der Relation als eher gering, ganz abgesehen davon, dass die 13 in der Schweiz versteckten Millionen – nach allem, was man bis heute weiß – rechtmäßiges Vermögen der CDU waren, das „nur“ – entgegen der Vorschrift des § 24 Abs. 4 PartG – nicht in der Vermögensrechnung angegeben war. Was den Skandal zum Skandal hat werden lassen – und auch das ist in einer freiheitlichen Demokratie nichts Ungewöhnliches –, ist vor allem die typische und vorhersehbare Reaktion des politischen Betriebs selbst – der Parteien und der Medien.5 Diese folgte einem bekannten und bewährten Muster: Der ertappte Täter wird genüsslich und, solange die öffentliche Erregung es zulässt, moralisch in die Enge getrieben, wo er sich kaum verteidigen kann; die moralischen Wächter der Tugend aalen sich in der eigenen Anständigkeit und weisen mit der ausgestreckten Hand auf den Sünder, verlangen ihm Reue ab, damit er in Demut um Entschuldigung bitte und der Einlegung von Rechtsmitteln bußfertig entsage. Der eigentliche, nämlich politische Zweck der Veranstaltung: Zur Formulierung einer eigenen Politik ist der moralisch Diskreditierte auf geraume Zeit kaum mehr in der Lage und die selbsternannten moralisch „Guten“

2 Klassisch: Rudolf von Ihering, Der Kampf ums Recht, 1872. 3 Zum Problem, ob darin „nur“ ein Gesetzes- oder sogar Verfassungsbruch liegt, vgl. Josef Isensee, in: ders./Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts I, 1987, § 13 Rz. 15, V, § 113 Rz. 172 ff., VII, § 162 Rz. 49 ff.; ders., Das System Kohl – das System Rau, FAZ v. 28.1.2000, S. 41. 4 Zahlen nach dem Rechenschaftsbericht der CDU für das Jahr 1997, BT-Dr. 14/2508. 5 Rekonstruktion der Ereignisse mit Blick auf die Medien: Wolfgang Bergsdorf, Die Medien: Aufdecker der Regelverletzung und Betreiber des Skandals, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft, 2000, S. 47 ff.

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können politischen Gewinn einfahren, ohne Politik formulieren oder auch nur agieren zu müssen. Eine derartige Inszenierung des Skandals ist für den Betroffenen regelmäßig wenig erfreulich, politisch freilich rational und daher verständlich; sie ist darüber hinaus und aufs Ganze gesehen für das Funktionieren einer freiheitlichen Demokratie geradezu unerlässlich, bilden doch Skandale jene emotionalen Kulminationspunkte der politischen Auseinandersetzung, die der politischen Entwicklung jene unerwarteten Wendungen zu geben vermögen, welche die Offenheit einer freiheitlichen Demokratie Wirklichkeit werden lassen. Auch unter diesem Gesichtspunkt aber bietet der Skandal kaum Ansätze für vertiefte staatstheoretische Reflexion oder staatsrechtliche Erkenntnisse: Die CDU bescherte der politischen Öffentlichkeit über Wochen und Monate ebenso unterhaltsame wie mitunter peinliche Einblicke in ihr Innenleben, wurde an ihrer Spitze personell runderneuert, bei mehreren Wahlen demokratisch „abgestraft“ und verlor an politischer Glaubwürdigkeit in einem Maße, das noch kaum abzuschätzen ist und an dem sie jedenfalls noch lange tragen wird. All diese Folgen sind unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten konsequent, stärken die Demokratie als sich selbst erneuernde und zur Erneuerung fähige Staatsform und bieten sich daher zu weiterführenden Überlegungen grundsätzlicher verfassungstheoretischer und verfassungsrechtlicher Art nicht an. Schon interessanter und des Nachdenkens wert ist es, das „Sanktionensystem“6 des Parteiengesetzes bei Verstößen gegen Transparenzpflichten auf juristische Konsistenz, Kohärenz und Konsequenz zu untersuchen: Dass dieses nur rudimentär ausgebildet ist, wusste man; man ahnte oder glaubte doch zu wissen, warum das so ist; nämlich weil niemand damit rechnete, dass diese Vorschriften je einmal greifen würden.7 Dass sie aber – jedenfalls in der Auslegung durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages8 – auch zum finanziellen Konkurs einer Partei führen könnten, war wohl eher eine Überraschung und wäre wohl mehr als überdenkenswert, sollte die Entscheidung – was freilich nicht zu erwarten ist – rechtlich Bestand haben.9 Aber es gibt noch Verwaltungsrichter in Berlin, die sich von der öffentlichen Meinung und politischen Erwartungshaltung vieler nicht davon haben abhalten lassen, Recht nicht nach Medienerwartung, sondern nach Gesetz zu sprechen und dem verfassungsrechtlichen Fundamentalgrundsatz Rechnung zu tragen, dass Sanktionen, für verschwiegene Parteivermögen gesetzlich normiert, hinreichend bestimmt und verhältnismäßig sein müssen. Da keine dieser Voraussetzungen vorgelegen 6 Überblick: Otto Depenheuer/Bernd Grzeszick, Zwischen gesetzlicher Haftung und politischer Verantwortlichkeit, DVBl 2000, S. 736 ff.; Jörn Ipsen, Transparenzgebot und „Sanktionensystem“ bei der staatlichen Parteienfinanzierung, JZ 2000, S. 685 ff. 7 Schon Wilhelm Henke, Geld, Parteien, Parlamente, Der Staat 31 (1992), S. 98 ff. 8 Vgl. die Entscheidung des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse vom 15.2.2000, dokumentiert in: ZParl 2000, S. 308 f. 9 Die Rückzahlungsverpflichtung von 41.347.887,42 DM begründete der Präsident des Deutschen Bundestags damit, dass die CDU zum Stichtag (31.12.1999) keinen den Vorschriften des Fünften Abschnitts entsprechenden Rechenschaftsbericht für das vorangegangene Jahr 1998 eingereicht habe, da das 1983 in die Schweiz verbrachte Vermögen entgegen § 24 Abs. 4 PartG nicht in der Vermögensrechnung der CDU angegeben sei.

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hat, hat das Verwaltungsgericht Berlin die Entscheidung des Bundestagsprä­ sidenten folgerichtig und zutreffend aufgehoben.10 Also scheint auch dieses Problem zwischenzeitlich in trockene rechtsstaatliche Tücher gewickelt worden zu sein, sodass auch das Sanktionensystem nicht zentrales Thema der nachfolgenden Ausführungen sein soll, zumal Richtung und Inhalt der notwendigen und zu erwartenden Gesetzesänderung insoweit offensichtlich sind: eine rechtliche Normierung von Sanktionen für das Verschweigen von Vermögenswerten sowie klare und für Steuerprüfer überprüfbare Vorgaben für die Bilanzierung zur Sicherung inhaltlich richtiger Rechenschaftsberichte. Folgte ich darüber hinaus den politisch korrekten Spuren zeitgerechter Rechtspolitik, müsste ich zudem an dieser Stelle einer Verschärfung des Transparenzgebotes das Wort reden nach dem Motto: „Jeder Spender muss genannt werden, der mehr als 1.000 DM (statt bisher 20.000 DM) spendet“ oder – radikale Transparenz fordernd – „Jede Spende, von der ersten Mark an, muss veröffentlicht werden“. Man könnte auch Strafsanktionen gegen Parteivorsitzende und Schatzmeister in Erwägung ziehen und sich insoweit – jedenfalls derzeit – allgemeinen Beifalls ebenso sicher sein wie der Tatsache, an dem zugrunde liegenden prinzipiellen Problem nichts geändert zu haben. Aber gerade darum muss es gehen, wenn man vor einem juristisch sachverständigen Publikum grundsätzliche Überlegungen zum Thema der Parteienfinanzierung anzustellen sich verpflichtet hat. Und in der Tat: Das hinter dem Skandal liegende Problem ist gründlicher Analyse und Reflexion im Übermaß bedürftig, um nicht im Strudel tagespolitischer Empörung und moralisierender Verurteilung glatt übersehen zu werden.

II. Parteienfinanzierung als Problem der Demokratie Dass es ein prinzipielles Problem der Parteienfinanzierung gibt, wird an zwei bemerkenswerten Umständen im Kontext der Finanzierung politischer Parteien deutlich: zum einen der Tatsache der nachgerade „unendlichen Geschichte“ gesetzlicher Regelungsversuche der Parteienfinanzierung in Deutschland, zum anderen der weiteren, dass sich das Problem – in vielfältigen Modifikationen – auch in anderen Demokratien stellt. 1. Die unendliche Geschichte der Parteienfinanzierung Legitimation, Modalitäten und Realisierung der Parteienfinanzierung sind seit den Anfängen der Republik umstritten. Zwar bestimmt das Grundgesetz seit 1949, dass die Parteien „über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft“ geben müssen, aber woher die Mittel kommen und wie sich ihre Mittel zusammensetzen, das war nicht Thema des Grundgesetzes. Der Gesetzgeber, dem dies zur Aufgabe gestellt war, nahm sich der Materie nur zögerlich und rudimentär an, das Bundesverfassungsgericht „kommentierte“ und korrigierte 10 VG Berlin, Urteil v. 31.1.2001, NJW 2001, S. 1367. So schon Otto Depenheuer, Eine Auslegung, die in skandalöse Kalamitäten führt, FAZ v. 29.2.2000, S. 11; Depenheuer/Grzeszick (Fn. 6).

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die jeweiligen gesetzlichen Lösungsversuche in einem wechselvollen und alles andere als überzeugenden Rechtsprechungsslalom.11 In einem qualvoll langsamen Rechtsfindungsprozess des „trial and error“ schälten sich allmählich die Konturen heraus, die heute, d. h. nach der letzten Entscheidung des Gerichts im Jahre 1992,12 das dogmatische Grundgerüst bilden, das stabil gebaut und 11 In seiner ersten Entscheidung vom 24.6.1958 (BVerfGE 8, 51 ff.) hielt das BVerfG eine unbegrenzte steuerliche Abzugsfähigkeit von Parteispenden als Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien für verfassungswidrig, da prozentuale Abzugsgrenzen kapitalkräftigen Kreisen nahestehende Parteien begünstigten und Bürgern einen unterschiedlich großen Einfluss auf die politische Willensbildung einräumten. Wegen der Bedeutung von Wahlen sollte es aber grundsätzlich zulässig sein, den Parteien staatliche Mittel zur Verfügung zu stellen (BVerfGE 8, 51, 65). Daraufhin erhielten die Parteien unmittelbare Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. – Diese Praxis erklärte das Gericht in seiner Entscheidung vom 19.7.1966 (BVerfGE 20, 56 ff.) für verfassungswidrig, weil die Verfassung die teilweise Staatsfinanzierung der Parteien durch jährliche oder monatliche Zahlungen für ihre gesamte politische Tätigkeit verbiete; zulässig sei lediglich, wegen der Bedeutung der Parlamentswahlen, die ohne die Parteien nicht durchgeführt werden könnten, ihnen die angemessenen Kosten eines Wahlkampfes zu erstatten (BVerfGE 20, 56, 97 ff., 113 ff.). – Durch das Parteiengesetz vom 24.7.1967 wurde in der Folge eine „Wahlkampfkostenerstattung“ eingeführt, flankiert durch Steuerbegünstigungen für Spenden an Parteien, die aber durch Höchstbeträge von 600 DM bzw. 1.200 DM (bei der Zusammenveranlagung von Ehegatten) begrenzt wurden. – Die geringen Höchstbeträge für die Abzugsfähigkeit von Beiträgen und Spenden an Parteien führten nach deren Ansicht zu einer unzureichenden Finanzausstattung. In seiner Entscheidung vom 24.7.1979 (BVerfGE 52, 63 ff.) wies das Gericht diesen Vorwurf zurück: Das Grundgesetz habe den Parteien das Risiko des Fehlschlagens eigener Bemühungen um ihre Finanzierung nicht abgenommen, sondern nehme prinzipiell die Risiken in Kauf, die darin liegen, dass es die politische Willensbildung der Urteilskraft und der Aktivität der Bürger anvertraue (BVerfGE 52, 63, 86). Allerdings könnten die Höchstbeträge für die steuerliche Begünstigung von Beiträgen und Spenden an politische Parteien der gewandelten Si­ tuation angepasst werden, was im Hinblick auf den gestiegenen Finanzbedarf der politischen Parteien und wegen der inzwischen eingetretenen Veränderung der wirtschaftlichen Umstände zu einer Anhebung der Höchstbeträge führen könne. – Da­ raufhin führte das Gesetz vom 22.12.1983 weiterreichende steuerliche Begünstigungen ein, die in der Sache in BVerfGE 8, 51 ff. bereits verworfen worden waren, jetzt aber mit einem sog. Chancenausgleich nach § 22a ParteienG kombiniert waren, der auf Wiederherstellung der Chancengleichheit der Parteien zielte und damit den verfassungsgerichtlichen Vorgaben genügen sollte. – Zwar billigte das BVerfG mit seiner Entscheidung vom 14.7.1986 (BVerfGE 73, 40 ff.) den Chancenausgleich. Allerdings monierte es eine Verletzung des Rechts der Bürger auf gleiche Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess insoweit, als die steuerliche Absetzbarkeit von Zuwendungen an Parteien nicht auf einen für alle Steuerpflichtigen gleichen Höchstbetrag von 100.000 DM begrenzt ist (BVerfGE 73, 40, 70 ff.). – Diese vom BVerfG vorgegebenen Grenzen wurden am 22.12.1988 gesetzlich umgesetzt. Dabei wurde der Chancenausgleich grundlegend umgestaltet. – Die damit ausgelösten Verwerfungen waren Anlass für die Entscheidung vom 9.4.1992 (BVerfGE 85, 264 ff.). 12 BVerfGE 85, 264. In dieser Entscheidung stellte das BVerfG das Recht der Parteienfinanzierung auf eine neue dogmatische Grundlage: Danach ist eine allgemeine staatliche Parteienfinanzierung grundsätzlich nicht verboten, da sie legitimen Zwecken diene. Allerdings sei nur eine Teilfinanzierung der allgemeinen Tätigkeit der politischen Parteien aus staatlichen Mitteln zulässig, weil die Parteien als in der Gesellschaft wurzelnde Einrichtungen wirtschaftlich und organisatorisch auf die Zustimmung und Unterstützung der Bürger angewiesen bleiben müssten. Der Umfang der Finanzierung sei daher auf das zu beschränken, was zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Parteien unerlässlich sei und von diesen nicht selbst aufgebracht

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tragfähig genug zu sein scheint, das Recht der Parteifinanzierung langfristig unterfangen zu können.13 Dabei waren es weniger aufgedeckte Parteifinanzierungsskandale, die die Rechtsentwicklung anstießen, ihr die Richtung wiesen und apokryphen Systemen der Umwegfinanzierung den Boden entzogen. Die Realität der Finanzierung politischer Parteien scheint vielmehr im Gegenteil – geradezu unberührt vom jeweiligen rechtlichen Rahmen der Parteifinanzierung – ihren eigenen Gesetzen zu folgen; gerade ihnen sollte deshalb in besonderer Weise die Aufmerksamkeit theoretischer Untersuchungen gelten, damit das gute normative Bemühen die zu regelnde Sachmaterie nicht vergewaltigt, sondern ihr Rechnung tragen und dadurch normative Kraft entfalten kann.14 2. Parteienfinanzierung als weltweites Problem Die Feststellung, dass Recht und Realität der Parteienfinanzierung nur oberflächlich korrelieren, bestätigt schon der flüchtige Blick über die Grenzen hinweg. Auch im Ausland zeigt sich ein nur wenig abweichendes Bild, wenn man beobachtet, wie die Praxis der Parteienfinanzierung in anderen Demokratien ungeachtet der jeweiligen rechtlichen Regelungen ihren eigenen und zum Teil mehr als fragwürdigen Wegen folgt: In Frankreich haben die Parteien – und zwar alle gemeinsam – nicht höflich um Spendengelder der Wirtschaft gebeten, sondern diese den Unternehmen geradezu abgenötigt und unter sich verteilt.15 Auch in Großbritannien erfreute sich die Regierungspartei schnell noch großer Einzelspenden, rechtzeitig bevor ein Gesetz zur Verbesserung des Transparenzgebotes in Kraft trat.16 In den USA ist das sog. „soft money“, der Anteil anonymer Spenden an den Wahlkampfkosten der Parteien in Höhe von 3 Mrd. Dollar, werden könne (BVerfGE 85, 264, 290). Daraus folgert das Gericht relative und absolute Obergrenzen (BVerfGE 85, 264, 289 ff.); der Verteilungsschlüssel müsse den Wahl­ erfolg sowie das Beitrags- und Spendenaufkommen berücksichtigen. Im Übrigen bestätigt das Gericht in Ansehung der steuerlichen Begünstigung von Beiträgen und Spenden seine frühere Rechtsprechung (BVerfGE 8, 51 ff.): Die steuerliche Begünstigung von Spenden von Körperschaften sei wegen Verstoßes gegen die gleiche Teilhabe der Bürger am politischen Willensbildungsprozess sowie die Chancengleichheit der Parteien verfassungswidrig (BVerfGE 85, 264, 315). Auch die Ausdehnung des Höchstbetrages für die steuerliche Abzugsfähigkeit von Zuwendungen an Parteien bis zu 60.000 DM sei damit unvereinbar (BVerfGE 85, 264, 315 f.). Schließlich sei die Anhebung der Betragsgrenze für anonyme Spenden auf 40.000 DM wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot verfassungswidrig, da bereits bei Zuwendungen i.H.v. 20.000 DM auf örtlicher oder Kreisebene ein nicht unerheblicher politischer Einfluss ausgeübt werden könne (BVerfGE 85, 264, 323). 13 Ausführlich zu dieser Entscheidung: Rolf Schwartmann, Verfassungsfragen der Allgemeinfinanzierung politischer Parteien, 1995; Jörn Ipsen, Globalzuschüsse statt Wahlkampfkostenerstattung, JZ 1992, S. 753, 756; Horst Sendler, Verfassungsgemäße Parteienfinanzierung, NJW 1994, S. 365 ff. – Auch unter dem Eindruck der CDU-Spendenaffäre wird empfohlen, an dem derzeitigen Gerüst der Parteienfinanzierung grundsätzlich festzuhalten: Vgl. Karl-Heinz Naßmacher, Wechselspiel von Versuch und Irrtum, FAZ v. 8.2.2000, S. 14. 14 Kategorie: Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959. 15 Vgl. SZ v. 29.9.2000, S. 3. 16 SZ v. 4.1.2001, S. 6.

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zum immer drängenderen Problem geworden, das nunmehr durch die Anfang April 2001 verabschiedete campaign finance reform bill zurückgedrängt werden soll.17 3. Überblick über den Gang der Überlegungen Dieser Befund gibt hinreichend Anlass, den normativen Überlegungen analytische voranzustellen. Denn wenn ein Problem über fünf Jahrzehnte in Deutschland und grenzüberschreitend auch in anderen demokratischen Staaten an­ zutreffen ist und es in seinem Umfeld immer wieder zu Skandalen und Erschütterungen des politischen Systems kommt, dann bietet sich als Ausgangshypothese die Vermutung geradezu an, dass dieses Problem vielleicht im Einzelfall, aber jedenfalls nicht umfassend mit bösem Willen, privatem Bereicherungsstreben, kriminellen Machenschaften oder politischen Vertuschungsmanövern erklärt werden kann, sondern sich darin ein allgemeines Strukturproblem des Verhältnisses von Politik und Geld spiegelt. Jedes Bemühen um eine Verbesserung der Verhältnisse und eine skandalverhütende Regelung im Parteiengesetz muss daher erst einmal Klarheit über das zugrunde liegende Problem zu gewinnen suchen. Dazu sollen im Folgenden einige Überlegungen angestellt werden. – Zunächst sei das Feld sondiert, auf dem das Problem angesiedelt ist: Es ist der Bereich der politischen Macht. – Sodann sei eines der Medien von Machterwerb, -sicherung und -erhalt vertieft analysiert: Es ist das Geld. – Dies führt zu der hinter dem ganzen Problem stehenden Frage: Kann man mit Geld Politik kaufen? – Auf dieser Grundlage seien sodann einige konkrete rechtspolitische Anmerkungen und Vorschläge erlaubt.

III. Logik politischer Macht Politik ist dasjenige gesellschaftliche System, dem es um die Produktion kollektiv verbindlicher Entscheidungen,18 im Wesentlichen also um die Rechtssetzung geht. Schlichter formuliert: In der Politik geht es um „die Herrschaft von Menschen über Menschen“, d. h. um Macht.19 Denn nur Macht erlaubt die Formulierung und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Wie findet nun dieser permanente Kampf um die Macht statt? Wie werden politisch kollektiv verbindliche Entscheidungen in einer Demokratie getroffen? Das Bundesverfassungsgericht meint, dass dies in erster Linie eine in der Öffentlichkeit sich darstellende geistige Auseinandersetzung um die besseren Argumente sei. Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung sei deshalb für eine 17 SZ v. 4.11.2000, S. 23. 18 Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2000, S. 84 ff. 19 Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte politische Schriften, 1958, S. 495 ff. – Frühe Realanalyse: Niccolo Machiavelli, Der Fürst, 1532. Moderne Beschreibung: Luhmann (Fn. 18), S. 18 ff., 189 ff.

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freiheitlich-demokratische Staatsordnung „schlechthin konstituierend, denn erst dieses Grundrecht ermöglicht die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist“20. Die Ideen demokratischer Offenheit, des Zugangs aller zum öffentlichen Diskurs und der Teilhabe an der demokratischen Entscheidung – einstmals Leitbegriffe der europäischen Aufklärung21 – prägen derart nicht nur den grundgesetzlichen Begriff der Demokratie; sie haben auch in der öffentlichen Meinung bis heute nichts an Faszination und Attraktivität verloren:22 Jeder Verstoß gegen rechtliche und informelle Transparenzgebote wird von der öffentlichen Moral unnachsichtig abgestraft23 und mit Initiativen zu noch mehr und kontrollierter Transparenz beantwortet.24 Doch diese in der besten Tradition des politischen Liberalismus stehende Demokratietheorie des Bundesverfassungsgerichts ist freilich – vorsichtig formuliert – etwas arg idealistisch geraten: Sie umschreibt gerade einmal die Oberflächenstruktur des politischen Prozesses der Entscheidungsfindung. Wenn man diese Sätze liest, fragt man sich, ob das Bundesverfassungsgericht schon einmal darüber nachgedacht hat, warum seine eigenen Urteilsberatungen keine „sich in der Öffentlichkeit vollziehende geistige Auseinandersetzung um die besseren Argumente“ sind, sondern – ganz undemokratisch und intransparent – im Geheimen stattfinden. Diese idealistische Demokratietheorie des Gerichts leidet daran, als vollständige Beschreibung des politischen Prozesses gänzlich unrealistisch zu sein.25 Diese Theorie kann mit dem schüchternen Schweiger ebenso wenig etwas anfangen, wie sie dem gewieften Taktiker und skrupellosen Lügner nicht Rechnung zu tragen vermag: Alle diese Typen treten als solche öffentlich nicht in Erscheinung, obwohl sie natürlich präsent sind und jeder dies weiß. Zudem leidet diese Demokratietheorie an einem weiteren grundsätzlichen Realitäts- und Rationalitätsdefizit: Aus Gründen des Raumes, der Zeit und des Sachverstandes können schon in einer nur einigermaßen komplexen Gesell20 BVerfGE 7, 198, 208. Christian Starck, Grundrechtliche und demokratische Freiheits­ idee, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts II, 1987, § 29 Rz. 37 ff. 21 Zur Begriffs- und Ideengeschichte vgl. Wilhelm Bauer, Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen, 1914; Friedrich Lenz, Werden und Wesen der ­öffentlichen Meinung, 1956; Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 2. Aufl. 1965, S. 102 ff. 22 Repräsentativ: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 399 ff., 451 ff. 23 Als Beleg mag der Hinweis auf die öffentliche Reaktion auf den Finanzskandal der CDU um die Jahreswende 1999/2000 genügen. Zur Kraft der öffentlichen Moral an diesem Beispiel vgl. Karl Otto Hondrich, Die Grenzwächter. Wo liegt die Macht im Staat? – Ein Versuch über Geld, Politik und Moral, Neue Züricher Zeitung v. 7.2.2000, S. 25. 24 So etwa die Forderung des Bundestagspräsidenten Thierse nach mehr Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen (BR-Radionachrichten v. 22.8.1999) oder die schnell vorübergehende Praxis öffentlicher Fraktionssitzungen in der parlamentarischen Anfangszeit der Grünen, d. h. zu einer Zeit, als sie wirklich noch grün waren. 25 Ansätze zur Problemanalyse: Otto Depenheuer, Zur Logik der öffentlichen Diskussion, in: FS Schiedermair, 2001, S. 287 ff.; ders. (Hg.), Öffentlichkeit und Vertraulichkeit. Theorie und Praxis der politischen Kommunikation, 2001.

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schaft nicht alle Bürger über alles entscheiden.26 Deshalb ist die repräsentative Demokratie – rational wie realistisch – die einzig mögliche Form von Demokratie.27 Repräsentative Demokratie aber bedeutet demokratische Arbeitsteilung und diese generiert und trägt die repräsentative öffentliche Diskussion als eigenständige Kommunikationsebene. Diese – die repräsentative öffentliche Diskussion – unterliegt ihren eigenen Gesetzen und gehorcht einer spezifischen Logik:28 Hier vollzieht sich der demokratische „Kampf um die öffentliche Meinung“. Die repräsentative öffentliche Diskussion unterscheidet sich von der offenen, von allen politischen Rücksichtnahmen freien Sachdiskussion. Inhalte und Formen von öffentlicher und vertraulicher Diskussion fallen nicht notwendig zusammen:29 Was öffentlich gesagt wird, muss nicht das sein, was man privat denkt, und spielt im vertraulichen Gespräch auch keine Rolle; umgekehrt erfährt man die eigentlichen Gründe für das vertraulich Vereinbarte öffentlich nie. Die bekannte Unterscheidung zwischen schriftlichen, mündlichen und wahren Urteilsgründen ist also mehr als nur ein Justizzynismus: Sie spiegelt die unterschiedlichen Ebenen der rechtlichen Kommunikation, die alle für sich eigene Notwendigkeit und Berechtigung haben. Die freimütige, offene, nur sachbezogene, in der Sprache der Aufklärung „vernünftige“ Diskussion wird also durch die repräsentative öffentliche Diskussion ebenso gestört wie verdeckt. Wer in vertraulicher Runde in den bekannten Schablonen der öffentlichen Debatte diskutiert, riskiert das Scheitern des Gesprächs, weil er der Sachauseinandersetzung ausweicht; wer in der öffentlichen Debatte seine private Meinungs- und Motivlage andeutet, entwertet seine repräsentative Stellungnahme, weil sie nicht mehr glaubwürdig erscheint.30 In diesem Auseinanderfallen von öffentlicher und Sachdiskussion liegt kein moralisches Defizit, sondern spiegelt sich nur die Logik eines jeden Vertretungsverhältnisses wider, das in der Person des Repräsentanten eine Rollenduplizierung erzeugt. Vor diesem Hintergrund wird z. B. deutlich, dass unter den Bedingungen der repräsentativen öffentlichen Diskussion der sachliche Kompromiss zum Tanz auf dem demokratischen Vulkan werden kann. Denn kein Repräsentant kann und darf sich von seinen Parteigenossen zu große Nachgiebigkeit oder Flexibilität nachsagen lassen, ohne innerparteilich unter Erklärungsdruck, d. h. Konkurrenzdruck, zu geraten. Kompromissfähigkeit nach außen – als politische Tugend gelobt – kann im Innern zum politischen Sturz führen.31 Quintessenz des Gesagten: Praktische Politik vollzieht sich entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur, nicht einmal in erster Linie in der Öffentlichkeit, sondern vielfach in Hinterzimmern und in vertraulichen 26 Vgl. m.w.N. Otto Depenheuer, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, VVDStRL 55 (1996), S. 90, 103 ff.; ders. (Fn. 25), S. 287/294 ff. 27 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: FS Kurt Eichenberger, 1982, S. 301 ff. 28 Depenheuer (Fn. 25), S. 287 ff., 300 ff. 29 Zutreffende Diagnose bereits bei Theodor Geiger, Demokratie ohne Dogma, 2. Aufl. 1964, S. 337 ff., 345 ff. 30 Depenheuer (Fn. 25), S. 299. 31 Ebd., S. 299.

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Runden, weniger durch die Kraft der Argumente als durch die Bindungskraft von Absprachen; Politik ist also weniger ein Kampf um die besseren Argumente, sondern das fortgesetzte Bemühen um die Bildung von Mehrheiten, um das Knüpfen von Seilschaften, um das Werben von Gefolgsleuten, um strategische Absprachen, in denen man gibt, um zu nehmen, konzediert, um zu erhalten. Praktische Politik, die notwendig auf Macht gerichtet ist, nimmt jeden Vorteil, der sich ihr bietet, zum Machterwerb, zur Machtsicherung, Machtsteigerung. Sie nutzt jeden Fehler des politischen Gegners, schlachtet jeden Skandal weidlich aus: Der Berliner Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Aufklärung der Hintergründe der Parteispendenaffäre der CDU folgt – wie jeder parlamentarische Untersuchungsausschuss – genau diesem Gesetz der Politik: Ihm geht es in erster Linie nicht um Wahrheitssuche, sondern er ist politisches Kampfinstrument.32 Freilich ist politisches Machtstreben der Idee nach nicht Selbstzweck, sondern seinerseits funktional motiviert: Nur wer die Macht hat, kann kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen, gute Gesetze erlassen, ein Land in eine sichere Zukunft führen. Erst wenn die Macht errungen und gesichert ist, können die Argumente der Sachpolitik sich wieder Gehör verschaffen. In der Praxis allerdings kann dieses funktionale Um-Willen der Macht – kollektiv verbindliche Entscheidungen möglichst sachgerecht zu treffen – leicht in den Hintergrund geraten, weil die Machtsicherung alle Zeit und Aufmerksamkeit der Protagonisten verschlingt. Es kommt zu dem Paradox des politischen Stillstandes: Nichts geht mehr, weil diejenigen, die formal die Macht in ihren Händen halten, in so viel Absprachen, Bindungen, Loyalitäten eingebunden sind, dass ihnen kaum mehr die innere Freiheit zur Formulierung und Durchsetzung inhaltlicher Entscheidungen bleibt. Just an diesem Punkt wird die segensreiche Funktion regelmäßig wiederkehrender demokratischer Wahlen mit der Möglichkeit des Machtwechsels erkennbar: Die Souveränität und – trotz aller demoskopischer Raffinesse – unhintergehbare Unberechenbarkeit des Wählers kann an einem Wahltag Bindungen, Absprachen und Loyalitäten zerreißen, die in Jahren gewachsen sind. Das politisch-demokratische Spiel der Machterringung und -sicherung beginnt von neuem – und das ist gut so. Politik vollzieht sich – und darauf kommt es im Folgenden an – in einem politischen Kraftfeld, in dessen Zentrum es um die Erringung und Sicherung von Macht geht. Alles andere ist instrumental auf dieses Ziel hin ausgerichtet. Dabei ist die positive Währung, mit der Politik ihre machtpolitischen Ziele erreichen kann, außerordentlich begrenzt; es sind im Wesentlichen nur drei: Argumente, Posten und Geld.

32 In dem faktischen Changieren zwischen Gericht und politischem Kampfinstrument liegt die unaufgelöste Unsicherheit bei der Qualifikation der Rechtsnatur des Untersuchungsausschusses, die wiederum Pate steht bei zahlreichen dogmatischen Problemen, vgl. Johannes Masing, Parlamentarische Untersuchungen privater Sachverhalte, 1998, S. 70 ff.

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Argumente, die einzige Währung der Wissenschaft, sind politisch freilich viel zu unsicher.33 Juristen wissen von Berufs wegen, dass es zu jeder Meinung mindestens eine andere gibt. Und sie wissen auch, dass es keineswegs sicher ist, dass die sogenannte „herrschende“ Meinung auch die „richtige“ ist. Zuviel Zufall liegt auch – regelmäßig abgedunkelt – in der juristischen Entscheidungsfindung.34 Als politische Machtfaktoren viel zuverlässiger, weil berechenbarer, sind daher die Vergabe oder das In-Aussicht-Stellen von Posten und Karrieren oder das Winken mit finanziellen Vorteilen. Geld ist also nur einer von vielen politischen Einfluss- und Machtfaktoren, aber einer, der es in sich hat.

IV. Politische Funktionen und Wirkungen von Geld 1. Abstraktheit des Geldes: Entfremdung und Verführung a) Geld ist ein genial abstraktes Medium.35 Es ist offen für alles: Für Geld kann man alles kaufen – nicht nur Güter, sondern auch Gunst, politisches Wohlwollen und Entscheidungen. Geld dunkelt die Vergangenheit ab: Niemand kann wissen, woher Geld kommt, ob es erarbeitet, ererbt, gestohlen oder gewonnen, ob es sauber oder schmutzig, schwarz oder gewaschen ist. Geld ist diskret, verschwiegen und flüchtig wie ein Reh: Man kann nicht sehen, wo es sich befindet und was es gerade tut. Geld ist schon wegen seiner Abstraktheit unverzichtbar für die Funktionsfähigkeit der modernen Gesellschaft; die Rückkehr zur Tauschgesellschaft früherer Zeiten ist undenkbar, auch wenn der französische Tagträumer Jean-Jacques Rousseau ganz im Sinne des typischen Romantikers nachdrücklich für den Wert persönlich zu erbringender Lasten für das Gemeinwesen plädiert hat.36 Sicher: Geld entfremdet, ist Ausdruck einer enormen Abstraktionsleistung, die aber gerade deswegen Beweglichkeit, Flexibilität, Arbeitsteilung und Prosperität des modernen Gemeinwesens erst ermöglicht.37 b) Vor allem kann man – anders als in der Naturalwirtschaft – Vorräte anlegen: Geld kann man nicht genug haben, weil man nicht wissen kann, was kommen und wofür man es brauchen kann. In der Naturalwirtschaft musste man nur so lange arbeiten, bis das Überleben für die nächsten Tage gesichert war – nun33 Klassisch Thomas Hobbes: „The sciences are small Power“, in: Leviathan, 1651, 10. Kap. gegen Francis Bacon’s Diktum „Wissen ist Macht“ (in: Novum Organon, 2. Aufl. 1889, S. 192). Analyse des Verhältnisses von Wissen und Macht: Hermann Lübbe, Zur politischen Theorie der Technokratie, Der Staat 1 (1962), S. 19 ff. – Vgl. bereits oben. 34 Horst Sendler, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Rationalisierung der Entscheidungsfindung oder Camouflage der Dezision?, in: FS Martin Kriele, 1997, S. 457 ff. 35 Vgl. Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 2. Aufl. 1965, S. 111 ff.; ders., Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1996, S. 14 ff., 68 ff., 194 ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft I, 1997, S. 348 ff. 36 Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat social, 1762, Kap. III.15. 37 Luhmann, Wirtschaft der Gesellschaft (Fn. 35), S. 238 ff.

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mehr kann man Vorräte in unbegrenzter Höhe anlegen.38 Diese durch das Medium Geld erst ermöglichte Option entfremdet den Menschen von sich selbst und seiner Arbeit, entbindet das Streben nach Reichtum und wirkt nach Karl Marx als Ideologie des falschen Bewusstseins.39 In der Tat: Geld ist ein begehrtes Gut. Niemand, der es sich nicht wünscht, im Zweifelsfall noch etwas mehr, als man im Moment braucht, weil die Zukunft offen und unsicher ist und Geld diese Unsicherheit abfedert. So wie der Reichtum des Nachbarn die Quelle von Neid, ist das eigene Auto oder Haus Quell des Stolzes. Die Attraktivität von televisionären Millionenspielen strebt derzeit immer weiteren Höhepunkten zu und ist nur ein weiterer Ausdruck für den Wunsch nach Sicherheit und Glück durch Geld. Natürlich brauchen auch Parteien Geld. Das folgt schon aus der politischen Sachlogik ihrer Aufgabe, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, und dies anerkennt im Grundsatz auch die Verfassung, das Parteiengesetz und das Bundesverfassungsgericht, wenn es die Aufgabe der Ausstattung der politischen Parteien mit ausreichenden Finanzmitteln nicht nur diesen selbst überantwortet, sondern auch zur legitimen Staatsaufgabe erklärt.40 Das eigentliche Sachproblem besteht freilich darin, was unter einer „angemessenen finanziellen Ausstattung“ zu verstehen ist.41 Insbesondere in der politischen Konkurrenzsituation zwischen den Parteien vermag die Verfügung über mehr oder weniger finanzielle Ressourcen den Wettbewerb zu beeinflussen: je mehr Geld, desto raffinierter und suggestiver die Werbung, intensiver der Einfluss, höher die Aufmerksamkeit, besser die Wahlchancen. In der Konkurrenzsituation zwischen Parteien kann die finanzielle Reserve (die sog. „Kriegskasse“) nicht groß genug und nicht geheim genug sein; man weiß ja nicht, wie groß die finanziellen Möglichkeiten des Gegners sind. Daran können gesetzliche Transparenzgebote wenig ändern: Das aus der politischen Konkurrenzsituation gespeiste wechselseitige Misstrauen lässt dem politischen Gegner alles zutrauen. Der politische Antagonismus muss deshalb zwangsläufig auch zu einem „finanziellen Wettrüsten“ führen, und zwar um so mehr gerade deswegen, weil man nicht konkret angeben kann, wieviel man abstrakt braucht. Aus der Binnenperspektive der Parteien kann der finanzielle Bewegungsspielraum jedenfalls nicht groß genug sein; sie brauchen möglichst viel und jedenfalls mehr Geld als der Gegner, der am besten nichts davon weiß, über wieviel finanzielle Reserven man selbst verfügt; denn das bringt – ob tatsächlich oder nur vermeintlich, das spielt aus der Binnenperspektive des politischen Systems keine Rolle – politische Vorteile. Der politische Wettbewerbsvorteil durch 38 Vgl. John Locke, Two Treatises of Government, 1698, II, V, § 49. 39 Karl Marx, Deutsche Ideologie (1846), 1953, S. 28 ff. 40 BVerfGE 85, 264, 285 ff. 41 BVerfGE 85, 264, 290: Aus der prinzipiellen Beschränkung der Staatsfinanzierung auf das, „was zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Parteien unerläßlich ist und von den Parteien nicht selbst aufgebracht werden kann“, leitet das Gericht im Wege einer kühnen Dezision eine absolute Obergrenze ab, die sich überraschenderweise mit dem status quo zum Zeitpunkt der Entscheidung deckte.

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Geld wird freilich dadurch getrübt, dass Geld in der Politik eine ambivalente Rolle spielt: Man will es, man braucht es auch, aber man kann sich nicht offen dazu bekennen. 2. Fluch des Geldes Alles, auch Geld, hat seinen Preis: Geld entehrt. Rousseau, Marx und die vielen Kritiker des Geldwesens42 haben eine Wirkung des Geldverkehrs zutreffend diagnostiziert: Wenn sich Geld zwischen menschliche Beziehungen drängt, wenn gegen Bezahlung gehandelt wird, wechselt die Handlung ihren Charakter.43 Der Wissenschaftler, der seine wissenschaftlichen Meinungen mit der Höhe des Schecks wechselt, stellt sich außerhalb des Wissenschaftssystems. Ein Künstler, der seinen personalen Stil um eines attraktiven Auftrags willen verrät, verliert seine künstlerische Selbstachtung und wird sich selbst unausstehlich; eine Frau, die ihre Liebe verkauft, wird zur Prostituierten. Auch praktische Nächstenliebe verliert ihren ethischen Charakter, wenn sie bezahlt und zum Geschäft wird. Gleiches gilt für Amtshandlungen, die zur Korruption werden, wenn sie als Gegenleistung für gesetzlich nicht vorgesehene Zahlungen ergehen. Nur in einem gesellschaftlichen Bereich finden wir ein uneingeschränktes Bekenntnis zum Geld: im Wirtschaftssystem. In allen anderen Systemen hingegen, insbesondere im politischen und religiösen, schämt man sich geradezu für das Haben von Geld. In der Politik darf es nur um das Gemeinwohl und die öffentlichen Angelegenheiten gehen; in der Religion nur um das Seelenheil und uneigennützige Nächstenliebe, aber in beiden Fällen auf keinen Fall um den schnöden Mammon, der deswegen auch systemimmanent verachtet wird und Pate steht bei den vielfältigen Formen der Kapitalismuskritik und des Kommerzialisierungsvorwurfs.44 Mit Geld darf man sich weder das Seelenheil erkaufen, noch darf man einen politischen Vorteil erwerben können: Tetzels Ablasshandel war seinerzeit genauso verhasst wie heute politischer Ämterkauf und Bestechung. Abstrakt formuliert: In fast allen gesellschaftlichen Systemen ändert sich die inhärente systemspezifische Handlungslogik, wenn Geld ins Spiel kommt. Sie verlieren ihre autonome Authentizität, oder – wie schon der Volksmund formuliert – „Geld verdirbt den Charakter“. Deshalb darf Geld nicht im Mittelpunkt der systeminternen Kommunikation der nichtökonomischen Systeme stehen. Obwohl natürlich alle Systeme Geld brauchen, gilt für Politik und Recht, Kultur und Religion die Maxime: „Über Geld spricht man nicht, man hat es.“

42 Überblick: Wilhelm Weber, Geld, Glaube, Gesellschaft. Vortrag G 239 der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, 1979. 43 Luhmann, Wirtschaft der Gesellschaft (Fn. 35), S. 238 ff. 44 Vgl. Weber (Fn. 42), S. 23 ff.

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V. Käuflichkeit der Politik? 1. Notwendige Distanz von Politik zu Geld Distanz zum Geld bedarf insbesondere die Politik – und sie sucht sie. Das scheint auf den ersten Blick paradox, denn jeder weiß, dass Geld und Wirtschaft in Gestalt von Wirtschaftspolitik Gegenstand der Politik, in Gestalt von Subventionen und Abgaben Instrument der Politik und als materielle Ressourcen Voraussetzung von Staat und Gesellschaft sind. Und doch muss die Politik jeden Einfluss von Geld abweisen, und zwar deswegen, weil sie andernfalls nicht mehr in einem authentischen Sinne Politik sein könnte. Denn politisches Entscheiden muss sich autonom setzen gegenüber den Einflüssen anderer gesellschaftlicher Systeme; und sie kann sich autonom setzen, weil Politik über Macht verfügt, d. h. ihre Entscheidungen letztlich mit der Drohung oder Anwendung physischer Gewalt durchsetzen kann. Weil aber der politische Betrieb – Staat und Parteien – gleichwohl finanziert werden muss, bedient sich der Staat der abstrakten, gegenleistungsfreien Steuer zur Einnahmeerzielung und orientiert sich an formalen, gemeinwohlorientierten Maßstäben bei seinen Ausgaben. Politische Kommunikation kann und muss sich also immer gemeinwohlbezogen geben. Wie faul der Kompromiss, wie klientelbezogen der Gesetzentwurf – er wird als vom Gemeinwohl gefordert dargestellt. Insbesondere aber muss sich die Politik gegen den Verdacht wehren, etwas aus finanziellen Gründen zu tun oder getan zu haben. Den Verdacht der Käuflichkeit der Politik, der Korruption durch politische Landschaftspflege muss Politik von sich weisen, weil sie nur gemeinwohlbezogen argumentieren kann.45 Keiner kann sich diesem Gesetz der politischen Kommunikation entziehen. Jeder müsste so handeln, wenn auch er als Politiker in der Öffentlichkeit agiert – und deswegen sollte sich auch keiner darüber beschweren. Die organisatorische Trennung von Einnahmen und Ausgaben in der Finanzverwaltung einer Partei ist vor diesem Hintergrund übrigens durchaus sachgerecht: Wenn die Ausgabenseite von den Quellen der Einnahmen nichts weiß, kann sie gar nicht anders als gemeinwohlbezogen handeln. Wer hingegen weiß, woher das Geld, das er ausgibt, kommt, kann schnell in Befangenheiten kommen. Wenn die CDU dieses Trennungssystem nach der Aufdeckung des Kohl’schen Finanzsystems voller Panik und unter allgemeinem Beifall geändert hat, so ist dies in der Sache keineswegs unbedingt überzeugend.46 Das Finanzministerium ist denn auch aus guten Gründen von den „Ausgabeministerien“ getrennt.

45 Zu einer weiteren systemimmanenten Widersprüchlichkeit von Innen- und Außendarstellung der Parteien: Gerd Roellecke, Was sind uns die Parteien wert?, in: Christoph Engel/Martin Morlok (Hg.), Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, S. 65 ff. 46 Vgl. Gerd Roellecke, Geld, Politik, Parteien, Die politische Meinung Nr. 370 (9/2000), S. 50.

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2. Schwächung der Politik durch Geld Politik ist Macht und politische Macht beruht letztlich auf der glaubwürdigen Drohung mit physischer Gewalt. Geld kann diese Drohung aber nicht nur nicht vermitteln, sondern sie im Kern nur schwächen: Denn wer Geld für etwas bezahlt, was er auch befehlen könnte, desavouiert seine Befehlsgewalt und macht die Androhung mit Gewalt unglaubwürdig. Und wer Geld als Gegenleistung für eine Entscheidung nimmt, ist gleichfalls nicht mehr souverän in seiner Entscheidungsfindung und -durchsetzung, denn er ist „gekauft“, hat seine Souveränität „verkauft“ und kann deswegen nicht mehr autonom politisch entscheiden. Deshalb ist Geld in der Politik in der Tat ein Indikator für die Stärke politischer Macht, aber – entgegen landläufiger Meinung – in erster Linie nicht parallel, sondern gegenläufig: Je mehr Geld fließt, desto geringer ist die politische Macht und umgekehrt. Parteien sind also in einer wenig beneidenswerten Lage: Sie brauchen Geld, niemand bestreitet das. Im Zweifel brauchen sie auch immer mehr Geld als der politische Gegner, um nicht im Nachteil zu sein oder zu sein zu glauben. Gleichzeitig aber müssen sie versucht sein, die finanzielle Basis ihre Wirkens möglichst nicht öffentlich zu thematisieren, sich davon gleichsam zu distanzieren: „Über Geld spricht man nicht“. Denn im Zentrum politischer Macht entkräften und entlegitimieren Geldzahlungen das gesamte System. 3. Die Funktion des Transparenzgebotes Aus dieser Perspektive wird auch Bedeutung und Wirkung des verfassungsrechtlichen Transparenzgebotes deutlich. Die gesetzliche Pflicht der Parteien, ihre Finanzen offen zu legen, spiegelt und erklärt den Umstand, dass Politik in ihrem Innersten Geld abweisen muss. Indem Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG bestimmt, dass Parteien „über die Herkunft und die Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben“ müssen, wird die Spendenpraxis und die Vermögenslage einer Partei öffentlich, d. h. sie kann von unbestimmt Vielen beobachtet werden.47 Das bedeutet Neutralisierung des Einflusses durch Geldspenden mittels Öffentlichkeit. Zum einen kann dadurch jedermann erfahren, wieviel Geld eine Partei erhalten hat, wieviel politische Souveränität sie deshalb gegenüber den Spendern noch haben kann, wie problematisch die Androhung physischer Gewalt ihnen gegenüber ist. Das Transparenzgebot schränkt daher politische Macht unmittelbar ein. Wer es nicht beachtet, verschafft sich einen Wettbewerbsvorteil. Zum anderen hilft das Transparenzgebot den Parteien, sich unter Hinweis auf die Veröffentlichung möglichen Ansprüchen und Erwartungshaltungen von Spendern erwehren zu können. Und drittens lässt die Veröffentlichung der Spender eine entsprechende Erwartungshaltung der Spender erst gar nicht aufkommen.

47 Gerd Roellecke, Kann man Politik kaufen? Zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft. Vortrag gehalten auf dem vom Verf. im Januar 2000 in Königswinter veranstalteten Seminar, erscheint demnächst in DÖV (MS S. 14) [DÖV 2001, S. 772 ff.].

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Das Transparenzgebot des Parteiengesetzes hat also entgegen der allgemeinen Meinung wenig mit Demokratie und Wahlen zu tun. Diese Erklärung spiegelt nur ein deutsches Urtrauma wider, nämlich dass die Industrie Hitler mit Geld an die Macht gebracht habe. Eine historisch fragwürdige, wenn auch normativ einflussreiche Auffassung. Jedenfalls interessiert sich im Allgemeinen kein Bürger für Spendernamen. Es ist auch kein Fall bekannt geworden, in dem die Angabe einer Spende eine Wahl beeinflusst hätte oder auch nur politische Aufmerksamkeit erregt hätte.48 4. Das Dilemma der Politik Man sieht: Politik gleicht auch in Bezug auf ihre notwendigen finanziellen Ressourcen einer permanenten Gratwanderung: Jede Partei möchte viel Geld haben, aber am besten sollte keiner davon sprechen und wissen. Das ist natürlich in einer Demokratie nicht vertretbar, erklärt aber die Verlegenheit, Unsicherheit und Skandalträchtigkeit aller Vorgänge im Umfeld von Politik und Geld. Ein vorläufiges Fazit könnte lauten: Allenfalls Menschen, nicht aber die Politik als solche ist käuflich. Geld ist der Politik nur Mittel zum Zweck der Erhöhung politischen Einflusses.

VI. Politik durch Geld Wenn auch Politik als solche nicht käuflich ist, so kann man natürlich mit Geld auch Politik machen. Geld kann man überall zur Meinungsbildung einsetzen. Geld wirkt als effektive Entscheidungshilfe. Kohls zwei Millionen dienten – soweit man weiß – als kleinportionierte Unterstützungen für politische Freunde, deren Dankbarkeit künftig einmal nützlich sein könnte. Genau so waren sie wohl auch gedacht: als Stärkung und Festigung der Position Kohls innerhalb der Partei. Deshalb gehört es zu den absurdesten Anschuldigungen im Kontext des CDU-Skandals, dass Kohl genau dies mit den zwei Millionen getan hat. Er wäre politisch nicht bei Verstand, hätte er damit karitative, kulturelle oder sonstige unpolitische Zwecke gefördert. Dass man mit Geld Freunde gewinnt, Mehrheiten schafft und Verträge schließt, ist natürlich schon lange kein Geheimnis mehr und erst recht nicht vorwerfbar: Als Kohl den Russen die Zustimmung zur deutschen Einheit mit immer neuen Schecks erleichterte, wurde dies ebenso als staatsmännische Leistung gewürdigt, wie es Schröder im Juli unter allgemeinem Beifall – natürlich unter Protest der CDU – Mitte 2000 gelang, die Zustimmung der Länder Berlin, Brandenburg, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern zur rotgrünen Steuerreform mit ca. 3 Mrd. DM zu erkaufen. Und auch die jahrzehntelang bewährte Praxis jeder Regierung, die Wahlbürger durch rechtzeitig vor den nächsten Wahlen terminierte „Wahlgeschenke“ freundlich zu stimmen, bestätigt diesen Befund. Fazit: Geld schafft Einfluss, mit Geld gewinnt man Freunde, mit Geld werden Wahlkämpfe bezahlt. Um so wichtiger ist es zu wissen, woher es kommt: Das 48 Roellecke (Fn. 46), S. 49 f.

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Transparenzgebot neutralisiert den politischen Einfluss von Geldspenden. Da aber Politik auf Macht zielt, Geld ein Element zum Machterwerb ist, gilt: Die erste Mark, von der der politische Gegner nichts weiß, ist die zwar politisch riskante, weil gesetzeswidrige, aber die machtpolitisch interessante Mark. Denn politisch wirksam ist nur geheimes Geld. Daher ist der nächste Parteifinanzierungsskandal programmiert, der sich genau dann anbahnen wird, wenn ein Politiker in einer konkreten Lage den vermeintlichen oder tatsächlichen machtpolitischen Vorteil, über schwarzes Geld verfügen zu können, höher einschätzt als das Risiko, deswegen in einen Skandal verwickelt zu werden und zurücktreten zu müssen.

VII. Die Finanzierung politischer Parteien Diese grundsätzlichen Überlegungen, die versucht haben, den realpolitischen Hintergrund des Problems ansatzweise auszuleuchten, legen einige rechtspolitische Anmerkungen zum Thema nahe, die im Folgenden kurz skizziert seien. 1. Skandalindizierter Änderungsbedarf Skandale haben auch ihre positiven Seiten: Sie sind zum einen unbeabsichtigte Bewährungsproben für die Stabilität des politischen Systems und zum anderen kann man lernen, wie sie vermieden werden können. Das politische System hat den Skandal vorzüglich bewältigt und auch das Recht der Parteienfinanzierung weist insoweit nur einen geringen Anpassungsbedarf aus. Der Finanzierungsskandal der CDU war zwar Anlass, der Frage nachzugehen, ob das Recht der Parteifinanzierung verbessert werden kann, ist aber selbst kein gutes Beispiel. Nur zwei Änderungen sind in Hinsicht auf diesen konkreten Fall angezeigt: zum einen die Schließung einer gesetzlichen Lücke, d. h. eine gesetzliche Sanktion auch für nicht deklarierte Vermögenswerte.49 Zum anderen die Umstellung der Buchführungsverpflichtung auf in der Wirtschaft gängige und von Wirtschaftsprüfern überprüfbare Bilanzierungen nach Maßgabe des Handelsgesetzbuches, wobei sachbereichsspezifische Modifikationen erforderlich sein können. Im Übrigen ist substantieller Änderungsbedarf des Parteiengesetzes nicht gegeben. 2. Dogmatische Konsistenz und prinzipielle Angemessenheit des geltenden Finanzierungsrechts Die gegenwärtige Regelung des Rechts der Parteienfinanzierung und der Rechenschaftslegung in den §§ 18 bis 31 PartG ist grundsätzlich geeignet, die Parteien nicht in eine finanzielle Abhängigkeit von irgendeiner Seite geraten zu lassen. Parteien sollen politisch abhängig sein, d. h. von Wählerstimmen und 49 Depenheuer/Grzeszick (Fn. 6), S. 741; Ipsen (Fn. 6), S. 691, 693. Eine derartige, systematisch sich aufdrängende Lückenschließung würde denn auch allen Versuchen, auf juristische Umwegkonstruktionen auszuweichen, um zu Sanktionen zu kommen, den Boden entziehen. So aber die Entscheidung des Bundestagspräsidenten (Fn. 8).

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nicht vom Geldbeutel. Mit Wählerstimmen kann man zwar Wahlen gewinnen, aber kein Geld erwerben. Der Finanzierungsmix des geltenden Rechts aus Spenden, Mitgliedsbeiträgen, Vermögen und staatlichen Mitteln verteilt das Risiko der Abhängigkeit in prinzipiell angemessener Weise. Wenn überhaupt sind Umfang und Verfahren der Vergabe staatlicher Mittel zu hinterfragen. Denn auch in Ansehung der Vergabe staatlicher Gelder behält die Logik des Geldes ihre Gültigkeit: Auch staatliche Mittel können Abhängigkeit schaffen, wie der drohende Verlust von 40 Mio. DM für die CDU drastisch vor Augen geführt hat. Daher darf der mittelbewirtschaftenden Stelle – dem Bundestagspräsidenten – möglichst kein Entscheidungsspielraum eingeräumt sein, um den politischen Wettbewerb nicht von Seiten der staatlichen Mittelvergabe zu konterkarieren.50 Doch diese Gefahr scheint durch das zutreffende Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts gebannt zu sein: Die Vergabe der staatlichen Finanzierungsmittel ist kein zulässiges Instrument zur Sanktionierung inhaltlich unrichtiger Rechenschaftsberichte.51 3. Das Sanktionensystem Eine genauere gesetzliche Regelung der Sanktionen für die Nichteinreichung, die verspätete Einreichung sowie die falsche Rechenschaftslegung bzgl. Spenden, Mitgliedsbeiträgen und Vermögenswerten könnte insoweit vielleicht hilfreich sein, erscheint aber nicht erforderlich, weil sich die Sanktionen – mit Ausnahme der Sanktion für nicht deklarierte Vermögenswerte – juristisch bereits mit hinreichender Klarheit dem geltenden Recht entnehmen lassen und auch in ihrem Umfang durchaus als angemessen erscheinen.52 Eine von einer parlamentarischen Mehrheit eventuell erwogene Verschärfung des Sanktionensystems müsste aber auf jeden Fall das Funktionieren des politischen Apparates berücksichtigen. Jede Sanktion muss sich auf die Neutralisierung des Vorteils beschränken, den eine Partei sich durch die Verletzung der Rechenschaftspflicht rechtswidrig verschafft hat.53 Da der politische Vorteil durch Nichtangabe von Spendern und Vermögen nicht wesentlich ist, kann auch die Bestrafung nur symbolischer Art sein. Jedenfalls verbietet es die ratio des Parteienfinanzierungsgesetzes ebenso wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, über notwendige Sanktionen eine Partei in den finanziellen Ruin zu treiben. Grundsätzlich aber erscheint es als problematisch, eine Organisation zu bestrafen, wenn ihr Führungspersonal Fehler gemacht hat. Ein Mittel, die Organisation zu schonen und doch Pflichtverletzungen zu sanktionieren, ist die klare Unterscheidung zwischen der Organisation und ihren Repräsentanten. Die in diesem Zusammenhang vieldiskutierte Frage nach einer Bestrafung des verantwortlichen Führungspersonals könnte sich insoweit als Königsweg anbieten. 50 Depenheuer/Grzeszick (Fn. 6), S. 739; Martin Morlock, DVBl 1999, S. 280 f. 51 VG Berlin, NJW 2001, S. 1367, 1368 ff., 1372. 52 Vgl. Depenheuer/Grzeszick (Fn. 6). 53 Zutreffend: Roellecke (Fn. 46), S. 52.

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Die Regelungen des Aktiengesetzes bieten sich als Vorbild an: Danach sind Vorstandsmitglieder schadensersatzpflichtig, wenn sie ihre Pflichten verletzen,54 und strafbar, wenn sie die Verhältnisse der Gesellschaft falsch darstellen.55 4. Der Präsident des Bundestages als Festsetzungsbehörde Auch die Ansiedlung des Vollzugs des Parteiengesetzes beim Bundestagspräsidenten begegnet jedenfalls dann keinen durchgreifenden Bedenken, wenn die rechtlichen Maßstäbe der Vergabeentscheidung klar und deutlich normiert sind. Denn in diesem Fall kann ein Verdacht der Parteilichkeit und Befangenheit des Bundespräsidenten, der ja regelmäßig Mitglied der größten Bundestagsfraktion ist, nicht auftreten. Dies alles ist bei der gegenwärtigen Regelung bei juristisch zutreffender Interpretation der Fall.56 Sollte hingegen im gegenwärtigen Rechtsstreit zwischen dem Präsidenten des Deutschen Bundestages und der CDU das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts keinen Bestand haben, der Bundestagspräsident also über erhebliche Ermessensspielräume bei der Vergabe resp. Nichtvergabe von Staatsmitteln verfügen, dann müsste zur Wahrung der Unparteilichkeit und Chancengleichheit eine außerhalb des Parteienstreits stehende amtliche Stelle diese Funktion in einem rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechenden Verwaltungsverfahren übernehmen.57 5. Politisches Sponsoring Eine ausdrückliche Regelung des Sponsoring-Problems erscheint hingegen nicht angezeigt: Wenn die Pflicht der Parteien zur Rechenschaftslegung darauf zielt, finanzielle Quellen offenzulegen, um deren politischen Einfluss durch Publizität zu neutralisieren, dann läuft diese ratio legis beim klassischen Sponsoring leer. Denn ein Sponsor, der als Brauerei beispielsweise den Parteitag einer Partei mit Freibier sponsert oder als Unternehmen der Autovermietungsbranche einer Parteivorsitzenden einen Cabrio für ein Wochenende zur Verfügung stellt und sich daraus Werbeeffekte verspricht, kann und will nicht anders als öffentlich agieren. Dem Sponsoring ist das Öffentlichkeitsmoment gleichsam inhärent. Politischer Einfluss durch Sponsoring neutralisiert sich gleichsam von selbst. Hinzu kommt, dass das Sponsoring in erster Linie nicht der Unterstützung einer bestimmten Partei oder politischen Richtung dient, sondern der Werbung in eigenen Sachen des Sponsors. Die begünstigte Partei bietet nur die Plattform, um Werbebotschaften abzusetzen; insoweit steht sie auf einer Ebene mit Jazzkonzerten, Fußballspielen oder Modeschauen. Deshalb wird und darf es auch künftig Freibier auf Parteitagen geben. Erzielt hingegen eine Partei durch den Verkauf ihrer Plattform zu Werbezwecken Einnahmen, müssen diese natürlich veröffentlicht werden. 54 55 56 57

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§§ 48, 93, 318 AktG. § 399 AktG. Vgl. VG Berlin, NJW 2001, S. 1367 ff. Josef Isensee, Zwischen Amtsethos und Parteibindung – Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache, ZfParl 2000, S. 417 f.

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6. Geringfügigkeitsgrenze Auch die 5%-Klausel des § 27 Abs. 2 Satz 3 PartG sollte im Grundsatz bestehen bleiben. Danach brauchen sogenannte „sonstige Einnahmen“ nicht aufgegliedert und erläutert zu werden, wenn sie nicht mehr als 5% der Gesamteinnahmen ausmachen. Als Pauschalierungs- und Vereinfachungsvorschrift trägt sie den vielfältigen und unüberschaubaren Fallgestaltungen flexibel Rechnung. Wer kennt nicht die Fragebögen, bei denen jede zweite Frage partout auf die eigene Situation nicht passen will? Und als wie hilfreich erweist sich die entlastende Antwortoption: „Weiß nicht“. Die 5%-Klausel ist das Äquivalent zum „WeißNicht-Kästchen“ und entlastet davon, lange und intensiv zu eruieren, wie eingegangene Gelder einzuordnen sind, wenn sie denn insgesamt marginal bleiben. Der Einwand gegen diese These liegt natürlich auf der Hand: Dies sei gleichbedeutend mit der Aufforderung bzw. Legalisierung illegalen Einschleusens von Schwarzgeld. Tatsächlich soll die Regelung auf einen Deal zwischen SPD und CDU zu Gunsten der CDU zurückzuführen sein, für die die SPD im Gegenzug die – nunmehr ins Gerede gekommene – Saldierungsmöglichkeit bei Vermögenswerten erhalten haben soll. Aber abgesehen davon, dass fragwürdige Motive und die Möglichkeit des Missbrauchs die objektive Vernünftigkeit und pragmatische Plausibilität einer Regelung nicht in Frage zu stellen vermögen, kann wohl niemand ernsthaft die These aufstellen, dass ein Spender unter der Deckung dieser Vorschrift politische Abhängigkeiten erzeugen könnte oder je erzeugt hätte. Eine andere Frage ist, ob man den Prozentsatz ändert, aber die Diskussion dieser Frage entzieht sich wissenschaftlicher Rationalität; sie kann nur politisch mit Mehrheit entschieden werden. 7. Vermögens- und Unternehmensbesitz Eine durch den Skandal ins breitere Bewusstsein getretene Frage ist die Frage nach Zulässigkeit, Umfang und Form der Publizität von Vermögen und Einnahmen aus Vermögens- und Unternehmensbesitz. Völlig unbestritten ist die rechtliche Zulässigkeit auch erheblicher Vermögenswerte. Da man weiterhin mit Geld alles kaufen kann,58 kann man auch Presseorgane oder Anteile daran erwerben. De lege lata ist also der Besitz von Verlagseigentum möglich und, da von der Rechenschaftspflicht erfasst und damit öffentlich bekannt, auch prinzipiell unproblematisch. Auch hier neutralisiert Öffentlichkeit etwa gegebene Meinungsmacht. Zudem ist keine konkurrierende Partei gehindert, ihrerseits in Presseorgane zu investieren. Freilich kann eine Grenze für Vermögensbesitz von Parteien im allgemeinen, Verlagseigentum im besonderen, abstrakt formuliert werden. Der verfassungsrechtliche Sonderstatus der Parteien resultiert aus und ist bedingt durch ihre spezifische Funktion im Kontext einer freiheitlich-parlamentarisch organisierten Demokratie: Parteien sollen auf die politische Willensbildung des Volkes Einfluss nehmen und zu diesem Zweck an der Vertretung des Volkes im Bund

58 Vgl. oben Kap. IV.

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oder in den Ländern mitwirken.59 Nur wenn und soweit sie dieser Aufgabenstellung Rechnung tragen, genießen sie verfassungsrechtliche Privilegien. Unvereinbar damit aber ist es, wenn andere als die politische Aufgabenwahrnehmung das Bild einer Partei maßgeblich prägen. Parteien, die mehr um ihre Vermögensmehrung als um die Formulierung politischer Inhalte besorgt sind, fallen aus diesem Bild der „politischen Partei“ heraus. Interessanter aber erscheint die grundsätzliche rechtspolitische Frage zur Zulässigkeit von Parteieinnahmen aus Vermögens- und Unternehmensbesitz. Einerseits gewährleistet Vermögensbesitz den Parteien zwar Unabhängigkeit von Anhängern, Wählern und Spendern. Freilich soll nach dem grundlegenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts just dies nicht der Fall sein: Parteien sollen von ihren Anhängern und Wählern nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich abhängig sein.60 Mit diesem Grundsatz ist eine überwiegende Staatsfinanzierung61 ebenso wenig vereinbar, wie es eine Finanzautonomie qua Vermögensbesitz wäre, die die Notwendigkeit einer politischen Rückkopplung der Parteien an das Volk aufhöbe. Andererseits muss die Fähigkeit, wirtschaftliche Unternehmen zu führen und Vermögen zu verwalten, nicht korrelieren mit der politischen Kompetenz zum Machterwerb. Der Hinweis auf den Skandal der „Neuen Heimat“ mag nähere Ausführungen dazu erübrigen, dass auch Parteien bei ihrem politischen Leisten bleiben sollten. Aus demokratietheoretischer Perspektive ist die Vorstellung jedenfalls unangenehm, dass eine Partei wegen möglicher Misswirtschaft in ihren Unternehmen finanziell ausbluten könnte, „pleite gehen“ und aus dem politischen Wettbewerb ausscheiden müsste. Deshalb liegt es nicht nur im wohlverstandenen Eigeninteresse der Parteien, ihr Vermögen nur in den sichersten Anlageformen zu verwalten. Derzeit zweifelhaft geworden ist freilich das Problem nach Inhalt und Umfang der Rechenschaftslegung. Ist bei der Vermögensrechnung der Buch- oder Verkehrswert, d. h. Anschaffungs- oder Zeitwert einzusetzen? Das Parteiengesetz beinhaltet insoweit nur scheinbar verbindliche Festlegungen. Der Verweis des § 24 Abs. 1 Satz 2 PartG auf die Grundsätze der ordnungsgemäßen Buchführung hilft nur sehr begrenzt weiter, denn sie wird relativiert durch die Verpflichtung zur „Berücksichtigung des Gesetzeszwecks“. Entsprechend gestaltet sich die Praxis der Rechenschaftslegung der Parteien derzeit höchst unterschiedlich und durchaus nicht widerspruchsfrei. So sehr das rechtspolitische Anliegen der Rechenschaftspflicht für den Verkehrswert streitet, so kann man nicht ernsthaft in Frage stellen, dass der Buchwert im Bilanzrecht eine gängige, weil wertungsunabhängige Größe darstellt. Nachdem das Problem aber nunmehr virulent geworden ist, erscheint eine gesetzgeberische Klarstellung unumgänglich.

59 Art. 21 GG; § 2 Abs. 1 PartG; BVerfGE 85, 264, 284 ff. 60 BVerfGE 85, 264, 283 ff. 61 So BVerfGE 85, 264, 288 ff.

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VIII. Parteienfinanzierung – Entscheidung des Parlaments in eigener Sache? Jede Regelung der Parteienfinanzierung sieht sich einem Generalverdacht ausgesetzt: Weil es die Parteien sind, die die Gesetze machen, entschieden sie entgegen der klassischen Maxime, dass in der Demokratie niemand in eigener Sache entscheiden dürfe. Weil sie es aber dennoch täten, seien die Regelungen absichtlich unklar, unvollständig, widersprüchlich und dem Missbrauch zugänglich, z. B. das Verstecken von Einnahmen unter „Sonstige“ oder die Einräumung von Saldierungsmöglichkeiten bei Vermögenswerten. Man darf davon ausgehen, dass jede Neuregelung diesen Generalverdacht nicht etwa ausräumen wird, im Gegenteil: Gerade wenn man partout nichts Anstößiges findet, wird dies eher als Perfidie besonders gründlicher und subtiler Verdunklung und Täuschung erscheinen. Dagegen lässt sich nichts machen: Voreingenommenheiten sind gewöhnlich hartnäckig und aufklärungsresistent. Aber was ist von dem Topos überhaupt zu halten? Ganz sicher gilt die Maxime „nemo judex in causa sua“ für Exekutive und Judikative. Aber der Grundsatz kann nicht unbesehen auf die Legislative übertragen werden; verfassungsdogmatisch entscheidet das Parlament als Staatsorgan nicht über sich selbst, sondern über Parteien als gesellschaftliche Gebilde mit einem verfassungsrechtlichen Sonderstatus.62 Zudem steht es dem Parlament nicht frei, über Art, Form und Umfang der Parteienfinanzierung zu entscheiden, sondern es hat einen diesbezüglichen Verfassungsauftrag zu erfüllen.63 Darin kann also im Grundsatz nichts Anrüchiges liegen. Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht den Parteien auch keine Möglichkeit zuerkennt, sich dieser unangenehmen Pflicht zu entledigen. Wie gerne würde sich das Parlament verallgemeinern und die Entscheidung über den Umfang der Parteienfinanzierung demokratisch auf ein unabhängiges Sachverständigengremium übertragen; aber selbst bei der Bestimmung der Abgeordnetendiäten – ein vergleichbares Problemfeld – darf es diese nicht etwa an die Richterbesoldung binden mit der Folge, dass es nicht nur über diese, sondern nur im Kontext der Beamtenbesoldung auch über seine eigenen Einkommen entschiede.64 Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht haben diese plausiblen Auswege aus dem politischen Dilemma indes ausgeschlossen – wobei sich freilich das Bundesverfassungsgericht vorbehält, bei entsprechenden Gelegenheiten bei der Regelung der Parteienfinanzierung kompensatorisch selbst kräftig Hand anzulegen.65 Damit muss man leben mit dem Fazit: Nur das Parlament kann, muss aber auch über Form und Umfang der Parteienfinan­ zierung entscheiden.66 Der Bundestag muss die Verantwortung dafür übernehmen und tragen, quasi in eigener Sache zu entscheiden. Die gebotene Rückbindung findet ihren Ausgleich in der Öffentlichkeitswirksamkeit jeder Regelung: 62 Vgl. Isensee (Fn. 57), S. 402 ff., 415. 63 BVerfGE 85, 264, 288. 64 BVerfGE 40, 296, 316 f. 65 Vgl. die Übersicht o. Fn. 4 und 5. 66 Zur Entscheidungspflicht des Parlaments jüngst: Paul Kirchhof, Demokratie ohne parlamentarische Gesetzgebung?, NJW 2001, S. 1332 ff.; Isensee (Fn. 57), S. 423.

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Kontrolle durch Öffentlichkeit – das Medienecho ist beim Thema Parteienfinanzierung ohnehin garantiert.

IX. Wider die grassierende Politik- und Parteienverdrossenheit Ich darf diese unzeitgemäßen Betrachtungen abschließen mit einer Überlegung zur „Unzeitgemäßheit“. Unzeitgemäß sind sie zu weiten Teilen deswegen, weil sie nicht einstimmen in die übliche Parteienschelte, die heute geradezu demokratischer Volkssport und wissenschaftliches Arbeitsbeschaffungsprogramm geworden ist und an der sich absurderweise auch noch die Parteien selbst beteiligen, was wiederum verständlich ist, weil sie ja fortwährend dem Volk auf den Mund schauen. Diese fortgesetzte Parteienschelte findet zuverlässig ihre Anlässe, hilfsweise sucht sie sie sich; fündig wird sie immer. Es gab und gibt – und das gerade in Deutschland – einen latenten antiparteienstaatlichen Affekt, ein fortwährendes „Unbehagen an den politischen Parteien“,67 das sich nicht mit der in der Demokratie immer notwendigen Kritik an den Parteien begnügt, sondern – jeden Einzelfall ins Prinzipielle wendend – bei jedem erkannten Defizit die Krise des Parteienstaates beschwört. Diese medial gepflegte und mit Freude zum Detail kultivierte Parteienverdrossenheit, die selbst Symptom des Problems ist, für deren Therapie sie sich hält, die also zuweilen genau das bewirkt, wovor sie angeblich warnt, ist eine nicht gänzlich ungefährliche politische Attitüde: Denn ohne Parteien ist eine parlamentarische Demokratie nicht existenzfähig, oder pointierter formuliert: Zur parteienstaatlichen Demokratie gibt es keine Alternative, wohl aber zur Demokratie als Staatsform. Deshalb sollten die hier vorgelegten Überlegungen Logik und Sachzwänge politischen Handelns ansatzweise aufzeigen, damit die Dilemmata erkennbar werden, in denen Politiker handeln müssen – und zwar unter dem unablässig gleißenden Licht der medialen Öffentlichkeit. Wie langweilig wären unsere Medien, wenn sie nicht über parteipolitische Kämpfe, Skandale und Intrigen berichten könnten. Aber vielleicht speist und spiegelt sich hier auch nur das postmoderne „Big-Brother-Bedürfnis“ nach immer weiteren Folgen von unterhaltsamen politischen „real-life soap-operas“. Das wäre jedenfalls dann weniger dramatisch, wenn man nur davon ausgehen könnte, dass das Publikum Sache und Unterhaltungswert zu unterscheiden in der Lage ist. Lassen Sie mich schließen mit einem Lob auf die Parteien, wie es William Gilbert in seinem Libretto zu Arthur Sullivans komischer Oper „Utopia limited“ heiter-ironisch vorstellt. In Utopia werden die politischen Institutionen nach englischem Vorbild mustergültig gestaltet, doch die Folgen sind grauenhaft erfolgreich: Armee und Marine werden so schlagkräftig, dass alle anderen Länder abgerüstet haben, was einen Krieg unmöglich und die Armee überflüssig macht; 67 Übersicht: Erwin Faul, Verfemung, Duldung und Anerkennung des Parteiwesens in der Geschichte des politischen Denkens, PVS 5 (1965), S. 60 ff.; Richard Stöss, Parteikritik und Parteiverdrossenheit, Aus Politik und Zeitgeschichte 40 (1990), B 21, S. 15 ff.; Günter Rieger, „Parteienverdrossenheit“ und „Parteienkritik“ in der Bundesrepublik Deutschland, ZParl 1994, S. 459 ff.; Peter Haungs, Alte und neue Parteienkritik, Politische Studien 44 (1993), Sonderheft 4, S. 20 ff.

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Politik und Geld – Unzeitgemäße Betrachtungen zur Parteienfinanzierung

die medizinische Versorgung schafft, was alle erstreben: allgemeine Gesundheit mit der Folge, dass Ärzte und Krankenhäuser, Apotheker und Heilkundler arbeitslos werden; weil alle Verbrechen erfolgreich bekämpft werden, erleiden die Rechtsanwälte und Gerichte das gleiche Schicksal. Die Problemanalyse der Zustände erbringt ein überraschendes Resultat: Bei der Kopie der englischen Verhältnisse hat man einen entscheidenden Aspekt zum Wohlergehen des Staates vergessen: die Parteien. Erst die Einführung von Parteien, der permanente Streit von Regierung und Opposition, normalisiert das Leben. So weit Gilbert & Sullivans komische Oper. Aber auch komische Libretti verdanken ihre Bühnenwirkung nicht zuletzt dem Umstand, dass sie das wirkliche Leben – wenn auch pointiert überzeichnet – spiegeln. Dann lautete die Moral von der Geschichte des CDU-Spendenskandals: Vielleicht bedürfen auch wir in der politischen Wirklichkeit hier und heute des fortwährenden Streits der Parteien, der immer neuen Skandale aus dem einzigen Grunde, um von der Tyrannei einer perfekten Politik verschont zu bleiben. Dieses – zugegebenermaßen unkonventionelle – Lob auf den nicht-perfekten Parteienstaat verfolgt die Absicht, vor den Versuchungen einer Fundamentalkritik an den Parteien zu warnen. In diesem Sinne darf ich mir erlauben, den Hinweis darauf zu wiederholen, dass es nur zur Demokratie als Staatsform, nicht aber zur parteienstaatlichen Demokratie eine Alternative gibt. Die real existierende parteienstaatliche Demokratie in Deutschland ist mit allen ihren Erscheinungsformen zwar sicherlich nicht perfekt, trotzdem aber verdient sie unsere Unterstützung. Für viele ist das politische Theater Lebenselixier, für die meisten von uns – die Zuschauer – zumindest kurzweilige Unterhaltung: Hegen wir also unsere Parteien, wir haben derzeit keine besseren; engagieren wir uns in ihnen, denn jedem steht die Mitwirkung frei; schauen wir ihnen auf die Hände, fordern wir Gesetzesgehorsam ein, wo das Gesetz gebrochen wurde, kritisieren wir, was kritikwürdig ist, sanktionieren wir, was sanktionsbedürftig ist, verbessern wir rechtlich, was verbesserungsbedürftig ist, gehen wir aber im Übrigen auch die Probleme der Parteienfinanzierung etwas gelassener – nämlich frei von Emotionen – an, reduzieren sie „sine ira et studio“ auf ihren juristischen Kern und versuchen, sie mit Augenmaß einer pragmatischen Regelung zuzuführen. Man sage nicht, das sei nicht viel. Im Gegenteil: Vielleicht ist diese unprätentiöse Antwort, dieser Appell an den common sense, schon alles.

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Politik und Geld II – Parerga zu einer unendlichen Geschichte Inhaltsübersicht I. Fluch und Segen des Geldes II. Integritätsanspruch der Demokratie III. Skandale ohne Ende – ein kleiner Zwischenbericht nach 15 Jahren

IV. „Schafft an, wer zahlt“? oder: Problem ohne Substanz? V. Selbstreinigungskraft der Demokratie

I. Fluch und Segen des Geldes Die Sprache des Geldes versteht jeder und lässt nur wenige unbeeindruckt. Doch Fluch und Segen liegen auf dieser Leistungsfähigkeit des Geldes gleichermaßen: Segen, weil man für Geld fast alles haben kann und es den Freiheitsspielraum des Einzelnen deswegen um ein Vielfaches erweitert. Segen auch im Bereich der Ökonomie: Im Wirtschaftsverkehr ist Geld das Medium schlechthin, verlässlicher Gradmesser für Knappheit und Preise, Indikator für individuellen Erfolg, Grundlage kollektiven Wohlstands. Vor allem aber ist Geld andererseits auch Fluch: Geld kennt aus sich heraus kein Maß, weshalb man nie genug davon haben kann. Vor allem aber stört, verzerrt, pervertiert es die Motivationslagen der Menschen, die in den nichtwirtschaftlichen gesellschaftlichen Systemen leben. Der Richter soll der Gerechtigkeit dienen, der Wissenschaftler nach Wahrheit suchen, der Künstler nach Schönheit streben und in der Familie nur die Währung selbstloser Liebe zählen. Nisten sich in diese intrinsischen Motivationslagen die Begehrlichkeiten nach Geld ein, ja verdrängen sie diese gar ganz oder teilweise, dann verlieren diese Tätigkeiten ihre inhaltliche Legitimität. Indem die Dienste an Gerechtigkeit und Schönheit, Wahrheit und Liebe käuflich werden, ändern sie ihren sozialen Charakter. Denn die unerbittliche Logik des Geldes lautet: „Wer zahlt, schafft an“. Dann droht die Versuchung, dass das Urteil über Gerechtigkeit und Schönheit, Wahrheit und Liebe mit der Höhe des Schecks korrespondiert. Dass dieser Versuchung nicht jeder widersteht, ist eine Binsenwahrheit: Sie gilt ubiquitär, ungeachtet von Kontexten, Kulturen und Lebensverhältnissen; sie wirkt abgestuft von zarter Kenntnisnahme über nicht unmaßgebliche Berücksichtigung bis hin zur nackten Korruption, d. h. dem Verkauf der kollektiv verbindlichen Entscheidungsmacht aus Geldgier. Die Logik des Geldes besagt mithin, dass, wer Geld in Aussicht stellt, in der Regel auch die Bedingungen diktieren kann, unter denen es fließt. In Friedrich Dürrenmatts Tragödie „Der Besuch der alten Dame“ hat diese Binsenwahrheit idealtypisch dichterische Gestalt gewonnen. Das „Regieren durch Geld“ ist im entwickelten Wohlstandsstaat zur weitverbreiteten Handlungsform geworden. Selbst in die Universitäten hat dieser Geist des Regierens durch Geld ziemlich widerstandslos Einzug gehalten.

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Politik und Geld II – Parerga zu einer unendlichen Geschichte

II. Integritätsanspruch der Demokratie Nicht zuletzt die Politik ist in besonderem Maße anfällig für die Versuchungen des Geldes, geht es ihr doch um die Setzung „kollektiv verbindlicher Entscheidungen“, d. h. um Macht. Ihrer Intention nach geht es Politik um die Formulierung, Wahrung und Fortentwicklung des Gemeinwohls. In einer freiheitlichen Demokratie ringen mit dieser gemeinsamen Zielsetzung unterschiedliche Ordnungskonzepte um die inhaltliche Konturierung dieses „allgemeinen Wohls“. Im legitimen Wettbewerb der Parteien buhlen diese um die Gunst der Wähler und ermöglichen derart im Takt der Legislaturperioden Kontinuität oder Wechsel der Politik. Zwar wird auf diese Weise der undeutliche Begriff des Allgemeinwohls immer wieder neu gedeutet und praktisch konkretisiert. Doch in einem besteht begriffliche Klarheit: Das Wohl der Allgemeinheit und das Wohl Einzelner stehen in unüberbrückbarem Gegensatz zueinander. Materielle Selbstbedienung der politischen Kaste ist untrüglicher Indikator für die moralische Verwerflichkeit des politischen Regimes. Die Integrität des politischen Willensbildungsprozesses, d. h. seine intrinsische Orientierung an dem gemeinen Besten als regulativem Prinzip, bildet daher die Legitimitätsbedingung der Demokratie als Herrschafts‑ und Staatsform schlechthin. Daher muss die Politik den politischen Einfluss des Geldes ebenso fürchten wie der Teufel das Weihwasser.

III. Skandale ohne Ende – ein kleiner Zwischenbericht nach 15 Jahren Aber ohne Geld geht natürlich auch in der Politik nichts. Der Gesetzgeber versucht mit zahlreichen Vorkehrungen, die Politik gegen die Versuchungen des Geldes zu immunisieren: mit detaillierten Regelungen und Begrenzungen der Parteienfinanzierung, mit umfassenden Transparenzgeboten, mit strafrechtlich sanktionierten Verboten von Bestechung und Korruption. Wann immer darüber hinaus Politik mit Geld in Berührung kommt, ist der Skandal, der Verdacht unlauterer Machenschaften, demokratieschädlicher Fremdsteuerung durch Oligarchen, politischer Selbstbedienung nicht weit. Helmut Kohl und seine Millionen (2001) waren seinerzeit Anlass und Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu „Politik und Geld“. Wer geglaubt hatte, das Problem könnte sich in Ansehung dieses Skandals erledigt haben, hat sich getäuscht. Tatsächlich verging seither kaum ein Jahr, in dem nicht investigative Publizisten weitere Beispiele problematischer Verquickungen von Geld und Politik in das Licht der Öffentlichkeit stellten. Highlights problematischer Parteien‑ und Politikerfinanzierung der letzten 15 Jahre seien hier nur stichwortartig in Erinnerung gerufen: Die unklare Finanzierung eines Werbeflyers endete für den früheren Außenminister Möllemann tödlich, für seine Partei in einem finanziellen Desaster.1 Die Mövenpick-Spende an die FDP und die Senkung der Hotelsteuer nach der Wahl 2009 bildete für die FDP den Anfang von ihrem – jedenfalls vorübergehenden – Ende.2 Diverse Wege von immer neuen „Um1 FAZ v. 3.7.2009, S. 3: „Der lange Schatten des Jürgen W. Möllemann.“ 2 FAZ v. 19.1.2010, S. 5: „FDP: Kritik an Spende absurd.“

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wegfinanzierungen“ werden in regelmäßigen Abständen von aufmerksamen Beobachtern festgestellt und medial skandalisiert: so die inzwischen rund 10.000 vom Steuerzahler bezahlten persönlichen Mitarbeiter von Bundes- und Landtagsabgeordneten,3 die auch Parteiarbeit leisten. Ferner die großzügig finanzierten „Parteien in den Parlamenten“, d. h. Fraktionen, von deren an sich legitimer Öffentlichkeitsarbeit nicht selten ihre Mutterparteien profitieren.4 Nicht zuletzt die Inlandsarbeit der staatlich finanzierten und den politischen Parteien „nahe stehenden“ Stiftungen kommt vielfach den Mutterparteien zugute.5 Und weil sich die staatliche Parteienfinanzierung auch an den wirtschaftlichen Aktivitäten der Parteien orientiert, werden auch an sich legale wirtschaftliche Tätigkeiten wie Goldverkäufe (AfD)6 zum skandalträchtigen Problem. Der Wechsel des politischen Personals nach ihrer politischen Karriere in Industrieunternehmen (z. B. Altkanzler Gerhard Schröder zum russischen Konzern Gazprom,7 Staatssekretärin Katharina Reiche zum Verband kommunaler Unternehmen,8 der Chef des Bundeskanzleramtes Ronald Pofalla zur Deutschen Bahn9 sowie der Wechsel von Eckart von Klaeden vom Kanzleramt zu Mercedes Benz10) wird vor diesem Hintergrund ebenso problematisch wie das Sponsoring politischer Events,11 die Nebentätigkeiten von Abgeordneten,12 die Vorfinanzierung von Memoiren (Gerhard Schröder) durch „persönliche Freunde“ (Carsten Maschmeyer)13 oder die Zurverfügungstellung eines Hypothekendarlehens für einen deutschen Ministerpräsidenten.14 Die Liste zumindest fragwürdiger unmittelbarer, mittelbarer und scheinbarer finanzieller Vergünstigungen ist zwar lang, längst nicht vollständig und dürfte sich in der Zukunft noch weiter anreichern. Aber tragen diese Vorfälle das Urteil, Deutschland verkomme allmählich zur Bananenrepublik?

IV. „Schafft an, wer zahlt“? oder: Problem ohne Substanz? Tatsächlich sehen nicht wenige Beobachter in Ansehung dieser Befunde die parlamentarische Demokratie in Deutschland in einer ernsthaften Krise. Sicherlich: Der Integritätsanspruch der Demokratie leidet unter jedem einzelnen dieser Vorfälle. Aber kann man deswegen die Politik in Deutschland insgesamt 3 Hans Herbert von Arnim, Abgeordnetenmitarbeiter – Reservearmee der Parteien?, DÖV 2011, S. 345 ff. 4 Vgl. faz.net v. 3.12.2013: Urteil gegen CDU-Politiker Böhr – „Er wollte nur die Wahl gewinnen“, http://www.faz.net/aktuell/politik/urteil-gegen-cdu-politiker-boehr-erwollte-nur-die-wahl-gewinnen-12693170.html (letzter Zugriff: 19.7.2015). 5 FAZ v. 26.11.2014, S. 16: „Die heimlichen Goldgruben der Parteien.“ 6 FAZ v. 22.11.2014, S. 1: „Lammert will Regeln zur Parteienfinanzierung ändern.“ 7 FAZ v. 13.12.2005, S. 13: „Darf Schröder das?“ 8 FAZ v. 4.2.2015, S. 2: „Plötzlich eine weniger.“ 9 FAZ v. 3.1.2014, S. 11: „Pofalla soll Vorstand der Bahn werden.“ 10 FAZ v. 4.11.2013, S. 21: „Staatsanwalt ermittelt gegen neuen Cheflobbyisten des Daimler-Konzerns.“ 11 FAZ v. 4.3.2010, S. 4: „SPD und Grüne fordern Strafe.“ 12 FAZ v. 5.11.2012, S. 11: „Vortragsmillionär.“ 13 FAZ v. 13.11.2014, S. 1: „Maschmeyer zahlte Schröder zwei Millionen für Rechte an Memoiren.“ 14 FAZ v. 23.2.2012, S. 8: „Der Bürge im Fall Wulff?“

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schon als käuflich betrachten und derart diskreditieren? Hier scheint in hohem Maße Vorsicht geboten und analytisches Augenmaß angebracht. Die vorschnelle Verkürzung der im Einzelnen fragwürdigen Skandale auf die Schlagzeile „Geld kauft Politik“ wäre nicht nur sehr kurzschlüssig. Sie trägt den Rahmenbedingungen einer freiheitlichen Gesellschaft kaum angemessen Rücksicht, deren Immunisierungspotential und Selbstregenerationsfähigkeit sich gerade in Ansehung dieser weniger erfreulichen Erscheinungsformen der Politik einmal mehr erweist. 1. Zum einen kann man nicht „die Politik kaufen“. „Kaufen“ kann man allenfalls Menschen in der Erwartung, diese würden sich gemäß der „Logik des Geldes“ gegen Vergünstigungen für bestimmte Interessen in besonderem Maße einsetzen. Man nennt das auch Lobbyismus und dieser zählt zum notwendigen und legitimen Beiwerk einer funktionierenden Demokratie. Nun ist Demokratie bekanntlich die Staatsform, die permanent Interessen aufgreift, bündelt und ausgleicht. Interessenvertretung ist also demokratische Normalität. Die jeweils vertretenen Interessen können intrinsischer Natur sein, im Kontext politischer Karriereplanung stehen, Teil eines politischen Kompromisses sein oder aber durch materielle, ideelle Gegenleistungen oder deren In-Aussicht-Stellen motiviert sein. Selbst in diesem fragwürdigen Fall wird nicht Politik gekauft; vielmehr muss der gekaufte Politiker das Interesse in seiner Partei, in seiner Fraktion und im Parlament vertreten und durchsetzen. Und ob und mit welcher Intensität er das versucht, entzieht sich jeder Kontrolle. In jedem Fall ist die Wirkung auf die letztlich mit Mehrheit zustande kommende Entscheidung für den „Spender“ kaum abzuschätzen, mithin für beide Seiten ein höchst riskantes Investment: für den Spender, weil er auf die Gegenleistung nur hoffen kann, für den Empfänger, weil er Gefahr läuft, sich persönlich und politisch „als käuflich“ zu diskreditieren. Daher verwundert es denn auch kaum, dass nach einer jüngeren Untersuchung Großspenden an die politischen Parteien immer weiter rückläufig sind und gerade einmal ein Zehntel aller Spenden ausmachen.15 2. Daher wären Politiker, die sich wirklich kaufen lassen, politische Hasardeure. Das Risiko, dass finanzielle Zuwendungen öffentlich werden, politische Karrieren abrupt beenden (Möllemann, Wulff, Kohl) und für das verfolgte politische Interesse kontraproduktive Wirkungen entfalten können, ist erheblich und unkalkulierbar. In einer freiheitlichen Demokratie steht das gesamte politische Geschehen unter einer umfassenden öffentlichen Beobachtung, bei der selbst Absprachen im kleinsten Kreis schnell den Weg in die Öffentlichkeit finden. Unter diesen Bedingungen steht das Risiko des politischen Schadens in keinem Verhältnis zu dem jeweils verfolgten Interesse, wenn auch nur der Anschein eines begründeten Verdachts der Käuflichkeit von Politikern aufkommt. Die 2-Millionen-Spende an Helmut Kohl überschattet bis heute das Lebenswerk eines großen Staatsmanns und hat die CDU an den Rand ihrer politischen Existenz gebracht. Die Mövenpick-Spende im Vorfeld der Senkung der Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen war der Anfang vom Niedergang der FDP. 15 Vgl. FAZ v. 24.12.2014, S. 20: „Großspenden sind nur noch Kleingeld für die Parteien.“

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Das Öffentlich-Werden einer unglücklichen Hausfinanzierung setzte eine Medienkampagne gegen ein amtierendes Staatsoberhaupt in Gang, die ihresgleichen suchte, aber wie das Hornberger Schießen endete – und nicht zuletzt eine politische Karriere und geachtete Persönlichkeit zerstörte. 3. In Ansehung dessen verwundert es nicht, dass der Verdacht einer „strategischen Käuflichkeit der Politik“ in der Vergangenheit nicht in einem Fall schon mal bewiesen worden ist. Zwar gibt es Verurteilungen wegen Bestechung und Korruption. Aber vereinzelte Fälle bestimmen und prägen nicht das System der Demokratie. Tatsächlich besteht ein frappierendes Missverhältnis zwischen den tatsächlichen und vermeintlichen Skandalen und den wirklichen Gefahren für den demokratischen Willensbildungsprozess. Anders und als Frage for­ muliert: Steht hinter vielen Skandalgeschichten und der medialen Aufregung möglicherweise nicht mehr als das sehr eigennützige Interesse an öffentlicher Aufmerksamkeits‑, Auflagen‑ und Quotensteigerung? Dient das regelmäßige mediale Echauffieren über die „Geldgier der Politiker“ nicht als perfekte Tarnung für die entsprechende Gier der vierten Gewalt? 4. Tatsächlich erscheint der Gedanke nicht fernliegend, dass die diversen medial aufgemachten Skandale genau das bewirken, wovor sie angeblich warnen, nämlich eine Diskreditierung des demokratischen Systems insgesamt. So erscheint die Mövenpick-Spende für die FDP mit nachgelagerter Steuersenkung insoweit weniger als Skandal einer Partei, sondern eher als ein Beispiel genialer medialer Diskreditierung einer Partei, da die entsprechende Forderung in der Sache von fast allen anderen Parteien ebenfalls erhoben worden war. Dem Problem des Verhältnisses von Politik und Geld wächst insoweit eine weitere Dimension zu, die nur selten in diesem Zusammenhang thematisiert wird: die Attraktivität des demokratischen Engagements. Die grassierende Politikverdrossenheit und das allmählich bedrohlich erscheinende Problem qualifizierter politischer Nachwuchsgewinnung könnte eine direkte Folge der permanenten medialen Skandalisierung des politischen Betriebs sein. Junge Menschen, die sich für die Mitarbeit am Gemeinwohl entscheiden und engagieren wollen, müssen sich nicht nur der tagtäglichen po­ litischen Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Parteien und den Parteifreunden unterziehen. Das gehört zum politischen Geschäft und wird durch die Aussicht und die Genugtuung kompensiert, einen Beitrag zum allgemeinen Besten zu leisten. Doch ein Arbeiten unter den Bedingungen permanenter öffentlicher Beobachtung, allgegenwärtigen Misstrauens und frivoler Unterstellungen kann den Bestmeinenden auf Dauer zermürben. Wenn diese mediale Jagd Formen zuweilen hysterischen Charakters annimmt und den jeweils Betroffenen zum Freiwild degradiert, wenn also der öffentliche Meinungsfuror tobt, dann ist für den Einzelnen kein Entkommen mehr. Dann wird selbst das Trivialgeschenk eines Bobby-Cars16 medial zum Skandalisierungsversuch genutzt. Ob die Reinigungskraft der öffentlichen Kontrolle der Regie16 Zeit.de v. 18.1.2012: „Bundespräsident Wulff – Jetzt geht es um ein Bobby-Car“, http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-01/wulff-bobby-autohaus (letzter Zugriff: 19.7.2015).

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renden heute noch in einem angemessenen Verhältnis zum Verlust des politischen Personals und der Attraktivität des politischen Engagements steht, diese noch selten gestellte Frage bedürfte wohl noch eines vertieften Nachdenkens.

V. Selbstreinigungskraft der Demokratie Im Übrigen reguliert sich das problematische Verhältnis von Politik und Geld in einer freiheitlichen Demokratie systemimmanent. Denn diese Regierungsform und die ihr adäquate offene Gesellschaft verfügen über eine singuläre Selbstreinigungskraft. Die unvermeidlichen permanenten Versuchungen intrinsischer Systeme durch Geld sind und bleiben stete – politische, rechtliche, ethische – Herausforderungen, deren Bewältigung nie an ihr definitives Ende gelangen wird. Dazu bedarf es unparteilicher Beobachtung, kluger Analyse der tatsächlichen Gefährdungen und sicherer Urteilskraft. Dann werden die Bürger in den regelmäßigen Wahlen ihre Antworten auf die allfälligen Skandale geben. Diese Antworten zeigen in der Rückschau ebenso erstaunliche wie erfreuliche Urteilskraft: Parteien und Politiker mussten einen z.T. sehr hohen Preis für ihr Fehlverhalten bezahlen, der die empfangenen Leistungen um ein Vielfaches übertraf und die anfänglichen Kalkulationen Makulatur werden ließ. Und dann zeigt sich die andere, positive Seite der Demokratie: Nicht der Skandal ist das Problem der Demokratie, sondern seine öffentliche Verhandlung ist der Triumph der Demokratie. Fehler sind menschlich und damit immer politisch einzukalkulieren. Aber die demokratische Möglichkeit öffentlicher Kritik und Abwahl der desavouierten Amtsträger und Parteien durch regelmäßige Wahlen, darin besteht einer der größten Vorzüge der demokratischen Staatsform. Sie ermöglicht den Politikwechsel, die Anpassung an neue Problemlagen, den politischen Erfolg unter wechselnden Herausforderungen – Leistungen, von denen jede Diktatur nur träumen kann.

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Kirchensteuer in der Diskussion – Publizistisch, politisch, volkswirtschaftlich, rechtlich und theologisch* Inhaltsübersicht Einleitung I. Kirchensteuerdiskussion in den Medien 1. Vieles ist normal 2. Horst Herrmann als Leithammel 3. Unterhaltung auf Kosten der Wahrheit 4. Irritation von rechts und ein Eigentor II. Die Kirchensteuer in der politischen Diskussion 1. Breiter Konsens und vereinzelte, oft scharfe Kritik in den politischen Parteien 2. Ideelle und materielle Gründe für die Kirchensteuer aus der Sicht des Staates und der Gesellschaft III. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Kirchensteuer 1. 17 Mrd. DM für das Gemeinwohl statt für den privaten Konsum 2. Ausgleich zwischen Arm und Reich a) Zwischen armen und reichen Katholiken

b) Zwischen armen und reichen Kirchengemeinden c) Zwischen armen und reichen Bistümern in Deutschland d) Zwischen Armen und Reichen weltweit 3. Ein gruppenspezifischer Beitrag mit hohem Nutzen für die Allgemeinheit 4. Ehrenamt + Kirchensteuer = Hohe Effektivität IV. Alternativen zur Kirchensteuer durch Änderung des Rechts 1. Kultur- oder Sozialsteuer? 2. „Italien“ – ein Modell für die Zukunft? 3. Reform statt Alternative? V. Innerkirchliche Kirchensteuerdiskussion 1. Fundamentalkritik 2. CIC und Kirchensteuer 3. Staatsinkasso und Kirchenidentität 4. Kirchensteuer und Kirchenmitgliedschaft 5. Kirche und Geld – Wo bleibt das Armutsideal?

Einleitung Aus historischer, rechtlicher und kirchenrechtlicher Sicht ist – wie mir scheint – alles Wesentliche über die Kirchensteuer erforscht und publiziert.1 Auch über die Verwaltung der Kirchensteuermittel und über ihre Verwendung * Vortrag, gehalten am 28.9.1995 vor der Kölner Juristischen Gesellschaft, veröffentlicht in der Schriftenreihe der Kölner Juristischen Gesellschaft Band 19, 1996. 1 Alexander Hollerbach, Kirchensteuer und Kirchenbeitrag, in: Joseph Listl/Hubert Müller/Heribert Schmitz (Hg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 1983, S. 889 ff. (im Folgenden zitiert: Hollerbach); Wolfgang Lienemann (Hg.), Die Finanzen der Kirche. Studien zu Struktur, Geschichte und Legitimation kirchlicher Ökonomie, 1989; Christoph Link, Art. Kirchensteuer, Evangelisches Staatslexikon I, 3. Aufl. 1987, Sp. 1695 ff.; Heiner Marré, Art. Kirchensteuer, Staatslexikon der Görres­Gesellschaft III, 7. Aufl. 1987, Sp. 447 ff. (im Folgenden zitiert: Marré, Kirchensteuer); ders., Die Kirchenfinanzierung in Kirche und Staat der Gegenwart, Münsterischer Kommentar

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gibt es eine Fülle sehr praxisnaher Publikationen.2 In Ihrem Kreis gehe ich davon aus, dass Sie weitgehend und zum Teil sogar sehr genau über diese Publikationen informiert sind. Es hieße deshalb Eulen nach Athen tragen, wenn ich in diesem Referat den Stand der Forschung und Veröffentlichungen einfach zusammenfassend referieren würde. Ich habe deshalb einen anderen Weg gewählt. Gerade in den letzten Jahren ist wieder einmal eine heftige und zum Teil recht vielfältige Kirchensteuerdiskussion entbrannt: natürlich in den Medien, aber auch zum Teil auf der politischen Bühne, durch die Einbringung finanzwissenschaftlicher und volkswirtschaftlicher Aspekte und rechtlicher Alternativlösungen, nicht zuletzt aufgrund innerkirchlicher Reformbewegungen und Fragestellungen. Ich werde Ihnen in dieser Reihenfolge, also sozusagen von außen nach innen, die Diskussionsbeiträge darzustellen versuchen und aus meiner Sicht hierzu Stellung nehmen. Es versteht sich, dass dabei verschiedene Aspekte dessen, was in der Vergangenheit wissenschaftlich erarbeitet worden ist, aufgegriffen werden, ohne dass hier irgendein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann.

I. Kirchensteuerdiskussion in den Medien 1. Vieles ist normal Beginnen wir also mit der Kirchensteuerdiskussion in den Medien, in den letzten Jahren ein beliebtes Thema. Ich kann bei weitem nicht allen Wünschen nach Interviews, Teilnahme an Diskussionen und Beiträgen für Publikationen nachkommen und vielen anderen Kirchenvertretern geht es ähnlich. Aufgrund meiner Erfahrung bin ich weit davon entfernt, zu einer allgemeinen Medienschelte auszuholen. Dies wäre nicht gerechtfertigt. Es gibt eine große Zahl von Journalisten, die daran interessiert sind, gute Informationen zu bekommen, um objektiv berichten zu können. Ich habe auch im Funk und im Fernsehen durchaus faire Behandlung erfahren, sodass wir in der Unterhaltungssendung „Pro und Contra“ vor Jahren die Minderheitengruppe „Pro-Kirchensteuer“ immerhin um einige Prozentpunkte verbessern konnten. Es ist verständlich, dass die Medien gerne kritische Stimmen von Politikern oder innerkirchlichen Gruppen aufgreifen. Für den unbefangenen Leser entzum Codex Iuris Canonici, Beiheft 4, 3. Aufl. 1991 (im Folgenden zitiert: Marré, Kirchenfinanzierung). 2 Außer den in Anm. 1 erwähnten Artikeln sind folgende Beiträge zu nennen: Matthias Branahl, Kirchensteuer – zwischen Annahme und Ablehnung (Beiträge zur Gesellschafts- und Bildungspolitik 177, 6/1992), 1992 (im Folgenden zitiert: Branahl); Friedrich Fahr/Karl-Eugen Schlief, Der kirchliche Finanzausgleich. Anmerkungen zur gegenwärtigen Praxis der Katholischen Kirche in Deutschland, in: FS Franz Klein, 1994, S. 681 ff. (im Folgenden zitiert: Fahr/Schlief); Norbert Feldhoff, Auch über Geld kann man sprechen. Impuls zum Thema Kirchensteuer, in: Annette Schavan (Hg.), Dialog statt Dialogverweigerung. Impulse für eine zukunftsfähige Kirche, 1994, S. 180 ff.; ders., In der Diskussion: Kirchensteuer (Zeitfragen 48, hg. v. Presseamt des Erzbistums Köln), 1994; Wolfgang Ockenfels/Bernd Kettern (Hg.), Streitfall Kirchensteuer, 1993 (im Folgenden zitiert: Ockenfels/Kettern); Karl-Eugen Schlief, Art. Kirchliches Finanzwesen, Staatslexikon der Görres-Gesellschaft III, 7. Aufl. 1987, Sp. 524 ff.

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steht dadurch oft ein falsches Bild, denn hinter den einzelnen Kritikern stehen bisweilen nur relativ kleine Gruppierungen. Ich werde hierauf in späteren Abschnitten noch zu sprechen kommen. Den Medien sollte man hier keinen besonderen Vorwurf machen. Als Konsumenten müssen wir immer mit solchen Verzerrungen rechnen. Es bleibt dann aber ein Rest, aus meiner Sicht ein durchaus ärgerlicher Rest von Publikationen, in denen die „Steuer“ (oder das Geld der Kirche allgemein) angegriffen wird, um die Kirche ganz allgemein zu treffen. Den Sack schlägt man, den Esel meint man.3 2. Horst Herrmann als Leithammel4 Mit Recht bezeichnet der Journalist Martin Lohmann den Münsteraner Soziologen Horst Herrmann als eine der Leitfiguren antikirchlicher Propaganda. 1971 wurde der damals 31jährige Priester Professor für Kirchenrecht in Münster. Nach Aufgabe seines Priesteramtes und Heirat wurde er 1981 Religionssoziologe an der Münsteraner Universität. Mit seinem Kirchenaustritt begann dann seine „Karriere“ als gnadenloser Kämpfer gegen die Katholische Kirche und das System der Kirchenfinanzierung. Die Forderung nach Abschaffung der Kirchensteuer verknüpft er mit der Hoffnung, die Kirche werde dann glaubwürdiger und zeitgerechter.5 Wie glaubwürdig eine solche „Hoffnung“ aus dem Munde eines Kirchengegners klingt, der davon träumt, dass möglichst viele Menschen die Kirche verlassen, braucht wohl nicht näher dargelegt zu werden. Dass ich einem solchen Autor gegenüber höchst befangen bin, räume ich sofort ein. Ich würde mich schämen, wenn es nicht so wäre. Deshalb halte ich mich mit persönlicher Kritik an Herrmanns Veröffentlichungen zurück und zitiere eine Zeitung, die niemand in Deutschland als „Kirchenpostille“ bezeichnen würde. Mit seinem Buch „Die Kirche und unser Geld“ verkaufte Herrmann 1990 seine Thesen über das Finanzgebaren der Kirche. Aus „demokratischem Interesse an der Republik“ lag und liegt es ihm am Herzen, den Menschen die Augen zu öffnen für die „verschlungenen Wege, die unser Geld in die Taschen der Kirche nimmt“. Er stellt schließlich fest: „Mit diesem einzigartigen System, das auch im Ausland Unverständnisse hervorruft, leistet sich die Bundesrepublik die teuerste Kirche der Welt.“ Diese Attacken des Münsteraner Professors gingen selbst der „Süddeutschen Zeitung“ zu weit. Sie unterzog in ihrer Ausgabe vom 5.12.1990 das Herrmann-Buch einer kritischen Würdigung und kam zu dem Ergebnis, dass es „Herrmann in seinem Buch eigentlich um mehr“ gehe: „um eine bitterböse Abrechnung mit der Kirche als Institution“. Dabei falle auf, wie 3 Vgl. den römischen Satiriker Petronius († 66 n. Chr.): „Qui asinum non potest, stratum caedit“. 4 Vgl. Martin Lohmann, Reizthema Kirchensteuer – Die Medien und die Kirchenkritiker, in: Ockenfels/Kettern, S. 61 ff. (im Folgenden zitiert: Lohmann). 5 Horst Herrmann, Die Kirche und unser Geld: Daten, Tatsachen, Hintergründe, 1990; ders., Kirchenaustritt – Ja oder nein?: Argumente für Unentschlossene, 1992; ders., Caritas-Legende: Wie die Kirchen die Nächstenliebe vermarkten, 1993.

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sehr sich der Münsteraner Ex-Priester auf den umstrittenen Kirchenhistoriker Karlheinz Deschner beziehe und immer wieder das gleiche Argument zum Ausdruck bringe: „Die Kirche, eine nicht mehr reformierbare Ansammlung fauler und gerissener Kleriker mit unmündiger Anhängerschaft, vergrößert mit krimineller Energie ihren Besitz und läßt ihrem ,Machtwillen‘ freien Lauf.“ Herrmann findet – natürlich bei Deschner – auch eine Erklärung dafür, warum das in Deutschland möglich ist: „Weil sie (die Deutschen) zwar eines der fleißigsten, aber auch politisch dümmsten Völker sind. Und nichts ist schlimmer als diese Mischung aus Energie und Hörigkeit; die beiden Weltkriege beweisen es.“ Schade, dass der Soziologe selbst interessante Themen mit „Platitüden und Vorurteilen“ behandelt, resümiert die „Süddeutsche“: „Gegen Widerspruch und Einwände hat sich Herrmann immunisiert: sie sind für ihn immer schon von klerikalem Denken durchdrungen. Auf diesem Niveau ist ein sachlicher Diskurs schwer vorstellbar, aber daran ist Herrmann offensichtlich auch gar nicht interessiert.“ Wer Herrmanns Kampfschrift „Kirchenaustritt – Ja oder nein?“ aus dem Jahr 1992 liest, wird den Eindruck nicht los, dass der Autor von der Sehnsucht getrieben wird, seinen eigenen Austritt aus der in früheren Lebensjahren innig geliebten Kirche durch möglichst viele nachfolgende Mit-Austreter zusätzlich zu legitimieren. Können derartig verkrampfte Veröffentlichungen überhaupt mit Wirkungen rechnen? Offensichtlich. Auch Topjournalisten sind offenbar gegen die Faszination solch tendenzieller Publikationen nicht gefeit. Immer wieder tauchen Herrmanns Halbwahrheiten und Unterstellungen in Interviews auf und selbst moderne Nachrichtenmagazine wie „Focus“ und „Spiegel“ huldigen dem Münsteraner Lehrmeister. 3. Unterhaltung auf Kosten der Wahrheit Während die Veröffentlichungen Horst Herrmanns von jedem einigermaßen kritischen Leser als wenig seriös und tendenziell durchschaut werden können, gibt es eine andere Form der Publikation, die wegen ihrer amüsanten Verpackung möglicherweise weit gefährlicher ist. 1994 erschien das jüngste Merian-Heft über Köln. Unter der Überschrift „Die Macht und die Herrlichkeit“ berichtet Hans Conrad Zander in diesem Merian-Heft über den Reichtum des Kölner Erzbistums und über den Mann, „dem die Kurie am Rhein ihren sagenhaften finanziellen Aufstieg verdankt“. Das soll ich sein. Es klingt schon erstaunlich, was man da liest, aber lassen Sie mich gleich zu Beginn sagen, was ich von dem Ganzen halte, was Hans Conrad Zander, Jahrgang 1937, früher einmal auf dem Weg, Dominikaner zu werden, heute bekannter Publizist, mit spitzer Feder geschrieben hat. Mit Wahrheit hat das, was Sie da lesen, nicht viel zu tun. Es ist ein modernes Märchen. Dabei geht der Märchenonkel Zander mit mir ironisch wohlwollend um. „Nein, das ist nicht der klassische Typ des feisten, listig-dumm schmarotzenden Kölner Pfaffen, den Ulrich von Hutten in seinen ,Dunkelmännerbriefen‘ 56

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dem Gelächter der Welt preisgegeben hat, fast zwei Meter lang, ohne ein überflüssiges Gramm und gut trainiert.“ Das soll wiederum ich sein. Aber schon hier stimmt – „bei allem Wohlwollen“ – einiges nicht. „Gut trainiert“ – wer mich kennt, kann da nur lachen, denn ich halte es in diesem Punkt mit Churchill: „No sports“. Und schön wäre es, wenn es stimmte: „ohne ein überflüssiges Gramm“. Aus medizinischer Sicht sind da durchaus noch einige Kilo zu viel. All das wäre allerdings nicht der Rede wert, wenn da nicht erhebliche andere Unwahrheiten wären, die das Ansehen des Erzbistums und damit auch der Kirche erheblich belasten. Ich nenne drei. Da liest man: „Im Haushaltsplan für das Erzbistum Köln stimmt nur deshalb alles en Detail, weil en gros fast alles fehlt. Um gleich mit dem größten Detail zu beginnen: Im Etat für das Erzbistum Köln fehlt der Kölner Dom. Wie das? Eines Tages hat er sich juristisch und finanziell verselbständigt und ist so aus dem Haushalt des Erzbistums verschwunden … Es fehlt so vieles in diesem Haushalt, daß einer schon rund um den Globus reisen muß, um etwas zu finden, was sich mit Norbert Feldhoffs Genie der Bilanzgestaltung messen kann. So nämlich, genauso gestalten die erfolgreichen Manager der japanischen Weltkonzerne ihr Budget. Aus den schönsten historischen Gründen und juristisch einwandfrei gliedern sie so viele Zuliefer-, Zweig-, Tochter- und Großmutterbetriebe aus ihrem Haushalt aus, daß unterm Strich nicht mehr übrig bleibt als, na, sagen wir mal ganz bescheiden: 1 408 348 068 DM für das Jahr 1993. Dies sei, gibt Generalvikar Feldhoff vor der Presse lächelnd zu, ,wohl der größte katholische Haushalt der Welt‘. Und keiner errät, warum der Kölner Generalvikar so gönnerhaft lächelt. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es ist noch viel, viel mehr.“

Soweit die Behauptung. Nun die Tatsachen. Das Erzbistum Köln ist eine klar definierte juristische Person. Der Haushalt des Erzbistums umfasst ausnahmslos alle Einnahmen und Ausgaben dieses Erzbistums. Der Dom, die Kirchengemeinden, kirchliche Einrichtungen der Orden, kirchlicher Vereine und Gesellschaften sind eigene juristische Personen, die jeweils ihre eigenen Etats haben und die zu keinem Zeitpunkt Teil des Haushaltsplans des Erzbistums waren. Ich habe hier nichts ausgegliedert, weil hier nie etwas auszugliedern war. Wenn während meiner zwanzigjährigen Amtszeit am Haushaltsplan etwas geändert wurde, geschah genau das Gegenteil von dem, was Hans Conrad Zander unterstellt. Es wurde nicht etwas ausgegliedert, um den Haushalt kleiner erscheinen zu lassen, es wurde vielmehr Wesentliches in den Haushalt übernommen, weil es sachlich geboten war, obwohl das Haushaltsvolumen dadurch erheblich wuchs. Früher gab es nämlich Einrichtungen des Erzbistums, die nicht in diesen Haushaltsplan integriert waren, zum Beispiel unsere eigenen Schulen, die zum überwiegenden Teil aus Landeszuschüssen finanziert werden. Obwohl der Haushalt um mehr als 200 Mio. „aufgebläht“ wurde, haben wir in den letzten Jahren alle diese Schulen in den Haushalt integriert, weil der Haushalt nämlich alles enthalten soll, was in der unmittelbaren Trägerschaft des Erzbistums geschieht. In diesem Punkt unterscheiden wir uns von manchen Nachbarbistümern (z. B. Münster und Paderborn), die nach wie vor ihre eigenen Schulen außerhalb des Bistumshaushaltes abwickeln. Das erschwert den Vergleich der verschiedenen 57

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Bistumshaushalte. Ich halte unseren Weg, der – ich muss es noch einmal wiederholen – genau das Gegenteil von dem verfolgt, was Hans Conrad Zander behauptet, aber für den einzig richtigen. Ferner heißt es da in dem märchenhaften Machwerk: „Ums Haar hätten wir übersehen, was in Generalvikar Feldhoffs Haushaltsplan am unauffälligsten fehlt: die ‚dunkelgraue Kasse‘ der Kölner Kurie. Das Kunststück ist seit vielen Jahren unbemerkt das gleiche. Nehmen wir das Jahr 1991. Da hat der Generalvikar die Einnahmen des Erzbistums im Haushaltsplan auf 1,140 Milliarden angesetzt. In Wirklichkeit hat er dann aber 1,389 Milliarden eingenommen. Das sind 22 % mehr. Natürlich plant ein Finanzier vom Format Norbert Feldhoffs nicht blind um 22 % an den wirklichen Einnahmen vorbei. Er hat einfach 1991 in aller Stille, das heißt: ohne Nachtragshaushalt, 249 Millionen Mark zur Verfügung gehabt für gute Zwecke, denen es nicht unbedingt gut täte, wenn ihre Existenz an die große Glocke gehängt würde. Aus dieser ‚dunkelgrauen Kasse‘ hat er zum Beispiel kürzlich eines der teuersten Häuser Kölns gekauft, nämlich unmittelbar vor dem Dom das Gebäude der Bank für Gemeinwirtschaft. Und so taucht der Kaufpreis in keinem Haushalt auf.“

Soweit die phantastischen Erzählungen unseres Märchenonkels. Ihnen stelle ich wiederum die Tatsachen gegenüber. Es ist richtig, dass wir 1991 216,8 Mio. DM an Kirchensteuern mehr zur Verfügung hatten, als ursprünglich geschätzt war, und zwar 134,2 Mio. DM aus der Bereinigung des Kirchensteuertreuhandfonds (nach dem Clearing für die Jahre 1986–1988) und 77,3 Mio. DM aus der Verbesserung des Kirchensteueraufkommens im Jahr 1991. Fehlkalkulationen bei der Schätzung der Kirchensteuereinnahmen sind (in positiver wie in negativer Hinsicht) unvermeidbar, da wir die Einnahmen eines Jahres Monate vorher aufgrund der Steuerschätzung des Bundesfinanzministeriums kalkulieren müssen. Tatsächlich haben wir uns im Jahr 1991 um etwa 7 % verschätzt. Meines Erachtens ist das bei den damit verbundenen Risiken noch sehr genau. Der größte Teil der Mehreinnahmen stammte nicht aus dem aktuellen Kirchensteueraufkommen des Jahres, sondern aus der Bereinigung des sogenannten Kirchensteuertreuhandfonds. Dies muss ich kurz erläutern. Jedem Bistum gehören die Kirchensteuerleistungen der Katholiken, die im Bereich dieses Bistums wohnen. Einbehalten werden die Kirchensteuern von dem Finanzamt, das für den jeweiligen Arbeitgeber zuständig ist, und die Finanzämter führen ihre Kirchensteuereinnahmen an das Bistum ab, in dessen Bereich sie liegen. So werden zum Beispiel die Kirchensteuern aller katholischen Landesbeamten beim Finanzamt Düsseldorf Süd eingezogen und an das Erzbistum Köln abgeführt. Das Geld gehört aber nur zu einem geringen Teil dem Erzbistum Köln, nämlich soweit es Kirchensteuern der im Erzbistum Köln wohnenden Landesbeamten sind. Die Kirchensteuern der Landesbeamten in anderen Bistümern gehören den dortigen Bistümern. Alle drei Jahre werden nun sämtliche Lohnsteuerkarten der Bundesrepublik ausgewertet und den jeweiligen Bistümern genau zugeordnet. Dies ist das Clearing-Verfahren.6 Aufgrund der Auswertung 6 Eine Erläuterung des Clearing-Verfahrens findet sich in: Fahr/Schlief, S. 691 f.

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wird dann rückwirkend für den Zeitraum von drei Jahren festgelegt, wem die Kirchensteuereinnahmen tatsächlich gehörten. Seit Jahren gibt es eine Tendenz, dass wir in Köln immer mehr Kirchensteuereinnahmen an andere Bistümer abgeben müssen. Deshalb bilden wir einen Treuhandfonds, aus dem wir die alle drei Jahre fälligen Verpflichtungen bezahlen können. Im Jahr 1991 fand nach der Abrechnung des Clearing-Verfahrens für 1986–1988 eine Bereinigung dieses Kirchensteuertreuhandfonds statt. Wir hatten – glücklicherweise – mehr Geld zurückgestellt, als wir tatsächlich zahlen mussten. Dieses Geld floss dann in den Haushaltsplan. So kam es insgesamt zu unerwartet hohen Mehreinnahmen. Niemals verschwindet in einem solchen Fall auch nur eine Mark in einer sogenannten „grauen Kasse“. Der Kirchensteuerrat beschließt ohne förmlichen Nachtragshaushalt über die Verwendung der Haushaltsverbesserungen, die sich aus Mehreinnahmen (siehe oben) und weniger Ausgaben zusammensetzen und im Jahr 1991 insgesamt 234,5 Mio. DM betrugen. Diese Verbesserungen wurden im Einvernehmen mit dem Kirchensteuerrat 1991 folgenden Verwendungen zugeführt: – 11,5 Mio. DM zur Aufstockung der Mittel für die Weltkirche/Weltmission, – 4,0 Mio. DM zur Finanzierung von Investitionshilfen in der ehemaligen DDR und in Osteuropa, – 88,0 Mio. DM zur Stärkung des Substanzkapitals, vor allem in den Kir­ chengemeinden und im Priesterseminar (dezentrale Zukunftssicherung), 59,2 Mio. DM zur Aufstockung der Grunderwerbsrücklage, 36,5 Mio. DM als Zuführung zu Baurücklagen, um die Finanzierung künftiger bereits geplanter Bistumsbauten sicherzustellen (Schulen, Bildungseinrichtungen u. Ä.), – 20,0 Mio. DM zur Absicherung der Finanzierung von Investitionen auf dem sozial-caritativen Sektor, 9,3 Mio. DM zur Finanzierung diverser investiver Aktivitäten (Erholungsmaßnahmen Mutter/Kind, Altenwohnungen, Jugendbildung, Medienwesen), – 6,0 Mio. DM zur Aufstockung der Ausgleichsrücklage. In der Rechnung des Jahres 1991 ist alles sorgfältig aufgeführt und diese Rechnung wurde zusammen mit dem Haushaltsplan für das Jahr 1993 im Amtsblatt des Erzbistums vom 10.1.1993 veröffentlicht. Das Gebäude der Bank für Gemeinwirtschaft wurde auch nicht aus „grauen Kassen“ bezahlt, sondern nach eigener Beratung im Plenum des Kirchensteuerrates aus Haushaltsmitteln. Es gibt keine „grauen Kassen“! Zum Schluss bringt Zander die Sache dann auf den Punkt. Hauptgrund für die „geniale“ Bilanzmanipulation ist nach seiner Darstellung die unbarmherzige Haltung gegenüber dem Vatikan. Der Papst fehlt im Haushalt des Erzbistums, „weil unser hochwürdigster Herr Generalvikar und Ökonom des Erzbistums für unseren Heiligen Vater in Rom im eigentlichen Wortsinn nichts übrig hat: so gnadenlos wie der Papst bei Bischofswahlen die Vorschläge des Domkapitels überging, so gnadenlos läßt jetzt die steinreiche Kurie am Rhein die bettelarme Kurie am Tiber im Stich.“ 59

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Fairerweise muss ich feststellen, dass die Zahlen, die Zander hier nennt, richtig sind. Die Folgerungen, die er daraus zieht, sind aber nachweislich falsch. Das Erzbistum Köln unterstützt den Vatikan genauso wie die anderen deutschen Bistümer. Es geschieht einmal über den sogenannten „Peterspfennig“ (15 Pfennig pro Katholik), das macht rund 360.000 DM im Jahr aus. Dazu kommen 15 Mio. DM aus dem gemeinsamen Haushalt der deutschen Bistümer. Der Anteil, der auf das Erzbistum Köln von dieser Summe kommt, beträgt 1,6 Mio. DM. Seit Jahren gibt es diese Zahlungen der deutschen Bistümer nach Rom. Der letzte Betrag wurde gerade auf Kölner Intervention hin 1982 von 10 Mio. DM auf die heutige Summe von 15 Mio. DM angehoben. Sechs Jahre später, 1988, war die Bischofswahl. An den Zahlungen nach Rom hat sich überhaupt nichts geändert. Wir zahlen heute dasselbe wie 1982. So eigenartig es klingt, die unverschämte Behauptung Zanders, dass wir aus einem antirömischen Affekt heraus handeln würden, hat auch ihr Gutes, denn immer wieder behaupten andere kirchenfeindliche Journalisten, es würden ungeahnte Millionenbeträge von Köln nach Rom fließen. So haben Märchen auch ihre guten Seiten, aber es bleiben Märchen. Ich habe früher oft und gern zur Vorbereitung von Reisen Merian-Hefte gelesen. Sie waren unterhaltsam und informativ. Angesichts des Zander-Artikels kann ich diese Hefte nicht mehr empfehlen. Unterhaltsam ist der Artikel zweifellos, aber im Übrigen führt er sachlich in die Irre. Es ist bedauerlich, dass man dies in der Redaktion nicht einsehen will. Mit der neuen Aufmachung der Merian-Hefte will man eine jüngere Leserschicht ansprechen. Da kommt es auf Unterhaltung an, nicht auf Wahrheit. Die Wahrheit bleibt dabei auf der Strecke. Ich hoffe, dass es genügend kluge Leser gibt, die auf so etwas nicht hereinfallen. Schließlich gibt es ausreichend seriöse Literatur, in der man sich über Land und Leute informieren kann – unterhaltsam und der Wahrheit verpflichtet. 4. Irritation von rechts und ein Eigentor Bisweilen kommt es zu seltsamen Koalitionen zwischen „linker“ und „rechter“ Kritik. Die konservative Zeitschrift „Der Fels“ veröffentlichte im September 1992 einen Beitrag aus der Feder eines ehemaligen Krankenhaus-Verwaltungsdirektors. Dort heißt es: „Das Junktim zwischen Kirchenzugehörigkeit und Kirchensteuerpflicht sollte abgeschafft werden.“ Diese Kopplung ist dem Verfasser ein Dorn im Auge: „Indem man Verweigerung der Kirchensteuer, Austrittserklärung im Sinne einer Selbst-Exkommunikation und Glaubensabfall miteinander verkoppelt, tut man das, was der Herr seinen Jüngern ausdrücklich verwehrt hat: man löscht den glimmenden Docht aus, und zwar des Mammons willen.“7 Diese Sichtweise findet offenbar unter vielen Christen Sympathie. Deshalb werde ich mich im letzten Teil des Vortrags mit ihr auseinandersetzen. Im konservativen „pur-Magazin“ wird im März 1992 darüber berichtet, dass sich mancher „auch innerkirchlich hinter vorgehaltener Hand fragt, ob das Kir7 Zitiert nach Lohmann, S. 72 f.

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chensteuersystem dem eigentlichen Auftrag der Kirche wohltue“. Zitiert wird ein namentlich nicht genannter „führender Lebensrechtler“ mit dem Hinweis, dass „die Katholische Kirche der Regierung selbst in so grundsätzlichen Fragen wie dem neuen Abtreibungsgesetz Kompromißbereitschaft signalisiere, um im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt einen gnädigen Fürsprecher für die Beibehaltung der Kirchensteuer zu haben“8. Tatsächlich ist eine solche Behauptung absurd. Wer nur die Stellungnahmen der Bischöfe in den letzten Monaten zur Reform des § 218 StGB verfolgt hat, weiß, dass niemand von der kirchlichen Grundposition abweicht. Und in meiner jahrzehntelangen Erfahrung ist mir kein Fall bekannt geworden, dass jemals ein Bischof in irgendeiner Frage wegen des Kirchensteuersystems kirchliche Positionen aufgegeben hätte. Manchmal, zum Glück aber nur sehr selten, erfahren die Kirchen(Steuer)gegner unbeabsichtigte Schützenhilfe von kaum vermuteter Stelle. Viel Überraschung und viel Erstaunen erntete im Frühjahr 1992 der Jesuitenpater Eberhard von Gemmingen, der in Rom die deutsche Abteilung von „Radio Vatikan“ leitet. Sein Kommentar, in dem er die Kritik am deutschen System zum Anlass nimmt, ohne eine Analyse der Argumente für das italienische Modell einer von allen Bürgern verlangten Sozialabgabe zu plädieren, wurde in Deutschland von verschiedener Seite dokumentiert und genüsslich zitiert. Der Autor, der seinen Fehler inzwischen eingesehen und wohl auch bereut hat, lieferte mit seinen sicher gut gemeinten Überlegungen auch Kirchengegnern eine willkommene Munition. So konnte Klaus Bednarz vom Westdeutschen Rundfunk einen Monitor-Beitrag im Ersten Deutschen Fernsehen zum Thema „Weg mit der Kirchensteuer?“ am 11.5.1992 so beenden: „Einen Vorschlag, wie man das Ärgernis Kirchensteuer aus der Welt schaffen könnte, hat vor kurzem der nicht gerade kirchenfeindliche Sender ‚Radio Vatikan‘ gemacht. Vor genau einem Monat schlug er vor, die Kirchensteuern in Deutschland nach italienischem Modell zu organisieren. Dabei wäre jeder Bürger verpflichtet, statt Kirchensteuern 8 Promille seines Einkommens für einen sozialen oder kulturellen Zweck seiner Wahl abzuzweigen – dies könnte für die Kirche sein, aber auch für den Umweltschutz, den Katastrophenschutz oder andere soziale Aufgaben. Ach, gäbe es doch bei uns so einen fortschrittlichen Sender wie Radio Vatikan!“9 Zur Sache selbst werde ich später im Zusammenhang mit Alternativüberlegungen zur Kirchensteuer Stellung nehmen.10 Hier habe ich nur darauf hingewiesen, weil es sich um ein „publizistisches Eigentor“ handelt – und Eigentore sind immer höchst ärgerlich. Der Streitfall Kirchensteuer wird die Gemüter auch künftig bewegen, denn Steuern sind nirgendwo beliebt und die Kirche ist vermehrt öffentlicher Kritik ausgesetzt. Als „Die Woche“ in ihrer Ausgabe vom 25.8.199511 aufgrund einer repräsentativen Umfrage des „Forsa-Instituts“ veröffentlichte, dass sich 61 % 8 9 10 11

Zitiert nach Lohmann, S. 73. Zitiert nach Lohmann, S. 67. Vgl. IV.2. „Italien“ – ein Modell für die Zukunft? Jan Bielicki, Vergelt‘s Gott!, Die Woche v. 25.8.1995.

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der befragten Deutschen gegen die derzeitige Praxis des Kirchensteuereinzugs über die Finanzämter ausgesprochen hätten, hat mich dies keineswegs verwundert. Es kommt in solchen Fällen sehr auf die Wortwahl der Fragestellung an und es ist außerordentlich leicht, von einem Steuerzahler eine negative Antwort zu Steuern zu bekommen, denn fast jeder möchte weniger Steuer zahlen, ich auch. Im Übrigen ist gerade dieser Artikel ein gutes Beispiel dafür, dass die kritischen Beiträge zum Kirchensteuersystem und zu den Finanzen der Kirche sich in der Regel nicht als weiterführend erweisen. Sie stehen allzu häufig auf tönernen Füßen, sind bisweilen unehrlich und verfälschen nicht selten die Wahrheit. Neue Argumente sind kaum zu finden, vielmehr werden griffige Parolen weitergegeben. Das Feindbild der Kirche wird am Beispiel der Kirchensteuerkritik gepflegt.

II. Die Kirchensteuer in der politischen Diskussion 1. Breiter Konsens und vereinzelte, oft scharfe Kritik in den politischen Parteien Bis etwa 1990 konnte man davon ausgehen, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien das Kirchensteuersystem bejahten oder wenigstens nicht ausdrücklich ablehnten.12 Anfang der neunziger Jahre hat sich dies nicht unerheblich geändert. Matthias Branahl, der seit 1991 das Referat Kirche/Wirtschaft im Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln leitet und der im Deutschen Institutsverlag in der Reihe „Beiträge zur Gesellschafts- und Bildungspolitik“ 1992 eine Broschüre zur Kirchensteuer veröffentlichte,13 bezeichnet das Interview von drei Bundestagsabgeordneten in der „B.Z. am Sonntag“ vom 23.2.1992, mit dem die drei Parlamentarier den Startschuss zu einer erneuten Runde in der Debatte lieferten, als einen „Ausdruck des Bemühens, den kirchlichen Einfluß in bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens zurückzudrängen“. In dem Zeitungsinterview hatten sich die Parlamentarier Franz Romer (CDU), Wolfgang Lüder (F.D.P.) und Edith Niehuis (SPD) für eine Abschaffung oder Änderung des Kirchensteuersystems ausgesprochen, aus unterschiedlicher Motivation und mit unterschiedlicher Begründung. Der Christdemokrat will stattdessen eine Kultur- und Sozialsteuer, worauf ich später als Alternative zu sprechen komme.14 Die SPD-Frau hält die Kirchensteuer für „verfassungsrechtlich bedenklich“. Sie glaubt: „Einige der Religionsgemeinschaften, für die der Staat die Steuern eintreibt, halten sich nicht an das Grundgesetz. Es ist zum Beispiel ein Verstoß gegen Art. 3 der Verfassung, wenn Frauen nicht zum Priesteramt zugelassen werden. Oder gegen Art. 6, wenn Priester, die heiraten, ihren 12 Norbert Feldhoff, Kirchensteuer – Umstritten, aber bewährt (Zeitfragen 47, hg. v. Presseamt des Erzbistums Köln), 1989, S. 33: „Mit Enttäuschung stellte das ,Komitee Christenrechte in der Kirche‘ im März/April 1990 das Ergebnis einer Anfrage an alle im Bundestag vertretenen Parteien fest: Alle Parteien stehen einer Abschaffung der Kirchensteuer mit unterschiedlichen Argumenten skeptisch bis ablehnend gegenüber. Bei den Grünen steht die Diskussion nach eigenen Angaben auf Bundesebene allerdings noch ganz am Anfang.“ 13 Vgl. Anm. 2. 14 Vgl. IV.1. Kultur- oder Sozialsteuer?

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Beruf aufgeben müssen.“ Das dürfe der Staat nicht dadurch billigen, „daß er für diese frauen- und familienfeindlichen Religionsgemeinschaften sogar die Mitgliedsbeiträge abrechnet, kassiert und sogar bei Bedarf einzieht“15. Für die überwältigende Mehrheit der Mitglieder der großen Parteien CDU/CSU und SPD sowie für die Führung dieser Parteien ist die Abschaffung der Kirchensteuer kein Thema. Bundeskanzler Helmut Kohl reagierte auf den Vorschlag der drei Abgeordneten mit der Bemerkung: „In Anbetracht der großen sozialen und gesellschaftlichen Leistungen und Aufgaben, die die Kirchen in Deutschland und nicht zuletzt in der Dritten Welt wahrnehmen, ist es für uns selbstverständlich, daß das bisherige System der Kirchensteuer beibehalten wird.“16 Ähnlich äußerte sich auch der damalige SPD-Vorsitzende Björn Engholm.17 Der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine (SPD) wies im Februar 1992 in Saarbrücken die Kritik an der Kirchensteuer zurück und machte deutlich, dass andere Steuern erhöht werden müssten, gäbe es die Kirchensteuer nicht.18 Die CDU hat 1994 erstmals in ihr Grundsatzprogramm ein Wort zur Kirchensteuer aufgenommen.19 Folgendes wird dort über die christlichen Kirchen gesagt: „Indem diese von Gott künden, weisen sie über die Endlichkeit unserer Existenz hinaus und tragen für viele Menschen zur Sinngebung ihres Lebens bei. Den Kirchen und Religionsgemeinschaften kommt eine besondere Bedeutung für die Wertorientierung der Gesellschaft zu … Das Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihre eigenen Angelegenheit autonom zu ordnen, muß ebenso gewahrt bleiben wie ihre Freiheit, ihrem Verkündigungsauftrag in der Gesellschaft nachzukommen. Um diese Selbständigkeit und die Erfüllung ihrer Aufgaben zu ermöglichen, treten wir dafür ein, das System der Kirchensteuer beizubehalten.“

Der Beschluss des 45. Ordentlichen Parteitags der F.D.P. (Rostock 3. bis 5.6.1994) zur Kirchensteuer kam völlig überraschend und hat entsprechenden Wirbel ausgelöst: „Die bisherige Kirchensteuer ist durch ein kircheneigenes Beitragssystem zu ersetzen. Die Beiträge wirken sich wie Spenden an gemeinnützige Organisationen auf die Berechnung der Lohn- und Einkommenssteuer aus. Für Aufgaben im Bereich von Bildung und Sozialdienst soll die Kirche als freier Träger sachgerecht staatliche Zuschüsse erhalten.“

Offenbar wurden auch führende Politiker der F.D.P. durch diesen Beschluss, der auf die Thesen der F.D.P. von 1974 „Freie Kirche im freien Staat“ zurückgeht, völlig überrascht. So wundert es niemanden, dass sich schon wenige Tage später führende Mitglieder der Partei von diesem Beschluss distanzierten. Der damalige Bundestagsvizepräsident Dieter-Julius Cronenberg sprach von einem „unsinnigen“ Beschluss und ärgerte sich, dass trotz der vielen Juristen in der Partei die Rechtslage nicht geprüft worden sei, denn man müsse erst die Verfassung ändern und jedes Bundesland müsse aus Konkordaten und Kirchenverträ-

15 Branahl, S. 34 f. 16 KNA v. 27.2.1992. 17 Publik-Forum, Nr. 5, 13.3.1992. 18 Information Speyer, Nr. 7, 25.2.1992. 19 Freiheit in Verantwortung, Grundsatzprogramm der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands (beschlossen vom 5. Parteitag Hamburg 20.–23.2.1994), Ziff. 63.

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gen aussteigen.20 Ähnlich äußerten sich auch andere F.D.P.-Politiker (Solms, Schwätzer). Es gibt allerdings auch Äußerungen führender F.D.P.-Politiker, die den Beschluss ausdrücklich bestätigen. Auch in diesem Punkt fragen sich viele, was die F.D.P. nun wirklich will. Nach dem Parteitagsbeschluss der F.D.P. habe ich die SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS nach ihrer Einstellung zur Kirchensteuer schriftlich befragt. Nur der Parteivorstand der SPD hat geantwortet, und zwar umgehend. Danach denkt die SPD auf keinen Fall daran, die Kirchensteuer abzuschaffen.21 Die anderen Parteien hielten es nicht für notwendig zu antworten. Die Bündnisgrünen sprechen sich inzwischen aber deutlich für eine Trennung von Staat und Kirche und eine schrittweise Abschaffung der Kirchensteuer aus. Das ergibt sich aus dem Bündnisgrünen-Gesetzentwurf zur Verfassungsreform (Art. 9a) und einer Informationsschrift der Abgeordnetengruppe Bündnis 90/Die Grünen vom Juni 1994.22 Trotz der deutlichen Distanzierung der Bündnisgrünen von der Kirchensteuer, trotz des jüngsten Schwenks der F.D.P. in Sachen Kirchensteuer und trotz vereinzelter kritischer Stimmen in den großen Parteien zum derzeitigen Kirchensteuersystem besteht gerade in diesen Parteien immer noch ein breiter Konsens, das Kirchensteuersystem beizubehalten. 2. Ideelle und materielle Gründe für die Kirchensteuer aus der Sicht des Staates und der Gesellschaft Natürlich muss man sich fragen, wie es zu diesem doch erstaunlich hohen Konsens in Sachen Kirchensteuer bei den politischen Parteien kommt. Von entscheidender Bedeutung ist zweifellos die verfassungsrechtliche Sicherung des Kirchensteuersystems in der Bundesrepublik Deutschland (durch die von Art. 140 GG inkorporierten Art. 136 ff. der Weimarer Reichsverfassung) und die konkrete gesetzliche Ausgestaltung in den Kirchensteuergesetzen der Bundesländer. Dieses rechtliche System hat bei einigen Korrekturen in Randbereichen in seinen Grundlinien die (bundes-)verfassungsgerichtliche Feuerprobe bestanden.23 Das Bundesverfassungsgericht hat dabei nicht nur den Status quo bestätigt, sondern vielmehr dessen Bedeutung für die konkrete Ausgestaltung der Sozialordnung der Bundesrepublik gewürdigt. Diese ist der Idee eines demokratischen Sozial- und Kulturstaates verpflichtet, der um des Gemeinwohls willen und in positiver Neutralität die Gruppen seiner pluralen Gesellschaft in vielfältiger Weise fördert.24 Zwar sei die Sozialhilfe eine Aufgabe des Staates, doch könne dieser die erforderlichen Hilfen weder inhaltlich-organisatorisch noch finanziell in „ausreichendem Maße“ leisten. 20 Focus 24 (1994), S. 22. 21 SPD-Parteivorstand, Referat für Kirchenfragen, Schreiben v. 10.6.1994. 22 Bündnis 90/Die Grünen, „Um Gottes willen!“, 1994; vgl. auch Umwidmung von Kirchensteuern, INFO 9, 4.11.1994, S. 16. 23 Marré, Kirchenfinanzierung, S. 31. Hier sind die einzelnen Urteile des Bundesverfassungsgerichts sowie die einschlägige Literatur hierzu aufgeführt. 24 BVerfGE 44, 103.

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Der Bedarf an Sozialhilfe erfordere daher die „gemeinsamen Bemühungen“ des Staates und der Freien Wohlfahrtsorganisationen. In diesem Urteil werden sowohl ideelle wie materielle Gründe für die Beibehaltung des Kirchensteuersystems genannt. Diese beiden Gründe dürften wohl auch für die insgesamt positive Einstellung der großen politischen Parteien maßgeblich sein. Die Parteien erwarten wie der Staat, dass die Kirchen sich als wichtige – historisch gesehen einmalige – gesellschaftliche Gruppen für das Gemeinwohl einsetzen, insbesondere für die Wertbildung, Wertfindung und Wertvermittlung. Der demokratische Verfassungsstaat kann nur das zu seiner nackten Existenz nötige ethische Minimum (Basiskonsens) rechtlich vorschreiben und mit seiner Macht durchsetzen. „Mit ethischen Minimalia allein aber läßt sich freilich ‚kein Staat machen‘. Der demokratische Verfassungsstaat lebt von der im Schoße der Gesellschaft erfolgenden Begründung, Vermittlung und Pflege jener Grundwerte, die er wünschen und fördern, nie aber organisatorisch oder administrativ erzwingen kann … Die menschliche Würde und die zu ihrer Verwirklichung unabdingbaren Grundwerte der Freiheit, des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit sind zutiefst mit der Anthropologie des Christentums verbunden. Gerät diese anthropologische Grundlage ins Ungewisse, dann droht der demokratische Verfassungsstaat ausgehöhlt zu werden.“

Für ihn, der seinen Bürgern ein Zusammenleben und eine kulturelle Entfaltung durch die sittlichen Werte des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit ermöglichen und erleichtern will, ist der Beitrag der christlichen Kirche für die Realisierung eben dieser Werte unverzichtbar.25 Ein anderer ideeller Aspekt ist der Reichtum, den die Vielfalt kirchlicher Angebote im Sozial- und Bildungsbereich darstellt, Angebote für alle Schichten der Bevölkerung und nicht nur für die Bessergestellten. Was haben diese ideellen Aspekte nun mit der Kirchensteuer zu tun? Die Frage ist zweifellos berechtigt. Grundlage für die Entfaltungsmöglichkeit der Kirchen ist die freiheitliche Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Ein tatsächliches Angebot im oben angedeuteten Sinne können die Kirchen nur machen, wenn sie Mitglieder haben, die aus persönlicher Glaubensüberzeugung nach christlichen Werten leben und handeln. Alles dies kann nicht durch Geld ersetzt werden. Aber die Kirchensteuer hilft den Kirchen, ihre Selbständigkeit zu wahren und ihre Aufgaben zu erfüllen. Somit stützt und fördert die Kirchensteuer die ideellen Werte, die Staat und Gesellschaft von der Kirche erwarten. Natürlich gibt es auch handfeste materielle Gründe, die aus staatlicher Sicht für die Beibehaltung des Kirchensteuersystems sprechen und die für viele Politiker, die den Kontakt zur Kommunal- und Landespolitik nicht verloren haben, maßgeblich sein dürften, sich positiv für die Kirchensteuer auszusprechen. Be25 Lothar Roos, Wie demokratisch ist die Kirchensteuer? Die Grundwertqualität unseres Staat-Kirche-Verhältnisses, in: Ockenfels/Kettern, S. 76 ff., hier: S. 84, 93; vgl. auch ders., Die öffentliche Relevanz der Kirchen für den demokratischen Verfassungsstaat, in: Lothar Roos/Heiner Marré/Ludger Krösmann (Hg.), Die Kirche und ihr Geld. Kirchensteuer (Wolfsburger Manuskripte 5), 1995, S. 5 ff.

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vor ich diese nenne, muss ich mich aber wenigstens kurz mit einem Gegenargument auseinandersetzen. In den letzten Jahren wird geradezu mit einem Ton der Entrüstung in der Öffentlichkeit festgestellt, dass die Kirchen neben der Kirchensteuer noch staatliche Zuschüsse erhalten und dass überhaupt nur ein Teil der kirchlichen Mitarbeiter aus Kirchensteuern finanziert wird. Dies ist durchaus richtig und bei etwas gutem Willen auch verständlich zu machen. Zunächst zum Personal. Im Erzbistum Köln sind etwa 49.000 Mitarbeiter im kirchlichen Dienst tätig. Nur etwa 16 % von ihnen werden ausschließlich oder überwiegend aus Kirchensteuermitteln bezahlt. Mehr als 80 % werden nur zu geringen Teilen oder überhaupt nicht aus Kirchensteuermitteln bezahlt. Weit über die Hälfte der Mitarbeiter ist völlig unabhängig von der Kirchensteuer. Dies gilt vor allem für die Mitarbeiter in Krankenhäusern und Altenheimen. Warum bekommen die Kirchen nun überhaupt noch finanzielle Leistungen des Staates, wenn sie schon so hohe Kirchensteuereinnahmen haben? Bei dieser Frage wird zunächst verkannt, dass die Kirchensteuer keine Leistung des Staates an die Kirche ist, es handelt sich vielmehr um Abgaben der Mitglieder an ihre eigene Kirche. Wenn der Staat ein Aufgabenfeld (im Sozial- oder Bildungsbereich) für förderungswürdig hält und die finanzielle Förderung gesetzlich geregelt hat, haben die Katholiken als Bürger und Steuerzahler ein Recht, dass ihre Arbeit genauso finanziell gefördert wird wie die anderer. Die Tatsache, dass sie selbst aus ihren Kirchensteuern hierzu auch einen Beitrag leisten, darf für den Staat kein Grund sein, die Zuschüsse ganz oder teilweise zu streichen. Oder sollte etwa eine Sozialstation oder ein Kindergarten der Arbeiterwohlfahrt, des Roten Kreuzes oder einer Stadt besser finanziert werden als die eines katholischen oder evangelischen Trägers? Zu Recht erhalten die Kirchen von Bund, Land und Kommunen Zuschüsse auf den Gebieten der Sozial- und Jugendhilfe, der Krankenversorgung, der Bildung und der Denkmalpflege. Sie erfüllen hier wie andere Empfänger staatlicher Zuschüsse Aufgaben, die der Staat anderenfalls selbst wahrnehmen müsste. Sie entlasten den Staat also von manchen Pflichtaufgaben und hier kommt es zu einem deutlichen materiellen Gewinn der staatlichen Seite „trotz“ der staatlichen Zuschüsse. Die Zahl der Schüler und Schülerinnen wird durch die Errichtung freier Schulen nicht größer. Ein erheblicher Kostenanteil dieser freien Schulen wird aus den Beiträgen der Kirchensteuerzahler finanziert. Gäbe es diese freien Schulen nicht, müsste der Staat für alle diese Kinder und Jugendlichen eigene Schulen unterhalten. Dies wäre weit teurer als die Unterstützung der freien Schulen. Gleiches gilt für alle anderen kirchlichen Angebote im Sozial- und Bildungsbereich. Da die Kirche als Träger solcher Einrichtungen immer auch erhebliche Eigenmittel, vor allem für die Gebäude, meist auch für den Betrieb, beitragen muss, wird der Staat durch die große Zahl dieser Einrichtungen materiell erheblich entlastet. Es käme einem gewaltigen Erdbeben gleich, wenn die Kirche ihre Sozial- und Bildungseinrichtungen aufgeben müsste. Staatliche Träger

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müssten sie dann zum überwiegenden Teil weiterführen. Damit käme eine Kostenlawine auf die ohnehin schon desolaten öffentlichen Haushalte zu. 1993 hat das Erzbistum Köln für diesen Bereich mehr als 300 Mio. DM aus Kirchensteuermitteln zur Verfügung gestellt. Selbst wenn man bescheidener als die meisten Kirchensteuerkritiker davon ausgeht, dass nur 10 % der Kirchensteuereinnahmen für gesamtgesellschaftliche Aufgaben verwendet würden, ergäbe dies in Deutschland (1993) einen Betrag von rund 1,7 Mrd. DM. Es wäre in hohem Maße unsachlich, wenn man dem entgegenrechnete, was der Staat an zweckgebundenen Zuschüssen für diverse Sozial- und Bildungseinrichtungen der Kirche zahlt, da der Staat bis auf ganz wenige Ausnahmen nichts für die spezielle religiöse Aufgabenwahrnehmung der Kirche zahlt, sondern für die Dienste, die der Gesamtgesellschaft zugutekommen. Es liegt also keine Umverteilung von der Gesamtgesellschaft zur Kirche vor, wenn der Staat Zahlungen an die Kirche als direktes oder indirektes Entgelt für Leistungen der Kirche vornimmt, die er andernfalls selbst bereitzustellen hätte.26 Ich werde diesen Aspekt im nächsten Abschnitt, in dem es um die volkswirtschaftliche Bedeutung der Kirchensteuer geht, noch einmal ansprechen.

III. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Kirchensteuer In der Diskussion um die Kirchensteuer, die Ende der 80er Jahre wieder heftiger wurde, fehlt es nicht an Beiträgen aus theologischer und ethischer Sicht sowie aus historischer, rechtlicher und kirchenrechtlicher Perspektive. Auffallend ist, dass es kaum eine ökonomische Auseinandersetzung mit der Kirchensteuer gibt. Erst in jüngster Zeit wurde diese Lücke durch eine Kölner Dissertation geschlossen: Jörg Meuthen, Die Kirchensteuer als Einnahmequelle von Religionsgemeinschaften: Eine finanzwissenschaftliche Analyse.27 Nicht zuletzt diese Dissertation und verschiedene Aufsätze, die der Autor im Anschluss an die Dissertation veröffentlicht hat,28 haben Anstoß gegeben, über die volkswirtschaftliche Bedeutung der Kirchensteuer nachzudenken. Ich möchte vier Aspekte zur volkswirtschaftlichen Bedeutung der Kirchensteuer vortragen.

26 Jörg Meuthen, Die Kirchensteuer als Einnahmequelle von Religionsgemeinschaften: Eine finanzwissenschaftliche Analyse, 1993, S. 68; vgl. auch Oliver Diepes, Reform der Kirchensteuer, Kölner Universitäts-Journal 3 (1994), S. 36 f. 27 Vgl. Anm. 26. 28 Jörg Meuthen, Die Eignung der Kirchensteuer als Einnahmequelle von Religionsgemeinschaften aus finanzwissenschaftlicher Perspektive, in: Ockenfels/Kettern, S. 145 ff. (im Folgenden zitiert: Meuthen, Finanzwissenschaftliche Perspektive); ders., Die Kirchensteuer – abschaffen, beibehalten oder reformieren, in: Annette Schavan (Hg.), Dialog statt Dialogverweigerung, 1994, S. 191 ff. (im Folgenden zitiert: Meuthen, Kirchensteuer reformieren).

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1. 17 Mrd. DM für das Gemeinwohl statt für den privaten Konsum 1993 hatten die Katholische und die Evangelische Kirche in Deutschland Kirchensteuereinnahmen von knapp 17 Mrd. DM. Die Katholische Kirche nahm 8,656 Mrd. DM ein, die Evangelische Kirche 8,321 Mrd. DM, zusammen also genau 16,977 Mrd. DM. Im Erzbistum Köln verblieben davon 1993 1,003 Mrd. DM. Das ist sehr viel Geld, für die meisten von uns unvorstellbar viel Geld. Wenn man allerdings bedenkt, dass das Land Nordrhein-Westfalen zurzeit jährlich etwa 8 Mrd. DM an Zinsen und Tilgungsdienst für seine Schulden bezahlen muss, relativieren sich solche Beträge. Die Gesamteinnahmen der Katholischen und Evangelischen Kirche in Deutschland sind also nicht höher als das, was das Land Nordrhein-Westfalen in zwei Jahren für seine Schulden aufbringen muss. Ein anderer Vergleich ist ebenso aufschlussreich. In demselben Jahr, in dem die deutschen Christen 17 Mrd. DM an Kirchensteuern geleistet haben, gaben sie 23,4 Mrd. DM für Tabakwaren und 24,5 Mrd. DM beim Glücksspiel aus.29 Angesichts eines solchen Vergleichs bezeichne ich die Klage über zu hohe Ausgaben für die Kirchensteuer als Heuchelei. Ausgegeben wird das Geld im Erzbistum Köln knapp zur Hälfte für die Seelsorge, zu einem Fünftel für die Caritas und zu gut 10 % für Schule, Bildung und Wissenschaft. Der Haushalt des Erzbistums Köln wird jährlich im Amtsblatt des Erzbistums Köln veröffentlicht, ist also jedem Interessierten zugänglich. Wer bringt diese riesige Summe von 17 Mrd. eigentlich auf? Es ist nur der geringere Teil der Katholiken und Protestanten. Kinder, Jugendliche und Rentner sowie alle Nichterwerbstätigen fallen als Kirchensteuerzahler fast ganz aus. Die allgemeine Erwerbsquote in Deutschland ist gut 40 % der Bevölkerung. Da wegen der Kinderfreibeträge einige Lohnsteuerzahler als Kirchensteuerzahler ausfallen, können wir sagen, dass höchstens 40 % der Katholiken, vermutlich weniger, tatsächlich Kirchensteuer bezahlen. Demnach würde im Erzbistum Köln der durchschnittliche Kirchensteuerzahler jährlich einen Beitrag von etwa 1.000 DM leisten. Dies ist natürlich ein statistischer Wert. Viele zahlen weniger Kirchensteuer, manche erheblich mehr. Bei den wenigen mit sehr hohem Einkommen macht die Kirchensteuer in der Tat beachtliche Beträge aus. Einige Kirchensteuerzahler könnten mit ihrem Beitrag das gesamte Personal ihrer Kirchengemeinde finanzieren – und mehr. Da kann man fragen, ob das richtig ist. Aber es ist sicher auch die Frage erlaubt, ob diese Ausgaben für die Kirche nicht doch in einem verantwortbaren Verhältnis zum Vermögen und zu den Ausgaben für Wohnung, Essen, Kleidung, Auto und Urlaub stehen. Wer im Jahr 100.000 DM Kirchensteuer bezahlen muss, hat immerhin ein Einkommen von mindestens 2,5 Mio. DM zu versteuern.

29 Berechnung: Katholiken und Protestanten machten 1992 gut 70 % der Bevölkerung der Bundesrepublik aus. Insgesamt wurden 1993 für Tabakwaren 33,4 Mrd. DM und beim Glücksspiel 35 Mrd. DM ausgegeben.

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Wenn heute vielfach der Eindruck erweckt wird, die Kirchensteuer fordere von dem einzelnen überdurchschnittlich viel, so steht dies im krassen Widerspruch zur christlichen Geschichte. Bei den Völkern der antiken Welt war der „Zehnt“ (zumeist der zehnte Teil des Ertrages bzw. Einkommens) eine übliche Abgabe, so auch bei den Juden. Im Alten Testament ist der Zehnt Jahwe geweiht. Er diente insbesondere der Finanzierung des Kultes, der Priester und der Hilfe für die Armen. Zur Zeit Jesu war das Zehntgesetz durch die Rabbinen stark ausgedehnt. Von der frühen Kirche wurde das alttestamentliche Zehntgebot zunächst nicht übernommen, auch nicht zu einer freiwilligen Zehntleistung gemahnt. Der Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Bund sollte sich auch darin zeigen, dass man als Christ, frei von gesetzlichen Verpflichtungen, mehr gab als die Juden. Damit wollte man der Mahnung Jesu entsprechen: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Mt 5,20). Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich dann doch auch in der Kirche ein differenziertes Zehntrecht, das erst durch den Umbruch, den die Französische Revolution mit sich brachte, abgeschafft wurde.30 Heute gibt niemand den zehnten Teil seines Einkommens als Kirchensteuer ab. In den unteren Einkommensgruppen und vor allem bei Familien mit mehreren Kindern liegt die Kirchensteuerbelastung brutto bei 1,7 %. Bei sehr hohem Einkommen steigt diese Belastung auf bis zu 4,7 %. Durch die „Kappung“ wird in diesem Bereich eine Begrenzung vorgenommen, sodass niemand mehr als 4 % seines Einkommens als Kirchensteuer bezahlen muss. Nach Abzug der Kirchensteuer als Sonderausgabe verbleibt eine Nettobelastung an Kirchensteuern zwischen 1,4 % und 2,3 % des zu versteuernden Einkommens. Die durchschnittliche Belastung der Kirchensteuerzahler liegt also mit 2 % des Einkommens deutlich unter dem „Zehnten“, den die Mitglieder von Freikirchen auch heute in der Regel noch zahlen müssen. Fassen wir diesen ersten Gedanken zusammen: Der hohe Betrag von 17 Mrd. DM Kirchensteuern kommt dadurch zustande, dass nicht einmal die Hälfte der Christen in unserem Land durchschnittlich auf 2 % ihres Einkommens verzichtet und damit den privaten Konsum in diesem Umfang einschränkt. Stattdessen steht das Geld zur Erfüllung gemeinnütziger Aufgaben zur Verfügung. Allein diese Umwandlung einer zunächst geringfügigen Beschränkung des privaten Konsums zugunsten gemeinnütziger Aufgaben ist schon eine volkswirtschaftlich bedeutende Tatsache.

30 Vgl. E. Koffmann/R. Kottje, Art. Zehnt, Lexikon für Theologie und Kirche X, 2. Aufl. 1965, Sp. 1318 ff.; zur Entstehungsgeschichte der Kirchensteuer: Isnard W. Frank, Kirchensteuer und Kirchengemeindeverständnis, in: Ockenfels/Kettern, S. 185 ff.

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2. Ausgleich zwischen Arm und Reich a) Zwischen armen und reichen Katholiken Ein weiterer ökonomischer Aspekt der Kirchensteuer ist ihre ausgleichende Wirkung zwischen Armen und Reichen: zunächst zwischen belasteten und weniger belasteten Kirchensteuerzahlern. Ich habe darauf hingewiesen, dass weniger als die Hälfte der Katholiken überhaupt Kirchensteuer zahlt. Schon diese Tatsache hat eine ausgleichende Wirkung, denn gerade die, die gar keine Kirchensteuern zahlen, profitieren in besonderer Weise von den Leistungen, die durch die Kirchensteuer finanziert werden: Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen, die als Rentner auch kaum Kirchensteuer bezahlen. Durch die besonderen Kinderfreibeträge kommt es zu einer Abweichung vom staatlichen Steuersystem, wodurch die Familien mit Kindern im Bereich der Kirchensteuer mehr entlastet werden als bei der Lohn- und Einkommensteuer. So zahlt eine Familie mit zwei Kindern und einem Monatseinkommen von 4.000 DM brutto ohne jede besondere Steuerermäßigung monatlich nur 21 DM an Kirchensteuer. Wenn die beiden Kinder dieser Familie je drei Jahre einen katholischen Kindergarten besuchen, so kostet dies einen Zuschuss aus Kirchensteuermitteln von rund 12.000 DM. Die Familie selbst zahlt jährlich gut 250 DM an Kirchensteuern. Sie müsste diesen Betrag also 48 Jahre lang aufbringen, um nur die aus Kirchensteuermitteln zu finanzierenden Kosten für die eigenen Kinder zu erreichen. Die Kirchensteuerzahler ohne Kinder oder mit wenigen Kindern sowie die Kirchensteuerzahler mit besonders hohem Einkommen zahlen im Wesentlichen den kirchlichen Beitrag für unsere Kindergartenplätze. Dies ist vielleicht das anschaulichste Beispiel für die ausgleichende Wirkung der Kirchensteuer. Analog gilt dies natürlich auch in vielen anderen Bereichen. b) Zwischen armen und reichen Kirchengemeinden Von volkswirtschaftlicher Bedeutung ist noch ein anderer Ausgleich zwischen Arm und Reich, den die Diözesankirchensteuer bewirkt. Bis 1950 wurde die Kirchensteuer von den einzelnen Kirchengemeinden bzw. Gemeindeverbänden eingezogen und verwaltet. Vom 1.4.1950 an trat anstelle der Ortskirchensteuer die Diözesankirchensteuer, also ein zentraler Einzug mit zentraler Verwaltung. Dieser Übergang zur Diözesankirchensteuer wurde in erster Linie trotz mancher Bedenken deshalb vorgenommen, weil ein Lastenausgleich zwischen ärmeren und reicheren Gemeinden unbedingt erforderlich war. In einer Verlautbarung des Bischöflichen Generalvikars von Münster (Dr. Pohlschneider) vom 17.3.1950 heißt es: „Es liegt ohne weiteres auf der Hand, daß die vom Kriege schwer heimgesuchten Gemeinden nicht imstande sind, allein aus eigener Kraft die zerstörten kirchlichen Gebäude wieder herzustellen, zumal, da die Gläubigen dieser Gemeinden zum großen Teil auch ihre Wohnhäuser und all ihr Inventar verloren haben. Die Armut in zahlreichen Gemeinden ist so groß, daß dort vielfach nicht nur bis zum heutigen Tag der Gottesdienst in

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Kirchensteuer in der Diskussion elenden Notbaracken und Sälen abgehalten werden muß, sondern daß diese Gemeinden auch die notwendigsten laufenden Auslagen nicht bestreiten können und infolgedessen vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch stehen. Wie sehr angesichts dieser allgemeinen finanziellen Lage die oft so bitter notwendige Gründung neuer Seelsorgebezirke und Pfarrgemeinden immer wieder auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt, sei hier nur angedeutet. Die Gläubigen der Diözese Münster werden es begreifen, daß unser Bischof dieser in weiten Gebieten herrschenden wirtschaftlichen Not der Kirchengemeinden, die gleichzeitig eine seelsorgliche Not ist, nicht tatenlos zuschauen kann. Er kann und darf es nicht zulassen, daß ein Teil der ihm anvertrauten Kirchengemeinden in ihrem wirtschaftlichen Elend zugrunde geht, während wohlhabende Pfarrgemeinden ihre Gotteshäuser mit Glocken und Orgeln, mit herrlichen Fenstern und allem nur wünschenswerten Schmuck ausstatten können.“

Der Generalvikar erinnert dann an den Grundsatz des Apostels Paulus „Einer trage des anderen Last“ (Gal 6,2), den dieser nicht nur auf den einzelnen Menschen, sondern auch auf die Kirchengemeinden angewandt wissen wollte. Er fährt fort: „Was zur Zeit der ersten Christen galt, das gilt auch heute noch. Ein Lastenausgleich zwischen armen und wohlhabenden Gemeinden ist das unabweisbare Gebot der Stunde. Alle Versuche, Erfahrungen und Überlegungen der letzten Jahre haben jedoch bewiesen, daß die bisherigen Maßnahmen einen wirksamen Finanzausgleich nicht herbeiführen konnten. Daher mußte zur Diözesankirchensteuer übergegangen werden.“31

Tatsächlich hatten die Bischöfe zunächst nach dem Kriegsende die Gemeinden zu einem freiwilligen Finanzausgleich aufgerufen, was aber nur sehr geringen Erfolg hatte. Freiwillig half man sich nicht in dem Umfang, wie es notwendig war. Dass dieser Gedanke bei der Einführung der Diözesankirchensteuer auch in Köln maßgeblich war, kann man aus einem Brief, den mein Vorgänger, Generalvikar Teusch, im Mai 1952 an einen Kaplan geschrieben hat und den wir vor kurzem wiederentdeckt haben, entnehmen: „Für diese Zentralisierung sprechen und sprachen vor allem die nur so durchzuführende Steuergleichheit und der nur so durchzuführende Ausgleich zwischen leistungsschwachen und -starken Gemeinden. Ihr bisher schon sichtbarer Erfolg sind die vielen neuerbauten Kirchen. Die Gesamtverbände der Städte als Vorläufer des Diözesanverbandes hatten ihrerseits den gleichen sichtbaren Erfolg: in Köln zum Beispiel ist zwischen den beiden Kriegen jedes Jahr eine Kirche neu gebaut und damit eine Pfarrei neu errichtet worden. Dabei hat die reiche Pfarre Braunsfeld, in der früher der Herr Kardinal (Frings) Pfarrer war und die bis auf den heutigen Tag noch eine Notkirche hat, an den Gesamtverband Geld für drei Kirchen abgeführt. Ohne Gesamtverband hätte Braunsfeld heute eine, wenn auch zerstörte, Prunkkirche, es gäbe aber in Köln drei Kirchen und drei Pfarreien weniger. Wenn es gelungen wäre, ähnliche Dinge in Paris, Marseille, Madrid, Barcelona u. a. ins Leben zu rufen, gäbe es dort nicht die berühmte Bannmeile und wären dort entsprechend weniger Kommunisten.“

Natürlich birgt jede Zentralisierung auch Gefahren in sich. Das wurde schon damals bei der Einführung der Diözesankirchensteuer erkannt und ist uns auch 31 Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Münster, 21.3.1950, Nr. 58. Eine rechtliche und praktische Erläuterung des innerdiözesanen Finanzausgleichs findet sich in: Fahr/Schlief, S. 683–689.

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heute bewusst. Vielfach begegnet man dem durch die Einführung von Schlüsselzuweisungen, die den örtlichen Verantwortlichen einen größeren Entscheidungsspielraum geben. Einige Bistümer, so auch das Erzbistum Köln, haben sogar die Substanz des Ortskirchenvermögens durch Sonderzuweisungen gestärkt, wenn es sich um besonders arme Gemeinden handelte. Wie bei allen zentralen Systemen muss man ständig darauf achten, dass die kleineren Einheiten nicht entmündigt werden, sondern handlungsfähig bleiben, um auch die Eigeninitiative zu stärken. Dies ist sowohl in seelsorglicher wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht von Bedeutung. Ein Vorteil der Diözesankirchensteuer ist schließlich auch die solide Finanzierung überpfarrlicher Aufgaben, wie zum Beispiel die Kategorialseelsorge (Krankenhausseelsorge, Behindertenseelsorge, Jugendseelsorge u. Ä.), die Verbände, Beratungsdienste, Schulen, Bildungseinrichtungen und viele andere mehr. c) Zwischen armen und reichen Bistümern in Deutschland Es gibt dann noch eine dritte Ebene des Ausgleichs zwischen Arm und Reich. Durch die Kirchensteuer ist auch ein Finanzausgleich unter den Bistümern in der Bundesrepublik Deutschland möglich geworden. Sie sind zwar alle im Vergleich zu den meisten Bistümern der Welt als reich anzusehen, dennoch gibt es nicht unerhebliche Unterschiede in der Finanzkraft. Diese werden durch einen freiwilligen Finanzausgleich der Bistümer abgeschwächt. Erst durch den interdiözesanen Finanzausgleich wurde die Finanzierung gemeinsamer kirchlicher Aufgaben in der Bundesrepublik Deutschland möglich, nicht zuletzt die gemeinsame Hilfe aller Bistümer für die Kirchen in der Dritten Welt. Ferner sichert der Finanzausgleich die seelsorgliche Grundausstattung in allen Bistümern. Allerdings hat ein solcher Finanzausgleich auch seine Grenzen. Dass sich die Bistümer auf freiwilliger Basis gegenseitig unterstützen und helfen, gehört sicher zu ihrem Auftrag. Sie werden sich aber kaum vertraglich verpflichten können zu einem dauerhaften Finanztransfer, der die Finanzkraft der verschiedenen Regionen mehr oder weniger anzugleichen versucht. Dies würde zu einer Art „Bundeskirchensteuer“ führen, was dem Prinzip der Diözesankirchensteuer widerspräche. Durch die Wiedervereinigung sind diese Fragen ganz neu in die Diskussion gekommen. Zurzeit werden die Haushalte der Bis­ tümer in den neuen Bundesländern zu etwa 50 % über einen besonderen Finanz­ ausgleich aus Kirchensteuermitteln der westlichen Diözesen finanziert.32 d) Zwischen Armen und Reichen weltweit Schließlich darf nicht vergessen werden, welchen weltweiten Ausgleich zwischen Arm und Reich die Kirchensteuer ermöglicht. Vor einigen Jahren hat Professor Hans Mayer, damals Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, in einem Artikel über Geschichte und Ge32 Die Ausgestaltung des horizontalen Finanzausgleichs zwischen den Bistümern wird dargestellt in: Fahr/Schlief, S. 693–695.

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genwart des deutschen Katholizismus unser erfolgreiches und politisch stabiles Land als eher dünnhäutig, ängstlich, zweiflerisch und unsicher bezeichnet, keineswegs von robustem Selbstvertrauen erfüllt. Auch die Kirche sei es nicht, sie sei wohl organisiert und effektiv, sie habe vieles geleistet und sei gelehrt und gründlich in ihren Äußerungen. Doch ein Ausbund spiritueller Laune, geistlicher Fröhlichkeit sei sie nicht. „Auf den Katholikentagen und an anderen Orten zeigt die Begegnung mit Katholiken anderer Länder Glaubensin­ brunst, Begeisterung, Temperament, Spiritualität. Sie wirken ansteckend. Bei den Deutschen denkt man eher an materielle Hilfen, an Dienstleistungen, an ein Spendenkonto.“33 Professor Mayer meinte dies durchaus nicht abwertend. Er wollte nur die Grenzen unserer gegenwärtigen Ausstrahlung in die Welt aufzeigen. Diese Grenzen sollten wir nie vergessen. Dann darf man aber auch einmal darauf hinweisen, was deutsche Katholiken durch ihre Spenden und mit ihrem Kirchensteuersystem für die Kirchen in der Dritten Welt und für Menschen in Not geleistet haben und leisten. Am 19.8.1958 schlug Kardinal Frings den deutschen Bischöfen auf ihrer Vollversammlung die Gründung des Werkes MISEREOR vor. Zehn Jahre nach der Währungsreform waren die Kriegsschäden noch lange nicht beseitigt, aber beginnender Wohlstand wurde allgemein spürbar. In dieser Situation riefen die Bischöfe die Christen auf, mit ihrer Spende dem Hunger und der Krankheit in der Welt zu begegnen und Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten. Das Bewusstsein der Menschen bei uns sollte geändert, in die Gewissen sollte hineingesprochen werden. Der Aufruf hatte Erfolg und fand in den folgenden Jahren weltweite Nachahmung. Drei Jahre später kam zu MISEREOR das Bischöfliche Werk ADVENIAT hinzu. Es sollte der Seelsorge in Süd- und Mittelamerika zu Hilfe kommen. 1993 riefen die deutschen Bischöfe schließlich die Aktion RENOVABIS ins Leben, deren Erträge aus Kollekte und Spenden der Kirche in Mittelund Osteuropa bei der Erneuerung der Gesellschaft in Gerechtigkeit und Freiheit helfen sollen.34 Diese Werke wären nicht entstanden, wenn die Menschen sich nicht der prophetischen Mahnung der Bischöfe geöffnet hätten. Sie hätten sich nicht so segensreich entwickeln können, wenn die drängenden Aufgaben der Gemeinden und Bistümer zu Hause nicht durch die Kirchensteuer weitgehend abgesichert gewesen wären. So konnte sich beides in günstiger Weise entfalten: Seelsorge und Caritas in der Heimat dank der Kirchensteuer, die Hilfen für die Kirche in ärmeren Ländern mittels der Spenden. Natürlich gab es nie eine reine Trennung dieser Art. Auch bei uns ist die Kirche nach wie vor auf Spenden angewiesen. Vor allem aber wurden von Jahr zu Jahr mehr Kirchensteuermittel für die Aufgaben der Mission und Entwicklungshilfe sowie für die Not- und Katastrophenhilfe zur Verfügung gestellt. Das Erzbistum Köln hat gerade in diesem Bereich immer eine Vorreiterrolle übernommen. Seit Jahren stellen wir für diese Aufgaben mehr Geld aus Kirchensteuer33 Hans Mayer, Geschichte und Gegenwart des deutschen Katholizismus, Internationale Katholische Zeitschrift 1 (1988), S. 73 ff. 34 Aufruf zur Aktion RENOVABIS am 4. Ostersonntag 1993, Amtsblatt des Erzbistums Köln v. 1.4.1993, Nr. 72.

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einnahmen zur Verfügung, als die Katholiken des Erzbistums Köln jährlich für die großen Kollekten spenden. Knapp 6 % des Kirchensteueraufkommens werden für die ärmeren Kirchen in aller Welt ausgegeben. Jährlich können etwa 1.400 Projekte in 100 Ländern gefördert werden. In manchen Fällen wird finanzielle Überlebenshilfe für ganze Bistümer, für neue einheimische Kongregationen und für soziale und pastorale Initiativen gewährt. Die Stärke der Kölner Hilfen liegt bei den kleinen Projekten, wo meist eine gute Kenntnis des Projektleiters vorliegt. Selten beteiligt sich das Erzbistum an Großprojekten wie am Bau der Sendeanlage für Radio Veritas auf den Philippinen. Niemals wird ein Projekt ohne die Zustimmung oder gar gegen den Willen der Ortskirche finanziert. Der Kirchensteuerrat legt großen Wert darauf, dass diese Hilfen auch in Zeiten geringerer Einnahmen erhalten bleiben. Die deutschen Katholiken haben sicher keinen Grund, stolz zu sein, denn sie haben von ihrem Reichtum abgegeben. Dennoch muss man den „mutigen“ Reformern des derzeitigen Kirchensteuersystems vor Augen halten, was die Abschaffung dieses Systems mit Sicherheit für die Kirche in ärmeren Ländern bewirken würde. Unsere Hilfen müssten drastisch gekürzt werden. Viele unserer Partner wüssten dann nicht mehr, wie sie die wichtigsten Aufgaben finanzieren sollten. Wenn das Kirchensteuersystem geändert würde, träfe dies nicht nur die Kirche in der Bundesrepublik. Wahrscheinlich träfe es ärmere Kirchen viel härter. Alles das sollten die Reformer bedenken, sonst müsste man ihnen Verantwortungslosigkeit vorwerfen. Bei manchen Vorschlägen habe ich den Eindruck, dass Utopien nachgejagt wird und dass die Taube in der Hand weniger wert ist als der Spatz auf dem Dach. 3. Ein gruppenspezifischer Beitrag mit hohem Nutzen für die Allgemeinheit Meuthen setzt sich in seiner Dissertation und in den späteren Aufsätzen aus finanzwissenschaftlicher Sicht mit den gängigen Kritikpunkten an der Kirchensteuer auseinander. An erster Stelle wird immer wieder bemängelt, dass aus dem Kirchensteueraufkommen nur ein sehr geringer Anteil für soziale, das heißt öffentliche Aufgaben, verwendet werde. Hierzu ist nun aus der Sicht des Finanzwissenschaftlers folgendes festzustellen. Die Kirchen nehmen als typische parafiskalische Organisationen vornehmlich zwei Arten von Aufgaben wahr. Zum einen bieten sie originär religiöse Leistungen an, wie zum Beispiel Wortverkündigung und Sakramentenspendung im Gottesdienst, Leistungen, die nur für die unmittelbaren Gruppenmitglieder selbst einen Nutzen haben. Hier handelt es sich um typisch gruppenspezifische Leistungen. Zum anderen sind aber die christlichen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland dadurch gekennzeichnet, dass sie auch in erheblichem Umfang Aufgaben wahrnehmen, deren Nutzen nicht auf die Gruppe der Mitglieder beschränkt bleibt. Zu denken ist hier etwa an Kindergärten, Krankenhäuser und Beratungsdienste, Altenpflegeheime oder Jugendhilfeprojekte, Schulen und Bildungseinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft. Hierbei handelt es sich um öffentliche oder im engeren Sinne soziale Aufgaben. Diese haben nicht nur einen gruppenspezifischen, sondern vielmehr einen gesamtgesellschaftlichen 74

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Nutzen. Nähme die Kirche diese Aufgaben nicht wahr, müsste der Staat seinen Bürgern diese Leistungen auf andere Weise sicherstellen. „Demnach wäre, statt einen nicht angemessenen, weil zu geringen Anteil ‚sozialer Aufgaben‘ aus Mitteln der Kirchensteuer zu beklagen, aus ökonomischer Sicht wohl die Frage angemessener, warum überhaupt Kirchensteuereinnahmen für die Wahrnehmung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben verwendet werden sollten …“35

Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen. Staat und Gesellschaft haben keinerlei Anspruch darauf, dass aus Kirchensteuermitteln der Sozial- und Bildungsbereich entlastet wird. Die Kirchensteuern sind der Mitgliedsbeitrag einer Gruppe in diesem Volk. Wenn diese Gruppe Dienste erbringt, die unabhängig von der Zugehörigkeit zu ihr der Gemeinschaft insgesamt nutzen, ist jede Mark, die zur Finanzierung dieser Dienste aus Kirchensteuermitteln kommt, ein Geschenk an die Allgemeinheit. Es ist geradezu absurd, wenn den Kirchen von außen vorgehalten wird, sie müssten mehr Geld für den Sozialbereich aus Kirchensteuermitteln einsetzen, um die Kirchensteuer in der Gesellschaft akzeptabel zu machen. Nur die kirchliche Gemeinschaft kann für sich selber entscheiden, wofür sie ihr Geld, das aus Mitgliederbeiträgen kommt, ausgibt. 4. Ehrenamt + Kirchensteuer = Hohe Effektivität Mehrfach ist in den vergangenen Jahren (zum Beispiel vom Bund der Kirchensteuerzahler) darauf hingewiesen worden, dass nach allgemeinen Erfahrungen die Kirche mit den Kirchensteuereinnahmen effektiver umgeht als der Staat mit seinen Steuereinnahmen. Es wurde viel darüber nachgedacht, warum dies so ist. Für mich ist letztlich nur eine Erklärung plausibel. Die Kirche hat zwar in Deutschland eine beachtliche Zahl hauptamtlicher und bezahlter Mitarbeiter. Von noch größerer Bedeutung für das kirchliche Leben ist aber die Zahl der Ehrenamtlichen, das heißt unbezahlten Mitarbeiter in Vereinen und Verbänden, in Kirchengemeinden, in kirchlichen Räten und Gre­ mien. Es wird niemals gelingen, den ökonomischen Gewinn zu berechnen, der für die Kirche und für die Gesellschaft durch diese ehrenamtlichen Dienste entsteht.36 Dieser Gewinn wird dadurch noch verstärkt, dass viele Ehrenamtliche mit Kirchensteuermitteln arbeiten. Diese Kirchensteuermittel erhalten durch den ehrenamtlichen Dienst nahezu zwangsläufig eine höhere Effektivität. Viele Verwaltungskosten sind dadurch erheblich geringer und oft ist der kritische Umgang mit dem Geld bei Ehrenamtlichen auch stärker ausgeprägt als in öffentlichen Bürokratien. Ich bin sicher, dass der Staat nicht denselben Effekt wie die Kirchen erzielen würde, wenn ihm zusätzlich zu seinen sonstigen Steuern 35 Meuthen, Finanzwissenschaftliche Perspektive, S. 148. 36 Der frühere Finanzdirektor des Deutschen Caritasverbandes, Franz Spiegelhalter, hat einmal kalkuliert, wie hoch die öffentliche Kostenentlastung durch die rund 500.000 ehrenamtlichen Helfer der Caritas sein könnte, und kam auf einen Betrag von ca. 2,5 Mrd. DM pro Jahr; Franz Spiegelhalter, Was die Freie Wohlfahrtspflege dem Staat erspart, Caritas: Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft, Juni 1990, S. 245 ff., hier: S. 248.

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die 17 Mrd. DM Kirchensteuer zur Verfügung gestellt würden. Er kann nicht wie die Kirchen im selben Umfang ehrenamtliche Mitarbeiter engagieren und motivieren. Insofern ist es geradezu ein ökonomischer Glücksfall, dass in den Kirchen Kirchensteuer und ehrenamtliche Dienste zusammenkommen.

IV. Alternativen zur Kirchensteuer durch Änderung des Rechts Wenn ich mich nun im nächsten Abschnitt rechtlichen Aspekten der Kirchensteuerdiskussion zuwende, lasse ich alle die Vorschläge außer Acht, die das Staat-Kirche-Verhältnis in Deutschland grundlegend ändern wollen. Hier geht es um viel mehr als um die Kirchensteuer und es würde den Rahmen einer solchen Auseinandersetzung völlig sprengen. Es gibt zwei grundsätzliche Alternativen zum Kirchensteuersystem, die miteinander verwandt sind und denen wir uns zunächst zuwenden, sowie einen gemäßigten Vorschlag, das Kirchensteuersystem beizubehalten, aber wegen gewisser Mängel zu reformieren. 1. Kultur- oder Sozialsteuer? Wenn ich es recht sehe, hat der CDU-Sozialexperte Franz Romer 1992 erstmals die Idee einer Kultur- und Sozialsteuer ins politische Gespräch gebracht: „Die Abschaffung der Kirchensteuer muß ernsthaft geprüft werden. Die Kirchensteuer könnte in eine allgemeine Kultur- und Sozialsteuer umgewandelt werden, die alle Steuerzahler entrichten müßten.“ Seine Begründung: Die ständig steigende Zahl von Kirchenaustritten führe beim heutigen System zu Steuer­ ungerechtigkeit. „Konfessionslose zahlen zwar keine Kirchensteuer, profitieren aber trotzdem von Einrichtungen, die durch Kirchengelder mitfinanziert werden, wie zum Beispiel Kindergärten.“37 Dieser Vorschlag wurde zwar von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion umgehend abgelehnt, dennoch taucht er später in verschiedenen Variationen wieder auf. Ein so radikaler Vorschlag wie der von Franz Romer wäre ohne Verfassungsänderung nicht umsetzbar. Eine Variante dieses Vorschlags lautet, dass alle die, die keine Kirchensteuer zahlen, zu einer sogenannten Kultur- und Sozialsteuer herangezogen werden sollen, damit alle Bürger, ob sie nun Kirchensteuer zahlen oder nicht, in gleichem Maße belastet wären. Solch eine Lösung dürfte auf erhebliche verfassungsrechtliche Schwierigkeiten stoßen, denn es fragt sich, ob es verfassungsrechtlich zulässig wäre, einen Teil der Bürger mit einer Steuer zu belasten, weil sie nicht Mitglied einer bestimmten religiösen Gemeinschaft sind und dort einen Beitrag entrichten. Außerdem kann die Kirchensteuer bei der Lohn- und Einkommensteuer abgezogen werden, was mit einer Kultur- und Sozialsteuer kaum möglich wäre. Dies sind meines Erachtens gravierende rechtliche Argumente, die gegen die Einführung einer solchen, wie auch immer gearteten, Kultur- und Sozialsteuer sprechen. Auch der internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) wandte sich gegen den Vorschlag Romers, die Kirchensteuer durch eine allge37 Zitiert nach Branahl, S. 35.

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meine Kultur- und Sozialsteuer zu ersetzen; es würde sich dabei um eine „Zusatzsteuer für Konfessionslose“ handeln.38 Es sei CDU-Kreisen „offensichtlich ein Greuel“, dass Konfessionslose die Kirchensteuer sparen. Deshalb wolle man sie jetzt mit einer „Sondersteuer“ zur Kasse bitten. Nach Ansicht des Verbandes finanzierten schon jetzt Konfessionslose die beiden großen Kirchen in der Bundesrepublik mit, da deren seelsorgerische und soziale Einrichtungen zu rund 90 % aus öffentlichen Steuermitteln und nicht durch die Kirchensteuer finanziert würden.39 Aus kirchlicher Sicht wäre es allerdings ebenso falsch, eine allgemeine Kulturund Sozialsteuer zu fordern, um dadurch zu verhindern, dass Nicht-Kirchenmitglieder kirchliche Einrichtungen in Anspruch nehmen können, ohne dazu einen finanziellen Beitrag zu leisten. Die Kirche hat sich zu allen Zeiten mit ihren Einrichtungen dem Gemeinwohl verpflichtet gefühlt und somit erhebliche Mittel aufgewendet, um auch für jene Menschen da zu sein, die nicht zur Kirche gehören. Die Gesellschaft kann der Kirche nicht vorschreiben, welche Dienste und wieviel Dienste sie der Allgemeinheit anbietet. Dieses allgemeine Angebot darf für die Kirche aber auch kein Grund sein, heute von allen Bürgern der Bundesrepublik einen Beitrag in Höhe der Kirchensteuer zu fordern. Pater Alfred Delp schrieb (1944) etwa ein Jahr vor seiner Hinrichtung durch die Nazis: „Es wird kein Mensch an die Botschaft vom Heil und vom Heiland glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienst des physisch, psychisch, sozial, wirtschaftlich, sittlich oder sonstwie kranken Menschen. Der Mensch heute ist krank.“ Angesichts dieser Aussage ist es beschämend, wenn man öffentlich überlegt, sich „Serviceleistungen“ von Nichtmitgliedern zusätzlich bezahlen zu lassen – im exakt berechneten Proporz zur nicht gezahlten Kirchensteuer.40 Kirchlicherseits eine Kultur- und Sozialsteuer von denen zu fordern, die nicht der Kirche angehören, um dem Kirchenaustritt damit den Anreiz zu nehmen, von der Steuer entlastet zu werden, halte ich für eines der schlimmsten Armutszeugnisse, das man sich kirchlicherseits selbst ausstellen würde. Auf diese Art und Weise die Menschen in der Kirche zu halten, wäre fatal. Im Übrigen nimmt diese Argumentation nicht ernst, was bei demoskopischen Untersuchungen wiederholt festgestellt wurde: „Die Kirchensteuer wird in der Regel in dem Moment als unzumutbare Belastung empfunden, in dem ihr kein Äquivalent, kein subjektiv nachvollziehbarer Sinn mehr gegenübersteht. Wer zur Kirche keinen Kontakt mehr hat, am religiösen Leben nicht mehr teilnimmt und dem Glauben keine existentielle Bedeutung beimißt, für den wird die Kirchensteuer zum zentralen Entscheidungskriterium. Religiöse Konfessionslose, die ihren Austritt aus der Kirche allein mit der Kirchensteuer begründen, sind eine kleine Minderheit.“41

38 KNA v. 27.2.1992. 39 epd, Nr. 41, 27.2.1992; vgl. Branahl, S. 38. 40 Vgl. Markus Nolte, Ein Christ ist einfach anders dran, Rheinischer Merkur v. 27.1.1995. 41 Renate Köcher, Kirchenaustritte und Kirchensteuer, in: Ockenfels/Kettern, S. 13 ff., hier: S. 22.

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2. „Italien“ – ein Modell für die Zukunft? Seit mehreren Jahren wird auch das neue italienische Modell der Kirchenfinanzierung, das dort seit dem 1.1.1990 gilt (in Spanien gibt es seit 1987 ein ähnliches System), ins Gespräch gebracht. Es findet seitdem bei Kirchenmitgliedern und Kirchengegnern, bei Politikern und Journalisten in Deutschland viele Befürworter. Ist dies vielleicht ein zeitgemäßeres Modell? Für mich steht eindeutig fest, dass dieses „italienische Modell“ für uns kein Ersatz für das Kirchensteuersystem sein kann. Bevor ich diese These zu begründen versuche, muss ich kurz das „italienische Modell“ darstellen. Zum 1.1.1990 liefen in Italien die Staatsleistungen für die Besoldung und Versorgung des Klerus (sowie für einige weitere Zwecke wie den Bau und die Unterhaltung von Kirchen, Pfarrheimen u. Ä.) aus. Seither hat der italienische Steuerzahler die Möglichkeit, einen Teil seiner Einkommensteuerschuld (genau 0,8 %) mit einer Zweckbindung zu versehen. Dabei hat er folgende Wahlmöglichkeiten: Neben der Katholischen Kirche, die zu diesem Zweck ein Konto der Bischofskonferenz zur Deckung konkreter religiöser Bedürfnisse (speziell: Klerusbesoldung, Bau und Erhalt von Kirchengebäuden, Caritas) eingerichtet hat, steht auch die Möglichkeit der Zuweisung dieses Betrages an zwei kleinere Religionsgemeinschaften offen. Überdies kann der Betrag auch dem Staat zugewiesen werden, der das Geld dann aufgrund gesetzlicher Bindung für soziale und humanitäre Zwecke wie Katastrophenhilfe, Flüchtlingshilfe, Armutsbekämpfung oder Erhaltung von Kunstgütern zu verausgaben hat. Das Geld der Steuerzahler, die sich für keinen der vier Verwendungszwecke entschließen, wird in Italien im Verhältnis der Beträge, für die eine Zweckbindung vorgenommen wurde, aufgeteilt.42 Ich nenne Ihnen drei Gründe, die aus meiner Sicht gegen die Einführung eines solchen Systems bei uns als Ersatz für die Kirchensteuer sprechen. Unsere Kirchensteuer ist ein Mitgliedsbeitrag, der in Form von Steuern erhoben wird, verfassungsrechtlich garantiert durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 6 WRV. Das „italienische Modell“ ist kein Kirchensteuersystem, kein Mitgliedsbeitrag, sondern eine Staatsleistung, über deren Höhe die Bürger unabhängig von der Kirchenzugehörigkeit abstimmen (im Rahmen des gesetzlich vorgegebenen Hebesatzes). Niemals könnte die Einführung eines solchen Gesetzes als Erfüllung der verfassungsrechtlich garantierten Kirchensteuer angesehen werden. Wichtiger als diese verfassungsrechtliche Überlegung ist allerdings der Hinweis, dass die Kirche nicht mehr von den Beiträgen ihrer Mitglieder, sondern von Staatsleistungen finanziell abhängig wäre. Einen Vorteil sehen die Befürworter des „italienischen Modells“ darin, dass die Steuerzahler selbst entscheiden können, wer ihr Geld bekommen soll. In keinem Bereich der Steuer gibt es sonst solch eine Entscheidungsfreiheit, wenn man einmal von der indirekten Möglichkeit absieht, die durch die Steuerabzugsfähigkeit von Spenden gegeben ist. Freiheit klingt immer gut und deshalb muss dieses Argument besonders sorgfältig unter die Lupe genommen werden. 42 Meuthen, Finanzwissenschaftliche Perspektive, S. 170 ff.

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Nach dem italienischen Recht dürfen die Empfangsberechtigten ihrerseits bei den Steuerzahlern um Zuwendungen werben. In Italien wirbt die Katholische Kirche zum Beispiel auch durch Spots im Fernsehen. Stellen Sie sich also vor, Ihr Bischof würde vielleicht mit Kindern an der Hand über Engagement und Aufwendung Ihres Bistums für Kindergärten informieren und an Steuerzahler appellieren, ihren Beitrag deshalb der Katholischen Kirche zuzuwenden. Solch ein Gedanke stimmt nachdenklich. Fachleute weisen darauf hin, dass bei der allgemeinen Kultursteuer anstelle der Kirchensteuer das Marketing in Richtung auf die Gesamtgesellschaft zunehmen würde, um die Zuwendungen aus der Kultursteuer gegenüber dieser Gesamtgesellschaft zu rechtfertigen. „Die Kirchen würden sich damit womöglich in erster Linie um ihre soziale Erwünschtheit kümmern und danach um ihre Mitglieder. Eine fatale Folge für die Kirche, die nach ihrem Selbstverständnis die Botschaft Gottes verkünden will und die caritative Betätigung als Folge ihres Dienstes am Menschen ansieht, nicht jedoch als Hauptzweck.“ Die Kirchen „würden sich damit zu einer – bildhaft gesprochen – Caritas (bzw. Diakonischem Werk) mit religiösem Anhang entwickeln“43. Im Übrigen ist es mit der viel gerühmten Freiheit nicht so weit her. Heute kann man sich der Kirchensteuerzahlung wenigstens ganz entziehen, wenn man aus der Kirche austritt, und in der Regel treten nur die aus, die ohnehin von ihrer Glaubensüberzeugung der Kirche schon sehr fernstehen. Würde das „italienische Modell“ eingeführt, könnte sich dieser Steuer niemand mehr entziehen. Diese Freiheit wäre nicht mehr gegeben, es bleibt nur die Wahlfreiheit, wem man dieses Geld gibt. Aus diesen Gründen bin ich mit vielen anderen der Überzeugung, dass das „italienische Modell“ für uns keine Alternative zum derzeitigen Kirchensteuersystem sein kann. In Italien löste dieses Modell ja auch die bisherigen Staatsleistungen und nicht ein Kirchensteuersystem ab.44 3. Reform statt Alternative? Meuthen kommt in seiner finanzwissenschaftlichen Untersuchung der Kirchensteuer zu dem Ergebnis, dass die fundamentalistische Kritik haltlos und alle anderen Finanzierungsregelungen schlechter sind. Deshalb setzt er sich uneingeschränkt dafür ein, die Kirchensteuer im Kern als kirchliche Einnahmequelle festzuhalten. Allerdings stellt er in seiner Analyse auch einige Mängel im System fest, nach deren Beseitigung man seines Erachtens streben sollte, weil eine unreflektierte Beibehaltung und Verweigerung gegenüber wohlüberlegten Veränderungen über kurz oder lang dazu führen würde, dass die Akzeptanzkrise der Kirchensteuer sich immer weiter zuspitze.45

43 Steffen W. Hillebrecht, Kirchensteuern aus Marketing-Sicht, in: Ockenfels/Kettern, S. 213 ff., hier: S. 222. 44 Zur ganzen Bewertung des „Italienischen Modells“ vgl. Meuthen, Finanzwissenschaftliche Perspektive, S. 170–175. 45 Meuthen, Kirchensteuer reformieren, S. 203.

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Nach Meuthen müsste eine sinnvolle Reform vor allem zwei Maßnahmen umfassen. „Erstens müßte die Bemessungsgrundlage von jener der Einkommensteuer teilweise abgekoppelt und strikt auf eine an der Leistungsfähigkeit orientierte Basis gestellt werden. Da dies zwangsläufig auf eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage hinausläuft, würden dadurch wieder mehr Kirchenmitglieder zur Zahlung herangezogen, und die Kirchensteuereinnahmen würden tendenziell steigen.“ Zweitens plädiert er für einen proportionalen Tarif. „Dieser würde idealerweise in einer solchen Höhe festgelegt, daß der Einnahmeanstieg aus der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage gerade eben wieder wegfiele, so daß die Reform aufkommensneutral (und damit auch entsprechend glaubwürdig) wäre.“ Zur Steigerung der psychologischen Akzeptanz regt er überdies an, „parallel zu diesen Maßnahmen, soweit die juristischen Hürden sich als überwindbar erweisen, eine Umbenennung der Kirchensteuer in Kirchenbeitrag durchzuführen, um den Zahlern den eigentlichen Charakter des Mitgliedsbeitrags wieder wirklich deutlich vor Augen zu führen“46. Es ist richtig, dass man jeden Reformvorschlag kritisch prüfen sollte, zumal wenn er aus einer grundsätzlich positiven Sicht kommt. Dennoch halte ich Meuthens Reformvorschläge nicht für realisierbar. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass derzeit nur 35 % bis 40 % der Kirchenmitglieder tatsächlich Kirchensteuern zahlen. Wenn man nun im Rahmen des Kirchensteuersystems versuchen würde, einen größeren Personenkreis als bisher zu dieser Steuer heranzuziehen, würde das zu erheblicher Verärgerung der Betroffenen führen und die zweifellos unsachlich geführte Diskussion in der Öffentlichkeit würde der Kirche Habgier oder ähnliches unterstellen, selbst wenn bei einer solchen Umstellung die Einnahmen nicht erhöht werden sollten. Der hier aufgezeigten Schwäche begegnet man meines Erachtens besser, indem man deutlich herausstellt, dass jeder je nach seinem Einkommen gefordert ist, über die Kirchensteuer hinaus für die Aufgaben der Kirche zu spenden. Dies gilt umso mehr für diejenigen, die überhaupt nicht zur Kirchensteuer herangezogen werden. Die Erinnerung an den „Zehnten“ sollte in der Verkündigung einen festen Platz haben. Dies wäre besser, als das Steuersystem zu ändern. Ähnliche Bedenken habe ich gegenüber der Einführung eines eigenen Kirchensteuertarifs. Der Realisierung eines solchen Vorschlags dürften erhebliche Widerstände gegenüberstehen. Reformen dieser Art ließen sich nur verwirklichen, wenn innerkirchlich eine Übereinstimmung zu erzielen wäre. Dies ist schon innerhalb der Katholischen Kirche außerordentlich schwierig. Hinzu kommt die Notwendigkeit der Abstimmung mit der Evangelischen Kirche. Solche Abstimmungen waren in der Vergangenheit bei allem guten Willen sehr mühsam und nicht immer erfolgreich. So ist es Mitte der siebziger Jahre nicht gelungen, in der Bundesrepublik zu einem einheitlichen Hebesatz zu kommen, obwohl das der Wunsch vieler war und obwohl bei uns gerade auch aus diesem Grund 1975 der Hebesatz gesenkt worden ist.

46 Meuthen, Kirchensteuer reformieren, S. 199.

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Zu bedenken ist auch, dass solche Abstimmungen nicht nur von der Eigenwilligkeit kirchlicher Verwaltungen abhängen. Die diözesanen Kirchensteuerräte müssten jeweils einem solchen Reformvorhaben zustimmen. Ich sehe derzeit kaum eine Möglichkeit, bei diesen komplizierten Abstimmungsvoraussetzungen zu einer eigenen „Bemessungsgrundlage“ und/oder zu einem eigenen „Kirchensteuertarif“ zu kommen. Auch die Abstimmung mit dem Staat dürfte erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Schließlich befürchte ich auf dem Hintergrund der allgemeinen Steuerdiskussion, dass jede öffentliche Erörterung eines eigenen Kirchensteuertarifs (mit allem, was dazugehört) das System eher ins negative Gerede bringen würde, als es heute schon der Fall ist. Trotz einiger Mängel, die das System (wie übrigens jedes Steuersystem) hat, plädiere ich deshalb klar für die Beibehaltung. Weder in den Reformvorschlägen noch in den Alternativmodellen sehe ich eine adäquate Lösung.

V. Innerkirchliche Kirchensteuerdiskussion Damit kommen wir zum letzten Abschnitt, der innerkirchlichen Kirchensteuerdiskussion, die in mancher Hinsicht Quelle und Ursache für publizistische, politische und rechtliche Diskussionen des Kirchensteuersystems ist. Ich werde Ihnen zunächst die innerkirchliche Fundamentalkritik des Kirchensteuersystems schildern, um dann Anfragen aus verschiedenen theologischen Perspektiven an das System darzustellen. 1. Fundamentalkritik Beginnen wir mit der innerkirchlichen Fundamentalkritik am Kirchensteuersystem. Für sie gilt fast dasselbe wie für die Kirchensteuerkritik der Kirchengegner. Man greift die Kirchensteuer an, meint aber die Kirche. Kirchengegner und sogenannte Kirchenreformer stehen sich in diesem Punkt nicht nur nahe, sie brauchen bisweilen die gleichen Argumente. „Eine Umstellung der Kirchenfinanzierung auf Spendenbasis hätte den entscheidenden Vorteil, daß die Gemeinden und Pfarreien aufgewertet würden, die zentralistische Kirchenbürokratie dagegen gemindert. Leider gibt es in der Bundesrepublik zunehmend eine Stärkung der zentralistischen Kirchengewalt, die das Aufblühen der Gemeinden sehr hemmt“, so der Paderborner Theologieprofessor Peter Eicher.47 Magdalene Bußmann, die Vorsitzende des 1990 gegründeten „Vereins zur Umwidmung der Kirchensteuer“, übernahm in einem WDR-Interview (am 23.9.1990) diese Argumente. Es müsse durch die Umstellung auf ein dezentrales Spendensystem in der Kirche eine Art freie Marktwirtschaft hergestellt werden, die durch Angebot und Nachfrage reguliert werde. Um Geld zu bekommen, müsse die Kirchenleitung sich nach dem richten, was das „Volk“ erwarte. Man muss für solche Äußerungen sehr dankbar sein, weil 47 FAZ-Interview v. 31.8.1990.

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sie einer Enttarnung gleichkommen. Nur vordergründig geht es um ein neues Finanzierungssystem, tatsächlich um eine andere Kirche. Wer die täglich beim Bischof und beim Generalvikariat eingehende Post liest, wird feststellen, dass man von rechts und links versucht, durch die Verweigerung der Kirchensteuerzahlung Druck auf innerkirchliche Entscheidungen auszuüben. Am systematischsten geschieht dies durch den bereits erwähnten „Verein zur Umwidmung der Kirchensteuer“, der aus katholischen und evangelischen innerkirchlichen Reformgruppen gegründet wurde. Der stellvertretende Vorsitzende dieses Vereins, Friedrich Halfmann, berichtete vor einigen Monaten in einer Podiumsdiskussion,48 dass der Verein zur Zeit 240 Mitglieder habe, von denen „nur“ 40 aus der Kirche ausgetreten seien. Die Mehrzahl der Mitglieder ist katholisch. Die Gruppierungen, aus denen dieser Verein entstanden ist, haben innerkirchliche Reformanliegen: Abschaffung des Zölibats, Zulassung der Frauen zur Priesterweihe, demokratische Strukturen in der Kirche und ähnliches. Als sie mit ihren Initiativen nicht zum Zuge kamen, beschlossen sie, den Verein zur Umwidmung der Kirchensteuer zu gründen. Sie wollen einerseits der hierarchisch geführten Kirche ihre Mittel entziehen und andererseits das Geld den Initiativen zuführen, die sie für allein richtig halten. Selbst die demokratisch gewählten Kirchensteuerräte sind für sie kein Garant für den richtigen Einsatz der Geldmittel, weil diese Gremien ihres Erachtens falsch zusammengesetzt sind. Ganz öffentlich kritisieren sie das Ergebnis dieser Wahlen, weil ihre Position dabei keine Mehrheit gefunden hat. Der eigentliche „Reformansatz“ dieser Gruppe wird auch in einer ganzseitigen Anzeige deutlich, die in „Publik-Forum“ erschien. Dort heißt es unter anderem: „Das Recht, Kirchensteuern zu erheben, ein Akt staatlicher Hoheit, darf nicht gesellschaftlichen Gruppierungen zugestanden werden, die in ihrem Binnenbereich fundamentale Menschenrechte mißachten. Die aus dogmatischen Grundüberzeugungen abgeleitete, diskriminierende Einstellung der Katholischen Kirche Frauen gegenüber und die daraus resultierende systematische Ausgrenzung von Frauen aus Leitungsfunktionen in der Katholischen Kirche stellt für uns eine solche Verletzung von Grundrechten dar. Ausgrenzungen struktureller Art erleben zum Beispiel aber auch Homosexuelle und Lesben und Geschiedene, die erneut heiraten, also ein Grundrecht gemäß Art. 6 GG in Anspruch nehmen.“49

Wie der schon zitierte Professor Horst Herrmann fordert der Verein offen zum Kirchenaustritt auf, um so zu einer besseren Kirche zu kommen. Es erübrigt sich, solche Vorschläge zu kommentieren. Wichtig ist der Hinweis, dass die publizistische Wirksamkeit dieses Vereins ungleich größer ist als seine tatsächliche Bedeutung. Die Übereinstimmung seiner Forderungen mit Positionen der Bündnisgrünen ist allzu deutlich. Selbstverständlich hat sich auch der katholische Theologe Eugen Drewermann für die Abschaffung der Kirchensteuer ausgesprochen. Die derzeitige Steuerpraxis müsse „unbedingt“ geändert werden, so Drewermann in der „Berliner Mor48 Hochdahl am 11.3.1995. 49 Zitiert nach Lohmann, S. 66.

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genpost“ (18.4.1992). Die Katholische Kirche in Deutschland lebe im Schatten einer Sicherheit, die sie „faul“ gemacht und in eine Position gebracht habe, in der sie ihre Ideen „permanent gegen den Markt der Konsumenten produziert“. Für den „real existierenden Katholizismus“ gebe es zwei „Rückfühlebenen“, auf denen er anzutreffen sei: „Macht und Geld“. Offenbar enttäuscht darüber, dass die Kirche nicht durch geistige Notwendigkeiten reformierbar sei, „ … bleibt nur noch die zynische Hoffnung, daß es mindestens ein Regulativ gibt, das aus der Wirklichkeit stammt: nämlich der Zusammenbruch der Finanzgrundlage“. Eine Abschaffung der Kirchensteuer würde dazu führen, dass „wir ab sofort eine andere Kirche hätten. Sie wäre viel agiler und würde den Menschen wieder ernst nehmen“50. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann, wies die Forderung Drewermanns zurück: So könne sich eigentlich nur jemand äußern, „der von außen in alles hineinredet, aber in Wirklichkeit nicht mehr weiß, wie es wirklich von innen her zugeht“51. Dem kann ich nur beipflichten. Es ist nicht zu bestreiten, dass Geld träge machen kann und dass die Kirchen in Deutschland es aufgrund des Kirchensteuersystems in Finanzfragen verhältnismäßig leicht haben, wenn man sie mit den Kirchen in anderen Ländern vergleicht. Wer aber glaubt, dass durch die Abschaffung des Kirchensteuersystems der Glaube der Christen stärker, die Hoffnung überzeugender und die Liebe tatkräftiger würde, irrt gewaltig. Wer ärmere Kirchen kennt, weiß sehr genau, wie gerade der Mangel die Gemeinden und den Klerus oft darauf fixiert, sich das notwendige Geld zu beschaffen. Man kann nicht oft genug betonen, dass gerade durch das Kirchensteuersystem die Freiheit der Seelsorge, das heißt vor allem die Unabhängigkeit von Geldgebern, gesichert ist. Der fundamentalen Kirchensteuerkritik schließen sich innerhalb der Kirche nur die an, die die Kirche selbst fundamental ändern wollen, die also eine andere Kirche wollen. Dennoch muss man fragen, wie das deutsche Kirchensteuersystem, das weltweit eine große Ausnahme darstellt (wenn man von einigen Schweizer Kantonen und dem österreichischen Kirchenbeitragssystem einmal absieht), mit dem allgemeinen Kirchenrecht in Einklang zu bringen ist. 2. CIC und Kirchensteuer Um das Kirchensteuersystem innerkirchlich zu begründen, muss man von einem letztlich naturrechtlich begründeten Grundgedanken ausgehen, nämlich der Überzeugung, dass jedes Mitglied einer Gemeinschaft zu deren Lasten beitragen muss, damit die gemeinsamen Aufgaben erfüllt werden können. Im kirchlichen Gesetzbuch von 1983 ist dieser sachlich begründete Grundgedanke deutlicher als früher ausgesprochen. Es gehört (nach can. 222 § 1 CIC) zu den Grundpflichten aller Gläubigen, die Kirche materiell zu unterstützen, damit ihr dasjenige zur Verfügung steht, was für den Gottesdienst, die Werke des Apos­ tolats und der Caritas sowie zum angemessenen Unterhalt ihrer Amtsträger 50 Zitiert nach Branahl, S. 39 f. 51 KNA v. 23.4.1992.

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und Bediensteten notwendig ist. Aufgabe des Bischofs ist es, die Gläubigen entsprechend zu mahnen und auf geeignete Weise dafür zu sorgen, dass die Verpflichtung erfüllt wird (can. 1261 § 2 CIC). Der Abgabenpflicht der Gläubigen entspricht das Recht der Kirche als Gemeinschaft, von ihren Mitgliedern zu fordern, was zur Erfüllung der eigenen Aufgabe notwendig ist (can. 1260 CIC). Ein Kirchenbeitrag in Form der Steuer hat im kirchlichen Gesetzbuch zweifellos Sonder- und Ausnahmecharakter. Sie wird in can. 1263 zunächst in zweifacher Hinsicht anerkannt: 1. Der Diözesanbischof kann – nach Anhörung des Vermögensverwaltungsrates und des Priesterrates – die ihm unterstehenden kirchlichen juristischen Personen des öffentlichen Rechts für die Erfordernisse seiner Diözese mit einer maßvollen, ihren Einkünften angemessenen Steuer belegen. 2. Unter den gleichen Verfahrensvoraussetzungen kann der Diözesanbischof auch natürliche und andere juristische Personen zu einer außerordentlichen und maßvollen Steuer heranziehen, aber nur „in casu gravis necessitatis“. Diesen einengenden Bestimmungen, durch die augenscheinlich ein unbegrenztes allgemeines Besteuerungsrecht verworfen werden sollte, ist in letzter Minute auf Betreiben der Deutschen Bischofskonferenz eine Klausel mit einem Vorbehalt zugunsten des Partikularrechts angefügt worden: „salvis legibus et consuetudinibus particularibus quae eidem potiora iura tribuant“. Nicht zu Unrecht kann man insoweit von einer „clausula teutonica“ sprechen. Zwar wäre sie nicht notwendig gewesen, um das staatskirchenrechtlich geordnete, auf Verfassung, Vertrag und Gesetz beruhende deutsche Kirchensteuersystem zu „halten“, weil Konkordate nach can. 3 „ohne die geringste Einschränkung durch entgegenstehende Vorschriften dieses Kodex“ fortgelten. Durch die Anfügung wurde aber ausdrücklich anerkannt, dass auch innerkirchlich weitergehende Rechte gerechtfertigt sind, dass also die Partikularkirchen, welche die Kirchensteuer als Regel kennen oder einführen wollen, kein schlechtes Gewissen zu haben brauchen.52 3. Staatsinkasso und Kirchenidentität Aus der Sicht des Kirchenrechts gibt es keine Argumente gegen das deutsche Kirchensteuersystem, obwohl dies eine Ausnahme weltweit darstellt. Dagegen kann man aus ekklesiologischer und pastoraler Sicht durchaus Bedenken gegenüber dem Kirchensteuersystem anmelden. Schon vor dreißig Jahren bemerkte der Kirchenrechtler Heinrich Flatten sehr pastoral: „Die Einziehung durch das Finanzamt verbleibt im Bürokratischen, während die Erhebung durch kirchliche Stellen die Möglichkeit eines persönlichen Kontakts böte.“53 Die Kirche ist eine Glaubensgemeinschaft. In ihr sind die Menschen durch Taufe und gemeinsames Bekenntnis zusammengeschlossen. Wie vereinbart sich damit die Tatsache, dass der Mitgliedsbeitrag vom Finanzamt eingezogen wird? Das gegenwärtige Junktim Kirchensteuerpflicht und Kirchenmitgliedschaft erweckt bei manchen den Eindruck, als sei das Leben in der Glaubens­ 52 Vgl. Hollerbach, S. 890 f.; Marré, Kirchensteuer, S. 450. 53 Heinrich Flatten, Fort mit der Kirchensteuer?, 1964, S. 36 (im Folgenden zitiert: Flatten).

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gemeinschaft nur gegen Bezahlung möglich.54 Und diejenigen, die nicht am kirchlichen Leben teilnehmen, sehen die Kirche gerade durch das Kirchensteuersystem verstärkt als Behörde. Der Kirchenbeitrag wird zum „lautlosen Staats­ inkasso“55. Meines Erachtens wird allerdings mit Recht darauf hingewiesen, dass das Klagen über den Kirchensteuerautomatismus und die dazugehörige Bürokratie sowie über das „lautlose Staatsinkasso“ unrealistisch anmutet in einer Zeit, in der Sozialversicherungs- und Gewerkschaftsbeiträge ebenso lautlos vom Lohn einbehalten werden und immer mehr Vereine und Vereinigungen ihre Mitgliedsbeiträge durch Einziehungsermächtigungen oder Daueraufträge ebenfalls geräuschlos vom Bankkonto der Mitglieder erhalten. Wenn die Kirchen selbst ähnlich zentral wie heute, also auf Diözesanebene, die Steuern einziehen würden, wären kircheneigene Steuerverwaltungen auf elektronische Datenverarbeitungen und ähnliche Systeme angewiesen. Am Inkasso würde sich nicht viel ändern. Wohl würde die eigenständige Kirchensteuereinziehung sehr viel teurer werden als das heutige System. Die staatliche Verwaltungshilfe wird mit 3 % bis 4 % des Kirchensteueraufkommens vergütet. Aufbau und Unterhaltung einer kircheneigenen Steuerorganisation würden dagegen einen geschätzten Aufwand von 20 % bis 30 % mit sich bringen. Die Freiheit der Kirche ist durch den Einzug der Kirchensteuern über das Finanzamt in keiner Weise gefährdet, da dies eine reine Dienstleistung ist, aufgrund derer kein Politiker und keine staatliche Institution Einfluss auf die inhaltliche Arbeit der Kirche haben. Dagegen wäre die Freiheit der Seelsorge erheblich gefährdet, wenn die Gemeinden sich allein über Spenden und Kollekten finanzieren müssten. Es ist meines Erachtens eine gefährliche romantische Vorstellung, wenn man glaubt, die Nähe der Mitglieder zu ihrer Kirche würde größer, wenn die örtlichen Seelsorger jeden Hausbesuch nutzen müssten, um einen ordentlichen Scheck zu kassieren. Ich wurde selbst vor Jahren bei einem Besuch in den Vereinigten Staaten von einem älteren Geistlichen gefragt, wieviel Geld ich durchschnittlich bei einem Hausbesuch eingenommen hätte. Er war entsetzt, als ich ihm erklärte, dass ich noch nie bei einem Hausbesuch einen Scheck bekommen hätte, und er bezweifelte meine pastorale Fähigkeit. Fast noch erschreckender war für mich die Feststellung, dass auch Gemeindemitglieder ihren Pfarrer nach diesem Kriterium beurteilten. Es gibt afrikanische Länder, in denen Bischöfe junge Priester nach Deutschland schicken, damit sie dort vordergründig ein theologisches Spezialstudium absolvieren können. Gleichzeitig bekommen sie den Auftrag, Verbindungen möglichst dauerhafter Art zu Geldgebern in Deutschland anzuknüpfen. Bisweilen hat man den Eindruck, dass dieser Auftrag Vorrang vor dem theologischen Spezialstudium hat. Ist das die gewünschte Nähe, die man dem „lautlosen Staats­ inkasso“ vorzieht? 54 Vgl. Branahl, S. 41. 55 Dies ist inzwischen ein gängiger Begriff in der Diskussion; vgl. Marré, Kirchenfinanzierung, S. 52.

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Es ist zweifellos richtig, dass das Kirchensteuersystem Distanz zwischen Geldgebern und denen, die für die Verwendung des Geldes Verantwortung tragen, schafft. Die Abschaffung des Systems würde aber nicht zwangsläufig die Nähe zu allen Gläubigen stärken, sie würde vielmehr ein Ungleichgewicht schaffen dadurch, dass einige mit ihren Geldspenden Einfluss zu nehmen versuchen. Dieser Gedanke ist keine Theorie. Bereits frühzeitig wurde in Deutschland vom Staat anerkannt, dass die Kirchensteuer ein Bürge für die Freiheit der Kirche gegenüber leistungsstarken Spendern oder Beitragszahlern ist. In der Beratung der Kirchenartikel in der Weimarer Nationalversammlung kam dies bereits zur Sprache. In der Sitzung des Verfassungsausschusses vom 2.4.1919 führte der SPD-Abgeordnete Dr. Quarck folgendes aus: „Für die Forderung steuerlicher Vorrechte habe ich praktisches Verständnis. Das amerikanische Vorbild der Unterhaltung der Kirchen durch einzelne Großkapitalisten mit entsprechendem Einfluß des Großkapitals auf das kirchliche Leben ist nicht nachahmenswert“. Friedrich Naumann hatte in der Weimarer Nationalversammlung darauf hingewiesen: „Die Kirche auf freiwilliges Patronatssystem verweisen heißt nicht, sie materiell ertöten, sondern heißt, sie in einseitig kapitalistisch interessierte Hände bringen.“56 Besonders die Freiheit der Geistlichen hängt von der Kirchenfinanzierung ab. Sie kann in verschiedener Weise im Zusammenhang mit Finanzen beeinträchtigt werden, einmal durch persönliche Abhängigkeit von „Wohltätern“, zum anderen dadurch, dass die Geistlichen einen Großteil ihrer Arbeitskraft für die Beschaffung finanzieller Mittel verwenden müssen und sich somit den seelsorglichen Aufgaben nur unzureichend widmen können.57 In einer Untersuchung über die Zustände in den USA wird ausgeführt: „Es ist nicht gut, in Amerika Pastor einer reichen Gemeinde zu sein. Er ist gezwungen, ständig nach den Familien zu schielen, die in der Gemeinde den Ton angeben und das Geld beisteuern. Der Pastor ist nicht mehr frei. Er kann nicht sagen, was ihm das Evangelium aufträgt, oder er riskiert seine Stellung. Wer sich ein wenig im amerikanischen Kirchenwesen auskennt, weiß, wie oft Pastoren ihre Gemeindearbeit aufgeben müssen, weil sie nicht so reden wollen, wie es die Gemeinden von ihm erwarten. Aber es ist auch nicht gut, Pastor einer armen Gemeinde zu sein. Diese Amtsträger sind ständig verpflichtet, an Sammlungen, Bazare, Kollekten usw. zu denken. Ein großer Teil ihrer Seelsorgearbeit wird durch die Suche nach dem notwendigen Geld für die Gemeinde aufgefressen.“58

56 Zitiert nach: Siegfried Marx, Die Kirchensteuer und die Freiheit der Kirche, Kirche & Recht 1 (1995), S. 31 ff. (im Folgenden zitiert: Marx), hier: S. 35. 57 Vgl. Marx, S. 36; dort wird eine kirchliche Stellungnahme zur Einführung der Kirchensteuer im Jahr 1963 im Kanton Zürich zitiert: „Erinnern wir uns daran, daß unsere Pfarrer einen sehr großen Teil ihrer Zeit und Arbeit für die finanziellen Existenzsorgen ihrer Pfarreien verwenden mußten, die ihnen jetzt weitgehend abgenommen worden sind. Diese Zeit und diese Arbeit können sie jetzt für die Seelsorge verwenden, so daß sich die neue Ordnung auch pastoral segensreich auswirkt. Die Entlastung, die annähernd ein Drittel der Arbeit des Pfarrers ausmachen dürfte, kommt deshalb einer Verstärkung des geistlichen Potentials gleich: eine Feststellung, der beim immer bedrohlicher werdenden Priestermangel erhöhte Bedeutung zukommt.“ 58 Zitiert nach: Marx, S. 36.

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Eine weitere Möglichkeit, die die Nähe zwischen Geldgebern und Kirche verstärken soll, wird vom bereits erwähnten „Verein zur Umwidmung der Kirchensteuer“ propagiert. Jeder soll soviel geben wie bisher, aber er kann entscheiden, wofür das Geld ausgegeben wird. Zweifellos käme es hier zu einer hohen Identität mit einzelnen Projekten, aber auch dieses System hat deutliche Nachteile. Wenn die Kirchensteuer als Finanzierungsquelle nicht mehr zur Verfügung stünde und alles von Spenden abhinge, bestünde die Gefahr, dass bestimmte kirchliche Projekte, die unter den kirchlichen Aufgaben eine be­ sondere Bedeutung haben, aber weniger „ansehnlich“ sind, nicht genügend finanzielle Mittel erhielten. Hinzu käme die verständliche Neigung zur „Kirch­ turmspolitik“, zur finanziellen Förderung nur der Kirchengemeinde oder der Gemeinschaft, der man sich zugehörig fühlt. Projektidentität bedeutet noch lange nicht Kirchenidentität. Meines Erachtens kann man auch aus ekklesiologischer und pastoraler Sicht das deutsche Kirchensteuersystem mit seinem „Staatsinkasso“ verantworten. Es sichert in einmaliger Weise die Freiheit der Pastoral und die Unabhängigkeit vom einzelnen Geldgeber. An die Stelle des Einflusses weniger Geldgeber tritt die rechtlich geordnete wirkungsvolle Mitwirkung gewählter Fachgremien, nämlich der Kirchensteuerräte. Ohne das Kirchensteuersystem wäre es in der Katholischen Kirche zu einer so weitgehenden Mitbestimmung gewählter Laiengremien niemals gekommen. Damit sind der verantwortungsvolle Umgang mit dem Geld und die Transparenz der kirchlichen Finanzverwaltung wesentlich besser gewährleistet als in Gebieten, wo man von den Spenden einzelner abhängig ist. Gerade dieser transparente und verantwortungsvolle Umgang mit dem Geld kann in unserer Zeit mithelfen, Barrieren gegenüber der Kirche abzubauen und die Glaubwürdigkeit des kirchlichen Tuns zu sichern.59

59 Fairerweise muss darauf hingewiesen werden, dass in Österreich das Kirchenbeitragssystem bewusst gegen das deutsche Kirchensteuersystem aus pastoralen Gründen verteidigt wird, so der Professor für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Hochschule in Linz, Wilhelm Zauner: „Trotz aller Sorgen mit dem Finanzwesen war es wohl gut, daß sich in Österreich alle Bemühungen, nach deutschem Vorbild den Staat zur Einhebung der Kirchenbeiträge zu veranlassen, immer wieder zerschlagen haben. Die Kirche hätte damit ein wichtiges Instrument der Seelsorge aus der Hand gegeben. Die Bevölkerung würde es wohl auch nicht hinnehmen, daß sich der Staat zum Kassier der Kirche macht. Es gibt schon Schwierigkeiten genug mit der staatlichen Rechtshilfe. Gegenwärtig wird sogar die Eintragung des religiösen Bekenntnisses in den Meldezettel und die Weiterleitung als Verletzung des Datenschutzes bekämpft. – Es wird freilich immer schwieriger werden, einen Pflichtbeitrag der Gläubigen für die Erhaltung des kirchlichen Apparates als solchem einzufordern. Für überzeugende seelsorgliche Projekte kann die Kirche aber weiterhin mit der Beitragsbereitschaft der Gläubigen rechnen. Nicht die Trennung von Kirche und kirchlichem Geldwesen scheint die Lösung zu sein, sondern Geld und Glaube, Geld und Gemeinde, Geld und Kirche müssen einander möglichst nahe bleiben. Das Geld ist eben der nervus rerum, der auch allen Verästelungen des kirchlichen Organismus folgt und folgen muß, wenn nicht einzelne Organe unempfindlich und unbeweglich werden sollen. In diesem Sinne also muß die Geldsorge ein Teil der Seelsorge bleiben.“ Wilhelm Zauner, Kirchenbeitrag und Pastoral, Theologisch-Praktische Quartalschrift 3 (1994), S. 293 ff., hier: S. 300.

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4. Kirchensteuer und Kirchenmitgliedschaft Das innerkirchlich Ärgerniserregendste am Kirchensteuersystem ist die Tatsache, dass man sich der Kirchensteuerzahlung nur durch den Kirchenaustritt (bzw. durch die Erklärung des Kirchenaustrittes) entziehen kann und dass diese Kirchenaustrittserklärung dann noch mit der Exkommunikation bestraft wird. „Das darf doch nicht wahr sein!“ schimpft man von links und rechts. Und selbst in der Mitte unserer Gemeinden wird die Frage laut, ob diese zwanghafte Koppelung erlaubt sei. Wenn man sich diese abstrakte Fragestellung an einem konkreten Beispiel veranschaulicht, wird das Ganze noch dramatischer. Ein reicher, ein sehr reicher Katholik, der in Frankreich oder Italien seiner Kirche regelmäßig jährlich einen Betrag von etwa 600.000 DM spenden würde, stünde in höchstem Ansehen und würde vermutlich einen päpstlichen Orden erhalten. Es wäre durchaus möglich, dass ein deutscher Katholik mit gleichem Einkommen jährlich Kirchensteuern in Höhe von 1 Mio. DM zahlen müsste. Wegen des Steuergeheimnisses bliebe dies anonym, niemand würde es zur Kenntnis nehmen. Und wenn dieser Katholik gar auf den Gedanken käme, mit dem Generalvikariat darüber zu verhandeln, ob man auch mit 800.000 DM zufrieden wäre, müsste er von uns einen negativen Bescheid erhalten, da wir verpflichtet und vereidigt sind, nach Recht und Ordnung zu handeln. Es bliebe diesem Katholik also nichts anderes übrig, als aus der Kirche auszutreten. Und selbst wenn er nach dem Austritt 600.000 DM spenden würde, wäre er nach der geltenden Ordnung exkommuniziert. Dieser Fall ist nicht völlig konstruiert und lebensfremd, allerdings ist er exotisch und stellt eine extreme Ausnahme dar. In der Wirklichkeit sind Kirchenaustritte, auch wenn sie mit Hinweis auf die Kirchensteuerzahlung geschehen, anders motiviert. In der gängigen Kritik von „links“ sagt man, dass man eine Kirche mit seinen Kirchensteuern nicht mehr unterstützen will, die den Frauen die Menschenrechte verweigert, weil sie nicht zur Priesterweihe zugelassen werden, die ferner gegen fundamentale Menschenrechte verstößt, weil Gemeinschaften von Homosexuellen und Lesben nicht kirchlich anerkannt werden, die überhaupt in ihrer ganzen Verfassung undemokratisch ist usw.60 Von rechts werden als Gründe für Kirchensteuerverweigerung genannt: Duldung der Leugnung der Gottheit Christi; Priesterausbildung in der Hand ,notorischer Häretiker’; Propagierung der Erlaubtheit des vorehelichen sexuellen Verkehrs durch Moraltheologen, Priester und Jugendfunktionäre; Bischöfe, die dem Papst ungehorsam sind und ihm entgegenarbeiten und anderes mehr.61 Und dann gibt es die große Zahl derer, die es einfach leid sind, eine Kirche finanziell zu unterstützen, mit der sie noch nie echt etwas zu tun hatten oder zu der sie völlig den Kontakt verloren haben. Welchen Sinn macht es auch, eine Gemeinschaft finanziell (möglicherweise mit erheblichen Beiträgen) zu unterstützen, zu der man innerlich überhaupt keine Beziehung mehr hat? 60 Vgl. Lohmann, S. 66 f. 61 Andreas Schönberger, Kirchensteuer und Kirchenaustritte, Der Fels 3 (1995), S. 84 (im Folgenden zitiert: Schönberger).

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Wie ist nun aus innerkirchlicher Sicht der vor einer staatlichen Behörde erklärte und durch staatliches Recht geregelte Kirchenaustritt zu bewerten? Zweifellos kann solch eine Erklärung nicht ohne Folgen für die Kirchenzugehörigkeit bleiben. Darauf haben die deutschen Bischöfe in einer Erklärung vom Januar 1970 hingewiesen: „Der Austritt hat nicht nur Wirkungen im staatlichen Bereich, sondern auch in der Kirche. Die Ausübung der Grundrechte eines katholischen Christen ist untrennbar von der Erfüllung seiner Grundpflichten. Wenn also ein Katholik seinen Austritt aus der Kirche erklärt – aus welchen Gründen auch immer –, so stellt dies eine schwere Verfehlung gegenüber der kirchlichen Gemeinschaft dar. Er kann daher am sakramentalen Leben erst wieder teilnehmen, wenn er bereit ist, seine Austrittserklärung rückgängig zu machen …“62

Der Kirchenaustritt lässt sich allerdings nicht eindeutig in die herkömmlichen Deliktsformen der Apostasie (Glaubensabfall) oder der Häresie (Irrglauben) einordnen. Die Beweggründe zum Kirchenaustritt können sehr verschiedener Natur sein (zum Beispiel Glaubensabfall, Irrglauben, politischer oder wirtschaftlicher Druck, Kirchensteuer, Verärgerung) und erfordern jeweils eine besondere Würdigung bei der Prüfung der Schuldfrage. Hiervon abgesehen ist der Kirchenaustritt, so wie er sich in der Austrittserklärung kundgibt, ein öffentliches Lossagen von der Kirche, also in jedem Fall Trennung von der kirchlichen Einheit (Schisma), und zieht die von selbst eintretende Exkommunikation nach sich. Wenn ein katholischer Christ aus der Kirche austritt, obgleich er innerlich am katholischen Glauben festhält, ist die Exkommunikation nicht eindeutig gegeben. Aus diesem Grund ist in einzelnen Diözesen, so auch im Erzbistum Köln, die Exkommunikation als Tatstrafe für den angesprochenen Fall eigens angedroht. In der Kölner Diözesansynode von 1954, die in diesem Punkt auch nach Inkrafttreten des neuen kirchlichen Gesetzbuches (von 1983) weiterhin Geltung hat, heißt es in Dekret 610 § 2: „Ein Katholik, der aus politischen oder steuerlichen Gründen oder wegen anderer äußerer Rücksichten, obwohl er innerlich am Glauben festhält, vor dem weltlichen Gericht seinen Austritt aus der Kirche erklärt, verfällt ohne weiteres der vom Ordinarius verhängten und diesem zur Lossprechung vorbehaltenen Strafe der Exkommunikation.“

Aus pastoraler Sicht argumentiert man dagegen, dass die Kirche die Verweigerung der Kirchensteuer, Austrittserklärung im Sinne einer Selbst-Exkommunikation und Glaubensabfall nicht miteinander automatisch verkoppeln dürfe. Man lösche den glimmenden Docht nicht aus, schon gar nicht des Mammons willen.63 Auch die Kirchenrechtlerin Ilona Riedel-Spangenberger von der Theologischen Fakultät Trier stellt seit einiger Zeit die Frage, ob es richtig sei, die Kirchensteuerverweigerung durch staatlich vollzogenen Kirchenaustritt innerkirchlich als strafbare Pflichtverletzung anzusehen.64 Trotz dieser Überlegungen und In62 Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln v. 15.1.1970, Nr. 15. 63 Vgl. in: „Der Fels“, September 1992, zitiert nach: Lohmann, S. 72 f.; vgl. auch Schönberger, S. 84. 64 Ilona Riedel-Spangenberger, Kirchenzugehörigkeit und Kirchensteuer, Trierer Theologische Zeitschrift, März 1993, S. 286 ff.

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fragestellungen halte ich die konkrete Rechtslage in unserem Erzbistum für richtig und verantwortbar. Faktisch gibt es höchst selten den Kirchenaustritt eines religiös überzeugten und engagierten Katholiken, der wirklich in der konkreten Gemeinschaft mit Papst und Bischöfen bleiben will. Die Texte linker und rechter Gruppierungen zeigen, dass man in wesentlichen Punkten eine andere Kirche will, wenn man auch im Blick auf die Kirchensteuer zum Kirchenaustritt auffordert. Die Korrespondenz mit solchen, die den Kirchenaustritt in Erwägung ziehen oder vollzogen haben, bestätigt, dass in all diesen Fällen sehr wohl der Glaube und die Gemeinschaft mit der konkreten Kirche ins Spiel kommen, selbst wenn nach außen der Kirchenaustritt mit der Verweigerung der Kirchensteuerzahlung begründet wird. Die Höhe der Kirchensteuer ist, gemessen an dem, was in der Geschichte der Kirche üblicherweise zum Unterhalt der kirchlichen Arbeit gezahlt wurde (nämlich der Zehnte), vergleichsweise gering. Im Durchschnitt zahlt man heute bei uns nur 2 % seines Einkommens, wenn man die steuerliche Abzugsfähigkeit der Kirchensteuer mit bedenkt.65 Wer also um eines vergleichsweise geringen Betrages willen die Kirche verlässt, ist entweder von einer höchst fragwürdigen Hartherzigkeit geleitet, obwohl er als Christ verpflichtet ist, die Kirche in ihren Werken angemessen zu unterstützen, oder, was sehr viel häufiger der Fall sein dürfte, er stimmt inhaltlich in wesentlichen Punkten mit dieser Kirche nicht mehr überein, sodass doch Apostasie, Häresie oder Schisma mit dem Kirchenaustritt gegeben sind. 5. Kirche und Geld – Wo bleibt das Armutsideal? Zum Schluss ein Wort zu dem ganz grundsätzlichen Thema: Kirche und Geld. Als Jesus die Jünger auf den Weg schickte mit dem Auftrag, das Reich Gottes zu verkünden und zu heilen, geschah dies ausdrücklich mit der Weisung, nicht Gold-, Silber- und Kupfermünzen in den Gürtel zu stecken, vielmehr auf den Geldbeutel ganz zu verzichten.66 Wenn die Katholische und die Evangelische Kirche in Deutschland zur Zeit jährlich etwa 17 Mrd. DM Kirchensteuer einnehmen und ausgeben, müssen sie sich die Frage gefallen lassen, ob dies noch im Einklang mit dem Auftrag Jesu steht. Wo bleibt das Armutsideal?67 In der heutigen Diskussion wird oft der „äußere Reichtum“ der Kirche ihrer „inneren Armut“ gegenübergestellt. So meint Eugen Drewermann, der Reichtum habe die Kirche „faul“ gemacht. Daher liege im Zusammenbruch ihrer Finanzgrundlage eine Chance. Die Abschaffung der Kirchensteuer würde dazu führen, dass wir ab sofort eine andere Kirche hätten, sie wäre viel agiler und würde den Menschen wieder ernst nehmen.68 Ich bin sehr skeptisch, ob diese Überlegung richtig ist und ob die Gleichung aufgeht: Weniger Geld bedeutet mehr Glaube, Hoffnung und Liebe. So einfach ist es wohl nicht. Die Erfahrung 65 Vgl. oben III.1.: 17 Mrd. DM für das Gemeinwohl statt für den privaten Konsum. 66 Vgl. Mt 10,9; Lk 9,2 f.; 10,4; 22,35. 67 Vgl. Marré, Kirchenfinanzierung, S. 51 f.; dort auch weitere Literatur zum Postulat christlicher Armut und zum Umgang mit Geld. 68 Berliner Morgenpost v. 18.4.1992, zitiert nach: Branahl, S. 40.

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lehrt, dass gerade auch aus dem materiellen Mangel die Gier nach materieller Verbesserung und die Fixierung auf das Materielle erwachsen können. Nachdenklicher machen da schon der Ausspruch Heinrich Flattens, der bereits vor Jahrzehnten diagnostizierte: „Ein harter Kontrast – eine reiche Kirche, aber arm an Christen“69 und Peter Eichers Klage, die Kirche werde „in dem Moment, in dem der bestmögliche finanzielle Zustand erreicht ist, unselbständig und fantasielos gegenüber der Gesellschaft“70. Allerdings auch angesichts dieser zweifellos im Kern berechtigten kritischen Anfrage muss man vor kurzschlüssigen Rezepten warnen. Der Ausweg aus dieser Situation ist nicht durch eine größere Bescheidenheit und Verzicht auf Geld zu finden. So wenig „Reichtum“ mit „Lebendigkeit“ identisch ist, so wenig ist „Armut“ mit „Glaubwürdigkeit“ gleichzusetzen. Für den Christen der Neuzeit ist es eine Überraschung, wenn er hört, dass in frühchristlicher Zeit die Ortskirche nicht nur über viel Geld verfügen durfte, sie sollte „reich“ sein.71 In der Kirchengeschichte ist bis zu den Armutsbewegungen des hohen Mittelalters keine durchdringende Stimme laut geworden, die eine materielle Armut der ganzen Kirche gefordert hätte. Der einzelne Christ, insbesondere der Klerus, sollte möglichst asketisch leben, nicht aber die Kirche als solche. Erst seit dem heiligen Franziskus hat das Thema „Kirche und Geld“ einen ganz anderen Klang bekommen. In frühchristlicher Zeit galt auch für die Kirche der Grundsatz: „Eigentum verpflichtet“ – letztlich immer zur Nächstenliebe, dem eigentlichen Maßstab christlichen Tuns. Ohne Geld keine Kultur, ohne Geld keine Diakonie, ohne Geld keine Mission. Es wäre gut, wenn wir durch das Beispiel der frühen Kirche zu einem unbefangenen Umgang mit dem Geld der Kirche kämen, um das Geld ganz für den Auftrag Jesu in Anspruch zu nehmen. Allerdings sollten wir durch Franziskus auch unser Gewissen schärfen lassen, damit wir – als Kirche und als einzelne Christen – nicht den Verlockungen des Geldes erliegen. In der aktuellen Diskussion um die Kirchensteuer kann man immer gute Argumente für die Beibehaltung des Systems ins Feld führen. Dies geschieht auch. Dennoch wird die Diskussion deshalb nicht beendet, denn sie ist weitgehend von Motiven bestimmt, die nicht unmittelbar mit dem Kirchensteuersystem etwas zu tun haben und bisweilen irrational sind. Die einen argumentieren als Gegner der Kirche, die nur ein Ziel haben, die Kirche zu treffen und zu schwächen. Dabei setzen sie an der Kirchensteuerdiskussion an. Es ist ein Einstieg, es geht aber um viel mehr. Ähnlich sieht es bei denen aus, die sich zwar zur Kirche bekennen, diese aber mehr oder weniger radikal reformieren wollen. Auch für sie ist die Kirchensteuerdiskussion nur ein Einstieg, um ihre Reformideen umzusetzen. Trotz aller guten Argumente muss man damit rechnen, dass die Diskussion um die Kirchensteuer deshalb weitergeht und möglicherweise noch 69 Flatten, S. 13. 70 FAZ v. 31.8.1990. 71 Vgl. Reinhard Staats, Die Ortskirche soll reich sein. Ein Grundsatz frühchristlicher Wirtschaftsethik, Diakonia, Juli 1988, S. 236 ff.; ders., Die missionarische Funktion des Geldes – historische und aktuelle Perspektiven, Caritas: Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft, Juni 1990, S. 252 ff.

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heftiger wird als heute. Je nachdem, wie die innerkirchliche Situation in Zukunft sein wird und wie die gesellschaftliche Akzeptanz der Kirchen in den kommenden Jahren aussieht, kann es deshalb auch zu einer Gefährdung des Systems kommen. Dennoch sollten die Kirchen der Diskussion um die Kirchensteuer mit Gelassenheit begegnen. In den letzten vierzig Jahren wurde verantwortungsvoll mit dem Geld der Kirchensteuerzahler gearbeitet – zum Wohl der Kirchen in Deutschland, zur Entlastung des Staates in vielen Bereichen, mit dem Gewinn eines qualifizierten, pluralen Angebotes vor allem im Sozial- und Bildungsbereich und zur Unterstützung der Armen und Notleidenden (Christen und Nichtchristen) in aller Welt. Der Diskussion um die Kirchensteuer können die Christen auch deshalb ohne jede Angst begegnen, weil jeder Gläubige weiß, dass die Kirche nicht mit der Kirchensteuer steht und fällt.

Kirche und Geld Ein Dauerthema – Schwerpunkte heute Inhaltsübersicht I. Neue Anlässe und Akzente II. Wie vermögend ist die Kirche? III. Transparenz

1. Bewertung 2. Verwendung 3. Kontrolle IV. Staatsleistungen

Vor fast 20 Jahren wurde in der Schriftenreihe der Kölner Juristischen Gesellschaft als Band 19 mein Aufsatz veröffentlicht „Kirchensteuer in der Diskussion – Publizistisch, politisch, volkswirtschaftlich, rechtlich und theologisch“. Schon damals stellte ich am Ende des Aufsatzes fest, dass die Diskussion um die Kirchensteuer mit Sicherheit weitergeht. Allerdings sind in den letzten Jahren kaum wesentlich neue Argumente pro und contra in die Diskussion eingebracht worden. Das Dauerthema „Kirche und Geld“ ist in dieser Zeit aber grundsätzlicher und heftiger diskutiert worden. Deshalb gelten die folgenden Überlegungen diesem Themenbereich.

I. Neue Anlässe und Akzente Einen ersten, sehr grundsätzlichen Anstoß, über das Thema Kirche und Geld nachzudenken, gab Papst Benedikt XVI. in seiner inzwischen berühmten Freiburger Rede am 25. September 2011: „Die Säkularisierungen – sei es die Enteignung von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder ähnliches – bedeuten nämlich jedes Mal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt.“ Bei diesen Worten dachte ich damals an Kar92

Norbert Feldhoff

heftiger wird als heute. Je nachdem, wie die innerkirchliche Situation in Zukunft sein wird und wie die gesellschaftliche Akzeptanz der Kirchen in den kommenden Jahren aussieht, kann es deshalb auch zu einer Gefährdung des Systems kommen. Dennoch sollten die Kirchen der Diskussion um die Kirchensteuer mit Gelassenheit begegnen. In den letzten vierzig Jahren wurde verantwortungsvoll mit dem Geld der Kirchensteuerzahler gearbeitet – zum Wohl der Kirchen in Deutschland, zur Entlastung des Staates in vielen Bereichen, mit dem Gewinn eines qualifizierten, pluralen Angebotes vor allem im Sozial- und Bildungsbereich und zur Unterstützung der Armen und Notleidenden (Christen und Nichtchristen) in aller Welt. Der Diskussion um die Kirchensteuer können die Christen auch deshalb ohne jede Angst begegnen, weil jeder Gläubige weiß, dass die Kirche nicht mit der Kirchensteuer steht und fällt.

Kirche und Geld Ein Dauerthema – Schwerpunkte heute Inhaltsübersicht I. Neue Anlässe und Akzente II. Wie vermögend ist die Kirche? III. Transparenz

1. Bewertung 2. Verwendung 3. Kontrolle IV. Staatsleistungen

Vor fast 20 Jahren wurde in der Schriftenreihe der Kölner Juristischen Gesellschaft als Band 19 mein Aufsatz veröffentlicht „Kirchensteuer in der Diskussion – Publizistisch, politisch, volkswirtschaftlich, rechtlich und theologisch“. Schon damals stellte ich am Ende des Aufsatzes fest, dass die Diskussion um die Kirchensteuer mit Sicherheit weitergeht. Allerdings sind in den letzten Jahren kaum wesentlich neue Argumente pro und contra in die Diskussion eingebracht worden. Das Dauerthema „Kirche und Geld“ ist in dieser Zeit aber grundsätzlicher und heftiger diskutiert worden. Deshalb gelten die folgenden Überlegungen diesem Themenbereich.

I. Neue Anlässe und Akzente Einen ersten, sehr grundsätzlichen Anstoß, über das Thema Kirche und Geld nachzudenken, gab Papst Benedikt XVI. in seiner inzwischen berühmten Freiburger Rede am 25. September 2011: „Die Säkularisierungen – sei es die Enteignung von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder ähnliches – bedeuten nämlich jedes Mal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt.“ Bei diesen Worten dachte ich damals an Kar92

Kirche und Geld: Ein Dauerthema – Schwerpunkte heute

dinal Höffner, der oft gesagt hat, er sei dankbar, dass seinen Vorgängern durch die Säkularisierung das Schwert der Kurfürsten genommen worden und ihm nur der Bischofsstab geblieben sei. Papst Benedikt XVI. fuhr dann in der damaligen Rede fort: „Die von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“ Papst Franziskus hat das Thema mit seinem Wunsch einer „armen Kirche für die Armen“ konkretisiert und zugespitzt. Nach dem Grazer Bischof Egon Kapellari hat Papst Franziskus „das Thema Armut der ganzen Kirche mit Nachdruck auf den Tisch gelegt“ und nach einem österreichischen Journalisten hat er das Thema Armut „zu seinem programmatischen Markenzeichen gemacht“1. Vor diesem Hintergrund wurden die Vorgänge um den Bau der neuen Limburger Bischofsresidenz zu einem besonderen Skandal, der das Finanzgebaren der katholischen Kirche insgesamt in Misskredit gebracht hat. Wie sieht das Vermögen der Kirche aus? Wie verantwortungsvoll oder verschwenderisch geht die Kirche mit ihrem Vermögen um? Reichen die Kontrollen aus?

II.

Wie vermögend ist die Kirche?

Meine erste Antwort auf diese Frage ist kurz und klar: Ich weiß es nicht und ich behaupte, dass es niemand wirklich wissen kann. Als Carsten Frerk vor 12 Jahren sein Buch über „Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland“ vorlegte, habe ich mich als Generalvikar aus Kölner Sicht mit diesem Buch befasst.2 Wegen der vielen groben Fehler, die ich allein aus meiner Sicht feststellen konnte, kam ich zu dem Ergebnis, dass Frerks Bewertung des Vermögens der Kirchen in Deutschland mit Sicherheit weit überzogen ist und dass er bei der (zentralen) Verfügbarkeit des tatsächlich vorhandenen Vermögens einer völligen Fehleinschätzung unterliegt. Der Aufklärung dient das Buch nicht, eher der Verwirrung. Warum kann niemand eine zutreffende Aussage über das Vermögen der Kirche machen? Die Kirchen sind Glaubensgemeinschaften und keine Wirtschaftskonzerne. Die Einheit im Glauben hat noch lange nicht zur Folge, dass kirchliche Vermögen sehr unterschiedlicher Träger wirtschaftlich zusammengerechnet werden können. Selbst die katholische Kirche, die im Papst und den Bischöfen ein klares Lehr- und Leitungsamt hat, entfaltet ihre Aktivitäten seit Jahrhunderten in wirtschaftlich selbständigen Organisationen und Trägern, deren Zusammenfassung unmöglich ist und die wirtschaftlich keinen Sinn macht, da hier eine Einheit vorgetäuscht wird, die es tatsächlich nicht gibt – trotz Papst und Bischöfen.

1 Hans Winkler, Wie arm muss die Kirche, wie reich darf sie sein?, Internationale Katholische Zeitschrift Communio 1 (2014), S. 105 f. (im Folgenden zitiert: Winkler). 2 Norbert Feldhoff, Aufklärung oder Verwirrung? Zur „Bilanz“ von Carsten Frerk über „Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland“, Lebendige Seelsorge 4 (2002), S. 190 ff.

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Im 6. Jahrhundert begann der Prozess der Aufspaltung des Kirchenvermögens auf eine Vielzahl von Rechtsträgern. Die Pluralität von Rechtsträgern des Kirchenvermögens verfestigte sich im Mittelalter endgültig und erreichte zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert ihre die Kirchenverfassung bis in die Gegenwart strukturierende Grundgestalt.3 Über das Vermögen einzelner kirchlicher Institutionen, Verbände oder Vereine lässt sich aber etwas sagen. Der wahrscheinlich größte kirchliche Vermögensträger der katholischen Kirche in Deutschland ist die Kirchliche Zusatzversorgungskasse in Köln. Diese veröffentlicht jährlich ihren Lagebericht und ihre Bilanz. 2012 hatte sie ein Vermögen von gut 16 Mrd. Euro, das allerdings nur zu knapp 100 % die Verpflichtungen der Kasse gegenüber ihren Versicherten abdeckte. Es ist also kein freies Vermögen, kein Vermögen, das man beliebig einsetzen könnte oder das einen wenigstens ruhig schlafen lässt. Im Gegenteil: Die Verantwortlichen der Kasse haben bei der derzeitigen Lage am Kapitalmarkt eine große Verantwortung, langfristig die Mittel zu sichern, um die Renten der Versicherten zahlen zu können. Im Übrigen dürften die größten Erzbistümer und Bistümer in Deutschland zu den größten kirchlichen Vermögensträgern gehören. Die Haushalts- bzw. Finanzpläne der Bistümer werden seit Jahrzehnten veröffentlicht, bisher allerdings nur in Ausnahmefällen die Vermögenslage. Das hängt nicht zuletzt mit dem Rechnungswesen zusammen. Die kirchlichen Haushalte wurden genauso wie die öffentlichen Haushalte in der Vergangenheit vorwiegend im kameralistischen Rechnungswesen abgebildet, welches einen Haushaltsplan mit Einnahmen und Ausgaben zeigt. Bis zum 1. Januar 2009 mussten alle Gemeinden in Nordrhein-Westfalen das sogenannte „Neue Kommunale Finanzmanagement (NKF)“ einführen, das in wesentlichen Teilen der kaufmännischen Buchführung entspricht. Die Stadt Köln hat dieses neue Rechnungswesen zum 1. Januar 2008 eingeführt. Zum gleichen Zeitpunkt hat das Erzbistum Köln die kaufmännische Buchführung eingeführt, so dass der Jahresabschluss des Erzbistums Köln von einem externen Wirtschaftsprüfer geprüft und nach den klassischen Regeln des Handelsgesetzbuchs testiert werden kann. Das kaufmännische Rechnungswesen bietet mehr Transparenz, erfasst finanzielle Belastungen – etwa bei Versorgungszusagen – angemessen und sieht im Übrigen auch eine Bewertung der Vermögensgegenstände vor. Mit der Einführung des kaufmännischen Rechnungswesens ist ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung getan, aber man ist damit noch lange nicht am Ziel. Das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen stellte deshalb kürzlich fest – wie im Internet zu lesen ist –, dass das NKF flächendeckend in Nordrhein-Westfalen eingeführt sei, dass die Lage trotzdem noch nicht befriedigend sei und zusätzliche Anstrengungen von kommunaler Seite 3 Helmuth Pree, Grundfragen kirchlichen Vermögensrechts, in: Joseph Listl/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 2. Aufl. 1999, S. 1041 ff.

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Kirche und Geld: Ein Dauerthema – Schwerpunkte heute

notwendig seien, um zeitnahe Daten zu erhalten. Das Erzbistum Köln konnte bei der Vorlage seines Finanzplans 2014 ergänzend auch einen Bericht über das Immobilienvermögen geben. „Insgesamt verfügen das Erzbistum und der Erzbischöfliche Stuhl, die gemeinsam verwaltet werden, über Immobilien im Wert von 612 Mio. Euro. Über 80 % der Liegenschaften werden u. a. als Kirchen, Schulen und Tagungsstätten unmittelbar für die kirchliche Arbeit genutzt. Rund 20 % sind vermietet und generieren Einnahmen, die für die Arbeit des Bistums zur Verfügung stehen. Der Darstellung des Immobilienvermögens werden weitere Schritte zu mehr Transparenz folgen. Zum Jahreswechsel wird das Erzbistum einen testierten Jahresabschluss mit Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung veröffentlichen.“ So kann man im Pressedienst des Erzbistums Köln vom 27. Mai 2014 lesen. Die Zeichen der Zeit sind erkannt und ich bin zuversichtlich, dass in Zukunft immer mehr Erzbistümer und Bistümer ihr Vermögen offenlegen.

III. Transparenz Zu Recht stellte der Kölner Generalvikar Stefan Heße jüngst in einem Artikel fest, dass nach seiner festen Überzeugung – innerhalb vertretbarer Fristen – vollständige Transparenz über die kirchlichen Finanzen hergestellt werden muss. „Eine solche Transparenzoffensive bedeutet für die Kirche eine enorme Kommunikationsanstrengung.“4 Dies ist kein einmaliger Vorgang, sondern ein Dauerauftrag mit sehr unterschiedlichen Aspekten. 1. Bewertung Ein erster entscheidender Aspekt ist die Bewertung des kirchlichen Immobi­ lienvermögens. Bei wirtschaftlich genutzten Immobilien gibt es klare Be­ wertungsregeln. Wie aber bewertet man Kirchen, Kapellen, Pfarrheime, Kin­ dergärten, Schulen, Bildungshäuser, Krankenhäuser? Alle Immobilien, die liturgischen, pastoralen, sozialen Zwecken und Bildungsaufgaben dienen, werfen keine Erträge ab oder zumindest keine ausreichenden Erträge. Sie müssen vielmehr mit hohem Aufwand unterhalten werden. Ein Musterbeispiel für eine abenteuerliche Bewertung sind die Überlegungen von Carsten Frerk zum Wert des Kölner Doms.5 „Auch den Kölner Dom kann man verkaufen, wenn man es denn so will. Also wollen wir mal. Interessenten gäbe es vermutlich genug – wie so häufig wird es eine Frage des Preises sein. Lässt sich der Verkaufspreis des Kölner Domes (oder irgendeiner anderen Großkirche des kulturellen Erbes) feststellen? Nein. Aus dem schlichten Grund, weil er bisher nicht zum Verkauf angeboten wurde und deshalb keinen Marktpreis hat. Aber der Dom steht auf einem der teuersten Grundstücke in Köln: 4 Stefan Heße, Die Kirche und das liebe Geld. Der Umgang mit den Bistumsfinanzen, Lebendiges Zeugnis 1 (2014), S. 14 ff., hier: S. 23 (im Folgenden zitiert: Heße). 5 Carsten Frerk, Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland, 2002, S. 220 f. (im Folgenden zitiert: Frerk).

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beste City-Lage, direkt neben dem Bahnhof – ein wunderbarer Platz für ein modernes, riesiges Einkaufszentrum mit Großkino und Veranstaltungszentrum. Wie wird der Kölner Dom bisher genutzt? Als Gebäude für Gottesdienste und Andachten … In der Frage einer weitergehenden Nutzung gehen die Meinungen weit auseinander. Von der totalen Verneinung: ‚Der is’ ja immer noch nicht fertig und kostet Unsummen an Reparaturen‘, bis hin zur wohlmeinenden Ansicht: ‚Na klar, wäre doch eine tolle Event-Location, und als Eros-Center käme das richtig gut. Die roten Laternchen sind doch auch schon drin, und die Beichtstühle sind doch gute Séparées.‘“ Im Rahmen einer folgenden „Wertschätzung“ der Großkirchen in Deutschland ordnet Frerk den Kölner Dom zu den 20 teuersten Kirchen in Deutschland mit 500 Mio. DM ein, bemerkt aber, es sei eine müßige Diskussion, „ob denn nun der Kölner Dom nicht auch mit 1 Milliarde oder mehr zu beziffern sei“6. Wenn man alle religiösen und kulturellen Wertschätzungen des Kölner Doms und alle Regeln des guten Anstandes außer Acht lässt und die oben zitierte „wohlmeinende“ Umnutzung des Kölner Doms ins Auge fasst, kann man doch die berechtigte Frage stellen, ob selbst bei einer solchen Umnutzung so viel zu erwirtschaften ist, dass der Dom als Gebäude überhaupt unterhalten werden kann. Das sind zurzeit jährlich 6 bis 7 Mio. Euro. Zweifellos sind diese Überlegungen absurd. Sie machen aber deutlich, wie schwierig es ist, zu einer allgemein akzeptierten Bewertung kirchlicher, nicht wirtschaftlich genutzter Immobilien zu kommen. Kritik wird es immer geben. Die Bewertungskriterien müssen auf jeden Fall offengelegt werden und es wäre sehr zu wünschen, dass wenigstens alle Bistümer in Deutschland nach denselben Bewertungsregeln vorgingen, um dann unter den Bistümern auch Vergleiche ziehen zu können. 2. Verwendung Die Bewertung des Vermögens ist eine schwierige Aufgabe. Entscheidend ist aber offenzulegen, wofür die Kirche ihr Vermögen, ihr Geld verwendet. Die Veröffentlichung der Haushaltspläne, die schon lange geschieht, ist zweifellos ein wichtiger erster Schritt, der aber verbessert werden kann und verbessert werden muss, gerade vor dem Hintergrund, dass Papst Franziskus sich eine „arme Kirche für die Armen“ wünscht. Der Jesuit Jörg Alt bemerkte dazu in einem Artikel, man gewinne den Eindruck, „dass er seinen Ausruf eher als theologisch-spirituelle Herausforderung betrachtet denn als Vorsatz zur Herbeiführung einer materiell armen Kirche.“ Und etwas weiter stellt er dann fest: „Welche Kirche wünschen sich die Armen selbst? Als die Nürnberger Jesuitenmission Arme im In- und Ausland, Projektpartner sowie Freiwillige in armen Ländern bat, ihre Meinung zum PapstWunsch zu äußern, waren die Antworten ebenso überraschend wie eindeutig: 6 Frerk, S. 230.

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Die Armen wünschen sich keine materiell arme Kirche. Sie wollen eine Kirche, die glaubwürdig an ihrer Seite steht, materiell ihre Armut lindert und ihnen darüber hinaus hilft, dass sie sich aus der Armut befreien können – also eine Kirche, die Hilfswerke, Krankenhäuser und Schulen unterhält und effektive Anwaltschaft für die Armen betreibt.“7 Das Ergebnis dieser Befragung stimmt überein mit dem kirchlichen Selbstverständnis, wie es im Kirchlichen Gesetzbuch zum Ausdruck kommt. Danach hat die katholische Kirche das Recht, Vermögen zur Verwirklichung der ihr eigenen Zwecke zu erwerben, zu besitzen und zu verwalten, und als eigene Zwecke werden vor allem genannt: „Die geordnete Durchführung der Gottesdienste, die Sicherstellung des angemessenen Unterhalts des Klerus und anderer Kirchenbediensteter, die Ausübung der Werke des Apostolats und der Caritas, vor allem gegenüber den Armen.“8 Hier wird nicht von einer armen Kirche gesprochen, sondern von einer vermögenden Kirche. Das Vermögen darf aber nur zur Erfüllung der kirchlichen Aufgaben eingesetzt werden. Es darf nicht zum Selbstzweck werden und es darf auch nicht zu einer von der Aufgabenerfüllung losgelösten Anhäufung von Reichtümern kommen.9 Wichtig ist in diesem Canon auch, dass vor allem die Sorge für die Armen und die soziale Verpflichtung der Kirche für ihre Mitarbeiter angesprochen werden. Wenn das Erzbistum Köln eine Rückstellung in dreistelliger Millionenhöhe aufbaut, um die hohen Pensionslasten abzudecken, kann man das nicht als Anhäufung von Reichtum verstehen. Es ist vielmehr Ausdruck sozialer Verantwortung, die die Kirche wahrnimmt, im Unterschied zur öffentlichen Hand, die diese Lasten im Wesentlichen auf die nächsten Generationen verschiebt. Die Verwendung der kirchlichen Finanzmittel muss sich an den Grundfunktionen der Kirche – Gottesdienst, Verkündigung, Diakonie – messen lassen. Allerdings ist auch die Förderung der Kultur ein kirchlicher Grundauftrag, der nicht hinter diesen drei Grundfunktionen steht. Die Kirche gestaltet die menschliche Kultur, indem sie ihre Grundfunktionen wahrnimmt. Die Förderung der Kultur ist ein spezieller Anwendungsfall der christlichen Weltverantwortung und kann niemals dem Grunde nach in Frage gestellt werden. So konnte das Erzbistum Köln wegen rechtzeitiger und umfassender Beteiligung verschiedener diözesaner Gremien und bei entsprechender Öffentlichkeits­ arbeit auch Verständnis für den Neubau des Diözesanmuseums Kolumba gewinnen. Der Wunsch von Papst Franziskus einer armen Kirche für die Armen ist ernst zu nehmen und nicht durch Interpretationskünste abzuschwächen. Die glaubwürdige Verwendung der kirchlichen Finanzmittel ist nicht mit einer einmaligen Veröffentlichung im Hochglanzformat oder im Internet belegt. Er fordert eine dauerhafte institutionelle Gewissenserforschung, nicht aber einen Auszug aus den Kathedralen oder eine Beseitigung des Schönen aus der Kirche.10 7 Jörg Alt SJ, Eine arme Kirche für die Armen, Stimmen der Zeit 6 (2014), S. 361 f. 8 Can. 1254 CIC. 9 Vgl. Gemeinsame Synode Gesamtausgabe II, S. 208. 10 Vgl. Egon Kapellari, in: Winkler, S. 107.

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3. Kontrolle Entscheidend für eine glaubwürdige Finanzverwaltung ist immer eine qualifizierte Kontrolle. Das katholische Kirchenrecht hat seit 1983 moderne, ausreichende Rahmenregelungen für den Erwerb und die Verwaltung des Kirchenvermögens geschaffen.11 Auf der Diözesanebene stehen dem Bischof in Finanz- und Vermögensfragen zwei Gremien beratend zur Seite, an deren Zustimmung er aber auch in vielen Fällen gebunden ist. Dies sind der Vermögensverwaltungsrat12 und das Konsultorenkollegium13. Es gibt nun eine durchaus verständliche Kritik an der Unabhängigkeit dieser beiden Gremien, denn die Mitglieder werden vom Diözesanbischof berufen. Können sie dann überhaupt sachlich kritisch und persönlich unabhängig die Vorhaben des Bischofs in finanziellen Fragen beraten oder gar ablehnen? Natürlich dürfen sie das, ob sie es aber tun, hängt von der Persönlichkeit eines jeden Einzelnen ab. Ich werde dabei an das erinnert, was ich von meinem Theologieprofessor Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., im Studium gelernt habe. Seine Überlegungen hat er schon damals in einem Aufsatz veröffentlicht, der später in einem Sammelband noch einmal abgedruckt wurde.14 In diesem Aufsatz fordert Ratzinger eine Erziehung zum „nüchternen Gehorsam“ in der Kirche, „der aus der Wahrheit kommt und in die Wahrheit führt. Was der Kirche von heute (und zu allen Zeiten) Not tut, das sind nicht die Lobredner des Bestehenden, sondern die Menschen, in denen die Demut und der Gehorsam nicht geringer sind als die Leidenschaft für die Wahrheit. Die Menschen, die Zeugnis geben aller möglichen Verkennung und Anfechtung zum Trotz, die Menschen, mit einem Wort, die die Kirche lieben und die die Kirche mehr lieben als die Bequemlichkeit und Unangefochtenheit ihres eigenen Schicksals“15. Wenn das schon ganz allgemein und grundlegend für den Freimut des Christen und die Kritik in der Kirche gilt, um wie viel mehr dann, wenn ein Bischof „nur“ in Finanzangelegenheiten beratend oder mitentscheidend begleitet wird. Dass die Mitglieder der handelnden Gremien nicht immer den notwendigen „Freimut eines Christen“ haben und nicht immer in vollem Umfang ihrer Verantwortung gerecht werden, ist leider eine Tatsache, nach meiner Erfahrung aber die Ausnahme. Im Übrigen sollte man bedenken, dass die auf allen öffentlichen Ebenen tätigen gewählten Gremien aus sehr unterschiedlichen Gründen leider häufig nicht ihrer Verantwortung in Finanzfragen voll gerecht werden. Das belegen die jährlichen Feststellungen der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder, sowie die Berichte des Bundes der Steuerzahler. Erfreulich ist in diesem Zusammenhang, dass das Limburger Domkapitel eigene schwere Feh11 Can. 1254–1310 CIC, vgl. auch Joseph Listl/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 2. Aufl. 1999, S. 1093 ff. 12 Can. 492 CIC; im Erzbistum Köln heißt das Gremium Diözesanverwaltungsrat. 13 Can. 502 CIC; in Deutschland werden die Aufgaben dieses Gremiums von den Domkapiteln wahrgenommen. 14 Joseph Ratzinger, Freimut und Gehorsam. Das Verhältnis des Christen zu seiner Kirche, in: Joseph Ratzinger, Das neue Volk Gottes. Entwürfe zur Ekklesiologie, 1969, S. 249 ff. (im Folgenden zitiert: Ratzinger). 15 Ratzinger, S. 263.

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ler im Zusammenhang mit dem Bau des dortigen Bischofshauses eingeräumt und zugestanden hat, dass es seiner Rolle als Beratungs- und Kontrollgremium für den Bischof nicht im „notwendigen Maße nachgekommen“ sei und nicht „ausreichenden Widerstand geleistet“ hätte gegen die Eingriffe des Bischofs in Zuständigkeiten des Domkapitels.16 In Deutschland gibt es noch weitergehende Mitbestimmung und Kontrolle von gewählten Laiengremien. Nach can. 532 CIC vertritt der Pfarrer allein das Vermögen der Pfarrei. Nach can. 537 CIC muss in jeder Pfarrei ein Vermögensverwaltungsrat bestehen, der nach Normen des Diözesanbischofs dem Pfarrer bei der Verwaltung des Pfarrvermögens hilft. Er hat also nur eine helfende, das heißt beratende Funktion. In Deutschland gibt es sehr viel weitergehende Regelungen, die ich hier nur kurz für den nordrhein-westfälischen Bereich erwähne. Wir haben Kirchenvorstände, die von den Mitgliedern der Gemeinde gewählt werden. Der Pfarrer ist Vorsitzender des Kirchenvorstandes, aber der Kirchenvorstand fasst mit Mehrheit Beschlüsse. Auf Diözesanebene gibt es in allen Bistümern Kirchensteuerräte, die zum weit überwiegenden Teil von den Kirchenvorständen gewählt werden und die – ich kann jetzt nur für das Erzbistum Köln aus alter Erfahrung sprechen – hohe fachliche Kompetenz haben. Generalvikar Stefan Heße schreibt dazu in dem schon erwähnten Artikel: „Die Kirchensteuerräte der einzelnen Bistümer haben sehr unterschiedliche Aufgabenstellungen und damit auch sehr unterschiedliche Möglichkeiten, das Finanzgebaren der Bistümer zu kontrollieren. Das Ziel muss sein, wirklich – im Rahmen der kirchenrechtlichen Möglichkeiten – ein Gremium zu schaffen, das effizient die bischöfliche Verwaltung kontrollieren kann. Dazu müssen die Kompetenzen dieser Kirchensteuerräte deutlich erweitert werden, wobei natürlich im Blick zu halten ist, ob und wie eine solche Tätigkeit weiterhin ehrenamtlich geleistet werden kann.“17 Auch in diesem Bereich kann und soll also noch mehr für effiziente Kontrolle getan werden. Verbesserungen der Ordnungen sind wichtig, aber sie sind immer nur die eine Seite. Entscheidender ist, dass Ordnungen auch eingehalten werden. Es ist wie im Straßenverkehr: Die Straßenverkehrsordnung allein reicht nicht aus, wenn die Verkehrsteilnehmer sich nicht daran halten.

IV. Staatsleistungen Es gibt sehr unterschiedliche Staatsleistungen. An anderer Stelle habe ich mich ausführlicher mit diesem Thema befasst, deshalb belasse ich es hier bei einem kurzen Hinweis. Nach Art. 140 des Grundgesetzes wurde u. a. Art. 138 der Weimarer Verfassung von 1919 übernommen. Danach sind die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgemeinschaften 16 KNA v. 20.6.2014. 17 Heße, S. 23.

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durch die Landesgesetzgebung abzulösen. Grundsätze hierfür hat der Bund aufzustellen. Die Rechtmäßigkeit dieser Bestimmung wird von niemandem in Frage gestellt. Der Bundestag hat bis heute keine Grundsätze zur Ablösung der Staatsleistungen aufgestellt und die Landesregierungen scheinen erhebliche Bedenken zu haben, dass im Falle der Ablösung unerfüllbare finanzielle Forderungen auf sie zukommen, was auch der nordrhein-westfälische Finanzminister Norbert Walter-Borjans auf einer Veranstaltung am 16. Juni 2014 im Landtag Nordrhein-Westfalen zum Thema „Staat und Kirche in NRW“ ausdrücklich bestätigte. Die Sicht der Kirche sollte eine andere sein, wenn das Bestehen auf einem Rechtstitel letztlich dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit der Kirche schadet. Schon das Zweite Vatikanische Konzil hat vor fast 50 Jahren festgestellt: Die Kirche „wird sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, dass durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist und wenn veränderte Lebensverhältnisse eine andere Regelung fordern“18. Nach Stefan Heße stellen die Staatsleistungen für die Menschen nach derzeitigem Stand das größte Ärgernis dar.19 Zum Schluss darf ich nochmal Stefan Heße zitieren, weil diese Aussage hoffnungsvoll stimmt. Seines Erachtens muss die aktuelle Debatte um das Geld der katholischen Kirche ernst genommen werden und es muss adäquat darauf reagiert werden. „Nur so kann auf lange Sicht verloren gegangenes Vertrauen überhaupt zurückgewonnen werden. Die Kirche ist auf das Vertrauen der Gläubigen angewiesen – auch materiell.“20

18 Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Art. 76. 19 Heße, S. 24. 20 Heße, S. 22.

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Das Bürgerliche Gesetzbuch während des ­Nationalsozialismus und in der DDR – mögliche Aspekte und Grenzen eines Vergleichs* Inhaltsübersicht Vorwort I. Einleitung II. Darf man das Zivilrecht in der DDR mit dem Zivilrecht während des Nationalsozialismus vergleichen? III. Rückblick: Juristische Vergleichsper­ spektiven IV. Umwertung – eine plausible Vergleichsperspektive? 1. Der Abschied vom freiheitlichen Privatrechtsbegriff als vergleichstragende Besonderheit 2. Umwertung als gemeinsames Problem

a) Umwertung des BGB durch den Gesetzgeber im Vergleich b) Umwertung des BGB durch die Richter V. Alternative Vergleichsperspektiven 1. Normdurchsetzung 2. Konfliktsoziologie – Einblicke in das Berliner DFG-Projekt zur Zivilrechtskultur der DDR VI. Schluss Anhang I Anhang II Nachwort

Vorwort Der Vortrag wurde am 24.6.2004 vor der Kölner Juristischen Gesellschaft gehalten. Ich danke Herrn Prof. Dr. Manfred Lieb und der KJG für die ehrenvolle Einladung. Der Text hat inzwischen eine eigene Geschichte. Ursprünglich konzipiert für eine Veranstaltung der Volkshochschule Frankfurt a.M. zur Geschichte des BGB, wurde er, immer wieder umgearbeitet, 2002 in Mannheim im Rahmen der Ausstellung „Justiz im Nationalsozialismus“ und 2003 vor dem Rheinischen Verein für Rechtsgeschichte in Köln gehalten. Durchweg haben nachfolgende engagierte Diskussionen den Text nicht unberührt gelassen und gezeigt, wie schwierig der Umgang gerade mit der Deutschen Teilung immer noch ist. Der nun vorgelegte Text ist mit einigen Nachweisen versehen worden und entspricht ansonsten weitgehend der Vortragsform. Die entscheidenden Prägungen für die gewählte Perspektive entstammen meiner Zeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. In der täglichen Zusammenarbeit erlebten wir hier ein Zusammenwachsen zwischen Ost und West. Gerade als „Westler“ konnte man sich einer Auseinandersetzung mit der zweiten Deutschen Geschichte nach 1945 nicht entziehen. „Dit war allet janz anders“ – * Vortrag, gehalten am 24.6.2004 vor der Kölner Juristischen Gesellschaft, veröffentlicht in der Schriftenreihe der Kölner Juristischen Gesellschaft Band 30, 2005.

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dieser Satz von Zeitzeugen weckte die Neugier für ein wirkliches Verstehen einer uns Bundesdeutschen fremden Zeit. Als unerlässlich für ein vertieftes Verständnis des DDR-Zivilrechts erwies sich meine Mitarbeit am DFG-Projekt „Zivilrechtskultur der DDR“ in den Jahren 1996 bis 2002. Ich danke dem Leiter des Projekts, Herrn Prof. Dr. Rainer Schröder, für die Erlaubnis, die teilweise noch unveröffentlichten Ergebnisse am Schluss meiner Ausführungen vorab vorstellen zu dürfen. Die von mir nicht gelieferten Nachweise werden in Kürze erscheinen in: Rainer Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR IV, 2004. Köln, im Juli 2004

Hans-Peter Haferkamp

I. Einleitung „Nun wandelt durch das deutsche Vaterland Gerechtigkeit im heimischen Gewand.“1

Die Deutsche Juristenzeitung feierte das Inkrafttreten des BGB im Jahr 1900 mit einem später viel zitierten Gedicht Ernst von Wildenbruchs. Die in diesem Gedicht anklingende Euphorie wurde freilich nicht von vielen seiner Zeitgenossen geteilt. Letztlich war es wohl nur der unbedingte Wille nach Rechtseinheit gewesen, der ein Scheitern des BGB verhindert hatte.2 Die bereits vor 1900 einsetzende Kritik am „doktrinären“ und „unsozialen“ BGB durchzog anschließend das gesamte 20. Jahrhundert.3 Das BGB galt nicht nur als liberal, sondern als liberalistisch, nicht nur als formal, sondern als formalistisch usw. Die Kritiken sind bekannt.4 Gerade die „Gerechtigkeit“ des Gesetzes, von der von Wildenbruch geschwärmt hatte, wurde also stark bezweifelt.5 Die Privatrechtsgeschichte der Neuzeit von Franz Wieacker, als „Hausbuch aller etwas gebildeteren Juristen“6 meinungsbildend für ganze Juristengenerationen, fasste 1967 fast 80 Jahre Kritik am BGB zusammen.7 Für ihn war das BGB ein

1 Ernst von Wildenbruch, Das deutsche Recht, DJZ 1900, S. l. 2 Hans Schulte-Nölke, Die späte Aussöhnung mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch, in: Das deutsche Zivilrecht 100 Jahre nach Verkündung des BGB (Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, 1996), 1997, S. 9 ff., S. 10. 3 Dieter Schwab, Das BGB und seine Kritiker, ZNR 2000, S. 325 ff.; Sybille Hofer, Haarspalten, Wortklauben, Silbenstechen? 100 Jahre Lehrbücher zum BGB: eine Lebensbilanz, JuS 1999, S. 112 ff. 4 Überblick bei Joachim Rückert, Das Bürgerliche Gesetzbuch – ein Gesetzbuch ohne Chance?, JZ 2003, S. 749 ff., S. 750 f. 5 Die Jubiläen des BGB 1996 und 2000 fielen daher auch zurückhaltend aus, vgl. etwa Norbert Horn, Ein Jahrhundert Bürgerliches Gesetzbuch, NJW 2000, S. 40 ff.; Rolf Stürner, Der hundertste Geburtstag des BGB – nationale Kodifikationen im Greisenalter?, JZ 1996, S. 741 ff.; Hans Schulte-Nölke, Die schwere Geburt des Bürgerlichen Gesetzbuches, NJW 1996, S. 1705 ff.; Mathias Schmoeckel, 100 Jahre BGB: Erbe und Aufgabe, NJW 1996, S. 1697 ff. 6 Rückert (Fn. 4), S. 750. 7 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 468 ff., 514 ff. (,,Das Privatrecht in der Krise des Positivismus“). Zu den dabei prägenden Leitbildern: Joachim Rückert, Geschichte des Privatrechts als Apologie des Juristen. Franz Wie­ acker zum Gedächtnis, Quaderni Fiorentini per la Storia del Pensiero Giuridico Moderno 24 (1995), S. 531 ff.

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Bürgerliches Gesetzbuch während des ­Nationalsozialismus und in der DDR

„spätgeborenes Kind der Pandektenwissenschaft“ und des „Liberalismus“8 – schon mit Inkrafttreten seiner Zeit entfremdet. Das BGB ist in diesem Bild also eine Kodifikation mit Charakter. Es steht für ein politisches und insbesondere wirtschaftspolitisches Modell, welches man ablehnt oder in neuerer Zeit auch begrüßt. Zu dieser sattsam bekannten Geschichte des BGB im 20. Jahrhundert tritt nun eine zweite Geschichte des BGB in eigenartigen Widerspruch: Das BGB galt seit seinem Inkrafttreten am 1.1.1900 in fünf sehr unterschiedlichen politischen Systemen: im Kaiserreich, in Weimar, während des Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik und bis 1976 in der DDR. Wenn nun das erste Bild stimmt, das BGB also ein liberales Gesetzbuch ist, wie konnte es beispielsweise in der DDR gelten? Marxisten könnten sich die Antwort leicht machen. Gesetze sind für sie nur akzessorische Überbauphänomene, die mit dem Wandel der gesellschaftlichen Basis automatisch verändert werden. Freilich: Wer ist heute noch Marxist? Wenn also Gesetzen eine Steuerungsfähigkeit eingeräumt wird, steht man vor einem schwierigen Problem. Wie soll man sich die Geltung eines liberalen Gesetzes in abgestuft antiliberalen Gesellschaften vorstellen? Um dies zu beantworten, muss man sich die Geltung des BGB in diesen mehr als hundert Jahren genauer ansehen, sei es mit Blick auf Veränderungen seines Wortlauts, sei es mit Blick auf die Anwendungspraxis. Reizvoll und eigentlich unvermeidbar ist es dabei, verschiedene Zeiträume miteinander zu vergleichen. Der Befund reizt also zu einem Systemvergleich.

II. Darf man das Zivilrecht in der DDR mit dem Zivilrecht während des Nationalsozialismus vergleichen? Zu den Schwierigkeiten des Systemvergleichs Schaut man sich nun in der Forschungslandschaft nach einem solchen Zivilrechtssystemvergleich um, so zeigt sich ein interessantes Phänomen. Ganz überwiegend9 werden immer nur zwei dieser fünf Anwendungszeiträume des BGB miteinander verglichen: der Nationalsozialismus und die DDR. Niemand vergleicht Weimar und die Bundesrepublik. Warum ist das so? Ein erster Grund hierfür liegt auf der Hand. Ein solcher Vergleich weckt Emotionen. Dies wird schnell deutlich, wenn man Bürger der ehemaligen DDR auf einen solchen Vergleich anspricht. Ein zentrales Fundament der DDR-Staatsdoktrin war das „antifaschistische“ Selbstverständnis. Teilweise berechtigt betonte man, das nationalsozialistische Erbe klarer thematisiert und beseitigt zu haben. Schon die Wahl der Vergleichsgegenstände ist also eine politische und auch verletzende Aussage.

8 Franz Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher, 1953, abgedruckt in: ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974, S. 15. 9 Ausnahme etwa Klaus Westen, Zivilrecht im Systemvergleich. Das Zivilrecht der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, 1984.

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Aus Forscherperspektive wäre dies nun dann unproblematisch, wenn ein neutraler wissenschaftlicher Vergleichsmaßstab zugrunde läge, der diesem Vergleich die politisch-moralische Dimension nehmen könnte. Dies ist bei den meisten Theorieangeboten jedoch nicht der Fall. Üblicherweise wird als ter­ tium comparationis für beide Systeme von Unrechtsstaaten, totalitären Systemen10 oder so genannten Doppelstaaten11 gesprochen. Nicht zuletzt die Untersuchungen von Kershaw12 haben nun deutlich gemacht, dass diese Theorien sämtlich stark durch den Kalten Krieg geprägt sind und im Mantel scheinobjektiver Modelle klare politische Wertungen transportieren. Sie bieten also weniger wissenschaftliche Distanz, als es zunächst scheint. Vor allem stellt sich aber ein zweites Problem: Diese Theorien sind in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entstanden. Man vergleicht also nicht DDR und Nationalsozialismus, sondern man misst die DDR am Nationalsozialismus. Die Gefahr der perspektivischen Verzerrung liegt auf der Hand. Die Übertragung des in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entwickelten Theoriehaushalts verleitet dazu, die hier erarbeiteten Ergebnisse vorschnell in die Erforschung der DDR hineinzulesen. Eine These meines heutigen Vortrages ist nun: Genau dies ist für mein Vergleichsfeld, das Privatrecht und insbesondere das BGB während des Nationalsozialismus und in der DDR, bisher vielfach der Fall gewesen. Die Ergebnisse der NS-Forschung werden also in die Erforschung der DDR hineingelesen.

III. Rückblick: Juristische Vergleichsperspektiven Um dies zu verdeutlichen, bedarf es zunächst eines Blicks in die Aufarbeitungsdebatten nach 1945 um das Zivilrecht im Nationalsozialismus. Anders als etwa im Strafrecht wurden diese Debatten für das Zivilrecht überwiegend von Juristen, nicht von Historikern geprägt. Die daher stark juristische Aufarbeitungsperspektive führte dazu, dass es weniger die genannten politologischen Theorien wie Fraenkels Doppelstaat, Neumanns Behemoth13 oder die verschiedenen Totalitarismustheorien waren, die die Debatte bestimmten. Stattdessen zeigte sich bei Juristen oft ein analytisch weitgehend blinder Betroffenheits- und Anklagegestus. Stichworte sind: Rechtsperversion, Katastrophe, furchtbare Juristen, „Dolch unter der Robe“ etc. Man stand weitgehend fassungslos empört den Fakten gegenüber. In diesem seit Wolfgang Fritz Haug so genannten „hilfslosen Antifaschismus“14 fand eine rationale Durchdringung und Explizierung dessen, was hier als „unsäglich“ empfunden wurde, nicht statt.

10 Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, 1997. 11 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, 1974. 12 Ian Kershaw, Der NS-Staat: Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, 1989. 13 Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933– 1944, 1977. 14 Wolfgang Fritz Haug, Der hilflose Antifaschismus, 4. Aufl. 1977.

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Mich wird heute jedoch eine zweite nach 1945 anzutreffende, ebenfalls typisch juristische Aufarbeitungsperspektive beschäftigen. Seit 1900 wurden Richterrechtsdebatten zu einem prägenden Thema der deutschen Privatrechtswissenschaft. Stärker wohl als in jedem anderen europäischen Land stand in Deutschland die Frage im Blickpunkt, inwieweit der Richter das Gesetz korrigieren darf, ohne die Gesetzesbindung zu verletzen. Lieblingsthema der deutschen Privatrechtswissenschaft war damit die juristische Methode – und genau diese Perspektive bestimmte auch die Aufarbeitungsdebatten um das Zivilrecht im Nationalsozialismus. Die Ergebnisse dieses methodischen Blicks auf die Jahre nach 1933 divergierten nun auffallend. In den fünfziger und sechziger Jahren griffen zunächst hohe Richter wie Hermann Weinkauff oder Hubert Schorn einen Gedanken Radbruchs auf und bauten methodische Überlegungen zur Entlastungsstrategie aus. Der Positivismus, also der ihnen durch ihre Ausbildung und die rechtsphilosophischen Strömungen in Weimar eingepflanzte Glaube an eine uneingeschränkte, strenge Gesetzesbindung, habe die Richter „wehrlos“ gemacht gegen nationalsozialistische Gesetze.15 Weil man es infolge methodischer Konditionierung nicht wagte, auf naturrechtlich-menschenrechtliche Wertungsgesichtspunkte frei durchzugreifen, sei ein Aufbegehren gegen gesetzliches Unrecht gescheitert.16 Schuld trugen damit der Gesetzgeber, die Juristenausbildung und die Rechtsphilosophie, nicht jedoch die Richter selbst. 1968 widerlegte Bernd Rüthers17 diese Entlastungsstrategie wirkungsvoll. Seine „unbegrenzte Auslegung“, seitdem fast sprichwörtlich geworden, zeigte eine Fülle von Urteilen, in denen bald nach 1933 die Gerichte noch vor dem Gesetzgeber, also unter Umwertung alten Rechts, nationalsozialistische Forderungen umgesetzt hatten. Die dichte Beweisführung der Arbeit von Rüthers sicherte ihr bald breite Anerkennung und das seltene Privileg, sogar von Dogmatikern des geltenden Rechts wahrgenommen zu werden. Als Rüthers 1988, darauf fußend, 24 „Lehren aus

15 Vgl. etwa Hubert Schorn, Der Richter im Dritten Reich. Geschichte und Dokumente, 1959, S. 26 ff.; ders., Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus als Mittel der Machtpolitik, 1963; Hermann Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, 1968; Überblick bei Hinrich Rüping, Justiz und Nationalsozialismus – Ein Forschungsfeld und seine Geschichte, in: Gerhard Pauli/Thomas Vormbaum (Hg.), Justiz und Nationalsozialismus: Kontinuität und Diskontinuität (Juristische Zeitgeschichte II 14), 2003, S. 3 ff. 16 Vgl. dazu Manfred Walther, Hat der Rechtspositivismus die deutschen Juristen im „Dritten Reich“ wehrlos gemacht?, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, 1989, S. 323 ff.; zum Kontext auch Eckhardt Buchholz­ Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln. Eine Untersuchung zur Funktion von „Juristenphilosophie“ (Berliner Juristische Universitätsschriften. Grundlagen des Rechts 8), 1998, S. 38–122 und passim. 17 Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 5. Aufl. 1997. Fortführung der Gedanken in ders., Wir denken die Rechtsbegriffe um… – Weltanschauung als Auslegungsprinzip, 1987; ders., Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 1988; ders., Recht als Waffe des Unrechts: Juristische Instrumente im Dienst des NS-Rassenwahns, NJW 1988, S. 2825 ff.

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der Rechtsperversion des Nationalsozialismus“ veröffentlichte,18 fand dies erwartungsgemäß eine interessierte Öffentlichkeit. Rüthers’ Kernthese war, dass juristische Methode entscheidungstragende Wertungen verschleiere. Er warnte vor der Gefahr, dass ein weniger methodenkritischer Teil der Richterschaft, die von ihm so genannten „Zauberlehrlinge“, im Gegensatz zu den bewusst lenkenden „Zauberen“,19 an sozusagen subkutan, unter methodischen Floskeln untergeschobene ideologische Wertungen gebunden werden könne, weil sie die instrumentelle Funktion von juristischer Methode nicht durchschauten. Bei Rüthers führte Methode nach 1933 also nicht zu überstarker Gesetzesbindung, sondern umgekehrt zu verdecktem Gesetzesungehorsam. Das Ende der DDR 1989 fiel mit der infolge der Thesen von Rüthers einsetzenden Debatte um „Lehren aus der Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus“20 zusammen. Rüthers betonte sofort die Parallelen zwischen der Umwertung des Zivilrechts nach 1933 und in der DDR.21 Dies hatte praktische Folgen insbesondere in der Judikatur des BGH zur Rechtsbeugung von DDR-Zivilrichtern. Die Beurteilung des DDR-Rechts schließt ein Verständnis der DDR-spezifischen Vorgaben für seine Anwendung mit ein.22 Vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Rüthers hob der BGH Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe als Umwertungsinstrumentarien allgemein in „totalitären Staaten“23 besonders hervor und stellte ansonsten, bei allem Einfluss anderer Wertvorstellungen und Leitungsstrukturen,24 „formal“ Übereinstimmung mit heutigen

18 Rüthers, Entartetes Recht (Fn. 17), S. 22 ff. mit insgesamt 24 Lehren. 19 Bernd Rüthers, Aus der Geschichte lernen? Eine Erwiderung, RJ 8 (1989), S. 381 ff., S. 387: ,,… Naivität der Zauberlehrlinge, die an solche Scheinbegründungen und Umdeutungskunststücke glauben und ihnen willig folgen.“ Ähnlich sieht auch Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, 1994, S. 380 im Verlust spezifisch juristischer Kategorien (zugunsten [objektiv-idealistisch] gegensatzaufhebender Begrifflichkeit) den Grund dafür, dass die Juristen „unter dem Nationalsozialismus zu dessen wirklicher Erkenntnis nicht mehr in der Lage waren“. 20 Vgl. Anna Lübbe, Aus der Geschichte lernen?, RJ 7 (1988), S. 417 ff.; Michael Stolleis, Lehren aus der Rechtsgeschichte? Zur Auseinandersetzung mit den Thesen von Bernd Rüthers, in: Rainer Eisfeld/Ingo Müller (Hg.), Gegen Barbarei. Essays Robert M.W. Kempner zu Ehren, 1989, S. 385 ff.; Okko Behrends, Zum Problem einer rein etatistischen Rechtsbegründung gestern und heute, NJW 1988, S. 2862 ff. 21 Bernd Rüthers, Die Wende-Experten. Zur Ideologieanfälligkeit geistiger Berufe am Beispiel der Juristen, 2. Aufl. 1995; ders., Vorwort zur 5. Aufl. der Unbegrenzten Auslegung (Fn. 17) von September 1996. 22 Zu den damit verbundenen Streitpunkten Gerwin Udke, Verfahren und Methoden der Auslegung und deutsch-deutschen Rechtsangleichung, DtZ 1991, S. 52 ff.; Helge Grabau, Brauchen wir eine rückwirkende Methodenlehre, WR 1992, S. 440 ff.; Norbert Horn, Die heutige Auslegung des DDR-Rechts und die Anwendung des § 242 BGB auf DDR-Altverträge, DWiR 1992, S. 45 ff.; Hartmut Oetker, Rechtsvorschriften der ehemaligen DDR als Problem methodengerechter Gesetzesanwendung, JZ 1992, S. 608 ff.; Georg Brunner, Das konsumgenossenschaftliche Eigentum in der ehemaligen DDR und seine Behandlung als intertemporales Recht, VIZ 1993, S. 285 ff. 23 BGH NJW 1995, S. 64 ff., S. 66; NJW 1995, S. 2734 ff., S. 2734; VIZ 1995, S. 461 ff., S. 463 = DtZ 1995, S. 366 ff. 24 BGH NJW 1995, S. 3324 ff., S. 3327.

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Auslegungsmethoden fest.25 Eine wissenschaftliche Analyse dieser BGH-Judikatur konnte feststellen: „Die von Rüthers entwickelten Grundsätze hinsichtlich der Umwertung des Rechts und der Rechtsbegriffe durch den Nationalsozialismus lassen sich ohne größere Probleme auf die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie übertragen.“26 Historia docet, man lernte aus der Geschichte.

IV. Umwertung – eine plausible Vergleichsperspektive? Man vergleicht also, und zwar mit ganz praktischen Ergebnissen. Damit will ich vorerst der schwierigen Frage entgehen, ob und wie man überhaupt vergleichen darf, und stattdessen bereits vorgenommene Vergleichsperspektiven betrachten. Nachfolgend werde ich zunächst fragen: Hält die von Rüthers eingebrachte Perspektive auf das Zivilrecht der DDR einer näheren Überprüfung stand oder wird hier die DDR infolge der Forschungen zum Nationalsozialismus verzerrt wahrgenommen? Ich möchte den zwei Blickwinkeln nachgehen: (1) Taugt, wie von Rüthers angenommen, „Umwertung“ des BGB als Maßstab, um das BGB im Nationalsozialismus und in der DDR zu anderen Geltungszeiträumen des BGB, also Kaiserreich, Weimar und Bundesrepublik, abzugrenzen? (2) Stimmt die Prämisse von Rüthers, dass es speziell richterliche Umwertung und nicht Eingriffe des Gesetzgebers waren, die das BGB in den Vergleichszeiträumen veränderten? Also (a) wie nahm der Gesetzgeber auf das BGB Einfluss und (b) inwiefern war es richterliche Umwertung? Anschließend werde ich kurz zwei alternative Perspektiven vorstellen, unter denen momentan mit mehr Erfolg ein Systemvergleich durchgeführt wird. Es ist dies einerseits das Konzept der „Normdurchsetzung“ als Vergleichsmaßstab und andererseits ein auf das Zivilrecht zugeschnittener konfliktsoziologischer Ansatz. 1. Der Abschied vom freiheitlichen Privatrechtsbegriff als vergleichstragende Besonderheit Zur ersten Frage: Rüthers nahm den Aspekt der „Umwertung des BGB“ als gemeinsame Perspektive, um die Fortgeltung des BGB nach 1933 bzw. nach 1949 von anderen Geltungszeiträumen des BGB gesondert zu vergleichen. Dies ist im Ausgangspunkt plausibel. Umwertung ist natürlich ein Dauerproblem des Rechts. Seit 1900 waren Rechtswissenschaft und Rechtspraxis beständig um Fortbildung und Modernisierung des BGB bemüht. Nach 1933 bzw. nach 1949 stellte sich das Umwertungsproblem gleichwohl in einer ganz anderen Intensität dar. Nur in diesen 25 BGH NJW 1995, S. 64 ff., S. 66. 26 Gerald M. Kraut, Rechtsbeugung? Die Justiz der DDR auf dem Prüfstand des Rechtsstaates (Münchner Universitätsschriften 130), 1997, S. 16 Anm. 83.

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beiden Systemen wurde die freiheitliche Basis des BGB, also das Privatrecht schlechthin, in Zweifel gezogen, während sonst durchweg nur Feinsteuerung in Frage stand. Dies machten in beiden Zeiträumen etwa die intensiven Angriffe gegen die Definition des subjektiven Rechts deutlich. Definitorisch seit etwa 1870, in der Sache bereits viel länger, wurde das subjektive Recht gefasst als „rechtlich anerkannte Willensmacht zur Befriedigung menschlicher Interessen“. Also: Das Privatrechtssubjekt ist nicht rechtlich ungebunden, der Schutz seiner Freiheit, der Willensmacht, aber Kernaufgabe des Privatrechts. Zwischen 1880 und 1933 und im Westen seit 1945 bestand und besteht über diese Definition unbestrittener Konsens.27 Nach 1933 wurde aus der Privatperson nun der Volksgenosse, der, so Larenz, im „Leben der Volksgemeinschaft sein eigenes Wesen“ entfalte.28 Auch in der DDR sollte der Einzelne nun im Kollektiv die Verwirklichung seiner Freiheit finden. An die Stelle der Privatautonomie trat in der Planwirtschaft die „Pflicht zur kameradschaftlichen Zusammenarbeit“.29 Freiheit löste sich also in beiden Vergleichszeiträumen in Gemeinschaft auf. Damit verlor das Privatrecht des BGB sein Fundament. Wenn das BGB insgesamt Ausdruck eines falschen Rechtsbegriffs war, so war grundsätzlich zu fragen, inwieweit die aus diesem falschen Rechtsbegriff abgeleiteten Rechtssätze überhaupt noch gesetzgeberisch legitimiert waren. Obwohl formell fortgeltend, stand das BGB also deutlich grundsätzlicher in Frage. Umwertung wurde zum zentralen Problem des Privatrechts. 2. Umwertung als gemeinsames Problem Die von Rüthers gewählte Basis seines Vergleichs scheint mir also tragfähig. Gilt dies auch für seine Ergebnisse? a) Umwertung des BGB durch den Gesetzgeber im Vergleich Ist wirklich weniger gesetzgeberische als richterliche Umwertung entscheidendes Kennzeichen dieses Umwertungsprozesses in beiden Vergleichszeiträumen?

27 Zu den verschiedenen Definitionen: Hans-Peter Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens? (Berliner juristische Universitätsschriften. Zivilrecht 1), 1995, S. 41 ff. „Willensmacht“ galt entgegen gängigen Vorurteilen (natürlich) nicht schrankenlos, klärend nun: Sibylle Hofer, Freiheit ohne Grenzen? Privatrechtstheoretische Diskussionen im 19. Jahrhundert (Jus Privatum 53), 2001. 28 Karl Larenz, Rechtsperson und subjektives Recht. Zur Wandlung der Rechtsgrundbegriffe, 1935, S. 32 f.; ders., Gemeinschaft und Rechtsstellung, Deutsche Rechtswissenschaft 1 (1936), S. 7 ff.; hierzu: Peter Thoss, Das subjektive Recht in der gliedschaftlichen Bindung, 1968; Diethelm Klippel, Subjektives Recht und germanisch-deutscher Rechtsgedanke in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Joachim Rückert/Dietmar Willoweit (Hg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 12), 1995, S. 31 ff. 29 Hierzu Rainer Schröder, Das ZGB der DDR von 1976, verglichen mit dem Entwurf des Volksgesetzbuchs der Nationalsozialisten von 1943, in: Jörn Eckert/Hans Hattenhauer (Hg.), Das Zivilgesetzbuch vom 19. Juni 1975, 1995, S. 32 ff., S. 57 ff.

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Vergleicht man den gesetzgeberischen Einfluss auf das BGB nach 1933 und nach 1949, so springen einige Gemeinsamkeiten ins Auge. Beide Systeme taten sich schwer, das BGB abzuschaffen. Schon früh wurde jeweils über eine Ersetzung des BGB durch ein ideologisch neu ausgerichtetes Gesetzbuch nachgedacht. Der 1937 von Schlegelberger vollmundig ausgerufene „Abschied vom BGB“30 führte bis in die vierziger Jahre zu Arbeiten an einem nationalsozialistischen Volksgesetzbuch. Ab 1952 arbeitete man auch in der DDR an einem neuen Zivilgesetzbuch.31 Zu einem Abschluss führten diese Arbeiten während des Nationalsozialismus freilich nicht32 und in der DDR erschien erst 1976 ein neues Zivilgesetzbuch.33 Verantwortlich für die Schwierigkeiten waren vor allem wechselnde politische Rahmenlagen. Es war aber auch ein später Triumph der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. In beiden Fällen zeigte sich nämlich die Schwierigkeit, die suggestive Kraft der überkommenen Begrifflichkeit und die vorgedachten dogmatischen Lösungswege kurzfristig abzustreifen.34 In beiden Systemen versuchte man daher zunächst, im Wege der Spezialgesetzgebung dem BGB ideologisch brisante Abschnitte zu entziehen.35 Die Gebiete, in denen man das als vordringlich empfand, stimmten weitgehend überein. Vergleich: Beispiel für die Derogation des BGB durch Spezialgesetzgebung Nationalsozialismus Arbeitsrecht Gesetzbuch zur Ordnung der nationalen Arbeit 1934 (Beseitigung von Gewerkschaften und Tarifautonomie, Ausrichtung des ArbR am „Nutzen von Volk und Staat“)

DDR Gesetzbuch der Arbeit 1961 (Anwendbarkeit der BGB-§§ bereits vorher durch Gerichte abgelehnt)

30 Franz Schlegelberger, Abschied vom BGB, 1937. 31 Marcus Flinder, Zur Entstehungsgeschichte des Zivilgesetzbuchs der DDR (Rechtshistorische Reihe 207), 1999. 32 Hans Hattenhauer, Das NS-Volksgesetzbuch, in: FS Rudolf Gmür, 1983, S. 255 ff.; Gerd Brüggemeier, Oberstes Gesetz ist das Wohl des Volkes. Das Projekt des „Volksgesetzbuches“, JZ 1990, S. 24 ff.; Thoss (Fn. 28), S. 113 ff.; Werner Schubert, Volksgesetzbuch. Teilentwürfe, Arbeitsberichte und sonstige Materialien, 1988. 33 Flinder (Fn. 31). 34 Vgl. für das Volksgesetzbuch etwa die Einschätzung von Heinrich Lange, Die Entwicklung der Wissenschaft vom Bürgerlichen Recht seit 1933. Eine Privatrechtsgeschichte der neuesten Zeit, 1941; hierzu Wilhelm Wolf, Vom alten zum neuen Schuld­recht. Das Konzept der normunterstützten Kollektivierung in den zivilrechtlichen Arbeiten Heinrich Langes (1900–1977) (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 21), 1998, S. 140 ff.; in der DDR führten ähnliche Probleme zur K ­ rise der Babelsberger Konferenz 1958; hierzu Jörn Eckert (Hg.), Die Babelsberger Kon­ ferenz vom 2./3. April 1958, 1993; Ulrich Bernhardt, Die Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ 1948–1971 (Rechtshistorische Reihe 160), 1997, S. 118 ff. 35 Überblick für die DDR bei Schröder (Fn. 29), S. 45; zum Nationalsozialismus: Gerhard Otte, Die zivilrechtliche Gesetzgebung im „Dritten Reich“, NJW 1988, S. 2836 ff., dort auch die sogleich genannten Zahlen.

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Familienrecht

„Blutschutzgesetz“ 1935, Ehegesetz 1938

Familiengesetzbuch 1965

Landwirtschaft

Reichserbhofgesetz 1933 (staatliche Lenkung mit Preiskontrolle und Absatz­ garantie)

Ausgliederung der Rechtsbeziehungen zwischen LPG und anderen staatlichen Organisationen: LPGG v. 3.6.1959

Bodenrecht

Wirtschaftsrecht

Nutzung und Bewirtschaftung der Bodenverhältnisse: GrundstücksverkehrsVO v. 11.1.1963, BodennutzungsVO v. 17.12.1964, Gesetz über Verleihung von Nutzungsrechten an volkseigenen Grundstücken v. 4.12.1970 Zwangskartellgesetz 1933, Aktiengesetz 1937 (Stärkung der Befugnisse des Vorstands)

Ausgliederung der Rechtsbeziehungen zwischen staatlichen Betrieben: 1951 VO über die Einführung des Vertragssystems für Nahrungsgüter; 1951 VO über die Einführung des Allg. Vertragssystems für Warenlieferung in der volkseigenen Wirtschaft; 1965 Vertragsgesetz; zuständig: Vertragsgericht (Verwaltungsbehörden)

In beiden Systemen schuf man Sondergesetze für die ernährungswichtige Landwirtschaft, für das Miet-, Arbeits- und Familienrecht. Im Wirtschaftsrecht ging die DDR über die Eingriffe nach 1933 durch das 1957 eingeführte Vertragssystem hinaus, welches die weitgehend staatliche Warenproduktion als eigenen Rechtszweig dem bürgerlichen Recht entzog.36 Zahlenmäßig waren diese Eingriffe nicht gering. Auch nach 1933 brachte die Gesetzgebung immerhin knapp 300 Änderungen des BGB in seinem Wortlaut. Auch wenn genaue Auswertungen noch fehlen, scheinen insgesamt 40 Jahre DDR dem BGB in seinem Wortlaut weit mehr zugesetzt zu haben als die Jahre 1933 bis 1945. Dies dürfte vor allem daran gelegen haben, dass die DDR wirtschaftspolitisch ein ziemlich klares ideologisches Konzept hatte, welches dem Nationalsozialismus fehlte, der zwischen freier Warenverkehrswirtschaft und dirigistischer Kriegswirtschaft ohne klare Linie pendelte.37

36 Cornelia Ludwig-Dodin, Das Staatliche Vertragsgericht: Organ der Wirtschaftsverwaltung oder der Rechtspflege?, in: Rainer Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR II, 2000, S. 177 ff. 37 Vgl. Rolf Puppo, Die wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung im Dritten Reich (Schriften zur Rechts- und Sozialwissenschaft 3), 1987, S. 290 ff., 300 ff.

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Rüthers betonte 1968 gegen die alten Entlastungsstrategien der Richterschaft also nur eine Seite der Medaille. Der Einfluss der Gesetzgebung auf die Urteile war zweifelsohne substanziell. b) Umwertung des BGB durch die Richter In weiten Teilen blieb das BGB gleichwohl in Kraft. Lässt das auch auf eine starke praktische Bedeutung schließen? Dies verweist auf meinen zweiten Untersuchungspunkt. Die praktische Bedeutung des BGB hängt auch davon ab, wie man es anwendet. Wie also ging die Rechtspraxis mit dem BGB um? 1933 wie auch 1949 in der DDR stellte sich den neuen Machthabern übereinstimmend folgendes Problem: Um ein rechtliches Vakuum zu vermeiden, blieb das BGB in Kraft. Die sukzessive Ersetzung seines Inhaltes durch neue Gesetze brauchte Zeit. Für den Übergang musste daher „neuer Wein in alte Schläuche“, d. h. mit dem vorhandenen Gesetzesbestand musste die neue Ideologie umgesetzt werden. Damit trat die Rechtsprechung auf den Plan. Sie musste umwerten. Wie dies während des Nationalsozialismus erfolgte, hat Rüthers überzeugend verdeutlicht. Nach 1933 kam es in der Rechtswissenschaft geradezu zu einem „Methodenwettlauf“38 um die beste Umwertungstechnik. Besondere Anerkennung erhielten dabei die Generalklauseln des BGB, allen voran § 242. Bereits seit 1900 hatte man die hier zu findenden unbestimmten Rechtsbegriffe wie Treu und Glauben39 und gute Sitten40 richterlicherseits genutzt, um unbefriedigende Ergebnisse im Mantel der Gesetzesanwendung zu korrigieren. Der Richter konnte hier relativ einfach die Einzelfallgerechtigkeit durchsetzen und zugleich den offenen Bruch mit dem Gesetz vermeiden. Nach 1933 sollten die Generalklauseln aber eine neue Aufgabe erfüllen. Aus den inhaltlich offenen Billigkeitskorrektiven wurden „Einbruchstellen“41 für ein diesem Gesetz fremdes politisches Programm. Carl Schmitt formulierte 1933 unmissverständlich den entscheidenden Unterschied: Durch die Generalklauseln werde die Gebundenheit des Richters keineswegs aufgehoben, vielmehr seien für die Anwendung der Generalklauseln „ausschließlich und unmittelbar die Grundsätze des Nationalsozialismus maßgebend“.42 Aus den Generalklauseln folgte nicht richterliche Freiheit, sondern strenge Bindung an ein neues, höherstufiges Normprogramm. Der einst unabhängige Richter wurde politischer Handlanger. 38 Rüthers, Entartetes Recht (Fn. 17), S. 18 ff. 39 Hierzu demnächst HKK/Duve/Haferkamp, § 242, erscheint voraussichtlich noch 2004; Hans-Peter Haferkamp, Die exceptio doli generalis in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, in: Ulrich Falk/Heinz Mohnhaupt (Hg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter (Rechtsprechung. Materialien und Studien 14), 2000, S. l ff. 40 Überblick bei HKK/Haferkamp, § 138, 2003. 41 Heinrich Lange, Generalklauseln und neues Recht, JW 1933, S. 2858 ff.; zu den Konjunkturen dieses Terminus nach 1945 Michael Stolleis, Art. Nationalsozialistisches Recht, HRG III, 1984, Sp. 873 ff., Sp. 875. 42 Carl Schmitt, Neue Leitsätze für die Rechtspraxis, JW 1933, S. 2793 ff. = ders., Fünf Leitsätze für die Rechtspraxis, DR 1933, S. 201 ff.

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Konkret war die erhoffte Bindung freilich oft schwer zu erreichen und Freisler fürchtete 1933 wohl nicht zu Unrecht den ideologisch unzuverlässigen Richter, der seine persönliche „Sonderansicht vom Wesen des Nationalsozialismus“ mittels der Generalklauseln umsetze.43 Am Fall war es für den entscheidenden Richter nicht einfach zu bestimmen, was „nationalsozialistischem Rechtsempfinden“ entsprach.44 Sollte ein Bauer, der sein Feld unbestellt ließ, enteignet werden, sollte eine Ersatzvornahme zulässig sein oder ging doch die Ehre des deutschen Bauern staatlichem Eingriff noch vor? Musste gar Eva Braun ihren Pelzmantel für das Winterhilfswerk spenden? Keine Zweifel ergaben sich jedoch dann, wenn der antisemitische Kernbereich des nationalsozialistischen Rechtsdenkens berührt wurde. Hier waren die politischen Vorgaben eindeutig und die Gerichte nutzten insbesondere Generalklauseln45 zur Umsetzung. Das Reichsarbeitsgericht gestattete die fristlose Kündigung von Ausbildungsverträgen jüdischer Lehrlinge „aus allgemeinen Grundsätzen“ des § 626 BGB.46 Jüdischen Gesellschaftern konnte gekündigt werden, weil anderen Gesellschaftern eine Fortsetzung der Gesellschaft nicht zugemutet werden könne.47 Schon vor dem Ehegesetz von 1938 ließen die Gerichte contra legem die so genannte „Anfechtung der Rassenmischehe“ zu und brachten jüdische Ehegatten um ihren Unterhalt.48 Die Beispiele könnten leicht vermehrt werden. Auch ohne gesetzliche Vorgaben arbeiteten Gerichte also bald nach 1933 intensiv an der Zerstörung der bürgerlichen Existenz ihrer jüdischen Mitbürger mit. In der Gesamtzahl der Zivilprozesse spielten Fälle dieser Art gleichwohl eine geringe Rolle. Genauere Untersuchungen haben für die Oberlandesgerichte Celle und Karlsruhe einen Prozentsatz von etwa 5 % klar nationalsozialistisch orientierter Urteile gefunden.49 Die verbleibenden 95 % der Urteile waren frei43 Roland Freisler, Recht, Richter und Gesetz, DJ 1933, S. 694 ff., S. 695. 44 Hierzu Hubert Rottleuthner, Substanzieller Dezisionismus. Zur Funktion der Rechtsphilosophie im Nationalsozialismus, in: ders. (Hg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, 1983, S. 29 ff. 45 Zur Generalklauselproblematik nach 1933: Rüthers, Unbegrenzte Auslegung (Fn. 17), S. 216 ff.; Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 15), 1974, S. 100 ff.; Fritjof Börner, Die Bedeutung der Generalklauseln für die Umgestaltung der Rechtsordnung in nationalsozialistischer Zeit (Europäische Hochschulschriften. Reihe II 828), 1989; Haferkamp (Fn. 27), S. 281 ff. 46 Hierzu Rüthers, Unbegrenzte Auslegung (Fn. 17), S. 169 ff., 396. 47 RG v. 11.12.1934, RGZ 146, 169 ff. 48 Hierzu Rüthers, Unbegrenzte Auslegung (Fn. 17), S. 155 ff.; Diemut Majer, Fremdvölkische im Dritten Reich, 1981, S. 693 ff.; Ernst Noam/Wolf-Arno Kropat, Juden vor Gericht 1933–1945, 1975, S. 56 ff.; auf OLG-Ebene bringen unveröffentlichte Urteile Rainer Schröder, „… aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben!“. Die Urteile des OLG Celle aus dem Dritten Reich (Fundamenta Juridica 5), 1988, S. 51 ff.; Christof Schiller, Das Oberlandesgericht Karlsruhe im Dritten Reich, 1997, S. 324 ff. Die Rechtslage ändert sich mit Erlass der Nürnberger Rassegesetze und des Ehegesetzes 1938; hierzu die Arbeit von Andreas Rethmeier, „Nürnberger Rassegesetze“ und Entrechtung der Juden im Zivilrecht (Rechtshistorische Reihe 126), 1995, S. 51 ff.; 217 ff.; eindrücklich zu den unmenschlichen Folgen bekanntlich die Tagebuchaufzeichnungen Victor Klemperers, Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten, 1996. 49 Schröder (Fn. 48), S. 271 (5 %); Schiller (Fn. 48), S. 323 (6 %).

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lich nicht Beweis der „Normalität“ des Zivilrechts im Nationalsozialismus, sondern schlicht ideologisch uninteressant. Wie sonst auch, waren Gerichte ganz überwiegend mit Inkassoverfahren oder Verkehrsunfällen beschäftigt, die kaum politischen Sprengstoff boten. Rüthers hat daher die ideologisch geprägten 5 % treffend als das „Arsen“ in der Suppe bezeichnet. Sie widerlegen jedenfalls jeden Versuch, die Ziviljustiz als Hort des Widerstandes darzustellen. Für den Nationalsozialismus war mit der „unbegrenzten Auslegung“ somit durchaus ein Spezifikum gefunden. Da die DDR vor dem gleichen Problem stand, also auch hier das BGB formell fortgelten und gleichwohl eine neue Wertungsgrundlage erhalten sollte, lag es 1989 auf der Hand, Parallelen zu vermuten. Auch die Generalklauseln rückten damit ins Rampenlicht. Eine erste Untersuchung zu § 138 BGB kam 1996 zum Ergebnis, man habe sich in beiden Systemen darum bemüht, „den jeweils relevanten Auslegungsmaßstab der guten Sitten zu verschleiern. Hierdurch wurde es möglich, ihn einer kritischen Kontrolle zu entziehen.“50 Hat Rüthers ein „Ewigkeitsproblem“ entdeckt? Zweifel daran tauchen bereits auf, wenn man die Methode dieser Untersuchung betrachtet. Der Autor, der die Bedeutung von § 138 BGB in der DDR untersuchte, suchte gezielt nach Entscheidungen zu § 138 BGB, nahm also schon gar nicht mehr die gesamte Zivilrechtsprechung in den Blick. Zu Beweisendes wurde damit vorausgesetzt. Fragt man offener, wie umgewertet wurde, so zeigt schon ein Blick in die hierfür wichtige offizielle Urteilssammlung des Obersten Gerichts, dass nur in den ersten Bänden wenige vereinzelte Entscheidungen mit Generalklauselbezug auftauchten.51 Der zitierte Autor und auch der BGH in seinen Rechtsbeugungsfällen erlagen damit der suggestiven Argumentation von Rüthers. Das Oberste Gericht wertete nämlich ganz anders um als das Reichsgericht – und ohne Generalklauselbezug. Hierzu zunächst ein Beispiel: 1955 erwarb der in der DDR so genannte Verklagte ein Radio von dem Bürger A. Dieser war jedoch nicht Eigentümer des Radios, da er es für ein gewährtes Darlehen an eine volkseigene Sparkasse sicherungsübereignet hatte. Der Verklagte hielt A jedoch gutgläubig für den Eigentümer. Nachdem A das Darlehen 50 Jens Wanner, Die Sittenwidrigkeit der Rechtsgeschäfte im totalitären Staat. Eine rechtshistorische Untersuchung zur Auslegung und Anwendung des § 138 Absatz 1 BGB im Nationalsozialismus und in der DDR (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 79), 1996, S. 310. 51 Vgl. die Auswertung bei Hans-Peter Haferkamp, Begründungsverhalten des Reichsgerichts zwischen 1933 und 1945 in Zivilsachen verglichen mit Entscheidungen des Obersten Gerichts der DDR vor 1958, in: Rainer Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR II, 2000, S. 15 ff., S. 42; eine Überprüfung meiner damaligen Einschätzung anhand unveröffentlichter Prozessakten des Obersten Gerichts hat jüngst meine Ergebnisse bestätigt: Verena Knauf, Die Rolle der Generalklauseln in den Zivilentscheidungen des Obersten Gerichts der DDR von 1950 bis 1958, erscheint demnächst in Forum Historiae Iuris (www.forhistiur.de). Für die Zeit vor 1958, also der Babelsberger Konferenz, liegen damit tragfähige Untersuchungen vor. Für die Zeit nach 1958 ist es sehr unwahrscheinlich, dass nun der verlassene Weg der Generalklauseln wieder entdeckt wurde. Hiergegen sprechen die Entwicklungen in der Rechtstheorie der DDR nach 1958 ebenso wie die inzwischen gewandelte Sozialisation der sozialistischen Richter.

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nicht zurückzahlen konnte, verlangte die Sparkasse die Sicherheit, also das Radio, vom Verklagten heraus. Nach dem BGB hätte die Klage abgewiesen werden müssen, da der Verklagte gutgläubig Eigentum erworben hatte. Die Möglichkeit des gutgläubigen Erwerbs von Volkseigentum war aber eine politisch hochbrisante Frage.52 Methodisch traditionell hätten sich zwei Begründungen gegen den gutgläubigen Erwerb des Verklagten anführen lassen: Das Oberste Gericht hätte die Übereignung für sittenwidrig erklären können. Alternativ bot sich die Möglichkeit, das in SMAD-Befehlen ausgesprochene Prinzip der Unantastbarkeit des Volkseigentums als lex specialis oder als Verbotsgesetz heranzuziehen. Keiner dieser Wege wurde jedoch vom Obersten Gericht beschritten. Es argumentierte wie folgt: Für die Frage, ob das Volkseigentum gutgläubig erworben werden könne, sei nicht die „bisweilen undeutliche oder mehrdeutige abstrakte Fassung der positiven Gesetzesnormen maßgeblich“. Die Antwort sei vielmehr dem „Wesen und Inhalt der einschlägigen politökonomischen ­Kategorie zu entnehmen, den die Gesetzesnorm ja nur widerspiegelt“.53 Das Gericht begründete seine Ansicht nun „politökonomisch“ und zog auch diesbezügliche Lehrbücher heran. Durch die Sicherungsübereignung sei das Konsumgut der allgemeinen Warenzirkulation entzogen worden. Die neue Zweckbestimmung sei die Sicherung des Staates. Daraus folge, dass nicht etwa § 932 BGB nicht anwendbar sei, vielmehr sei er nicht richtig angewendet worden. Im Ergebnis bedeutete das den Ausschluss des gutgläubigen Erwerbs. Begründet wurde das paradoxerweise durch eine „politökonomisch“ orientierte Anwendung des § 932. Der traditionelle Methodenkanon war hier verlassen. Es zählten weder der Wortlaut, noch die Entstehungsgeschichte der Norm, unwichtig war ihre systematische Stellung, auch ihr Sinn wurde nicht dem BGB entnommen, sondern außenstehenden „politökonomischen“ Kategorien. Ohne eine einzige Auseinandersetzung mit den Tatbestandsmerkmalen einer Vorschrift war es möglich, sie anzuwenden und ihre Rechtsfolge gleichwohl abzulehnen. Hinter diesem eigenartigen Vorgehen standen die in den fünfziger Jahren geführten Debatten um Stalins Neujustierung des Verhältnisses von Basis und Überbau.54 Stalin hatte das Recht nicht mehr als unbedeutendes Überbauphänomen bestimmt, sondern von der „aktiven Kraft des Überbaus“ gesprochen. Recht sollte also auch gestalten. Hilde Benjamin bezeichnete schon kurz darauf jedes Urteil als „politische Tat“.55 Für die Rechtsanwendung legte sie die so genannte Form-Inhalt-These dar: Da der Staat den Inhalt seiner Rechtsordnung 52 Zum Problem des gutgläubigen Erwerbs von Volkseigentum: Heide Pfarr, Auslegungstheorie und Auslegungspraxis im Zivil- und Arbeitsrecht der DDR (Schriften zur Rechtstheorie 30), 1972, S. 89 ff. 53 OG NJ 1957, S. 776 f., vgl. Anhang I. 54 Zu den Diskussionen Inga Markovits, Sozialistisches und bürgerliches Zivilrechtsdenken in der DDR (Abhandlungen zum Ostrecht 7), 1969, S. 32 ff. und Klaus Westen, Die rechtstheoretischen und rechtspolitischen Ansichten Josef Stalins, 1959, S. 23 ff. 55 Hilde Benjamin, Grundsatzreferat vor der ersten Arbeitstagung des Obersten Gerichts mit den Oberlandesgerichtspräsidenten und Richtern der Oberlandesgerichte im März 1951, NJ 1951, S. 150 ff., S. 155; vgl. Anhang II.

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als Überbauphänomen bestimme, sei mit Wechsel der Staatsordnung dieser neue Inhalt automatisch in die Form der alten Gesetze eingerückt. Aufgabe der richterlichen Rechtsfeststellung sei es, durch die „Form“ des Gesetzes seinen „Inhalt“ zu ermitteln. Benjamin forderte dabei eine „Methode der offensiven Begründung“.56 Dies lief auf eine offen politische Nützlichkeitsabwägung hinaus. Damit war jede Subsumtion entbehrlich. Im Zusammenhang mit § 128 HGB machte das Oberste Gericht deutlich, worum es ging: „Der § 128 hatte – das war sein ursprünglicher Zweck – im Interesse einer erhöhten Kreditwürdigkeit der OHG die persönliche Haftung der Gesellschafter für Verbindlichkeiten der Gesellschaft festgelegt … Es wäre nun aber wiederum ebenso ungenügend wie unrichtig, wollte man aus diesem Umstand, lediglich im Wege formalrechtlicher Erwägungen, Schlüsse, sei es auf die weiterhin statthafte Anwendbarkeit des § 128 HGB, sei es auf das Gegenteil, ziehen. Auch diese Frage ist richtig nur zu klären, wenn man sie konkret gesellschaftlich stellt. Dann aber wird ohne weiteres erkennbar, dass das Deutsche Handelsgesetzbuch einem Wirtschaftssystem angehört, das durch die seit dem Zusammenbruch des Hitlerregimes in der Deutschen Demokratischen Republik eingetretene gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung weitgehend überholt worden ist. Es ist damit zwar nicht ohne weiteres außer Kraft getreten, wohl aber muss bei der Anwendung solcher älteren gesetzlichen Bestimmungen auf rechtserhebliche Tatbestände in jedem Fall untersucht werden, ob und inwieweit sich ihr Inhalt in Übereinstimmung bringen lässt mit dem Inhalt und den gesellschaftlichen, in erster Linie also wirtschaftspolitischen Zielen, deren Verwirklichung die in … der heutigen Deutschen Demokratischen Republik erlassene einschlägige Gesetzgebung zu erreichen bestimmt ist.“57

§ 128 HGB war demnach nicht anwendbar, weil er, so das Oberste Gericht, „von der gesellschaftlichen Entwicklung weitgehend überholt worden ist“.58 Der berüchtigte nationalsozialistische § 1595a BGB,59 der dem Staatsanwalt die Anfechtung der Ehelichkeit eines Kindes gestattete, war demgegenüber „sehr wohl geeignet, im Sinne unserer antifaschistisch-demokratischen Ordnung angewandt zu werden“.60 Man konnte Normen beliebig anwenden oder nicht anwenden, aber auch inhaltlich verändert gebrauchen, sie waren bloße „Form“, also inhaltsleere Hülle. Den Inhalt finden könne, so erneut Benjamin, nur, wer „die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung kennt und unsere Entwicklung selbst laufend beobachtet“. Dies war freilich keine Aufforderung zur Umsetzung von Marx im Selbststudium. Benjamin betonte, es sei nicht immer leicht, „echte Keime des 56 Näher hierzu Haferkamp (Fn. 51), S. 40 ff. 57 OGHZ 1, S. 98 f. 58 OGZ 1, S. 94 ff., 98 f. vom 14.2.1951. 59 „Hat der Mann die Ehelichkeit eines Kindes nicht innerhalb eines Jahres seit der Geburt des Kindes angefochten oder ist er gestorben oder ist sein Aufenthalt unbekannt, so kann der Staatsanwalt die Ehelichkeit anfechten, wenn er dies im öffentlichen Interesse oder im Interesse des Kindes oder seiner Nachkommenschaft für geboten erachtet.“ 60 OGZ l, S. 68 ff., 70 ebenfalls vom 1.12.1950. Die Frage der Weitergeltung der Vorschrift, die erst 1961 durch das Familienrechtsänderungsgesetz aufgehoben wurde, war auch in der Bundesrepublik umstritten, vgl. Palandt/Lauterbach, 9. Aufl. 1951, § 1593, Vorbemerkung.

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Neuen zu entdecken – man kann dabei irren“. Gerade die Unsicherheit über den Inhalt dieser „politökonomischen“ Gesetzlichkeiten unterwarf das Oberste Gericht direkter politischer Steuerung durch die Parteiorgane. Hier findet sich also eine grundsätzliche Absage an den Begründungswert juristischer Dogmatik. Ein Urteil musste politisch „richtig“ sein, es gab keine Ausreden. Erneut ist ein Blick auf die Situation nach 1933 reizvoll. Auch den Richtern des Reichsgerichts waren derartige Vorgehensweisen angeboten worden. 1936 schlugen einige Rechtswissenschaftler eine so genannte „Kampfklausel“ mit folgendem Inhalt vor: „Gesetzliche Bestimmungen, die vor der nationalsozialistischen Revolution erlassen sind, dürfen nicht angewendet werden, wenn ihre Anwendung dem heutigen gesunden Volksempfinden ins Gesicht schlagen würde.“61 Ein ganz ähnlicher Ansatz wie die Form-Inhalt-These kam auch von Carl Schmitt, der vorschlug, das Recht in „konkreten Ordnungen“ zu denken und dem „Normativismus“, der sturen Gesetzesanwendung, abzuschwören.62 Die Rechtsprechung ließ sich darauf trotz aller Linientreue wohl bewusst nicht ein, sondern hielt am traditionell justizförmigen Urteil fest. Dass dies für die DDR nicht so war, verweist auf andere politische Rahmenbedingungen, aber auch auf eine andere Richterschaft. Hier liegt m.E. der Schlüssel zum Verständnis der DDR-Ziviljustiz und nicht in Methodenfragen. Blicken wir in dieser Perspektive zunächst nochmals auf die Zeit des Nationalsozialismus. Mit Ausnahme der Vertreibung ihrer jüdischen Kollegen blieb die Richterschaft auch nach 1933 in ihrer Zusammensetzung weitgehend intakt. Diese Richter waren traditionell an juristischer Dogmatik geschult und dies blieb auch bei allen Ausbildungsreformen nach 1933 weiterhin so.63 Methodisch sauber begründete Urteile entsprachen schlicht eingefahrener Tradition. Hinzu kamen die Rahmenbedingungen, in denen nach 1933 judiziert wurde. Obwohl die meisten Richter der Republik ablehnend gegenübergestanden hatten und sich oftmals den neuen Machthabern andienten,64 wurden sie seit Weimar beständig von der nationalsozialistischen Presse kritisiert.65 Aufmärsche der SA in den Gerichtsälen zeigten der Justiz, dass man nicht gewillt war, ihre Unabhängigkeit anzuerkennen.66 Gegen eine Umwertung mit offen politischer Argumentation sprach insofern auch der äußere Druck. Die Ver­wendung einer 61 Leitsätze über Stellung und Aufgaben des Richters, Leitsatz 4, Deutsche Rechtswissenschaft 1 (1936), S. 123; hierzu Rüthers, Unbegrenzte Auslegung (Fn. 17), S. 146 f. 62 Hierzu Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 4. Aufl. 2002, S. 168 ff. 63 Ralf Frassek, Steter Tropfen höhlt den Stein. Juristenausbildung im Nationalsozialismus, SZ GA 117 (2000), S. 294 ff.; ders., Juristenausbildung im Nationalsozialismus, KJ 2004, S. 85 ff.; Andrea Pietka, Juristenausbildung zur Zeit des Nationalsozialismus, 1990. 64 Ralph Angermund, Deutsche Richterschaft 1919–1945, 1990, S. 95 ff.; Peter Landau, Die deutschen Juristen und der nationalsozialistische Deutsche Juristentag in Leipzig 1933, ZNR 1994, S. 373 ff., S. 387 ff. 65 Vgl. Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940, 1988, S. 663 ff.; Angermund (Fn. 64), S. 95 ff. 66 Schröder (Fn. 48), S. 129 ff.; Einzelfälle für Baden bei Schiller (Fn. 48), S. 35 ff.; Köln: Klaus Luig, …weil er nicht arischer Abstammung ist. Jüdische Juristen in Köln während der NS-Zeit, 2004, S. 27 ff.; Berliner Kammergericht: Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen, 2000, S. 145 ff.

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technisch-juristischen Fachsprache und einer methodisch-traditionellen Beweisführung suggerierte nach außen höflich-unpolitische Subsumtionsarbeit. Vielleicht also auch ein Versuch aus der politischen Schusslinie zu geraten? Jedenfalls war saubere Methodik ein schlicht eingeübtes Verfahren. In Aufbau und Argumentation blieben die Urteile nach 1933 damit jedenfalls äußerlich justizförmig. Dies verweist auf eine der unsrigen ähnliche Sozialisation in Ausbildung und Justizdienst. Dies kann für die DDR nicht gelten. Schon früh begegnet man in der DDR einer stark gewandelten Justiz. Über 95 % der Richter, die irgendeiner NS-Organisation beigetreten waren, insgesamt knapp 1.000 Richter, was etwa 80 % der gesamten Richterschaft in der SBZ entsprach, wurden bis 1948 entlassen.67 Schon in den fünfziger Jahren waren damit die Richter, die eine der heutigen vergleichbare Juristenausbildung erhalten hatten, weitgehend aus dem Justizdienst entfernt. Die verbleibenden Volljuristen, insbesondere die Juristen des 1949 neu eingerichteten Obersten Gerichts, waren auf ihre verlässliche Partei­ treue kontrolliert und viel direkter mit der Partei verbunden, als dies während des Nationalsozialismus der Fall gewesen war. Die Vorsitzenden der Senate wie Hilde Benjamin oder Kurt Schumann gehörten zur politischen Elite.68 Hinzu kam ein fast lückenloses Netz von Steuerung und Kontrolle. Während des Nationalsozialismus waren Steuerungsversuche durch die so genannten Richterbriefe69 weitgehend fehlgeschlagen. Es gab immer Eingriffe in die Zivilrechtspflege durch Parteifunktionäre, die Gestapo oder die SS.70 Eine systematische und wirklich durchgreifende Steuerung fand sich nicht. Vierzig Jahre DDR schufen weit wirksamere Steuerungsmechanismen.71 Eine hochpolitisierte Staatsanwaltschaft konnte an allen Zivilverfahren teilnehmen und diente als Kontrollorgan.72 Die unteren Instanzen wurden vom Obersten Gericht als „Leitungsorgan der Rechtsprechung“ direkt

67 Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ/DDR (Arbeiten zur Geschichte des Rechts in der DDR 1), 1996, S. 144. 68 Näher zur Zusammensetzung des Obersten Gerichts Andreas Gängel, Das Oberste Gericht der DDR – Leitungsorgan der Rechtsprechung – Entwicklungsstationen, in: Hubert Rottleuthner (Hg.), Steuerung der Justiz in der DDR, 1994, S. 253 ff.; Haferkamp (Fn. 51), S. 32 ff.; insbesondere zur Mitarbeit Benjamins: Andrea Feth, Hilde Benjamin – Eine Biographie (Schriftenreihe Justizforschung und Rechtssoziologie 1), 1997, S. 79 ff. 69 Heinz Boberach, Richterbriefe. Dokumente zur Beeinflussung der deutschen Rechtsprechung 1942–1944, 1975; Bernhard Wahl, Die Richterbriefe, Dissertation Heidelberg 1981; zur geringen Wirkung auch Schröder (Fn. 48), S. 254 ff. 70 Beispiele bei Gruchmann (Fn. 65), S. 658 ff., 694 ff. 71 Hierzu die Beiträge in Rottleuthner (Fn. 68). 72 Hans-Peter Haferkamp, Die Mitwirkung des Staatsanwalts im Zivilverfahren der DDR, in: Rainer Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR I, 1999, S. 375 ff.; Karl A. Mollnau, Die staatsanwaltschaftliche Gesetzlichkeitsaufsicht in der DDR als gescheiterter Versuch eines sowjetischen Rechtstransfers, in: Gerd Bender/Ulrich Falk (Hg.), Recht im Sozialismus III (Ius Commune Sonderhefte 115), 1999, S. 241 ff., S. 255 ff.

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kontrolliert. Hierzu konnten Urteile nach freiem Ermessen kassiert und allgemeinverbindlich entschieden werden.73 Bei den Untergerichten selbst war der Gerichtsdirektor entscheidende74 Schnittstelle und Steuerungsorgan. Er hielt den Kontakt zu MdJ, Polizei, SED und MfS, bestimmte die Geschäftsverteilung und sicherte die Konformität über Einzelgespräche und Beurteilungen.75 Schließlich hatte die DDR nach den frühen Volksrichterlehrgängen76 der vierziger und fünfziger Jahre bald ein hochpolitisiertes Ausbildungssystem für Juristen etabliert.77 Die nun antretenden Richter hatten ein weit politischeres Studium genossen und verstanden andererseits weit weniger von der ausgefeilten Dogmatik des BGB als ihre Vorgänger vor 1945. Insofern führte auch mangelnde dogmatische Kompetenz zu veränderten Begründungsstrategien. Die von Rüthers vorgeschlagene Methodenperspektive verschüttet somit grundlegende Differenzen. Während nach 1933 traditionell geschulte Richter mit uns vertrauten juristischen Mitteln die Umwertung betrieben, kam es in der DDR zu offen politischer Judikatur und einem Abschied von traditionellen Methodenvorstellungen. Unmenschliche Urteile können also mit und ohne juristische Methode erfolgen. Die Argumentationsebene sagt lediglich etwas über das Umfeld, in dem Juristen agieren, insbesondere über die politische Durchdringung ihres Arbeitsfeldes, über ihre Ausbildung und über den Grad ihrer Unabhängigkeit zu den politischen Instanzen. Es lohnt sich vor diesem Hintergrund, die DDR-Justiz als ein uns durchaus schwer verständliches System wahrzunehmen und sich ihr mit mehr Abstand zum eigenen Rechtssystem zu nähern.

V. Alternative Vergleichsperspektiven 1. Normdurchsetzung Eine hierzu taugliche Perspektive, die das eigene und das sozialistische bzw. nationalsozialistische System gleichermaßen distanziert zu beschreiben vermag, hat das Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in den letzten Jahren verfolgt. In einem auf Gesamtosteuropa ausgerichteten Projekt wurde nach der Normdurchsetzung78 in Gesellschaften gefragt. Sehr 73 Vgl. Torsten Reich, Die Kassation in Zivilsachen, Forum Historiae Iuris v. 24.11.1997, www.forhistiur.de/zitat/9711reich.htm (letzter Zugriff: 3.8.2015). 74 Daneben etwa Annette Armèlin, Die Einflussnahmen der Kreis- und Bezirksleitungen der SED auf die Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtsverfahren der Kreis- und Bezirksgerichte, in: Rainer Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR II, 2000, S. 83 ff. 75 Rottleuthner (Fn. 68), a.a.O. 76 Hierzu auch Hermann Wentker (Hg.), Volksrichter in der SBZ/DDR 1945 bis 1952 (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 74), 1997. 77 Hans-Peter Haferkamp/Torsten Wudtke, Richterausbildung in der DDR, Forum Historiae Iuris v. 25.10.1997, www.forhistiur.de/1997-10-haferkamp-wudtke/, Rn. 17 ff. (letzter Zugriff: 3.8.2015). 78 Zu diesem Theorieansatz: Gerd Bender, Recht und totale Politik. Anmerkungen zum Projekt „Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften“, RJ 1997,

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schnell gelangte man in dieser Perspektive zu dem Problem, welches die seit Rüthers prägende Methodenfixierung verstellte: In der DDR galt ein anderer Normbegriff als in westlichen Gesellschaften. Der „Normativakt“ der DDR unterschied sich vom rechtsstaatlichen Gesetz durch das Fehlen jeglicher Systemautonomie. Rechtssystem und politisches System waren nicht getrennt. Ein Gesetz konnte von jeder politischen Leitungsinstanz überspielt werden, sei es durch Beschlüsse, Pläne, Verordnungen. Gesetze waren also ein unselbständiges Leitungsinstrument ohne eigenständige Bindung, sei es für Richter oder sonstige Kader. Die von mir dargestellte „Form-Inhalt-These“ war also zwangloser Ausdruck dieses „weichen sozialistischen Normbegriffs“,79 der sich – bei allen Eingriffen in die Justiz – vom Gesetz während des Nationalsozialismus unterschied. 2. Konfliktsoziologie – Einblicke in das Berliner DFG-Projekt zur ­Zivilrechtskultur der DDR Weitere Erkenntnisse insbesondere für das Zivilrecht in der DDR brachte ein Projekt zur „Zivilrechtskultur der DDR“,80 an welchem ich unter der Leitung von Rainer Schröder an der Humboldt-Universität zu Berlin seit 1996 mitarbeiten durfte.81 Auch hier ging es um einen Vergleich zum Nationalsozialismus. Vergleichsmaßstab war die systemübergreifend ausgerichtete Konfliktsoziologie.82 Gefragt wurde, ohne ein zu engmaschiges Raster anzulegen, nach der Bewältigung von Konflikten, die aus dem Blickwinkel des BGB von 1900 dem Zivilrecht zuzuordnen waren. Hier boten die Zivilprozessstatistiken einen ersten rein quantitativen Zugang, und zwar in Form der durchschnittlichen Zivilprozessrate (siehe Tabelle). Der Befund überraschte: Pro hundert der Wohnbevölkerung standen knapp 3,5 Zivilklagen während des Nationalsozialismus gerade einmal 0,7 Klagen während der DDR gegenüber.83 In der DDR wurde im Zivilrecht also viel seltener geklagt als während des Nationalsozialismus.

S. 482 ff.; Michael Stolleis, Was bedeutet „Normdurchsetzung“ bei Polizeyordnungen der frühen Neuzeit, in: FS Peter Landau, 2000, S. 739 ff. 79 Hierzu: Heinz Mohnhaupt, Europäische Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte. Norm und sozialistische Gesetzlichkeit als Forschungsgegenstand, in: Gerd Bender/Ulrich Falk (Hg.), Recht im Sozialismus III: Sozialistische Gesetzlichkeit, 1999, S. 206 ff. 80 Zu diesem Ansatz Rainer Schröder, Einleitung, in: ders. (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR I, 1999, S. 9 ff. 81 Bisher sind erschienen: Rainer Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR I, 1999; II, 2000, III, 2001. Der vierte Band wird die entscheidenden statistischen Ergebnisse enthalten und soll in Kürze erscheinen. Für die im Folgenden nicht konkret nachgewiesenen Ergebnisse kann einstweilen nur hingewiesen werden auf: Rainer Schröder, Zivilprozeß in der DDR: Vorurteil und Realität, in: ders. (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR I, 1999, S. 89 ff. 82 Vgl. Thomas Kilian, Die Erforschung der Ursachen von Zivilrechtskonflikten in der DDR: Hinweise zur Entstehung und zum Umgang mit Konflikten, in: Rainer Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR I, 1999, S. 479 ff. 83 Genaue Nachweise bei Schröder, Zivilprozeß (Fn. 81), S. 95 ff.

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Zivilprozessrate im Vergleich Nationalsozialismus

DDR

1933

4,7 %

1956

0,86 %

1934

3,9 %

1960

0,64 %

1935

3,65 %

1965

0,58 %

1936

3,4 %

1970

0,56 %

1937

3,1 %

1975

0,70 %

1938

2,7 %

1980

0,77 %

1939

2,0 %

1985

0,86 %

Durchschnitt

3,35 %

Durchschnitt

0,71 %

Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR; Hubert Rottleuthner, Verfahrensflut und Verfahrensebbe, ZRP 1985, S. 117 ff.

Einiges sprach bereits ohne statistische Überprüfung dafür, dass in der DDR weniger Zivilprozesse auftraten als während des Nationalsozialismus. Das Bruttosozialprodukt war geringer, es kam also zu weniger Inkassoverfahren. Auch waren Konflikte unter Betrieben, wie gezeigt, ja aus dem Zivilrecht ausgegliedert worden. Der verbleibende Restbereich des Zivilrechts wurde von uns dennoch weit stärker eingeschätzt. Wieso hatten Zivilprozesse in der DDR eine im Vergleich zum Nationalsozialismus so ungewöhnlich geringe Bedeutung? Eine erste Erklärung bot die Theorie des Marxismus-Leninismus.84 Während die kapitalistische Hervorhebung der Privatautonomie auch die gerichtliche Durchsetzung der eigenen Interessen als legitim und schützenswert betrachtet, war der Sozialismus nicht an einer Austragung, sondern an einer Vermeidung zivilrechtlicher Konflikte interessiert. Schon Marx hatte zivilrechtliche Konflikte auf Klassengegensätze und den Antagonismus zwischen Kapital und Lohnarbeit zurückgeführt. Mit dem Aufbau einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaftsordnung sollte die Grundlage für eine objektiv konfliktfreie Gesellschaft gelegt werden. Dennoch auftretende Konflikte interpretierte die sozialistische Lehre als ein Zurückbleiben des Subjekts hinter den objektiven Gegebenheiten. Dies war auszugleichen durch Erziehung zum sozialistischen Menschen. Auch der Zivilprozess diente also der Erziehung des Individuums durch Auflösung des Konflikts. Ziel war die Reduzierung zivilrechtlicher Konflikte und so wurde jeder

84 Ulf Dahlmann, Konflikte in der DDR-Zivilrechtstheorie, in: Rainer Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR I, 1999, S. 449 ff.; Manfred Mühlmann (an den damaligen DDR-Forschungen beteiligt), Die Ursachen- und Konfliktforschung in der Zivilprozessrechtswissenschaft der DDR, in: ebd. Bd. III, 2001, S. 65 ff.

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Rückgang der Zivilprozessrate auch als ein Ansteigen der sozialistischen Moral gefeiert. Zivilprozess als Erziehung zur Konfliktvermeidung erklärt Phänomene, auf die wir bei der Durcharbeitung von knapp 5.000 Prozessakten beständig stießen. Es findet sich ein etwa im Vergleich zum Nationalsozialismus völlig neuartiger Prozessstil.85 Um die Parteien zur Einsicht und zur Akzeptanz der Konfliktentscheidung zu bringen, lief der Prozess weitgehend mündlich ab, im Schnitt nur 1,5 Schriftsätze pro Partei und Verfahren. Die Kommunikation in den ja weitgehend ohne anwaltliche Beteiligung durchgeführten Verhandlungen war alltagssprachlich, fast kollegial und von ungewöhnlich starker rechtlicher Hinweistätigkeit durch den Richter geprägt. Das hier deutlich werdende Ziel, die Parteien mit „Kritik und Selbstkritik“ zu erziehen, konnte auch bei verschwindend geringen Streitwerten mehrere Beweisaufnahmen mit sich bringen. In über 70 % aller Fälle kam es zu einem Vergleich. Wurde streitig entschieden, machte der Erziehungsauftrag auch vor dem Parteibegehren nicht Halt. In einem Fall wurde dem Kläger das 11fache der beantragten Summe zugesprochen, während ein anderer Kläger zu 250 % unterlag. Besondere Aufmerksamkeit fand die „sozialistische Zahlungsmoral“. Im Zivilprozess wurden Kampagnen durchgeführt,86 um die Bürger zur Einsicht zu bewegen. Während eine Fülle von Klagen eingereicht wurde, erschienen in der Tages- und Fachpresse Artikel, die die Missstände anprangerten. Um notorische Nichtzahler zu erziehen, wurde gelegentlich in erweiterter Öffentlichkeit im Betrieb des Verklagten verhandelt. Während einerseits die Kollegen an ihre Pflicht zur Miterziehung des „schwarzen Schafes“ erinnert wurden, sollte die öffentliche Kritik auch durch die Arbeitskollegen beim Verklagten Einsicht fördern. Auch wenn eine Individualsphäre der Parteien mit solchen Maßnahmen nicht geachtet wurde, fand sich doch insgesamt eine auffallende Nähe, ja fast ein Vertrauensverhältnis zwischen Parteien und Richter. Dies änderte sich freilich schlagartig, wenn der Fall etwa durch die Stellung eines Ausreiseantrags eine politische Dimension erhielt. Nun fand sich eine ausgesprochen autoritäre Verhandlungsführung und nun wurde auch die enge Vernetzung der Richter in die staatlichen Leitungsstrukturen für die Parteien zur Gefahr. In wenn auch sehr wenigen Fällen ergaben sich aus den Akten Hinweise auf eine Hinzuziehung der Staatssicherheit, häufiger auf eine stärkere Einbindung der Staatsanwaltschaft. Zivilprozesse erfüllten also keine Rechtsschutzfunktion gegen den Staat. Die sozialistische Abneigung gegen den Zivilprozess erklärt auch die klare Förderung alternativer Konfliktlösungsmechanismen. In außergerichtlichen ­ Schlichtungsstellen sollten Schöffen Konflikte sozusagen innergesellschaftlich 85 Vgl. Boris A. Braczyk, (Selbst)Erziehung der Gesellschaft – der „neue Arbeitsstil“ im Zivilverfahren der DDR ab 1958, in: Rainer Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR I, 1999, S. 497 ff. 86 Beispiel bei Rainer Schröder, Kauf- und Mietprozesse in der DDR am Beispiel des Jahres 1983, Forum Historiae Iuris v. 26.5.1997, www.forhistiur.de/1997-05-schroder/ (letzter Zugriff: 3.8.2015).

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lösen. Mit knapp 70.000 Fällen erledigten beispielsweise 1988 die Konfliktkommissionen87 in den Betrieben auf diese Weise etwa 90 % des anfallenden Arbeitsrechts. Die vor allem im Wohnumfeld tätigen Schiedskommissionen88 waren mit geringwertigen Zivilsachen beschäftigt und kamen 1988 auf knapp 5.000 Fälle, was etwa 8 % der Zivilrechtsstreitigkeiten insgesamt entsprach. Auch durch andere Konfliktlösungsmechanismen wurde der Zivilprozess umgangen. Zu nennen ist hier zunächst das in der DDR allgegenwärtige Eingabenwesen. Im bundesrepublikanischen Erfahrungshorizont mit den berühmten drei „f“ als formlos, fristlos und fruchtlos verhöhnt, erfreuten sich diese Rechtsbehelfe in der DDR größter Beliebtheit. In der für DDR-Bürger wichtigen Frage der Instandhaltung ihrer Mietwohnungen wurden im Jahr 1983 in der gesamten DDR 1.300 Klagen eingereicht. Dem standen allein für den Berliner Bezirk Prenzlauer Berg im gleichen Jahr ca. 2.000 Eingaben gegenüber.89 Mietprobleme wurden also im Eingabenwege zu klären versucht. Die bisherigen Untersuchungen des Eingabenwesens deuten eine durchaus hohe Durchsetzungschance an. Höher jedenfalls als Zivilklagen. Als weiteres funktionales Äquivalent stand DDR-Bürgern die Möglichkeit offen, einen Zivilrechtsstreit durch außerprozessualen Zugriff auf die Zivilrichter zu entscheiden. Mittel hierzu waren die richterlichen Rechtsauskünfte. Meist einmal pro Woche gaben Richter unentgeltlich Rechtsauskünfte, zahlenmäßig waren dies etwa 50.000 Rechtsauskünfte pro Jahr. Die hier Auskunft gaben, waren dieselben Richter, die später auch über einen Streit zu entscheiden hatten. Bereits im Vorfeld ließen sich so kostengünstig die Prozessaussichten klären und eine außerprozessuale Lösung anstreben.

VI. Schluss Damit komme ich zum Schluss. „Dit war allet janz anders“. Immer wieder bekamen wir im Berliner Projekt diese Antwort von Zeitzeugen. Richtig war dies insofern, als unser westdeutsches rechtsstaatliches Vorverständnis zu vielen Missverständnissen führte. Es geht bei dieser Feststellung nicht darum, die Menschenrechtsverletzungen auch im DDR-Zivilrecht herunterzuspielen. Der sehr wichtige Systemvergleich zwischen der DDR und dem Nationalsozialismus setzt jedoch voraus, dass die Funktionszusammenhänge innerhalb der Sys87 Arbeitsrechtsverfahren der Konfliktkommissionen 1972–1988, hg. vom Statistischen Bundesamt, 1995; Loni Niederländer, Ehemalige Konfliktkommissionen der DDR als konfliktvorbeugende und konfliktlösende Institutionen außerhalb der staatlichen Gerichte – eine Problemfeldstudie, ZfRSoz 1990, S. 305 ff. 88 Hans-Andreas Schönfeldt, Vom Schiedsmann zur Schiedskommission. Normdurchsetzung durch territoriale gesellschaftliche Gerichte in der DDR (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 145), 2002; Felix Herzog, Rechtspflege Sache des Volkes?, 1999; Thomas Feltes, Gesellschaftliche Gerichte, Schlichtungs- und Schiedskommissionen. Rechtspolitische Möglichkeiten oder historische Irrtümer, ZRP 1991, S. 94 ff. 89 Annett Kästner, Die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche im Eingabenweg auf dem Gebiet des Mietrechts, in: Rainer Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR I, 1999, S. 129 ff.; Hartmut Krüger, Rechtsnatur und politische Funktion des „Eingabenwesens“ in der DDR, DÖV 1977, S. 432 ff.

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teme zunächst einmal entschlüsselt werden. Und hier stehen bundesdeutsche Gewohnheiten gleichermaßen wie die bisherige Aufarbeitung des Nationalsozialismus bisweilen im Weg. Am Anfang eines Vergleichs muss also ein politisch möglichst neutrales Vergleichsraster stehen. Als ein solches hat sich beispielsweise die Konfliktsoziologie erwiesen. Die Ergebnisse zeigen für die DDR ein uns bemerkenswert fremdes Zivilrechtssystem. Das BGB verlor im demokratischen Zentralismus seine Bedeutung – anders begründet und weitergehender als während des Nationalsozialismus. Spielte damit traditionelle BGB-Dogmatik in der Praxis keine Rolle mehr? Ein Detail in den Akten brachte hier Vertrautes. Ein Einzelrichter in Berlin zeigte eine bemerkenswerte Eigenheit, Anwendungsunsicherheiten in der Praxis zu begegnen, die offenbar doch aus der Vernachlässigung traditioneller Begriffsarbeit in der Ausbildung und Literatur der DDR folgten. Er stellte in der mündlichen Verhandlung demonstrativ unseren guten alten Palandt auf seinen Richtertisch. Dies ist nicht nur versöhnlich für den westlichen Liebhaber feinziselierter BGB-Dogmatik. Die Tatsache, dass dieser Richter nicht abberufen wurde, während vermeintlich viel geringere Verfehlungen Richterkarrieren in der DDR beenden konnten, zeigt Handlungsspielräume, die Außenstehenden nicht unmittelbar eingängig sind. Hier müssen Systemvergleiche ansetzen und hier bietet besonders die DDR noch Aufklärungsbedarf.

Anhang I Auszug aus dem Urteil des Obersten Gerichts vom 8. Oktober 1957, NJ 1957, S. 776–778. „Die Klägerin hat im Jahre 1955 an den aus der Bundesrepublik zugezogenen Ernst W. zwei Darlehen von insgesamt 1000 DM gewährt. W. hat hiervon u. a. einen Radioapparat Marke ‚Sachsenwerk‘ mit Antenne zum Preise von 398,75 DM gekauft. Dieses Gerät hat sich die Klägerin von W. zur Sicherung des gewährten Kredits bis zu dessen Rückzahlung übereignen lassen. Im Dezember 1955 hat der Verklagte von W. den genannten Radioapparat gekauft. Er hat dafür 225 DM in bar bezahlt und außerdem ein gebrauchtes Radiogerät in Zahlung gegeben. Die Klägerin verlangt vom Verklagten die Herausgabe des Radioapparats ‚Sachsenwerk‘ mit Antenne, hilfsweise Zahlung von 398,75 DM. Sie hat vorgetragen, dass der Verklagte beim Erwerb des Apparates nicht gutgläubig gewesen sei und dass überhaupt ein gutgläubiger Erwerb des Eigentums an volkseigenen Sachen ausgeschlossen sei … Übereinstimmung besteht, nämlich darüber, dass, wenn und soweit überhaupt Ausnahmen von der Geltung des genannten Grundsatzes durch Zulassung gutgläubigen Eigentumserwerbes anerkannt werden können, nicht die bisweilen undeutliche oder mehrdeutige abstrakte Fassung der positiven Gesetzesnormen maßgeblich sein kann, sondern dass das entscheidende Kriterium aus dem Wesen und Inhalt der einschlägigen politökonomischen Kategorie zu entnehmen ist, den die Geset123

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zesnorm ja nur widerspiegelt … politökonomisch gesehen, gehören die in Rede stehenden Sachen, solange sie sich im Eigentum des Staates befinden – und das ist der Fall bis zur völligen Rückzahlung des im einzelnen Fall gewährten Kredits –, dem staatlichen Versicherungsfonds an, der Bestandteil des staatlichen Akkumulationsfonds ist (Lehrbuch der Politökonomie, Berlin 1955, S. 621). Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob die Sachen dem staatlichen Eigentum auf dem Wege der vertraglichen Sicherungsübereignung oder unmittelbar kraft Gesetzes zugeführt werden. Denn ökonomisch muss die Wirkung in beiden Fällen notwendigerweise die gleiche sein. Die Zweckbestimmung der dem letztgenannten Fonds zur Verfügung stehenden Mittel besteht nun – neben anderen, die im vorliegenden Fall nicht interessieren – darin, als staatlicher Reservefond zur Deckung von Vermögensverlusten, also von Ausfällen zu dienen, die im Bereich der staatlichen sozialistischen Wirtschaftsführung eintreten und sich hemmend auf den Reproduktionsprozess auswirken können … Aus alledem ergibt sich – politökonomisch und rechtlich –, dass die Sachen zeitweilig – nämlich für die Laufzeit des staatlichen Darlehns – aus der Zirkulation ausscheiden. Sie behalten an und für sich zwar den Warencharakter, ihre Zweckbestimmung aber ändert sich grundlegend, und zwar dahin, dass sie – durch ihre tatsächliche Existenz und ihren Übergang in das staatliche sozialistische Eigentum – nunmehr der Sicherung des Staates gegen einen unabhängig von ihm, insbesondere durch etwaige gesetzwidrige Eingriffe, eintretenden Vermögensverlust zu dienen haben. Diese Zweckbestimmung aber muss sich dahin auswirken, dass sie dem – sei es aus welchen Gründen immer – anzuerkennenden Rechtsschutzbedürfnis des gutgläubigen Erwerbers vorzugehen hat. Das staatliche sozialistische Eigentum (Volkseigentum) ist die entscheidende ökonomische Grundlage der Arbeiter- und Bauern-Macht in der Deutschen Demokratischen Republik. Es ist zugleich die Eigentumsform, die entscheidend auf den Charakter aller gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse in unserem Staat und damit auf die planmäßige, proportionale Entwicklung unserer Volkswirtschaft einwirkt. Die von unserem Staat als fortgeltend sanktionierten Bestimmungen des deutschen Zivilrechts können also insoweit nicht angewendet werden, als sie diese Entwicklung stören oder beeinträchtigen würden. Das gilt auch für die Anwendung der in den §§ 932–936 BGB enthaltenen Vorschriften über den Eigentumserwerb in gutem Glauben. Zwar genießt auch das private, insbesondere das persönliche Eigentum der Bürger den Schutz der Verfassung und der Gesetze, aber gerade das Interesse unserer Arbeiter und Bauern verlangt eine Regelung des zivilrechtlichen Schutzes des Volkseigentums, die die ungesetzliche Veräußerung volkseigener Sachen verhindert, insoweit dadurch Störungen in der Wirkung des ökonomischen Gesetzes einer planmäßigen Entwicklung unserer Volkswirtschaft eintreten können. Dass diese Beschränkung geltendes Recht der Deutschen Demokratischen Republik ist, folgt aus Art. 24, 144 Abs. l Satz l der Verfassung. Art. 24 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung besagt ausdrücklich, dass der Gebrauch des Eigentums ,dem Gemeinwohl nicht zuwiderlaufen darf‘. Schon der weitgespannte Begriff des Wortes ,Gebrauch‘ erfordert es, darunter auch die rechtliche Verfügung durch Erwerb oder Veräußerung des Eigentums zu verstehen. Aber auch Art. 23 Abs. l der Verfassung erklärt Beschränkungen 124

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des Eigentums und daher auch der Möglichkeiten, Eigentum zu erwerben, für zulässig. Diese Erfordernisse bestehen nach Auffassung des erkennenden Senats nicht nur für den staatlichen Produktionsmittelfonds, sondern auch für den Akkumulations-, insbesondere aber für den Versicherungsfonds. Das etwaige eigene Privatinteresse der Bürger unseres Staates muss also in dieser Frage hinter der notwendigen Wahrung des allgemeinen gesellschaftlichen Interesses zurücktreten. Wer in solchen Fällen von einer echten Diskrepanz, d. h. von einem antagonistischen Widerspruch des beiderseitigen Interesses ausgeht, übersieht, dass der Schutz des Volkseigentums stets auch dem Interesse der werktätigen Bürger dient, ganz abgesehen davon, dass es auch bei der Zulassung des gutgläubigen Erwerbs vom Nichteigentümer innerhalb der privaten Sphäre immer streitig gewesen und geblieben ist, ob das Interesse des geschädigten Eigentümers oder – wie das BGB annimmt – das des gutgläubigen Dritterwerbers als das überwiegende und deshalb schutzwürdige anzusehen ist … Aus allen diesen Erwägungen heraus ist festzustellen, dass das mit dem Kassationsantrag angegriffene Urteil auf einer unrichtigen Anwendung der §§ 932– 936 BGB beruht und deshalb aufgehoben werden muss.“

Anhang II Auszüge aus: Hilde Benjamin, Grundsätzliches zur Methode und zum Inhalt der Rechtsprechung, NJ 1951, S. 150–156. „Als Aufgabe und Sinn meiner Ausführungen möchte ich es bezeichnen, Rechenschaft zu geben darüber, wie wir die Aufgabe der Rechtsprechung bisher gelöst haben und wie wir – und damit meine ich die Richter sowohl des Obersten Gerichts wie der Oberlandesgerichte – sie in Zukunft besser lösen können und müssen … Wenn wir aber über unsere Urteile sprechen, über Revisionsund Kassationsurteile, dann müssen wir eines feststellen: Sie tragen überwiegend praktizistischen Charakter. Es fehlt ihnen an der richtigen theoretischen Grundlage. Wir Richter bezeichnen uns oft mit einem gewissen Stolz als Praktiker. Es ist aber kein Grund, darauf stolz zu sein, wenn man ein Nur-Praktiker ist, der glaubt, in der praktischen Arbeit ohne Beherrschung der Theorie auskommen zu können. Ohne Beherrschung welcher Theorie? Als Richter der obersten Gerichte müssen wir uns über unsere besondere Aufgabe klar sein: Wir sind Richter der Deutschen Demokratischen Republik … Ist die Rechtsprechung eine Form der Verwirklichung der Staatsgewalt, so sind wir als Richter Träger dieser Aufgabe, und wir haben an der Ausgestaltung aller Gebiete unseres Staates entscheidend mitzuarbeiten: bei dem Schutz gegen seine Gegner, bei der Lösung seiner wirtschaftsorganisatorischen Aufgaben und auch bei der Lösung von Aufgaben auf dem kulturerzieherischen Gebiet – alles Funktionen, die auch unser Staat bereits entwickelt. Wir müssen uns bewusst sein, dass in der Rechtsprechung in

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entscheidendem Maße die Rolle des Überbaus zum Ausdruck kommt, aktiv fördernd auf die Gestaltung der ökonomischen Verhältnisse einzuwirken. Welche Gebiete der Theorie wir beherrschen müssen, ist schon oft gesagt worden; ich beschränke mich mit der Aufzählung. Es ist einmal das Gebiet der Lehre vom Staat und vom Recht im allgemeinen; es ist das Gebiet der politischen Ökonomie, und zwar nicht nur ihrer theoretischen Lehre, sondern der laufenden Beobachtung der Entwicklung unserer Wirtschaft; es ist genaue Beobachtung der Entwicklung der in unseren Gesetzen zum Ausdruck kommenden Ziele unseres Staates, und dies alles muss zusammengehalten werden durch die Beherrschung der fortschrittlichen Theorie des Marxismus-Leninismus im ganzen … Ich sagte eingangs schon, dass die Rechtsprechung eine der Tätigkeiten der Staatsorgane ist, in denen die aktive, fördernde Rolle des Überbaus besonders zum Ausdruck kommt. Damit aber diese Aufgabe erfüllt werden kann, damit wir durch die Rechtsprechung fördernd und lenkend wirken können, ist eines notwendig: rechtzeitig die Triebe des Neuen erkennen, um an seiner Entwicklung mitzuhelfen. ,Wenn das Neue eben erst entstanden ist‘, so sagte Lenin, ,bleibt das Alte stets eine gewisse Zeit lang stärker‘; das ist immer so, sowohl in der Natur als auch im Leben der Gesellschaft. Hohn darüber, dass die Keime des Neuen schwach sind, billiger Intellektuellen-Skeptizismus und dergleichen mehr, all das sind im Grunde Methoden des Klassenkampfes der Bourgeoisie gegen das Proletariat, ist Verteidigung des Kapitalismus gegen den Sozialismus. Wir müssen die Keime des Neuen sorgfältig untersuchen, ihnen die größte Aufmerksamkeit entgegenbringen, mit allen Mitteln ihr Wachstum fördern und diese schwachen Keime ,hegen und pflegen‘. Darin – die Keime des Neuen zu erkennen – sehe ich eine sehr große Aufgabe, die der Rechtsprechung obliegt. Mir scheint, dass diese Aufgabe uns besonders in zwei Formen entgegentritt: Einmal in der Notwendigkeit, zunächst mit den alten überkommenen und von unserem neuen Staat sanktionierten Gesetzen zu arbeiten, und andererseits in der Weiterentwicklung und Anpassung der Gesetze, auch unserer neuen Gesetze, an unsere ständige ökonomische Weiterentwicklung. Dieser Aufgabe sind wir wohl in einzelnen Fällen gerecht geworden, wir haben sie aber nur in ganz geringem Umfang bewusst gelöst. Die Lehre vom Staat zeigt uns, dass der Staat, seine Ordnung, auch den Inhalt seiner Rechtsordnung bestimmt. Das bedeutet, dass ein Staat einer neuen Ordnung auch die alten Gesetze, die er übernimmt, mit seinem neuen Inhalt füllt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Ausführungen von Muszkat in seiner Schrift ,Am Rande einiger aktueller Probleme des polnischen Rechtslebens‘. Dieses Problem besteht auch für uns. Wir haben es 1946/47 gefühlt und versucht, es mit der Heranziehung von Generalklauseln, mit der Berufung auf die §§ 242 und 157 BGB zu meistern. Ich möchte hierbei einen Gedanken aussprechen, der mir selber erst in der letzten Zeit klar geworden ist: Kann man bei solchen Gesetzen, die ihren Inhalt durch die Änderung der Staatsordnung erhalten haben, überhaupt von Auslegung sprechen? Man kann m.E. nicht in dem gleichen Sinne, mit dem man innerhalb der gleichen Staatsordnung die Auslegung eines Gesetzes ändert. Wenn man davon ausgeht, dass mit der neu126

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en staatlichen Ordnung die von dem neuen Staat sanktionierten übernommenen Gesetze einen neuen Inhalt erhalten haben, dann ist dieser Inhaltswechsel bereits mit der Änderung in der Staatsordnung eingetreten. Als Beispiel nenne ich die Kriegswirtschaftsverordnung, mit der wir jahrelang gearbeitet haben und die, obgleich im Hitler-Staat entstanden und vom Hitler-Staat für seine Zwecke gegeben, ohne dass wir uns dieser Erscheinung von Anfang an vollkommen bewusst waren, anwendbar geblieben war, weil sie einen neuen Inhalt bekommen hatte … Wenn das Gesetz durch den neuen Staat seinen neuen Inhalt bekommt, dann ist das ein anderer Prozess, als wenn innerhalb der gleichen Staatsordnung der Wechsel bestimmter ökonomischer oder sonstiger Faktoren zu einer neuen Auslegung eines Gesetzes führt. Man soll mit dem Wort ,Auslegung‘ keine Wortklauberei treiben, aber mir scheint, dass man sich über die Besonderheiten dieses Prozesses, die letzten Endes bedingt sind durch das Verhältnis von Staat und Recht, klar sein muss … Ich gehe bei diesen Betrachtungen aus von der Aufgabe, die ,Keime des Neuen zu entwickeln‘. Sie gilt natürlich nicht nur bei der Ermittlung des neuen Inhalts alter Gesetze, sondern insbesondere auch bei der aktiven Unterstützung neuer gesellschaftlicher Erscheinungen durch die Weiterentwicklung der Anwendung unserer Gesetze überhaupt, das heißt also sowohl unserer neuen Gesetze wie auch der alten, deren neuen Inhalt wir ermittelt haben. Diese Aufgabe, das Neue zu entwickeln, wird nur von dem richtig gelöst werden können, der die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung kennt und unsere Entwicklung selbst laufend beobachtet … Es ist nicht immer leicht, echte Keime des Neuen zu entdecken – man kann dabei irren. Ein Beispiel für einen solchen Irrtum ist das gestern erwähnte Urteil des Oberlandesgerichts Potsdam zur Auslegung des § 174 des Strafgesetzbuches. Hier sind die ,Keime‘ des Neuen, nämlich die Bedeutung der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters, verkannt … Ich möchte noch einiges über die Begründung der Urteile sagen. In dem schon mehrfach erwähnten Ehescheidungsurteil haben wir ausgesprochen, dass ein Urteil nicht nur juristisch richtig sein muss, sondern dass es auch in seinem Inhalt demjenigen, den es angeht, verständlich sein muss. Im Anschluss an das Problem der Auseinandersetzung mit den alten Gesetzen und den alten Rechtsbegriffen muss jedoch eine bestimmte Methode der Urteilsbegründung gefordert werden. Ich möchte dies die Methode der offensiven Begründung nennen. Ich halte es für falsch, wenn wir eine Begründung damit anfangen, uns mit Reichsgerichtsentscheidungen oder Lehrmeinungen älterer oder auch westdeutscher Schriftsteller auseinanderzusetzen, um dann erfreut festzustellen, dass unsere Urteile damit übereinstimmen, oder auch halb entschuldigend zu sagen, dass sie damit nicht übereinstimmen. Wir haben zunächst davon auszugehen, dass wir ein Gesetz nach unserer Ordnung, nach unseren Anschauungen anwenden und auslegen. Das bedeutet nicht, dass wir die frühere Rechtsprechung nicht kennen; das ist von Richtern des Obersten Gerichts zu verlangen. Aber wir dürfen bei dieser Auseinandersetzung nicht in Objektivismus verfallen und unsere Urteile mit Reichsgerichtsentscheidungen der verschiedensten Entwicklungsstadien füllen. Hieraus ergibt sich auch unser Verhältnis zu Präjudizien. Es wird Fälle geben, wo Reichsgerichtsentscheidungen einmal herangezogen werden können, ja 127

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müssen, insbesondere bei solchen Fragen, die sich mit der Auslegung neutraler, technischer Normen befassen. Aber das werden Ausnahmen sein. Genau so wenig, wie wir mit alten Präjudizien Kult treiben, werden wir das aber auch mit unseren eigenen tun. Wir werden mit unserer ökonomischen Entwicklung und mit der Klärung unserer staatsrechtlichen Begriffe Schritt halten. Und das Oberste Gericht wird keinen horror pleni kennen, keine Angst vor unserem eigenen ,Großen Senat‘, um Entscheidungen, die durch die Entwicklung überholt sind, zu korrigieren.“

Nachwort Der vorliegende Text geht auf eine Reihe von Vorträgen zurück, die zwischen 2003 und 2005 von mir gehalten wurden. Die Wurzeln der dortigen Überlegungen reichen bis in die Zeit des Mauerfalls zurück. Als ich 1993 bei Rainer Schröder in Bayreuth zunächst als studentischer Mitarbeiter anfing, hatte dieser gerade ein Drittmittelprojekt zur Geschichte der DDR-Ziviljustiz beantragt, das auf der hier eingenommenen Vergleichsperspektive aufbaute.1 Meine eigene in diesem Text entwickelte Perspektive wurde im Umfeld dieses Projekts geprägt, das dann seit 1995 an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt wurde.2 Der Vergleich zwischen DDR und Nationalsozialismus erschien mir von Anfang an auch deswegen naheliegend, weil meine ersten Arbeiten dem Privatrecht im Nationalsozialismus gewidmet waren.3 Vor allem aber lag der Vergleich ‚in der Luft‘, wie eine ganze Reihe von Arbeiten in Vergleichsperspektive zeigen, die ich im vorliegenden Text ausgewertet habe. Im Rückblick nach über zehn Jahren fällt mir nun die Fremdheit auf, mit der ich diesem Text heute gegenübertrete. Auch dies ist zunächst sicher biografisch geprägt. Mit dem Wechsel von der Humboldt-Universität zu Berlin zur Universität zu Köln war 2003 das Ende meiner Forschungen zur DDR-Geschichte verbunden. Alle wichtigen Archive waren im Osten der Bundesrepublik und als solche für die Tagesarbeit unerreichbar. Zudem fehlte es an der Konfrontation mit dieser Vergangenheit, die das Leben in der ‚Frontstadt‘ Berlin ausgezeichnet hatte. In Köln, tief im Westen der alten Bundesrepublik, hatte man stets den Eindruck, dass der Mauerfall gleichermaßen nahezu unbemerkt geblieben war wie die gesamte vorherige DDR-Geschichte. Die DDR fand hier nicht statt.

1 Vgl. Rainer Schröder, Zivilrechtsprechung in der DDR während der Geltung des BGB. Vorüberlegungen zu einem Forschungsprojekt mit vergleichender Betrachtung des Zivilrechts im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, in: Heinz Mohnhaupt/Dieter Simon (Hg.), Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, 1993, S. 527 ff. 2 Die Ergebnisse wurden inzwischen veröffentlicht: Rainer Schröder, Zivilrechtskultur der DDR IV: Vom Inkasso- zum Feierabendprozess, 2010. 3 Hans-Peter Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995.

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Gleichwohl reichen die Gründe meiner Fremdheit dieser Vergleichsperspektive gegenüber tiefer. Sie ist aus der Forschungslandschaft nahezu verschwunden. Die DDR wird kaum noch mit dem Nationalsozialismus verglichen. Die Gründe hierfür dürften tief hineinreichen in die Aufarbeitungsstimmung nach 1989. Von Anfang an war die Frage einer Rechtsgeschichte der DDR verknüpft mit Schuldfragen. Die DDR-eigene Rechtsgeschichtsschreibung stand vor und nach 1989 unter Ideologieverdacht und wurde daher nicht gehört. Versuche westlicher Rechtshistoriker, hier mit Zeitzeugen zusammenzuarbeiten, standen vor dem Problem beiderseitiger Befangenheit: Ehemalige DDR-Juristen mussten damit rechnen, mit persönlicher Schuld konfrontiert zu werden. Bundesre­ publikanische Rechtshistoriker, die eine solche Zusammenarbeit suchten, standen schnell im Verdacht, beschönigen zu wollen. Im Ergebnis war es daher die Rechtsgeschichtsschreibung der Bundesrepublik, welche die Rechtsgeschichte der DDR schrieb. Und sie tat dies weitgehend unvorbereitet. Die DDR-Geschichte, die zuvor außerhalb des so genannten Ostrechts kaum Beachtung in der Rechtsgeschichtsschreibung gefunden hatte, rückte schlagartig ins Zentrum des Interesses. Das junge Fach der Rechtszeitgeschichte, das sich nun der DDR-Geschichte zuwandte, hatte zuvor vor allem zum Nationalsozialismus geforscht. Diesen Forschungen entnahm man das Handwerkszeug, wie etwa die Totalitarismustheorien, mit denen man die DDR nun betrachtete. Eine bestimmende Rolle spielte dabei vielleicht auch, dass man die Aufarbeitung des Nationalsozialismus nach 1945 in der Bundesrepublik zuvor scharf kritisiert hatte. Man wollte es nun besser machen, schnell verkennend, dass ‚besser‘ nur möglich gewesen wäre, wenn die ehemalige DDR sich selbst aufgearbeitet hätte, während die Aufarbeitung durch unbelastete Westjuristen nicht immer zu Unrecht dem Vorwurf der ‚Siegerjustiz‘ ausgesetzt war. Bereits im vorliegenden Text hatte ich 2003 betont, dass dieser NS-geprägte Blick viele Zerrbilder der DDR-Rechtsgeschichte produziert hat. Letzte Ausläufer dieser Debatten waren die immer wieder aufflammenden Begriffsstreitigkeiten um den ‚Unrechtsstaat‘ DDR. Die These, dass die damals gewählte Vergleichsperspektive ihrerseits noch tief geprägt ist von den Aufarbeitungsjahren nach 1989, bestätigt sich durch eine Gegenprobe. Der Pulverdampf ist inzwischen verflogen. Die Abwicklung der DDR-Justiz und der DDR-Rechtswissenschaft ist juristisch abgeschlossen. Damit verschwand die Vergleichsperspektive. Stimmt meine These und ist diese Vergleichsperspektive also jedenfalls auch ein Zeichen fehlender Distanz des Historikers zu seinem Gegenstand, dann müsste man in dem nun eingetretenen Perspektivwechsel den Beginn der Historisierung der DDR-Rechtsgeschichte erblicken, so wie sie von Broszat noch 1985 für den Nationalsozialismus eingefordert wurde. Leider wird man das aber kaum behaupten können. Die Entkopplung der DDR vom Nationalsozialismus hat in der Rechtshistoriografie vielmehr dazu geführt, dass man in alte Untersuchungsfelder zurückfiel. Während die Forschung zum Nationalsozialismus weiterhin boomt, ist die Forschung zur DDR-Rechtsgeschichte weitgehend erlahmt. Dies zeigt beispielhaft die Entwicklung der sicher führenden zeitrechtshistorischen Publikationsreihe, der „Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ bei Mohr Siebeck. Seit 2004 erschienen hier 15 Bände mit starkem Bezug zum Nationalsozialis129

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mus, während nur zwei Arbeiten zur DDR-Rechtsgeschichte erschienen,4 beide 2008, also vor sieben Jahren. Die DDR-Rechtsgeschichte wird von Juristen momentan kaum noch untersucht. Das große Osteuropa-Projekt am Frankfurter Max-Planck-Institut ist ausgelaufen. 2006 erfolgte durch Inga Markovits nochmals eine umfassende Darstellung des Alltags eines DDR-Gerichts.5 Die letzte große Aufarbeitung des Themas erfolgte 2009 durch Michael Stolleis als Teilprodukt seiner großen Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland.6 Blickt man auf die sonstige Literatur zur DDR-Rechtsgeschichte, so handelt es sich fast ausschließlich um Darstellungen der Strafrechtsgeschichte der DDR und auch der strafrechtlichen Aufarbeitungsgeschichte nach 1989. Das DDR-Zivilrecht, das im Zentrum des vorliegenden Beitrags stand, ist seitdem kaum weiter untersucht worden.7 Bleibender Wert meines Beitrages könnte es daher sein, auf diese Themen neugierig gemacht zu haben. Wenn dies nur über den Umweg des Eyecatchers Nationalsozialismus möglich ist, so hat der Vergleich seine Aufgabe aus heutiger Sicht erfüllt.

4 Es handelt sich um Martin Otto, Von der Eigenkirche zum volkseigenen Betrieb: Erwin Jacobi (1884–1965), 2008 und Matthias Willing, „Sozialistische Wohlfahrt“. Die staatliche Sozialfürsorge in der Sowjetischen Besatzungszone und DDR (1945–1990), 2008. 5 Inga Markovits, Gerechtigkeit in Lüritz. Eine ostdeutsche Rechtsgeschichte, 2006. 6 Michael Stolleis, Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, 2009. 7 Bezüge zum Zivilrecht finden sich etwa bei Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess, 2005 (Teil des Berliner Projekts); Marion Hager, Betriebliche Konflikthandhabung in der DDR und in der Bundesrepublik, 2008; Marion Röwekamp, Quantität als Erfolgsgeschichte? Frauen in der Justiz der DDR, 2012; Erich Buchholz, Das DDR-Justizsystem – das beste je in Deutschland?, 2012.

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Die Zukunft der Besteuerung von Vermögen aus ­rechtlicher Perspektive Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Politischer Ausgangspunkt und Erwartungen an eine stärkere Besteuerung von Vermögen 1. Konsolidierungsbedarf der öffent­ lichen Haushalte und Haftungs­ risiken durch die Eurokrise 2. Vermögensakkumulation seit dem 2. Weltkrieg und Vermögens­ ungleichverteilung 3. Deckung des Finanzbedarfs öffentlicher Haushalte und Umverteilungsziele 4. Unterdurchschnittliche Belastung von Vermögen im internationalen Vergleich III. Rechtsentwicklung 1. Abnehmende Bedeutung des Vermögens als Besteuerungsgegenstand in der Vergangenheit 2. Zunahme von Substanzsteuer­ elementen im Rahmen der Ertragsbesteuerung IV. Rechtlicher Rahmen der Besteuerung von Vermögen 1. Überblick 2. Zuständigkeit für die Reform bzw. Einführung vermögensbezogener Steuern a) Ertragshoheit b) Gesetzgebungshoheit 3. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Besteuerung von Vermögen a) Rechtfertigungsbedürfnis

b) Nennung in der Finanzver­ fassung c) Rechtfertigung der Belastung von Vermögen unter dem Gesichtspunkt steuerlicher Leistungsfähigkeit d) Vereinbarkeit einer Besteuerung von Vermögen mit Art. 14 Abs. 1 GG 4. Verfassungsrechtliche Anforde­ rungen an die Ausgestaltung von Vermögensteuern a) Gleichheitsgerechte Vermögensbesteuerung b) Freiheitsrechtliche Belastungsobergrenzen V. Reformbedarf und Reformvorschläge 1. Wiedereinführung einer allgemeinen Vermögensteuer 2. Grüne Vermögensabgabe a) Einordnung als einmalige Vermögensabgabe i.S.v. Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG b) Vereinbarkeit mit Art. 14 Abs. 1 GG c) Ausgestaltung der persönlichen und sachlichen Freibeträge 3. Einführung einer Euro-Zwangs­ anleihe 4. Zur Reform der bestehenden vermögensbezogenen Steuern a) Erbschaftsteuer b) Grundsteuer VI. Zusammenfassung

I. Einleitung Seit den Beschlüssen des Bundesverfassungsgericht aus 19951 und 20062 zur Vermögen- und zur Erbschaftsteuer ist die Diskussion um die Besteuerung von 1 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 = GmbHR 1995, 668; BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 = GmbHR 1995, 679 (Erbschaftsteuer I). 2 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 = GmbHR 2007, 320 (Erbschaftsteuer II).

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Vermögen nie zum Erliegen gekommen. Die seit 2001 veröffentlichten Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung3 schüren den Ruf nach stärkerer Beteiligung „der Reichen“ an der Staatsfinanzierung. Die öffentliche Debatte schwillt an und verebbt. Sie flammt regelmäßig vor Wahlkämpfen wieder auf, wird immer wieder durch neue Vorschläge wiederbelebt. Geschehen ist seither nichts, obwohl die Länder wohl berechtigt wären, in Eigenregie Vermögensteuern einzuführen.4 Doch selbst rot-rote Länderbündnisse sind bisher davor zurückgeschreckt, im Alleingang Vermögensteuern zu erheben.5 Dies wirft die Frage auf, wie ernst die Ankündigungen von SPD, Bündnis 90/DIE GRÜNEN sowie der Linkspartei zu nehmen sind, im Fall der Übernahme von Regierungsverantwortung neue vermögensbezogene Steuern einzuführen. Möglicherweise handelt es sich nur um Wahlkampfrhetorik, Ankündigungen der Opposition, die im Falle einer Regierungsübernahme nicht weiter verfolgt werden. Der britische Labour-Politiker Healey hat das Dilemma zwischen politischer Ankündigung und legislatorischer Umsetzung treffend beschrieben:6 “You should never commit yourself in Opposition to new taxes unless you have a very good idea how they will operate in practice. We had committed ourselves to a Wealth Tax; but in five years I found it impossible to draft one which would yield enough revenue to be worth the administrative cost and the political hassle.”

Doch auch wenn unklar ist, ob der Ruf nach einem stärkeren Steuerzugriff auf das Vermögen eher wahlkampftaktisches Säbelrasseln als ernstgemeinte steuerpolitische Gestaltungsoption ist, bedarf es der fachlichen Aufarbeitung. Denn die Besteuerung von Vermögen ist nicht nur politisch umstritten, sondern birgt neben zweifelhaften ökonomischen Wirkungen7 nach wie vor auch viele offene rechtliche Fragen. Aufhorchen lässt zudem, dass das Stadium vager Ankündigungen in Parteiprogrammen und politischer 10-Punkte-Papiere überschritten ist. Sowohl zur Vermögensabgabe der Grünen8 als auch zur Vermögensteuer der SPD liegen ausformulierte Gesetzesentwürfe9 vor. Damit existiert eine konkrete Grundlage für die verfassungsrechtliche Prüfung. Auch geht es nicht nur um das Für und Wider einer allgemeinen Vermögensteuer oder die rechtlichen Voraussetzungen für einmalige Vermögensabgaben10 oder Zwangsanleihen11. Vielmehr stehen sowohl Grundsteuer als auch Erbschaft- und Schenkungsteuer verfassungsrechtlich unter Beschuss. 3 Vgl. Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland, Stand 17.9.2012. 4 Zu den Kompetenzfragen s. unten IV.2.b). 5 Zu den Gründen Tipke, Die Steuerrechtsordnung III, 2. Aufl. 2013, S. 1326. 6 Zitiert nach Boadway/Chamberlain/Emmerson, Taxation of wealth and wealth transfers, in: Institute for Fiscal Studies (Hg.), Dimensions of Tax Design (Mirrlees Review 1), 2010, S. 737 ff., S. 782. 7 Siehe Maiterth/Houben, in: Hey/Maiterth/Houben, Zukunft der Vermögensbesteuerung (IFSt-Schrift Nr. 483), 2012, S. 92 ff. 8 BT-Drucks. 17/10770. 9 Die Entwürfe der SPD sind zwar noch nicht offiziell veröffentlicht, liegen aber der Studie Bach/Beznoska, Aufkommens- und Verteilungswirkungen einer Wiederbelebung der Vermögensteuer, DIW Berlin: Politikberatung kompakt 68 (2012) zugrunde. 10 Dazu unten IV.2.a). und V.2. 11 Dazu unten V.3.

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Gesichert ist, dass die Politik über kurz oder lang eine Entscheidung in Sachen Grundsteuerreform wird treffen müssen. Zwar mag es, solange nur der Bundesfinanzhof12 und die herrschende Meinung im Schrifttum13 die Erhebung der Grundsteuer auf der Grundlage der veralteten Einheitsbewertung für verfassungswidrig halten, angehen, dass sich die Länder seit Jahren in der Berechnung verschiedener Modelle14 ergehen, ohne tätig zu werden. Doch irgendwann wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden15 und die Politik zum Handeln zwingen. Dass das Bundesverfassungsgericht die schon in den 1995er Beschlüssen16 für gleichheitssatzwidrig erklärte Einheitsbewertung im Rahmen der Grundsteuer unbeanstandet lässt, ist nahezu ausgeschlossen.17 Welche Alternativen der Gesetzgeber hat, ist indes nicht nur politisch umstritten, sondern auch rechtlich ungeklärt. Ebenso ungewiss ist die Zukunft der Erbschaftsteuer. Es scheint, als sei es auch nach zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts18 zur Erbschaftsteuer nicht gelungen, eine verfassungskonforme Gesetzeslage herzustellen. Zwar hat sich der Gesetzgeber infolge des zweiten Erbschaftsteuerbeschlusses aus dem Jahr 2006 bemüht, der Forderung nach realitätsgerechter Bewertung Rechnung zu tragen.19 Dennoch war auch die Erbschaftsteuerreform 2008 von massiven verfassungsrechtlichen Bedenken begleitet, die sich vor allem gegen die neuen Begünstigungstatbestände der §§ 13a ff. ErbStG richten.20 Seither ist die Kritik nicht verstummt. Das Erbschaftsteuergesetz in der Fassung des Erbschaftsteuerreformgesetzes vom 24.12.200821 wird aufgrund Richtervorlage des 2. Senats des Bundesfinanzhofs vom 27.9.201222 erneut auf den verfassungsgerichtlichen Prüfstand kommen. Damit sind die beiden verbliebenen Steuern auf Vermögen bzw. auf dessen Transfer, die Erbschaft- und die Grundsteuer, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, beide verfassungsrechtlich in Frage gestellt. 12 BFH v. 30.6.2010 – II R 60/08, BStBl. II 2010, 897, 900 f. 13 Vgl. Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 16 Rz. 6. 14 Zu den aktuell diskutierten Modellen siehe IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), Anhänge A3– A7. 15 Siehe insbesondere das anhängige Verfassungsbeschwerdeverfahren 2 BvR 287/11. In der Vergangenheit wurden Verfahren zur Grundsteuer allerdings nicht zur Entscheidung angenommen, vgl. BVerfG v. 3.3.2006 – 1 BvR 311/06, ZKF 2006, 213 (Beschwerde abgedruckt in ZSteu 2006, S. 136 ff.); BVerfG v. 21.6.2006 – 1 BvR 1644/05, ZKF 2006, 213. Siehe hierzu auch Eisele, Die Grundsteuer auf selbst genutzte Wohnimmobilien ist verfassungsgemäß, Der Gemeindehaushalt 2009, S. 206 ff., S. 208. 16 Siehe Fn. 1. 17 Zweifel an der Verfassungskonformität der Einheitswerte für Zwecke der Grundsteuer kommen andeutungsweise bereits in BVerfG v. 13.4.2010 – 1 BvR 3515/08, HFR 2010, 862, 864 zum Ausdruck. Siehe auch die Einschätzung etwa von Schulemann, Reform der Grundsteuer. Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 209 (2011), S. 8 f. 18 Siehe die Nachweise in Fn. 1 und 2. 19 Allerdings ebenfalls mit zweifelhaftem Erfolg, siehe Maiterth/Houben, in: IFStSchrift Nr. 483 (2012), S. 132 ff. 20 Siehe pars pro toto Seer, Ubg 2012, 376 ff., 380 f. 21 BGBl. I 2008, 3018. 22 BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11, DStR 2012, 2063; siehe auch die Beitrittsaufforderung an das BMF vom 5.10.2011 im Verfahren II R 9/11, BStBl. II 2012, 29.

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Bei der Einführung neuer vermögensbezogener Steuern müsste der Gesetzgeber überzeugende Antworten für die verfassungsrechtlichen Fragen finden, soll das neue Regelwerk nicht sofort wieder in Karlsruhe landen. Zwar ist zu befürchten, dass die Politik unter Berufung auf die pro-futuro-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach dem Fiskus regelmäßig die Erträge aus verfassungswidrigen Steuern erhalten bleiben,23 eine erhebliche Risikobereitschaft an den Tag legen wird. Andererseits hat das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich in der Entscheidung zur Entfernungspauschale dem Umstand, dass die neue Regelung vom Anfang an starker verfassungsrechtlicher Kritik ausgesetzt war, insofern Gewicht beigemessen, als es in diesem Fall die Rückabwicklung ex tunc für erforderlich erachtete.24 Dies ist geradezu eine Aufforderung zu kritischer fachlicher Auseinandersetzung mit neuen vermögensbezogenen Abgaben bzw. Reformvorschlägen zur Sanierung von Grund- und Erbschaftsteuer. Im Folgenden sollen zunächst die Motive25 einer (stärkeren) Besteuerung von Vermögen analysiert werden, da sich die gesetzgeberischen Zielsetzungen auch in der steuerverfassungsrechtlichen Rechtfertigung niederschlagen. In einem zweiten Schritt wird der rechtliche Rahmen aufgezeigt, um sodann auf Fragen der konkreten Ausgestaltung der in der Diskussion stehenden Steuern einzugehen.

II. Politischer Ausgangspunkt und Erwartungen an eine stärkere Besteuerung von Vermögen 1. Konsolidierungsbedarf der öffentlichen Haushalte und Haftungsrisiken durch die Eurokrise Die aktuelle steuerpolitische Diskussion über eine stärkere Heranziehung von „Reichen“, sei es im Rahmen der Einkommensteuer, sei es im Rahmen (neuer) Steuern auf das Vermögen, findet statt vor dem Hintergrund der Euro- und Staatsschuldenkrise. Bereits der über die Jahrzehnte aufgehäufte nationale Schuldenstand von aktuell rund 82 % des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 201126 begründet erheblichen Konsolidierungsbedarf. Dank historisch niedriger Zinsen für deutsche Staatsanleihen scheint das nationale Schuldenproblem augenblicklich zwar weniger drückend. Dies kann sich aber bei Anstieg der Inflation und einer entsprechenden Erhöhung der Zinsen schnell ändern.

23 Ungeachtet der Kritik an der dogmatisch nicht begründbaren Abkehr vom Grundsatz der ex-tunc-Wirkung verfassungsgerichtlicher Judikate (siehe Seer, NJW 1996, 285 ff., 289; Sangmeister, StuW 2001, 168 ff., 179; Heußner, NJW 1982, 257 ff., 259) hält das BVerfG im Abgabenrecht weiterhin daran fest, dem Gesetzgeber lediglich zukunftsgerichtete Reformaufträge aufzuerlegen. 24 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210, 246; BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268, 285 f. 25 Siehe hierzu auch Vieten, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Wiedereinführung einer Vermögensteuer, Dissertation Frankfurt/Main 2005, S. 3. 26 Quelle: Bundesministerium der Finanzen, Monatsbericht März 2012, Tab. 14.

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Noch weit größere Lasten kommen auf den Bundeshaushalt zu, wenn die Eurogarantien27 eingelöst werden müssen oder einzelne Euroländer aus der Eurozone ausscheiden, ganz zu schweigen von Einnahmeproblemen, die infolge eines Konjunktureinbruchs bei Auseinanderfallen der Eurozone zu befürchten sind. Die nach wie vor ungelöste europäische Währungskrise birgt damit ein politisches Drohpotential, das über die „üblichen“ Haushaltsprobleme in Normallage,28 wie sie insbesondere durch mangelnde Haushaltsdisziplin verursacht werden, hinausgeht. Ob dies auch an der Rechtfertigungslage etwas ändert, ist damit allerdings nicht gesagt. So beklemmend die finanzielle Situation der öffentlichen Haushalte ist,29 folgt hieraus noch kein Pleinpouvoir für den Steuergesetzgeber. Reine Fiskalzwecke akzeptiert das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen.30 Nicht beantwortet ist allerdings, ob dies auch für Krisenszenarien und Ausnahmezustände eines Auseinanderbrechens der Europäischen Währungsunion mit nicht absehbaren fiskalischen Folgen gilt (siehe unten IV.2.a) a.E.). 2. Vermögensakkumulation seit dem 2. Weltkrieg und Vermögensungleich­ verteilung Gleichzeitig scheint es, als läge mit dem Vermögen eine große Steuerquelle weitgehend brach. Seit dem 2. Weltkrieg hat Deutschland eine zuvor nicht gekannte Phase relativ ungestörter Vermögensakkumulation erlebt. Für 2012 wird das Nettovermögen deutscher Privathaushalte mit rund 10 Billionen Euro angegeben.31 Dabei hat sich das Privatvermögen im Zeitraum zwischen 1992 und 2012 verdoppelt.32 Schon dieses Volumen der potentiellen Steuerquelle Vermögen weckt Begehrlichkeiten, insbesondere wenn man ihr die im gleichen Zeitraum drastisch angestiegene Staatsverschuldung gegenüberstellt.

27 Der deutsche Haftungsanteil an den Rettungsschirmen beläuft sich auf max. 190 Mrd. Euro (Art. 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 i.V.m. Anhang 1 ESMV). Vgl. dazu auch BVerfG v. 12.9.2012 – 2 BvR 1390/12, NJW 2012, 3145, 3152. 28 Zur Unterscheidung zwischen Normal- und Ausnahmelage siehe Heun, in: Dreier (Hg.), GG Suppl., 2010, Art. 109 Rz. 42; Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), GG-Kommentar, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rz. 91; Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 592; Kube, in: Maunz/Dürig (Hg.), GG, Art. 109 Rz. 164 ff.; Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 ff., 2563; Harms, Verfassungsrecht in Umbruchsituationen, Dissertation Baden-Baden 1999, S. 127 ff., 133 ff. 29 Siehe nur die Kampfschrift von Kirchhof, Deutschland im Schuldensog. Der Weg vom Bürgen zum Bürger, 2012. 30 St. Rspr., siehe bereits BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55, 80; ferner BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60, 89; BVerfG v. 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164, 182; BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210, 236 f. 31 Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland, Stand 17.9.2012, S. XXXIX. Im Dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/9915, S. 174 wird für 2002 noch die Zahl von 7,8 Billionen Euro angegeben. 32 Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland, Stand 17.9.2012, S. XXXIX.

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Zwar gibt es – Sparapelle scheinen gegenüber der Politik nicht zu fruchten – auf den staatlichen Einnahmebedarf andere gesetzgeberische Antworten, die beträchtlich einfacher umzusetzen wären als die Besteuerung von Vermögen. So ließe sich mit der legistisch denkbar unproblematischen Anhebung des allgemeinen Umsatzsteuersatzes um 1 % ein Mehraufkommen von rund 8 Mrd. Euro erwirtschaften.33 Politökonomisch hat die Heranziehung „der Reichen“ jedoch signifikante Vorteile, geht es doch – je nach Ausgestaltung34 – nur um eine verschwindend geringe Zahl potentieller Wähler, wohingegen Umsatzsteuererhöhungen stets von breit angelegten Verteilungsdiskussionen (Stichwort: „Umverteilung von unten nach oben“) begleitet sind. Die Besteuerung der Reichen lässt sich dagegen politisch als „gerecht“ verkaufen. In der Tat ist nicht hinweg zu diskutieren, dass es seit den 1970er Jahren zu einer Zunahme der Ungleichverteilung der Vermögenskonzentration innerhalb der Bevölkerung gekommen ist.35 Nach einer Untersuchung aus dem Jahr 200736 besitzen die reichsten 10 % der Bevölkerung mehr als 60 % des privaten Gesamtvermögens. Auf das reichste 1 % entfällt ein Anteil von 23 % des Gesamtvermögens. Dagegen verfügen die unteren 50 % der Bevölkerung nur über rund 1 % des Gesamtvermögens.37 Zudem divergieren die Vermögensbestände stark nach Altersklassen: Das höchste durchschnittliche Nettovermögen findet sich in der Gruppe der 56–65-Jährigen; im Alter sinkt es nur leicht ab. Diese Ansammlung von Vermögen im höheren Lebensalter führt zu der Forderung, stärker an dem im Erbgang übergehenden Vermögen zu partizipieren.38 Infolge der langen Periode ununterbrochener Vermögensakkumulation ist die jährliche Erbmasse rapide angestiegen.39 Im Zeitraum von 2011 bis 2020 werden Werte in Höhe von 2,5 Billionen Euro vererbt.40 3. Deckung des Finanzbedarfs öffentlicher Haushalte und Umverteilungsziele Die aktuelle Debatte verbindet die Suche nach neuen Finanzquellen mit Umverteilungsideen. Historisch war Umverteilung zwar kein primäres Ziel der Besteuerung von Vermögen,41 sondern die Anknüpfung an das Vermögen sollte 33 Vgl. etwa Wiegard, FR 2010, 401 ff., 406, der nicht nur die einfache Umsetzbarkeit hervorhebt, sondern auch die geringen Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum. 34 Siehe unten V.1. und V.2.c). 35 Siehe hierzu Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2009/10, BT-Drucks. 17/44, S. 322 ff. 36 Vgl. Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) des DIW, hierzu Frick/Grabka, Gestiegene Vermögensungleichheit in Deutschland, DIW-Wochenbericht 4 (2009), S. 54 ff. 37 Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland, Stand 17.9.2012, S. 334. 38 Eißel, Argumente für höhere Steuern auf Erbschaften und Vermögen, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 98 (2003), S. 8 ff., S. 13. 39 Hierzu Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland, Stand 17.9.2012, S. 334 ff. 40 Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland, Stand 17.9.2012, S. 336. 41 Birk, DStJG 22 (1999), S. 7 ff., S. 13 f.; Arndt, DStJG 22 (1999), S. 25 ff., S. 27.

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Ermittlungsschwierigkeiten hinsichtlich der Vermögenserträge überwinden. Die moderne Vermögensteuerdiskussion hatte dagegen stets auch zum Ziel, auf die Vermögensverteilung innerhalb der Bevölkerung einzuwirken.42 Was im Vordergrund steht, lässt sich schwer beurteilen. Die Grüne Vermögensabgabe soll bei einem Steuersatz von 1 % über einen Zeitraum von 10 Jahren 100 Mrd. Euro erbringen.43 Das Aufkommensvolumen der seitens des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) evaluierten Wiederbelebung der Vermögensteuer wird auf 16,5 Mrd. Euro p.a. geschätzt (Steuersatz 1 %).44 Verglichen mit dem im „worst case“ aus den Eurogarantien resultierenden Finanzbedarf sind dies eher bescheidenere Summen, was vor allem auf die groß­zügigen Freibeträge zurückzuführen ist. Freilich lässt sich das Aufkommen bei entsprechender Steuersatzerhöhung und Freibetragskürzung schnell signifikant anheben. Die neuerdings ebenfalls diskutierten Zwangsanleihen45 sollen bei einem Anleihesatz von 10 % auf einen Schlag ein Volumen von 230 Mrd. Euro einbringen. Es handelt sich folglich nicht um reine Symbolpolitik, sondern es werden handfeste Aufkommensinteressen verfolgt. Tatsächlich tragen Erbschaft- und Schenkungsteuern ebenso wie Vermögensteuern in den allermeisten Volkswirtschaften nur zu einem sehr geringen Teil zum Steueraufkommen bei.46 Das geringe Steueraufkommen steht in einem signifikanten Missverhältnis zu den volks- und einzelwirtschaftlichen Konsequenzen einer Besteuerung von Vermögen und Erbschaften.47 Abwanderungsbewegungen ermöglichen es gerade großen, volkswirtschaftlich wichtigen Vermögen, der Besteuerung auszuweichen. Auch die Hoffnung auf eine gegenüber Konjunkturschwankungen resistente Steuerquelle48 dürfte nicht aufgehen. Vermögensteuern belasten in Krisenzeiten die unternehmerische Liquidität ex­ trem,49 entfalten zusätzliche destabilisierende Wirkung und beeinträchtigen damit auch die Fähigkeit zur Steuerzahlung. Dass derartige Effekte von den Protagonisten einer stärkeren Besteuerung von Vermögen ausgeblendet werden, lässt auf die Präponderanz von Umverteilungszwecken schließen. Dabei wird sowohl der Konnex zur Staatsschulden-

42 Zum Vergleich: 1995 betrug das Vermögensteueraufkommen 7,8 Mrd. DM. 43 BT-Drucks. 17/10770, S. 13; vgl. auch die Berechnungen des DIW Bach/Beznoska/ Steiner, Aufkommens- und Verteilungswirkungen einer Grünen Vermögensabgabe, DIW Berlin: Politikberatung kompakt 59 (2010), S. 53 ff. 44 Vgl. Bach/Beznoska, Aufkommens- und Verteilungswirkungen einer Wiederbe­ lebung der Vermögensteuer, DIW Berlin: Politikberatung kompakt 68 (2012), S. 6 u. 50. 45 Vgl. den Vorschlag des DIW Bach, DIW-Wochenbericht 28 (2012), S. 3 ff., S. 10. 46 Maiterth/Houben, in: IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 92 machen darauf aufmerksam, dass der in anderen Staaten zum Teil deutlich höhere Anteil vermögensbezogener Steuern am Gesamtsteueraufkommen nahezu ausschließlich auf die Grundsteuer zurückzuführen ist. 47 Lang, DStJG 22 (1999), S. 1 ff. 48 Kahrs, KJ 1997, 201 ff., 209 f. 49 Zu den Auswirkungen auf die unternehmerischen Kapitalkosten s. Spengel/Zinn, StuW 2011, 173 ff.

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krise als auch zur Finanzierung von Bildung hergestellt.50 Entschuldung und Bildungsfinanzierung werden zu neuen Komponenten einer die Vermögensbesteuerung motivierenden Umverteilungsideologie. Aufgrund der starken Konzentration des Vermögens in den oberen Altersklassen ab dem 56. Lebensjahr scheint es plausibel, die vermögende ältere Generation überproportional zum Abbau der Staatsverschuldung heranzuziehen, um nachfolgenden Generationen keinen Schuldenberg zu hinterlassen. Dies lässt sich als Frage der Generationengerechtigkeit auffassen.51 Im Hinblick auf den ebenfalls angestrebten Einsatz des Vermögensteueraufkommens für eine verbesserte Bildungsfinanzierung geht es um klassische Umverteilungsziele zwischen Reichen und Armen. Schließlich soll die Vermögensteuer einem gesellschaftlichen Auseinanderdriften entgegenwirken. Die „Schere zwischen Arm und Reich“ dürfe nicht weiter auseinandergehen.52 Hieraus wird vor allem die Forderung nach einer hohen Vermögensteuer/Vermögensabgabe für so genannte Superreiche mit Großvermögen53 abgeleitet. Auf dieser Linie argumentiert beispielsweise auch die OECD für eine Anhebung von Vermögensabgaben.54 4. Unterdurchschnittliche Belastung von Vermögen im internationalen Vergleich Für eine stärkere Besteuerung von Vermögen wird zudem immer wieder auf internationale Vergleichszahlen hingewiesen.55 Deutschland belaste Vermögen verglichen mit anderen Ländern weit unterdurchschnittlich.56 Für das Jahr 2010 ergibt sich nach den OECD-Statistiken57 für Deutschland ein Anteil am Gesamtsteueraufkommen von knapp 0,9 %, während der Durchschnitt der OECD-Staaten bei 1,8 % lag (Grundsteuer, Vermögensteuer, Erbschaft- und

50 Vgl. www.spd.de/linkableblob/17144/data/finanzkonzept_2011_09_05.pdf: Vermögensbesteuerung als Bestandteil eines „Nationalen Paktes für Bildung und Entschuldung“ (letzter Zugriff: 11.8.2015). 51 Vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe, BT-Drucks. 17/10770, S. 11. 52 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe, BTDrucks. 17/10770, S. 11. 53 Vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe, BT-Drucks. 17/10770, S. 12: Beschränkung auf die „allerreichsten Bevölkerungsteile“. 54 Vgl. OECD, Divided we stand. Why Inequality keeps rising, 2011; außerdem ins­ besondere die diversen Stellungnahmen des DGB unter www.dgb.de; das Steuer­ programm von Bündnis 90/Die Grünen, abrufbar unter http://www.gruene.de/­ einzelansicht/artikel/steuern.html, die Beschlüsse des SPD-Parteitags 2011, http:// www.spd.de/aktuelles/Parteitag_2011/21424/beschluesse_bpt_2011.html und die Stellungnahme der Linken, abrufbar unter http://www.linksfraktion.de/themen/vermoegensteuer/ (letzter Zugriff: 11.8.2015). 55 Vgl. etwa Bremische Bürgerschaft, Drucks. 18/401 vom 3.5.2012. 56 Eißel, Argumente für höhere Steuern auf Erbschaften und Vermögen, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 98 (2003), S. 8 ff., S. 12. Zum empirischen Befund im Einzelnen Maiterth/Houben, in: IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 90 ff. 57 OECD Revenue Statistics 2012, siehe auch Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland, Stand 17.9.2012, S. 338.

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Schenkungsteuer, Kapitalverkehrsteuer und Grunderwerbsteuer), wobei vor allem die Grundsteuer ins Gewicht fällt.58 Auch wenn der Blick ins Ausland keine normativen Schlussfolgerungen erlaubt, so lässt sich hieraus empirische Evidenz ableiten, dass Vermögen höher besteuert werden kann. Ob es allerdings höher besteuert werden sollte, ist eine hiervon deutlich zu trennende Frage. Zudem ist der Verweis auf internationale Durchschnittsbetrachtungen häufig schief, weil die Heterogenität der Abgabensysteme die Vergleichbarkeit erheblich beeinträchtigt. Undifferenzierte Ländervergleiche nach starrem Schema59 führen zu Fehlschlüssen. Insbesondere bei der auf lokaler Ebene erhobenen Grundsteuer60 müsste die Gesamtheit auch außersteuerlicher Kommunalabgaben, die in Deutschland neben der Grundsteuer erhoben werden, in anderen Ländern wie Großbritannien aber in diese integriert sind, berücksichtigt werden, um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Auch die jeweilige Gesamtabgabenlast müsste vergleichend in den Blick genommen werden.61

III. Rechtsentwicklung 1. Abnehmende Bedeutung des Vermögens als Besteuerungsgegenstand in der Vergangenheit Gegenläufig zu der aktuellen Renaissance der Vermögensteuerdiskussion ist es in den vergangenen Jahrzehnten zu einem kontinuierlichen Abbau von Steuern auf das Vermögen gekommen. Obwohl die allgemeine Vermögensteuer in Deutschland zum historisch überkommenen Steuerbestand gehört,62 wird sie seit dem Veranlagungszeitraum 1997 nicht mehr erhoben. Zwar war der Verzicht auf die Vermögensteuer infolge des Halbteilungsbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 22.6.199563 nicht freiwillig. Ernstzunehmende Anstrengungen zur Reform der Vermögensteuer wurden jedoch – ungeachtet parteipolitischer Bekenntnisse64 – nach Verstreichen der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist zum 31.12.1996 nicht mehr unternommen. Obwohl nicht unmittelbar vom Vermögensteuerbeschluss des BVerfG tangiert, wurde auch die Gewerbekapitalsteuer als besondere Vermögensteuer auf Un-

58 Siehe Maiterth/Houben, in: IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 92. 59 Siehe z. B. KPMG, Vermögensbesteuerung – wer besteuert wie?, 2012. 60 Zur überdurchschnittlichen Bedeutung der Grundsteuer im internationalen Vergleich siehe Maiterth/Houben, in: IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 92. 61 Siehe auch Maiterth/Houben, in: IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 92. 62 Als Ergänzungsteuer zur Einkommensteuer in Preußen bereits 1893 eingeführt und durch Gesetz vom 8.4.1922, RGBl. 1922 I, 335, als allgemeine Reichsteuer weitergeführt. Siehe zur Entwicklung bis zum Vermögensteuerreformgesetz vom 17.4.1974, BGBl. I 1974, 49, Helmert, Der Wert im Vermögensteuerrecht, 1984, S. 51 ff. 63 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 = GmbHR 1995, 668. 64 Als politisches Ziel wird die Wiedereinführung der Vermögensteuer konstant in den Wahlprogrammen der SPD aufgeführt, vgl. etwa SPD-Wahlprogramm 1998, S. 20.

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ternehmensvermögen wenig später zum 1.1.1998 abgeschafft.65 Maßgeblich waren dabei nicht rechtliche Bedenken gegen die Heranziehung des Gewerbekapitals als steuerliche Bemessungsgrundlage, sondern der Gesetzgeber wollte die Substanzbesteuerung als Wettbewerbsnachteil für die deutsche Wirtschaft beseitigen.66 Erbschaft- und Schenkungsteuer werden zwar, obwohl ihre Abschaffung politisch diskutiert wird,67 weiterhin erhoben. Das Aufkommen verharrt aber auf relativ niedrigem Niveau. Der Gesetzgeber hat weder die 1995er68 noch die 2006er69 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Erbschaftsteuer dazu genutzt, das Erbschaftsteueraufkommen anzuheben. Im Gegenteil, unmittelbar nach Ergehen der Entscheidung aus 2006 hat die Politik beteuert, es werde nicht zu einer Erhöhung der Erbschaftsteuer kommen.70 Betrachtet man die Aufkommensentwicklung der Erbschaftsteuer, wurde dieses Versprechen erfüllt. Das Erbschaftsteueraufkommen lag vor und nach der Reform bei etwas mehr als 4 Mrd. Euro.71 Als stärkste vermögensbezogene Steuer stellt sich mittlerweile mit einem Aufkommen von rund 11 Mrd. Euro die Grundsteuer dar. Aber auch diese wurde nicht signifikant erhöht. Zwar stieg das Aufkommen aus der Grundsteuer zwischen 1999 und 2009 um rund 27 %. Dies entspricht aber ziemlich exakt dem Anstieg des Gesamtsteueraufkommens im selben Zeitraum. Von einer Aufwertung der Grundsteuer kann also keine Rede sein. Steigende kommunale Hebesätze72 kompensieren lediglich die Stagnation der einheitswertgebundenen Bemessungsgrundlage.

65 Durch Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform vom 29.10.1997, BGBl. I 1997, 2590. 66 BT-Drucks. 13/7000, S. 19. 67 Vgl. hierzu Eckert, Darf der Gesetzgeber die Erbschaftsteuer abschaffen? Überlegungen zur systematischen Stellung der Erbschaftsteuer im deutschen Steuerrecht, in: FS Spiegelberger, 2009, S. 79 ff. 68 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165 = GmbHR 1995, 679 (Erbschaftsteuer I). 69 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 = GmbHR 2007, 320 (Erbschaftsteuer II). 70 So die CDU und SPD unter http://www.handelsblatt.com/finanzen/recht-steuern/ steuern/diskussion-um-ausgestaltung-der-neuen-erbschaftsteuer-koalition-beruhigt-­ eigenheimbesitzer/2763934.html sowie http://www.handelsblatt.com/finanzen/recht-­ steuern/steuern/diskussion-um-ausgestaltung-der-neuen-erbschaftsteuer-koalition-­ beruhigt-eigenheimbesitzer/2763934.html (letzter Zugriff: 11.8.2015); s. ferner BR-Drucks. 4/08, S. 38. 71 BT-Drucks. 17/9093 zur (vorübergehend) eher sogar rückläufigen Tendenz des Aufkommens. Zur Verteilung innerhalb der Länder siehe auch BT-Drucks. 16/5706. Dabei ist die Anzahl steuerpflichtiger Erwerbe deutlich zurückgegangen, vgl. Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland, Stand 17.9.2012, S. 335. 72 Beland, Realsteuern 2011 (IFSt-Schrift Nr. 475), 2011, S. 60 ff.

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2. Zunahme von Substanzsteuerelementen im Rahmen der Ertrags­ besteuerung Nicht unterschlagen werden sollte in diesem Kontext allerdings die Zunahme ertragsunabhängiger Besteuerungselemente im Rahmen der Ertragsteuern.73 Bruttobemessungsgrundlagen infolge von Abzugsverboten für Erwerbsaufwendungen sind – insbesondere wenn man Vermögensteuern als Sollertragsteuern zu rechtfertigen versucht (dazu unten IV.3.c)bb)) – einer Vermögensbesteuerung wirkungsgleich.74 Besonders augenfällig wird dies im Rahmen der Kapitaleinkommensbesteuerung. Deutlich machen lässt sich die Nähe einer Bruttobesteuerung von Vermögenserträgen zu einer Vermögenssollertragsteuer anhand des niederländischen „Boxensystems“.75 In Box 3 wird das Einkommen aus Sparguthaben und Anlagen typisiert als fester Ertrag in Höhe von 4 % der zugrunde liegenden Vermögenswerte (Bruttovermögen abzüglich Verbindlichkeiten) angesetzt. Die deutsche Abgeltungsteuer unterscheidet sich zwar insofern, als Bemessungsgrundlage weiterhin der Kapitalertrag ist. Die Belastung des Bruttoertrags in Höhe von 25 % führt jedoch in Abhängigkeit zur Höhe der nichtabziehbaren Erwerbsaufwendungen zu einer Belastung der Vermögenssubstanz. Ähnliche Wirkungen ergeben sich infolge der Hinzurechnungstatbestände des § 8 GewStG. Diese Effekte sind bei der Entscheidung für die Einführung zusätzlicher Steuern auf den Vermögensbestand zu berücksichtigen, wobei eine Schwierigkeit der Einbeziehung darin liegt, dass Betriebsausgabenabzugsverbote und Hinzurechnungen nicht zu einer Anknüpfung an das vorhandene Vermögen führen, so dass sich die Höhe der Belastung der betrieblichen Vermögenssubstanz nicht ohne weiteres ermitteln lässt. Steuern, die durch Einbeziehung von Aufwand in die Bemessungsgrundlage entstehen, müssen auch von vermögenslosen Unternehmen gezahlt werden. Die Gesamtbelastung aus Bruttobesteuerung im Rahmen der Einkommensteuer und einer hierzu hinzutretenden Vermögensteuer hängt ab von der tatsächlichen Rendite,76 was generalisierende Aussagen hinsichtlich einer etwaigen Verletzung des Übermaßverbots77 erschwert.

IV. Rechtlicher Rahmen der Besteuerung von Vermögen 1. Überblick Die Besteuerung von Vermögen wird nicht nur politisch äußerst kontrovers diskutiert, sondern ist trotz der hierzu ergangenen Entscheidungen des Bundes73 S. Kußmaul/Zabel, Ist Deutschland auf dem Weg (zurück) zu einer verstärkten Sub­ stanzbesteuerung?, BB 2007, 967 ff., 971 ff.; o.V., Status:Recht 2009, S. 212. 74 Broer, Die Unternehmensteuerreform 2008/2009 in Deutschland, 2010, S. 13. 75 Dazu van den Tillaart/Lohuis/Stevens, IStR 2001, 171 ff.; Kowallik, IStR 2000, 300 ff., 301 f. Siehe auch den Vergleich des niederländischen Systems zu anderen Vermögensteuern bei Bach/Haan/Maiterth/Sureth, Modelle für die Vermögensbesteuerung von natürlichen Personen und Kapitalgesellschaften. Konzepte, Aufkommen und wirtschaftliche Wirkung, Kurzfassung, hg. vom DIW, 2004, S. 9. 76 Zu diesen Interdependenzen im Einzelnen Maiterth/Houben, in: IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 95 ff. 77 Siehe hierzu unten IV.4.b).

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verfassungsgerichts auch rechtlich nach wie vor ungeklärt. Die Unsicherheit beginnt bei den Zuständigkeiten. Insbesondere die Frage, inwieweit die Länder über eigene Gesetzgebungskompetenzen verfügen, ist umstritten (siehe unten 2.b)). Noch schwerwiegender ist indes die Unsicherheit hinsichtlich der materiell-rechtlichen Fragen. Bereits die Frage der generellen Zulässigkeit von Steuern auf den Vermögensbestand wird sehr unterschiedlich beurteilt (dazu unten 3.). Zur Ausgestaltung der Bemessungsgrundlagen gibt es zwar mit dem Verkehrswert eine relativ konstante Richtschnur aus der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts.78 Inwieweit Abweichungen als Folge einer aus verwaltungspraktischer Sicht unerlässlichen Typisierung verfassungsrechtlich tolerabel sind (dazu unten 4.a)bb)), ist dagegen ebenso ungeklärt wie die Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers bei der Normierung von Vergünstigungstatbeständen (dazu unten 4.a)cc)). Offen ist ferner die sich vor allem bei der Reform der Grundsteuer stellende Frage, ob alternative Bemessungsgrundlagen bei konsequenter Umsetzung ebenfalls denkbar sind (siehe hierzu unten V.4.b)cc)). 2. Zuständigkeit für die Reform bzw. Einführung vermögensbezogener Steuern a) Ertragshoheit Die Erträge von Grundsteuer, Erbschaftsteuer und der früheren Vermögensteuer sind kompetenziell sämtlich den Ländern bzw. den Kommunen zugeordnet (Art. 106 Abs. 2 Nr. 1 u. 2, Abs. 6 Satz 1 GG). Diese finanzverfassungsrechtliche Zuordnung der Ertragshoheit berührt auch die Eignung vermögensbezogener Steuern für die fiskalischen Zielsetzungen. Einerseits ist eine Stärkung der Landeshaushalte unerlässlich, um den Ländern ab 2020 die Einhaltung der Schuldenbremse mit Nullverschuldungsziel (Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG)79 zu ermöglichen. Andererseits sind jedenfalls die herkömmlichen vermögensbezogenen Steuern ungeeignet, um die speziell den Bund treffenden Haushaltsrisiken der Eurokrise aufzufangen. Abhilfe sucht der Vorschlag von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, die mit ihrem Eintreten für eine einmalige Vermögensabgabe nicht nur die Gesetzgebungskompetenz, sondern auch die Ertragszuständigkeit von der Länder- auf die Bundesebene ziehen wollen (s. hierzu im Einzelnen unten V.2.a)). Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG weist das Aufkommen der „einmaligen Vermögensabgaben und der zur Durchführung des Lastenausgleichs erhobenen Ausgleichsabgaben“ dem Bund zu. Die Kompetenznorm der Nr. 5 GG ist nicht auf den explizit genannten Lastenausgleich zur Finanzierung der Kriegsfolgen des 2. Weltkriegs beschränkt,80 sondern erfasst auch andere einmalige Vermögensabgaben, soweit 78 Zur Vermögensteuer: BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 142 f.; zur Erbschaftsteuer BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165, 176 ff.; BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, 33 ff.; zur Grundsteuer BFH v. 30.6.2010 – II R 60, BStBl. II 2010, 897, 900 f. 79 Hierzu Koemm, Eine Bremse für die Staatsverschuldung?, Dissertation Tübingen 2011, S. 243 ff. 80 Mit ausf. Begründung Wieland, Vermögensabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG. Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, August 2012,

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diese als Steuern eingeordnet werden können. Die Einordnung als Steuer ist in jedem Einzelfall festzustellen, da Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG nicht für sonstige nichtsteuerliche Abgaben gilt.81 Dies folgt aus dem Einleitungssatz der Aufzählung in Art. 106 Abs. 1 GG sowie aus dem auf steuerliche Abgaben beschränkten Regelungsgehalt des X. Abschnitts des Grundgesetzes. Um das Aufkommen dem Bund zuordnen zu können, sind jedoch – in Abgrenzung zu der den Ländern zustehenden laufenden Vermögensteuer – weitere inhaltliche Anforderungen zu erfüllen. Insbesondere darf es sich nicht um eine Umgehung der Länderkompetenz handeln. Stellt sich heraus, dass eine als Vermögensabgabe konzipierte Steuer in Wirklichkeit eine Vermögensteuer im Gewand einer einmaligen Abgabe ist, wofür unter anderem eine Erhebung über einen längeren Zeitraum spricht, würde die Zuweisungsfunktion der Finanzverfassung zu Lasten der Länder unterlaufen. Die Vorschriften der Finanzverfassung sind dabei generell eng auszulegen, um die föderale Balance der Fi­ nanzausstattung im Mehrebenenstaat verlässlich zu gewährleisten.82 Eine Verschiebung der Zuweisungen ist nur mit verfassungsändernder Mehrheit möglich (Art. 79 Abs. 2 GG). Nicht ausreichend für die Annahme der Bundeszuständigkeit ist, dass es sich um eine vermögensbezogene Abgabe handelt. Vielmehr muss sich die Abgabe als „einmalige Vermögensabgabe“ im Sinne der Nr. 5 des Art. 106 Abs. 1 GG83 darstellen. Dabei wirkt sich die tatbestandliche Restriktion der „Einmaligkeit“ in zweierlei Hinsicht aus, nämlich zum einen auf die Technik, zum anderen auf den Anlass der Erhebung: – Erstens muss die Abgabe technisch insofern als eine einmalige Belastung des Vermögens ausgestaltet sein, als sie als Einmalbetrag eines zu einem Stichtag festgestellten Vermögens formuliert wird. Der Einmaligkeit steht dann allerdings nicht entgegen, wenn die Erhebung in Raten gestreckt über mehrere Jahre erfolgt,84 soweit es sich hierbei letztlich nur um eine zur Abmilderung von Härten gewährte Stundungsregelung handelt.

S. 4–15 und zahlreichen Nachweisen; a.A. Hidien, in: Bonner Kommentar, Art. 106 Rz. 1427; Birk, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz II, 2. Aufl. 1989, Art. 106 Rz. 18. 81 Siekmann, in: Sachs (Hg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 106 Rz. 6; Heintzen, in: v. Münch/ Kunig (Hg.), GG, 5. Aufl. 2003, Art. 106 Rz. 20; Reimer, in: Epping/Hillgruber (Hg.), GG Kommentar, 2009, Art. 14 Rz. 14; Wieland, Vermögensabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG. Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, August 2012, S. 16. 82 Vgl. etwa BVerfG v. 9.2.1972 – 1 BvL 16/69, BVerfGE 32, 333, 338; Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, 2004, S. 547; Birk, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz II, 2. Aufl. 1989, Art. 105 Rz. 21; Starck, StuW 1974, 271 ff., 278; Vogel, JA 1980, 577 ff., 579; Förster, Die Verbrauchsteuern, 1989, S. 34; Hidien, in: Bonner Kommentar, Art. 106 Rz. 561 u. 1379. 83 Zur Entstehungsgeschichte von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG s. Hidien, in: Bonner Kommentar, Art. 106 Rz. 1426. 84 Vgl. G. Kirchhof, StuW 2011, 189 ff., 194. Für die „Grüne Vermögensabgabe“ ist eine Streckung auf 10 Jahre vorgesehen; hierzu im Einzelnen unten V.2.a).

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– Zweitens folgt aus dem Regelungszusammenhang mit dem ausdrücklich genannten Lastenausgleich,85 dass einmalige Vermögensabgaben, wenn man sie nicht bereits auf die Bewältigung der Kriegsfolgen beschränkt,86 jedenfalls einen außerordentlichen Finanzbedarf voraussetzen, der über den normalen Haushaltsbedarf hinausgehen muss.87 Die Erhebung einer einmaligen Vermögensabgabe kommt nur dann in Betracht, wenn sich der Finanzbedarf des Staates nicht mehr durch Erhöhung der regulären Steuern, Kreditaufnahme oder Sparanstrengungen decken lässt.88 Streit besteht dahingehend, ob bereits ein besonderer einmaliger Finanzbedarf die Erhebung einer Vermögensabgabe durch den Bund rechtfertigt89 oder ob es darüber hinaus einer Bedrohungslage bedarf, die in ihrer Qualität dem wirtschaftlichen Zusammenbruch nach dem 2. Weltkrieg entspricht („Krisenszenario“; „historisch einzigartige Situation“90). Für letzteres spricht nicht nur die systematische Auslegung, sondern auch die Notwendigkeit der Abgrenzung zur Ertragskompetenz der Länder. Andernfalls ließen sich schnell einmalige Aufgaben des Bundes definieren mit der Konsequenz, dass der Bund mit verhältnismäßig geringen Anforderungen auf das primär den Ländern zugewiesene Steuerobjekt Vermögen zugreifen könnte.91 Die Staatsverschuldung als solche92 begründet, ungeachtet ihres Ausmaßes, keine einmalige Vermögensabgaben rechtfertigende Ausnahmesituation, zumal sie über einen langen Zeitraum mangelnder Haushaltsdisziplin aufge-

85 Lastenausgleichsgesetz vom 14.8.1952, BGBl. I 1952, 845. 86 Siehe Fn. 80. 87 Schemmel, Verfassungsfragen einer Vermögensabgabe, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, 1999, S. 9 f.; Heintzen, in: v. Münch/Kunig (Hg.), GG, 3. Aufl. 1996, Art. 106 Rz. 20; G. Kirchhof, StuW 2011, S. 189 ff., S. 193; und ausf. anhand der Materialien zu Art. 106 GG begründet von P. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog. Der Weg vom Bürgen zum Bürger, 2012, S. 181 ff., 184. Dabei dürfte es allerdings ähnlich wie bei den in Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG zur Normierung von Ausnahmen von der Schuldenbremse verwendeten Begriffen („Von der Normallage abweichende konjunkturelle Entwicklung“, „Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen“ oder „außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“) nicht möglich sein, den Übergang von der Normallage zu einem Krisenzustand trennscharf zu definieren. Im Ergebnis ebenso Wieland, Vermögensabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG. Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, August 2012, S. 21. 88 Zutreffend Schemmel, Verfassungsfragen einer Vermögensabgabe, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, 1999, S. 7 ff.; Wieland, Vermögensabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG. Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, August 2012, S. 22. 89 So Wieland, Vermögensabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG. Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, August 2012, S. 23 ff. 90 G. Kirchhof, StuW 2011, 189 ff., 193. 91 Diese Befürchtung belegen die Ausführungen von Wieland, Vermögensabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG. Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, August 2012, S. 27 ff., der es für ausreichend erachtet, dass der Bund eine Erhöhung der Staatsverschuldung vermeiden will. 92 Bündnis 90/DIE GRÜNEN wollen den Finanzierungszweck auf die „krisenbedingte“ Staatsverschuldung reduzieren, vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe, BT-Drucks. 17/10770, S. 13.

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baut wurde.93 Die Eurokrise mag ein erhebliches Bedrohungspotential für den Haushalt erzeugen, belastet diesen aber nicht aktuell94 und wäre selbst bei Eintritt der Garantiefälle nicht annähernd mit dem Zusammenbruch nach dem 2. Weltkrieg vergleichbar. An dieser Einschätzung könnte sich allenfalls dann etwas ändern, wenn sich die finanzielle Situation der öffentlichen Haushalte infolge eines Auseinanderfallens des Europäischen Währungsraums dramatisch zuspitzen würde.95 b) Gesetzgebungshoheit Bei den vermögensbezogenen Länder- und Kommunalsteuern (allgemeine Vermögensteuer, Erbschaft- und Schenkungsteuer und Grundsteuer) ist offen, welcher Körperschaft die Gesetzgebungshoheit zusteht. Die Frage stellt sich sowohl bezüglich der Wiedereinführung der Vermögensteuer, aber auch hinsichtlich grundlegender Reformen der bestehenden und bisher bundesgesetzlich geregelten Erbschaft- und Schenkungsteuer und der Grundsteuer. Der Bund kann die Kompetenz, obwohl den Ländern das Aufkommen zusteht, unter den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung beanspruchen (vgl. Art. 105 Abs. 2, 3. Alt. GG). Die Unsicherheit bezüglich der Kompetenz resultiert aus der seit 1994 geltenden Fassung von Art. 72 Abs. 2 GG (Erforderlichkeitsklausel) und der hierzu ergangenen restriktiven Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.96 Für die Erbschaft- und Vermögensteuer wird angenommen, eine bundeseinheitliche Regelung sei erforderlich zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet sowie zur Wahrung der Wirtschafts- und Rechtseinheit mit der Folge, dass das Gesetzgebungsrecht weiterhin beim Bund liegt.97 Meines Erachtens trifft dies jedoch nur für bestimmte Teile des Gesetzes zu. Subjektive und sachliche Anknüpfungspunkte der Vermögen- und Erbschaftsteuer 93 Kirchhof, Deutschland im Schuldensog. Der Weg vom Bürgen zum Bürger, 2012, S. 185 spricht insofern von „gewachsener – allerdings rechtswidriger – Normalität“ der Staatsverschuldung. 94 Insofern fehlt es zumindest an dem von Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hg.), GG-Kommentar, 11. Aufl. 2008, Art. 106 Rz. 7 f. geforderten „konkreten zusätzlichen Finanzbedarf“ des Bundes. 95 Zu der Frage der materiellen Voraussetzung der Ausnahmelage siehe auch unten V.2.a). 96 BVerfG v. 24.10.2002 – 2 BvF 1/01, BVerfGE 106, 62 (Altenpflege); BVerfG v. 27.7.2004 – 2 BvF 2/02, BVerfGE 111, 226 (Juniorprofessur); BVerfG v. 26.1.2005 – 2 BvF 1/03, BVerfGE 112, 226 (Studiengebührenverbot). 97 Tipke, Die Steuerrechtsordnung III, 2. Aufl. 2013, S. 1326 f.; Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 2 Rz. 41 m.w.N.; a.A. Wernsmann/Spermath, FR 2007, 829 ff., 833; Bremische Bürgerschaft, Drucks. 18/401 vom 3.5.2012. Bezüglich des formal nicht aufgehobenen Vermögensteuergesetzes wird zudem angenommen, die Länder seien aufgrund der Sperrwirkung im Rahmen von Art. 72 Abs. 2 GG durch das fortbestehende Bundesgesetz am Erlass eigener Ländervermögensteuern gehindert, vgl. z. B. Mayer, DStR 1997, 1152 ff., 1155; P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 2 Rz. 62. Die durch BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 dekretierte Unanwendbarkeit des Vermögensteuergesetzes lasse die die Ländergesetzgeber sperrende Ausübung der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund nicht entfallen.

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müssen in der Tat einheitlich geregelt sein, um Doppelbesteuerungen zu vermeiden.98 Für Freibeträge und Steuersätze gilt dies nicht. Zwar würden Belastungsunterschiede einen Steuerwettbewerb zwischen den Ländern verursachen, wie er auch international beobachtbar ist. Dies entspräche aber durchaus den Intentionen eines wettbewerblich geprägten Föderalismusverständnisses. So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum bundesgesetzlichen Studiengebührenverbot vom 26.1.2005 ausgeführt, dass auch erhebliche Wanderbewegungen zwischen den Ländern aufgrund unterschiedlicher Gesetzgebung keine Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung auslösen99 und damit den Gedanken des Wettbewerbsföderalismus deutlich gestärkt. Selbst wenn man dem nicht folgt und für Vermögen- und Erbschaftsteuer weiterhin von der Notwendigkeit einer umfassenden Bundesregelung ausgeht, so gilt dies nicht für die Grundsteuer. Hier ist durch unterschiedliche Ländergesetze weder eine Zersplitterung der Rechts- und Wirtschaftseinheit zu befürchten, noch kann es zu Wanderbewegungen kommen. Gerade angesichts des Streits zwischen wertbezogenem Nordmodell und flächenbezogenem Südmodell100 wäre es ganz im Sinne föderaler Vielfalt und eines Wettbewerbs als Verfahren zur Entdeckung der besten Lösung,101 wenn einzelne Länder oder auch Gruppen von Ländern die Initiative ergriffen. Problematisch ist dies lediglich vor dem Hintergrund der Überleitungsvorschrift des Art. 125a Abs. 2 GG, die derzeit aufgrund der bestehenden und eben bisher nicht für verfassungswidrig erklärten Bundesgesetzgebung der Grundsteuer die Kompetenz der Länder sperrt. Durch Bundesgesetz sollte – wie dies in Art. 125a Abs. 2 Satz 2 GG ausdrücklich vorgesehen ist – bestimmt werden, dass die Länder auch bei grundsätzlich fortbestehendem bisherigen Grundsteuergesetz eigene Ländergesetze erlassen können.102 Dies könnte die Blockade der Grundsteuerreform, die zum Teil auch den Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ländern zuzuschreiben sein dürfte, überwinden. Angesichts dessen, dass die Reform der Grundsteuer nicht nur politisch opportun, sondern verfassungsrechtlich geboten ist und der Reformbedarf nur durch eine grundsätzlich neue Konzeption der Grundsteuer befriedigt werden kann, lässt sich aus dem Grundsatz der Bundestreue sogar eine Pflicht des Bundesgesetzgebers zur Freigabe ableiten.103

98 Ebenso Korte, Die konkurrierende Steuergesetzgebung des Bundes im Bereich der Finanzverfassung, 2008, S. 134 ff. 99 BVerfG v. 26.1.2005 – 2 BvF 1/03, BVerfGE 112, 226, 247 f. 100 Dazu im Einzelnen unten V.4.b)cc). 101 v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren (1968), in: Streit (Hg.), Friedrich August von Hayek: Rechtsordnung und Handelsordnung. Aufsätze zur Ordnungsökonomik, 2003. 102 In diese Richtung auch Schulemann, Reform der Grundsteuer. Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 209 (2011), S. 21 f. 103 Vgl. BVerfG v. 9.6.2004 – 1 BvR 636/02, BVerfGE 111, 10, 31.

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3. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Besteuerung von Vermögen a) Rechtfertigungsbedürfnis Vermögensbezogene Steuern sind in zweierlei Hinsicht rechtfertigungsbedürftig. Zum einen ist umstritten, ob das ruhende Vermögen überhaupt einen geeigneten Anknüpfungspunkt für die Besteuerung darstellt. Es geht um das „Ob“ vermögensbezogener Steuern. Zum anderen sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen, insbesondere die gleichheits- und freiheitsrechtlichen Voraussetzungen verfassungskonformer Vermögensteuern zu evaluieren. Dies betrifft ihre Ausgestaltung. b) Nennung in der Finanzverfassung Dass sowohl Vermögensteuer, einmalige Vermögensabgabe, Erbschaftsteuer und Grundsteuer im Rahmen der Kompetenzverteilungsnormen des Grundgesetzes genannt werden, sagt in Anbetracht der Entstehungsgeschichte der Finanzverfassung nichts aus über die materielle Verfassungsmäßigkeit dieser Steuern.104 Der Streit um die Aussagekraft der Finanzverfassung105 soll hier nicht vertieft werden. Meines Erachtens lässt sich aus der Nennung in Art. 106 GG keine verfassungsrechtliche Absicherung einzelner Steuertypen ableiten.106 Der Grundgesetzgeber stand bei der Abfassung der Finanzverfassung vor der Aufgabe, den historischen Bestand an vorgefundenen Steuern zwischen den Gebietskörperschaften aufzuteilen. Werturteile waren mit dieser Verteilungsaufgabe nicht verbunden. Folglich geht es bei der Frage nach der Rechtfertigung nicht nur um die Binnengestaltung, sondern auch um das Ob, um die Frage der grundsätzlichen Vereinbarkeit des Zugriffs auf die in Art. 106 GG genannten Steuerquellen mit den Grundrechten. Wie wenig tragfähig Schlussfolgerungen aus der Finanzverfassung auf die materielle Rechtfertigung von Steuern sind, wird gerade anhand des Vermögensteuerbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts deutlich. Einerseits schloss das Gericht aus der finanzverfassungsrechtlichen Nennung der Vermögensteuer, auch der Vermögensstamm sei zulässiger Besteuerungsgegenstand.107 Andererseits folgerte es aus Art. 14 Abs. 1 GG, „die Zuordnung der vermögenswerten Rechtsposition zum Eigentümer und die Substanz des Eigentums müssen gewahrt bleiben“108. Nur über den – nicht haltbaren (siehe unten c)bb)) – Kunstgriff, die Vermögensteuer als Sollertragsteuer zu interpretieren, war das Gericht in der Lage, den Widerspruch zwischen finanzverfassungsrechtlicher Nennung und grundrechtlichen Grenzen aufzulösen.

104 Birk, DStJG 22 (1999), S. 7 ff., S. 10. 105 Hierzu ausf. Tipke, Die Steuerrechtsordnung III, 2. Aufl. 2013, S. 1353 ff. 106 A.A. BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1, 25: Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der in der Finanzverfassung genannten Steuern „in ihrer wesentlichen Struktur“. 107 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 134 f. 108 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 137.

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c) Rechtfertigung der Belastung von Vermögen unter dem Gesichtspunkt steuerlicher Leistungsfähigkeit Voraussetzung der Rechtfertigung der Besteuerung von Vermögen ist die richtige steuersystematische Einordnung. Und hier liegt sogleich die Hauptschwierigkeit. Denn da Vermögen nur einen anderen Aggregatzustand von Einkommen darstellt,109 bedarf es stets auch der Klärung des Verhältnisses zu den Steuern auf den Vermögenszuwachs, d. h. die ertragsbezogene Einkommen-/ Körperschaft- und Gewerbesteuer. aa) Erbschaftsteuer als Besteuerung des Leistungsfähigkeitszuwachses des Erben Hinsichtlich der Rechtfertigung der Erbschaftsteuer besteht noch relativ weitgehende Einigkeit. Aufgrund der Ausgestaltung als Erbanfallsteuer erfasst die Erbschaftsteuer die durch den Vermögenszuwachs begründete wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Erben.110 Die Erbschaftsteuer tritt insofern an die Stelle der Einkommensbesteuerung111 von Erbschaften und Schenkungen, die als unentgeltliche Vermögensmehrungen von dem auf das Markt- oder Erwerbseinkommen112 begrenzten Einkommensbegriff des Einkommensteuergesetzes ausgenommen sind. Allerdings bleibt die Perspektive des Erblassers nicht völlig außer Betracht.113 Deutlich wird dies bezüglich der Diskussion um die Doppelbelastung mit Erbschaftsteuer und Einkommensteuer, wenn gegen die Erbschaftsteuer angeführt wird, sie belaste Vermögen, das aus beim Erblasser bereits versteuertem Einkommen gebildet worden sei. Dabei wird allerdings verkannt, dass es sich bei der deutschen Erbschaftsteuer gerade nicht um eine Nachlasssteuer handelt. Im Rahmen einer Erbanfallsteuer stellt sich das Problem der Doppelbelastung nur aus der Perspektive des Erben,114 soweit im Erbgang übergehende stille Reserven sowohl der Erbschaftsteuer als auch später der Einkommensteuer des Erben unterworfen werden.115

109 Hey, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 4 Rz. 55 f. 110 Vgl. insb. die Gesetzesbegründung zum Erbschaftsteuergesetz 1974, BR-Drucks. 140/72, S. 59; BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165, 172. 111 Schubert, Die Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Neuregelung, Dissertation Frankfurt/Main 2011, S. 30 f.; Crezelius, DStJG 22 (1999), S. 73 ff., S. 104 f.; siehe auch Birk, DStJG 22 (1999), S. 309 ff., S. 317 zur Einordnung der Erbschaft- und Schenkungsteuer als „achte Einkunftsart“. 112 Hierzu (und zu Unterschieden zwischen der Markteinkommenstheorie und dem Konzept des Erwerbseinkommens) Hey, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 3 Rz. 68 u. § 7 Rz. 30. 113 Ausf. zur Gesamtbetrachtung von Erbe und Erblasser (Stichwort: Familienvermögen) Birnbaum, Leistungsfähigkeitsprinzip und ErbStG, Dissertation Berlin 2007, S. 78 ff. 114 Birnbaum, Leistungsfähigkeitsprinzip und ErbStG, Dissertation Berlin 2007, S. 82 hält es unter dem Gesichtspunkt des Individualsteuerprinzips sogar für unzulässig, zusätzlich auf den Erblasser abzustellen. 115 Ungenügend abgemildert durch § 35b EStG, vgl. Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 15 Rz. 73.

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Zu einer Vermischung gleichheits- und freiheitsrechtlicher Argumente kommt es hinsichtlich der ungeklärten Frage, inwieweit die Erbschaftsteuer in die ­Vermögenssubstanz eingreifen darf.116 Eigentlich liegt dies in der Natur der ­Erbschaftsteuer als stichtagsbezogener, einmaliger Belastung des Vermögens­ erwerbs. Trotzdem wird gerade für die Besteuerung unternehmerischen Vermögens gefordert, diese müsse aus laufenden Erträgen finanziert werden können, um Eingriffe in die Unternehmenssubstanz zu vermeiden.117 Aus einem erbschaftsteuerrechtlichen Leistungsfähigkeitsbegriff lässt sich dies m.E. nicht ableiten.118 Richtige Bewertung vorausgesetzt, ist der Unternehmenserbe ebenso leistungsfähig wie der Erbe privater Immobilien oder privaten Kapitalvermögens, wobei in die Unternehmensbewertung im Wege des Ertragswertverfahrens die zukünftigen Erträge des Unternehmens ja durchaus eingehen.119 Ein besonderer Schutz der Unternehmenssubstanz kann allenfalls eigentumsrechtlich begründet werden, was wiederum die gleichheitsrechtliche Frage nach sich zieht, warum unternehmerisches Vermögen erbschaftsteuerrechtlich schutz­ würdiger sein soll als anderes Vermögen.120 Hier lassen sich letztlich nur gesamtwirtschaftliche Gründe (z. B. Erhalt von Arbeitsplätzen oder familiengeführter Unternehmen) heranziehen, soweit es darum geht, den Verkauf oder die Zerschlagung des Unternehmens zu verhindern oder die Wettbewerbsfähigkeit nicht durch eine massive erbschaftsteuerrechtliche Liquiditätsbelastung zu beeinträchtigen. Allerdings vermögen derart pauschale Lenkungsziele ebenfalls nicht zu überzeugen,121 vielmehr müssen die einzelnen Vergünstigungen auf ihre Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit überprüft werden. bb) Rechtfertigung von Vermögen- und Grundsteuer als Sollertragsteuern oder als Substanzsteuern? Bei Vermögen- und Grundsteuer kommt man dagegen zu ganz unterschiedlichen Fragestellungen, je nachdem, ob man sie als Vermögenssubstanzsteuern oder als Sollertragsteuern einordnet. Auf den ersten Blick belastet eine Steuer, 116 Hierzu Zitzelsberger, in: FS Ritter, 1997, S. 661; Schubert, Die Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Neuregelung, Dissertation Frankfurt/Main 2011, S. 28 ff. 117 Insb. Leisner, Verfassungsrechtliche Grenzen der Erbschaftsbesteuerung, 1970, S. 36 ff., 89 ff.; Leisner, DB 1996, 595 ff., 599 geht von einem allgemeinen „Verbot des Verkaufszwangs“ für ererbte Wirtschaftsgüter durch Art. 14 GG aus. In diese Richtung lässt sich – allerdings beschränkt auf Unternehmensvermögen – auch BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165, 176 verstehen. Schubert, Die Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Neuregelung, Dissertation Frankfurt/Main 2011, S. 28 f. ordnet diese Sichtweise insb. dem wirtschaftswissenschaftlichen Schrifttum zu, führt allerdings nur Autoren mit juristischem Hintergrund als Beleg an. 118 Ebenso Birnbaum, Leistungsfähigkeitsprinzip und ErbStG, Dissertation Berlin 2007, S. 106 f.; ebenso Schubert, Die Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Neuregelung, Dissertation Frankfurt/Main 2011, S. 29. 119 Vgl. §§ 199 ff. BewG. 120 Seer, DStJG 22 (1999), S. 191 ff., S. 212; Bareis, DB 1996, 1153 ff., 1157 f. 121 Seer, DStJG 22 (1999), S. 191 ff., S. 210 f.

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deren Steuerobjekt das Gesamtvermögen (vgl. § 1 Abs. 2 VStG) bzw. der Grundbesitz ist, die Vermögenssubstanz. Das Bundesverfassungsgericht hat die Vermögensteuer dagegen als Sollertragsteuer122 zu rechtfertigen versucht. Nur mit diesem Kunstgriff123 war es überhaupt möglich, an der Vermögensteuer festzuhalten, nachdem das Gericht zuvor die These vom absoluten Schutz der Vermögenssubstanz vor Besteuerung aufgestellt hatte.124 Voraussetzung ist dann jedoch, dass Vermögenseinkünfte eine besondere Leistungsfähigkeit erzeugen, die es erlaubt, die Vermögenserträge neben der laufenden Ertragsbesteuerung einer Zusatzbelastung durch die Vermögensteuer zu unterwerfen. Dass Vermögenseinkünfte eine höhere Leistungsfähigkeit vermitteln als Arbeitseinkünfte, wird jedoch heute letztlich von niemandem mehr vertreten.125 Eine nähere Befassung mit den tradierten Theorien, insbesondere der heute überholten Fundustheorie,126 der zufolge Vermögen besonders sicheres Einkommen garantiert, ist schon aus zwei Gründen entbehrlich. Weder stimmen die empirischen Prämissen, noch lassen sich etwaige Vorzüge von Vermögenseinkünften in einer Weise beziffern, dass sie als Leistungsfähigkeits­ indikatoren taugen. Insbesondere die vermeintliche Sicherheit der Vermögens­ einkünfte ist trügerisch.127 Vermögenswerte sind signifikanten Risiken des Wertverlusts ausgesetzt. Geldvermögen ist inflationsanfällig;128 die Verzinsung liegt vielfach noch unterhalb der Inflationsrate. Aktienvermögen unterliegt bei niedrigen Dividenden den Risiken der unternehmerischen Betätigung, und auch dem immer als besonders sicher geglaubten Grundvermögen droht in den kommenden Jahrzehnten aufgrund der demographisch bedingten Entvölkerung Deutschlands ein massiver Wertverlust.129 Wenn man daher davon ausgeht, dass die Vermögenseinkünfte keine gegenüber anderen Einkünften gesteigerte Leistungsfähigkeit vermitteln, ist für eine Soll­

122 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 137. 123 Vgl. die Kritik von Richter Böckenförde im Sondervotum zu BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 149 ff. 124 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 139 f.; ferner Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 2 Rz. 60; dezidiert dagegen Matthäus-Maier, in: FS Flick, 1997, S. 41, 51 f. 125 In die Richtung der Fundustheorie argumentiert allerdings neuerdings Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 2 Rz. 61, wenn er hervorhebt, dass Vermögenseinkünfte mit geringerer persönlicher Beteiligung erwirtschaftet würden als Arbeitseinkünfte. 126 Markant Kruse, BB 1996, 717 ff., 718; hierzu auch Boadway/Chamberlain/Emmerson, in: Institute for Fiscal Studies (Hg.), Dimensions of Tax Design (Mirrlees Review 1), 2010, S. 777: Vermögen als Quelle von „status and power“. Dieser Vorteil ist indes nicht messbar und folglich als Besteuerungsgegenstand ungeeignet; allenfalls könnte auf diese Weise eine Vermögensteuer von sehr hohen Vermögen gerechtfertigt werden. 127 Siehe Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 6. Aufl. 2010, S. 132 f. 128 Zum Zusammenspiel von Vermögensteuer und Inflation siehe Maiterth/Houben, in: IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 96 ff. 129 Der Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland, Stand 17.9.2012, S. 333 geht bereits für 2008 von gegenüber 2003 gesunkenen Immobilienwerten aus.

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ertragsbesteuerung neben der Einkommensteuer grundsätzlich kein Raum.130 Es ist bezeichnend, dass im Boxensystem der Niederlande Kapitaleinkünfte im Rahmen der Einkommensteuer – aber eben nicht zusätzlich – auf Sollertragsbasis ermittelt werden.131 Auch historisch war Vermögen lediglich Ersatzbemessungsgrundlage, die Schwierigkeiten der Ermittlung der Vermögenseinkünfte vermeiden sollte.132 Eine Vermögensteuer auf den Kapitalstamm ist im Wesentlichen äquivalent einer laufenden Besteuerung der Kapitalerträge.133 Um das Verhältnis zwischen Einkommen- und Vermögen- bzw. Erbschaft­ steuer geht es auch, wenn mit der Nachholfunktion argumentiert wird. Auf diese Weise ließen sich Minderbelastungen durch einkommensteuergesetzliche Besteuerungslücken und Steuerhinterziehung kompensieren. Hiergegen ist in der Vergangenheit zu Recht eingewandt worden,134 dass Besteuerungslücken in der Einkommensteuer dort zu schließen sind und der Vollzug der Einkommensteuer sicherzustellen ist, zumal auch die Vermögensteuer erhebliches Hinterziehungspotential birgt. Die größte einkommensteuerrechtliche Be­ steuerungslücke, die in der Vergangenheit in der fehlenden Steuerbarkeit der Stammvermögensveränderungen im Bereich der Quelleneinkünfte lag, hat der Einkommensteuergesetzgeber durch Ausdehnung der Fristen in § 23 EStG und unbefristete Erfassung von Veräußerungsgewinnen des Kapitalvermögens durch Aufnahme in § 20 Abs. 2 EStG ohnehin kontinuierlich abgebaut. Es fragt sich allerdings, ob die Betrachtung vor dem Hintergrund der 2009 getroffenen Grundsatzentscheidung für eine niedrige Abgeltungsteuer auf Kapitaleinkünfte anders ausfallen muss.135 Zwar wirkt der proportionale Abgeltungsteuersatz keineswegs für alle Kapitaleinkommensbezieher begünstigend, soweit eine Vermögensteuer erst ab hohen Freibeträgen eingreift, ist jedoch davon auszugehen, dass es sich um Steuerpflichtige handelt, deren individueller Einkommensteuer-Durchschnittssatz über 25 % liegt. Dennoch lässt sich eine allgemeine Vermögensteuer nicht als Antwort auf die Abgeltungsteuer rechtfertigen. Denn letztlich erfährt nur ein kleiner Teil der Vermögenserträge eine echte Begünstigung durch die Abgeltungsteuer. Aktien­ erträge sind bereits mit Körperschaftsteuer vorbelastet und werden daher durch die Einbeziehung in die Abgeltungsteuer gegenüber anderen Einkünften nicht privilegiert.136 Die Vermögenserträge des Grundvermögens unterliegen im Rahmen von § 21 EStG dem regulären progressiven Einkommensteuersatz. Für in Personenunternehmen erwirtschaftete Vermögenserträge gilt ebenfalls die re­ guläre Steuerprogression bzw. eine Gesamtbelastung von rund 48 %, wenn von 130 So schon Böckenförde, Sondervotum zu BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 161. 131 Siehe dazu oben III.2. und Nachweise in Fn. 75. 132 Tipke, in: FS Ritter, 1997, S. 587, 591; Ritter, Ne bis in idem – ein steuerpolitischer Zwischenruf, in: Freundesgabe Haas, 1996, S. 283, 287. 133 Boadway/Chamberlain/Emmerson, in: Institute for Fiscal Studies (Hg.), Dimensions of Tax Design (Mirrlees Review 1), 2010, S. 776. 134 Siehe etwa Tipke, in: FS Ritter, 1997, S. 587, 592. 135 In diese Richtung Gutting/Höll, BT-Drucks. 17/7666, S. 4. 136 Zur Notwendigkeit einer Gesamtbetrachtung vgl. Hey, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 9 Rz. 506 u. § 11 Rz. 12 ff.

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der Thesaurierungsrücklage des § 34a EStG mit einkommensteuerrechtlicher Nachbelastung Gebrauch gemacht wird. Damit bliebe für eine Nachbelastung durch eine Vermögensteuer im Wesentlichen nur der kleine Bereich des verzinslich angelegten Geldvermögens, wobei dann zu berücksichtigen ist, dass jedenfalls aktuell für eine Sollertragsbesteuerung angesichts Renditen, die unterhalb der inflationären Geldentwertung liegen, kaum Raum ist.137 Schließlich lässt sich die Vermögensteuer auch nicht im Sinne einer Millionärssteuer als Zusatzbelastung hoher Einkommen rechtfertigen. Zwar gehen hohe Vermögen regelmäßig auch mit hohen Einkommen einher.138 Wenn es aber eigentlich um eine Erhöhung der Steuerbelastung hoher Einkommen geht, dann lässt sich nicht erklären, warum diese nicht auch auf Arbeitseinkünfte erstreckt wird.139 Dann wäre eine Anhebung des Einkommensteuerspitzensatzes nicht nur der direktere, sondern auch der einzig gleichheitssatzkonforme Weg. Dies sehen SPD,140 Bündnis 90/Die GRÜNEN141 und die Linkspartei142 auch vor, nur eben fälschlicherweise zusätzlich zur Einführung einer vermögensbezogenen Abgabe. Damit wird klar, dass eine Rechtfertigung der Besteuerung von Vermögen als Sollertragsteuer ausscheidet.143 Dies entzieht dem Vermögensteuerbeschluss 137 Zu den Belastungswirkungen s. Maiterth/Houben, in: IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 92 ff. 138 Zur Korrelation vgl. Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland, Stand 17.9.2012, S. 338 f. 139 A.A. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 2 Rz. 61, der die höhere Belastung von Vermögenseinkünften für „verfassungsrechtlich vertretbar“ erachtet, „weil die Vermögenseinkünfte nicht den zur Erzielung von Tätigkeitseinkünften notwendigen persönlichen Einsatz und die sich hieraus ergebende Gebundenheit und Einschränkung der individuellen Lebensgestaltungsmöglichkeiten voraussetzen“. Interessanterweise verkehrt sich hier die über Jahrzehnte geführte Auseinandersetzung mit der Konsumsteuertheorie (hierzu ausf. J. Lang, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 110 ff.) in ihr Gegenteil, freilich ohne dass die dieser zugrunde liegende Forderung nach intertemporaler Neutralität der Besteuerung und Berücksichtigung der Inflationsanfälligkeit von Kapitaleinkünften widerlegt wäre. 140 Vgl. unter http://www.spd.de/themen/76408/gerechte_gesellschaft.html oder http:// www.spd-fraktion.de/sites/default/files/materialien_fachgespraech_steuern_2011 endversion.pdf (letzter Zugriff: 11.8.2015). 141 Vgl. unter http://www.gruene.de/themen/wirtschaft-arbeit/solide-solidarisch-gruen. html oder http://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/BDK_2011_ Antraege/F-01__solide_solidarisch_gruen_unsere_haushalt.pdf (letzter Zugriff: 11.8.2015). 142 Vgl. Parteiprogramm unter http://www.die-linke.de/fileadmin/download/dokumente/ programm_der_partei_die_linke_erfurt2011.pdf, S. 42 oder http://www.linksfraktion. de/themen/einkommensteuer/ (letzter Zugriff: 11.8.2015). 143 So auch Böckenförde, Sondervotum zu BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121. Ausf. zu weitergehenden Rechtfertigungsversuchen einer Vermögensteuer s. auch Rakowski, Can Wealth Taxes Be Justified, Tax Law Review 53 (2000), S. 263 ff. Ein wenig beachtetes gleichheitsrechtliches Problem der Vermögensteuer liegt im Zusammenspiel mit Unterschieden hinsichtlich der lebenszeitlichen Verteilung von Einkommenserzielung und Konsum, vgl. Boadway/Chamberlain/Emmerson, in: Institute for Fiscal Studies (Hg.), Dimensions of Tax Design (Mirrlees Review 1), 2010, S. 779. Die Vermögensteuer verschärft die intertemporalen Verzerrungen der Einkommensteuer, indem derjenige, der in relativ jungen Jahren hohes Einkommen erzielt, das er spart, um es dann sukzessive bis zum Lebensende zu

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des Bundesverfassungsgerichts – hierauf haben schon früh Joachim Lang144 und Peter Bareis145, vor allem aber Richter Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem Sondervotum zum Vermögensteuerbeschluss146 hingewiesen – die Schlüssigkeit. Die ganze Argumentation des 2. Senats, und zwar auch zu Art. 14 GG (hierzu unten d)aa)), fußte auf der Einordnung der Vermögensteuer als Sollertragsteuer. Dies ist jedoch nicht haltbar. Wer die Grenzen der Sollertragsbetrachtung sieht, argumentiert häufig, Vermögensteuern seien keine Leistungsfähigkeitsteuern, sondern Lenkungsteuern, die lediglich Redistributionsziele verfolgen.147 Meines Erachtens ist auch dies schief, weil es unterstellt, die Vermögenssubstanz vermittle keine steuerliche Leistungsfähigkeit. Dem liegt die richtige Feststellung zugrunde, dass Steuern, die dauerhaft auf die Vermögenssubstanz zugreifen, zur Vernichtung der Steuerquelle führen.148 Dies ist allerdings keine gleichheitsrechtliche, sondern eine freiheitsrechtliche Argumentation und schließt nicht aus, dass auch Vermögen steuerliche Leistungsfähigkeit vermittelt. Dieter Birk hat dies auf der 23. Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft zutreffend herausgestellt149 und daraus auch gefolgert, dass Vermögensteuern gleichheitsrechtlich zunächst bezogen auf den Leistungsfähigkeitsindikator Vermögen zu rechtfertigen sind. Das hat ihm den Ruf eines Vermögensteuerapologeten eingetragen, was allerdings daran liegt, dass nicht sauber genug getrennt wird zwischen der Frage, ob Vermögen ein tauglicher Anknüpfungspunkt der Besteuerung ist, und der Frage der Rechtfertigung der Besteuerung von Vermögen. Als Anknüpfungspunkt staatlicher Geldleistungsforderungen ist Vermögen in der Tat geeignet. Mit dem Vermögensbestand lassen sich Steuern zahlen. Auch der Vermögensbestand vermittelt steuerliche Leistungsfähigkeit.150 Dem steht nicht entgegen, dass das ertraglose Sachvermögen keine Liquidität abwirft.151 Richtige Bewertung vorausgesetzt kann es durch Beleihung und Veräußerung zu Geld gemacht werden, das dann zur Steuerzahlung zur Verfügung steht. Dass damit ein massiver Zwang auf das Verhalten des Steuerpflichtigen ausgelöst wird, ist wiederum ein freiheitsrechtlicher, kein gleichheitsrechtlicher Aspekt. Es ändert aber nichts daran, dass, will man die Vermögensleistungsfähigkeit erfassen, im Fall der Veräußerung der gesamte Veräußerungserkonsumieren, deutlich stärker belastet wird als derjenige, dessen Einkommen kontinuierlich über die gesamte Lebenszeit verteilt ist. Freilich dürfte das Bundesverfassungsgericht, das überperiodische Effekte in der Regel ausblendet, hierin wohl keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG sehen. 144 J. Lang, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 101 u. 222. 145 Bareis, DB 1996, 1153 ff., 1154 ff. 146 Böckenförde, Sondervotum zu BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 161 ff. 147 Dazu ausf. Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, S. 931 ff. 148 J. Lang, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 101: „schrittweise Konfiskation“. 149 Zutreffend Birk, DStJG 22 (1999), S. 7 ff., S. 15; krit. Pelka, DStJG 22 (1999), S. 63 ff. 150 Dies war auch die Konzeption des Vermögensteuergesetzgebers, vgl. Gesetzesbegründung des Vermögensteuerreformgesetzes vom 17.4.1974, BT-Drucks. VI/3418, S. 51. So durchaus auch Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, § 2 Rz. 60, der gleichwohl an der Rechtfertigung als Sollertragsteuer festhalten will. 151 So Pelka, DStJG 22 (1999), S. 63.

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lös und nicht nur der Veräußerungsgewinn theoretisch als Steuergegenstand herangezogen werden kann. Die Vermögensteuer bleibt, auch wenn man den Sollertragsteuergedanken verwirft, Fiskalzwecksteuer. Dass sie daneben auch Lenkungszwecke einer Korrektur der Vermögensverteilung innerhalb der Bevölkerung verfolgt, steht dem nicht entgegen. Sie muss aber nicht allein mit dem Lenkungszweck gerechtfertigt werden. Dieser war im Übrigen – jedenfalls in der Vergangenheit – schon angesichts des relativ geringen Aufkommens aus der bis 1996 erhobenen Vermögensteuer nicht tragfähig.152 Eine besondere Eignung der Vermögensteuer zur Umverteilung ist zu verneinen. Einkommen- und vor allem Erbschaftsteuer153 haben bessere Umverteilungseigenschaften als die Vermögensteuer. d) Vereinbarkeit einer Besteuerung von Vermögen mit Art. 14 Abs. 1 GG Die verfassungsrechtliche Brisanz von Vermögensteuern liegt – sieht man von der Binnengestaltung im Hinblick auf das Problem einer gleichheitsgerechten Bewertung ab – nicht in Art. 3 Abs. 1 GG, sondern in den Freiheitsrechten und auch dort nicht in dem vom Bundesverfassungsgericht bemühten Halbteilungsgrundsatz, sondern in der Frage, inwieweit Art. 14 GG den steuerlichen Zugriff auf die Vermögenssubstanz erlaubt. Die Freiheitsrechte sind damit nicht nur Maßstab der Ausgestaltung von Vermögensteuern (etwa was ihre Höhe angeht), sondern auch ihrer primären Rechtfertigung. aa) Allgemeine Vermögensteuer Substanzsteuern unterliegen fundamentalen eigentumsrechtlichen Bedenken. Der Vermögensteuerbeschluss enthält nicht nur die ihn berühmt machenden Aussagen zur eigentumsrechtlichen Belastungsobergrenze für die Besteuerung von Vermögenserträgen, sondern auch zum Schutz des Vermögensstamms: „Die Zuordnung der vermögenswerten Rechtsposition zum Eigentümer und die Substanz des Eigentums müssen gewahrt bleiben. … Die Vermögensteuer darf nur so bemessen werden, dass sie in ihrem Zusammenwirken mit den sonstigen Steuerbelastungen die Substanz des Vermögens, den Vermögensstamm, unberührt lässt und aus den üblicherweise zu erwartenden, möglichen Erträgen (Sollerträge) bezahlt werden kann. Andernfalls führte eine Vermögensbesteuerung im Ergebnis zu einer schrittweisen Konfiskation, die den Steuerpflichtigen dadurch übermäßig belasten und seine Vermögensverhältnisse grundlegend beeinträchtigen würde.“154

152 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 135; Birk, DStJG 22 (1999), S. 7 ff., S. 14. 153 Raths, Bedeutung und Rechtfertigung der Vermögensteuer in historischer und heutiger Sicht, Dissertation Zürich 1977, S. 217 ff. 154 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 137.

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Damit geht das Gericht grundsätzlich von einem absoluten Schutz des Vermögensstamms vor Besteuerung aus. Diese Aussage verdient Zustimmung.155 Allerdings muss diese These näher begründet werden. Die bloße Behauptung, Steuern dürften nicht zur Konfiskation führen, ist nicht mehr als eine Floskel. Dass Steuergesetze als Inhalts- und Schrankenbestimmungen in die Eigentumsfreiheit eingreifen, gehört mittlerweile in Rechtsprechung und Literatur zum Allgemeingut.156 Beim Konfiskationsverbot157 geht es jedoch um die Frage, ob der Steuerzugriff in eine Enteignung umschlagen kann. Auch eine Vermögenssubstanzbesteuerung führt jedoch formal nicht zu einer Enteignung, weil sie nicht dazu zwingt, einen bestimmten Vermögensgegenstand an den Staat zu übertragen,158 sondern die Konkretisierungsbefugnis immer dem Bürger überlässt. Sie bleibt damit Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG.159 Die konfiskatorische Besteuerung ist aber der Enteignung wirkungsgleich. Aus dem Umstand, dass sie naturgemäß nicht gegen Entschädigung oder Ausgleichszahlung erfolgen kann, ließe sich folgern, dass der steuerliche Zugriff auf die Vermögenssubstanz damit schlechterdings verfassungswidrig ist. Dies wäre zu weitgehend. Auch Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG fordert für Art und Ausmaß der Entschädigung nicht zwingend einen Wertersatz,160 sondern lediglich einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse der All­ gemeinheit und den Interessen der Beteiligten. Dieser kann entfallen, wenn absolut außergewöhnliche Umstände ein entschädigungsloses Solidaropfer notwendig machen, weil andernfalls der Erhalt des Staates nicht gewährleistet wäre.161 Es bedarf eines Ausnahmezustandes, um in so grundlegender Weise in die Eigentumsverhältnisse der Bürger einzugreifen. Der Substanzeingriff durch eine laufende, unbefristete allgemeine Vermögensteuer lässt sich damit per se 155 Ebenso Rüfner, Probleme des Lastenausgleichs aus juristischer Sicht, in: Erker (Hg.), Rechnung für Hitlers Krieg, 2004, S. 19, 23; Leisner, Eigentum, in: HStR VI (1989), § 149 Rz. 129; a.A. Böckenförde, Sondervotum zu BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 154 ff. 156 Siehe etwa BVerfG v. 3.12.1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67, 79; BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97, 112; Kirchhof, AöR 128 (2008), 1, 11; Seer, FR 1999, S. 1280, 1282 ff.; Hey, StbJb. 2007/08, S. 19, 26 ff.; Hey, in: Tipke/ Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 3 Rz. 190. 157 Konfiskation bezeichnet die entschädigungslose Enteignung. 158 Entziehung „konkreter“ subjektiver Eigentumspositionen vgl. z. B. Wendt, in: Sachs (Hg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 14 Rz. 148. 159 Böckenförde, Sondervotum zu BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 153 verneint aus diesem Grund – auf der Grundlage der mittlerweile allerdings als überholt einzuordnenden These, Vermögen sei eigentumsrechtlich nicht geschützt – sogar insgesamt einen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG. 160 BVerfG v. 18.12.1968 – 1 BvR 638/64, BVerfGE 24, 367, 421; Wendt, in: Sachs (Hg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 14 Rz. 169; Kimminich, in: Bonner Kommentar, Art. 14 Rz. 298; a.A. Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), Art. 14 Rz. 445 f. 161 In diese Richtung auch BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 138, wonach der Zugriff auf die Vermögenssubstanz „unter besonderen Voraussetzungen, etwa in staatlichen Ausnahmelagen“, erlaubt sei (mit Hinweis auf Reichsnotopfer und Lastenausgleich); Rüfner, Probleme des Lastenausgleichs aus juristischer Sicht, in: Erker (Hg.), Rechnung für Hitlers Krieg, 2004, S. 19, 23; Rüfner, DVBl. 1970, 881, 885; Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 16 Rz. 63.

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eigentumsrechtlich nicht rechtfertigen, weil es an dem notwendigen Bezug zur Überwindung eines Ausnahmezustandes fehlt. Diesen Bezug könnten allein einmalige Maßnahmen, wie sie in Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG vorgesehen sind, aufweisen. Und auch dann ist noch auf eine möglichst schonende Ausgestaltung des steuerlichen Vermögenszugriffs zu achten. Immerhin wurde auch der Lastenausgleich zur Bewältigung der Folgen des 2. Weltkriegs über Jahrzehnte gestreckt162 erhoben. Hierdurch wird der Vermögenssubstanzeingriff nicht zu einer Sollertragsteuer. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Kategorien. Die Streckung führt lediglich zu einer Abmilderung des durch den Ausnahmezustand gerechtfertigten Substanzeingriffs. In Normallage darf der Staat dagegen nicht auf den Vermögensstamm als Steuergegenstand zugreifen. Auch das Lenkungsziel, über die Vermögensteuer Umverteilung zu organisieren, kann den besonderen Schutz des Vermögensstamms durch Art. 14 Abs. 1 GG nicht überwinden, solange es nicht durch die Ungleichverteilung von Vermögen zu sozialen Spannungen kommt, die ein friedliches Zusammenleben ernsthaft gefährden. bb) Erbschaft- und Schenkungsteuer Die eigentumsrechtliche Beurteilung der Erbschaftsteuer unterscheidet sich von der Vermögensteuer insofern, als sie zwar grundsätzlich auch aus der Vermögenssubstanz gezahlt werden muss, die Rechtfertigung aber am Leistungsfähigkeitszuwachs des Erben ansetzt. Die in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ebenfalls enthaltene Garantie des Erbrechts hindert die Erhebung einer Erbschaftsteuer nicht,163 da auch die Erbrechtsgarantie dem Vorbehalt von Inhalts- und Schrankenbestimmungen unterliegt. Sie wirkt allerdings sowohl aus der Perspektive des Erben als auch des Erblassers164 begrenzend. So wären extrem hohe Erbschaftsteuersätze mit dem Ziel, durch weitgehende Entziehung des Vermögens im Erbgang gleiche Startchancen herzustellen, mit der Garantie des Eigentums, insbesondere aber des Erbrechts, schlechterdings unvereinbar, weil sie der Bildung von Vermögen aus Sicht des Erblassers den Sinn entziehen würden.165 4. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Ausgestaltung von ­Vermögensteuern Teilt man die These, dass Art. 14 Abs. 1 GG einem Zugriff auf das Vermögen außer in Ausnahmesituationen wie Krieg und sonstigen Katastrophenfällen entgegensteht, nicht, sondern erachtet man Vermögensteuern grundsätzlich für zulässig, müssen für die inhaltliche Ausgestaltung gleichwohl weitergehen162 Vgl. Horowski, Vermögensabgabe bis 1979, 1964: Was vom Lastenausgleich noch gilt. 163 Axer, in: Epping/Hillgruber (Hg.), GG-Kommentar, 2009, Art. 14 Rz. 162. 164 Zur Erbrechtsgarantie als Schutz des gesamten Erbvorgangs sowohl aus Sicht des Erben als auch des Erblassers vgl. Wendt, in: Sachs (Hg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 14 Rz. 194. 165 Gebel, in: Troll/Gebel/Jülicher (Hg.), ErbStG-Kommentar, Einf. Rz. 38 (2009); Axer, in: Epping/Hillgruber (Hg.), GG-Kommentar, 2009, Art. 14 Rz. 162.

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de verfassungsrechtliche Restriktionen beachtet werden. Dabei hängen auch die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung von Vermögensteuern davon ab, ob man sie als Substanz- oder Sollertragsteuern begreift.166 Dass letzteres mit erheblichen Wertungswidersprüchen verbunden ist, ist bereits dargelegt worden.167 Trotzdem soll im Folgenden auch untersucht werden, welche Konsequenzen sich bei folgerichtiger Umsetzung des Sollertragsteuergedankens ergäben. a) Gleichheitsgerechte Vermögensbesteuerung aa) Anforderungen an das Steuerobjekt Als erstes stellt sich die Frage nach dem Steuergegenstand. Es geht darum, welches Vermögen zur Besteuerung herangezogen werden soll. Geht man von einem Eingriff in die Vermögenssubstanz aus, käme es auf den Substanzwert an. Hierbei wäre es grundsätzlich unerheblich, ob das Vermögen laufende Erträge abwirft. Im Hinblick auf die Notwendigkeit der Liquiditätsbeschaffung wäre Voraussetzung der Steuerbarkeit allein die Veräußerbarkeit. Bei einem Verständnis als Sollertragsteuer müsste dagegen anhand des Maß­ stabs der Ertragsfähigkeit entschieden werden. Vermögen müsste gemessen an seiner Ertragsfähigkeit gleich behandelt werden.168 Gleich ertragsfähige Vermögensgegenstände wären gleich zu belasten, Vermögensgegenstände geringerer Ertragskraft müssten entsprechend niedriger belastet werden. Bei Rechtfertigung als Sollertragsteuer müssten daher zwingend Gegenstände des privaten Gebrauchsvermögens,169 aber auch Schmuck, Edelmetall, Kunstsammlungen170 etc., vollständig von der Besteuerung ausgenommen werden, da diese keine Erträge abwerfen. Zwar ist der Gesetzgeber zur Typisierung berechtigt171 und muss bei der Bestimmung der vermögensteuerpflichtigen Gegen166 Böckenförde, Sondervotum zu BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 153. 167 Siehe oben IV.3.c)bb). 168 Vieten, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Wiedereinführung einer Vermögensteuer, Dissertation Frankfurt/Main 2005, S. 215 folgert hieraus die Anknüpfung an Ertragswerte statt an Verkehrswerte. 169 J. Lang, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 101; Jachmann, Verfassungsrechtliche Grenzen der Besteuerung, 1996, S. 50; Wittmann, BB 1995, 1933 ff., 1934. 170 So zutreffend Vieten, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Wiedereinführung einer Vermögensteuer, Dissertation Frankfurt/Main 2005, S. 217 f. Hierfür sprechen auch Vereinfachungsgründe, wie die Schwierigkeiten der Abgrenzung zum Hausrat (Gebrauchsvermögen) sowie der Bewertung belegen; siehe sehr instruktiv zur Schweizer Vermögensteuer Duss, Der Schweizer Treuhänder, 2012, S. 772 f. 171 Vgl. BVerfG v. 31.5.1988 – 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214, 226 f. m.w.N. (Existenzminimum); BVerfG v. 30.5.1990 – 1 BvL 2/83, BVerfGE 82, 126, 151 f.; BVerfG v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348, 359 m.w.N. (Lohnsteuerkarte); BVerfG v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1, 6 (Weihnachts- und Arbeitnehmerfreibetrag); BVerfG v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280, 290 (Zulage Ost); BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73, 127 (Alterseinkünfte III) und zur Erbschaftsteuer aktuell BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11, DStR 2012, 2063, Rz. 56.

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stände nicht in jedem Einzelfall sicherstellen, dass auch tatsächlich Erträge erwirtschaftet werden. Er dürfte jedoch Vermögen, mit dem typischerweise keine laufenden Erträge erwirtschaftet werden, nicht mit einbeziehen. Nicht zuzustimmen ist der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts im Vermögensteuerbeschluss, der Gesetzgeber dürfe „diese Ertragserwartung typisierend auf das Gesamtvermögen beziehen, mag dieses auch in einzelnen Wirtschaftsgütern nach der konkreten Anlageentscheidung des Eigentümers keine Erträge erbringen“.172 Eine derartige Gesamtbetrachtung widerspricht der Konzeption einer Bemessungsgrundlage, die sich aus einzelnen Wirtschaftsgütern zusammensetzt, die auch einzeln zu bewerten sind.173 Anhand des Maßstabs der Ertragsfähigkeit wäre nicht nur das ertraglose Vermögen auszunehmen, vielmehr wäre wohl auch zu fordern, dass Vermögensklassen mit sehr unterschiedlichen Ertragserwartungen unterschiedlich behandelt werden, wobei fraglich ist, ob sich die durchschnittliche Rendite von Immobilien, Geld- oder Betriebsvermögen auch nur annähernd realitätsgerecht typisieren lässt. bb) Anforderungen an die Vermögensbewertung Von besonderer Bedeutung ist ferner das Erfordernis realitätsgerechter Bewertung.174 Geht man von einer Belastung der Vermögenssubstanz aus, muss der durch Veräußerung realisierbare Substanzwert, d. h. der Verkehrswert, ermittelt werden. Richtiger Maßstab einer Sollertragsteuer wäre demgegenüber der Ertragswert.175 Im Hinblick darauf, dass auch der Verkehrswert maßgeblich anhand der zukünftigen Erträge eines Vermögensgegenstandes ermittelt wird, hat das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht nur für die Erbschaftsteuer176, sondern auch für die Vermögensteuer177 eine Anknüpfung an den Verkehrswert (gemeinen Wert) als zulässig erachtet. Dies muss auch für die Grundsteuer als besonderer Vermögensteuer auf das Grundvermögen gelten. 172 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 140. 173 § 1 Abs. 3 VStG spricht zwar von der Steuerpflicht des „Gesamtvermögens“, diese setzt sich aber zusammen aus den einzeln zu bewertenden Wirtschaftsgütern, vgl. Rössler/Troll, Bewertungsgesetz und Vermögensteuergesetz, Kommentar, 17. Aufl. 1995, § 114 BewG Rz. 3. 174 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 136; BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165, 172; BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, 33. 175 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 140 u. 143. 176 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, 33 f. 177 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 140: „Die Ermittlung der Soll­ erträge setzt grundsätzlich am Tatbestand der Ertragsfähigkeit eines Wirtschaftsgutes an, mag aber auch an dessen Verkehrswert anknüpfen, sofern die im Steuersatz bestimmte Belastung gewährleistet, daß die Vermögensteuer lediglich anteilig auf die Erträge zugreift, die aus der in Verkehrswerten erfaßten wirtschaftlichen Einheit typischerweise erwartet werden. Erfaßt die Bemessungsgrundlage nicht den vermuteten Ertrag, sondern den Veräußerungswert eines Wirtschaftsgutes, so kommt dem Steuersatz die Aufgabe zu, anknüpfend an einen aus dem Veräußerungswert abgeleiteten Sollertrag den steuerlichen Zugriff auf diesen angemessen und gleichheitsgerecht zu begrenzen.“

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Zur Ermittlung des Verkehrswertes bedarf es im Rahmen laufender Vermögensteuern eines Verfahrens zur regelmäßigen Neubewertung,178 um der Besteuerung realitätsgerechte Werte zugrunde legen zu können. Das Gebot realitätsgerechter Bewertung bezieht sich nicht nur auf die Relation unterschiedlicher Vermögensarten zueinander, z. B. auf das Verhältnis von Sach- und Kapitalvermögen, sondern zwingt auch innerhalb einer Vermögensklasse zu einer gleichmäßigen Bewertung.179 Hieraus folgt der Reformbedarf in der Grundsteuer, weil die Einheitsbewertung zwar tendenziell zu einer Unterbewertung sämtlicher Grundstücke führt, der Abstand zum Verkehrswert aber stark variiert und es somit zu erheblichen Bewertungsunterschieden zwischen den Grundstücken kommt.180 Die Vorgabe einer am Verkehrswert orientierten Bewertung begründet Zweifel, ob eine gleichheitssatzkonforme Ausgestaltung laufender Vermögensteuern überhaupt möglich ist. Namhafte Autoren halten eine zeitnahe Bewertung ruhenden Vermögens zu Verkehrswerten für schlichtweg undurchführbar.181 Selbst wenn Vergleichswerte existieren, steht die Heterogenität des Vermögens182 der Übertragbarkeit auf nicht kürzlich gehandelte Vermögensgegenstände entgegen. Wenn man eine von Markttransaktionen unabhängige Bewertung nicht für generell unmöglich hält, schlägt sich das Erfordernis realitätsgerechter Bewertung in dem hierfür erforderlichen Verwaltungsaufwand nieder, was die Effizienz der Besteuerung ruhenden Vermögens in Frage stellt.183 Es stellt sich die Frage nach der Zweck-Mittel-Relation. Der Eingriff in die Grundrechte lässt sich jedenfalls im Hinblick auf eine fiskalische Zielsetzung dann nicht mehr rechtfertigen, wenn die Steuereinnahmen zu einem Großteil durch die Kosten der Erhebung der Vermögensteuer aufgezehrt werden.184 Dies wiederum hat erhebliche Auswirkungen auf den Zuschnitt der Vermögen-, aber auch der Erbschaftsteuer. Indem Vermögen- und Erbschaftsteuer auf eine relativ geringe Anzahl größerer Vermögen beschränkt werden – die sich aber, das sei nur nebenbei bemerkt, durch legale Steuergestaltung der Belastung besonders gut ent-

178 179 180 181 182

BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 144. Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 16 Rz. 4. BFH v. 30.6.2010 – II R 60/08, BStBl. II 2010, 897, 899 ff. Tipke, in: FS Ritter, 1997, S. 587, 591; Maiterth/Sureth, StuB 2005, S. 70 ff. Besonders heterogen ist Betriebsvermögen. Aber auch bebaute Grundstücke können sich aufgrund von Ausstattung und Zustand der aufstehenden Gebäude selbst in sehr eng umgrenzten Gebieten extrem unterscheiden. Eine Bewertung anhand von Kaufpreissammlungen mag relativ gut funktionieren in sehr homogenen Wohn­ siedlungen. Dies erklärt, warum die Einschätzung des Vergleichswertverfahrens in den Niederlanden günstiger ausfällt als in Deutschland (so Meussen im Rahmen des 41. Berliner Steuergesprächs zur Grundsteuer am 14.11.2011). 183 Meyding, DStR 1992, 1113 ff., 1116 gibt die Verwaltungskosten der Vermögensteuer mit ca. 32 % des Steueraufkommens an, und zwar noch auf der Grundlage der Einheitsbewertung, die jedoch den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine zeitnahe realitätsgerechte Bewertung nicht gerecht wird. 184 Ausreichend ist allerdings, wenn der Umverteilungszweck in den Vordergrund gestellt würde, dass die Einnahmeerzielung Nebenzweck ist, vgl. § 3 Abs. 1 AO.

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ziehen können –, will man den Bewertungsaufwand reduzieren.185 Damit sind die hohen persönlichen und sachlichen Freibeträge nicht nur Ausfluss familien- und wirtschaftspolitischer Lenkungsentscheidungen, sondern systemimmanent, wenn man die verfassungsrechtlichen Anforderungen realitätsgerechter Werte mit dem ebenfalls verfassungsrechtlich fundierten Effizienzpostulat186 verbindet. Einerseits sind damit Begünstigungsungleichheit und die sich hieraus ergebenden verfassungsrechtlichen Bedenken bereits in der Vermögensbesteuerung angelegt. Andererseits muss sich auch die eingängige Forderung nach breiten Bemessungsgrundlagen bei niedrigen Steuersätzen187 dem Effizienzproblem stellen, weil der Verwaltungsaufwand im Verhältnis zum erzielbaren Steueraufkommen stark steigen würde. Selbst bei einer drastischen Reduktion der Anzahl der Steuerfälle durch hohe Freibeträge – die aktuellen Entwürfe gehen von 150.000 – 300.000 Steuerpflichtigen aus188 – steht ein gutachterliches Einzelbewertungsverfahren als Regelverfahren außer Verhältnis zum Ertrag. Schließlich bleibt es auch bei der Beschränkung auf Großvermögen bei der Notwendigkeit der Bewertung einer Unzahl einzelner Wirtschaftsgüter. Wertgutachten können allenfalls im Einzelfall als Korrektiv der Ergebnisse standardisierter Verfahren zur Anwendung kommen. Die alternative Anwendung standardisierter Verfahren liegt grundsätzlich in der Typisierungskompetenz des Gesetzgebers. Steuergesetze betreffen Massenvorgänge, so dass der Gesetzgeber sich vereinfachender Regelungen bedienen muss, um den Gesamtvollzug sicherzustellen. Allerdings weisen Maiterth und Houben erhebliche Schwächen der verschiedenen standardisierten Bewertungsverfahren nach.189 Letztlich ist keines der derzeit zur Anwendung kommenden Verfahren in der Lage, auch nur einigermaßen treffsicher Verkehrswerte zu ermitteln. Damit ist die Frage nach der Reichweite der Typisierungskompetenz aufgeworfen, nach Art und Ausmaß verfassungsrechtlich (noch) tolerabler Abweichungen vom Verkehrswert. Dass die Forderung, der Besteuerung den Verkehrswert zugrunde zu legen, nur mit Abstrichen verwirklicht werden kann, hat auch das Bundesverfassungsgericht erkannt und im zweiten Erbschaftsteuerbeschluss einen „Annäherungswert“ an den gemeinen Wert genügen lassen.190 Ausrei-

185 Vgl. Begründung zu § 9 Abs. 1 des Entwurfs eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe, BT-Drucks. 17/10770, S. 19. 186 Arndt, Praktikabilität und Effizienz, Habilitationsschrift Köln 1983, S. 102 ff. 187 Z.B. Hey, JZ 2007, 564 ff., 571; Schubert, Die Verfassungswidrigkeit der Erbschaftund Schenkungsteuer und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Neuregelung, Dissertation Frankfurt/Main 2011, S. 261 ff.; Wiss. Beirat beim BMF, Die Begünstigung des Unternehmensvermögens in der Erbschaftsteuer, 2012, S. 37 ff.; Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 15 Rz. 6 a.E. 188 Bach/Beznoska, Aufkommens- und Verteilungswirkungen einer Wiederbelebung der Vermögensteuer, DIW Berlin: Politikberatung kompakt 68 (2012), S. 6: 143.000 Steuerpflichtige; Grüne Vermögensabgabe, BT-Drucks. 17/10770, S. 11: 330.000 Steuerpflichtige. 189 Siehe in IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 126 ff. 190 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, 36.

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chend sei, wenn sich der Steuerwert innerhalb eines Korridors vertretbarer Verkehrswerte befindet. Im Rahmen der Grundstücksbewertung hält das Gericht Abweichungen von 20 % nach oben und nach unten für noch tolerabel.191 Allerdings weisen Maiterth und Houben in dieser Schrift nach, dass sich auch diese Forderung unabhängig von dem zur Anwendung gebrachten Verfahren nicht erfüllen lässt.192 In der Mehrzahl der betrachteten Grundstücksbewertungen kommt es zu zum Teil deutlich höheren Abweichungen. Es handelt sich also nicht um zu vernachlässigende Einzelfälle.193 Noch schwerer erfüllbar ist die Forderung, es dürfe nicht zu „uneinheitlichen Abweichungen“194 zwischen Steuerwert und Verkehrswert kommen. Sie ist auch nicht konsistent mit der Aussage, dass Über- und Unterbewertungen in Höhe von 20 % um den Verkehrswert herum von der verfassungsrechtlichen Typisierungskompetenz des Gesetzgebers gedeckt sind. Wie Maiterth und Houben belegen, kommt es nicht zu einer systematischen Über- oder Unterbewertung über sämtliche Grundstücksarten. Es lassen sich allenfalls Tendenzaussagen dergestalt treffen, dass höherwertige Mietwohngrundstücke in der Regel im Ertragswertverfahren unterbewertet werden195 oder dass das Vergleichswertverfahren für Ein- und Zweifamilienhäuser zu leicht über dem Verkehrswert liegenden Steuerwerten führt.196 Insgesamt betrachtet ist die Streuung aber willkürlich, was es gleichsam unmöglich macht, sie durch zusätzliche gesetzliche Differenzierungen zu reduzieren. Wenn das Bundesverfassungsgericht in den Beschlüssen aus 1995 und 2006 eine tatsächlich unerfüllbare Anforderung an die Realitätsgerechtigkeit der Bewertung aufgestellt haben sollte, würde dies das Aus jedweder Vermögensbesteuerung bedeuten.197 Dass das Verfassungsgericht im zweiten Erbschaftsteuerbeschluss aus dem Jahr 2006 tatsächlich eine Festlegung dergestalt treffen wollte, dass die Erbschaftsteuer verfassungswidrig ist, sobald Werte zugrunde gelegt werden, die stärker als 20 % nach oben oder unten vom Verkehrswert abweichen, und ob diese Aussage ohne weiteres auf sämtliche vermögensbezogene Steuern zu übertragen ist, muss jedoch bezweifelt werden. Primär richtet sich das Gericht gegen „strukturell ungeeignete“198 Methoden, gegen extreme Unterbewertungen (von unter 50 % des Verkehrswertes) und große Streubreiten. Auch dürften die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an die Schwankungsbreite in Relation zur Höhe der Belastung stehen. Je intensiver der Eingriff, desto höhere Anforderungen sind an das Bewertungsgleichmaß zu

191 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, 46. 192 Siehe in IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 133. 193 Soweit Typisierungen nur im Einzelfall zu nicht hinnehmbaren Härten führen, wäre mit einer Härtefallklausel, die es erlaubt, das im standardisierten Verfahren gewonnene Bewertungsergebnis zu widerlegen (vgl. § 198 BewG), den verfassungsrechtlichen Anforderungen Genüge geleistet, vgl. etwa BVerfG v. 5.4.1978 – 1 BvL 117/73, BVerfGE 48, 102, 116. 194 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, 42. 195 Maiterth/Houben, in: IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 125. 196 Maiterth/Houben, in: IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 128 f. 197 In diese Richtung Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 16 Rz. 62. 198 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, 47.

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stellen.199 Deshalb wird man für eine laufende Vermögensteuer, auch wenn sie „nur“ 1 % betragen sollte, höhere Anforderungen an die Treffsicherheit des Bewertungsverfahrens stellen müssen als für die deutlich niedrigere Belastung mit Grundsteuer.200 Auch in der Erbschaftsteuer ist angesichts der Höhe der Belastung ein strengerer Maßstab anzulegen, zumal bei einer einmaligen Bewertung auch unter Effizienzgesichtspunkten ein höherer Bewertungsaufwand getrieben werden kann. Dies würde erst recht für eine einmalige Vermögensabgabe in signifikanter Höhe gelten. cc) Anforderungen an Freibeträge/Verschonungsregeln (1) Verwirklichung von Vereinfachungszwecken Auch wenn hohe Freibeträge dazu beitragen, die Zahl der Bewertungsfälle zu reduzieren, sind Vermögen- und Erbschaftsteuern mit großzügigen Verschonungsregeln im Hinblick auf das Gebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – unabhängig davon, ob man diese in der Vermögenssubstanz oder im Sollertrag verkörpert sieht – der Notwendigkeit der Rechtfertigung ausgesetzt. Denn weder sind kleinere Vermögen per se ertraglos, noch lassen sie sich – sieht man einmal vom existenznotwendigen Gebrauchsvermögen ab – nicht zu Geld machen. Der Vereinfachungszweck der Vermeidung des Bewertungsaufwands ist zur Rechtfertigung nur bedingt tragfähig, weil er letztlich keine exakte Grenzziehung erlaubt. Allenfalls eine echte Bagatellgrenze wird man hierauf stützen können. Aber ob der Freibetrag bei 500.000 Euro, 1 Mio. oder 5 Mio. Euro liegt, ist letztlich willkürlich. Je höher der Freibetrag, desto weniger Steuerfälle entstehen, aber ab welchem Betrag Bewertungsaufwand und Steuerertrag in ein angemessenes Verhältnis kommen, ist nicht objektiv begründbar. Gleichzeitig wird, je höher die Freibeträge und umso weniger Steuerfälle tatsächlich erfasst werden, der Charakter der Steuer als Gemeinlast in Frage gestellt. (2) Verwirklichung von Umverteilungszwecken Eher lassen sich hohe Freibeträge im Hinblick auf den Umverteilungszweck rechtfertigen,201 da der Gesetzgeber in der Definition des Umverteilungszieles verhältnismäßig frei ist. Umverteilung ist, freilich nur unter Beachtung der sich aus der Garantie privaten Eigentums in Art. 14 Abs. 1 GG ergebenden 199 In diese Richtung BVerfG v. 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224, 246 ff., wo das Gericht – wohl im Hinblick auf die verhältnismäßig geringe Belastungswirkung von § 8b Abs. 5 KStG – äußerst großzügig mit der Typisierung des Gesetzgebers umgegangen ist. 200 Zum Zusammenhang zwischen Belastungshöhe und Genauigkeit der Wertermittlung BFH v. 2.2.2005 – II R 36/03, BStBl. II 2005, 428, 429; zustimmend Eisele, Der Gemeindehaushalt 2009, S. 206 ff., S. 207. 201 Tipke, in: FS Ritter, 1997, S. 587, 593; in dieselbe Richtung Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, S. 934, der, „wenn die Vermögensdisparität so groß würde, dass der soziale Friede ernstlich gefährdet würde, die Möglichkeit [sieht], Großvermögen aus sozialstaatlichen Gründen sonderzubelasten“.

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freiheitlichen Grundwertung, ein legitimes Regelungsziel.202 Wenn es das gesetzgeberische Anliegen ist, vor allem große Vermögen zu nivellieren, lassen sich auch hohe Freibeträge rechtfertigen. Allerdings stellt sich dann die Frage nach der Eignung.203 Denn solange der Steuersatz gering ist, bleibt auch die Umverteilungswirkung gering. Sollen vermögensbezogene Abgaben tatsächlich einen Beitrag dazu leisten, die „Schere zwischen Arm und Reich nicht (noch) weiter aufklaffen zu lassen“204, bedürfte es hoher Steuersätze auf Großvermögen, um deren Anstieg zu verhindern oder doch spürbar zu verlangsamen. Eine auf Großvermögen konzentrierte weitgehende Wegbesteuerung von Vermögenszuwächsen wäre jedoch – wie bereits dargelegt205 – eigentumsrechtlich unzulässig, solange es nicht gilt, eine ernstliche Gefährdung des sozialen Friedens zu verhindern.206 Damit ist das Umverteilungsziel mittels der Vermögensteuer in rechtlich zulässiger Weise gar nicht erreichbar. Geeigneter erscheint hier ohnehin die Erbschaftsteuer.207 (3) Schutz des persönlichen Gebrauchs- und Altersvorsorgevermögens Das Bundesverfassungsgericht begründet die persönlichen Freibeträge primär freiheitsrechtlich mit der Notwendigkeit einer Verschonung des persönlichen Lebensführungsvermögens, das es mit dem Wert eines durchschnittlichen Einfamilienhauses bemessen wissen will. Diese Aussage findet sich sowohl im Vermögensteuerbeschluss208 als auch im Erbschaftsteuerbeschluss.209 Die Lebensstandardwahrung der Hinterbliebenen aus der Kernfamilie lässt sich mit Art. 6 Abs. 1 GG begründen. Auch Art. 14 Abs. 1 GG kann herangezogen werden, weil andernfalls das Erbrecht unter dem Gesichtspunkt der Versorgung der Hinterbliebenen in seinem Kernbereich tangiert wäre. Der Erbschaftsteuergesetzgeber hat hieraus zum einen die geltenden hohen persönlichen Freibeträge (§ 16 ErbStG) gefolgert (insbesondere 500.000 Euro für Ehegatten, 400.000 Euro für Kinder), zum anderen die zusätzliche sachliche Steuerbefreiung des Familienheims durch § 13 Abs. 1 Nr. 4a, b und c ErbStG. Die gesetzgeberische Entscheidung für großzügige persönliche Freibeträge ist 202 Grundsätzlich bejaht etwa von Birk, DStJG 22 (1999), S. 7 ff., S. 14. 203 In der konkreten Ausgestaltung der bis 1996 erhobenen Vermögensteuer verneint von Birk, DStJG 22 (1999), S. 7 ff., S. 14; generell verneint Raths, Bedeutung und Rechtfertigung der Vermögensteuer in historischer und heutiger Sicht, Dissertation Zürich 1977, S. 210 ff. die Eignung der Vermögensteuer zur Verwirklichung von Umverteilung aufgrund der im Hinblick auf die einfache Überwälzbarkeit ungesicherten Inzidenz. 204 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe, BTDrucks. 17/10770, S. 11 f. 205 Siehe oben IV.3.d)aa). 206 Vgl. Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, S. 934, der „wenn die Vermögensdisparität so groß würde, dass der soziale Friede ernstlich gefährdet würde, die Möglichkeit [sieht], Großvermögen aus sozialstaatlichen Gründen sonderzubelasten“. 207 Raths, Bedeutung und Rechtfertigung der Vermögensteuer in historischer und heutiger Sicht, Dissertation Zürich 1977, S. 217. 208 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 140 ff. 209 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165, 175.

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nicht zu beanstanden. Ob dieses Ausmaß verfassungsrechtlich zwingend ist, erscheint zwar zweifelhaft. Eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit, dass Kinder, auch dann wenn sie bereits eigenes Lebensführungsvermögen aufgebaut haben, was bei den h ­ eutigen Generationsfolgen beim Tod der Eltern (Steuerklasse I) regelmäßig der Fall sein dürfte, bezogen auf jeden Erbfall den Wert eines Einfamilienhauses steuerfrei erhalten müssen,210 ist nur schwer begründbar. Ungeachtet der Frage verfassungsrechtlicher Notwendigkeit verfügt der Gesetzgeber aber über Gestaltungsspielräume zur Gewährung derart großzügiger persönlicher Freibeträge. Problematischer sind die zusätzlichen sachlichen Steuerbefreiungen des § 13 Abs. 1 Nr. 4a–c ErbStG. Sie lassen sich zwar – insbesondere wenn es um das zum Zeitpunkt des Erbfalls von Erblasser und Erben gemeinsam bewohnte Familienheim geht – als Lebensstandard- und Statusschutz begründen. Allerdings müsste die Begünstigung dann richtigerweise auf das zum Zeitpunkt der Schenkung/des Erbfalls vom Erwerber mitbewohnte Familienheim beschränkt werden.211 Aber auch dann bleibt die Differenzierung der Freibeträge nach Vermögensart gleichheitsrechtlich angreifbar.212 In der Vermögensteuer können hohe persönliche Freibeträge zudem als typisierende Freistellung des persönlich genutzten und damit – sieht man vom Wert der Selbstnutzung ab – per se ertraglosen Vermögens gewertet werden. Zielgenauer wäre allerdings das Abstellen auf den Nutzungszusammenhang. Freizustellen wäre zudem – sowohl unter dem Gesichtspunkt der Sollertragsals auch der Substanzsteuer – im Rahmen einer Vermögensteuer das Altersvorsorgevermögen.213 Gleichheitsgerecht müssen dabei unterschiedliche Wege der Altersvorsorge in gleicher Weise freigestellt werden. Dies stößt insofern auf erhebliche Schwierigkeiten, als zwar Renten- und Pensionsansprüche regelmäßig in unbegrenzter Höhe nicht von der Vermögensbesteuerung erfasst werden, Altersvorsorge durch sonstigen Vermögensaufbau dagegen nicht verschont wird. Steuerpflichtige, die ihre Altersversorgung aus Kapital- oder Immobilien­ 210 Freilich dürfte der Freibetrag in den Fällen des wirtschaftlich bereits autonomen Kindes häufig faktisch daran scheitern, dass das Kind nicht unter Aufgabe seiner bisherigen Wohnung in das elterliche Haus einzieht, siehe Gebel, in: Troll/Gebel/ Jülicher (Hg.), ErbStG-Kommentar, 2011, § 13 Rz. 74. 211 § 13 Abs. 1 Nr. 4 a-c ErbStG lässt es ausreichen, dass der Erwerber die begünstigte Immobilie unverzüglich nach Eintritt des Steuerfalls bezieht. Die Vergünstigung ist folglich nicht auf den Schutz der bestehenden Lebensumstände beschränkt. 212 Zutreffend Schubert, Die Verfassungswidrigkeit der Erbschaft- und Schenkungsteuer und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Neuregelung, Dissertation Frankfurt/Main 2011, S. 154. 213 Positiv ist insofern die Konzeption der Grünen Vermögensabgabe zu beurteilen. § 10 des Entwurfs einer Vermögensabgabe (BT-Drucks. 17/10770) sieht zusätzlich zum allgemeinen Freibetrag einen Altersvorsorgefreibetrag in Höhe von 380.000 Euro vor, soweit der Steuerpflichtige keine oder nur geringfügige Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung hat. Hiermit wird eine zu begrüßende Annäherung der unterschiedlichen Altersvorsorgeformen erreicht und eine Diskriminierung derjenigen Steuerpflichtigen vermieden, die durch sonstigen Vermögensaufbau für ihr Alter vorsorgen; a.A. Vieten, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Wiedereinführung einer Vermögensteuer, Dissertation Frankfurt/Main 2005, S. 216, der eine derartige Maßnahme nicht für erforderlich erachtet.

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erträgen bestreiten, müssten einen zusätzlichen Altersvorsorgefreibeitrag erhalten, um das Vermögen freizustellen, das erforderlich ist, um einen durchschnittlichen Renten-/Pensionsanspruch zu finanzieren. Freibeträge im Rahmen der Vermögensteuer, die der Freistellung des (ertraglosen) Lebensführungsvermögens sowie des Altersvorsorgevermögens dienen, müssen unabhängig von der Höhe des Gesamtvermögens stets in voller Höhe gewährt werden. Da insoweit keine Vermögensteuerleistungsfähigkeit besteht – und zwar sowohl nach einer Substanz- als auch nach einer Soller­ tragsteuerbetrachtung –, verbietet es sich, diese Freibeträge ab einer bestimmten Höhe des Gesamtvermögens abzuschmelzen.214 Der Milliardär muss diese Aufwendungen ebenso tätigen wie der Millionär. Insofern besteht kein grundsätzlicher Unterschied zum einkommensteuerrechtlichen Grundfreibetrag, der ebenfalls nicht mit steigendem Einkommen zurückgenommen werden darf. Nimmt man beides zusammen, die Notwendigkeit der Freistellung eines durchschnittlichen aktuellen Gebrauchsvermögens und des Altersvorsorgevermögens, ergeben sich zwangsläufig hohe persönliche Freibeträge. Sie führen von vornherein dazu, dass nur eine Minderheit mit Vermögensteuer belastet wird.215 (4) Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung von Privat- und Betriebsvermögen Stark umstritten ist sowohl in der Erbschaft- als auch in der Vermögensteuer, ob Betriebsvermögen von der Besteuerung vollständig ausgenommen oder durch hohe spezielle Freibeträge weitgehend verschont werden darf oder sogar verschont werden muss.216 Im ersten Erbschaftsteuerbeschluss aus dem Jahr 1995 klang an, der erb- bzw. schenkungsteuerrechtliche Erwerb von Betriebsvermögen begründe eine geringere Leistungsfähigkeit als von Privatvermögen.217 Diese These ist in der Folge zutreffend mit dem Hinweis widerlegt worden, dass eine etwaige besondere Sozialpflichtigkeit von Betriebsvermögen sich richtigerweise bereits in der Bewertung niederschlägt und daher zusätzliche Freibeträge jedenfalls nicht auf

214 A.A. G. Kirchhof, StuW 2011, 189, 198, der in der Abschmelzregelung lediglich ein Progressionselement sieht. Dies ist m.E. jedenfalls bei einem Abschmelzen von Freibeträgen bis auf 0 nicht haltbar, insbesondere, wenn damit auch das Altersvorsorgevermögen zur Besteuerung herangezogen wird. 215 Dies trägt der Vermögensteuer zusammen mit den in BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 entwickelten und in BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 fortentwickelten Belastungsobergrenzen den Ruf der „Sandwich-Steuer“ ein, siehe Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 16 Rz. 63. 216 Hierzu Tipke, in: FS Ritter, 1997, S. 587, 595: Nicht nur zulässig, sondern geradezu geboten, weil alle Argumente, die für die Besteuerung von Privatvermögen – ihre Überzeugungskraft einmal dahingestellt – angeführt werden, auf Betriebsvermögen nicht zutreffen. 217 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165, 176.

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eine geminderte Leistungsfähigkeit gestützt werden können.218 Anders mag sich dies verhalten im Hinblick auf gesellschaftsvertragliche Restriktionen wie Buchwertklauseln, die es den Erben von Unternehmensanteilen erschweren, ihre Beteiligung zu Geld zu machen, um die Erbschaftsteuer zu entrichten. Insofern ist denkbar, dass der anteilige auf den Erben entfallende Wert des Unternehmens nicht mit dem Wert seiner Beteiligung korrespondiert. Dies wäre zu berücksichtigen. Im Übrigen bleiben zur Rechtfertigung lediglich Sozialzwecke wie der Erhalt von Familienunternehmen und der Schutz von Arbeitsplätzen. Diese lassen sich aber – selbst in Anbetracht des großen Gestaltungsspielraums, den das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei der Normierung von Steuervergünstigungen einräumt219 – nicht gleichheitssatzkonform umsetzen. Eine Trennung von gutem und schlechtem, produktivem und unproduktivem Vermögen ist praktisch nicht möglich, jedenfalls nicht entlang der ertragsteuerrecht­lichen Unterscheidung zwischen Betriebs- und Privatvermögen,220 an die derzeit angeknüpft wird. Die vom 2. Senat des Bundesfinanzhofs monierte Gestaltungsanfälligkeit221 der erbschaftsteuerrechtlichen Steuervergünstigungen hängt genau hiermit zusammen. Zwar implizieren Steuervergünstigungen immer Gestaltungsmöglichkeiten. Dies gilt aber umso mehr, wenn die Abgrenzung zwischen steuerpflichtigen und begünstigten Tatbeständen nicht inhaltlich, sondern formal getroffen wird. Neben der Abgrenzungsproblematik und der mit den Gestaltungsmöglichkeiten einhergehenden fehlenden Zielgenauigkeit der Vergünstigungen bestehen im Rahmen der Erbschaftsteuer Zweifel auch hinsichtlich Erforderlichkeit und Angemessenheit. Weder gibt es eine empirische Evidenz, dass Unternehmen aufgrund der Erbschaftsteuerbelastung der Unternehmenserben insolvent geworden wären,222 noch geht eine zur Liquiditätsbeschaffung eventuell erforderliche Veräußerung von Unternehmen oder Unternehmensanteilen typischerweise mit einem Arbeitsplatzverlust einher. Hieran wird freilich auch deutlich, dass die mit der Privilegierung von Unternehmensvermögen verfolgten Gemeinwohlzwecke stärker differenziert werden müssen. Neben dem Arbeitsplatzerhalt wäre es wohl auch legitim, wenn der Gesetzgeber die Weiterführung von Familienunternehmen innerhalb der Familie fördern wollte. Auch im Rahmen der Vermögensteuer wird die teilweise oder vollständige Ausnahme von Betriebsvermögen diskutiert. Hierfür spricht, dass Steuern auf Betriebsvermögen überwälzt werden,223 dass sie zu Wettbewerbsverzerrungen füh-

218 Bareis, DB 1996, 1153 ff., 1157; Seer, DStJG 22 (1999), S. 191 ff., S. 212; so jetzt auch BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11, DStR 2012, 2063, Rz. 92 f. 219 Siehe BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274, 299 und ausf. hierzu Schön, in: FS Spindler, 2011, S. 169 ff. 220 BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11, DStR 2012, 2063, Rz. 98. 221 BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11, DStR 2012, 2063, Rz. 96 ff.; zuvor bereits Arndt, DStJG 22 (1999), S. 25 ff., 36; Schön, DStJG 22 (1999), S. 65. 222 Wiss. Beirat beim BMF, Die Begünstigung des Unternehmensvermögens in der Erbschaftsteuer, Gutachten 01/2012, S. 30. 223 Tipke, GmbHR 1996, 8, 15.

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ren und dass sie dazu verleiten, Unternehmen Eigenkapital zu entziehen.224 Steuern, die in die Vermögenssubstanz von Unternehmen eingreifen, sind nicht nur standortpolitisch verfehlt. Die schleichende Konfiskation von Unternehmen gefährdet deren Lebensfähigkeit. Bei einem Verständnis der Vermögensteuer als Sollertragsteuer stellt sich zum einen das Problem extrem unterschiedlicher Renditen. Ein einheitlicher Ansatz würde der Unternehmensrealität nicht gerecht werden und kann somit nicht mehr als verfassungskonforme Typisierung aufgefasst werden. Zum anderen ist selbst bei hohen Unternehmensrenditen in Anbetracht der ertragsteuerrechtlichen Belastung unternehmerischer Gewinne von knapp 50 % (Gewerbesteuer, Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag) für eine Zusatzbelastung durch eine Vermögensteuer innerhalb der Übermaßgrenze kein Raum. Die Negativwirkungen einer laufenden Vermögensteuer auf Betriebsvermögen sind unbestreitbar. Das Ziel ihrer Vermeidung würde – anders als für Zwecke der Erbschaftsteuer – möglicherweise die Beschränkung der Vermögensteuer auf Privatvermögen rechtfertigen. Allerdings gelten die gegen die erbschaftsteuerrechtlichen Vergünstigungen gerichteten Bedenken hinsichtlich der gesetzgeberischen Abgrenzbarkeit und Gestaltungsanfälligkeit uneingeschränkt auch für die Vermögensteuer.225 Wenn trotzdem in der Vergangenheit immer wieder die vollständige Ausnahme des Betriebsvermögens gefordert wurde, so fußte dies zudem auf unzutreffenden Prämissen, mit denen die Besteuerung von Privatvermögen gerechtfertigt wurde. In der Tat besteht bei betrieblichen Einkünften grundsätzlich kein Bedürfnis einer Nachholwirkung. Auch fällt es noch schwerer, einen Sollertrag unternehmerischen Vermögens zu typisieren als bei privatem Immobilienoder Kapitalvermögen, wobei sich Sollertragsbetrachtung und Nachholwirkung auch im Rahmen der Besteuerung von Privatvermögen als nicht schlüssig erwiesen haben. Allenfalls kann man daher mit Klaus Tipke226 folgern, dass, wenn diese Argumente schon zur Begründung der Besteuerung von Privatvermögen nicht überzeugen, sie keinesfalls zur Begründung der Besteuerung von Betriebsvermögen herangezogen werden dürfen, wo bereits die Prämissen nicht stimmen. Nur trägt diese Sichtweise nicht eine Begünstigung von Betriebsvermögen in Abgrenzung zu Privatvermögen, sondern lässt nur einen einzigen Schluss zu, nämlich den, ganz auf die laufende Besteuerung von Vermögen zu verzichten. dd) Anforderungen des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit Die Besteuerung von Vermögen wirft Vollzugsprobleme eigener Art auf, die stark von der Vermögensart abhängen. Während bei der Grundsteuer eine lückenlose Erfassung möglich ist, bergen Erbschaft-, aber auch Vermögensteuer 224 Ritter, in: Festgabe F. J. Haas, 1996, S. 283, 288; Vieten, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Wiedereinführung einer Vermögensteuer, Dissertation Frankfurt/ Main 2005, S. 219; Märkle/Franz, Stbg. 1996, S. 241, 244; Tipke, in: FS W. Ritter, 1997, S. 587, 595. 225 Vieten, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Wiedereinführung einer Vermögensteuer, Diss. Frankfurt/Main 2005, S. 220 f. 226 Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, S. 944 f.

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im Bereich des privaten Sach- und Kapitalvermögens erhebliches Hinterziehungspotential.227 Dies ist auch verfassungsrechtlich relevant. Der Steuergesetzgeber muss nicht nur die gleichheitsgerechte Ausgestaltung der materiellen Steuernormen gewährleisten, sondern auch Gleichheit im ­tatsächlichen Belastungserfolg.228 „Normale“ Vollzugsdefizite, wie sie im steuerrechtlichen Massenverfahren unvermeidlich sind, tangieren die Verfassungsmäßigkeit nicht. Sind jedoch die Ermittlungsmöglichkeiten aufgrund wider­ sprüchlicher Gesetzesbefehle im Sinne eines strukturellen Erhebungsdefizits229 eingeschränkt, wird die zugrunde liegende materielle Steuernorm gleichheitswidrig. Strukturell sind zum einen die Vollzugsdefizite im Hinblick auf das private Geld- und Kapitalvermögen, weil mit Einführung der Abgeltungsteuer die Deklarationspflicht im Rahmen der Einkommensteuer weggefallen und § 30a AO beibehalten wurde. Zum anderen begegnet die Durchsetzung der Vermögensteuer auf sonstiges Privatvermögen (Schmuck, Kunstgegenstände, Antiquitäten)230 nicht überwindbaren Schwierigkeiten, soweit sich dieses in der von Art. 13 Abs. 1 GG geschützten Wohnung befindet. Zwar kann der Vermögensteuergesetzgeber diesbezüglich eine Deklarationspflicht anordnen, die Verifikation wäre indes rechtlich verwehrt. Auch hohe Freibeträge und die damit einhergehende Reduktion der Zahl der Steuerfälle ändern nichts daran, dass die Angabe privater Vermögensgegenstände wie Schmuck, Kunstsammlungen oder Antiquitäten allein von der Deklarationsbereitschaft der Steuerpflichtigen abhängt. Anders als bei der Geltendmachung der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer, das ebenfalls in der von Art. 13 Abs. 1 GG geschützten Sphäre liegt, gibt es für den Steuerpflichtigen keinen Anreiz zur Offenlegung des Sachverhalts und Tolerierung von Ermittlungsmaßnahmen in der privaten Wohnung. Gebrauchsvermögen ebenso wie privat genutzte Wertgegenstände sollten daher auch bei einem Verständnis der Vermögensteuer als Substanzsteuer aus dem Steuerobjekt ausgenommen werden. Bei Einordnung als Sollertragsteuer spricht hierfür zusätzlich, dass es sich um typischerweise ertragslose Vermögensgegenstände handelt (siehe oben aa)). b) Freiheitsrechtliche Belastungsobergrenzen Wie oben dargelegt231 steht Art. 14 Abs. 1 GG einer laufenden Vermögensbesteuerung grundsätzlich entgegen. Würdigt man die Vermögensteuer richtigerweise als Steuer auf die Vermögenssubstanz, bleibt für die Forderung nach ertragsbezogenen Belastungsobergrenzen kein Raum mehr. Folgt man dem nicht, 227 Arndt, DStJG 22 (1999), S. 25 ff., S. 33. 228 Vgl. BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (Zinsurteil); BVerfG v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 (Spekulationsgewinne). 229 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, Leitsatz Nr. 4, sowie S. 272 f.: Hiervon ist auszugehen, wenn sich eine „Erhebungsregelung gegenüber einem Besteuerungstatbestand in der Weise strukturell gegenläufig auswirkt, daß der Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden kann“. 230 So Arndt, DStJG 22 (1999), S. 25 ff., S. 34. 231 Siehe oben IV.3.d)aa).

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sondern verharrt bei der wenig überzeugenden Sollertragsbetrachtung und hält man gleichzeitig für die Frage der zulässigen Zusatzbelastung von Einkommen mit Vermögensteuer am Halbteilungsgrundsatz des Vermögensteuerbeschlusses aus 1995232 fest, dann wäre auch bei der heutigen Einkommensteuertarifstruktur, die fast 10 Prozentpunkte unter der des Streitjahres des Vermögensteuerbeschlusses liegt, bei Zugrundelegung durchschnittlicher Renditen kein Raum für eine Vermögensteuer. Hieran ändert sich auch dann nichts, wenn man die Niedrigbesteuerung von Kapitaleinkünften durch die Abgeltungsteuer mitberücksichtigt.233 Belastungen von über 75 %, wie sie von Maiterth und Houben für eine Rendite von 2 % für private Kapitalmarktanlagen ermittelt werden,234 liegen nicht „in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand“.235 Der Aspekt der Realwerterhaltung ist dabei noch ausgeblendet. Auch unter Typisierungsaspekten wäre eine derartige Belastung nicht mehr tolerabel, weil höhere Renditen jedenfalls derzeit eher eine Ausnahme darstellen. Dies wirft die Frage auf, ob der so genannte Halbteilungsgrundsatz noch Gültigkeit hat. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zwar in seiner zweiten Entscheidung zu Belastungsobergrenzen aus dem Jahr 2006 gegen eine Übertragung einer dergestalt konkretisierten Belastungsobergrenze auf andere Steuern ausgesprochen, jedoch offen gelassen, ob diese Grenze für die Beurteilung einer zur Einkommensteuer hinzutretenden Vermögensteuer als Sollertragsteuer weiterhin „gilt“236. Da die Entscheidung aus 2006 nicht ausdrücklich zu freiheitsrechtlichen Begrenzungen der Vermögensteuer Stellung nimmt, sondern nur zur Kumulation von Einkommen- und Gewerbesteuer, lässt sich ihr keine ausdrückliche Abkehr von diesem Grundsatz für das Zusammenspiel von Einkommen- und Vermögensteuer entnehmen. Allerdings wurde der Charakter der Aussagen im Halbteilungsbeschluss vom 22.6.1995 als obiter dictum betont.237 Es habe sich nicht um tragende Gründe gehandelt, vielmehr sei die Vermögensteuer 1995 wegen des Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG für verfassungswidrig erklärt worden. Deshalb sind Zweifel angebracht, ob das Verfassungsgericht den Halbteilungsgrundsatz in einer Entscheidung zu einer wiederbelebten Vermögensteuer wiederholen würde. Doch ganz unabhängig davon, ob das Bundesverfassungsgericht bei einer neuerlichen Entscheidung über eine Vermögensteuer wieder eine dezidierte Halbteilungsgrenze erkennen würde, hat der 2. Senat auch in seiner Entscheidung aus 2006 die Übermaßgrenze nicht vollständig aufgegeben. Das Gericht formuliert:238 „Wählt der Gesetzgeber einen progressiven Tarifverlauf, ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, hohe Einkommen auch hoch zu belasten, soweit beim betroffenen Steuer232 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 138. 233 Siehe Maiterth/Houben, in: IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 96. 234 Siehe in IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 96. 235 BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 138. 236 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97, 108 f. 237 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97, 109. 238 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97, 117.

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Johanna Hey pflichtigen nach Abzug der Steuerbelastung ein – absolut und im Vergleich zu anderen Einkommensgruppen betrachtet – hohes, frei verfügbares Einkommen bleibt, das die Privatnützigkeit des Einkommens sichtbar macht. Ist letzteres gewährleistet, liegt es weitgehend im Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers, die Angemessenheit im Sinne vertikaler Steuergerechtigkeit selbst zu bestimmen. Auch wenn dem Übermaßverbot keine zahlenmäßig zu konkretisierende allgemeine Obergrenze der Besteuerung entnommen werden kann, darf allerdings die steuerliche Belastung auch höherer Einkommen für den Regelfall nicht so weit gehen, dass der wirtschaftliche Erfolg grundlegend beeinträchtigt wird und damit nicht mehr angemessen zum Ausdruck kommt.“ (Hervorhebungen nur hier)

Damit wird deutlich, dass das Gericht zwar einerseits bei Beziehern hoher Einkommen eine gewisse Großzügigkeit an den Tag legt, dass aber andererseits auch hier kein grenzenloser Zugriff möglich ist. Bei typisierender Betrachtung werden hohe Freibeträge in der Vermögensteuer von 500.000 Euro, einer oder zwei Mio. Euro gewährleisten, dass es sich auch um Bezieher hoher Einkommen handelt. Zwar gilt dies nicht, wenn man allein die möglichen Einkünfte aus dem Vermögen betrachtet. So verfügt der Inhaber eines Vermögens von ein oder zwei Mio. Euro, wenn er ausschließlich von seinen Kapitalerträgen lebt, nicht über ein „hohes frei verfügbares Einkommen“. Regelmäßig werden daneben aber andere Einkünfte existieren. Dies ändert indes nichts daran, dass durch Belastungen von 75 % und mehr der „wirtschaftliche Erfolg grundlegend beeinträchtigt wird und damit nicht mehr angemessen zum Ausdruck kommt“. Dies gilt schon bei einer Nominalbetrachtung, umso mehr aber wenn man Inhabern von Kapitalvermögen konzediert, dass zur Vermeidung von Substanzeingriffen eine Realwertbetrachtung angestellt werden muss. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in der Geldentwertung keinen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG sieht, auf den das Steuerrecht – etwa durch Übergang vom Nominalwert- zu einem Realwertprinzip – Rücksicht nehmen müsste,239 so bedarf es zur Beurteilung, ob es typischerweise zu einem Substanzeingriff in den Vermögensstamm kommt, sehr wohl der Berücksichtigung der Geldentwertung.240 Vermögenserhalt kann nur bedeuten: Vermögens­ erhalt zu Zeitwerten. Die Politik scheint der Feststellung, dass für eine Vermögensteuer als Sollertragsteuer neben der Einkommensteuer schlichtweg kein Raum ist, durch eine stärkere Betonung der Umverteilungsziele begegnen zu wollen. Indem die Ver239 BVerfG v. 19.12.1978 – 1 BvR 335/76, BVerfGE 50, 57, 80 f. 240 In diese Richtung unterscheidet auch BVerfG v. 19.12.1978 – 1 BvR 335/76, BVerfGE 50, 57, 81 zwischen dem steuerlichen Zugriff auf das Einkommen und Steuern, die das Vermögen zum Steuergegenstand haben: „Die Anknüpfung der Besteuerung an den Nennwert der Erträge bewirkt, daß der Steuergläubiger entsprechend der realen Wertminderung des Zinsertrags auch nur einen wertgeminderten Steuerertrag erhält. Die Schwächung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auf der Vermögensseite beruht nicht auf der Besteuerung, sondern auf der durch die Inflation bedingten Entwertung des Kapitalstamms. Sie kann in diesem Zusammenhang außer acht gelassen werden, da das Kapitalvermögen als solches nicht Gegenstand der Einkommensbesteuerung ist; dies sind nur die in Geld oder Geldeswert bestehenden Einnahmen (§ 2 Abs. 4 Nr. 2 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 EStG 1971/74) aus der Kapitalnutzung.“

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mögensteuer auf eine relativ kleine Gruppe sehr vermögender Personen beschränkt wird, entsteht der Eindruck, man könne sich von Belastungsobergrenzen lösen. Doch der Schutz von Art. 14 Abs. 1 GG endet nicht ab einer bestimmten Einkommens-/Vermögenshöhe. Hieran hat das Bundesverfassungsgericht keinen Zweifel gelassen.

V. Reformbedarf und Reformvorschläge Im Folgenden sollen einzelne Aspekte der aktuell vorliegenden Reformentwürfe aufgegriffen werden, die verfassungsrechtlich besonders problematisch sind. 1. Wiedereinführung einer allgemeinen Vermögensteuer Nach den oben dargelegten Anforderungen an eine verfassungskonforme Vermögensbesteuerung ist keine allgemeine Vermögensteuer denkbar, die einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht standhalten würde. Selbst wenn man der hier vertretenen These, der Substanzeingriff durch eine allgemeine Vermögensteuer sei überhaupt nur in staatlichen Ausnahmelagen mit Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar, nicht folgt und die Vermögensteuer statt dessen als Sollertragsteuer zu rechtfertigen versucht, bleiben als generelle Einwände zum einen der Verstoß gegen das Übermaßverbot, zum anderen die nicht mit verhältnismäßigen Mitteln herstellbare Bewertungsgleichheit.241 Regelbelastungen des typischerweise erzielbaren Ertrages, die nicht zu einem unverhältnismäßigen Eingriff führen (sei es, dass man die Grenze in der Nähe einer hälftigen Teilung sieht oder höhere Belastungen toleriert242), lassen sich nur bei sehr niedrigen Steuersätzen erreichen, die deutlich unter 1 % liegen müssten. Dies wiederum schmälert bei entsprechend hohen Freibeträgen den Steuerertrag derart, dass der Aufwand für die jährliche Verkehrswertermittlung außer Verhältnis zu den erzielbaren Steuereinnahmen steht. Dieses Dilemma ist seit dem Vermögensteuerbeschluss von 1995 bekannt und ungelöst. In den aktuellen politischen Bekenntnissen zur Wiederbelebung der Vermögensteuer243 wird nicht deutlich, inwieweit man um innovative Lösungen zur Beseitigung der bekannten Probleme bemüht ist. Das DIW hat im Auftrag einer Reihe SPD-regierter Bundesländer244 basierend auf folgenden Eckpunkten die Möglichkeiten einer Wiederbelebung der Vermögensteuer evaluiert:245

241 Meyding, DStR 1992, 1113 ff., 1116 gibt die Verwaltungskosten der Vermögensteuer mit ca. 32 % des Steueraufkommens an, und zwar noch auf der Grundlage der Einheitsbewertung, die jedoch den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine zeitnahe realitätsgerechte Bewertung nicht gerecht wird. 242 Siehe oben IV.4.b). 243 Siehe http://www.spd.de/aktuelles/77192/20120927_gabriel_vermoegenssteuer.html sowie http://www.linksfraktion.de/pressemitteilungen/gerechtigkeitsluecke-steu ersystem-schliessen/ (letzter Zugriff: 11.8.2015). 244 Siehe hierzu Pressemitteilung des Finanzministeriums Rheinland-Pfalz vom 17.10.2012. 245 Vgl. Bach/Beznoska, Aufkommens- und Verteilungswirkungen einer Wiederbelebung der Vermögensteuer, DIW Berlin: Politikberatung kompakt 68 (2012).

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– Steuerpflicht natürlicher und juristischer246 Personen; – verkehrswertnahe Bewertung des Vermögens durch Übernahme der Bewertungsvorschriften für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer; – persönlicher Freibetrag von 2 Mio. Euro/4 Mio. Euro für zusammenveranlagte Ehegatten,247 keine besonderen Kinderfreibeträge; – keine gesonderten sachlichen Freibeträge, insbesondere kein Freibetrag für Betriebsvermögen; – Freigrenze von 200.000 Euro für juristische Personen; – Halbvermögensverfahren für von natürlichen Personen gehaltene Beteiligungen an Kapitalgesellschaften und anderen juristischen Personen zur Vermeidung einer Doppelbelastung; – Schachtelprivileg (Steuerfreistellung) zur Vermeidung von Doppelbelastungen der von Kapitalgesellschaften oder anderen juristischen Personen gehaltenen Beteiligungen; – einheitlicher Steuersatz von 1 %. Mit diesen Vorgaben geht das DIW davon aus, dass 143.000 Personen steuerpflichtig wären (entsprechend 0,2 % der erwachsenen Bevölkerung) und sich das Steueraufkommen auf 16,5 Mrd. Euro p.a. belaufen würde.248 Eine Berücksichtigung der Vermögensteuer in der Einkommensteuer zur Vermeidung oder Abmilderung der Doppelbelastung, etwa in Form einer Anrechnung der Vermögensteuer249 oder eines Abzugs von der Einkommensteuerschuld, ist nicht vorgesehen. Damit käme es zu Belastungshöhen, die jenseits des verfassungsrechtlich Tolerablen liegen. Auch für das Bewertungsproblem zeichnet sich keine gangbare Lösung ab. Ungeachtet der Zweifel, ob die erbschaftsteuerrechtliche Bewertung in Anbetracht der weiterhin bestehenden erheblichen Streubreiten etwa der Immobilienbewertung250 der verfassungsgerichtlichen Forderung nach einem Annäherungs246 Für grds. zulässig und auch zur Vermeidung von Gestaltungsmöglichkeiten erforderlich erachtet von Wieland, Vermögensabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG. Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, August 2012, S. 30 f. Andere Staaten, die eine allgemeine Vermögensteuer erheben, besteuern in der Regel nur natürliche Personen, s. KPMG, Vermögensbesteuerung – wer besteuert wie?, 2012, S. 44 f. 247 Der Freibetrag soll abschmelzen, allerdings unter Wahrung eines steuerfreien Sockelbetrages in Höhe von 500.000 Euro (Bach/Beznoska, Aufkommens- und Verteilungswirkungen einer Wiederbelebung der Vermögensteuer, DIW Berlin: Politikberatung kompakt 68 [2012], S. 21), insofern wird der oben IV.4.a)cc)(3) aufgestellten Anforderung an abschmelzende persönliche Freibeträge Genüge getan. 248 Bach/Beznoska, Aufkommens- und Verteilungswirkungen einer Wiederbelebung der Vermögensteuer, DIW-Schriften 68 (2012), S. 6. 249 So ein 2003 von Bündnis 90/DIE GRÜNEN eingebrachter Vorschlag einer „grünen Vermögensteuer“, die ausschließlich große Vermögen belasten und auf Einkommenund Körperschaftsteuer anrechenbar sein sollte im Sinne einer Mindestbesteuerung, siehe hierzu Bach/Haan/Maiterth/Sureth, Modelle für die Vermögensbesteuerung von natürlichen Personen und Kapitalgesellschaften. Konzepte, Aufkommen und wirtschaftliche Wirkung, Kurzfassung, hg. vom DIW, 2004 (Modell 1). 250 Siehe Maiterth/Houben, in: IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 117 ff., 133.

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wert überhaupt entspricht, wird der mit der erbschaftsteuerrechtlichen Bedarfsbewertung verbundene Aufwand251 deutlich unterschätzt, so dass eine jährliche Durchführung im Rahmen einer laufenden Vermögensteuer an Kapazitätsgrenzen scheitern wird.252 So dürfte es in der Praxis schlicht nicht möglich sein, Unternehmen jährlich neu zu bewerten. Die vollständige Ausnahme von Unternehmen aus der Vermögensteuer würde zwar das Bewertungsproblem lösen, allerdings nur um den Preis erheblicher Gestaltungsanfälligkeit.253 Das vom DIW evaluierte Konzept sieht dementsprechend keinen besonderen Freibetrag für Betriebsvermögen vor, sondern bezieht Unternehmen unabhängig von ihrer Größe ein. Damit verbunden ist dann aber ein ganz erheblicher Bewertungsaufwand. Die hohen persönlichen Freibeträge sind keine Garantie dafür, dass es nicht in großem Umfang zur Notwendigkeit einer Bewertung kleiner und mittlerer Unternehmen kommt. Erhebliche Probleme entstehen darüber hinaus in Bezug auf die Erfassung von Auslandsvermögen nach dem Weltvermögensprinzip. Es ist unklar, wie die Forderung nach realitätsgerechter Bewertung nach Verkehrswerten für im Ausland belegenes Vermögen verwirklicht werden soll. Auch wenn unabhängig von der Belegenheit gleichheitssatzkonform derselbe Bewertungsmaßstab zugrunde gelegt wird,254 so dass es nicht zu normativen Bewertungsunterschieden kommt, dürfte es kaum möglich sein, mit verhältnismäßigen Mitteln eine laufende Wertermittlung von Auslandsvermögen durchzuführen255 bzw. die diesbezüglichen Angaben der Steuerpflichtigen zu überprüfen. Das vom DIW evaluierte Modell wirft im Detail eine Reihe weiterer Probleme auf, die in der Konzeption angelegt sind. Im Wesentlichen handelt es sich um bekannte Probleme einer laufenden Vermögensteuer, für die es an Antworten bisher fehlt. Dies gilt namentlich für die Vollziehbarkeit bei Einbeziehung privat genutzter Wertgegenstände. Eine Meldepflicht für Banken löst das Problem nicht. Besonders kritikwürdig ist die vorgesehene Steuerpflicht juristischer Personen mit „Halbvermögensprinzip“ auf der Ebene der Anteilseigner.256 Eine vermögensteuerrechtliche Doppelbelastung von Kapitalgesellschaften und Anteilseignern ist mit einer Vermögensleistungsfähigkeit insofern nicht vereinbar, als es durch Einschaltung juristischer Personen nicht zu einer Vermögensverdoppelung kommt. Das Vermögen der Kapitalgesellschaft ist im Wert des Anteils abgebildet. Auch würde eine Doppelbelastung zu einer nicht zu rechtfertigenden Benachteiligung von Kapitalgesellschaften und ihren Anteilseignern ge251 Hierzu Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 15 Rz. 77. 252 Insofern ist die Einschätzung, der Vollzug sei mit den vorhandenen Ressourcen (möglicherweise) zu bewältigen, nicht nachvollziehbar. 253 Siehe oben IV.4.a)cc)(4). 254 Gebel, in: Troll/Gebel/Jülicher (Hg.), ErbStG-Kommentar, Einf. 54. 255 So fehlt es insbesondere an Bodenrichtwerten, vgl. Gebel, in: Troll/Gebel/Jülicher (Hg.), ErbStG-Kommentar, § 12 Rz. 939. 256 Zum Problem der Doppelbelastung infolge der Vermögensteuerpflicht juristischer Personen im alten Vermögensteuerrecht s. Krohne/Mönter, Zur Beseitigung der vermögensteuerlichen Doppelbelastung bei Kapitalgesellschaften und ihren Anteilseignern (IFSt-Schrift Nr. 219), 1982.

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genüber Personenunternehmen führen, deren Betriebsvermögen lediglich einmal in der Hand der Unternehmer erfasst wird. Das Halbvermögensprinzip löst die Probleme nicht, weil es lediglich zu einer partiellen Vermeidung der Doppelbelastung kommt.257 Zwar ist die vermögensteuerrechtliche Bemessungsgrundlage der Kapitalgesellschaft nicht zwingend identisch mit dem Verkehrswert des Anteils,258 indes dürfte ein typisierender Ansatz der Wertdifferenz mit 50 % überhöht sein. Dem Problem unterschiedlicher Wertansätze ließe sich auf einfache Weise begegnen, wenn zur Vermeidung wirtschaftlicher Doppelbelastung ganz auf die Heranziehung juristischer Personen zur Vermögensteuer verzichtet würde.259 Es ist ausreichend, die in Kapitalgesellschaften enthaltenen Werte in den Anteilen zu erfassen. Die eigenständige Vermögensteuerpflicht von juristischen Personen mit der Folge nur zum Teil abgemilderter Doppelbelastungen allein im Hinblick auf das Gestaltungspotential ist unverhältnismäßig. Zudem würde die Halbvermögensmethode bei mehrstufigen Beteiligungsketten und durch Personengesellschaften gehaltenen Beteiligungen an Kapitalgesellschaften auf kaum überwindbare praktische Probleme stoßen. 2. Grüne Vermögensabgabe Besondere Aufmerksamkeit verdient der am 25.9.2012 von Bündnis 90/DIE GRÜNEN in den Deutschen Bundestag eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe260 (im Weiteren „Grüne Vermögensabgabe“). Auch wenn es im Hinblick auf die von 1952 bis 1979 im Rahmen des Lastenausgleichs erhobene Vermögensabgabe261 Erfahrungswerte gibt, handelt es sich um ein neuartiges Instrument.262 a) Einordnung als einmalige Vermögensabgabe i.S.v. Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG Mit der Einführung einer einmaligen Vermögensabgabe anstelle einer laufenden Vermögensteuer wäre ein Ebenenwechsel verbunden. Ertrags- und Gesetzgebungskompetenz werden gemäß Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG dem Bund zugewiesen. Die Zustimmung des Bundesrates wäre nicht erforderlich.

257 Krohne/Mönter, IFSt-Schrift Nr. 219 (1982), S. 31 f. Zu verschiedenen Möglichkeiten einer Vermeidung der Doppelbelastung Krohne/Mönter, a.a.O., S. 16 ff.; Wiss. Beirat beim BMF, Gutachten zur Reform der direkten Steuern, BMF-Schriftenreihe Nr. 9 (1967), S. 65 f. 258 Krohne/Mönter, IFSt-Schrift Nr. 219 (1982), S. 3. 259 So das überzeugende Plädoyer von Krohne/Mönter, IFSt-Schrift Nr. 219 (1982), S. 16–29. 260 BT-Drucks. 17/10770. Für eine Vermögensabgabe spricht sich auch DIE LINKE aus, vgl. z. B. BT-Drucks. 17/9146, S. 3. 261 Lastenausgleichsgesetz vom 14.8.1952, BGBl. I 1952, 845. 262 Bewertung aus ökonomischer Sicht: Bach/Beznoska/Steiner, Aufkommens- und Verteilungswirkungen einer Grünen Vermögensabgabe, DIW Berlin: Politikberatung kompakt 59 (2010); aus juristischer Sicht: Wieland, Vermögensabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG. Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, August 2012.

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Rein finanzverfassungsrechtlich wirft dies die Frage auf, ob die oben IV.2.a) dargelegten Anforderungen an eine Abgabe im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG eingehalten werden oder ob es sich wohlmöglich nur um die intelligente Camouflage einer Bundesvermögensteuer handelt. Dass in der Gesetzesbegründung festgestellt wird, der Abgabesatz sei so gewählt, dass das verfassungsrechtlich garantierte Recht der Länder auf Erhebung einer laufenden Vermögensteuer nicht unterminiert werde,263 ist zunächst eine bloße Behauptung.264 Die von Bündnis 90/DIE GRÜNEN vorgeschlagene „Grüne Vermögensabgabe“ ist als Steuer und nicht als Sonderabgabe265 zu rechtfertigen, weil ihr Aufkommen in den allgemeinen Haushalt fließen soll. Hieran würde auch die Einstellung in einen speziellen Lastenausgleichsfonds nichts ändern, weil es für eine – verfassungskonforme – Sonderabgabe an der besonderen Verantwortung der durch die Vermögensabgabe herangezogenen Abgabenschuldner für den Verwendungszweck der Staatsentschuldung bzw. die Finanzierung der Eurogarantien fehlt.266 Technisch wird der Unterschied zu einer laufenden Vermögensteuer dadurch deutlich gemacht, dass das abgabepflichtige Vermögen einmalig auf einen – zur Vermeidung von Gestaltungen267 – in der Vergangenheit liegenden Stichtag, nämlich den 1.1.2012, festgestellt werden soll. Eine regelmäßige Anpassung an Veränderungen der Vermögensverhältnisse nach dem Bewertungsstichtag ist nicht vorgesehen. Lediglich hinsichtlich des Betriebsvermögens gibt es ein gewisses Regulativ, indem die jährliche Belastung auf 35 % des Nettovermögens­ ertrags gedeckelt ist (§ 14 Abs. 2 des Entwurfs einer Vermögensabgabe). Der Steuersatz ist als Einmalbetrag in Höhe von 15 % des Vermögens geregelt. Die Entrichtung erfolgt jedoch gestreckt in zehn Jahresbeträgen zu 1,5 % des abgabepflichtigen Vermögens, wobei keine besondere Verzinsung vorgesehen ist. Möglich ist eine vorzeitige Tilgung, bei der die Abgabeschuld für jedes volle Jahr der vorzeitigen Zahlung mit 5,5 % abgezinst wird (§ 13 Abs. 2 des Entwurfs einer Vermögensabgabe). Die Streckung soll eine Bestreitung der laufenden Abgabezahlungen aus dem Vermögensertrag ermöglichen.268 In der vorliegenden Ausgestaltung kann das Tatbestandsmerkmal der „Einmaligkeit“ bejaht werden.269 Hierfür spricht, dass das abgabepflichtige Vermögen 263 BT-Drucks. 17/10770, S. 23. Zu diesem Erfordernis Heun, in: Dreier (Hg.), GG, 2. Aufl. 2008, Art. 106 Rz. 15; Hidien, in: Bonner Kommentar, Art. 106 Rz. 1427. 264 Wenig aufschlussreich ist die Forderung von Wieland, Vermögensabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG. Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, August 2012, S. 28, es dürfe nicht zu einer „Vermischung“ kommen. Wie sich die Übermaßgrenze einhalten lässt, wenn neben eine bereits erdrosselnd wirkende Vermögensteuer noch eine weitere Vermögensabgabe hinzutritt, ist nicht ersichtlich. 265 Vgl. G. Kirchhof, StuW 2011, 189, 193. 266 Zutreffend Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe, BT-Drucks. 17/10770, S. 13 f. 267 BT-Drucks. 17/10770, S. 17 f. 268 BT-Drucks. 17/10770, S. 1. 269 So zu Vorentwürfen bereits G. Kirchhof, StuW 2011, 189 ff., 194, sich selbst einschränkend a.a.O., S. 202.

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nur zu Beginn festgestellt wird und Wertveränderungen grundsätzlich keine Berücksichtigung finden. Die Entrichtungsregel des § 13 des Entwurfs einer Vermögensabgabe, wonach die Erhebung gestreckt erfolgt, kann als zinslose Stundung eingeordnet werden. Doch auch wenn man das Tatbestandsmerkmal der „einmaligen Abgabe“ hinsichtlich der Erhebungstechnik bejaht, fehlt es an der Voraussetzung eines „historisch einzigartigen Geschehnisses“, einer notstandsähnlichen Ausnahmesituation,270 die auch nur annähernd der Situation nach den beiden Weltkriegen vergleichbar wäre.271 Auch ein Vergleich mit der deutschen Wiedervereinigung, in deren Zusammenhang die Einführung einmaliger Vermögensabgaben letztmals diskutiert wurde,272 scheidet aus.273 Hieraus macht der Gesetzentwurf von Bündnis 90/DIE GRÜNEN letztlich keinen Hehl. § 1 des Gesetzentwurfs benennt als Zweck der Vermögensabgabe den „Abbau der durch die Finanz- und Wirtschaftskrise bedingten Erhöhung der Staatsverschuldung“. Damit kommt das Gesetz dem Erfordernis der Zweckgebundenheit einmaliger Vermögensabgaben nach.274 Indes liegt dieser Zweck nicht in der Bekämpfung einer notstands­ ähnlichen Sondersituation. Im Gegenteil, die hohe Staatsverschuldung ist geradezu Normallage. Zwar kann man die durch den Zusammenbruch von Investmentbank Lehman Brothers ausgelöste Banken- und Finanzkrise als ein einmaliges Ereignis ansehen. Zu einem Konjunktureinbruch mit einem Negativwachstum von über 4 % ist es letztmals in der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre gekommen. Indes war der Schuldenzuwachs infolge der Finanzund Wirtschaftskrise275 nicht so exzeptionell, dass es zu einer Notstandsituation im Sinne eines drohenden Staatsbankrotts276 gekommen wäre. Die schnelle und kräftige Konjunkturerholung hat eine stärkere Verschuldung verhindert. Die Nettoneuverschuldung konnte seit Ausbruch der Krise auf einen Stand noch unterhalb des Vorkrisenniveaus gesenkt werden.277 Der Gesamtschuldenstand von 83,2 % des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2010 konnte mit den existierenden Steuern leicht auf 82 % im Jahr 2011 gesenkt werden.278 Damit ist belegt, dass die Kosten der Finanz- und Wirtschaftskrise mit den regulären Ins-

270 271 272 273

Zu dieser Voraussetzung G. Kirchhof, StuW 2011, 189 ff., 192 f. Wie hier zweifelnd G. Kirchhof, StuW 2011, 189 ff., 194. Vgl. etwa Eisold, DStZ 1992, 529. P. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog. Der Weg vom Bürgen zum Bürger, 2012, S. 186. 274 G. Kirchhof, StuW 2011, 189 ff., 193; Hidien, in: Bonner Kommentar, Art. 106 Rz. 1427. 275 Gesamtschuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, 2008: 66,7 %; 2009: 74,4 %; 2010: 83 %; 2011: 81,2 %. 276 Von einem drohenden Staatsbankrott, zu dessen Abwendung Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, Habilitationsschrift Heidelberg 2003, S. 11 die Erhebung von Vermögensabgaben für zulässig erachtet, kann keine Rede sein. 277 2011: 17,3 Mrd. Euro. 278 Insofern scheint auch die von Wieland, Vermögensabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG. Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, August 2012, S. 28 herangezogene Begründung der Verfassungsänderung von Art. 115 Abs. 1 S. 6 GG, wonach die Banken- und Finanzkrise eine sich der Kontrolle des Staates entziehende Notsituation begründet (BT-Drucks. 16/12410, S. 11), widerlegt.

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trumenten bewältigt werden können. Es bedarf keiner außerordentlichen Finanzierungsinstrumente. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird allerdings bestritten, dass Voraussetzung eine existentielle Notlage des Staates sei.279 Vielmehr sei Zweck aller einmaligen Vermögensabgaben, dass mit ihnen „größere soziale Gerechtigkeit und Steuergerechtigkeit verfolgt“ werde.280 Hierzu bedarf es indes nicht des Sonderinstruments der einmaligen Vermögensabgabe. Sämtliche Steuern müssen, wenn sie verfassungskonform sein sollen, der Verwirklichung von Steuergerechtigkeit dienen. Es handelt sich dabei nicht um ein besonderes Merkmal der Vermögensabgabe; der Ausnahmecharakter dieses Instruments würde vollständig nivelliert. Insbesondere wäre die Vermögensabgabe abgesehen von der Erhebungsmodalität ununterscheidbar von einer – finanzverfassungsrechtlich den Ländern zugewiesenen – laufenden Vermögensteuer, die ebenfalls in besonderem Maße dem Ziel der Umverteilung dient. Vor dem Hintergrund der ohnehin eingeschränkten Steuerhoheit der Länder bei gleichzeitiger rigider Beschränkung der Verschuldungskompetenzen ab 2020 ist ein derartiger Übergriff in die Steuerquellen der Länder nicht ohne Grundgesetzänderung möglich. Die Ertragshoheit des Bundes für die von Bündnis 90/DIE GRÜNEN vorgeschlagene Vermögensabgabe kann nicht auf Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG gestützt werden. b) Vereinbarkeit mit Art. 14 Abs. 1 GG Gleichzeitig folgt hieraus, dass nicht nur die Bundeskompetenz fehlt, sondern dass die „Grüne Vermögensabgabe“ auch an Art. 14 Abs. 1 GG scheitert.281 Die einmalige Vermögensabgabe führt zu einem Vermögenssubstanzeingriff, für den die materiellen Voraussetzungen eines notstandsähnlichen Ausnahmezustandes fehlen.282 Hieran ändert auch die gestreckte Erhebung nichts. Zwar kommt es zu einer auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigenden Abmilderung des Eingriffs in den eigentumsrechtlich geschützten Vermögensstamm. Die Vermögensabgabe wird hierdurch indes nicht zu einer Sollertragsteuer, wobei auch eine derartige Umqualifikation die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht beseitigen würde. Wenn eigentlich nur die Sollerträge belastet werden sollen,283 wäre das Belastungsziel nicht folgerichtig umgesetzt. Die Ab279 BT-Drucks. 17/10770, S. 13. Nicht zutreffend ist die Behauptung, bei Inkrafttreten des Lastenausgleichs im Jahr 1952 seien die Kriegsfolgen bereits weitgehend überwunden gewesen, siehe hierzu Gallenkamp, VIZ 1999, S. 185. 280 BT-Drucks. 17/10770, S. 13. 281 A.A. Wieland, Vermögensabgaben im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG. Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, August 2012, S. 28, der den Schutz des Vermögensstamms per se nicht auf Vermögensabgaben beziehen will. Wie jede andere in Art. 106 GG genannte Steuer sind aber auch einmalige Vermögensabgaben, auch wenn man sie generell für zulässig erachtet, an den Grundrechten und somit auch an Art. 14 GG zu messen. 282 Siehe oben IV.3.d)aa). 283 Die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Erhebung einer Vermögensabgabe, BT-Drucks. 17/10770, S. 14, ist diesbezüglich ambivalent, weil behauptet wird, die Vermögenssubstanz bleibe unberührt und die Abgabe könne aus den üblicherweise zu erwartenden Erträgen entrichtet werden.

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gabe ist nicht auf typischerweise ertragbringendes Vermögen beschränkt. Noch schwerwiegender ist, dass eine Anpassung an etwaige Veränderungen des Vermögensbestandes innerhalb der 10-jährigen Erhebungsphase grundsätzlich nicht vorgesehen ist. Dies wäre, wenn die Abgabe aus den Vermögenserträgen aufgebracht werden soll, zwingend. Die in § 14 Abs. 1 des Entwurfs einer Vermögensabgabe normierte Härtefallklausel erlaubt zwar Anpassungen zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse,284 kann aber nicht als allgemeine Wertanpassungsklausel verstanden werden. Überdies lässt sich auch die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach zeitnaher, realitätsgerechter Bewertung nicht so einfach erfüllen bzw. umgehen. Zwar erscheint es auf den ersten Blick sehr elegant, den Verwaltungsaufwand durch eine einmalige Bewertung am Anfang der Erhebung zu minimieren. Doch kann dieser Kunstgriff nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei Beurteilung der Vermögensabgabe im Hinblick auf die laufende Vermögensbelastung den Anforderungen des BVerfG auf diese Weise nicht genügt werden kann, da sich auch innerhalb einer Zehnjahresperiode gravierende Wertveränderungen ergeben können. Im Übrigen wäre bei einer Soll­ ertragsbelastung von 1,5 % p.a. in der Gesamtschau mit der Einkommensteuer die Übermaßgrenze gravierend verletzt. c) Ausgestaltung der persönlichen und sachlichen Freibeträge Problematisch ist die „Grüne Vermögensabgabe“ nicht nur hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Rechtfertigung, sondern auch in Bezug auf das gewählte Design der Freibeträge. Durch Gewährung eines Freibetrages von 1 Mio. Euro pro Person und 250.000 Euro für jedes Kind im Sinne von § 32 EStG soll zum einen eine Beschränkung auf größere Vermögen, zum anderen eine Verwaltungsvereinfachung erreicht werden, indem für kleine und mittlere Vermögen die Notwendigkeit der Wertermittlung entfällt.285 Das Solidaropfer soll auf den „reichsten Teil der Bevölkerung“286 begrenzt werden. Gleichzeitig ist vorgesehen, dass der Freibetrag für jeden den Freibetrag übersteigenden Euro abschmilzt, d. h. bei einem abgabepflichtigen Vermögen von 2 Mio. Euro beträgt der Freibetrag null.287 Ein Sockelfreibetrag ist nicht vorgesehen. Der schnelle Abbau des Freibetrages führt dazu, dass mittlere Vermögen, die den Freibetrag nur geringfügig überschreiten, mit einem deutlich höheren Anteil ihres Vermögens zur Besteuerung herangezogen werden als ohne Abschmelzregelung. Hierdurch kommt es zu einer deutlichen Bemessungsgrundlagenverbreiterung.288 Die Vermögensabgabe trifft damit keineswegs nur Großvermögen. Grundsätzlich liegt die Ausgestaltung derartiger Abschmelzre284 BT-Drucks. 17/10770, S. 23. 285 BT-Drucks. 17/10770, S. 19 f. 286 BT-Drucks. 17/10770, S. 11. 287 Zu den Verteilungswirkungen unterschiedlicher Abschmelzmodelle Bach/Bez­ noska/Steiner, Aufkommens- und Verteilungswirkungen einer Grünen Vermögensabgabe, DIW Berlin: Politikberatung kompakt 59 (2010), S. 18 ff. 288 Bach/Beznoska/Steiner, Aufkommens- und Verteilungswirkungen einer Grünen Vermögensabgabe, DIW Berlin: Politikberatung kompakt 59 (2010), S. 60.

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geln als Instrument progressiver Tarifgestaltung in der politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers.289 Das vollständige Abschmelzen des Freibetrages ohne einen Sockelfreibetrag ist indes nicht mit der von der Höhe des Vermögens unabhängigen Forderung nach Steuerfreiheit des Gebrauchsvermögens vereinbar.290 Gleichheitsrechtlichen Bedenken begegnet die Vermögensabgabe ferner im Hinblick auf den Freibetrag in Höhe von 5 Mio. Euro für Betriebsvermögen. Ungeachtet der Frage, ob die Begünstigung von Betriebsvermögen gegenüber Privatvermögen im Hinblick auf die besonderen Liquiditätserfordernisse von Unternehmen und zur Vermeidung von Nachteilen im internationalen Wettbewerb dem Grunde nach gerechtfertigt werden kann,291 scheitert auch der Entwurf der Vermögensabgabe an einer trennscharfen Abgrenzung. Zwar nimmt der Entwurf der „Grünen Vermögensabgabe“ so genanntes Verwaltungsvermögen unter restriktiveren Voraussetzungen aus als das geltende Erbschaftsteuergesetz.292 Die Zuordnung bleibt gleichwohl gestaltbar. 3. Einführung einer Euro-Zwangsanleihe Alternativ zur Vermögensabgabe hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung die Einführung einer Zwangsanleihe ins Spiel gebracht.293 Zwangsanleihen unterscheiden sich von Steuern durch ihre Rückzahlbarkeit. Steuern sind Eigenmittel des Staates294 und keine Schuldtitel. Zwangsweise Staatsanleihen haben demgegenüber Fremdkapitalcharakter. Zwangsanleihen fallen damit, jedenfalls soweit sie rückzahlbar sind, per se nicht unter die auf Steuern beschränkte Finanzverfassung,295 vielmehr ist ihre Zulässigkeit im Zusammenhang mit den Regelungen über die Staatsverschuldung zu sehen. Allerdings kann Art. 115 GG keine allgemeine Bundeskompetenz zur Einführung von Zwangsanleihen entnommen werden.296 Die Regelungen über die Staatsverschuldung beinhalten keine Eingriffskompetenz in Individualrechte. Damit lässt sich weder aus Art. 105 GG noch aus Art. 115 GG eine Kompetenz zur Erhebung einer Zwangsanleihe ableiten, so dass allein die Berufung auf eine Sachkompetenznorm zugunsten des Bundes in Betracht käme, falls die Zwangsanleihe als Sonderabgabe qualifiziert werden könnte.297 Ungeachtet der Frage, ob eine den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an verfassungskonforme Sonderabgaben genügende Ausgestaltung298 theoretisch denkbar ist, würde eine Zwangsanleihe, die sich im Zuschnitt an der Vermögensabgabe orien289 290 291 292

Hey, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 3 Rz. 212. Siehe oben IV.4.a)cc)(3). Siehe oben IV.4.a)cc)(4). Verwaltungsvermögen wird nur dann begünstigt, wenn es nicht mehr als 10 % des Betriebsvermögens beträgt (siehe § 11 Abs. 2 des Entwurfs). 293 Bach, DIW-Wochenbericht 28 (2012), S. 3 ff., S. 10. 294 Birk, in: Gedächtnisschrift für Trzaskalik, 2005, S. 345. 295 BVerfG v. 6.11.1984 – 2 BvL 19/83, BVerfGE 67, 256, 281 f. 296 BVerfG v. 6.11.1984 – 2 BvL 19/83, BVerfGE 67, 256, 274. 297 Arndt, Steuern, Sonderabgaben und Zwangsanleihen, 1983, S. 45. 298 Zu den Voraussetzungen siehe Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 2 Rz. 26 ff.

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tiert, weder dem Erfordernis der Gruppenhomogenität entsprechen, noch käme der Abbau der Staatsverschuldung der in Anspruch genommenen Gruppe in besonderem Maße zugute. Ebenso wenig rechtfertigt der Ausgleichsgedanke die Erhebung einer Sonderabgabe. Zwar mögen die Inhaber von Kapitalvermögen in besonderem Maße von der Bankenrettung profitiert haben, doch kann auf diese Weise auch bei typisierender Betrachtung keine Vermögensonderabgabe in Form einer Zwangsanleihe legitimiert werden, die neben Kapitalvermögen auch sonstiges Vermögen belastet. 4. Zur Reform der bestehenden vermögensbezogenen Steuern Der aufgezeigte verfassungsrechtliche Rahmen ist auch bei der Beurteilung und Reform der geltenden vermögensbezogenen Steuern zu berücksichtigen. a) Erbschaftsteuer Das verfassungsrechtliche Schicksal der Erbschaftsteuer ist erneut ungewiss. Der 2. Senat des Bundesfinanzhofs hat im Vorlagebeschluss vom 27.9.2012299 die Ungereimtheiten der Verschonung des Betriebsvermögens durch §§ 13a und 13b ErbStG und die sich hieraus ergebenden Gestaltungsmöglichkeiten eindrucksvoll dargelegt. Den Fall der vermögensverwaltenden gewerblich geprägten Personengesellschaft300 wird man möglicherweise durch verfassungskonforme Auslegung oder Anwendung von § 42 AO lösen können. Diese Möglichkeit der Korrektur im Wege der Rechtsanwendung ist aber jedenfalls dann versperrt, wenn als Vehikel eine GmbH eingesetzt wird. Auch die Ausnahme von Geldmitteln aus der Definition des schädlichen Verwaltungsvermögens bietet nicht mit dem Begünstigungszweck vereinbare Gestaltungsmöglichkeiten. Die im Jahressteuergesetz 2013301 vorgesehenen Maßnahmen302 gegen so genannte Cash-GmbHs303 beseitigen einige der Gestaltungsmöglichkeiten, freilich – wie so oft bei typisierenden Antimissbrauchsvorschriften – um den Preis überschießender Wirkungen.304 Die Begrenzung der Begünstigung von Finanzmitteln auf 10 % des Betriebsvermögens wird der Vielgestaltigkeit unternehmerischen Liquiditätsbedarfs nicht gerecht.305 Auch lösen derartige Regeln nicht das Grundproblem,306 dass eine trennscharfe Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem, produktivem und unproduktivem Vermögen unmöglich ist, jedenfalls nicht entlang der einkommensteuerrechtlichen Kategorie des Betriebsvermögens vorgenommen werden kann. Zudem verstoßen die Vergünstigungsnormen nach Auffassung des 2. BFH-Senats unabhängig von der 299 BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11, DStR 2012, 2063. 300 A.A. BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11, DStR 2012, 2063, Rz. 120. 301 Nachträglich in den Gesetzesentwurf eingefügt durch den Finanzausschuss des Bundesrats, siehe BR-Drucks. 302/1/12. 302 Hierzu Bäuml, StuB 2012, 706 ff.; Felten, BB 2012, 2275 ff.; Korezkij, DStR 2012, 1640 ff. 303 Siehe Schrinner, Handelsblatt v. 1.6.2012, S. 16. 304 Korezkij, DStR 2012, 1640 ff., 1646. 305 Korezkij, DStR 2012, 1640 ff., 1643. 306 Skeptisch auch Felten, BB 2012, 2275.

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mangelnden Zielgenauigkeit auch gegen das Übermaßverbot. Die vollständige bzw. weitgehende Befreiung unabhängig von der Größe des ererbten Unternehmensvermögens und der Liquiditätssituation sei gemessen an dem Ziel einer Vermeidung des Abbaus von Arbeitsplätzen infolge der Erbschaftsteuerbelastung des Unternehmensübergangs nicht erforderlich und somit unverhältnismäßig.307 Ob das Bundesverfassungsgericht sich diesem Urteil anschließen wird, ist indes keineswegs eindeutig. Dass der Gesetzgeber mit der Reform der Bewertungsvorschriften durch das Jahressteuergesetz 1997308 die vom Bundesver­ fassungsgericht im 1995er-Beschluss aufgestellten Anforderungen an eine gleichheitsgerechte Bewertung nicht erfüllt hatte, war offensichtlich. Der Erfolg im 2006er Beschluss309 war damit geradezu vorprogrammiert. In der Erbschaftsteuerreform 2008 hat sich der Gesetzgeber indes grundsätzlich an die Vorgaben des BVerfG gehalten, das den Gesetzgeber ja geradezu dazu herausgefordert hat, auf der zweiten Stufe Verschonungsregeln zu normieren.310 Jetzt kommt es darauf an, ob diese gleichheitsgerecht ausgestaltet und verhältnismäßig sind. Die Rechtsprechung des BVerfG zu Steuervergünstigungen ist allerdings relativ schwer vorhersehbar.311 Zwar hat das Gericht im Erbschaftsteuerbeschluss von 2006 gefordert, die Begünstigung müsse durch „zielgenaue“ und „normenklare“ Lenkungstatbestände erfolgen.312 Andererseits wird dem lenkenden Gesetzgeber seitens der Richter großer Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum zugemessen, wie etwa in der Entscheidung zur Ökosteuer aus dem Jahr 2004313 sehr deutlich geworden ist. Noch ungewisser ist vor diesem Hintergrund, ob das Bundesverfassungsgericht für den Fall, dass es die Unvereinbarkeit der Verschonungsregeln mit Art. 3 Abs. 1 GG feststellt, den Gesetzgeber zu rückwirkender Korrektur314 zwingen oder erneut lediglich eine pro futuro wirkende Reformpflicht aussprechen wird. Daran, dass die Konzeption der Erbschaftsteuer mit schmaler, gestaltungsanfälliger Bemessungsgrundlage und hohen Steuersätzen verfehlt ist und dass der Gesetzgeber gut beraten wäre, diesen Ansatz zu überdenken, ändert dies allerdings nichts. Dabei sind die heutigen Verschonungsregeln für das Betriebs­ vermögen gleich doppelt ineffizient. Denn sie machen zunächst eine exakte Bewertung erforderlich, verschwenden den hiermit verbundenen Verwaltungsaufwand aber, wenn nach Ablauf der Behaltefristen keine Steuer erhoben werden kann.

307 308 309 310

BFH v. 27.9.2012 – II R 9/11, DStR 2012, 2063, Rz. 87 ff. JStG 1997 vom 20.12.1996, BGBl. I 1996, 2049. BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1. Zur Kritik an den verfassungsgerichtlichen Vorgaben siehe Seer, ZEV 2007, 101 ff., 105 ff.; Hey, JZ 2007, 564 ff., 569 ff. 311 Siehe hierzu grundlegend Schön, in: FS Spindler, 2011, S. 169 ff. 312 BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, 2. Leitsatz. 313 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274, 299. 314 Die rückwirkende Korrektur liefe darauf hinaus, dass die Erbschaftsteuer für die Vergangenheit nicht erhoben werden könnte, da einer rückwirkenden Versagung der verfassungswidrigen Begünstigungstatbestände das Vertrauensschutzprinzip entgegenstünde.

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Die Forderung nach einer deutlichen Verbreiterung der Bemessungsgrundlage durch Rückführung bzw. Abschaffung der derzeitigen großzügigen Freibeträge bei gleichzeitig deutlich abgesenkten Steuersätzen findet dementsprechend eine breite Anhängerschaft.315 Eine großzügige Stundungsregel für Betriebsvermögen könnte zusätzlich helfen, Liquiditätsengpässe zu vermeiden. Zwar bedarf es dann weiterhin einer Abgrenzung zwischen privilegiertem und nicht privilegiertem Vermögen, allerdings im Hinblick auf die weitaus geringere Vergünstigungswirkung einer Stundungsregelung ohne die heutigen Gestaltungsanreize. Dabei ist freilich zu bedenken, dass bei einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage die Anzahl der Steuerfälle und damit der Verwaltungsaufwand steigt, ohne dass hiermit – wenn die Steuersätze entsprechend gesenkt werden – Mehraufkommen verbunden ist. Überdies besteht – dies ist allerdings eher ein politökonomisches Problem – die Gefahr, dass die Bemessungsgrundlage verbreitert wird, ohne dass die Steuersätze abgesenkt werden. Dies entspräche der politischen Forderung nach deutlicher Erhöhung des Erbschaftsteueraufkommens.316 Und selbst wenn es zunächst zu einer Senkung der Steuersätze käme, besteht die Tendenz, im Anschluss auf der Grundlage der nunmehr verbreiterten Bemessungsgrundlage die Steuersätze wieder zu erhöhen. Dies ließ sich in den letzten Jahren sowohl in der Einkommensteuer als auch in der Grunderwerbsteuer317 beobachten. b) Grundsteuer aa) Fortbestand der Grundsteuer Grundsätzlich lassen sich alle Einwände, die gegen eine allgemeine Vermögensteuer erhoben werden, auch gegen die Grundsteuer anführen.318 Interessanterweise wird die Grundsteuer jedoch viel weniger in Frage gestellt als die Vermögensteuer. Dies mag zum einen daran liegen, dass die Grundsteuer zu den ältesten Steuern gehört,319 dass sie international extrem verbreitet ist, aber 315 Diese Forderung wird mittlerweile nahezu unisono erhoben, vgl. etwa Wiss. Beirat beim BMF, Die Begünstigung des Unternehmensvermögens in der Erbschaftsteuer, 2012, S. 37 ff.; a.A. noch Degenhard, Reform der Erbschaftsteuer (IFSt-Schrift Nr. 344), 1996, S. 15 ff. infolge des ersten Erbschaftsteuerbeschlusses, die sich, die Gestaltungsanfälligkeit nicht erkennend, dezidiert für eine vollständige Befreiung von Betriebsvermögen ausgesprochen hat. 316 Vgl. die „Reformvorschläge zur Steuer- und Abgabenpolitik“ der SPD-Bundestagsfraktion, unter http://www.spd-fraktion.de/sites/default/files/materialien_fachge spraech_steuern_2011endversion.pdf, S. 18. Ebenfalls dazu das aktuelle Parteiprogramm der Linken, unter http://www.die-linke.de/fileadmin/download/dokumente/programm_der_partei_die_linke_erfurt2011.pdf, S. 7 (letzter Zugriff: 11.8.2015). 317 Beginnend bei 2 % nach der Reform der Grunderwerbsteuer im Jahr 1983 bis zum 31.12.1996, ab 1.1.1997 Anhebung auf 3,5 % und nach Übertragung der Steuersatzkompetenz auf die Länder (vgl. Art. 105 Abs. 2a Satz 2 GG) seit 2011/2012 in nahezu allen Ländern Erhöhung auf 4,5 oder 5 %. 318 Krit. insb. im Hinblick auf die Rechtfertigung als Sollertragsteuer Schulemann, Reform der Grundsteuer. Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 209 (2011), S. 11 f. 319 Becker, BB 2011, 535 ff.

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auch an ihrer geringen Höhe320 und dem Umstand, dass sie überwälzt werden kann. Sie ist eine stetige verlässliche Einnahmequelle für die Kommunen, die auf das Aufkommen der Grundsteuer schlichtweg nicht verzichten können. Auch die gute Vollziehbarkeit und das fehlende Steuerverlagerungspotential machen die Grundsteuer attraktiv. Steuern auf Immobilien werden vom europäischen Wachstumsbericht 2012 zudem als am wenigsten wachstumshemmend eingeschätzt.321 Bei so vielen „guten Eigenschaften“ wundert es nicht, dass nur gelegentlich aus den Rechtfertigungsdefiziten die Konsequenz gezogen wird, die Grundsteuer müsse abgeschafft werden.322 bb) Steuersystematische Einordnung der Grundsteuer Wie bei der allgemeinen Vermögensteuer hängen Reformbedarf und Ausgestaltung der Grundsteuer von ihrer steuersystematischen Einordnung ab. Die Grundsteuer ist Sondervermögensteuer.323 Allgemeine Vermögensteuer auf das Immobilienvermögen und Grundsteuer greifen auf dasselbe Steuerobjekt zu.324 Im Unterschied zur Vermögensteuer kennt die Grundsteuer jedoch als Realoder Objektsteuer keine persönlichen Freibeträge. Die Familienverhältnisse des Grundstückseigentümers bleiben ebenso unberücksichtigt wie mit dem Grundbesitz in Zusammenhang stehende Schulden. Die Notwendigkeit einer steuerlichen Verschonung im Umfang eines privaten Gebrauchsvermögens wird vom Bundesfinanzhof abgelehnt.325 320 Eisele, SteuerStud 2007, 268 ff., 269. 321 Vgl. den Anhang zum Jahreswachstumsbericht 2012, „Wachstumsfreundliche Steuerpolitik in den Mitgliedstaaten und bessere Steuerkoordinierung in der EU“ vom 23.11.2011, abrufbar unter http://ec.europa.eu/europe2020/pdf/ags2012_annex4_ de.pdf (letzter Zugriff: 11.8.2015). 322 So aber etwa Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Grundsteuer, Heft 14 (1969), S. 45; abgeschwächt wiederholt von Schulemann, Reform der Grundsteuer. Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 209 (2011), S. 12 u. 16 f.; dezidiert für die Beibehaltung der Grundsteuer dagegen Wiss. Beirat beim BMF, Stellungnahme zur Reform der Grundsteuer, 2010, S. 6. 323 Ritter, in: Festgabe F. J. Haas, 1996, S. 283, 287. 324 Ritter, in: Festgabe F. J. Haas, 1996, S. 283, 287, weist zu Recht darauf hin, dass diese Doppelbelastung bei Ansatz realitätsgerechter Werte nicht länger ignoriert werden kann. 325 Vgl. BFH v. 12.10.2005 – II B 36/05, BFH/NV 2006, 369 „Die Behauptung der Kläger, dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 22. Juni 1995 2 BvL 37/91 (BVerfGE 93, 121, BStBl. II 1995, 655, ‚Vermögensteuerbeschluss‘) könne entnommen werden, die darin geforderte Freistellung des zur individuellen Lebensgestaltung erforderlichen Vermögens (‚Gebrauchsvermögen‘) für die Vermögensteuer habe für alle direkten Steuern – und damit auch für die Grundsteuer – zu gelten, trifft nicht zu. Denn aus dem ‚Vermögensteuerbeschluss‘ ergibt sich nicht, dass ‚Gebrauchsvermögen‘ generell von direkten Steuern freizustellen sei. Dies hat das BVerfG in seinem – insoweit von den Klägern unzutreffend wiedergegebenen – Beschluss vom 8. Januar 1999 − 1 BvL 14/98 (BStBl. II 1999, 152) klarstellend ausgeführt. Auch aus dem Prinzip der eigentumsschonenden und freiheitsschonenden Besteuerung kann nicht abgeleitet werden, persönliches Gebrauchsvermögen sei generell von direkten Steuern freizustellen“, vgl. auch BFH v. 24.3.2003 – II B 34/02, BFH/NV 2003, 941, 942. Siehe ferner zur Grunderwerbsteuer BVerfG v. 8.1.1999 – 1 BvL 14/98, BStBl. II 1999, 152: Die Belastung des Erwerbs privat genutzter Immobi-

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Zur Rechtfertigung der Grundsteuer wird zum einen das Konzept der Sollertragsteuer bemüht.326 Daneben gibt es einen äquivalenztheoretischen Rechtfertigungsansatz.327 Auf diese Weise soll den bereits erörterten328 Einwänden gegen Sollertragsteuern begegnet werden.329 So stellt der Bundesfinanzhof den Zusammenhang zwischen dem Grundsteueraufkommen und den gemeindlichen Leistungen der Daseinsvorsorge heraus.330 Diesem Ansatz wohnt angesichts der offenen Überwälzung der Grundsteuer auf die Mieter eine gewisse Plausibilität inne. Die Grundsteuer lässt sich als eine Art Einwohnersteuer331 oder kommunale Wohnungsteuer332 verstehen, als allgemeine Beteiligung sämtlicher Gemeindeeinwohner an den Lasten der gemeindlichen Infrastruktur. Freilich stellt sich dann die Frage nach dem richtigen Maßstab einer derartigen allgemeinen Beteiligung an den Kosten des Gemeindewesens. Äquivalenztheoretische Steuerrechtfertigungen kranken stets daran, dass es allenfalls einen sehr losen Zusammenhang zwischen der Kostenverursachung oder Nutzenziehung und der konkreten Steuerleistung gibt.333 Das Bundesverfassungsgericht würde sich hieran allerdings wohl nicht stoßen. Aus der Entscheidung zur Gewerbesteuer lässt sich folgern, dass das Gericht äquivalenztheoretische Rechtfertigungen gerade im Bereich der Kommunalsteuern nicht weiter hinterfragt.334 Auch die Nennung in der Finanzverfassung wäre nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts geeignet, die Grundsteuer als Steuertypus verfassungsgerichtlich abzusichern.335 Die Frage nach der Einordnung der Grundsteuer (Sondervermögensteuer – Soll­ ertragsteuer – Äquivalenzsteuer – Einwohnersteuer) mag auf den ersten Blick theoretisch erscheinen, hat aber im Rahmen der anstehenden Reformüberlegungen336 erhebliche Bedeutung für die künftige Ausgestaltung der Grundsteulien durch die Grunderwerbsteuer kollidiere nicht mit dem im Vermögensteuerbeschluss (BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 141) aufgestellten Postulat der Freistellung des privaten Gebrauchsvermögens. Dieses lasse sich nicht auf eine Rechtsverkehrsteuer wie die Grunderwerbsteuer übertragen. Zustimmend Eisele, Der Gemeindehaushalt 2009, S. 206 ff., S. 208. 326 Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 13 Rz. 201; Englert/Alex, DStR 2007, 95 ff., 98; krit. Drosdzol, DStZ 1999, 831 ff. 327 Insbesondere von finanzwissenschaftlicher Seite vgl. etwa Wiss. Beirat beim BMF, Stellungnahme zur Reform der Grundsteuer, 2010, S. 2; Eisele, DStR 2005, 1971 ff., 1973. 328 Siehe oben IV.3.c)bb). 329 In Bezug auf die Grundsteuer Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 13 Rz. 202. 330 BFH v. 20.12.2002, BFH/NV 2003, 508. 331 Dazu Haury, StuW 1979, 51; Bayer, KStZ 1989, 167; Beck/Prinz, Wirtschaftsdienst 2011, S. 339, 344 ff. mit Vorschlägen für die konsequente Umwandlung der Grundsteuer in eine „kommunale Wohnungsteuer“. 332 Beck/Prinz, Wirtschaftsdienst 2011, S. 339, 344 ff. mit Vorschlägen für die konsequente Umwandlung der Grundsteuer in eine „kommunale Wohnungsteuer“ und zu Unterschieden zwischen kommunaler Wohnungsteuer und Bürgersteuer. 333 Hierzu ausführlicher Hey, in: FS J. Lang, 2010, S. 133, 146 f. 334 BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1, 37 ff. 335 Vgl. zur Gewerbesteuer BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1, 39; a.A. oben IV.3.b). 336 Zu den verschiedenen Reformmodellen s. Schulemann, Reform der Grundsteuer. Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuer-

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er. Die Einheitsbewertung mit ihren ganz willkürlichen Ergebnissen lässt sich auf diese Weise nicht rechtfertigen, wohl aber stellt sich die Frage, ob auf der Grundlage des Äquivalenzprinzips ein wertunabhängiger Maßstab in Betracht kommt. cc) Verfassungswidrigkeit der geltenden Rechtslage – Reformoptionen Bei der Grundsteuer liegt das Hauptproblem in der Bewertung. Zwar stellt sich hier das Problem der Bewertungsungleichheit nur innerhalb des Grundvermögens. Eine einheitliche Unterbewertung wäre aber nur dann „unschädlich“, wenn es nicht zu einer Verzerrung der Wertrelationen käme. Genau dies ist aber in der Vergangenheit geschehen337 und wird voraussichtlich in Zukunft noch in sehr viel stärkerem Maße auftreten. In einigen wenigen Ballungsgebieten ist mit einer kontinuierlichen, z.T. sogar steilen Wertsteigerung von Immobilien zu rechnen, in ländlichen Regionen kommt es dagegen zu einem massiven Wertverfall mit der Gefahr dauerhaften Leerstandes.338 Eine Reform der Grundsteuer ist im Hinblick auf die seitens des Bundesfinanzhofs für Jahre ab 2007 geäußerten Zweifel an der Gleichheitssatzkonformität der Einheitswerte339 unausweichlich. Dass der Gesetzgeber trotzdem noch nicht tätig geworden ist und trotz zahlreicher Reformvorschläge bisher kein Gesetzentwurf eingebracht wurde, hat verschiedene Gründe. Zum einen fehlt es bisher an einem klaren Verdikt.340 Solange das Bundesverfassungsgericht die derzeitige Rechtslage nicht für verfassungswidrig erklärt hat, sind die Gemeinden an der Erhebung der Grundsteuer nicht gehindert. Zum anderen scheint ein Zuwarten bis zu einer Entscheidung der Karlsruher Richter auch deshalb möglich, weil damit gerechnet werden kann, dass das Gericht von seiner pro futuro-Spruchpraxis Gebrauch machen wird,341 so dass die Reformunwilligkeit bzw. -unfähigkeit der Politik folgenlos bleiben wird. Dabei zeigt sich hier ein weiteres Mal, dass das Bundesverfassungsgericht mit der Abkehr von der grundsätzlichen ex tunc-Wirkung342 seiner Entscheidungen

zahler, Heft 209 (2011), S. 22 ff.; Becker, BB 2011, 535 ff.; Stöckel, NWB 2011, 1708 ff. 337 Vgl. Wiss. Beirat beim BMF, Stellungnahme zur Reform der Grundsteuer, 2010, S. 1. 338 Zur Anwendung der Erlassvorschrift des § 33 GrStG in Fällen eines strukturell bedingten Leerstandes BFH v. 24.10.2007 – II R 5/05, BStBl. II 2008, 384; Englert/Alex, DStR 2007, 95. 339 BFH v. 30.6.2010 – II R 60/08, BStBl. II 2010, 897 ff. 340 In der Vergangenheit ist das BVerfG dieser Frage durch nicht mit Begründung versehene Nichtannahmebeschlüsse aus dem Weg gegangen, siehe BVerfG v. 21.6.2006 – 1 BvR 1644/05, ZKF 2006, 213; BVerfG v. 18.2.2009 – 1 BvR 1334/07, DB 2009, 773. Siehe insbesondere das anhängige Verfassungsbeschwerdeverfahren 2 BvR 287/11. 341 So auch die Vermutung von Becker, BB 2011, 535 ff., 539. 342 Auch Unvereinbarkeitsfeststellungen haben grundsätzlich ex tunc-Wirkung, vgl. z. B. BVerfG v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/98, BVerfGE 107, 27, 58; BVerfG v. 16.3.2005 – 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268, 283; BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, BVerfGE 125, 1, 39; BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210, 247.

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verfassungsrechtliche Ignoranz des Gesetzgebers begünstigt.343 Zwar liegt es in der Natur der Sache des durch die veralteten Einheitswerte begründeten Gleichheitssatzverstoßes, dass das Gericht dem Gesetzgeber keine Vorgaben machen kann, in welcher Weise ein Bewertungsgleichmaß herzustellen ist. Dies bedeutet aber nicht, dass verfassungswidrige Zustände für die Vergangenheit grundsätzlich hinzunehmen wären. Vielmehr entspricht es der Konzeption der nur deklaratorischen Wirkung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, dass sich die Reparaturpflicht grundsätzlich auch auf die Vergangenheit erstreckt, wobei die Steuerpflichtigen vor einer Korrektur durch eine rückwirkende Anhebung des Bewertungsniveaus durch das rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip geschützt wären. In der Konsequenz bliebe als Reaktion auf eine Entscheidung des BVerfG, die die Verfassungswidrigkeit der Grundsteuer feststellt, praktisch nur, auf die Erhebung der Grundsteuer jedenfalls in allen offenen Fällen zu verzichten. Nur dies könnte den Gesetzgeber davon abhalten, sehenden Auges den Gleichheitssatz mit Füßen zu treten. Das BVerfG wird diesen Schritt aber wohl kaum gehen, so dass sich die Gemeinden im Hinblick auf die – verfassungsdogmatisch nicht begründbare – Rücksichtnahme der Karls­ruher Richter auf die verlässliche Finanz- und Haushaltsplanung344 in Sicherheit wiegen können, die Grundsteuereinnahmen trotz der allseits bekannten Verfassungswidrigkeit der zugrunde liegenden Einheitsbewertung behalten zu dürfen. Verständnis für die Untätigkeit des Gesetzgebers kann man allenfalls deshalb haben, weil sich die Politik vom Bundesverfassungsgericht wohl auch eine – ­allerdings nur als obiter dictum zu wertende – Aussage dahingehend erhofft, welche gesetzgeberischen Spielräume bei der Reform der Grundsteuer bestehen, insbesondere, ob auch eine sich von Grundstückswerten lösende rein an der Grundstücksfläche orientierte Bemessungsgrundlage mit dem Grundgesetz vereinbar wäre.345 Soweit man dem Äquivalenzgedanken folgt, führt dies meines Erachtens primär zu einer wertbezogenen Bemessungsgrundlage. Die gemeindlichen Infrastrukturmaßnahmen schlagen sich am ehesten im Wert des Grundstücks nieder. Diese Position hat auch der Wissenschaftliche Beirat beim BMF in einer Stellungnahme zur Grundsteuer vertreten,346 wobei dann die weitere Frage zu beantworten ist, ob hierin nur das Grundstück oder auch die aufstehende Im343 Seer, NJW 1996, 285, 289; Sangmeister, StuW 2001, 168, 179; Heußner, NJW 1982, 257, 259; Hey, in: FS Spindler, 2011, S. 97, 102 ff.; Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 22 Rz. 287. 344 Zur Kritik am Budgetargument Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 22 Rz. 287 mit zahlreichen Nachweisen in Fn. 9. 345 Dezidiert gegen derartige verfassungsgerichtliche Leitlinien für zukünftige Gesetzgebungsverfahren Böckenförde, Sondervotum zu BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 151 f. 346 Wiss. Beirat beim BMF, Stellungnahme zur Reform der Grundsteuer, 2010, S. 6; ebenso Beck/Prinz, Wirtschaftsdienst 2011, S. 339, 344 mit dem Vorschlag einer auf der Nettokaltmiete basierenden kommunalen Wohnungsteuer als „Quasi-Nutzungsentgelt für kommunale Infrastrukturleistungen“; a.A. Schulemann, Reform der Grundsteuer. Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 209 (2011), S. 13 ff.

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mobilie eingehen muss. Wenn man die Rechtfertigung in den Bodenpreisen sieht, wäre es konsequent, die Immobilie auszunehmen. Indes schlägt an dieser Stelle der Charakter der Grundsteuer als Vermögensteuer und der hieran gemeinhin geknüpfte Sollertragsteuergedanke zurück. Der mit dem Grundstück zu erzielende Ertrag wird eben ganz wesentlich über die Bebauung bestimmt. Das Problem jedes wertbezogenen Ansatzes liegt freilich darin, dass die Möglichkeit der Annäherung an Verkehrswerte, die verfassungsrechtlich zu fordern ist, im Rahmen der Grundsteuer angesichts von 35 Mio. Grundstücken347 als kaum realisierbar erscheint.348 Zwar mögen im Rahmen der niedrigen Grundsteuer größere Toleranzbreiten gelten, innerhalb derer die Steuerwerte um den Verkehrswert herum liegen dürfen (zur Definition des „Annäherungswertes“ siehe oben IV.4.a)bb)). Die Wertbezogenheit der grundsteuerlichen Bemessungsgrundlage darf aber nicht zur Fiktion werden. Diese Gefahr besteht, wenn es nicht gelingt, ein Verfahren zu finden, das einerseits mit Blick auf die geringe Höhe der Grundsteuer kostengünstig ist und andererseits hinreichend realitätsgerechte Werte produziert. Die empirischen Erhebungen von Maiterth und Houben349 zeigen, dass die im Rahmen der Erbschaftsteuer genutzten Verfahren zwar zu einer deutlich stärkeren Verkehrswertannäherung führen als der Ansatz der veralteten Einheitswerte, es aber gleichzeitig bei erheblichen Schwankungsbreiten bleibt. Diese Schwierigkeiten erklären, warum Alternativen zur bisherigen Wertorientierung der Grundsteuer immer mehr Befürworter finden.350 Stellt man auf den Charakter als Bürgersteuer ab, einer Art „poll tax“ („community charge“),351 dann wäre eigentlich eine Kopfsteuer die richtige Antwort.352 Eine solche wäre jedoch mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip schlechterdings unvereinbar.353 Es bleibt die Frage nach der Zulässigkeit eines reinen Flächenmaßstabs, wie von den Südländern aktuell gefordert, bzw. einer Kombination aus Bodenrichtwerten und Gebäudenutzfläche. Unzweifelhaft hat ein solcher Vorschlag den Vorteil der Einfachheit.354 Es fragt sich, ob er auch verfas347 Schulemann, Reform der Grundsteuer. Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 209 (2011), S. 17. 348 Sehr skeptisch etwa Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 16 Rz. 39; optimistischer Becker, BB 2011, 535 ff., 537 ff. 349 In IFSt-Schrift Nr. 483 (2012), S. 132 ff. 350 Siehe etwa Seer, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 16 Rz. 39, der sich für eine Kombination aus Bodenrichtwert und Gebäudefläche ausspricht; siehe auch die Diskussionsbeiträge auf der Jahrestagung 2011 der DStJG (DStJG 35 [2012]) von Lang, S. 347 ff. und Bier, S. 349 ff. 351 Hierzu Alt/Preston/Siebieta, The Political economy of Tax Policy, in: Institute for Fiscal Studies (Hg.), Dimensions of Tax Design (Mirrlees Review 1), 2010, S. 1204 ff., S. 1223 ff. 352 Wiss. Beirat beim BMF, Stellungnahme zur Reform der Grundsteuer, 2010, S. 2. 353 Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003, S. 473 ff.; Schulemann, Reform der Grundsteuer. Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 209 (2011), S. 15. 354 Becker, BB 2011, 535 ff., 537; zur Bedeutung dieses Kriteriums vor dem Hintergrund der schwachen Rechtfertigung der Grundsteuer Schulemann, Reform der Grundsteuer. Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 209 (2011), S. 17.

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sungskonform ist. Denn der geringe Verwaltungsaufwand allein liefert noch keine tragfähige Rechtfertigung. Die Frage ist vielmehr, ob Grundstücksflächen als Leistungsfähigkeitsindikator taugen oder die Äquivalenzbeziehung355 zwischen kommunalen Leistungsangeboten und ihrer Nutzung durch die Gemeindebürger bzw. den hieraus gezogenen Vorteilen der Grundstückseigentümer sachgerecht abbilden können. Beides ist zu verneinen. Der Flächenmaßstab ist zwar nicht völlig aussagelos, wenn es um die möglichen Erträge eines Grundstücks (Sollertragsteuergedanke) oder dessen Verkehrswert (Substanzsteuergedanke) geht, aber die Bandbreite erzielbarer Mieten bzw. Kaufpreise variiert so stark, dass es sich nicht mehr um eine verfassungskonforme Typisierung handelt.356 Ebenso wenig können aus der Fläche Rückschlüsse auf den Wert des Grundstücks gezogen werden, sodass auch dann, wenn man die Grundsteuer systematisch als Vermögenssubstanzsteuer verstehen will, keine sachgerechte Typisierung vorliegt. Einen Ausweg aus dem Dilemma eines am Leistungsfähigkeitsprinzip orientierten Bewertungsmaßstabs haben Joachim Lang und Kilian Bizer mit dem Ende der 1990er Jahre präsentierten Vorschlag einer ökologischen Grundsteuer357 gewiesen, die ihre Rechtfertigung aus der Differenzierung nach der Qualität der Grundstücksnutzung bezieht. Damit sollen Anreize für einen sparsamen Flächenverbrauch gesetzt werden. Meiner Ansicht nach bleibt jedoch, will man diesen Weg nicht beschreiten und gleichwohl an der Grundsteuer festhalten, nichts anderes übrig, als das Bewertungsverfahren zu reformieren. Auch wenn man in der Abwägung zwischen Praktikabilität und Erhebungseffizienz und Realitätsgerechtigkeit der Werte wahrscheinlich erhebliche Abstriche zulasten letzterem machen muss, dürfte ein auch nur annähernd wertbezogener Maßstab358 eher geeignet sein, einen der hier angebotenen Rechtfertigungszusammenhänge zu bedienen als ein reiner Flächenmaßstab.

355 Anders die Begründung im Bericht der „Südländer“: „Eckpunkte für eine vereinfachte Grundsteuer nach dem Äquivalenzprinzip“, 2010, abrufbar unter https://www. ihk-suhl.de/files/ (letzter Zugriff: 11.8.2015); s. auch Schulemann, Reform der Grundsteuer. Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 209 (2011), S. 14: Der Nutzen der kommunalen Infrastruktur steige mit der Größe des Grundbesitzes. Gleichzeitig zieht Schulemann aber zu Recht die generelle Eignung des Äquivalenzprinzips zur Steuerrechtfertigung in Frage (a.a.O.). 356 Ebenso Becker, BB 2011, 535 ff., 537: Verstoß gegen Folgerichtigkeitsgebot. 357 Bizer/Lang, Ansätze für ökonomische Anreize zum sparsamen und schonenden Umgang mit Bodenflächen, 1998 (veröffentlicht vom Umweltbundesamt in: Texte 21/00, 2000) mit Rezension von Jachmann, StuW 2001, 379 ff. Für eine Grundsteuer mit Lenkungswirkung auch Löhr, Reform der Grundsteuer als Instrument der Flächenhaushaltspolitik, Wirtschaftsdienst 2004, S. 113 ff.; a.A. Schulemann, Reform der Grundsteuer. Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 209 (2011), S. 15 f. 358 Wiss. Beirat beim BMF, Stellungnahme zur Reform der Grundsteuer, 2010, S. 4 spricht sich bei vermieteten Grundstücken für den Miet- oder Pachtwert als Annäherungswert aus.

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Die Schwierigkeiten einer gleichheitssatzkonformen Ausgestaltung sprechen gleichzeitig deutlich gegen eine Anhebung des Steueraufkommens aus der Grundsteuer.359

VI. Zusammenfassung Der Spielraum für Steuern auf das Vermögen ist verfassungsrechtlich eng umgrenzt: 1. Es ist nicht erkennbar, wie eine laufende Vermögensteuer konzipiert werden könnte, die den Anforderungen von Art. 14 GG genügt. 2. Einmalige Vermögensabgaben im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 GG sind als außerordentliche Finanzierungsinstrumente auf notstandsähnliche Ausnahmesituationen beschränkt. Eine solche liegt derzeit nicht vor. 3. Erbschaftsteuer und Grundsteuer bedürfen dringender Reform. Sie sind in ihrer aktuellen Ausformung verfassungswidrig. Damit bewahrheitet sich die eingangs zitierte Skepsis von Healey:360 Je intensiver man sich mit vermögensbezogenen Abgaben befasst, umso ferner rückt eine Gestaltung, die nicht mit erheblichen Widersprüchen belastet wäre. Leider wird dies vermutlich kein Hinderungsgrund für die Politik sein, trotzdem zu handeln mit der Folge berechtigter Gegenwehr der Steuerpflichtigen und langanhaltender Rechtsunsicherheit bis zu einer gerichtlichen Klärung. Umso mehr bedarf es im Vorfeld der fachlichen Debatte, um den Feldversuch auf dem Rücken der Steuerpflichtigen und mit der Gefahr erheblicher Abwanderungsbewegung doch noch zu vermeiden.

359 Zutreffend Schulemann, Reform der Grundsteuer. Handlungsbedarf und Reformoptionen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 209 (2011), S. 17. 360 Siehe das Zitat oben I.

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Reprogenetik und Verfassungsrecht* Inhaltsübersicht I. Problemaufriss: Menschenwürde oder „Biomaterial“? II. Zygote – Mensch – Person: Zur verfassungsrechtlichen Kritik der bioethischen Persondoktrin III. Lebensgrundrecht und Menschenwürdegarantie – Zur Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Maßstabsnormen für die Biopolitik 1. Der Embryo in vitro als Träger des Lebensgrundrechts 2. Zur Maßstabsfunktion der Menschenwürdegarantie IV. Die Reprogenetik auf dem Prüfstand des Verfassungsrechts

1. Verfassungsfragen der PID a) Die PID und das Embryonenschutzgesetz b) Regelungsoptionen 2. Die Forschung an embryonalen Stammzellen a) Grundlagen b) Forschung an und mit ES-Zellen und Embryonenschutzgesetz (sowie Transplantationsgesetz) c) Verfassungsrechtliche Aspekte V. Schlussbemerkungen Nachwort

I. Problemaufriss: Menschenwürde oder „Biomaterial“? Vor einigen Monaten schon hat Gunter Hofmann in der „Zeit“ vor einem „moralischen Bürgerkrieg“ um die Biopolitik in Deutschland gewarnt. Soweit sind wir noch nicht, doch der Ton der Auseinandersetzung wird aggressiver, die Schärfe von Kritik und Antikritik nimmt zu. Zunächst waren auf beiden Seiten eher polemische Invektiven von Stimmen zu registrieren, die vor allem auf Medienresonanz zielten: Während sich die einen schon als die Herren der neuen Dreifaltigkeit von Stammzellforschung, Humangenetik und Reproduktionsmedizin auf dem Schöpferthron wähnten, beschworen andere den molekularen Hexensabbat. Inzwischen aber sind die Streitparteien von anderem Kaliber, hat sich die Diskussion ja bis in die höchsten Staatsämter verlagert. Vor einigen Tagen dann hat Hubert Markl in einem vielbeachteten Festvortrag vom „biopolitisch gleichgeschalteten Gesamtethikrat deutscher Tageszeitungen“ gesprochen und mit diesem Begriff aus dem Wörterbuch des Joseph Goebbels sofort die Replik eines FAZ-Herausgebers provoziert, die Rede des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft sei „ein Experiment in der Zündung von Zeitbomben“1. Was steht auf dem Spiel, dass auf diese Weise um die Zustimmung der Gesellschaft und der politischen Entscheidungsträger gestritten wird? Man kann es * Vortrag, gehalten am 3.7.2001 vor der Kölner Juristischen Gesellschaft, veröffentlicht in der Schriftenreihe der Kölner Juristischen Gesellschaft Band 27, 2001. 1 So Frank Schirrmacher, Bürger Markl, FAZ v. 26.6.2001, S. 47; ferner Gunter Hofmann, Die Schlacht am Rubikon, Die Zeit v. 23.5.2001, S. 3.

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philosophisch umschreiben und sagen, es geht um die Zukunftsfrage der anthropotechnisch herausgeforderten Gestalt des Menschlichen schlechthin. In der Tat: Die Neuerungen der Biomedizin verändern die Lebensweisen der Menschen in einer Weise, der gegenüber das meiste, was offiziell als Politik verhandelt wird, geradezu harmlos erscheint.2 Die ungeheure Gestaltungsmacht der Biowissenschaften entfaltet sich dabei in implementationsloser Direktheit, so dass Ulrich Beck schon vor Jahren zu Recht von einem System der Politik der vollendeten Tatsachen gesprochen hat.3 Aus verfassungsrechtlicher Perspektive geht es in der Reprogenetik, das zeigen die Stellungnahmen immer deutlicher, um den Status des frühen Embryo in vitro: Wird er geschützt durch die Grundrechte des Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 GG? Ist er Träger der Menschenwürde und des Lebensrechts? Den damit aufgeworfenen Fragen und möglichen Antworten sowie deren Bedeutung für die beiden derzeit meistdiskutierten Referenzgebiete – nämlich: die Präimplantationsdiagnostik und die Forschung an embryonalen Stammzellen – sind die folgenden Überlegungen gewidmet. Ich möchte dabei in einem argumentativen Dreischritt vorgehen: Zunächst soll ganz grundsätzlich der Anspruch des Verfassungsrechts als „Maßstabsrecht“, als Steuerungsgröße auch für die Biowissenschaften, bekräftigt und damit zugleich jene fundamentale Attacke pariert werden, die in Gestalt der bioethischen Persondoktrin schlechthin auf eine „Depossedierung“ des Verfassungsrechts zielt.4 Sodann sind die Gründe zu benennen, die für eine Geltungserstreckung des Lebensgrundrechts sowie der Menschenwürdegarantie auch auf das früheste Embryonalstadium sprechen.5 Von der so gewonnenen Basis aus sind schließlich die beiden derzeit umstrittensten Einsatzfelder reprogenetischer Intervention im einzelnen zu analysieren und zu bewerten, die Präimplantationsdiagnostik (PID) und die Forschung an embryonalen Stammzellen.6

II. Zygote – Mensch – Person: Zur verfassungsrechtlichen Kritik der bioethischen Persondoktrin Zunehmend gewinnt eine philosophische Position auch in Deutschland an Bedeutung, die man als Nicht-Äquivalenz-Theorie bezeichnen kann.7 Ihr tragen-

2 Zutreffend: Andreas Kuhlmann, Politik des Lebens, Politik des Sterbens, 2001, S. 14. 3 Ulrich Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 329 ff.; vgl. auch Wolfram Höfling, Über die Definitionsmacht medizinischer Praxis und der Aufgabe der Verfassungsrechtslehre, JZ 1996, S. 615 ff. 4 Dazu unten II. 5 Dazu unten III. 6 Dazu unten IV. 7 Dieter Birnbacher, Das Dilemma des Personenbegriffs, ARSP 1997, Beiheft 73, S. 9 ff., 13 ff., 20.

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des Element ist die begriffliche und normative Trennung von Mensch und Person.8 Sie thematisiert Fragen wie: Sind alle menschlichen Wesen Personen oder nur solche, die bestimmte „personale“ Merkmale aufweisen? Gibt es einen Unterschied zwischen einem bloßen „menschlichen Wesen“ und einem mit besonderen Fähigkeiten ausgestatteten Menschen, zwischen einem „Nur-Menschen“ und einer Person? Und sie gibt hierauf – bei allen Unterschieden im Detail – bejahende Antworten. Danach gibt es durchaus eine Differenz zwischen Menschen und Personen. Von diesem Ansatz aus sind einige menschliche Wesen keine Personen. Vor kurzem ist die Doktrin durch den neuen Kulturstaatsminister im Bundeskanzleramt, den Philosophen Nida-Rümelin, gleichsam „hoffähig“ gemacht worden: „Die Achtung der Menschenwürde ist dort angebracht, wo die Voraussetzungen erfüllt sind, daß ein menschliches Wesen entwürdigt werden, ihm seine Selbstachtung genommen werden kann. Daher läßt sich das Kriterium der Menschenwürde nicht auf Embryonen ausweiten. Die Selbstachtung eines menschlichen Embryos läßt sich nicht beschädigen.“9 Menschenwürde also nur für menschliche Wesen mit „Entwürdigungspotential“, nicht aber für solche, denen es hieran ermangelt. Über die Rechtsphilosophie – genannt sei einmal der Mainzer Norbert Hoerster,10 aber auch der inzwischen zum Kronjuristen der Reprogenetik avancierte Hamburger Rechtsphilosoph und Strafrechtler Reinhard Merkel11 – gewinnt die Nicht-Äquivalenz-Theorie bzw. Persondoktrin mehr und mehr Einfluss auch auf die Rechtsdogmatik. Sie zeigt sich hier etwa besonders deutlich und offensiv, wenn die verbrauchende Embryonenforschung schlicht zum „Unthema“ des Lebensgrundrechts erklärt wird, weil Embryonen über keine „Persönlichkeit“ verfügen.12 Die zentrale These des bioethischen Argumentationsmusters, nur Interessen könnten die Zuerkennung subjektiver Rechte rational begründen, stützt sich auf ein begriffliches und ein normatives Argument. Der Begriff des subjektiven Rechts wird analytisch mit dem des Schutzes und dieser 8 Siehe hierzu die Darstellung und Kritik bei Kathrin Braun, Menschenwürde und Biomedizin, 2000, S. 108 ff.; vgl. ferner etwa die Überblicksbände: Günter Rager (Hg.), Beginn, Personalität und Würde des Menschen, 2. Aufl. 1998; Peter Strasser/Edgar Starz (Hg.), Personsein aus bioethischer Sicht, ARSP 1997, Beiheft 73; Günter Rager, Embryo – Mensch – Person: Zur Frage nach dem Beginn des personalen Lebens, in: Jan P. Beckmann (Hg.), Fragen und Probleme einer medizinischen Ethik, 1996, S. 254 ff.; Jan P. Beckmann, Über die Bedeutung des Personen-Begriffs im Hinblick auf aktuelle medizinische Probleme, in: ebd., S. 279 ff. 9 Julian Nida-Rümelin, Wo die Menschenwürde beginnt, Der Tagesspiegel v. 3.1.2001, S. 25. 10 Siehe beispielsweise Norbert Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, 2. Aufl. 1995; ders., Neugeborene und das Recht auf Leben, 1995; ders., Sterbehilfe im säkularen Staat, 1998; siehe auch ders., Föten, Menschen und „Speziezismus“ – rechtsethisch betrachtet, NJW 1991, S. 2540 ff. 11 Siehe jüngst Reinhard Merkel, Rechte für Embryonen, Die Zeit v. 25.1.2001, S. 37 f.; eingehend ders., Früheuthanasie, 2001, S. 389 ff., 439 ff. 12 So Michael Ronellenfitsch, Zur Freiheit der biomedizinischen Forschung, Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2000, S. 91 ff., S. 104.

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mit dem der Verletzbarkeit seines Inhabers verknüpft. Ein Wesen jedoch, das bestimmte Interessen nicht haben kann, kann demnach auch kein subjektives moralisches Recht auf Berücksichtigung bzw. Nicht-Verletzung solcher Interessen haben. „Im Hinblick auf ein nichtverletzungs- (schädigungs-, interessen-) fähiges Wesen kann aber gegenüber anderen eine Pflicht zur Schadensvermeidung (Interessenbeachtung) schon nicht verständlich gemacht und a fortiori nicht legitimiert werden.“13 Der skizzierte Zusammenhang von Rechten und Interessen gilt danach auch für das Lebensrecht. Die kantianische Gegenposition, jedem Menschen stehe „kraft seiner Menschheit“ ein angeborenes Grundrecht auf Freiheit zu, wird als logisch verfehlt verworfen. Von dem Umstand, dass der normale Mensch freiheitsfähig in diesem Sinne sei, führe keine logische Brücke zu der Behauptung, also sei es auch etwa der Embryo oder ein nach 18 Gestationswochen frühgeborener und überlebensunfähiger Fötus.14 Die Nicht-Äquivalenz-Doktrin ist indes mit zentralen Elementen einer weithin konsentierten Grundrechtsdogmatik nicht zu vereinbaren.15 Diese findet ihren Ausgangspunkt im Grundrechtstatbestand, der im Regelfall Bezug nimmt auf ein Schutzgut, das in der Grundrechtsnorm verfassungsunmittelbar festgelegt ist: Menschenwürde, Leben, Wissenschaft, Glaube usw. Dem Schutzgegenstand und seiner Interpretation kommt damit eine entscheidende materielle Bedeutung sowohl für die abwehrrechtliche als auch die schutzrechtliche Dimension der Grundrechte zu. Das Bundesverfassungsgericht geht nun mit einem großen Teil der Verfassungsrechtslehre von einer weiten Tatbestandstheorie aus. Bei verschiedenen Grundrechten, nicht zuletzt beim Lebensgrundrecht, hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt sein extensives Verständnis damit begründet, in Zweifelsfällen sei diejenige Auslegung zu wählen, welche die juristische Wirkkraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfalte.16 Für eine weite Tatbestandstheorie lassen sich in der Tat einige gute Gründe anführen: Zunächst entspricht eine weite Tatbestandstheorie dem offenen Freiheitsbegriff und dem offenen Menschenbild des Grundgesetzes.17 Auf diese Weise knüpft die Verfassung zugleich an die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG an. Die in der Präambel des Grundgesetzes berufenen Subjekte der verfassungsgebenden Gewalt gründen den Staat um der Würde des Menschen willen auf die gegenseitige Anerkennung als prinzipiell in gleicher Weise würdige Mitglieder des Gemeinwesens. Menschenwürde meint in dieser durch

13 In diesem Sinne etwa Reinhard Merkel, Extrem unreife Frühgeborene und der Beginn des strafrechtlichen Lebensschutzes, in: Guiseppe Orsi u. a. (Hg.), Medizin – Recht – Ethik (Rechtsphilosophische Hefte 8), 1998, S. 103 ff., S. 116 f. 14 Siehe a.a.O., S. 120. 15 Zum Folgenden Wolfram Höfling, Von Menschen und Personen. Verfassungsrechtliche Überlegungen zu einer bioethischen Schlüsselkategorie, in: FS Hartmut Schiedermair, 2001, S. 363 ff., S. 371 ff. 16 BVerfGE 32, 54, 71; 39, 1, 38; 48, 376, 388; siehe ferner auch BVerfGE 51, 97, 110. 17 Wolfram Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 104 ff., 116 ff.

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wechselseitiges Versprechen begründeten Solidargemeinschaft gegenseitige Achtung des Lebens, der Unverletzlichkeit und der Freiheit.18 Das Bundesverfassungsgericht hat in einer jüngeren Entscheidung deshalb zu Recht hervorgehoben: „Menschenwürde … ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status (sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht sinnhaft handeln kann … . Sie kann keinem Menschen genommen werden).“19 Damit ist ausgeschlossen, dass jemand über die Vorenthaltung dieses Status zu befinden befugt ist. Erst recht aber, so ist hinzuzufügen, ist die bioethische Redeweise von der „Zuschreibung“ bzw. „Zuerkennung“ von (Lebens-)Rechten verfassungsrechtlich inadäquat. Ist somit davon auszugehen, dass auch ein „interessenloser“ Embryo einen verfassungskräftigen Schutz- und Achtungsanspruch genießt, bleibt zu klären, ab wann die normative Wirkkraft der Grundrechte sich zugunsten des Embryos zu entfalten beginnt. Auch hier sind – durchaus absichtsvolle – terminologische Akzentverschiebungen zu konstatieren, etwa wenn vom „Pro-Embryo“ oder „Prä-Embryo“ die Rede ist oder vom mikroskopisch kleinen Zellhaufen. Was und wen schützt nun Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, wenn er vom Recht auf Leben spricht, das jeder haben soll?

III. Lebensgrundrecht und Menschenwürdegarantie – Zur ­Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Maßstabsnormen für die Biopolitik 1. Der Embryo in vitro als Träger des Lebensgrundrechts Die juristischen Schöpfungsgeschichten bzw. die rechtswissenschaftlichen Evolutionstheorien, die derzeit im Angebot sind, kennen zahlreiche Varianten und Anknüpfungspunkte für die Bestimmung der normativen Zäsur, die den Eintritt der Schutzwirkung des Lebensgrundrechts wahren soll: vom völligen Ausschluss aller pränatalen Lebensformen20 bis hin zur Einbeziehung der noch nicht befruchteten Eizelle.21 Lässt man diese beiden Extrempositionen einmal beiseite,22 so lassen sich im wesentlichen folgende Konzeptionen unterscheiden: 18 Dazu Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), S. 353 ff., S. 369 f. 19 BVerfGE 87, 209, 228. 20 In diesem Sinne bereits Horst Ehmke, Stellungnahme, in: Claus Arndt/Benno Erhardt/Liselotte Funke (Hg.), Der § 218 StGB vor dem Bundesverfassungsgericht, 1979, S. 180 ff.; pointiert auch Norbert Hoerster, Forum: Ein Lebensrecht für die menschliche Leibesfrucht?, JuS 1989, S. 172 ff. 21 Siehe Christian Starck, Die künstliche Befruchtung beim Menschen – Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen. 1. Teilgutachten. Verfassungsrechtliche Probleme, in: 56. DJT 1986, A 17. 22 Die erstgenannte Variante ist verfassungsrechtlich nicht haltbar, was die nachfolgenden Überlegungen noch zeigen werden, und durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch weitgehend in den Bereich des allenfalls rechtsphilosophi-

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Zum Teil wird Leben erst mit der Individuation, d. h. mit dem Ende der Omnipotenz der Zellen und dem Ende der Möglichkeit von Mehrlingsbildungen, angenommen. Dieser Zeitpunkt liegt etwa 14 Tage nach der Befruchtung der Eizelle.23 Mit der Individuation fällt zeitlich in etwa die Nidation zusammen. Die Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter markiert für einige Stimmen in der Literatur den Beginn des konkret-individuellen Lebens und damit des Lebensschutzes.24 Nach der Nidation kommen noch die Ausbildung von wesentlichen Körperfunktionen – wie Herz- und Hirntätigkeit sowie die Ausbildung des Nervensystems – als Lebensbeginn in Betracht. So erwägt Scholz in Umkehrung des Hirntodkriteriums am Lebensende, den Lebensschutz erst mit dem Einsetzen der Gehirntätigkeit, also im dritten Monat der Schwangerschaft, beginnen zu lassen.25 In Anlehnung an die Abtreibungsentscheidung des US-amerikanischen Su­ preme Court26 ist auch ein Abstellen auf die extra-uterine Lebensfähigkeit vorstellbar. Erst ab einem nicht näher spezifizierten Zeitpunkt, der jedenfalls nach dem Zygotenstadium angesiedelt ist, nimmt Anna Lübbe den Beginn des Lebensschutzes an, wobei sie als Kriterium zur näheren Bestimmung des Schutzbeginns das Kriterium der „Menschenähnlichkeit“ anbietet, was allerdings auf einen graduellen, abgestuften Beginn des Grundrechtsschutzes hindeuten würde.27 Als augenfälligste Zäsur wird schließlich insbesondere die Geburt herangezogen, um den Lebensschutz zu begründen, da der Mensch durch die Geburt in die Rechtsgemeinschaft aufgenommen werde.28 Auf einen Zeitpunkt noch deutlich nach der Geburt will schließlich eine von Hoerster vertretene Ansicht abstellen. Sie billigt grundrechtlichen Lebensschutz nur personalen Wesen zu, die über Ichbewusstsein und Rationalität verfügen.29

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schen Diskurses verwiesen; zur letztgenannten Position ist hier nicht Stellung zu nehmen. Vgl. hierzu die Darstellung bei Jörg Spiekerkötter, Verfassungsfragen der Humangenetik, 1989, S. 40 f. Hasso Hofmann, Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation – Wissenschaft im rechtsfreien Raum?, JZ 1986, S. 253 ff., 258 f.; vgl. auch Dagmar Coester-Waltjen, Befruchtungs- und Gentechnologie bei Menschen – rechtliche Probleme von morgen?, FamRZ 1984, S. 230 ff., 235. Rupert Scholz, Instrumentelle Beherrschung der Biotechnologie durch die Rechtsordnung, Bitburger Gespräche Jahrbuch 1986/1, S. 59 ff., 80, unter Berufung auf Hans-Martin Sass, Extrakorporale Fertilisation und Embryotransfer, in: Rainer Flöhl (Hg.), Genforschung – Fluch oder Segen?, 1985, S. 38 ff. Roe v. Wade, U.S.-Reports Bd. 410, S. 113. Anna Lübbe, Embryonenschutz als Verfassungsfrage, ZfP 1989, S. 138 ff., 148 f. Giselher Rüpke, Persönlichkeitsrecht und Schwangerschaftsunterbrechung, ZRP 1974, S. 73 ff., 74. Hoerster, Leibesfrucht (Fn. 20), S. 175 f.

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Die deutliche Mehrheit der Autoren setzt den Schutz hingegen bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an.30 Begründet wird dieser frühe Zeitpunkt insbesondere mit der kontinuierlichen Entwicklung menschlichen Lebens, die jede Zäsur zwischen der Verschmelzung und der Geburt willkürlich erscheinen lasse.31 Insbesondere durch wissenschaftliche Fortschritte und die hiermit verbundenen Regelungsdefizite der Gentechnologie ist die pränatale Schutzpflicht des Staates in den Mittelpunkt des Blickfelds gerückt. Im Unterschied zu den Judikaten des Bundesverfassungsgerichts, die sich ausschließlich mit der (ungewollten) Schwangerschaft befassten, hat gerade die jüngere gentechnologische Entwicklung der Auffassung grundrechtlich geschützter individuell-menschlicher Existenz mit Vereinigung von Ei- und Samenzelle, also noch vor der Nidation, Vorschub geleistet.32 Daher wird in der Literatur überwiegend der Schutz intrakorporal wie extrakorporal erzeugter Föten und Embryonen vor den Gefahren des gentechnologischen Missbrauchs als „eines der klassischen Postulate der in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG formulierten verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für das Leben“ angesehen.33 Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang nicht explizit zum Lebensschutz für das Vor-Nidations-Stadium, also gerade für den hier interessierenden Embryo in vitro, geäußert, allerdings im Begründungsduktus eine weite und ausgreifende Schutzkonzeption formuliert: „‚Jeder‘ im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist ‚jeder Lebende‘, anders ausgedrückt: jedes Leben besitzende menschliche Individuum; ‚jeder‘ ist daher auch das noch ungeborene menschliche Wesen.“34 Und später hat es hervorgehoben, die Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie legten es nahe, dass menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entstehe.35 30 Siehe beispielhaft Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hg.), GG I, 1. Auf. 1996, Art. 2 II Rz. 16; Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hg.), GG I, 5. Aufl. 2000, Art. 2 Rz. 49; Klaus Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 1057 f.; Wolfgang Graf Vitzthum, MedR 1985, S. 249 ff., 252; Dieter Lorenz, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts VI, 1989, § 128 Rz. 10; Johannes Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 124 f.; Rainer Beckmann, Embryonenschutz und Grundgesetz, ZRP 1987, S. 80 ff., 82 ff.; Hans Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hg.), GG, 5. Aufl. 2000, Art. 2 Rz. 55; Wolfram Höfling, Die Abtreibungsproblematik und das Grundrecht auf Leben, in: Hans Thomas/Winfried Kluth (Hg.), Das zumutbare Kind, 1993, S. 119 ff., 124; Udo Steiner, Schutz des Lebens nach dem Grundgesetz, 1992, S. 11; Dietrich Murswiek, in: Sachs (Hg.), GG, 2. Aufl. 1999, Art. 2 Rz. 146 erstreckt den Schutzbereich jedenfalls auch auf den Embryo, ohne eine Spezifizierung oder Einschränkung hinsichtlich eines bestimmten Zeitraums vor der Geburt vorzunehmen. 31 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Fn. 30), Art. 2 II Rz. 16; Kunig, in: v. Münch/Kunig (Fn. 30), Art. 2 Rz. 49; Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 30), § 128 Rz. 8 f. und 12. 32 Dietlein, Schutzpflichten (Fn. 30), S. 125; vgl. auch Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 30), S. 1057; Graf Vitzthum (Fn. 30), S. 252; Beckmann, Embryonenschutz (Fn. 30), S. 82 ff. 33 Vgl. Dietlein, Schutzpflichten (Fn. 30), S. 125. 34 BVerfGE 39, 1, 37. 35 BVerfGE 88, 203, 251.

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Die Erkenntnisse der molekular- und zellbiologischen Forschung weisen in der Tat die Fertilisation als den entscheidenden qualitativen Sprung aus, ab dem die weitere Entwicklung kontinuierlich verläuft. „Es entsteht ein neues, hu­ manspezifisches und zugleich individuelles Genom, und zwar in einer nicht voraussagbaren Weise. Die Ootide und die aus ihr hervorgehende Zygote können sich zu einem erwachsenen Menschen entwickeln, wenn die für sie nötigen Umgebungsbedingungen erfüllt sind. Die Umgebungsbedingungen sind zwar notwendig für die Entwicklung, aber nicht hinreichend für das Selbstsein des Embryos. Dieser Sachverhalt ist vergleichbar mit der Situation des erwachsenen Menschen, für den Nahrung, Behausung und ein soziales Umfeld zum Überleben nötig, aber für sein Personsein nicht hinreichend sind. Das einzigartige Genom des neuen Menschen liegt spätestens am Ende der zweiten Reifungsteilung fest, wenn auch noch verteilt in den männlichen und weiblichen Vorkernen (Pronuclei). Darauf folgen die Vorbereitungen auf die erste Mitose, welche auch eine räumliche Verlagerung der Chromosomen in die Metaphaseplatte beinhalten. Es ist deshalb nur eine Frage der Definition, ob man schon von diesem Moment des Zusammentreffens von väterlichem und mütterlichem Genom von einer Zygote sprechen will oder erst dann, wenn die Chromosomen nach der S-Phase36 in der gemeinsamen Metaphaseplatte angeordnet sind. Am Informationsgehalt des Genoms ändert sich nichts mehr. Von der Entstehung der Zygote an ist der Embryo eine funktionelle, sich selbst organisierende und differenzierende Einheit, ein dynamisches und autonomes System. Als ein sich selbst organisierendes dynamisches System erfüllt er alle Bedingungen, die man an ein Individuum im biologischen Sinne … stellen kann.“37 Vor diesem Hintergrund ist – spätestens – ab der Kernverschmelzung in seiner genetischen Identität feststehendes menschliches Leben gegeben,38 auf das sich der Schutz des Art 2 Abs. 2 Satz 1 GG erstreckt.39 36 In der Synthese- oder S-Phase, die ungefähr sechs Stunden dauert, verdoppeln der männliche und der weibliche Vorkern ihre Chromosomensätze, nähern sich einander und lösen ihre Kernmembranen auf. 37 So zusammenfassend die Studie von Ruth Bodden-Heidrich/Thomas Cremer/Karl Decker/Hermann Hepp/Willi Jäger/Günter Rager/Wolfgang Wickler, Beginn und Entwicklung des Menschen: Biologisch-medizinische Grundlagen und ärztlich-klinische Aspekte, in: Günter Rager (Hg.), Beginn, Personalität und Würde des Menschen, 2. Aufl. 1998, S. 15 ff., 77; ferner ebd., S. 67. – Ebd., S. 78 f., wird weiter hervorgehoben: „Die Selbststeuerung des Embryos beginnt nicht erst im Achtzellstadium, in welchem die Aktivierung der embryonalen DNA zur Transkription beobachtet wird“. 38 In diesem Sinne formuliert auch § 8 Abs. 1, 1. HS ESchG: „Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an“. 39 Mit der Formulierung „spätestens“ wird auf den soeben skizzierten Umstand verwiesen, dass die genetische Identität und Einzigartigkeit bereits im Vorkernstadium determiniert ist; in diesem Sinne den Begriff des menschlichen Lebens jetzt auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive schon vor der Kernverschmelzung bestimmend: Ralf Röger, Verfassungsrechtliche Probleme medizinischer Einflußnahme auf das ungeborene menschliche Leben im Lichte des technischen Fortschritts, Habilitationsschrift Köln 1999, S. 122 ff.; vgl. auch Roland Graf, Ethik in der medizinischen Forschung rund um den Beginn des menschlichen Lebens, 1999, S. 79 f.

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Zu diesem Zeitpunkt wird „ein Prozeß kontinuierlicher biologischer Entwicklung in Gang gesetzt, in dem das von Anfang an in seiner konkreten Individualität vorhandene menschliche Leben durch ständige äußerliche Modifikation allmählich menschliche Gestalt gewinnt“40. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass die embryonalen Zellen in diesem frühen Stadium vor der Einnistung noch totipotent sind, also sich aus jeder dieser Zellen bei Abspaltung ein eigener vollständiger Embryo entwickeln kann – ein Vorgang, der sich bei der Heranbildung eineiiger Zwillinge auf natürliche Weise vollzieht. Zwar kann vor der Nidation tatsächlich noch nicht ausgeschlossen werden, dass im Ergebnis mehrere Embryonen entstehen; wer dieses aber zum Anlass nimmt, die Individualität des durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entstandenen Embryos zu leugnen, differenziert nicht ausreichend zwischen Individualität und Singularität.41 Die Singularität des entstandenen Embryos ist in der Phase der Totipotenz noch offen, da – auch wenn dies die Ausnahme darstellt – theoretisch durch Abtrennung totipotenter Zellen Mehrlinge entstehen können. Die genetische Individualität des einen existierenden Embryos oder auch der theoretisch noch entstehenden weiteren Embryonen ist dagegen – spätestens – durch die Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle festgelegt: Die elterlichen Chromosomen haben sich anteilig zu einem neuen und einzigartigen Code zusammengefügt und legen damit verbindlich und unabänderlich die Erbsubstanz des neuen Lebewesens fest. Auch wenn sich dieses Lebewesen seinerseits noch vermehrt und zu einem Mehrling entwickeln sollte, so würde dies nichts an der genetischen Identität der Mehrlinge ändern; dies aber ist der entscheidende Grund dafür, dass sich eineiige Zwillinge eben tatsächlich „wie ein Ei dem anderen“ gleichen. Die in der Totipotenzphase noch unsichere Singularität des Embryos ändert also nichts an seiner Individualität und Einzigartigkeit.42 Diese Deutung ist schließlich auch in vollem Maße kompatibel mit den beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Abtreibungsproblematik, wo ebenfalls entscheidend darauf abgestellt wird, dass es sich um individuelles, in seiner genetischen Identität und Einmaligkeit bereits festgelegtes Leben handelt, das im Prozess des Wachsens und sich „Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt“43. Deshalb kann auch „zwischen einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens … kein Unterschied gemacht werden“44.

40 So Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 30), § 128 Rz. 10. 41 Röger, Verfassungsrechtliche Probleme (Fn. 39), S. 105. 42 So zutr. Röger, Verfassungsrechtliche Probleme (Fn. 39), S. 105 f. 43 Siehe BVerfGE 88, 203, 251 f., ferner BVerfGE 39, 1, 37. – Deshalb wird in der Literatur zu Recht immer wieder hervorgehoben, dass die Begründung der beiden Abtreibungs-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts deutlich macht, dass „bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle menschliches Leben gegeben“ ist; so bspw. Winfried Brohm, Forum: Humanbiotechnik, Eigentum und Menschenwürde, JuS 1998, S. 197 ff., 200. 44 BVerfGE 39, 1, 37; ähnlich BVerfGE 88, 203, 267 im Blick auf die Menschenwürde, die „jegliche Differenzierungen der Schutzverpflichtung im Blick auf Alter und Entwicklungsstand dieses Lebens“ verbiete.

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Namentlich ein an „Hirnleben“ anknüpfender Versuch zur Bestimmung des grundrechtlichen Schutzgutes wäre eine unzulässige qualitative Wertung und begriffsreduktionistische Verkürzung der Grundrechtsgarantie.45 Nur ergänzend sei im Übrigen darauf verwiesen, dass auch die Gleichsetzung des „Hirntodes“ mit dem Ende des menschlichen Lebens aus verfassungsrechtlicher Sicht inakzeptabel ist,46 abgesehen hiervon aber die Analogisierung von Hirntod und Hirnleben durchgreifenden sachlichen Bedenken ausgesetzt ist.47 Der Embryo in vitro ist also – so das Zwischenfazit – „Schutzobjekt“ des Lebensgrundrechts48 und zugleich, so ist hinzuzufügen, dessen Träger. 2. Zur Maßstabsfunktion der Menschenwürdegarantie Zum Schutz dieses Lebens darf der Gesetzgeber grundsätzlich auch die Grundrechtspositionen jener beschränken, die sich „biowissenschaftlich entfalten“ wollen, sei es in Ausübung ihrer Berufs- oder Wissenschaftsfreiheit, sei es unter Berufung auf ihre Fortpflanzungsfreiheit („reproduktive Autonomie“). Die Notwendigkeit eines legislatorischen Ausgleichs widerstreitender, jeweils grundrechtlich fundierter Interessen eröffnet allerdings dem Gesetzgeber auch einen gewissen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum. Dieser wäre aber auf Null reduziert, wenn sich eine bestimmte reprogenetische Intervention als Verstoß gegen die Würde des Menschen erwiese. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet diese nämlich als „unantastbar“ und entzieht sie damit der ansonsten gültigen grundrechtlichen Abwägungsargumentation. Dort, wo sie greift, wirkt sie absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs.49 Die besondere Normstruktur des Art. 1 Abs. 1 GG – nämlich insbesondere ihre unbestimmte Weite,

45 Zutreffend Christian Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), Das Bonner Grundgesetz, Art. 2 Rz. 176: „Würde man den Begriff des Lebens, das durch Art. 2 Abs. 2 geschützt wird, anreichern mit Bewußtseinsphänomenen oder mit einem bestimmten körperlichen Entwicklungsstand, wäre der Manipulation des Grundrechts auf Leben Tür und Tor geöffnet“ (unter Bezugnahme auf Günter Dürig, in: Maunz/ Dürig, Art. 2 Abs. 2 Rz. 9 ff.). Und weiter: „Nur die rein biologisch-physische Definition des menschlichen Lebens erfüllt demnach den Zweck der Garantie des Rechts auf Leben…“. 46 Dazu vgl. Wolfram Höfling, Um Leben und Tod, JZ 1995, S. 26 ff.; Stephan Rixen, Lebensschutz am Lebensende. Das Grundrecht auf Leben und die Hirntodkonzeption, 1999, S. 247 ff.; Wolfram Höfling/Stephan Rixen, Verfassungsfragen der Transplantationsmedizin, 1996, S. 48 ff. – Die verfassungsrechtliche Kritik an der Hirntod­ konzeption ist inzwischen von etlichen Autoren aufgegriffen worden und kann für die Verfassungsrechtslehre inzwischen wohl als herrschend bezeichnet werden. 47 Dazu nur Carmen Kaminsky, Embryonen, Ethik und Verantwortung. Eine kritische Analyse der Statusdiskussion als Problemlösungsansatz angewandter Ethik, 1998, S. 159 ff.; ferner Nikolaus Knoepffler, Forschung an menschlichen Embryonen, 1999, S. 115, der im übrigen a.a.O., S. 116 hervorhebt, „daß ein menschlicher Embryo im Normalfall ab der Verschmelzung der Vorkerne von Ei- und Samenzelle eine aktive Potentialität hat“. 48 So auch jüngst Josef Isensee, Die alten Grundrechte und die bioethische Revolution, in: FS Hollerbach, 2001, S. 243 ff., 252 f. 49 So BVerfGE 75, 369, 380.

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verknüpft mit der Unantastbarkeitsklausel50 – gebietet aber eine zurückhaltende Deutung. Ihre „Eigengeartetheit“ gegenüber den anderen Grundrechten spricht dementsprechend für ein enges Tatbestandsverständnis. Andererseits aber knüpft der Normtext des Art. 1 Abs. 1 GG allein an das Menschsein als Bedingung des Würdeschutzes an. Und deshalb trifft die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts durchaus zu: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Würde zu.“51 Diese These aber scheint dann doch das Ende jeder nicht-therapeutischen Intervention am Embryo zu sein, wenn diese Intervention zur Lebensbeendigung und damit zur Beseitigung der „vitalen Basis“ des Würdesubjekts führt. Indes sind die Art. 1 Abs. 1 GG und 2 Abs. 2 GG nicht als Tandem wechselseitig sich ergänzender und verstärkender Grundrechtspositionen konzipiert.52 Einer solchen Deutung steht schon Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG entgegen, der auf gesetzlicher Grundlage Eingriffe in das Leben zulässt. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht auch betont, der Schutz des Lebens sei „nicht in dem Sinn absolut geboten, daß dieses gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genösse“53. Das Leben eines Menschen darf deshalb nur nicht „menschenunwürdig“ angetastet werden.54 Wegen dieser verfassungssystematischen (und interpretationsmethodischen) Zusammenhänge gilt grundsätzlich ein Maßstabsvorrang des Lebensgrundrechts. Die Menschenwürdegarantie entfaltet ihre Schutzwirkung daneben nur in solchen Konstellationen, in denen die Verletzungshandlung sich durch ein ganz besonderes Maß an Erniedrigung, Diskriminierung u.ä. auszeichnet oder sich als prinzipielle Leugnung des Eigenwertes erweist, der jedem Mitglied der menschlichen Gattung von Verfassungs wegen zukommt. Damit wirkt Art. 1 Abs. 1 GG als eine Art letzte Verteidigungslinie gegen Tabuverletzungen.55

IV. Die Reprogenetik auf dem Prüfstand des Verfassungsrechts Nach Maßgabe der auf diese Weise skizzierten verfassungsrechtlichen Vorgaben sollen nunmehr die beiden zum Gegenstand des Vortrags gewählten Referenzgebiete, die PID und die Forschung an embryonalen Stammzellen, einer näheren Betrachtung unterzogen werden.

50 Näher hierzu Wolfram Höfling, Die Unantastbarkeit der Menschenwürde – Annäherungen an einen schwierigen Verfassungsrechtssatz, JuS 1995, S. 858 ff. 51 BVerfGE 88, 203, 252; 39, 1, 41. 52 Höfling, Abtreibungsproblematik (Fn. 30), S. 125 f.; der Konzeption zustimmend etwa BSGE 86, 174, 180. 53 BVerfGE 88, 203, 253 f. 54 Klaus Stern, Menschenwürde als Wurzel der Menschen- und Grundrechte, in: FS für Scupin zum 80. Geburtstag, 1983, S. 627 ff., 633: „Das Leben darf nur nicht menschenunwürdig angetastet werden“. 55 Siehe auch Wolfram Höfling, in: Sachs (Hg.), GG, 2. Aufl. 1999, Art. 1 Rz. 17.

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1. Verfassungsfragen der PID Die Pränataldiagnostik, größter und zugleich umstrittenster Anwendungs­ bereich genetischer Diagnostik, ist seit langem als Teil der Schwangerschaftsvorsorge etabliert. Seit einem Vierteljahrhundert ist die im engeren Sinne ­genetische Diagnostik auf Chromosomenanomalien – wie Trisomie 21 (Down-­ Syndrom [Mongoloismus]) – Bestandteil des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung. Schubweise weitet sie sich aus hin zu einer routinemäßigen Reihenuntersuchung. In vielen Fällen bedeuten positive Testergebnisse den Abbruch der Schwangerschaft.56 Seit gut einem Jahrzehnt wird nunmehr ein Testverfahren diskutiert und in zahlreichen Ländern auch praktiziert, das einen Ausweg aus der tragischen Konfliktkonstellation des Schwangerschaftsabbruchs zu weisen scheint: die Präimplantationsdiagnostik. Hierbei wird – mit Hilfe zyto- und molekulargenetischer Methoden – im Rahmen einer künstlichen Befruchtung eine Untersuchung zur Feststellung von genetischen Abweichungen vorgenommen. Vom Ergebnis dieser Diagnose wird dann die Entscheidung über die Verpflanzung (den Transfer des Embryos in die Gebärmutter) abhängig gemacht. a) Die PID und das Embryonenschutzgesetz Schon im Blick auf die einfachgesetzliche Rechtslage ist inzwischen die Frage der Zulässigkeit der PID hochumstritten. Eine Antwort hat zunächst grob zu unterscheiden zwischen dem Mittel und dem Zweck. Genauer: Einmal geht es um die rechtlichen Probleme, welche die PID im Blick auf das untersuchte und damit zugleich verbrauchte Zellmaterial aufwirft, zum anderen um die Fragen, die durch die diagnoseabhängigen Folgeentscheidungen – Implantation oder Nichtimplantation des Embryos – aufgeworfen werden. Aus normativer Perspektive relativ einfach zu beantworten sind die Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem Diagnoseverfahren. Handelt es sich bei den untersuchten Zellen um so genannte totipotente Zellen, so steht dem diagnostischen Verbrauch das geltende Embryonenschutzgesetz (ESchG) in doppelter Weise entgegen: – Zum einen verstößt eine solche PID gegen § 2 Abs. 1 ESchG, wonach unter anderem bestraft wird, wer einen extrakorporal erzeugten Embryo zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck verwendet. Als Embryo im Sinne dieser Vorschrift gilt nach der Legaldefinition des § 8 Abs. 1 2. HS ESchG nämlich auch „jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle“. Ihre 56 Zum Problemkreis siehe die Beiträge im Ergänzungsheft 1 zu EthikMed 1999; Regine Kollek/Karsten Held, Voraussetzungen und Implikationen der Präimplantationsdiagnostik, 1997; Dietmar Mieth/Kaja Ruppel, Ethische Probleme der Präimplantationsdiagnostik, in: Marcus Düwell/Dietmar Mieth (Hg.), Ethik in der Humangenetik, 2. (unveränderte) Aufl. 2000, S. 358 ff.; Günther Rager, Präimplantationsdiagnostik und der Status des Embryo, ZME 46 (2000), S. 81 ff., Ralf Röger, Verfassungsrechtliche Grenzen der Präimplantationsdiagnostik, in: Schriftenreihe der Juristenvereinigung Lebensrecht, Heft 17 (2001), S. 55 ff.; Elisabeth Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, 2001.

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zwangsläufig zum Absterben führende genetische Untersuchung wird somit vom Gesetz als unzulässige verbrauchende Embryonenforschung qualifiziert. – Zum zweiten ist die PID an totipotenten Zellen durch § 6 Abs. 1 ESchG unter Strafe gestellt. Das hierin statuierte Klonungsverbot bedroht mit Strafe, wer künstlich bewirkt, dass ein menschlicher Embryo mit der gleichen Erb­ information wie ein anderer Embryo entsteht. Wegen der einfachgesetzlichen Gleichstellung von Embryo und einem Embryo entnommener totipotenter Zelle erfolgt eine solche Klonierung aber gerade bei der Abspaltung aus dem Zellverband. So unbestreitbar und unbestritten die PID an totipotenten Zellen durch das ESchG untersagt ist, wird die Methode der Untersuchung so genannter pluripotenter Zellen im Blick auf das verbrauchte Zellmaterial nicht erfasst.57 Allerdings liegt das eigentliche Problem in der hinreichend sicheren Bestimmung der Grenze von Totipotenz und Pluripotenz.58 Dem ist an dieser Stelle nicht näher nachzugehen. Allerdings sind die staatlichen Organe – vom Gesetzgeber bis hin zu den Gerichten – wegen des besonderen rechtlichen Status totipotenter Zellen verpflichtet, sich in Konfliktkonstellationen genauer mit der Frage auseinanderzusetzen. Eine (scheinbar?) herrschende Meinung, wonach mit dem 8-Zell-Stadium die Totipotenz der Zellen endet, sieht sich inzwischen mit ernsthaften Einwänden konfrontiert.59 Schwieriger als die „Materialfrage“ ist indes die verbleibende Frage zu beantworten, ob ganz generell die gleichsam probeweise Erzeugung von Embryonen mit der Absicht, sie erst nach einem negativen Diagnosebefund zu implantieren, gegen das in § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG verankerte Verbot missbräuchlicher Anwendung von Fortpflanzungstechniken verstößt. Dies ist zunächst so gedeutet worden, wird aber insbesondere seit den Diskussionen zum so genannten Lübecker Fall teilweise einer Neubewertung unterzogen. So ist beispielsweise die Bioethikkommission des Landes Rheinland-Pfalz vor einiger Zeit zu dem Ergebnis gekommen, die PID an pluripotenten Zellen sei – einfachgesetzlich – zulässig.60 Eine zentral auf den generellen Schutzzweck des Embryonenschutzgesetzes abstellende Position hält dem allerdings entgegen, das Gesetz beabsichtige den Schutz jedes einzelnen Embryos. Es reiche deshalb nicht aus, dass die Befruchtung mit irgendeinem gesunden selektierten Embryo ge57 Vgl. hierzu auch Röger, Verfassungsrechtliche Probleme (Fn. 39), S. 160 ff. 58 Wobei hier ausgeklammert ist das experimentelle Phänomen der „Totipotenz“ eines Zellkerns; siehe auch Henning M. Beier, Zum Status des menschlichen Embryos in vitro und in vivo vor der Implantation, in: Bundesministerium für Gesundheit (Hg.), Fortpflanzungsmedizin in Deutschland, 2001, S. 52 ff., 57 f. 59 Siehe hierzu insbesondere die Stellungnahme von H.-W. Denker für die Sachverständigenanhörung zum Thema „Präimplantationsdiagnostik“ am 13. November 2000, Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, Arbeitsunterlage 14/26, S. 9 f.; siehe auch Jens Reich, Grenzziehungen der forschenden Biomedizin, in: Bundesministerium für Gesundheit (Hg.), Fortpflanzungsmedizin in Deutschland, 2001, S. 27 ff., 30 f.; ferner Kollek/Held, Präimplantationsdiagnostik (Fn. 56), S. 238. 60 Siehe Präimplantationsdiagnostik. Thesen zu den medizinischen, rechtlichen und ethischen Problemstellungen. Bericht der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz vom 20. Juni 1999, Manuskript, S. 17 (These II, 10).

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wünscht werde, wenn gleichzeitig das Leben einzelner Embryonen unter Selektionsvorbehalt stehe.61 Eine die Entstehungsgeschichte und die Teleologie des § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG betonende Gegenauffassung kommt indes zu einem anderen Ergebnis. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG wird bestraft, wer es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt. Die Norm, so lässt sich zeigen, zielt auf zwei Fallgestaltungen: einmal die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken, andererseits die Eizellspende. Beide Konstellationen würden jedoch – so die Argumentation – durch die PID an pluripotenten Zellen nicht erfüllt.62 Die zuletzt genannte Position wird noch durch die Überlegung untermauert, dass das Embryonenschutzgesetz als Strafgesetz konzipiert ist, das wegen des strafrechtsspezifischen Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG einer „erweiternden Auslegung“63 nicht zugänglich ist. Setzt sich diese neuere Auffassung64 durch, so droht allerdings der vom Embryonenschutzgesetz zweifelsohne intendierte Lebensschutz zum Teil leerzulaufen.65 Bereits diese Unsicherheit über das geltende Recht lässt ein legislatives Tätigwerden des Gesetzgebers als geboten erscheinen.66 Die eindeutige „Grundrechtswesentlichkeit“ der PID verbietet es, die Entscheidung über Zulässigkeit und Grenzen präimplantationsdiagnostischer Intervention etwa dem ärztlichen Standesrecht, gar der Richtlinientätigkeit der Bundesärztekammer zu überlassen.67 Damit stellt sich die Frage nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben für den parlamentarischen Gesetzgeber.68 61 So bspw. Rainer Beckmann, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, MedR 2001, S. 169 ff., 170. 62 Siehe zu dieser Argumentation etwa Giwer, Rechtsfragen der Präimplantations­ diagnostik (Fn. 56), S. 35 ff.; jüngst auch Margot von Renesse, Zur Vereinbarkeit der Präimplantationsdiagnostik mit dem Embryonenschutzgesetz, Zeitschrift für Lebensrecht 2001, S. 10 ff.; dagegen Rainer Beckmann, Zur Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik nach dem Embryonenschutzgesetz, Zeitschrift für Lebensrecht 2001, S. 12 ff. 63 Siehe BVerfGE 92, 1, 14 ff. 64 Jüngst auch Hanns Prütting, Die Präimplantationsdiagnostik – ein Umbruch im Familienrecht?, in: FS Andreas Wacke, 2001, S. 375 ff., 378 ff. 65 Dazu auch Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik (Fn. 56), S. 48. 66 Dies gilt um so mehr, als der Richtlinienentwurf der Bundesärztekammer ebenfalls davon ausgeht, eine PID sei nach Abschluss des Acht-Zell-Stadiums nicht verboten; darauf verweist im Blick auf die Regulierungsbedürftigkeit auch Elke H. Mildenberger, Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ am 13. November 2000 – Präimplantationsdiagnostik, Arbeitsunterlage 14/37, S. 43 (These 5). 67 Ebenso etwa Friedhelm Hufen, Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der Präimplantationsdiagnostik, Thesen zur öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ am 13. November 2000, Arbeitsunterlage 14/35, Ziff. 11; Ralf Röger, Verfassungsrechtliche Fragen in der Präimplantationsdiagnostik, Stellungnahme zur Vorbereitung der nichtöffentlichen Expertenanhörung am 12. Februar 2001 vor der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, Manuskript, S. 1. 68 Im Folgenden geht es nur um die „nicht-therapeutische PID“.

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b) Regelungsoptionen aa) Zur Zulässigkeit eines Verbots der PID Entgegen einigen neueren Stellungnahmen ist ein prinzipielles Verbot der PID eine verfassungsrechtlich legitime69 legislative Konzeption. Ein solches Verbot ist zwar in mehrfacher Hinsicht als Grundrechtseingriff zu qualifizieren: Von einem Verbot der PID sind sowohl die Frau bzw. die (potentiellen) Eltern als auch Ärzte (bzw. [andere] Wissenschaftler) betroffen. Doch können diese Grundrechtsbeeinträchtigungen durch hochrangige verfassungsrechtliche Gegengründe und nach Maßgabe der grundrechtsdogmatischen Abwägungslehre gerechtfertigt werden. Dass auch der frühe Embryo den Schutz des Lebensgrundrechts genießt, ist bereits dargelegt worden. Zwar steht das Grundrecht auf Leben nach Maßgabe des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt; die Verfassungsbestimmung bringt damit zum Ausdruck, dass Begrenzungen des grundrechtlichen Schutzgutes in der abwehrrechtlichen Dimension, aber auch eine gewisse Zurücknahme des Schutzes mit Blick auf die Schutzdimension grundsätzlich möglich sind. Doch ist andererseits zu berücksichtigen, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein „Alles-oder-nichts-Grundrecht“ ist.70 Oder in den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Um dabei das Untermaßverbot nicht zu verletzen, muß (der Gesetzgeber) allerdings in Rechnung stellen, daß die miteinander kollidierenden Rechtsgüter hier nicht zu einem verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden können, weil auf der Seite des ungeborenen Lebens in jedem Fall nicht ein mehr oder weniger an Rechten, die Hinnahme von Nachteilen oder Einschränkungen, sondern alles, nämlich das Leben selbst, in Frage steht.“71 Schon dies besondere „Abwägungsgewicht“ eröffnet dem Gesetzgeber weitreichende Eingriffsmöglichkeiten zu Lasten von (potentiellen) Eltern, Ärzten und Wissenschaftlern. Darüber hinaus kann der Gesetzgeber zusätzlich die Verfassungsnorm des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in das grundrechtsdogmatische (hier: todernste) „Spiel von Grund und Gegengrund“ (Alexy) einstellen. Zwar ist noch wenig geklärt, welche normative Direktionskraft das Verbot der Benachteiligung Behinderter gerade im Kontext (pränataler) biomedizinischer Intervention entfaltet. Aber auch dann, wenn der Gesetzgeber sich nicht die Position, in der Tötung menschlichen Lebens wegen einer zuvor festgestellten genetischen „Abweichung“ liege „die wohl schwerste vorstellbare ‚Benachteiligung‘ im Sinne der Vorschrift“ des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG,72 sich vielmehr eine zurückhaltendere, eher prozedurale Deutung der Verfassungsbestimmung zu eigen macht:73 Ver69 Ob auch gebotene, dazu sogleich. 70 So Steiner, Schutz des Lebens (Fn. 30), S. 14; siehe auch Höfling/Rixen, Verfassungsfragen der Transplantationsmedizin (Fn. 46), S. 91. 71 So im Blick auf die Abtreibungsproblematik BVerfGE 88, 203, 255. 72 So Röger, Verfassungsrechtliche Grenzen der Präimplantationsdiagnostik (Fn. 56), S. 55 ff., 68. 73 Völlig ablehnend gegenüber einer Entstehung des Geltungsanspruchs der Norm auf pränatale Konflikte: Lerke Osterloh, in: Sachs (Hg.), GG, 2. Aufl. 1999, Art. 3 Rz. 308 mit Fn. 663.

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fassungsrechtlich nicht zu beanstanden wäre die „Aktivierung“ der Grundrechtsnorm im Sinne eines vor allem objektiv-rechtlichen Schutzkonzepts, das durch das Verbot der PID (auch mittelbaren) Beeinträchtigungen des gesellschaftlichen Status Behinderter entgegenzuwirken versucht.74 Vereinzelt wird im vorliegenden Zusammenhang auch noch der Gedanke eines Schutzes des Kindes vor sich selbst ins Spiel gebracht. So sind nach Hufen Konstellationen denkbar, „in denen gerade die PID den Schutz des Embryos und späteren Kindes vor schwersten körperlichen Leiden während einer kurzen ­Lebensphase ermöglicht, der Embryo selbst also durch ein völliges Verbot zumindest mittelbar betroffen wäre“75. Indes widerspricht ein solcher Ansatz fundamental verfassungsrechtlichen Grundkategorien: Grundrechtsnormen ­ schützen bestimmte Schutzgüter und gewährleisten dazu flankierend Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche. Sie gleichsam in einen Anspruch auf Beseitigung des garantierten Schutzgutes umzuinterpretieren, sprengt den grundrechtlichen Ordnungsrahmen.76

74 Zu diesem Gehalt der Vorschrift siehe auch Wolfram Höfling, Das „Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin“ und die Grund- und Menschenrechte, in: Michael Wunder/Therese Neuer-Miebach (Hg.), Bio-Ethik und die Zukunft der Medizin, 1989, S. 72 ff., 76; siehe auch dens., Menschen mit Behinderungen, das „Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin“ und die Grund- und Menschenrechte, KritV 1998, S. 99 ff., 103 f. Darüber hinaus ist folgendes zu bedenken: Durch die Technik der In-vitro-Fertilisation steht eine vergleichsweise große Zahl von Embryonen grundsätzlich zur Präimplantationsdiagnostik zur Verfügung – zumindest hochgerechnet über einen längeren Zeitraum, d. h. über mehrere Zyklen hinweg. Daher können unter mehreren Embryonen diejenigen Embryonen, die am geeignetsten erscheinen, ausgewählt werden. Dies eröffnet Selektionsmöglichkeiten bislang nicht dagewesenen Ausmaßes. Hierdurch dürfte auch die Bedeutung zunehmen, die in ihren Auswirkungen weniger gravierenden genetischen „Abnormalitäten“ zugemessen wird. Angesichts der Verfügbarkeit qualitativ (scheinbar) „besserer“ Embryonen ist in der Tat die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass die Existenz solcher geringfügiger Abweichungen (wie z. B. der Heterozygotenstatus für rezessive Merkmale) unter Umständen zum Ausschlusskriterium wird; hierauf hat insbesondere Jacques Testart, The new genetic and medicalized reproduction, Cambridge Quarterly of Health Care Ethics 4 (1995), S. 304 ff. hingewiesen; siehe ferner auch Elisabeth Hildt, Präimplantationsdiagnostik – vom Angebot zur Nachfrage?, in: Nikolaus Knoepffler/Anja Haniel (Hg.), Menschenwürde und medizinethische Konfliktfälle, 2000, S. 67 ff., 76 f. 75 So Hufen, Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der Präimplantationsdiagnostik (Fn. 67), Ziff. 8. Vgl. auch Klaus Steigleder, Müssen wir, dürfen wir schwere (nicht-therapierbare) genetisch bedingte Krankheiten vermeiden?, in: Marcus Düwell/Dietmar Mieth (Hg.), Ethik in der Humangenetik, 2. Aufl. 2000, S. 91 ff., 99 ff., der die Frage erörtert, ob gegenüber „möglichen Kindern die Pflicht (besteht), keine Nachkommen zu zeugen, wenn man weiß, daß erhöhte Risiken bestehen, schwere genetisch bedingte Krankheiten weiterzugeben“. 76 Kritisch auch Herdegen, Stellungnahme zu verfassungsrechtlichen Fragen der Präimplantationsdiagnostik, a.a.O., S. 4: „Ein subjektives Recht des Embryos vor einem Heranwachsen zu einem mit schweren Krankheiten (oder Behinderungen) belasteten Individuum scheitert schon daran, daß ein solcher Schutz die Existenz des Individuums transzendieren würde, also auf einen Schutz vor der eigenen Existenz gerichtet wäre“; allerdings erwägt Herdegen, a.a.O., S. 4L, ob der Staat nicht der Frau bzw. den Eltern Entscheidungsspielräume einräumen müsse, ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG ‚treuhänderisch‘ bzw. ‚fremdnütziger Abwägungen‘ entsprechende Dispositionen zu Lasten des Embryos vorzunehmen.

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bb) Exkurs: „Wertungswidersprüche“ mit dem geltenden Abtreibungsrecht? Ein inzwischen gängiger Argumentationstopos, der von Befürwortern einer PID ins Feld geführt wird, verweist immer wieder auf Recht und Praxis der Abtreibung in Deutschland. Hinzu komme die völlige Straflosigkeit nidationshemmender Interventionen (Spirale).77 Solche und ähnliche Argumentationen gehen indes fehl,78 und zwar aus mehreren Gründen: – Aus (verfassungs)rechtlicher Perspektive erschließt sich zunächst schon nicht, was denn die „Rechtsfolge“ der behaupteten Ungleichbehandlung sein soll. Der Gedanke der Folgerichtigkeit oder Systemgerechtigkeit79 verweist zum einen schon nicht auf ein eigenständiges Verfassungsprinzip80 und gibt zum anderen auch in Gestalt des bloßen Willkürverbotes gemäß Art. 3 Abs. 1 GG nicht die Richtung einer möglichen Angleichung vor. Zumal die ethisch wie rechtlich hochproblematische Praxis der Pränataldiagnostik und (Spät-)Abtreibung aus embryopathischen Gründen im Gewände der medizinischen Indikation sicherlich nicht als allgemeingültiges Modell umfassender reprogenetischer Selektion dienen könnte.81 Dies lässt sich auf die verfassungsrechtliche Argumentationsebene jedenfalls insoweit übertragen, als der Einwand eines (angeblichen) Wertungswiderspruchs den Gesetzgeber jedenfalls nicht zur „Freigabe“ der Präimplantationsdiagnostik zwingt. – Abgesehen hiervon erweist sich jedoch auch die Behauptung eines Wertungswiderspruchs schon bei flüchtigem Blick auf die vergleichbaren Sachverhalte als Fehleinschätzung: Während sich die Eltern im Falle eines positiven pränatalen Befundes während einer Schwangerschaft oftmals noch mit der Frage befassen, ob sie die Schwangerschaft wirklich abbrechen wollen, ist diese Entscheidung der Präimplantationsdiagnostik in der Regel bereits vor der Befruchtung in vitro gefallen.82 Auch wenn die schwierige Situation der Frauen bzw. Eltern in der PID-Konstellation hier keineswegs relativiert werden soll, erzeugt doch die Technizität des Laborvorgangs eine andere Distanz als die Situation in der Schwangerschaft. Auf die exzeptionelle Konfliktkonstellation der Schwangerschaft, die sich der Parallelisierung mit allen anderen Situ77 Siehe dazu etwa Beier, Status des menschlichen Embryos (Fn. 58), S. 52 ff., 59. 78 Siehe dazu auch Röger, Verfassungsrechtliche Grenzen der Präimplantationsdiagnostik (Fn. 56), S. 55 ff., 70 ff. 79 Dazu etwa Christoph Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungsproblem, 1976; Franz-Josef Peine, Systemgerechtigkeit, 1984; aus der Rechtsprechung vgl. etwa BVerfGE 36, 383, 393 f.; 81, 156, 207; auch 84, 239, 274, 283. 80 Siehe nur Peine, Systemgerechtigkeit (Fn. 79), S. 180 ff. 81 Zu Recht hat aus ethischer Perspektive Dietmar Mieth darauf hingewiesen, dass das Argument, „weil etwas gesellschaftlich akzeptiert wird, das weiterhin ethisch problematisch bleibt, … etwas Strukturanaloges auch akzeptiert werden (muss), das ebenfalls problematisch ist, … kein ethisches Argument (ist). Die Logik, daß, wer A sagt, auch B sagen muß, (ist) ethisch gesehen nur stimmig, wenn A vorbehaltlos akzeptabel ist. Sonst verliert man die Vorbehalte gegenüber A aus dem Blick“; so Dietmar Mieth, Präimplantationsdiagnostik im gesellschaftlichen Kontext – eine sozialethische Perspektive, EthikMed 1999, Suppl. 1, S. 77 ff., 83. 82 Siehe auch Mieth/Ruppel, Ethische Probleme der Präimplantationsdiagnostik (Fn. 56), S. 358 ff., 375 f.

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ationen entzieht, hat auch das Bundesverfassungsgericht in aller Deutlichkeit in seiner zweiten Abtreibungsentscheidung hingewiesen: Das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs erschöpfe sich nämlich „angesichts der einzigartigen Verbindung von Mutter und Kind nicht in einer Pflicht der Frau …, den Rechtskreis eines anderen nicht zu verletzen, sondern (enthalte) zugleich eine intensive, die Frau existenziell betreffende Pflicht zum Austragen und Gebären des Kindes …“83. – Sodann: Bei der normalen Pränataldiagnostik und anschließendem Schwangerschaftsabbruch geht es „nur“ um eine negative Auswahl von Embryonen bzw. Feten, während die PID zusätzlich die Möglichkeit „positiver“ Selektion unter mehreren Embryonen nach „Qualitätsmerkmalen“ ermöglicht. Nicht nur das „Da-Sein“, sondern das „So-Sein“ (Mieth) steht zur Disposition. – Schließlich: Im Rahmen der pränatalen Diagnostik reagieren Ärzte auf einen vorfindlichen Zustand und auf eine Notlage; im Rahmen einer PID agieren sie. Ohne das medizinische Vorverhalten gäbe es keinen Entscheidungskonflikt. Welche Rückwirkungen dies auf die arztethischen Standards haben wird, ist bislang noch kaum erörtert.84 cc) Verfassungsrechtlich zwingendes Verbot der PID? Mit den vorstehenden Ausführungen ist allerdings noch nicht die weitergehende Frage beantwortet, ob nicht der Gesetzgeber sogar von Verfassungs wegen verpflichtet ist, die PID strikt zu untersagen. In dieser Fragestellung manifestiert sich eine für die Grundrechtsdogmatik eher ungewöhnliche Perspektive: Ist es denkbar, dass die Verfassung es dem Gesetzgeber gebietet, bestimmte Freiheitsausübungen – hier: die oben skizzierten Positionen von Eltern und Ärzten im Zusammenhang mit der PID – zu verbieten? (1) PID und Menschenwürdeschutz Dies ist in der Tat denkbar, jedenfalls dann, wenn das Verbot zum Schutze der Menschenwürde der betroffenen Embryonen85 erforderlich ist. Der zum Handeln aufgerufene Gesetzgeber hat deshalb im Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG zu prüfen, ob eine präimplantationsdiagnostisch gestützte Selektion von Embryonen eine den Übergriff auf das Lebensgrundrecht noch in qualitativ besonderer Weise überschreitende Tabuverletzung darstellt oder ob dies – jedenfalls bei einer auf eng begrenzte Konstellationen zugeschnittenen gesetzlichen Regelung – verneint werden kann.

83 BVerfGE 88, 203, 256 unter Bezugnahme auf Margot von Renesse, §§ 218 f. StGB – eine unvollkommene Antwort auf ein unlösbares Problem, ZRP 1991, S. 321 ff., 322 f. 84 Siehe auch Kollek/Held, Präimplantationsdiagnostik (Fn. 56), S. 232. 85 Dazu, und dass auch das frühe menschliche Leben der Schutzgarantie des Art. 1 Abs. 1 GG unterfällt, siehe bereits oben sub II.

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Dass einer solchen Entscheidung notwendig ein gewisses Maß an Dezisionismus anhaftet, liegt auf der Hand. Vor diesem Hintergrund erscheint eine gesetzgeberische Bewertung, die nicht in jeder präimplantationsdiagnostischen Intervention eine Menschenwürdeverletzung sieht, aus einer – hier hypothetisch angenommen – verfassungsgerichtlichen Kontrollperspektive nicht unvertretbar.86 Nicht zuletzt der so genannte Lübecker Fall zeigt die (jedenfalls zum Teil) tragischen Konfliktlagen, in denen (potentielle) Eltern stehen können. Die Durchführung einer PID und die sich gegebenenfalls anschließende „Verwerfung“ des Embryos in einer solchen Situation nicht als Verletzung der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG zu qualifizieren, dürfte wohl nicht als verfassungswidrige legislatorische Einschätzung qualifiziert werden können.87 (2) Verstoß gegen das Untermaßverbot durch partielle „Zulassung“ der PID? Durch diese Feststellung ist indes noch immer nicht abschließend geklärt, ob der Gesetzgeber nicht doch von Verfassungs wegen verpflichtet ist, die PID ausnahmslos zu verbieten. Möglicherweise verletzt der Gesetzgeber nämlich seine verfassungsrechtliche Schutzpflicht gegenüber den bei der PID getöteten Embryonen, wenn er in Rücksichtnahme auf die Grundrechtsposition der Frau bzw. der Eltern diesen im Rahmen des geltenden „IVF-Rechts“ eine PID ermöglicht? Nun gibt es durchaus Stimmen, die diese Frage verneinen und das skizzierte Spannungsfeld im Sinne „praktischer Konkordanz“ (Hesse) aufzulösen versuchen. So hat etwa die rheinland-pfälzische Bioethik-Kommission ein Regelungsmodell vorgeschlagen, das die PID an folgende Voraussetzungen knüpft: (1) Bei dem betreffenden Paar muss ein hohes genetisches bzw. chromosomales Risiko für betroffene Nachkommen nachgewiesen sein, wobei sich die Höhe nicht nach der Quantität, sondern nach der Qualität des Risikos (z. B. Krankheitswert, Behandlungsmöglichkeit, Verlauf der Krankheit) bemisst. Von einer gesetzlichen Fixierung eines Katalogs indizierter Erkrankungen soll allerdings abgesehen werden. (2) Nach Beratung muss feststehen, dass die Nichtanwendung der Präimplantationsdiagnostik den „größeren Schaden“ einer „Schwangerschaft auf Probe“ mit großer Wahrscheinlichkeit zur Folge hat. (3) Grundsätzlich ist die Einwilligung der Frau und des Mannes für die Durchführung der Präimplantationsdiagnostik und den anschließenden Transfer erforderlich.88 Ob das Bundesverfassungsgericht eine entsprechende parlamentsgesetzliche Regelung akzeptieren würde, erscheint indes unsicher. Zu bedenken ist nämlich, dass für die PID-Situation ein nach beiden Seiten „schonender Ausgleich“ 86 Anders Röger, Verfassungsrechtliche Grenzen der Präimplantationsdiagnostik (Fn. 56), S. 55 ff., 65 ff.; wohl auch Rainer Beckmann, Der Embryo ist kein Rechnungsposten, FAZ v. 10.5.2001, S. 52. 87 Andere Wertung bei Beckmann, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik (Fn. 61), S. 171 f. 88 So Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Präimplantationsdiagnostik (Fn. 60), IV. 3.

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praktisch unmöglich ist. Insofern ergibt sich dann in der Tat eine Parallelisierung mit der Abtreibungsproblematik. Im Blick auf diese hat das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben: Der Gesetzgeber müsse, um das Untermaßverbot nicht zu verletzen, „in Rechnung stellen, daß die miteinander kollidierenden Rechtsgüter hier nicht zu einem verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden können, weil auf der Seite des ungeborenen Lebens in jedem Fall nicht ein Mehr oder Weniger an Rechten, die Hinnahme von Nachteilen oder Einschränkungen, sondern alles, nämlich das Leben selbst, in Frage steht“89. Mit der Abtreibungsproblematik wäre eine gesetzliche Regelung zur PID dadurch verknüpft, dass deren Zulässigkeit von folgender, bereits angesprochener Voraussetzung abhängig gemacht wird: Als Resultat der eingehenden und sachkundigen Beratung der Frau bzw. der (potentiellen) Eltern muss zur Überzeugung des Beraters/der Beraterin feststehen, dass die Frau/das Paar ohne die Möglichkeit zur PID zu einer „Schwangerschaft auf Probe“ mit anschließender Beendigung der Schwangerschaft bei positiver Pränataldiagnostik entschlossen ist. Eine derartige „Lösung“ erscheint im Blick auf die gesetzgeberische Gestaltungs- und Verantwortungsprärogative nicht schlechthin ausgeschlossen.90 Dennoch: Auch insoweit verbleibt ein nicht zu unterschätzendes verfassungsrechtliches Risiko. 2. Die Forschung an embryonalen Stammzellen a) Grundlagen Die Forschung an und mit humanen Stammzellen gehört derzeit zu den meistdiskutierten Feldern der Biowissenschaften. In der Debatte wird paradig­matisch über die „Legitimität der Selbstinstrumentalisierung und Selbstoptimierung der menschlichen Gattung“91 gestritten. Je nach Herkunft der Stammzellen lassen sich unterscheiden: (1) Embryonale Stammzellen (ES-Zellen), (2) embryonale Keimzellen (EG-Zellen) und (3) gewebespezifische (adulte) Stammzellen. Namentlich die ES-Zellen, auf die sich meine Überlegungen konzentrieren, stehen zurzeit im Brennpunkt des Interesses. Ihr biologisches Potential, vor allem die als Pluripotenz umschriebene Fähigkeit zur Differenzierung in alle Zell-Typen der drei Keimblätter (Endoderm, Mesoderm, Ektoderm), aus denen der gesamte Organismus des ausgewachsenen Menschen gebildet wird, wird als besonders groß eingeschätzt.92 ES-Zellen werden aus unausgereiften (undifferenzierten) Zellen früher Embryonalstadien nach künstlicher Befruchtung ge-

89 So BVerfGE 88, 203, 255. 90 Siehe allgemein auch Gunnar Folke Schuppert/Christian Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 72 ff. 91 Siehe Kuhlmann, Politik des Lebens (Fn. 2), S. 62. 92 Kritische Analyse der offiziösen forschungspolitischen Beurteilungen bei Regine Kollek/Ingrid Schneider, Verschwiegene Interessen, SZ v. 5.7.2001, S. 19.

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wonnen.93 Sie werden aus einem bestimmten Zelltyp im Inneren der ca. vier Tage nach der Befruchtung entstandenen Blastozyste entnommen. Allerdings hat dies mit den bisher angewandten Methoden die Zerstörung des Embryos zur Folge.94 Der mögliche therapeutische Einsatz von ES-Zellen betrifft ihre Zellersatzfunktion. Insofern erscheint der Einsatz aussichtsreich vor allem bei solchen Geweben, die bei erwachsenen Menschen sich nur sehr eingeschränkt oder gar nicht regenerieren, wie es beispielsweise für das Nervensystem zutrifft. Auch über erste Tierversuche zum Ersatz von Herzgewebe wird berichtet; weitere therapeutische Einsatzmöglichkeiten beziehen sich auf die In-vitro-Differenzierung insulinbildender Zellen zur Behandlung des Diabetes mellitus.95 Eine weitere Möglichkeit der Gewinnung von ES-Stammzellen ergibt sich aus der Reprogrammierung somatischer Zellen durch Zellkerntransplantation. Die zugrunde liegende Technik, der Weltöffentlichkeit in Gestalt des berühmt gewordenen Schafes „Dolly“ vor Augen geführt, besteht darin, einen aus einer menschlichen Zelle herauspräparierten Zellkern in eine enukleierte, d. h. entkernte Eizelle einzubringen und damit einen Zellteilungsprozess auszulösen. Das Erstaunliche und bislang nicht Geklärte dieses Vorgangs ist die so genannte Reprogrammierung bereits spezialisierter Zellen. Galt es bis vor kurzem als gesicherte Erkenntnis, dass die Entwicklung des Organismus nur in eine Richtung zu verlaufen mag: von der totipotenten Eizelle über pluripotente Zellen bis hin zu spezialisierten Zelltypen, aus denen sich dann die Organe und Gewebe des Gesamtorganismus bilden und regenerieren, so scheint dieses Entwicklungsprogramm auch umkehrbar: Der Zellkerntransfer einer bereits spezialisierten Zelle bewirkt, dass Embryonen entstehen, die wie natürlich befruchtete Eizellen in Kulturen zu Blastocysten herangezogen werden können. Die hieraus gewonnenen ES-Zellen wären nicht nur in Bezug auf das Kerngenom mit dem Erbgut des Patienten identisch; durch entsprechende Behandlung könnte vermutlich auch bei Übertragung auf den Patienten eine immunologische Abstoßungsreaktion vermieden werden.96 Diese Technik wird – durchaus irreführend – als therapeutisches Klonen bezeichnet. Wegen zahlreicher Unklarheiten und schweren Entwicklungsstörungen, die in tierischen Systemen beobachtet worden sind, befürwortet die DFG die Umsetzung des Verfahrens auf Menschen (zurzeit) nicht.97

93 Vgl. die Beschreibung bei James A. Thomson u. a., Embryonic Stem Cell Lines Derived from Human Blastocysts, Science 282 (1998), S. 1145 ff. 94 So ausdrücklich jüngst noch DFG, Empfehlungen vom 3. Mai 2001, S. 3. – Vor diesem Hintergrund mutet es etwas befremdlich an, wenn Rüdiger Wolfrum, Welche Möglichkeiten und Grenzen bestehen für die Gewinnung und Verwendung humaner ­embryonaler Stammzellen aus juristischer Sicht?, in: Bundesministerium für Gesundheit (Hg.), Fortpflanzungsmedizin in Deutschland, 2001, S. 235 ff., 235, „im Folgenden – hypothetisch – davon (ausgeht), daß dies der Entwicklung der Blastozyte nicht schadet. Dies ist allerdings nicht unstreitig“. 95 Siehe mit Nachweisen DFG, Empfehlungen (Fn. 94), S. 6 f. 96 Siehe hierzu DFG, Empfehlungen (Fn. 94), S. 11–13. 97 A.a.O., S. 14.

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b) Forschung an und mit ES-Zellen und Embryonenschutzgesetz (sowie Transplantationsgesetz) Das Embryonenschutzgesetz erfasst die Forschung an und mit embryonalen Stammzellen nur zum Teil: – Nicht erfasst ist die Entnahme von EG-Zellen, da das Embryonenschutzgesetz nur den Zeitraum bis zur Einnistung des Embryos in den Uterus regelt. Auch das Transplantationsgesetz entfaltet insoweit keine normativen Wirkungen (siehe § 1 Abs. 2 TPG). Allerdings ist die Erzeugung von Keimzellen aus pluripotenten Stammzellen verboten, sofern die Erbinformation der Keimzelle zuvor künstlich verändert wurde (siehe § 5 Abs. 1 und Abs. 4 Nr. 2b ESchG).98 – Verboten ist durch das Embryonenschutzgesetz die fremdnützige Verwendung menschlicher Embryonen, d. h. jede Nutzung, die nicht der Erhaltung des Embryos dient (siehe §§ 1 und 2 ESchG). Verboten ist nach § 6 Abs. 1 auch das Klonen menschlicher Embryonen, wobei als Embryo gemäß § 8 Abs. 1 ESchG auch jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle anzusehen ist. Da die Entnahme von embryonalen Stammzellen aus Blastocysten zu einem der Nichterhaltung des Embryos dienenden Zweck erfolgt, ist sie mit dem Embryonenschutzgesetz nicht vereinbar.99 – Weniger eindeutig stellt sich dagegen die normative Situation im Blick auf das so genannte therapeutische Klonen dar. Hier ergeben sich Zweifel an der Anwendbarkeit des Klonungsverbots des § 6 Abs. 1 ESchG daraus, dass bei der Zellkerntransplantation keine vom Gesetz verlangte Befruchtung der Eizelle stattfindet. Auch im Blick auf den Tatbestand des § 2 Abs. 1 ESchG ist festzustellen, dass geschütztes „Tatobjekt“ der Embryo ist, der nach der Legaldefinition des § 8 Abs. 1 „die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an“ bzw. jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle ist. Ob die genannten Bestimmungen tatsächlich den Sachverhalt des so genannten therapeutischen Klonens erfassen, ist im Blick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG durchaus fraglich. c) Verfassungsrechtliche Aspekte Vor diesem Hintergrund einer sich auch hier offenbarenden reprogenetischen Auflösung der Rechtsordnung stellt sich erneut und in aller Dringlichkeit die Frage nach den gesetzgeberischen Handlungsoptionen. Solche aber – das will ich sogleich zum Ausdruck bringen – vermag ich für keine der genannten Konstellationen erkennen. Nach meiner Auffassung entfaltet hier die Menschenwürdegarantie – abwägungsresistent – ihre normative Direktionskraft als Schutzvorschrift vor Tabuverletzungen.

98 Siehe auch DFG, Empfehlungen (Fn. 94), S. 17 f. 99 So auch DFG, Empfehlungen (Fn. 94), S. 17.

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aa) Erzeugung von Embryonen zwecks embryonenverbrauchender Gewinnung von ES-Zellen Dies gilt zunächst für die Erzeugung von Embryonen zwecks embryonenverbrauchender Gewinnung von ES-Zellen. Zwar bedeutet die Beendigung menschlichen Lebens als solche, wie bereits dargelegt,100 noch nicht automatisch die Verletzung menschlicher Würde. Und auch der Umstand, dass menschliches Leben zum „Objekt“ gemacht wird, vermag nur eine gewisse Indizfunktion zu übernehmen. Allerdings weist die hier zu beurteilende Konstellation ein solches Maß an „Verdinglichung“ und Instrumentalisierung auf, dass die Annahme einer Tabuverletzung naheliegt. Es sind keine Risiken abzuwägen oder konkrete Rechtsgüterkonflikte auszutarieren: Das „Monströse“101 liegt schlicht in der funktionalistisch reduzierten Erzeugung von menschlichen Embryonen – und das heißt: von Trägern des Grundrechts gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG! –, um sie sogleich als Forschungsmaterial zu „verbrauchen“ und zu töten. Ein striktes Verbot, wie es auch § 2 ESchG formuliert, ist insoweit die einzige Möglichkeit der Erfüllung der legislatorischen Schutzpflicht.102 Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat in ihren jüngsten Empfehlungen zur Forschung mit menschlichen Stammzellen tendenziell die Auffassung erkennen lassen, die gezielte Herstellung von Embryonen zum Zwecke der Gewinnung von ES-Zellen sei forschungsethisch nicht zu rechtfertigen.103 bb) Zum so genannten therapeutischen Klonen Die vorstehenden Überlegungen gelten auch für das so genannte therapeutische Klonen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht betrifft das entscheidende Problem die Frage, ob das „Produkt“ des therapeutischen Klonens als menschliches Leben qualifiziert werden muss. Vor dem Hintergrund der an anderer Stelle näher dargelegten Erwägungen zur Konkretisierung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist von einer normativen Äquivalenz von totipotenten menschlichen Zellen, die einmal auf dem Befruchtungswege, das andere Mal als Resultat eines Zellkerntransfers entstanden sind, auszugehen. Dass der sich anschließende zellbiologische Differenzierungsprozess sich je einer anderen „Initialzündung“ verdankt, fällt 100 Vgl. oben III. 2. 101 Siehe Jan Ross, Das Monströse, Die Zeit v. 24.8.2000, S. 1. 102 Damit ist nicht entschieden, dass ein solches Verbot, je nach geltendem Recht, strafbewehrt sein muss. 103 Siehe DFG, Empfehlungen (Fn. 94), S. 42 f., allerdings sind die Ausführungen zum ethischen Hintergrund der Stammzellforschung (S. 31 ff.) dadurch relativiert, dass die Stellungnahme zwischen zwei ethischen Grundpositionen unterscheidet und an etlichen Stellen auf eine klare Aussage verzichtet. Nicht aus kategorialen Gründen, sondern eher im Sinne eines Dammbruch-Arguments hat im Übrigen bereits der so genannte Warnock-Report sich gegen eine Erzeugung von Embryonen primär zu Forschungszwecken ausgesprochen, siehe Report of the Comitee of Inquiry into Human Fertilisation and Embryology, London, July 1984, Ch. 11 § 27.

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nicht entscheidend ins Gewicht. In beiden Fällen ist die Entwicklungspotenz zu einem „vollständigen“ Menschen grundsätzlich gleichermaßen vorhanden.104 cc) So genannte überzählige Embryonen und die Gewinnung von ES-Zellen Allerdings sollen die vorstehenden Überlegungen nach zum Teil vertretener Auffassung nicht ohne weiteres auf die Gewinnung von ES-Zellen von so genannten überzähligen Embryonen übertragen werden können, die ja nicht eigens als humanbiologisches „Material“ geschaffen wurden.105 So hat beispielsweise Christian Starck, der dezidiert für die Erstreckung des Lebens- und Würdeschutzes auf den Embryo in vitro plädiert, jüngst im Blick auf die so genannten überzähligen Embryonen die These vertreten, insofern könne embryonale Stammzellforschung erlaubt werden. Die aus seiner Sicht verfassungsrechtlich geforderte Konnexität zwischen In-vitro-Fertilisation und (geplanter) Einpflanzung der Embryonen in die Gebärmutter der Frau sei hier gewahrt. Wenn sich nun nachträglich erweise, dass ein Transfer unmöglich sei, dann seien diese so genannten überzähligen Embryonen „ohne jede Entwicklungschance und mit abgegangenen, nicht überlebensfähigen Föten oder menschlichen Leichnamen (!) vergleichbar“106. Dieser Auffassung ist indes zu widersprechen. Unzutreffend und grundrechtsdogmatisch inkonsistent ist es bereits, „überzählige“ Embryonen, die ja – so Starck – von den Grundrechtsgarantien des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG erfasst sind, als „Leichname“ zu qualifizieren mit dem Argument, sie stürben ja ohnehin. Todesnähe macht aus den Betroffenen keine Leichname, und Chancenlosigkeit für ein Weiterleben eröffnet nicht die Möglichkeit des lebenszerstörenden Zugriffs. Abgesehen davon erheben sich aber auch erhebliche Zweifel an der Annahme, so genannte überzählige Embryonen, deren ursprünglich geplanter Transfer gescheitert ist, seien ohne jede Entwicklungschance. Die jüngsten Spekulationen über die Anzahl solcher Embryonen in Deutschland, die (vorläufig?) mit der überraschend niedrigen (und man darf wohl vermuten: schnell und gezielt herbeigeführten) Zahl 15 endeten, offenbaren, dass das staatliche „Wächteramt“ im Blick auf die „Präimplantations-Embryonen“ überaus defizitär ausgestaltet ist. Es ist inakzeptabel, dass keine verantwortliche Stelle verlässliche Informationen über Anzahl, Ort und weitere Verwendung der in Deutschland in vitro erzeugten Embryonen hat. Der Gesetzgeber sollte deshalb – unter Wahrung datenschutzrechtlicher Belange der Betroffenen – eine entsprechende Meldepflicht für die reproduktionsmedizinischen Praxen und Kliniken einführen. Darüber hinaus ist das Institut einer „Präimplantations-Adoption“ zu schaffen, die gegebenenfalls auch gegen den Willen der Keimzellspender erfolgen kann, wenn diese die eigene Elternschaft, 104 Im Ergebnis übereinstimmend Röger, Verfassungsrechtliche Probleme (Fn. 39), S. 214; näher hierzu auch Wolfram Höfling, Verfassungsfragen des sog. therapeutischen Klonens, (demnächst in) ZME 2001. 105 Siehe dazu auch DFG, Stellungnahme vom 3. Mai 2001, S. 40 ff. 106 So Christian Starck, Hört auf, unser Grundgesetz zerreden zu wollen, FAZ v. 30.5.2001, S. 55 – Hervorhebung hinzugefügt.

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aus welchen Gründen auch immer, ablehnen. Auch für so genannte überzählige Embryonen gibt es keine „Stammzellforschungspflichtigkeit“ nach Maßgabe eines Bestimmungsrechts der Keimzellspender.

V. Schlussbemerkungen Man kann einwenden, die Verfassung sei kein „juristisches Weltenei“ (Forsthoff), aus dem fertige gesetzliche Detailregelungen für alle Lebensprobleme schlüpfen, wenn nur der richtige Interpret es „bebrütet“. Längst nicht jeder rechtspolitische Wunsch ist das Resultat authentischer Verfassungsinterpretation. Andererseits: Eine Grundrechtslehre, die vor den „Daten“ der Wirklichkeit und namentlich vor den biowissenschaftlichen Realien nicht kapitulieren will, muss sich zwangsläufig auf der Grenze von Recht und Politik bewegen. Kant zum Trotz hat sie „über Gesetzgebung … zu vernünfteln“. Nur so kann die Abschichtung von verfassungsrechtlich Gebotenem, Zulässigem, Vertretbarem und Empfehlenswertem ansatzweise gelingen und eine rationale Basis für die öffentliche und rechtspolitische Diskussion erarbeitet werden. Aber eines muss deutlich werden: Die Menschenwürde ist keine „Wanderdüne“, die vor jeder neuen Tabuverletzung zurückweicht.

Nachwort Fast eineinhalb Jahrzehnte sind ins Land gegangen seit dem damaligen Vortrag. Und die Dynamik der biowissenschaftlichen Entwicklung ist eher noch höher als prognostiziert. Diese Feststellung betrifft nicht nur die damals skizzierten Problembereiche – Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen; Präimplantationsdiagnostik (PID) –, sondern gilt auch für andere Forschungsfelder. So liefern die Neurowissenschaften beispielsweise Daten und Erkenntnisse in einer schier unfassbaren Dimension, erhöhen damit aber auch zugleich die Schwierigkeiten einer angemessenen normativen Problemstrukturierung. Die Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen, mit der sich der Vortrag u. a. befasste, hat in den zurückliegenden Jahren wichtige Entwicklungssprünge vollzogen.1 Die Kultivierungs- und Differenzierungsprotokolle wurden optimiert und neue Stammzelllinien etabliert. Der wohl wichtigste Durchbruch der letzten Jahre erfolgte 2006. Bis dahin besagte ein Dogma der Entwicklungsbiologie, dass die Entwicklung embryonaler Zellen in vivo und in vitro nur in eine Richtung erfolgen könne: Totipotente bzw. pluripotente embryonale Zellen könnten sich nach diesem Dogma nur in ein Stadium höherer Spezialisierung entwickeln, nicht aber in umgekehrter Richtung. Zwei japanische Forscher (Takahashi und Yamanaka) konnten nun aber zeigen, wie sich eine somatische spezialisierte Säugerzelle (der Maus) in vitro in ein pluripoten1 Siehe etwa Thomas Heinemann/Jens Kersten, Stammzellforschung. Naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte, 2007; Insoo Hyun, Bioethics and the future of stemcell research, 2013.

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tes Stadium reprogrammieren ließ. Allein mit vier Pluripotenzfaktoren konnten also die epigenetischen Blockaden in der differenzierten Zelle aufgehoben und diese wieder in ein pluripotentes Stadium „zurück“-geführt werden. Ein Jahr später erfolgte dann die Gewinnung von induzierten pluripotenten Stammzellen aus menschlichen Zellen (hiPS-Zellen).2 Diese hiPS-Zellen haben gegenüber den (normalen) humanen embryonalen Stammzellen den Vorteil, dass sie aus einem Patienten isoliert werden können und daraus abgeleitete Zellen hinsichtlich dieses Patienten dann immunkompatibel sind, was für eine mögliche Transplantation von großer Bedeutung ist. Die Forschungen an iPS-Zellen nehmen derzeit international eine rasante Entwicklung auf und eröffnen große Möglichkeiten in der biomedizinischen Grundlagenforschung.3 Die rechtliche Regulierung hat mit dieser Entwicklung nicht annähernd Schritt gehalten. Das aus dem Jahre 1990 stammende Embryonenschutzgesetz ist bis auf eine – allerdings bedeutsame – Ergänzung hinsichtlich der PID4 unverändert in Kraft. Der Gesetzgeber hat sich bislang auf das Projekt eines Reproduktionsmedizingesetzes nicht eingelassen. Er begnügte sich vielmehr mit einer dilatorischen „Lösung“ für einen Problemausschnitt: Im Jahre 2002 trat das so genannte Stammzellgesetz in Kraft. Es statuierte ein grundsätzliches Verbot des Imports von humanen embryonalen Stammzellen nach Deutschland einschließlich ihrer Verwendung. Zugleich aber normierte es Ausnahmevoraussetzungen. Dazu zählte u. a., dass die humanen embryonalen Stammzellen im Ausland vor einem bestimmten Stichtag (ursprünglich: 1.1.2002) aus überzähligen Embryonen und unter Einhaltung weiterer Bedingungen etabliert worden waren. Im August 2008 wurde dann eine Novelle des Gesetzes verabschiedet, in der ein neuer Stichtag für den Import entsprechender Zellen festgelegt wurde (1.5.2007). Mitte 2014 arbeiteten 73 Arbeitsgruppen in 48 Forschungseinrichtungen bzw. Unternehmen auf dem Gebiet der humanen embryonalen Stammzellenforschung. Bis Ende 2013 waren vom Robert Koch-Institut 88 Genehmigungen zum Import und/oder zur Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen in Deutschland erteilt worden.5 Die PID, das zweite Referenzgebiet des Vortrages, ist inzwischen in § 3a ESchG einer – problematischen – Regelung unterworfen worden. Bereits damals hatte ich die Auffassung vertreten, dass dem geltenden Embryonenschutzgesetz ein Verbot nicht entnommen werden könne.6 In einer Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6.7.20107 ist diese Position nun höchstrichterlich bestätigt. Damit war der Gesetzgeber in Zugzwang gebracht. Er hat als komplizierte Kompromisslösung einen § 3a in das Embryonenschutzgesetz eingefügt. Die Regelungsstruktur der straf- und verwaltungsrechtliche Aspekte verknüpfenden Norm ist kompliziert und wirft für die praktische Handhabung 2 Siehe den Überblick bei Anna M. Wobus/Anke Guhr/Peter Löser, Forschung an humanen embryonalen Stammzellen in Deutschland – Historischer Rückblick und gegenwärtiger Stand, in: Norbert Arnold (Hg.), Biowissenschaften und Lebensschutz, 2015, S. 126 ff., 128 f. 3 A.a.O., S. 129 f. 4 Dazu sogleich. 5 Näher hierzu mit instruktiven Tabellen Wobus u. a. (Fn. 2), S. 134 ff. 6 Kap. IV. 1. a) mit weit. Nachw. 7 BGH, MDR 2010, S. 844 ff.

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schwierige Fragen auf.8 Die Diskussionen werden inzwischen aber überlagert durch die rasche Fortentwicklung der (allgemeinen) Pränataldiagnostik. Hier sind es vor allen Dingen die Möglichkeiten so genannter nichtinvasiver Verfahren (Stichwort: PraenaTest),9 die immer höhere Anforderungen auch an die Interpretation der Ergebnisse sowie die Aufklärung und Beratung der schwangeren Frauen stellen.10 Die Rechtswissenschaft ist in besonderem Maße herausgefordert durch die skizzierten Entwicklungen. Sie muss darauf reagieren. Das bedeutet: Sie hat einerseits kognitiv offen zu sein für das transdisziplinäre Gespräch, sich andererseits aber um eine kontextsensible Bereichsdogmatik zu bemühen, die der Maßstabsfunktion des europäischen wie deutschen Verfassungsrechts Rechnung trägt. Letzte und unumstößliche Antworten wird man dabei allerdings nicht erwarten dürfen.11

8 Siehe nur Wolfram Höfling, in: Dorothea Prütting (Hg.), Fachanwaltskommentar Medizinrecht, 3. Aufl. 2014, § 3a Rz. 2 ff.; zur Diskussion auch Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Präimplantationsdiagnostik, 2011. 9 Dazu aus verfassungsrechtlicher Perspektive die beiden gegenläufigen Gutachten von Friedhelm Hufen, Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung frühzeitiger pränataler Diagnostik. Dargestellt am Beispiel des Diagnoseprodukts PraenaTest, 2013, einerseits, und Klaus Ferdinand Gärditz, Gutachtliche Stellungnahme zur Zulässigkeit des Diagnostikprodukts „PraenaTest“, 2012, andererseits. 10 Näher hierzu die im Auftrag der Bundesregierung erstellte Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, Die Zukunft der genetischen Diagnostik – von der Forschung in die klinische Anwendung, 2013, insbesondere S. 148 ff., 178 ff. 11 Insgesamt würde ich in diesem Punkt meine eigene Position heute als etwas zurückhaltender bezeichnen als noch vor 15 Jahren.

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Die Geisteswissenschaften und die Zukunft der Universität* Inhaltsübersicht

I. Defizitäre Geisteswissenschaften

III. Universität und Geisteswissen­ schaften

II. Die kulturelle Form der Welt

Nachwort

Vorbemerkung

Vorbemerkung1 Über die Geisteswissenschaften und die Zukunft der Universität reden, bedeutet auch, über die Naturwissenschaften, besser: über den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt und die Naturwissenschaften in der Universität reden. Denn, ob wir wollen oder nicht, die Situation der Geisteswissenschaften ist immer auch – und dies vor allem, nachdem sich in unserem Bewusstsein die These von zwei Kulturen, der naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen Kultur, breitgemacht hat – durch die Situation der anderen, mächtigeren Seite, die Seite der Naturwissenschaften und, in enger Verbindung mit diesen, die Seite der Technikwissenschaften bedingt. Also geht es hier – in nur vermeintlicher Ergänzung meines Themas – um die Geisteswissenschaften, den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt und die Zukunft der Universität. 1822 schreibt Christian Dietrich Grabbe das Lustspiel „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“, die beißende Karikatur einer verkehrten Welt, in der der Teufel die Welt betritt, weil in der Hölle geputzt wird, und alles durcheinander bringt. Sollte mein Thema damit etwas zu tun haben? Etwa so, dass sich der Geisteswissenschaften heute vornehmlich Scherz und Satire annehmen, Ironie darin zum Ausdruck kommt, dass sich der wissenschaftlich-technische Verstand in Orientierungsdingen an die Stelle der Geisteswissenschaften zu setzen sucht und die Universität um ihre tiefere Bedeutung ringt? Dieser Eindruck ist nicht ganz unberechtigt, zumindest ist die Verwirrung groß, vor allem, wenn es um die Geisteswissenschaften geht. Diesen schlägt heute vielfach der akademische und der institutionelle Wind, z. B. in den nicht immer ganz einfach zu verstehenden neueren Entscheidungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Förderdingen, ins Gesicht. * Vortrag, gehalten am 16.5.2002 vor der Kölner Juristischen Gesellschaft, veröffentlicht in der Schriftenreihe der Kölner Juristischen Gesellschaft Band 28, 2003. 1 Leicht veränderte und ergänzte Fassung eines auf Einladung der Heinz-Nixdorf-Stiftung, der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung und der Humboldt-Universität zu Berlin unter dem Titel „Die Geisteswissenschaften, der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt und die Zukunft der Universität“ bereits am 28.2.2002 in Berlin gehaltenen Vortrags. Erschienen in: Jürgen Mlynek (Hg.), Die Zukunft der Hochschulfinanzierung: Qualitäts- und wettbewerbsfördernde Impulse, 2002, S. 22 ff.

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Nun gehören kritische Diskussionen über die Geisteswissenschaften, über ihren wissenschaftlichen Status, ihre Rolle und ihre Aufgaben in der modernen Welt, seit langem zur Normalität der Geisteswissenschaften, und zwar zur inner- wie zur außerwissenschaftlichen Normalität. Sie sind allerdings heute auf eine fatale, häufig eben ins Satirische gehende Weise kurzatmig geworden. Ausgerechnet diejenigen Disziplinen, die doch die kulturelle Erinnerung der modernen Gesellschaft wachhalten und den langen kulturellen Atem der modernen Welt bilden sollen, geraten in Form von Momentaufnahmen in das Visier ihrer gesellschaftlichen Gegner und ihrer missgelaunten Freunde. Es herrscht die Vorstellung, der naturwissenschaftliche und technische Verstand stürme in die Zukunft und arbeite hart, während der geisteswissenschaftliche Verstand sich aus dieser Entwicklung abgemeldet habe und feiere. Doch eine derartige Vorstellung ist wohl zu einfach und sie lenkt von Versäumnissen und Unzulänglichkeiten ab, die weniger der geisteswissenschaftliche als vielmehr der wissenschaftspolitische und der wirtschaftliche Verstand zu vertreten haben. Schließlich haben wir es heute, in seltener Eintracht zwischen dem politischen und dem wirtschaftlichen Verstand, mit einer Ökonomisierung aller Verhältnisse zu tun, gegen die es nicht nur der geisteswissenschaftliche Verstand, dieser allerdings in besonderem Maße, schwer hat. Und auch mit dem Feiern, das offenbar von Wichtigerem ablenkt, ist es nicht ganz so wie vielfach vermutet. Tatsächlich sind geisteswissenschaftliche Gegenstände häufig das auf den ersten Blick Nutzlose, das funktionslos Gebildete, das Ästhetische, also auch das Schöne, dessen Nutzen beginnt, wenn eine Kultur eben nicht arbeitet, sondern feiert. Und dennoch ist dies nicht die ganze Wahrheit über den geisteswissenschaftlichen Verstand, sondern weit eher ein Klischee, das im gesellschaftlichen Bewusstsein fest verwurzelt ist, das das Mitleid im Blick der Vertreter der anderen Wissenschaften ausmacht und den beklagenswerten Stand, den die Geisteswissenschaften in der öffentlichen Diskussion haben, wenn es um Zukunft, Macht, Einfluss, Geld und anderes Nützliche geht. In Wahrheit sind – das soll hier deutlich werden – die Geisteswissenschaften mit Dingen befasst, die ebenso zur modernen Form der Welt gehören wie die Dinge ihrer Verächter und ihrer Wettbewerber auf der anderen Wissenschaftsseite. Nur, sie bewegen die moderne Welt nicht und eben dies bringt sie bei vielen, die eigentlich mit diesem Umstand doch ganz glücklich sind, in Verruf. Im Folgenden, in Thesenform und im Anschluss an Vieles schon früher Gesagte2 – auch mir fällt nicht jeden Tag etwas Neues ein –, einige kurze Analysen und Überlegungen, die die erwähnte Trias Geisteswissenschaften, naturwissenschaftlich-technischer Fortschritt und Universität betreffen – unter einer philosophischen Perspektive.

2 Vgl. Jürgen Mittelstraß, Die Häuser des Wissens. Wissenschaftstheoretische Studien, 2001. Ferner ders., Zur Internationalität der geisteswissenschaftlichen Forschung, in: Max-Planck-Gesellschaft (Hg.), Internationalität der Forschung/Internationality of Research. Symposium der Max-Planck-Gesellschaft, Schloß Ringberg (Tegernsee), 20. bis 22.5.1996 (Berichte und Mitteilungen 1/1997), 1997, S. 169 ff.

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Die Geisteswissenschaften und die Zukunft der Universität

I. Defizitäre Geisteswissenschaften Die Geisteswissenschaften weisen heute Modernisierungsdefizite auf, die durch einen Zwei-Kulturen-Mythos festgehalten, durch eine ihm zuarbeitende Kompensationsvorstellung (Geisteswissenschaften als Kompensation von Modernisierungsschäden) ebenso mühsam wie erfolglos verdeckt werden. Beides, Mythos und Kompensation, führt zu einer gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Marginalisierung sowie zu einem vermeintlichen Gegensatz der Geisteswissenschaften zur Entwicklung technischer Kulturen, die die modernen Gesellschaften heute darstellen. Wo im gesellschaftlichen Diskurs der Moderne von Zukunft die Rede ist, tritt auch der Begriff des Fortschritts auf. Dabei hat dieser im Laufe der Geschichte einen eigentümlichen Bedeutungswandel erfahren. Während er im antiken und mittelalterlichen Denken irrelevant war, besagt er zunächst, und zwar im Rahmen einer idealistischen Konzeption, der sich auch die Geisteswissenschaften verdanken, etwas ungemein ,Geisteswissenschaftliches‘, nämlich ein „Fortschreiten der Menschheit zum Besseren“ (Kant3), definiert als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ (Hegel4). Der Fortschritt der Wissenschaften ist Teil dieses gesellschaftlichen Fortschritts, wobei allerdings schon im Denken der Aufklärung unbestimmt bleibt, ob der wissenschaftliche Fortschritt mehr oder weniger ,automatisch‘ zu einer fortschreitenden Humanisierung der Gesellschaft führe oder ob der gesellschaftliche Fortschritt, aus eigenen politischen und philosophischen Quellen gespeist, sich der fortschreitenden Wissenschaften, zumal der Naturwissenschaften, als Mittel zu bedienen habe. Eine Engführung des Fortschrittsbegriffs auf das naturwissenschaftliche und technische Wissen ist dann ein zweiter Schritt, der zwar auch etwas mit gesellschaftlichen Entwicklungen, nämlich der Entstehung der Industriegesellschaft, zu tun hat, sich aber zunehmend einer gesellschaftlichen Regie, wie sie die europäische Aufklärung (in großen Teilen) ins Auge gefasst hatte, entzieht. Von nun an gilt Fortschritt im Wesentlichen als – je nach gesellschaftlichem Standpunkt helle oder dunkle – Macht, die im Rücken der gesellschaftlichen Subjek-

3 Immanuel Kant, Rezension von Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784), in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, 1956–1964, VI, S. 805 f. („die Bestimmung des menschlichen Geschlechts im ganzen ist unaufhörliches Fortschreiten und die Vollendung derselben ist eine bloße, aber in aller Absicht sehr nützliche Idee von dem Ziele, worauf wir, der Absicht der Vorsehung gemäß, unsere Bestrebungen zu richten haben“); ders., Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? (1804), in: Werke III, S. 647 („Daß die Welt im Ganzen immer zum Bessern fortschreite, dies anzunehmen berechtiget ihn keine Theorie, aber wohl die reine praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet“). Vgl. ders., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: Werke VI, S. 33 ff. 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, in: Hermann Glockner (Hg.), Hegel. Sämtliche Werke (Jubiläumsausgabe) I–XXVI, 1927–1939, XI, S. 46.

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te wirkt und deren eigentlicher Motor die Naturwissenschaften und die Technik, nicht die Geisteswissenschaften sind.5 Es kommt noch etwas Weiteres hinzu. Zum idealistischen Erbe der Geisteswissenschaften gehört die (Hegelsche) Bestimmung, dass allein das Geistige das Wirkliche sei.6 Kein Wunder, dass sich da die Geisteswissenschaften schwer tun, ihre Arbeit als Teil einer mit allen anderen Wissenschaften gemeinsamen Rationalität deutlich zu machen, und dass sich die Natur- und Technikwissenschaften mit Recht schwer tun, ihre Arbeit als Ausdruck einer universalen ,Wissenschaft des Geistes‘ zu begreifen. Faktisch verbindet eine derartige Bestimmung nicht, sie trennt; ein Mythos, der Zwei-Kulturen-Mythos, gewinnt an Boden. Dieser Mythos, hervorgegangen aus melancholischen Reminiszenzen angesichts der Umgangsformen und des Diskurses der Naturwissenschaftler und der Geisteswissenschaftler im Senior Common Room eines englischen College,7 besagt, dass die Geisteswissenschaften an jener besonderen Dynamik, die die Natur- und Technikwissenschaften ergriffen hat und diese zum eigentlichen Motor der modernen Welt macht, nicht teilnehmen, dass die Natur- und Technikwissenschaften die Zukunft im Blut, die Geisteswissenschaften nur die Vergangenheit im Sinn haben. Und dieser Mythos erklärt auch, warum sich in den Geisteswissenschaften heute ein eigentümlicher Todestrieb geltend macht, der sie schicksalergeben in der ihnen zugedachten marginalen Rolle verharren lässt. Dabei macht auch jeder neue Versuch einer systematischen Grundlegung der Geisteswissenschaften (von Dilthey über Rickert und Cassirer bis hin zu Gadamer) das Scheitern einer wirklichen systematischen Einheit mit den anderen Wissenschaften, ja schon das Scheitern ihrer eigenen, nach Theorien, Methoden, Gegenständen und Forschungsinteressen nachgewiesenen Einheit offenbar. Die Geisteswissenschaften graben, so gesehen, selbst an ihrem wissenschaftstheoretischen Grab – und ziehen sich gleichzeitig immer wieder an den eigenen (wissenschaftshistorischen) Haaren aus demselben: Ihr philologischer und historischer Fleiß verbirgt das systematische Defizit, das ihre eigene wissenschaftstheoretische Arbeit offenbart. Darum scheint übrigens auch die Tradition der humanities ruhiger zu verlaufen; der angelsächsische Weg der Geisteswissenschaften verzichtet weitgehend auf Theorie, zumindest auf eine so weit ausgreifende wie die idealistische. Theoretischer Ausdruck dieser eigentümlichen Selbstgenügsamkeit zwischen Notdurft und Unsterblichkeit ist eben jener Mythos, der das Auseinanderfallen der wissenschaftlichen Kultur in die natur- und technikwissenschaftliche und in die geisteswissenschaftliche Kultur besagt, und, mit dieser These bzw. die5 Vgl. Nicholas Rescher, Scientific Progress. A Philosophical Essay on the Economics of Research in Natural Science, 1978 (dt.: Wissenschaftlicher Fortschritt. Eine Studie über die Ökonomie der Forschung, 1982); Jürgen Mittelstraß, Fortschritt und Eliten. Analysen zur Rationalität der Industriegesellschaft, 1984. 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Eva Moldenhauer/ Karl Markus Michel (Hg.), Hegel. Werke in zwanzig Bänden, 1969–1979, III, S. 28. 7 Charles Percy Snow, The Two Cultures and a Second Look. An Expanded Version of the Two Cultures and the Scientific Revolution, 2. Aufl. 1964 (dt.: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, 1967).

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sem Mythos verbunden, die sogenannte Kompensationstheorie der Geisteswissenschaften, wonach diese Modernisierungsschäden kompensieren sollen, die durch den Fortschritt und das Tempo naturwissenschaftlicher und technischer Innovationen entstehen. Die These „je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften“8, beruhigt nicht nur die durch die Zwei-Kulturen-These aufgescheuchten Geisteswissenschaftler, sie verschafft ihnen auch ein neues Selbstbewusstsein. Sieht es doch nun so aus, dass es gerade eine halbierte Kultur ist, die ihnen die Existenzberechtigung und eine Aufgabe sichert, die niemand, jedenfalls nicht auf der anderen Wissenschafts- und Kulturseite, abnehmen kann. Doch die Lage der Geisteswissenschaften idealistischer Herkunft ist keineswegs so attraktiv, wie dies die Kompensationstheorie mit ihrem Modernisierungsbewahrungspathos glauben machen will. Gelehrsamkeit legt sich in den Geisteswissenschaften barmherzig über strukturelle und andere Einfallslosigkeiten. Schließlich ist Modernisierung die Kunst der anderen, nicht die eigene Kunst. So drohen heute die Geisteswissenschaften unter den Schalmaientönen der Kompensationstheorie zu so etwas wie Entspannungswissenschaften zu werden, nämlich zu Teilen eines ,Kulturbetriebs‘, der keine wissenschaftlichen Probleme löst, sondern von diesen gerade ablenkt, der andere Wirklichkeiten als die uns auf den Nägeln brennenden ins Auge fasst, der unterhält, entlastet, eben gegenüber dem Innovationsdruck der Naturwissenschaften und der Technik, selbst auf die Ausübung eines solchen Druckes verzichtend, ,kompensiert‘. Dabei droht auch noch die in den Geisteswissenschaften verbreitete Liebe zum Irrelevanten – Stichwort ,das Lächeln von Molière‘ – zur Eigenliebe zu werden. Von außen betrachtet sieht das im günstigsten Falle dann so aus, als würden die Geisteswissenschaften zu Gegnern der Moderne, diese vor allem wiederum vertreten durch die Technik bzw. durch technische Entwicklungen. Diese Situation, in der sich der geisteswissenschaftliche Verstand auf sich selbst zurückzieht und in ein Modernisierungsdefizit gerät – übertrieben als Gegnerschaft gegenüber dem naturwissenschaftlichen und dem technischen Verstand bezeichnet –, hat allerdings auch etwas mit allgemeinen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun. Im Ansehensverlust der Geisteswissenschaften, der im Zwei-Kulturen-Mythos offen zutage tritt und in der Kompensationstheorie nur mühsam verdeckt wird, spiegelt sich auch ein Kulturverlust der Gesellschaft. In dem Maße, in dem sich das gesellschaftliche Augenmerk auf wirtschaftliche Dinge, auf Anwendungs- und Verwertungs­ zusammenhänge verengt, damit anderen Bereichen, darunter z. B. auch der Grundlagenforschung, nicht nur die notwendige Anerkennung, sondern auch Ressourcen entzieht, geraten Strukturen und Orientierungen, für die die Geisteswissenschaften stehen, entweder ins Abseits oder unter einen eben auf Anwendung und Verwertung bezogenen gesellschaftlichen Druck, unter dem sie, wenn sie ihm nachgäben, ihr Wesen verlieren oder, wenn dies zu anspruchsvoll und zu philosophisch klingt, ihren wissenschaftlichen Charakter, der nicht nur

8 Odo Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, 1986, S. 101.

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mit der Beherrschung von Methoden, sondern auch mit der Reflexion kultureller und gesellschaftlicher Strukturen und Ziele zusammenhängt. Im Übrigen, so ließe sich fragen: Könnte der Umstand, dass im wissenschaftlichen Bewusstsein die Geisteswissenschaften als Wissenschaften minderen Ranges, als wissenschaftliche Sterne zweiter oder dritter Ordnung erscheinen, auch etwas damit zu tun haben, dass das Gefühl den Menschen, das Wissen die Natur liebt? Dass der Mensch dem Menschen und dem, was dieser in seinen Institutionen schafft, im Hin und Her der Gefühle, der Neigungen und Abneigungen, im Medium der Interessen und Bedürfnisse begegnet, der Natur und allem, was er nicht selbst ist, aber mit einer unendlichen Lust zu wissen, zu erkennen, und zwar auf eine wissenschaftliche Weise? Ist, so könnte man weiter fragen, am Menschen wiederum wissenschaftlich nur das interessant, was an ihm selbst Natur ist, also das, was als der eigentliche Gegenstand des Wissens und des Wissenwollens erscheint? Ist Kultur nicht nur das Andere der Natur, sondern auch das Andere der Wissenschaft? Wer so fragt oder so denkt, missversteht nicht nur die Geisteswissenschaften, sondern auch die Naturwissenschaften. Denn auch diese sind Ausdruck von Kultur, Ausdruck des menschlichen Geistes, der alles in Kultur verwandelt, was in seinen Blick tritt oder – ein gewiss merkwürdiges Bild – in seine Hände, in seine geistigen Hände, gerät. Das Missverständnis, das sich hier auftut, wäre ein doppeltes: dass Geisteswissenschaft nicht Wissenschaft und Naturwissenschaft nicht Kultur ist.

II. Die kulturelle Form der Welt Wenn die Geisteswissenschaften eine Zukunft haben sollten, dann liegt diese nicht in ihrer idealistischen Vergangenheit, nicht in der Bescheidung auf kompensatorische Aufgaben und nicht in einem Sich-Verweigern gegenüber technischen Kulturen. Sie liegt vielmehr in einer neuen Form von Transdisziplinarität, deren Gegenstand die kulturelle Form der Welt und die Anstrengung ist, sich dieser Form in Wissenschaftsform zu vergewissern. Missverständnisse, auch solche in einem wissenschaftlichen Kontext, haben häufig eine historische Wurzel, d. h. sie resultieren aus Entwicklungen, die manchmal klar und präsent, manchmal aber auch unklar und vergessen sind. So, in diesem zweiten Fall, auch hier. Die Verwerfungen im Wissenschaftssystem und deren Wahrnehmung haben wohl auch etwas mit dem Werden des neuzeitlichen wissenschaftlichen Bewusstseins zu tun. Dieses Werden vollzog sich wissenschaftlich und politisch. Politisch, mit Kant, im „Ausgang des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit“,9 wissenschaftlich in der Ablösung des Aristotelischen durch das Newtonsche Paradigma in der Physik. Das Politische artikulierte sich in einem neuen Autonomieverständnis und in der Französischen Revolution, das Wissenschaftliche im Übergang von der Aristotelischen ,Empirie‘ (empeiria), die der lebensweltlichen Erfahrung nahe

9 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Kant. Gesammelte Schriften, 1902 ff., VIII, S. 35.

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bleibt, zur Mathematisierung der Natur. Eben das besagt auch die viel zitierte Metapher Galileis, wonach das Buch der Natur in mathematischer Sprache geschrieben sei,10 womit er unter methodischen Gesichtspunkten meinte, dass die Sätze der Mechanik auf der Messung geometrischer Größen und empirischen (experimentellen) Bestätigungen beruhten. Von nun an ist Wissenschaft entweder empirisch (wie die Physik und alles Disziplinäre, das ihr folgt) oder formal (wie die Mathematik selbst). Der Wissenschaftsbegriff scheint vollständig beschrieben – und das bedeutet eben, dass die Geisteswissenschaften aus ihm herausfallen. Allerdings ist dies nicht das letzte Wort. In den Naturwissenschaften macht sich alsbald ein Mythos der Empirie breit, der besagt, dass in der Wissenschaft alles empirisch sei – worin übersehen wird, dass es auch nicht-empirische Bedingungen empirischer Wissenschaften gibt –;11 in den Geisteswissenschaften führt die Suche nach einem methodischen Fundament in den falschen Gegensatz von Verstehen und Erklären. Die Schere zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften öffnet sich und Köpfe, die Natur und Geist noch zusammenhalten können, werden knapp. Es kommt noch etwas hinzu. Die Geisteswissenschaften, die in der Philosophie des Deutschen Idealismus zu einer theoretischen Form gefunden hatten – übrigens weit anspruchsvoller und überzeugender als in neueren hermeneutischen Konzeptionen –, zehren noch immer von ihrer idealistischen Idee, aber sie leben diese nicht mehr. Die internationale Entwicklung führt nicht länger in diese Idee und damit in das deutsche Paradigma Geisteswissenschaft, sondern sie führt diese Idee und dieses Paradigma eher an den Rand, marginalisiert beide. An die Stelle der idealistisch orientierten Geisteswissenschaften sind weitgehend die pragmatisch orientierten humanities getreten. Aus dieser Situation führt denn auch nur entweder eine Anpassung an die angelsächsische Form der humanities oder die Etablierung einer neuen Idee, mit der nicht nur die Geisteswissenschaften in der Tradition des Deutschen Idealismus, sondern die Geisteswissenschaften überhaupt wieder ein neues anspruchsvolles Profil gewönnen. Dieses neue Profil könnte (und sollte) in der Überwindung des Zwei-Kulturen-Mythos und der ihm assistierenden Kompensationsvorstellung liegen, und zwar durch den Nachweis, dass beide Kulturen im Grunde Ausdruck einer Kultur, der technischen Kultur moderner Gesellschaften, sind, dass auch die Geisteswissenschaften zu den Rationalitätsstrukturen einer modernen Welt gehören, die eben nicht nur eine allein politische, eine allein wirtschaftliche und eine allein technische Form – bestimmt durch die separaten Leistungen des politischen, des wirtschaftlichen und des wissenschaftlich-technischen Verstandes – hat.

10 Il Saggiatore, Le Opere di Galileo Galilei I–XX, 1890–1909, VI, S. 232. 11 Vgl. Jürgen Mittelstraß, Philosophische Grundlagen der Wissenschaften. Über wissenschaftstheoretischen Historismus, Konstruktivismus und Mythen des wissenschaftlichen Geistes, in: ders., Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, 1989, S. 194 ff., hier S. 211–216.

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Dabei ginge es in den Geisteswissenschaften um die kulturelle Form der Welt und um die Anstrengung, sich dieser Form zu vergewissern.12 Kultur hier nicht verstanden als ein Teilbereich der menschlichen Wirklichkeit, etwa als ,Kulturbetrieb‘ oder als Teilkulturen im Sinne der derzeit groß geschriebenen Cultural Studies, sondern sehr viel weitergehend als Inbegriff menschlicher Arbeit und Lebensformen, naturwissenschaftliche, technische und andere Entwicklungen eingeschlossen. Eine derartige Vergewisserung, das lebendige Wissen einer Kultur von sich selbst, und zwar in Wissenschaftsform, ist zur Stabilisierung und Entwicklung moderner Gesellschaften ebenso wichtig wie ein wissenschaftsgestütztes technisches Können. Ohne sie droht die moderne Welt und droht die moderne Gesellschaft selbst orientierungslos zu werden. Und eben darin, in der konstruktiven Aufarbeitung von schon bestehenden Orientierungsdefiziten und in der Sichtbarmachung der kulturellen Form der Welt, könnten die eigentliche Rechtfertigung der Geisteswissenschaften vor der Geschichte der modernen Rationalität und ihre Aufgaben zur Durchsetzung dieser Rationalität liegen. Das ist weit mehr als Kompensation und weit mehr als Akzeptanzsicherung, die neuerdings den Geisteswissenschaften von politischer Seite angedient wird. Vergewisserung besagt dabei nicht nur Vergegenwärtigung oder historische Erinnerung (wie es die Kompensationsvorstellung nahelegt). So hätte der geisteswissenschaftliche Verstand nicht nur zu sagen, wie die Welt war, als sie noch nicht die moderne war, sondern auch, wie die moderne Welt ist, im Unterschied etwa zum technischen Verstand, der sagt, was die moderne Welt kann. Ohne ein Bewusstsein davon, was sie ist, kann die moderne Welt gerade in ihrem eigentümlichen Können orientierungslos werden. Damit besteht durchaus auch eine sachliche Verbindung zwischen Geisteswissenschaften und Orientierung, nur macht diese die Geisteswissenschaften selbst noch nicht zu Orientierungswissenschaften. Wie sollten auch Disziplinen, die selbst in einem ­hohen Maße orientierungslos sind, andere Disziplinen, z. B. die Naturwissenschaften, und die Gesellschaft orientieren können? Umgekehrt läuft eine derartige C ­ harakterisierung auf keine bloße Bildungsarchäologie hinaus, insofern die Geisteswissenschaften mit ihrem bildenden Wissen stets hinter den Linien der vorrückenden modernen Welt blieben, ohne Einfluss auf Richtung und Geschwindigkeit ihrer Bewegung. Die Wirklichkeit des Geistes ist zwar immer auch seine Geschichte, doch ,gehört‘ der Geist nicht seiner Geschichte; und Geisteswissenschaft ist zwar immer auch ein gebildetes Wissen, doch zwingt uns dies nicht dazu, eine vermeintlich unverrückbare Grenze zwischen dem Nachdenken und dem Vorausdenken zu ziehen. Um dieses neue Profil zu realisieren, müssten die Geisteswissenschaften, zunächst auf sich selbst bezogen, eine transdisziplinäre Orientierung wieder­ gewinnen. Transdisziplinarität verstanden als die Aufhebung fachlicher und disziplinärer Engführungen, wo diese ihre historische und systematische Erinnerung an eine ursprüngliche Einheit der geisteswissenschaftlichen Arbeit ver12 Vgl. dazu Jürgen Mittelstraß, Die Geisteswissenschaften im System der Wissenschaft, in: Wolfgang Frühwald u. a., Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, 1991, S. 15 ff., bes. S. 39–44.

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loren haben. Transdisziplinarität als Forschungs- und Kompetenzform gehört dabei im Grunde zum Wesen der Geisteswissenschaften; diese können ihrer ursprünglichen (idealistischen) Idee nach sogar als das eigentliche wissenschaftssystematische Paradigma einer transdisziplinären Ordnung gelten. Wenn nämlich der wirkliche Gegenstand der Geisteswissenschaften die kulturelle Form der Welt ist und zu dieser auch die Naturwissenschaften und alles, was die moderne Welt in ihrem wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Wesen ausmacht, gehören, dann vermögen sie diesem Umstand auch nur zu entsprechen, indem sie selbst, in ihrer Wahrnehmung der Welt und in ihren Arbeitsformen, den einmal eingeschlagenen Weg der Partikularisierung geisteswissenschaftlicher Orientierungen wieder verlassen und eine transdiszi­ plinäre Optik einnehmen. Nicht, indem sie sich zu einer Art Universalwis­ senschaft hochstilisieren – dieser Traum ist spätestens seit Leibniz’ vergeblichen Versuchen um eine mathesis universalis bzw. scientia universalis ausgeträumt –, sondern indem sie ihre (möglicherweise selbst erst wieder als ganze herzustellenden) disziplinären Kompetenzen in den Dienst eines transdisziplinären kulturellen Begreifens stellen. Diese Anstrengung wird nicht in allen Fällen gelingen und diese Anstrengung ist nicht in allen Fällen auch wirklich geboten, zumal auch Transdisziplinarität disziplinäre (und fachliche) Kompetenzen voraussetzt, die ihrerseits zunächst einmal für sich ausgebildet werden müssen. Immerhin wäre es gut, wenn z. B. die Sprachwissenschaft wieder begriffe, dass sie es nicht so sehr mit sprachlichen Partikularitäten, sondern mit der sprachlichen Form der Welt zu tun hat, wenn die Geschichtswissenschaft wieder begriffe, dass sie es nicht so sehr mit Geschichten, sondern mit der historischen Form der Welt zu tun hat, wenn aber auch die Rechtswissenschaft wieder begriffe, dass sie es nicht so sehr mit gesetzestechnischen Problemen, sondern mit der rechtlichen Form der Welt zu tun hat, und wenn die Philosophie wieder begriffe, dass sie es nicht so sehr mit ihren Klassikern, sondern mit der rationalen Form der Welt zu tun hat. Ein solches Begreifen ist in den genannten disziplinären Beispielen sicher nicht unbekannt, aber es verbindet sich noch zu wenig mit Problemen und Forschungsformen, die außerhalb der geisteswissenschaftlichen Grenzen liegen. Das alles würde institutionell und bezogen auf eine neue (und zugleich auch ein wenig alte, gleichwohl zukunftsträchtige) Idee der Geisteswissenschaften bedeuten: (1) Auflösung der falschen (fachlichen) Partikularitäten etwa in den Bereichen Literatur, Sprache und Geschichte. (2) Überwindung des Zwei-Kulturen-Mythos durch die Bildung von Forschungsschwerpunkten an den Schnittflächen beider Kulturen. (3) Ersetzung des historistischen Paradigmas durch ein philosophisches Paradigma bei gleichzeitiger Wiederbesinnung der Philosophie auf ihr systematisches Wesen. Gelänge all dies, wäre Modernität für die Geisteswissenschaften kein qualvoller Anspruch mehr, sondern selbstverständliche Form geisteswissenschaftlicher Arbeit und wäre in dieser Modernität auch die (schon verloren geglaubte) Einheit einer geisteswissenschaftlichen und einer technischen Kultur wieder wahrnehmbar.

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III. Universität und Geisteswissenschaften Der Ort der Geisteswissenschaften, vor allem, wenn sie ihrer idealistischen und ihrer transdisziplinären Rolle treu bleiben bzw. diese wieder übernehmen, ist die Universität. Deren Zukunft wiederum liegt nicht in einer Soziologisierung, nicht in einer Didaktisierung und nicht in einer Ökonomisierung aller universitären Verhältnisse, sondern in der Besinnung auf die Ideen der Universalität, der Transdisziplinarität und der wissenschaftlichen Exzellenz, die den Kern eines modernen Wissenschaftssystems ausmachen. Dazu gehören auch die Geisteswissenschaften. Kaum den Beglückungsstrategien der Soziologen und der Didaktiker entronnen, droht den Universitäten heute die Gefahr, mit Haut und Haaren unter ein ökonomistisches Paradigma zu geraten. Wenn der Markt alles regelt, warum nicht auch die Wissenschaft, auch in ihren universitären Formen? Allzu bereitwillig träumen manche Universitäten schon davon, sich in börsennotierte Unternehmen zu verwandeln. Doch Universitäten sind keine Märkte, und wer sie dennoch so zu organisieren sucht, kennt die Wissenschaft nicht. Jedenfalls schickt er sich an, sie in ihrem Wesen zu zerstören. Dieses Wesen hat etwas mit universalen Verhältnissen, einem unbedingten Erkenntniswillen und der Vorläufigkeit aller Begrenzungen, auch aller institutioneller Begrenzungen, zu tun. Und hier ist es wiederum nicht nur der ökonomische Verstand, sondern auch der eigene, wissenschaftliche Verstand, der einer Entfaltung dieses Wesens nur allzu oft im Wege steht, z. B. in der modernen Form der Spezialisierung. Kein Zweifel, die Wissenschaften haben sich, auch in der Universität, auseinander gelebt. Kokette Bekenntnisse, nichts von der Arbeit selbst des unmittelbaren wissenschaftlichen Nachbarn zu verstehen, nehmen überhand. Eine neue Einsamkeit macht sich breit – und führt zu seltsamen Zwergeninstitutionen, die sich, meist als halbprivate Business Schools gegründet, frech und wissenschaftssystematisch ahnungslos die Bezeichnung ,Universität‘ zuzulegen suchen. Wissen wir denn nicht mehr, was eine Universität ist? Universitäten sind Wissensorte, in denen die Idee wissenschaftlicher Universalität, die Dialektik von Disziplinarität und Transdisziplinarität und wissenschaftliche Exzellenz alle Verhältnisse in Forschung und Lehre bestimmen. Ist dies nicht (mehr) der Fall, verliert die Universität ihr Wesen und ihre Idee, wird aus dem Paradigma Universität eine andere Form des Paradigmas Schule, eine für das Leben der Wissenschaft ungeeignete. Kurz zu den genannten Stichworten. Forschung und Lehre gedeihen trotz unübersehbarer und auch unvermeidbarer Spezialisierungstendenzen in der Wissenschaft nur auf einem Boden, den viele Fächer und Disziplinen bestellen. Auch bildet sich neues Wissen heute meist nicht in den fachlichen und disziplinären Kernen, wo das Lehrbuchwissen sitzt, sondern an den Rändern der Fächer und Disziplinen, d. h. im Übergang zu Nachbarfächern und Nachbardisziplinen oder in einer problemorientierten Weise, für die fachliche oder disziplinäre Zuordnungen irrelevant sind. Das aber bedeutet, dass sich eine Universität in ihren institutionellen Formen im 228

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Fachlichen und Disziplinären nicht beliebig einschränken lässt, d. h., dass Universalität, bezogen auf ein fachliches und disziplinäres Spektrum, ein lebendiger Teil der Universität bleiben muss. Andernfalls verlöre diese ihr wissenschaftliches Wesen und schiede aus dem Wissenschaftsprozess aus. Oder anders formuliert: Forschung und Lehre gedeihen allenfalls auf Zeit in engen fachlichen oder disziplinären Treibhäusern; wo der wissenschaftliche Durchzug fehlt, wird alles klein, zieht sich der wissenschaftliche Verstand in sich selbst zurück, breitet sich die akademische Provinz aus. Auch das, was als Transdisziplinarität und als Dialektik von Disziplinarität und Transdisziplinarität bezeichnet wurde, ist hier nicht mehr möglich. Noch immer sind zwar Disziplinaritäten die systematischen Formen, in denen sich das wissenschaftliche Wissen, auch das fachliche Wissen, bildet, und das Medium, in dem sich das wissenschaftliche Lernen bewegt. Doch auch diese erstarren, wenn der wissenschaftliche Nachbar fehlt, statt Universalität Partikularität herrscht. Mit Transdisziplinarität ist (noch einmal) Forschung gemeint, die sich aus ihren disziplinären Grenzen löst, die ihre Probleme disziplinenunabhängig definiert und disziplinenübergreifend löst. Das gilt keineswegs nur für die innerwissenschaftlichen, durch den Wissenschaftsprozess selbst erzeugten und definierten Probleme; auch die Probleme unserer Welt, deren Lösung Wissenschaft und Forschung dienen sollen, tun uns bekanntlich schon lange nicht mehr den Gefallen, sich selbst fachlich oder disziplinär zu definieren. Also setzt Universität Multidisziplinarität, d. h. einen lebendigen Teil jener Universalität voraus, die einmal die Universitätsentwicklung bestimmte und die für universitäre Verhältnisse unabdingbar ist. Dabei ist es Sache des wissenschaftssystematischen Augenmaßes zu bestimmen, wie viel Disziplinarität (und damit Universalität) sein muss und wie wenig Disziplinarität (und damit Partikularität) sein kann, damit Universität wirklich wird. Schließlich muss in einer Universität, auch in einer kleinen, viel Qualität beisammen sein, um Exzellenz, ohne die Wissenschaft ihre Zukunft verlöre, zu befördern. Qualität im Sinne des über Universalität und Transdisziplinarität Gesagten nicht nur auf fachlichen oder disziplinären Inseln, die man selbst bewohnt, sondern in Form eines wissenschaftlichen Umfeldes, das durch Qualität und Exzellenz bestimmt ist. Auch der Leistungssportler wird träge, wenn er nur gegen schwache Leute antritt. Wissenschaftliche Exzellenz, mit anderen Worten, wird durch Qualität und Exzellenz geweckt, sie erfindet sich nicht selbst – und wenn ja, dann, wie das auch für das Genie gilt, höchst selten. Kein Wunder, wenn sie es in mageren Umgebungen schwer hat. Es mag sein, dass sich die hier genannten Momente, die das Wesen einer guten Universität ausmachen, auch in ökonomischen Kategorien, nämlich denen des Marktes und des Wettbewerbs, ausdrücken lassen. Doch darauf kommt es gar nicht an. Entscheidend ist, dass sich die Universität wieder auf ihr eigentliches Wesen, das sie zum Mittelpunkt eines Wissenschaftssystems macht, besinnt und dass sie sich nicht in einen Wettstreit mit wissenschaftsfremden Paradigmen – seien es nun soziologische, didaktische oder ökonomische – locken lässt, den sie nur verlieren kann, weil sie ihr eigenes Wesen dabei verliert. 229

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Zu diesem Wesen – das sei abschließend noch einmal hervorgehoben – gehören auch die Geisteswissenschaften. Dabei ist die Universität der einzige Ort, an dem sich Geistes- und Naturwissenschaften heute überhaupt noch begegnen. Zwar handelt es sich dabei, zugegebenermaßen, meist nur um eine flüchtige Begegnung – unter Kollegen, die sich artig guten Tag sagen, oder unter Studierenden, die gemeinsam die Suppe in der Mensa löffeln –, doch immerhin. Es geht nicht darum, die Universität in Form einer Universalität, die auch die Geisteswissenschaften einschließt, neu zu erfinden, sondern sie – etwa in der gemeinsamen Arbeit an der kulturellen Form der Welt – einfach zu nutzen. Das mag zwar leichter gesagt als getan sein, aber das ist unter der Sonne, auch der wissenschaftlichen, schließlich nichts Neues. Zu früh dürfte es darum auch für einen jüngst gemachten Vorschlag zur Rehabilitierung des Unterschieds zwischen Studium und Wissenschaft, als „unterschiedlichen Praktiken des Erkennens“, sein.13 Die Geisteswissenschaften in Form eines geisteswissenschaftlichen Studiums wären hier von den Naturwissenschaften durch die Weise ihres Umgangs mit dem Wissen unterschieden. Sie wären ,symbolische Praxis‘, die zugleich ihr Gegenstand wäre, während die Naturwissenschaften und diejenigen Wissenschaften, die sich an deren Forschungsform orientierten, ihren Gegenstand gerade ,außer sich‘, nämlich in der Natur oder einer Gegenstandskonstitution in der Weise ,natürlicher‘ Gegenstände hätten. Doch hilft uns eine derartige Erinnerung an ein mittelalterliches Paradigma – die Universität als Inbegriff eines studium generale – über unsere gegenwärtigen Probleme mit der Universität und der Wissenschaftsform unserer Welt wirklich hinweg? Erinnert sei hier noch einmal an das zuvor erwähnte Missverständnis, wonach Kultur nicht nur das Andere der Natur, sondern auch das Andere der Wissenschaft ist, Geisteswissenschaft, mit Kultur befasst, folglich nicht Wissenschaft und Naturwissenschaft nicht Kultur sei. Also: Können die Geisteswissenschaften wirklich ihren Platz in der Universität behaupten, indem sie dieses Missverständnis selbst kultivieren und sich definitorisch aus einem gemeinsamen Wissenschaftsbegriff verabschieden? Die Gemeinsamkeit mag oberflächlich, ja oft nur noch rhetorisch festgehalten sein, zudem in eine gefährliche Nähe zu positivistischen Einheitskonzeptionen (Stichwort ,Einheitswissenschaft‘) geraten, aber wäre der nächste Schritt, wenn man diesem Vorschlag folgte, nicht die Preisgabe der Einheit der Universität in deren Zerlegung in ,labororientierte‘ Forschungsinstitute auf der einen Seite und ,bibliotheksorientierte‘ Schulen auf der anderen Seite? Die ,hohen‘ Schulen wären wiederhergestellt, aber um welchen Preis? Dieser Preis ist zu hoch, zumal ja, wenn die vorausgegangene Analyse stimmt, auch die Naturwissenschaften nicht gewönnen, sondern verlören, jedenfalls in dem Sinne, dass ihr Tun, ihr forschendes und lehrendes Tun, auch im Medium einer kulturellen Reflexion begreifbar wird. Eben dazu gehört eine Form von (wissenschaftlicher) Universalität, die die Geisteswissenschaften nicht ausschließt, sondern einschließt. Al13 Karlheinz Stierle, Naht das Ende des universitären Studiums? Den Geisteswissenschaften in Deutschland droht der dauerhafte Verlust ihrer Autonomie, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) v. 20.2.2002, S. 57.

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lerdings käme es dann sehr genau darauf an, wie sich die Geisteswissenschaften selbst verstehen. Verstünden sie sich als brave Bewohner einer zweiten Kultur, nur mit sich selbst und ihren traditionellen Problemstellungen beschäftigt, oder als Vollstrecker einer Kompensationsvorstellung, die sie in liebenswürdiger Belanglosigkeit belässt, wäre diesem Ziel, der Wiederherstellung der Einheit der Universität unter den Gesichtspunkten der Universalität, der Dialektik von Disziplinarität und Transdisziplinarität sowie wissenschaftlicher Exzellenz, die sich vor einem universalen und offenen disziplinären Hintergrund bildet, nicht gedient. Eben darum geht es, wenn von den Geisteswissenschaften die Rede ist, wohl doch nicht allein um Scherz, Satire und Ironie, sondern auch um tiefere Bedeutung, eine Bedeutung, die sie mit der Universität – auch um deren Zukunft willen – in einem wohlverstandenen Sinne teilen.

Nachwort Es gibt Themen, die bewegen sich nicht von der Stelle. Nicht, weil niemand etwas zu ihnen beizutragen vermag oder weil man ihnen aus dem Wege zu gehen sucht, sondern weil man mit ihnen so, wie sie gestellt, und so, wie sie ohne Aussicht auf abschließende Einsichten behandelt werden, zufrieden ist. Das gilt nicht nur in der alltäglichen Welt, wenn es z. B. um Probleme der Erziehung geht – jeder geht mit ihnen um und niemand schafft sie aus der Welt –, sondern auch in der wissenschaftlichen Welt, z. B. beim Thema Geisteswissenschaften. Die sind mit ihrem Selbst- und Wissenschaftsverständnis ein Dorn im Auge anderer Wissenschaften, und gleichzeitig sind sie sich selbst, verunsichert oder nicht, ein bevorzugtes Thema. Die Frage „Wer bist du?“ wird in diesem Falle nicht nur von außen – aus der Mitte der Wissenschaften und von Seiten der sie finanzierenden Gesellschaft – gestellt, sondern auch von innen – aus den Geisteswissenschaften selbst, um dann in der Regel gleich in seit langem geübte Auseinandersetzungen methodischer wie zuständigkeitsmäßiger Art zu führen. In der Hermeneutikdiskussion dreht man sich seit Dilthey (Stichworte: Verstehen und Erklären) mehr oder weniger um sich selbst, mit der Erfindung der Kulturwissenschaften droht ein disziplinäres Schisma bzw. scheint dieses bereits zur Normalität eines geisteswissenschaftlichen Bewusstseins geworden zu sein. Es gehört wenig Phantasie dazu, anzunehmen, dass auch in Zukunft die De­ batten etwa um das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften und jene um ein geklärtes Selbstverständnis in den Geisteswissenschaften nicht fehlen werden. Das Thema ist gesetzt und alle Beteiligten sind es zufrieden – die ­Geisteswissenschaften selbst, weil Selbstreflexion zu ihrem Wesen gehört, die Naturwissenschaften, weil sie sich in dieser Form einer Selbstreflexion nur in ihrem Argwohn (wenn nicht gar in ihrer Verachtung) gegenüber den Geisteswissenschaften bestätigt sehen. Das Dumme ist auch, dass der Rahmen, in dem das alles spielt, in der Regel die Universität ist, und um die steht es in der öffentlichen, aber auch in der (inner-) wissenschaftlichen Diskussion ähnlich wie mit der Diskussion über die Geis231

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teswissenschaften: Sie scheint ebenfalls unerschöpflich zu sein, darüber hinaus aber auch bedrohlich – für beide Seiten. Die Wissenschaftspolitik, zumindest die deutsche, liebt die außeruniversitäre Wissenschaftswelt, die Max-Planckund die Helmholtz-Welt, für die Universitätswelt denkt sie nur in Notprogrammen, ‚Pakte‘ genannt, die in Form des Hochschulpaktes und der Exzellenzinitiative gewiss hilfreich sind, aber doch nur von der tatsächlichen Not der Universitäten, ihrer chronischen Unterfinanzierung, ablenken. Gerade gegenwärtig ist es besonders ernst: Beide Pakte laufen, zusammen mit einem dritten, dem in diesem Falle der außeruniversitären Forschung zugutekommenden Pakt für Forschung und Innovation, aus, und wie es trotz jüngst beschlossener Initiativen zur Aufhebung des unsinnigen Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern in der Wissenschaft weitergehen soll (es ist wieder nur von Kooperation bei Vorhaben von ‚überregionaler Bedeutung‘ die Rede), weiß so recht niemand – eine sichere Gewähr dafür, dass jedenfalls dem Nachdenken über die Universität, ebenso wie dem Nachdenken über die Geisteswissenschaften, die Themen nicht ausgehen werden. Was sind die zentralen Themen der neueren Debatte um und in den Geisteswissenschaften? Zwei Stichworte. Erstes Stichwort: Kulturwissenschaften. Während die in der Mitte des 19. Jahrhunderts auftretende Bezeichnung ‚Kulturwissenschaften‘ zunächst der pointierten Abgrenzung gegenüber den Naturwissenschaften diente, so z. B. noch in den philosophischen Konzeptionen der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus (Windelband, Rickert), steht sie heute für eine Kontroverse innerhalb der Geisteswissenschaften selbst.1 Die anhaltende Konjunktur der Bezeichnung ‚Kulturwissenschaften‘ verdankt sich hier dem Umstand, dass in ihr eine Öffnung der von den klassischen Geisteswissenschaften, etwa den Philologien und den Literaturwissenschaften, selbst gesetzten Grenzen gesehen wird. Nicht mehr disziplinär gefasste Zuständigkeiten bestimmen das Forschungsspektrum der Geisteswissenschaften, sondern die ins Auge gefassten kulturellen Phänomene selbst, darunter auch solche, die bisher im Forschungskontext der Geisteswissenschaften nicht oder nur am Rande auftraten. Eine solche Öffnung geht dabei zu Lasten einer normativen Perspektive, die im systematischen Sinne charakteristisch für die klassische Disziplinenordnung der Geisteswissenschaften war. Insofern kann diese Öffnung aber auch ein Indiz dafür sein, dass sich die Geisteswissenschaften von den hohen Ansprüchen ihrer idealistischen Tradition zu verabschieden beginnen. Der Grund dürfte wiederum – neben der Abneigung gegenüber einem nunmehr als elitär verdächtigten traditionellen Kulturbegriff und einer Vorliebe für Alltagskulturen – darin zu sehen sein, dass im wissenschaftlichen Bewusstsein das Empirische an die Stelle des Nicht-Empirischen tritt, für das in dieser Entwicklung der Deutsche Idealismus mit Kant und Hegel ein willkommenes Beispiel liefert, und der Nachweis, empirische Methoden anzuwenden, nunmehr als Ausweis wahrer

1 Vgl. Thorsten Gubatz, Kulturwissenschaften, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, 2. Aufl. 2010, S. 411–414.

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Die Geisteswissenschaften und die Zukunft der Universität

Wissenschaftlichkeit gilt. Der von philosophischer Seite2 gegebene Hinweis auf nicht-empirische Bedingungen wissenschaftlicher Empirie wird hier selbst wieder als Rückfall in einen überwundenen Apriorismus, wenn nicht gar als Metaphysik im alten Sinne, gedeutet. Dabei ist das, was die Bezeichnung ‚Kulturwissenschaften‘ verdient, rechtverstanden doch nur die wissenschaftlich durchaus gerechtfertigte Seite einer Bemühung, die selbst weit reicher ausfällt (ausfallen muss) als die Beschränkung auf diese Seite. Schließlich geht es in den Geisteswissenschaften um die gesamte kulturelle Form der Welt, zu der z. B. auch die Naturwissenschaften gehören. Ein beanspruchtes Begreifen, das sich hier unter Rückgriff auf die empirisch orientierten Cultural Studies der angelsächsischen Tradition auf die Ziele und Perspektiven der Kulturwissenschaften beschränkt, wäre kein Begreifen, im Gegensatz etwa zu modernen wissenschaftstheoretischen Ansätzen, die die Fundamente naturwissenschaftlichen Wissens zum Sprechen bringen, oder modernen erkenntnistheoretischen Ansätzen, die wiederum zu den Grundlagen auch vieler Geisteswissenschaften, einschließlich ihrer kulturwissenschaftlichen Teile, zählen. Insofern wäre es aber auch methodisch völlig ungerechtfertigt, die sich selbst so verstehenden Kulturwissenschaften pauschal als die moderne Form der Geisteswissenschaften, diese im alten Sinne wissenschaftlich außer Dienst gestellt, zu bezeichnen. Das bringt die Geisteswissenschaften allerdings allein noch nicht aus ihren Darstellungs- und Begründungsschwierigkeiten, ganz unabhängig davon, ob sich moderne Formen der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie selbst zu den Geisteswissenschaften zählen oder – unter Hinweis auf ein äquidistantes Verhältnis zu allen Wissenschaften – eine Rationalitätsform eigener Art bilden. Mit anderen Worten: In einer ‚kulturwissenschaftlichen Wende‘ der Geisteswissenschaften öffnen sich diese gegenüber bisher in den geisteswissenschaftlichen Traditionen vielleicht allzu sehr vernachlässigten kulturellen Phänomenen, geht aber gleichzeitig der normative und der erkenntnistheoretische Ansatz der klassischen Geisteswissenschaften verloren. Dieser Verlust ist auch ein wissenschaftlicher Verlust. Zweites Stichwort: digital humanities. Unter diesem Titel stilisiert sich die auch in den Geisteswissenschaften längst selbstverständliche Verwendung computergestützter Verfahren, zum Teil in selbst fachlicher Form (Beispiele: Computerlinguistik und Historische Fachinformatik) gegeben, zu einer fundamentalen geisteswissenschaftlichen Neuorientierung. Aus Mitteln – hier der Digitalisierung im weitesten, Verfahren und ihre Ergebnisse einschließenden Sinne – werden Zwecke und Ziele. Das aber ist ein großes Missverständnis (wenn nicht einfach ein dummer Einfall). Offenbar wissen selbst immer weniger Wissenschaftler etwas mit dem Unterschied zwischen wesentlichen Bestimmungen und wechselnden Eigenschaften, zu denen auch instrumentelle 2 Vgl. Jürgen Mittelstraß, Philosophische Grundlagen der Wissenschaften. Über wissenschaftstheoretischen Historismus, Konstruktivismus und Mythen des wissenschaftlichen Geistes (1988), in: ders., Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, 1989, S. 194–227, hier S. 211–216 (Mythen des wissenschaftlichen Geistes II: Der Mythos der Empirie).

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Jürgen Mittelstraß

und Vermittlungsformen gehören, anzufangen. Das Mediale bemächtigt sich des Geistes. Der wiederum, geschmeichelt oder verunsichert bis in seinen Kern, biedert sich dem modernen Medienbewusstsein an und wird selbst zu einem medialen Ereignis oder eben, wie man meint, zu einer neuen Form der Geisteswissenschaften bzw. zu deren Leitdisziplin. Schon gibt es Fachgesellschaften und eine Dachorganisation (The Alliance of Digital Humanities Organizations), Zeitschriften wie das „Journal of Digital Humanities“ oder das „Digital Humanities Quarterly“ und natürlich auch schon einen Preis, den Busa-Preis für Verdienste in den ‚digital humanities‘, benannt nach dem italienischen Jesuiten und Pionier auf dem Gebiet der EDV-Anwendung in den Geisteswissenschaften Roberto Busa („Index Thomisticum“ in 56 Bänden). Das, was die Geisteswissenschaften bisher im System der Wissenschaften im Kern ausmachte, Theorie und Kritik der kulturellen Form der Welt, wird, so auch die aufkommende Kritik an dieser Entwicklung,3 zur Nebensache. Der Zeitgeist, so steht zu befürchten, gewöhnt sich das Nachdenken ab, und die Geisteswissenschaften, geblendet vom technologischen Fortschritt, verdingen sich als seine Buchhalter. Beides, Kulturalisierung (die Wendung vom geisteswissenschaftlich Theoretischen ins kulturell Empirische) und Medialisierung (die Verwechslung von Mittel und Zweck), verspricht nichts Gutes für die Zukunft der Geisteswissenschaften, damit auch nichts Gutes für deren universitären Ort. Der macht heute ohnehin, wie schon erwähnt, schwere Zeiten durch. Die Universität hat ihr erfolgreiches Paradigma, die Humboldt-Universität, verlassen und treibt seither, auch wenn das vielfach anders gesehen wird, ohne ein neues Paradigma dahin. Bologna ist eben kein neues Paradigma, sondern nur eine Ablenkung – eklektisch zwischen unterschiedlichen Systemen wählend, forschungsfern das Studium in eine neue Verschulung führend, bildungsallergisch, das Partikulare an die Stelle des Universalen setzend. Universitätsprobleme werden, wenn überhaupt, als Managementprobleme diskutiert und behandelt, Universitätsgesetze, in Deutschland absurderweise 16 an der Zahl, verkommen zur Spielwiese der Politik, statt mit auskömmlichen Haushalten wird mit Pakten regiert, an deren Ende die Universität stets als Verliererin dasteht. Das Rad der Ersatzinitiativen mit Verfallsdatum dreht sich aufs Neue. Auch die Universität selbst tut sich mit einer vernünftigen Selbstbestimmung schwer. Sie streckt sich nach der politischen Decke, stimmt in den Managementchor ein, erträgt geduldig immer neue Evaluations- und Akkreditierungseinfälle und kopiert Fachhochschulstudiengänge (Beispiele: Tourismus- und Pflegestudiengänge). Wer von einer Idee der Universität spricht, einer alten oder neuen, gilt als weltfremd oder unverbesserlicher Idealist – als wäre das Idealistische eine Krankheit, die mit empirischer Demut ausgetrieben werden müsste. Ein Wachstum über alle Maßen, ein bildungsferner Zeitgeist, eine un3 Vgl. Stanley Fish, The Digital Humanities and the Transcending of Mortality, Opinionator Blog, The New York Times v. 9.1.2012, http://opinionator.blogs.nytimes. com/2012/01/09/the-digital-humanities-and-the-transcending-of-mortality/ (letzter Zugriff: 31.7.2015); Thomas Thiel, Digital Humanities: Eine empirische Wende für die Geisteswissenschaften?, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) v. 24.7.2012, N 5.

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Die Geisteswissenschaften und die Zukunft der Universität

erwartete Renaissance des verwaltenden und des wirtschaftenden Verstandes werden der Universität zum Verhängnis. Unter den Schlagworten der Exzellenz, der Effizienz, der Innovation und des verschriebenen, in Rating und Ranking gefassten Wettbewerbs mutiert der universitäre Gedanke zum Spiegel einer Gesellschaft, die selbst nicht weiß, wie sie sich verstehen soll – der Überfluss an Soziologenangeboten wie denen einer postindustriellen, postmodernen, einer Wissens-, Informations-, Risiko-, Dienstleistungs- und Freizeitgesellschaft ist ein beredtes Beispiel dafür. Kein Wunder, dass der Universität bei all diesen Beglückungs- und Entglückungsangeboten selbst nichts mehr einfällt, jedenfalls nichts, das aus einer handfesten Identitätskrise herausführen könnte. In diesem Zusammenhang noch einmal zu Bologna.4 In gewissem Sinne muss man die ‚Bologna-Reform‘ vor ihren eigenen Freunden in Schutz nehmen. Die sehen in Bologna ein wirklich neues universitäres Paradigma, was es nicht ist, und setzen die Reform in einer Weise um, die Bologna gar nicht sein will. So zwangen die Bologna-Empfehlungen keineswegs zur universitätsweit schematischen, und hierin oft blinden, Bildung homogener Strukturen. Man hätte z. B. die Diplomstudiengänge (vielleicht unter einer leicht verschobenen Semantik) bestehen lassen können, die medizinischen und juristischen ebenfalls, und nur dort, im Sinne Bolognas, auf Strukturierung dringen sollen, wo sich dies ohnehin empfahl. Dann wären die meisten, tatsächlich funktionierenden Studiengänge nicht unter ein fremdes, und seinem Wesen nach eher universitätsfremdes (wenn nicht gar universitätsfeindliches) System geraten, und hätte hier ausgerechnet die sonst so hoch gepriesene Profilbildung nicht ihren Sinn verloren. Denn wo sollen noch Profile erkennbar sein, wenn sich alles auf die gleichen Strukturen und die gleichen Standards reimt? Und was für das Stichwort Profilbildung gilt, gilt auch für das ebenfalls ständig im Munde geführte Stichwort Qualität. Auch Qualität stellt sich keineswegs von selbst dort ein, wo alles über den gleichen organisatorischen und struktu­ rellen Leisten geschlagen wird, im Gegenteil: Es droht ein Qualitätsverlust. Der Grund ist, dass nunmehr auch das Lehrangebot streng standardisiert ist, die Wiederkehr des Gleichen (ganz unphilosophisch und unspekulativ) den Lehr- und Lernalltag bestimmt. Wo in streng normierten Intervallen immer die gleiche Vorlesung und das gleiche Seminar angeboten werden müssen, weil nur dies dem (zu Unrecht gefeierten) Moduldenken entspricht, versiegt auf Seiten der Lehrenden nur allzu bald die Lust, Besonderes – und das ist meist der aktuellen Forschung Geschuldetes – zu bieten. Das gleiche Modul verlangt die gleiche Vorlesung, das gleiche Seminar. Wer unter den Lehrenden entdeckt da nicht die entlastenden Vorzüge des immer Gleichen? Das soll, wohlgemerkt, auch ein Phänomen in Vor-Bologna-Zeiten gewesen sein; doch jetzt wird es quasi erzwungen, am Ende gar noch zur Tugend erhoben. Und ist es ein Zufall, dass mit dem Bologna-Gleichmaß auf einmal das Stichwort Qualitätssicherung an ungeheurer Bedeutung gewinnt? 4 In teilweise wörtlichem Anschluss an: Jürgen Mittelstraß, Humboldts Licht und Bolognas Schatten auf der Wissensgesellschaft, in: Marisol Sandoval u. a. (Hg.), Bildung MACHT Gesellschaft, 2011, S. 51–65, hier: S. 62–64.

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Unter diesem Stichwort bevölkern heute Räte und Agenturen die akademische Republik; sie lassen die Universität alt, in jedem Falle ratlos erscheinen. Auch das ein Krisenphänomen. Dabei sind Beratung und Kontrolle in universitären oder allgemein Hochschuldingen heute zu einem eigenen Markt und zu einem erträglichen Geschäft geworden. Keine Universität scheint sich ihnen entziehen zu können. Doch haben, recht besehen, die Universitäten meist wenig davon, im Gegenteil: Sie werden unter den Trompetenklängen der Qualitätssicherung von einer Evaluierung in die andere getrieben und nach Maßstäben beurteilt, die, wenn man Glück hat, die wissenschaftliche Arbeit nicht stören, oder, wenn man Pech hat, von dieser ablenken. Beispiele sind die Erhebung der Drittmittel zum Universitätsgötzen und eine Netzwerkrhetorik, die die Forscher in immer größere, ihre eigentliche Arbeit eher behindernde Verbünde treibt. Denn all das bedarf eines umfangreichen Managements, das zu Lasten der wissenschaftlichen Arbeit, in Forschung und Lehre, geht. Es ist wie mit Hase und Igel: Der planende und organisierende Verstand ist immer schon da. Oder anders formuliert: Der beratende, kontrollierende, verwaltende Verstand sitzt Wissenschaft und Universität im Nacken und droht ihnen die Luft zu nehmen, unterstützt vom politischen Verstand, der von Wissenschaft, wie sie tickt, wenig versteht, sich aber ständig an neuen administrativen und institutionellen Einfällen berauscht. Die Kurzatmigkeit der Politik und der lange Atem, den die Wissenschaft auf dem Wege zum Neuen, auch dem für Wirtschaft und Gesellschaft Neuen, und den die Universität in ihrem forschenden und lehrenden Tun braucht, gehen einfach nicht zusammen. Diese Entwicklung ist für die Geisteswissenschaften besonders verheerend, sind diese doch im Kern (und im Unterschied zur Selbstdefinition der Kulturwissenschaften) Reflexionswissenschaften, in denen das Nachdenkliche, Kon­ troverse, Kritische, nicht das Gesicherte, Repetierbare, Standardisierbare in Form eines Lehrbuchwissens das eigentliche Wesen ausmacht. Verschulung à la Bologna (wie man es versteht) bedeutet hier insofern auch nicht einfach Systematisierung der Lernwege, sondern Disziplinierung des nicht im Mainstream der Disziplinen Liegenden. Ein akademischer Schelm, wer Böses dabei denkt.

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Hanns Prütting

Wahrheit und Gerechtigkeit durch Verfahren? – Ist der ­staatliche Zivilprozess ein Auslaufmodell?* Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gründe für diese Entwicklung 1. Schiedsgerichtsbarkeit 2. Die zahlenmäßige Entwicklung 3. Konsensuale Streitbeilegung 4. Finanzielle Erwägungen 5. Funktionsstörungen durch Groß- und Massenverfahren (komplexe Verfahren) 6. Weitere Gesichtspunkte 7. Zwischenergebnis

IV. Die Wahrheit im Zivilprozess 1. Probleme 2. Gegentendenzen in der Wissenschaft 3. Die Wahrheitssuche und ­konsensuale Streitbeilegung 4. Zwischenergebnis V. Die Akzeptanz des Verfahrens als Strukturproblem VI. Ergebnis

III. Vom Wesen und Wert des staatlichen Zivilprozesses

I. Einleitung Für viele von Ihnen wird ein Vortrag über Grundfragen und aktuelle Probleme des Zivilprozessrechts etwas überraschend kommen – vielleicht sogar auch für die Prozessrechtsexperten unter Ihnen. Gibt es denn wirklich Anlass, neue Entwicklungen vorzustellen und zu diskutieren? Ein naheliegender, aber vielleicht eher äußerlicher Anlass könnte es sein, dass in der vergangenen Woche der 70. Deutsche Juristentag in Hannover auf seiner prozessrechtlichen Abteilung mögliche Veränderungen sehr breit diskutiert hat. Darüber wird heute kurz zu berichten sein. Als weiterer Gesichtspunkt ist eine erhebliche Zahl von Fachaufsätzen aus jüngster Zeit zu nennen, deren Titel und Tenor die Einladung zum heutigen Vortrag schon ein wenig widerspiegelt. Am verblüffendsten ist dabei der Titel des Aufsatzes der Abteilungsleiterin Rechtspflege im Bundesjustizministerium, Frau Ministerialdirektorin Marie-Luise Graf-Schlicker, die im Juli-Heft des Anwaltsblattes 2014 die Frage stellt: „Der Zivilprozess vor dem Aus?“. Sicherlich gehört zum Umfeld möglicher Gefahren für den deutschen Zivilprozess auch die intensive Diskussion einer Ablösung der streitigen Gerichtsbarkeit durch verschiedenste Arten konsensualer außergerichtlicher Streitbeilegung und vor allem durch die Mediation, von der man sich zum Teil Wunderdinge erwartet.

* Vortrag, gehalten am 23.9.2014 vor der Kölner Juristischen Gesellschaft.

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II. Gründe für diese Entwicklung Wir stehen bei näherer Betrachtung vor einer erstaunlichen Divergenz: Im internationalen Vergleich steht der deutsche Zivilprozess bestens dar, ausländische Teilnehmer des Juristentages haben ihn als großes Vorbild gelobt, häufig werden wir um unser effektives und zügiges Verfahren beneidet und dennoch haben nahezu alle schriftlichen Äußerungen in jüngster Zeit und wohl fast alle Diskussionsteilnehmer des Juristentages einen erheblichen Reformbedarf betont. Woher kommt diese widersprüchliche Wahrnehmung? 1. Schiedsgerichtsbarkeit Sehr häufig betont wurde auf dem Juristentag das stetige Anwachsen der Schiedsgerichtsbarkeit. Es wird immer wieder davon geredet, dass gerade bei Prozessen mit extrem hohem Streitwert eine Verlagerung weg vom staatlichen Zivilprozess in die private Schiedsgerichtsbarkeit stattfindet. Diese Befürchtungen erstaunen ein wenig. Zunächst ist festzuhalten, dass die Schiedsgerichtsbarkeit eine altehrwürdige Institution darstellt, die schon immer neben der staatlichen Zivilgerichtsbarkeit existierte. Gerade bei großen internationalen Streitigkeiten ist darauf hinzuweisen, dass Prozesse von Parteien mit unterschiedlicher Sprache und Nationalität, mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und mit unterschiedlichen religiösen Vorstellungen ihre zivilrechtlichen Konflikte schon immer durch Schiedsgerichte, meist in einem neutralen Land, gelöst haben. Es ist früher wie heute ausgeschlossen, dass bei Handelsbeziehungen zwischen kommunistischen und westlichen Unternehmungen oder zwischen muslimisch und westlich geprägten Unternehmern das staatliche Gericht eines der Beteiligten angerufen wird. Die internationale Schiedsgerichtsbarkeit ist daher schon immer ein Bereich gewesen, der nationalen staatlichen Gerichten entzogen ist. Von einer Verlagerung der Prozesse kann hier ernstlich nicht gesprochen werden. Aber auch bei einem Blick auf die rein nationale Schiedsgerichtsbarkeit vermag die Sorge um ein Anwachsen der privaten Schiedsgerichtsverfahren wenig zu beeindrucken. Die von der deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) betreuten Schiedsgerichtsverfahren sind in den vergangenen 10 bis 15 Jahren von ca. 50 Verfahren auf ca. 200 Verfahren angestiegen. Freilich erfasst die DIS nicht alle nationalen Schiedsverfahren. Gerade in Bausachen werden immer wieder auch Schiedsverfahren angestrengt, die nicht bei der DIS angemeldet sind. Fachleute schätzen daher, dass die von der DIS genannten Schiedsverfahren nur etwa die Hälfte der nationalen Verfahren darstellen. Diese nach vorsichtiger Schätzung derzeit vorhandenen maximal 400 bis 500 nationalen Schiedsgerichtsverfahren stehen (nach Zahlen des Jahres 2012) insgesamt ca. 1,5 Mio. erstinstanzlichen staatlichen Gerichtsverfahren vor den Amtsgerichten und Landgerichten gegenüber. Zu diesen 1,5 Mio. Verfahren pro Jahr kommen noch fast 6 Mio. Mahnverfahren hinzu. Auch wenn man, wie auf dem Juristentag betont, bei diesen 1,5 Mio. Verfahren nur in einem Drittel der Fälle zu einer Streitentscheidung gelangt, so ist doch die zahlenmäßige Diskrepanz 238

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deutlich. Es handelt sich bei der innerstaatlichen Schiedsgerichtsbarkeit nach wie vor um ein verschwindend geringes Phänomen. Von einer Tendenz der echten Verlagerung staatlicher Zivilverfahren auf die private Schiedsgerichtsbarkeit kann man nicht reden. 2. Die zahlenmäßige Entwicklung Vielfach wird darauf hingewiesen, dass die Fallzahlen im Zivilprozess in den vergangenen 10 Jahren stark zurückgegangen sind. So sind die Eingangszahlen am Amtsgericht von 1,5 Mio. im Jahre 2002 auf 1,15 Mio. im Jahre 2012 und am Landgericht von 412.000 im Jahre 2002 auf 355.000 im Jahre 2012 gesunken. Wie erklärt sich diese Entwicklung? Besteht hier Anlass zur Sorge? So ungeklärt die Entwicklung im Einzelnen ist, so lässt sich doch sehr stark vermuten, dass die Ursachen für den Rückgang multikausal sind. Die demografische Entwicklung mag eine Rolle spielen, ebenso die intensiven Bemühungen um den Ausbau außergerichtlicher Streitschlichtungsmöglichkeiten, aber auch das Bild der Justiz in der Außenwahrnehmung, wenn z. B. die Presse von einzelnen lang dauernden und komplexen Verfahren berichtet. Jenseits solcher Überlegungen überrascht es, wenn sinkende Fallzahlen Klagen auslösen, es finde eine „zum Prozessschwund führende Privatisierung der Justiz“ statt (Callies). Hier wird zunächst ganz grundlegend verkannt, dass die Reformbemühungen des Verfahrensrechts von 1877 bis heute als eine Geschichte der Versuche beschrieben werden können, den Prozess so zügig und effizient auszugestalten, dass eine Überlastung der Justiz vermieden wird. Dies betrifft nicht nur die Dauer der laufenden Verfahren, sondern der Gesetzgeber hat sich mit unterschiedlichen Mitteln auch stets bemüht, die Eingangszahlen zu beeinflussen. Erinnert sei nur an die obligatorische außergerichtliche Streitschlichtung gemäß § 15a EGZPO oder an die Vorschaltung von obligatorischen Güteverfahren sowie an die gerichtsnahe Mediation. Wenn insbesondere das ZPO-Reformgesetz des Jahres 2001 zur Abmilderung gerichtlicher Überlastung geführt haben sollte (was eines seiner erklärten Ziele war), so scheint mir dies ein Grund zur Freude und nicht zur Klage. Auch jenseits aller Ursachenforschung scheint mir der bisherige zahlenmäßige Rückgang nicht so signifikant und beängstigend, als dass man aus ihm eine Sorge für die funktionsfähige staatliche Zivilrechtspflege entnehmen könnte. 3. Konsensuale Streitbeilegung Bereits erwähnt wurde die konsensuale Streitbeilegung durch Mediation, durch Güte- und Schlichtungsstellen, durch Ombudsleute, durch Schiedsgutachten und viele andere Instrumente. Ihr Ausbau und ihre Stärkung wurden in den vergangenen 10 Jahren seit dem Inkrafttreten des ZPO-Reformgesetzes so intensiv und so nahezu ausschließlich betrieben, dass die nunmehr in Gang gekommene Diskussion um eine Erneuerung der staatlichen Ziviljustiz einen bemerkenswerten Paradigmenwechsel darstellt. Ich erinnere mich noch genau, als ich das Motto des 70. Deutschen Juristentages vor ca. 1 ½ Jahren erstmals 239

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las („Sind ZPO und GVG noch zeitgemäß?“), dachte ich, Ziel der Diskussion sei die Abschaffung oder doch weitgehende Zurückdrängung des staatlichen Zivilprozesses zu Gunsten konsensualer außergerichtlicher Streitbeilegung. Sei es, wie es sei: Das (übrigens zahlenmäßig durchaus bescheidene) Anwachsen der außergerichtlichen Streitbeilegung kann im Ernst keinen Grund zur Sorge um die staatliche Ziviljustiz darstellen. Immerhin könnten diese Überlegungen dazu führen, die Richtlinie der Europäischen Union über alternative Streitbeilegung und deren bevorstehende Umsetzung noch einmal zu überdenken, wenn dort die Verbraucherstreitigkeiten in eine privatisierte Justiz überführt werden. Denn dabei geht es nicht um einen zahlenmäßigen Vergleich, sondern um das Phänomen, dass ein bestimmter Rechtsbereich der Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung durch die staatlichen Gerichte entzogen wird. 4. Finanzielle Erwägungen Mehrfach wurde auf dem Juristentag betont, dass zwar rein zahlenmäßig das Anwachsen von Schiedsgerichtsbarkeit und konsensualer außergerichtlicher Streitbeilegung nicht so bedeutsam sei, dass aber gerade die streitwertmäßig großen Prozesse in die private Sphäre abwandern würden. Dies führe zu einem massiven Rückgang der Einnahmen aus Gerichtsgebühren und damit zu einer negativen Entwicklung des Justizhaushaltes. Ohne finanzielle Aspekte gering zu schätzen, sei hier allerdings die Aussage gewagt, dass solche rein monetären Argumente für eine Diskussion um die Modernisierung der Zivilgerichtsbarkeit von eher bescheidener Bedeutung sein dürften. Jedenfalls leuchtet es nicht ein, wie auf dem Juristentag geschehen, die Argumentation mit der Höhe der Gerichtskosten zu einem zentralen Gesichtspunkt der Diskussion zu stilisieren. Es kommt bei den finanziellen Erwägungen freilich noch ein ganz anderer Gesichtspunkt hinzu, der nach meinem Eindruck bisher nicht berücksichtigt worden ist. Gliedert man die Entwicklung der Fallzahlen erster Instanz in den vergangenen 10 Jahren nach dem Streitwert auf, so ergeben sich mit Ausnahme kleiner Streitwerte beim Landgericht in nahezu allen Bereichen deutliche Rückgänge, die sich auf die Streitwerte zwischen 0 und 100.000 Euro relativ gleichmäßig verteilen. Im Bereich zwischen 100.000 und 500.000 Euro Streitwert ergibt sich bei den Eingangszahlen der letzten 10 Jahre dagegen ein leichtes Plus. Eine deutliche Steigerung um 8 % ergibt sich aber bei den höchsten Streitwerten über 500.000 Euro. Diese auffallende Entwicklung könnte mit den verschiedenen Finanzmarktstreitigkeiten seit der Wirtschaftskrise 2008 zusammenhängen. Wie immer man dies bewerten mag, es wird dabei jedenfalls deutlich, dass die Argumentation mit der Gefahr deutlich sinkender Einnahmen aus den Gerichtskosten sehr wenig überzeugend ist.

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Wahrheit und Gerechtigkeit durch Verfahren?

5. Funktionsstörungen durch Groß- und Massenverfahren (komplexe ­Verfahren) Verständlich wird die aktuelle Diskussion um Reformen schon eher vor dem Hintergrund von Groß- und Massenverfahren (komplexen Verfahren). Wenn in einem bestimmten Fall des Streits um die Telekom-Aktie 17.000 gleichartige Verfahren bei einem Gericht eingehen oder wenn wegen eines Streits um einen bestimmten Fonds vor einem Gericht ein Lastwagen vorfährt, um 2.000 Klagen mit umfangreichen Anlagen abzuladen, dann kann jedermann verstehen, dass hier ein Stillstand der Rechtspflege eintritt und nach gesetzlicher Abhilfe gerufen wird. Wie allgemein bekannt, ist dies im Telekom-Verfahren mit dem KapMuG geschehen. Das Verfahren wird deshalb wahrscheinlich im Herbst dieses Jahres beim BGH endgültig seinen Abschluss finden. In anderen Fällen ist gut zu verstehen, wenn die Praxis nach Flexibilisierung der Justiz ruft (also etwa nach der Möglichkeit kurzfristiger Änderungen der Geschäftsverteilung innerhalb eines Jahres) oder Möglichkeiten anmahnt, das Verfahren durch Vereinbarung mit den beteiligten Rechtsanwälten zunächst auf einige Fälle zu beschränken. Vielleicht kann die vom Gesetzgeber bereits beschlossene elektronische Justiz hier künftig Hilfe bieten. Nicht übersehen werden sollte trotz aller Klagen, dass es um einzelfallorientierte Probleme geht, die nichts daran ändern, dass die Ziviljustiz in erster Instanz pro Jahr auch mehr als 300.000 Wohnungsmietfälle, mehr als 170.000 Kaufvertragssachen und etwa 150.000 zivilrechtliche Verkehrsunfallsachen abwickeln muss. Eine Ausnahme könnte hier der Bereich des Baurechts sein. Bau- und Architektenstreitigkeiten sind (jedenfalls beim Landgericht) sehr häufig und sehr zeitaufwändig sowie lästig. Es ist daher durchaus verständlich, dass die Teilnehmer des Juristentages mit knapper Mehrheit einen Antrag angenommen haben, wonach für geeignete Gegenstände, wie insbesondere das Bauwerkvertragsrecht, ein beschleunigtes Erkenntnisverfahren zu entwickeln sei. 6. Weitere Gesichtspunkte Viel gesprochen wurde auf dem Juristentag über Spezialisierung von Richtern und Spruchkörpern. Tatsächlich wurde mit breiter Mehrheit empfohlen, bei den Landgerichten obligatorisch für wichtige Rechtsgebiete Spezialkammern einzurichten, soweit nicht bereits vorhanden (Bausachen, Arzthaftung, Kapitalanlagehaftung, Versicherungsvertragssachen, Softwarevertragssachen). Empfohlen wurde auch, die Regelung über die Kammern für Handelssachen mit dem Ziel einer Spezialisierung nach Sachgebieten zu modernisieren. Schließlich wurde empfohlen, durch den Gesetzgeber die Möglichkeit zu schaffen, dass in Einzelfällen Richter aus einer anderen Gerichtsbarkeit zur Entscheidung hinzugezogen werden können. Meines Erachtens überzeugend abgelehnt wurde es aber, dass Spruchkörper auch nicht juristisch Fachkundige als Laienrichter beiziehen können. Ein weiteres wichtiges Thema war die überlange Verfahrensdauer. Die in diesem Zusammenhang vorgelegten Pläne einer Abhilfe sind in meinen Augen weithin abenteuerlich bis abwegig. Angefangen von dem Vorschlag, ein eigenes 241

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Buch der ZPO über „lang dauernde Verfahren“ einzurichten, bis zum Vorschlag, den Umfang der Schriftsätze kraft Gesetzes mit Präklusionswirkung auf 40 Seiten zu begrenzen, haben diese Pläne durchweg Ablehnung am Juristentag erfahren. Hohe Beachtung würde hier vielmehr das Ergebnis einer Arbeitsgruppe der Präsidenten von Kammergericht, OLG Hamburg, Hamm, Jena und Nürnberg verdienen. Dort wurde an erster Stelle der Richterwechsel als Element der Verzögerung identifiziert, an zweiter Stelle eine unzureichende Verfahrensförderung durch das Gericht und an dritter Stelle der Sachverständigenbeweis. Dieses Ergebnis ist höchst interessant und zeigt, wo die wirklichen Probleme des Normalprozesses liegen. Denn Fragen des Richterwechsels sind sicherlich keine Strukturprobleme der ZPO. Für eine erforderliche Verfahrensförderung und Verfahrensleitung sind in der ZPO vielfältige und oft nicht ausreichend genutzte Instrumente vorhanden (vgl. nur §§ 139, 141, 142, 144 ZPO). Dass schließlich der Sachverständigenbeweis einer tiefgreifenden Reform bedarf, ist weithin anerkannt. Die bereits erwähnte Flexibilisierung der Justiz nahm auf dem Juristentag breiten Raum ein. Zustimmung fand dabei insbesondere die These, der Gesetzgeber solle dem in richterlicher Unabhängigkeit handelnden Präsidium die Befugnis geben, Verfahren auch abweichend von der Geschäftsverteilung zuzuweisen. Zustimmung gefunden hat auch die Idee, Richter sollten als wissenschaftliche Mitarbeiter auch in den Instanzgerichten eingesetzt werden können, ohne einem Spruchkörper planmäßig anzugehören. Dagegen wurde der Vorschlag abgelehnt, die Parteien könnten übereinstimmend beantragen, ihr Verfahren einem bestimmten Richter oder einem bestimmten Spruchkörper zu übertragen. Nicht berücksichtigt wurde in der Diskussion der übergreifende Gedanke, dass Maßnahmen wie eine erhebliche Ausweitung der Spezialisierung von Spruchkörpern dem Gedanken der Flexibilisierung deutlich entgegenstehen können. 7. Zwischenergebnis An dieser Stelle sei der Überblick über die für die aktuelle Diskussion leitenden Gesichtspunkte und ihre Bewertung abgebrochen. Mein Zwischenergebnis wird Sie nicht überraschen. Ich halte die Argumente, die für eine dringend nötige Modernisierung von ZPO und GVG vorgebracht werden, für reichlich dürftig. Verfahrensordnungen (wie das Recht insgesamt) unterliegen ständigem Wandel durch Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung. Sie sind gelebtes Recht und bedürfen von daher der Weiterentwicklung, auch durch den Gesetzgeber. Die ZPO ist allein von 1950 bis heute fast 200mal geändert worden. Darunter waren mit der Vereinfachungsnovelle 1976 und dem ZPO-Reformgesetz 2001 zwei grundlegende und strukturändernde Novellierungen. Vor diesem Hintergrund halte ich ZPO und GVG durchaus für zeitgemäß, wenn auch im Einzelnen stets für verbesserungsfähig und verbesserungswürdig. Mit meiner schon im Jahre 2013 im Anwaltsblatt Heft 6 dargelegten Auffassung, der deutsche Zivilprozess sei durchaus modern und effektiv, habe ich mir zwar die massive Kritik des Präsidenten des OLG Celle, Götz von Olenhusen (zugleich Leiter der Prozessrechtsabteilung des Juristentages), zugezogen, ich stimme aber mit den beiden vertieften wissenschaftlichen Aufsätzen direkt zum Juris242

Wahrheit und Gerechtigkeit durch Verfahren?

tentag von Bernd Hirtz in der NJW (Heft 35) und Herbert Roth in der Juristenzeitung (Heft 17) überein.

III. Vom Wesen und Wert des staatlichen Zivilprozesses Ich möchte nun zum Titel meines Vortrags zurückkommen und feststellen, dass die zweite Hälfte des Themas in meinen Augen abgearbeitet ist. Der staatliche Zivilprozess ist kein Auslaufmodell. Um mit einem bekannten Politiker zu sprechen: „Und das ist auch gut so.“ Denn ein funktionsfähiger staatlicher Zivilprozess ist nicht nur Voraussetzung für individuelle Gerechtigkeit, sondern auch ein wichtiger Faktor für wirtschaftliche Investitionstätigkeit und privaten Handel. Der Zivilprozess ist weit darüber hinaus ein hohes Kulturgut. Es ist Teil der von den Parteien erwarteten Verfahrensgerechtigkeit, dass beiden Seiten rechtliches Gehör gewährt wird, dass ein faires Verfahren praktiziert wird, dass die Sache durch neutrale und unabhängige Personen behandelt und damit letztlich im Rahmen rationaler Ergebnisbegründung Rechtssicherheit und Rechtsfrieden durch Rechtskraft geschaffen wird. Gerade aus dieser prozeduralen Gerechtigkeitserwartung heraus zeigt sich, dass der Zivilprozess eine rechtliche Errungenschaft von bleibendem Wert ist. Dem Wesen der Menschen entspricht es, dass jeden Tag aufs Neue Streit entstehen kann und dass sich Streit nicht stets durch materiellen Konsens lösen lässt. Mediation und andere Formen konsensualer Streitbeilegung werden daher das streitige Gerichtsverfahren und das autoritative Urteil als Verfahrensabschluss niemals gänzlich ersetzen können. Vielmehr bedarf es des formalen Streitentscheids und der Rechtskraft, um nach einem Streit eine neue Chance zu einem friedlichen Zusammenleben von Menschen zu ermöglichen. Rechtssicherheit und Rechtsfrieden als zentrale Ziele und Werte des Zivilprozesses setzen freilich ihrerseits voraus, dass das einzelne Verfahren der Wahrheit entsprechend und nach den anwendbaren Rechtsnormen richtig entschieden worden ist. Kollektive Rechtssicherheit setzt individuelle Gerechtigkeit grundsätzlich voraus. Dies führt zu einer weitergehenden Frage nach dem Stellenwert der Wahrheit im Prozess.

IV. Die Wahrheit im Zivilprozess Auf dem Juristentag ist im Rahmen der vielfältigen Diskussionen mehrfach der Satz formuliert worden: Der Richter müsse den Prozess nach der materiellen Wahrheit entscheiden. Von einem Diskussionsteilnehmer (einem OLG-Richter) wurde dabei sogar ausdrücklich formuliert, die Ermittlung der Wahrheit sei bedeutsamer als die Beachtung des § 531 Abs. 2 ZPO, der bekanntlich in der Berufungsinstanz neues Vorbringen einschränkt. Wenn dies richtig wäre, dann wäre die Wahrheitssuche im Zivilprozess (jedenfalls in erster Instanz) das oberste Gebot des Richters. Klar ist jedenfalls, dass das Streben nach Wahrheit eine entscheidende Grundlage rationaler Prozessführung darstellt.

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1. Probleme Dem stellen sich aber eine Reihe von Hindernissen in den Weg. Zunächst und vorab darf daran erinnert werden, dass die Suche nach der Wahrheit im Zivilprozess immer eine subjektive Wahrheit ist. Entscheidend ist gemäß § 286 Abs. 1 ZPO bekanntlich, dass das erkennende Gericht die Überzeugung erlangt hat, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. Zu keinem Zeitpunkt wird im Zivilprozess nach der Feststellung der objektiven Wahrheit geforscht. Ebenso kann die Geltung des Beibringungsgrundsatzes im Zivilprozess zu einer gewissen Einschränkung der Wahrheitsermittlung führen. Denn das Gericht kann den Sachverhalt nicht von Amts wegen ermitteln oder aus eigener Kenntnis ergänzen. Anerkannt ist insbesondere, dass ein privates Wissen des Richters nicht von Amts wegen in den Prozess eingeführt werden darf. Weit darüber hinaus muss aber eine erhebliche Einschränkung der Wahrheitssuche im Rahmen juristischer Beweisführung dadurch konstatiert werden, dass nur die prozessordnungsgemäß gewonnene Wahrheit bedeutsam sein darf. So ist daran zu erinnern, dass der Richter in weitem Umfang rechtswidrig erlangte Beweismittel nicht verwerten darf. Es gibt also Beweisverbote, die den Schutz anderer Rechtsgüter über die Wahrheitssuche stellen. Ähnliches gilt für die gesetzlichen Regelungen zur Zeugnisverweigerung. Diese einzelnen Zeugnisverweigerungsrechte aus persönlichen Gründen, aus beruflichen Gründen sowie aus sachlichen Gründen erfassen erkennbar Schutzgüter der betroffenen Personen, die der Gesetzgeber über die Suche nach der Wahrheit stellt. Insgesamt erzwingt der Persönlichkeitsschutz von Parteien und Dritten erhebliche Einschränkungen der Wahrheitssuche. Schließlich ist nicht zu verkennen, dass auch der Gedanke der Prozessökonomie notwendigerweise zu gewissen Einschränkungen der Wahrheitssuche führen muss. Wenn der Richter etwa von der Möglichkeit Gebrauch macht, verspätetes tatsächliches Vorbringen oder verspätete Beweisführungen gemäß § 296 ZPO als präkludiert zurückzuweisen, wird zwangsläufig die Wahrheitsermittlung beschränkt. Auch dort, wo aus prozessökonomischen Gründen eine Beweisaufnahme mit Hilfe von präsenten Beweismitteln zugelassen wird, führt dies zwangsläufig zu einer eingeschränkten Wahrheitsermittlung. Diese kurzen Hinweise verdeutlichen, dass es ein Missverständnis wäre, die Ermittlung der Wahrheit zum alleinigen Zweck des Zivilprozesses oder jedenfalls zu seinem zentralen Gesichtspunkt in erster Instanz zu stilisieren. 2. Gegentendenzen in der Wissenschaft Die bisherigen Überlegungen von der nur eingeschränkten Wahrheitssuche im deutschen Zivilprozess kontrastieren allerdings mit einer modernen wissenschaftlichen Auffassung, die die richterliche Tatsachenermittlung und Wahrheitssuche deutlich verstärken will. Bekannt geworden ist diese Tendenz durch die These von Stürner über „die Aufklärungspflicht der nichtbeweisbelasteten Partei“. Stürner hat damit das Anliegen der Praxis, vorhandene Aufklärungs244

Wahrheit und Gerechtigkeit durch Verfahren?

möglichkeiten aller Prozessbeteiligten über den Sachverhalt zu nutzen, aufgegriffen. Stürner hält eine erschöpfende Prüfung der Wahrheit im Prozess für einen unabdingbaren Bestandteil der durch die Verfassung garantierten rechtsstaatlichen Rechtsschutzgewährung. Die Verfassung enthalte insoweit eine Garantie eines auf Wahrheitsfindung angelegten Rechtsschutzverfahrens. Dies erfordere es aber, möglichst alle Aufklärungsmittel im Zivilprozess heranzuziehen. Auf dieser verfassungsrechtlichen Basis begründet Stürner eine umfassende prozessuale Aufklärungspflicht im Rahmen einer Rechtsanalogie. Die so entwickelte allgemeine Aufklärungspflicht soll alle möglichen und zumutbaren Aufklärungsbeiträge auch der nichtbeweisbelasteten Partei erfassen. Auf dem Juristentag in Hannover hat Rechtsanwalt Vorwerk in seinem Referat diese Überlegungen wieder aufgegriffen, ohne Stürner und die 40jährige Diskussion über diese Fragen zu benennen. Allerdings haben der BGH und die herrschende Meinung in Deutschland die Auffassung von Stürner bisher abgelehnt. Diese Ablehnung beruht vor allem darauf, dass durch eine allgemeine Aufklärungspflicht der nichtbeweisbelasteten Partei das gesetzliche System der Beweislastverteilung ausgehöhlt würde. Dies würde also auch die gesetzliche Risikoverteilung durch Regeln der objektiven Beweislast beseitigen. Zum Wesen einer den Zivilprozess prägenden kontradiktorischen Verfahrensgestaltung gehört es vielmehr, dass die nichtbeweisbelastete Partei weder zur Sachverhaltsaufklärung beitragen muss noch Nachteile aus einem verbliebenen non liquet zu tragen hat. Keine Partei ist verpflichtet, bei der Ermittlung des Sachverhalts die Sache ihres Gegners zu betreiben. Dieser prozessuale Grundsatz wird von der Tatsache flankiert, dass es im Rahmen materiell-rechtlicher Sonderverbindungen eine große Fülle von solchen materiellen Verpflichtungen zwischen den Parteien auf Gewährung von Auskunft, von Aufklärung oder von Rechenschaft gibt. Bisher ist die wissenschaftliche Diskussion um die Aufklärungspflicht der nichtbeweisbelasteten Partei in Deutschland vor allem im Rahmen der Fragen zur Beweislast und zu den Beweismitteln geführt worden. Es zeigt sich aber, dass vor dem Hintergrund der oben dargestellten weitreichenden Einschränkungen der Wahrheitssuche im Zivilprozess die Ablehnung der Auffassung von Stürner durchaus überzeugend erscheint und im Gesamtsystem harmoniert. 3. Die Wahrheitssuche und konsensuale Streitbeilegung Bekanntlich hat der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der europäischen Mediationsrichtlinie ein eigenes deutsches Mediationsgesetz geschaffen. Der Gesetzgeber hat darüber hinaus aber auch in den §§ 278, 278a ZPO mediative Elemente in das Gesetz eingebaut. Nach § 278 Abs. 1 ZPO kann das Gericht (wie schon bisher) in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits hinwirken. Ferner kann das Gericht nach § 278 Abs. 5 ZPO die Parteien für die Güteverhandlung auf einen hierfür bestimmten und nicht zur Entscheidung befugten Richter (den sog. Güterichter) verweisen. Schließlich kann das Gericht nach § 278a Abs. 1 ZPO den Parteien den Vorschlag machen, trotz Rechtshängigkeit des Verfahrens den Versuch einer außergerichtlichen 245

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Mediation oder einer außergerichtlichen Schlichtung zu machen. In diesem Fall ordnet das Gericht das Ruhen des Verfahrens an. Alle diese nunmehr im Gesetz vorhandenen Möglichkeiten zu einer konsensualen Streitbeilegung trotz Rechtshängigkeit eines Verfahrens stehen in einem gewissen Widerspruch zum Postulat umfassender Wahrheitssuche im Zivilprozess. Denn es ist sicherlich nicht Ziel und Aufgabe eines Schlichters oder eines Mediators, den Sachverhalt eines Rechtsstreits vollständig aufzuklären. Richterliche Bemühungen um einen Prozessvergleich werden darüber hinaus regelmäßig von dem Bestreben getragen, eine zeitaufwendige und kostenintensive Beweisaufnahme und damit eine Sachverhaltsaufklärung zu vermeiden oder jedenfalls deutlich abzukürzen. Dieser mögliche Widerspruch zwischen konsensualer Streitbeilegung und Wahrheitssuche ist im Bereich des deutschen Zivilprozessrechts bisher weder von der Rechtsprechung noch von der Wissenschaft thematisiert worden. Aus der hier vorgetragenen Sicht vom Wesen des Zivilprozesses als nur deutlich eingeschränkter Wahrheitssuche und damit vom Ziel einer ausschließlich prozessordnungsgemäß gewonnenen Wahrheit stellt sich freilich die Neuregelung in den §§ 278, 278a ZPO nicht als widersprüchlich dar. Vielmehr zeigt nach hier vertretener Auffassung die neue Regelung im Gesetz nur einen weiteren Gesichtspunkt auf, warum auch Gedanken der Prozessökonomie und der Effizienz des Verfahrens sowie der verstärkten Berücksichtigung konsensualer Lösungsversuche zu einer berechtigten Einschränkung der Wahrheitssuche im Zivilprozess führen können. 4. Zwischenergebnis Die Erforschung der Wahrheit ist und bleibt eine wichtige Aufgabe des Richters im Zivilprozess. Der Gedanke der Wahrheit und der Wahrheitssuche im Zivilprozess erfährt aber unter drei zentralen Gesichtspunkten eine Einschränkung. Erster zentraler Gesichtspunkt ist die rein subjektive Komponente einer juristischen Wahrheitssuche. Im Zivilprozess wird zu keinem Zeitpunkt nach der Feststellung der objektiven Wahrheit geforscht, sondern Ziel ist allein eine subjektive Wahrheit im Sinne der Überzeugung des Richters von der Wahrheit. Zweite zentrale Einschränkung der Wahrheitssuche ist die Tatsache, dass Wahrheit im Zivilprozess immer nur die prozessordnungsgemäß gewonnene Wahrheit sein kann. Parteirechte und Schutzgüter zugunsten von Parteien und Dritten erzwingen deutliche Beschränkungen der Wahrheitssuche. Ein dritter zentraler Gesichtspunkt eingeschränkter Wahrheitsermittlung sind die Prozess­ ökonomie und Effizienz des Verfahrens sowie der Gedanke konsensualer Streitbeilegung. Gerade diese sehr modernen Gesichtspunkte zeigen, dass der Prozess niemals ausschließlich der Wahrheitsermittlung dienen kann, dass vielmehr die korrekte Ermittlung des Sachverhalts in Wahrheit nur eines von mehreren gleichwertigen Hauptzielen des Zivilprozesses darstellt.

V. Die Akzeptanz des Verfahrens als Strukturproblem Die bisherigen Überlegungen zu aktuellen und zu grundlegenden Fragen des Zivilprozesses haben möglicherweise den Eindruck vermittelt, dass eigentlich 246

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alles in bester Ordnung sei und wir uns getrost zurücklehnen können. Dieser Eindruck täuscht. Es könnte nämlich sein, dass ein viel tiefer liegendes Strukturproblem des Verfahrensrechts existiert. Es geht um die Akzeptanz von Verfahren und die Schaffung von Rechtsfrieden. Sie alle haben gelesen, dass vor wenigen Tagen das Landgericht Frankfurt eine einstweilige Verfügung gegen den privaten Taxivermittler Uber erlassen hat und dieses Unternehmen daraufhin sofort erklärt hat, es werde sich an die gerichtliche Entscheidung nicht halten. Nun mag dies ein Sonderfall sein und im Übrigen ist die einstweilige Verfügung bereits aufgehoben worden. Dass aber fehlende Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen ein grundlegendes Strukturproblem darstellen kann, lässt sich vor allem an Großprojekten zeigen. Als ein Beispiel will ich noch einmal auf Stuttgart 21 einen Blick werfen. Im Sommer 1994 wurde das allgemein bekannte Konzept der Öffentlichkeit vorgestellt, den Bahnhof von Stuttgart und mit ihm zugleich erhebliche Teile der Innenstadt umzugestalten sowie eine neue Bahntrasse Stuttgart – Ulm zu bauen. Im November 1995 schloss die Stadt Stuttgart einen Rahmenvertrag mit der Bahn, dem Bund, dem Land und der Region. In den Jahren 2001–2005 fand ein umfassendes Planfeststellungsverfahren beim Eisenbahnbundesamt statt. Anschließend kam es noch zu Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, bevor im Jahre 2010 mit der Umsetzung des Projektes begonnen wurde. Angesichts des lang andauernden und endgültig abgeschlossenen Verfahrens ist es also sehr bemerkenswert, dass Tausende von Menschen in Stuttgart gegen dieses große Projekt heftig protestiert und demonstriert hatten. In den Medien wurden die entstandenen Schwierigkeiten als ein deutliches Signal dafür bezeichnet, dass in Deutschland die Zeit der Basta-Entscheidungen vorbei sei (so ausdrücklich Heiner Geißler). Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Mahrenholz rechtfertigte die Proteste sogar mit dem Hinweis, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgehe. Der frühere Richter am Oberlandesgericht Stuttgart Roth-Stielow behauptete allen Ernstes, der Protest rechtfertige sich daraus, dass die Gerichte ohne Rücksicht auf Bürger- und Naturbelange immer zugunsten des jeweiligen Projektes entscheiden würden. Solche Begründungen mögen im Einzelfall grotesk sein. Denn natürlich ist die Zahl der politischen Projekte, die vom Bundesverfassungsgericht und von den deutschen Verwaltungsgerichten gestoppt wurden, Legion. Vollends abstrus wird es, wenn ein ehemaliger Bundesverfassungsrichter allen Ernstes die vom Volk ausgehende Staatsgewalt gegen abgeschlossene Gerichtsverfahren in Stellung bringen will. Aber das Problem liegt in Wahrheit sehr viel tiefer. In der Öffentlichkeit und in den Medien wurde vielfach die Frage gestellt, wie es zu einem solchen Konflikt kommen konnte. Eine nicht selten darauf gegebene Antwort lautet, die Ursache liege in den früheren Konflikten. Denn damals wurde die Uneinigkeit in der Sache durch eine Einigung per Verfahren ersetzt. Diese Antwort mag nicht völlig falsch sein. Sie verfehlt aber den Kern der Sache. Denn es ist durchaus das Ziel des Verfahrensrechts, Legitimation durch Verfahren zu schaffen, wie dies einmal Niklas Luhmann formuliert hat. Es entspricht geradezu dem Wesen der Menschen, dass Einigkeit in der Sache nicht immer erzielt und nicht erzwungen werden kann. Daher muss eine letztlich notwendige Einigung auf einem verfahrensmäßigen Weg erzielt werden. Der Abschluss eines solchen 247

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Verfahrens durch die Rechtskraft ist also die absolut zentrale Grundlage jedes rechtsstaatlichen Verfahrens. Vor diesem Hintergrund sollten wir es durchaus als eine Krise moderner Gerichtsbarkeit empfinden, wenn Bürger in Stuttgart oder an anderen Orten endgültig abgeschlossene Planungen und Grundsatzentscheidungen auf der Straße abändern wollen. Sollte dies bedeuten, dass unsere Verfahren keine ausreichende Legitimationswirkung mehr bieten? Was könnte man an deren Stelle setzen? Immer häufiger wird hier ein plebiszitärer Gedanke ins Spiel gebracht. Entscheidungen wie die in Stuttgart sollen unabhängig von sonstigen Verfahrensabläufen durch einen Volksentscheid getroffen werden. Nun wird man 18jährigen Schülern nicht ihr durchaus sympathisches Engagement und ihr naives Vertrauen auf einen Volksentscheid vorwerfen können. Wir als Juristen wissen, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes im Jahre 1949 zwar in Art. 20 Abs. 2 GG bestimmt haben, dass die Staatsgewalt vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird, dass sie aber in der Praxis ganz bewusst die Möglichkeiten des Volkes weitgehend auf Wahlen beschränkt haben. Wir sollten unseren Schülern und Studenten vielleicht stärker verdeutlichen, dass diese Entscheidung für eine mittelbare Demokratie sehr gut begründet ist. Würden wir alle wesentlichen Entscheidungen dieses Staatswesens durch Volksentscheide bestimmen, so hätten wir bekanntlich über lange Jahrzehnte in Deutschland mit der Todesstrafe leben müssen, die bis vor wenigen Jahren im Volk stets eine Mehrheit hatte. Bei der nahezu regelmäßig vor jeder Bundespräsidentenwahl geforderten Direktwahl durch das Volk wäre es keineswegs unwahrscheinlich, dass wir eines Tages Dieter Bohlen oder Stefan Raab als Bundespräsidenten akzeptieren müssten. Wir wissen, dass die direkte Demokratie in unserem Nachbarland Schweiz nur angesichts der teilweise winzigen Kantone und unter den besonderen neutralen Bedingungen dieses Landes funktionieren kann und funktioniert. Die Ergebnisse sind im Übrigen oft wenig eindrucksvoll. Die Vorstellung wäre geradezu grotesk, wollte man in großen Staaten, die stark in den Macht- und Interessenstrukturen der Weltpolitik verankert sind, eine unmittelbare Demokratie einführen. Man überlege einmal, welche Auffassungen in den USA im Rahmen solcher Volksentscheide als mehrheitsfähig zum Gesetz werden könnten. Was folgt aus solchen Überlegungen für unser Thema? Gerade Niklas Luhmann ist in seiner Untersuchung unter anderem davon ausgegangen, dass Exekutive und Judikative permanent Entscheidungen fällen, die in Umfragen niemals eine Mehrheit erhalten hätten. Er will deshalb den eigenartigen und unwahrscheinlichen Umstand erklären, dass sich dennoch häufig eine Anerkennung dieser Entscheidungen einstellt. Soweit diese Anerkennung darauf beruht, dass Verfahren und Inhalt, dass Legalität und Legitimität übereinstimmen, ist das Ergebnis nicht sonderlich überraschend. In vielen Fällen aber wird auch ohne abschließende Entscheidung über die inhaltliche Richtigkeit durch das Verfahren selbst eine Hinnahme und Anerkennung des Ergebnisses erreicht. Wird wie in Stuttgart nach einem 15jährigen Verfahrensgang durch alle Instanzen ein rechtskräftiger und endgültiger Abschluss des Verfahrens erzielt und hält man danach dennoch eine Schlichtung als ein neues Verfahren für erforderlich, so kann dies nur bedeuten, dass das vorausgehende Verfahren versagt hat. Worin dieses Versagen liegen könnte, ist die eigentliche Kernfrage von Stuttgart 21. 248

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Vielleicht hat allerdings das Verfahren gar nicht versagt. Vielleicht ist es auch so, dass moderne Planfeststellungsverfahren mit ihrem ungeheuer großen Aufwand der Bürgerbeteiligung eher des Guten zu viel als zu wenig bieten. Bemühen wir für die aktuellen Probleme noch einmal Niklas Luhmann in seinem Buch „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (1997). Er gelangt zu dem Ergebnis, dass mit modernen Protestbewegungen die moderne Gesellschaft gegen sich selbst protestiert. Im Kern geht es dabei um die immer wieder neu zu stellende Frage, inwieweit eine moderne Gesellschaft bereit ist, die vielfältigen Ungleichbehandlungen, Risiken, Unvollkommenheiten und Ungerechtigkeiten hinzunehmen, ohne die keine Gesellschaft bestehen kann und jemals bestehen wird. Sollte Luhmann mit seiner These Recht haben, so wäre dies auch für uns und für unser Verfahrensrecht in der Zukunft von großer Bedeutung. Unser Ergebnis wäre dann nämlich, dass nicht das Verfahren versagt hat und verändert werden muss, sondern dass moderne Protestbewegungen aus ihrer eigenen Form heraus, also vom Protest selbst ihre Legitimation erfahren. Sie können sich also nicht auf Kompromisse und Abwägungen, auf Einsicht in einzelne Argumente oder auf Fragen der Nützlichkeit einlassen, denn dies würde ihren Protest, also ihre Grundlage ruinieren. Diese Erkenntnis hat Gerd Roellecke zu der Einsicht geführt, dass es für die Politik in solchen Fällen nicht hilfreich wäre, sich auf abgeschlossene Entscheidungen und die Notwendigkeit zu berufen, gesamtgesellschaftliche Funktionen zu erfüllen. Denn der Protest richte sich gerade gegen diese Funktionserfüllung und die Protestierer seien im Recht, nicht weil sie Recht haben, sondern weil sie protestieren. Das wenig erbauliche Ergebnis von Roellecke auf die Frage, wie der Konflikt zu lösen sei, lautet: Man möge auf eine Ermüdung der Protestierer warten. Denn Erschöpfung habe bereits Kriege beendet. Ich selbst möchte diesem problematischen Ergebnis entgegensetzen, dass wir künftig unseren Schülern und Studenten, aber auch den ängstlichen und das Althergebrachte möglichst bewahrenden Angehörigen der älteren Generationen viel stärker verdeutlichen müssen, welche grundsätzliche Bedeutung und welchen unersetzlichen Wert das Verfahrensrecht und mit ihm das öffentliche Gerichtsverfahren mit seinen veröffentlichten Ergebnissen aufweist. Es ist nicht allein der Rechtsstaat, der auf dem Spiel steht, sondern es ist unser friedliches Zusammenleben insgesamt, das ohne Verfahren und Verfahrensrecht nicht möglich erscheint.

VI. Ergebnis Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss und will versuchen, ein kleines Fazit zu ziehen. Der 70. Deutsche Juristentag hat gezeigt, dass die Phase überwunden ist, in der aller Streit über Mediation und andere Formen konsensualer Streitbeilegung gelöst werden sollte. Der staatliche Zivilprozess scheint wieder in die Mitte der rechtspolitischen Überlegungen gerückt zu sein. Das ist in meinen Augen positiv. Die in Hannover diskutierten Probleme und Neuerungen scheinen mir aber nicht so eindrucksvoll, als dass wir nach einer umfassenden Strukturreform 249

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der ZPO rufen müssten. Gegen einzelne Schritte der Verbesserung ist freilich nichts einzuwenden. Sorge macht es mir nur, wenn einzelne Wutbürger oder gesellschaftliche Gruppen staatliche Verfahren und rechtskräftige Entscheidungen nicht akzeptieren wollen. Vielleicht sollten wir aber auch dies als einen Sonderfall betrachten. Wir sollten an dem Gedanken festhalten, dass staatliche Gerichtsverfahren für eine Gesellschaft absolut unersetzbar sind und dass ihre Bedeutung weit über die Schaffung von Einzelfallgerechtigkeit hinausreicht. Wer den Versuch macht, im modernen demokratischen Staatswesen die Legalität von Verfahren gegen die Legitimität der Ergebnisse auszuspielen, der hat nichts weniger im Sinn, als ein geordnetes und friedliches Zusammenleben der Menschen innerhalb eines Staatswesens zu unterminieren. Solchen Versuchen sollten wir deutlich entgegentreten.

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