Zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis: Erinnern und Erzählen im biografischen Dokumentarfilm 9783839443446

How is the past processed in documentaries? About remembering and narrating in historical biographical documentaries.

187 24 13MB

German Pages 292 Year 2018

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis: Erinnern und Erzählen im biografischen Dokumentarfilm
 9783839443446

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Einleitung und Gedächtnis- Erinnerungskulturelle Positionen fϋr die biografische Arbeit im Dokumentarfilm
3. Theorie und Praxis des biografischen Dokumentarfilms
4. Analysepatterns und Strukturmerkmale
5. Entwicklungsphasen des biografischen Dokumentarfilms von seinen Anfängen bis heute - Analyse repräsentativer Beispiele
6. Geschichte in der Erinnerung - Erinnerung als Geschichte
7. Implikationen und Effekte: Fazit und Ausblick
Literatur
Filmografie
Abbildungsverzeichnis

Citation preview

Bianca Herlo Zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis

Edition Kulturwissenschaft  | Band 175

Bianca Herlo (Dr. phil.), geb. 1975, ist Gestalterin, Medienwissenschaftlerin und Designforscherin an der Universität der Künste Berlin. In Forschung und Lehre adressiert sie die Rolle von gestalterischen Praktiken für soziale und politische Teilhabe – im Sinne einer gerechten, offenen und inklusiven Gesellschaft.

Bianca Herlo

Zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis Erinnern und Erzählen im biografischen Dokumentarfilm

Ursprünglich Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie der Fakultät Gestaltung der Universität der Künste Berlin. Betreuer: Prof. Dr. Wolfgang Ruppert, Universität der Künste Berlin und Prof. Dr. Britta Hartmann, Universität Bonn

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Helga Kurzchalia, Berlin 2016. © Helga Kurzchalia Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4344-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4344-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

        7 

   #'     $    29

2.1

Wie sozial ist das Erinnern? Das kollektive Gedächtnis nach Maurice Halbwachs 33 Paul Ricœur – Die gegenseitige Bedingtheit von Erinnern und Vergessen 50 Gedächtniskonzepte von Jan und Aleida Assmann 55 Das Familiengedächtnis bei Harald Welzer 63 Fazit 65

2.2 2.3 2.4 2.5 

  !$     67

3.1 3.2

Filmtheoretische Ansätze für das biografische Erzählen  68 Lebensgeschichtliche Erzählungen im Fernsehdokumentarismus  91 Dokumentarfilm und Oral History: Öffnung für persönliche Erfahrungen  102 Biografische Darstellungen als kulturelles Muster | 110 Das Authentizitätspostulat  114

3.3 3.4 3.5 

4.1 4.2 4.3

"      143 Raum-zeitliche Zuordnungskriterien bei Wort-Bild-Beziehungen  144 Qualitäten der Zuordnung bei Wort-Bild-Beziehungen 148 Kategorisierung der Adressierungsweisen  150

4.4 4.5

Strukturmerkmale und Grundmuster  153 Subjektivierende und historisierende Modi der Affekt- und Sinnproduktion  157



"  ! % '#%!   159

5.1 5.2 5.3

Anmerkungen zum Untersuchungskorpus 160 Phasen und Hauptmerkmale 162 Zusammenfassend 228



  '     231

6.1 6.2 6.3

Vergangenheitsbezüge: Die Perspektive der Betrachtung 233 Fallbeispiel …VERZEIHUNG, ICH LEBE 234 Zusammenfassend 254



   $    255

   261

  285  !$  2 89

  

Das Interesse an Lebensgeschichten im Dokumentarfilm ist Teil eines allgemeinen Interesses an biografischer Erzählung: Lebensgeschichten sind integraler Bestandteil der Kulturgeschichte, sie treten als basales kulturelles Muster hervor, mit dem wir uns selbst und andere wahrnehmen und verstehen.1 Es genügt ein Blick in die gegenwärtige Film- und Medienlandschaft, um nachzuvollziehen, dass biografische Darstellungen in jeglichen Vermittlungsformaten boomen: Sie gehören zum wichtigen Bestandteil gesellschaftlicher Diskurse. Im zeithistorischen biografischen Dokumentarfilm stellt sich die lebensgeschichtliche Erzählung als eine (Spuren-)Suche dar, die zwischen den Koordinaten individuelle Erinnerung, Geschichte und Gedächtnis – und ihrer ästhetischen Verhandlung aufgespannt ist. Fragen nach dem dokumentarfilmischen Umgang mit Erinnerung erweisen sich in den gegenwärtigen filmwissenschaftlichen Diskussionen als hochaktuell – mitunter aus der Erkenntnis heraus, dass Film- und Fernsehbilder maßgeblich die individuelle Wahrnehmung von Geschichte beeinflussen und damit wesentlich unsere Vorstellung von der Vergangenheit prägen.2 In der intensiven Erinnerungsarbeit, die vom deutschsprachigen biografischen Dokumentarfilm geleistet wird, kommt den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle zu, allen voran der Thematisierung des Nationalsozialismus.

1

Lehmann, Albrecht (2007): Reden über Erfahrung. Kulturwisssenschaftliche Be-

2

Vgl. Faulstich, Werner/Steininger, Christian (Hg.) (2002): Zeit in den Medien.

wusstseinsanalyse des Erzählens, Berlin: Reimer, S. 32. Medien in der Zeit, München: Wilhelm Fink.

              

Inwiefern kann dabei die Frage, welche Wirkungskraft dokumentarfilmische Verhandlungen von (Lebens-)Geschichte entfalten können, von Interesse sein? Der 2015 erschienene Dokumentarfilm THE LOOK OF SILENCE des amerikanischen Filmemachers Joshua Oppenheimer bietet sich als ein gutes Beispiel an, um die Relevanz dieser Frage zu veranschaulichen. Es ist Oppenheimers zweiter Dokumentarfilm, der die Massaker in Indonesien 1965-1966 thematisiert. Nachdem der zum Academy Award nominierte Film THE ACT OF KILLING (2012) Täter porträtiert, die ihre Mord- und Foltermethoden offen darlegen und Geschehnisse in einem Prozess des Reenactments rekonstruieren, konfrontieren im neuen Film Angehörige der Opfer die Täter mit dem Ausmaß ihrer Verbrechen. Mit dem ersten der beiden Filme hat der Filmemacher eine Welle von Initiativen angestoßen, die erstmalig öffentlich problematisierten, dass die Täter der damaligen Verbrechen die aktuellen Machthaber in Indonesien sind. Zum Prozess während der Dreharbeiten erzählt Oppenheimer: „Ich hatte an der Oberfläche gekratzt, und darunter lag dieses monströse Grauen. […] Niemand hätte je etwas Vergleichbares gefilmt und wir sollten unbedingt weitermachen. Denn wenn die Indonesier das sähen, dann wären sie endlich gezwungen zu erkennen, was sie eigentlich schon lange wissen: Dass dieser Staat von Mördern gebaut wurde, auf Massengräbern. Ich fühlte mich wie in Deutschland 40 Jahre nach dem Holocaust – und die Nazis sind immer noch an der Macht.“3

Drei Jahre später erfuhr THE LOOK OF SILENCE (2015) in Indonesien mehrere tausend öffentliche Vorstellungen, was bei Oppenheimers erstem Film noch undenkbar war, und löste eine bis dahin tabuisierte Thematisierung des in Indonesien nie aufgearbeiteten Genozids aus. Beide Filme haben nach Medieneinschätzungen einen unaufhaltsamen Prozess der Aufklärung angestoßen. Thomas Assheuer schreibt etwa in „Die Zeit“: „Oppenheimers Filme sind also keine harmlosen Dokumentarfilme. Sie sind – kaum hoch genug einzuschätzende – aufklärerische Dokumente, die wider das Vergessen arbeiten. Denn ohne es direkt zu zeigen, verzeichnet Oppenheimer jede Vergewal-

3

Oppenheimer, Joshua (2015): Nun trauen sich die Menschen, über die Ereignisse zu reden, Oppenheimer im Gespräch mit Florian Fricke in Deutschlandfunk vom 25.10.

  

tigung, jede Infizierung, jeden abgehackten Fuß, jedes ertränkte Kind und ruft in die Welt hinaus: Es hat diese Menschen gegeben. Es ist Zeit, sich an sie zu erinnern.“4

Demnach wird für die in Indonesien beginnende öffentliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema und für die Aufarbeitung der Vergangenheit beiden Filmen eine immense Rolle zugeschrieben – eine Wirkungsmacht, die in dieser Unmittelbarkeit kaum einzelnen Werken zugesprochen wird. Oppenheimers Dokumentarfilme haben anhand der Erzählungen ihrer Protagonisten einen „47-jährigen Bann des Schweigens“ durchbrochen, wie „Tempo“, das führende politische Magazin des Landes, die Verdrängung und das Verschweigen der letzten Jahrzehnte bezeichnet.5 An diesem Beispiel kristallisieren sich exemplarisch einige der Ausgangsfragen für die vorliegende Untersuchung: • Welche Rolle spielt der zeithistorisch interessierte biografische Dokumen-

tarfilm in der privaten wie öffentlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit? • Wie wird die Vergangenheit dokumentarfilmisch verhandelt? Welche Wechselwirkungen zwischen kollektivem und individuellem Gedächtnis und biografischem Dokumentarfilm lassen sich nachzeichnen? Und nicht zuletzt: • Welche Auswirkung kann der biografische Dokumentarfilm, der einem historiografischen Interesse verpflichtet ist, auf eine aktive Gestaltung gegenwärtiger und zukünftiger Vorstellungs- und Handlungsräume haben? Die hier untersuchte Subkategorie des biografischen Dokumentarfilms, die sich historischen Themen anhand lebensgeschichtlicher Perspektiven widmet, steht, wie das oben aufgeführte Beispiel andeutet, in einem spezifischen Spannungsfeld zwischen der Mikro- und Makrogeschichte, zwischen historischen Fakten, subjektiver Erinnerung und deren Kontextualisierung im Raum der Produktion wie der Rezeption. Der zeithistorische biografische Dokumentarfilm zeichnet sich durch einen starken Vergangenheitsbezug aus. Er greift Themen, Ausdrucksformen und Argumentationsmuster auf, die

4

Assheuer, Thomas (2015): Eine Brille für die Mörder, in: DIE ZEIT vom 1.10.

5

„Tempo“ zit. nach Oppenheimer 2015.

     

 

     

das gesellschaftliche Kräfteverhältnis der repräsentierten, thematisierten Zeit beleuchten wie auch der Zeit, in der die Filme entstanden sind. Es geht also nicht allein um die erinnerungskulturelle Dimension dokumentarfilmischer Bilder und ihrer Prägungskraft als Träger öffentlicher Erinnerung. Vielmehr interessiert hier eine doppelte Bewegung, die bewahrende wie aufklärerische Dimensionen gleichermaßen mitträgt und im Zuge derer die dokumentarfilmischen Zugänge zu erlebter Vergangenheit ebenso ein Bild der politischen und sozio-kulturellen Rahmen zur Zeit der Produktion und der Rezeption zeichnen. Was vermag der biografische Dokumentarfilm, als Medium und Katalysator, zur Interaktion beizutragen zwischen einer • konsensual konstruierten, familien- oder gruppensoziologisch ausverhan-

delten Wahrheit und einer • kulturell etablierten, offiziellen, politisch sanktionierten historischen

Wahrheit? Unser Verhältnis zur Vergangenheit, besonders zur eigenen Geschichte, ist ein Prozess des Lavierens zwischen belegbaren, historischen Tatsachen und in persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Diskursen ausgehandelten Übereinkünften darüber. Welche Rolle dem zeitgeschichtlich interessierten, biografischen Dokumentarfilm dabei zukommt, werde ich in der folgenden Arbeit beispielhaft ausführen.        Die spezifische erinnerungskulturelle Dimension der Filme lässt sich weder aus ihren Inhalten und formalen Organisationsprinzipien, noch aus den Produktions- und Rezeptionssituationen erschließen. Sie erwächst vielmehr – so die grundlegende These dieser Arbeit – aus den verschiedenen Bedeutungszuweisungen im Zusammenspiel textueller, paratextueller, kontextueller Faktoren im Rahmen der Produktion wie Rezeption. Die vorliegende Publikation verfolgt damit eine zweifache Zielsetzung: Zum einen soll sie einen Beitrag zur Präzisierung und Einordnung des biografischen Dokumentarfilms aus der Perspektive der Dokumentarfilmtheorie leisten. Hierfür untersucht sie die spezifischen Ausdrucks- und Darstellungs-

  

möglichkeiten des Mediums Dokumentarfilm für die Repräsentation von Erinnerung und Geschichte. Zum anderen soll sie einen interdisziplinären Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung leisten, indem sie die Wechselwirkungen zwischen medialer Vermittlung, Interpretation und Wahrnehmung von Geschichte und die implizierte Politisierung durch den biografischen Dokumentarfilm analysiert. Da sich der hier untersuchte biografische Dokumentarfilm in Bereichen bewegt, die sowohl für die kulturwissenschaftliche als auch die (film-)historische und sozialwissenschaftliche Literatur von Interesse sind, bietet sich seine Untersuchung im Rahmen unterschiedlicher Disziplinen an. Den biografischen Dokumentarfilm betrachte ich als strukturierte Form der Reflexion und Selbstreflexion einer biografischen Vergangenheit. Dabei wird die individuelle Biografie in einem gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang gesehen. Sie ist Bestandteil einer konstruierten Version der Vergangenheit, die sich zwischen der Legitimierung der eigenen Biografie oder Geschichtsversion und der Legitimierung der Gegenwart einer Person oder einer Gruppe bewegt. Des Weiteren bewegt sie sich zwischen sozial konstituierten Gedächtnissen und der tatsachenorientierten und der historischen Wahrheit verpflichteten Geschichtsdarstellung. Die subjektive Wahrheit eines jeden Beteiligten wird dabei stets neu verhandelt, wobei der Wunsch nach Konsens (konsensueller Geschichtsschreibung etwa), so meine Vorannahme, einen wichtigen Antrieb bildet. Denkt man den Dokumentarfilm in dieser komplexen Funktionsweise, lassen sich Fragen nach der Relevanz dokumentarfilmisch vermittelter Zugriffe auf Geschichte und auf biografische Darstellungen aus unterschiedlichen disziplinären Perspektivierungen angehen. Die Leitfragen dieser Arbeit richten sich demnach auf die • Spezifik dokumentarfilmischer Verhandlungen von Vergangenheit, • die Konstruktion von paradigmatischen, das kollektive Gedächtnis prä-

genden Bildern und die • aktive Gestaltung gegenwärtiger und zukünftiger Vorstellungs- und Hand-

lungsräume. Die Analyseebenen, die sich daraus ergeben, betreffen erstens die filmtextuellen Zusammenhänge, mit denen sich zeithistorische biografische Doku-

     

 

     

mentarfilme als solche zu erkennen geben, also die formal-ästhetischen Organisationsprinzipien und Strukturmerkmale der Filme; zweitens die in ihnen verhandelten Perspektiven auf Vergangenheit in den jeweiligen diskursiven und gesellschaftlichen Kontexten.       „Alles Denken ist Nachdenken. Es gibt keinen Denkvorgang ohne persönliche Erfahrung.“ (Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus, Fernsehinterview „Zur Person“, 1964)

Die Mechanismen der erinnerungskulturellen Arbeit zu ergründen war der Impulsgeber für meine Auseinandersetzung mit Erinnerung im und durch den biografischen Dokumentarfilm – angeleitet durch ein intrinsisch motiviertes Interesse an lebensgeschichtlichen Darstellungen. Das Interesse, dokumentarfilmisch vermittelte Erinnerungsprozesse und ihre gesellschaftlichen Implikationen zu begreifen, geht jedoch weit darüber hinaus: Es verkörpert einen integralen Bestandteil gesellschaftlicher Tendenzen, Themenakzente und charakteristischer Auseinandersetzungen. In dem weiten Feld, in dem sich die Ausgangsfragen bewegen, sind die ausschnitthaften Perspektiven, die hier eingenommen werden, sowie die Auswahlmechanismen in Bezug auf relevante Impulse zwar subjektiv gesteuert, gleichermaßen jedoch in aktuellen Diskursen und Forschungskontexten verankert. Nur ein bewusster Umgang mit dieser Wechselwirkung vermag, die Analyse komplexer Zusammenhänge als Annäherung offenzulegen, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Die Auseinandersetzung mit den Wechselwirkungen zwischen dem zeitgeschichtlich orientierten biografischen Dokumentarfilm und seiner gesellschaftlichen Einbettung betrachte ich somit als eine über das persönliche Interesse weit hinausreichende: Die Relevanz der vorliegenden Untersuchung liegt in dem Nachzeichnen der vielfältigen dokumentarfilmischen Zugänge zu erlebter Vergangenheit, das ein Bild der jeweiligen politischen und soziokulturellen Dimensionen ergibt. Dieses Vorhaben verpflichtet zu einem reflektierten und bewussten Umgang mit der ausschnitthaften, von persönlichen Perspektivierungen und von Forschungsinteressen geleiteten Vorgehensweise. Dazu gehört die permanente Reflexion der Auswahlmecha-

   

nismen von theoretischen Zugängen, herauszuarbeitenden Aspekten und Hinwendungen zu spezifischen Diskursen. Sie als eingebettet in selbstreferenzielle, kontingente Systeme zu adressieren, ist ein wichtiger, erkenntnisgewinnender Bestandteil dieser Arbeit. Im Sinne einer kulturgeschichtlichen Perspektive, wie sie Roger Chartier postuliert, forscht der vorliegende Text ausschnitthaft, jedoch systematisch nach Prozessen, durch die ein Sinn in Bezug auf die Forschungsfrage gebildet wird. Er widmet sich den Aneignungspraktiken als unterschiedlichen Interpretationsformen, ohne globale Befunde liefern zu wollen.6 Die Strukturen der Filme sind keine objektiven Gegebenheiten. Als Kategorien der Reflexion sind sie Produkte von gesellschaftlichen, politischen, diskursiven Praktiken, in deren Verbund die produzierenden, rezipierenden wie reflektierenden Subjekte eingebettet sind.        

   Für die Erfassung des biografischen Dokumentarfilms in seinen kulturhistorischen Dimensionen ist nicht nur die innerfilmische Struktur entscheidend und deswegen Gegenstand der Analyse. Ebenso gilt es, die historischen und gesellschaftlichen Diskurse, auf die dieser Ansatz dokumentarfilmischen Arbeitens reagiert und die er befördert, näher zu bestimmen. Welche Rolle fällt dokumentarischen Bildern im historischen Diskurs zu, wie wandelt sich das Konzept der Zeitzeugenschaft, welche historischen Tatsachen werden im Zusammenspiel mit anderen medialen Verhandlungen neu beleuchtet, welche Tabus gebrochen, welche Erwartungshaltungen bedient? Die Wechselwirkungen zwischen einer diskursfördernden, Öffentlichkeit bildenden Funktion des biografischen Dokumentarfilms, seiner gesellschaftspolitischen Aktualität also, und seiner mediumspezifischen Ausprägung erfolgt hier mittels einer soziologischen Einbindung der kommunikativen Beziehung,7 in deren Rahmen der biografische Dokumentarfilm inten-

6 Vgl. Chartier, Roger (1992): Kulturgeschichte zwischen Repräsentationen und Praktiken, in: Die unvollendete Vergangenheit, hrsg. von dems., Frankfurt a.M.: Fischer, S. 21 f. 7 Nach Heinze, Carsten (2012): Die Errettung der äußeren Wirklichkeit? Die Wirklichkeit der Realität in dokumentar(film)ischen Bildformaten, in: Lucht, Petra/ Schmidt, Lisa-Marian/Tuma, René (Hg.): Visuelles Wissen und Bilder des

     

 

     

diert, produziert und rezipiert wird. Die Untersuchung stützt sich demnach auf Modelle, die den Dokumentarfilm als offenes Konzept verstehen, bei dem die Art des Kommunikationspaktes bzw. der kommunikativen Relation entscheidend ist.8 Der Untersuchung liegen somit pragmatische Ansätze und Theoriekonzepte zugrunde, welche die Einordnung eines Films als Dokumentarfilm als Kommunikationsprozess zwischen der Aussageinstanz, dem Produktionskontext und den Rezipienten/innen im Raum der Rezeption behandeln. Meine Fragestellung orientiert sich vorrangig an der semio-pragmatischen Theorie von Roger Odin.9 Sie beschreibt ein Modell filmischer Kommunikation, das diese als Prozess textueller Produktion begreift, der sich im Raum der Herstellung wie im Raum der Lektüre vollzieht. Da den Filmen des Untersuchungskorpus eine Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte10 gemeinsam ist, rücken die sozialen und gesellschaftspolitischen Implikationen der Filme stärker in den Vordergrund, die ihren Um-

Sozialen. Aktuelle Entwicklungen in der Soziologie des Visuellen, Wiesbaden: Springer VS, S. 303-322. 8

Vgl. Wulff, Hans J. (2001): Konstellation, Kontrakt, Vertrauen: Pragmatische Grundlagen der Dramaturgie, in: montage/av 10/2, Marburg: Schüren, S. 131154; Casetti, Francesco (2001): Filmgenres, Verständigungsvorgänge und kommunikativer Vertrag, in: montage/av 10/2, Marburg: Schüren, S. 155–173; Plantinga, Carl R. (1987): Defining Documentary: Fiction, Non-Fiction and Projected Worlds, in: Persistence of Vision 5, Spring; Tröhler, Margit (2004): Filmische Authentizität, in: montage/av 13/2, Marburg: Schüren, S. 149-169.

9

Vgl. Odin, Roger (1989): A Semio-Pragmatic Approach of Documentary Film, in: De Greef, W./Hesling, W. (Hg.): Image Reality Spectator: Essays on Documentary Film, Leuven: Acco, S. 90-100; Odin, Roger (1998): Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre (1984), in: Hohenberger, E. (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8; Odin, Roger (2000): De la fiction, Bruxelles: De Boeck; Odin, Roger (2002): Kunst und Ästhetik bei Film und Fernsehen. Elemente zu einem semio-pragmatischen Ansatz, in: montage/av 11/2, Pragmatik des Films, Marburg: Schüren, S. 42-57.

10 In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Zeitgeschichte in Anlehnung an das Institut für Zeitgeschichte München verwendet, das mit dem Begriff die Periode seit der Weimarer Republik bis heute umfasst, vgl. Möller, Horst/Wengst, Udo (Hg.) (2003): Einführung in die Zeitgeschichte, München: C.H. Beck.

   

gang mit Geschichte und Erinnerung betreffen. Zentral für die vorliegende Arbeit ist die Frage, welches Wissen wie durch den biografischen Dokumentarfilm generiert wird. Die Bestimmung seiner Spezifika und ihrer gesellschaftlichen Verankerung erfordert eine interdisziplinäre Perspektivierung, die einerseits auf aktuelle Diskurse der Dokumentarfilmtheorie11 ebenso wie auf die Entwicklung des biografischen Dokumentarfilms mit zeitgeschichtlichem Interesse zurückgreift. Gleichzeitig werden kulturhistorische, geschichtswissenschaftliche und soziologische Zugriffe berücksichtigt, die das Thema des kollektiven Gedächtnisses ebenso adressieren wie Fragen zu individueller Erinnerung und Geschichtsschreibung. Hierfür erweist sich eine Analyse als zielführend, die sich auf die Verschaltung des biografischen Interesses mit einem zeithistorischen Interesse sowie mit der Methode des Interviews, mit dem die Lebensgeschichten erhoben und gesichert werden, konzentriert. Die Erinnerungen und Erzählungen zu Krisenerfahrungen als primärer Gegenstand der Arbeit lassen sich im Spannungsfeld zwischen einer Gegenwartsbezogenheit erinnerungskultureller Diskurse und dem Stellenwert der historischen Realität genauer bestimmen. In der interdisziplinären Zusammenführung von Ansätzen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung mit biografieorientierten Ansätzen der Erzählforschung und der dokumentarischen Verhandlung von Krisenerfahrungen – mit ihrer spezifischen Ästhetik, der Form und Funktion des Interviews und der Verbindung von mündlicher Erzählung mit historischem (Film- und Foto-)Material – besteht die Chance, den zeithistorischen biografischen Dokumentarfilm zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis zu bestimmen. In den letzten drei Jahrzehnten wird eine zunehmend intensive interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der filmischen Darstellung speziell des Holocaust und mit persönlicher Geschichte als Geschichte von unten verzeichnet.12 Das breite Panorama der kulturwissenschaftlichen Ansätze zur Gedächtnisforschung kann etwa am Band „Arbeit am Gedächtnis“ (2007)13

11 Eine ausführliche Darstellung relevanter Konzepte erfolgt im Kapitel 3. 12 Vgl. Elm, Michael (2008): Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust, Berlin: Metropol, S. 21; oder Keilbach, Judith (2008): Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen, Berlin-Hamburg-Münster: LIT Verlag, S. 193 f.; eine Übersicht zur Literatur findet sich im Kapitel 2. 13 Herausgegeben von Gabriele Rippel und Michael C. Frank.

     

 

     

nachvollzogen werden: Forscherinnen und Forscher aus Ägyptologie, Judaistik, Geschichte, Soziologie, Psychologie, Literatur- und Medienwissenschaften greifen Fragestellungen und Konzepte zu Gedächtnis und Identität, Medien und Gedächtnis, Geschichte und Trauma oder literarische und filmische Gedächtnisarbeit auf. So beschäftigten sich im Zuge der gesteigerten Aufmerksamkeit, die den individuellen und kollektiven Erinnerungen zukommt, eine ganze Reihe von Autoren/innen unterschiedlichster Disziplinen verstärkt mit erinnerungskulturellen Dimensionen medialer Darstellungen, die sich zeitgeschichtlichen Themen widmen.14 Aus der Erkenntnis heraus, dass filmische Dokumente wie auch die filmwissenschaftliche Auseinandersetzung mit geschichtlichen Darstellungen wissensgenerierendes Potential für historiografische Zugriffe bieten, wenden sich darüber hinaus verschiedene Autoren/innen verstärkt den Wechselwirkungen zwischen der medienwissenschaftlichen und der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte zu.15 Für die hier vorgenommene Konzeptualisierung des biografischen Dokumentarfilms sind vor allem die Modelle von Astrid Erll, Michael Elm, Christoph Vatter und Judith Keilbach relevant, die die prägende Wirkung von medial vermittelten Darstellungen von Geschichte untersuchen.16

14 Rippl, Gabriele/Frank, Michael C. (2007): Arbeit am Gedächtnis, Paderborn: Wilhelm Fink; Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens (Hg.) (2001): Gedächtnis und Erinnerung: ein interdisziplinäres Lexikon, Hamburg: Rowohlt; Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.) (2008): Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin: de Gruyter; oder Gudehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald (2010): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J.B. Metzler; eine ausführliche Darstellung siehe Kapitel 2 15 Vgl. Bruns, Claudia/Dardan, Asal/Dietrich, Anette (Hg.) (2012): Welchen der Steine du hebst. Filmische Erinnerung an den Holocaust, Berlin: Bertz+Fischer, Medien/Kultur 3, S. 17 f. 16 Erll, Astrid (2005a): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler; Erll 2008; Elm 2008; Vatter, Christoph (2009): Gedächtnismedium Film, Würzburg: Königshausen & Neumann; Keilbach, Judith (2003): Zeugen der Vernichtung. Zur Inszenierung von Zeitzeugen in bundesdeutschen Fernsehdokumentationen, in: Hohenberger, Eva/Keilbach, Judith: Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin: Vorwerk 8, S. 155-174; Keilbach 2008.

   

Im Zusammenhang mit diesen Modellen wird auch die Annahme neu verhandelt, Dokumentarfilm wie Geschichtsschreibung seien „der Faktizität der Welt“17 verpflichtet. Jenseits aller Debatten über den ontologischen Status des Dokumentarfilms18 insistieren Filmwissenschaftler/innen wie Historiker/innen mittlerweile darauf, dass die Vergangenheit keine gegebene Bezugsgröße darstellt, sondern vielmehr in der Gegenwart durch verschiedene Praktiken (der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung etwa) diskursiv hervorgebracht wird und gewissermaßen als „externe[r] Standpunkt zur Selbstbeobachtung“19 der Gesellschaft fungiert. Auf der Basis dieser Neuverhandlung markiert das wachsende Interesse an individueller, kultureller und gesellschaftlicher Erinnerung eine Hinwendung zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, wobei Aspekte des Phänomens „Gedächtnis“ verstärkt auch in der sozialkonstruktivistischen Biografieforschung oder in der Geschichtswissenschaft in den Blick genommen werden.20 Für die theoretische Auseinandersetzung mit dem biografischen Dokumentarfilm scheint es daher unerlässlich, über die zentrale Bedeutung von dokumentarischen Bildern nachzudenken, nämlich über ihr Verhältnis zu Vergangenheit und Geschichte. Dadurch, dass zeithistorische biografische Dokumentarfilme ihr Interesse primär auf persönliche Erlebnisse und Erfahrungen Einzelner, auf die Erfahrungsdimension von Geschichte also richten, wirken sie sich, so die These, auf den individuellen Prozess des Sich-Erinnerns ebenso wie auf das kollektive Gedächtnis aus. Sie werden demnach als Beiträge zum Geschichtsbild und als kulturelles Phänomen behandelt, das unsere Wahrnehmung von Vergangenem prägt und verändert. Um dieses Phänomen zu verstehen ist zunächst eine Verortung der relevanten Positionen der kultur-

17 Hohenberger, Eva/Keilbach, Judith (Hg.) (2003): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm und Geschichte, Berlin: Vorwerk 8, S. 8. 18 Renov, Michael (2002): Historische Diskurse des Unvorstellbaren, in: montage/av 11/1, Marburg: Schüren, S. 28. 19 Etzemüller, Thomas (2007): Ich sehe das, was Du nicht siehst. Wie entsteht historische Erkenntnis?, in: Eckel, Jan/Etzemüller, Thomas (Hg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen: Wallstein Verlag, S. 68. 20 Vgl. hierzu Tondera, Benedikt (2008): Die gespaltene Erinnerung Traudl Junges. Eine Analyse der autobiografischen Erzählung Traudl Junges, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Jg. 21, Heft 2, S. 157-183.

     

 

     

wissenschaftlichen Gedächtnisforschung notwendig. Die Hinwendung zu diesen Modellen bedeutet methodisch eine Schwerpunktverlagerung, weg von der textorientierten Filmanalyse hin zu gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten, in denen die Filme hergestellt und mit Bedeutung versehen wurden. Anhand zentraler kulturwissenschaftlicher Konzepte zu Erinnerung und Gedächtnis können die Besonderheiten des empirisch erhobenen Konvoluts von zeithistorischen biografischen Dokumentarfilmen erschlossen und die darin enthaltenen Ansätze erkennbar gemacht werden. Die Prozesse des Erinnerns beruhen auf unterschiedlichen Möglichkeiten der Erzählung und der Geschichtsdarstellung, wobei der individuellen Erinnerung eine immer größere Aufmerksamkeit zuteil wird, wie Thomas Elsaesser zutreffend konstatiert: „Während sich die ehemals objektive und auf Verbindlichkeit zielende Geschichte verflüchtigt hat und im Prozess der Mediatisierung der Öffentlichkeit zum veritablen Sinnbild des Inauthentischen, des Falschen und Falsifizierbaren geworden ist, hat die Erinnerung an Status gewonnen, als Aufbewahrungsort von eigener Erfahrung, als letzte Zuflucht dessen, was uns jenseits aller Entfremdung und Häuslichkeit zu uns selbst macht.“ 21

Beim biografischen Dokumentarfilm als Medium der Erinnerung muss danach gefragt werden, wie sich der dokumentarfilmspezifische Umgang mit Erinnerung gestaltet und welche Geschichte(n) biografische Dokumentarfilme produzieren, welcher Rhetorik sie sich bedienen und welche Auswirkungen auf unsere Vorstellungen von Geschichte dies zur Folge hat. Um diese Fragen im Sinne einer Theoretisierung des biografischen Dokumentarfilms zu adressieren, bedarf es einer historischen Perspektivierung dokumentarfilmischer Ansätze wie auch der Rolle des Fernsehens für die Entwicklung des biografischen Dokumentarfilms. Die vom Fernsehen hervorgebrachten spezifischen Formen der Geschichtsdarstellung, ihre Verfahren und Merkmale, die ästhetischen Potenziale und ihre Implikationen für das kollektive und kulturelle Gedächtnis bilden zentrale Aspekte für die nähere Bestimmung des biografischen Dokumentarfilms. Dem Fernsehen kommt dabei eine besondere Rolle zu, denn es nimmt als Produktions- und

21 Elsaesser, Thomas (2002): „Un train peut cghacher un autre“. Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit, in: montage/av 11/1, S. 14.

   

Distributionsort dokumentarischer Filme über viele Jahrzehnte eine wichtige Stellung ein und wird seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als gesellschaftliches Leitmedium der Wirklichkeitsaneignung verhandelt.22 Als wichtiger Auftraggeber und „zentrales Medium der populären Geschichtsschreibung“23 hat das Fernsehen den Dokumentarfilm nach dem Zweiten Weltkrieg in seinen Charakteristika wesentlich mitgeprägt. Nicht zuletzt hat sich im bundesdeutschen Fernsehen der Interviewfilm als eigenständige dokumentarische Methode entwickelt,24 so dass für das Nachzeichnen der Entwicklung des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms der Fernsehdokumentarismus eine zentrale Rolle spielt. Im Fokus dieser Arbeit stehen Verfahren des filmbiografischen Erzählens, die sich im Fernsehen ausgeprägt haben, sowie die Verhandlungsebene zwischen Produktion und Rezeption im Zusammenspiel mit paratextuellen Faktoren, welche die Lektüreanweisungen mitbestimmen und letztlich für die Auswirkungen im gesellschaftlichen Aushandlungsprozess relevant sind. Die filmwissenschaftliche wie kulturwissenschaftliche Literatur, die sich den erinnerungskulturellen Dimensionen von filmischen Werken widmet, stellt größtenteils die Beziehung zwischen fiktionalem Film und Geschichte in den Vordergrund.25 Auch wenn der Film in die bisherige Gedächtnisdiskussion mit einbezogen wurde, so blieb doch immer die Frage nach dem dokumentarfilmischen Umgang mit Erinnerung trotz zahlreicher Vorarbeiten,

22 Zimmermann, Peter/Hoffmann, Kay (Hg.) (2006): Dokumentarfilm im Umbruch: Kino – Fernsehen – Neue Medien, Konstanz: UVK. 23 Keilbach 2008, S. 9. 24 Vgl. Hißnauer, Christian (2011): Fernsehdokumentarismus: Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen, Konstanz: UVK. 25 Klippel, Heike (1997): Gedächtnis und Kino. Frankfurt am Main: Stroemfeld; Wenzel, Eike (2000): Gedächtnisraum Film. Die Arbeit an der deutschen Geschichte in Filmen seit den 60er Jahren, Stuttgart/Weimar: Metzler; Scherer, Christina (2001): Ivens, Marker, Godard, Jarman. Erinnerung im Essayfilm, München: Wilhelm Fink; Wende, Waltraud (Hg.) (2007): Der Holocaust im Film. Mediale Inszensierung und kulturelles Gedächtnis, Heidelberg: Synchron; Erll, Astrid/Wodianka, Stephanie (Hg.) (2008): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen, Berlin: de Gruyter; Elm 2008; Vatter 2009; Ebbrecht, Tobias (2011): Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielelefeld: transcript.

     

 

     

die geleistet worden sind,26 unzureichend behandelt. Diese Frage stellt nicht zuletzt eine besondere Herausforderung dar, weil Gattungsbestimmung, Definitionen und Abgrenzungen des Spiel- wie des Dokumentarfilms durch die jeweils aktuelle Filmpraxis ständig neu verhandelt werden.27 Um diese Interdependenzen nachvollziehbar zu machen werden in dieser Arbeit die Geschichte und die Theorie der Gattung gemeinsam betrachtet. Trotz ihrer zentralen Bedeutung für die populäre Geschichtsschreibung und für die Mediatisierung von Geschichte werden zeithistorische biografische Dokumentarfilme in der Medientheorie nur am Rande behandelt,28 obwohl gerade der Dokumentarfilm einen maßgeblichen Beitrag zur historiographischen Auseinandersetzung mit Geschichte, speziell mit dem Nationalsozialismus, geleistet hat. Filme wie NACHT UND NEBEL (Alain Resnais, 1955) oder SHOAH (Claude Lanzmann, 1985) gelten als paradigmatische Lösungen der ästhetischen Probleme, die sich aus der Darstellung von Geschichte ergeben, und an sie knüpfen die zeitgeschichtlichen Dokumentarfilme der letzten Jahrzehnte hinsichtlich formaler Verfahren und Darstel-

26 Hierzu zählen vor allem Aufsätze zum dokumentarfilmischen Umgang mit dem Holocaust, wie etwa Wendt, Ulrich (1993): Prozesse der Erinnerung. Filmische Verfahren der Erinnerungsarbeit in den Filmen Shoah, Der Prozess und Hotel Terminus, in: Cinema 39: Non-Fiction; Frieß, Jörg (2003): Filme aus Filmen, Filme über Filme. Zur Rhetorik historischen Bildmaterials in Filmen über die Shoah, in: Kramer, Sven: Die Shoah im Bild, München: edition text + kritik, S. 199-223; Hohenberger/Keilbach 2003; Wenzel, Mirjam (2012): Vom Zeugnis zum Tribunal, in: Bruns/Dardan/Dietrich (Hg.) Welchen der Steine du hebst. Filmische Erinnerungen an den Holocaust, Berlin: Bertz + Fischer, Medien/Kultur 3, S. 332-343. 27 Richtungsweisende theoretische Ansätze liefern Filmtheoretiker/innen wie Bill Nichols, Roger Odin, Eva Hohenberger, Brian Winston, Carl Platinga, Francois Jost, Dai Vaughan und viele andere. Eine ausführliche Darstellung einzelner dokumentarfilmtheoretischer Zugänge findet sich im Kapitel 3. Mit Begrifflichkeiten und Abgrenzungen im Fernsehdokumentarismus hat sich umfassend Hißnauer auseinandergesetzt, Hißnauer 2011. 28 Über die Bearbeitung von Geschichte im Fernsehen am Beispiel von Dokumentationen über den Nationalsozialismus hat Judith Keilbach eine richtungsweisende Untersuchung veröffentlicht, Keilbach 2008.

   

lungsstrategien an.29 Kaum eine Studie widmet sich ausschließlich dem biografischen Dokumentarfilm, es überwiegen einzelne Fallstudien und Werkanalysen oder Publikationen, die bestimmte ästhetische, inhaltliche und pragmatische Aspekte theoretisch abhandeln.30 Fragen nach den spezifischen Darstellungsmodi des biografischen Dokumentarfilms, seiner Sonderstellung innerhalb des Dokumentarfilms und seiner Entwicklung blieben weitestgehend unbeachtet. Lediglich seine Anfänge als eigenständige dokumentarische Methode, begründet Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre als Interviewdokumentarismus oder Interviewfilm, erlangten Beachtung.31 So betrachtet, bestehen in Bezug auf die biografische Dokumentarfilmarbeit zwei wesentliche Forschungslücken: Die filmhistorische Betrachtung, die sich den konkreten Entwicklungsstufen und Grundzügen biografischer Dokumentarfilme als Korpus, ihrer Kontinuität und Brüche im deutschsprachigen Raum widmet, und eine filmtheoretische, welche die Frage betrifft, wie erinnerungskulturelle Dimensionen zu konzeptualisieren wären. Mit dieser Arbeit widme ich mich beiden Untersuchungsebenen.           Um diese Analyseebenen zu adressieren grenze ich den Gegenstand formal, thematisch und geografisch ein: Ich betrachte vorrangig eine Auswahl an deutschsprachigen biografischen Dokumentarfilmen, die mit der Methode des Interviews arbeiten und Gespräche als historische Zeugenaussagen verhandeln; Dokumentarfilme, die im deutschsprachigen Raum (mit-)produziert wurden, wobei internationale Beispiele komparatistisch hinzugezogen werden; und Dokumentarfilme, die sich überwiegend der nationalsozialis-

29 Vgl. Keilbach 2008. 30 Lindeperg, Sylvie (2010): Nacht und Nebel. Ein Film in der Geschichte, Berlin: Vorwerk 8; Ebbrecht, Tobias/Hoffmann, Hilde/Schweinitz, Jörg (Hg.) (2009): DDR – erinnern, vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms, Marburg: Schüren. 31 Zimmermann, Peter (1994): Geschichte von Dokumentarfilm und Reportage von der Adenauer-Ära bis zur Gegenwart, in: Ludes/Schuhmacher/Zimmermann (Hg.): Informations- und Dokumentarsendungen. Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Band 3, München: Wilhelm Fink; Zimmermann/Hoffmann 2006; Hißnauer 2011.

              

tischen Vergangenheit und dem Holocaust sowie der DDR-Vergangenheit widmen – als zentrale Themenfelder im historisch interessierten deutschsprachigen Dokumentarfilm. Konkret geht es um den zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilm seit seinen Anfängen zu Beginn der 1970er Jahre.32 Ausgewählt wurden Filme, die als Ausgangspunkt persönliche Lebensläufe, einzelne Biografien und individuelle Erinnerungen haben, um sich historischen Themen zu nähern. Im Vordergrund stehen Werke, deren Protagonisten keine ausschlaggebende Rolle im künstlerischen, kulturellen oder politischen Leben gespielt haben oder spielen. Somit sind beispielsweise Künstlerbiografien von der Untersuchung ausgeschlossen. Denn bei den untersuchten Filmen gilt das filmische Interesse nicht der Biografie „großer Männer“, sondern dem Verhältnis von individueller Erfahrung und Identität zu gesellschaftlichen Entwicklungen. Gemein ist den Filmen, dass sie anhand der Kraft, die die individuellen Stimmen annehmen, einen Annäherungsprozess an die historischen Situationen, über die erzählt wird, vollziehen. Dieses Vorgehen verdeutlicht, dass das historische und kulturelle Umfeld des Erzählens genau so entscheidend ist wie die erzählerische Logik des Films. Repräsentative Beispiele hierfür sind biografische und autobiografische Filme wie WOLFSKINDER von Eberhard Fechner (1991), PASSING DRAMA von Angela Melitopoulos (1999), IMA (2001) von Caterina Klusemann, DANACH HÄTTE ES

32 Die Zäsur leitet sich von dem Umdenkungsprozess Anfang der 70er Jahre ab, der – parallel zur Entwicklung der Oral History als neue Forschungstechnik in der Geschichtswissenschaft – das Interview und die (auto-)biografische Erzählung als Methode entdeckt und ein neues Interesse an den Einzelnen und sein Schicksal entwickelt. Eine neue Generation von Filmemachern beginnt allmählich, der Wiedergabe subjektiv erlebter und verarbeiteter Ereignisse und Prozesse nachzugehen, vgl. Roth, Wilhelm (1982): Der Dokumentarfilm seit 1960, München/Luzern: C. J. Bucher. Den vielleicht wichtigsten Anstoß zu dieser Entwicklung gibt Marcel Ophüls mit LE CHAGRIN ET LA PITIÉ (1969) und THE MEMORY OF JUSTICE (1975), Filme, in denen man die Personen nicht mehr als Stichwortgeber einbezieht. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch Filme wie DIE LEBENSGESCHICHTE DES BERGARBEITERS ALPHONS S. von Gabriele Voss und Christoph Hübner (1977) oder Eberhard Fechners LEBENSDATEN (1976). Diese vereinzelten Projekte schufen die Basis für eine breite Rezeption seit den 1980er Jahren.

   

SCHÖN SEIN MÜSSEN

(2001) von Karin Jurschick, 2 ODER 3 DINGE, DIE ICH

VON IHM WEISS (2005) von Malte Ludin, WINTERKINDER – DIE SCHWEIGENDE

GENERATION (2005) von Jens Schanze oder JEDER SCHWEIGT VON ETWAS ANDEREM (2006) von Marc Bauder und Franke Dörte.33 Thematisch behandeln alle untersuchten Filme Erfahrungen von Krieg, Vernichtung, Verfolgung, Vertreibung, Flucht und Entwurzelung. Es geht um die großen Brüche, wie sie speziell das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat – und wie sie in unterschiedlicher Gewichtung die Lebensgeschichten (auch der Folgegenerationen) und somit die erzählte Erinnerung mitbestimmen. Da ich die Entstehung und Entwicklung des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms in enger Wechselwirkung zu seinem Entstehungsort, also zu Entwicklungen im bundesdeutschen Fernsehen betrachte, grenze ich mein Untersuchungskorpus auf die bundesrepublikanische Produktion ein. Ähnliche Tendenzen finden sich zwar auch in den DEFA-Produktionen, vor allem in den Folgefilmen der Langzeitbeobachtungen.34 Die Langzeitbeobachtungen und Zyklen sind jedoch als Beobachtungen des DDR-Alltags konzipiert und bilden ein zeitgeschichtliches Interesse erst im Laufe ihrer Entwicklung aus, wodurch sie nicht den Auswahlkriterien entsprechen und von der Untersuchung ausgeschlossen werden. Dementsprechend werden auch Alltagsbeobachtungen der DEFA-Regisseure nicht berücksichtigt. Je nach Erkenntnisinteresse bewegen sich die untersuchten Filme zwischen zwei distinktiven Modi der Sinn- und Affektproduktion: dem historisierenden und dem subjektivierenden Modus. Vor dem Hintergrund der Darstellung von Geschichte entwickeln beide (produktionsseitig intendierten) Modi unterschiedliche Erfahrungstypen oder Erwartungsstrukturen: Während im historisierenden Modus die Schwerpunktlegung auf Ereignisse und Fakten der Makrogeschichte (History with a Capital H35) gelegt und Erkenntnisse durch Erschließung historischen Quellenmaterials gewonnen werden,

33 Die ausführliche Liste der Filme, die in die Untersuchung eingeflossen sind, findet sich im Anhang. 34 DIE KINDER VON GOLZOW (1961-2007) von Barbara und Winfried Junge oder DER WITTSTOCK-ZYKLUS (1975-1997) von Volker Koepp sind prominente Beispiele dafür. 35 Vgl. Rosenstone, Robert (2003): Die Zukunft der Vergangenheit, in: Hohenberger, Eva/Keilbach, Judith (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm und Geschichte, Berlin: Vorwerk 8, S. 46.

     

 

     

widmen sich die Filme im subjektivierenden Modus der Mikrogeschichte, der Erzählung des Einzelnen und seines Schicksals, ohne explizites Interesse an der historischen Korrektheit im Sinne der traditionellen Geschichtsschreibung oder an der Nachprüfbarkeit durch Heranziehung von historischen Quellen zu entwickeln. Beide Modi nähern sich jedoch diskursiv einer historischen Erkenntnis an. Der Sinnzusammenhang des Films begünstigt demnach eine dem Verständnis von historischen Kontexten oder den persönlichen Erfahrungsräumen zugewandte Lektüre. Die beiden Modi dieser pragmatischen Unterscheidung schließen sich nicht gegenseitig aus, in der Regel überlagern sie sich, in der intendierten Produktion als auch in der Rezeption. Meine Untersuchung macht das Spannungsfeld deutlich, das sich zwischen Filmen bewegt wie DER PROZESS von Eberhard Fechner (1984), HOTEL TERMINUS von Marcel Ophüls (1989) oder DIE RAPOPORTS – UNSERE DREI LEBEN von Sissi Hüetlin und Britta Wauer (2003), die für die Analyse der Konstruktion eines historisierenden Modus herangezogen werden, und Filmen wie IM TOTEN WINKEL – HITLERS SEKRETÄRIN von André Heller und Othmar Schmiderer (2001), IMA von Caterina Klusemann (2001) oder GERDAS SCHWEIGEN von Britta Wauer (2008), die überwiegend subjektivierende Modi der Produktion und der Lektüre in Gang setzen. Dazwischen gibt es eine ganze Reihe von Hybridformen, in denen sich der Zusammenhang zwischen Makro- und Mikrogeschichte als diskursives Zentrum der Bearbeitung von Bildern und Tönen präsentiert. Um zu ergründen, wie die Karrieren bestimmter Repräsentationsformen zu erfassen sind und welche Darstellungsverfahren den Umgang mit der Thematik bestimmen, d.h. auf welche Weise der biografische Dokumentarfilm persönliche Erlebnisse, Erfahrungen und Erinnerungen evoziert, ist es notwendig, die distinktiven Modi der Sinn- und Affektproduktion diachronisch wie synchronisch zu betrachten. Neben der Frage, wie sich die verschiedenen Aspekte individueller Erinnerung (in jeweils unterschiedlicher Gewichtung) gestalten und inwieweit Filme in ihrer Struktur den Erinnerungsprozess aufgreifen, spielen die formal-ästhetischen Kennzeichen wie die Inszenierung der Zeugen, Interviewstrategien oder Montageverfahren für die Erfassung der Beziehungen zum Gegenstand eine wesentliche Rolle.

   

   Die zahlreichen disziplinären Überschneidungen in der Auseinandersetzung mit der spezifischen dokumentarfilmischen Verhandlung von Erinnerung und Gedächtnis werden in den Kapiteln 2 und 3 in den Blick genommen. In Kapitel 2 werde ich das Terrain der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung abstecken, einen Überblick über zentrale Annahmen und Modelle geben und die für die Untersuchung relevanten Bezugspunkte ausarbeiten. Die Ausgangsbasis bilden die Schriften von Maurice Halbwachs zur gegenwärtigen Gedächtnistheorie. Im deutschsprachigen Diskurs bildet das von zahlreichen Kulturwissenschaftler/innen ausdifferenzierte Modell von Aleida und Jan Assmann eine wichtige Grundlage. Die Interaktionsbeziehungen zwischen biografischem Dokumentarfilm und individuellem und kulturellem Gedächtnis, die ich nachzeichne, ergeben sich aus der intensiven Aneignung des Materials (der Filme aus dem Untersuchungskorpus) und der bestehenden theoretischen Zugänge in Bezug auf die mediale Verhandlung von Vergangenheit. Die kulturwissenschaftlichen Konzepte, denen ich mich in Kapitel 2 widme, führe ich mit dokumentarfilmtheoretischen Ansätzen zusammen, um die Aushandlungsprozesse im biografischen Dokumentarfilm spezifizieren zu können. Die Zusammenführung dieser sonst getrennten Wissensgebiete stellt ein geeignetes Instrumentarium bereit, um die Besonderheiten des empirisch erhobenen Untersuchungskorpus zu erschließen und einzuordnen. In Kapitel 3 widme ich mich zunächst der historischen Betrachtung der dokumentarfilmischen Zugänge, die für die Herausbildung des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms relevant sind. Kapitel 3 behandelt demnach die Entwicklung der mediumspezifischen Ausprägung des biografischen Dokumentarfilms anhand der Entwicklung dokumentarischer Modi und Darstellungskonventionen sowie deren filmwissenschaftlichen Einordnung. Anhand der Rolle dokumentarischer Bilder im historischen Diskurs, des Umgangs mit Archivmaterialien und des Konzeptes der Zeitzeugenschaft gilt es hier, auf die Grundlagen der semio-pragmatischen Theorie einzugehen, um die spezifischen Vorgehensweisen und Konstruktionen erkennbar zu machen. Dokumentarfilmische Verfahren haben sich stets durch den Einfluss des Fernsehens verändert, und das Fernsehen spielt eine entscheidende Rolle für die Entstehung des biografischen Dokumentarfilms. Denn die hier untersuchte spezifische Spielart des biografischen Dokumentarfilms hat sich im

     

 

     

Fernsehen ausdifferenziert, dort haben sich Autorenstile entwickelt, die das Interview von einem Recherchetool zu einer eigenständigen dokumentarischen Methode und Darstellungsform bis hin zu einer eigenen Kunstform entfaltet haben.36 Der zweite Teil in Kapitel 3 widmet sich daher den lebensgeschichtlichen Erzählungen im Fernsehdokumentarismus sowie den Wechselwirkungen zwischen Oral History und Dokumentarfilm. Denn das dokumentarfilmische Interesse an Lebensgeschichten und Lebenserinnerungen und die Entwicklung des Interviewdokumentarfilms, der im Fernsehen zu seiner Entfaltung kommt, überschneiden sich zeitlich mit dem Eingang der Oral History in die Geschichtswissenschaft. Die Betrachtung dieser Zusammenhänge trägt auch zur Klärung der Fragen nach dem Authentizitätsversprechen im biografischen Dokumentarfilm bei. Der verfahrensmäßige Einsatz von Archivmaterial und Interviews (Zeitzeugen) und die Verflechtung von Gegenwart und Vergangenheit erlebte seit den 1970er Jahren thematische Interessenverlagerungen, Veränderungen der Darstellungsmittel und Verfahrensweisen, unterschiedliche Produktionsbedingungen und öffentliche Wirksamkeit. Bei der Betrachtung dieser Entwicklung stellen sich grundsätzliche Fragen nach der Rolle der zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilme für die sich wandelnden historischen Interpretationszusammenhänge, in denen sie entstanden. Anhand der Perspektivierung relevanter Theorien und der Annahmen, die sich aus der eingehenden Auseinandersetzung mit dem Material ergeben, erörtere ich in Kapitel 4 die Analysepatterns und Strukturmerkmale. Im Vordergrund stehen dabei die Qualitäten der Zuordnung bei den Wort-Bild-Beziehungen und die Arten der Adressierung, wobei die Patterns in der narrativen Struktur, die unterschiedlichen Grade der Interaktion und die zeitliche Struktur einer Systematisierung der untersuchten Filme verhelfen. Diese werden in Kapitel 5 anhand exemplarischer Beispiele diskutiert, ihre Analyse orientiert sich an den oben erwähnten Leitfragen: In diesem Kapitel finde ich heraus, wie sich der biografische Dokumentarfilm entwickelt hat, welche Phasen er durchlaufen und welche spezifischen Zugänge sich unter welchen Bedingungen etabliert haben, welche Funktionen sie im gesellschaftspolitischen Diskurs erfüllten oder erfüllen sollten und welche Modi der Rezeption und Produktion an diese Funktionen geknüpft waren.

36 Vgl. Hißnauer 2011, S. 298.

   

Nach der Besprechung einzelner Werke als exemplarisch für bestimmte vorherrschende oder innovative Zugriffe modifiziere ich im letzten Teil des 5. Kapitels das Vorgehen: Die Pluralisierung und Diversifizierung der Filme nach der Jahrtausendwende bringt eine Vielfalt hervor, die sich am besten in Filmgruppen betrachten lässt, wobei einzelne Aspekte und spezifische Fragestellungen im Umgang mit dem Material in Kapitel 6 in der Fallanalyse erarbeitet werden. Im Vordergrund stehen dabei vor allem Fragen nach den spezifischen Vergangenheitsbezügen, Bedeutungszuweisungen und Affizierungsstrategien am Beispiel …VERZEIHUNG ICH LEBE (2005). Welche Rolle spielen Fotografien als Erinnerungszugänge und gedächtniskonstituierende Materialitäten im biografischen Dokumentarfilm? Das Fallbeispiel adressiert auch eine der Hauptfragen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung: Wie können die Katastrophen des 20. Jahrhunderts Eingang in das kollektive Gedächtnis finden, wenn die Träger individueller Erfahrungen gestorben sind? Im letzten Kapitel erfolgt eine zusammenfassende Betrachtung des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms, seiner spezifischen Aspekte und Funktionen, die mit einem Ausblick abschließt.



            

   

  

Die gesteigerte Aufmerksamkeit, die in den letzten Jahrzehnten den individuellen und kollektiven Erinnerungen zukommt, hat Folgen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Dokumentarfilm: Im weiten Panorama kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung werden Fragestellungen und Konzepte zu Gedächtnis und Identität, Medien und Gedächtnis und zur filmischen Gedächtnisarbeit verstärkt aufgegriffen, die auch die Filmwissenschaft informieren. Eine ganze Reihe von Autoren/innen unterschiedlichster Disziplinen beschäftigen sich mit den erinnerungskulturellen Dimensionen medialer Darstellungen, die sich zeitgeschichtlichen Themen widmen, insbesondere bezogen auf die prägenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts.1 Im Bemühen zu beschreiben und zu deuten, wie sich einschneidende Ereignisse wie der Holocaust in das kulturelle, an Medien gebundene Gedächtnis2 einschreiben, gibt es zahlreiche disziplinäre Überschneidungen. So widmen sich die Filmwissenschaft wie die Geschichtsschreibung den Wechsel-

1

Vgl. Elm 2008, Keilbach 2008, Rippl/Frank 2007, Pethes/Ruchatz 2001, Erll/

2

Der Begriff „kulturelles Gedächtnis“ wird hier in Anlehnung an Jan und Aleida

Nünning 2008 oder Gudehus/Eichenberg/Welzer 2010 u.v.a. Assmann verwendet, vgl. Assmann, Aleida/Assmann, Jan (1994): Das gestern im heute. Medien und soziales Gedächtnis, in: Merten, Klaus et al. (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 114-140.

     

 

     

beziehungen zwischen individueller Erinnerung, der Erinnerung anderer Menschen und dem tatsächlichen Geschehen,3 und das wachsende Interesse an individueller, kultureller und gesellschaftlicher Erinnerung markiert eine Hinwendung zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Aspekte des Phänomens Gedächtnis werden verstärkt interdisziplinär in den Blick genommen.4 Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Nikolas Pethes identifiziert zwei Konjunkturwellen einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie (unter Kulturwissenschaften subsumiert Pethes die vormals als Geisteswissenschaften genannten Disziplinen wie Philosophie, Ethnologie, Kunstwissenschaft etc.). Er verortet die erste Konjunktur als eine im Zeichen der Krisenerfahrungen der klassischen Moderne stattfindende, zu einer Zeit, „als die Kontinuitätslinien, die das Abendland überhaupt erst als einen Traditionszusammenhang zu betrachten erlaubt hatten, in Auflösung begriffen zu sein schienen: Philosophen wie Henri Bergson, Psychologen wie Sigmund Freud, Literaten wie Marcel Proust und Soziologen wie Maurice Halbwachs etablieren innerhalb weniger Jahrzehnte einen theoretischen Diskurs über die kulturelle Funktion von Gedächtnis und Erinnerung, der im Rückblick als Kompensation der gleichzeitigen Bruch- und Krisenerfahrungen gelesen werden kann.“5

Die zweite Konjunkturwelle bricht für Pethes angesichts der Postmoderne ein, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen erneuten Zusammenbruch eines Traditionskontinuums markiert, eine weitere Diskontinuitätserfahrung also, die zu einer massiven kompensatorischen Bewegung in den Kulturwissenschaften führt – in Deutschland initiiert durch Jan Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses. Im Folgenden gilt es in Anlehnung an Positionen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung6 danach zu fragen, welche Interaktionsbezieh-

3

Zu den Wechselwirkungen zwischen der medienwissenschaftlichen und der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust vgl. Bruns/Dardan/Dietrich (Hg.) 2012, S. 17 f.

4

Vgl. Pethes, Nicolas (2008): Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, Ham-

5

Ebd., S. 19 f.

6

Für die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung spielen, seit Maurice Halb-

burg: Junius.

wachs’ Studien zu den sozialen Rahmen, u.a. Aleida und Jan Assmann, Harald



     

ungen sich zwischen zeitgeschichtlichem biografischen Dokumentarfilm und kulturellem Gedächtnis nachzeichnen lassen und welche spezifischen Zugänge zur Erinnerung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft diese Wechselwirkungen markieren. Anders gesagt, werden hier die Vorgehensweisen und Konstruktionen erkennbar gemacht und es wird den Hauptsträngen nachgegangen, nach denen sich individuelles und kollektives Gedächtnis als medial verhandelte Erinnerung konstituieren. Damit können Rückschlüsse auf den biografischen Dokumentarfilm als Medium der Wirklichkeitsaneignung und Bewusstseinsbildung gewährt und die Historizität dieses kulturellen Phänomens thesenhaft eingeordnet werden. Aus dieser Perspektive bieten bestehende Modelle der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung Zugänge zur spezifischen Konstituierung und Darstellung von Erinnerung im biografischen Dokumentarfilm. Seine Rolle kann, so die Ausgangsthese, als eine dreifache (tripple agency) begriffen werden: Zum einen spiegeln sich in der dokumentarfilmischen Verhandlung von Vergangenheit gesellschaftliche Tendenzen, Themenakzente und charakteristische Auseinandersetzungen wider, d.h. die mediale Verhandlung kann Rückschlüsse auf eine bestimmte, gesellschaftlich vorherrschende Perspektive auf Vergangenheit werfen – weil Dokumentarfilme in enger Interaktion mit anderen gesellschaftlichen Diskursen über die Vergangenheit stehen. Zum anderen können biografische Dokumentarfilme eine aktive Rolle bei der Konstruktion von paradigmatischen, das kollektive Gedächtnis prägenden Bildern und Auffassungen einnehmen sowie imaginierte Bilder

Welzer oder Astrid Erll eine tragende Rolle, vgl. Halbwachs, Maurice (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen [frz. Les cadres sociaux de la mémoire. 1925], Übs. v. Lutz Geldsetzer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck; Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck; Welzer, Harald (2002): Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München: C.H. Beck Verlag; Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C.H. Beck; Erll, Astrid (2004): Medium des kollektiven Gedächtnisses. Ein (erinnerungs-) kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff, in: Dies./Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität, Berlin: de Gruyter, S. 3-24.

     

 

     

evozieren. Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, inwieweit der biografische Dokumentarfilm die aktive Gestaltung gegenwärtiger und zukünftiger Vorstellungs- und Handlungsräume (mit-)prägt. Inwiefern kann also der biografische Dokumentarfilm dazu beitragen, zivilgesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein zu stärken, Diskurse zu prägen, die aktives Handeln begünstigen (zum Beispiel eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Großeltern-/Elterngeneration)? Kann er dazu beitragen, Empathie mit gesellschaftlichen Randgruppen zu entwickeln – im Bewusstsein, dass Erfahrungswissen aus Vertreibung, Ausgrenzung, Überlebensstrategien für neue Formen gesellschaftlicher Inklusion relevant ist? Welche diskursiven Räume befördert der biografische Dokumentarfilm in Bezug auf familiäre, intergenerationale und gesellschaftspolitische Aushandlungsprozesse? Es gilt in diesem Kapitel danach zu fragen, inwieweit die im zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilm verhandelte Vergangenheit die Bedingungen kollektiver Erinnerung mitgestaltet und wie diese in die heutige Gesellschaft mitwirkt. Die Verortung der relevanten Modelle, die hier vorgestellt werden, sollen anhand spezifischer dokumentarfilmischer Zugriffe veranschaulicht werden.  

            Im Folgenden wird die Rolle der dokumentarischen Bilder für die kollektive Erinnerung genauer bestimmt – anhand von Positionen, die seit den 1990er Jahren in die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung maßgeblich eingeflossen sind. Den Ausgangspunkt der folgenden theoretischen Überlegungen bilden zwei Perspektiven: die Grundlagen, die Maurice Halbwachs für die gegenwärtige Gedächtnistheorie geliefert hat, und das vor allem im deutschsprachigen Diskurs mittlerweile von zahlreichen Kulturwissenschaftlern/innen ausdifferenzierte Modell von Aleida und Jan Assmann. Ihre Positionen wurden von filmwissenschaftlichen Arbeiten in jüngster Zeit einer Aktualisierung unterzogen. Zu erwähnen sind hier die Ansätze von Astrid Erll und Stephanie Wodianka in „Film und kulturelle Erinnerung“ (2008), Christoph Vatters „Gedächtnismedium Film“ (2009) und Michael Elms „Zeugenschaft im Film“ (2008), wobei sich die Autoren/innen hauptsächlich auf die Behandlung von Spielfilmen beschränken, ohne die Bedeutung, die gerade den dokumentarischen Formaten zukommt, zu berücksichtigen. Die Bände „Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm und Geschichte“

      

von Eva Hohenberger und Judith Keilbach (2003) sowie „DDR – erinnern, vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms“ von Tobias Ebbrecht et al. (2009) widmen sich dagegen einer Diskursivierung dokumentarfilmischer Spezifika, die für die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung fruchtbar gemacht werden. In „Geschichtsbilder und Zeitzeugen“ (2008) hat sich Judith Keilbach dann ausführlich der medialen Konstruktion der Vergangenheit im bundesdeutschen Fernsehen anhand von dokumentarischen Sendungen und Sendeformaten gewidmet und eine eingehende Untersuchung zur Spezifik von Geschichtsdokumentationen im Fernsehen geliefert, wobei sie sich auf das Verhältnis von Medien und Geschichte konzentriert. Allerdings verharrt die Arbeit in rein formal-ästhetischen Analysen, ohne die Geschichtsdokumentationen in ihrem kulturhistorischen Kontext zu thematisieren. Keilbachs Untersuchung wird dennoch für die vorliegende Arbeit wichtige Anknüpfungspunkte liefern, vor allem in Bezug auf den dokumentarischen Umgang mit Archivbildern und Zeitzeugen.

                      Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses geht auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877-1945) zurück. In seinem Hauptwerk „Les cadres sociaux de la mémoire“ legt er das Fundament einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie. Seine Schriften, die im frühen 20. Jahrhundert entstanden sind (wobei „La mémoire collective“ erst 1967 posthum erschienen ist), gelten als Vorläufer der aktuellen Forschung zur Konstruktivität von Erinnerung.7 Anders als die vorherrschenden Gedächtnistheorien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, welche Gedächtnis vorwiegend als individuelles Phänomen interpretierten – wie zum Beispiel Sigmund Freud in der Psychologie oder Henri Bergson in der Philosophie – betont Halbwachs, dass sich das Gedächtnis ebenso wie Sprache und Bewusstsein in einem sozialen Prozess bildet und somit sozial bedingt ist. Er liefert die Grundlagen für die Übertragung der Konzepte Gedächtnis und Erinnerung von der individuellen

7

Vgl. Vatter 2009, S. 19 f.

     

 

     

Psyche auf die Betrachtung von Gedächtnis und Erinnerung als soziale und kollektive Phänomene.8 Halbwachs’ These, die als zentrale Aussage des Soziologen gilt, lautet: „Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, derer sich in der Gesellschaft lebende Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.“9 Streng genommen können nur Wahrnehmungen und Empfindungen individuell sein, Erinnerungsvorgänge aber per se sind als soziale Prozesse zu verstehen. Das Fixieren und Wiederfinden von Erinnerungen sind in starkem Maße sozial bedingt: Jeder Bezug auf individuelle Wahrnehmungen und Empfindungen, wie etwa der Versuch, sie zu verstehen und zu vermitteln, ist eng mit den gesellschaftlich vorgegebenen Strukturen des Verstehens und Vermittelns verbunden. Am deutlichsten wird dieser Prozess am Beispiel des Traums, wie ihn Pethes beschreibt: Das Träumen selbst vollzieht sich höchst individuell. Sobald man aber versucht, sich den Traum zu vergegenwärtigen und ihm Ausdruck zu verleihen, ihn zu erzählen, „bedient man sich des gesellschaftlichen Kommunikationsmediums der Sprache, das man mit anderen Sprechern teilt und das für Erzählungen zeitliche und räumliche Ordnungsschemata bereitstellt, die mit der Erwartungshaltung eines Zuhörers konform gehen und auf diese Weise Erzählen und Verstehen als sozialen Prozess ermöglichen“.10

Im Dokumentarfilm manifestieren sich Prozesse der Erinnerung als sozial bedingte Prozesse, die besonders eng an die realen oder imaginierten Erwartungshaltungen der beteiligten Akteure gebunden sind. Individuelle Erleb-

8

Halbwachs 1985 (1925); vgl. auch Pethes 2008, S. 51 f.

9

Halbwachs 1985 (1925), S. 121. Dieser Satz wird zahlreich in der Literatur zitiert und als zentrale Aussage des Soziologen verhandelt, vgl. Curtis, Robin (2002): Trauma, Darstellbarkeit und das Bedürfnis nach medialer Genesung. Rea Tajiris History and Memory. For Akiko and Takeshige, in: montage/av 11/1, Erinnern, Vergessen, Marburg: Schüren, S. 46; oder Brockmann, Andrea (2002): Erinnerung, Rekonstruktion, Visual History, in: Handro, Saskia/Schönemann, Bernd (Hg.): Methoden geschichtsdidaktischer Forschung, Berlin-Hamburg-Münster: LIT, S. 219-230.

10 Pethes 2008, S. 53.



     

nisse und Empfindungen werden mittels Kommunikation übersetzt und kollektiv geformt, in einem sozialen Rahmen also mit Bedeutung versehen. Wie Halbwachs diese Kontextualisierung konzipiert, soll zunächst anhand der Kategorien individuelles und kollektives Erinnern erläutert werden.            Für Halbwachs vollziehen sich Erinnerungen in sozialen Zusammenhängen. Beim Erzählen von Erinnerungen meinen wir, die Bedeutung der gesellschaftlichen und historischen Kontexte eines bestimmten Erlebens mit anderen zu teilen, wir nehmen also an, dass zumindest einige Mitmenschen dieses Kontextwissen mit uns gemeinsam haben. Jede Erinnerung gehört dem Bereich des individuellen Erlebens und seiner sozialen Bedeutung an: „Meistens erinnere ich mich, weil die anderen mich dazu antreiben, weil ihr Gedächtnis dem meinen zu Hilfe kommt, weil meines sich auf ihres stützt. Zumindest in diesen Fällen hat die Erinnerung nichts Mysteriöses an sich. Es gibt da nichts zu suchen, wo sie sind, wo sie aufbewahrt werden, in meinem Kopf oder in irgendeinem Winkel meines Geistes, zu dem ich allein Zugang hätte; sie werden mir ja von außen ins Gedächtnis gerufen, und die Gruppen, denen ich angehöre, bieten mir in jedem Augenblick die Mittel, sie zu rekonstruieren, unter der Bedingung, dass ich mich ihnen zuwende und dass ich zumindest zeitweise ihre Denkart annehme. Aber warum sollte es sich nicht in allen Fällen so verhalten? Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis und einen gesellschaftlichen Rahmen des Gedächtnisses geben, und unser individuelles Gedächtnis wäre in dem Maße fähig sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert.“11

Jedes Individuum hat Anteil an zahlreichen kollektiven Gedächtnissen. Diese sind jeweils gruppenspezifisch (Familie, Religion, soziale Klasse etc.), so dass sich das kollektive Gedächtnis als die Schnittmenge aus den individuellen Gedächtnissen zusammenfassen lässt. Halbwachs präzisiert das Verhältnis von Erinnerung und gesellschaftlichem Zusammenhalt der Individuen, indem er genau diese Relation (die Gegenüberstellung von kollektivem und individuellem Gedächtnis) als eine wichtige Vorbedingung für die Erfassung des Gedächtnisses hervorhebt. Halbwachs’ Verständnis zufolge

11 Halbwachs 1985 (1925), S. 20 f.

     

 

     

durchdringen sich individuelles und kollektives Gedächtnis wechselseitig, wobei er auf die Prozesshaftigkeit dieser Strukturen verweist: „Wenn […] das kollektive Gedächtnis seine Kraft und seine Beständigkeit daraus herleitet, daß es auf einer Gesamtheit von Menschen beruht, so sind es indessen die Individuen, die sich als Mitglieder der Gruppe erinnern. […] Wir würden sagen, jedes individuelle Gedächtnis ist ein ‚Ausblickpunkt‘ [point de vue] auf das Gedächtnis; dieser Ausblickpunkt wechselt je nach der Stelle, die wir darin einnehmen, und diese Stelle selbst wechselt den Beziehungen zufolge, die ich mit anderen Milieus unterhalte.“12

Halbwachs konzeptualisiert das individuelle Gedächtnis als vom jeweiligen Temperament oder den Lebensumständen der jeweiligen Person bestimmt und gleichzeitig als Teil und Aspekt des Gruppengedächtnisses, da „man von jedem Eindruck und jeder Tatsache, selbst wenn sie einen offensichtlich ganz ausschließlich betrifft, eine dauerhafte Erinnerung nur in dem Maße behält, wie man darüber nachgedacht hat, d.h. sie mit den uns aus dem sozialen Milieu zufließenden Gedanken verbindet. […] Es ist nicht notwendig, dass die Gruppe sie kenne. Es genügt, dass wir sie nicht anders als von außen ins Auge fassen können, d.h. indem wir uns an die Stelle der anderen versetzen, und dass wir, um sie wiederzufinden, den gleichen Weg nehmen müssen, den sie an unserer Stelle verfolgt hätten.“13

Eine Erinnerung mit den aus dem sozialen Milieu zufließenden Gedanken zu verbinden bedeutet, Wahrnehmungen – die späteren Erinnerungen zugrunde liegen – in einem ständigen Zwiegespräch, in einem realen oder imaginierten Dialog mit Bezugspersonen zu denken. Veranschaulichend wird dies bei Halbwachs am anekdotenhaften Beispiel „Spaziergang durch London“, mit dem er „Das kollektive Gedächtnis“ einleitet: Beim Besuch von Sehenswürdigkeiten kontempliert Halbwachs seine Eindrücke, wobei er in Gedanken seine Wahrnehmungen und Überlegungen mit (nicht physisch anwesenden) Freunden, Experten oder gar imaginierten Protagonisten teilt. Je nach Bezugsperson treten auch unterschiedliche Aspekte der Wahrnehmung in den

12 Halbwachs, Maurice (1991): Das kollektive Gedächtnis [frz. La mémoire collective. 1950], Übs. v. Holde Lhoest-Offermann, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 31. 13 Halbwachs 1985 (1925), S. 201.



     

Vordergrund – entsprechend den Wahrnehmungsschablonen seiner Begleiter.14 Die soziale Kontextualität ist also keine äußerliche Rahmenbedingung. Auch die (mentalen) Repräsentationen bestimmter Bezugspersonen bestimmen den kommunikativen Prozess und die Interaktion zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis. Die jeweiligen Denksysteme anderer Menschen helfen, bestimmte Erinnerungen und Erlebnisse, die wir jedoch nicht mit den anderen geteilt haben müssen, ins Gedächtnis zurückzurufen. Voraussetzung ist lediglich eine Bezugnahme, wobei sich diese Bezugnahme auch ohne die physische Präsenz der „anderen“, also der Bezugspersonen, vollziehen kann.       Um diese Prozesse näher zu bestimmen, führt Halbwachs den Begriff der „sozialen Rahmen“ – cadres sociaux – ein. Soziale Rahmen sind kollektive Traditionen, Ideen, Überzeugungen und Konventionen, die einem permanenten Wandel unterzogen sind und die von einem Zeitabschnitt zum anderen wechseln. Sie sind in der Gegenwart situiert, stützen die Erinnerungen der jeweiligen Gruppen und setzen die Erfahrungen und Erinnerungen Einzelner zueinander ins Verhältnis: „Die Gesellschaft stellt sich die Vergangenheit je nach den Umständen und je nach der Zeit in verschiedener Weise vor: Sie modifiziert ihre Konventionen. Da sich jedes ihrer Glieder diesen Konventionen beugt, so lenkt es auch seine Erinnerung in die gleiche Richtung, in die sich das kollektive Gedächtnis entwickelt.“15 Je enger der Einzelne sich an eine Gruppe gebunden fühlt, desto mehr ist er fähig, anhand der Bezugsrahmen der Gruppe in die Vergangenheit zu tauchen. Diese Rahmen sind die Organisationsprinzipien der Erinnerungen der Gruppe, die allen Mitgliedern gemeinsam sind. Sie setzen Erinnerungen, die verschiedenen Zeiten entstammen, in einen Bedeutungszusammenhang, den die Gruppe definiert. So konstituieren sich die Dimensionen der Deutungshoheit einer Mehrheitsgesellschaft über den Umgang mit Erinnerung, speziell in dem sie maßgeblich prägt, worüber gesprochen und geschwiegen wird. Wichtige kollektive Bezugsrahmen oder soziale Rahmen sind bei Halbwachs Sprache, Zeit und Raum. Von allen Rahmen ist die Sprache der 14 Halbwachs 1991 (1950), S. 2 f. 15 Halbwachs 1985 (1925), S. 368.

     

 

     

elementarste und gleichzeitig der stabilste im Hinblick auf das Gedächtnis von Gruppen. Sie ermöglicht soziale Interaktion und gedächtniskonstituierende Kommunikation. Die Rahmen der Zeit und des Raumes helfen, Ereignisse zu fixieren, zu datieren und Erinnerungen historisch zu situieren. Die Rahmen verändern sich im Kontext von gesellschaftlichen Strukturen und konstituieren sich prozesshaft in der Interaktion mit den Eindrücken und Vorstellungen einzelner Individuen. Es handelt sich dabei um kollektive und individuelle Umarbeitungsprozesse, die einer permanenten Transformation unterworfen und von vielfältigen Überlagerungen geprägt sind. Als Hauptträger der Bezugsrahmen sind bei Halbwachs vorrangig die Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung zu verstehen. Ein Gruppengedächtnis manifestiert sich in der gemeinsamen Erinnerung an vergangene Erlebnisse der Gruppe im Gespräch, also im kommunikativen Akt. Bei der Aktualisierung von Gedächtnisinhalten dienen die cadres sociaux als Stützen, um Erfahrungen aus der Vergangenheit zu rekonstruieren und ihnen – aus aktueller Perspektive – Bedeutung oder Sinn zuzuweisen.                     Seit den Forschungen von Halbwachs gehört es zu den Grundeinsichten, dass das Gedächtnis die Vergangenheit nicht einfach konserviert, sondern dass sie permanent konstruiert wird – unter Zuhilfenahme von Gegebenheiten, die der Gegenwart entnommen werden.16 Aktuelle Erinnerungen werden durch andere, bereits früher geleistete Rekonstruktionen vorbereitet, aus denen das vergangene Bild immer schon – mehr oder minder – verändert hervorgegangen ist. Erinnerungen beziehen sich nicht auf eine gespeicherte oder aufbewahrte Vergangenheit. Wenn sich Gruppen etwa die Geschichte ihrer Herkunft erzählen, beziehen sie sich keineswegs auf eine so und nicht anders existierende Vergangenheit. Sie entwerfen sich dagegen jeweils passende Versionen dieser Vergangenheit, indem sie diejenigen Aspekte hervorheben, die am ehesten mit aktuellen Diskursen, Bedürfnissen und ideologischen Ausrichtungen übereinstimmen. Das kollektive Gedächtnis entwirft und deutet demnach Vergangenheiten. 16 Vgl. Montigny, Gilles (2005): Maurice Halbwachs. Vie – œuvres – concepts, Paris: Ellipses.

   #"

Eine Erinnerung wird entsprechend den sozialen Bezugsrahmen angepasst und geformt und ist somit ein kreativ-schöpferischer Prozess – sowohl im Bereich des individuellen als auch auf der Ebene des Gedächtnisses von Gruppen wie Familie.17 Für die Untersuchung von Dokumentarfilmen, die sich mit der Vergangenheit aus lebensgeschichtlicher Perspektive befassen, bedeutet dies, die selektiven Deutungsmechanismen und die „Sinnbedürfnisse“ der Gegenwart, aus der heraus erzählt wird, zu berücksichtigen. Welche Entwürfe passen zu den aktuellen Bedürfnissen während der Dreharbeiten, welche (angenommenen) Erwartungshaltungen werden vor der Kamera bedient, welche Interessen treffen aufeinander? Welche Erinnerungen werden erst durch veränderte Bezugsrahmen ermöglicht? Um zu veranschaulichen, welche Rolle das Konzept der Bezugsrahmen für die Auseinandersetzung mit dem biografischen Dokumentarfilm spielen kann, möchte ich einige Filmbeispiele heranziehen: !             In 2 ODER 3 DINGE, DIE ICH VON IHM WEISS von Malte Ludin (2005) setzt sich der Filmemacher mit der nationalsozialistischen Vergangenheit seines Vaters auseinander. Hanns Ludin war ehemaliger SA-Gruppenführer und nach 1941 Minister in der Slowakei. Nach dem Krieg wird er von den Amerikanern an die Tschechoslowakei ausgeliefert, 1947 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Mehr als 50 Jahre später stellt sich sein jüngster Sohn Malte Ludin dieser Vergangenheit. Wie er im Film äußert, habe er erst nach dem Tod der Mutter die Spurensuche filmisch aufnehmen können, denn insbesondere die Mutter hat die Vergangenheit ihres Mannes als „Nazitäter“ streng gehütet – eine Vergangenheit, die zwar aktenkundig war, familienintern jedoch beschönigt und verdrängt wurde. Für das Familiengedächtnis ergaben sich mit dem Tod der Mutter veränderte Rahmenbedingungen, die es dem Filmemacher ermöglichten, die Konfrontation mit den Organisationsprinzipien der Erinnerungen der eigenen Familie zu wagen. Der Film selbst dient ihm als Bühne und Rahmensetzung für die Auseinandersetzung mit dem Vater, um die generationale Weitergabe von Erinnerung bzw. das Familiengedächtnis in Täterfamilien zu thematisieren.

17 Pethes 2008, S. 57.

&$ #""!#(! 

Der Prozess des Filmemachens dient Ludin als Anlass für die Auseinandersetzung mit den Schwestern und ihren Vorstellungen von der (familienintern) positiv besetzten väterlichen Figur und gleichsam als Schutz in der Konfrontation mit ihnen. Denn die Schwestern wehren abweichende Erzählungen über den Vater ab und verharren in Erinnerungen, die Aufschluss über das kollektive Gedächtnis der Familie geben. Für eine interessierte Öffentlichkeit, welche für Ludin einen wesentlichen Bezugsrahmen darstellt, versucht er, das hartnäckige Verharren in Familienmythen und Loyalitätsbekundungen und den Widerstand gegen die Aufarbeitung der eigenen familiären Implikationen zu durchbrechen. Ludin zeigt dabei auf, dass das in Übereinstimmung mit den eigenen Sinnbedürfnissen konstituierte Gruppengedächtnis und der Bedeutungszusammenhang, den die Familie selbst und vor allem die Mutter definiert haben, sich nicht ohne Weiteres überschreiben lassen. Mit dem Film wendet sich Ludin nicht allein den eigenen familieninternen Verstrickungen zu, um bestimmte Erkenntnis- und Verarbeitungsprozesse in Gang zu setzten, sondern bereitet sie für den öffentlichen Erinnerungsdiskurs auf, der gesamtgesellschaftliche Muster der Vergangenheitsbewältigung reflektiert und über individuelle Zugänge kollektive Aushandlungsprozesse mit informiert.18 %"        *     '  Ein weiterer Film, der die Maßgabe der Rahmenbedingungen der jeweiligen Gegenwart filmisch reflektiert, ist IM TOTEN WINKEL – HITLERS SEKRETÄRIN von André Heller und Othmar Schmiderer (2002). Hier finden Repräsentationen von individuellen Deutungs- und Umarbeitungsprozessen ihren Niederschlag, da der Film explizit individuelle Erinnerung als Konstruktion verhandelt, welche durch Auslassungen ebenso wie durch Uminterpretationen und vielfältige Überlagerungen erschaffen wird. Der Film lässt die Zeitzeugin Traudl Junge, von 1942 bis Kriegsende private Sekretärin bei Adolf Hitler, über diese Zeitspanne und den Umgang mit Hitler aus der Sicht einer Person berichten, die erst Jahre später zu politischen Einsichten gelangte. Die gegenseitige Durchdringung von individueller und kollektiver Umarbei-

18 Zum Spannungsverhältnis zwischen offiziellen Gedenkdiskursen und Familiengedächtnis vgl. Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline (2002): Opa war kein Nazi. Nazionalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch.



     

tung der Vergangenheit wird in das Filmnarrativ eingebunden, wenn die Filmemacher Wiederholungen, sprunghaftes Erinnern, a-chronologisches Erzählen heranziehen, um die Prozesse der Erinnerung bei Traudl Junge nachvollziehbar zu machen. In und durch ihre Aussagen wird die Vergangenheit zur repräsentierten, umgedeuteten Vergangenheit. Dadurch, dass Traudl Junge im Film die Möglichkeit gegeben wird, der eigenen Erzählung – als Videoaufnahme, die zu einem früheren Zeitpunkt entstanden ist – zuzuhören und diese zu ergänzen oder zu revidieren, wird die Sprunghaftigkeit von Erinnerung, aber auch die automatisierte, bereits mehrfach geleistete Erzählung vergegenwärtigt. Traudel Junges Selbstkorrektur wird als Teil eines Emanzipationsprozesses dargestellt, der an das jeweilige geschichtliche Umfeld gebunden war. Sie reflektiert die Frage, inwieweit politische Unkenntnis von Verantwortungsgefühl und tatsächlicher Verantwortung, von Mitschuldigsein und Schuldigwerden befreit. Sie geht auf die unterschiedlichen Etappen auf dem Weg zur Vergangenheitsbewältigung ein und setzt sie in Relation zu den jeweiligen Rahmenbedingungen und gesellschaftlich vorherrschenden Diskursen. Junge erwähnt beispielsweise, dass eine Aufarbeitung der Vergangenheit erst mit den Nürnberger Prozessen, dem Tagebuch der Anne Frank und den Zeugnissen von Widerständlern öffentlich diskutiert wurde. Junge berichtet von der zaghaft beginnenden persönlichen Auseinandersetzung mit den Verbrechen während des Nationalsozialismus, die erst in der Konfrontation mit dem Schicksal ihrer Altersgenossin Sophie Scholl begann, und verbindet diese Konfrontation mit dem Bewusstsein persönlicher Schuld: „Und da hab’ ich gesehen, dass sie mein Jahrgang war und dass sie in dem Jahr, als ich zu Hitler kam, hingerichtet worden ist. Und in dem Moment hab’ ich gespürt, dass das keine Entschuldigung ist, dass man jung ist. Sondern dass man auch hätte vielleicht Dinge erfahren können …“

Erst unter veränderten Bedingungen kollektiver Umdeutungsprozesse waren diejenigen Bezugsrahmen gegeben, die eine solche Erkenntnis (weg von der in der Naivität des eigenen Alters begründeten Entlastung hin zur kritischen Reflexion) überhaupt erst zu ermöglichen schienen.

     

 

     

          Bricht die Kommunikation und damit der Bezugsrahmen ab, ist für Halbwachs Vergessen die Folge. Das, was nicht innerhalb der Bezugsrahmen einer jeweiligen Gegenwart kommunizierbar und rekonstruierbar ist und als Vergangenheit erinnert wird – von einem Individuum oder einer Gesellschaft – wird vergessen, d.h. die Erinnerungen verblassen, wenn der Bezugsrahmen wegfällt. Halbwachs merkt dazu an: „Einen Abschnitt seines Lebens vergessen heißt: die Verbindung zu jenen Menschen verlieren, die uns zu jener Zeit umgaben. Eine fremde Sprache vergessen bedeutet: nicht mehr im Stande sein, jene Menschen zu verstehen, die uns in dieser Sprache anredeten – mochten sie im Übrigen lebendig und gegenwärtig sein oder Autoren, deren Werke wir lasen. […] Liegen keine pathologischen Störungen vor, entfernen und isolieren wir uns auf vielleicht weniger brüske und brutale Weise allmählich von manchen Milieus, die uns nicht vergessen, die wir selbst jedoch nur vage in Erinnerung behalten. Mit allgemeinen Begriffen können wir die Gruppen, denen wir angehört haben, noch umschreiben. Aber sie interessieren uns nicht mehr, weil alles uns gegenwärtig von ihnen entfernt.“19

Das Vergessen ist in sozialen Rahmen eingebunden, wird also durch Rahmenwechsel bedingt, die ihrerseits beispielsweise durch die völlige Veränderung der Lebensbedingungen und der sozialen Verhältnisse zustande kommen. Halbwachs betont dabei die zeitliche Dimension: „Eine Erinnerung ist um so reicher, je größer die Anzahl jener Rahmen ist, in deren Schnittpunkt sie auftaucht, und die sich in der Tat kreuzen und teilweise gegenseitig decken. Das Vergessen erklärt sich aus dem Verschwinden dieser Rahmen oder eines Teils derselben, entweder, weil unsere Aufmerksamkeit nicht in der Lage war, sich auf sie zu fixieren, oder weil sie anderswohin gerichtet war […]. Das Vergessen oder die Deformierung bestimmter Erinnerungen erklärt sich aber aus der Tatsache, dass diese Rahmen von einem Zeitabschnitt zum anderen wechseln.“20

19 Halbwachs 1985 (1925), S. 10. 20 Halbwachs 1985 (1925), S. 368.



     

Entscheidend ist dabei, dass Gruppenzugehörigkeiten mit Zeitdimensionen versehen sind: Das Gedächtnis setzt eine soziale Konstruktion der Zeit voraus. Man kann mit Hilfe der sozialen Gedächtnisrahmen die Veränderung der zeitlichen Strukturen einer Gesellschaft erkennen. Die Zeit funktioniert als Kategorie, die den Rahmen für die Einordnung geschichtlicher Ereignisse liefert. Ein Rahmenwechsel bedeutet gleichzeitig einen Zeitenwechsel und, damit verbunden, ein Vergessen. Wiederum bedeutet aber Vergessen, auch eine andere Erinnerung zu schaffen, indem man das kollektive Gedächtnis erweitert. Erinnern und Vergessen hängen somit eng zusammen und können nicht separat voneinander betrachtet werden. Schweigen, Umdeutung, Rekonstruktion und Neuinterpretation sind integrale Bestandteile des Erinnerns wie des Vergessens. Beim Erinnern werden von gegenwärtigen Interessen und Perspektiven ausgehend jeweils bestimmte Teile des Gedächtnisses hervorgehoben oder zurückgedrängt.21 Wie sich solche Prozesse gegenseitig bedingen und welche Folgen das gesellschaftliche Hervorheben oder Zurückdrängen bestimmter Aspekte einer Vergangenheit haben können, ist Thema zahlreicher biografischer Dokumentarfilme. Sie setzen sich mit dem Verhältnis von Erinnern und Vergessen unter den Maßgaben der jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingung auseinander und fragen nach den vorherrschenden, kollektiv zugelassenen oder vernachlässigten bis verweigerten Zugängen zur Erinnerung. Wie Ludin leistet auch die Filmemacherin Angelika Levi in MEIN LEBEN TEIL 2 (2003) einen Beitrag zur eingehenden Beschäftigung mit der Shoah aus familienbiografischer Perspektive. Sie nähert sich den Mechanismen der Weitergabe von Leiderfahrungen der Holocaust-Überlebenden an ihre Nachkommen und etabliert einen diskursiven Raum für die Auseinandersetzung mit der Rolle der öffentlichen Thematisierung von Leerstellen, Auslassungen und Belastungen angesichts der traumatischen Erfahrungen der ersten Generation. Andere familienbiografische Filme der zweiten und dritten Generation von Holocaust-Überlebenden – wie etwa CHOICE AND DESTINY (1993) von Tsipi Reichenbach oder Filme, die sich den individuellen Möglichkeiten der Vergangenheitsbewältigung widmen wie …VERZEIHUNG, ICH LEBE (2000) von Andrzej Klamt und Marek Pelc, weisen explizit darauf hin, dass die Überlebenden in mehrfacher Hinsicht nicht zur Äußerung (Erzählung) der Gewalterfahrungen in der Lage waren. Sie waren angesichts der

21 Vgl. Elm 2008, S. 25.

              

traumatischen Erfahrungen entweder nicht bereit, darüber zu erzählen, oder sie suchten ihre Kinder/Enkelkinder durch Verschweigen vor den erlebten Grausamkeiten zu schützen, oder ihnen wurde in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg weder Interesse noch Anteilnahme an ihren Erlebnissen entgegengebracht und somit war kein Raum für die kollektive Auseinandersetzung mit dem, was sie erlebt hatten, gegeben. Die Zeitzeugen aus …VERZEIHUNG ICH LEBE berichten beispielsweise darüber, dass sie auch in der israelischen Gesellschaft, deren Mitglieder die Protagonisten im Laufe der Zeit wurden, auf keine Bereitschaft, den Überlebenden zuzuhören, stießen: Sie waren im Diskurs der Mehrheitsgesellschaft laut eigenen Aussagen nicht vorhanden, was zu folgenreichen Bruchstellen in der Kommunikation führte. Dokumentarfilme wie ZWEI NAMEN, EIN LEBEN (1997) von Elke Baur oder GERDAS SCHWEIGEN (2005) von Britta Wauer geben auf mehreren Ebenen Aufschluss über den Prozess der Anpassung, Ergänzung und Formung von Erinnerungen an soziale und sozio-kulturelle Bedürfnisse und treffen damit Aussagen über das (bewusst oder unbewusst) gelenkte Erinnern und Vergessen in einer Gesellschaft. Besonders GERDAS SCHWEIGEN (2005) legt diese Prozesse offen und reflektiert filmisch die Maßgabe der Rahmenbedingungen der jeweiligen Gegenwart. In Gerdas unmittelbarer Umgebung – sie war Mitglied einer jüdisch-amerikanischen Community und ihr Ehemann ein konservativer, streng gläubiger amerikanischer Jude und Holocaustüberlebender – war, ob real oder von Gerda so wahrgenommen, kein Platz für die Erinnerung an ihr persönlichstes, lange Zeit verschwiegenes Trauma: Das uneheliche Kind, das im Konzentrationslager geboren und umgebracht wurde. Erst mit der Veränderung der Rahmenbedingungen durch den Tod ihres Ehemanns und das entgegengebrachte Interesse vonseiten des entfernten Verwandten Knut Elstermann war es ihr möglich, Zugang zu diesem dunklen Kapitel aus ihrer Vergangenheit zu finden. Wenn Schweigen, Umdeutung, Rekonstruktion und Neuinterpretation integrale Bestandteile des Erinnerns wie des Vergessens sind, schützt das Vergessen mittels struktureller Amnesie gegen eine teilweise als belastend oder gar bedrohlich empfundene Information.22 Dieser Auswahl- bzw.

22 Unter struktureller Amnesie versteht man einen fortlaufenden Anpassungsprozess des kollektiven Gedächtnisses an die unmittelbar vorliegenden Zwänge der Gegenwart, vgl. Assmann, A. 1999.



     

Auslöschprozess verläuft ohne bewusste Kontrolle – vollständig vergessen geglaubte Inhalte können also wieder auftauchen und Vergessen muss keinen Akt der vollständigen Löschung von Informationen bedeuten.          Die Auseinandersetzung mit den Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses ergibt den Hinweis auf eine doppelte Bewegung: Die mündliche Kommunikation ist zwar in Halbwachs’ Modell das zentrale Medium, sein Ansatz stellt aber auch für weitere Medienbegriffe Anknüpfungspunkte bereit, da andere Medien ebenso wie die sozialen Bedingungen die Form einer Erinnerung bestimmen. Nach Halbwachs kann Medien die Funktion zukommen, an Gruppengedächtnisse Anschluss zu finden (etwa literarische Werke oder Filme, die den Bezug zu einer bestimmten Zeitspanne und Denkart herstellen) und auch als Kommunikationsanlass zur gemeinsamen Erinnerung beizutragen. Medial vermittelte Gedächtnisinhalte erlangen in Halbwachs’ Modell vor allem dann eine Bedeutung innerhalb einer Gemeinschaft, wenn sie als „Kommunikations- oder Interaktionsanlass dienen und damit in einer Gruppe verankert werden“23. Astrid Erll prägt in diesem Zusammenhang den Begriff der „cadres médiaux“, die erst den breiteren Zugang zu vergangenen Ereignissen ermöglichen und die „cadres sociaux“ mitbedingen.24 Dies setzt jedoch voraus, dass die mediale Vermittlung innerhalb einer oder mehrerer Gemeinschaften rezipiert wird und die Verhandlung ihrer Inhalte öffentlich stattfindet – durch Besprechungen, Bezugnahmen in anderen Medien oder weiterer Kontextualisierungen. Als Interaktionsanlass können biografische Dokumentarfilme in ihrer kommunikationsfördernden Funktion, aber auch in einem weitaus engeren Rahmen an Gruppengedächtnisse Anschluss finden, indem sie beispielweise familienintern als Katalysator für Kommunikation dienen. Als explizite Haltung gegen das innerfamiliäre Schweigen steht zum Beispiel der hartnäckige Versuch der Filmemacherin Caterina Klusemann in IMA (2001), die direkte Kommunikationsverweigerung der Großmutter und stellvertretend der gesamten Herkunftsfamilie zu durchbrechen. Durch die Kamera werden hier Kommunikationsprozesse angestoßen, die sich wahrscheinlich ohne den Film nicht ereignet hätten. Gerade Doku23 Vatter 2009, S. 23. 24 Erll 2004, S. 7.

     

 

     

mentarfilme, bei denen familieninterne Kommunikationsprozesse angestoßen, Tabus gebrochen oder schmerzhafte Prozesse in Gang gesetzt werden, bedürfen nicht selten einer psychologischen Betreuung der teilnehmenden Personen. Im Unterschied zu anderen interaktiven Dokumentarfilmen beruhen die Familiengespräche (als Sonderform des Interviews25) auf eine von Intimität geprägte Beziehung, die die Interaktion zwischen den Beteiligten bestimmt. Diese können im Umgang mit unangenehmen Themen sowohl ein gegenseitiges Schonen als auch Strategien des Ausweichens oder der Konfrontation hervorrufen, die bis hin zum Abbruch der Kommunikation führen. Gleichzeitig repräsentieren diese Filme eine spezifische Medialisierungsform von (Auto-)Biografien und haben damit im Zusammenspiel mit anderen Medialisierungen einen öffentlichen Charakter. Auch in den hier behandelten autobiografischen Werken, in denen die Identität von Erzähler/in, Autor/in und dem sozialen Akteur im performativen Raum vor der Kamera eine Entität bilden,26 widmet sich das Erkenntnisinteresse weniger der Erkundung des Ichs oder der inneren Wahrheit, sondern den zeitgeschichtlichen Implikationen von Familienangehörigen, ihren Loyalitätsbezügen und darüber der selbstreferenziellen Identitätsbildung des Autors/der Autorin. Dabei ist auch das autobiografische (Familien-)Gedächtnis als ein kontinuierlicher Raum des Abgleiches und Verschiebens zu begreifen, da Erinnerungen in den Kontext bereits vorhandener Erinnerungen aufgenommen und verortet werden.27    25 Zu Gesprächen im Familienfilm vgl. Seider, Tanja (2013): Dokumentaristen und Interventionisten der Erinnerung: Auseinandersetzungen mit Familiengeschichte und Nationalsozialismus im autobiografischen Dokumentarfilm, in: Heinze, Carsten/Hornung, Alfred (Hg.): Medialisierungsformen des (Auto-)Biografischen, Konstanz: UVK, S. 251 f. 26 Vgl. hierzu Lejeune, Philippe (1994): Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von W. Bayer und D. Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 27 Welzer, Harald (2004): Gedächtnis und Erinnerung, in: Jaeger, F./Rüsen, J. (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Themen und Tendenzen, Bd. 3. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 160 f.



     

              Relevant für die weiteren Überlegungen ist die Grenze, die Halbwachs zwischen dem kollektiven Gedächtnis und der Geschichtswissenschaft zieht, die er als völlig getrennte Modi des Vergangenheitsbezugs betrachtet. Er geht von einer scharfen Abgrenzung von Gedächtnis und Geschichte (mémoire und histoire) aus: Geschichte als Geschichtswissenschaft ist für Halbwachs eine spezialisierte Form wissenschaftlicher Kommunikation. Sie entzieht sich den Imperativen des kollektiven Gedächtnisses, weil sie „außerhalb der Gruppen und über ihnen“ steht, d.h. sie wird nach Halbwachs von Spezialisten getragen und akzentuiert besonders die Unterschiede und Gegensätze, denn sie hält vor allem Veränderungen und Brüche fest. Das kollektive Gedächtnis gewährleistet die Kontinuität einer Gruppe und ist dabei gruppenspezifisch und dynamisch. Soziale Gruppengedächtnisse sind vielfältig und wirken identitätsstiftend, ihnen ist auch die Ausblendung von Veränderungen eigen,28 wohingegen die Geschichte, von Halbwachs auch als „historisches Gedächtnis“ bezeichnet, der Vielfalt der Gruppengedächtnisse als Einheit gegenübersteht. Denn die Geschichte beginnt für Halbwachs dort, wo das kollektive Gedächtnis endet: Während das Gedächtnis evaluativ und gruppenspezifisch ist, weist sich Geschichte durch ihre objektive Universalität aus und steht als vergangene Ereignisse ordnende Größe dem flexiblen kollektiven Gedächtnis gegenüber. Nach Halbwachs bearbeitet die Geschichte dasjenige Terrain der Vergangenheit, das im kollektiven Gedächtnis nicht mehr aufbewahrt wird. Somit grenzt Halbwachs die persönliche, gelebte Erinnerung streng von der geschriebenen Geschichte ab und hält die Geschichtsschreibung für etwas Objektives. Sein soziales Konstrukt des kollektiven Gedächtnisses ist dabei zwischen der persönlichen Erinnerung, die ja vom kollektiven Gedächtnis gesteuert wird, einerseits und der Geschichtsschreibung andererseits angesiedelt. Halbwachs’ Annahmen von grundlegend unterschiedlichen Strukturen in Geschichtsschreibung und kollektivem Gedächtnis sind heute so nicht mehr haltbar.29 Vielmehr scheint der Geschichte (Geschichtsschreibung), dem kollektiven Gedächtnis wie auch der persönlichen Erinnerung gemein, dass sie

28 Vgl. Vatter 2009, S. 20. 29 Astrid Erll bietet einen Überblick über die gegenwärtige Bezugnahme auf Halbwachs’ Auffassung von Geschichtsschreibung, vgl. Erll 2005a, S. 14 f.

     

 

     

re-konstruktiv strukturiert sind und stark narrative Züge aufweisen.30 In der geschichtswissenschaftlichen Literatur scheint weitgehend Konsens darüber zu herrschen, dass auch in der Geschichtsschreibung die Organisation und Präsentation des Materials in erster Linie durch erzählerische Strukturen bestimmt ist,31 dass die disziplinär verankerte Geschichtsschreibung also von ästhetischen und narrativen Aspekten determiniert ist. Von strukturalistischer Seite postuliert besonders zugespitzt Roland Barthes in seinem einflussreichen Essay „Le discours de l'histoire“ (1967), in dem er das Problem der historischen Erzählung adressiert, die Unmöglichkeit, Fakt und Fiktion anhand textimmanenter Organisationsprinzipien voneinander zu unterscheiden. Vielmehr stellt er eine spezifische Differenz zwischen faktischen und imaginären Narrativen grundsätzlich in Frage und argumentiert, dass sich historische Diskurse nicht wirklich von anderen narrativen Formen unterscheiden.32 Auch wenn sich in der Forschungspraxis mittlerweile ein gewisser Pragmatismus im Umgang mit dem konstruktivistischen Paradigma eingestellt hat, wird in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung ein Vergangenheitsbezug fortgeführt, bei dem der Blick auf die historische Realität zuweilen in den Hintergrund geraten kann. Diese Bezugnahme auf Vergangenheit unter Einbindung postmoderner Theoriebildung kann dazu führen, die historische Realität als objektives Erkenntnisideal zu vernachlässigen, wie einige Theoretiker/innen zurecht kritisieren.33 Gleichzeitig rückt eine Differenzierung der Möglichkeiten der erzählerischen Rekonstruktion von Vergangenheit diskursiv in den Fokus – vor allem in Bezug auf erzählte Erinnerung. Das Hauptinteresse von Narrationsanalysen liegt dabei darin, die Zusammenhänge zwischen den Erzählungen und der realen Erfahrungswelt des Erzählers/der Erzählerin herzustellen. Je nach Erkenntnisinteresse

30 Vgl. Wildt, Michael (2012): Worte, Blicke, Bilder. In: Bruns, Claudia/Dardan, Asal/Dietrich, Anette (Hg.): Welchen der Steine du hebst. Filmische Erinnerung an den Holocaust, Berlin: Bertz + Fischer, S. 300-309. 31 Vgl. White, Hayden (1991): Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M.: Fischer; oder Wildt 2012. 32 Barthes, Roland (1967): Le discours de l'histoire, Social Science Information, VI4 August, S. 65 f. 33 Vgl. Erll 2005a, S. 6 f. oder Elm 2008, S. 66 f.



     

gehört dazu auch die Dekonstruktion von Narrativen, die der Identitätskonsolidierung des Individuums geschuldet sind.34 Auch wenn Halbwachs’ Konzept des historischen Gedächtnisses nicht mehr tragfähig ist, gilt sein Modell des kollektiven Gedächtnisses als wegbereitend, um den Zusammenhang von Gedächtnis, Medien und Geschichte zu erfassen.                  Das Konzept der cadres sociaux bietet in vielerlei Hinsicht Anknüpfungspunkte für die Präzisierung der dokumentarfilmischen Verhandlung von erzählter Erinnerung: Es gibt Aufschluss über die Bedingungen, unter denen aus lebensgeschichtlicher Perspektive die Vergangenheit vermittelt wird. Zum einen können die Einflüsse auf das individuelle Erzählen der Zeitzeugen/der Protagonisten theoretisch erschlossen werden. Es wird deutlich, dass Kontinuität oder Wegbrechen von Bezugsrahmen die aktive und kreativschöpferische Wiedergabe von Vergangenheit prägen. Im Anschluss daran ergeben sich verschiedene Fragen: Welche Kontextualisierungsmöglichkeiten eröffnen sich den Filmemacher/innen und den Rezipient/innen dadurch? Auf welche aktuellen Bedürfnisse und vorherrschende Vorstellungen nehmen die Erzählenden Bezug? Welche Interessen treffen zum Zeitpunkt des Erzählens aufeinander? Halbwachs’ Konzept erlaubt zudem die nähere Beschreibung der Prozesse, die bei der Kontextualisierung des Erzählten stattfinden, also des gestalterischen und narrativen Umgangs mit dieser Erzählung aus Filmemacher-Perspektive. Auf welche narrative Muster wird das Augenmerk gelenkt, welche Transformationen und Überlagerungen finden statt, welche Agenden werden bedient? Das Modell einer Vielfalt von Gruppengedächtnissen, an denen jeder einzelne Anteil hat, unterstreicht die Pluralität von Erinnerung und sich widerstreitender Gedächtnisse innerhalb einer Gesellschaft und deutet damit auf das Konfliktpotenzial hinsichtlich des Umgangs mit einer 34 Tondera 2008, S. 164. Zu den unterschiedlichen Positionen bezüglich Fakt, Fiktion und Narration in der Filmwissenschaft siehe Kapitel 3. Auf das Verhältnis zwischen Erzählung und der realen Erfahrungswelt des Erzählers komme ich im Kapitel 3 im Zusammenhang mit Modellen der Biografieforschung zu sprechen.

     

 

     

als schwierig und negativ empfundenen Vergangenheit wie etwa der Epoche der NS-Zeit. Die Berücksichtigung der jeweiligen Denksysteme innerhalb kollektiver Bezugsrahmen, während eine Erinnerung vergegenwärtigt wird – wenn ihr Ausdruck verliehen wird – hilft dabei, unterschiedlichste Erwartungshaltungen zu identifizieren und danach zu fragen, welche Erwartungen aufeinandertreffen, welche vor der Kamera bedient werden und wie auf diese filmisch Bezug genommen wird.

              

      In der französischen Sozialphilosophie hat sich Paul Ricœur (1913-2005) in mehreren Arbeiten mit den Gedächtnisstudien von Halbwachs auseinandergesetzt.35 Erinnern und Vergessen sind auch für ihn „unauflöslich miteinander verflochten“.36 Wie werden diese Dimensionen (Erinnern und Vergessen) jeweils repräsentiert? Zunächst gilt es mit Ricœur festzuhalten, dass das, was in die Erzählung über die Vergangenheit einfließt, ebenso aussagekräftig ist wie das, was keinen Platz in ihr findet, also ausgelassen und vergessen wird oder werden soll. Das „Rätsel der Repräsentation“ liegt darin, „dass in ihr etwas Abwesendes präsent, anwesend ist; dass das Anwesende für etwas Abwesendes steht“.37 Die Erzählung ist selektiv, insofern sie Zusammenhänge stiftet, denn sie geht mit einer Suche nach Zusammenhängen einher, wobei die Selektivität der Erzählung sie anfällig gegen jede Art der Manipulation macht, „die immer auch eine Manipulation des Vergessens ist“.38 Bei der Darstellung einer Erzählung findet diese Selektivität auf mindestens zwei

35 Ricœur, Paul (1983): Zeit und Erzählung. 3 Bände, München: Wilhelm Fink; Ricœur, Paul (2003): Erinnerung und Vergessen – Das eigenwillige Überleben der Bilder in: Der blaue Reiter. Journal für Philosophie 18, S. 40-46 Ricœur, Paul (2004): Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München: Wilhelm Fink. 36 Ricœur 2003, S. 40. 37 Ebd. 38 Ebd. S. 41.



     

Ebenen statt: als implizite Logik des Sich-Erinnerns der Protagonist/innen, da das Erinnern narrativ strukturiert, also an eine Erzählstruktur gebunden ist; und als Auswahlprozess innerhalb der erzählerischen Strategie der medialen Vermittlung, also der Aussageinstanz – etwa durch die Hervorhebung bestimmter Aspekte, durch Art der Fragestellung oder in der Montage. In die dokumentarfilmische Darstellung von Erinnerung und die (Re-)Konstruktion vergangener Erlebnisse fließen in diesem doppelten Prozess der Selektivität bewusste und unbewusste Auswahlmechanismen, aber auch Deutungen und Entstellungen mit ein. Wie auch Halbwachs betont Paul Ricœur die Rolle der Kommunikation für Erinnerungen: Sie werden erst dann sozial lebendig, wenn sie erzählt und ausgetauscht werden. In Anlehnung an den Strukturalisten Tzetan Todorov betont Ricœur, dass die vermittelte Erinnerung an vorherrschende Erzähllogiken gebunden ist, denn um eine Sinnstruktur zu gewährleisten, muss eine Dramaturgie etabliert werden, ein Spannungsbogen. Und diesem Umstand ist es, so Ricœur, geschuldet, dass Erinnerung konstruktiv und damit immer auch selektiv ist. Und sie ist auf die Unterstützung der anderen angewiesen, „in der die Erinnerung eines jeden Einzelnen in derjenigen der anderen ihre Bestätigung findet. Nur auf diesem Wege kommt es zu einer verständlichen, akzeptablen und verantwortlichen Weise des Erzählens“.39 Die narrative Vermittlung, das sich Erzählen und Zuhören macht aus den einzelnen Leben Geschichten, und aus diesen Geschichten dann Geschichte, so dass auf kollektiver Ebene eine Identität durch erzählen entsteht, die narrative Identität.40 Mit der Prägung dieses Begriffs macht Ricœur auf die Bedeutung des Narrativen für Selbsterfahrung und den Selbstausdruck aufmerksam. Auch die Tatsache, dass – bei fehlender Unterstützung der anderen – das aktive Erzählen von Erinnerungen eingestellt wird, findet in dieser Auffassung ihren Niederschlag: Fehlt die Bereitschaft zur Rezeption und die Bestätigung durch ein Gegenüber, ‚verstummt‘ das erzählende Subjekt. Der Film … VERZEIHUNG, ICH LEBE (2000) weist in Zusammenhang mit der israelischen Gesellschaft vor dem Eichmann-Prozess auf dieses Verstummen hin. Abraham Dafner erzählt im Film:

39 Ricœur 2003, S. 45. 40 Ricœur, Paul (1987): Narrative Identität. In: Mittler E. (Hg.), Heidelberger Jahrbücher, Vol. 31. Berlin, Heidelberg: Springer, S. 57 f.

     

 

     

„Eins dürft ihr nicht vergessen: Als wir nach Israel kamen und am Gesellschaftsleben teilnehmen wollten, durfte man darüber nicht sprechen! Denn das Leben will normal sein! Die Menschen wollen ins Theater gehen, Bilder betrachten, Musik hören… Sie wollen nichts von Auschwitz wissen! Sie wollen nichts hören! Deswegen schwiegen wir.“41

Wie bedingen sich aber Erinnern und Vergessen gegenseitig und inwiefern bestimmt individuelles und kollektives Verschweigen den Rückgriff der Gegenwart auf die Vergangenheit?    

   Selektives Erinnern ist für Ricœur zugleich selektives Vergessen. Der sprachliche Ausdruck fungiert als erzählerisches Werkzeug der Erinnerung, das sowohl sozialer als auch öffentlicher Natur ist. Dementsprechend können Erinnerungen nicht nur privat sein. Ricœur postuliert in Anlehnung an Halbwachs eine „Phänomenologie der gleichzeitigen, wechselseitigen und überkreuzten Konstitution von individuellem und kollektivem Gedächtnis“42. Für ihn bietet die Polarität zwischen Erinnern und Vergessen die Grundlage für die Zukunftsorientierung eines geschichtlichen Bewusstseins. Denn die Vergangenheit (Erfahrungsraum) ist in ihrer Bedeutung richtungsweisend für die Zukunftsentwürfe der Gegenwart (Erwartungshorizont).43 Und die Gegenwart bestimmt den erkennenden Rückgriff auf die Vergangenheit, ob in Form privater oder öffentlicher Erinnerung. Die gegenseitige Bedingtheit von Erinnern und Vergessen, die erst im Zusammenspiel ein geschichtliches Bewusstsein bewirken, weist auf verschiedene Funktionen hin: Für Ricœur kann Vergessen die Erinnerung ermöglichen, denn das bewahrende (im Gegensatz zum destruktiven) Vergessen ermöglicht die Wiedererinnerung – „das Lernen dessen, was man eigentlich schon immer gewusst hat“.44 Der Zugriff auf vorhandene, aber nicht verfügbare Informationen, die Ricœur in Anlehnung an Freud in Zusammenhang mit der Verdrängung setzt, erfordert eine Erinnerungsleistung, die mit

41 O-Ton Abraham Dafner in ...VERZEIHUNG, ICH LEBE (2000). 42 Ricœur 2003, S. 44. 43 Ricœur 2004, S. 84 f. 44 Ricœur 2003, S. 43.



     

Anstrengung verbunden ist und Widerstände erfährt. „Diese Widerstände bewirken, dass das Subjekt seine Traumata wiederholt, statt ihnen den Rang von Erinnerung zu verleihen.“45 Ricœur schlägt dabei erneut einen Bogen zur Funktionalität des Vergessens: Die durch das Vergessen ermöglichte Wieder-Erinnerung wird von einem komplexen Interpretationsvorgang bestimmt, bei dem die überlagerten (und nicht komplett fehlenden) Informationen rückübersetzt werden. Diesen Prozess hat die Filmwissenschaftlerin Robin Curtis in ihrer Analyse von HISTORY AND MEMORY (Rea Tajiri, USA 1990) nachgezeichnet. Sie bezieht die Struktur des Films auf den Zustand des Verlustes, der durch den Bruch von Kommunikation entstanden ist. Das Video verhandelt das Trauma internierter japanischstämmiger Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs, eine in der amerikanischen Öffentlichkeit nahezu unbekannte Erfahrung, die sowohl im öffentlichen wie im privaten Rahmen kollektiv verschwiegen wurde. Der Film, so Curtis in ihrer Untersuchung, greift formal die Undarstellbarkeit der Erfahrung der Vergangenheit auf und benennt gleichzeitig das Gedächtnis als Basis der Identitätsstiftung (Bezugsrahmen in der Behauptung einer ethnischen Zugehörigkeit), während „der Zugang zu den Ereignissen, Orten und Erlebnissen der Vergangenheit gleichzeitig verweigert“46 wird. Auf der Ebene der Form macht der Film sowohl Bezugsrahmen sichtbar als auch die Brüche in der Kommunikation und den mit Anstrengung und Widerständen verbundenen Prozess der Rückübersetzung von Information. Das beständige Beharren auf bestimmte Bilder deutet auf ein Trauma hin, das eng mit Verschweigen und Vergessen verbunden ist.  

 

        Das Abwesende manifestiert sich als inhärenter Bestandteil unseres Verhältnisses zum Vergangenem, das uns als ein Prozess erscheint, dessen Ablauf „aufgespannt [ist] zwischen den Koordinaten der belegbaren, historischen Tatsachen und der in persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Diskursen ausgehandelten, konsensualen Übereinkünften darüber, was davon zu halten ist“, wie es der Historiker Gerhard Baumgartner in seinem Vortrag

45 Ebd., S. 41. 46 Curtis 2002, S. 51

     

 

     

„Zeit des historischen Gedächtnisses“ formuliert.47 Die soziale Funktion des Gedächtnisses besteht demnach darin, eine Vergangenheit zu konstruieren und die Gegenwart zu legitimieren; Gedächtnis hat – und das ist, wie eingangs erwähnt, von großer Bedeutung für die Theoretisierung des Dokumentarfilms – seinen Ursprung immer in der Gegenwart und geht durch die Zeit zurück, durch einen selektiven Prozess der Manipulation, Aneignung und schließlich der Erfindung. In der Gedächtnisrekonstruktion werden zwischen den selektierten Ereignissen sinnstiftende Beziehungen postuliert. Betrachtet man lebensgeschichtliche Erzählungen, die Aufschluss über persönliche Erfahrungsdimensionen wie über zeitgeschichtlich relevante Aspekte und historische Zusammenhänge geben sollen, ist die Kontextualisierung und Interpretation der Darstellungen angesichts selektiver Sinnstiftungsmechanismen von großer Bedeutung – bezüglich der/des Erzählers/in als Ideologe/in des eigenen Lebens, wie auch der filmischen Aussageinstanz als Ideologe/in der eigenen Perspektive.48 Die Berücksichtigung individueller wie kollektiver Sinnbildungsprozesse erlaubt nicht nur eine diskursive Bezugnahme auf Aspekte einer unwiederholbaren Vergangenheit, sondern gibt auch Aufschluss über gegenwärtige Interpretationen und Zugriffe – in dem Maße, in dem die Mechanismen der Bedeutungszuweisung freigelegt werden. Als Zwischenfazit kann festgehalten werden: Kollektives Gedächtnis ist also nicht einfach eine Reflexion der Vergangenheit oder ein sich Halten an bewährte Überlieferung, sondern auch ein Versuch, die Gegenwart zu verstehen. Im Grunde bedeutet dies für das kollektive Gedächtnis, dass es nicht nur in eine, sondern in beide Richtungen operiert: Es rekonstruiert zwar Vergangenheit, organisiert aber gleichermaßen die Erfahrung der Gegenwart und der Zukunft. Und eben dieses Gedächtnis wird mit Halbwachs im Zuge

47 Baumgartner, Gerhard (2000): Zeit des historischen Gedächtnisses, Symposienreihe Zeit-Denken, S. 4, www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/e_biblio thek/seminarbibliotheken-zentrale-seminare/abbild-und-reflexion/384_ Baumgartner_Zeit%20des%20historischen%20Gedachtnisses.pdf/view [zuletzt gesichtet am 1.8.2015]. 48 Vgl. hierzu Bourdieu, Pierre (1990): Die biographische Illusion, in: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, 1, S. 75 f.; sowie Jakob, Gisela (1997): Das narrative Interview in der Biografieforschung, in: Friebertshäuser, B./Prengel, A. (Hg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim: Juventa, S. 445 f.

      

seiner Gedächtnistheorie als eine soziale Konstruktion fassbar. Eine, die sich explizit „aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwarten her ergibt“49 und Gegenwart und Zukunft mitorganisiert.50

        In ihren zahlreichen Arbeiten differenzieren Aleida und Jan Assmann seit den 1980er Jahren das Konzept des kollektiven Gedächtnisses aus und entwickeln eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses, die für verschiedene inter- und transdisziplinäre Ansätze zentral geworden ist.51 Ihre Arbeiten gehören zu den am breitesten rezipierten Forschungen zur Erinnerungskultur.52 Um die unterschiedlichen Formen der kulturellen Erinnerung systematisch zu beschreiben, schlägt Jan Assmann in dem 1988 erschienenen Aufsatz „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“53 eine konzeptuelle Differenzierung zweier kulturanthropologisch unterscheidbarer Gedächtnisse vor: des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses. Das kommunikative Gedächtnis beruht auf Alltagskommunikation innerhalb einer sozialen Gruppe und erscheint als ein Kurzzeitgedächtnis, das an den Menschen gebunden ist und sich durch Kommunikation verbreitet, also sozial vermittelt wird.54 Damit entspricht es weitgehend dem kollektiven Gedächtnis, wie es Maurice Halbwachs beschrieben hat. Das kommunikative Gedächtnis ver-

49 Halbwachs 1985 (1925), S. 48. 50 In der geschichtswissenschaftlichen Literatur scheint weitgehend Konsens darüber zu herrschen, dass auch in der Geschichtsschreibung die Organisierung und Präsentation des Materials in erster Linie durch die Gegenwartsperspektive wie durch die erzählerischen Strukturen bestimmt ist und nicht durch die Sequenz von Ereignisabläufen, vgl. Renov 2002. 51 Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Assmann, J./Hölscher, T. (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; J. Assmann 1992; A. Assmann 1999, 2006. 52 Vgl. Vatter 2009, S. 30. 53 J. Assmann 1988, S. 9 f. 54 Ebd., S. 12.

     

 

     

fügt bei Jan Assmann über keinen festen Zeithorizont, umfasst aber etwa drei bis vier Generationen und basiert auf Alltagskommunikation, die typischerweise durch ein „hohes Maß an Unspezialisiertheit […] und Unorganisiertheit“55 gekennzeichnet ist und individuelle Erfahrungen zum Gegenstand hat.   

    Das kulturelle Gedächtnis dagegen wird als alltagsfern beschrieben und ist an materielle Träger, also an Medien gebunden: „Unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“56

Erst die materiellen Träger ermöglichen den Zugriff auf eine weiter zurückliegende Vergangenheit. Jan Assmann betont sechs Hauptmerkmale des kulturellen Gedächtnisses:57 • Identität: Das im kulturellen Gedächtnis gespeicherte kollektive Wissen

dient der Gruppe zur Selbstdefinition (im positiven wie im negativen Sinne). • Rekonstruktivität: Das kulturelle Gedächtnis schöpft aus allen archivierten, also verfügbaren Erinnerungen an die Vergangenheit und rekonstruiert diese unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Situation. Diese stellt die Beziehungen zur Vergangenheit durch spezifische Aneignungskriterien her. • Geformtheit: Das kollektive Wissen ist abhängig von der Form der Weitervermittlung. Diese äußert sich etwa in schriftlichen Dokumenten, iko-

55 Ebd., S. 10. 56 J. Assmann 1988, S. 15. 57 Vgl. hierzu auch Vatter 2009, S. 31; oder Neumann, Bigit (2005): Erinnerung – Identität – Narration: Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory“, Berlin/New York: Walter de Gruyer, S. 88 f.



     

nografischer Darstellung oder manifestiert sich als Ritual. So wird die personengebundene Überlieferung durch die mediale Art der Vermittlung, also durch die Geformtheit der medialen Träger, ersetzt. • Organisiertheit: Als viertes Merkmal bezieht sich die Organisiertheit auf die Institutionalisierung des kulturellen Gedächtnisses und auf die professionelle Spezialisierung der verschiedenen Träger (Archive, Museen, Bibliotheken u.a.). • Verbindlichkeit: Der kulturelle Gedächtnisrahmen ist verbindlich, so dass er für die Gruppe „eine klare Werteperspektive und ein Relevanzgefälle“58 markiert. Spezialisierte Träger des kulturellen Gedächtnisses sind demnach bestimmten Kriterien der Relevanz unterworfen, nach denen sie ihre Materialien auswählen. Diese Träger und damit das kulturelle Gedächtnis wirken sowohl normativ, als auch formativ.59 • Reflexivität: Das kulturelle Gedächtnis wird als reflexiv aufgefasst: als praxis-reflexiv in Form von Lebensregeln bezüglich der Alltagspraxis (durch Sprichwörter oder Riten); und als selbst-reflexives Element: Es reflektiert das Selbstbild der Gruppe durch Zensur, Ausgrenzung oder Interpretation. Das kulturelle Gedächtnis fußt nach diesen Hauptkriterien auf vielfältigen Formen der objektivierten Kultur, wie etwa Bildern, Texten, Filmen, aber auch Bauwerken oder Denkmälern.60 Halbwachs schloss diese kulturellen Artefakte aus seinem Konzept des kollektiven Gedächtnisses aus, da sie aufgrund ihrer Institutionalisierung und Spezialisierung nicht die informelle Alltagskommunikation begründen und daher in den Bereich des „historischen Gedächtnisses“, also der Geschichte, fallen. Die Differenzierung zwischen dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis verdeutlicht aber, dass die auf Dauer angelegten symbolischen Formen dennoch identitätsstiftend sind, Alltagspraktiken inkorporieren und dem kollektiven Gedächtnis angehören. Damit überwindet Jan Assmann die strikte Trennung zwischen Gedächtnis und Geschichte und integriert die Möglichkeit von äußerer Einflussnahme, Steuerung, Manipulation und Instrumentalisierung des kollektiven Gedächtnisses. Dabei tragen sowohl das alltagsbezogene kommu-

58 J. Assmann 1988, S. 14. 59 Vgl. Vatter 2009, S. 31. 60 Vgl. J. Assmann 1988, S. 11.

     

 

     

nikative Gedächtnis als auch die aktualisierten Erinnerungsfiguren des kulturellen Gedächtnisses61 zur Identitätsstiftung einer Gruppe bei. Denn prägende und identitätsstiftende Bestandteile unserer Gesellschaft sind sowohl die alltagskommunikativen, durch soziale Interaktion und mündliche Kommunikation überlieferten Erlebnisse aus der Vergangenheit, wie auch weiter zurückliegende Begebenheiten, die medial vermittelt und in Form institutionalisierter Kommunikation auftreten. So tragen beispielsweise sowohl Erinnerungen und Erzählungen von Zeitzeugen im privaten Raum (z.B. Großeltern) als auch mediengebundene Tradierungen über Filme, Gedenkveranstaltungen etc. zur Gestaltung unserer Beziehung zur jüngsten Vergangenheit bei. Entscheidend ist, dass beide Formen des kollektiven Gedächtnisses in einem komplementären oder konfliktgeladenen Verhältnis zueinander stehen können – was mitunter von zahlreichen biografischen Dokumentarfilmen thematisiert wird, wie die Filmuntersuchungen aufzeigen.  

         Aleida Assmann entwirft – als Weiterentwicklung des Konzeptes von Jan Assmann – ein Modell, das die Vorstellung der aktuell verfügbaren Inhalte des kollektiven Gedächtnisses als Ganzes betrachtet. In ihrer Monografie „Erinnerungsräume“ (1999)62 unterscheidet sie zwischen dem bewohnten Funktionsgedächtnis und dem unbewohnten Speichergedächtnis. Diese Differenzierung kommt für die Beschreibung von kollektiven Erinnerungsprozessen und deren potenzieller Wandelbarkeit ein zentraler Stellenwert zu.63 Sie gründet vorrangig auf der Einsicht, dass die von Halbwachs postulierte Polarisierung von Gedächtnis und Geschichte aufgrund der Selektivität und Perspektivität jedweder Geschichtsschreibung so nicht haltbar ist. Während das Funktionsgedächtnis den gesellschaftlich aktualisierten Vordergrund erfasst, bildet das Speichergedächtnis als potenzielles Korrektiv den kritisch relativierenden Hintergrund. Jede Erinnerung an die Ver-

61 J. Assmann definiert Erinnerungsfiguren des kulturellen Gedächtnisses als schicksalhafte Ereignisse aus der Vergangenheit, die durch die institutionalisierte Kommunikation oder durch soziale Praktiken wie kollektive Rituale als kollektive Erfahrungen in einer Gesellschaft präsent sind, Assmann 1988, S. 12. 62 A. Assmann 1999. 63 Vgl. A. Assmann 1999, S. 134 f.



     

gangenheit kann durch gewandelte gesellschaftliche Wertvorstellungen und Sinnbedürfnisse zum Inhalt des – ob funktionalen oder speichernden – Gedächtnisses werden: „Das kulturelle Gedächtnis gliedert sich in zwei Bereiche, die sich wie Vorder- und Hintergrund zueinander verhalten: ein Speichergedächtnis und ein Funktionsgedächtnis. Das Speichergedächtnis sammelt und bewahrt Quellen, Objekte und Daten, unabhängig davon, ob sie von der Gegenwart gebraucht werden; wir können hier noch einmal von einem passiven Gedächtnis sprechen. Das Funktionsgedächtnis ist demgegenüber ein aktives Gedächtnis; es enthält die jeweilige kleine Auswahl dessen, was eine Gesellschaft jeweils von der Vergangenheit auswählt und aus dem Bestand ihrer kulturellen Überlieferung aktualisiert.“64

Bei Aleida Assmann umfasst das Funktionsgedächtnis demnach Dimensionen wie „Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung“.65 Es beinhaltet sowohl das alltagsbezogene kommunikative Gedächtnis, wie Jan Assmann es konzeptualisiert, als auch diejenigen Elemente aus dem kulturellen Gedächtnis, die zu einem gegebenen Zeitpunkt über Medien einer Gesellschaft zur Verfügung stehen und zugänglich sind. So wird in diesem Modell deutlicher die wechselseitige Beziehung zwischen mündlicher Kommunikation und Medien greifbar. Das Speichergedächtnis dagegen ist ein Gedächtnis „zweiter Ordnung“, in dem Erinnerungen, die keinen „vitalen Bezug zur Gegenwart“66 haben, mittels Archivierung aufbewahrt werden: „Auf kollektiver Ebene enthält das Speichergedächtnis das unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitätsabstrakte Sachwissen, aber auch das Repertoire verpasster Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen.“67 Dem Speichergedächtnis kommt eine wichtige Funktion zu, nämlich dass es als „Reservoire zukünftiger Funktionsgedächtnisse“68 fungiert und damit kulturellen Wandel überhaupt erst ermöglicht. Das Verhältnis von Speicher- und Funktionsgedächtnis ist somit dynamisch und perspektivisch angelegt, mit Aleida Assmanns Worten: „Der Prozess der

64 A. Assmann 1999, S. 134. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 137. 68 Ebd., S. 140.

     

 

     

Auslagerung von Wissen in Schrift ist also keine Einbahnstraße, sondern wird durch Rückkoppelungen an Gedächtnisse und persönliche Wiederaneignungen beantwortet.“69 Denn während das Funktionsgedächtnis den gesellschaftlich aktualisierten Vordergrund erfasst, bildet das Speichergedächtnis als potenzielles Korrektiv den kritisch relativierenden Hintergrund – worin auch die Funktionsweise des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms begründet liegt. Jede Erinnerung an die Vergangenheit kann durch gewandelte gesellschaftliche Wertvorstellungen und Sinnbedürfnisse zum Inhalt des – ob funktionalen oder speichernden – Gedächtnisses werden.               

  Auch wenn Jan und Aleida Assmann mit der begrifflichen und funktionalen Präzisierung eine weitreichende Grundlage für die interdisziplinäre Gedächtnisforschung geschaffen haben,70 sind ihre Studien dennoch von einer scharfen Trennung zwischen beiden Gedächtnisformen gekennzeichnet, die markiert ist durch die Grenze zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit.71 Alltagsbezogenes kommunikatives Gedächtnis und Funktionsgedächtnis sind Modi der Erinnerung, die in erster Linie auf mündlicher Kommunikation und dem menschlichen Körper als Medium basieren (z.B. in Ritualen) und über „lebendige Erinnerungen in organischen Gedächtnissen, Erfahrungen vom Hörensagen“.72 Merkmale des kulturellen Gedächtnisses dagegen sind „feste Objektivationen, traditionelle, symbolische Kodierung/Inszenierung in Wort, Bild, Tanz usw.“73 Die Abgrenzung wird deutlich durch die genannten Beispiele für Medien und Institutionen, wie sie den jeweiligen Gedächtnissen zugeordnet werden: Träger des kommunikativen bzw. Funktionsgedächtnisses sind beispielsweise „Feste, öffentliche Riten, Kommemoration“, 69 Assmann, Aleida (2008): Gedächtnis-Formen, in: Dossier: Geschichte und Erinnerung, Bundeszentrale für politische Bildung bpb, http://www.bpb.de/ geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39786/gedaechtnisformen [zuletzt gesehen am 26.10.13]. 70 Vgl. hierzu Neumann 2005, S. 90, oder Elm 2008. 71 Vgl. Vatter 2009, S. 33. 72 Assmann, A./Assmann, J. 1994, S. 120. 73 Ebd. S. 120.



     

für das Speichergedächtnis fungieren „Literatur, Kunst, Museum, Wissenschaft“ als Beispiele für Medien und Institutionen.74 Damit wird der begriffliche Zugang auf verschiedene Modi des Gedächtnisses präzisiert – doch ist das Zusammenspiel und das Verhältnis verschiedener Medien (von mündlicher Kommunikation bis zu Texten oder Filmen) gerade bei der Konstruktion kollektiver Erinnerung nur schwer darstellbar. Denn der Einfluss der Materialität des Mediums auf die kulturelle Formung, der auch die Inhalte entsprechend prägt, wird in diesem Modell kaum berücksichtigt – er spielt jedoch eine ausschlaggebende Rolle, wie die Untersuchung dokumentarfilmspezifischer Zugänge aufzeigen wird. Als problematisch beim Modell von Jan und Aleida Assmann wird auch die implizierte Prämisse eines einzigen kulturellen Gedächtnisses betrachtet: Die Unterstellung eines singulären, für alle Mitglieder einer Gesellschaft gültigen kulturellen Gedächtnisses scheint kaum geeignet, die Heterogenität von kollektiven Gedächtnissen in den Blick zu bringen, und wird als für zeitgenössische Gesellschaften zu geschlossenes Identitätsmodell bezeichnet. Denn Jan Assmanns Konzept eines kulturellen Gedächtnisses ist eng verknüpft mit der Beschreibung einer kollektiven Identität, die ebenso wie das kulturelle Gedächtnis homogenisierend gedacht ist. 75 Während bei Halbwachs Erinnerung und Gedächtnis als konstruktiver und kreativer Prozess angelegt waren, wird hier der Re-Aktualisierung von Gedächtnisinhalten wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei dienen gerade Medien und deren Inhalte ebenfalls als Interaktionsanlass in einer Gesellschaft. Nur wenn die eingeschriebenen Inhalte rezipiert und besprochen werden, bleiben sie aktiv und werden zum Bestandteil einer Erinnerungskultur, der seine Bedeutung erst im Zusammenspiel mit anderen Medien entfaltet.76 Das Modell von Assmann und Assmann verstellt zudem den Blick auf die Koexistenz unterschiedlicher Kollektivgedächtnisse, die dem gleichen historischen Bezugspunkt ganz unterschiedliche Funktionen zuweisen können. In der erinnerungskulturellen Praxis sind die beiden Gedächtnisse wohl kaum voneinander abzugrenzen, denn zahlreiche vergangene Ereignisse sind Gegenstand sowohl von Alltagskommunikation als auch eines geformten kulturellen Gedächtnisses. Dabei überwindet die Kommunikation durch die

74 Ebd. S. 123. 75 Vgl. Neumann 2005, S. 90. 76 Vgl. Keilbach 2008.

     

 

     

mediale Vermittlung etwa zeitliche Begrenzungen in Bezug auf weit zurückliegende Ereignisse, wenn diese angeeignet und an den konkreten Gegenwarts-Kontext angeschlossen werden. Gerade die enge Wechselbeziehung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis ermöglicht es, institutionalisierte und normative Bestände eines kulturellen Gedächtnisses kritisch zu hinterfragen und ihnen neue oder abweichende Deutungen zuzuweisen.77 Gedenktage und -veranstaltungen zum Beispiel werden nicht nur durch die alljährlichen Feierlichkeiten zum aktiven Bestandteil der Erinnerungskultur. Sie entfalten ihre Bedeutung und Wirkung erst im Zusammenhang mit anderen Medien wie Dokumentarfilmen, Fernsehdokumentationen oder mit der Berichterstattung darüber – nicht zuletzt durch die Möglichkeit der medialen Vermittlung, bestehende Ansichten und normative Zugriffe infrage zu stellen. Dieser rekursive oder „aktiv-kreative“78 Prozess beschreibt zum einen die Durchlässigkeit zwischen kultureller und kommunikativer, zwischen offizieller und informeller Erinnerung und deutet auf die Notwendigkeit hin, individuelle und kollektive Erinnerung und Gedächtnis als Produkte einer dynamischen sozialen Interaktion zu betrachten, denen der Aktualitätsbezug nicht fehlen darf. Eine konzeptionelle Trennung dagegen befördert ein „Wohlfühl-Gedenken“, das aktuelle Diskurse von ritualisierten Gedenkpraktiken trennt und sich vermittels Gedenkfeierlichkeiten in einer gefahrenfreien Zone bewegt, ohne gegenseitige Einflussnahme und Durchdringung zu berücksichtigen. Gerade für die Einordnung des zeitgeschichtlich interessierten biografischen Dokumentarfilms als kulturelles Phänomen an der Schnittstelle zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis ist eine konzeptionelle Zusammenführung unterschiedlicher, koexistierender Kollektivgedächtnisse zielführend. Für eine Präzisierung des Zusammenspiels zwischen der medial vermittelten und der kommunikativen Erinnerungsarbeit im Dokumentarfilm ist eine differenzierte Betrachtung der Gedächtnisse und ihrer Wechselbeziehungen notwendig. Die empirische Annäherung an den Untersuchungsgegenstand hat gezeigt, wie zentral die innerfamiliären Auseinandersetzungen für die diskursiven Räume der Verhandlung von Vergangenheit sind und wie sie die Funktion dieser Spielart von Dokumentarfilm mit konstituieren.

77 Vgl. Neumann 2005, S. 91. 78 Vatter 2009, S. 35.



     

             Innerhalb der Gedächtnistheorie spielt die soziologische Differenzierung des Familiengedächtnisses eine entscheidende Rolle, die zu einem genaueren Verständnis der konstitutionellen Funktion des Mediums Dokumentarfilm führen kann. Hier hat vor allem der Psychologe Harald Welzer in seinen Arbeiten kulturwissenschaftliche und gedächtnispsychologische Ansätze verknüpft, die aufzeigen, wie das individuelle (auto-)biografische Gedächtnis Prozessen der kulturellen Formung unterliegt und wie es sich als Ergebnis sozialer Kommunikation konstituiert. In seinen Forschungen zum Familiengedächtnis in Bezug auf familiäre Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus beschreibt auch Welzer die Prozesshaftigkeit von individuellem und kollektivem Gedächtnis, die er als Produkte dynamischer, kreativer und aktiver Rekonstruktion von Vergangenem im Raum sozialer Interaktionen erfasst. Zusammen mit Sabine Moller und Karoline Tschunggnall hat er in der Untersuchung „Opa war kein Nazi“ von 2002 gezeigt, dass sich das Familiengedächtnis von den offiziellen Gedenkdiskursen deutlich unterscheidet.79 Die Autoren haben zwischen 1997 und 2000 Familiengespräche und Einzelinterviews durchgeführt und festgestellt, dass vor allem Angehörige der dritten Generation dazu neigen, die Erlebnisse ihrer Großeltern positiv zu belegen, um diese in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Die Weitergabe von Geschichte und Erinnerung im familiären Rahmen scheint dann einer kritischen Reflexion unterzogen zu werden und interagiert mit Formen der offiziellen Erinnerung, wenn es beispielsweise in (auto-)biografischen Dokumentarfilmen kreativ verhandelt wird. In diesem Zwischenraum der Neuverhandlung konstituiert sich eine der Hauptfunktionen des biografischen Dokumentarfilms, wie in der eingangs gestellten These formuliert: Als Mittler und Katalysator für dynamische Interaktionen zwischen offiziell vertretenen Auffassungen und tabuisierten Aspekten und neuen Perspektiven auf Deutungsmechanismen der Vergangenheit.

79 Welzer/Moller/Tschuggnall 2002.

%#"!! "& 

$!

:    (      

 Die Auswirkungen von familiären Loyalitätsbezügen und einer Verharmlosungs-Rhetorik auf das familiäre Gefüge, wie sie die Untersuchung „Opa war kein Nazi“ aufgezeigt hat, ist auch zentrales Thema im Film WINTERKINDER – DIE SCHWEIGENDE GENERATION (2005) von Jens Schanze. Wie im fast zeitgleich erschienenen Film 2 ODER 3 DINGE, DIE ICH VON IHM WEISS (2005) von Malte Ludin findet hier eine familiengeschichtliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus statt, in diesem Fall aus der dritten Generation. Gemeinsam mit den Eltern und den vier Schwestern begibt sich der Regisseur auf eine Spurensuche über die nationalsozialistische Vergangenheit des Großvaters mütterlicherseits. Während im Film einerseits die Rekonstruktion des Lebens des Großvaters stattfindet (hinzugezogen wird Archivmaterial, das dessen SA-Vergangenheit aufspürt), macht Schanze vor allem den mühsamen und auch nur partiell stattfindenden Prozess des Eingestehens zum Gegenstand und stellt die innerfamiliären Verdrängungsmechanismen dar. Die Haltung der Mutter ihrem eigenen Vater gegenüber, der als Mitglied der NSDAP und der SA in Niederschlesien an der Ermordung von Juden beteiligt war und noch 1945 fanatische Hetzreden hielt, ist von starken Loyalitätsbindungen und einer Ausblendung bis Verklärung des Vaters geprägt („Unser guter Vati“, und, an den Filmemacher gewendet: „Nazi find ich jetzt nicht so schön, wenn man das sagt. Ich würde schon lieber sagen Nationalsozialist“). Anders als Ludin vermeidet Schanze die Konfrontation mit den Familienmitgliedern und verzichtet auf das direkte Urteilen. Dagegen versucht er, die Mechanismen hinter den familiären Ausblendungen aufzudecken und aufzuzeigen, wie sich daraus gegenwärtige Problemstellungen ableiten lassen. Er richtet den Blick auf die Produktion und Veränderung von Erinnerung im Gespräch zwischen den Generationen vor dem Hintergrund familiärer Loyalität. Hierfür initiiert Schanze eine Reise nach Niederschlesien, zum Herkunftsort der Mutter. Die direkte Auseinandersetzung mit dem „Ort des Grauens“, dem Konzentrationslager Groß-Rosen, das ganz in der Nähe des Geburtsortes der Mutter liegt, löst schließlich einen „Verdrängungsknoten“: Zum Ort erzählt die Mutter: „60 Jahre habe ich den Namen fast gar nicht erwähnt oder bedacht, ein ganz neuer Klang in meinen Ohren.“ Vor dem Krematorium fragt Schanze seine sichtlich aufgewühlte Mutter danach, ob denn ihre Eltern gewusst hätten, dass dort ein Konzentrationslager war. „Dazu kann ich nichts sagen“ lautet die ernüchternde Antwort der



     

Mutter. Und weiterhin: „Natürlich möchte ich glauben, dass sie es nicht wussten. Aber dazu kann ich nichts sagen, ich weiß es nicht.“ Mit WINTERKINDER – DIE SCHWEIGENDE GENERATION bestätigt Schanze Harald Welzers These, dass die Verdrängung, Verweigerung oder mit Absicht vollzogene Fehlinterpretation von Familiengeschichte nicht allein mit geschichtlicher Aufklärung zu beeinflussen ist, viel stärker müsse eine innerfamiliäre oder im eigenen Umfeld stattfindende Auseinandersetzung mit Erinnerung und Verantwortung geführt werden. Anhand familienbiografischer Dokumentarfilme können solche Umarbeitungsprozesse über das kommunikative Gedächtnis hinaus in das kulturelle Gedächtnis Eingang finden. Filme wie WINTERKINDER – DIE SCHWEIGENDE GENERATION schaffen Zugänge zu Erinnerungsdiskursen und gesellschaftlichen Muster der Vergangenheitsbewältigung und reflektieren kollektive Aushandlungsprozesse anhand innerfamiliärer, intergenerationaler Auseinandersetzungen mit den Verflechtungen zwischen persönlichem Erinnern und kollektiver Erinnerungskultur.

   Anhand der kulturwissenschaftlichen Modelle der Gedächtnisforschung kann eine Präzisierung des zeithistorischen biografischen Dokumentarfilms als kulturelles Phänomen im Kontext erinnerungskultureller Diskurse vorgenommen werden: Für die Spezifizierung der Erinnerungsarbeit im Dokumentarfilm ist die Konzeptualisierung der Erinnerungsvorgänge als soziale Prozesse zentral. Jedes Individuum bewegt sich in sozialen Rahmenbedingungen des Erinnerns – in enger Wechselwirkung mit den unterschiedlichen spezifischen kulturellen Bezügen, an denen es Anteil hat. Diese Interaktionsbeziehungen bestimmen das kollektive Gedächtnis nicht nur als eine Reflexion der Vergangenheit, sondern auch als eine spezifische Perspektive auf die Gegenwart: Die unterschiedlichen Gedächtnisse rekonstruieren zwar Vergangenheit, organisieren aber gleichermaßen die Erfahrung der Gegenwart und der Zukunft. Das Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen privater und öffentlicher Erinnerung im biografischen Dokumentarfilm und dessen mediale Aufbereitung deutet auf eine spezifische Form der Reflexion von Vergangenheit hin. Die These, die sich als Ergebnis

              

aus Kapitel 2 formulieren lässt, lautet: Diese spezifische Form begründet sich im Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, als Objektivierung des alltagsnahen kommunikativen Gedächtnisses. Für die zeithistorischen biografischen Dokumentarfilme kann dies bedeuten: Indem sie danach fragen, bis zu welchem Grad historisches Wissen und erfahrene Geschichte in der Erinnerung selektiert, ausgeblendet und überblendet wird, interpretieren sie die Vergangenheit im Kontext ihrer medialen Verarbeitung aus einer Gegenwartsperspektive heraus und befördern ihren Eingang ins kulturelle Gedächtnis. Im Folgenden wird weiterführend danach gefragt, wie sich der dokumentarfilmspezifische Umgang mit Erinnerung gestaltet und verändert, welche gestalterischen Ansätze sich in welchen mediumspezifischen Kontexten herausbilden, welche Schwerpunkte gelegt werden, wie biografische Dokumentarfilme Geschichte(n) produzieren und welche Auswirkungen auf unsere Vorstellungen von Geschichte dies zur Folge hat. Zudem sollen anhand filmtheoretischer Zugriffe in diesem interdisziplinären Ansatz die Wechselwirkungen zwischen medialer Vermittlung, Interpretation und Wahrnehmung von Geschichte und die implizierte Politisierung durch den biografischen Dokumentarfilm analysiert werden.

    

      

Für die Erfassung des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms in seinen kulturhistorischen Dimensionen ist nicht nur die innerfilmische Struktur (Archivmaterial, Umgang mit Zeitzeugen, Einstellungen, Montage) entscheidend und Gegenstand der Analyse. Ebenso gilt es, die historischen und gesellschaftlichen Diskurse, auf die der biografische Dokumentarfilm reagiert und die er befördert, näher zu bestimmen. Hierfür bieten pragmatische und semio-pragmatische Theorien das geeignete Instrumentarium. In ihnen wird der Dokumentarfilm als offenes Konzept verstanden, bei dem die Art des Kommunikationspaktes bzw. der kommunikativen Relation entscheidend ist.1 Der kommunikative Vertrag schafft die Rahmenbedingungen, in denen Zuschauer/innen die Filme verstehen können. Im (semio-)pragmatischen Verständnis reflektiert der kommunikative Pakt die Vorverständigung zwischen Produktionsinstanz und Rezipient/in im Sinne von konditionellen Vorausannahmen – in Form von Übereinkünften, auf denen die Erwartungshaltungen basieren.2 Margit Tröhler macht darauf aufmerksam, dass die rechtliche Konnotation des Begriff des Vertrags metaphorisch verstanden werden sollte: „Zwischen dem Angebot der Produktionsinstanz und der Erwartungshaltung vonseiten der Rezeption etabliert

1

Vgl. Wulff 2001; Casetti 2001; Plantinga 1987; Odin, Roger (1995): Wirkungsbedingungen des Dokumentarfilms. Zur Semiopragmatik am Beispiel von Notre Planète la Terre (1947), in: Hattendorf, M. (Hg.): Perspektiven des Dokumentarfilms, München: diskurs film, S. 85-96.

2

Odin 1995, S. 87 f.

     

 

     

sie eine kulturell bedingte pragmatische Ebene der Verständigung darüber, in welchem Verhältnis die Aussagen des Films (nicht die Bilder als solche) zur nichtfilmischen Wirklichkeit zu situieren sind.“3 Im Rahmen dieses kommunikativen Paktes ist die Öffentlichkeit bildende Funktion des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms zu bestimmen. Die soziologische Einbindung des kommunikativen Paktes, die verstärkte Berücksichtigung der gesellschaftspolitischen Aktualität des biografischen Dokumentarfilms also, verhilft dabei, die mediumspezifische Ausprägung zu erfassen, in deren Rahmen der Dokumentarfilm intendiert, produziert und rezipiert wird. Zentral wird die Frage, welches Wissen wie durch den biografischen Dokumentarfilm generiert wird. Damit rücken die sozialen und gesellschaftspolitischen Implikationen der Filme stärker in den Vordergrund, die ihren Umgang mit Geschichte und Erinnerung betreffen. Die Bestimmung seiner Spezifika und ihrer gesellschaftlichen Verankerung erfordert eine interdisziplinäre Perspektivierung, die sowohl auf aktuelle Diskurse der Dokumentarfilmtheorie und seiner Entwicklung zurückgreift, als auch kulturhistorische, geschichtswissenschaftliche und soziologische Zugriffe berücksichtigt.



     

  

      Um die spezifischen Qualitäten und Strukturmerkmale erzählter und im Film dargestellter biografischer Erinnerung herauszuarbeiten, sollen zunächst relevante Aspekte der allgemeinen Entwicklung der Dokumentarfilmtheorie nachskizziert werden. Anhand der Modelle kann die dokumentarfilmische Verhandlung von Lebensgeschichten – etwa in der Bearbeitung von Archivbildern, im Umgang mit privater Fotografie und in Bezug auf Zeitzeugen – analysiert werden. Allerdings wird hier die Entwicklung nur so weit aufgegriffen als notwendig für die Perspektivierung der für diese Untersuchung relevanten Ansätze.4 Die Beschäftigung mit Theorie und Geschichte des Dokumentarfilms betrachte ich in diesem Zusammenhang

3

Tröhler 2004, S. 153.

4

Eine ausführliche Darstellung ist etwa bei Hißnauer 2011 zu finden.

          

als Teil der Medienkulturgeschichte, das Nachzeichnen dieser Entwicklung wird auch kulturhistorische und gesellschaftspolitische Implikationen des biografischen Dokumentarfilms berücksichtigen sowie aktuelle Ansätze und filmwissenschaftliche Theoriekonzepte benennen. Dieses Kapitel zeigt auf, welche Zugriffe auf den Dokumentarfilm der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegen. Für die Bestimmung des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms sind nicht nur die im dokumentarfilmtheoretischen Diskurs erörterten Fragen nach einer grundlegenden Gattungs- bzw. Genrebestimmung von Bedeutung, hier spielen auch Überlegungen zum Verhältnis des Dokumentarfilms zu Authentizität, zu Realität und deren Wiedergabe eine Rolle. Lange galt der Gegenstandsbereich des Dokumentarfilms als das Gegenwärtige, das sich aktuell vor der Kamera Zutragende. So bezeichnet Grierson den Dokumentarfilm zwar als einen „kreativen Umgang“ mit Zeitgeschichte, meint damit aber den Umgang mit der aktuellen Wirklichkeit.5 Nach dieser Auffassung wären strenggenommen Filme mit (zeit-) historischen Themen keine Dokumentarfilme, dabei behandeln zahlreiche Klassiker des Dokumentarfilms bereits vergangene Ereignisse, und gerade im Fernsehen werden immer wieder historische Themen dokumentarfilmisch aufgearbeitet.6 Zentral für diese Arbeit ist demnach die Frage nach dem Verhältnis des Dokumentarfilms zu Vergangenheit und dementsprechend zu deren Darstellung. Dazu gehört der Rückgriff auf Zeitzeugen und auf erzählte Erinnerung als maßgebende Bezugsgröße zur Vergangenheit ebenso wie der Umgang mit Archivmaterial wie Fotos, Wochenschau- oder Spielfilmausschnitten, historischen Dokumenten oder found footage aus Familienarchiven. Unabhängig von Versuchen, den Dokumentarfilm in Abgrenzung zum Spielfilm zu bestimmen, stehen Verfahren des filmbiografischen Erzählens sowie die Verhandlungsebene zwischen Produktion und Rezeption im Zusammenspiel mit paratextuellen Faktoren, welche die Lektüreanweisungen mitbestimmen und letztlich für die Auswirkungen im gesellschaftlichen Aushandlungsprozess relevant sind, im Fokus dieser Arbeit.

5

S. Übersetzung von Hohenberger in Hohenberger, Eva (Hg.) (2000a): Bilder des

6

Vgl. Keilbach 2008 oder Hißnauer 2011, S. 33 f.

Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8, S. 13.

     

 

     

Dementsprechend findet sich hier eine Perspektivierung relevanter Theoriekonzepte in enger Verschränkung mit den Entwicklungsphasen des Dokumentarfilms.Im Zentrum der folgenden Betrachtungen steht die Entwicklung des biografischen Dokumentarfilms im bundesdeutschen Fernsehen, das als Institution für seine Herausbildung wesentlich war. In der Geschichte des Fernsehdokumentarismus hat er als eine spezifische Form – als Interviewdokumentarfilm – einen dezidierten Platz eingenommen und sich über die Jahre im Fernsehen weiterentwickelt und ausdifferenziert.7 In der ehemaligen DDR war der von der DEFA für das Kino produzierte Dokumentarfilm von der Entwicklung der dokumentarischen Formen des Fernsehens weitgehend abgekoppelt,8 weshalb hier insbesondere die Rolle der Institution Fernsehen in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit herausgearbeitet wird. Die Entwicklungsphasen und Tendenzen des Fernsehdokumentarfilms in Westdeutschland gestalten sich im Zeichen dokumentarischer Paradigmenwechsel: Von der Tradition des Kulturfilms und der Wochenschau über den vom angelsächsischen Vorbild inspirierten frühen Fernsehdokumentarismus der 1950er Jahre, den vom direct cinema und cinéma vérité profitierenden beobachtenden respektive engagierten Dokumentarfilm der 1960er und 1970er Jahre zum Dokumentarfilm der 1980er Jahre, der den bis dahin gültigen Authentizitätsanspruch des Dokumentarischen reflexiv in Frage stellt, bis hin zu Präsentationsformen wie Magazinsendungen, Dokumentationen und Hybridformaten wie dem Dokumentarspiel, die mit Genretypisierungen spielen und Grenzauflösungen bewusst einsetzen.9 Die sich ständig wandelnde Dokumentarfilmpraxis stellte die Theoriebildung stets vor neue Herausforderungen, generell kann aber von einer lange Zeit

7

Vgl. Hißnauer 2011, S. 185.

8

Vgl. Jordan, Günter/Schenk, Ralf (1996) Schwarzweiß und Farbe: DEFADokumentarfilm 1946-92, Berlin: Jovis; oder Zimmermann, Peter (Hg.) (1994): Fernseh-Dokumentarismus. Bilanz und Perspektiven, München: UVK-Medien.

9

Vgl. Heller, Heinz-B. (1994a): Dokumentarfilm im Fernsehen – Fernsehdokumentarismus. In: Ludes/Schuhmacher/Zimmermann (Hg.): Informations- und Dokumentarsendungen. Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Band 3, München: Vilhelm Fink, S. 91-100; zu den unterschiedlichen Ausprägungen s. Hißnauer 2011.

          

vernachlässigten Dokumentarfilmtheorie gesprochen werden.10 Einen wesentlichen Beitrag zu Theorien des Dokumentarfilms leistete Eva Hohenberger,11 vor allem 1998 mit dem Sammelband „Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms“. Eine Fundierung von Begriffsbestimmungen erreicht Christian Hißnauer mit der 2011 erschienenen Abhandlung „Fernsehdokumentarismus“, in der er eine differenzierte Betrachtung von Dokumentarfilm und Fernsehdokumentarismus unternimmt und eine Grundlage für weitere Theoriebildungen legt. Dokumentarfilmtheorien galten lange Zeit eher als Geflechte von Ansätzen denn als eigenständige und ausgereifte Theorien.12 Zwar gibt es eine filmgeschichtlich mittlerweile kanonisierte Reihe bedeutender Filmautorinnen und -autoren, Werke und Gruppierungen, die sich praktisch wie theoretisch dem Dokumentarfilm widmeten: Von dem Amerikaner Robert Flaherty über den russischen Dokumentaristen Dziga Vertov und die englische Dokumentarfilmbewegung um John Grierson bis hin zur Tradition des cinéma vérité und des direct cinema. Dennoch blieben Dokumentarfilmtheorien in den Filmtheorien weiterhin unterrepräsentiert – man braucht nur die Fachzeitschriften zu untersuchen, um sich die Vernachlässigung von Dokumentarfilmtheorien vor Augen zu führen. Mit der Vorreiterrolle des Amerikaners Bill Nichols sowie des Franzosen Roger Odin, mit Autoren wie Michael Renov, John Corner und Thomas Waugh und der Aufbruchsstimmung im deutschsprachigen Raum mit H.-B. Heller und Eva Hohenberger sowie mit der Zeitschrift montage AV, herausgegeben von Britta Hartmann et al.13 kann die wissenschaftliche Beschäftigung seit der

10 Vgl. hierzu Hohenberger/Keilbach 2003, S. 10 f. 11 Hohenberger, Eva (1988): Die Wirklichkeit des Films. Ethnographischer Film. Jean Rouch, Hildesheim: Olms; sowie Hohenberger, Eva (Hg.) (1998): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8. 12 Vgl. dazu Schillemans, Sandra (1995): Die Vernachlässigung des Dokumentarfilms in der neueren Filmtheorie, in Hattendorf, Manfred (Hg.), Perspektiven des Dokumentarfilms, München: diskurs film, S. 11-28; und Hohenberger 1998. 13 montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, seit 1992, Brinckmann, Christine N./Hartmann, Britta/Wulff, Hans J. et al. (Hg.), Marburg: Schüren.

     

 

     

„Boom-Phase“ des Dokumentarfilms Anfang des 21. Jahrhunderts14 eine erfreuliche Entwicklung verzeichnen. Um in dem breiten Spektrum unterschiedlicher Ansätze funktionale Unterscheidungen treffen zu können, werden zunächst die wichtigsten Tendenzen nachgezeichnet.        1926 erschien Griersons Kritik zu MOANA von Robert Flaherty, in der er den Begriff documentary zur Schilderung von Flahertys Arbeitsweise verwendet. Diese Einbindung des Begriffs wird als Geburtsstunde des Dokumentarfilms gewertet.15 Was man unter Dokumentarfilm zu verstehen hat, ist, wie bereits angedeutet, jedoch keineswegs offenkundig; Begriff und Praxis sind dem historischen Wandel unterworfen.16 Eine Allgemeingültigkeit besitzt aber die Ansicht, dass der Dokumentarfilm eine andersartige Referenz zur Wirklichkeit aufweist als der Spielfilm, wobei man schon bei Fragen nach der Darstellbarkeit dieser sogenannten Wirklichkeit leicht in Fahrwasser geraten kann. Denn allein die Frage, wann ein authentischeres Bild entsteht – wenn das filmende Subjekt sich heraushält (und so Objektivität suggeriert), oder aber gerade dann, wenn der Film den subjektiven Standpunkt des Autors/der Autorin unterstreicht – verdeutlicht die Komplexität der Fragestellung und die Abhängigkeit von aktuellen Sichtweisen und Dokumentarfilmpraxen. Die allgemeinste Bestimmung differenziert zwischen der Reproduktion einer vorgefundenen, real existierenden Wirklichkeit im Dokumentarfilm und einer erfundenen, imaginären Welt im Fiktionsfilm. Sie deutet auf eine

14 Vgl. Lingemann, Jan (2006): Abenteuer Realität. Der deutsche Markt für dokumentarische Filme, in: Zimmermann, Peter/Hoffman, Kay (Hg.): Dokumentarfilm im Umbruch, Stuttgart: UVK, Reihe Close Up, Band 19, S. 35 f. 15 Vgl. Hörl, Patrick (1996): Film als Fenster zur Welt. Eine Untersuchung des filmtheoretischen Denkens von John Grierson. Konstanz: UVK Medien Ölschläger. Beiträge aus der HFF München, Band 20, S. 29. 16 Ausführlich zum Begriff des Dokumentarischen vgl. Stott, William (1986): Documentary Expression and Thirties America, Chicago: University of Chicago Press; Nichols, Bill (1991): Representing Reality. Issues and Concepts in Documentary. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press; Hohenberger 1988; Hißnauer 2011.

          

Dichotomie zwischen er-funden und vor-gefunden hin, die sich jedoch zur Beschreibung der vielfältigen dokumentarischen Zugriffe kaum eignet.17 Eva Hohenberger weist auf die Schieflage in der Gattungsbestimmung hin: „Die Schwierigkeiten der Dokumentarfilmtheorie, die fiktionalen Momente jeder Erzählung anzuerkennen und dennoch eine Eigenständigkeit des Dokumentarfilms gegenüber dem Spielfilm aufrechtzuerhalten, verweisen auf die ungeklärte Begriffsbestimmung des Fiktionalen ebenso wie auf die Zwanghaftigkeit, mit der sie selbst ihren Gegenstand von Fiktionen freihalten will.“18

François Jost identifiziert die Zwickmühle der Gattungsbestimmung ebenfalls in der notorischen Abgrenzung zum Fiktionalen: „Wann immer man versucht, den Dokumentarfilm allgemeingültig zu definieren, taucht das Wort Fiktion auf. Es scheint unmöglich, das Dokumentarische nicht aus der Opposition zu einem bekannten Genre heraus zu definieren. [...] Wäre man wirklich bereit, eine narratologische Definition des Fiktiven als Gegensatz zum Dokumentarischen zu akzeptieren? Sicherlich nicht.“19

In aktuellen Auseinandersetzungen um die Begriffsbestimmung des Dokumentarischen wird jeder Dokumentarfilm als inszeniert verhandelt und die Verortung eines Films als dokumentarisch oder fiktional als eine von zahlreichen textimmanenten wie paratextuellen Faktoren abhängige Übereinkunft zwischen filmischer Aussageinstanz, Produktionsinstanz und Rezipienten/innen verstanden.20 Ob ein Film als Dokumentarfilm wahrgenommen wird, hängt also von zahlreichen Kriterien ab: von der Intention und SelbstEinordnung der Filmemacher/innen, von der Verständigung zwischen Filmemacher/in und Rezipient/in und den auf beiden Seiten eingeschriebenen

17 Vgl. auch Hißnauer 2011, S. 34. 18 Hohenberger 1998, S. 24. 19 Jost, François (1998): Der Dokumentarfilm. Narratologische Ansätze, in: Hohenberger, Eva (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8, S. 216; vgl. auch Tröhler, Margrit (2002): Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden. Fiktion – Nichtfiktion – Narration in Spiel- und Dokumentarfilm, in: montage/av 11/2, Marburg: Schüren, S. 9-41. 20 Vgl. Hißnauer 2011, S. 38 f.

     

 

     

bestimmten Vorannahmen, Wahrnehmungs- und Verstehens-Konventionen, von paratextuellen Einflussfaktoren wie Präsentationskontext und Programmeinordnung, die erst im Zusammenspiel die Wahrnehmung und Verhandlung eines Werks als dokumentarischen Film bestimmen.21 Meine Betrachtungen in Bezug auf die intendierten oder wissenschaftlich zugeschriebenen Funktionen des Dokumentarfilms berücksichtigen daher vorrangig Konzepte, welche die Einordnung eines Films als Dokumentarfilm als komplexes Geflecht zwischen Autoren/innen, Produktionsinstanz, Präsentation und Rezeption behandeln. Bevor diese Ausgangsbasis anhand einzelner Positionen näher ausgeführt wird, möchte ich vermittels eines kursorischen Überblicks über wichtigste Tendenzen und Ansätze der Dokumentarfilmtheorie nachzeichnen, wie es zu den Auffassungen und Modellen kam, die dem Verhältnis des Dokumentarfilms zu Wirklichkeit und zu Vergangenheit sowie seinem Authentizitätspostulat nachgehen. Ziel ist es, eine historische Einordnung des Untersuchungskorpus zu gewährleisten.          Die Dokumentarfilmwissenschaftlerin Eva Hohenberger sieht die Basis der theoretischen Beschäftigung mit dem Dokumentarfilm zunächst darin, dass er als etwas vom Spielfilm „Unterschiedenes“ wahrgenommen wird und als solches propagiert werden kann.22 Die ersten Theorien der 1920er und 1930er Jahre, die exemplarisch mit den Namen Dziga Vertov und John Grierson verbunden sind, binden zum ersten Mal eine Begriffsbestimmung des Dokumentarfilms an einen spezifischen Wirklichkeitsbezug. Mit ihren Texten leiteten sowohl Vertov als auch Grierson vor allem die soziale Funktion des Dokumentarfilms ab, wobei für die jüngere, in den 1970er Jahren einsetzende filmwissenschaftliche Beschäftigung mit der Gattung ihre Positionen eher als ideologieträchtige Rechtfertigung dokumentarischer Praxis denn als fundierte Theorien galten. Vertovs Verdienst ist es, den Dokumentarfilm in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal als eine eigenständige filmische Form sowie in seiner sozialen Funktion

21 Vgl. Eitzen, Dirk (1998): Wann ist ein Dokumentarfilm?, in: montage/av 7/2, Lust am Dokument, Marburg: Schüren, S. 13-45. 22 Vgl. Hohenberger 1998.

          

zu bestimmen.23 Mit dem zentralen Begriff seiner Theorie, dem „Kinoglaz“ (Kino-Blick, Kino-Auge), propagiert er die Methode der Kinoki als „eine wissenschaftlich-experimentelle Methode der Untersuchung der sichtbaren Welt a) auf der Grundlage einer planmäßigen Fixierung von Lebensfakten auf Film und b) auf der Grundlage einer planmäßigen Organisation des auf Film fixierten dokumentarischen Filmmaterials“24. Grierson wie Vertov verorten die Affinität des Films zur Wirklichkeit in der Fotografie. Heute noch wird der referenzielle Bezug aus dem Aufzeichnungscharakter des Dokumentarfilms abgeleitet: Der Film fungiert zunächst als Dokument, das mit technischen Mitteln ein Zeugnis davon konserviert, was sich zu einem bestimmten Augenblick an einem bestimmten Ort zugetragen hat. Der entstandene „Augenschein“ ist aber alles andere als unproblematisch und auch nicht besonders aussagekräftig, wie Christine N. Brinckmann betont: „Den Ereignissen ist ihre Bedeutung nicht auf die Stirn geschrieben.“25 Das Hauptargument gegen die Referenzialität des dokumentarischen Bildes ist zugleich das naheliegendste: Die Authentizität filmischer Bilder, die sich zunächst aus der vermeintlichen Objektivität der fotografischen Technik ableiten lässt, kann nicht die Spezifik des Dokumentarfilms begründen, denn sie muss logischerweise entweder für jedes filmische Bild oder für keines gelten.26 Die Referenz des Dokumentarfilms zur Realität steht weder bei Vertov noch bei Grierson zur Debatte. Vertov verfolgt eine antirealistische Intention, die nicht auf Wiedererkennen, sondern auf Erkenntnis aus ist,27 während mit Grierson der Film für Aufführungspraxen

23 Vgl. dazu die Manifeste der Kinoki, Vertov, Dziga (2003/1923): Wir. Variante eines Manifests & Kinoki – Umsturz. In: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films, 5. erw. Aufl., Stuttgart: Reclam. 24 Vertov, Dziga (1998/1929): Kinoglaz. In: Hohenberger 1998, S. 95. 25 Brinckmann, Christine N. (1997): Die anthropomorphe Kamera: Und andere Schriften zur filmischen Narration, Zürich: Chronos, S. 64. 26 Die Realismustheoretiker Siegfried Kracauer und André Bazin haben in dieser Hinsicht zwischen fiktionalen und dokumentarischen Filmen keinen Unterschied gemacht, vgl. Albersmeier, Franz-Josef (Hg.) (2003): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam (5. Auflage), S. 7 f. 27 Dies bedeutet, das Handeln in der Welt neu organisieren mit Hilfe eines technologisierten Blicks, Vertov 1998 (1929), S. 99.

     

 

     

mit Propagandazwecken konzipiert wird. Der Dokumentarfilm bekommt die Bedeutung eines realistischen Genres, das seine gesellschaftliche Funktion in der Bildung von Öffentlichkeit findet, und beansprucht demnach eine erzieherische Qualität. Eva Hohenberger formuliert wie folgt: „Nicht das scheinbar unverfälschte Abbilden unberührter Gegebenheiten, sondern eine soziale Funktion untermauert die Selbstdefinition des Genres, die sich ebenso gegen die affektive Kraft des Spielfilms richtet wie gegen die vermeintliche Verführ- und Ablenkbarkeit der Zuschauer, gegen den Eskapismus der Scheinwelt wie gegen das politische Desinteresse des Volkssouveräns.“28

Anders ausgedrückt verfolgt der Dokumentarfilm mit Grierson eine Politisierung und einen demokratisierenden Auftrag, der bis hin zu Propaganda instrumentalisiert werden kann.29 Auch wenn im Zuge aktueller Demokratie-Bewegungen, politischer Umwälzungen im 21. Jahrhundert und einer endgültigen Überwindung des postmodernen Skeptizismus die neueren Praktiken des Dokumentarfilms bis hin zu Video-Aktivismus und dem Bewegungs-Film seine soziale und demokratiefördernde Funktion erneut und verstärkt in den Mittelpunkt stellen, so tun sie dies ohne normativen Postulaten zu unterliegen.30              Durch die politische Instrumentalisierung des Dokumentarfilms während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg erwirbt dieser seine Glaubwürdigkeit vor allem durch Sprache, die als propagandistisches Mittel eingesetzt wird: Der Kommentar wird dominierend und wen28 Hohenberger 1998, S. 14. 29 Vgl. dazu auch Decker, Christof (1995): Die ambivalente Macht des Films. Explorationen des Privaten im amerikanischen Dokumentarfilm, Trier: Wissenschaftlicher Verlag. 30 Vgl. auch die DFI-Tagung „Dokumentarfilm und Politik. Politiken des Dokumentarfilms“ von 13.-15.10.2011 in Köln, www.dokumentarfilminitiative.de [zuletzt gesichtet am 3.3.2012]; zum Bewegungsfilm vgl. Zutavern, J. (2015): Politik des Bewegungsfilms, Marburg: Schüren.

         

det sich direkt an den Zuschauer/die Zuschauerin in didaktischer Absicht, wobei die Bilder dem Dokumentarfilm überwiegend illustrativ zugeordnet werden. Während der Dokumentarfilm Anfang der 1950er Jahre noch eindeutig in der Tradition der UFA-Kulturfilme und der Wochenschau steht, erfolgt mit dem Aufkommen und der Verbreitung des Mediums Fernsehen in den 1950er und 1960er Jahren eine Neubestimmung dokumentarfilmischer Zugänge. Allmählich findet eine Ausdifferenzierung statt und es bilden sich Formen des längeren Filmberichts wie Magazine, Features, Reportagen, Dokumentationen, Dokumentarberichte und Dokumentarfilme heraus, die mit einer demokratisch orientierten Filmberichterstattung ein neues dokumentarisches Paradigma durchsetzen. Zwar bewahrt das Fernsehen weiterhin auch dokumentarische Kinotraditionen im Sinne des expositorischen Modus nach Bill Nichols – im Deutschen oft auch als klassischer Erklärdokumentarismus bezeichnet,31 unter dem Einfluss des direct cinema gerät jedoch auch der beobachtende Dokumentarfilm verstärkt in den Fokus des Fernsehdokumentarismus, den er wesentlich mitbeeinflusst. Während nach Bill Nichols im expositorischen (erklärenden) Modus Bilder und Töne als Belegmaterial für die Erklärung eines Sachverhalts oder einer These im Sinne einer objektiven Beweisführung mit Überzeugungsanspruch dienen, findet sich in Nichols Typologie der beobachtende Modus, der vor allem im direct cinema Anwendung findet.32 Die Filme des direct cinema nehmen für sich in Anspruch, durch die flexibel reagierende Handkamera und die Alltagsbeobachtung eine wahrhaftige Variante in der Darstellung von Realität zu sein – auch, weil sie von „manipulativem“ bzw. erklärendem Kommentar absehen: Der Dokumen-

31 Vgl. Nichols 1991. 32 Zur weiteren Typologie nach Nichols gehören der poetic mode (fragmentarisch, assoziativ und nach ästhetischen Gesichtspunkten organisiertes Material), participatory/interactive mode (interagierender, eingreifender Modus, wie im cinéma vérité oder in Interviewfilmen), reflexive mode (meta-kommunikativ als Reflexion zum Verhältnis von Film und Zuschauer/in) und performative mode (Verbindung von expressiven, rhetorischen und poetischen Aspekten als organisierende Dominanten), Nichols 1991.

     

 

     

tarfilm des direct cinema wurde aufgrund seiner Nicht-Intervention mit unverfälschter Realitätsabbildung gleichgesetzt.33 Der prominenteste Vertreter des direct cinema in Deutschland ist der Fernsehdokumentarist Klaus Wildenhahn, der die Ideologie unvermittelter Realitätsabbildung des direct cinema übernimmt, der seine Filme jedoch in den Dienst einer gesellschaftskritischen Politik stellt. Ebenso wird die Filmtheorie für Wildenhahn zu einem Bestandteil von Gesellschaftskritik. Im Sinne Wildenhahns bedeutet die Produktion eines Dokumentarfilms die „Unterordnung des Apparats Film unter die Einmaligkeit der historischen Realität“.34 Seine Grundvoraussetzung heißt Nichtintervention und impliziert eine kategorische Ablehnung des Kommentars – nicht zuletzt als Folge seiner traditionell begründeten manipulativen und propagandistischen Funktion. Für Wildenhahn konstruiert die Vermittlung des Nichtwiederholbaren eine Rezeptionssituation des ‚Mit-Erlebens‘ für die Zuschauer, wobei sich das ‚Mit-Erleben‘ aus der Abbildung von Ereignissen ohne jegliche Eingriffe, also auch ohne Interviews, ergibt. Mit Wildenhahn rückt das Alltägliche, scheinbar Zufällige und dadurch zum Authentischen Erhobene programmatisch ins Zentrum der neuen Dokumentarfilmkonzeption. Noch Anfang der 1980er Jahre definiert Wilhelm Roth in „Der Dokumentarfilm seit 1960“ Dokumentarfilme als solche, die in der Regel Ereignisse abbilden, die sich ohne die Anwesenheit der Kamera ereignet hätten, und in denen „reale Personen in ihrem Alltag“ auftreten.35 Er betont dabei die Alltagsbeobachtung und den Abbildcharakter des Dokumentarfilms; historische Themen und Rekonstruktionen zeitgeschichtlicher Ereignisse, die bei Roth größtenteils ausgegrenzt werden, sind jedoch bereits in den 1960er Jahren Gegenstand von dokumentarischen Arbeiten und erhalten spätestens mit Romms DER GEWÖHNLICHE FASCHISMUS (1965), Fechners NACHREDE AUF KLARA HEYDEBRECK (1969) und Erika Runges WARUM IST FRAU B. GLÜCKLICH? (1968) Einzug in den Fernsehdokumentarismus. Roths Bestimmung des Dokumentarfilms unter Ausgrenzung der interventionisti-

33 Tongebende Filmbeispiele sind PRIMARY (Robert Drew, 1960) und THE CHILDREN WERE WATCHING

(Robert Drew und Richard Leacock, 1960).

34 Hohenberger 1998, S. 17. 35 Roth 1982, S. 185.

          

schen Dimensionen des Dokumentarfilms wirkt angesichts des Aufkommens des cinéma vérité als zu einseitig gedacht.36 Während im direct cinema, insbesondere bei dessen Hauptvertreter Richard Leacock, jegliche Interventionen (Inszenierung, Kommentar, Interviews) prinzipiell abgelehnt werden, entwickelt sich parallel dazu das cinéma vérité, das Interventionen offensiv nutzt. Fragen, Interviews und Gespräche werden eigens für den Dokumentarfilm gestellt und führen zu Situationen, die ohne die Kamera und ohne die Dreharbeiten nicht stattgefunden hätten. Prominentestes Beispiel hierfür ist Jean Rouches und Edgar Morins Film CHRONIQUE D’UN ETÉ (1961), der paradigmatisch die Stimulation interaktiver und psychodramatischer Prozesse einsetzt. Auch im cinéma vérité tritt an die Stelle einer didaktisch-propagandistischen Intention die Betonung der Beobachtung. Das direct cinema und auch das cinéma vérité teilen trotz unterschiedlicher Ausprägungen den Glauben an eine authentische Realitätsabbildung, die die dokumentarische Produktion dieser Jahre prägte.37 Entsprechend dieser in groben Zügen nachgezeichneten Entwicklung diskutierte man den Dokumentarfilm recht lange unter dem Postulat einer Realismus-Debatte. Vom Dokumentarfilm fordert etwa Siegfried Kracauer, als wichtiger Vertreter der realistischen Filmtheorie, ganz idealistisch: „Dokumentarfilme sollen der Wahrheit entsprechen“38, eine Forderung, die sich in den Debatten bis heute fortsetzt.39

36 Vgl. Hißnauer 2011, S. 34. 37 Rouch macht die Kamera bewusst und plädiert für die Anwendung mehrerer Methoden (Intervention und Provokation, Spiel von Laien-Darstellern, Handkamera), um den Eindruck unverstellter Wirklichkeitswiedergabe entstehen zu lassen. 38 Kracauer, Siegfried (1985/1960): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 220. 39 So betrachtet Thomas Schadt den Gegenstandsbereich des Dokumentarfilms noch 2002 als das „Dokumentieren des real stattfindenden […] Lebens“, Schadt, Thomas (2012/2002): Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms, 4. Auflage, Konstanz: UVK, S. 23; vgl. Hißnauer 2011, S. 25 f.; vgl. hierzu auch die Ausführungen im Kapitel 3.6 in der vorliegenden Arbeit.

     

 

     

       Nach und nach entfernt sich der Dokumentarfilm vom realistischen Postulat und greift Traditionen der Avantgarde auf. In den 1980er und 1990er Jahren entsteht verstärkt der performative Dokumentarfilm, der die subjektiven Aspekte eines bis dahin als objektiv verhandelten Dokumentarfilms betont.40 Bill Nichols bestimmt die Eigenschaften des performativen Dokumentarfilms folgendermaßen: „Mit seiner auf Assoziation, Kontext, aber auch auf gesellschaftliche Dialektik bauenden evokativen Kraft erweist sich der performative Dokumentarfilm als Mittel der Wahl in einer Zeit, in der ‚Meistererzählungen‘ ebenso wie ‚Generalpläne‘ einen schlechten Ruf haben. Performative Dokumentarfilme ziehen die Epistemologie des Augenblicks, der Erinnerung und des Ortes der Darstellung einer geschichtlichen Epoche vor.“41

Hier zeichnet sich bereits die Tendenz zu extrem subjektiven filmischen Sichtweisen ab, die dennoch von gesellschaftlichen Gruppen geteilt werden und zur Herstellung kollektiver Subjektivität beitragen.42 Mit der unter semiotischer Perspektive geführten theoretischen Konzentration auf den Do-

40 Nichols’ begrifflich-typologischer Zuordnung wird als historische Abfolge von dokumentarfilmischen Gestaltungsformen verhandelt bzw. als historische Einteilung dokumentarischer Stile/Modi: expositorischer Dokumentarfilm (1930er Jahre); beobachtender Dokumentarfilm (60er Jahre); partizipativer/interaktiver Dokumentarfilm (60er und 70er Jahre); reflexiver Dokumentarfilm (80er Jahre); performativer Dokumentarfilm (80er und 90er Jahre), vgl. Nichols, Bill (1995): Performativer Dokumentarfilm in: Hattendorf, Manfred (Hg.): Perspektiven des Dokumentarfilms, München: diskurs film, S. 152 f. Allerdings wird damit der Tatsache keine Rechnung getragen, dass diese Modi, die als ein deskriptives Modell zur Beschreibung unterschiedlicher dokumentarischer Ansätze dienen, in ihrer historischen Abfolge auch parallel nebeneinander existieren und sich nicht zwangsläufig gegenseitig ablösen, vgl. hierzu auch Decker 1995 oder Schändlinger, Robert (1998): Erfahrungsbilder. Visuelle Soziologie und dokumentarischer Film, Konstanz: UVK Medien. 41 Nichols 1995, S. 165. 42 Ebd.

          

kumentarfilm als Text beginnt die Tendenz zur Gleichsetzung dokumentarischer und fiktionaler Filme.43 Die neue Filmtheorie (Filmsemiotik), aus den Arbeiten von Christian Metz erwachsen, verfolgt eine wissenschaftliche Annäherung an den Gegenstand, die erstmals vom Film selbst ausgeht und ihn als ein konstruiertes Objekt darstellt.44 Die Behandlung des Dokumentarfilms als eigene Textsorte, die eine spezielle Beziehung zwischen Sender und Empfänger herstellt, verlagert schließlich die Konzentration von der Referenzialität des Dokumentarfilms auf die Realität des Films selbst. Versteht man den Film als Text, als konstruierte Realität, die durch besondere filmische Gestaltungsmittel erzeugt wird, kann man ihn wie Bill Nichols als eine analysierbare bedeutungstragende Einheit definieren, deren vom Filmemacher intendierte Bedeutung sich im Rezeptionsakt des Zuschauers erschließt. Das semiotische System des Dokumentarfilms, seine Codes und Elemente, erzeugen „Bedeutung durch Entscheidungen zwischen Differenzen und durch eine fortlaufende Auswahl relevanter Einheiten“.45 Ausgehend also vom Filmtext als Einheit besonderer filmischer Gestaltungsmittel unternimmt Nichols den Versuch, die spezifischen Signifikationsverfahren des Dokumentarfilms aus der formalen Organisation der Bilder und Töne abzuleiten. Da sich die Frage nach dem spezifisch ikonischen oder, in Anlehnung an Peirce, indexikalischen Charakter der dokumentarischen Zeichen nicht mit der zurückgekehrten Problematik der Ontologie des fotografischen Bildes beantworten lässt, sieht Nichols die Spezifik dokumentarischer Texte im rhetorischen Argumentationszusammenhang fundiert, besonders in bedeutungsstiftenden Mustern der Bild-TextBeziehungen. Die zentrale These Nichols lautet schließlich, dass Dokumentarfilme weniger Geschichten erzählen, als dass sie Argumente über die historische Welt vorbringen, sich also im spezifischen rhetorischen Argumentationszusammenhang konstituieren. Zu Recht wurde vielfach dagegen eingewendet, dass sich das erklärende System, das im Wesentlichen auf verbale Kommunikation und Argumentation (etwa Kommentar) aufbaut, keinesfalls als wesentliche Differenz zum Spielfilm aufweist, da jeder fiktio-

43 Vgl. Hohenberger 1998, S. 22 f. 44 Vgl. Schillemans 1995, S. 22 f. 45 Nichols, Bill (1998): Dokumentarfilm – Theorie und Praxis (1976), in: Hohenberger, Eva (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8, S. 165.

     

 

     

nale Film diese Verfahren, die auf Sprachlichkeit beruhen, imitieren kann.46 Die Trennung zwischen dokumentarischem zum fiktionalem Film wurde angesichts strukturalistischer und semiologischer Ansätze fragwürdig. Reklamierte der Dokumentarfilm noch bis Mitte der 1970er Jahre einen exklusiven Wahrheits- und Objektivitätsanspruch, der sowohl theoretischen als auch praktischen Fragestellungen standhielt, so wurde vor allem aus semiotischer Perspektive ein genereller Ideologieverdacht gegen den Dokumentarfilm erhoben. Die Form der Filme wurde somit – gegenüber sozialen Anliegen und Inhalten etwa – zum bevorzugten Gegenstand theoretischer Auseinandersetzungen. Währenddessen entfernte sich, wie Alan Rosenthal in seiner Einführung zu „New Challenges for Documentary“ von 1988 konstatiert, die Dokumentarfilmtheorie immer weiter von der Dokumentarfilmpraxis.47 Rosenthal zufolge haben die Filmemacher/innen am wenigsten den Wahrheitsanspruch des Dokumentarfilms reklamiert. Vielmehr herrschte Konsens darüber, dass sie sich in ihren Dokumentarfilmen schöpferisch und interpretativ mit der Realität auseinandersetzen. Diese Feststellung mag einer der Gründe dafür sein, dass die semiotischen Ansätze für die Dokumentarfilmpraxis kaum Relevanz besaßen.48 Dass die Spezifik der Dokumentarfilme nicht auf den rhetorischen Argumentationszusammenhang festgeschrieben werden kann und dass Dokumentarfilme auch erzählen und also nicht als nicht-narrativ bezeichnet werden können,49 ist mittlerweile unumstritten. Dennoch hielten sich die Zuweisungen fiktionaler Film = narrativ und Dokumentarfilm = argumentativ lange aufrecht. Auf dieses Dilemma weist Margrit Tröhler in ihrem

46 Vgl. auch Jost 1986, Hohenberger 1998 oder Winston 1995, der zu Nichols Unterscheidung story/argument ironisch anmerkt: „A story about an imaginary world is just a story. A story about the real world (that is, a documentary) is an ‚argument‘“, Winston, Brian (1995): Claiming the Real. The Griersonian Documentary and its Limitations, London: British Film Institute, S. 252. 47 Rosenthal, Allan (Hg.) (1988): New Challages for Documentary, Berkley/Los Angeles/London: University of Californian Press. 48 Vgl. Schändlinger 1998, S. 302 f. 49 Wie dies bei Bordwell/Thompson in ihrer grundlegenden Einführung der Fall ist, Bordwell, David/Thompson, Kristin (1993): Film Art. An Introduction, New York: McGraw Hill, S. 102.

          

Text „Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden. Fiktion – Nichtfiktion – Narration in Spiel- und Dokumentarfilm“ von 2002 hin, in dem sie sich über die Präzisierung dieser Begriffe den Konzeptualisierungen von Fiktion und Nichtfiktion sowie den Grenzbereichen nähert: „Bevor ich begann, mich mit dem Thema zu beschäftigen, schien alles klar: Die Fiktion gehörte zum Spielfilm, der Geschichten erzählt, während der Dokumentarfilm in den Bereich der Nichtfiktion fiel. Doch schon mit dem Begriff der Narration oder, allgemeiner gesagt, des Narrativen stellte sich das erste Problem: Spielfilme werden allgemein als narrativ bezeichnet, aber von welchem Moment an sind Dokumentarfilme narrativ? – Spätestens bei der nächsten Frage fing das Karussell sich zu drehen an: Wie steht es mit der Biographie oder der Autobiographie, für die angenommen werden darf, dass zumindest die Figur historisch verbürgt ist, die im Zentrum der Erzählung steht und deren mehr oder weniger kohärente Lebensgeschichte wir lesen oder sehen? Wo beginnt da die Fiktion, wo die Narration, und wie lässt sich die ,Autofiktion‘ historisch verankern?“50

Auch nach Hohenberger geraten textorientierte Ansätze, die sich an der Literaturwissenschaft und strukturalistischen Textwissenschaft als Leitwissenschaften orientierten und in Analogie zur natürlichen Sprache den Film als ein System von Zeichen behandelten, an diesem Punkt in Widersprüche. Sie neigten dazu, durch die rein textuelle Sichtweise dokumentarische mit fiktionalen Filmen entweder gleichzusetzen, oder aber zwanghaft Differenzen dort auszuarbeiten, wo auf Sprache beruhende Verfahren keine klare Unterscheidung erlauben, wie dies am Beispiel von Nichols bereits aufgezeigt wurde.   

        Einige Dokumentarfilmtheoretiker/innen haben die rein textuelle Sichtweise zugunsten eines pragmatischen51 bzw. semio-pragmatischen Zugangs

50 Tröhler 2002, S. 9. 51 Pragmatik ist ein Begriff aus der Semiotik und wird als die Wissenschaft von der Beziehung der Zeichen zu ihren Interpreten begriffen; sie befasst sich mit der Rezeption und Interpretation von Zeichen, „als eine spezifische Sichtweise auf die mediale Bedeutungsproduktion: Nicht der Text an sich, sondern der Text

     

 

     

zum Dokumentarfilm aufgegeben. Die Grundvoraussetzung dieser Ansätze ist, dass sich der Dokumentarfilm nicht anhand seiner textuellen Verfahren, sondern dass er sich erst in einer kommunikativen Beziehung zwischen Zuschauer/innen und Text bzw. zwischen Rezeptionsmodi und Realisationsmodi als solcher konstituiert.52 Mit einer Hinwendung zur Rezeption entfernen sich pragmatische und semio-pragmatische Ansätze von einer Fixierung auf die Definition des dokumentarischen im Unterschied zum Fiktiven und konzentrieren sich auf Lektüreanweisungen und Rezeptionskontexte. Auch richten sie sich gegen normative Definitionen, welche bestimmen, was ein Dokumentarfilm sein soll (wie etwa Wildenhahn 1975). Autoren wie Guynn und Odin gehen davon aus, dass der Dokumentarfilm bestimmte Zuschauerhaltungen impliziert: Sowohl der Sender als auch der Empfänger wählen eine Haltung aus, welche die Produktion bzw. die Rezeption des Films regelt. Diese Wahl wird nach Odin von Mechanismen der Bedeutungserzeugung determiniert. Der/die Zuschauer/in wählt während des Rezeptionsvorgangs zwischen einer dokumentarisierenden und einer fiktionalisierenden Lesart, die Entscheidung basiert auf internen Faktoren (Darstellungskonventionen) und/oder externen Elementen (wie sie beispielsweise in der Ankündigung oder im Vorspann vorkommen oder sie ergeben sich dadurch, dass der/die Filmemacher/in als Dokumentarist/in bekannt ist).53 Laut Heller erscheint der/die Zuschauer/in somit in zweifacher Blickrichtung als vorrangige Bezugsgröße: als implizite/r Zuschauer/in (im Produktionsprozess für die Filmemacher/innen, die Bilder erzeugen, welche über ihre unmittelbare Präsenz hinaus zugleich auf etwas in ihnen Abwesendes –

innerhalb bestimmter institutioneller Kontexte ist Gegenstand der Untersuchung, und in pragmatischer Analyse geht es […] um die Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit medialer Kommunikation. Ein Schlüsselbegriff ist hierbei der des ‚kommunikativen Vertrags‘ oder ‚Pakts‘, der erst die Rahmenbedingungen schafft, innerhalb derer die Zuschauer Texte verstehen können.“, editorial der montage/av 11/2/2002, S. 4. 52 Für einen ausführlichen Überblick zur Semio-Pragmatik des Dokumentarfilms siehe Hißnauer 2011, S. 61-82. Hißnauer differenziert die verschiedenen Ansätze und Bestimmungsversuche und entwickelt vor allem aus der Semio-Pragmatik eine Begriffsbestimmung. 53 Vgl. Guynn, William (1990) A Cinema of Nonfiction. London/Toronto: Associated University Presses, Odin 1989, S. 91 f. bzw. Odin 1995, S. 85 f.

          

auf reale Tatsachen – verweisen, und dies in einem für die Rezipient/innen bedeutsamen Licht) und als Zuschauer/in beim Rezeptionsvorgang, die darauf angewiesen ist, hinreichende Inhaltspunkte für eine dokumentarische Lektüre zu erhalten – sei es, wie erwähnt, im Filmtext oder im Rahmen seiner Präsentation, d.h. im Titel, Vorspann oder in der Ansage beziehungsweise anhand seiner Einbettung im Programm- und Sendekontext.54 Mit Hilfe von Wissen um filmische Konventionen bzw. Genrekonventionen oder Weltwissen im Allgemeinen tritt an die Stelle einer a priori zu definierenden Textsorte Dokumentarfilm die „dokumentarisierende Lektüre“ (nach Odin), und zwar besonders dort, wo bestimmte interne Leseanweisungen filmischer Texte nach ihr verlangen. Diese Leseanweisungen müssen für die Herstellung einer bestimmten Bedeutung möglichst explizit sein, damit sich die bei der Rezeption hergestellte Bedeutung mit derjenigen der Produktion deckt. Der Sinn eines Textes ist demnach immer das Ergebnis eines doppelten Konstruktionsprozesses: Konstruktion im Raum der Realisierung und Re-Konstruktion im Raum der Lektüre.55 Der Lektüremodus als zentraler Begriff bei Odin ist auch in der wissenschaftlichen Diskussion seines semio-pragmatischen Ansatzes, etwa bei Margrit Tröhler, für die Bestimmung und Analyse von textuellen und pragmatischen Voraussetzungen ausschlaggebend.56 Der Rezipientenbezug, der in diesem Modell enthalten ist, erlaubt eine pragmatische (bezogen auf diskursive wie institutionelle Kontexte) sowie textuelle (strukturelle) Analyse.57 Odin selbst betont, dass die Beschreibungen der verschiedenen Lektüremodi uns dazu befähigen zu analysieren, „wie ein Film in einem gegebenen sozialen Raum funktioniert“58 und von welchen Faktoren bedeutungskonstituierende Prozesse abhängen. In der Perspektive der Pragmatik bzw. Semio-Pragmatik sind die Wahl und die Unterscheidung zwischen dokumentarisch und fiktional, die bei der Produktion und insbesondere beim Rezeptionsvorgang stattfinden, keines-

54 Heller, Heinz-B. (1994b): Ästhetische Strategien als Politik. Aspekte des Fernsehdokumentarismus, in: Hickethier, Knut (Hg.): Aspekte der Fernsehanalyse. Methoden und Modelle. Hamburg/Münster: Lit Verlag, S. 29. 55 Odin 1995, S. 85 f. 56 Vgl. Tröhler 2002. 57 Ebd., S. 34. 58 Vgl. Odin 1995, S. 85.

     

 

     

wegs als festgeschrieben zu betrachten, sondern gestalten sich dynamisch. Um mit Jürgen E. Müller zu sprechen: „Das pragmatische Prinzip des kommunikativen Paktes oder der Interaktion zwischen Modi und Institutionen beinhaltet nicht, dass ein abgeschlossener ,Vertrag‘ statisch und durchgängig für die gesamte Dauer der Produktion und (insbesondere der) Rezeption gültig bliebe [...]. Es ist vielmehr als ein dynamischer Prozess aufzufassen, welcher den kommunikativen Pakt in jedem Rezeptionsakt, im Zusammenspiel zwischen filmischen Repertoire/filmischen Strukturen und dem Bewusstsein des Zuschauers auf die Probe stellt und ihn beständigen Modifikationen unterwirft.“59

Zahlreiche Dokumentar- sowie Spielfilme zeugen vom Spiel mit bedeutungskonstituierenden Prozeduren, die den Zuschauer/die Zuschauerin zwischen verschiedenen Modi oszillieren lassen und wiederholt vor Entscheidungsabläufe stellt. Das heißt also, dass Lektüre-Modi auch innerhalb eines Films geändert werden können. Filme, die im Rahmen eines solchen Aushandlungsprozesses überwiegend Anweisungen zu einer dokumentarisierenden Lektüre integrieren, eine dokumentarisierende Lektüre also programmieren, gehören nach Odin dem „dokumentarischen Ensemble“ an. Das dokumentarische Ensemble konstituiert sich sowohl über die in der Struktur der Filme eigeschriebenen, als auch durch paratextuelle und institutionelle Anweisungen und Merkmale, die je nach kulturellen und gesellschaftlichen Konventionen historisch wandelbar sind. Rezeptions- bzw. Lektüremodi sind daher nicht nur im Rahmen eines Rezeptionsvorgangs Veränderungen unterworfen. Das Modell der Semio-Pragmatik bietet Erklärungen für eine Reihe von Phänomenen im biografischen Dokumentarfilm, denn mit ihm werden die Zuschaueradressierungen begrifflich fassbar sowie die unterschiedlichen Haltungen und Filmlektüren in dem breiten Spektrum biografischer Dokumentarfilme greifbar. Haltungen in Bezug auf lebensgeschichtliche Erzählungen sind dabei ebenso sozial wie historisch bedingt, abhängig vom gesellschaftlichen, sozialen Konsens: Ein Film kann in anderen sozialen Räu-

59 Müller, Jürgen E. (1995): Dokumentation und Imagination. Zur Ästhetik des Übergangs im Dokumentarfilm „Transit Levantkade“, in: Hattendorf, Manfred (Hg.): Perspektiven des Dokumentarfilms, München: diskurs film, S. 130.

          

men oder zu anderen Zeitpunkten anders funktionieren.60 Die SemioPragmatik stellt Möglichkeiten der Beschreibung von Modi der Sinn- und Affektproduktion zur Verfügung, die zu spezifischen Erfahrungen im Raum der Produktion wie der Rezeption führen. Mit den Unterscheidungen zwischen den Modi kann auch anhand der Fragen, wann ein bestimmter Modus in Gang gesetzt wird und wie die Modi artikuliert werden die Spezifik des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms erfasst werden. Damit ist auch ein theoretischer Rahmen gegeben, um sich der Frage nach der Art und Weise der Bedeutungskonstitution im Raum der Produktion wie der Lektüre zu nähern. Die Wirkungsmechanismen der untersuchten Dokumentarfilme lassen sich in Bezug auf die sozialen Räume ihrer Entstehung und Rezeption beschreiben, denn es geht um den sozialen Gebrauch der Filme, in dem sich im Zusammenwirken der Produktionsmodi ihr Wirklichkeitsbezug konstituiert.                      Eine bislang kaum in dieser Konsequenz erörterte Verschiebung der dokumentarfilmtheoretischen Auseinandersetzung „von der Frage, ob ein Film ein Dokumentarfilm ist, auf die Frage, wie ein Film ein Dokumentarfilm ist“61 hat Hißnauer unternommen. Durch die Folgerungen, die er aus einer differenzierten Analyse der Grundlagen der Dokumentarfilmtheorie schließt, legt er den Akzent auf den Dokumentarfilm als ein „soziales Konstrukt“, das „nur im Rahmen einer sozialen/kommunikativen Praxis – als sozial geteilte Vorstellung darüber, was Dokumentarfilm ist“ existiert.62 Hißnauer betont, dass es dennoch Filme gibt, die unbestritten als Dokumentarfilme einzuordnen sind, und definiert aus semio-pragmatischer Sicht: „Dokumentarfilme sind Filme, die in einem spezifischen soziokultu-

60 Vgl. Hißnauer 2011, S. 67 f. In Anlehnung an Frank Kessler erwähnt Hißnauer historische Analysen, die etwa aufzeigen, wie „verschiedene Vorführkontexte im Kino vor dem Ersten Weltkrieg bei identischen Filmen unterschiedliche Lektüremodi programmiert haben“, Hißnauer 2011, S. 73. 61 Hißnauer 2011, S. 84. 62 Ebd., S. 82.

              

rellen Rahmen als Dokumentarfilme produziert/intendiert, indiziert (beworben und vertrieben) und/oder rezipiert werden.“63 In diesem Zusammenwirken der bedeutungskonstituierenden, lektüreanweisenden Modi ist ein dokumentarisches Ensemble identifizierbar. Margrit Tröhler fasst die Wechselwirkung wie folgt zusammen: „Ein Film ist somit immer mehr oder weniger fiktional, enthält mehr oder weniger fiktive Elemente, ist mehr oder weniger narrativ oder ist all dies nur in bestimmten Momenten. Ebenso steht es mit der assertiven und der fiktiven Haltung der außertextuellen pragmatischen Aussageposition, die sich in einem Film […] nicht immer eindeutig bestimmen lässt (man denke nur an den Fall der Ironie). In ihrem Zusammenspiel können diese verschiedenen Momente und Aspekte dennoch eine dominante Lektüre für einen Film einleiten.“64

Damit betont Tröhler einen wichtigen Ansatzpunkt: Die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Dokumentar- und Spielfilm ist weniger zielführend, vielmehr gilt es, eine genaue pragmatische (institutionelle und diskursive) sowie textuelle (semantische und strukturelle) Analyse zu verfolgen.65 Bedeutung entsteht letztlich erst in der Lektüre eines Films, in der immer soziale, kulturelle, intersubjektive und individuelle Aspekte einfließen. In diesem Zusammenwirken verschiedener Lektüreaspekte entsteht jedoch ein intersubjektiv geteiltes, also objektiviertes Wissen durch den sozialen Prozess der Angleichung von Realisations- und Rezeptionsmodi, das „eine objektive, also von der subjektiven Wahrnehmung unabhängige – Unterscheidung von Spiel- und Dokumentarfilm“ ermöglicht.66 Diesen Prozess der Angleichung von Realisations- und Rezeptionsmodi zu analysieren heißt letztlich, die Kontextualisierung von Dokumentarfilmen stärker in den Mittelpunkt zu rücken: Nicht nur die medienbezogene Erfahrung, sondern die kulturelle und soziale Praxis der Akteure sollte mit einbezogen werden, d.h. also auch die spezifischen sozio-kulturellen Rahmen der Aus-

63 Ebd. 64 Tröhler 2002, S. 34. 65 Ebd. 66 Hißnauer 2011, S. 83; dies gilt allerdings kaum für Grenzfälle, sondern trifft lediglich auf konventionelle Filme des dokumentarischen Ensembles in einem gegebenen historischen Rahmen zu, vgl. Tröhler 2002, S 34 f. oder Hißnauer ebd.

          

handlung, um Interaktionen in der dokumentarfilmischen Arbeit mit Erinnerung aufzuzeigen. Die sozialen Dimensionen und sozio-kulturellen Kontexte der Entwicklung dokumentarfilmischer Bilder fanden mit wenigen Ausnahmen (etwa die britische Dokumentarfilm-Schule der 1930er Jahre) in der Theorie des Dokumentarfilms wenig Beachtung. Der Film findet sich zwar als prominenter Untersuchungsgegenstand einer Soziologie des Kinos, der Filmsoziologie und in den film studies der Cultural Studies, in erster Linie jedoch steht der Hollywood-Film, seine Diskurse und sozio-kulturellen Kontexte im Mittelpunkt. Zwar hat sich bei der Untersuchung verschiedener Aspekte der Produktion und Rezeption die interdisziplinäre Auseinandersetzung durchgesetzt,67 doch spielt in den meisten Ansätzen die Gattung Dokumentarfilm eine untergeordnete Rolle. Die visuelle Soziologie wiederum hat sich verstärkt der Relevanz der dokumentarfilmischen Bilder für die Sozialwissenschaften zugewendet. Hier ist Robert Schändlinger mit seiner Dissertation „Erfahrungsbilder. Visuelle Soziologie und dokumentarischer Film“ von 1998 zu erwähnen. Er fokussiert auf den Dokumentarfilm als wichtiges Medium der Realitätsaneignung und betont, dass dieses Medium im Kontext von dokumentarischer Literatur, Wissenschaft, Politik, Kunst und Zeitgeschichte reflektiert werden muss.68 Im Sinne Odins sind die programmierenden Instanzen und Institutionen letztlich in diesem Kontext genauso eingebettet wie die kommunikativen Verträge, die in dieser Perspektive als Bedeutungsrahmen im sozialen Austausch zwischen Produktion/Realisation, Film und Rezeption entstehen. Eine ganzheitliche Einbeziehung der Kontexte bei der Entstehung dokumentarischer Lektüren kommt einer Perspektive der sozialkonstruktivistischen

67 Schenk, Irmbert/Tröhler, Margit/Zimmermann, Yvonne (Hg.) (2010): Film – Kino –Zuschauer: Filmrezeption, Marburg: Schüren, S. 11 f. 68 Schändlinger 1998, S. 12.; vgl. auch Heinze 2012; Schändlinger reflektiert die Möglichkeiten einer Soziologie aus der Erfahrung des dokumentarischen Films und bestimmt den Dokumentarfilm als erfahrungsbildendes Medium der Realitätsaneignung. Auch er geht über stilistische und genregeschichtliche Betrachtungen hinaus und vermeidet eine dichotomisierende Gegenüberstellung von Dokumentar- und Spielfilm, in dem er die filmischen Darstellungen so reflektiert, dass sie aus der Rezeptionsperspektive als relevante Darstellungen der Realität erscheinen.

     

 

     

Wissenssoziologie von Berger/Luckmann entgegen, in der eine „objektive Wirklichkeit“ als Produkt der Gesellschaft aufgefasst wird – durch Institutionalisierung und Weitergabe an nachfolgende Generationen. Dabei wird neben dem theoretisch fundierten Wissen das Alltagswissen gleichermaßen in Betracht gezogen.69 Im gesellschaftlichen Aushandlungsprozess funktionieren zum Beispiel Gespräche als gegenseitige Bestätigung von Wirklichkeit, denn Wirklichkeit wird durch die Objektivationen mittels Sprache verdinglicht und dient als wechselseitige Bestätigung in der Auslegung der Welt. Durch Gespräche/Erzählungen werden spezifische intersubjektive Beziehungen geschaffen und gesichert, das Gespräch dient der „Wirklichkeitssicherung“. In diesem sozialen Prozess agieren die Medien bestätigend, denn sie befördern durch ihre Vermittlung von (Teil-)Wirklichkeiten die Wirklichkeitssicherung.70 Medien greifen Themen aus der Gesellschaft auf und dienen der Vergewisserung historischer oder sozialer Wirklichkeit, gleichzeitig tragen sie zu ihrer Tradierung bei. Da nach Berger/Luckmann die gesellschaftliche Ordnung und somit der gesamte „kulturelle Wissensbestand“ erst durch menschliche Konstruktionsleistung produziert wird, sind die kulturellen Wissensbestände durch das kommunikative und kulturelle Gedächtnis einer ständigen Veränderung unterworfen. Wie auch Halbwachs und Assmann/Assmann betonen Berger/Luckmann den Kontingenzgedanken gesellschaftlicher Ordnung. Demzufolge ist auch die Realitätsaneignung im Sinne einer Wirklichkeitssicherung durch das Medium Dokumentarfilm, also die durch ihn bereitgestellten Zugänge für Vorstellungen des Realen, dem historischen Wandel unterworfen. Wie gestalten sich also diese Zugänge für eine Realitätsaneignung in Bezug auf den zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilm und seiner Entwicklung? Welche Faktoren, Verfahren und Modelle der Zuschaueradressierung bestimmen die (Re-)Konstruktion individueller Erfahrungen und das öffentliche Erinnern im biografischen Dokumentarfilm als kulturelle Praxis? Im Folgenden möchte ich einen historischen Blick auf die Anfänge und Phasen der dokumentarfilmischen Zugriffe auf erzählte Biografie

69 Vgl. Berger, Peter/Luckmann, Thomas (2003/1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M.: Fischer. 70 Ebd., S. 160.

          

– von Interviewdokumentarfilm, Gesprächsfilm, biografische und autobiografische Annäherungen – anhand der Skizzierung fernsehdokumentarischer Stationen vornehmen. Auf diese Weise nähere ich mich dem filmischen Interesse an individuellen Erinnerungen im sozialen Prozess der Realisation und Rezeption von Erinnerungsnarrativen als kulturelle Praxis und alltagspraktische Wissenstradierung.

           

     Das dokumentarfilmische Interesse an Lebensgeschichten und Lebenserinnerungen geht einher mit dem Eingang der Oral History in die Geschichtswissenschaft71 und der Entwicklung des Interviewdokumentarfilms, der im Fernsehdokumentarismus zu seiner Entfaltung kommt. Die Verschiebung der dokumentarfilmischen Verhandlung lebensgeschichtlicher Erzählungen hängt eng mit der Entwicklung des Fernsehdokumentarismus zusammen, denn grundsätzlich zeugt die enge Verknüpfung von Dokumentarfilm und Fernsehen von einer gegenseitigen Beeinflussung journalistischer und dokumentarischer Formen, wie sie nur im Rahmen dieses Massenmediums vollzogen werden konnte. Betrachtet man die Entwicklung des Dokumentarfilms im Fernsehen und seiner fernsehspezifischen Ausprägungen, so lassen sich in formaler Hinsicht große Entwicklungsetappen ausmachen, in denen sich – mit wechselnden Perspektiven und Betrachtungsweisen – auch unterschiedliche Stilrichtungen des Dokumentarfilms im Ensemble dokumentarischer Präsentationsformen durchsetzen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Phasen in der Geschichte des Fernsehens herausgearbeitet werden, die durch Experimente bei längeren Sendungen gekennzeichnet sind und die wesentlich zur Entwicklung des Gesprächs- und Interview-Dokumentarfilms beigetragen haben.

71 Auf die Zusammenhänge zwischen lebensgeschichtlichen Erzählungen im Dokumentarfilm und Oral History gehe ich im Kapitel „Dokumentarfilm und Oral History“ ein.

     

 

     

        

   Nach der Gleichschaltung der Massenmedien in der NS-Zeit und deren Einsatz für Propagandazwecke wurde der Rundfunk in den westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit im parlamentarisch-demokratischen Sinn neu organisiert – als föderalistische und öffentlich-rechtliche Institution. Die Sender sollten der Information, Bildung und Unterhaltung der Bevölkerung dienen.72 Im Allgemeinen gelten die 1950er und 1960er Jahre als eine Zeit der Experimente für den Fernsehdokumentarismus. Auch wenn der Fernsehabend anfangs als Analogie zum Kinoprogramm fungierte (man griff auf kurze Kulturfilme zurück und gestaltete das Programm mit der Abfolge von Nachrichten, Kulturfilm und Spielfilm), so entfalteten sich bald die ersten Anläufe eigenständiger fernsehspezifischer Ausdrucksformen, deren wichtigstes Charakteristikum die Live-Übertragungen und -Sendungen waren. O-Ton-Berichte und Interviews setzten sich jedoch insgesamt nur langsam als Mittel dokumentarischen Arbeitens durch, was vordergründig an den beschränkten technischen Möglichkeiten lag.73 Synchrone Bild-TonAufnahmen etwa waren nur mit großem Aufwand herzustellen. Während in Bildungs- und Wissenschaftssendungen mit Mischformen aus Studioelementen und Filmberichten mit Anschauungsmaterial (Grafik, Bild, Modell etc.) experimentiert wurde, setzten sich im Informationsbereich zusätzlich Formate durch, die an Vorbilder der Presse (Reportage, Bericht), des Hörfunks (Feature) oder an filmische Traditionen wie Kulturfilm und Dokumentarfilm (im Sinne abendfüllender Autorenfilme) anknüpften und diese weiterentwickelten.74 Kennzeichnend für den frühen Fernsehdo72 Vgl. Müller 1994, in: Zimmermann 1994a, S. 107 f. 73 Es gab wenige Vorläufer, wie z. Bsp. HOUSING PROBLEMS, UK 1935, von Arthur Elton/Edgar Anstey, eine Produktion des britischen Documentary Film Movement um John Grierson, in der die O-Ton-Berichte einen deutlich breiteren Raum einnehmen und in den Häusern und Unterkünften der Befragten gedreht werden, vgl. Hißnauer 2011. 74 Vgl. Berg-Ganschow, Uta/Zimmermann, Peter (1991): Perspektivenwechsel im Dokumentarfilm der Bundesrepublik, in: Kreuzer, Helmut/Schanze, Helmut (Hg.) (1991): Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland. Perioden, Zäsuren,

          

kumentarismus ist die Orientierung an britischen und nordamerikanischen Vorbildern wie bei den Reportagen des Amerikaners Edward Murrow in der Reihe SEE IT NOW oder der britischen Sendung PANORAMA, die eine in ihren Ansätzen demokratisch geprägten Filmberichterstattung verfolgten, sich vor allem gegen den Missbrauch dokumentarischer Filme für Propagandazwecke wendeten und eine Aufklärung im Sinne der „re-education“ anstrebten.75 Diese Anlehnung zeigte sich bei Journalisten wie etwa Rüdiger Proske, lange Zeit Leiter der Hauptabteilung Zeitgeschehen im NDR, der die Grundzüge eines investigativen Journalismus und eines aktuellen Reportage- und Dokumentarstils der erwähnten Vorbilder übernahm.76 Proske produzierte Sendereihen wie AUF DER SUCHE NACH FRIEDEN UND SICHERHEIT und PAZIFISCHES TAGEBUCH, die als Dokumente eines kritischen Fernseh-Dokumentarismus die Weichen für die Gründung des Fernsehmagazins PANORAMA in den 1960er Jahren stellten. Für die Entwicklung des Dokumentarfilms im Fernsehen war gerade der kritische Magazinjournalismus wichtig geworden. Das von Proske gegründete Magazin PANORAMA (NDR) bemühte sich unter dem Einfluss von Klaus Wildenhahn als Realisator um neue filmische Ausdrucksmöglichkeiten. Neben der innen- und außenpolitisch oppositionellen Stellungnahme zum Regierungskurs der 1960er Jahre77 behandelte das Magazin gerade

Epochen, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, S. 234-252; vgl. auch Zimmermann 2006, der anmerkt, dass der „anspruchsvolle“ Dokumentarfilm, der „die individuelle Handschrift eines Autors“ trägt, schon im Kino der 1920er50er Jahre die Ausnahme war, Zimmermann, Peter (2006): Der Autorenfilm und die Programm-Maschine Fernsehen, in Zimmermann, P./Hoffman, K. (Hg.): Dokumentarfilm im Umbruch: Kino – Fernsehen – Neue Medien, Konstanz: UVK Verlag, S. 86. 75 Vgl. Zimmermann 2006, S. 87. 76 Die Resonanz kritischer Filmberichterstattung zeigte sich mitunter am Beispiel des Amerikaners Edward Murrow, der mit seinem REPORT ON SENATOR JOHN R. MCCARTHY“ (1954) aus der Reihe SEE IT NOW zum Sturz des Senators und zum Ende der McCarthy-Ära beigetragen hatte, vgl. Berg-Ganschow/Zimmermann 1991. 77 Unter der Leitung von Gert von Paczensky, Eugen Kogon, Joachim Fest und Peter Merseburger nahm das Magazin nicht selten innenpolitische Skandale aufs Korn. Höhepunkt der Kritik an inneren Missständen war die Dokumentation

     

 

     

Themen des Arbeits- und Alltagslebens und Probleme von Minderheiten und Randgruppen. Lenkten sie den Blick auf diese Themen zunächst im Sinne einer Ereignisaktualität, richtete sich die Aufmerksamkeit allmählich und zunehmend auf Ereignisse aus der Vergangenheit, womit das Feld für den biografischen Dokumentarfilm vorbereitet wurde. Für die Entwicklung neuer Formen des Fernsehdokumentarismus, die vom großen kulturpolitischen Feature über die aktuelle Reportage bis hin zum zeitkritischen und auch ironischen Dokumentarfilm reichten, spielte neben dem Norddeutschen Journalismus auch der SDR eine zentrale Rolle: Die Stuttgarter Schule, als welche sich der Stuttgarter Journalismus im historischen Rückblick begreift, verzeichnete ähnliche Tendenzen, etwa in der Dokumentarfilm-Abteilung unter der Leitung Heinz Hubers: Huber legte besonderen Wert auf die Entwicklung des Dokumentarfilms, den er von der aktuellen Berichterstattung ebenso abgrenzte wie von dem durch den Nationalsozialismus diskreditierten deutschen Kulturfilm.78 Beispiele für eine intensive Recherche mit der Kamera und Konzentration auf die Ursachen und Hintergründe des Geschehens finden sich in der Sendereihe ZEICHEN DER ZEIT (SDR 1957-1973), für die eine allgemeingehaltene Kulturkritik und die ironische Beobachtung gesellschaftlicher Rituale charakteristisch war. Elmar Hüglers Reihe NOTIZEN VOM NACHBARN (SDR 1969-1971) vollzog den Übergang zu einem beobachtenden Dokumentarismus, der unter dem Einfluss des direct cinema auch von Peter Nestler, Klaus Wildenhahn, Roman Brodmann u.a. seit den 1960er Jahren verstärkt entwickelt wurde.79 Was sich wie ein Siegeszug demokratischer, gesellschaftskritischer und alternativer Sicht- und Darstellungsweisen präsentierte, war jedoch ein auf vielen Ebenen geführter Kampf um Freiräume in einer sche-

über die Spiegel-Affäre (1962), die zur Entlassung Paczenskys beitrug, vgl. Schuhmacher, Heidemarie (1995): Das frühe ›Panorama‹, in: Heller, HeinzB./Zimmermann, Peter (Hg.): Blicke in die Welt. Reportagen und Magazine des nordwestdeutschen Fernsehens in den 50er und 60er Jahren, Konstanz: UVKMedien Ölschläger, S. 111 f. 78 Vgl. dazu Ertel, Dieter (1994) in: Zimmermann, Peter: Fernseh-Dokumentarismus. Bilanz und Perspektiven, Konstanz: UVK-Medien Ölschläger. 79 Vgl. Schreyer, Klaus (1989): Einübung in Demokratie und Gesellschaft, in: Steinmetz, Rüdiger/Spitra, Helfried (Hg.): Dokumentarfilm als Zeichen der Zeit, München: UVK-Medien Ölschläger, S. 9 f.

          

matischen, vom Konsens der Adenauer-Ära80 geprägten Berichterstattung der Bundesrepublik.81 Mit der Entwicklung einer medienkritischen Öffentlichkeit und den Einflüssen aus Literatur und Theater, dem Oberhausener Manifest von 1962 und dem jungen deutschen Film (Alexander Kluge, Werner Herzog, Ulrich Schamoni, Volker Schlöndorff, Wim Wenders) entstand eine breite Bewegung gegen die „traditionellen bildungsbeflissenen und meist etwas biederen Kino-Kulturfilme ebenso […] wie gegen die journalistisch geprägten Formen des Fernseh-Dokumentarismus“.82 Neben den Fernsehspielabteilungen, die auch längere Dokumentarfilme förderten, waren gerade die Kulturredaktionen an künstlerischer Gestaltung und Innovation interessiert und förderten neue dokumentarfilmische Experimente. Besondere Beispiele hierzu finden sich etwa in der Kulturabteilung des WDR unter der Leitung von Klaus Simon, der mit den Reihen DER DICHTER UND SEINE STADT und LITERARISCHE ZENTREN neue Formen des filmischen Feuilletons erprobte, die breite Anerkennung fanden. Filmautoren wie Michael Mrakitsch (GARCIA LORCA UND GRANADA, 1965), Thomas Schamoni (FAULKNER UND JEFFERSON, 1967) und Georg Stefan Troller (PARIS 1925. SHAKESPEARE UND CO, 1966) zeichneten sich durch einen betont subjektiven und ebenso psychologisch wie künstlerisch ambitionierten Stil aus, der durch vieldeutige Interpretation dem Zuschauer die Möglichkeit zum Miterleben offenhielten und „durch Konzentration auf

80 Ausführlich zu den Schwierigkeiten innovativer Formate im Fernsehen und zur ambivalenten Haltung zwischen neuen Formen des Dokumentarfilms und dem Fernsehen vgl. Zimmermann 2006, S. 91 f. 81 Parallel dazu dienten die im Fernsehen wie Kino gezeigten DEFA-Dokumentarfilme bis in die 1960er-Jahre vornehmlich der ideologischen Ausrichtung und der Propaganda für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, ab Mitte der 1960er Jahre und im Zuge einer neuen Generation von Filmemacherinnen und Filmemacher wie Volker Koepp, Barbara und Winfried Junge oder Jürgen Böttcher wurde der Dokumentarfilm distanzierter, beobachtender, und – im Rahmen staatlicher Zensur – kritischer. Während die große Propaganda vom Fernsehen betrieben wurde, gelang es den DEFA-Produktionen, sich indirekt Freiräume zu erschaffen, die sich vor allem in Alltagsbeobachtungen widerspiegelten. Vgl. Zimmermann 2006, S. 87. 82 Zimmermann 2006, S. 89.

     

 

     

einen Ausschnitt die enge Verbindung von Biografie, Lebenswerk, Lokalkolorit und Zeitgeist“ aufzeigten.83 Unter dem Einfluss von direct cinema und cinéma vérité zeichnete sich seit Mitte der 1960er Jahre ein Wandel im Fernsehdokumentarismus ab, insbesondere durch die Arbeiten von Klaus Wildenhahn, der in seinen frühen Filmen (z.B. über die Parteitage der CDU, CSU, und SPD 1964) am radikalsten Tendenzen des zeitkritischen Journalismus mit avantgardistischen Strömungen des direct cinema verband. Die neue Richtungsgabe hieß also weg von journalistisch-kommentierenden hin zu dokumentarfilmischen Stilformen. Durch das Eintreten des teilnehmenden Beobachtens rückte bei Wildenhahn das Alltägliche, scheinbar Zufällige und dadurch zum Authentischen Erhobene programmatisch ins Zentrum seiner Dokumentarfilmkonzeption, die gegen Darstellungskonventionen des Fernsehens, gegen die „Redseligkeit des durchlaufenden Kommentars, der die Filmbilder zu illustrativen Belegen des Behaupteten macht“84, opponierte. Auch Filmautoren wie Hans Dieter Grabe knüpften in den späten 1960er und -70er Jahre an diese Neuorientierung an. Diese äußerte sich nicht zuletzt auch in fernsehkritischen Sendereihen wie Ludwig Metzgers GLASHAUS, die versuchten, der Forderung nach Transparenz der Medien gerecht zu werden. In Abgrenzung gegen den weit verbreiteten Kommentar-Journalismus ging es nunmehr darum, die filmischen Qualitäten zu betonen und vor allem all jenen zum Ausdruck zu verhelfen, die bislang in der Gesellschaft und den Medien zu kurz gekommen oder zu Randgruppen und Außenseitern geworden waren. „Schlagworte wie ,Gegenöffentlichkeit‘ und ,Betroffenheitsjournalismus‘“, so Zimmermann, „bezeichnen ein Klima, in dem sich ein neues Fernsehrepertoire entfaltete: von der politisch engagierten Reportage und dem beobachtenden Dokumentarfilm, der auf die gängigen Kommentare bewusst verzichtete, bis hin zum Porträt-, Interview- und Gesprächsfilm.“85 Aus diesen Tendenzen heraus etablierte sich erst Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre im bundesdeutschen Fernsehen allmählich der Interviewdokumentarismus/der Interviewfilm als eigenständige dokumentarische

83 Zimmermann 1994b, S. 261. 84 Berg-Ganschow/Zimmermann 1991, S. 242. 85 Zimmermann 1994a, S. 11.

          

Methode.86 Während sich im direct cinema der/die Filmemacher/in in die Rolle des Betrachtenden zurückzieht, der nicht in den Ablauf der Ereignisse eingreift und das Ziel verfolgt, sowohl über die Struktur als auch über die Chronologie der Ereignisse dem Zuschauer den Eindruck einer vorgefundenen und aus der Beobachtung heraus aufgenommenen Wirklichkeit zu vermitteln, entwickelt sich der Interviewfilm nach Bill Nichols als eine Reaktion genau darauf: Das Interview ermöglicht dem dokumentarischen Arbeiten neue Ebenen der Interpretation zeitgeschichtlicher Ereignisse und entwickelt Strategien von gesellschaftskritischer Gegenöffentlichkeit (Randgruppen, Außenseiter, Frauen, Arbeiter kommen zu Wort), auch aus einer Nähe zu den Protest- und Alternativbewegungen und dem politischen Engagement junger Filmemacher/innen heraus, die Anfang der 1970er Jahre frisch von den Filmhochschulen kamen und – von den Fernsehspielabteilungen der Sender gefördert – mit ihren Filmen Widerstand gegen Benachteiligung, Ungerechtigkeit oder Ausgrenzung leisten wollten.87 Gleichzeitig entwickelt sich ein Interesse an persönlichen Geschichten und Schicksalen, das auf einen gesellschaftlichen wie geschichtswissenschaftlichen Paradigmenwechsel weg von allwissenden Erklärungsmustern hin zum Personalisierten zurückzuführen ist.            !  Dem dokumentarfilmischen Interview wird eine ausschlaggebende Rolle in der Entwicklung des Fernsehdokumentarfilms zugesprochen. Durch den gesteigerten Authentizitätseindruck der Interviewäußerungen habe er „eine völlig veränderte Behandlung der Sprache im Dokumentarfilm zur Folge“.88 Gleichzeitig habe der Interviewdokumentarismus laut Thomas Koebner mit dazu beigetragen, das Fernsehen dem Film und dem Theater

86 Vgl. Hißnauer 2011. 87 Vgl. Zimmermann 2006, S. 90. 88 Schändlinger 1998, S. 197.

     

 

     

als Kunstform gleichzustellen.89 Vor allem an den Interviewfilmen Eberhard Fechners, die in der zeitgenössischen Auseinandersetzung dem Fernsehspiel (später Fernsehfilm)90 zugeordnet wurden, wird diese Leistung festgemacht. Gemeinsam mit Arbeiten von Erika Runge (WARUM IST FRAU B. GLÜCKLICH?, 1968) und Hans-Dieter Grabe (MENDEL SCHAINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND, 1972) etablierte Fechner das Interview als eigenständige dokumentarische Darstellungsform. Das (dokumentarfilmische) Interview91 avancierte von seiner Funktion als Vorstufe zur Realisation bzw. als Recherchemittel zum eigenständigen Ausdrucksmittel hin zur speziellen Darstellungsform, welcher Archivmaterial und Alltagsbeobachtung untergeordnet waren. Auch in der Sendung TELECLUB des Bayerischen dritten TV-Programms förderte der Leiter Helmuth Haffner junge Regisseure wie Hans-Jürgen Syberberg (ROMY. PORTRÄT EINES GESICHTS, 1967), die sich Personen und ihren Geschichten näherten. Bis zum Erreichen dieses Stellenwerts im dokumentarischen Arbeiten, also bis zur Etablierung des Interviewdokumentarismus als spezifische Darstellungsform, galt es zunächst einmal, überhaupt Menschen als Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. Vereinzelte Vorläufer, wie etwa die vom Süddeutschen Rundfunk zwischen 1962 und 1965 produzierte Reihe AUGENZEUGEN BERICHTEN ÜBER SCHLAGZEILEN VON GESTERN, geben Interviews einen Raum, wenngleich hier der Ereignisbezug und nicht die Le-

89 Koebner, Thomas (2000/1973): Zur Typologie des dokumentarischen Fernsehspiels, in: Ders.: Vor dem Bildschirm. Studien, Kritiken und Glossen zum Fernsehen. St. Augustin: Gardez, S. 143. 90 Die Bezeichnung Fernsehspiel, heute vom Begriff Fernsehfilm abgelöst, wurde auch damals als fiktionale Form verstanden, vgl. Hißnauer 2011, S. 288 f.; Hißnauer vermutet den Grund für die Wahrnehmung zahlreicher dokumentarischer Produktionen der 1960er/70er Jahre als Fernsehspiel in ihrer Realisation in den Fernsehspielabteilungen von WDR und NDR oder beim KLEINEN FERNSEHSPIEL

des ZDF unter der Leitung Eckart Steins, vgl. auch Berg-Walz, Benedikt

(1995): Vom Dokumentarfilm zur Fernsehreportage, Berlin: Verlag für Wissenschaft und Forschung, S. 84 f. 91 Im Unterschied zum journalistischen Interview (Recherche- und ReportageInterview), vgl. Hißnauer 2011, S. 298.

         

bensgeschichten (oder zumindest Teile der Lebensgeschichten) der Protagonisten im Vordergrund steht.92 Thematisch betrachtet, tauchen Anfang der 1960er Jahre die ersten Zeugen auf, die vor allem über ihre Erlebnisse im Nationalsozialismus berichten, die jedoch, neben Archivmaterialien und Voice-Over-Kommentaren, zunächst die Faktizität der Ereignisse bestätigen wie etwa in der vierzehnteiligen Reihe DAS DRITTE REICH (1960/61).93 Wie Judith Keilbach feststellt, findet allmählich eine Entwicklung der Funktion der Zeitzeugen statt, die sich im Kontext der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit verändert: „Die Zeugen transformieren sich in Zeitzeugen und beglaubigen nicht mehr historische Fakten, sondern konstruieren Geschichte. Mit diesem Wechsel vom juristischen in den historischen Diskurs rücken das Alltägliche und die Erfahrungsdimension von Geschichte in den Mittelpunkt. Gleichzeitig erfährt der Begriff des Zeugen eine erhebliche Ausweitung, da er sich nun nicht mehr auf Augenzeugen von besonderen historischen Ereignissen beschränkt, sondern alle umfasst, die den Nationalsozialismus erlebt haben.“94

Die Entwicklung nimmt bereits Mitte/Ende der 1960er Jahre rasant zu und es bilden sich prägende Vorgehensweisen und Charakteristika des Interviewdokumentarismus heraus. Vergleicht man beispielsweise die Filme GAMMLER – AUSWEG UND UMWEG (Bernhard Schütze, 1966), DIE TRÜMMERFRAUEN VON BERLIN (Hans-Dieter Grabe, 1968) und WARUM IST FRAU B. GLÜCKLICH? (Erika Runge, 1968), so lassen sich folgende Ansätze differenzieren: Der Interviewdokumentarismus zeichnet sich dadurch aus, dass die Filme auf den Interviews mit den Protagonisten/innen basieren, doch die Interviewsituation in der Montage weitestgehend aufgelöst wird. In der Regel geht es in den Interviews primär darum, (Teile der) Lebensgeschichten zu erfahren und die handelnden Personen in ihren Eigenheiten kennenzulernen. In der Montage wird aus dem oder den Interviews eine Erzählung gestaltet, eine vor allem von Eberhard Fechner entwickelte Form. Die von

92 Hißnauer 2011, S. 20. 93 Vgl. Keilbach 2003, S. 160. 94 Keilbach 2008, S. 140.

     

 

     

Fechner eingeführte Bezeichnung „Erzählfilm“ kann daher synonym für Interviewdokumentarismus/-dokumentarfilm verwendet werden. Die Zeit Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre markiert demnach einen Wendepunkt und zugleich den Anfang einer dokumentarfilmischen Fokussierung auf lebensgeschichtliche Erzählungen. In dieser Phase der Verlagerung des Augenmerks auf eindringlich erzählte und dargestellte Erfahrungen zugunsten einer steigenden Bereitschaft, über das Kennenlernen einzelner Menschen und ihrer persönlichen Schicksale Informationen aufzunehmen und zu durchdenken, stechen Hans-Dieter Grabes Film MENDEL SCHAINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND (1972) und Eberhard Fechners NACHREDE AUF KLARA HEYDEBRECK (1969) heraus. Nach Syberbergs ROMY. PORTRÄT EINES GESICHTS (1967), der sich einer einzigen Protagonistin widmet und ihren intimen Aussagen viel Platz einräumt, um der Person hinter der Persönlichkeit näherzukommen, streben Filmemacher/ -innen die Nähe zu den Personen, denen sie ihre Aufmerksamkeit widmen, verstärkt an – und zwar gewöhnlichen Menschen, die im Zuge historischer und gesellschaftlicher Umbrüche oder Zwänge Leiderfahrungen erlebt haben und bereit sind, über diese öffentlich zu sprechen. Dieser Paradigmenwechsel ist mitunter auch, wie in der Geschichte des Dokumentarfilms vielfach bemerkt, der technischen Entwicklung zugunsten einer vereinfachten Handhabung durch die neu entwickelte Synchrontonkamera zu verdanken.95 Eine allgemeine Sensibilisierung gegenüber persönlichen Lebenserfahrungen verweist jedoch vielmehr auf gesellschaftlich sich etablierende Diskurse, hier vor allem auf ein erwachendes Interesse für die persönlichen Geschichten der Holocaust-Überlebenden sowie der Oral-History-Bewegung. Als Katalysator für diese Entwicklung gilt das 1961 in Israel stattfindende Verfahren gegen Karl Adolf Eichmann, ehemaliger SS-Obersturmbandführer, das als weltweites Medienereignis eine Zäsur in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust darstellt.96 Nach Claudia Bruns et al. waren es „die vielen Zeugenaussagen dieses aufsehenerregenden Prozesses, die einen Einblick in das Ausmaß der Verbrechen

95 Vgl. Zimmermann 2006, S. 90. 96 Vgl. Bruns, Claudia/Dardan, Asal/Dietrich, Anette (2012b): Zur filmischen Erinnerung an den Holocaust, in: Dieselb. (Hg.), Welchen der Steine du hebst. Filmische Erinnerung an den Holocaust, Berlin: Bertz + Fischer, S. 28.

          

und vor allem der dadurch hervorgerufenen Traumatisierung der Opfer boten, für die es vorher selbst im psychiatrischen Diskurs kaum ein Bewusstsein gab“97. Die Mediatisierung des Eichmann-Prozesses initiierte demnach ein sich langsam entwickelndes öffentliches Interesse an die persönlichen Erlebnisse und Lebensgeschichten der Überlebenden, das bis dahin generell eher den Tätern und Mitläufern vorbehalten war.98 Zwar entstanden Anfang der 1960er Jahre einige Spiel- wie Dokumentarfilme, die sich mit der Verfolgung und Ermordung der Juden kritisch auseinandersetzten, wie die 14teilige Reihe DAS DRITTE REICH (1960/61), die zur politischen Aufklärung der westdeutschen Öffentlichkeit beitragen sollten,99 dennoch waren persönliche Erzählungen von Zeitzeugen bis Ende der 1960er Jahre nur spärlich vertreten.100

97

Ebd.

98

Auch das Täterbild unterlag in der medialen Verhandlung einem ständigen Wandel, wobei bis um 1990 kaum differenzierte Betrachtungen von Einzelpersonen und ihren Entscheidungsdilemmas innerhalb des Nationalsozialistischen Regimes angestellt wurden, sondern relativierende Deutungsmuster (Bild der Deutschen als Opfer des NS-Regimes, Diabolisierung einzelner Tätergruppen) den Diskurs beherrschten. Den Wandel des Täterbildes in der deutschsprachigen Filmproduktion hat etwa der Historiker Frank Bösch nachgezeichnet, vgl. Bösch, Frank (2007): Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von „Holocaust“ zu „Der Untergang“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 55.1, S. 1-32.

99

Vgl. Bruns et al. 2012, S. 29.

100

In der Reihe DAS DRITTE REICH kamen maximal ein bis zwei Prominente als Zeitzeugen und Repräsentanten der jüdischen Verfolgten pro Folge vor, die „als Experten vorher formulierte Texte ablasen“, Bösch, Frank (2008): Geschichte mit Gesicht, in: Wirtz, Rainer/Fischer, Thomas (Hg.), Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz: Uvk, S. 56.

         

     

              Die Fokussierung der Dokumentarfilme auf lebensgeschichtliche Erzählungen hängt eng mit einem geschichtswissenschaftlichen Paradigmenwechsel zusammen, der durch den Einzug der Oral History101 als Methode gekennzeichnet ist. Die folgenden Überlegungen werden Gemeinsamkeiten wie gegenseitige Beeinflussung adressieren, um den Zusammenhang zwischen den Anfängen des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms und seiner weiteren Entwicklung im Kontext plurimedial vermittelter Aushandlungsprozesse zu erfassen und ästhetische wie gesellschaftspolitische Dimensionen der Filmproduktion und -rezeption miteinander zu verbinden. Die Analyse filmästhetischer Verarbeitungsmuster kann nur in Zusammenhang mit den jeweiligen historischen Diskursen und erinnerungspolitischen Kontexten betrachtet werden, um Aussagen über Möglichkeiten und Grenzen filmischer Rekonstruktion von Erinnerung und Vergangenheit zu treffen. Wenn auch filmische Darstellungen der Vergangenheit an spezifische Regeln des Mediums gebunden sind und dadurch „,Geschichten‘ aus der Geschichte“102 präsentieren, greifen sie bestehende Diskurse auf und beeinflussen diese gleichzeitig. Sie inszenieren Vergangenheit und dadurch modifizieren, vereinfachen oder verfremden sie komplexe Wirklichkeiten und gestalten in zentraler Weise die öffentliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen mit. Biografische Dokumentarfilme erkennen gleichermaßen wie Oral-History-Bewegungen den gesellschaftspolitischen Wert der Thematisierung von Einzelschicksalen und von individuellen Erzählungen über zeitgeschichtliche Ereignisse. Sie fragen danach, bis zu welchem Grad historisches Wissen und erfahrene Geschichte in der Erinnerung selektiert, ausgeblendet und überblendet wurde und weisen da-

101 Zu Oral History und ihrer Entwicklung im deutschsprachigen Raum vgl. Niethammer, Lutz (Hg.) (1980): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der Oral History, Frankfurt a.M.: Syndikat. 102 Wende, Waltraud (2002): Medienbilder und Geschichte. Zur Medialisierung des Holocaust, in: Dies. (Hg.): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 13.

          

rauf hin, dass mit ihren Erinnerungen Zeitzeugen die Erfahrungsdimension von Geschichte zugänglich machen.           

  Eine breite Öffnung gegenüber persönlichen Erfahrungen von Zeitzeugen und das Aufkommen eines dokumentarfilmischen Interesses gegenüber Lebensgeschichten ,gewöhnlicher‘, d.h. der Öffentlichkeit nicht bekannter Menschen erfolgte etwa zeitgleich mit den Anfängen der Oral History und der Bewegung einer „Geschichte von unten“.103 Die Oral History, die als jener Zweig der Geschichtsforschung gilt, der das kommunikative Gedächtnis abdeckt,104 lebt vor allem von dem Niederschlag der großen Geschichte im Kleinen, im Alltäglichen – und ist damit nicht ereignisgebunden. In der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft tauchen Zeitzeugen zunächst im Zusammenhang mit der Erforschung von Alltagsgeschichte auf, die in den 1980er Jahren durch die Oral History eine Fundierung erfährt.105 Während sich die Oral History mit ihren neuen Fragestellungen und Perspektiven in den USA bereits in den 1960er Jahren durchzusetzen begann, kam sie hierzulande mehr als ein Jahrzehnt später zur Anwendung. Laut Lutz Niethammer erklärt sich diese Verspätung als Folge der Erfahrung im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, da Erinnerungen zunächst aufgrund der Verdrängungs- und Entschuldigungsstrategien häufig als wenig glaubwürdig galten.106 In Anlehnung an den Historiker Michael Wildt drängt sich der Verdacht auf, dass die Oral-HistoryBewegungen in der Bundesrepublik mitunter ein spätes Aufkommen erfuhren, weil Justiz und Wissenschaft von der „Tätergeneration“ durchdrungen waren. Diese setzte bis zu einem Generationswechsel die sozialen und gesellschaftlichen Rahmen, um individuelle Erinnerungen zu verhindern. Der Wechsel manifestiert sich laut Wildt in einer Wendung der HolocaustGeschichtsschreibung: Die Täterperspektive wird von einer „integrierten 103 Niethammer 1980. 104 Vgl. Erll 2005a. 105 Vgl. Keilbach 2008, S. 193 f. 106 Vgl. Niethammer 1980, S. 7 f.

         

     

Geschichte“ abgelöst, wie sie Saul Friedländer in den 1980er Jahren entwickelte.107 Wenn die soziale Interaktion und Kommunikation das Gedächtnis konstituieren und für individuelle Erfahrungen Rahmungen schaffen, so mussten zunächst für die „jüdische Dimension“ (Friedländer) Voraussetzungen erschaffen werden, in denen gemeinsame Erinnerung möglich war. Angesichts dieses Paradigmenwechsels durch veränderte Rahmenbedingungen machten sich allmählich nicht nur Zeitzeugenarchive,108 sondern auch Dokumentarfilme und dokumentarische Sendungen die Praxis der Oral History, Interviews mit gewöhnlichen Menschen zu führen, zu eigen. Judith Keilbach betont dabei die prägende Rolle des Fernsehens: „Insbesondere im Fernsehen, das in seinen informierenden Programmelementen seine Autorität durch Anlehnung an gesellschaftlich schon etablierte Autoritäten naturalisiert, kommen zunehmend ,Durchschnittsmenschen‘ als Zeitzeugen des Nationalsozialismus zum Einsatz. Deren Auftreten ist nicht zuletzt dadurch möglich und plausibel geworden, dass auch in der Geschichtswissenschaft die Aussagen ,gewöhnlicher‘ Leute als legitime Quelle Anerkennung fanden.“109

Diese Legitimierung der Haltung gegenüber Zeitzeugen kann auch als eine sich allmählich durchsetzende Authentifizierungsstrategie gelten, da Aussagen von Überlebenden und Zeitzeugen eine Zentralreferenz bilden, um die Echtheit der an sich inszenierten Erzählungen zu bekräftigen – bei Historikern wie Saul Friedländer ein Mittel, um die konventionelle Historio-

107 Zur Kontroverse zwischen Martin Broszat, damaliger Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München, und Saul Friedländer vgl. Wildt 2012, S. 303 f. 108 Erwähnt sei hier als spätes, jedoch prominentes Beispiel das Visual History Archive der Shoah Foundation, die Steven Spielberg 1994 mit dem Ziel gegründet hat, möglichst viele Zeitzeugeninterviews über den Holocaust aufzuzeichnen und sie für die Nachwelt zu sichern. Ende 1999 lagen rund 52.000 Interviews vor, die heute in dem Visual History Archive des Shoah Foundation Institute for Visual History and Education der University of Southern California archiviert sind, vgl. das Visual History Archive an der Freien Universität Berlin 2000, www.vha.fu-berlin.de [zuletzt gesichtet am 30.12.2014]. 109 Keilbach 2008, S. 194.

          

grafie durch den Bezug auf Elemente der Oral History zu ergänzen oder zu konkretisieren.110                 Der Versuch, Lebensgeschichte kritisch zu vergegenwärtigen und Erinnerung – persönliche und historische, individuelle und generationelle – in den Mittelpunkt zu rücken, ist von einer wechselvollen Interrelation mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und Paradigmenwechsel gekennzeichnet. In seinem Aufsatz „Eine Reise durch das Gedächtnis unserer Bewegung. Vier paradigmatische Revolutionen in der Oral History“ zeichnet Alistair Thomson die wesentlichen Etappen der Oral History nach, die deutliche Merkmale der Entwicklung dokumentarfilmischer Zugriffe auf erzählte Lebensgeschichte aufweisen: die Renaissance des Gedächtnisses als einer Quelle für Geschichte von unten; die Entwicklung einer postpositivistischen Herangehensweise an Subjektivität und Gedächtnis seit Ende der 1970er Jahre; und eine Neuverhandlung der Rolle der Interviewer seit den späten 1980ern.111 Diese paradigmatischen Etappen oder Wendepunkte finden sich auch in der Entwicklung des biografischen Dokumentarfilms wieder, von der Entdeckung der Zeitzeugen und ihrer wirkungsmächtigen Präsenz auch über juristische Verfahren hinaus bis hin zur Veränderung der Einstellung zur Objektivität und der Thematisierung der dynamischen Interaktion zwischen Erzähler/in und Interviewer/in. Insbesondere die Anerkennung der individuellen Aussagen als Evidenzen auf der Suche nach einer historischen Wahrheit und die Anerkennung des juristischen Wertes der mündlichen Überlieferung spielten sowohl für die Geschichtswissenschaft als auch für den Dokumentarfilm eine wichtige Rolle. Im Zuge der kulturwissenschaftlichen Erforschung der Beziehung von Gedächtnis und Geschichte seit den 1980er Jahren erkannte man auch die Subjektivität von 110 Vgl. Elm 2008, S. 105. 111 Thomson, Alistair (2007): Eine Reise durch das Gedächtnis unserer Bewegung: Vier paradigmatische Revolutionen in der Oral History, in: Heinritz, Charlotte et al. (Hg.): BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Sonderheft (20. Jahrgang), Leverkusen: Barbara Budrich, S. 21.

         

     

Erinnerung an und begriff ihre Unzuverlässigkeit als eine Stärke: Die Erinnerung und ihre spezifischen Merkmale weisen nicht allein auf Dimensionen historischer Erfahrung hin, sondern auf die komplexe Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, individueller und kollektiver Erinnerung und persönlicher Identität und Erinnerung.112 Zahlreiche Studien beschäftigten sich mit der Beziehung zwischen gesellschaftlich vorherrschenden Diskursen und Ideologien und ihrem Einfluss auf die Erinnerung des Einzelnen. In den Mittelpunkt der Betrachtungen rückte schließlich die Frage danach, wie Menschen sich ihrer Vergangenheit erinnern, wie sie ihre individuelle Erfahrung mit den sozialen Rahmen in Beziehung setzen und wie die Gegenwart die Wahrnehmung der Vergangenheit formatiert – aber auch, wie die Vergangenheit ein Teil der Gegenwart wird.113 Auf dem Gebiet der Erinnerungsarbeit – ob in der qualitativen Sozialforschung, der Anthropologie, Psychologie oder den feministischen Theorien – wurde in den 1980er Jahren die positivistische Auffassung von der Objektivität des Forschers/der Forscherin in Frage gestellt und zugunsten einer reflexiven Aufmerksamkeit genutzt. Für den biografischen Dokumentarfilm galt spätestens seit Anfang der 1990er Jahre, dass nicht nur die Erinnerung selbst, sondern auch der Prozess der Darstellung von Erinnerung filmisch zu reflektieren sei und der Grad der persönlichen Implikation von Seiten der Filmemacher/innen in die filmische Arbeit integriert werden sollte. Vor allem der autobiografische Dokumentarfilm erfuhr in diesem Zuge einen Aufbruch seit den Neunzigern: Zahlreiche Filmemacher/innen überwanden die Barriere der eigenen subjektiven Enthaltung zugunsten expliziter Verweise auf die persönliche Motivation, Implikation und Annäherung an die Thematik, vor allem bei der Befragung eigener Familienangehöriger wie Eltern oder Großeltern. Repräsentative (internationale) Beispiele für den offensiven Umgang mit der subjektiven und autobiografischen Perspektive der Regisseure/innen sind Filme wie VERRIEGELTE ZEIT (1990) von Sybille Schönemann, CHOICE AND DESTINY (1993) von Tsipi Reichenbach, AMOR FATI (1996) von Sophie Kotanyi oder NOBODY’S BUSINESS (1996) von Alan Berliner.

112 Vgl. Thomson 2007, S. 23 f. 113 Ebd.

          

          Wie sehr auch die Verhandlung von Interviewten und die Verfahren differieren, mit denen Dokumentarfilme die individuelle Erinnerung von Zeitzeugen inszenieren: Die Erfahrungsdimension von Geschichte wird durch den Einsatz von Interviews oder Gesprächen akzentuiert. Indem sie ihre persönlichen Erlebnisse schildern, werden die historischen Ereignisse in ihrer jeweils konkreten Bedeutung für die Menschen nachvollziehbar. Wie bei Oral-History-Ansätzen eröffnen die Interviews damit einen Zugang zur Vergangenheit, der erst im Kontext ihrer Interpretation, medialen Verarbeitung, Tradierung und Archivierung den Eingang ins kulturelle Gedächtnis findet. Die gegenseitige Beeinflussung von Oral-History-Ansätzen und dokumentarfilmischer Verhandlung von Zeitzeugen lässt dabei auf eine doppelte Bewegung schließen: Einerseits haben Methoden der Oral History Dokumentarfilmemacher/innen beeinflusst,114 andererseits agierten Filmemacherinnen und Fernsehautoren als investigative Ermittler, die aufgrund der ausführlichen Gespräche mit Zeitzeugen neue Quellen auf der Suche nach Tätern und Opfern erhoben. Das Gespräch mit ihnen und die Recherche vor Ort zeigten vielfach die Schwierigkeiten der Aufarbeitung und stießen ein Gespräch zwischen den Generationen an, was auch als Impuls für die Etablierung der Oral History betrachtet wird.115 Die dokumentarfilmische Produktion NAILA. LEBEN UND ARBEITEN IM FRANKENWALD (1983) von Wolfgang Ruppert, ausgestrahlt im Bayerischen Fernsehen, Redaktion Sozialpolitik, die den bis dahin verdrängten Todesmarsch von KZHäftlingen am Ende des Zweiten Weltkriegs thematisiert, verdeutlicht, welche Schwierigkeiten in der erinnerungskulturellen Arbeit noch Anfang der 1980er Jahre herrschten. Der Kulturhistoriker Wolfgang Ruppert, der sich in den 1980er Jahren historischen Fragestellungen dokumentarfilmisch nähert und sich in seinen Werken einer Geschichte von unten verpflichtet fühlt, berichtet von dem Unwillen in der Ortschaft Naila, sich zu erinnern, von der Kommunikationsverweigerung und den erheblichen Protesten seitens lokaler Politiker.116

114 Vgl. Zimmermann 2006, S. 88. 115 Vgl. Bösch 2008, S. 65. 116 Ruppert 2011 im Gespräch mit der Autorin (Kolloquium vom 12.01.2011 an der Universität der Künste Berlin). Zu der Auseinandersetzung mit Geschichte

         

     

Dokumentarfilme, die lebensgeschichtliche Interviews in ihre Struktur einbauen, teilen mit der Oral History das Interesse an subjektiven Alltagsgeschichten und an historischen Erfahrungen. Fragen nach Mehrdeutigkeiten, Intentionen und Wirkungen tauchen auf beiden Seiten auf. Dennoch unterscheiden sich die Interviews deutlich voneinander, nicht nur in Bezug auf den Verwertungszusammenhang und die Ausgangsmotivationen, etwa im Hinblick auf forschungsgeleitete Fragestellungen bei den geschichtswissenschaftlichen Interviews. Die filmischen Interviews orientieren sich im Vergleich zu den historischen stärker an gegenwärtigen Auswirkungen der Vergangenheit, und ihre Auswahl unterliegt gestalterischen Kriterien. Ihre narrative Struktur, innerhalb derer sie ganz unterschiedliche Formen historischen Wissens produzieren, weist in der Entwicklung des Dokumentarfilms erhebliche formale Unterschiede auf: Sie können die Prozesshaftigkeit von Erinnerung sinnlich erfahrbar machen, reflektieren mediumspezifische Möglichkeiten der Darstellung von Erinnerung und arbeiten bewusst mit Strategien der Affizierung und Authentisierung. Durch verbale und nonverbale Verhaltensweisen der Zeugen – von der Art der Formulierung, der Betonung, dem Grad der sichtlichen Emotionalisierung (zittrige Stimme, Ausbruch in Tränen) bis hin zu Körpersprache, nonverbale Verhaltensweisen oder Schweigen – manifestiert sich in ihnen eine ganz andere Ebene der Vermittlung. Nicht nur die Art zu sprechen (oder nicht zu sprechen), die Formulierungen und ihre Betonung in den Gesprächen sind von Relevanz, sondern gleichermaßen charakterisierende Verhaltensweisen, Setting, Art der Inszenierung und mediumspezifische Organisationsprinzipien. Die Relevanz von visuellen Informationen spielt jedoch, zumindest aus der Perspektive des Geschichtswissenschaftlers Albert Lichtblau, auch für die Oral History eine immer wichtigere Rolle, da sie verstärkt audiovisuelle Medien in ihre Arbeit integriert und ihre Methoden der Wissensgenerierung danach auszurichten beginnt.117 Audiovisuelles Arbeiten eröffnet,

und Lebensgeschichte vgl. auch Ruppert, Wolfgang (Hg.) (1982): Erinnerungsarbeit: Geschichte und demokratische Identität in Deutschland, Opladen: Leske + Budrich. 117 Vgl. Lichtblau, Albert (2007): Wie verändert sich mündliche Geschichte, wenn wir auch sehen, was wir hören? Überlegungen zur audiovisuellen Geschichte, in: Leh, Almut/Niethammer, Lutz (Hg.): BIOS Zeitschrift für Bio-

          

so Lichtblau, tiefe Einblicke in individuelle wie kollektive Erinnerungskulturen und gestattet eine Kontextualisierung der Erinnerungen, die ihre Konkretisierung auch in dinglichen Manifestationen erfahren. Dabei kann sich das Arbeitsfeld der Oral History auf (dokumentar-)filmwissenschaftliche Diskussionen über Gedächtnis, Narrative und die Analyse von bewegten Bildern stützen, die wertvolle Erkenntnisse für das analytische und praktische Instrumentarium der audiovisuellen Geschichte liefern.118 Albert Lichtblau plädiert dafür, „den Bereich der historischen Dokumentarfilme nicht alleine Nicht-Historikerinnen zu überlassen. Damit dies nicht geschieht, sollte bereits die universitäre Ausbildung dieses berufsorientierte Fach nicht außer Acht lassen“.119 Gleichzeitig macht er auf die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Wissensgenerierungen der beiden Felder aufmerksam: „Es wird dennoch eine besondere Herausforderung auf Seiten der Audiovisual Historians sein, diese Quellen mit wissenschaftsimmanenten Methoden und Theorien adäquat in wissenschaftlichen Texten zu verwerten.“120 Wie auch der Historiker Michael Wildt für eine verstärkte Interaktion und ein interdisziplinäres Arbeiten zwischen Filmwissenschaft und Geschichtswissenschaft argumentiert,121 sieht Albert Lichtblau Potenzial für die Oral History in der verfahrensmäßigen Bezugnahme auf dokumentarfilmische Praktiken und auf Wissen aus filmwissenschaftlichen Reflexionen. Angesichts sich überschneidender Fragen von Validität und Authentizität bezüglich der Quellen erscheint eine sich gegenseitig informierende Betrachtung sinnvoll. Welche Implikationen sich daraus für den biografischen Dokumentarfilm im Umgang mit Zeitzeugen und historischem Bildmaterial ergeben, wird anhand der nachfolgenden Betrachtungen herausgearbeitet.

graphieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Sonderheft (20. Jahrgang), Barbara Budrich, S. 66 f. 118 Ebd. 119 Ebd. S. 73. 120 Ebd. 121 Vgl. Wildt 2012, S. 300 f.

     

 

     

   

        Mit der Etablierung des interviewbasierten Dokumentarfilms bzw. des Gesprächsfilms durch KLASSENFOTO (1970) und MENDEL SCHAINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND (1972) und im Anklang mit dem Aufkommen der Oral History in Deutschland entstanden unzählige Dokumentarfilme, die sich mit den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts aus lebensgeschichtlicher Perspektive auseinandersetzen. Bei ihrer Betrachtung stellen sich grundsätzliche Fragen nach der Rolle des biografischen Dokumentarfilms für die sich wandelnden historischen Interpretationszusammenhänge: Können die Katastrophenerfahrungen des vergangenen Jahrhunderts und der Gegenwart in dokumentarfilmischen Lebensgeschichten erzählt werden? Liegt die primäre Aufgabe des biografischen Dokumentarfilms darin, eine Vielzahl an persönlichen, lebensgeschichtlichen Perspektiven darzustellen, um die Umbrüche und strukturellen Veränderungsprozesse besser oder überhaupt zu verstehen? Biografische Dokumentarfilme fügen unzählige individuelle Erlebnisse und Erfahrungen, das Erlebte von einzelnen Personen, durch das Erzählen zu einem Ganzen. Dabei ist das Interesse an Lebensgeschichten im Dokumentarfilm Teil eines gesamtgesellschaftlichen Interesses an erzählter Biografie: Lebensgeschichten machen einen grundlegenden Teil der Literatur aus und sind integraler Bestandteil der Kulturgeschichte. Sie treten als basales kulturelles Muster hervor, mit dem wir uns selbst und andere wahrnehmen und verstehen. Die Literatur- und Medienwissenschaftler Peter Braun und Bernd Stiegler verorten Lebensgeschichte als eine soziale Wissensform und sprechen, in der Tradition der Wissenssoziologie und in Anspielung auf Peter Alheit, von einer biografischen Konstruktion von Wirklichkeit.122 Diese findet in Erzählungen statt, einer in unterschiedlichsten Kulturen und Medien tradierte Form, Lebenserfahrungen mitzuteilen. Dabei können die Motivationen für die Mittelung lebensgeschichtlicher Perspektiven ganz

122 Vgl. Braun, Peter/Stiegler, Bernd (2012): Die Lebensgeschichte als kulturelles Muster, in: Dies. (Hg.): Literatur als Lebensgeschichte. Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart, Bielefeld: transcript, S. 13.

         

unterschiedlich begründet sein und die öffentliche Thematisierung einer Lebensgeschichte erfüllt eine ganze Reihe sozialkommunikativer Funktionen.123 Grundsätzlich gilt festzuhalten, dass das Erzählen von Geschichten einem elementaren menschlichen Bedürfnis entspricht.124 Erzählungen sind Teil eines Identifikationsstiftungsprozesses sowohl für die/den Erzähler/in, als auch für die/den Rezipienten/in, wenn sie für letztere auf eine ihr in irgendeiner Weise vertraute Lebenswirklichkeit verweisen. Der Bezug zu Wirklichkeit stellt sich unter der Maßgabe der Rahmenbedingungen der jeweiligen Gegenwart her und die lebensgeschichtliche Erzählung ist stets in die narrative Kultur einer Gegenwart eingebunden, oder, um es mit dem Erzählforscher Alfred Lehmann zu formulieren: „Im Vorgang der Reflexion und der gedanklichen Rekonstruktion einer vergangenen Wirklichkeit und schließlich bei der Wiedergabe durch eine Erzählung verbindet sich die Gegenwart der aktuellen Situation mit den zurückliegenden Erlebnissen.“125 In seiner Studie zur kulturwissenschaftlichen Erzählforschung betrachtet Lehmann alles, was Menschen erzählen, als Ausdruck von Erfahrungen. Wiederrum lassen sich Erfahrungen nicht anders als erzählend vermitteln. In Anlehnung an Kant, der gesammelte Erfahrungen als die Voraussetzung unserer Weltsicht und Begriffsbildung erfasst, weist Lehmann darauf hin, dass wir Erfahrungen gemacht haben müssen, um die Welt zu verstehen. Gleichzeitig bildet das Erzählen die Grundlage für sinnstiftende Erfahrungsbezüge, die im Erzählen zu Geschichten gestaltet werden im Rückbezug auf bestimmte soziale und gesellschaftsgeschichtliche Umstände und Hintergründe: „Wenn wir auf der Basis von Erfahrungen unser Leben erzählen und interpretieren, müssen wir – was der wichtigste Standpunkt der Erfahrungsgeschichte und der Narrativistik ist – von der Gegenwart ausgehen. In ihr liegt die lebensgeschichtliche Dimension der Erfah-

123

Vgl. Heinze, Carsten (2010): Zum Stand und den Perspektiven der Autobiografie in der Soziologie, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 23 (2010), Heft 2, S. 202 f.

124

Den kritischen bis kulturpessimistischen Stimmen zum Trotz, wie sie beispielsweise Paul Ricœur vorgebracht hat, der behauptet, in unserer Kultur wüssten wir nicht mehr, was Erzählen sei (vgl. Ricœur 1983, Bd. 2, S. 51), ist keine Krise des Erzählens auszumachen: Jede historische Zeit, einschließlich der Gegenwart, hat ihre Erzählkultur, vgl. hierzu Lehmann 2007, S. 9.

125

Vgl. Lehmann 2007, S. 32.

     

 

     

rungen.“126 Das heißt mitunter, dass neue Erfahrungen von der jeweiligen Gegenwart aus unter dem Eindruck vorhergehender Erlebnisse stehen, gleichzeitig werden vorhergehende Erfahrungen neu gerahmt oder interpretiert, so dass letztlich artikulierte, also erzählte Erfahrungen eben diesen subjektiven Deutungen unterliegen und nur begrenzt als Wahrheit angenommen werden können.127 Zahlreiche hermeneutisch fundierte, qualitative kultur- und sozialwissenschaftliche Forschungsansätze beschäftigen sich mit der Qualität menschlicher Erinnerung an Erlebnisse aus der Vergangenheit. Sie alle heben die Gemeinsamkeiten von Erinnerung und Fiktion hervor und unterliegen der allgemeinen Annahme, dass es nicht möglich ist, zwischen ihnen zu unterscheiden.128 Für ein Medium, das die Konstruktion von Erinnerung thematisiert und sie in seiner eigenen medialen Beschaffenheit, als narrative Konfiguration, implizit oder explizit, selbstreferenziell adressiert, bedeutet diese Feststellung keineswegs eine Abkehr von der Erinnerung als aussagefähiger Prozess in Bezug auf Annäherungen an eine bestimmte Vergangenheit und eine pauschale Absage an die Leistungen des Gedächtnisses129 oder gar die Beförderung der Indifferenz gegenüber der historischen Realität. Vielmehr rücken im biografischen Dokumentarfilm eine Differenzierung der verschiedenen Dimensionen von Er-

126

Lehmann 2007, S. 11.

127 Ebd. 128

Ein aktueller Überblick findet sich etwa bei Lehmann 2007 oder Pethes 2008; Heinze spricht in diesem Zusammenhang von einer in der Erinnerungskulturforschung als Entessentialisierung des Erinnerten bezeichneten Hinwendung zum Wie des Erinnerns, das nur aus seinen zeitgebundenen, diskursiv geprägten Kontexten heraus verstanden werden kann, vgl. Heinze 2010, S. 224.

129

Für Aleida Assmann ist gerade der diskursive Raum zwischen Erinnerung und Fiktion für eine Annäherung an die Realität relevant: „Die Unzuverlässigkeit unseres Gedächtnisses in Rechnung zu stellen, heißt […] keineswegs, dass wir uns als Personen und Mitmenschen von Wahrheitsfragen, Pflichten und Verantwortung so einfach lösen könnten. Deshalb prüfen wir weiterhin unsere Erinnerungen und begleiten sie durch einen selbstreflexiven Diskurs […]. Dieser Diskurs, der zwischen Retention und Konstruktion, zwischen Authentizität und Erfindung oszilliert, ist notwendig, um eigene Erfahrungen zu bewerten und sich in der realen Welt zu verankern“, Assmann, A. 2006, S. 136.

          

innerung und Gedächtnis sowie die Möglichkeiten einer erzählerischen Rekonstruktion von Vergangenheit diskursiv in den Fokus. Biografische Darstellungen arbeiten mit einer Aufteilung der Aktivitäten in innere und äußere, private und öffentliche Bereiche – und bieten dabei die Illusion eines zusammenhängenden einheitlichen Lebens oder einer bestimmten Lebensspanne an, woraus sich auch die anhaltende Attraktivität der Biografie ableiten lässt.130 Lange Zeit konzentrierte sich die (Auto-) Biografieforschung jedoch auf ganzheitliche Lebensbeschreibungen bekannter Personen.131 Eine kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit den vielfältigen Formen und Formaten von Biografien und autobiografischen Darstellungen setzte erst in den achtziger Jahren mit „Live Writing“ ein – ein Begriff, der in der US-amerikanischen Forschung sämtliche Formen des (Auto-)Biografischen subsumiert. Seitdem wächst die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema. Gleichzeitig zeigt ein Blick in die gegenwärtige Medienlandschaft, dass biografische Darstellungen in jeglichen Vermittlungsformaten boomen und sie nach wie vor zum wichtigen Bestandteil gesellschaftlicher Diskurse gehören.132 Trotz des allgemein wachsenden Interesses an biografischen Darstellungen handelt es sich bei den Filmproduktionen überwiegend um Biografien von Persönlichkeiten des politischen, kulturellen oder künstlerischen Lebens. Alleine in den Jahren 2010-2015 entstanden zahlreiche porträtierende Dokumentarfilme.133 Während das Interesse an bekannten Persön-

130 Vgl. Mittermeyer, Manfred et al. (Hg.) (2009): Ikonen Helden Außenseiter: Film und Biographie, Wien: Zsolnay. 131 Vgl. Heinze, Carsten/Hornung, Alfred (Hg.) (2013): Medialisierungsformen des (Auto-)Biografischen, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. 132

Ebd., S. 5.

133

DANIEL SCHMID – LE CHAT QUI PENSE (Pascal Hofmann und Benny Jaberg, 2010), FRITZ BAUER – TOD AUF RATEN (Ilona Ziok, 2010), CHARLOTTE RAMPLING: THE LOOK (Angelina Maccarone, 2011), ROMAN POLANSKI – A FILM MEMOIR (Laurent Bouzereau, 2011), GERHARD RICHTER PAINTING (Corinna Belz, 2011), SING YOUR SONG (Susanne Rostock, 2011), PEPE MUJICA – DER PRÄSIDENT (Heidi Specogna, 2014), DAS SALZ DER ERDE (Wim Wenders, 2014), ERICH MIELKE – DER MEISTER DER ANGST (Jan Peter, 2014), DER RÜCKTRITT (Thomas Schadt, 2014), LE BEAU DANGER (René Frölke, 2014), YALOMS ANLEITUNG ZUM GLÜCKLICHSEIN (Sabine Gisiger,

     

 

     

lichkeiten und ihren Biografien eine Konstante in Biopics134 oder in der literarischen Landschaft darstellen, belegt das Interesse an lebensgeschichtlichen Darstellungen gewöhnlicher Menschen eine Sonderposition kultureller Praxis und alltagskultureller Wissenstradierung. Die Entwicklung der Dokumentarfilme mit lebensgeschichtlichem Charakter zeigt, dass sich die Gewichtung sowie die Strukturmerkmale in den unterschiedlichen Phasen des Ansatzes zum Teil stark verändert haben: In der Entstehungszeit prägte die Filme ein Oral-History-Stil und sie waren vor allem daran interessiert, grundlegende Informationen zur Vergangenheit zu erheben – im Rahmen von Zeitzeugen-Interviews. Im Laufe der fortschreitenden Verhandlung biografischer Erzählungen fanden mehrmals Interessensverlagerungen hinsichtlich der Geschichten von Überlebenden und Opfern und der Täterperspektiven statt. In jüngster Vergangenheit kam eine Konzentration auf die Erforschung der Implikationen eigener Familienangehöriger, überwiegend in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus hinzu.135 Die Lebensgeschichten, die dabei zum Vorschein kommen, weisen sich durch historische oder zeitgeschichtliche Referenzialität aus und rufen damit eine besondere Art von Glaubwürdigkeitskontexten hervor. Dementsprechend stellen sich Fragen nach der Zuschreibung von Authentizität und somit dem dokumentarfilmischen Wirklichkeitsbezug von Erinnerung und Gedächtnis.

       Im biografischen Dokumentarfilm findet eine wechselseitige Verflechtung zwischen privater und gesellschaftspolitischer Sphäre ihren Niederschlag, bei der eine referenzielle Bezugnahme auf eine mehr oder weniger konkre2014), DÜRRENMATT (Sabine Gisiger, 2015), MÜHLHEIM-TEXAS: HELGE SCHNEIDER HIER UND DORT (Andrea Roggon, 2015), LISTEN TO ME MARLON (Stevan Rilley, 2015), STEVE JOBS: THE MAN IN THE MACHINE (Alex Gibney, 2015) – um nur einige Beispiele zu nennen, die das hohe Interesse an Porträts veranschaulichen. 134

Vgl. Taylor, Henry M. (2002): Rolle des Lebens. Die Filmbiografie als narratives System, Marburg: Schüren.

135 Vgl. Bösch 2008.

          

te, verifizierbare Verbindung zur Lebenswelt der Zuschauer/innen entsteht. Die soziale Erfahrungsbildung für eine Realitätsaneignung im und durch den Dokumentarfilm, wie sie Robert Schändlinger konzeptualisiert hat,136 hängt eng mit der Frage nach dem Authentizitätsversprechen des Dokumentarfilms zusammen. In Anlehnung an Dirk Eitzen, der die Frage danach stellt, wie Zuschauer einen Diskurs verstehen, den sie als dokumentarisch wahrnehmen,137 gehe ich hier von der Hypothese aus, das Authentizitätsversprechen beim biografischen Dokumentarfilm sei besonders hoch – insofern, als dass die Echtheit der Interview-/Gesprächspartner, die Historizität des Archivmaterials sowie die Originalität der Schauplätze von den Zuschauern/innen als vorausgesetzt angenommen werden. Dem biografischen Dokumentarfilm liegt die Annahme zugrunde, dass er sich über authentische Personen, Schauplätze und Bildmaterial einer bestimmten historischen oder zeitgenössischen Wahrheit annähert bzw. eine gesellschaftliche Realität wiedergibt – unabhängig von der Interpretation und den Überprüfungen einzelner Behauptungen. Um dieses Phänomen näher beschreiben zu können, betrachte ich zunächst Faktoren, die eine dokumentarisierende Lektüre einleiten und die dazu führen, eine Wirklichkeitskonstruktion als referenziell zur gelebten Lebenspraxis wahrzunehmen. Für alle dokumentarischen Erzeugnisse scheint zu gelten, dass eine dem Rezeptionsvorgang vorausgehende Annahme über den fiktiven oder dokumentarischen Bezug zur Realität für die Rahmung dokumentarischer Leseanweisungen und für die Lektüremodi wesentlich ist. Zuschauer/innen rahmen einen Film als dokumentarisch auf der Basis mehrerer Faktoren: • Situative Hinweise im Vorfeld der Rezeption, beispielsweise verbale Eti-

kettierung. Produzenten, Programmgestalter oder Regisseurinnen indizieren ihre Filme als Dokumentarfilme, und erläuternde Titelsequenzen oder Programmankündigungen geben explizite Hinweise darauf. • Textimmanente Hinweise, deren Einordnung mit dem Kontextwissen des Zuschauers eng verbunden ist. Die Zuweisung der textimmanenten Hinweise findet jedoch anhand von para-, inter- oder kontextuellem Vorwis-

136 Schändlinger 1998. 137 Vgl. Eitzen 1998.

     

 

     

sen über die Art des Films statt. Dazu gehören Filmaufnahmen von bekannten und somit vom Zuschauer identifizierbaren Persönlichkeiten, gestalterische Authentifizierungsstrategien (spontane Kamera, natürliche Raum-Zeit-Relationen) oder die Nennung der beteiligten Personen im Abspann unter ihrem richtigen Namen und nicht als Schauspieler etc. • Soziokulturelle Aneignungsprozesse innerhalb einer Interpretationsgemeinschaft, da die Indizierung eines Films in einer Öffentlichkeit stattfindet.138 Dokumentarfilme werden in einem bestimmten soziokulturellen Milieu indiziert, das heißt, es wird kollektiv bestimmt, was unter Dokumentarfilm zu verstehen ist, wie auch Entitäten wie echt und authentisch kulturell bestimmt sind.139 Dokumentarische Lektüre entsteht demnach im Zusammenspiel zwischen situativen Hinweisen, textuellen Merkmalen und sozio-kultureller Indizierung. Eitzen weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es bei uneindeutig (also weder explizit als Spielfilm, noch explizit als Dokumentarfilm) indizierten Filmen schwierig ist auszumachen, welche Filme kollektiv als Dokumentarfilme bestimmt werden.140 Das referentielle Verhältnis zur gesellschaftlichen Realität wird bei Grenzformaten zwischen Fiktion und Nichtfiktion in einer diskursiven Dynamik neu perspektiviert. Bei der Konstruktion einer möglichen Wirklichkeit handelt es sich um ein permanentes Oszillieren zwischen Fiktion und Nichtfiktion, wobei sich der jeweilige Bezugsrahmen je nach Modus der Rezeption (in einem semio-pragmatischen Sinn verstanden) unterscheidet. Dokumentarisches, authentisches Material wird als solches wahrgenommen, wenn es den Vergleich mit anderen Dokumenten besteht, die in einem soziokulturellen Prozess als authentisch gerahmt wurden, wenn es also Merkmale erfüllt, die für seine Kategorie in einem sozialen Rahmen existieren, die gegebenenfalls durch eine differenzierte Quellenkunde bestimmt wurden. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität sind demnach kulturell sowie historisch kontingent, sie wandeln sich in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Veränderungen.141

138 Vgl. Plantinga, Carl R. (1997): Rhetoric and Representation in Nonfiction Film. Cambridge: Cambridge University Press. 139 Vgl. hierzu Heinze 2012. 140 Eitzen 1995, S. 24 f. 141 Vgl. Tröhler 2004, S. 152 f.

          

In Wechselwirkung mit kulturellen Unterscheidungen verweist die Rahmung auf eine sich stets verändernde Grenzziehung zwischen Fiktion und Realität.142 Wobei die gelebte Wirklichkeit und die jeweils aktuelle Lebenspraxis die wichtigsten Bezugsrahmen darstellen. Die Filmwissenschaftlerin Margrit Tröhler stellt in Anlehnung an Umberto Eco und Thomas G. Pavel hierzu fest: „Die TeilnehmerInnen einer Kultur kreieren in ihrem Alltag wie bei der Rezeption von Büchern oder Filmen laufend alternative Welten, die mit der wirklichen Welt verglichen werden, welche auch nur eine mögliche, ‚möblierte‘ und reduzierte Welt darstellt und immer eine Konstruktion ist: Sie genießt als referenzielle Bezugswelt dennoch einen besonderen Status […]. Es ist also die Vorstellung von der Wirklichkeit, die die Zugänglichkeit der fiktionalen Welten bestimmt, denn eine bestimmte Form der Grenze oder des Übergangs besteht wahrscheinlich immer, zumindest solange man psychisch und als Mitglied einer kulturellen Gemeinschaft in der Lage ist, zu unterscheiden zwischen dem, was allgemein als real, als in der Wirklichkeit möglich, angesehen wird, und dem, was als diskursives oder fiktionales Universum gelten kann: Keine Kultur verwechselt die aktuelle Welt mit einem imaginären Universum und umgekehrt.“143

Wenn auch hier mit möglichen Welten fiktionale Welten gemeint sind, so gilt dieser Prozess des Abgleichens zwischen Möglichkeiten des Realen und Möglichkeiten des Diskursiven mit der referenziellen Bezugswelt auch für dokumentarische Modi. Den Ausgangspunkt der Rahmung bildet dabei das alltagspraktische Verständnis einer gelebten, aktuellen Wirklichkeit. Ich verlasse zunächst den Grenzbereich zwischen Fiktion und Nichtfiktion und gehe zurück zu den als dokumentarisch eindeutig indizierten Filmen. Die Annahmen, es handele sich um authentische Personen, Orte und Bilder haben einen starken Einfluss auf die Rezeption.144 Sie bestimmen

142 Tröhler 2002, S. 15. 143 Ebd., S. 17. 144 Diese Annahme kann ins Schwanken geraten, wenn textuelle Codes darauf hinweisen, dass die Protagonisten eine Rolle spielen, die nicht ihre außerhalb des Film gelebte soziale Rolle repräsentieren, wie beispielweise im Film AUF DER

SUCHE (2009) von Sonya Schönberger, in dem Schauspielerinnen Inter-

     

 

     

maßgeblich die Art der Bedeutungskonstitution. In seinem Text „Wann ist ein Dokumentarfilm?“ veranschaulicht Eitzen den Prozess der Hinterfragung und Überprüfung des Wahrheitsgehalts der einzelnen Behauptungen oder Aussagen in Zusammenhang mit der vorausgehenden Annahme, es handele sich um ein dokumentarisches Werk, das „die Wahrheit sagt“: „Es sind also nicht formale Gesichtspunkte oder solche der Repräsentation, die darüber entscheiden, ob Zuschauer einen Film als Dokumentarfilm ‚rahmen‘. Eher ist es eine Kombination aus den Wünschen und Erwartungen, die die Zuschauer an einen Text richten, sowie ihren Vermutungen aufgrund von situativen Hinweisen und textuellen Merkmalen.“145

Die pragmatische Einordnung dessen, was dokumentarisch ist, subsummiert Eitzen wie folgt: „Die Frage: ‚Könnte das gelogen sein?‘, die Dokumentarfilme von anderen Filmen unterscheidet, wird von den Zuschauern gestellt, nicht von den Texten. Resultat: Unter Dokumentarfilm sollte man nicht eine bestimmte Textsorte, sondern eine ‚Lesart‘ verstehen.“146 Nach Eitzen begreifen Zuschauer/innen eben mit diesem heuristischen Prinzip Dokumentarfilme: „Ein Dokumentarfilm ist jeder Film, jedes Video oder jede Fernsehsendung, dem prinzipiell unterstellt werden kann, es sei gelogen.“147 Den Versuch, den Dokumentarfilm durch die Frage nach einer möglichen Lüge zu bestimmen, unternimmt Eitzen anhand der Konzeption der Annahme, Dokumentarfilme seien der Wahrheit verpflichtet: Am Beispiel einer Liebesbrief-Sequenz aus der ersten Episode von Ken Burns’ THE CIVIL WAR (1990) stellt Eitzen die Hypothese auf, dass „die Annahme, wonach Dokumentarfilme im allgemeinen ‚die Wahrheit sagen‘ (oder sagen sollen), der Interpretation eines konkreten Dokumentarfilms vorausgeht und dieser zugrunde liegt, und zwar auch, wenn die Zuschauer ihn völ-

views nachspielen, was sich allerdings erst im Laufe des Films erschließt. Die Indizierung wird hier bewusst in einer irritierenden Schwebe gehalten. 145 Eitzen 1995, S. 31. 146 Ebd. 147 Ebd. S. 26.

          

lig anders deuten und sich aneignen – etwa als Melodrama.“148 Den „Argumenten“ des Films, so Eitzen, wird in den Reaktionen der Zuschauer/innen keine primäre Aufmerksamkeit geschenkt. Vielmehr geht es ihnen um die Anteilnahme und das Einfühlen in das Schicksal des Mannes. Dies geschieht, weil die Zuschauer annehmen, die Szene sei wahr, weshalb sie eben den Wahrheitsansprüchen der Szene keine Beachtung schenken, denn sie werden als vorausgesetzt begriffen. Als jedoch bekannt wurde, dass es sich bei dem zitierten Brief nicht um ein Original, sondern um eine von mehreren, verschieden formulierten Abschriften des verschollenen Originals handelt, soll es zu einer Kontroverse gekommen sein.149 Es liegt nahe, dass die Enttäuschung über die falsch dargestellte bzw. indizierte Authentizität des Briefes einem verletzten Vertrauensverhältnis zwischen Autor/Produktionsinstanz bzw. realem Enunziator150 (Aussageinstanz) und Rezipient/in entspringt. Vonseiten der Rezeption handelt es sich um stillschweigende Erwartungen, um implizites Wissen. Die Zuordnung der Filmbilder zu einer Gattung wird zwar nicht bewusst vorgenommen. In

148 Ebd. In der besagten Szene wird ein Liebesbrief zitiert, den ein Soldat namens Sullivan Ballou 1861 kurz vor der ersten Schlacht am Bull Run an seine Frau Sarah geschrieben hat, in dem Wissen, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Leben verlieren wird. Die Szene hatte bei den Zuschauern/innen eine starke emotionale Reaktion ausgelöst, wobei weniger die hervorgebrachten Argumente oder der Wahrheitsanspruch die Zuschauer/innen interessierten, als vielmehr der melodramatische Charakter der Szene. 149 Vgl. hierzu Jones, Evan C. (2004): Sullivan Ballou. The Macabre Fate of an American Civil War Major. America's Civil War, The History Net Retrieved: „Interestingly, however, the letter was never mailed, but was instead supposedly discovered in Ballou’s trunk. Also perplexing is that of the five copies of the missive known to exist, none is in handwriting that matches Ballou’s penmanship. Both factors call into question the document's authenticity. Regardless, the letter remains as a testament to the tragedy of the Civil War for thousands of soldiers and their families.“, http://www.historynet.com/sullivanballou-the-macabre-fate-of-a-american-civil-war-major.htm [zuletzt gesehen am 31.1.2015]. 150 Das semio-pragmatische Konzept der Enunziation versteht jegliche Filmproduktion als einen doppelten Prozess des Aussagens und der Lektüre in einem kommunikativen Raum, vgl. Odin 2000.

         

     

Momenten der Enttäuschung oder Verunsicherung durch einen Normbruch vonseiten des Films werden sich die Zuschauer/innen jedoch ihrer Erwartungen bewusst und überprüfen kritisch den postulierten Wahrheitsgehalt.151 Wie grundlegend für die Lektüre das Vertrauen in die Urheberschaft bzw. die Autorinstanz ist, wird, in einem weitaus schwerwiegenderen Ausmaß als bei dem Ballou-Brief in THE CIVIL WAR, am Fall Wilkomirski deutlich. Das Beispiel Wilkomirski veranschaulicht, was Vertrauensmissbrauch bei einer vorausgegangenen Annahme über die Echtheit des Dokuments bedeuten kann. 1995 erschien das Buch „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948“ von Binjamin Wilkomirski im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp. Er beschreibt darin, wie er als kleines Kind die Internierung in zwei Konzentrationslagern überlebte und in die Schweiz kam. Wilkomirskis Erinnerungen an eine jüdische Kindheit sollten bald einen hohen Bekanntheitsgrad erreichen und als ergreifende Zeugnisse der Erinnerungsliteratur verhandelt werden. Drei Jahre nach Erscheinen des Buches und nach großer medialer Präsenz, vor allem in der Schweiz und in Deutschland, kam es, als die wahre Identität des Autors als „eingebildeter Jude“ aufgedeckt wurde, zu mehr als einem literarischen Skandal.152 Der Betrug oder die Fälschung rüttelte an ein empfindliches Thema, nämlich an die Erinnerungen von Holocaustüberlebenden und hier vor allem der KinderÜberlebenden. Bruno Grosjean alias Wilkomirski nutzte laut Stefan Mächler das „mythologische Potenzial des Holocaust“153, um sich eine andere Identität und eine überzeugende Autobiografie zu schaffen – aus unterschiedlichen Gründen, denen unter anderen Mächler vermittels narrativer Ansätze der Autobiografie-Forschung nachgegangen ist.154 Unabhängig jedoch von den Gründen, warum Binjamin Wilkomirski sich eine neue Vergangenheit konstruiert hat, und ohne auf die eigentliche Thematik des

151 Vgl. Tröhler 2004, S. 153. 152 Vgl. Diekmann/Schoeps (Hg.) 2002. 153 Mächler 2002, S. 29. 154 Für eine vielseitige Betrachtung möglicher Beweggründe s. Mächler 2002, S. 28 f.

          

Skandals (falsche Identität und Opfer-sein-Wollen155) einzugehen, veranschaulicht das Beispiel, wie ein solcher Vertrauensbruch Empörung auslöst. Der Fall ist besonders drastisch, weil es sich dabei um Erinnerungen von Holocaustüberlebenden handelt, einem besonders sensiblen wie polarisierenden Thema. Leser/innen auf der ganzen Welt waren aufgrund der Indizierung durch den renommierten Verlag von der Echtheit der Identität Wilkomirskis ausgegangen und wurden jäh erschüttert, als der Schweizer Schriftsteller Daniel Ganzfried im Sommer 1998 zwei Artikel veröffentlichte, in denen er die Fälschung aufdeckte. Neben der Frustration, auf die erfundene Identitätskonstruktion eines Fälschers hereingefallen zu sein,156 gibt es eine Enttäuschung in Bezug auf den Text: Mit dem Wissen um die erfundene Identität scheint bei der Lektüre und der kritischen Überprüfung des Textes die Unechtheit der Erinnerungen besonders auffällig. Wären diese Erinnerungen jedoch als Fiktion indiziert worden (das Buch wäre beispielsweise als Roman angekündigt/veröffentlicht worden), würde aufgrund der Erwartungshaltung sicherlich eine andere Rezeption und Interpretation des in sich geschlossenen Werkes erfolgt sein. Denn der Bezugsrahmen einer fiktionalen Weltkonstruktion ist ein anderer als bei der Annahme, es handele sich um authentische Erinnerungen.157 Auf den großen Einfluss der Indizierung und der Lektüreanweisung für den Rezeptionsvorgang und damit die dokumentarisierende Lektüre baut auch Eitzens Argumentation bezüglich der Vorannahme auf. Dennoch: Auch wenn er die Diskussion auf Fragen der Rezeption verlagert, verharrt er bei seinem definitorischen Versuch vordergründig darauf, dass Zuschauererwartungen den Dokumentarfilm konstituieren, worauf schon Nichols bereits 1991 deutlich hingewiesen hat.158 Eitzen bleibt bei der Erörterung des Wahrheitsanspruchs unpräzise und geht nicht über bestehende Modelle

155 Vgl. Diekmann, Irene/Schoeps, Julius H. (Hg.) (2002): Das WilkomirskiSyndrom. Eingebildete Erinnerung oder von der Sehnsucht, Opfer zu sein, Zürich: Pendo. 156 Vgl. Rosenthal, Gabriele (2002): Erzählte Lebensgeschichten zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Zum Phänomen „falscher“ Identitäten in: Diekmann, Irene/Schoeps, Julius H. (Hg.), S. 335 f. 157 Vgl. Tröhler 2002. 158 Nichols 1991, S. 25 f.

     

 

     

hinaus, er reformuliert Platingas Konzept der Annahme eines Wahrheitsanspruchs, um einen definitorischen Vorschlag zu machen. Relevanter als ein erneuter Definitionsversuch erscheint jedoch die Betrachtung der historischen Diskurse, in denen Dokumentarfilme verhandelt werden, sowie der spezifischen sozialen Praxis, die den besonderen Wirklichkeitsbezug, den Zuschauer/innen mit dem Dokumentarfilm verbindet, konstituiert.159 Neben der Bedeutung von Zuschauererwartungen und Textstrategien sind auch Fragen der Institution und der sozialen Funktion der Dokumentarfilme im konkreten Austausch zwischen Film und Rezipient zentral, um bestimmte Interpretationen von Wirklichkeit im zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilm zu ermöglichen – und damit zentrale Kategorien wie Fragen des Wirklichkeitsbezugs, der Authentizität und des Realismus anzusprechen. Man kann zusammenfassend sagen: Die Erwartungshaltung des Zuschauers an die Authentizität des Gezeigten basiert auf einem Vertrauensverhältnis. Dem Dokument muss, damit es als authentisch gelten kann, geglaubt werden. Entweder anhand der Glaubwürdigkeit der Produktionsinstanz, etwa dem Bekanntheitsgrad der Regisseur/in, des Senders, der integren Vergangenheit des Protagonisten, oder aufgrund der Glaubwürdigkeit des Dokuments. Hierbei muss dieses aus sich heraus, d.h. anhand textueller Hinweise und dem inter- und kontextuellen Vorwissen der Rezipienten, glaubwürdig erscheinen. Das Vertrauen und davon geleitet die Erwartungshaltung an das auf gesellschaftliche Realitäten referierende Material im Zusammenspiel mit den (historisch veränderlichen) Adressierungsformen bestimmen in hohem Maße die Art der Lektüre, denn Bedeutung entsteht letztlich erst in der Rezeption eines Dokumentarfilms. Jedoch: Die bereitgestellten Zugänge für Vorstellungen, was real und authentisch sei, sind dem historischen Wandel unterworfen und die Art der Darstellung von Realität wird interpretativ gestaltet.160 Den Ausgangspunkt für diese Vorstellungen bildet die jeweilige gesellschaftliche Realität: Die alltagspraktische Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion ist grundsätzlich für die Wirklichkeitssicherung und wird in der Regel bei der Lektüre eines Films unbe-

159 Vgl. dazu auch Decker, Christof (1998): Die soziale Praxis des Dokumentarfilms Zur Bedeutung der Rezeptionsforschung für die Dokumentarfilmtheorie, in: montage/av 7/2, Marburg: Schüren, S. 45 f. 160 Vgl. Heinze 2012, S. 308.

          

wusst vorgenommen. Die Unterscheidung basiert auf einer soziokulturell indizierten, grundlegenden Annahme über die Verlässlichkeit in Bezug auf das Authentizitätsversprechen ebenso wie auf dem Vertrauensverhältnis zur Urheberschaft eines Dokuments. Enthalten die Adressierungsformen jedoch Hinweise, die eine intuitive oder klare Zuordnung der Bilder erschweren (im Grenzbereich zwischen Fiktion und Nichtfiktion), können sie beim Rezipienten Fragen zum Status der Bilder adressieren und ein Bewusstsein dafür schärfen.161 Regisseure/innen setzen diesen Grenzbereich von Fiktion und Nichtfiktion manchmal bewusst ein, um die Vorannahmen und Sehgewohnheiten der Zuschauer/innen zu hinterfragen und zum genauen Sehen anzuregen. Dabei stellt sich die Frage, ob und wie sich biografische Dokumentarfilme dies zunutze machen. Wie weisen sie auf die Quellen hin und auf die Echtheit des Gesagten und Gezeigten?    

          Trotz des Wissens um mögliche Verschleierungen, um die Nicht-Einhaltung des behaupteten Authentizitätsversprechens oder gar um propagandistische Absichten, trotz des Wissens darum, dass der Dokumentarfilm die Realität, auf die er verweist, gleichsam interpretiert: Der Glaube an den Evidenzcharakter des bearbeiteten und präsentierten Materials scheint sich hartnäckig fortzusetzen. Wie kommt es zu diesem Vertrauen in den Dokumentarfilm angesichts seiner manipulativen Möglichkeiten? Worauf basiert der Glaube an den Dokumentarfilm als der Faktizität der Welt verpflichtet? Die interpretative Darstellung von Realität steht einem Authentizitätsversprechen dokumentarischer Formate gegenüber, das mit dem direct cinema einen Höhepunkt erlebte162 und das gerade durch das Medium Fernsehen amplifiziert wird – in erster Linie aufgrund seines impliziten Anspruchs zur unverfälschten Wiedergabe gesellschaftlicher Realität. Das Fernsehen hat durch dokumentarisch vermittelte Bilder und Töne einen

161 Vgl. Tröhler 2002. 162

Zu den Authentisierungsstrategien im direct cinema vgl. Beyerle, Monika (1997): Authentisierungsstrategien im Dokumentarfilm: Das amerikanische Direct Cinema der 60er Jahre, Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag.

         

     

verhältnismäßig hohen Glaubwürdigkeitsgrad.163 Es verbindet medial produzierte Realitäten und gesellschaftliches Realitätsbewusstsein und wird über Jahrzehnte als wichtigstes Medium der Wirklichkeits-Wahrnehmung bezeichnet, wobei es wesentlich zur Wirklichkeitssicherung164 beiträgt. Nach Zimmermann beruht die Glaubwürdigkeit des Fernsehens als Informationsmedium gerade auf der Insinuation, der „massenhaft verbreitete elektronische Schein sei eine adäquate Widerspiegelung realer Verhältnisse“.165 Auch wenn Zimmermann überspitzt formuliert: Unbestritten ist, dass dem Medium Fernsehen in Deutschland in Bezug auf die Vermittlung historischer Ereignisse und zeitgeschichtlicher Themen immer noch die Qualität einer historisch verbürgten Kontextualisierung von Bildern und Tönen zugestanden wird. Hierbei fungieren insbesondere historisches Bildmaterial und Zeitzeugen als zentrale Zugriffspunkte auf die Vergangenheit.166 Sie werden als Evidenzen eingesetzt und so auch rezipiert, ihr Einsatz beinhaltet das Versprechen, die Vergangenheit, „so wie sie war“, wiederzugeben. Die Evidenz ist jedoch weder den Bildern, noch den Zeitzeugenaussagen und lebensgeschichtlichen Erzählungen a priori eigen, vielmehr wird sie erzeugt, indem den Bildern und Tönen Bedeutung zugewiesen wird. Wie der Prozess der Bedeutungsproduktion abläuft, ist in hohem Maße vom expliziten oder impliziten Authentizitätsversprechen der jeweiligen audio-visuellen Erzeugnisse abhängig und vom damit einhergehenden Vertrauen der Rezipierenden in die Authentizität des Bildmaterials und der Zeitzeugen. Den interpretativen Umgang mit historischem Bildmaterial im Fernsehen bestimmt die Authentisierungsstrategie. Die Problematik einer Authentisierungsstrategie wird besonders dann deutlich, wenn es sich um die Wiederverwendung von Material mit ideologischer Signatur167 handelt, d.h. von Bildern, die mit einem spezifischen Konnotationsverfahren mit einer symbolischen Botschaft und ideologischen Bedeutung versehen und zu Bildmaterial werden, bei dem das Moment der ideologischen und politischen Funktionalisierung auch bei einer späteren Verwendung erhalten bleibt.

163 Vgl. Berg-Walz 1995, S. 56. 164 Vgl. Berger/Luckmann, 2003 (1969), S. 165 f. 165 Zimmermann 1994b, S. 28. 166 Vgl. Keilbach 2008, S. 31. 167 Ebd., S. 46.

          

Der Umgang mit Material mit ideologischer Signatur ist besonders dann problematisch, wenn dessen Entstehung kaum (filmisch) reflektiert wird, wie es gemäß Keilbachs Untersuchung insbesondere bei der nationalsozialistischen Bilderproduktion der Fall ist.168 Die Medienwissenschaftlerin unterstreicht: „Zwar entsteht im Fernsehen durch die zunehmende Televisualität ein Bewusstsein für Bilder, doch dieses richtet sich nicht auf die Inhalte, die Produktionsbedingungen oder (Verwendungs-)Geschichte der Bilder, sondern auf deren visuelle Qualität und Materialität. So kommt es, dass die Geschichtsdokumentationen nur selten ihr Bildmaterial und dessen ‚ideologische Signatur‘ problematisieren.“169

Eine kritische Hinterfragung des Bildinhalts, etwa bei zu Propagandazwecken hergestellten Bildern, wird durch die Tatsache erschwert, dass die Bilder – bis auf einige wenige Ausnahmen – historisch nicht verortet werden.170 Dabei macht Keilbach einen wesentlichen Unterschied im Umgang mit Bildern und Tönen aus: „Als traditionell textorientiertes Medium widmet das Fernsehen seine Aufmerksamkeit vielmehr dem Originalton der Filmaufnahmen. Daher werden Redeausschnitte […] häufig als Propaganda markiert, während die nationalsozialistischen Filmbilder im Fernsehen oft unreflektiert zur Visualisierung der Vergangenheit dienen.“171 In den Geschichtsdokumentationen, die Keilbach untersucht hat,172 begegnet der/die Zuschauer/in letztendlich Bildausschnitten, die mitunter ein ästhetisches

168 Ebd. 169 Ebd., S. 33. 170 Keilbach bringt das verstärkte Bemühen einiger Geschichtsdokumentationen um die historische Kontextualisierung der eingesetzten Aufnahmen (indem sie etwa die Aufnahmesituationen über Datum, Ort, Name und Situation konkret benennen) in direktem Zusammenhang mit der Kritik an der ersten Wehrmachtsausstellung („Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“), vgl. Keilbach 2008, S. 33 f. 171 Ebd. 172 Darunter Produktionen wie DAS DRITTE REICH (1960), MEIN KAMPF (1960), HITLER – EINE KARRIERE (1977), LAGERSTRAßE AUSCHWITZ (1979), DIE DEUTSCHEN UND DER ZWEITE WELTKRIEG (1985), SHOAH (1985), HITLERS HELFER und HOLOKAUST (2000), Keilbach 2008.

         

     

Gefühl für die damalige Zeit vermitteln. Die Referenzialität der historischen Bilder und Filmaufnahmen wird dabei nicht in Frage gestellt, die Bilder besitzen die Evidenz eines Dokuments, scheinbar unabhängig davon, für welche Zwecke und in welchen Zusammenhängen sie hergestellt wurden. Auch Jörg Frieß weist in seiner Arbeit zur Verhandlung der Shoah im Dokumentarfilm in Bezug auf Kompilationsfilme darauf hin, dass sich ein Anspruch auf Authentizität vor allem auf das historische Bildmaterial stützt, anhand seiner ihm zugeschriebenen Wirklichkeitsnähe. Das aus verschiedenen Archiven zusammengetragene Bildmaterial trägt den Charakter des Vorgefundenen – wodurch der Eindruck vermittelt wird, das vorhandene Material werde lediglich wiederveröffentlicht und ist in seiner Gestaltung transparent.173 Ein anschauliches Beispiel für die Frage nach der Verwendung von historischem Bildmaterial liefert der Film LE CHAGRIN ET LA PITIÉ von Marcel Ophüls (1969). Es handelt sich um eine Aufarbeitung der Kollaboration, des französischen Widerstands und des Antisemitismus in Frankreich während der deutschen Besatzung, die bis dahin unveröffentlichte Archivaufnahmen zeigt und neue ästhetische Standards für den historischen Dokumentarfilm setzt.174 Unter dem vielfach eingesetzten Material aus unterschiedlichsten Quellen175 befinden sich auch Ausschnitte aus „Die Deutsche Wochenschau“, die während des Einmarsches der deutschen Wehrmacht 1940 produziert wurden. Die Aufnahmen vom Westfeldzug, die im

173 Frieß 2003, S. 201 f.; zum Diskurs über die Verwendung von NS-Bildern im Kompilationsfilm vgl. auch Ebbrecht 2011. Im Dokumentarfilm DEUTSCHLANDBILDER

(1984) thematisiert Hartmut Bitomsky in einer filmischen Kol-

lage, das ideologische Gedankengut der Bilderproduktion im NS-Regime. 174 In Frankreich hatte der Film 1971, also erst zwei Jahre nach seiner Fertigstellung, Premiere. Als Politikum löste er bereits während seiner Entstehung eine heftige Diskussion aus, da er den Konflikt zwischen dem offiziellen kollektiven Gedächtnis und der individuellen Erinnerung aufzeigt. In Frankreich wurde er erst ein Jahrzehnt später, 1981 im französischen Fernsehen ORTF ausgestrahlt und erreichte eine Einschaltquote von 15 Millionen Zuschauern, vgl. Vatter 2009, S. 71. 175 Dem Abspann sind folgende Quellen zu entnehmen: British Paté London, Actualités Française Paris, Pathé-Journal Paris, Gaumont Actualités Paris, Süddeutscher Verlag München, La Montagne Journal de Clermont-Ferrand.

          

Film Verwendung finden, scheinen aus deutschen Wochenschau-Sendungen zu stammen und wurden wohl in der Originalzusammensetzung von Bild und Ton verwendet. Auszumachen sind sie vor allem anhand der Ton-Ebene: Kommentatoren-Stimme (deutsch und im Duktus der Zeit), Marschmusik und deutsche Soldatenlieder. Wenn diese Aufnahmen leicht als deutsches Propaganda-Material zu verorten sind, ist es an anderer Stelle kaum möglich, den ursprünglichen Zweck des Archivmaterials zu erkennen und zu differenzieren, in welchem Zusammenhang die Bilder entstanden sind. So etwa, als es um die französischen Soldaten in den Schützengräben der Marginot-Linie geht: Es bleibt offen, jedoch naheliegend, dass das „la vigilence, patience, le courage, la resolution, confience“176 der Soldaten anpreisende Material einer französischen Actualités-Sendung entstammt. Die ideologische Signatur dieser Bilder gibt sich hier jedoch vor allem in der Montage zu erkennen: Vor die Aussagen eines Mitglieds der französischen Resistance gestellt, der über den elenden Zustand der Soldaten an der Marginot-Linie erzählt, stehen die Aufnahmen im Kontrast zu den Zeitzeugenaussagen und dürfen als ironischer Einsatz des Archivmaterials gelten. An anderer Stelle werden Aufnahmen von begeisterten, mit erhobenem rechten Arm dem Marschall Pétain zujubelnde Massen gezeigt, während auf der Tonspur der Chansonier Maurice Chevalier das ländliche Frankreich und seine Idylle besingt, („Frankreich riecht so gut/Es ist Samstag du hast keine Sorgen“) – auch dies ein ironischer Kommentar. Trotz des offensichtlich ironischen Einsatzes von Archivmaterial ist dessen Einbindung problematisch: Es wird in keinem Ausschnitt erwähnt, wann und wo die Bilder entstanden sind, welchem Archiv sie entstammen, wer der Urheber ist und mit welcher Intention die Aufnahmen entstanden sind. Die Nichtverortung der Archivbilder scheint hier vielerlei Gründe zu haben und ist nicht auf einen unreflektierten Umgang mit dem historischen Material zurückzuführen. Die Kontextualisierung findet durch die Montage und anhand der Bild-Ton-Verbindung statt. Textuelle Hinweise zum Ursprung und Kontext der Archivaufnahmen hätten möglicherweise den Erzählfluss gestört. Wenn in diesem Film ereignisbezogen argumentiert wird, dienen die Bilder der Veranschaulichung bestimmter Situationen und der Ergänzung von Informationen durch Einblicke in die unterschiedlichen Argu-

176 O-Ton französischer Kommentator.

         

     

mentationslinien der Franzosen oder der Deutschen. Ob die interpretierende Zuordnung der Bilder jedoch auch dem tatsächlichen Kontext entspricht, kann nicht allein anhand der Rezeption festgestellt werden, sondern bedürfte der einzelnen Überprüfung anhand einer differenzierten Quellenkunde. Bei der interpretierenden Zuordnung der Bilder spielt Christof Deckers Kategorie des Vorverständnisses der Rezipienten eine zentrale Rolle: Im Rahmen des kommunikativen Vertrags, bei dem verschiedene Erwartungshaltungen zusammentreffen, werden die Hauptbezugspunkte des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms (etwa Fragen der Authentizität) anhand des Vorverständnisses der Zuschauer/innen kontextualisiert.177 Ebenso zentral sind jedoch die spezifischen Lektüreanweisungen, denn es gilt gleichermaßen, dass der Absender ein Wissen über die Lektüreanweisungen und damit die Lektüremodi hat – und dabei voraussetzen kann, dass die Rezipient/innen ebenfalls über ein solches Wissen verfügen.178 Schlussfolgernd kann man sagen: Dieses interdependente Verhältnis, die sich konstant wandelnde und re-konfigurierende Beziehung zwischen den Realisationsmodi und den Lektüremodi im sozialen Gebrauch lenkt letztlich den analytischen Blick auf die Verantwortung der Realisation für die historische Wissensproduktion.            Warum ist die Kontextualisierung und Offenlegung propagandistischer Einschreibungen, die ideologische Signatur der Bilder, so relevant? Die Problematik, auf die Keilbach in den von ihr beschriebenen üblichen Verfahren von Geschichtsdokumentationen aufmerksam macht, besteht mitunter darin, dass dieses Vorgehen den unreflektierten Glauben an die Referenzialität dokumentarischer Bilder nur bestärkt und somit eine Authentizität postuliert, die zu Verallgemeinerungen oder irreführenden Interpretationen und falschen Schlussfolgerungen führt – also zur Konstruktion einer falsifizierenden Interpretation historischer Sinnzusammenhänge.

177 Decker 1998, S. 57. 178 Odin 2002, S. 43 f.

          

Die darin enthaltene Problematik lässt sich exemplarisch anhand des Dokumentarfilms GEHEIMSACHE GHETTOFILM (Yael Hersonski, 2009)179 diskutieren. Gegenstand des Films sind rund 60 Minuten historisches Filmmaterial, das 1942 für einen Propagandafilm entstanden ist, der aber vermutlich nie fertiggestellt und zur Aufführung gebracht worden ist. Ein beauftragtes Kamerateam filmte im Warschauer Ghetto mit dem vermuteten Ziel, einen abendfüllenden Propagandafilm zu erstellen; der Rohschnitt des Materials deutet auf den Versuch einer Kontrastierung der stark auseinanderfallenden Besitzverhältnisse im Ghetto hin. Die Rohschnittfassung blieb erhalten, die Filmrollen sind heute im Bundesarchiv, Abteilung Filmarchiv Berlin, einsehbar.180 Der vermutete Zweck dieses Propagandafilms war, Armut und Elend im Ghetto als Selbstverschuldung und Ergebnis der Wohlstandsdiskrepanzen unter der jüdischen Bevölkerung darzustellen. In ihrem Film GEHEIMSACHE GHETTOFILM thematisiert die Regisseurin Yael Hersonski die bezweckte Darstellung, deckt die Bedingungen der Aufnahmen auf und bezieht sich auf Zeugnisse wie Tagebücher von Ghettobewoh-

179 Der Film wurde vielfach preisgekrönt etwa mit dem „World Cinema Documentary Editing Award“ des Sundance Film Festival, dem „Writers Guild of America Documentary Screenplay Award“ des Silverdocs Documentary Festival und dem „Best International Feature Award“ des HotDocs Canadian International Documentary Festival. Auch die Rezeption war größtenteils positiv. 180

Vgl. Horstmann, Anja (2013): „Das Filmfragment ‚Ghetto‘ – erzwungene Realität und vorgeformte Bilder“, Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/geheimsache-ghetto film/156549/das-filmfragment-ghetto?p=all [zuletzt gesichtet am 10.7.2014]. Die Aufnahmen stammen ursprünglich aus den Beständen des Reichsfilmarchivs und wurden in den 1950er Jahren im Staatlichen Filmarchiv der DDR aufgefunden und identifiziert, wobei das Material für die Nutzung weitgehend gesperrt war. Außerhalb der DDR nutzte Erwin Leiser in seinem Kompilationsfilm Den blodiga tiden (Mein Kampf, 1960) Teile des Materials, vgl. Hoffmann, Kay (2013): Zum „ richtigen “ Umgang mit historischem Filmmaterial, Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/ geschichte/nationalsozialismus/geheimsache-ghettofilm/153347/vom-richtigen -umgang-mit-historischem-filmmaterial?p=0 [zuletzt gesichtet am 5.4.2016]; und Leiser, Erwin (1978): Deutschland erwache! Propaganda im Film des Dritten Reiches. Reinbek, S. 80 f.

         

     

nern und die Erinnerungen des Vorsitzenden des Judenrats Adam Czerniaków. Hersonski bezieht sich zudem auf Aussagen von Überlebenden, die sie mit den Propaganda-Aufnahmen konfrontiert. Diese erinnern sich an Situationen, die für die Kamera inszeniert waren, kommentieren die Aufnahmen und setzen diese in Bezug zu dem, was sie erinnern. Zum Einsatz kommt auch die protokollierte und nachinszenierte Vernehmung von Willy Wist, einem der damals beteiligten Kameramänner, der im Rahmen einer 1970 geführten Voruntersuchung gegen Heinz Auerswald, Kommandant des Warschauer Ghettos, befragt wurde.181 Wists Aussagen sind weniger informativ, als dass sie die erschreckende Ignoranz oder Verdrängung des Filmteams deutlich machen: Der Kameramann erinnert sich eher an die immer wieder auftauchenden technischen Probleme wie schlechte Lichtverhältnisse als an die Geschehnisse und Hintergründe dessen, was er aufzunehmen hatte. Die Filmemacherin Hersonski findet jedenfalls eindeutige Hinweise darauf, dass die Aufnahmen aus dem Ghetto inszeniert waren. Die Darstellungen von gutsituierten, gleichgültig an bettelnden Kindern und Leichen vorbeigehenden, opulente Malzeiten zu sich nehmenden oder Bankett feiernden Juden, wie auch die Beisetzung in Massengräbern, zeigt Hersonski als inszeniert. Auch die Gewalt, mit denen die Menschen zu den Aufnahmen gezwungen wurden, und der Zynismus der Propagandafilmemacher versucht sie deutlich zu machen. Eine Szene, in der die zeremonielle Beschneidung eines Säuglings angedeutet wird, zeigt dies besonders eindringlich: Aus den Tagebucheinträgen zitiert, offenbart der eingesprochene Text, dass der Säugling gerade mal zwei Kilogramm wog und mit hoher Wahrscheinlichkeit einen solchen Eingriff nicht überleben konnte. In ihrem Film deckt die Regisseurin anhand der historischen Bilder, der vorhandenen schriftlichen Zeugnisse von Ghettoinsassen und der Zeugenaussagen der Überlebenden die Mechanismen von Propaganda auf, die zwecks Bestätigung von Vorurteilen und Verstärkung antisemitischer Haltungen agierte. Sie versucht, sich den realen Zuständen im Warschauer

181 Vgl. Rupnow, Dirk (2010): Die Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik und unser Umgang mit den Bildern der Täter, Zeitgeschichte Online, http://www.zeitgeschichte-online.de/film/die-spuren-nationalsozialistischergedaechtnispolitik-und-unser-umgang-mit-den-bildern-der [zuletzt gesichtet am 12.12.2015].

          

Ghetto des Jahres 1942 anzunähern und hinter die zweckmäßigen Aufnahmen zu blicken. GEHEIMSACHE GHETTOFILM informiert in der Exposition über den (vermeintlichen) Ursprung des Materials, das in einem Betonbunker im Wald, wo man es einst versteckte, entdeckt wurde – „neben weiteren zigtausende Filmen“182. Die Gehäuse waren nur „lakonisch“ mit „Ghetto“ gekennzeichnet, die Filmrollen ohne Tonspur, ohne Titel und Abspann. Weiterhin heißt es in der Exposition von GEHEIMSACHE GHETTOFILM : „Die Rohfassung des einzigen nationalsozialistischen Films aus dem größten von den Deutschen errichteten Ghetto, dem Ghetto von Warschau. Nach ihrer Entdeckung wurden die Sequenzen als wahres Abbild des Lebens im Ghetto verstanden und wurden mehrfach so in Dokumentationen verwendet.“ Und: „Aus dem Propagandamaterial wurde historische Wahrheit. Doch was zeigen diese Bilder wirklich? Und was zeigen sie nicht?“183 Ausschnitte aus diesem Material kursierten in verschiedenen Dokumentationen, in denen es darum ging, die Realität des Ghettolebens zu illustrieren,184 so auch in der BBC-Dokumentation THE WARSAW GHETTO (Alexander Bernfes, 1966). Michael Wildt weist anhand von GEHEIMSACHE GHETTOFILM auf den mehrschichtigen Charakter der Authentizität historischer Bilder hin: Auf der einen Seite die behauptete Authentizität (die Inszenierungen, die die Regisseurin Yael Hersonski mit ihrem Film zu entlarven sucht), auf der anderen Seite die Glaubwürdigkeit der Handelnden, der Menschen, die gefilmt wurden: „Wir sehen wirkliche Menschen, die gewissermaßen in Verkleidung auftreten müssen; wir sehen reales Leid wie jene verzweifelt nach ihren toten Kindern schreiende Frau, deren Identität im Ringelblum-Archiv verbürgt ist, und wir sehen durch Yael Hersonskis Kunst zugleich den Blick der Täter und deren visuelle Techniken, die Bilder zu arrangieren und ihnen einen Sinn zuzuschreiben, der die Wirklichkeit zynisch auf den Kopf stellt.“ 185

182 Zitat aus dem Film GEHEIMSACHE GHETTO. 183 Ebd. 184 Vgl. Wildt 2012, S. 308 f. 185 Wildt 2012, S. 308.

         

     

Der entscheidende Aspekt ist demnach die Art des inszenatorischen Verweises auf eine historische Realität. Die historischen Bilder deuten auf etwas in ihnen Abwesendes hin, behalten jedoch ihren Evidenzcharakter. Durch die Offenlegung von Authentisierungsstrategien wird eine anders verortete Authentizität hergestellt: Die historische Verortung und die Heranziehung von weiteren Evidenzen, die das Argument unterstreichen, thematisieren die propagandistische Inszenierung, gleichzeitig wird ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, der die Authentizität der weiteren Quellen unterstreicht und – folgt man Elsaessers Argumentation – denjenigen Menschen, die zu den historischen Filmaufnahmen gezwungen wurden, die Glaubwürdigkeit und somit ihre Authentizität zurückverleiht. Die Bilder besitzen nach wie vor die Evidenz von Dokumenten, wobei die Kontextualisierung ihren Evidenzcharakter nur stärkt. Trotz ihrer Inszenierung und gerade aufgrund des Wissens darum offenbaren diese Aufnahmen eine Schicht historischer Wahrheit, die unter den konstruierten Sinnzusammenhängen liegt: Hersonski stellt dies heraus, indem sie einzelne Blicke, Bewegungen und Gesichter in Zeitlupe laufen lässt und damit das Grauen anhand der Bildwelt der Täter vorzuführen versucht. Der Historiker Dirk Rupnow argumentiert in seinem Beitrag zu GEHEIMSACHE GHETTOFILM, dass es der Regisseurin nicht gelungen sei, den Bildfluss der Täter zu durchbrechen, vielmehr greife sie deren Blick erneut auf: „Zwar ist bis heute nicht vollständig klar, in wessen Auftrag und mit welcher Intention die Aufnahmen gemacht worden sind. Auch der Kameramann Willy Wist konnte dieses Geheimnis nicht lüften. Unbestreitbar ist jedoch, dass sie von den antisemitischen Obsessionen der Täter angetrieben und geformt wurden. Die Kamera fängt nicht nur das Leben und Sterben der Menschen im Ghetto ein, sondern auch den vorurteilsbeladenen Blick der Täter auf ihre Opfer.“186

Damit weist Rupnow auf die Gefahr hin, trotz Neubetrachtung und Rekontextualisierung des Materials die Bildwelten der Nationalsozialisten wieder

186 Vgl. Rupnow, Dirk (2013): Unser Umgang mit den Bildern der Täter. Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozia lismus/geheimsache-ghettofilm/154336/dirk-rupnow-zu-geheimsacheghettofilm?p=all [zuletzt gesichtet am 12.12.2014].

          

aufleben zu lassen. Er bemängelt – nicht nur an diesem Werk, sondern an dem vielfach unreflektierten Einsatz von Propagandabildern in historischen Dokumentationen und Dokumentarfilmen,187 dass eine fortgesetzte oder erneute Erniedrigung der Opfer im Bild stattfindet, „denn die ursprüngliche Funktion der Bilder war die Erniedrigung der Aufgenommenen. Systematische Erniedrigung war Teil des Vernichtungsprozesses.“188 Diese Gefahr bringt er mit der Lust am Schock und am Schrecken in Verbindung, welche die Bilder von Leichenbergen und Ausgehungerten zum Faszinosum und gleichzeitig zur Ikonografie des Grauens werden lassen. Ob den Aufgenommenen ihre „Glaubwürdigkeit zurückgegeben wird“, wie Wildt behauptet, oder sie aufs Neue erniedrigt werden, wenn die Bilder der Leidenden gezeigt werden, darauf bietet meines Erachtens der Film selbst eine Antwort: Die Zeitzeugen/innen, die mit den Aufnahmen konfrontiert werden, bedecken ihre Augen beim Auftauchen von Leichenhaufen und aus den Karren hängenden Gliedmaßen und Köpfen der Leichen. Sie verweigern den Anblick. Warum werden ihnen diese Bilder zugemutet? Die Regisseurin verweist damit auf die darin enthaltene Ambivalenz, die ich mit den beiden Positionen erörtert habe: Sie gibt, durch die Dekonstruktion der ursprünglichen Aufnahmen, den Aufgenommenen ihre Glaubwürdigkeit zurück, sie zeigt aber auch die grauenvollen Bilder von Leichen und verweist anhand der Reaktion der Frauen auf die in vielerlei Hinsicht grenzwertige Erfahrung beim Anblick der Bilder. Der/die Zuschauer/in findet sich in dieser Geste des Wegschauens/Nicht-Sehen-Wollens wieder und ist dennoch in diesen Aufnahmen gefangen zwischen Ergriffenheit, Voyeurismus, Ekel, Entsetzen und möglicherweise Blockade aufgrund des Überdrusses beim erneuten Anblick von Schockbildern – muss sich aber genau deshalb dieser Frage stellen und über die vielfach verwendeten Bilder nachdenken. Der Film ist hochgradig verstörend und ruft vielfach Irritationen beim Zuschauer. Das Beispiel des Films GEHEIMSACHE GHETTO verdeutlicht einmal mehr, wie das Archivmaterial die Wahrnehmung von Vergangenheit formt, wie es sich als ikonisch in das Gedächtnis einschreibt – und damit als repräsentativ fungiert.189 In seinem Essay „Un train peut chacher un autre“

187 Vgl. hierzu auch Keilbach 2008, S. 31 f. 188 Rupnow 2013. 189 Vgl. Keilbach 2008, S. 36 f.

         

     

von 2002 problematisiert Thomas Elsaesser die Macht von Bildern als Symbole für kollektive Identitäten und den Umgang mit historischem Material am berühmten Bild des Mädchens aus Westerbork. Dieses Bild ist Gegenstand der Fernsehdokumentation SETTELA, GEZICHT VAN HET VERLEDEN (Cherry Duyns, 1994, dt.: SETTELA, GESICHT DER VERGANGENHEIT). Es handelt sich um das Mädchen, das laut Elsaesser als „Symbol für die Juden, für Auschwitz, für den Holocaust“190 bekannt ist und das repräsentiert, was den Juden im Konzentrationslager Westerbork in den Niederlanden vor der Deportation nach Auschwitz angetan wurde. Die Aufnahme vom kopftuchtragenden Mädchen, das durch die Tür eines Güterwaggons blickt, bevor sie geschlossen wird, soll im Auftrag des deutschen Lagerkommandanten entstanden sein, „um ein Dokument seiner Taten zu behalten und um seinen Vorgesetzten seine makellose Effizienz als Transportunternehmer und Befehlsempfänger vor Augen zu führen“.191 Dieses Einzelbild ist durch die Wiederholung zu einem ikonischen Bild geworden, denn es ist vielfach in zahlreichen Büchern, Artikeln und Dokumentationen reproduziert worden – bis sich der niederländische Journalist Aad Wagenaar in einer filmischen Recherche auf die Suche nach der Identität des bis dahin unbekannten Mädchens machte.192 Die Identifizierung des neunjährigen Sinti-Mädchen Settela (Anna-Maria) Steinbach brachte ein bis dahin verdrängtes Kapitel der Besatzungsgeschichte über die Verfolgung und Deportation der niederländischen Sinti und Roma ans Licht. Die Filmsequenz steht damit nicht mehr allein für den Holocaust an den niederländischen Juden. Die öffentliche Auseinandersetzung mit der Ermordung von Sinti und Roma wurde auch durch Wagenaars Quellenarbeit angestoßen, das heißt durch die Neuinterpretation dieser fotografischen Ikone des Holocaust. „Ein Holocaust, so haben wir aus Erfahrung gelernt, kann andere verbergen, die symbolische Kraft eines Bildes kann eine andere Realität in

190 Elsaesser 2002, S. 24. 191 Ebd., S. 23. 192 Vgl. Awosusi, Anita/Pflock, Andreas (2011): Den Opfern ein Gesicht geben, in: Peritore, Silvio/Reuter, Frank (Hg.): Inszenierung des Fremden, Fotografische Darstellung von Sinti und Roma im Kontext der historischen Bildforschung, Tagungsband, Heidelberg: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, S. 275.

          

den Schatten stellen.“193 Hier wird deutlich, wie sich anhand des Umgangs mit den Archivbildern eine Deutungsmacht über die Geschichte konstituiert und wie unser Bild vom Nationalsozialismus auch von seinen Visualisierungen abhängt und sich demzufolge verändert.    

               Wie problematisch ist die ikonische Funktion von Bildern, wenn es sich um ideologisch aufgeladenes Propagandamaterial oder auch um schwer zu ertragende Schock-Bildern handelt? Dokumentarfilme rekurrieren verfahrensmäßig auf Bilder mit Evidenzcharakter,194 um möglichst veranschaulichende, überzeugende oder emotionale Wirkung zu erzielen. Betrachtet man die moralische Herausforderung der Filme,195 die dieses historische Bildmaterial (etwa Aufnahmen, die bei der Befreiung der Konzentrationslager gemacht wurden – atrocity films196) in ihre Struktur integrieren, avancieren Aspekte der Angemessenheit erneut zu zentralen Kategorien der Diskussion über die mediale (Re-)Präsentation des nationalsozialistischen Massenmordes. Diese Aspekte gewinnen angesichts einer verstärkten aktuellen Auseinandersetzung mit historischen Bildern anlässlich der 70-jährigen Befreiung des Vernichtungslagers Ausschwitz, im Zuge derer Filme wie NIGHT WILL FALL – HITCHCOCKS LEHRFILM FÜR DIE DEUTSCHEN (André Singer, 2014)197 mehrfach gezeigt wurden, erneut an Virulenz. 193 Elsaesser 2002, S. 24. 194 Vgl. Keilbach 2008. 195 Ebd., S. 37 f. 196

Ebbrecht verhandelt die Aufnahmen von den alliierten Soldaten und Fotojournalisten, die in den Tagen nach der Befreiung der Konzentrationslager aufgenommen wurden und die unter dem Begriff Schreckensbilder (atrocity pictures) firmieren, als zentralen Ausgangspunkt der visuellen Erinnerung an den Holocaust, vgl. Ebbrecht 2011, S. 88; vgl. dazu auch Brink 1998.

197 Kameramänner der britischen, amerikanischen und russischen Truppen sollten im Auftrag der Alliierten m Frühjahr 1945, während der Befreiung der Konzentrationslager – von Bergen-Belsen bis Auschwitz – möglichst viel dokumentieren. Sidney Bernstein und Alfred Hitchcock sind anschließend beauftragt worden, aus dem Filmmaterial einen Lehrfilm für die Deutschen zu ma-

         

     

Wenn wiederholt über illegitime und legitime Formen der Vergegenwärtigung nachgedacht wird, sind die jeweiligen Argumentationslinien mitunter als Teil eines Prozesses der kulturellen Selbstvergewisserung zu verstehen. Sie tragen aber auch dazu bei, dass die medial vermittelte, also gestaltete und durch die Wiederholung und Wiedererkennung der Bilder geformte Erinnerung in den Vordergrund gestellt wird.198 Die Problematik der ikonischen Kraft von Leichenbildern und ihrem damit verknüpften Potential, zum Stereotyp zu erstarren, ist damit nach wie vor aktuell – und damit einhergehend, was sich wie darstellen lässt und was sich der Darstellbarkeit entzieht.

chen – GERMAN CONCENTRATION CAMPS FACTUAL SURVEY, die Produktion wurde allerdings gestoppt und die Aufnahmen landeten in den Archiven. 70 Jahre nach der Befreiung wird der Film NIGHT WILL FALL fertiggestellt, der die Geschichte dieses Filmprojekts erzählt. In einem Interview mit Arte äußert sich der Regisseur André Singer zu dem Produktionsstopp: „Im Grunde genommen war Bernstein zu langsam: Er war ein Perfektionist, der einen Film mit künstlerischem Anspruch machen wollte, bis er den richtigen Zeitpunkt verpasste. Im Mai war der Krieg zu Ende und plötzlich gab es andere politische Prioritäten. Die europäischen Staaten und die USA wollten nur wenige Flüchtlinge aus den Konzentrationslagern aufnehmen. Diese begannen also nach Palästina auszuwandern, was wiederum der britischen Regierung, die das Gebiet als Mandatsmacht verwaltete, missfiel. Im Juli befanden die Briten, dass der Film zu viel Sympathie für die Flüchtlinge wecken und deren Auswanderung nach Palästina womöglich rechtfertigen könnte.“, Singer, André im Interview mit Christine Amtmann für das ARTE Magazin, Januar 2015, http://www.arte.tv/sites/fr/das-arte-magazin/2015/01/05/gegen-das-vergessen [zuletzt gesichtet am 22.7.2015]. 198 Wichtige Studien zur Bedeutung visueller Konstruktionen für die Selbstvergewisserung und das kulturelle Gedächtnis legten seit Ende der 1990er Jahre etwa Cornelia Brink und Habbo Knoch vor, vgl. Brink, Cornelia (1998): Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin: Akademie; Knoch, Habbo (2003): Die Grenzen des Zeigbaren. Fotografien der NS-Verbrechen und die westdeutsche Gesellschaft, 1955-65, in: Kramer, Sven (Hg.): Die Shoah im Bild, München: Edition Text + Kritik, S. 87-116.

          

Die Frage nach der Darstellbarkeit des Undarstellbaren hat nicht nur die Filmproduktion beschäftigt, sie ist immer wieder und in zahlreichen disziplinären Diskursen, insbesondere von philosophischer Seite, thematisiert worden.199 In der Nachkriegszeit kam es zu erregten Debatten um die Ethik der Darstellung und es gab gewichtige Argumente dafür, dass das Bemühen um eine Darstellungsform den Schrecken des Holocaust nicht gerecht werden kann und daher gar nicht erst unternommen werden soll. Diese Argumentationslinie lässt sich treffend in den Worten Alvin Rosenfelds zusammenfassen: „There are no metaphors for Auschwitz, just as Auschwitz is not a metaphor for anything else… Why is this the case? Because the flames were real flames, the ashes only ashes, the smoke always and only smoke… the burnings do not lend themselves to metaphor, simile, or symbol – to likeness or association with anything else. They can only ›be‹ or ›mean‹ what they in fact were: the death of the Jews.“200

Eine starke Position vertrat auch der Lyriker Paul Celan, der die Unmöglichkeit, die Undarstellbarkeit der Shoah darzustellen, mit einer Figur des Umweges zu umgehen suchte: Der Meridian als Form literarischen Eingedenkens, das im Gedicht stattfindet, aber nicht vom Gedicht selbst thematisiert wird, schafft eine imaginäre Verbindung zwischen den vielen Opfern

199 Zum Inkommensurablen der Gewalterfahrung und der Problematik der ‚Undarstellbarkeit‘ in der Darstellung der Shoah in Geschichte, Philosophie, Literatur vgl. Young, James E. (1997): Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 35 f.; Lyotard, Jean-François (1990): Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam, S. 33-48; Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Arendt, Hannah (1950): Social Science Techniques and the Study of the Concentration Camps, in: Jewish Social Studies, Band 12, Nr. 1, 1950, S. 49-64; Arendt, Hannah (2011/1964): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München/Zürich: Piper. 200 Alvin Rosenfeld 1980, S. 27, zit. nach Renov 2002, S. 29.

         

     

und dem Jetzt, und bietet damit einen ganz eigenen Weg zur Vergewisserung des Leides der Opfer und letztlich auch des eigenen Selbst.201 Die Auseinandersetzung um die filmische (Un-)Darstellbarkeit der Shoah umkreiste zum einen die schockierenden Bilder des Grauens, die nach den Re-Education-Versuchen in den Archiven des Militärs verschwanden und mit Alain Resnais’ Film NACHT UND NEBEL (1955), eingebettet in eine erklärende Dramaturgie, erneut Verbreitung fanden; zum anderen den Vorwurf der Ästhetisierung und schließlich der visuellen Ermüdung und Abstumpfung. Eine einschneidende Wende in der Auseinandersetzung um die Mittel der Übertragung markierte in Deutschland die Ausstrahlung der Serie HOLOCAUST (USA 1978, Erstausstrahlung in Deutschland 1979). Durch die Reaktionen auf die amerikanische Fernsehserie wurde die Diskussion über die Bedenken bezüglich des filmischen Umgangs mit der Thematik erneut entfach, jedoch überwogen die positiven Reaktionen und Stimmen, die aufgrund der überwältigenden Rezeption gegen den Vorwurf einer „Trivialisierung der Geschichte“ anhielten. Der Historiker und Medienwissenschaftler Frank Bösch bezeichnet die Fernsehserie als „medien- und erinnerungsgeschichtliche Zäsur“202. Das Medienereignis markierte in der Bundesrepublik den Beginn der Bereitschaft eines Massenpublikums, sich mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen, und brach endgültig damit, dass die Medien Film und Fernsehen nicht in der Lage seien, den Völkermord der Nationalsozialisten an sechs Millionen Juden wirksam darstellen zu können.203 Das Fernsehen begann im Anschluss an den Erfolg des Vierteilers damit, den Völkermord der Deutschen im Zweiten Weltkrieg zum Gegenstand von Produktionen zu machen.

201 Vgl. dazu Emmerich, Wolfgang (1999): Paul Celan. Reinbek: Rowohlt; und Celan, Paul (1983/1960): Der Meridian. Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner Preises Darmstadt am 22. Oktober 1960, in: Allemann, Beda/Reichert, Stefan: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 182-202. 202 Bösch 2007, S. 2. 203 Jackob, Alexander (2004): Jenseits der Zeugenschaft, Zur Kritik kollektiver Bilder nach Holocaust in: Augenblick, Nr. 36: Zur neuen Kinematographie des Holocaust, S. 20-25.

          

Wenn NACHT UND NEBEL erstmals dem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß der Verbrechen Bilder gab,204 hat sich die Wirkung dieser Bilder in den letzten Jahrzehnten stark verändert: Cornelia Brink und Anton Kaes konstatieren, dass die Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Leichen oder zu Skeletten ausgemergelten Überlebenden beliebig medial vervielfältigt und konsumiert werden.205 Judith Keilbach beschreibt, dass in vielen Filmen und Fernsehsendungen „die Leichen trotz ihrer visuellen Sichtbarkeit nicht gesehen [werden]. Weil das vernichtete Leben in den als Blickobjekte dargebotenen toten Körpern ‚verborgen‘ bleibt, blicken wir durch sie hindurch“.206 Die fehlende Individualität und massenhafte Anonymisierung oder Bezifferung der Opfer habe eine „Reproduktion der Entmenschlichung“207 zur Folge, verstärkt durch einen Gestus des Zeigens: „Die Leichen werden durch die bloße Abbildung nicht aus ihrem Dasein als ‚Figuren‘ ‚erlöst‘, d.h. als ermordete Menschen erblickt und erfahren“208, wobei sich die Wahrnehmung auch anhand veränderter Darstellungskonventionen über die Jahre verschoben hat. Anton Kaes verortet die veränderte Wirkung der Bilder in Bezug auf die zeitliche Distanz zur historischen Erfahrung: „Es scheint unheimlich: Je weiter sich die Vergangenheit zeitlich entfernt, desto näher rückt sie. Bilder, unauslöschlich fixiert auf Celluloid, in Archiven gespeichert und tausendfach reproduziert, lassen die Vergangenheit nicht vergehen; sie haben den Platz eingenommen, den früher Erfahrung, Erinnerung und Vergessen innehatten. Man braucht die Hitlerzeit nicht mehr selbst erlebt haben, man weiß Bescheid: man kennt die Bilder über diese Zeit, authentische und nachgestellte. Das Gedächt-

204 Zur Entstehungsgeschichte, Rezeption und Wirkung des Films siehe Lindeperg 2010. Das Publikum – bis dato mit Schweigen über die schrecklichen Ereignisse bedacht – reagierte entsprechend schockiert und voller Abwehr. Die Rezeption zeichnet sich durch politische Instrumentalisierung und Interventionen verschiedener staatlicher Behörden aus, die gesamte Realisation ist von Schwierigkeiten – Zensur, aber auch psychische Belastungen und Uneinigkeiten unter den direkt an der Filmproduktion Beteiligten, durchzogen. 205 Brink 1998; Kaes, Anton (1987): Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film, München: edition text + kritik. 206 Keilbach 2008, S. 56. 207 Ebd. 208 Ebd.

         

     

nis wird in dem Maße öffentlich und kollektiv, in dem individuelles Erinnern von diesen Bildern überdeckt und beherrscht wird.“209

Seinen Ausführungen zufolge übernehmen die Bilder den Platz der individuellen Erinnerungen und Erfahrungen. Umso wichtiger erscheint demnach die Rolle des biografischen Dokumentarfilms in diesem Gefüge: Er ist darum bemüht, den Opfern, Überlebenden und Zeitzeugen der massenhaften Anonymisierung und Entmenschlichung zu entreißen und ihnen ihre Individualität zurückzugeben. Durch die Berichte der Überlebenden über ihre traumatischen Erlebnisse und Verlusterfahrungen erscheint der Terror der Konzentrationslager nicht mehr als a-historisches Ereignis. In der Debatte um die Legitimation der Darstellungskonventionen war der Dokumentarfilm jedenfalls lange Zeit weniger dem Vorwurf der Ästhetisierung des Schreckens ausgesetzt, als es bei Spielfilmen der Fall war. Gründe hierfür liegen in seiner vermeintlich diskursiven Wiedergabe von Geschichte ohne künstlerische Eingriffe bzw. Narrativierung, die dem Dokumentarfilm anhaftete. Der Dokumentarfilm wurde lange Zeit eher mit Wahrheit denn mit Schönheit assoziiert, der Vorwurf der Ästhetisierung mit Hilfe von Narrativierung war durch den Gebrauch dokumentarischer Formen, die weniger mit dem Erzählen von Geschichte gleichgesetzt wurden, gemildert. In Bezug auf Spielfilme jedoch belegen die zahllosen Debatten, Publikationen und Tagungsvorträge, die Filme wie SCHINDLERS LISTE (1993) oder DAS LEBEN IST SCHÖN (1997) nach sich gezogen haben, die Brisanz des Themas, das bis zum Verbot einer Ästhetisierung reichte. Demgegenüber steht die Forderung an die Zeitzeugen, Zeugnis abzulegen. Die Last der einschneidenden Ereignisse des letzten Jahrhunderts hat eine ganze Generation von Zeugen und Überlebenden bedrückt, und dies setzt sich auch in den nachfolgenden Generationen fort, die sich erinnern, erzählen und ihren Zeugenbericht weitergeben – oder aber dessen Unmöglichkeit. Seit NACHT UND NEBEL von Alain Resnais (Originaltitel NUIT ET BROUILLARD; die deutsche Übersetzung des französischen Textes von Jean Cayrol stammt von Paul Celan) wurden zahlreiche sehr unterschiedliche Dokumentarfilme gedreht, die Aspekte der Shoah behandeln. Insbesondere der interviewbasierte Dokumentarfilm fand ab den 1970er Jahren einen eigenen Eingang in den Diskurs um angemessene und unangemessene For-

209 Kaes 1987, S. 5.

          

men der Auseinandersetzung mit Geschichte. Anspruchsvoll gestaltete Beispiele, die in der deutschsprachigen Produktion Maßstäbe für die Selbstreflexion und die Selbstbeschränkung filmischer Annäherungen an die Thematik setzten und darüber hinaus zur verfahrensmäßigen Problematisierung von Aussagen beitrugen, sind etwa die Filme von Eberhard Fechner (COMEDIAN HARMONISTS von 1977, DER PROZESS von 1984) und Hans Dieter Grabe (MENDEL SCHAINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND von 1972). Auch in Dokumentationen wie LAGERSTRAßE AUSCHWITZ von Ebbo Demant (1978) aus der Reihe MENSCHEN UND STRAßEN wird in Ansätzen versucht, die Opfer der bloß zahlenmäßigen Erwähnung zu entreißen und sie als Individuen darzustellen, die vor dem Holocaust ein Leben geführt haben. In der direkten Adressierung der Problematik („Einer. Häftlingsnummer 59.589. Er hat einen Namen, er hat einen Geburtstag, er hatte Augen, die waren dunkel, er hatte Haare, die waren grau. Er sprach. Er hatte ein Leben.“210) macht die Dokumentation die Aberkennung des Namens rückgängig und agiert gegen die Bezifferung (sowohl in Form der Häftlingsnummer als auch der Opferzahlen). In Frankreich thematisiert Marcel Ophüls den Antisemitismus in LE CHAGRIN ET LA PITIÉ (1969) anhand von zahlreichen Interviews und Gesprächen mit Zeitzeugen und enttabuisiert den Widerstand und die Kollaboration während der Zeit der deutschen Besatzung, was erbitterte Diskussionen auslöste. Wenn auch nicht als direkte filmische Auseinandersetzung mit der Massenvernichtung und deren Darstellungsproblematik, so sollte doch die akribische Verflechtung von Zeitzeugenaussagen mit Filmmaterial aus Archiven und Wochenschauen zu einem komplexen und vielschichtigen Porträt über die Besatzungszeit, das das Bild vom im Widerstand geeinten Frankreich zum Wanken brachte, für das Dokumentarfilmschaffen wegweisend werden. Paradigmatisch für den Umgang mit der Unzulänglichkeit der historischen Erfahrung ist zweifelsohne der neuneinhalbstündige Film SHOAH (1985) von Claude Lanzmann, in dem der Regisseur eine filmische Spurensuche im Dialog mit Überlebenden und Zeitzeugen entwickelt; als Fürsprecher des Verdiktes vom Bilderverbot kommt er ohne den Rückgriff auf die Bilder des Grauens aus. Wie auch NACHT UND NEBEL setzt er sich mit der Unmöglichkeit der Zeugenschaft auseinander und verweist, 30 Jahre später, erneut auf die Unzugänglichkeit des Ereignisses. Lanzmann lässt zahlreiche

210 Vgl. Keilbach 2008, S. 56 f.

         

     

Zeugen der Ereignisse zu Wort kommen und versucht dabei, minutiös über die Vielzahl der Berichte die systematische Massenvernichtung aufzuspüren. Die Herstellung von Sichtbarkeit vollzieht sich in den detaillierten Beschreibungen und der Sprache, sowie in der Suche nach Spuren der Vernichtung an den historischen Orten – denn Lanzmann setzt insbesondere auf die Imagination der Zuschauer, also auf die Vorstellungsbilder, die durch die Beschreibung der Ereignisse erzeugt werden. Für ihn ist eine Imagination nur möglich, wenn die Vorstellungsbilder nicht durch konkretisierende, tatsächliche Bilder definiert sind, was beim Einsatz von historischem Bildmaterial nach Lanzmann der Fall wäre. Für die geführte Diskussion über die Darstellbarkeit des Holocaust und die zahlreichen theoretischen Konzeptionen fungiert der Film SHOAH als paradigmatischer Bezugspunkt.211 Wenn auch kein biografischer Dokumentarfilm, so stellt er für den biografischen Dokumentarfilm eine wichtige Referenz dar, denn er bezweckt nicht eine Rekonstruktion des historischen Ereignisses Holocaust, sondern fragt vielmehr nach Möglichkeiten seiner Darstellung und den Erinnerungsmechanismen, die eine solche Darstellung bestimmen.

211 Vgl. Keilbach 2008, S. 64.

          

Der zeitgeschichtliche biografische Dokumentarfilm ist von den Eigenschaften der Zeitzeugen und den lebensgeschichtlichen Perspektiven ebenso geprägt wie von der besonderen Schwere der Themen (Nationalsozialismus, Repressionserfahrung in der DDR). Diese werden durch spezifische, formalästhetische Aspekte und Verfahren strukturiert, die es bei der Erfassung der Darstellungsmuster und Kennzeichen zu berücksichtigen gilt. Relevant dabei sind die Montageverfahren, die visuelle Inszenierung der Zeitzeugen, die Interviewstrategien und die Formen der Adressierung. Im biografischen Dokumentarfilm fungieren die Akteure vor der Kamera in aller Regel als Zeugen, die mit ihrem Gesicht und ihrem Körper die Authentizität des Berichteten verbürgen.1 Dabei sind sie an einem sozial-performativen Raum gebunden und die Filme bieten eine Synthese zwischen Erzähler/innen und ihren Lebenswelten an, worüber auch eine empathische Bindung an die Protagonisten ermöglicht wird. Weil das Interview essenzieller Bestandteil des historischen biografischen Dokumentarfilms ist, rückt vor allem das semantische Verhältnis des sprachlich-bildlichen Zusammenhangs für die Analyse in den Vordergrund.2 Die Grundmuster der Wort-Bild-Beziehung lassen sich

1

Vgl. Hartmann, Britta/Wulff, Hans J. (2014): Dokumentarische Bild/Ton-Disjunktionen und die Rolle der Imagination, in: Preußer, H.-P. (Hg.): Anschauen und Vorstellen. Gelenkte Imagination im Kino, Marburg: Schüren, S. 272.

2

Zur Analyse der akustischen Mittel, die auf einen Code oder eine Sprache verweisen, die eine Botschaft interpretieren lassen (wie etwa die akustische Sprache) bezieht sich Michel Chion auf einen Hörmodus, den er als „semantisches Hören“

     

 

     

anhand raum-zeitlicher Zuordnungskriterien (Synchronität/Asynchronität, On/Off ) kategorisieren sowie anhand der Qualitäten der Zuordnung der beiden Ausdruckmaterien oder Informationsmodalitäten3 verbalsprachliche Äußerung und Visualisierung.

 

        

      Innerhalb der Betrachtungen der Ton-Bild-Relationen im Film ist über den sprachlich-bildlichen Zusammenhang vergleichsweise wenig geschrieben worden, die Interaktion dieser Systeme ist in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wenig beachtet.4 Erste ernsthafte Versuche in Bezug auf die formale Organisation von Dokumentarfilmen beginnen in den 1970er Jahren mit Bill Nichols, der zwei grundlegende Muster in der Wort-Bild-Beziehung unterscheidet. Er subsumiert sie als Adressierungsweisen: die direkte und die indirekte Adressierung, je nachdem, ob der Zuschauer explizit als Subjekt, an das der Film sich richtet, angesprochen wird oder nicht.5 Diese Modi lassen sich dahingehend

bezeichnet; Chion, Michel (2013): Audio-Vision. Ton und Bild im Kino, Berlin: Schiele & Schoen, S. 34 f. 3

Vgl. Hartmann/Wulff 2014, S. 272.

4

Ansätze finden sich unter anderem bei Arnheims Prinzip des Kontrastes oder Eisensteins Kontrapunkt-Theorie. Sigfried Kracauers Systematisierung der WortBild-Beziehungen, in die auch Eisensteins Kontrapunkt-Theorie integriert ist, geht vom Paar aktueller und kommentierender Ton und von Parallelismus und Kontrapunkt aus. Er kommt mit den vier Begriffen Parallelismus, Kontrapunkt, Synchronismus, Asynchronismus zu folgenden Typen: paralleler/kontrapunktischer Synchronismus, paralleler/kontrapunktischer Asynchronismus (vgl. Kracauer 1985/1960, S. 147 f.); Sarah Kozloff hat sich dem lange Zeit vernachlässigten Dialog im Spielfilm gewidmet, Kozloff, Sarah (2000): Overhearing Film Dialogue, Berkley/Los Angeles/London: University of California Press; Michel Chion hat audiovisuelle Beziehungen betrachtet, wobei sein Augenmerk auf der Tongestaltung (Geräusche, Musik) liegt, Chion 2013.

5

Vgl. Nichols 1998 (1976).

          

differenzieren, ob der Betrachter von Charakteren („Individuen, die ihre außerhalb des Films gelebten sozialen Rollen repräsentieren“) oder von Sprechern („Individuen, die die Perspektive des Dokumentarfilms selbst repräsentieren und üblicherweise Stellvertreter für die Interpretation des Filmemachers sind“) angesprochen wird.6 Weiterhin unterscheidet Nichols nach Synchronität und Asynchronität, womit er zu folgendem Diagramm kommt:

Direkte Adressierung synchron

nicht-synchron

Sprecher

Stimme der Autorität Bilder dienen der Illustration

allwissender Kommentar

Charaktere

Interview Bilder dienen der Illustration

Stimme eines Zeugen

Indirekte Adressierung synchron  Sprecher Charaktere

nicht-synchron

– cinéma vérité Stimme und Bild eines sozialen Akteurs

– Stimme eines sozialen Akteurs Bilder dienen der Illustration

Diagramm nach Bill Nichols, 1998 (1976), S. 168

6

Ebd., S. 167.

         

     

Um einiges differenzierter unternahmen die französischen Filmtheoretiker Dominique Chateau und François Jost den Versuch einer Systematisierung. Sie haben ein Teilsystem der audiovisuellen Kombinatorik entwickelt, deren Ausgangspunkt Metz’ „Große Syntagmatik“ lieferte, wobei sie deren Beschränkung auf klassische Erzählformen bemängelten. Der Entwurf einer sogenannten nouvelle sémiologie, die die Unabhängigkeit der Tonspur mitberücksichtigt, entwickelten Chateau/Jost am Beispiel der Filme von RobbeGrillet, da diese nicht eindeutig einer Gattung/einem Genre zuzuordnen sind. Nach Chateau/Jost führt die Untersuchung der Besonderheiten der einzelnen Filme zu den allgemeinen kinematografischen Codes. An Robbe-Grillets Filmen erweist sich für Chateau/Jost, dass „Töne in ihrer Beziehung zum Bild […] grundsätzlich von ihrer Platzierung im filmischen Kontext analysiert werden können“7. Die herkömmliche Unterscheidung der Zuordnung von Bild und Ton nach On und Off erklären Chateau/Jost als unzulänglich, denn sie kann beispielsweise nicht aussagen, ob der Ton zum kontinuierlichen, vom Bild nicht visualisierten Raum gehört oder einem völlig heterogenen Raum zuordungsbar ist. Ein durch den weiteren, nicht visualisierten Raum motivierter Ton habe demnach mehr Ähnlichkeit mit einem Ton im On als etwa mit der Musik im Off. Die Autoren schlagen deshalb vier Verbindungsmöglichkeiten vor: • liée-concrète – der visuelle Kontext des Tons beinhaltet dessen Quelle; • liée-musicale – wenn der musikalische Ton ein Geräusch ersetzt, das an

dieser Stelle eine konkrete Verbindung (liée-concrète) hätte eingehen können, z.B. wenn beim Fallen eines Gegenstandes ein Pizzicato zu hören ist; • libre-concrète – ein leicht zu identifizierender Laut erscheint in einem Kontext, in dem er keiner adäquaten ikonischen Aussage entspricht; • libre-musicale – der Ton bleibt in Bezug auf die Filmumgebung völlig abstrakt.8 Die sonst übliche Ineinssetzung von Synchronismus und O-Ton wird somit aufgehoben. Die Visualisierung von zusammenklappenden Wäscheklam-

7

Chateau, Dominique/Jost, François (1979): Nouveau cinéma, nouvelle sémiologie. Essai d’analyse des films d’Alain Robbe-Grillet, Paris: Union Générale d’Éditions, S. 34.

8

Ebd., S. 32.

          

mern beispielsweise wird von Glockenschlag synchron untermalt (Synchronismus), obwohl der Ton eindeutig aus dem Off kommt. Spätestens hier wird klar, dass Nichols Unterscheidung nach synchron/nicht-synchron für die Erfassung des räumlichen Bezugs unzulänglich ist. Eine umfangreiche Kombinatorik der Wort-Bild-Beziehungen hat Reinhold Rauh 1987 für den Spielfilm entwickelt, die sich ebenso auf den Dokumentarfilm übertragen lässt. In Anlehnung an Chateau/Jost greift er die nun mögliche Trennung von On und Synchron auf und klassifiziert danach, ob sich eine räumliche und zeitliche Zuordnung zwischen Wort und Bild feststellen lässt.9 Dabei entstehen folgende Verbindungsmöglichkeiten: • Syntop-synchron: Wort und Bild lassen sich einander zeitlich wie räumlich

zuordnen.10 Diese Verbindung entspricht dem, was gewöhnlich On genannt wird: Die Quelle des Gesprochenen ist hier optisch verifizierbar und das Gesprochene verhält sich synchron; • Asyntop-synchron: Wort und Bild lassen sich einander zeitlich, aber nicht räumlich zuordnen. Diese Kombination entspricht am ehesten der französische Bezeichnung hors du champ oder dem off the screen. Besonders oft findet sie Anwendung im sogenannten Schuss-Gegenschuss-Verfahren, wenn das Sprechen einer Person sich in der Zeit der nächsten, den Antagonisten visualisierenden Einstellung fortsetzt; • Syntop-asynchron: Es kann auch – sehr viel seltener – eine räumliche Zuordnung ohne zeitlichen Bezug bestehen, wenn beispielsweise die Schallquelle zwar im Bild ist, der Ton aber dem Bild beim Sprechen den Lippenbewegungen nachhinkt; • Asyntop-asynchron: Schließlich kann es ein Nebeneinander von Wort und Bild geben, ohne dass sie einander räumlich oder zeitlich zuordnungsbar sind. Hier ist also weder die Schallquelle des Gesprochenen zu sehen, noch fällt der Zeitpunkt des Sprechens mit dem Zeitpunkt der Visualisierung zusammen.

9

Vgl. Rauh, Reinhold (1987): Sprache im Film. Die Kombination von Wort und Bild im Spielfilm, Münster: MAkS Publikationen, S. 64 f.

10 Mit zeitlich zuordnungsbar ist synchron gemeint, räumlich zuordnungsbar bedeutet, dass die Schallquelle visualisiert ist. Als Abkürzung benutzt Rauh den Neologismus syntop, vgl. Rauh 1987.

         

     

             Neben raum-zeitlichen Zuordnungskriterien ist vor allem die Qualität der Zuordnung erheblich. Hierbei hat Rauh vier Grundformen unterschieden, die allerdings miteinander verbunden sind: Potenzierung, Modifikation, Parallelität und Divergenz. Die Potenzierung ist die hauptsächliche Qualität des Interferierens und meint die gegenseitige Steigerung, indem sich beide Aussageebenen ergänzen und damit ein größeres, übergeordnetes Ganzes ergeben: „Potenzierungen ermöglichen den sprachlich-bildlichen Gesamteindruck, für den die (mögliche) eigenständige Signifikanz des Verbalen oder Visuellen verwischt ist. Sie sind Garanten des Kino-Naturalismus, für den, wie im alltäglichen Leben, das Sprachliche und das Visuelle in den jeweilig spezifischen Ausdrucksmaterien zumeist keine besondere Relevanz haben und allein der Mitteilung der (nach Ausdruckssubstanzen zusammengesetzten) Nachricht dienen. Im Fall von Potenzierungen ist die künstliche, analytische Trennung von Verbalität und Visualität aufgehoben.“11

Modifikation bedeutet eine gegenseitige Einschränkung, weil das Bild Aspekte enthält, die zum Wort im Widerspruch stehen und damit eine Einschränkung in der Bedeutung des Wortes und auch des Bildes erzeugen. „Modifikationen kommen wesentlich durch Generierung von Oppositionen im Bild zustande und können im Übrigen auch noch nach den Merkmalen ‚konträr‘ vs. ‚kontradiktorisch‘ dichotomisch aufgeschlüsselt werden.“12 Parallelität meint, dass das Wort nicht mehr an Informationen liefert als das Bild schon bietet, dass also von einer semantischen Verdoppelung gesprochen werden kann, die ihrerseits aufgrund der unterschiedlichen Materialitäten der Ebenen spezifische Effekte erzeugt; von Divergenz ist dagegen zu sprechen, wenn das Wort Informationen liefert, die keinen Bezug zum Bild herstellen, aber als dazugehörig rezipiert werden und deshalb oft nur im übertragenen Sinn zugeordnet werden können. Hartmann/Wulff sprechen in

11 Rauh 1987, S. 76. 12 Ebd., S. 84.

          

diesem Fall von Bild/Ton-Disjunktionen bzw. einer Desintegration von Text und Bild.13 Zu Divergenz ist noch zu bemerken, dass das Sprachliche dem Bildlichen zwar nicht zuordnungsbar ist, dennoch wegen des zeitlichen Verhältnisses vom Rezipienten zugeordnet werden muss. Beispielsweise kann der sprachliche Ausdruck dadurch, dass das Gesagte nicht im Bild identifizierbar ist, rätselhaften Charakter erhalten und erfährt über Konnotationen eine Zuordnung. „Insbesondere die Divergenz ist es schließlich auch, die eine metaphorische Funktion der Kombination sichern kann. Ebenso kann Parallelität poetisch wirksam sein, wenn sie über das Gleiche die Verschiedenartigkeit der beiden Ausdrucksmaterien zum Bewußtsein bringt.“14 Rauhs Diversifizierung in Divergenz und Modifikation ist ausschlaggebend für die Präzisierung des häufig gebrauchten Begriffs des Kontrapunkts. Die vorgestellte Terminologie scheint gerade für die differenzierte Beschreibung der Wort-Bild-Beziehungen und der Adressierungen im Dokumentarfilm einen willkommenen Ansatz zu bieten. Zwar hat sich Rauh entschieden gegen eine solche Möglichkeit geäußert, doch ist es insofern zu vernachlässigen, als dass Rauhs Schriften von einer zum Teil erschreckenden Unkenntnis grundlegender Prinzipien des Dokumentarfilms zeugen, den er etwa als künstlerisch irrelevant (und damit für die Qualitäten des Interferierens Divergenz, Modifikation und Parallelität als untauglich) aus seiner Untersuchung ausschließt.15 Besonders im Hinblick auf Fragen der Vermittlungsstrategien scheint mir die Übertragung der verschiedenen Qualitäten der Zuordnung von Rauh auf Dokumentarfilme Präzisierungsmöglichkeiten

13 Hartmann/Wulff 2014, S. 269 f. 14 Ebd. S. 85. 15 Ebd. S. 255. Der Medienwissenschaftler Bernhard Wember hat einen oft gebrauchten Begriff geprägt, um ein Ton-Bild-Verhältnis zu beschreiben: die „BildText-Schere“. Darunter subsumiert er die thematische Entfernung zwischen Bild und Text und das Verhältnis des Reizwertes des Bildes und des Kompliziertheitsgrads des Textes als Kriterium für die Verständlichkeit und den Informationsgehalt eines Filmtextes. Zwar ist Wembers Modell, in dem er die verschiedenen Stufen des Auseinanderklaffens beschreibt, anschaulich, in Bezug auf die Beeinflussung der interferierenden Zeichensysteme jedoch undifferenziert und somit wenig aussagekräftig, vgl. Wember, Bernward (1976): Wie informiert das Fernsehen? München: List.

         

     

anzubieten. Wenn für die Untersuchung die semantische Beeinflussung von Wort und Bild anhand der Qualitäten der Zuordnung, wie sie Rauh für den fiktionalen Film erarbeitet hat, herangezogen werden, so geschieht dies nicht unabhängig von der Betrachtung der Bedeutungserzeugung beim Rezeptionsakt. Im Sinne der Semio-Pragmatik begründen die rein im Filmtext eingeschriebenen Verfahren erst im Zusammenspiel mit anderen bedeutungskonstituierenden Modi die jeweils spezifischen Leseanweisungen und Lektüremodi.16 Davon ausgehend können die dokumentarisierenden, fiktionalisierenden oder ästhetisierenden Modi der Wort-Bild-Beeinflussungen erst im Raum der Rezeption mitberücksichtigt werden. Letzteres gerade im Falle von Divergenzen, wenn Assoziationen anhand von metaphorischen Zuordnungen induziert werden, die sich im Zurückgreifen auf schematisierte Wissenskomplexe ergeben.17

               Für eine Präzisierung ergeben sich aus den bisherigen Ausführungen als Zuordnungskriterien Nichols Einteilung verbalsprachlicher Äußerungen in direkte und indirekte Adressierung sowie Rauhs Klassifizierung nach räumlicher und zeitlicher Zuordnungsbarkeit (syntop/asyntop und synchron/asynchron). In Bezug auf die formale Struktur von Dokumentarfilmen lassen sich zusammenfassend zwei Kategorien der akustisch-verbalen Ebene – der Stimme – ausmachen: (1) die Sprecher und (2) die Charaktere, wobei letztere soziale Akteure sind, die entweder ihre außerhalb des Films gelebten sozialen Rollen repräsentieren oder bestimmte, von anderen gelebte Rollen zugewiesen bekommen (z.B. im Falle einer Re-Inszenierung, als Komparsen etc.).18 Sprecher vertreten die Gruppe der Filmemacher/innen (Filmautorin, Regisseur) oder die Repräsentanten der Filmemacher/innen bzw. der hinter dem Film stehenden Instanzen, die dessen Haltung darstellen und für den Diskurs verantwortlich zeichnen (filmische Aussageinstanz). Sprecher und

16 Vgl. Odin 1998 (1984). 17 Vgl. Hartmann/Wulff 2014, S. 280. 18 Vgl. Nichols 1998, S. 167.

         

Charaktere richten sich jeweils in zwei Modi der Adressierung an die/den Rezipient/in: der direkten und der indirekten. Des Weiteren lassen sie sich je nach räumlicher und zeitlicher Zuordnung zum Bild folgendermaßen spezifizieren: Bei direkter Adressierung können sich Sprecher syntop-synchron zum Bild verhalten, wenn sie sich an den Zuschauer bei gleichzeitiger Visualisierung wenden; asyntop-synchron dann, wenn sie dem weiteren, nichtvisualisierten Raum zuordnungsbar sind; und schließlich sind Sprecher asyntopasynchron, wenn die Stimme einem völlig heterogenen Raum zuordnungsbar ist (asyntop-asynchrone Verbindungen werden im Dokumentarfilm üblicherweise als Kommentar bzw. Voice-Over bezeichnet). Syntop-asynchrone Verbindung – wenn etwa die Sprache den Lippen nachhinkt – kommt als verfahrensmäßig eingesetzt kaum vor. Auch wenn Nichols Sprecher von der indirekten Adressierung ausschließt, so können diese sich an Charaktere syntop-synchron wenden, wenn sie gleichzeitig visualisiert sind (etwa in einem Gespräch oder Interview) und asyntop-synchron, wenn sie dem erweiterten, nicht-visualisierten Raum zuordnungsbar sind (wenn beispielsweise bei einem Interview der Fragesteller zu hören, nicht aber zu sehen ist). Diese Unterscheidung ist besonders von Bedeutung im Hinblick auf die Analyse des dokumentarischen Interviews. Weiterhin relevant ist die direkte und indirekte Adressierung der Protagonisten, die sich je nach räumlicher und zeitlicher Zuordnungsbarkeit syntop-synchron, asyntop-synchron, syntop-asynchron und asyntop-asynchron zum Bild verhalten können, wobei letztere Verbindung den Status eines Kommentars einnehmen kann, der jedoch eindeutig einem Protagonisten entstammt. Charaktere Direkte Adressierung • Syntop-synchron (Interview, Zeugenaussage vor der Kamera) • Syntop-asynchron (Ton hinkt den Lippen hinterher, Verfremdungseffekt) • Asyntop-synchron (Umgebung/Ort des Interviews wird während eines Interviews visualisiert, beispielsweise sieht man Fotos auf dem Tisch, CutAway auf Hände etc. während des Interviews; der Ton gehört zum kontinuierlichen, nicht-visualisierten Raum)

         

     

• Asyntop-asynchron (Zeugenaussagen parallel zu Bildern, die nicht zum

Zeitpunkt der Aussage entstanden zu sein vorgeben; der Ton ist einem heterogenen Raum zuordnungsbar) Indirekte Adressierung • Syntop-synchron (Stimme und Bild eines sozialen Akteurs) • Syntop-asynchron (Ton hinkt den Lippen hinterher, Verfremdungseffekt) • Asyntop-synchron (Schuss/Gegenschuss; Stimme eines sozialen Akteurs gehört zum kontinuierlichen, nicht visualisierten Raum) • Asyntop-asynchron (Stimme eines sozialen Akteurs, Bilder räumlich und zeitlich davon unabhängig)

Sprecher Direkte Adressierung • Syntop-synchron (Interviewer/Autorin adressiert sich direkt und ist im

Bild zu sehen) • Syntop-asynchron (Ton hinkt den Lippen hinterher, Verfremdungseffekt) • Asyntop-synchron (Stimme des/der Interviewer/Autorin, zum kontinuierlichen, nicht visualisierten Raum gehörend, die sich an die Zuschauerin direkt wendet, ohne jedoch als solche im Bild präsent zu sein) • Asyntop-asynchron (Aussage parallel zu Bildern, die nicht zum Zeitpunkt der Aussage entstanden zu sein vorgeben; der Ton ist einem heterogenen Raum zuordnungsbar; Kommentar) Indirekte Adressierung • Syntop-synchron (Autor im Bild/Ton, Subjektive des Autors, Autor als

solcher deutlich kenntlich, bzw. Autor/Regisseur selbst oder Repräsentant des Autors) • Syntop-asynchron (s. direkte Adressierung) • Asyntop-synchron (Schuss/Gegenschuss; Fragen des Interviewers zu hören) • Asyntop-asynchron (Stimme Autor/Regisseur, Bilder räumlich und zeitlich unabhängig)

          

Mit dieser Systematisierung lassen sich Adressierungsweisen und somit der Grad der Interaktion im partizipativen Modus nach Nichols19 und das dargestellte Verhältnis zwischen Regisseur/in und Protagonisten/innen genauer beschreiben. Die Unterscheidung der Qualitäten der Zuordnung in Potenzierung, Modifikation, Divergenz und Parallelität erlaubt Verfahren der Darstellung begrifflich zu präzisieren, wenn beispielsweise die semantische Modifikation eingesetzt wird, um auf visueller Ebene die Aussage des Protagonisten infrage zu stellen, oder die Potenzierung als gegenseitige Bekräftigung der beiden Ausdrucksmaterien.

             Der hier untersuchte zeithistorische biografische Dokumentarfilm zeichnet sich im Allgemeinen dadurch aus, dass die Filme auf Interviews und Gespräche mit Protagonisten basieren. Die Interviews dienen primär der lebensgeschichtlichen Perspektivierung von Erfahrungen und ihrer Kontextualisierung bezüglich zeitgeschichtlicher Zusammenhänge. Entsprechend vielfältig gestalten sich die Merkmale der narrativen und zeitlichen Struktur und der Grad der Interaktion der Filmemacher/innen. Die Bandbreite der Ausdrucksformen ist sehr groß, weshalb es im Sinne einer Kategorisierung sinnvoll ist, die Filme nach strukturellen Merkmalen zu unterscheiden. In Anlehnung an Hißnauer20 können die Filme aus dem Untersuchungskorpus nach folgenden Merkmalen kategorisiert und gruppiert werden: • Filme mit nur einem Protagonisten/einer Protagonistin. Beispiele hierfür

sind WARUM IST FRAU B. GLÜCKLICH, 1968, von Erika Runge, MENDEL SCHAINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND, 1972, von Hans-Dieter, IM TOTEN WINKEL – HITLERS SEKRETÄRIN, 2002, von André Heller und Othmar Schmiderer, DIE FRAU MIT DEN FÜNF ELEFANTEN, 2009, von Vladim Jendreyko oder DANACH HÄTTE ES SCHÖN SEIN MÜSSEN, 2001, von Karin Jurschick. • Filme, in denen ein bis zwei Protagonisten im Mittelpunkt stehen, und andere Interviews ergänzend verwendet werden (HERR ZWILLING UND FRAU 19 Nichols 1991. 20 Hißnauer 2011, S. 287 f.

         

     

ZUCKERMANN, 1999, von Volker Koepp, DIE WOHNUNG, 2012, von Arnon Goldfinder, DIE RAPOPORTS – UNSERE DREI LEBEN, 2003, von Sissi Hüetlin und Britta Wauer, ZWEI NAMEN, EIN LEBEN, 1997, von Elke Baur, MEINE MUTTER, DER KRIEG UND ICH, 2014, von Tamara Trampe, L’CHAIM! – AUF DAS LEBEN, 2014, von Elkan Spiller, NOBODY’S BUSINESS, 1996, von Alan Berliner, DAS WIRST DU NIE VERSTEHEN, 2003, von Anja Salomonowitz, DAS ENDE DES NEUBACHERPROJEKTS, 2006 von Marcus J. Carney), CHOICE AND DESTINY, 1993, Tsipi Reichenbach. • Filme, in denen mehrere lange Interviews verwoben werden (KLASSENPHOTO, 1971, von Eberhard Fechner, WOLFSKINDER, 1991, von Eberhard Fechner, HOTEL TERMINUS, 1989, von Marcel Ophüls, SHOAH, 1985, von Claude Lanzmann, …VERZEIHUNG, ICH LEBE, 2000, von Andrzej Klamt, TOTSCHWEIGEN, 1994, von Margarete Heinrich und Eduard Erne, DIE LETZTEN TAGE, 1998, von James Moll, 7 BRÜDER, 2003, von Sebastian Winkels, JEDER SCHWEIGT VON ETWAS ANDEREM, 2006, von Marc Bauder und Dörte Franke, DAS WIRST DU NIE VERSTEHEN, 2003, von Anja Salomonowitz, PASSING DRAMA, 1999, Angela Melitopoulos) • Filme, in denen die Hauptperson, deren Lebensgeschichte rekonstruiert wird, abwesend ist und andere Protagonisten zu ihrer Lebensgeschichte befragt werden (NACHREDE AUF KLARA HEYDEBRECK, 1969, von Eberhard Fechner, SERGEJ IN DER URNE, 2009, von Boris Hars-Tscharchotin) • Familienfilme: (autobiografische) Filme, in denen die Hauptprotagonisten/innen Familienangehörige sind und die sich innerfamiliären Aufarbeitungsprozessen widmen (IMA, 2001, von Katharina Klusemann, DAS ENDE DES NEUBACHERPROJEKTS, 2006, Marcus J. Carney, DANACH HÄTTE ES SCHÖN SEIN MÜSSEN, 2001, von Karin Jurschick WAR EINST EIN WILDER WASSERMANN, 2000, von Claudia Alemann, DAS WIRST DU NIE VERSTEHEN, 2003, Anja Salomonowitz, 2 ODER 3 DINGE, DIE ICH VON IHM WEISS, 2005, von Malte Ludin, MEINE MUTTER, DER KRIEG UND ICH, 2014, von Tamara Trampe, OMA & BELLA, 2012, von Alexa Karolinski, MUTTER UND IHRE SCHWESTERN, 1997, von Tsipi Reichenbach, AMOR FATI – LIEBE ZUM SCHICKSAL, 1996, von Sophie Kotanyi) Die Typologie zeigt die unterschiedlichen Zugänge zu individuellen Erinnerungen auf, von der Konzentration auf die Aussagen einzelner Individuen über die multiperspektivische Beleuchtung individueller Schicksale und die tatsachenorientierte Aufarbeitung von zeitgeschichtlichen Zusammenhän-

         

gen. Die Filme unterscheiden sich weiterhin nach dem Grad der Interaktion des/der Filmemacher/in. Für die Einzelanalysen, die den Erkenntnisprozess in Bezug auf die Charakteristika des biografischen Dokumentarfilms leiten, sind die folgenden Unterscheidungsmerkmale in Rückkoppelung an Bill Nichols Modi zu kontextualisieren (beobachtender, interaktiver, selbstreflexiver und performativer Modus). Die folgende Einteilung berücksichtigt die Wort-Bild-Beziehungen im Rahmen der direkten und indirekten Adressierung und veranschaulicht die Zuordnung der analysierten Filme: • Sprecher/Filmemacherin tritt als aktive/r Protagonist/in auf (überwiegend

in den autobiografischen Familienfilmen, wie etwa DIE WOHNUNG, 2012, von Arnon Goldfinder, OMA & BELLA, 2012, von Alexa Karolinski, IMA, 2001, von Katharina Klusemann, DANACH HÄTTE ES SCHÖN SEIN MÜSSEN, 2001, von Karin Jurschick, 2 ODER 3 DINGE, DIE ICH VON IHM WEISS, 2005, von Malte Ludin, VERRIEGELTE ZEIT, 1990 von Sybille Schönemann, aber auch in Filmen wie SHOA, 1985 von Claude Lanzmann, THE MEMORY OF JUSTICE, 1975, von Marcel Ophüls, in denen sich die Filmemacher aktiv als solche zu erkennen geben und syntop-synchron in Erscheinung treten.) • Filmemacher/in ist nur in der direkten Adressierung und asyntop-asynchron, als Sprecher/Kommentatorin vertreten. Beispiele hierfür sind die Filme von Hans-Dieter Grabe (ER NANNTE SICH HOHENSTEIN, 1994) oder DIE RAPOPORTS – UNSERE DREI LEBEN, 2003, von Sissi Hüetlin und Britta Wauer. • Filmemacher/in ist nur auf auditiver Ebene als Interviewer wahrnehmbar (asyntop-synchron). Zu dieser Kategorie gehören MENDEL SCHAIFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND, 1972 oder MENDEL LEBT, 1999 von Hand-Dieter Grabe und HERR ZWILLING UND FRAU ZUCKERMANN, 1999 von Volker Koepp. • Die filmische Aussageinstanz bleibt unbemerkt, tritt in den Hintergrund und wird diegetisch nicht eingebunden, wie etwa bei GERDAS SCHWEIGEN, 2005, von Britta Wauer. Es versteht sich von selbst, dass der Grad der Interaktion innerhalb eines filmischen Werkes variieren kann, weshalb die Kategorisierung anhand der überwiegenden Merkmale (innerhalb der Filmstruktur) vollzogen wurde. Die Interaktion wird von Kategorien bestimmt wie: Beobachtung versus Interaktion, Beobachtung versus Inszenierung, Ausmaß der (gezeigten) Kon-

         

     

trolle über die Inszenierung (etwa situative wie bildgestalterische Kontrolle), Ausmaß der Kontrolle über die Interaktion sowie Ausmaß der Reflexivität – die in der Einordnung der Filme, wie sie im Kapitel 5 vorgenommen wird, ihren Niederschlag finden. Relevant sind diese strukturellen Merkmale für die Untersuchung des filmischen Diskurses, der sich aus dem filmsprachlichen Diskurs (Argumentationsstruktur, Art, Zusammenhang und Abfolge der Argumente, verbale Ebene, Tongestaltung) und dem filmbildlichen Diskurs (Analyse des Visuellen nach Hickethier21) ergibt – wobei diese Ebenen nicht voneinander getrennt untersucht werden. Vielmehr fließen ihre Wechselwirkungen in die Untersuchung, wie sie einen spezifischen Zugang zur Vergangenheit konstruieren und konstituieren, ein. Die ästhetisch-rhetorischen Strategien, die die Funktions- und Wirkungsweise des biografischen Dokumentarfilms mitbestimmen, werden in semio-pragmatische Kategorien übersetzt, die einzeln wie auch kombiniert auftreten können. Darunter zählen vor allem das Spiel mit (fiktionalen und nicht-fiktionalen) Gattungskonventionen, Authentisierungsstrategien, Reflexivität und Selbst-Reflexivität sowie Intermedialität (aus unterschiedlichen medialen Kontexten stammende Dokumente wie Zeitungsausschnitte, Archivunterlagen, Fotografien, Filmausschnitte aus anderen Zusammenhängen). Bezüglich ihrer zeitlichen Grundstruktur lassen sich die lebensgeschichtlichen Perspektiven wie folgt systematisieren: • Lebenschronologisches Vorgehen: Die Chronologie der Lebensgeschichte

bestimmt die zeitliche Struktur (7 BRÜDER, 2003, von Sebastian Winkels, NACHREDE AUF KLARA HEYDEBRECK, 1969, von Eberhard Fechner, WARUM IST FRAU B. GLÜCKLICH, 1968, von Erika Runge). • Der Ablauf eines Ereignisses bestimmt die zeitliche Struktur (WOLFSKINDER, 1991, von Eberhard Fechner: Fluchtgeschichte im 2. WK; DER PROZESS, 1984, von Eberhard Fechner: Ablauf eines Strafprozesses; DIE WOHNUNG, 2012, von Arnon Goldfinger: Auflösung einer Wohnung; VERRIEGELTE ZEIT, 1990, von Sybille Schönemann: Verhaftung und Haftzeit in der DDR).

21 Hickethier, Knut (1994): Aspekte der Fernsehanalyse. Methoden und Modelle. Hamburg/Münster: Lit Verlag.

          

Diese Einteilungsmerkmale in Bezug auf die zeitliche Grundstruktur sind nicht als kategorische Maßgaben zu behandeln, sondern als Zugriffsmöglichkeiten auf die (narrative) Strukturierung der Filme. Sie treten in den meisten Filmen aus dem Untersuchungskorpus kombiniert auf und bestimmen die thematischen Blöcke und die Logik der Anordnung mit.

              

    In Anlehnung an Odins Modi der Sinn- und Affektproduktion, die sich im Zusammenspiel interner und externen Faktoren ergeben, differenziere ich die Modi in Bezug auf den biografischen Dokumentarfilm um den erfahrungsorientierten (subjektivierenden) und den tatsachenorientierten (historisierenden) Modus der Bedeutungskonstitution. Odins Modell, dem er eine rein heuristische Funktion zuschreibt,22 versucht die Funktions- und Wirkungsweisen von Textkonstruktionen zu erklären – unter der Annahme, dass sich Filme nicht anhand ihrer materiellen Anordnung von Zeichen und Bildern unterscheiden, sondern anhand kontingenter, kulturell und gesellschaftlich bedingter Regeln, Normen und Prägungen. Damit lässt Odin die rein textorientierten Ansätze hinter sich und vollzieht eine pragmatische Wende und somit einen Perspektivwechsel: weg von der Analyse einzelner Filmtexte hin zu den sich wandelnden Interpretationszusammenhängen, in denen die Filme produziert und rezipiert werden. Die Kommunikationsräume, über die die Zuschauer/innen in ein determiniertes Verhältnis zum Realen gesetzt werden, lassen sich anhand der subjektivierenden und historisierenden Modi im biografischen Dokumentarfilm als Erfahrungsräume erfassen. Die Diskursivierung, also der Sinnzusammenhang des Films, begünstigt demnach eine dem Verständnis von historischen Zusammenhängen oder den persönlichen Erfahrungsräumen zugewandte Lektüre. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus, in der Regel überlagern sie sich, auch in der Rezeption. Vor dem Hintergrund der Darstellung von Geschichte liegen den beiden Modi unterschiedliche Lektüreanweisungen – gesteuert von unterschiedlichen Motivationen, Interessen und Vorgehensweisen – zugrunde: Während im

22 Odin 2002, S. 44 f.

         

     

historisierenden Modus die Schwerpunktlegung auf Erkenntnisse durch Erschließung von historischem Quellenmaterial erfolgt, bestimmen im subjektivierenden Modus die Erzählungen des Einzelnen und seines Schicksals, ohne vordergründig an der historischen Korrektheit im Sinne der traditionellen Geschichtsschreibung oder an der Nachprüfbarkeit durch Heranziehung von zusätzlichen historischen Quellen zu verfolgen. Wie sich diese Modi überlagern, wird in den Analysen deutlich.

                           

Welche Entwicklung vollzog das biografische Erzählen im Dokumentarfilm? Die Verquickung von lebensgeschichtlicher Erinnerung und Zeitgeschichte erlebte seit den ausgehenden 1960er Jahren mehrere Entwicklungsphasen, die anhand einzelner Filmbeispiele hier nachgezeichnet werden. Nachdem ich im Unterkapitel „Einsatz von Interviews im dokumentarischen Film um 1970“ die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Entstehung des biografischen Dokumentarfilms dargestellt habe, gehe ich hier den einzelnen filmspezifischen Verfahren, Zugriffen, Perspektiven und Themenakzenten nach. Seit MENDEL SCHAINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND (1972) und im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Oral History im deutschsprachigen Raum hat die Darstellung der Umbrüche des 20. Jahrhunderts aus lebensgeschichtlicher Perspektive eine markante Entwicklung vollbracht. Der verfahrensmäßige Einsatz von Archivmaterial und Interviews (Zeitzeugen) und die Verflechtung von Gegenwart und Vergangenheit erlebte unterschiedliche Phasen – thematische Interessenverlagerungen, Veränderungen der Darstellungsmittel und Verfahrensweisen, unterschiedliche Produktionsbedingungen und öffentliche Wirksamkeit. Insbesondere in Produktionen seit den 1990er Jahren sind von einem hohen Maß an Reflexivität und Selbstreflexivität im Umgang mit dem Medium gekennzeichnet.

         

     

Im Laufe der fortschreitenden Verhandlung biografischer Erzählungen fanden mehrmals Interessensverlagerungen hinsichtlich der Geschichten von Überlebenden und Opfern und der Täterperspektiven statt. In jüngster Vergangenheit kam eine Konzentration auf die Erforschung der Implikationen eigener Familienangehöriger, überwiegend in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus hinzu.1 Zudem stieg das filmische Interesse an intergenerationalen Dynamiken in Folge der traumatischen Erfahrungen der ersten Generation. Die hier in chronologischer Reihenfolge beschriebenen Filme zeichnen sich dadurch aus, dass sie politische und persönliche Geschichte miteinander verflechten, ein zeitgeschichtliches Interesse aufweisen und das jeweilige Masternarrativ um subjektive Perspektiven erweitern. Ihnen allen ist gemein, dass sie thematisieren, wie Gewalterfahrung und das Fortleben der Gewalt in der Erinnerung deutliche Spuren hinterlassen, welche sowohl im persönlichen als auch gesellschaftlichen Kontext beleuchtet werden – über viele Jahrzehnte und mehrere Generationen hinweg.

             Die Auswahl der Filme erfolgte aufgrund wissenschaftlicher Bezugnahmen oder Anerkennung durch Festivals und Preise bzw. aufgrund mehrfacher Ausstrahlung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Die Filme thematisieren entscheidende Lebensabschnitte ihrer Protagonisten/innen. Die Beschreibung der vorherrschenden Tendenzen in den jeweiligen Entwicklungsphasen erfolgt exemplarisch an einzelnen Filmbeispielen oder Filmgruppierungen. Sosehr sich die Filme in ihrer Herangehensweise unterscheiden, können sie dem partizipativen Modus nach Bill Nichols zugezählt werden. Diese Zuordnung erlaubt einen ersten deskriptiven Zugriff auf die Filme des Untersuchungskorpus, er reicht jedoch nicht aus, um die Spezifik innerhalb der Filmgruppe zu beschreiben. Die stiltypologische Unterscheidung dokumentarfilmbiografischer Diskursformen erweist sich insofern als problematisch, als dass sie kaum die Vielfalt der Zugriffe erfassen kann. Auf diese Problematik weist auch Robert Schändlinger hin:

1

Vgl. Bösch 2008.

        

„[…] Die begrifflich-typologische Beschreibung der Zuordnung, in diesem Fall der Interviewdokumentarfilme zum Modus des interaktiven Films, [ist] im Vergleich mit der filmischen Praxis immer unzureichend. Die Versuche der theoretischen Systematisierung neigen immer zur Reduktion der Vielfalt und Komplexität der Formen filmdokumentarischer Gestaltung.“2

Die stiltypologischen Kategorien muss man, so Schändlinger, flexibel genug fassen, damit sie als Instrumentarium für die Analyse einzelner Filme verwendet werden können. Nichols Typologie vermittelt außerdem den Eindruck, eine historische Abfolge von dokumentarfilmischen Formen zu beschreiben, was durchaus problematisch sein kann. Nichols begreift seine Typologie der Repräsentationsmodi als Beschreibung der Dominanz eines Modus, schließt jedoch die gleichzeitige Aktivierung mehrerer Modi nicht aus. Die stil-typologische Erfassung eines vorherrschenden Modus dient ihm zur Beschreibung der Organisationsformen des dokumentarischen Textes und soll weniger auf einzelne Dokumentarfilme zutreffen, sondern zur Erfassung von vorherrschenden Paradigmen allgemein im Dokumentarfilmschaffen begriffen werden. Daher sieht Nichols auch die Abfolge der Modi als eine chronologische, wobei die Rezeption oder das soziale Aushandeln von Darstellungsformen sowie die paratextuelle Programmierung bei Nichols keine Beachtung finden.3 Die folgenden Analysen werden jedoch anhand der verschiedenen Bedeutungen und Affekten, die den Filmen durch textuelle wie kontextuelle Faktoren zugeschrieben werden, vorgenommen – unter Berücksichtigung der sich wandelnden historischen Interpretationszusammenhänge. Mit dem erfahrungsorientierten, subjektivierenden und dem tatsachenorientierten, historisierenden Modus der Bedeutungskonstitution erweitere ich den Blick auf die Interpretationszusammenhänge von Geschichte im biografischen Dokumentarfilm um die Erfahrungsräume, die sie konstituieren und in denen Geschichte zugänglich wird.

2

Schändlinger 1998 , .S 208 .

3

Vgl. Nichols 1991; Hißnauer 2011, S. 87 f.

         

     

        !          Die ersten Produktionen, die sich Oral-History-Methoden zu eigen machen und gesellschaftliche Entwicklungen aus der subjektiven Perspektive einzelner Menschen zur Darstellung bringen, sind Filme von Hans-Dieter Grabe, Eberhard Fechner oder Erika Runge, die Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre entstanden sind und mit denen das Interesse an persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen seinen Anfang nahm.4 Noch waren es vereinzelte Filme, die sich den Zeitzeugen – speziell den Holocaust-Überlebenden – widmeten, darunter Hans-Dieter Grabe, der mit MENDEL SCHAINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND (1972) gewissenmaßen eine Ausnahme darstellt. Der Historiker Frank Bösch identifiziert einige Hauptgründe für dieses Zögern: Einerseits bestanden noch Berührungsängste mit Opfern des Nationalsozialismus, andererseits ein noch bis Ende der 1970er Jahre fortbestehendes Desinteresse für ihre persönlichen Erfahrungen, während die Täter sich entweder in Apologien übertrafen oder aufgrund von Anklagen für Aussagen nicht zur Verfügung standen.5 Ende der 1970er Jahre verortet Bösch eine allmählich wachsende Einbindung von Zeitzeugen in Fernsehproduktionen als Reaktion auf das Aufkommen rechtsradikaler Geschichtsdeutungen, so dass sowohl „Opfer“ als auch „Täter“ Raum für eine Selbstdarstellung erhielten.6 Dennoch: Die veränderten Rahmenbedingungen der 1968er und die Vorbilder im englischen und amerikanischen Fernsehen der 1950er Jahre, die auch das Dokumentarspiel im ZDF inspirierten,7 trugen dazu bei, dass meh-

4

Diese zeitliche Markierung findet sich auch in Zimmermann 2006, Hißnauer 2011

5

Vgl. Bösch 2008, S. 59 f.

und Keilbach 2008. 6

Als prominentes Beispiel wird der Film LAGERSTRAßE AUSCHWITZ (1979) genannt, eine Mikrostudie über Opfer und Täter, wobei auch drei ehem. SS-Männer ausführlich über ihre Vergangenheit befragt werden, vgl. Bösch 2008, S. 63.

7

Vgl. Hißnauer 2011, S. 254 f. und Hickethier, Knut (1979): Fiktion und Fakt. Das Dokumentarspiel und seine Entwicklung beim ZDF und ARD, in: Kreuzer, H./Prümm, K. (Hg.): Fernsehsendungen und ihre Formen: Typologie, Geschichte

        

rere Autoren/innen und Filmemacher/innen das Augenmerk auf individuelle Erfahrungen und Lebenserzählungen legten und ein Interesse an einer Geschichte von unten aufwiesen. Ziel war es, gesellschaftliche und historische Umbrüche und Veränderungsprozesse in ihren spezifischen Dynamiken zu ergründen – jedoch nicht ohne Widerstand, wie ein Blick in die Ende der 1960er geführte Debatte um die dokumentarfilmischen Möglichkeiten im Fernsehspiel zeigt.8 Gleichzeitig wurden in den Fernsehspielabteilungen der Sender gesellschaftskritische Autorenfilme gefördert, die Wert auf individuelle und künstlerische Gestaltung der Filme legten – in Abgrenzung zu traditionellen journalistischen Formen wie Feature und Reportage. Ihnen stand mehr Zeit und Geld zur Verfügung als den Politik- oder Kultur-Sparten.9 Zimmermann fasst die Veränderungen in der Machart der Dokumentarfilme wie folgt zusammen: „Beschränkte sich die Kameraarbeit bislang weitgehend auf die Illustration vorgefertigter journalistischer Berichte und Kommentare, so entstand nunmehr ein neuer Typ von Dokumentarfilmen. Orientiert an Vorbildern wie dem amerikanischen Direct Cinema (Richard Leacock u.a.) und dem französischen Cinéma Vérité (Chris Marker, Jean Rouche u.a.) verzichtete man auf Drehbuch und vorgefertigtes Skript, um durch Beobachtung mit der neu entwickelten Synchronton-Kamera die ›unverfälschte Wirklichkeit‹ in den Blick zu bekommen und die Menschen in Originalton-Montagen selbst zu Wort kommen zu lassen.“10

Wenn Zimmermann auch diese veränderte Herangehensweise doch sehr generalisierend widergibt, so deutet er auf eine Wende hin, die einige Autoren/innen vollzogen und die zu neuen Experimentier- und Gestaltungsmöglichkeiten führte.

und Kritik des Programms in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart: Reclam, S. 53. 8

Vgl. Kapitel 3; vgl. auch Netenjakob, Egon (1970): Das Fernsehen und die Geschichte aus Anlaß des Journals 70/71, in: Fernsehen + Film 8, Heft 9, S. 22-24, u. weitere Artikel der Fachzeitschrift „Fernsehen und Film“ des Jahrgangs 1970.

9

Vgl. Zimmermann 2006, S. 90.

10 Ebd.

         

     

         Einer der ersten vielfach ausgezeichneten Filme, der auch in der zeitgenössischen Auseinandersetzung viel Beachtung fand, ist WARUM IST FRAU B. GLÜCKLICH? von Erika Runge. In Runges biografischem Film erzählt Maria B. ihre Geschichte, und zwar die Geschichte einer Bergarbeiterfrau aus dem Ruhrgebiet, die als exemplarisch für die Geschichte von 40 Jahren Arbeiterleben in Deutschland präsentiert wird.11 Runge porträtiert Frau B., indem sie ihr ausreichend Raum für die Selbstdarstellung lässt: Der Film konzentriert sich in langen Sequenzen auf die Aussagen der Person und ihre persönliche Geschichte und ermöglicht die Illusion eines authentischen Berichts vergangener Ereignisse durch erzählte Erinnerung. WARUM IST FRAU B. GLÜCKLICH? bekennt sich zur proletarischen Tradition und wird als einer der wichtigsten Dokumentarfilme Ende der 1960er Jahren betrachtet, der Privatsphäre und gesellschaftliche Wirklichkeit bzw. Zeitgeschichte miteinander verbindet. Erika Runges Perspektiven entstammen der 1968er-Bewegung, die sich auf die Suche nach Frauenschicksalen und Identifikationsmomenten begab: „Für mich geht ein Riss durch dieses Jahr [1968 A.d.A.], ein Riss, der durch mich selbst ging. Alles was ich tat, war der Versuch, mit den Widersprüchen in unserer Gesellschaft auch meine Widersprüche zu bewältigen.“12 In den „Bottroper Protokollen“13, einer Sammlung sozialkritischer Reportagen über Arbeiter und Arbeiterinnen im Ruhrgebiet, mit der sie bekannt geworden ist, überträgt Erika Runge die gesellschaftliche Umbruchssituation in eine sozialkritische Perspektive auf das Land. Vor allem die Lage der Frauen und ihre Chancen auf Emanzipation interessierten Runge. Mit ihrer Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse versuchte sie aufzuzeigen, dass eine misslungene Emanzipation weniger an den Frauen selbst lag, sondern an den Umständen, in denen sie sich behaupten

11 So wie auch MENDEL SCHAINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND (1972), IM TOTEN WINKEL – HITLERS S EKRETÄRIN (2002) oder GERDAS S CHWEI GEN

(2005), widmet sich der Film einer einzigen Protagonistin.

12 Zit. nach Zellmer, Elisabeth (2011): Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München, Institut für Zeitgeschichte, Oldenburg: Wissenschaftsverlag, S. 65. 13 Runge, Erika (1968): Bottroper Protokolle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

        

mussten.14 Der Film WARUM IST FRAU B. GLÜCKLICH? ist in diesem Sinne Teil eines gesamten Unterfangens, der auch in schriftlichen Werken der Regisseurin und Schriftstellerin Niederschlag fand, so zum Beispiel in der Herausgabe des Buches „Frauen. Versuche zur Emanzipation“ im SuhrkampVerlag (1969)15, in dem 17 Frauen ihre Lebensgeschichte zu Protokoll geben. Auch im Film WARUM IST FRAU B. GLÜCKLICH? überlässt die Regisseurin ihrer Protagonistin viel Raum, um sich selbst und ihre Lebensgeschichte zu präsentieren.16          In der filmwissenschaftlichen Literatur wird vor allem Eberhard Fechner als der Begründer des Interviewdokumentarismus verhandelt, der damit einen neuen Stil innerhalb der dokumentarischen Formate etablierte.17 Fechners filmisches Interesse entstammt dem Wunsch, erlebte Geschichte(n) aus der deutschen Gesellschaft im 20. Jahrhundert durch erinnerte Lebensläufe, die in seinen Filmen erzählt werden, nachzuzeichnen, also Zeitgeschichte aus der Sicht derer, die sie erleiden mussten, einzufangen. Vor allem interessiere ihn, „wie Menschen subjektiv Geschichte empfunden haben, nicht wie Geschichte war“.18 Seine Vorgehensweise zeichnet sich dadurch aus, dass er

14 Vgl. Zellmer 2011, S. 66. 15 Runge, Erika (1969): Frauen. Versuche zur Emanzipation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; s. auch Artikel über die Veröffentlichung in Der Spiegel (1970): Tonband anhorchen, vom 2.3./10, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45202475.html, [zuletzt gesichtet am 2.8.2015]. 16 Für den Film wurde Runge mit dem Fernsehfilmpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und mit dem Preis der Deutschen Filmkritik ausgezeichnet, vgl. Hickethier 1979. 17 Vgl. Hißnauer 2011, S. 287 f.; Hißnauer beschreibt die von Fechner selbst eingeführte Bezeichnung „Erzählfilm“ als Synonym zum Interviewdokumentarismus, wobei der Gesprächsfilm in seinen Erläuterungen als eine spezifische Art des Interviewdokumentarismus verstanden werden kann, in der mehrere Interviews zu einer „dialogischen Collage“ zusammenmontiert werden, so dass die Fiktion eines imaginären Tisches, an dem die Protagonisten erzählen, erzeugt. Hißnauer 2011, S. 298 f. 18 Fechner in Seegers, Armgard (1984): Eberhard Fechner. Blick ins Gestern, in: DIE ZEIT, 23.11., Nr. 48.

     

 

     

vorliegende Aussagen aufgreift, um dann für ihn wichtige von unwichtigen Äußerungen zu unterscheiden und sie durch Montage in Beziehung zueinander zu setzen. Indem er gewöhnliche Menschen Zeugnis über das vergangene Jahrhundert ablegen lässt, versucht er detaillierte Einzelerlebnisse zu einem komplexen Bild zu komponieren. Fechners Montageform wird im Laufe dieses Kapitels ausführlich beschrieben. Im Film NACHREDE AUF KLARA HEYDEBRECK (1969) rekonstruiert Eberhard Fechner die Lebensgeschichte einer Frau, die Selbstmord begangen hat. Hier steht eine Protagonistin im Mittelpunkt, die nicht selbst erzählen kann, deren persönliches Schicksal aber eine Zeitspanne vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Filmgegenwart (1969) umspannt. Fechner befragt entfernte Familienangehörige der kinderlosen, Ende des 19. Jahrhunderts geborenen Klara Heydebreck, er spricht mit Polizeibeamten, Feuerwehrmännern, Krankenhauspersonal, die zunächst den Selbstmord-Vorfall rekonstruieren. Nach einer erklärenden Exposition, in der der Filmemacher mitteilt, dass er aufgrund polizeilicher Anzeigen diesen Fall zufällig ausgesucht hat – einen von zahlreichen, im Winter verübten Selbstmorden in Berlin – folgt auf der Ebene des Kommentars das Anliegen der Recherche: „So bleibt die Frage, warum hat Klara Heydebreck Tabletten genommen, warum? Vielleicht gibt ihr Leben darüber Aufschluss.“ Mit dieser Frage beginnt die lebensgeschichtliche Rekonstruktion im Film. Hierzu werden Aussagen unterschiedlicher Personen, die Klara Heydebreck kannten, dialogisch miteinander verknüpft (vgl. Abb. 1) und mit unzähligen Dokumenten verwoben (Schulzeugnisse, Konfirmationsschein, Poesiealbum, Familienfotos, Arbeitszeugnisse, Briefe, Zeichnungen etc.). Hier zeichnet sich bereits das für Fechners Filme kennzeichnende polyphone Sprechen ab, das Aussagen unterschiedlicher Personen (überwiegend in Nah- und Großaufnahmen) so zusammenmontiert, als würden sie sich im Dialog miteinander austauschen, sich gegenseitig ergänzen oder widersprechen. Der hier in der direkten Adressierung präsente Kommentator wird zur Erklärung der Umstände, die zu diesem filmischen Porträt geführt haben, verwendet. Zugleich wird er als asyntop-synchrone Stimme zum Ablesen einzelner Passagen aus Dokumenten eingesetzt. Die vielen, chronologisch aufgebauten Perspektiven auf die Lebensgeschichte von Klara Heydebreck und das Referieren des Faktischen im Kommentar vermeiden eine direkte Beurteilung der privaten und gesellschaftspolitischen Umstände, sondern überlassen den Zuschauern/innen die historische und gesellschaftliche Refle-

        

xion. Fechners Vorgehensweise in diesem Film deutet auf den Beginn einer entscheidenden Wende hin: Die subjektiv empfundene Zeitgeschichte wird anhand der Stimmen derer, die sie erlebt haben, widergegeben.    Noch ausgeprägter als NACHREDE AUF KLARA HEYDEBRECK markiert der ein Jahr später entstandene Film KLASSENPHOTO von Eberhard Fechner den Beginn einer Darstellungsstrategie, die ein Mosaik der deutschen Gesellschaft des vergangenen Jahrhunderts beabsichtigt, indem der Filmemacher gewöhnliche Menschen befragt und diese zu einem „künstlichen Dialog“ komponiert. Für Fechners Selbstverständnis galt: „Der Künstler soll nicht richten, sondern nur leidenschaftsloser Zeuge sein. Beurteilen werden es die Leser/Zuschauer.“19 Der Film KLASSENPHOTO porträtiert eine Gruppe, die gemeinsam ein Berliner Gymnasium besucht und 1937 Abitur gemacht hat. Anhand von zwölf ehemaligen männlichen Schülern, darunter auch ein jüdischer Mitschüler, dem es gelang, in die USA auszuwandern, entwirft er ein Kollektivbild eines Milieus, wobei die Lebenswege der Interviewten zu einer Gesamtbiografie einer spezifischen Gesellschaftsschicht und Generation montiert werden: Sowohl ehemalige SA-Zugehörige, Wehrmachtsenthusiasten, Gutbürgerliche als auch kommunistisch Gesinnte, Mittellose und Verfolgte kommen zu Wort. Fechner lässt zwar alle Protagonisten gleichermaßen zu Wort kommen, unterscheidet aber durchaus zwischen ihnen und kennzeichnet, wenn auch subtil, seine Haltung zu den einzelnen Personen. Denn vorrangiges Ziel von KLASSENPHOTO ist es nicht, die Gesprächspartner bloßzustellen, sondern ein differenziertes Bild einer Kollektivbiografie zu liefern, das durch Montage von unterschiedlichen Aussagen der porträtierten Personen entsteht und eine spezifische historische Konstellation konstruiert. Der hohe Grad an Konstruktion, die der Montagetechnik innewohnt, reflektiert nicht allein die Erinnerungen der Zeitzeugen, sondern auch die fragmentierte Funktionsweise der Erinnerung und ihre Medialisierung im Film – als Annäherung an die Realität, als vermittelte Wirklichkeit. Die Anordnung der Aussagen, die gegenseitige Bestätigung oder Widerlegung sowie die Wort-Bild-Verbindungen deuten auf eine reflektierte Kontextualisierung wie auch Infragestellung

19 Ebd.

         

     

                 Abb. 1: NACHREDE AUF KLARA HEYDEBRECK (1969), Bekannte und  Verwandte von Klara Heydebreck 

Abb. 2: KLASSENPHOTO (1970), ehemaliger SA-Zugehöriger Wirbitzky

        

der Zeugen. In KLASSENPHOTO setzt Fechner ein spezifisches filmisches Verfahren der Produktion von Glaubwürdigkeit oder zur Hinterfragung der Zeugen ein, wenn er unterschiedlichste Perspektiven zusammen montiert. Durch den Einblick in die Wohnung des Gesprächspartners oder durch das Einfangen von körperlichen Reaktionen des Interviewten (beispielsweise nervöse Hände), vor allem aber durch modifizierende Wort-Bild-Beziehungen (Mittel der Ironie) und durch die Mittel der Montage als syntagmatische Abfolge von Aussagen wird die Glaubwürdigkeit der Protagonisten gezielt hinterfragt. Die deutlich gekennzeichnete politische oder moralische Position der filmischen Aussageinstanz erfährt der/die Zuschauer/in etwa in einer Szene, in der die Antipathie gegenüber dem ehemaligen Schüler und Zugehörigen zur SA, Eberhard Wirbitzky, wie folgt zum Ausdruck kommt: Wirbitzky beschwert sich im Interview darüber, dass die Deutschen als Trinker diffamiert werden, währenddessen schwenkt die Kamera auf seine Hand, in der sich ein Sektglas befindet. Mit dieser scheinbar beiläufigen Kamerabewegung untergräbt der Film die Autorität und die Glaubwürdigkeit des Zeugen. Auch wird Wirbitzky aus einem Kamerawinkel aufgenommen, dass die Ehefrau, die bei dem Interview anwesend ist, fast vollständig von ihm verdeckt wird (vgl. Abb. 2), während Wirbitzky sie als „Puppe“ adressiert. In KLASSENFOTO lässt Fechner sowohl Täter- als auch Opferperspektiven zu Wort kommen, was seine hartnäckigen Versuche veranschaulicht, differenziert die Positionen sowohl von Tätern und Mitläufern als auch von Opfern zu begreifen und darzustellen. Durch sein Montageverfahren sensibilisiert Fechner dafür, wie unterschiedlich die Erzählweisen der eigenen Geschichte und die widersprüchlichen Interpretationen und Erinnerungen sein können.         Ungefähr zur gleichen Zeit findet auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes eine Entwicklung statt, die in Deutschland durchaus rezipiert wird: Im 2-teiligen Film LE CHAGRIN ET LA PITIÉ (1969) von Marcel Ophüls (DAS HAUS NEBENAN − CHRONIK EINER FRANZÖSISCHEN STADT IM KRIEGE)20 widmet sich der französische Regisseur insgesamt 36 Zeitzeugen. In ausführlichen Interviews, kombiniert mit Filmmaterial aus Wochenschauen und

20 Der 251 Minuten lange Film erhielt 1972 eine Oscarnominierung als bester Dokumentarfilm.

         

     

Archiven, bricht Ophüls mit dem Tabu der Kollaboration im besetzten Frankreich. Seine akribische Recherche und die vielfältigen Zeugenaussagen unterschiedlicher Protagonisten und politischer Positionen – zu Wort kommen Kollaborateure wie Widerstandskämpfer, Durchschnittsmenschen, Politiker, faschistisch eingestellte Aristokraten, liberale Demokraten, englische Diplomaten, Fabrikbesitzer, Mitglieder der Mittelklasse, Lehrer, Ladenbesitzer wie auch Bauern, die Mitglieder der Résistance waren – zeichnen ein für Frankreich neues und bis dahin tabuisiertes Bild von der Kollaboration wie von der Résistance, das in Frankreich schockierte und Kontroversen auslöste. Die deutsch/französische/schweizerische Co-Produktion wurde in Frankreich erst zehn Jahre nach der Kinopremiere im Fernsehen ausgestrahlt, in Deutschland zeigte die ARD bereits 1969 eine gekürzte Fassung des Films, der Einfluss hat auf das deutsche Dokumentarfilmschaffen.21 Im Gegensatz zu Fechner, der eine völlige Eliminierung seiner Fragen als Interviewer anstrebt, sind Ophüls Fragen (größtenteils asyntop-synchron) Teil der filmischen Struktur. Beide machen ihre Rolle als filmische Aussageinstanz auf unterschiedlicher Weise deutlich: Fechner ist vorrangig durch seine Montagetechnik in der Konstruktion der Geschichten präsent, während Ophüls als Fragender und Diskussionspartner und in faktischen Kommentaren zu bestimmten Orten, Personen und Ereignissen seine Präsenz verdeutlicht. Im Vergleich dazu: Claude Lanzmann (SHOAH, 1985) hört nicht nur zu oder stellt Fragen: Wenn er mit Überlebenden spricht, ist er stets zu sehen und zu hören. Indem er sowohl seine Fragen als auch die Übersetzungen der Dolmetscherin im Film als wesentlichen Bestandteil seiner Spurensuche belässt, zeigt er die Mühsamkeit des Prozesses, Erinnerungsbruchstücke von denen, die den Holocaust erlebt haben, zu erhalten. Lanzmann fragt detailliert nach, diskutiert und widerspricht – er konfrontiert seine Protagonisten vor der Kamera mit ihren eigenen Verdrängungsmechanismen, fragmentarischen Erinnerungen oder Verschweigungsmustern. Obwohl Ophüls ebenfalls konfrontativ vorgeht, vermeidet er es in LE CHAGRIN ET LA PITIÉ größtenteils, im Bild zu sein. Im Gespräch mit zwei Gymnasiallehrern etwa fragt er scharf nach, bis er das peinliche „Wir wissen nichts“ ausgeschöpft hat und so die beiden

21 Vgl. Phillips, Richard (2001): Kollaboration und Widerstand in Vichy-Frankreich: Le Chagrin et la Pitié, WSWS, https://www.wsws.org/de/articles/2001/12/ ophu-d06.html [zuletzt gesichtet 2.3.2014].

        

Protagonisten mit ihrer heute noch (also zur Zeit der Dreharbeiten) fortdauernden Feigheit vorführt und dadurch eine eindeutige Position bezieht: Erster Lehrer: Es gab Schüler, die verhaftet wurden. Es waren nicht viele. Einige Straßen hier wurden nach ihnen benannt. […] Die Jungen bildeten eine Gruppe. Wir wussten erst später davon. Sie gingen weiter brav zur Schule. Später erfuhren wir es. Marcel Ophüls: Wie reagierten die anderen, wenn plötzlich einer nicht mehr kam? Erster Lehrer: Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht mehr. Ophüls: Wenn die Eltern eines Schülers verhaftet wurden, wie verhielt sich der Schüler am Tag darauf? Erster Lehrer: Ich weiß es nicht mehr. Zweiter Lehrer: Ich auch nicht. Ich erinnere mich an keinen solchen Fall. Ophüls: Aber die Namen da auf der Tafel, das sind doch solche Fälle! (Eingeblendet wird eine Namenstafel mit den toten Schülern von 1939-45; vgl. Abb. 3). Beide Lehrer, kopfschüttelnd: Nein.

Anders als Fechner liefert Ophüls die Wertung gleich mit, indem er im Gespräch die Interessen der redenden Personen identifiziert und teilweise entlarvt, während Fechner die Wertung dem Rezipienten überlässt. Jedoch entscheidet auch Ophüls nicht, welche der gegensätzlichen Versionen der historischen Wahrheit entspricht, sondern inszeniert eine journalistische Recherche, in der der Regisseur ein Protagonist ist.22 In LE CHAGRIN ET LA PITIÉ kompiliert Ophüls Archivmaterial aus den offiziellen Selbstdarstellungen der Regimes in den Wochenschauen und stellt sie nicht selten als ironischen Kommentar den Aussagen der Zeitzeugen gegenüber. Er entblößt somit den Selbstgefälligkeitsgestus der Wochenschauen und polemisiert offen gegen die Vorstellungen eines objektiven Dokumentarfilms: „Um es gleich so klar wie möglich auszudrücken: Bei einem solchen Vorhaben gibt es meiner Meinung nach keine Objektivität, nur Eindrücke, Erzählungen, Erinnerungen, mehr oder weniger richtige Eindrücke, mehr oder weniger präzise Erinnerungen.

22 Zur Gesprächsführung bei Ophüls vgl. auch Schändlinger 1998, S. 205 f.

         

     

Abb. 3: LE CHAGRIN ET LA PITIÉ (1969), Gymnasiallehrer auf dem Schulhof

Mir scheint, wer Zeugenaussagen historischer Natur sammeln will, der muss sie zwangsläufig anschließend in irgendeinen Zusammenhang bringen, in irgendeine Reihenfolge. Die eigenen Überzeugungen oder Eindrücke sind dabei der einzig ehrliche Filter. Auf die Ehrlichkeit kommt es an, nicht auf die Neutralität.“23

Hier findet sich eine eindeutige Haltungsäußerung der Aussageinstanz: Die Offenlegung der Kontingenz von Erinnerungen bis hin zur gezielt eingesetzten Konfrontation dienen als stilbildende Elemente, anhand derer die eigenen Überzeugungen zum Ausdruck gebracht werden. Diese subjektive Perspektive unterstreicht die Glaubwürdigkeit der filmischen Intention, sich der Bewältigung historischer Krisenerfahrungen filmisch anzunähern.

23 Ophüls, Marcel (1969): Über unsere Arbeit, in: NDR-Fernsehspielblätter, 10/1969, in: Ophüls & Ophüls, Deutsches Historisches Museum, Zeughauskino, http://www.dhm.de/archiv/kino/ophuels_und_ophuels.html [zuletzt gesichtet am 23.12.2014].

        

                 Als erster bemerkenswerter biografischer Dokumentarfilm, der sich ausschließlich einem Überlebenden des Holocaust widmet, markiert Hans-Dieter Grabes MENDEL SCHEINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND (1972) einen Höhepunkt in der Überwindung der Berührungsängste mit Überlebenden und Opfern des Holocaust in Deutschland. Diese bezog erst in den 1980er Jahren allmählich eine wesentliche Rolle im dokumentarfilmischen Schaffen.24 Grabe porträtiert hier Mendel Schainfeld während einer Zugfahrt nach Deutschland. Mendel Schainfeld, in Polen geboren und in Norwegen lebend, kämpft für die Anerkennung seiner Arbeitsunfähigkeit als Spätfolge der KZ-Haft und reist nach Deutschland in der Hoffnung auf eine Erhöhung seiner Spätschäden-Rente. Im Zug von Oslo nach München erzählt er über seine Erlebnisse während der nationalsozialistischen Herrschaft und legt seine Fassungslosigkeit gegenüber dessen, was ihm und seiner jüdischen Familie zugestoßen ist, dar. Mehrmals wiederholt er, dass sein Vater ein großer Anhänger der deutschen Kultur und Sprache war, die er liebte, und an die er geglaubt hatte: Er habe bis zuletzt an das Gute in der deutschen Kultur festgehalten. Die Kamera zeigt den Protagonisten in langen Halbnah- oder Großeinstellungen, sowohl erzählend als auch über lange Passagen schweigend (vgl. Abb. 4). Seine Schilderung ist von Wiederholungen (er erwähnt mehrfach die Liebe des Vaters zu den Deutschen und der deutschen Kultur) und von einem Demuts-Gestus gekennzeichnet (er entschuldigt sich mehrfach bei seinem Interviewpartner dafür, dass er so schreckliche Dinge über das, was er erlebt hat, berichtet). Immer wieder bringt er das eigene Unverständnis dessen, was ihm widerfahren ist, zum Ausdruck. Seine Erinnerung und sein Zeugnis werden so in die narrative Struktur eingebaut, dass sie keine chronologische Nacherzählung suggerieren, sondern das Fragmentarische, bruchstückhafte seiner Erinnerung zur Anschauung bringen. Diese Vorgehensweise steigert die Authentizität des Zeugen und trägt der fortdauernden Zeit und der miterlebten Reisezeit Rechnung. Das lebensgeschichtliche Interesse, das hier einer einzigen Person und ihrer Erzählung entgegengebracht wird, stellt in besonderer Weise die Verwandlung von Erinnerung in Sprache dar. Nicht zuletzt lebt der Film davon, dass Schainfeld ausgesprochen emotional, eindrücklich, aber auch abwechs-

24 Vgl. Bösch 2008, S. 60.

         

     

lungsreich berichtet, so dass eine empathische Bindung zwischen ihm und den Rezipienten ermöglicht wird. Mehr als 25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg werden durch die subjektiven Erzählungen des Protagonisten die traumatischen Spuren, die seine Erfahrungen während der NS-Herrschaft hinterlassen haben, nachvollziehbar dargestellt – durch das fragmentarische Erzählen. Das Stocken, Anzweifeln, Nachdenken und das wiederholte SichEntschuldigen beim Erzählen sowie der Kampf um Anerkennung seiner Spätfolgen, der mühsam und aussichtlos erscheint, ziehen den Rezipienten in den Bann und eröffnen einen emotionalen Zugang zu Schainfelds Schicksal. In einem Interview von 2012 spricht Grabe davon, dass er eine breitangelegte Dokumentation zum Thema Spätschäden – mit Fachleuten, Betroffenen, Gutachtern und Patienten – intendierte.25 Die Begegnung mit Mendel Schainfeld während seiner Recherche überzeugte den Filmemacher davon, dass ein einziger Mensch auf Kosten einer Menge von Fakten, jedoch zugunsten der Eindringlichkeit, mehr Aussagekraft besitzen kann: „Ich wusste schon, aufgrund einiger Erfahrungen, dass über das Kennenlernen eines Menschen auch die Bereitschaft, Informationen aufzunehmen und zu durchdenken, wächst.“26 Grabe spricht damit einen Wesenszug des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms an, der hier in besonderem Maße zur Anwendung kommt: Geschichte über die jeweils konkrete Bedeutung für einzelne Personen, die sie erlebt haben, zugänglich und (be-)greifbar machen. Ein solcher Zugriff ermöglicht die Darstellung von historischen Aspekten, die sonst im Faktischen verharren bzw. anhand offizieller Dokumente nur abstrakt bleiben. Der Soziologe Michael Pollak unterstreicht in seiner Studie „Die Grenze des Sagbaren“ die bei Grabe angelegte Wechselwirkung zwischen Erzählund Erinnerungsstruktur. Er untersucht die Funktion der Erinnerung im Erzählen für die Sicherung von Identität – sowohl als stabilisierendes Element für einzelne Gruppen als auch als erinnerungskonstituierendes Element für die einzelnen Mitglieder der Gruppen. Der subjektiven Perspektive misst er demnach eine hohe Bedeutung bei:

25 Grabe, Hans Dieter (2012): Interview mit Jana Stolz, Forschungsprojekt „Interviewarten im Dokumentarfilm“ an der JGU Mainz, Leitung Thorolf Lipp, http://www.interview-im-dokumentarfilm.de/filmemacher/hans_dieter_grabe. 26 Ebd.; vgl. auch Frank, Thomas S. (2005): Räume für das Nachdenken schaffen: Die dokumentarische Methode von H.-D. Grabe, Berlin: Mensch & Buch, S. 85 f.

        

„Trotz aller Verzerrung, trotz der Erinnerungslücken und des dem biografischen Erzählen innewohnenden Hangs zur Verschönerung der Selbstdarstellung, vermag eine einzige Lebensgeschichte über ihre eindringliche Sprache oft mehr zu vermitteln und über die Vergangenheit Nuancierteres, also Genaueres und Vielfältigeres auszusagen, als zum Beispiel ausführliche statistische Reihen, deren heuristischer Wert hier nicht bestritten werden soll. Gerade durch die Betroffenheit, die sie beim Zuhören oder Lesen auszulösen vermag, bietet die mündliche Geschichte oft eine Gelegenheit, tragische Ereignisse anschaulich zu vermitteln, die sonst leicht dem vorherrschenden Hang, zu vergessen und zu verdrängen, zum Opfer fallen.“27

Dies entspricht Grabes Haltung bezüglich seiner Entscheidung, auf weitere Stimmen wie Experten etc. zu verzichten und sich filmisch dem einzelnen Schicksal zu widmen: „Ich wusste, wenn ich ihn vorstelle im Film, erfahre ich eigentlich viel eindringlicher und sehr viel mehr darüber, was Spätschäden hervorrufen können. Und gleichzeitig noch kann ich meinem Zuschauer einiges mitteilen über das Gewaltregime im Dritten Reich.“28 Durch seine intensive Begegnung und Auseinandersetzung mit einem Menschen gelingt Grabe die Verquickung von individuellem und kollektivem Gedächtnis. Er verdeutlicht die historische Dimension der Gewalterfahrung, die in der Erinnerung von Schainfeld deutliche Spuren hinterlassen hat. Bereits in DIE TRÜMMERFRAUEN VON BERLIN (1968) konnte Grabe mit langen Interviewpassagen experimentieren und den Protagonistinnen viel Raum für ihre Erzählungen geben: „Der Mensch, der etwas sagen kann über seine Vorlieben, seine Gedanken, seine Erfahrungen – das fand ich wichtig. Und ich merkte auch aufgrund der Resonanz [auf DIE TRÜMMERFRAUEN VON BERLIN, A.d.A.], nicht nur der Fernsehkritik, auch der Zuschauer, dass der Weg gut war.“29

27 Pollak, Michael (1988): Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZÜberlebenden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit, Frankfurt/New York: Campus, S. 8. 28 Grabe 2012. 29 Ebd.

         

     

Abb. 4: MENDEL SCHEINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND (1972) Die inhaltliche wie formale Entscheidung, sich filmisch auf eine Person zu konzentrieren, fiel auch aufgrund der charismatischen Wirkung von Schainfeld: „Ich merkte auch, dass ich beeindruckt war von seiner Art und Weise, mit Sprache umzugehen, also wie er mit Sprache umgehen konnte, es war ja nicht seine Muttersprache, es war eine fremde Sprache – und er hat sie so

        

klug behandelt, diese Sprache, […] dass ich merkte, ihm zuzuhören könnte ein ganz wichtiger Vorgang sein.“30 Wie auch Maria B. in Erika Runges WARUM IST FRAU B. GLÜCKLICH? erhält der Film seine Wirkung nicht zuletzt aufgrund der Persönlichkeit (Ausstrahlung, Ausdruckskraft) seines Protagonisten. Die Entscheidung, sich auf Schainfeld als Erinnerungsmenschen zu fokussieren, zog die formale Entscheidung, das Gespräch im Zug zu führen, nach sich. Wo ein Interview aufgenommen wird, hängt von vielen Faktoren ab und wird unter anderem in Abhängigkeit von der Belastbarkeit der Protagonisten oder von der erinnerungsfördernden Umgebung getroffen. Ob Orte der Erinnerung, Orte, an denen Leiderfahrungen gemacht wurde, Orte, an denen die Kindheit verbracht wurde oder einzelne Situationen (Spaziergang durch Straßen oder durch den Wald, neutraler, abgedunkelter Raum): Die Auswahl des Ortes als Motiv prägt wesentlich den formal-ästhetischen Aufbau eines Films. In KLASSENPHOTO entscheidet sich Fechner dafür, die Protagonisten in ihrer privaten Umgebung und im Sitzen aufzunehmen – ihre Lebenswege werden nicht primär als individuelle Schicksale inszeniert, sondern als exemplarische Biografien einer Generation und eines Milieus dargestellt. Die private Wohnsituation trägt zum Porträt dieser Generation bei. Hans-Dieter Grabe dagegen nutzt die Intimität des Zugabteils und die lange Reise für den Aufbau einer vertrauenstiftenden und intensiven Atmosphäre. Der Blick aus dem Zugfenster – sowohl Schainfelds als auch der Kamera –, der mittlerweile zum stereotypischen Mittel avanciert ist, stimmt hier nachdenklich und erlaubt den Zuschauern/innen eine Einstimmung in die Rezeptionsbereitschaft für die gegenwärtigen Empfindungen des Protagonisten. Die Situation ist so beschaffen, dass die Intensität der Aussagen zunimmt. Schainfeld befindet sich aus mehreren Gründen in einem aufgewühlten Zustand, der ebenfalls die Intensität und Emotionalität seiner Aussagen verstärkt: Er ist dadurch belastet, dass er eine Reise in das Land seiner Peiniger unternimmt; zusätzlich durch den Grund der Reise – der Kampf um ärztliche Gutachten und Anerkennung der Spätschäden; und er befindet sich auf engstem Raum mit dem Filmteam – einer Gruppe von Deutschen, die er kaum kannte.31 Zusammengenommen tragen diese Dimensionen sowie die sparsame Montage, die

30 Ebd. 31 Ebd.

         

     

langen Einstellungen und das Aussparen von zusätzlichem Archivmaterial32 dazu bei, die Auswirkungen der erlebten Demütigungen auf Schainfelds Leben direkt erfahrbar zu machen. Dem Zuschauer wird vorgeführt, wie sich erlebte Vergangenheit auf die Gegenwart auswirkt – die Traumatisierung eines einzelnen Menschen wird erfahrbar gemacht. Hinzu tritt ein weiterer wichtiger Aspekt, der sich implizit in die Wirkungskraft der Aussagen einschreibt: Mendel Schainfeld erzählt seine Geschichte in der Interviewsituation zum ersten Mal. Wie in vielen Dokumentarfilmen wird auch hier die Last des Schweigens als posttraumatisches Syndrom und das Desinteresse seitens des sozialen Umfelds thematisiert. Auch bei Schainfeld hinterlässt das erstmalige Erzählen sichtbare Spuren: Die Emotionalität einiger Aussagen, das obsessive Schuldempfinden, das fragmentarische Erzählen und die wachsende Vertrautheit mit dem Protagonisten intensivieren die empfundene Authentizität und Glaubwürdigkeit des Zeitzeugen. Sie verdeutlichen, dass er seine Aussagen nicht eingeübt hat oder routiniert im Umgang mit ihnen ist, sondern mit welchen Schwierigkeiten er zu kämpfen hat, um überhaupt darüber zu sprechen. Grabe dazu: „Diese Menschen gehen mit ihrer Geschichte nicht hausieren. Sie erzählen kaum, sie erzählen zuhause in Familien nichts, die Ehefrauen spürten meistens, was los war, aber er setzte sich nicht hin und erzählte vom Lager. Wir waren also die ersten, denen er das erzählen würde, ich spürte aber auch, dass er dazu bereit war. Zumal er auch bei mir merkte, dass ich einiges wusste über diese Zeit, dass er bei mir also nicht auf Unglauben stoßen würde.“33

32 Grabe äußert sich zu der Entscheidung, kein Archivmaterial zu verwenden, wie folgt: „Als ich Schainfeld sah und hörte, wie er redete, mit welcher Überzeugung, in welcher Deutlichkeit, wie Bilder in meinem Kopf entstanden, da merkte ich, dass die Archivbilder nur stören würden. Denn ich hätte aus seinem Erlebnisbereich keine Bilder finden können. Ich hätte finden können Bilder vom Krieg in Polen, Bilder von KZs, hätte natürlich von all den vielen Bildern immer die stärksten ausgewählt, hätte sie zu Effekten degradiert, und hätte mit diesen Bildern die Erzählung Schainfelds zur Seite gedrängt. Das durfte auf keinen Fall geschehen.“, ebd. 33 Ebd.

        

Im Zugabteil auf dem Weg von Oslo nach München entsteht ein konzentrierter, intimer Raum der Interaktion, der es besonders deutlich macht, dass das etablierte Vertrauensverhältnis und damit auch die soziale und kommunikative Beziehung zwischen Filmemacher und Gefilmter nicht nur Teil der vorfilmischen Realität sind. Die Zeichen der Interaktion sind inbegriffener Bestandteil des Dokumentarfilms und erlauben es dem Zuschauer/der Zuschauerin, eine Vorstellung des Filmemachers als nicht-visualisierter Gesprächspartner zu gewinnen. Denn in der kommunikativen Konstellation des Dokumentarfilms wird die soziale Situation mit dokumentiert, so Hartmann. Die Filmwissenschaftlerin argumentiert in ihrem Artikel „Anwesende Abwesenheit“, dass die Interaktion zwischen Gefilmten und Filmemachern notwendiger Bestandteil der kommunikativen Verfasstheit des Dokumentarfilms ist: „Wir bilden uns eine Vorstellung vom Enunziator, den Filmemachern im offscreen-Raum als strukturierende ‚anwesende Abwesenheiten‘ (oder ‚abwesende Abwesenheiten‘) in der dokumentarischen Konstellation.“34 Der Filmemacher nimmt seinerseits eine performative Rolle im Raum der Produktion ein. Als Gesprächspartner und Adressat der Erinnerungen und der intimen Bekenntnisse ist er, wenn auch seine Fragen nicht zu hören sind, anwesend als sozialer Akteur und als Handelnder im dokumentarfilmischen Rollenspiel.35 Die anwesende Abwesenheit des Filmteams in diesem Zugabteil, also auf engem Raum, macht auch den Anreiz aus, denn sie regt dazu an, sich die Situation vorzustellen und zu erkunden, wie sie beschaffen ist – über das sicht- und hörbare hinaus.             

          Jutta Brückner eröffnet mit diesem Film einen weiteren Zugang zu biografischer Erinnerung: Anhand von Fotografien erzählt die sie die exemplarische Lebensgeschichte einer Frau aus kleinbürgerlichen Verhältnissen von 1922 bis 1975, die als Kleinkind den Ersten und als junge Frau den Zweiten Weltkrieg erlebte. Die zusammenfassende Wiedergabe ihres Lebens umspannt

34 Hartmann, Britta (2012): „Anwesende Abwesenheit. Zur kommunikativen Konstellation des Dokumentarfilms, in: Hanich, J./Wulff, H. J. (Hg.): Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers, München: Fink, S. 146. 35 Ebd. S. 153.

         

     

die Phase zwischen ihrem 7. und ihrem 60. Lebensjahr. Es handelt sich dabei um die Mutter der Filmemacherin, deren chronologische Erzählung der eigenen Lebensgeschichte sich auf der Tonebene abspielt, während die Bildebene aus Fotomontagen besteht (s. Abb. 5). Dafür nutzte Jutta Brückner Dokumente aus Zeitungen, Archiven und Familienalben, vor allem aber Aufnahmen aus August Sanders Mappenwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ (dem der Film als Hommage, wie es im Vorspann heißt, gewidmet ist) und Fotografien von Abisag Tüllmann. Durch die Stimme Gerda Siepenbrecks, die auf der Tonebene über ihren mühsamen Weg erzählt, und die abgefilmten individuellen und klassentypischen Fotos, Fotos aus Zeitungen und Fotos aus Familienalben, Fotos unbekannter Amateure und Fotos bekannter Fotografen, wird ein individuelles Schicksal zu einer kollektiven Biografie geformt (Abb. 6). Wie auch WARUM IST FRAU B. GLÜCKLICH und MENDEL SCHAINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND widmet sich TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND einer einzigen Person, deren subjektive Erzählung jedoch nur auf der Tonebene präsentiert wird, während auf der Bildebene abgefilmte Fotografien und Dokumente aneinandergereiht und durch Zwischentitel strukturieren werden. Der Film fügt zusammen, wie sich eine kleinstädtisch-bäuerliche Kleinbürgerschicht zu den historischen und zeitgeschichtlichen Ereignissen verhält. Die Motivation der Filmemacherin begründet sich in dem Wunsch, die kollektiven Befindlichkeiten, Sorgen, Sehnsüchte und Hoffnungen eines Milieus und einer Generation zu zeigen, und die Zusammenhänge zwischen individuellen Schicksalen und gesellschaftlichen Zwängen und Moralvorstellungen zu reflektieren. Die Filmemacherin beschreibt die Kernaussage des filmischen Unterfangens wie folgt: „Gerda Siepenbrinks individuelle Geschichte ist nicht austauschbar, aber sie ist nur verständlich aus den Verhaltensweisen ihrer Klasse, die versucht, ihre doppelte Angst zu neutralisieren: die Angst vor ‚denen da oben‘, gemischt aus Neid und Ehrfurcht, und die Angst vor dem sozialen Absturz. Strenge soziale, moralische und sexuelle Normen bilden das Korsett der Wohlanständigkeit. An Hoffnung gibt es nur die, dass

        

ein Leben voll Arbeit und Anstand vom Schicksal belohnt werde. Gedrückt, aber kein Volk mehr.“36

Erst durch eine private Katastrophe angestoßen gelingt es Gerda, sich von diesem Kollektivcharakter zu befreien und über die eigene, von gesellschaftlichen Zwängen geformte Biografie zu reflektieren. In einem persönlichen Gespräch anlässlich einer Vorführung im Berliner Kino Arsenal 2013 beantwortet Jutta Brückner die Frage, warum der Film nicht den echten Namen der Mutter verwendet, wie folgt: „1975 war es ein absoluter Tabubruch, über die eigene Familie, insbesondere über die eigene Mutter einen Film zu machen. In der Vermischung und Vermengung von öffentlich und privat hat sich in den letzten Jahren unglaublich viel getan.“37 Nachdem die Mutter den fertigen Film gesehen hat, soll sie nach einiger Zeit gesagt haben: „Ja, das ist mein Leben, ich kann es nicht leugnen.“38 Auf der Tonebene hört man die Originalstimme der Mutter. Jutta Brückner und sie haben lange Tonbandaufnahmen gemacht, aus denen die Filmemacherin griffige Sätze und Fragmente, die kurz und dicht genug waren, formuliert oder zusammengestellt hat. Anschließend hat die Mutter diese gesprochen, wobei sie den Text in ihrer eigenen Ausdrucksweise reformuliert hat. Im Ergebnis waren es die Inhalte der Mutter, aber nicht allein ihre syntaktische und grammatikalische Form. Auf der Bildebene dürften es insgesamt etwa 600-700 Fotografien sein, die Verwendung fanden. Sie werden ebenfalls zu Sequenzen zusammenmontiert, wobei die Musik eine wichtige Rolle spielt: Sie wird dramaturgisch eingesetzt, um dem Ganzen Dynamik zu verleihen, Akzente zu setzen und für die Biografie der Mutter ausschlaggebende historische Entwicklungen zu kennzeichnen. Inhaltlich dienen die Fotos dazu, das Bild einer bestimmten Zeitspanne zu ergänzen, zu kontextualisieren bzw. in einen historischen Rahmen zu setzen. So wird die große Geschichte als Masternarrativ persönlicher Schicksale dargestellt, welches das Leben der Frau mit den historischen und gesellschaftspolitischen Umbrüchen verschränkt. Durch die verfahrensmäßig

36 Brückner, Jutta (2016): Filmbeschreibung, Deutsches Filmhaus, http://www.deu tsches-filmhaus.de/filme_gesamt/b_gesamt/brueckner_jutta.htm [zuletzt gesichtet am 12.5.2016]. 37 Das Zitat entstammt meiner privaten Aufzeichnung des Gesprächs 2013. 38 Ebd.

         

     

eingesetzte Interaktion zwischen der Mikro- und Makro-Geschichte entstehen Einblicke in die Mentalitätsgeschichte einer oder sogar mehrerer Generationen. Hier wird Harald Welzers These in Bezug auf das kommunikative Gedächtnis filmisch aufgegriffen: Die Information auf der Tonebene wird nicht lediglich durch das Bildmaterial ergänzt. Die Bezüge sind doppeldeutig insofern, als dass Informationen aus ganz unterschiedlichen Quellen in die Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte eingebaut werden. Erinnerungen werden durch Fotografien, Lieder, Filme oder Erzählungen Dritter oder gar einer offiziellen Version von historischen Ereignissen ergänzt und überlagert. Was letztlich in die eigene Erinnerung einfließt und was identitätsstiftend wirkt, bestimmen sozial-kommunikative Konventionen, die in emotional gefärbten, sozialen Austauschprozessen das autobiografische Gedächtnis als „kommunikatives Gedächtnis“ bestimmen.39 Was sagt nun dieser Film über seine Beziehung zu den Repräsentationen des Erinnerungsvorgangs und der Vergangenheit, die er in dieser spezifischen Weise einsetzt, aus? TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND rekonstruiert keine historische Vergangenheit, denn die Fotografien dienen hier nicht als Evidenzen, sondern als Kontextualisierungsmöglichkeiten. Besonders deutlich wird dies, wenn auf der Bildebene Wiederholungen stattfinden, die unterschiedliche Zuweisungen erlauben, unterschiedliche Interpretationen der abgebildeten Personen und Assoziationen zu ihnen, je nach erzählten Inhalten auf der Tonebene. Auch potenzieren sich hier Text und Bilder nicht im Sinne einer historischen Argumentation, wie dies etwa der Fall ist, wenn sich Archivmaterialien und Zeugenaussagen gegenseitig bestätigen und ergänzen. Zwar haben die Fotografien einerseits einen Dokumentcharakter und sind durch ihre Schwarz-Weiß-Ästhetik der historischen Realität zugewandt. Ihre spezifische Verwendung eröffnet aber gleichzeitig Assoziationsräume, die einer imaginären Vervollständigung der historischen Situation dienen. Sie evozieren die Zeit durch Verfestigungen von Alltagssituationen und Durchschnittspersonen, und finden dadurch den Weg in eine Öffnung der Denkräume, die ein Bild entwerfen, das in seiner Doppelfunktion das Leben der Gerda S. einordnet und Mentalitätsgeschichte schreibt: Der Film entwirft eine außerhalb dieser Lebensgeschichte liegende historische Dimension, die sich aber eben in diese Lebensgeschichte einschreibt und sie formt.

39 Vgl. Welzer 2002.

        

Abb. 5: Fotografien aus TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND

Abb. 6: Kapiteleinteilungen in TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND

         

     

Wenn auch die Fotos einzelne Stationen im Leben der Gerda S. „erzählen“, da auf der Tonebene Bedeutungszuweisungen vorgenommen und anhand des Bildmaterials Entwicklungen nachvollziehbar gemacht werden, ging es der Filmemacherin nicht primär darum, das Leben ihrer Mutter zu illustrieren, sondern die Ausdruckskraft der fotografischen Dokumente zur Wirkung kommen zu lassen. Die Fotografien werden gleichberechtigt behandelt und als Ausdruck vielfacher und vielschichtiger Interpretations- und Verzerrungsprozesse inszeniert. Das Wissen über die Zusammenhänge wird über Montage und Text konstituiert. Über Fotografien lassen sich Aussagen über Orte, Ereignisse und Personen treffen, aber auch Aussagen über die Rekonstruktion zeitgenössischer Wahrnehmungsmuster und mentaler Einstellungen erzielen. Durch ihre Einbindung in einen spezifischen Kontext wird nicht nur danach gefragt, was abgebildet ist, sondern wie es abgebildet ist. So geben beispielsweise Posen und Positionen von Familienmitgliedern Auskunft über die geschlechterspezifische Rollenverteilung oder andere Veränderungen der Bedeutung und der inneren Ordnung der Familie, die Niederschlag in die persönliche Entwicklung der Protagonistin finden. Gleichzeitig begründen die Fotografien den Kontext einzelner Handlungsmuster und stellen den Bezug zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen her.40 Hier verdichten sich die Entstehungsgeschichte der Fotografien (bedingt etwa durch die technische Apparatur) mit den Tradierungsformen und der Funktion von Fotografie sowie der Vorstellung zeitgenössischer Lebenswelten. Solch eine Kontextualisierung hat Ruppert 1988 im Rahmen seiner „Fotogeschichte der deutschen Sozialdemokratie“ unternommen.41 Als ein „Dokumentarfilm in stehenden Bildern“ setzt das Buch auf die „Fotografie als Quelle und Medium visueller Anschauung“. Sie sind als „Belege des historischen Zusammenhangs zu lesen und als Chiffren von Epochen- und Generationserfahrungen zu begreifen“, wie Ruppert in der Einführung spezifiziert.42 Auch bei Jutta Brückner werden zeittypische

40 Offensichtliche Fakten, etwa die eingeschlagene Fensterscheibe der Näherei, in der Gerda in den 1930ern tätig war und darauf geschmierte Nazi-Parolen wie ‚Juden raus‘ werden mit weniger offensichtlichen Komponenten wie Wahrnehmungsweisen und -muster oder Einstellungen kombiniert. 41 Ruppert, Wolfgang (1988): Fotogeschichte der deutschen Sozialdemokratie, heraugegeben von Willy Brandt, Berlin: Siedler. 42 Ebd., S. 10.

        

Haltungen, Posen, Ausstattung erfahrbar. Doch anders als beim geschichtswissenschaftlichen Vorgehen, wie ihn Ruppert unternimmt, für den „erst eine quellenkritische Entschlüsselung den kulturgeschichtlichen Aussagewert von Inszenierung und authentisch-dokumentarischen Zeichen“ freilegen kann,43 werden die Fotografien im Film nicht „entschlüsselt“. Die Bilder treffen zwar Aussagen für eine Kulturgeschichte der Gebrauchsweisen des Mediums Fotografie.44 Den Fotografien kommt jedoch eine spezifische Aufmerksamkeit zuteil, die sie über die individuelle Erinnerung einer einzelnen Person in ihrer Bedeutung als Zeitdokumente hervorhebt. In der Kombination mit der persönlichen Geschichte der Gerda Siepenbrink lassen sich Assoziationsräume eröffnen, die auf die Verstrickung zwischen individueller Lebensführung und gesellschaftlicher Rahmung hinweisen, sowie Aussagen in Bezug auf die Rekonstruktion zeitgenössischer Wahrnehmungsmuster und mentaler Einstellungen erzielen – die wiederum Rückschlüsse auf individuelle Gestaltungsspielräume erlauben. Dennoch gilt auch für den Film: „Die Fotografien sind als Dokumente der Kulturgeschichte auch ein Medium des Selbstverständnisses der Menschen. Fotografien entstehen im Umgang mit einer technischen Apparatur und mit den kulturell geprägten Sehweisen des Fotografen. […] In den Inszenierungen und Selbstinszenierungen of-

43 Ebd., S. 355. 44 Während zu Beginn der Lebensgeschichte aufgrund des technisch anspruchsvollen Bearbeitungsprozesses, den etwa die Fotoplatten vor und nach der Aufnahme durchlaufen mussten, sowie die schweren Plattenkameras machten das Studio zum bevorzugten Ort des Fotografierens. So waren auch Porträt- und Repräsentationsfotografien besonders beliebt und erst die Entwicklung von kleinen, leichten Kameras und des Rollfilms sowie des Systems der Übernahme der Filmentwicklung durch den Hersteller des Films ebnete der Fotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Weg zum Massenphänomen und markierte den Beginn der Amateurfotografie. So differenzierte sich denn auch die Intention aus – von starren, stark retuschierten oder feingezeichneten Fotos hin zu Momentaufnahmen, die eine stärkere Referenz auf authentische Situationen implizieren (Aufnahmen von Demos etwa) bis hin zu Bildjournalismus, denen der Wunsch zur Veröffentlichung innewohnt. Gerade die hier zahlreich eingenommene Perspektive der Betroffenen, die Alltagswelt mit ihrem Elend und der allgegenwärtigen Armut im beschriebenen Milieu macht das Erzählte greifbar, Vorstellungen der zeitgenössischen Lebenswelt (Bewohner/innen in ihrem Alltagskontext) nachvollziehbar.

         

     

fenbart sich die kulturgeschichtliche Gebundenheit des fotografischen Blicks.“45 Mit TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND wird die evokative Kraft historischer Fotografien sowie die Spannung zwischen den indexikalischen Spuren und den biografischen Erinnerungsbildern verdeutlicht: Die Fotografien verharren nicht in einer bezeugenden und beglaubigenden Funktion. Vielmehr deuten sie auf den mehrschichtigen Prozess der Konstruktion und Rekonstruktion hin, der durch den wiederholten Einsatz einzelner Fotografien entsteht. Durch ihre Einbindung in unterschiedlichen Erinnerungskontexten weisen sie auf die formalen Organisationsprinzipien des Films und den damit einhergehenden Bedeutungszuweisungen im Raum der Rezeption hin. Die hier vorgestellte spezifische Verwendung historischer Fotografien ermöglicht schließlich die Erfassung ihrer kulturgeschichtlichen Dimension ebenso wie ihre Interpretation als Funktionalitätsträger für das individuelle, kommunikative und kulturelle Gedächtnis.   

     

 

   Zwischen Mitte der 1970er und Mitte der 1980er Jahre lassen sich nur wenige nennenswerte Produktionen finden, die dem biografischen Dokumentarfilm zugerechnet werden können, darunter DIE LEBENSGESCHICHTE DES BERGARBEITERS ALPHONS S. von Christoph Hübner und Gabriele Voss, der großen Anklang bei Publikum und der Fernsehkritik fand.46 In der Begründung der Jury zur Grimme-Auszeichnung heißt es: „Der Zuschauer macht eine neue und seltene Fernseherfahrung: Er sieht stundenlang auf das Gesicht

45 Ruppert 1988, S. 355. 46 Vgl. Rebhandl, Bert (Hg.) (2014): Christoph Hübner/Gabriele Voss: Film/Arbeit. Texte, Dokumente, Arbeitsnotizen, Berlin: Vorwerk 8. Der Film wurde u.a. mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet und in zahlreichen Ländern – auch in den USA und in Lateinamerika sowie der DDR – vorgeführt, vgl. Girke, Michael (2010): Menschen, Orte, Alltag Interviews mit Dokumentarfilmern. Michael Girke im Gespräch mit Gabriele Voss und Christoph Hübner, in: Dokumentarfilminitiative (Hg.): Interviews Ruhrgebietsfilm, http://www.dokumentarfilminitiative.de/ images/stories/pdfs/InterviewsRuhrgebietsfilm [zuletzt gesichtet am 3.5.2014].

        

des Menschen, der authentisch erzählt, was er erlebt hat und wie er es persönlich wertet.“47 Auch hier konzentrieren sich die Filmemacher auf ein individuelles Schicksal und räumen dem Protagonisten ausreichend viel Platz ein, um seine subjektiven Erlebnisse zur Sprache zu bringen. Die Verflechtung zwischen privater und gesellschaftspolitischer Sphäre gilt auch hier als Intention: Alphons Stillers Leben, der zum Zeitpunkt der Aufnahmen über 70 Jahre alt war, wird in einer Reihe von acht Filmen chronologisch (nach Biografie und historischen Ereignissen) inszeniert. Die historischen Ereignisse gliedern die einzelnen Teile der Reihe in Kapitel („Kapp-Putsch“, „Ruhrbesetzung“), die eng mit der persönlichen Lebensgeschichte verknüpft sind. Der Autor und die Autorin verwenden kaum erläuternde Bilder, sondern setzen auf die verbale Ausdruckskraft des Protagonisten, der sie bei der Vorrecherche als selbstständig denkender, sich bildhaft ausdrückender Erzähler überzeugt hat: „DIE LEBENSGESCHICHTE DES BERGARBEITERS ALFONS S. stieß auf erstaunliches Interesse. Nicht nur wegen der radikalen Form. Ich denke auch, weil darin Erfahrungen artikuliert werden, in denen viele Menschen sich wiedergefunden haben. Und Alfons S. schildert sie häufig in Form von Geschichten, sehr anschaulich und spannend, manchmal sogar in direkter Rede.“48

Hier kommt das Vertrauensverhältnis zwischen Autorin/Autor und Protagonist zum Ausdruck, wenn sie ihn ausführlich über sein Leben nachdenken lassen und so zum Sprechen bringen – ein Vertrauen, das sich im Vorfeld der Dreharbeiten etabliert hat. Gabriele Voss hat in einem Tagebuch über die Methode des langen Aufenthalts vor Ort reflektiert: Konstitutiv für ihren Ansatz war, dass die Filmemacher am Ort ihrer Arbeit lebten und sich, ähnlich wie bei den stationären Feldaufenthalten in der ethno-anthropologischen Forschung,49 langfristig

47 Grimme Institut (1980): Preisträger 1980, Bewertung der Jury, http://www.grim mepreisarchiv.de/#id_1418 [zuletzt gesichtet am 12.3.2017]. 48 Gabriele Voss im Gespräch mit Michael Girke, Girke 2010. 49 Vgl. Hißnauer 1998, S. 145.

     

 

     

dort einrichteten.50 Dennoch ist durch die Strukturierung der Inhalte und den thematischen Aufbau das didaktische Interesse der Filmemacher, aus der Geschichte durch die Reflexion persönlicher Erlebnisse zu lernen, allzu offensichtlich. Hübner und Voss nennen den Film ein „Bio-Interview“ in Anlehnung an den russischen Schriftsteller und Dramatiker Sergej Tretjakov, der den Begriff geprägt hat und der dafür plädierte, eine einzelne Biografie in ihren Alltagsaspekten genau zu beobachten und zu erfassen, um über den Alltag und die Geschichte eines Landes, einer ganzen Kultur Rückschlüsse ziehen zu können: „Damit aber etwas sichtbar wird, muss man sich Zeit nehmen und ins Detail gehen. Mit diesem Hintergrund haben wir dann DIE LEBENSGESCHICHTE DES BERGARBEITERS ALFONS S. begonnen. Aus vierzig Stunden Interviews wurden viereinhalb Stunden Film.“51 Das Vorgehen, mit unauffälligen gestalterischen Mitteln zu arbeiten und der syntop-synchronen Erzählung viel Zeit einzuräumen, wurde von der Jury zur Grimme-Auszeichnung als Novum bewertet („Der Zuschauer macht eine neue und seltene Fernseherfahrung: Er sieht stundenlang auf das Gesicht des Menschen, der authentisch erzählt“), sie stieß dennoch zunächst auf Skepsis: „Weil Alfons S. die ganze Zeit am Küchentisch sitzt und erzählt, sagten manche Leute, das sei kein Film, man könne so etwas allenfalls im Hörfunk machen.“52 Filme wie DIE LEBENSGESCHICHTE DES BERGARBEITERS ALFONS S. wurden jedoch gerade wegen ihrer ungewöhnlichen Form wahrgenommen. Sie legten den Grundstein für eine Reihe von Filmproduktionen der 1980er Jahre, die auf der Grundlage von Erinnerungsinterviews eine spezifische Form audiovisueller Zeugenschaft etablierten. Fazit: Die im Dokumentarfilm vollzogene Wende seit den 1960er Jahren führte zu neuen Gestaltungsmöglichkeiten, die die Ausprägung der hier untersuchten Spielart des Dokumentarfilms überhaupt ermöglichten. Das Erinnerungsinterview als spezifische Form der Zeugenschaft und als gestalterisches Mittel bestimmt die frühe Phase des biografischen Dokumentarfilms, die sich durch eine gesteigerte Hinwendung hin zu den individuellen Sichtweisen und Erzählungen der sozialen Akteure auszeichnet, denen sich die Filme widmen. Die kommunikative Konstellation deutet auf eine aufkom-

50 Vgl. Voss, Gabriele (1983): Chronik einer Zeche und ihrer Siedlung. Ein Tagebuch, in: Duisburger Filmwoche, 5. Duisburger Filmwoche, S. 60-70. 51 Vgl. Hübner im Gespräch mit Michael Girke, Girke 2010. 52 Hübner ebd.

        

mende, den Gefilmten gewidmete Konzentration auf persönliche Geschichte aus, die mit der politischen Geschichte verwoben wird und dadurch neue Zugänge zu geschichtlichen Interpretationen und zu Darstellungen von bislang unterrepräsentierten Versionen historischer Vergangenheit ermöglicht. Darüber hinaus kündigt sich ein spezifisches Vertrauensverhältnis an in der sozialen und kommunikativen Beziehung zwischen Filmemacher/in und Protagonist/in. Durch das Erinnerungs- oder Zeitzeugeninterview ist diese Beziehung nicht nur Teil der vorfilmischen Realität. Sie wird als soziale Situation mit dokumentiert und ist integraler Bestandteil dessen, wie die erzählten, persönlichen Zugänge zu Geschichte interpretiert werden, denn sie aktiviert zu Rückschlüssen in Bezug auf die filmische Instanz.53 Das Interview avanciert von seiner ursprünglichen Funktion als Vorstufe zur Realisation und als Recherchemittel zum eigenständigen Ausdrucksmittel, dessen Entwicklung eng mit den historischen Diskursen verwebt ist. Denn die Sensibilisierung für persönliche Lebenserfahrungen, die im Dokumentarfilm ihren Eingang findet, verweist auf ein gesellschaftlich sich etablierendes, erwachendes Interesse für persönliche Geschichten im Zuge der Oral-HistoryBewegung. Bereits in dieser frühen Phase des zeithistorischen biografischen Dokumentarfilms wird danach gefragt, bis zu welchem Grad historisches Wissen und erfahrene Geschichte in der Erinnerung selektiert, ausgeblendet und überblendet wird. Die Filme weisen darauf hin, dass mit ihren Erinnerungen die Zeitzeugen eine neue, anders geartete Erfahrungsdimension von Geschichte zugänglich machen.            Mitte/Ende der 1980er Jahre entstehen drei tonangebende, in der wissenschaftlichen Literatur vielfach besprochene Filme: DER PROZESS (1984) von Eberhard Fechner, SHOAH (1985) von Claude Lanzmann und vier Jahre später Marcel Ophüls’ HOTEL TERMINUS. LEBEN UND ZEIT DES KLAUS BARBIE (1989), die jeweils mehrere Jahre Arbeit erforderten54 und stilprägend für die folgenden Generationen von Filmemacherinnen und Filmemachern werden

53 Vgl. Hartmann 2012, S. 149 f. 54 Allein für DER P ROZESS brauchte Fechner fünf Jahre Drehzeit und weitere drei Jahre für die Montage. An S HOAH hat Claude Lanzmann über zehn Jahre lang gearbeitet.

         

     

sollten. Aus diesem Grund und angesichts des umfassenden Materials, der langjährigen Arbeit an den Filmen und der Länge der Endprodukte werden sie als „Monumentalwerke“ verhandelt. Auch wenn sie sich in der Verfahrensweise stark voneinander unterscheiden: Sie thematisieren das Leiden von Holocaust-Überlebenden, indem sie über den sprachlichen Ausdruck in Form von Interviews als tragendes Element Gefühle, Wünsche, Gedanken, Hoffnungen und Leiderfahrungen vergegenwärtigen und die Zuschreibung der authentischen Qualität auf die Zeitzeugen verschieben – ein Prozess, der wie beschrieben bereits Ende der 1960er begonnen hatte und mit diesen Werken seinen Höhepunkt erreicht. Exemplarisch soll hier DER PROZESS für die Analyse herangezogen werden. Fechners Film, vom Norddeutschen Rundfunk als Dreiteiler produziert und 1984 in den 3. Programmen der ARD ausgestrahlt, widmet sich dem Prozess gegen das Wachpersonal des Konzentrationslagers Majdanek und verhandelt den längsten Prozess in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, den Düsseldorfer MajdanekProzess.55 Der Regisseur und sein Team begleiten den Prozess insgesamt acht Jahre lang, in denen sie parallel zu den Verhandlungen filmen. Da im Gerichtssaal nicht aufgenommen werden darf, führt Fechner außerhalb der Gerichtsverhandlung Interviews mit Angeklagten, Zeugen, Richtern, Prozessbeobachtern und Verteidigern, wobei die Gespräche über den Gegenstand der Anklage des Gerichts hinausgehen. Sie dauern in der Regel zwei bis drei Stunden und werden an zwei bis fünf Tagen, bei den Angeklagten

55 Die Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Lublin/Majdanek ist allgemein weniger bekannt, obwohl dort zwischen 1941 und 1944 mehr als 250000 Menschen ermordet worden sind. Majdanek war das erste von den Armeen der Alliierten befreite Lager, die dort begangenen Verbrechen waren spätestens seit dem Nürnberger Prozess bekannt. Dennoch wird erst 1975, nach fünfzehnjähriger Ermittlung, das Verfahren gegen vierzehn Angeklagte eröffnet, die Urteile werden 6 Jahre später gesprochen. Es handelt sich hier um einen der letzten Sammelprozesse, vgl. Reichel, Peter (2004): Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München: Carl Hanser Verlag, S. 273 f. Siehe dazu auch Lichtenstein, Heiner (1979): Majdanek. Reportage eines Prozesses, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.

        

bis zu zehn Tagen geführt.56 Neben der Rekonstruktion historischer Ereignisse fängt Fechner Gefühlslagen und Bewusstseinszustände ein. Die gestellten Fragen sind selbst nicht im Film enthalten, noch ist der Regisseur visuell oder akustisch präsent. Grundlegendes dramaturgisches Gestaltungsprinzip ist die Orientierung am zeitlichen Ablauf des Prozesses. Es entstehen zweihundertdreißig Stunden Filmmaterial,57 aus denen eine fernsehtaugliche Fassung auf drei mal neunzig Minuten komprimiert wird. Im Verlauf des Prozesses entwickelt und verfeinert der Regisseur sein Konzept, die Montage nimmt drei Jahre in Anspruch. Das Ergebnis – die drei Teile – zeichnet den formalen Verlauf des Prozesses nach: I. Die Anklage, II. Die Beweisführung, III. Die Urteile. Diese sind jeweils in mehrere mit Zwischentiteln versehene Kapitel unterteilt. Der Film verfolgt zwei Hauptlinien: Er handelt zum einen vom Lager Majdanek, stellt es von der Entstehung im Jahr 1941 bis zu seiner Befreiung am 23. Juli 1944 dar. Zum anderen beschäftigt er sich mit dem gerichtlichen Prozess. Die Prozessteile bestimmen den Anfang und das Ende des Films, sie rahmen den mittleren Teil, der hauptsächlich der Darstellung des Lagers gewidmet ist. Der Titel DER PROZESS bezeichnet das Strafverfahren als solches, aber auch den Prozess der Erinnerung und Auseinandersetzung mit den Ereignissen. Die Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart ist konstitutiv und macht erfahrbar, wie mit dieser speziellen Vergangenheit umgegangen wird. Fechner verfolgt durch die Montageentscheidungen, seiner Auswahl und Anordnung der Aussagen ein „spezifisches Geschichtskonzept, in dem er die Darstellung der Vergangenheit – im Gegensatz zu vielen anderen dokumentarischen Sendungen – als Diskurs kenntlich macht“, wie Keilbach Fechners Vorgehen treffend beschreibt.58 Indem er getrennt aufgenommene Aussagen der Befragten zusammenmontiert, thematisch „gebündelt“59, als stünden die Sprechenden in einem

56 Vgl. Hickethier, Knut (2002): Ermittlungen gegen die Unmenschlichkeit – Der Prozeß von Eberhard Fechner, in: Wende, Waltraud ›Wara‹ (Hg.): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 141-158. 57 Vgl. Thiele, Martina (2001): Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, Münster: LIT, S. 339. 58 Keilbach 2008, S. 213, Hervorhebung im Original. 59 Vgl. Hickethier 2002, S. 148.

         

     

Dialog, entwickelt Fechner eine spezifische Erzählform. Das in Filmen wie KLASSENPHOTO (1970) oder NACHREDE AUF KLARA HEYDEBRECK (1969) und später in WOLFSKINDER (1991) angewendete Prinzip der Montage, aus unterschiedlichsten Aussagen ein Forterzählen zu entwickeln, „aus individuellen Stimmen ein kollektives Sprechen zu machen“60, kulminiert hier im gemeinsamen Sich-Erinnern einer in zwei unterschiedlichen Rollen auftretenden Generation, nämlich sowohl in der Rolle der Täter, als auch der der Opfer. Die Antworten der Täter (Angeklagte) und Opfer (ehemalige KZHäftlinge) sowie der weiteren am Prozess beteiligten Personen (Sachverständige, Staatsanwälte, Prozessbeobachter, Verteidiger) unterscheiden sich stark. Die Untertitel weisen den Sprechenden ihre Rolle (Zeuge, Verteidiger, Staatsanwalt, s. Abb. 7) im gerichtlichen Verfahren zu. So muss der Zuschauer sich aktiv erschließen, wer da spricht, und wird dazu aufgefordert, genau zu rezipieren, einzelne Gesten und Formulierungen zu deuten, um die aufeinanderfolgenden Personen einordnen zu können. Fechner mischt die Aussagen von Zeugen und Angeklagten zu einer Gesamtdarstellung des Geschehens, wobei er die individuellen Erfahrungen bzw. die konkreten historischen Erfahrungen und gegenwärtigen Gefühle der ehemaligen Häftlinge, Aussagen zu allgemein diskutierten Themen wie individuelle und kollektive Schuld, Erinnern und Vergessen, die Rolle der Justiz damals und heute usw. gegenüberstellt. Den Personen, die an den historischen Ereignissen nicht beteiligt waren (Sachverständige, Schöffen), wird die Funktion der Kontextualisierung der Aussagen zugeteilt. Die Angeklagten und ihre Zeugen (ehemalige Angehörige der Wachmannschaft) werden dagegen von anderen Personen beschrieben, wodurch sie im Hinblick auf ihre Glaubwürdigkeit eingeordnet werden.61 Durch die spezifische Anordnung der Aussagen werden die Widersprüche und Lügen der Interviewten aufgedeckt, die mit einer „Hierarchisierung der Stimmen“62 einhergeht. Denn mit seiner Montagestrategie bezüglich der Auswahl und Anordnung der Aussagen bezieht Fechner gegenüber seinen Gesprächspartnern eindeutig Position und diskursiviert

60 Ebd., S. 144. 61 Vgl. Keilbach 2008, S. 214. 62 Ebd., S. 213.

        

gleichzeitig die Darstellung von Vergangenheit.63 Auf die besondere Rolle von Fechners Verfahren weist Dörthe Wilbers hin: „Durch die Fragmentierung im künstlichen Dialog weist er [Fechner] nicht nur darauf hin, daß es sich um Erinnerungen handelt, sondern auch auf ihre fragmentierte Funktionsweise. Er stellt auch dar, was erinnert und was verdrängt, wie das eigene Verhalten legitimiert wird. […] In ,Der Prozeß‘ wird am deutlichsten, daß seine Filme darüber hinaus eine Analogie zu wissenschaftlichen Verfahren im Sinne eines Modells von These, Synthese, Antithese aufweisen.“64

Für Wilbers schafft der Filmemacher ein Bewusstsein für die vermittelte Wirklichkeit, denn Fechner gelingt es, Geschichte sichtbar zu machen und gleichzeitig die „Vermittlung der Vermittlung zu visualisieren“,65 wodurch er auch die besondere Qualität des Mediums Film vor Augen führt. Dass Fechner es vermeidet, etwa die Gesprächspartner als Täter oder Opfer deutlich zu labeln, entspringt nicht einer „moralischen Indifferenz“66, wie sie Judith Keilbach am Beispiel der Fernsehdokumentationsreihe DAS DRITTE REICH (1960-61) erörtert hat. Dort stand eine Differenzierung zwischen Täter und Opfer nicht zur Diskussion, was zurückzuführen ist auf die damalige Konzeption und das Verständnis von Zeitzeugen, deren persönliche Erlebnisse der Funktion untergeordnet waren, „die Richtigkeit der Geschichtsdarstellung im Zusammenhang mit Fakten zu beglaubigen“67.

63 Ebd. 64 Wilbers, Dörthe (2001): Montierte Erkenntnis. Überlegungen zur Relevanz der Methoden Eberhard Fechners für den kulturwissenschaftlichen Film, in: Ballhaus, Edmund (Hg.): Kulturwissenschaftlicher Film und Öffentlichkeit. Münster/Berlin: Waxmann, S. 287 f. 65 Ebd. 66 Keilbach 2003, S. 162. 67 Ebd.; vgl. S. 155 f. zur Veränderung des Einsatzes von Zeitzeugen im historischen Vergleich von Geschichtsdokumentationen. Anhand der Funktion der Zeugen innerhalb der Geschichtssendungen stellt sie die Inszenierung in den Zusammenhang mit dem juristischen Diskurs um Augenzeugenschaft, basierend auf die anfängliche Aufgabe der Zeugen, Fakten zu beglaubigen.

         

     

Abb. 7: DER PROZESS In DER PROZESS verfolgt Fechner dagegen eine Erzählstruktur, die die einzelnen Details der vielen Einzelerzählungen zu einem Gesamtbild zusammenfügt, das sich die Rezipient/innen durch aktive Beteiligung aufbauen müssen. Die Zeugen und ihre individuellen Erlebnisse und Erfahrungen treten nicht in den Hintergrund zugunsten einer Makrogeschichte oder des historischen Argumentationszusammenhangs, vielmehr behalten die einzelnen Darstellungen ihre Individualität, resümieren gleichzeitig aber in ein kollektives Sprechen. Der dahinterstehende Gedanke entspringt der Vorstellung,

        

die Zuschauer/innen selbst in die Rolle des Richters schlüpfen zu lassen.68 George Tabori würdigt in einer damaligen Rezension das Ergebnis von Fechners Verfahren als eine „einmalige sokratische Begegnung“: Zum „ersten Mal in der Geschichte des Holocaust sprechen sie zu- und miteinander, argumentieren, stimmen einander zu, bestätigen sich, widersprechen einander, klagen an, verteidigen sich – ein skandalöses Drama, das die profane Struktur des Prozesses sprengt […]“.69 Die neben den Interviews intensive Verwendung von historischen Fotografien wirft die Frage nach deren Funktion auf. Im Glauben an die Indexikalität des fotografischen Bildes, das aufgrund des technischen Aufnahmeverfahrens das abbildet und dokumentiert, was vor dem Objektiv anwesend ist, entsprechen die fotografischen Bilder dem juristischen Idealbild vom Zeugen. Auch wenn ihr Zeugenstatus im Rechtsdiskurs umstritten ist, wurden in verschiedenen Prozessen, die zur juristischen Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus geführt wurden, historische Fotografien und Filmaufnahmen herangezogen.70 Das im Film DER PROZEß zusätzlich zu den Interviews verwendete Material besteht, neben gefilmten Dokumenten und aktuellen Presse- und Fernsehberichten, aus Fotografien vom Lager und Personen aus der Zeit zwischen 1940 und 1945, die in deutschen Konzentrationslagern in Polen aufgenommen wurden, wie es im Abspann des Films heißt. Fechner greift dabei auch auf historische Filmsequenzen zurück, so auf Jerzy Bossaks Film MAJDANEK – FRIEDHOF EUROPAS (1945), der kurz nach der Befreiung des Lagers gedreht wurde. Die Fotografien sind schwarz-weiß und heben sich in ihrer Geschichtlichkeit deutlich von den Gegenwartsbildern der Sprechenden ab (Abb. 7). Doch sie verleihen den Darstellungen der Zeugen eine starke Authentizität, die die Distanz der Sprechenden zu ihrer Erinnerung zu reduzieren scheint.

68 Vgl. Hickethier 2002, 142 f.; Hickethier stellt den Film zunächst in den Kontext „Gerichtsfilm“, um zur Erzählstrategie „Prozessdramaturgie als Rahmen“ vorzudringen. Auch wenn Fechners Film das Genre des Gerichtsfilms nicht bedient, verwendet er diesen dramaturgischen „Rahmen“, um in ihn eine Art Zeitbild zu integrieren, eine „Mentalitätsstudie, in der Menschen aufeinandertreffen: Die einen als Täter und die anderen als Opfer“, S. 144. 69 Tabori, George (1984): Ein Schulterzucken, ein Lächeln und eine Hand, die zittert, in: Süddeutsche Zeitung, 29.11. 70 Vgl. Keilbach 2003.

         

     

Während das Erinnerte hier als Basis der Vergegenwärtigung und des Erzählflusses verhandelt wird, ermöglichen die Fotografien einen ergänzenden Zugang zu Ereignissen, Orten und Erlebnissen. Die ca. 500 Fotografien, die Fechner aus tausenden ausgesucht hat,71 fungieren hier als eine Präzisierung des Vermittelten, indem die Informationen auf Bild- und Tonebene sich gegenseitig potenzieren. Mit dieser Strategie wird die private Mikrogeschichte zur Makrogeschichte in Beziehung gesetzt. Fechner fühlt sich einer Geschichtsschreibung von unten verbunden, durch welche er eine Annäherung an einen Ausschnitt der historischen Wahrheit anstrebt. Denn, so Fechner, „was auch immer der Einzelne in den Details subjektiv sieht – die Summe dieser Subjektivitäten und Erfahrungen ergibt dann doch ein komplexes Bild. Eine, soweit Film überhaupt eine Annäherung bieten kann, extreme Annäherung an die Realität.“72 Fechner setzt auf eine Synthese verschiedener Strategien, mit denen er aus der präsentierten Subjektivität der Sprechenden ein Gesamtbild erzeugt: Im Film geht es vordergründig zwar um die individuelle Schuld der Angeklagten, er bemüht sich jedoch nicht um die einzelne Tat, sondern um Majdanek als Ganzes, um einzelne Details, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen lassen.73 Es ist seine herausragende Leistung, aus dem Material eine Lebendigkeit und Emotionalität zu schaffen, die nicht allein Vergangenes evoziert, sondern vielmehr auf die ästhetische Konstruktion verweist und damit verdeutlicht, dass die Gegenwart den Ort der Repräsentationen der Vergangenheit darstellt.                 In den 1990ern erlebt der biografische Dokumentarfilm, darunter auch autobiografische bzw. familienbiografische Annäherungen, eine regelrechte Aufbruchsstimmung: Im Zuge der Diversifizierung dokumentarfilmischer Formate (Serialisierung, Magazinierung des Programms) im dualen Fernseh71 Vgl. Netenjakob, Egon (1996): Im Nullmedium. Wie Fernsehdramaturgen Filme produzieren, 18 Porträts, Köln: Katholisches Institut für Medieninformation (KIM), S. 178 f. 72 Fechner 1981, zit. nach Thiele 2001, S. 367. 73 Vgl. Hickethier 2002, S. 143.

        

system begann in den 1990ern eine Ausdifferenzierung neuer essayistischer, halbdokumentarischer und investigativer Formen.74 Gab es einerseits eine Suche nach experimentellen und innovativen Möglichkeiten des Fernsehens, wie sie in der immer größer gewordenen formalen und thematischen Vielfalt der dokumentarischen Arbeiten einen Ausdruck fanden, beklagten Filmemacher/innen andererseits schon Mitte/Ende der 1980er Jahre die Krise des dokumentarischen Films, der längst in die dritten Programme oder auf ungünstige Sendeplätze abgeschoben wurde.75 Zwar werden in der Tat keine so zeitaufwändigen Produktionen mehr in dem Maße gefördert, wie es noch in den 1970ern und 1980ern der Fall war. Auch beklagen die Praktiker/innen einen zunehmenden Formatierungsdruck.76 Gleichzeitig ist aber eine Diversifizierung zu beobachten, die Zimmermann wie folgt zusammenfasst: „Video-Diaries und (oft autobiografische) Porträtfilme nutzen die kleinen handlichen Video- und Digitalkameras, um zu bislang verschlossenen Zonen des Privat- und Intimlebens vorzudringen. Vielfältige Mischformen bedienen sich zur Dokumentation aktueller politischer Skandale und historischer Ereignisse nicht nur der Dramaturgie des Kompilationsfilms, sondern auch der Spielfilm-, Fernsehspiel- und Theater-Regie und arbeiten mit Inszenierungen, Re-Enactments und digitalen Animationen. […] Politische ‚Found-Footage-Filme‘ nutzen historisches Filmmaterial weniger als Dokument, sondern eher als Ausgangsmaterial für eine künstlerische Bearbeitung und Deutung der überlieferten Bilder.“77

74 Wie etwa beim KLEINEN FERNSEHSPIEL des ZDF unter der Leitung Eckart Steins, in Ebbo Demants Reihe DER DOKUMENTARFILM, von Heinrich Breloer oder in den Reportage-Reihen insbesondere des WDR, vgl. Berg-Walz 1995, S. 84 f. 75 Beispielsweise konstatiert der Produzent Heino Deckert 2011 im Zusammenhang mit den veränderten Produktionsbedingungen seit Mitte der 1980er und den massiven Kürzungen der Budgets, dass die Gründung des Senders ARTE mit zu dieser Marginalisierung beigetragen habe: „Einen weiteren wesentlichen Unterschied sehe ich in der Erfindung von ARTE. Denn so schön der Sender ist und so gern ihn alle haben, so sehr ist er auch das Alibi für die Dritten geworden, sich aus der Finanzierung von Kulturfilmen herauszuziehen“, Deckert, Heino (2011): Die vergangenen 20 Jahre, in: Haus des Dokumentarfilms Stuttgart (Hg.): Dokville 2011, die Dokumentation des Branchentreffs Dokumentarfilm, S. 11. 76 Vgl. Zimmermann 2006, S. 98 f. 77 Ebd.

         

     

Diese Ausdifferenzierung und die Zunahme lebensgeschichtlicher Perspektiven befördern ganz neue dokumentarfilmische Diskurse, wie die folgenden exemplarischen Beispiele zeigen.    

     VERRIEGELTE ZEIT von Sibylle Schönemann etwa markiert thematisch wie auch stilistisch das Aufkommen neuer Ausdrucksformen: Die eigene Betroffenheitsperspektive und der subjektive, selbstreflexive Modus werden zum stilbildenden Bestandteil des (auto-)biografischen Erzählens zwischen kultureller Praxis und alltagspraktischer Wissenstradierung. Mit VERRIEGELTE ZEIT (1990) widmet sich Sibylle Schönemann den eigenen autobiografischen Erlebnissen als politische Gefangene in der DDR 1984 und versucht, die Ereignisse von damals filmisch zu ergründen, indem sie mit einem Kamerateam an die Orte ihrer Inhaftierung zurückkehrt und ehemalige Peiniger, Überzeugungstäter und Erfüllungsgehilfen mit den damaligen Geschehnissen zu konfrontieren versucht: Richter, Schöffen, Anwälte, Stasi-Mitarbeiter, Haftanstaltspersonal, DEFA-Direktoren – sie alle reagieren auf die Leitfrage „Warum?“ mit ähnlichen Abwehrmechanismen. Wie auch Marcel Ophüls in HOTEL TERMINUS. LEBEN UND ZEIT DES KLAUS BARBIE (1989) und wie in vielen weiteren Filmbeispielen, die folgen sollten – etwa 2 ODER 3 DINGE, DIE ICH VON IHM WEISS (2005) oder DIE WOHNUNG (2012) – macht Schönemann die Recherche, die Suche und den Widerstand, den sie erfährt, zum Leitmotiv des Films. Sie zeigt ihre zum Teil vergeblichen Anläufe, Beteiligte zum Sprechen zu bringen, hält die Absagen und Telefonate sowie die Kamera-Überfälle (wie bei Marcel Ophüls) an Türen, Höfen und Gartenzäunen fest und verdeutlicht damit die Mauer des Schweigens, gegen die sie immer wieder anzugehen versucht. Schönemann bekommt keine Antworten auf ihre Fragen, erspürt keine Anzeichen von Unrechtsbewusstsein und zeichnet anhand der wenigen Aussagen und der vielen Aussageverweigerungen ein „bewegendes Bild vom Funktionieren einer Diktatur“, wie es bei Volker Baer in seiner Rezension von 1990 heißt.78 Soweit die interviewten Personen überhaupt reden, betonen sie, dass sie rechtens gehandelt haben

78 Vgl. Baer, Volker (1990): Doch alle hatten sie ja nur ihre Pflicht getan…, in: Der Tagesspiegel, Berlin, 9.12.

        

und weichen Fragen nach den eigenen Ermessens- und Handlungsspielräumen und der Verantwortung aus. Wie auch bei Lanzmann oder Ophüls tritt in diesem Film die Stimme der Regie als eigenes narratives Element auf: Sie ist körpergebunden, wird also auf der Handlungsebene wirkungsmächtig repräsentiert, gleichzeitig verkörpert sie sich auf der Ebene der Regieentscheidungen, also als Aussageinstanz („Voice of the film“, wie sie Bill Nichols bezeichnet).79 In Schönemanns Film tritt jedoch eine neue Ebene hinzu: Die Regisseurin ist gleichzeitig Hauptprotagonistin und Zeitzeugin. Schönemann lässt die Regie als erzählende und hinterfragende, aber auch als von den Geschehnissen gezeichnete Instanz sichtbar werden. Der Film entwickelt dadurch die Dynamik eines therapeutischen Prozesses („Fünf Jahre später komme ich zurück, um endlich Abschied zu nehmen“, erklärt die Filmemacherin in der Exposition), der als Motivation dient, um Sinn in der eigenen persönlichen Erfahrung als politische Gefangene zu finden und sie in eine übergreifende Narration zu überführen. Der audiovisuelle Umgang mit der Unfassbarkeit der Geschehnisse und ihre Übersetzung in eine filmische Sichtbarkeit funktioniert hier auf mehreren Ebenen: In der asyntop-asynchronen direkten Adressierung erläutert sie den Kontext und stellt die Zusammenhänge her, während auf der Bildebene die Kamera Orte des Geschehens zeigt: Im Gefängnis spielt Schönemann die Stationen ihrer Haft nach (re-enactment), trifft eine ehemalige Mitinhaftierte in ihrer gemeinsamen Zelle, wo sie Erinnerungen an den subtilen Terror der Verhöre, an die Isolation und das Ausgeliefertsein austauschen; sie konfrontiert auf investigativer Weise ehemalige Verantwortliche (Abb. 8) und visualisiert das Verriegeln von Türen und Toren (Abb. 9) in einem regelmäßigen Abstand, der den Rhythmus des Films bestimmt; sie visualisiert Dokumente, durchblättert Unterlagen und vergegenwärtigt die Rhetorik der Diktatur; und sie erinnert sich an die eigenen Ängste und traumatischen Erfahrungen, vor allem an den Zustand der Unwissenheit in Bezug auf ihre Kinder und auf

79 Vgl. Nichols, Bill (1983): The Voice of Documentary, in: Film Quarterly, Jg. 36, H. 3, S. 17-30 oder Nichols 1991; Tanja Seider fasst Bill Nichols „the voice of the film“ als übergreifende Haltung, die ein Film gegenüber seinem Gegenstand annimmt, zusammen, vgl. Seider 2013, S. 250 f.; vgl. auch Plantinga 1997.

     

 

     

Abb. 8: VERRIEGELTE ZEIT: Investigatives Vorgehen der Regisseurin

Abb. 9: VERRIEGELTE ZEIT: „Sie nehmen den Fall Schönemann viel zu wichtig.“

        

Abb. 10: VERRIEGELTE ZEIT: Verschlossene Türen, Gesprächsverweigerungen, nicht gewährte Zugänge ihren Ehemann, ebenfalls Inhaftierter. Die Regisseurin entwickelt hier eine reflexiv-experimentelle Ästhetik, die sich durch die künstlerische Abstraktion und die verfahrensmäßig angewendete, im Titel bereits angekündigte Metaphorik auszeichnet. Das bestimmende narrative Prinzip ist hier die Zusammenführung der autobiografischen Stimme und der Stimme der Regie; die filmische Annäherung an die Vergangenheit vollzieht sich über den Zugang zu den historischen Orten, speziell der Haftanstalt. Gleichzeitig ver-

     

 

     

deutlicht der Film durch die interventionistische Vorgehensweise der Regisseurin (Abb. 10) die Unmöglichkeit einer detaillierten Aufarbeitung. „Sie nehmen den Fall Schönemann viel zu wichtig. Sie können den Fall Schönemann nicht in den Mittelpunkt stellen, das geht nicht“, sagt der ehemalige Oberstleutnant MfS Peter Gericke im Gespräch (Abb. 9). Indem sie diese Aussage im Film belässt, stellt die Regisseurin ihre persönliche Suche und das individuelle Schicksal der generalisierenden Perspektive der ehemals involvierten Mitverantwortlichen entgegen. Der Film zeigt den Zusammenhang von subjektiver Wahrnehmung und der kollektiven Prägung durch vorgegebene Sinnhorizonte im Rahmen einer Konfliktsituation: Hier gibt es keinen Minimalkonsens über gemeinsame Denk- und Erzählmuster, hier wird ein spezifisches Erinnerungskonzept bzw. die Erinnerungsverweigerung von Seiten der Täter als Resultat eines historischen Prozesses dargelegt. Am Ende bleibt der bedeutungsschwangere, an Schönemann gerichtete Satz des Rechtsanwalts W. Vogel, der schließlich ihren Freikauf durch die Bundesrepublik ermöglicht hat, hängen: „Nein, nein nein. Innerlich haben sie es noch nicht überstanden. Darüber kommen sie nicht weg, das bleibt.“ Auf die Frage, wie es konkret zur Freilassung kam, antwortet der Anwalt: „Die Zeit, das alles zu sagen, die ist noch nicht da.“ Schönemanns Karteikarte wird schließlich als eine von 35.000 politischen Gefangenen und 250.000 Freigekauften seit 1962 dargestellt – jede Karte ein Schicksal und mehr: Familie, Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen. Am Ende zeigt die Kamera (P. Trennert) das verschlossene Tor, hinter dem die seinerzeit noch unzugänglichen Stasiakten lagern. Der Film verweist damit auf konkrete Aspekte der Tragweite des systematischen Terrors der SED-Diktatur und darauf, dass die Rahmenbedingungen für eine eingehende Aufarbeitung wegen der kurzen zeitlichen Distanz zu den Geschehnissen noch nicht gegeben sind.      2006 entsteht der Film JEDER SCHWEIGT VON ETWAS ANDEREM von Marc Bauder und Dörte Franke, der ein ähnliches Schicksal einer politischen Gefangenen in der DDR thematisiert: Auch Anne Golin wurde von ihrem Kind abrupt getrennt, wegen staatsfeindlicher Aktivitäten inhaftiert, um später in einer Freikaufaktion entlassen zu werden. Sechszehn Jahre nach der Produktion von VERRIEGELTE ZEIT zeigt der Film JEDER SCHWEIGT VON ETWAS ANDEREM die traumatischen Folgen der Hafterfahrungen und ihre Auswir-

        

kungen auf das familiäre Gefüge, aber auch, dass sich die VerharmlosungsRhetorik derjenigen, die das Unrechtssystem mitgetragen haben, nicht geändert hat. Eine ganze Reihe von autobiografischen Dokumentarfilmen nach VERRIEGELTE ZEIT – etwa DANACH HÄTTE ES SCHÖN SEIN MÜSSEN (2001) von Karin Jurschick, WINTERKINDER (2005) von Jens Schanze, 2 ODER 3 DINGE, DIE ICH VON IHM WEISS (2005), DAS NEUBACHER PROJEKT (2006), MEINE MUTTER, EIN KRIEG UND ICH (2013) – verdeutlichen in ihren inhaltlichen wie formal-ästhetischen Entscheidungen, wie persönliche und kollektive Gedächtnisse selbstreferenziellen Systemen ähneln und die Regulierung im öffentlichen Diskurs mitbedingen, indem sie bestimmte erinnerungskulturelle Muster als prägend für den jeweils zeitgenössischen Zugang zu räumlich oder zeitlich entfernten Ereignissen entlarven, wie die Untersuchung der Fallbeispiele aufzeigt. In den 1990er Jahren entstehen zahlreiche biografische Dokumentarfilme, die sich individuellen lebensgeschichtlichen Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Ausprägungen annähern. Während WOLFSKINDER (1991) von Eberhard Fechner die Fluchtgeschichte einer ostpreußischen Familie thematisiert, indem er die Protagonisten in ihrer privaten Umgebung, meist in den Wohnzimmern, aufnimmt, und sie ausführlich über ihre Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit erzählen lässt,80 gehen andere Filmemacher/innen mit ihren Protagonisten/innen an die Orte des Verbrechens, um dort Erinnerungsarbeit zu leisten. Das Letztere nimmt auch dadurch zu, weil das Ende des Kalten Krieges den Zugang zu diesen Orten ermöglicht.81 Sowohl das Häusliche und Private (CHOICE AND DESTINY von 1993; AMOR FATI von 1996, KADDISCH von 1997 oder WINTERKINDER von 2005), als auch die Orte der Erinnerung wie Gedenkstätten und ehemalige Konzentrationslager, sowie die Orte der Kindheit oder Jugend, aus denen geflohen wurde oder in denen sie gefangen genommen oder deportiert worden sind (TOTSCHWEIGEN von 1994, DIE JÜDIN UND DER HAUPTMANN von 1994, DIE

80 Fechner zu seinem Vorgehen: „Jeder Gesprächspartner erzählt mir ausführlich vor der Kamera von seinem Leben. Aber Erinnerungen sind sprunghaft und Menschen vergeßlich. Diese Interviews sind Rohmaterial, weiter nichts. Während der Dreharbeiten wüßte ich auch nicht zu sagen, wie der spätere Film aussehen wird.“, Fechner zitiert in Der Spiegel (1991): Zum Reden gebracht, Artikel vom 25.03. 81 Vgl. auch Bösch 2008, S. 66 f.

         

     

LETZTEN TAGE von 1998) rücken allmählich immer stärker in den Blick. Mimik, Gestik und Alltagsverhalten der Protagonisten wird mehr Raum in der narrativen Struktur eingeräumt, es etabliert sich eine Abkehr von linearen Erzählweisen zugunsten einer Verflechtung von erzählter Erinnerung an lange zurückliegende Ereignisse oder Lebensabschnitte mit gegenwärtigen Situationen, die gleichzeitig auf die Verflechtung von Vergangenheit und Gegenwart hinweisen. In HERR ZWILLING UND FRAU ZUCKERMANN (1999) von Volker Koepp beobachtet das Filmteam in langen Einstellungen den Alltagshabitus der beiden Protagonisten, dem es so viel Platz im narrativen Aufbau einräumt wie der erzählten Erinnerung. Kennzeichnend für zahlreiche Produktionen ist, dass sozial vermittelte Vorstellungsmuster über vergangene Ereignisse aus der Perspektive der Filmgegenwart dargestellt werden, also auf formaler Ebene vermittelt wird, dass die Gegenwart die Repräsentation der Vergangenheit bestimmt. Sowohl historische Zusammenhänge werden hergestellt, als auch die persönlichen Erfahrungen in den Blick genommen, wobei sich jedoch die gegenwärtige Bewältigung der Vergangenheit sowie die Spätfolgen der Leiderfahrungen, auch für die zweite und dritte Generation, in den Vordergrund schieben. Der empathische Blick, den wir bei MENDEL SCHAINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND (1972) kennengelernt haben, findet sich nun in vielfältigen Konstellationen verstärkt wieder: Vor allem Filme der zweiten und dritten Generation der Zeitzeugen, darunter überwiegend Familienfilme, etablieren ein Übereinkommen hinsichtlich der Aussagen der Überlebenden, die einen „spezifischen Transferenzraum zwischen Augenzeugen und Interviewer [schaffen] – einen Raum, der eine besondere Qualität des Zuhörens und Einfühlungsvermögens impliziert“, wie ihn Regine-Mihal Friedman in ihrem Text „Generationen der Folgezeit“ beschreibt.82  #!   "        Mit CHOICE & DESTINY, einer vielfach preisgekrönten israelischen Produktion, die auch in der Bundesrepublik großen Anklang vonseiten der Kritik wie des Publikums fand, porträtiert die Regisseurin Tsipi Reichenbach ihre Eltern in berührend intimer Atmosphäre. Sie stellt nicht mehr allein anhand

82 Friedmann, Regine-Mihal (2002): Generationen der Folgezeit, in: montage/av 11/1, Marburg: Schüren, S. 76.

        

derer erzählten Erinnerungen die traumatischen Spuren ihrer Erlebnisse dar, sondern deckt sie auch in ihren Alltagsgewohnheiten Schicht für Schicht auf. Die Marotten und Gewohnheiten des aus Polen stammenden betagten Rentnerpaars, das die Konzentrationslager überlebt hat und seit den 1950er Jahren in Israel lebt, werden humorvoll, aber auch persistent und schonungslos vorgeführt. Die rituellen Wiederholungen, wie die Zubereitung von Essen, die sich im Laufe des Films als zwanghafte Handlungen entpuppen, deuten auf das, was jenseits der Alltagsnormalität liegt: Als herrschendes Prinzip taucht hier die „Obsession für Essen, Ordnung und Sauberkeit auf, die angeblich die meisten Überlebenden des Holocaust aufweisen“.83 Wie auch bei MUTTER UND IHRE SCHWESTERN (1998) von Tsipi Reichenbach, IMA (2001) von Caterina Klusemann oder MEIN LEBEN TEIL 2 (2003) von Angelika Levi findet die Spurensuche im häuslichen Setting statt, in dem anhand der Beobachtung scheinbar unbedeutender Alltagspraktiken und sozialer Interaktionen die Mechanismen familiärer Erinnerungstradierung in Familien von Holocaust-Überlebenden aufgedeckt wird. Vor allem das Essen als Motiv spielt bei CHOICE AND DESTINY eine prominente Rolle: Die Eltern sitzen sich immer wieder am Küchentisch gegenüber und nehmen die Mahlzeiten schweigend zu sich. Allerdings unterscheidet sich die Erzählbereitschaft der Eltern stark voneinander. In einem Interview bemerkt die Regisseurin: „Immer, wenn mein Vater am Tisch sitzt, beginnt er, Geschichten zu erzählen, und dann hat er Assoziationen und Erinnerungen, die mit Essen zu tun haben. Er will, daß jeder Teller leergegessen wird. […] Er kann verrückt werden, wenn er den Müll wegbringt und sieht, daß die Nachbarn Brot wegwerfen. Leute wie er haben gehungert, nicht ein oder zwei Tage, sondern über Jahre. Das ist etwas, was wir nicht verstehen können. Als ich mit den Aufnahmen begann, wollte er nicht mitwirken. Ich sagte ihm, laß uns gehen und ein paar Aufnahmen auf den Märkten machen, er sagte, o.k., aber erst müssen wir etwas essen. Er setzte sich an den Tisch und fing an zu erzählen, und plötzlich kam er in Fahrt und fühlte sich frei.“84

83 Friedman 2002, S. 89. 84 Reichenbach, Tsipi (1993): Im Gespräch mit Yaron Sachish und Kol Hair, in: Jerusalem Press vom 18.06.

         

     

Während der Vater bereitwillig und scheinbar beiläufig in Anwesenheit der Kamera erzählt, weist Fruma, die Mutter, eine starke Aversion gegen die an sie gestellte Erwartungshaltung auf. Die auf den ersten Blick als beruhigend empfundene Alltagsnormalität zerbröckelt nach und nach, etwa wenn Fruma immer mehr Zwangsneurosen offenlegt: Wenn ihr Mann jeden Nachmittag die Wohnung verlässt, um Freunde zu treffen, sperrt sich Fruma regelrecht ein, denn sie verriegelt jedes einzelne der zahlreichen Schlösser an der Wohnungstür. Sie leidet sichtbar an Ängsten und Schlaflosigkeit, aber auch an Rastlosigkeit, denn es scheint ihr unmöglich, sich auszuruhen, inne zu halten oder eine Pause einzulegen. „Während ihr Mann mit weiteren überraschenden Anekdoten und düsteren Geschichten fortfährt, macht Fruma, ohne ein Wort zu sagen, ununterbrochen mit ihrem zwanghaften Reinigen, Waschen, Wischen und Kochen weiter: eine umherziehende Stille“, wie Friedmann die Atmosphäre beschreibt.85 Fruma, die sich vom Filmprojekt eher Informationen über das Verschwinden der Hinterbliebenen erhofft hatte, stellt das Unterfangen ihrer Tochter in Frage und weigert sich zu erzählen – bis sie, gegen Ende des Films, wie in einem schmerzhaften Befreiungsschlag ihren Erinnerungen freien Lauf lässt. Dabei macht die Regisseurin deutlich, dass die beiden Rentner erstmalig in ihrem Leben über ihre Erlebnisse in den Konzentrationslagern erzählen. Durch den sichtbar schmerzhaften Prozess des SichErinnerns erhalten ihre Geschichten eine starke Authentizität: Ihre Aussagen wirken weder einstudiert noch routiniert, denn die Regisseurin lässt die Zuschauer/innen an der mühsamen Hervorbringung der Aussagen teilhaben. Die Regisseurin fängt in ihrer Doppelfunktion als Filmemacherin und Tochter die Tragweite dessen, was ihre Eltern erlebt haben und wie sich dies auf die Eltern wie auf ihr eigenes Leben ausgewirkt hat, ein. Sie verwebt sie zu einem Porträt der Überlebenden-Generation und wirft damit einen ganz neuen Blick auf die Implikationen der Folgegeneration und auf den sozialen Kontext in Israel. Gefühle, Stimmungen, Atmosphären, Gedanken und Empfindungen, Inszeniertes wie scheinbar zufällig mit der Kamera Eingefangenes werden so lebensnah miteinander verwoben, dass ein kontextuelles Ganzes entsteht, dem es gelingt aufzuzeigen, wie schwierig sich der Umgang mit den eigenen Erlebnissen nach wie vor erweist. Erst durch die filmische Interaktion stellt sich ein Rahmenwechsel ein – eine Bühne gewissermaßen – die es den Protagonisten erlaubt, einen tabuisierten Raum zu betreten und

85 Friedman 2002, S. 88.

        

ihre Erinnerungen erstmalig zu erzählen. „Mein Vater“, so Reichenbach im Interview, „hat in der Vergangenheit nicht darüber gesprochen, vielleicht, weil ihm niemand zugehört hätte. Meine Mutter lehnte ab: Sie sagte, es gäbe nichts zu erzählen und es wäre falsch, alte Wunden zu öffnen.“86 Am Ende des Films jedoch beginnt Fruma zu erzählen, ihre Erzählung scheint regelrecht aus ihr hervorzubrechen. Das Schweigen der Holocaust-Überlebenden und die unterschiedlichen Gründe hierfür werden in zahlreichen Filmen seit den 1990ern thematisiert – KADDISCH (1997), PASSING DRAMA (1999), …VERZEIHUNG, ICH LEBE (2000), DAS WIRST DU NIE VERSTEHEN (2003), GERDAS SCHWEIGEN (2008) oder OMA & BELLA (2012). Tsipi Reichenbach schafft in ihrem Film Erinnerungsmöglichkeiten und -räume, die erst durch die Intervention mit der Kamera, aber auch durch veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen realisiert werden konnten. In Bezug auf Israel beschreibt die Historikerin Claudia Bruns die Entwicklung wie folgt: „Die israelische Gesellschaft hatte lange ein ambivalentes Verhältnis zu den eingewanderten Überlebenden, die dem Ideal des zionistischen Helden widersprachen. Insofern blieben die Verfolgungs- und Leidensgeschichten der jüdischen Überlebenden lange verschwiegen und tabuisiert. Erst seit Ende der 1980er Jahre wurden ihre Erinnerungen und ihr Leiden sowie die intergenerationale Weitergabe ihrer Traumatisierung in Israel ein gesellschaftliches Thema, das auch wissenschaftlich bearbeitet wurde. Diese Auseinandersetzung mit den innerfamiliären Folgen der Shoah wurde nun auch in Filmen geführt.“87

Die Regisseurin Tsipi Reibenbach hat für CHOICE AND DESTINY nach dem Dreh noch drei Jahre lang daran gearbeitet, das Material so zu ordnen, dass es sich ihren Erwartungen fügt und die nötige Intimität wie auch Distanz zu den Protagonisten einhält. Damit beabsichtigte sie, innerfamiliäre Belastungen infolge traumatischer Erlebnisse der Elterngeneration nachvollziehbar darzustellen, gleichzeitig symptomatische Phänomene der ÜberlebendenGeneration und der Auswirkungen auf die zweite oder dritte Generation so zu beleuchten, dass sie anhand des Films neue Öffentlichkeiten erschließt. Die vermehrte Präsenz solcher Filme wie CHOICE AND DESTINY verschaffte

86 Reichenbach 1993. 87 Bruns/Dardan/Dietrich 2012, S. 39.

         

     

Abb 11: Die Eltern der Regisseurin in CHOICE AND DESTINY

Abb. 12: CHOICE AND DESTINY: Schließlich findet auch Fruma, die Mutter, ihren Schlaf wieder

        

den intergenerationalen Konflikten eine öffentliche Anerkennung auch außerhalb psychotherapeutischen Fachkreisen,88 die in Opferfamilien zustande kamen. Diese Konflikte hatten kaum Sag- und Sichtbarkeit erlangt, aufgrund des Schweigens, das sich teils in der mangelnden Bereitschaft der jeweiligen sozialen Rahmen begründete, den Überlebenden zuzuhören; teils hatte das Schweigen auch die Funktion des Selbstschutzes oder des Schutzes der Familie vor posttraumatischen Erlebnissen von Verfolgung und Tod. Nicht zuletzt sind diese Filme ebenfalls als Reaktion auf die „revisionistischen Versuche, die Shoah zu leugnen, und auf die Verletzlichkeit der alternden Zeugen“ zu verstehen, wie die Filmwissenschaftlerin Friedman festhält.89 Reichenbachs nicht zu verkennende Botschaft, die sie für das Ende des Films aufbewahrt, lautet: Das Sprechen über Erinnerungen kann therapeutisch und befreiend wirken, sie ist eine notwendige Arbeit, um die Last des Schweigens abzulegen: Der Film beginnt und endet mit dem Stundenschlag der Uhr und dem Zubettgehen. Während zu Beginn des Films Fruma mit offenen Augen daliegt und an Schlaflosigkeit zu leiden scheint, erlangt sie am Ende des Films ihre Fähigkeit einzuschlafen wieder. Der Folgefilm von Reichenbach MUTTER UND IHRE SCHWESTERN (1998) zeigt Fruma erneut in der Küche – diesmal jedoch schreibt sie fieberhaft ihre Erinnerungen nieder und konsultiert dabei ihre Schwestern. Das Erinnern nimmt hier noch eine weitere Dimension an: Es entwickelt sich als ein „Flüstern“, ein leiser Einblick in familiäre Tabus und Geheimnisse, die über die Erzählungen der Erlebnisse während des Holocaust weit hinausreichen. Die Intimität zwischen den drei Schwestern und der Filmemacherin sowie die Kamera als Katalysator entwickeln hier eine ganz eigene innerfamiliäre Dynamik, die die Rezipienten/innen in ihren Bann zieht. Es sind Einblicke in ganz persönliche Verstrickungen, die neugierig machen und gleichzeitig Rückschlüsse auf zeithistorische Umstände und gesellschaftliche Zwänge erlauben. Beide Filme reihen sich in die Filmgruppe der familiären Auseinandersetzungen mit belastenden Erinnerungen der Eltern oder Großeltern ein und lassen in ihren Verfahrensweisen eindeutig die Bedeutung der detaillierten

88 Vgl. Nagler, Lihi (2012): Zwischen privatem Albtraum und Repräsentationspolitik. Bilder vom Holocaust im israelischen Film, in: Bruns/Dardan/Dietrich 2012, S. 93. 89 Friedmann, Regine-Mihal (2005): Witnessing for the wittness. Choice and Destiny by Tsipi Reibenbach, in: Shofar, 24/1, S. 82.

         

     

Beobachtung alltäglicher Abläufe erkennen, die erst in ihrem Zusammenspiel mit den Interviews/Gesprächen und ihrer narrativen Verknüpfung mit (post-)traumatischen Erfahrungen ihre Bedeutungszuweisung entfalten, im Sinne einer Rückkoppelung an Interpretationen und Rekonstruktionen historischer Ereignisse und ihre Nachwirkung auf das Heute. Filme wie PASSING DRAMA (1999), IMA (2001), MEIN LEBEN TEIL 2 (2003) oder die französische Produktion DRANCY AVENIR (1997) von Arnaud de Pallières verweisen auf das Postmemory-Konzept: Postmemory wird als die inkorporierte Erfahrung derjenigen beschrieben, die die thematisierten Traumata nicht selbst erfahren haben, die aber mit ihren Narrativen als (implizite oder explizite) Dominante aufgewachsen sind. Die Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch, die den Begriff geprägt hat, beschreibt die Verbindung des Postmemory zur Vergangenheit als Mediatisierung bzw. kreative Verhandlung der Spuren persönlicher, kollektiver und kultureller Traumata, die ihre Wirkung in der Gegenwart fortsetzen.90 Diese Filme zeichnen sich auch durch die rhetorische Bandbreite der Bild- und Tonebenen aus und ihrer assoziativen, illustrativen oder argumentativen Funktionen, die sich in einem komplexen Geflecht aus individueller Erfahrung und kollektiven Erinnerungsbildern überlagern.

       Mit der Besprechung des Films PASSING DRAMA von Angela Melitopoulos soll hier ein Exkurs in experimentelle, einem breiten Publikum eher schwer zugängliche Verfahren unternommen werden, um weiterführende Tendenzen in der Behandlung von Erinnerung und Erzählung zu verdeutlichen – Tendenzen, die ihren Niederschlag nicht zuletzt in der Theoretisierung filmischer Strategien erfahren. PASSING DRAMA bearbeitet die Flucht der Herkunftsfamilie der Regisseurin auf videoexperimenteller Weise und hebt sich von der Mehrzahl der Produktionen durch die assoziativen Bildkompositionen und fragmentarischen Erinnerungen, die sie a-chronologisch verwebt, ab. Die Regisseurin selbst beschreibt PASSING DRAMA als eine Arbeit, die „das Hörbild meiner Familiengeschichte [reflektiert]. Es erzählt von der Flüchtlingsgeschichte

90 Zum Postmemory-Konzept s. Hirsch, Marianne (2012): The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust, New York: Columbia University Press.

        

meiner griechischen Familie, die mich über drei Generationen hinweg als fragmentarisches und märchenhaftes Bild erreichte. Die Flucht als grundlegendes Motiv der Erzählung wurde zum videografischen Thema über Erzählung, Geschichte und Gedächtnis“.91 Auch hier gilt das Interesse nicht der historischen Authentizität der Erzählungen, sondern den somatischen, also körperbezogenen Spuren bei den Opfern und den Folgegenerationen. Der Film steht für eine neue Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten im Umgang mit offiziell nicht tradierter Erinnerung an Verfolgung und Flucht und ihren quälenden Auswirkungen („Haunting“) auf die Nachfolgegenerationen. Durch Verfremdung und Verzerrung von Erinnerungsbildern, Texten, Verhaltensweisen und Mustern, d.h., indem sie Tonschnipsel aus den Erzählungen, Geflüster, Stimm-Überlagerungen und repetitive Aussagen zu teils unscharfen Bildern und Detailaufnahmen montiert, geht die Regisseurin den Affekten der individuellen wie kollektiven Verhandlung von Traumata nach und widmet sich den Lücken, der Sprunghaftigkeit und dem Fragmentarischen des (traumatischen) Gedächtnisses. Die Bebilderung von Fragmenten aus mitgeschnittenen Gesprächen ist von rhythmisierenden Wiederholungen und makroskopischen Aufnahmen von arbeitenden Händen, unscharfen Gesichtsausschnitten in Detailaufnahme, metaphorischen Bildern wie stetig fallende Tropfen und video-künstlerisch verfremdeten Landschaftsaufnahmen geprägt (vgl. Abb. 13). Das durchgehende Motiv des Webens und Verwebens reflektiert die eigene filmische Komposition des Zusammenführens unterschiedlichster Erinnerungsstränge. Die verfahrensmäßig eingesetzte Parallelität in der asyntopasynchronen Bild-Ton-Verbindung erlaubt eine freie, assoziative und poetische Bezugnahme der visuellen und auditiven Materialitäten aufeinander, so dass Zeit-Räume geschaffen werden, in denen sich der Zuschauer assoziativ bewegen kann. Die Filmtheoretikerin Michaela Ott beschreibt die grundlegende Struktur des Films wie folgt: „Die Brüchigkeit und Lückenhaftigkeit der minoritären Erzählung führt zwangsläufig zu einem visuellen und auditiven Experiment. Auffallend an der Struktur des Films

91 Melitopoulos, Angela (2003): Vor der Repräsentation. Videobilder als Agenten in „Passing Drama“ und „Timescapes“, in: transversal, Texte des Europäischen Instituts für progressive Kulturpolitik eipcp 5: http://eipcp.net/transversal/1003/ melitopoulos/de [zuletzt gesichtet 20.8.2015].

     

 

     

ist sein Verfahren, das Traumatisierende und Disruptive der kollektiven Geschichte, die sparsamen und stereotypen Aussagen der Zeitzeugen, in lückenbildende Montagen und ein Sprechen der Dinge zu übersetzen.“92

Im Vordergrund steht die Körperbezogenheit der Empfindungen, wie sie bei Maurice Halbwachs konzeptualisiert wird, und das Montieren individueller Erinnerungen zu einer kollektiven Spur, zu einem ganzheitlichen NachEmpfinden, ganz im Sinne von Halbwachs: „So schließen die Bezugsrahmen unsere persönlichsten Erinnerungen ein und verbinden sie miteinander.“93 Das sinnliche Erfahren der Funktionsweisen von Erinnerung und Erzählung – durch die permanente Veränderung des Standpunkts des Erzählens und die Neu-Zusammensetzung und Überlagerung der Erinnerungen – steht hier im Mittelpunkt des formal-ästhetischen filmischen Gefüges und deutet auf ein grundsätzlich anderes Verhältnis zum historischen Ereignis als in den zuvor besprochenen Filmen: Hier behandelt die Regisseurin ebenfalls Dimensionen unauslöschlicher Spuren, die die historische Erfahrung der Familie hinterlassen hat, doch der Zugang zu den Ereignissen, zu der Quelle der hinterlassenen Spuren, bleibt verschlossen.94 Am Ende des Films verlässt die Regisseurin jedoch den essayistisch-assoziativen Raum und initiiert eine dokumentarische Lektüreanweisung: Sie sucht gemeinsam mit Familienangehörigen den Ort des ehemaligen österreichischen Arbeitslagers auf – ohne jedoch Hinweise auf ein öffentliches oder institutionalisiertes Gedenken vorzufinden. Thematisch reiht sich der Film damit in die seit Mitte der 1980er Jahre aufkommenden Tendenzen von Zeitzeugenfilmen, in denen die zweite und dritte Generation das Leben ihrer Eltern und Großeltern dokumentiert, mit der wachsenden Neigung, den Affekten bzw. Spuren der individuellen und kollektiven Verhandlung von Traumata nachzugehen und sich auf vielfältige Weise den Lücken des traumatisierten Gedächtnisses zu widmen. Auf formal-ästhetischer Ebene weist er eine Offenheit zu experimentellen und genreübergreifenden Wort-Bild-Kombinationen auf, die zwischen dokumentarischen, essayistischen und ästhetisierenden Modi lavieren.

92

Ott, Michaela (2011): Experimentelle Filmästhetik, in: Schwarte, Ludger (Hg.): Experimentelle Ästhetik. VIII. Kongress der DGÄ, Münster, S. 10.

93

Halbwachs 1985, S. 201.

94

Vgl. dazu auch Curtis 2002, S. 51 f.

        

Abb. 13: Detailaufnahmen in PASSING DRAMA; Erinnerungsbruchstücke von Vertreibung, harter Arbeit und Verfolgung Wichtige Impulse für diese Entwicklung kamen vor allem von filmischen Beiträgen aus dem angelsächsischen Raum,95 aber auch von einigen Filmen,

95

John Akomfrahs WHO NEEDS A HEART (GB 1991), Atom Egoyans CALENDAR (Kanada 1993), Janice Tanakas MEMORIES FROM THE DEPARTMENT OF AMNESIA (USA 1992), Trinh T. Minh-has SURNAME VIET, GIVEN NAME NAM (USA 1989), Gariné Torossians GIRL FROM MOUSH (Kanada 1993), vgl. dazu

         

     

die sich mit der Spezifik dieser Auseinandersetzung in Deutschland befassen, wie z.B. Hatice Aytens GÜLÜZAR (1994) oder John Burgans MEMORY OF BERLIN (1998). In seiner Drastellungsstrategie und Vorgehensweise verweist PASSING DRAMA mitunter auf die essayistische Tradition des Filmemachers Chris Markers, die Christa Blümlinger als ein „intellektuelles Kino des Denkens“ bezeichnet, „das um die Problematik des Gedächtnisses“ im Sinne Gille Deleuzes kreist: „Ausgehend von bergsonianisch begründeten komplexen Gedächtnisformen definiert Deleuze das direkte Bild der Zeit (1991) auch als ‚reines‘ optisches Bild, das nicht nach Aktionen oder Bewegungen strebt, sondern sich eher auf ‚Erinnerungs-Bilder‘ bezieht, die es aktualisiert.“96      In Frankreich setzt der Filmemacher Arnaud des Pallières97 Maßstäbe für neue Tendenzen der filmischen Verhandlung traumatischer Spuren infolge der Verfolgung und Vernichtung von Juden im Frankreich der Besatzungszeit. Mit DRANCY AVENIR thematisiert er die im öffentlichen Diskurs wenig beachteten Deportationen und Ereignisse, die sich speziell im Konzentrationslager von Drancy abspielten. Von August 1941 bis August 1944 war das Internierungslager von Drancy (Camp de Drancy, auch Cité de la Muette genannt) das Zentrum der antisemitischen Politik der Deportation in Frankreich. Das Konzentrationslager liegt im Nordosten von Paris in der Stadt Drancy. Von dort aus führten die meisten Transporte nach Auschwitz. Ohne Archivbilder, jedoch mit einer textbasierten Reflexion der Shoah anhand

Curtis 2002; experimentelle und essayistische Zugänge zu persönlichen Schicksalen in der autobiografischen Reflexion, sind TARNATION (2003) von Jonathan Caouette, THE ALKOHOL YEARS (2000) von Carol Morley oder die frühe Produktion THE PORTRAIT OF JASON (1967) von Shirley Clarke, der sich der lebensgeschichtlichen Erzählung einer einzelnen Person widmet und diese syntop-synchron und ohne zusätzliches Bildmaterial inszeniert. 96

Blümlinger, Christa (1998): Das Imaginäre des dokumentarischen Bildes, in: montage/av 7/2, Marburg: Schüren, S. 91; Deleuze, Gilles (1991): Das ZeitBild. Kino II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag (orig. 1985).

97

In Deutschland wurde der Regisseur hauptsächlich mit der französisch-deutschen Produktion MICHAEL KOHLHAAS (2013) bekannt.

        

einschlägiger Passagen aus Werken von Hanna Arendt, Walter Benjamin, Jorge Luis Borges und vieler anderer, mit Auszügen aus den Memoiren von Überlebenden (Annette Muller, „La petite fille du Vel' d'Hiv“) und – auf der Bildebene – der Thematisierung des heutigen Paris und speziell des Banlieues, wo einst das Lager stand, verwebt der Regisseur eine eindringliche filmische Auseinandersetzung mit der Shoah und ihrer Weitergabe an Folgegenerationen: „Il s’est donc demandé comment le cinéma pouvait regarder cette histoire-là et comment pourrait s’opérer la transmission entre les générations futures, quand tous les témoins auront disparu, c’est-à-dire en fait, dès demain. Son film offre ainsi quelques propositions, imagine certains éléments de réponse, dans une filiation peu ou prou lanzmannienne“, heißt es in einer Filmkritik von 1996.98 DRANCY AVENIR ist eine poetische, historische und philosophische Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Er reflektiert die Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart anhand Jorge Luis Borges’ Gedanken zur Zeit: „Die Gegenwart an sich existiert nicht. Im Grunde gibt es nur drei Zeiten, und alle drei sind die Gegenwart. Die jetzige Gegenwart, in der ich spreche, das heißt, in der ich sprach, denn nun ist es Vergangenheit. Es gibt die Gegenwart der Vergangenheit, Erinnerung genannt. Und eine dritte, die Gegenwart der Zukunft, unserer Hoffnung, oder Angst entspringend. Wir haben eine Gegenwart, und sehen sie nach und nach zu Vergangenheit werden, die zur Zukunft wird.“99

Die asyntop-asynchronen, von Schauspielern/innen vorgelesenen oder vorgetragenen Erinnerungen von Zeitzeugen erlauben auch hier, anhand ihrer Parallelität zur visuellen Ebene, assoziative Bezugnahmen, die affektive wie poetische Zugänge zu der in den Texten eingeschriebenen Tragik schaffen. Bereits zu Beginn setzt der Film die Haltung der Aussageinstanz und gleichzeitig die implizite Motivation auf sprachlicher Ebene fest: „Die Erinnerung hat ihre Fiktionen. Um der Erfahrung Sinn zu verleihen, ist jeder angehalten, ihr eine Struktur zu geben. Das gilt auch für den Historiker, der sie in Sätze fasst.“ Und gleich im Anschluss: „Die Vernichtung ist auf keinen Fall der

98

Kaganski, Serge (1996): Drancy Avenir, in: Les In Rocks Cinéma, http://www. lesinrocks.com/cinema/films-a-l-affiche/drancy-avenir-2 [zuletzt gesichtet am 28.8.2015].

99

Zitat aus DRANCY AVENIR (Übersetzung entstammt der Untertitelung).

         

     

Erinnerung zuzuordnen. Eine der Vernichtung zugewandte Arbeit kann nur Untersuchung der Gegenwart sein, oder zumindest über eine Welt, deren Narben so neu und empfindlich sind, dass sie sich in einer Art Zeitlosigkeit darstellt.“100 Damit leitet der Regisseur in die thematische Schwerpunktlegung ein und etabliert gleichzeig eine reflexive Lesart. Auch dieser Film steht für die essayistische Auslotung der Grenzen der visuellen Darstellbarkeit von realen historischen Begebenheiten und der affektiven Verknüpfung des Persönlichen mit dem Politischen durch die essayistische Verhandlung der Auswirkungen von Traumata auf Gesellschaften der Gegenwart. Jacques Mandelbaum ordnet den Film in eine Reihe mit NACHT UND NEBEL und SHOAH ein und bezeichnet ihn als den Film der dritten Generation in Frankreich.101 $!!"#" !%&"  "   (      Die Tradierung von Erinnerung und die Spuren der Vergangenheit für die zweite und dritte Generation sowie die filmische Reflexion ihrer medialen Darstellung sind, wie erwähnt, vorherrschende Motive der Produktionen seit 1990. Insbesondere Familienfilme, die voraussetzen, dass der Enunziator als Familienmitglied konstruiert wird,102 betonen die Schwierigkeit, sich Zugang zu den Erinnerungen zu verschaffen, sowie vermehrt den Widerstand der ersten Generation gegen das Bedürfnis der Folgegenerationen, mehr zu erfahren (IMA aus dem Jahr 2001, DAS WIRST DU NIE VERSTEHEN von 2003, DANACH HÄTTE ES SCHÖN SEIN MÜSSEN, 2001). Die filmischen Zugänge und verfahrensmäßig eigesetzten Mittel gestalten sich ganz unterschiedlich: In IMA beispielsweise äußert sich die direkte Konfrontation mit der Großmutter in der Persistenz der subjektiven Handkamera, die der Großmutter teilweise gegen ihren Willen auf Schritt und Tritt folgt, gleichzeitig die Hilflosigkeit 100 Ebd. 101 Mendelbaum, Jacques (2010): Conversations at the Mill, in: Frodon, JeanMichel (Hg.): Cinema and the Shoah. An Art Confronts the Tragedy of the Twentieth Century, New York: State Univ of New York Press (Originalfassung „Le cinéma et la Shoah“ erschienen erstmals Paris: Éditions Cahiers du cinema, 2007), S. 108 f. 102 Vgl. Odin 2002, S. 52.

        

angesichts des entgegengebrachten Widerstands visualisiert. Karin Jurschick inszeniert in DANACH HÄTTE ES SCHÖN SEIN MÜSSEN die Konfrontation mit dem Vater als Zweck des filmischen Unterfangens: Es wird nicht die intergenerationale Versöhnung durch Aussprache als möglicher Ausblick angekündigt, sondern die konfliktgeladene Auseinandersetzung als relevant begriffen. Von einer formal-ästhetischen Argumentation sowie der Vielschichtigkeit der narrativen Struktur her betrachtet sticht Alan Berliners NOBODY’S BUSINESS (1996) – der eine breite Rezeption in Deutschland erfuhr – hervor: Die Konfrontation mit dem eigenen Vater und dessen Sturheit werden zum Leitmotiv, das auf visueller wie akustischer Ebene rhythmisierend aufgegriffen und immer wieder neu kontextualisiert wird: Der Kampf mit dem Vater, der jegliche Aussage hartnäckig verweigert („Who cares?“), wird gleichzeitig als Boxkampf präsentiert. Der Ring bildet den metaphorischen Ausdruck des gesetzten Rahmens, in dem Vater und Sohn gegeneinander antreten. Dramaturgisch wird vor allem durch die eindeutige Kennzeichnung der beiden Hauptpositionen und ihrer jeweiligen Fortentwicklung Spannung erzeugt. Während der Vater expliziert, dass es niemanden interessiert, was er zu erzählen hat, vertritt der Filmemacher ein doppeltes Interesse: Das eigene Bedürfnis, die Familiengeschichte seiner Eltern und Großeltern, die jüdische Immigranten waren, zu erfahren, sowie das Interesse des Publikums an dieser Geschichte zu wecken – ein Publikum, das durch die Präsentation der beiden Extrempositionen umso neugieriger gemacht wird. Bereits in der Eröffnung werden die Themen des Films und das Interesse des Regisseurs geklärt: Eine kritische Erinnerungsarbeit zum Familiengedächtnis durch die Auseinandersetzung mit Familienfotos, Found Footage, den Erzählungen von Familienangehörigen, speziell des Vaters, mit Orten/Stationen der Herkunftsfamilie – aber auch die Reflexion der eigenen Arbeit als Filmemacher. Der Film beginnt mit einer auf der Tonebene geführten dialogischen Auseinandersetzung zwischen Regisseur (Sohn) und Protagonist (Vater), der den humorvollen Ton des Films mitankündigt: Vater: How long do you think this is gonna take, Alan? Alan: About an hour.

Zu sehen ist zunächst ein Schwarzweiß-Foto des noch jungen Vaters auf einer Bühne vor einem Mikrofon stehend (Abb. 14):

         

     

Alan: Tell me about this picture. It looks like you are about to sing or give a speech somewhere. Vater: No, I’m just posing. Alan: For whom, for what? Vater: There is no story. Just posing, for the picture to be taken. Alan: Is there a story behind the image? Vater: Do you want me to make up stories?103

In diesem kurzen Dialog werden bereits die unterschiedlichen Interessen der Protagonisten deutlich, gleichzeitig reflektiert der Dialog die selbstkritische, aber auch ironische Haltung des Regisseurs zum eigenen Beruf, der in allem eine Geschichte zu finden hofft. Auf diese Spannungsverhältnisse baut der Film auf: Auf der einen Seite der Wunsch, anhand von Artefakten wie Fotografien aus dem Familienalbum etwas über die familiäre Vergangenheit zu erfahren; gleichzeitig der Humor und die zynische Haltung des Vaters, der die Suche nach „stories“ als absurdes, zeitverschwendendes Unterfangen betrachtet: Vater: Alan, before we go on, let me tell you something: I’m just an ordinary guy who has lead an ordinary life. I was in the army, I got married, I raised a family, worked hard, had my own business, that’s all! That’s nothing to make a picture about! Alan: Someone in the audience is watching right now and saying why am I here, watching this film about this guy? Vater: I would ask too! What are they doing here? I’m being honest with you. Alan: You should be honored! Vater: I’m not. Alan: Your life not only can be... Vater: My life is nothing. My life is no different than that of billions of people. Who the hell would care about Oscar Berliner? Who the hell am I? It’s ridiculous. Alan: Anyone has a life that is something special about it. Vater: No. You are trying to make something out of nothing, Alan: You are my father. I have to do it, I need to do it. Vater: You are wasting your time.

103 Zitat aus dem Film.

        

Nach diesem asyntop-asynchron geführten Schlagabtausch sieht man zum ersten Mal den Vater in einer Großaufnahme, wie er sich auf dem Stuhl windet bei dem Versuch, eine bessere Position zu finden, während er sich sichtlich unwohl fühlt vor der Kamera: Vater: Shit. Alan: What’s up? Vater: What happens now? Alan: I want to be open and honest right up front. I want to know everything about you and our family. Vater: If it gives you satisfaction, be my guest.

Damit führt Alan Berliner in seine persönliche, komische wie tragische FilmSuche ein: Er bezieht, neben seinen zynischen und zurückgezogenen Vater, in Interviews seine Mutter, seine Schwester und weitere, nahe und entfernte Verwandtschaft ein, verwebt die Aussagen mit home movies, Familiendokumenten und Fotografien, Szenen des alten New York und den Gemeinden osteuropäischer Juden zu einer komplexen Struktur der filmischen Biografie. Dabei entsteht eine subtile Untersuchung über Familiengeschichte und Erinnerung, in der Berliner explizit die Tradierung von Erinnerung und ihre mediale Darstellung reflektiert. Während das Familien-Gedächtnis als Basis der Identitätsstiftung verhandelt wird, wird zugleich der filmische Zugang zu den Erlebnissen der Vergangenheit problematisiert. Das Verfahren entspricht dem, was Halbwachs in seinen Überlegungen ausgeführt hat, indem sowohl die Bezugsrahmen sichtbar als auch Brüche in der Kommunikation identifiziert werden, die eine Übertragung bestimmter Informationen erschweren oder gar unmöglich machen. Alan Berliner widmet sich den dysfunktionalen Familienbeziehungen und geht der Intensität des Traumas nach, das die erste Generation erlebt und das sich seiner Meinung nach auf die nächste Generation übertragen hat. Dabei befragt er Familienmitglieder und Artefakte und baut die Narration nach der Logik seiner vielschichtigen Suche auf. Während die Frage, wie geschichtliche Abläufe erlebt und reflektiert werden, im Laufe des Films immer vordergründiger wird, schafft es die humorvolle wie kritische (Selbst-)Befragung, die Schwere eines Betroffenheitsgestus zu vermeiden. Der Film steht beispielhaft für den essayistischen und selbstreflexiven Umgang mit Erinnerung, der eine starke Bildsprache entwickelt und gleichzeitig unterhaltsam ist.

     

 

     

Abb. 14: NOBODY’S BUSINESS

Abb. 15: HERR ZWILLING UND FRAU ZUCKERMANN

        

!$!#!"#             Neben den experimentellen, Genregrenzen überschreitenden Filmen wie DRANCY AVENIR (1997), PASSING DRAMA (1999) oder NOBODY’S BUSINESS (1996) werden in den 1990er Jahren Positionen fortentwickelt, die sich herkömmlichen Verfahren dokumentarischen Erzählens widmen und die Tradition des einfühlsamen „Zuhörens“ fortsetzen. Der Blick nach Osteuropa nimmt dabei zu, ob in autobiografischen Arbeiten wie AMOR FATI – LIEBE ZUM SCHICKSAL (1996), in dem Sophie Kotanyi die Auswirkungen von Revolution, Flucht und Exil auf ihre ungarische Familie reflektiert; in lebensgeschichtlichen Erzählungen jüdischer Überlebender in Osteuropa, wie in ZWEI NAMEN, EIN LEBEN (1997) von Elke Baur oder in filmischen Begleitungen der Reise von Überlebenden des Holocaust an die Orte ihrer Vergangenheit in Osteuropa, wie in DIE LETZTEN TAGE (1998) von James Moll. Prototypisch für ein gesteigertes Interesse an historischen Spuren und aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in den ehemaligen Ostblock-Ländern ist der Filmemacher Volker Koepp, der mit HERR ZWILLING UND FRAU ZUCKERMANN (1999) den Blick für und auf den Osten einem breiten Publikum öffnete. Einhergehend mit einer aufkommenden Aufmerksamkeit für die Stadt Czernowitz in der Bukowina, im Westen der Ukraine, als ehemals literarisches Zentrum und Heimat von Paul Celan, Rose Auslander, Joseph Schmidt und anderen wiederentdeckt,104 gelingt dem Film eine Charakterstudie des Ortes, die Gegenwart und Vergangenheit und ihre jüdischen Spuren einfängt. Die Protagonisten, Mathias Zwilling und Rosa Roth-Zuckermann (Abb. 15), gehören zu den letzten noch im alten Czernowitz geborenen Juden. Es verbindet sie eine enge Freundschaft, die deutsche Sprache und gemeinsame 104 Die Wiederentdeckung der Bukowina als untergegangene Kultur- und Literaturlandschaft schlug sich in zahlreichen literarischen Neuerscheinungen der Zeit nieder, vgl. Baumann, Gerhart (1992): Erinnerungen an Paul Celan, Frankfurt: Suhrkamp; Emmerich 1999, Pollack, Martin (1994): Nach Galizien. Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen. Eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Wien: Christian Brandstätter; oder Corbea-Hoișie, Andrei (Hg.) (1998): Jüdisches Städtebild Czernowitz, Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp.

              

Erfahrungen während der bewegten Geschichte der Bukowina. Gemeinsam überlebten sie Zeiten der Auswanderung, Vertreibung und Vernichtung der Czernowitzer Juden. Herr Zwilling besucht täglich die 90-jährige Frau Zuckermann und tauscht sich mit ihr aus – über gemeinsam Erlebtes ebenso wie über alltägliche Sorgen, Literatur oder Politik. In den Lebensgeschichten dieser beiden Menschen steckt auch die Geschichte eines Jahrhunderts, die anhand ihrer Erinnerungen und mit Episoden aus dem jüdischen Leben im Czernowitz der Gegenwart gestreift wird. In langen Einstellungen und langsamen Schwenks fährt Thomas Plenerts Kamera über Landschaften, Straßen, Gesichter (Abb. 15). Skurrile Situationen ebenso wie ein schonungsloser Blick auf die Trostlosigkeit des von Armut und Entbehrung gezeichneten Ortes und seiner Bewohner/innen werden dargeboten, während der Regisseur asyntop-asynchron Fragen stellt oder einzelne Wörter einwirft, um die Erzählungen der Protagonisten voranzutreiben. Dabei entstehen tragische wie komische Momente in der Interaktion der Protagonisten mit dem Filmteam und der Kamera, auf die auch hier textimmanent verwiesen wird. Herr Zwilling zeigt sich widerwillig und vor allem skeptisch der Kamera gegenüber, macht dennoch mit und befolgt die Regie-Anweisungen, die teils im Film belassen werden und humorvoll wirken – eine Interaktion, die auch der Charakterisierung dient. Auch wenn dadurch zuweilen der Eindruck entsteht, Koepp und sein Team führen die Protagonisten vor: Der Film vermochte einen Blick in den Osten zu präsentieren und zahlreiche weiterführende Beschäftigungen mit Czernowitz anzustoßen. Er fand in vielen Ländern eine positive Rezeption, die sich auch mit dem Exotismus des noch zu entdeckenden Ostens Europas erklären ließe, und hat eine neue Welle des Interesses an osteuropäischen Vergangenheiten losgetreten.   "$ !#$"%       (     &   Die nachgezeichneten Entwicklungen setzten sich auch in den Produktionen nach 2000 fort, wobei zwei grundlegende Aspekte das Vorgehen kennzeichnen: Zum einen bestimmen verstärkt familienbiografische Perspektiven den dokumentarfilmischen Diskurs in Bezug auf intergenerationale Dynamiken; zum anderen wächst das Bewusstsein um die Fragilität und Vergänglichkeit der Zeitzeugen, die aussterben, und damit auch das Bedürfnis, sie zu befra-

        

gen, solange dies noch möglich ist. Eine Markierung setzt die Befragung der im Zuge des öffentlichen Interesses prominent gewordenen Zeitzeugin Traudl Junge mit dem Film IM TOTEN WINKEL – HITLERS SEKRETÄRIN (2002) von André Heller und Othmar Schmiderer. An diesem Filmbeispiel lässt sich nachvollziehen, wie dokumentarfilmische Zugänge zu erlebter Vergangenheit ein Bild der politischen und soziokulturellen Rahmen der Protagonisten und der Aussageinstanz zur Zeit der Produktion nachzeichnen. Der Film zeugt von einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber • der Vergangenheitsbewältigung der Zeitzeugin Traudl Junge, • Hitler als Privatperson und • jenen, die Hitler umgaben.

Die hohe Aufmerksamkeit verdankt der Dokumentarfilm nicht zuletzt dem Zusammenspiel mit den parallel zum Film veröffentlichten Erinnerungen Traudl Junges „Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben“ (2002) und dem zwei Jahre später produzierten Doku-Drama DER UNTERGANG (2004). An IM TOTEN WINKEL – HITLERS SEKRETÄRIN lässt sich die soziokulturelle Formung der biografischen Selbstdarstellung und ihre mediale Verhandlung diskutieren. Die filmische Verhandlung weist auf eine Untersuchung von Harald Welzer hin, in der er nachzeichnet, dass ein Wandel der Autobiografie nicht allein im Laufe der Zeit stattfindet, sondern auch in Abhängigkeit von den verschiedenen sozialen Gruppen, an die sich die autobiografische Darstellung richtet, und deren Erwartungshaltungen, die bedient werden.105 Der Film IM TOTEN WINKEL – HITLERS SEKRETÄRIN beschäftigt sich mit Traudl Junges Erfahrungen als Privatsekretärin von Adolf Hitler, die sie als 22jährige von 1942 bis Kriegsende war, mit ihren Erinnerungen als Zeitzeugin, in denen Kategorien wie Verstörungen, Selbstreflexion, Schuldbewusstsein und Vergangenheitsbewältigung verhandelt werden. IM TOTEN WINKEL – HITLERS SEKRETÄRIN ist zum einen ein Gespräch über jahrzehntelanges Nachdenken über Geschichte, Verdrängung, eigene Verantwortung und Schuld in Bezug auf den Nationalsozialismus. Zum anderen ist er eine historisierende Annäherung an die Person Hitlers aus privater Nähe. Für diese

105 Welzer 2002, S. 220 f.

     

 

     

dokumentarfilmische Verhandlung von Verdrängung, individueller und kollektiver Schuld und der Annäherung an die Privatperson Hitler konzentrieren sich die Filmemacher in ihrem 90minütigen Film ausschließlich auf die Erzählungen der ehemaligen Sekretärin und nehmen Abstand von weiteren Zeitzeugenbefragungen und von der Einbindung historischen Quellenmaterials. Die Regisseure lassen lediglich Traudl Junge zu Wort kommen, sich erinnern und ihre Erinnerungen selbst reflektieren, kommentieren, ergänzen oder verbessern. Im Vordergrund steht ihre eigene Biografie, wobei bereits der Titel Hinweise darauf liefert, dass das Interesse mitunter Hitlers Person gilt. Der Lektüremodus, den diese Entscheidung für das Gespräch mit nur einer Protagonistin motivierte, ist in erster Linie ein subjektivierender. Traudl Junge berichtet in mehreren Interviews mit André Heller über ihren persönlichen Weg ebenso wie über ihre Zusammenarbeit mit Hitler. Zu diesen Gesprächen kam es durch die Vermittlung von Melissa Müller, Traudl Junges Lektorin. Nachdem die Filmemacher Traudl Junge dabei aufnehmen, wie sie über ihre Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus spricht, wenden sie bei der Bearbeitung ihres Material ein besonderes Verfahren an: Sie filmen die Zeitzeugin zusätzlich dabei, wie sie diese Aufnahmen von sich selbst betrachtet, kommentiert und reflektiert, eine Strategie, die mehrfach in der filmwissenschaftlichen Literatur Beachtung fand und als selbstreflexiver Zugriff bereits von Jean Rouche und Edgar Morin im cinéma vérité eingesetzt wurde.106 Radikal in der Inszenierung sind auch formal-ästhetische Entscheidungen: Heller und Schmiderer verwenden kein künstliches Licht, keine Kamerafahrten und keine Musik, keine Einblendungen von dokumentarischen oder nachgestellten Szenen. Sie bieten Traudl Junge ausreichend Raum zur Selbstdarstellung, in teilweise minutenlang ungeschnittenen Sequenzen. Die innerhalb der 90 Minuten punktuell eingesetzte, sich selbst betrachtende Traudl Junge verschafft dem Film Höhepunkte in Bezug auf die unmittelbare Veranschaulichung des prozessualen, kontingenten Charakters ihrer Erinnerungen. Gleichzeitig bieten sie dadurch Traudl Junge die Möglichkeit, sich selbst zu korrigieren oder bestimmte Aussagen zu relativieren.

106 Vgl. hierzu etwa Keilbach 2008, S. 196 f.; Wende, Waltraud (2011): Filme, die Geschichte(n) erzählen. Filmanalyse als Medienkulturanalyse, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 97 f.; Tondera 2008, S. 157.

        

Der Film geht überwiegend chronologisch vor: Angefangen bei der Familien- und Ausbildungssituation Traudl Junges über ihre Anfänge als Privatsekretärin im Führerhauptquartier in der Wolfsschanze bis hin zu den letzten Tagen im Bunker; als Zeugin des missglückten Stauffenberg-Attentats 1944 und der letzten Kriegstage sowie des Selbstmordes Hitlers im Führerbunker der eingekesselten Hauptstadt. Nach dem Krieg konnte sich Traudl Junge eigenen Aussagen zufolge erst spät (etwa erst mit den Nürnberger Prozessen und mit Büchern wie dem Tagebuch der Anne Frank und anderen Zeugnissen) ihre eigene Schuld eingestehen, sich jedoch nie ihre damalige Naivität und Ignoranz verzeihen. Die von Heller gestellte Frage (asyntopsynchron) nach der eigenen Verantwortung kreist als Auftakt und Ende den Film ein. Der Spannungsbogen wird darüber hinaus um das Interesse an Geschichten über Hitler aufgebaut (sein Verhältnis zum Hund beispielsweise). Traudl Junge wird als authentische Zeitzeugin inszeniert, die Identifikationspotential oder gar Entlastung anbietet. In ihren Aussagen distanziert sie sich von der eigenen Biografie, indem sie eine Auseinandersetzung mit der naiven, jungen Junge präsentiert. Junges Erzähllogik folgt dem Versuch, die eigene Schuldverarbeitung zu verdeutlichen. Sie geht auf die Frage nach der eigenen Verantwortung ein, reklamiert ein junges, naives Nichtwissen während ihrer Tätigkeit als Hitlers Sekretärin, nimmt dadurch aber auch eine Unterbewertung ihrer Rolle in Kauf. Motivationen wie „Karriere“ und „Ehrgeiz“ etwa werden heruntergespielt. Die Politik der Zeugenschaft, die hier zum Ausdruck kommt, ist eine stellvertretende und entlastende. Dabei fällt vor allem das Spannungsverhältnis auf zwischen einer Erinnerung, die als „echt“ und „authentisch“ inszeniert wird, und einer erlaubten, gesellschaftlich sanktionierten Erinnerung: Während Junge eloquent und scheinbar eingeübt erzählt und die Erwartungen an eine gelungene, wenn auch schmerzhafte Vergangenheitsbewältigung bedient, relativiert sie den Eindruck einer automatisierten Erinnerung gerade durch die selbstkommentierenden, abschwächenden und korrigierenden Aussagen. Beide Ebenen kommen hier in ihrer Wechselwirkung zum Vorschein: Teilweise bewegen sich Junges Lippen, wenn sie sich selbst zusieht und zuhört, synchron mit ihrer Erzählung aus den zeitlich zurückliegenden Aufnahmen. Sie sprich sie wortwörtlich mit, wodurch die festgeschriebenen Formulierungen zum Vorschein kommen. Dann wiederrum kontextualisiert sie ihre Aussagen neu – sie korrigiert sie damit im Sinne gesellschaftlich etablierter Auffassungen und zeitgenös-

     

 

     

sischer Erwartungshaltungen, verdeutlicht aber gleichzeitig die Transformationsprozesse und Konstruiertheit von Erinnerungen. Aufgrund der vertrauten Atmosphäre zwischen Protagonistin und Filmemacher, der Erzählkraft der Zeitzeugin und der Verknüpfung der persönlichen Lebensgeschichte Traudl Junges mit dem Interesse an Hitler aus semiprivater Nähe gelingt es dem Film, Authentizität zu evozieren. Die große Resonanz, die IM TOTEN WINKEL in der zeitgenössischen Rezeption erfuhr, ist aber auch auf die Veröffentlichungsstrategie zurückzuführen: Zeitgleich mit der Erscheinung des Dokumentarfilms hat Traudl Junge ihre bereits erwähnten, 1947 niedergeschriebenen und in Zusammenarbeit mit der Lektorin Melissa Müller in Buchform gebrachte Erinnerungen „Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben“ (2002) veröffentlicht. Diese Erinnerungen der ehemaligen Hitler-Sekretärin, die „als gute, sympathische Deutsche eine zugleich unschuldig-naive wie privat-intime Perspektive auf Hitler und seine Verbrechen liefert“, wie die Filmwissenschaftlerin Waltraud Wende die verschriftlichten Erinnerungen subsumiert,107 liefern die Ausgangsbasis für den Dokumentarfilm. Kurz nach Erscheinen der Aufzeichnungen verstarb Traudl Junge und konnte den Film DER UNTERGANG (2004), der zum Teil auf ihre Aufzeichnungen, zum Teil auf das ebenfalls 2002 veröffentlichte „Der Untergang. Eine historische Skizze“ von Joachim Fest zurückgreift, 108 nicht mehr miterleben. Innerhalb weniger Jahre und teilweise auch zeitgleich erscheinen also mehrere mediale Erzeugnisse zu Traudl Junge, die allesamt die Zeitzeugin als Garant der Authentizität inszenieren.109 Die verschiedenen Zugriffe nehmen aufeinander Bezug und bieten einzeln wie auch in ihrer Gesamtheit eine Transformationsgeschichte an – vom „naiven“ Mitläufertum zur Vergangenheitsbewältigung, zu Schuldeingeständnis und qualvollen Verarbeitung der eigenen Biografie. Das kontrovers diskutierte Doku-Drama DER UNTERGANG110 etwa beginnt und endet mit Ausschnitten aus dem Dokumentarfilm IM TOTEN WINKEL – HITLERS SEKRETÄRIN und bezweckt damit eine Rahmung für die historische Referenz.

107 Wende 2011, S. 97. 108 Fest, Jochim (2002): Der Untergang: Hitler und das Ende des Dritten Reiches. Eine historische Skizze, Berlin: Alexander Fest. 109 Vgl. Tondera 2008. 110 Zur Medienresonanz von „Der Untergang“ s. Wende 2011, S. 89 f.

        

    Während in IM TOTEN WINKEL wie auch in zahlreichen biografischen Dokumentarfilmen nach der Jahrtausendwende die Prozesshaftigkeit von Erinnerung filmisch reflektiert wird, wächst parallel dazu die Erkenntnis, dass Humor als dramaturgisches Mittel den Zugang zu schweren Themen erleichtert und als Möglichkeit dient, gegen eine oft beklagte „Ermüdung“ hinsichtlich historischer Themen und vor allem dem Überthema Holocaust zu agieren. Die Sympathie gegenüber den Protagonisten, die ihre Erzählungen darbieten, wird nicht allein mittels vorausgesetzter Empathie aufgebaut, sondern über Humor, Konfrontation, Ironie und freie Assoziationen, wie etwa in L’CHAIM (2014) oder den beiden beschriebenen Filmbeispielen NOBODY’S BUSINESS (1996) und HERR ZWILLING UND FRAU ZUCKERMANN (1999). Während sich manche Filme noch in einem Gestus uneingeschränkter Sympathie-Bekundung wähnen (zum Beispiel GERDAS SCHWEIGEN, 2005), beziehen zahlreiche Produktionen Konfrontationen und Ironie mit ein, um zwischen Protagonist/in und Zuschauer/in eine Beziehung aufzubauen. Andere wählen einen heiteren Ton wie etwa OMA & BELLA (2012), der Konfrontationen aus dem Weg geht und die alten Damen und ihre Lebensgeschichten auf unterhaltsame Weise darstellt. Zahlreiche Filme sind vom Versuch gekennzeichnet, den „Betroffenheitsgestus“ abzulegen und die tragischen Ereignisse und ihre Auswirkung auf die Gegenwart darzustellen, ohne sie zu banalisieren. Als Mittel hierfür fungieren Ironie, Humor und Konfrontation. Zudem wird gerade in (autobiografischen) Familienfilmen auf eine selbstreflexive Ebene zurückgegriffen, die die Involvierung der Filmemacher in die Art der Darstellung direkt aufgreift und thematisiert. Die Filme können als Initiativen gegen das Vergessen auf der Ebene der öffentlichen Diskurse betrachtet werden. Sie brechen die Kanonisierung der Perspektiven auf historische Ereignisse auf und versuchen, vielfältige neue Aspekte in den Diskurs einfließen zu lassen, um verbindliche Versionen vergangener Ereignisse neu zu reflektieren – im Bewusstsein, dass die mediale Vermittlung und der öffentliche Diskurs meist der einzig mögliche Zugang zu einem räumlich oder zeitlich entfernten Ereignis sind. Die oft biografisch motivierten filmischen Auseinandersetzungen lenken den Blick auf kaum bekannte oder diskutierte Aspekte des Holocaust: DIE WOHNUNG (2012) etwa versucht ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Opfern und Tätern nach 1945 zu ergründen; MEINE MUTTER, EIN KRIEG UND ICH (2012), ebenfalls

     

 

     

autobiografisch motiviert, thematisiert die Schicksale von Frauen, insbesondere schwangeren Frauen, im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine; WINTERKINDER (2005) und DAS ENDE DES NEUBACHER PROJEKTS (2006) stellen der überwiegenden Beschäftigung mit den (Täter-)Vätern eine Auseinandersetzung mit den Müttern entgegen. Ihre formale Vielfältigkeit reicht dabei von minimalistischen Inszenierungen über investigative Recherchen hin zu essayistischeren Ansätzen. So wird in 7 BRÜDER (2003) von Sebastian Winkels der Blick allein auf die Zeitzeugen-Erzählungen gelenkt: Der Filmemacher setzt die Protagonisten auf eine Art Bühne – ein leerer Raum, nur mit einem Stuhl ausgestattet und künstlich beleuchtet – und verwebt die einzelnen Aussagen in Fechnerscher Manier zu einer sich gegenseitig ergänzenden Erzählung, ohne zusätzliches Material, Bilder oder Musik hinzuzuziehen. In DIE WOHNUNG (2012) von Arnon Goldfinger baut der Regisseur eine Spannung auf, die auf die Lösung des Rätsels hinführt. Er deckt eine auch nach dem Krieg weitergeführte ungewöhnliche Freundschaft zwischen seinen nach Israel ausgewanderten Großeltern und einer Nazifamilie nach und nach auf und nimmt diese zum Anlass, um das Verhältnis seiner Mutter zur Vergangenheit und die Veränderungen, die dieses Verhältnis während des Drehs erfährt – vor allem die Entwicklung der Mutter während dieser investigativen Spurensuche – auszuarbeiten. Andere Filme verbinden die verworrenen Fäden einer Biografie durch die Reise an zahlreiche Orte, an die es die Protagonisten im Laufe ihres Lebens verschlagen hat – aufgrund historischer Ereignisse, Schicksalsschläge oder schicksalhafter Entscheidungen wie etwa SERGEJ IN DER URNE (2009) von Boris Hars-Tscharchotin, der die zahlreichen und komplexen Stränge, Orte und familiären Bezüge mittels animierter Grafiken veranschaulicht.

   Die Betrachtung der Entwicklung verdeutlicht, dass die Darstellung von Erinnerung zwischen persönlichem Erinnern und kollektiver Erinnerungskultur keineswegs ein Phänomen der Filmproduktion seit den 2000er Jahren ist oder die Filme der 1980er Jahre darauf bedacht waren, im Individuellen die Sphäre des Alltäglichen zu dokumentieren, wie vielfach in der wissenschaft-

        

lichen Auseinandersetzung behauptet.111 Seit den Anfängen des biografischen Dokumentarfilms werden Dimensionen des Individuellen, Privaten, an gesellschaftliche Kontexte und kollektive Erinnerungsbilder sowie Erinnerungsdiskurse gekoppelt. Auch selbstreflexive Zugänge wie bei Marcel Ophüls oder Claude Lanzmann oder meta-reflexive Ebenen werden früh erschlossen, wie am Beispiel Jutta Brückner aufgezeigt wurde. Der Überblick bestärkt zudem die Annahme, dass die Zuordnungen nach Bill Nichols nicht chronologisch verstanden werden dürfen. Die Interaktion der Filmemacher/innen gestaltet sich graduell unterschiedlich, ist jedoch inhärenter Bestandteil des Subgenres. Grundsätzlich ließen sich folgende Strukturmerkmale spezifizieren: Grad der Interaktion und Art der Gesprächsführung, Präsenz des Autors/der Autorin, Grad der vordergründigen Thematisierung der individuellen Erfahrung, Umgang mit Archivmaterial, Ort als Motiv, Einzeloder Kollektivschicksale, Mittel der Authentisierung, Empathie oder Ironie und Humor als Verfahren. Die Tradierung von Erinnerung und die Spuren der Vergangenheit für die zweite und dritte Generation sowie die filmische Reflexion ihrer medialen Darstellung werden dabei zu vorherrschenden Motiven der Produktionen seit 1990. Einige Filme betonen insbesondere die Schwierigkeit, sich Zugang zu den Erinnerungen zu verschaffen, sowie vermehrt den Widerstand der ersten Generation gegen das Bedürfnis der Folgegenerationen, mehr zu erfahren. Wenn der Erzählforscher Albrecht Lehmann zu Recht konstatiert, dass „wer rückblickend aus seiner Soldaten- oder Lehrzeit eine Geschichte erzählt, der gibt stets den lebensgeschichtlichen Zeitkategorien und der Chronologie seiner Erzählung Elemente der politischen Atmosphäre der Gegenwart mit“,112 so zeichnen die vielfältigen dokumentarfilmischen Zugänge zu erlebter Vergangenheit umso mehr in einer doppelten Bewegung ein Bild der politischen und sozio-kulturellen Rahmen der Protagonisten und der Aussageinstanz zur Zeit der Produktion.

111 Vgl. Roth 1982 oder Seider 2013. 112 Lehmann 2007, S. 66.

                  



Die bisherigen theoretischen Ausführungen und die Filmbeispiele haben gezeigt, dass Erinnerung keineswegs ein neutraler Raum der kulturellen Auseinandersetzung ist. Der konstituierende Akt der Sinngebung für Erfahrung, der im Prozess des Sich-Erinnerns und Erzählens stattfindet, bestimmt die Interpretation der historischen Realität. Filme, welche die Erinnerung an die Vergangenheit rekonstruieren, bestimmen sie gleichzeitig mit: Sie helfen, bestimmte Aspekte stärker hervortreten zu lassen, legen die jeweilige Perspektive auf diskursive Räume fest und vermögen Lücken und Leerstellen auszufüllen oder Erinnerungen gar umzudeuten/zu überschreiben.1 Biografische Dokumentarfilme spielen eine wichtige Rolle für den Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis und bieten gegenwärtigen Rezipient/innen unterschiedlichste Verarbeitungsformen der Vergangenheit an. Umso deutlicher die mediale Vermittlung und die subjektive Perspektive der Aussageinstanz hervortritt, umso stärker sind die Filme in der Lage, individualistischen Verkürzungen und Verallgemeinerungen einer Erinnerungskultur vorzubeugen. So sehr das Interesse von Empathie oder Sympathie, Identifikation oder allgemeiner Neugierde gegenüber einzelnen Individuen oder Schicksalen

1

Vgl. hierzu die Zeitzeugenstudie Philipp, Marc J. (2010): Hitler ist tot, aber ich lebe noch. Zeitzeugenerinnerungen an den Nationalsozialismus, Berlin: be.bra wissenschaft; vgl. auch Welzer/Moller/Tschuggnall 2002, S. 112 f.: In ihrer Studie haben sie nachgewiesen, wie bestimmte Filme narrative Vorlagen für die Deutungen der eigenen Lebensgeschichte (oder der Geschichte der Familie) bieten.

     

 

     

geleitet wird, richtet es sich per se auf die Annäherung an die historische Realität – mal ausgeprägter und mal weniger vordergründig, je nach Maßgabe der textimmanenten oder externen Lektüreanweisungen. Für die Annäherung an die historische Realität gilt, dass im Dokumentarfilm wie in der Geschichtsschreibung erst im rekonstruierenden Diskurs zwischen den selektierten (und vermittelten) Ereignissen sinnstiftende Beziehungen hergestellt, die ihrerseits von der Organisation und Präsentation des Materials durch erzählerische Strukturen bestimmt werden. Die sinnstiftende Strukturierung findet in den Dokumentarfilmen auf drei Primärebenen statt. In der Gedächtnisrekonstruktion wird die Protagonistin oder der Protagonist als autobiografischer Erzähler zum „Ideologen seines eigenen Lebens“2: In der autobiographischen Erzählung wird der nicht vorherzusehende Kurs zwischen unzähligen Entscheidungen in bestimmten Lebenssituationen so dargestellt, „als bestehe zwischen der ersten Entscheidung und dem gegenwärtigen Endpunkt des Erzählers eine gerade Linie, ja sogar ein kausaler Zusammenhang zwischen jedem dieser früheren Punkte und der gegenwärtigen Situation“.3 Auf einer zweiten Ebene reorganisiert die filmische Aussageinstanz (Filmemacherin, Autor), von gegenwärtigen Interessen geleitet, die Erzählung der Protagonisten/innen, und strukturiert sie anhand medium-spezifischer, narrativer Verfahren und Entscheidungsprozesse. Und schließlich gehen mit der Rezeption Bedeutungszuweisungen einher, die abhängig sind von kultureller Prägung, Vorwissen, Medienerfahrung, Empathie-Bereitschaft, Grad der persönlichen Involviertheit und von der sozial determinierten Rezeptions-/Aufnahmesituation. Im Rahmen dieses mehrschichtigen Prozesses der Konstruktion und Rekonstruktion sind die Faktoren entscheidend, die Einfluss auf das autobiografische Erzählen der Protagonisten im Rahmen einer Filmentstehung nehmen und sich auf die Beziehung zu bzw. die Interaktion mit der Interviewerin/dem Interviewer auswirken, vor dem Hintergrund dokumentarfilmspezifischer Zugriffe und narrativer Strukturen.

2

Bourdieu 1990, S. 76.

3

Baumgartner 2000, S. 6.

                 

    

            Wenn der Blick in die Vergangenheit als ein von gegenwärtigen Interessen geleiteter Rückblick begriffen wird, so besteht die Gefahr einer Überbewertung der konstruktivistischen Seite der Erinnerung – bei gleichzeitiger Vernachlässigung der historischen Wahrheit. Halbwachs hat zu Recht auf die Vergangenheit als eine soziale Konstruktion verwiesen, deren Beschaffenheit sich aus den Sinnbedürfnissen der jeweiligen Gegenwart her ergibt; in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung dominiert jedoch ein konstruktivistischer Vergangenheitsbezug, bei dem der Blick auf die historische Realität zuweilen in den Hintergrund gerät. Diese Bezugnahme auf Vergangenheit unter Einbindung postmoderner Theorienbildung führt mitunter dazu, die historische Realität als objektives Erkenntnisideal zu vernachlässigen: Der Gegenstandsbezug gerät gegenüber dem Gegenwartsbezug in den Hintergrund.4 In Anlehnung an Micha Brumlik schlägt Michael Elm daher eine Bezugnahme auf hermeneutische Ansätze vor und plädiert für eine Geschichtsschreibung „in narratologischer Absicht, bei der die Verknüpfung einzelner historischer Behauptungen bis hin zu ‚großen Geschichten‘ durchaus sinnvoll und wahrheitsfähig ist. Eine solche Geschichtsschreibung hätte weder auf die Verdienste ‚postmoderner Theorie‘ zu verzichten, noch müsste sie ihren Gegenstandsbezug sowie ihre Wahrheitsfähigkeit in Abrede stellen.“5

Dieser Ansatz erscheint in Bezug auf die Analyse des biografischen Erzählens im Dokumentarfilm sinnvoll, um die Verweise auf die historische Realität, die zu den wesentlichen Merkmalen des biografischen Dokumentarfilms gehören, nicht in eine funktionale Beliebigkeit entgleiten zu lassen. Unter dieser Prämisse können der geschichtliche Gegenstandsbezug und die Perspektive der Betrachtung in ein produktives Verhältnis zueinander gesetzt werden. Denn das Interesse an dem geschichtlichen Gegenstand wie an den sinnstiftenden Bezugnahmen aus der Perspektive der Gegenwart bestimmt

4

Vgl. Erll 2005a, S. 6 f. oder Elm 2008, S. 66 f.

5

Elm 2008, S. 65.

         

     

maßgeblich die Rezeptionsbereitschaft, wobei sich das Erkenntnisinteresse in unterschiedlicher Gewichtung nicht nur in den Filmen des Untersuchungskorpus, sondern auch innerhalb der jeweiligen Filme ständig verschieben kann – in Abhängigkeit von den jeweiligen Lektüreanweisungen und Modi der Rezeption. Dementsprechend stellten sich folgende Fragen: Wer erzählt hier eigentlich und wessen Erzählung wird wann prioritär im Raum der Rezeption? Wie gestaltet sich also die kommunikative Beziehung zwischen Protagonist/in, filmischer Aussageinstanz und Rezipient/in, welche bewussten oder von implizitem Wissen gesteuerten Entscheidungen kommen zum Tragen? In der folgenden Fallanalyse werde ich mir anschauen, wie sich die jeweiligen Beziehungen zwischen Protagonist/in, Filmemacher/in und Rezipient/in einander bedingen, und in welchem Verhältnis die Glaubwürdigkeit der filmischen Aussageinstanz zur Glaubwürdigkeit der Protagonisten steht. Wenn der Zeuge beispielsweise unglaubwürdig erscheint, kann er für den Rezipienten dennoch authentisch wirken? Wie gestaltet sich der Vertrauensaufbau zu den Protagonisten? Der Film wird sowohl auf seine formal-ästhetische Ebene hin untersucht als auch auf die Zuschreibungsprozesse und damit auf das Verhältnis zum Erinnerungssystem des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses. Die mündliche Erzählung der Protagonisten, die fotografischen Aufnahmen sowie die Schauplätze (Orte, Architektur, Straßenzüge) als strukturierende Elemente werden als spezifische Zugriffe des dokumentarfilmbiografischen Verfahrens verhandelt, die ihre Wirkung jedoch erst in dem Zusammenspiel der verschiedenen Modi der filmspezifischen Sinnkonstruktion entfalten.

         …VERZEIHUNG, ICH LEBE von Andrzej Klamt und Marek Pelc porträtiert vier Holocaust-Überlebende und ehemalige Abiturienten des Gymnasiums der polnischen Kleinstadt Bedzin. Ihre Reise in die Vergangenheit treten die Protagonisten/innen anhand von privaten Fotografien an, die im Museums-Archiv des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz gefunden und ausgewertet wurden. Als Fallbeispiel eignet sich der Film besonders gut, denn er adressiert eine der Hauptfragen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung: Wie können die Katastrophen des 20. Jahrhunderts Eingang in das

                

kollektive Gedächtnis finden, wenn die Träger individueller Erfahrungen gestorben sind? Oder, wie Nikolas Pethes diese Frage zugespitzt formuliert: „Ist die Etablierung eines kulturellen Gedächtnisses ohne vorgängige Basis eines kommunikativen Gedächtnisses denkbar?“6 Im Folgenden werden die Rolle der Fotografien untersucht, die kommunikative Konstellation sowie die Verknüpfung der unterschiedlichen Zeitebenen, die auch gegenwärtige Lebenssituationen der Zeitzeugen einschließen und die Spuren der Vergangenheit in ihrem heutigen Leben reflektiert. Die Analyse bezieht auch die erweiterten Produktions- und Rezeptionskontexte mit ein. Sie fragt danach, wie anhand der individuellen Beispiele das kollektive Schicksal der Bedziner Juden thematisiert wird. Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach der Selbst-Referenzialität des Films: Wie verweist er, als Ort der Reflexion über Erinnerungsprozesse, auf die in ihm repräsentierten medialen Zugänge zu Erinnerung wie auch auf sich selbst als mediale Konfiguration, durch die die Reflexion stattfindet?                 Welche Rolle spielen Fotografien als Erinnerungszugänge und gedächtniskonstituierende Materialitäten im biografischen Dokumentarfilm? Dieses Kapitel behandelt die tragende Rolle der Fotografien für den Film, ihre narrative Funktion sowie ihre medium-spezifische Referenzialität. Der Film beginnt mit einer langsamen Kamerafahrt, die ein großformatiges Gruppenporträtfoto von Jugendlichen abtastet. Ein Gesicht nach dem anderen wird gezeigt, während asyntop-asynchron die Stimme eines Mannes zu hören ist, der Aussagen zu den jeweiligen Personen trifft: Adam Naparstek-Naor: Das ist Lolek. Er überlebte dank seiner blauen Augen. Sie glaubten, dass er kein Jude ist … das ist Preger … Auschwitz… Das ist Bolek Lewenstajn, einziger Überlebender seiner großen Familie … Das ist Berkowicz. Er sah sehr weiblich aus. War aber trotzdem ein Mann. Sie haben ihn fertiggemacht … Das bin ich. Und das ist Adolf Wosnica … Auschwitz. Er ist nicht mehr da … Ignatz Blum. Ein ganz kleiner, fast ein Zwerg. Er lebte noch ein paar Tage

6

Pethes 2008, S. 154.

         

     

in Auschwitz, aber er ist gestorben. Und das sind die Mädchen. Dudka Lipszyc, sie lebt nicht.

Wie sich später im Film herausstellt, handelt es sich um ein Klassenfoto des jüdischen Gymnasiums Fürstenberg. Anhand der Erzählung zu jedem einzelnen Gesicht auf der Fotografie wird deutlich, dass es aus diesem Jahrgang nur noch wenige Überlebende gibt. Die Kamera tastet sich zum Gesicht des erzählenden Protagonisten heran, der im Vordergrund, vor dem großformatigen Bild sitzend, und in Großaufnahme gezeigt wird (Abb. 16). Beim Sprechen über seine ehemaligen Klassenkameraden/innen wird der Mann von einer Vielzahl von Emotionen begleitet. Er lächelt angesichts der Erinnerungen an seine ehemaligen Freunde, vor allem, wenn er sie charakterisiert. Er wechselt zwischen den Sprachen (Deutsch und Polnisch), wenn er anekdotenhaft bestimmte Begegnungen mit SS-Leuten schildert, blickt zuweilen betrübt und resigniert herab, wenn er „Auschwitz“ als Todesurteil ausspricht, stockt, bis ihm Namen wieder einfallen, erinnert sich belustigt an manch einen Jungen oder Mädchen: „Topci Gutmann, so eine dünne, hässliche [lacht]“. Den Ausgangspunkt für den Erinnerungsprozess wie er hier, in der ersten Einstellung, eingeführt wird, bildet die großformatige, den Hintergrund der mise en scène ausfüllende Fotografie aus der Vorkriegszeit. So wird gleich zu Beginn des Films deutlich, wie die Verwendung der Fotografie im Kontext der filmischen Erzählung verortet wird: Sie dient als Erinnerungskatalysator, Referenz und kultureller Speicher, also als Gedächtnismedium. Im weiteren Verlauf der narrativen Konstruktion wird diese Verwendung bestätigt und ihre Rolle als Gedächtnismedium im sozialkommunikativen Raum betont. Der Begriff sozialkommunikativ wird in Anlehnung an die soziologische Charakterisierung von biografischem Erzählen verwendet. Er bezieht sich auf die genre- und gattungsspezifischen Kommunikationsbedingungen im öffentlich geführten gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, bezogen auf den erweiterten Kontext, also auf den kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft in den jeweils unterschiedlichen Ausprägungen (mündlich, schriftlich etc.) – also wie Gesellschaften zur Findung sozialer Problemlösungen miteinander in der Öffentlichkeit kommunizieren.7 Erll konzeptualisiert die Bedeutung von Gedächtnismedien wie Fotografie als Schlüssel zur

7

Vgl. Luckmann 1980 oder Heinze 2010.

                

Erinnerung: Sie betrachtet sie als unverzichtbare Komponente jeglichen Vergangenheitsbezugs bei der Konstitution und Zirkulation von Versionen einer gemeinsamen Vergangenheit in den jeweiligen sozialen und kulturellen Rahmen. Die Fotografien fungieren als materiales Zeichen und Anhaltspunkt dafür, dass eine vergangene Wirklichkeit existiert hat.8 Durch ihre Referentialität, die auf Vergangenheiten zu einem bestimmten Zeitpunkt unter bestimmten sozialen, kulturellen und politischen Umständen verweist, ermöglichen die fotografischen Bilder Zugänge zur Erinnerung in diesem filmspezifischen (sozialkommunikativen) Raum, da sie im Rahmen eines kontextualisierenden Aktes einen raumzeitlichen Wirklichkeitsausschnitt bezeugen. In ihren Überlegungen zum mediengestützten Gedächtnis begreift Erll Medien nicht nur als relevant für Speicherungs- und Auslagerungsprozesse, sondern als Grundvoraussetzung für Erinnerungsprozesse, als Vermittlungsinstanzen, die Kommunikation und Zugriff auf (vergangene) Wirklichkeiten erst ermöglichen. Durch ihre medium-spezifische Referentialität lösen Fotografien Erinnerungsprozesse aus und verweisen darüber hinaus auf Vergangenheiten, die durch Imaginationsprozesse in räumlich und zeitlich ausgedehnte Erfahrung- und Erlebnisbezüge versetzt werden.9 Mit dem Konzept der cadres médiaux (medialen Rahmen des Erinnerns),10 die mit einer medienspezifischen Gedächtnis-Erzeugung einhergehen, erläutert Erll die Ermöglichung und Prägung der Vergegenwärtigung und Deutung von eigener und fremder Erfahrung. Gedächtnismedien präformieren unsere Wahrnehmung, genauso wie auch das Was und Wie von der Vergangenheit in einem bestimmten gesellschaftshistorischen Kontext erinnert wird: „Die erinnerungskulturell wirk- und bedeutsamen Vergangenheiten sind […] mediale Konstrukte. Deshalb sind sie nicht falsch oder unwirklich; Medialität stellt vielmehr die Bedingung der Möglichkeit des sinnhaften kollektiven Bezugs auf zeitliche Prozesse dar.“11 Da laut Erll mediale Darstellungen den Abruf von Erinnerung leiten,12 erhalten die Fotografien über den medial vermittelten Anlass zur individuel-

8

Erll 2004, S. 4.

9

Vgl. hierzu auch Breckner, Roswitha (2013): Bild und Biografie, in: Heinze/Hornung (Hg.), S. 165.

10 Vgl. Erll 2005b, S. 257. 11 Erll 2004, S. 5. 12 Vgl. Erll 2005b, S. 257.

         

     

len Erinnerung hinaus eine Funktion für die Existenzsicherung der abgebildeten Personen. Durch ihre Einbettung in den historischen Kontext anhand der potenzierenden Aussagen der Protagonisten – im Zusammenhang mit der Katastrophe der Bedziner Juden und der Ermordung der meisten abgebildeten Gymnasiasten – verweisen sie explizit auf die Relevanz von Spuren als Zeugnisse der Vergangenheit. In der Eröffnung des Films werden diese Zusammenhänge kenntlich gemacht, und zwar zwischen: • Fotografien als Anlass zur individuellen Erinnerung, • Fotografien als Evidenzen vergangener Wirklichkeiten und • ihrer lebensgeschichtlichen Einbettung in Erfahrungs- und Sinnzusam-

menhänge. Die zeitlichen Dimensionen werden visuell in der Inszenierung aufgegriffen: Während das großformatige Foto im Hintergrund schwarz-weiß ist und auf eine spezifische historische Zeit verweist (als visuelles Zeugnis), erscheint der Protagonist in den Farben einer künstlichen Beleuchtung, die die Gegenwart der Erzählung visuell denotiert und von der Vergangenheitsebene der Fotografie abhebt. Dadurch, dass der weitere Raum im Obskuren belassen wird, indiziert die Inszenierung eine völlige Konzentration auf die beiden Materialitäten (Aussage des Zeitzeugen und Fotografie), die die Strukturierung und die Organisation des Materials prägen. Die Hauptperspektive des Films wird anhand des Verweises auf den erweiterten Kontext spezifiziert: Durch einen eingeblendeten Zwischentitel auf einer Schrifttafel erfahren wir, dass die Fotografie einem Fund an rund 2400 privaten Fotografien jüdischer Bewohner der polnischen Kleinstadt Bedzin und der Umgebung entstammt, die nach 1945 in Auschwitz gefunden wurden, vermutlich in einem Koffer. Nur wenige Menschen, die darauf abgebildet sind, haben den Zweiten Weltkrieg überlebt, so die Mitteilung auf der Schrifttafel. Anschließend sind Aufnahmen von Kofferbergen aus dem Museum Auschwitz-Birkenau zu sehen, als visuelle Bezugnahme zur Provenienz der Fotografien, während eine musikalische Untermalung, die bedrückend wie unheilvoll wirkt, die Einstellung begleitet. Diese Aufnahme, gemeinsam mit der zuvor erwähnten Schrifttafel, bleiben die einzigen expliziten Bezüge auf den Forschungskontext im Vorfeld des Films.

                

Abb. 16: …VERZEIHUNG, ICH LEBE: Klassenfoto mit Adam Naparstek-Naor

Abb. 17: Abraham Dafner in …VERZEIHUNG, ICH LEBE

Abb. 18: …VERZEIHUNG, ICH LEBE: Koffer im Museum Auschwitz-Birkenau

         

     

Abb. 19: …VERZEIHUNG, ICH LEBE: Bedzin damals und heute Die nächsten Einstellungen führen die weiteren Protagonisten ein, die anhand einzelner Fotografien lebensgeschichtlich erzählen. Der Film porträtiert die vier Überlebenden, die über das Zusammenleben von Juden und Polen in der Vorkriegszeit und von der späteren Auslöschung der jüdischen Bevölkerung in Bedzin erzählen, anhand drei distinktiver Elemente: der Erzählung von Erinnerungen, den Fotografien sowie, als drittes Handlungselement, anhand der Orte und Schauplätze – sowohl in Bedzin, wo sie gelebt haben, als auch in Tel Aviv, wo sie jetzt leben.

                

       Für die weitere Analyse, die sich nicht nur auf der Ebene textueller Elemente bewegt, sondern den Produktions- und Rezeptionsraum mitberücksichtigt, ist zunächst der Entstehungskontext relevant. Der Historiker und Publizist Marek Pelc, der gemeinsam mit dem Filmemacher Andrzej Klamt für den Film verantwortlich zeichnet, ist im Rahmen eines Forschungsprojektes des Fritz-Bauer-Instituts auf die Fotosammlung aus dem Museum AuschwitzBirkenau gestoßen. Nachdem er mit einer Reihe von Holocaust-Überlebenden gesprochen hatte, entwickelte er gemeinsam mit Klamt die Idee, einige der Menschen filmisch zu porträtieren, die aus der kleinen polnischen Stadt Bedzin am Rande des oberschlesischen Kohlereviers stammten: „Mit diesen wenigen Überlebenden haben wir näheren Kontakt aufgenommen und schließlich daraus unsere Protagonisten gewählt. Die Mehrzahl von ihnen hatte dasselbe jüdische Gymnasium besucht, war dann ins Ghetto verbannt und schließlich nach Auschwitz deportiert worden. Alle leben jetzt in Tel Aviv. So haben wir uns also für diese Überlebenden der Shoah entschieden, weil sie einen gemeinsamen Lebensund Erfahrungshintergrund haben.“13

Dieser Entscheidungs-Prozess im Vorfeld der Produktion gestaltete sich jedoch nicht unproblematisch. Die Forschungen zur Erschließung der Fotosammlung lösten unterschiedliche und auch weitreichende Reaktionen aus, wie Pelc spezifiziert: „Bei einer Zusammenkunft mit einigen Mitgliedern der Landsmannschaft Zaglebie [Landkreis Bedzin, A.d.A.] in Tel Aviv, die ihr Domizil im Nebenraum der Synagoge auf der Frishman Straße hat, erzählte ein älterer Herr wie sein Freund anfing zu schreien, als er eine Fotografie seines ermordeten Bruders erblickte. Dieser ältere Herr war dabei selber sehr gerührt, weil er gleichzeitig das Foto seines Onkels im Ghetto identifizierte. Menschen, die ihre verstorbenen Eltern, die nie erlebten Großeltern,

13 Klamt 2000 im Interview mit Ziewer, Christian (2ooo): …Verzeihung ich lebe, http://www.basisfilm.de/basis_neu/seite4.php?id=192&inhalt=zumFilm [zuletzt gesichtet am 3.9.2015].

     

 

     

Tanten und Onkel auf den Fotos entdeckten, fingen in einigen Fällen mit eigenen Nachforschungen an.“14

Die Erschließung der Sammlung nahm drei Jahre in Anspruch und führte auch zu einigen Initiativen wie einer ständigen Ausstellung auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz. Nach der Auswahl der Protagonisten entscheiden sich die Filmemacher ihren eigenen Angaben zufolge für eine offene Gesprächsführung und ein chronologisches Erzählen der Biografien, angefangen mit Kindheit, Elternhaus, Schule etc. Dieser zeitlichen Vorstrukturierung wird auch im Film Rechnung getragen: Es entstehen zunächst Einblicke in die persönlichen Leben der Protagonisten, die sich nach und nach dem Rezipienten plastisch erschließen, so dass ein Verhältnis zwischen Protagonisten und Rezipienten in einem abgesteckten, vertrauensvoll wirkenden Raum der Erzählung aufgebaut werden kann. 

             Neben den eingangs beschriebenen Fotos verzichtet der Film auf die Einbindung weiterer zeithistorischer Dokumente. Diese strategische Entscheidung, keine weiteren Quellen als die privaten Fotografien von der Zeit vor der Verfolgung und Vernichtung hinzuzuziehen, erklärt Klamt wie folgt: „Wir wollten aus historischen und aus formalen, ästhetischen Gründen ganz bei den Fotos bleiben und so eine Geschlossenheit der Orte und Geschichten erreichen. Wir wollten kein Fremdmaterial in dem Film, auch nicht, um irgendeinen dramatischen Effekt zu erreichen. Also haben wir nur diese Fotos als Ausgangspunkt der Erzählungen genommen und uns weitgehend auf die Erzählenden selber verlassen.”15

Anhand der Erzählungen der Protagonisten über ihre tragischen Erfahrungen entsteht ein Vorstellungsbild, das den Zugang zu eben jenen Erfahrungs-

14 Pelc, Marek (2000): Auf der Suche nach den Überlebenden. Anmerkungen zur Identifizierung der 2400 Fotografien von Bedziner Juden aus der Sammlung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, http://www.basisfilm.de/basis_neu/ seite4.php?id=192&inhalt=zumFilm [zuletzt gesichtet am 2.8.2015]. 15 Klamt im Interview mit Christian Ziewer, Ziewer 2ooo.

                

dimensionen ermöglicht, die unmittelbar mit den historischen Ereignissen verknüpft sind. Dabei potenzieren sich die Fotografien einer vermeintlichen Alltagsnormalität der jüdischen Bevölkerung in Bedzin vor ihrer Vernichtung mit den erzählten Erinnerungen. Obwohl keine Bilder der Vernichtung explizit gezeigt werden, konstituieren sie sich beim Rezipieren – im Wissen um das tragische Schicksal der abgebildeten Personen und im Eingedenken an sie. In seiner Aussage spricht der Filmemacher Klamt zwei wesentliche Aspekte für den spezifischen Umgang mit der Thematik an: die Absage an die Horrorbilder und ein tiefes Vertrauen in die Erzählkraft der einzelnen Protagonisten.16 Denn durch die Konfrontation mit den Fotos treten sie eine bedrückende Reise in ihre Vergangenheit während der Vorkriegszeit, der Kriegszeit wie auch der Zeit danach an. Mit seiner Intention und der formalästhetischen Entscheidung, die Erfahrungsdimension anhand der erzählten Erinnerungen prioritär zu behandeln, bestätigt der Film die eingangs formulierte These, der biografische Dokumentarfilm arbeite bewusst gegen eine visuelle Verschließung den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gegenüber. Wenn frühe Filme wie TODESMÜHLEN (DEATH MILLS, USA 1945, Hanus Burger) ein bis dahin unvorstellbares Ausmaß der Verbrechen visualisierten,17 hat sich die Wirkung dieser Bilder und die „Pädagogik des Schreckens“18 in den letzten Jahrzehnten stark verändert, auch weil die Schwarz-

16 In diesem Sinne reiht sich Klamt in die Traditionslinie der von Claude Lanzmann postulierten filmischen Verfahren ein: Die Imaginationen der Verfolgung und Vernichtung zu evozieren und nicht zu illustrieren oder repräsentieren, also durch die Beschreibung der Ereignisse Vorstellungsbilder zu erzeugen. In seinem Film „Shoah“ verweigert sich Lanzmann der Repräsentation und setzt auf die Imagination der Zuschauer, da er die Konkretisierung durch Bilder der Vernichtung als hinderlich für das Entstehen von Vorstellungsbildern betrachtet, vgl. Keilbach 2008, S. 59; zur Imagination im Dokumentarfilm vgl. auch Hartmann 2012. 17 Tobias Ebbrecht verhandelt die Aufnahmen von den alliierten Soldaten und Fotojournalisten, die in den Tagen nach der Befreiung der Konzentrationslager aufgenommen wurden und die unter dem Begriff Schreckensbilder (Atrocity Pictures) firmieren, als zentralen Ausgangspunkt der visuellen Erinnerung an den Holocaust, vgl. Ebbrecht 2011, S. 88; vgl. dazu auch Brink 1998. 18 Vgl. BJF (2010): Durchblick 14+, Nacht und Nebel, Bilder der Verbrechen – „Ikonen der Vernichtung“, http://www.durchblick-filme.de/nacht_und_nebel/

     

 

     

weiß-Aufnahmen von Leichenbergen und Massengräbern wiederholt aufgeführt, medial vervielfältigt und konsumiert wurden. Auf die Problematik, die hier angedeutet wird, geht Tobias Ebbrecht in seiner Analyse filmischer Narrationen des Holocaust genauer ein. Die Bilder des Grauens bewirken eine Entindividualisierung und Verallgemeinerung: Bilder der Massenvernichtung, die an die Grenze des Zumutbaren gehen – für Ebbrecht speziell Aufnahmen der britischen Alliierten während der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen im April 1945 – mutieren im Rahmen ihrer vielfachen medialen Einbindung und Vermittlung zu emotional kodierten ikonischen Bildern, die zu Repräsentanten allgemeiner Schreckenserfahrungen werden: „Um die unermessliche Dimension des Verbrechens zu verdeutlichen, geht der Blick vom Konkreten, noch als Individuum identifizierbaren, einzelnen Opfer zur Masse der wie ein abstraktes Muster erscheinenden Toten“19. Bilder von Leichenfeldern und die emblematisch gewordenen Aufnahmen von Bulldozer, die Leichen in Massengräber schieben, sowie die eingeschriebene Passivität der Opfer, die bereits in den Filmaufnahmen der Alliierten angelegt ist, führen, so Ebbrecht, zu einer Ikonografie der Dehumanisierung und Erniedrigung. Diese wurden nicht nur in den antisemitischen Propagandafilmen sehr bewusst angewendet, auch darüber hinaus tendieren die Bilder „zu einer Universalisierung im ikonischen Bild des Opfers“.20 Die Repräsentationen laufen somit Gefahr, über eine Dramatik des Opferseins die Dargestellten zu Objekten des Mitleids werden zu lassen.21 Da nichts Aufschluss über die Dargestellten als handelnde Personen gibt, entsteht eine Situation des Ausgeliefertseins angesichts der unfassbaren Gewalt. Auch Cornelia Brink konstatiert, dass die Opfer durch die visuelle Reduktion auf Körper und Masse einer Verdinglichung unterzogen werden.22 Darin begründet sie auch das Scheitern der visuellen Entnazifizierung 1945, wobei die widersprüchlichen Funktionalitäten der „Schreckensbilder“ maßgeblich zu diesem Scheitern beigetragen haben:

10_Verbrechen.htm [zuletzt gesichtet am 15.8.2015]; zur pädagogischen Verarbeitung von KZ-Fotografien vgl. Brink 1998, S. 173 f. 19 Ebbrecht 2011, S. 108. 20 Ebbrecht 2011, S. 111. 21 Vgl. hierzu auch BJF 2010. 22 Brink 1998.

                

„Einerseits entstanden sie aus Betroffenheit, um die Deutschen mit ihren bis dahin unvorstellbaren Greueltaten zu konfrontieren. Dabei ging es zunächst darum, Reue und Schuldbewußtsein zu wecken. Letzteres sollte schließlich insofern kollektiv vermittelt werden, als die Fotografien in Zeitungen publiziert oder in Schaufenstern und Anschlagtafeln im Freien mit dem Zusatz ‚Ihr seid schuld‘ ausgehängt wurden. Andererseits sei in den Bildern auch eine Portion Schaulust feststellbar, ein distanzierter, ja inszenatorischer Blick, der dem eines Voyeurs auf ein sensationelles Ereignis ähnle.“23

Dagegen wehren sich die Filmemacher Pelc und Klamt eindeutig und entscheiden sich für eine Darstellung der Überlebenden als handelnde Individuen. Die zeitgenössische Rezeption belegt, dass es den Filmemachern gelungen ist, mit …VERZEIHUNG, ICH LEBE einen dezidierten Beitrag gegen das Problem der Entindividualisierung und Objektivierung der Opfer wie auch gegen den Vorwurf eines voyeuristischen Blickes zu leisten. Der Tagesspiegel schreibt etwa: „Plötzlich erscheinen diese Überlebenden nicht mehr unter dem kalten Vorzeichen des Opfers, sondern als Menschen ‚wie du und ich‘. Das sind sie, ihrer Biografie wegen, keinesfalls – aber dass sie es sein könnten, verleiht dem Film eine quälende wie befreiende Kraft.“24 Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Dadurch, dass der Film den Terror nicht illustriert, arbeitet er gegen eine innere Abwehrhaltung angesichts der Bilder des Grauens; man kennt sie, man möchte sich ihnen nicht erneut aussetzen müssen. Insbesondere die zeitgenössische Kritik weist darauf hin und reagiert auf die Entscheidung der Filmemacher, der Erzählkraft der Zeitzeugen zu vertrauen, durchwegs positiv. In diesem Film überbrücken gerade die Protagonisten beim Zuschauer ein Sich-Versperren gegen den Schrecken; sie schaffen es, gegen das mahnende Nicht-Vergessen anzukommen. Der Regisseur und Mitgründer des Basis-Film Verleihs Christian Ziewer beobachtet eine allgemeine Abwehr-

23 Hägele, Ulrich (2000): Rezension zu: Brink, Cornelia: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945. Berlin 1998, in: H-Soz-Kult, 05.07.2000, http://www.hsoz kult.de/publicationreview/id/rezbuecher-198 [zuletzt gesichtet am 15.8.2015]. 24 Ginsberg, Werner (2000): Ich sah ihnen nicht ins Gesicht, in: Tagesspiegel vom 24.4.2000, http://www.tagesspiegel.de/kultur/ich-sah-ihnen-nicht-ins-gesicht-ein -dokumentarfilm/137410.html [zuletzt gesichtet am 4.9.2015].

         

     

haltung dem Thema Holocaust gegenüber, die sich nicht nur auf die Visualisierung des Grauens, sondern vor allem auf die sich wiederholende, zur Stereotypisierung beitragende Machart der Produktionen zum Thema bezieht: „In Feuilletons und auf Podien wurden die zivilen Schlachten um die furchtbare Sache geschlagen: Historikerstreit, Goldhagendiskussion, Walserrede, Wehrmachtsausstellung, Mahnmaldebatte. Theater und Literatur leisteten Kärrnerarbeit […]. Auch im Kino und im Fernsehen versuchte das Land zur Besinnung über seine Vergangenheit zu kommen: Majdanek-Prozeß, Hotel Terminus, Shoah, Jakob der Lügner, Holocaust, Das Leben ist schön, Schindlers Liste. Und immer wieder TV-Serien, 3. Reich-Endlosschleifen. Das Volk wurde informiert. […] Die Inflation des Themas und die ständig sich wiederholende Machart der Produktionen [haben] dazu geführt, daß ‚Auschwitz‘ nur noch eine abstrakte Metapher und eine klischeehafte, leere Formel geworden ist. ›Ich kann das nicht mehr sehen‹, meint nicht, der Schrecken sei zu groß und unaushaltbar, sondern nur noch: ‚Ich kann nichts mehr sehen, es sagt mir nichts mehr.‘“25

Was Ziewer hier anspricht, ist ein routinierter Betroffenheitsautomatismus, der angesichts klischeehafter Darstellungen entsteht und emotionale wie kognitive Zugänge unterminiert.26 Auch wenn …VERZEIHUNG, ICH LEBE aus den genannten Gründen grundsätzlich nicht auf Stereotypenbilder rekurriert und einen anderen Zugang zur Thematik bietet, gibt es doch eine Ausnahme, die für den Rezeptionsraum durchaus relevant ist: Der Film greift in seiner

25 Ziewer 2000. 26 Zu dem Umgang mit dem Thema Holocaust vor allem unter Jugendlichen gibt es zahlreiche Studien, die auch unter der vierten Generation ein reges Interesse und eine Bereitschaft zur Auseinandersetzung bezeugen, die allerdings darauf hinweisen, dass vor allem die angeordnete oder im Vorfeld der Auseinandersetzung von den Jugendlichen erwartete Betroffenheit die Zugänge versperren und zum Überdruss führen können, vgl. etwa die Studie des Instituts TNS Infratest, Staas, Christian (2010): Was geht mich das noch an? Unsere Umfrage zeigt: Die NS-Zeit bewegt die Jugendlichen nach wie vor. Aber sie wollen nicht auf Befehl betroffen sein, in: ZEITmagazin vom 4.11.2010, http://www.zeit.de/2010/45/Erinnern-NSZeit-Jugendliche [zuletzt gesichtet am 13.4.2015].

                

Exposition auf die Visualisierung der Koffer aus dem Museum AuschwitzBirkenau zurück (Abb. 18), um bildlich den Zusammenhang zu dem dort gefundenen Bildbestand herzustellen, der den Ausgang des filmischen Unterfangens markiert. Die Eröffnungssequenz, in der Adam Naparstek-Naor die auf dem Klassenfoto Abgebildeten nacheinander charakterisiert und dabei aufzählt, wer ermordet wurde und wer überlebt hat, die Informationstafel über den Bildbestand im Anschluss daran und die Koffer-Aufnahmen im Museum, untermalt mit dramatisierender Musik – gemeinsam stellen sie den historischen Kontext der inhaltlichen Fokussierung her und verorten den thematischen Zugang des Films. Gleichzeitig evoziert jedoch das Koffer-Bild, das sich ikonografisch zu den Bergen von Schuhen oder Vitrinen voller Brillen einreiht, den Rezeptionsmodus einer Betroffenheitshaltung, aus der heraus die lebensgeschichtlichen Erzählungen der Protagonisten wahrgenommen werden und die durchaus ihre Wahrnehmung als Opfer in den Vordergrund rückt. Die Musik, die schockierende Wirkung der Koffer und das Wissen um die untergegangene jüdische Welt im polnischen Bedzin aktivieren eine historisierende, gleichzeitig opferfokussierte Lektüreanweisung. Das stereotype Bild der Koffer könnte der/die Zuschauer/in als eine an ihn/sie gestellte, verpflichtende Erwartungshaltung wahrnehmen. Diese wird allerdings im weiteren Verlauf des Films neutralisiert, da über die ausführlichen Erzählungen der Zeitzeugen unmittelbar ein emotionaler Zugang ermöglicht und aufgebaut wird, der das Interesse an die spezifischen Erfahrungsdimensionen weckt. Wenn der Film zunächst eine spezifische Haltung vorgibt, antizipiert er eine Kategorisierung, die medial vorstrukturierte Denkmuster aktiviert im Sinne einer Bereitstellung von kategorialen Wahrnehmungen und Zuordnungen. Vorherrschende Kategorisierungen, die bestehende Stereotypen wie etwa Opfer bedienen, werden hier jedoch durch die Darstellung der einzelnen Schicksale aufgehoben: Handlungslogiken und -alternativen werden konturiert und spezifiziert, die dargestellten Personen als Handelnde charakterisiert. Im Vergleich mit dem in Kapitel 5 beschriebenen Film NOBODY’S BUSINESS wird deutlich, dass in …VERZEIHUNG, ICH LEBE zu Beginn vermeintlich bekannte Zusammenhänge (Kofferbild, Abb. 18) konnotiert und die Bereitschaft zur Empathie (Opfer) als Erwartungshaltung angewiesen wird. In Alan Berliners Film dagegen wird nicht die Haltung der filmischen Aussageinstanz dem Rezipienten aufoktroyiert, sondern gerade angesichts der diametral entgegengesetzten Positionen (Vater auf der einen, Filmemacher/

         

     

Sohn auf der anderen Seite) eine polarisierende Auseinandersetzung angekündigt und damit Neugierde geweckt. Der Zuschauer/die Zuschauerin hat den Eindruck, selbst entscheiden zu dürfen, welche Haltung sie/er einnimmt. Abgesehen von der Eröffnungssequenz findet der Film …VERZEIHUNG, ICH LEBE im weiteren Verlauf einen eigenen Zugang zu der in ihm verhandelten, uneinholbaren Vergangenheit wie auch zu der dargestellten Erinnerung. Wie dies vonstatten geht, möchte ich im Folgenden anhand seines spezifischen Umgangs mit den Fotografien erläutern und diese im Kontext ihrer biografischen und historischen Bezüge konzeptualisieren.        Auf eine Auswahl der 2400 privaten Fotografien, die nach 1945 in Auschwitz gefunden wurden und die den Ausgangspunkt der filmischen Spurensuche repräsentieren, wird hier mittels zweier Verfahren Bezug genommen: Erstens im Zuge des Erzählens der Protagonisten, die, ausgehend von den Fotografien, sich in einen durch die filmischen Organisationsprinzipien nachstrukturierten biografischen Konstruktionsprozess begeben: Die Fotos werden – sowohl von den Protagonisten selbst als auch, in einem weiteren Schritt, in der Montage – in einen Narrationszusammenhang in Form mündlich erzeugter und filmisch repräsentierter Geschichten eingebettet, der die fotografischen Fragmente aus der Zeit vor der Verfolgung und Ermordung in einem über sie hinausweisenden Sinnzusammenhang miteinander verknüpft. Die Protagonisten, als junge Menschen selbst auf den Fotos zu sehen, gewährleisten eine nachvollziehbare Kontinuität. Auf einer zweiten Ebene werden die Fotografien durch die Gegenüberstellung mit gegenwärtigen Aufnahmen der jeweiligen Orte, an denen die privaten Fotografien entstanden sind, kontextualisiert; das manifest Sichtbare in den Fotografien verweist auf einen gewesenen Erlebnis- und Handlungszusammenhang, während die Aufnahmen der Orte in der Filmgegenwart auf die historisch bedingten Leerstellen verweisen: Die Plätze und Schauplätze, Balkone und Straßenecken sind die gleichen, allerdings fehlen die Menschen, die vor dem Krieg auf den Fotos abgebildet waren: Das „Davor“ und „Danach“ stehen sich hier brutal gegenüber (Abb. 19). Die Fotografien stellen optisch den zeitlichen und räumlichen Bezug zu einer gewesenen Zeit her, verweisen explizit auf die Brüche und bauen gleichzeitig eine Brücke zwischen damals und heute. Im Äußerungsakt werden die Bilder

                

historisch, kulturell und kommunikativ verortet, der Zugang zu Erinnerung wird so als einer über Fotografien und Orte dargestellt. Ein spezifischer formaler Zugriff dieses Films sind die großflächigen Fotos im Hintergrund (Abb. 16, 17 und 20), während die Protagonisten davor lebensgeschichtlich erzählen (entweder asyntop-synchron, wenn sie dem erweiterten Raum zuordenbar, aber nicht visualisiert werden, oder syntop-synchron, wenn sie im Vordergrund zu sehen sind). Abwechselnd werden die Fotografien auch bildschirm-/leinwandfüllend visualisiert (während die Protagonisten asyntop-asynchron erzählen), oder man sieht die Materialität der Fotografien, während Protagonisten sie in der Hand halten, betrachten und syntop-synchron dazu erzählen. Den Fotografien wird von Beginn an eine besondere Bedeutung zugewiesen und sie bilden einen wichtigen Bestandteil biografischer Erinnerung – nicht zuletzt dadurch, weil sich die Filmemacher für ein chronologisch strukturiertes Vorgehen entscheiden.27 Für biografische Rekonstruktionsund Konstruktionsprozesse spielen Fotografien eine spezifische Rolle: Sie beschwören und übermitteln die Erinnerung an Ereignisse einer Alltagsnormalität der Vorkriegszeit als Momentaufnahmen, die gemeinsam einen sinnstiftenden Zusammenhalt erzeugen – sie vergewissern eine gemeinsame Vergangenheit in Bedzin der Vorkriegszeit; anhand der Bilder erhalten die erzählten Lebensgeschichten eine für die Rezipienten nachvollziehbare Kontur, da sie in einen Narrationszusammenhang mündlich erzeugter Geschichten eingebettet werden. Die Verbindung von Text und Bild stützt den Bedeutungs- und Sinnzusammenhalt wechselseitig und sichert ihn ab, da sie über abgebildete und erzählte Situationen die Ereignisse und Erfahrungen zu konturierten Lebensgeschichten verweben.28

27 Als lebensgeschichtlich strukturierte Bildordungen, Breckner 2013, S. 164 f. 28 Den Zusammenhängen zwischen der analogen, privaten Fotografie und den sprachlichen Ausdrucksformen als konstitutiver Teil biografischer Prozesse geht die Biografieforschung nach, wobei sie sowohl auf foto- und bildtheoretische Konzepte wie exemplarisch bei Hirsch/Spitzer 2005 oder Barthes 1989 rekurriert, als auch auf soziologische Untersuchungen wie Bourdieu 1981, S. 160, vgl. Hirsch, Marianne/Spitzer, Leo (2005): Erinnerungspunkte: Shoahfotografien in zeitgenössischen Erzählungen, in: Brink, Cornelia/Falkenhagen, Harriet (Hg.): Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie Heft 95, Jg. 25, Wien: Jonas Verlag, S. 29-44; Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer, 1.

         

     

Die Protagonisten nehmen in ihren Erzählungen direkten Bezug auf die Bilder: „Ich kenne dieses Foto. Es muss während des Krieges gemacht worden sein, weil ich so ernst schaue. Oder war ich vor dem Krieg so ernst? Glaube ich nicht. Vielleicht? Ich weiß es nicht“, sagt Abraham Dafner, während er, mit dem Rücken zum Zuschauer, ein Foto betrachtet, das ihn als jungen Mann untergehackt zwischen zwei Frauen zeigt. Dann wendet er sich zurück mit dem Gesicht Richtung Kamera und beginnt zu erzählen: „Es fehlte mir an nichts. (Er macht ein abfälliges Gesicht, als würde ihn der Gedanke an das sorglose Leben abstoßen.) Ich musste nicht arbeiten. Ich lebte, genoss die Zeit. Scham und Schande! Das war im Jahr 1938. Es ist eine Schande, aber so war es eben.“ Er fährt mit der Erzählung über die Lebensfreuden nach dem Abitur fort, über Freundschaften, Vergnügungen, Freizeitbeschäftigungen und Gruppenausflüge in die Berge, um dann die Frage zu stellen: „Wenn mein Vater kein Geld gehabt hätte, wenn ich hätte arbeiten müssen, wäre ich vielleicht ein anderer Mensch geworden. Wäre alles anders verlaufen?“ Dafner scheint sich Vorwürfe zu machen – auch, weil er, als sorgloser junger Mann kurz nach dem Abitur 1938 die kommende Bedrohung nicht wahrgenommen hatte. Hier wird deutlich, wie der Erinnerungsprozess auch einer Neuinterpretation der Vergangenheit aus der Gegenwartsperspektive dient. Mimik, Gestik und Sprache weisen auf den fortwährenden Versuch, die Vergangenheit zu verstehen und einzuordnen. Die Erfahrungen des Protagonisten aus einer Lebensphase unter den spezifischen historischen Umständen werden in Bezug auf alternative Handlungsverläufe („Wäre alles anders verlaufen?“) reflektiert, der biografische Konstruktionsprozess vollzieht sich als Prozess einer Vergangenheitsbewältigung unter Einbezug von Wissen, dass im Nachhinein, also in einer Zeit, nachdem das Foto entstand, hinzugetreten ist. Die Selbstwahrnehmung – „Es muss während des Krieges gemacht worden sein, weil ich so ernst schaue. Oder war ich vor dem Krieg so ernst? Glaube ich nicht“ – suggeriert eine Erwartungshaltung an das Foto, daraus etwas über den damaligen Zustand des Erzählenden herauslesen zu können.

Auflage Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Bourdieu, Pierre (1981): Eine illegitime Kunst – Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt.

                

Im Anschluss an diese Sequenz werden Fotografien von jungen Menschen gezeigt (in der Gegenüberstellung Ort damals auf den Fotos, und Ort heute, zur Gegenwart der Filmaufnahme), einzeln und in Gruppen, die vermutlich an dem Bergort Szczyrk gemacht wurden, von dem Abraham Dafner zuvor erzählte. Aufgrund seiner vorhergehenden Erwähnung der damaligen Sorglosigkeit interpretiert man diese Bilder entsprechend: Man sieht vergnügliche, den Sommer genießende Menschen (vgl. Abb. 21). Dann zoomt die Kamera die auf einem Foto handschriftlich verzeichnete Jahreszahl 1939 heran und lässt zunächst die Frage offen, inwieweit die jüdische Bevölkerung Bedzins eine Ahnung von der kommenden Katastrophe hatte, um sie in der folgenden Gesprächseinstellung mit Adam NaparstekNaor aufzugreifen. Die Hervorhebung der Jahreszahl evoziert eine Reflexion über den Moment der Irritation, der sich aufgrund der Erwartungen an die Fotografie als Repräsentation von Stimmungen ergibt. Dadurch, dass die Frage nach dem Umgang der Bedziner Bevölkerung mit der bevorstehenden Bedrohung von dem Protagonisten Adam Dafner angesprochen wurde, ist der Blick für diese Frage geschärft, die durch das Heranzoomen der Jahreszahl 1939 implizit aufgegriffen wird. Der Frage nach der Diskrepanz zwischen der Erwartungshaltung der Betrachter/innen und der abgebildeten Stimmung auf Fotos gehen Marianne Hirsch und Leo Spitzer in ihrer Untersuchung „Erinnerungspunkte: Shoahfotografien in zeitgenössischen Erzählungen“29 nach. Anhand einer privaten Fotografie, die Hirschs Eltern 1942 in Czernowitz, untergehakt und frohen Mutes auf der Straße ohne Davidstern entlangspazierend zeigt – zu einem Zeitpunkt, an dem die Verfolgung und Deportation nach Transnistrien längst begonnen hatte –, reflektieren die Autoren die Erwartungen, die an Fotografien als Zeitzeugnisse gestellt werden. Hirsch bezieht die Erwartungshaltungen an Fotos auf ihr Begehren, „die Situation der Eltern anhand dieser visuellen Spur zu erkennen und zu verstehen“30. Die Momentaufnahme, so Breckner, wirkt irritierend, da das Foto etwas zeigt, „was nicht in das gegenwärtige Vorstellungsbild der Autoren passt, welches aus einer nachträglichen Perspektive auf den Holocaust durch angeeignetes Wissen und durch

29 Hirsch/Spitzer 2005. 30 Breckner 2013, S. 167.

     

 

     

Abb. 20: Abraham Dafner, Eli Broder, Ada Nojfeld-Halperin

  

 Abb. 21: …VERZEIHUNG, ICH LEBE: Aufnahmen aus dem Ferienort Szczyrk

                

Erzählungen geformt wurde.“31 Sie zeigen auf, wie sich die Wahrnehmung der abgebildeten Situation verändert angesichts des Wissens um die systematische Verfolgung der Juden in Czernowitz, welches die Vorstellung einer alltäglichen Normalität, wie sie das Foto visualisiert, unvorstellbar werden lässt. Die intensive Beschäftigung mit der Aufnahmesituation zeigt jedoch auf, dass das Foto in der Absicht der Eltern gemacht wurde, ihr Leben nicht unter dem Vorzeichen der Verfolgung fotografisch festzuhalten, sondern eine hoffnungsvolle, alltägliche Normalität vermittels der Fotografie zu beanspruchen und zu bewahren.32 Mit diesem Beispiel werden die unterschiedlichen Zeitperspektiven deutlich, die Fotografien anhaften: Auf die Aufnahme der Fotografie folgt ihre nachträgliche Betrachtung, die zum Teil von dem Wunsch getrieben ist, zu authentischen Spuren einer uneinholbaren Vergangenheit erhobenen Hinweise zu finden. Die Autoren zeigen am Beispiel dieses Fotos, wie durch späteres Wissen erzeugte Erinnerungen Irritationen bei der Betrachtung hervorrufen. Hier treffen mehrere Gegenwartsperspektiven aufeinander, die in der Vorstellung in einen Zusammenhang gebracht werden, die sich unter Umständen aber auch einer kohärenten Geschichte widersetzten. Denn die Fotografien verweisen indexikalisch auf Ort, Zeit und Situation der Aufnahme, auf Interaktionszusammenhänge oder Handlungsabläufe, die sich den Vorstellungsbildern jedoch nicht ohne Weiteres fügen, und die erst erinnerungsdiskursiv Aufschluss über die spezifische Vergangenheit geben können.33 Auch im Film werden durch die filmnarrative Einbindung der Fotografie, die den jungen Adam Dafner zwischen zwei Frauen zeigt, sowie der Fotografien in den Bergen die unterschiedlichen Zeitperspektiven und gegen-

31 Ebd. 32 Dieser Befund entspricht auch der in zahlreichen Studien verhandelten Funktion der Familien-/privaten Fotografie, Wunschvorstellungen als Realität abbilden zu lassen oder einzufangen, Ausschnitte aus dem Leben so festzuhalten und weiterzugeben, dass ein Bild gelungener Lebensführung vermittelt oder hinterlassen wird, besonders deutlich auch in der ritualisierten und institutionalisierten Darstellung von familiären Festakten, außergewöhnlichen Ereignissen oder Zusammenkünften, vgl. hierzu etwa Blunck, Lars (Hg.) (2010): Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung, Fiktion, Narration, Bielefeld: transcript. 33 Vgl. Breckner 2013, S. 168 f.

         

     

sätzlichen imaginativen Bilder, die durch ein späteres Wissen entstehen, diskursiv verhandelt. Der Protagonist wird mit einer uneinholbaren Vergangenheit konfrontiert, die er nachträglich zu verstehen sucht, in dem er nach weiteren Hinweisen sucht: „Alle Leute um mich herum, haben sie alle geschlafen, haben sie nichts gewusst, nichts geahnt? Ich kann es bis heute nicht begreifen. Im Jahr 1937, das vergesse ich nie, sagte unser Geschichtslehrer uns im Unterricht: ‚Der Krieg kommt. Wir steuern darauf zu. Dieser Krieg wird nicht nur an den Fronten stattfinden, er wird überall sein: Jedes Haus, alles wird zerstört werden!‘ Er hat uns nicht beeinflusst.“

      Die Analyse der verschiedenen Formen von Erinnern und Erzählen vermag einen instruktiven Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie leisten, unabhängig davon, ob die Lektüreanweisungen überwiegend dokumentarisierend, historisierend, ästhetisierend oder fiktionalisierend sind. Denn anhand der Erzählungen der Überlebenden, die auf eigene Erfahrungen und Erlebnisse zurückgreifen – also Erzählungen der ersten Generation –, wurde die Analyse als Beispiel für einen kulturell kontextualisierten Erinnerungsprozess begriffen, bei dem die verschiedenen Modi der kulturellen Erinnerung (individuelles wie kollektives und kommunikatives Gedächtnis) in der spezifischen medialen Verhandlung zentral sind. Sich an vergangene Ereignisse und Erlebnisse zu erinnern und sie in den Kontext heutiger Reflexion zu stellen gestaltet sich hier wie in all den anderen besprochenen Filmbeispielen als eine zum Teil schmerzhafte (Spuren-) Suche. Die Aussageinstanzen reflektieren in ihrer filmischen Suche das Problem der Erinnerung – auch im Kontext traumatischer Erlebnisse oder eines schmerzhaften Zugangs dazu. Sie entwerfen eine Ästhetik, die sich der Intensität der erinnerten Ereignisse nähert. Und sie führen die Dringlichkeit der Frage vor Augen, wie die Etablierung eines kulturellen Gedächtnisses vollzogen werden kann, wenn die Träger individueller Erfahrungen gestorben sind. Denn wie die Untersuchung gezeigt hat, spielen zeitgeschichtliche biografische Dokumentarfilme eine wichtige Rolle für den Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Sie rücken damit auch die Möglichkeiten einer erzählerischen Rekonstruktion von Vergangenheit diskursiv in den Vordergrund.

             „Um es gleich so klar wie möglich auszudrücken: Bei einem solchen Vorhaben gibt es meiner Meinung nach keine Objektivität, nur Eindrücke, Erzählungen, Erinnerungen, mehr oder weniger richtige Eindrücke, mehr oder weniger präzise Erinnerungen. Mir scheint, wer Zeugenaussagen historischer Natur sammeln will, der muss sie zwangsläufig anschließend in irgendeinen Zusammenhang bringen, in irgendeine Reihenfolge. Die eigenen Überzeugungen oder Eindrücke sind dabei der einzig ehrliche Filter. Auf die Ehrlichkeit kommt es an, nicht auf die Neutralität.“ (Marcel Ophüls, 1969)

Was also ist das Spezifische des zeithistorischen biografischen Dokumentarfilms? Biografische Dokumentarfilme erkennen den gesellschaftspolitischen Wert der Thematisierung von Einzelschicksalen und von individuellen Erzählungen in Bezug auf zeitgeschichtliche Ereignisse. Mit ihrer Verhandlung von Lebensgeschichte eröffnen sie Zugänge zur Vergangenheit, die einen Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis markieren. Indem sie danach fragen, bis zu welchem Grad historisches Wissen und erfahrene Geschichte in der Erinnerung selektiert, ausgeblendet und überblendet wird, interpretieren sie die Vergangenheit im Kontext ihrer medialen Verarbeitung und Tradierung und befördern ihren Eingang ins kulturelle Gedächtnis. Damit sorgen biografische Dokumentarfilme gleichzeitig für eine grundsätzliche Verschiebung – weg von der Fixierung auf

         

     

nationale und kulturelle Großgedächtnisse hin zu einer Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Gedächtnis. Erinnerung ist keineswegs ein neutraler Raum der kulturellen Auseinandersetzung. Der konstituierende Akt der Sinngebung für Erfahrung, der im dokumentarfilmischen Prozess des Sich-Erinnerns und Erzählens stattfindet, bestimmt die Interpretation der historischen Realität. Filme, welche die Erinnerung (re-)konstruieren, legen die jeweilige Perspektive auf diskursive Räume der Verhandlung von Vergangenheit fest. Sie vermögen, Lücken und Leerstellen auszufüllen, Erinnerungen umzudeuten oder zu überschreiben. Sie bieten gegenwärtigen Rezipient/innen unterschiedlichste Verarbeitungsformen der Vergangenheit an. Zentral ist dem biografischen Dokumentarfilm, dass er Geschichte über die jeweils konkrete Bedeutung für einzelne Personen, die sie erlebt haben, zugänglich und (be-)greifbar macht. Er ermöglicht die Darstellung von historischen Aspekten, die sonst im Faktischen verharren oder nur abstrakt bleiben, denn er repräsentiert einen für gesellschaftliche Diskurse impulsgebenden Zugriff auf Vergangenheit aus der persönlichen Erfahrungsdimension. Dieser Zugriff erlaubt gleichzeitig Einblicke in gegenwärtige Perspektiven und Interpretationszusammenhänge und begünstigt eine strukturierte Form der Selbstreflexion, was ein Verständnis der biografischen Vergangenheit in der Gegenwart impliziert. Auf der Ebene der Analyse legt der biografische Dokumentarfilm Faktoren offen, an denen sich die spezifischen Mechanismen der Erinnerungs(re-)konstruktion beobachten lassen. In ihm werden strukturierende Elemente wie die mündliche Erzählung der Protagonisten, Archivmaterial oder Schauplätze als Funktionalitätsträger für das individuelle, kommunikative und kulturelle Gedächtnis verhandelt. Diese Elemente entfalten ihre Wirkung jedoch erst in dem Zusammenspiel der verschiedenen Modi der filmspezifischen Sinnkonstruktion. Analysieren lassen sie sich anhand der Regelmäßigkeiten, die der Organisation filmischer Inhalte zugrunde liegen, wobei sie nicht allein von filmischen, sondern maßgeblich auch von außerfilmischen Faktoren, den historischen, kulturellen, sozialen, politischen und individuellen Dispositionen seiner Macher/innen wie Rezipienten/innen bestimmt sind. Bei einem solchen analytischen Ansatz rücken die Möglichkeiten und Verfahren einer erzählerischen Rekonstruktion von Vergangenheit sowie eine Differenzierung der verschiedenen Dimensionen von Erin-

   

nerung und Gedächtnis in den Fokus – unabhängig davon, welche Lektüreanweisung zu welchem Zeitpunkt überwiegt. In ihren inhaltlichen wie formal-ästhetischen Entscheidungen verdeutlichen biografische Dokumentarfilme, wie persönliche und kollektive Gedächtnisse selbstreferenziellen Systemen ähneln und die Regulierung im öffentlichen Diskurs mitbedingen – indem sie bestimmte erinnerungskulturelle Muster als prägend für den jeweils zeitgenössischen Zugang zu zeitlich entfernten Ereignissen offen legen. Denn die Berücksichtigung individueller wie kollektiver Sinnbildungsprozesse erlaubt nicht nur eine diskursive Bezugnahme auf Aspekte einer unwiederholbaren Vergangenheit, sondern gibt auch Aufschluss über gegenwärtige Interpretationen und Zugriffe – in dem Maße, in dem die Mechanismen der Bedeutungszuweisung freigelegt werden. Dies findet insbesondere dann statt, wenn die Filme nach den Möglichkeiten der Darstellung von Vergangenheit und Erinnerung fragen und somit von einem hohen Maß an Reflexivität und Selbstreflexivität gekennzeichnet sind. Betrachtet man die Entwicklung des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms wird deutlich, dass sich die Gewichtungen und Strukturmerkmale in den unterschiedlichen Phasen stark verändert haben – in Wechselwirkung mit der allgemeinen Entwicklung des Dokumentarfilms und dem Fernsehdokumentarismus, ebenso wie mit vorherrschenden historischen und gesellschaftlichen Diskursen. Im Laufe der filmischen Verhandlung biografischer Erzählungen finden mehrmals Interessensverlagerungen hinsichtlich der Geschichten von Überlebenden und Opfern und denen aus der Täterperspektive statt – bis hin zu einer Konzentration auf die Erforschung der Implikationen eigener Familienangehöriger und zum filmischen Interesse an intergenerationalen Dynamiken in Folge der traumatischen Erfahrungen der ersten Generation. In diesem Spannungsfeld zwischen der Weitergabe von Geschichte und Erinnerung und ihrer Neuverhandlung konstituiert sich eine der Hauptfunktionen des biografischen Dokumentarfilms: als Mittler und Katalysator für dynamische Interaktionen zwischen offiziell vertretenen, normativen Auffassungen, tabuisierten Aspekten und neuen Perspektiven auf Vergangenheit und ihren Deutungsmechanismen. Biografische Dokumentarfilme verhandeln Loyalitätsbezüge und Verarbeitungsprozesse von Traumata, sie bieten Entlastung und regen intergenerationale Kommunikation an – ob ästhetisierend, historisierend oder subjektivierend. Sie befördern gruppensoziologische Aushandlungs-

         

     

prozesse, Auseinandersetzungen mit eigenen (familiären) Belastungen und bieten eine Grundlage für die Zukunftsorientierung eines geschichtlichen Bewusstseins. Dabei funktionieren biografische Dokumentarfilme als gegenseitige Bestätigung von Wirklichkeit, schaffen und sichern spezifische intersubjektive Beziehungen durch die in ihnen bereitgestellten Zugänge für Vorstellungen des Realen, die dem historischen Wandel unterworfen sind. Die dokumentarfilmische Weitergabe von Geschichte und Erinnerung reflektiert kritisch die Interaktion mit Formen einer offiziellen Erinnerung, und die verschiedenen Darstellungsformen von individueller Erinnerung liefern dabei Einblicke und Vorstellungen über geführte Leben, Brüche, Traumata und Faktoren für Resilienz; sie geben Einblicke in sämtliche historische wie gegenwärtige Lebensformen. Kurz: im biografischen Dokumentarfilm kristallisiert sich die Lust am Leben der Anderen. Auf diese Weise erfüllt er unterhaltende, aufklärende und wissensvermittelnde Funktionen. Die Ausführungen haben gezeigt, wie die untersuchten Filme politische und persönliche Geschichte miteinander verflechten, und wie ein Masternarrativ um die Perspektive subjektiver Darstellungen erweitert wird. Dabei gilt für zahlreiche der hier untersuchten biografischen Dokumentarfilme, dass sie nicht nur die Erinnerung selbst, sondern auch den Prozess der Darstellung von Erinnerung filmisch reflektieren und die persönliche Implikation von Seiten der Filmemacher/innen in die filmische Arbeit integrieren. Die Filme thematisieren nicht nur Gewalterfahrung und das Fortleben der Gewalt in der Erinnerung, sondern wie diese deutliche Spuren hinterlassen, welche sowohl im persönlichen als auch im gesellschaftlichen Kontext beleuchtet werden – über viele Jahrzehnte und mehrere Generationen hinweg. Vor allem der autobiografische Dokumentarfilm erfährt in diesem Zuge einen Aufbruch seit den neunziger Jahren: Zahlreiche Filmemacher/innen überwinden die Barriere der eigenen subjektiven Enthaltung zugunsten expliziter Verweise auf die persönliche Motivation, Implikation und Annäherung an die Thematik, vor allem bei der Befragung eigener Familienangehöriger wie Eltern oder Großeltern. Diese (intergenerationale) Auseinandersetzung mit den wechselseitigen Verflechtungen zwischen persönlichem Erinnern und kollektiver Erinnerungskultur funktioniert insbesondere dann, wenn die subjektive Perspektive die Echtheit und Glaubwürdigkeit der filmischen Intention unterstreicht. Voraussetzung dafür ist ein Vertrauensverhältnis zwischen filmischer Aussageinstanz und Rezipient/in, denn die Er-

   

wartungshaltung an die Protagonisten/innen wie an die Filmemacher/innen erwächst aus dem Vertrauen an das auf gesellschaftliche Realitäten referierende Material – im Zusammenspiel mit den (kontingenten) Adressierungsformen und der Art der Lektüreanweisungen und Affizierungsmodi. Die untersuchten Filme liefern zahlreiche Anhaltpunkte dafür, wie die Mechanismen der Vertrauensbildung und der Bedeutungszuweisung funktionieren und zu verstehen sind. Dennoch entfallen auch viele Aspekte dieser Prozesse, da in der praktischen Filmarbeit und damit in der filmischen (Re-)Konstruktion von Erinnerung immer auch implizite Bestandteile von Wissen und Können einfließen, die sich einer sprachlichen Diskursivierung entziehen. Die vorliegende, kursorische Erfassung des zeitgeschichtlichen biografischen Dokumentarfilms, seiner Entwicklung und seiner Spezifika eröffnet einen breiten Interpretationsspielraum für weitere Lesarten und lädt zugleich zu differenzierten Untersuchungen ein. Die Arbeit ist ein Plädoyer für eine vertiefende Beschäftigung mit Fragen nach den Intentionen, Konzeptionen und Rezeptionen von biografischen Dokumentarfilmen, in denen sich unterschiedliche Vorstellungen von Erinnerung und Gedächtnis überlagern – im Sinne einer weiterführenden Theoretisierung der Frage nach den dokumentarfilmischen Auseinandersetzungen mit Lebensgeschichten.



Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Albersmeier, Franz-Josef (Hg.) (2003): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam (5. Auflage). Allemann, Beda/Reichert, Stefan (1983): Paul Celan. Gesammelte Werke in fünf Bänden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Arendt, Hannah (1950): Social Science Techniques and the Study of the Concentration Camps, in: Jewish Social Studies, Band 12, Nr. 1, 1950, S. 49-64. Arendt, Hannah (2011/1964): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München/Zürich: Piper. Assheuer, Thomas (2015): Eine Brille für die Mörder, in: „Die Zeit“ vom 1.10.2015, [http://www.zeit.de/kultur/film/2015-09/joshua-oppenheime r-film-the-look-of-silence]. Assmann, Aleida (1991): Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 13–34. Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck. Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C.H. Beck. Assmann, Aleida (2008): Gedächtnis-Formen, in: Dossier: Geschichte und Erinnerung, Bundeszentrale für politische Bildung bpb, http://www.bpb. de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39786/gedaecht nisformen [zuletzt gesehen am 26.10.13]. Assmann, Aleida/Assmann, Jan (1994): Das gestern im heute. Medien und soziales Gedächtnis, in: Merten, Klaus/Schmidt, Siegfried/Weischen-

berg, Siegfried (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 114-140. Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9–19. Assmann, Jan (1991): Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik, in: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 337–355. Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck. Awosusi, Anita/Pflock, Andreas (2011): Den Opfern ein Gesicht geben, in: Peritore, Silvio/Reuter, Frank (Hg.): Inszenierung des Fremden, Fotografische Darstellung von Sinti und Roma im Kontext der historischen Bildforschung, Tagungsband, Heidelberg: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, http://www.sintiundroma.de/ uploads/media/TagungsbandEnd.pdf, S. 263-281. Baer, Volker (1990): Doch alle hatten sie ja nur ihre Pflicht getan…, in: Der Tagesspiegel, Berlin, 9.12. Barthes, Roland (1967): Le discours de l'histoire, Social Science Information, VI-4 August 1967, S. 63-75. Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer, 1. Auflage Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Basis Film Verleih (2000): Pressestimmen, http://www.basisfilm.de/Ver zeih/Verzeih.PDF/Rat.Verzeihung.pdf [zuletzt gesichtet am 2.8.2015]. Baumann, Gerhart (1992): Erinnerungen an Paul Celan, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Baumgartner, Gerhard (1997): Sehen, Wissen, Sprechen! Zur historischen Erinnerung der burgenländischen Bevölkerung an die „Todesmärsche“ 1945, in: Werkblatt – Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, Nr. 39, S. 33-43. Baumgartner, Gerhard (2000): Zeit des historischen Gedächtnisses, aus der Symposienreihe Zeit-Denken, www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/ e_bibliothek/seminarbibliotheken-zentrale-seminare/abbild-und-reflexion/ 384_Baumgartner_Zeit%20des%20historischen%20Gedaechtnisses.pdf/ view [zuletzt gesichtet am 1.8.2015].

Benjamin, Walter (1972): Ausgraben und Erinnern. Gesammelte Schriften, hrsg. von Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Berg-Ganschow, Uta/Zimmermann, Peter (1991): Perspektivenwechsel im Dokumentarfilm der Bundesrepublik, in: Kreuzer, Helmut/Schanze, Helmut (Hg.): Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland. Perioden, Zäsuren, Epochen, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, S. 234-252. Berg-Walz, Benedikt (1995): Vom Dokumentarfilm zur Fernsehreportage, Berlin: Verlag für Wissenschaft und Forschung. Berger, Peter/Luckmann, Thomas (2003/1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M.: Fischer, 19. Auflage, Forum Wissenschaft. Beyerle, Monika (1997): Authentisierungsstrategien im Dokumentarfilm: Das amerikanische Direct Cinema der 60er Jahre, Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag. BJF/Bundesverband Jugend und Film (2010): Durchblick 14+, Bilder der Verbrechen – „Ikonen der Vernichtung“, http://www.durchblick-filme. de/nacht_und_nebel/10_Verbrechen.htm [zuletzt gesichtet am 15.8.2015]. Blümlinger, Christa (1998): Das Imaginäre des dokumentarischen Bildes, in: montage/av 7/2, Marburg: Schüren, S. 91-104. Blümlinger, Christa (2003): Sichtbares und Sagbares, in: Hohenberger, Eva/Keilbach, Judith (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm und Geschichte, Berlin: Vorwerk 8, S. 82-97. Blümlinger, Christa/Wulff, Constantin (Hg.) (1992): Schreiben. Bilder. Sprechen. Texte zum essayistischen Film, Wien: Sonderzahl. Blunck, Lars (Hg.) (2010): Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung, Fiktion, Narration, Bielefeld: transcript. Bordwell, David (1989): Historical Poetics of Cinema, in: The Cinematic Text: Methods and Approaches, ed. by R. Barton Palmer, New York: AMS Press. Bordwell, David/Thompson, Kristin (1993): Film Art. An Introduction, New York: McGraw Hill. Bösch, Frank (2007): Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von „Holocaust“ zu „Der Untergang“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 55.1., S. 1-32.

Bösch, Frank (2008): Geschichte mit Gesicht, in: Wirtz, Rainer/Fischer, Thomas (Hg.), Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz: Uvk, S. 51-72. Bourdieu, Pierre (1981): Eine illegitime Kunst – Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt. Bourdieu, Pierre (1990): Die biographische Illusion, in: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 1, S. 75-81. Braun, Peter/Stiegler, Bernd (2012): Die Lebensgeschichte als kulturelles Muster, in: Dies. (Hg.): Literatur als Lebensgeschichte. Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart, Bielefeld: transcript, S. 9-22. Breckner, Roswitha (2013): Bild und Biografie, in: Heinze, Carsten/ Hornung, Alfred (Hg.): Medialisierungsformen des (Auto-)Biografischen, Konstanz: UVK, S. 159-180. Brinckmann, Christine N. (1997): Die anthropomorphe Kamera: Und andere Schriften zur filmischen Narration, Zürich: Chronos. Brink, Cornelia (1998): Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin: Akademie. Brockmann, Andrea (2002): Erinnerung, Rekonstruktion, Visual History, in: Handro, Saskia/Schönemann, Bernd (Hg.): Methoden geschichtsdidaktischer Forschung, Berlin-Hamburg-Münster: LIT, S. 219-230. Brückner, Jutta (2016): Filmbeschreibung, Deutsches Filmhaus, http:// www.deutsches-filmhaus.de/filme_gesamt/b_gesamt/brueckner_jutta.htm [zuletzt gesichtet am 12.5.2016]. Bruns, Claudia/Dardan, Asal/Dietrich, Anette (2012b): Zur filmischen Erinnerung an den Holocaust, in: Dieselb. (Hg.): Welchen der Steine du hebst. Filmische Erinnerung an den Holocaust, Berlin: Bertz + Fischer, Medien/Kultur 3, S. 17-46. Bruns, Claudia/Dardan, Asal/Dietrich, Anette (Hg.) (2012): Welchen der Steine du hebst. Filmische Erinnerung an den Holocaust, Berlin: Bertz + Fischer, Medien/Kultur 3. Carroll, Noel (1996/1983): Theorizing the Moving Image. Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 224-252.

Casetti, Francesco (2001): Filmgenres, Verständigungsvorgänge und kommunikativer Vertrag, in: montage/av 10/2, Marburg: Schüren, S. 155173. Celan, Paul (1983/1960): Der Meridian. Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner Preises Darmstadt am 22. Oktober 1960, in: Allemann, Beda/Reichert, Stefan: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 182-202. Chartier, Roger (1992): Kulturgeschichte zwischen Repräsentationen und Praktiken, in: Die unvollendete Vergangenheit, hrsg. von dems., Frankfurt a. M.: Fischer, S. 7-23. Chateau, Dominique/Jost, François (1979): Nouveau cinéma, nouvelle sémiologie. Essai d’analyse des films d’Alain Robbe-Grillet, Paris: Union Générale d’Éditions. Chion, Michel (2013): Audio-Vision. Ton und Bild im Kino, Berlin: Schiele & Schoen. Corbea-Hoișie, Andrei (Hg.) (1998): Jüdisches Städtebild Czernowitz, Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp. Curtis, Robin (2002): Trauma, Darstellbarkeit und das Bedürfnis nach medialer Genesung. Rea Tajiris History and Memory. For Akiko and Takeshige, in: montage/av 11/1, Erinnern, Vergessen, Marburg: Schüren, S. 42-74. Decker, Christof (1995): Die ambivalente Macht des Films. Explorationen des Privaten im amerikanischen Dokumentarfilm, Trier: Wissenschaftlicher Verlag. Decker, Christof (1998): Die soziale Praxis des Dokumentarfilms Zur Bedeutung der Rezeptionsforschung für die Dokumentarfilmtheorie, in: montage/av 7/2, Marburg: Schüren, S. 45-61. Deckert, Heino (2011): Die vergangenen 20 Jahre, in: Haus des Dokumentarfilms Stuttgart (Hg.): Dokville 2011, die Dokumentation des Branchentreffs Dokumentarfilm. Deleuze, Gilles (1989): Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag (orig. 1983). Deleuze, Gilles (1991): Das Zeit-Bild. Kino II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag (orig. 1985). Der Spiegel (1970): Tonband anhorchen, Artikel vom 2.3.1970, in Der Spiegel 10/1970, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45202475.html, [zuletzt gesichtet am 2.8.2015].

Der Spiegel (1978): Schmerzhafte Lektion, Artikel vom 12.3.1978, in Der Spiegel 11/1978, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40617178.html [zuletzt gesichtet am 12.8.2015]. Der Spiegel (1991): Zum Reden gebracht, Artikel vom 25.03.1991, in Der Spiegel 13/1991, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13490420.html [zuletzt gesichtet am 15.8.2015]. Diekmann, Irene/Schoeps, Julius H. (Hg.) (2002): Das WilkomirskiSyndrom. Eingebildete Erinnerung oder von der Sehnsucht, Opfer zu sein, Zürich: Pendo. Ebbrecht, Tobias (2011): Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielelefeld: transcript. Ebbrecht, Tobias/Hoffmann, Hilde/Schweinitz, Jörg (Hg.) (2009): DDR – erinnern, vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms, Marburg: Schüren. Eitzen, Dirk (1998): Wann ist ein Dokumentarfilm?, in: montage/av 7/2, Lust am Dokument, Marburg: Schüren, S. 13-45. Elm, Michael (2008): Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust, Berlin: Metropol. Elsaesser, Thomas (2002): „Un train peut cghacher un autre“. Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit, in: montage/av 11/1, Erinnern, Vergessen, S. 11-25. Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte (2007): Filmtheorie. Zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag. Emmerich, Wolfgang (1999): Paul Celan. Reinbek: Rowohlt. Erll, Astrid (2004): Medium des kollektiven Gedächtnisses. Ein (erinnerungs-) kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff, in: Dies./Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität, Berlin: de Gruyter, S. 3-24. Erll, Astrid (2005a): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler. Erll, Astrid (2005b): Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, in: Dies./Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin: de Gruyter 2005, S. 249-276. Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.) (2008): Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin: de Gruyter.

Erll, Astrid/Wodianka, Stephanie (Hg.) (2008): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen, Berlin: de Gruyter. Ertel, Dieter (1994) in: Zimmermann, Peter: Fernseh-Dokumentarismus. Bilanz und Perspektiven, Konstanz: UVK-Medien Ölschläger. Ertel, Dieter/Zimmermann, Peter (Hg.) (1996): Strategie der Blicke. Zur Modellierung von Wirklichkeit in Dokumentarfilm und Reportage, Konstanz: UVK-Medien Ölschläger. Etzemüller, Thomas (2007): Ich sehe das, was Du nicht siehst. Wie entsteht historische Erkenntnis?, in: Eckel, Jan/Etzemüller, Thomas (Hg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen: Wallstein Verlag, S. 27-68. Faulstich, Werner/Steininger, Christian (Hg.) (2002): Zeit in den Medien. Medien in der Zeit, München: Wilhelm Fink. Fechner, Eberhard (1983): Der Prozeß. Eine Darstellung des sogenannten Majdanek-Verfahrens gegen Angehörige des Konzentrationslagers Lublin/Majdanek in Düsseldorf von 1975 bis 1981, Hamburg: NDR. Fest, Jochim (2002): Der Untergang: Hitler und das Ende des Dritten Reiches. Eine historische Skizze, Berlin: Alexander Fest. Frank, Thomas S. (2005): Räume für das Nachdenken schaffen: Die dokumentarische Methode von Hans-Dieter Grabe, Berlin: Mensch & Buch. Friedmann, Regine-Mihal (2002): Generationen der Folgezeit, in: montage/av 11/1, Marburg: Schüren, S. 75-95. Friedmann, Regine-Mihal (2005): Witnessing for the wittness. Choice and Destiny by Tsipi Reibenbach, in: Shofar, 24/1, S. 81-93. Frieß, Jörg (2001): Spuren von Spuren von Spuren, in: Frieß, Jörg/Hartmann, Britta/Müller, Eggo (Hg.): Nicht allein das Laufbild auf der Leinwand… Strukturen des Films als Erlebnispotentiale, Berlin: Vistas, S. 161-176. Frieß, Jörg (2003): Filme aus Filmen, Filme über Filme. Zur Rhetorik historischen Bildmaterials in Filmen über die Shoah, in: Kramer, Sven: Die Shoah im Bild, München: edition text + kritik, S. 199-223. Ginsberg, Werner (2000): Ich sah ihnen nicht ins Gesicht, in: Tagesspiegel vom 24.4.2000, http://www.tagesspiegel.de/kultur/ich-sah-ihnen-nichtins-gesicht-ein-dokumentarfilm/137410.html [zuletzt gesichtet am 4.9. 2015]. Girke, Michael (2010): Menschen, Orte, Alltag Interviews mit Dokumentarfilmern. Michael Girke im Gespräch mit Gabriele Voss und Chris-

toph Hübner, in: Dokumentarfilminitiative (Hg.): Interviews Ruhrgebietsfilm, http://www.dokumentarfilminitiative.de/images/stories/pdfs/ InterviewsRuhrgebietsfilm [zuletzt gesichtet am 3.5.2014]. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L. (1998): Grounded Theory – Strategien qualitativer Forschung, Bern: Verlag Hans Huber. Grabe, Hans Dieter (2012): Interview mit Jana Stolz im Rahmen des Forschungsprojektes „Interviewarten im Dokumentarfilm“ an der Johannes Gutenberg Universität Mainz, unter der Leitung von Thorolf Lipp, zu sichten unter: http://www.interview-im-dokumentarfilm.de/filmemache r/hans_dieter_grabe [zuletzt aufgerufen am 13.8.2015]. Grierson, John (1998/1966): Grundsätze des Dokumentarfilms. In: Hohenberger, Eva (Hg.) (1998): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8, S. I00-113. Grimme Institut (1980): Preisträger 1980, Bewertung der Jury, http:// www.grimmepreisarchiv.de/#id_1418 [zuletzt gesichtet am 12.3.2017]. Gudehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald (2010): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J.B. Metzler. Guynn, William (1990): A Cinema of Nonfiction. London/Toronto: Associated University Presses. Hägele, Ulrich (2000): Rezension zu: Brink, Cornelia: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945. Berlin 1998, in: H-Soz-Kult, 05.07., http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-198 [zuletzt gesichtet am 15.8.2015]. Halbwachs, Maurice (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen [frz. Les cadres sociaux de la mémoire. 1925], Übs. v. Lutz Geldsetzer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Halbwachs, Maurice (1991): Das kollektive Gedächtnis [frz. La mémoire collective. 1950], Üb. v. H. Lhoest-Offermann, Frankfurt a.M.: Fischer. Hartmann, Britta (2012): „Anwesende Abwesenheit. Zur kommunikativen Konstellation des Dokumentarfilms, in: Hanich, Julian/Wulff, Hans Jürgen (Hg.): Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers, München: Fink, S. 145-160. Hartmann, Britta/Wulff, Hans J. (1995): Vom Spezifischen des Films. Neoformalismus – Kognitivismus – historische Poetik, in: montage/av 4/1, Marburg: Schüren, S. 5-23.

Hartmann, Britta/Wulff, Hans J. (2014): Dokumentarische Bild/TonDisjunktionen und die Rolle der Imagination, in: Preußer, Heinz-Peter (Hg.): Anschauen und Vorstellen. Gelenkte Imagination im Kino, Marburg: Schüren, S. 269-282. Hattendorf, Manfred (1994): Dokumentarfilm und Authentizität: Ästhetik und Pragmatik einer Gattung, Konstanz: Ölschläger. Hattendorf, Manfred (Hg.) (1995): Perspektiven des Dokumentarfilms, München: diskurs film. Heinritz, Charlotte et al. (Hg.) (2007): BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Sonderheft (20. Jahrgang), Leverkusen: Barbara Budrich. Heinze, Carsten (2010): Zum Stand und den Perspektiven der Autobiografie in der Soziologie, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 23 (2010), Heft 2, S. 201-231. Heinze, Carsten (2012): Die Errettung der äußeren Wirklichkeit? Die Wirklichkeit der Realität in dokumentar(film)ischen Bildformaten, in: Lucht, Petra/Schmidt, Lisa-Marian/Tuma, René (Hg.): Visuelles Wissen und Bilder des Sozialen. Aktuelle Entwicklungen in der Soziologie des Visuellen, Wiesbaden: Springer VS, S. 303-322. Heinze, Carsten/Hornung, Alfred (Hg.) (2013): Medialisierungsformen des (Auto-)Biografischen, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Heller, Heinz-B. (1994a): Dokumentarfilm im Fernsehen – Fernsehdokumentarismus. In: Ludes/Schuhmacher/Zimmermann (Hg.): Informationsund Dokumentarsendungen. Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Band 3, München: Wilhelm Fink, S. 91-100. Heller, Heinz-B. (1994b): Ästhetische Strategien als Politik. Aspekte des Fernsehdokumentarismus, in: Hickethier, Knut (Hg.): Aspekte der Fernsehanalyse. Methoden und Modelle. Hamburg/Münster: Lit Verlag, S. 29-40. Heller, Heinz-B./Zimmermann, Peter (Hg.) (1990): Bilderwelten. Weltbilder, Dokumentarfilm und Fernsehen, Marburg: Hitzeroth. Heller, Heinz-B./Zimmermann, Peter (Hg.) (1995): Blicke in die Welt. Reportagen und Magazine des nordwestdeutschen Fernsehens in den 50er und 60er Jahren. Konstanz: UVK-Universitätsverlag. Hickethier, Knut (1979): Fiktion und Fakt. Das Dokumentarspiel und seine Entwicklung beim ZDF und ARD, in: Kreuzer, Helmut/Prümm, Karl (Hg.): Fernsehsendungen und ihre Formen: Typologie, Geschichte und

Kritik des Programms in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart: Reclam, S. 53-70. Hickethier, Knut (1994): Aspekte der Fernsehanalyse. Methoden und Modelle. Hamburg/Münster: Lit Verlag. Hickethier, Knut (2001): Film- und Fernsehanalyse (3. Auflage), Stuttgart: J.B. Metzler. Hickethier, Knut (2002): Ermittlungen gegen die Unmenschlichkeit – Der Prozeß von Eberhard Fechner, in: Wende, Waltraud ›Wara ‹ (Hg.): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis, Stuttgart: J. B. Metzler, S. 141-158. Hirsch, Marianne (2012): The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust, New York: Columbia University Press. Hirsch, Marianne/Spitzer, Leo (2005): Erinnerungspunkte: Shoahfotografien in zeitgenössischen Erzählungen, in: Brink, Cornelia/Falkenhagen, Harriet (Hg.): Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie Heft 95, Jg. 25, Wien: Jonas Verlag, S. 29-44. Hißnauer, Christian (2011): Fernsehdokumentarismus: Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen, Konstanz: UVK Medien. Hoffmann, Kay (2013): Zum „richtigen“ Umgang mit historischem Filmmaterial, Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung, http:// www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/geheimsache-ghettofilm/ 153347/vom-richtigen-umgang-mit-historischem-filmmaterial?p=0 [zuletzt gesichtet am 5.4.2016]. Hohenberger, Eva (1988): Die Wirklichkeit des Films. Ethnographischer Film. Jean Rouch, Hildesheim: Olms. Hohenberger, Eva (2000b): Dokumentarfilmtheorie. Ein historischer Überblick über Ansätze und Probleme, in: Dieselbe (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, 2. Aufl., Berlin: Vorwerk 8, S. 8-34. Hohenberger, Eva (Hg.) (1998): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8. Hohenberger, Eva (Hg.) (2000a): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, 2. Aufl., Berlin: Vorwerk 8. Hohenberger, Eva/Keilbach, Judith (Hg.) (2003): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm und Geschichte, Berlin: Vorwerk 8.

Hörl, Patrick (1996): Film als Fenster zur Welt. Eine Untersuchung des filmtheoretischen Denkens von John Grierson. Konstanz: UVK Medien Ölschläger. Beiträge aus der Hochschule für Fernsehen und Film München, Band 20. Horstmann, Anja (2013): „Das Filmfragment ‚Ghetto‘ – erzwungene Realität und vorgeformte Bilder“, Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/geheim sache-ghettofilm/156549/das-filmfragment-ghetto?p=all [zuletzt gesichtet am 10.7.2014]. Jackob, Alexander (2004): Jenseits der Zeugenschaft. Zur Kritik kollektiver Bilder nach Holocaust, in: Augenblick, Nr. 36: Zur neuen Kinematographie des Holocaust, S. 20-25. Jakob, Gisela (1997): Das narrative Interview in der Biografieforschung, in: Friebertshäuser, Barbara/Prengel, Annedore (Hg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim: Juventa, S. 445-458. Jones, Evan C. (2004): Sullivan Ballou. The Macabre Fate of an American Civil War Major. America’s Civil War, The History Net Retrieved: http://www.historynet.com/sullivan-ballou-the-macabre-fate-of-a-ameri can-civil-war-major.htm [zuletzt gesichtet am 31.1.2015]. Jongmanns, Georg (2002): Kommunizieren und Darstellen, in: montage/av 11/2, Marburg: Schüren, S. 69-77, Pragmatik des Films. Jordan, Günter/Schenk, Ralf (1996) Schwarzweiß und Farbe: DEFADokumentarfilm 1946-92, Berlin: Jovis. Jost, François (1998): Der Dokumentarfilm. Narratologische Ansätze, in: Hohenberger, Eva (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8, 195-218. Kaes, Anton (1987): Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film, München: edition text + kritik. Kaganski, Serge (1996): Drancy Avenir, in: Les In Rocks Cinéma, http://www.lesinrocks.com/cinema/films-a-l-affiche/drancy-avenir-2 [zuletzt gesichtet am 28.8.2015]. Keilbach, Judith (2003): Zeugen der Vernichtung. Zur Inszenierung von Zeitzeugen in bundesdeutschen Fernsehdokumentationen, in: Hohenberger, Eva/Keilbach, Judith: Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin: Vorwerk 8, S. 155-174.

Keilbach, Judith (2008): Geschichtsbilder und Zeitzeugen: zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen, Berlin-Hamburg-Münster: LIT Verlag. Kiener, Wilma (1999): Die Kunst des Erzählens. Narrativität in dokumentarischen und ethnographischen Filmen, Close Up 12, Konstanz: UVKMedien. Klippel, Heike (1997): Gedächtnis und Kino. Frankfurt a.M.: Stroemfeld. Knoch, Habbo (2001): Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg: Verlag Hamburger Edition. Knoch, Habbo (2003): Die Grenzen des Zeigbaren. Fotografien der NSVerbrechen und die westdeutsche Gesellschaft, 1955-65, in: Kramer, Sven (Hg.): Die Shoah im Bild, München: Edition Text + Kritik, S. 87-116. Koch, Gertrud (1992): Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Koch, Gertrud (1993): Der Engel des Vergessens und die Black Box der Faktizität. Zur Gedächtniskonstruktion in Claude Lanzmanns Film Shoah, in: Haverkamp, Anselm/Lachmann, Renate (Hg.): Memoria. Vergessen und Erinnern (Poetik und Hermeneutik 15), München: Fink, S. 67-77. Koch, Gertrud (2003): Nachstellungen – Film und historischer Moment, in: Hohenberger, Eva /Keilbach, Judith (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm und Geschichte, Berlin: Vorwerk 8, S. 216-230. Koebner, Thomas (2000): Vor dem Bildschirm. Studien, Kritiken und Glossen zum Fernsehen. St. Augustin: Gardez. Koebner, Thomas (2000/1973): Zur Typologie des dokumentarischen Fernsehspiels, in: Ders.: Vor dem Bildschirm. Studien, Kritiken und Glossen zum Fernsehen. St. Augustin: Gardez, S. 136-151. Kozloff, Sarah (2000): Overhearing Film Dialogue, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. Kracauer, Siegfried (1985/1960): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kramer, Sven (Hg.) (2003): Die Shoah im Bild, München: Edition Text + Kritik. Kreuzer, Helmut/ Schanze, Helmut (Hg.) (1991): Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland. Perioden, Zäsuren, Epochen, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag.

Kuhn, Annette (1978): The Camera I. Observations on Documentary. In: Screen, Vol. 19, No. 2., S. 71–84. Lammer, Christina (2002): DoKu. Wirklichkeit inszenieren im Dokumentarfilm, Wien: Turia und Kant. Lehmann, Albrecht (2007): Reden über Erfahrung. Kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse des Erzählens, Berlin: Reimer. Leiser, Erwin (1978): Deutschland erwache! Propaganda im Film des Dritten Reiches. Reinbek (erw. Neuausgabe). Lejeune, Philippe (1994): Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von W. Bayer und D. Hornig. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lichtblau, Albert (2007): Wie verändert sich mündliche Geschichte, wenn wir auch sehen, was wir hören? Überlegungen zur audiovisuellen Geschichte, in: Leh, Almut/Niethammer, Lutz (Hg.): BIOS Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Sonderheft 2007 (20. Jahrgang), Verlag Barbara Budrich, S. 66-74. Lichtenstein, Heiner (1979): Majdanek. Reportage eines Prozesses, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. Lindeperg, Sylvie (2010): Nacht und Nebel. Ein Film in der Geschichte, Berlin: Vorwerk 8. Lingemann, Jan (2006): Abenteuer Realität. Der deutsche Markt für dokumentarische Filme, in: Zimmermann, Peter/Hoffman, Kay (Hg.): Dokumentarfilm im Umbruch, Stuttgart: UVK, Reihe Close Up, Band 19, S. 35-56. Lucht, Petra/Schmidt, Lisa-Marian/Tuma, René (Hg.) (2012): Visuelles Wissen und Bilder des Sozialen. Aktuelle Entwicklungen in der Soziologie des Visuellen, Wiesbaden: Springer VS. Ludes, Peter/Schuhmacher, Heidemarie/Zimmermann, Peter (Hg.) (1994): Informations- und Dokumentarsendungen. Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Band 3, München: Wilhelm Fink. Lyotard, Jean-François (1990): Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Peter Engelmann (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam, S. 33-48. Mächler, Stefan (2002): Das Opfer Wilkomirki. Individuelles Erinnern als soziale Praxis und öffentliches Ereignis, in: Diekmann, Irene/Schoeps, Julius H. (Hg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerung oder von der Sehnsucht, Opfer zu sein, Zürich: Pendo, S. 28-85.

Melitopoulos, Angela (2003): Vor der Repräsentation. Videobilder als Agenten in „Passing Drama“ und „Timescapes“, in: transversal, Texte des Europäischen Instituts für progressive Kulturpolitik eipcp, 5/2003: http://eipcp.net/transversal/1003/melitopoulos/de [zuletzt gesichtet 20. 8.2015]. Mendelbaum, Jacques (2010): Conversations at the Mill, in: Frodon, JeanMichel (Hg.): Cinema and the Shoah. An Art Confronts the Tragedy of the Twentieth Century, New York: State Univ of New York Press, S. 107-148 (Originalfassung „Le cinéma et la Shoah“ erschienen erstmals Paris: Éditions Cahiers du cinema, 2007). Metz, Christian (1972): Semiologie des Films, München: Fink (Erstausgabe im O.: Essais sur la signification au cinéma, Paris 1968). Metz, Christian (1973): Sprache und Film, Frankfurt a.M.: Athenäum. Mittermeyer, Manfred et al. (Hg.) (2009): Ikonen Helden Außenseiter: Film und Biographie, Wien: Zsolnay. Möller, Horst/Wengst, Udo (Hg.) (2003): Einführung in die Zeitgeschichte, München: C.H. Beck. montage/av, Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation, 7/2/1998: Lust am Dokument, Marburg: Schüren. montage/av, Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 1/2002: Erinnern/Vergessen, Marburg: Schüren. montage/av, Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 2/2002: Pragmatik des Films, Marburg: Schüren. Montigny, Gilles (2005): Maurice Halbwachs. Vie – œuvres – concepts, Paris: Ellipses. Müller, Jürgen E. (1995): Dokumentation und Imagination. Zur Ästhetik des Übergangs im Dokumentarfilm „Transit Levantkade“, in: Hattendorf, Manfred (Hg.): Perspektiven des Dokumentarfilms, München: diskurs film, S. 127-148. Müller, Jürgen E. (Hg.) (1994): Towards a Pragmatics of the Audiovisual. Theory and History, Bd. 1, Münster: Nodus. Nagler, Lihi (2012): Zwischen privatem Albtraum und Repräsentationspolitik. Bilder vom Holocaust im israelischen Film, in: Bruns, Claudia/ Dardan, Asal/Dietrich, Anette (Hg.): Welchen der Steine du hebst. Filmische Erinnerung an den Holocaust, Berlin: Bertz + Fischer, S. 88-97. Netenjakob, Egon (1970): Das Fernsehen und die Geschichte aus Anlaß des Journals 70/71, in: Fernsehen + Film 8, Heft 9, S. 22-24.

Netenjakob, Egon (1989): Eberhard Fechner. Lebensläufe des Jahrhunderts. Biographie, Weinheim/Berlin: Quadriga. Netenjakob, Egon (1996): Im Nullmedium. Wie Fernsehdramaturgen Filme produzieren, 18 Porträts, Köln: Katholisches Institut für Medieninformation (KIM). Neumann, Bigit (2005): Erinnerung – Identität – Narration: Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory“, Berlin/New York: Walter de Gruyer. Nichols, Bill (1983): The Voice of Documentary, in: Film Quarterly, Jg. 36, H. 3, S. 17-30. Nichols, Bill (1991): Representing Reality. Issues and Concepts in Documentary. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press. Nichols, Bill (1995): Performativer Dokumentarfilm, in: Hattendorf, Manfred (Hg.), Perspektiven des Dokumentarfilms, München: diskurs film, S. 149-166. Nichols, Bill (1998/1976): Dokumentarfilm – Theorie und Praxis (1976), in: Hohenberger, Eva (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8, S. 164-181. Nichols, Bill (2001): Introduction to Documentary, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press. Nichols, Bill (Ed.) (1976): Movies and methods, Berkeley/Los Angeles/ London: University of California Press. Niethammer, Lutz (Hg.) (1980): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der Oral History, Frankfurt a.M.: Syndikat. Odin, Roger (1989): A Semio-Pragmatic Approach of Documentary Film, in: De Greef, W./Hesling, W. (Hg.): Image Reality Spectator: Essays on Documentary Film, Leuven: Acco, S. 90-100. Odin, Roger (1990/1984): Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre (1984), in: Blümlinger, Christa (Hg.): Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, S. 125–146. Odin, Roger (1994): Sémio-pragmatique du cinéma et de l’audiovisuel, in: Müller, Jürgen E. (Hg.): Towards a Pragmatics of the Audiovisual. Theory and History, Bd. 1, Münster. Odin, Roger (1995): Wirkungsbedingungen des Dokumentarfilms. Zur Semiopragmatik am Beispiel von Notre Planète la Terre (1947), in: Hattendorf, Manfred (Hg.): Perspektiven des Dokumentarfilms, München: diskurs film, S. 85-96.

Odin, Roger (1998/1984): Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre (1984), in: Hohenberger, Eva (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8. Odin, Roger (2000): De la fiction, Bruxelles: De Boeck. Odin, Roger (2002): Kunst und Ästhetik bei Film und Fernsehen. Elemente zu einem semio-pragmatischen Ansatz, in: montage/av 11/2, Pragmatik des Films, Marburg: Schüren, S. 42-57. Oexle, Otto Gerhard (2008): Geschichte als historische Kulturwissenschaft, in: Tschopp, Silvia Serena (Hg.), Kulturgeschichte, Stuttgart: Franz Steiner, S. 121-146. Ophüls, Marcel (1969): Über unsere Arbeit, in: NDR-Fernsehspielblätter, 10/1969, in: Ophüls & Ophüls, Deutsches Historisches Museum, Zeughauskino, http://www.dhm.de/archiv/kino/ophuels_und_ophuels.html [zuletzt gesichtet am 23.12.2014]. Ophüls, Marcel (1998): Widerreden und andere Liebeserklärungen. Texte zu Kino und Politik, Hg. v. Ralph Eue und Constantin Wulff, Berlin: Vorwerk 8, 2. Auflage. Oppenheimer, Joshua (2015): Nun trauen sich die Menschen, über die Ereignisse zu reden, Oppenheimer im Gespräch mit Florian Fricke in Deutschlandfunk vom 25.10.2015 [http://www.deutschlandfunk.de/ dokumentarfilm-the-look-of-silence-nun-trauen-sich-die.1184.de.html? dram:article_id=331479]. Ott, Michaela (2011): Experimentelle Filmästhetik, in: Schwarte, Ludger (Hg.): Experimentelle Ästhetik. VIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, Münster 2011: http://www.dgae.de/downloads/Ott_ Experimentelle_Filmaesthetik.pdf. Pelc, Marek (2000): Auf der Suche nach den Überlebenden. Anmerkungen zur Identifizierung der 2400 Fotografien von Bedziner Juden aus der Sammlung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, http://www. basisfilm.de/basis_neu/seite4.php?id=192&inhalt=zumFilm [zuletzt gesichtet am 2.8.2015]. Peritore, Silvio/Reuter, Frank (Hg.) (2011): Inszenierung des Fremden, Fotografische Darstellung von Sinti und Roma im Kontext der historischen Bildforschung, Tagungsband, Heidelberg: http://www.sintiund roma.de/uploads/media/TagungsbandEnd.pdf. Pethes, Nicolas (2008): Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, Hamburg: Junius.

Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens (Hg.) (2001): Gedächtnis und Erinnerung: ein interdisziplinäres Lexikon, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch. Philipp, Marc J. (2010): Hitler ist tot, aber ich lebe noch. Zeitzeugenerinnerungen an den Nationalsozialismus, Berlin: be.bra wissenschaft. Phillips, Richard (2001): Kollaboration und Widerstand in Vichy-Frankreich: Le Chagrin et la Pitié, vom 6.12.2001, in WSWS, erschienen anlässlich der Vorführung auf dem Filmfestival von Sydney 2001, https://www.wsws.org/de/articles/2001/12/ophu-d06.html [zuletzt gesichtet 2.3.2014]. Plantinga, Carl R. (1987): Defining Documentary: Fiction, Non-Fiction and Projected Worlds, in: Persistence of Vision 5, Spring. Plantinga, Carl R. (1997): Rhetoric and Representation in Nonfiction Film. Cambridge: Cambridge University Press. Polkinghorne, Donald E. (1998): Narrative Psychologie und Geschichtsbewusstsein. Beziehungen und Perspektiven. In: Straub, Jürgen (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Pollack, Martin (1994): Nach Galizien. Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen. Eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Wien: Christian Brandstätter, 3. Auflage. Pollak, Michael (1988): Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZ-Überlebenden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit, Frankfurt/New York: Campus. Rabinowitz, Paula (1994): They Must Be Represented. The Politics of Documentary, New York: Verso. Rauh, Reinhold (1987): Sprache im Film. Die Kombination von Wort und Bild im Spielfilm, Münster: MAkS Publikationen. Rebhandl, Bert (Hg.) (2014): Christoph Hübner/Gabriele Voss: Film/Arbeit. Texte, Dokumente, Arbeitsnotizen, Berlin: Vorwerk 8. Reichel, Peter (2004): Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München: Carl Hanser Verlag. Reichenbach, Tsipi (1993): Gespräch mit Yaron Sachish und Kol Hair, in: Jerusalem Press vom 18. Juni. Renov, Michael (1993) Towards a Poetics of Documentary. In: Ders. (Hg.): Theorizing Documentary, New York/London: Routledge, S. 12-36. Renov, Michael (2002): Historische Diskurse des Unvorstellbaren, in: montage/av 11/1, Marburg: Schüren, S. 27-40.

Ricœur Paul (1987): Narrative Identität. In: Mittler E. (Hg.), Heidelberger Jahrbücher, vol 31. Berlin, Heidelberg: Springer. Ricœur, Paul (1983): Zeit und Erzählung. 3 Bände, München: Wilhelm Fink. Ricœur, Paul (2003): Erinnerung und Vergessen – Das eigenwillige Überleben der Bilder in: Der blaue Reiter. Journal für Philosophie 18, S. 40-46. Ricœur, Paul (2004): Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München: Wilhelm Fink. Rippl, Gabriele/Frank, Michael C. (2007): Arbeit am Gedächtnis, Paderborn: Wilhelm Fink. Rosenstone, Robert (2003): Die Zukunft der Vergangenheit, in: Hohenberger, Eva/Keilbach, Judith (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm und Geschichte, Berlin: Vorwerk 8, S. 45-64. Rosenthal, Alan (1995): Writing Dokudrama: Dramatizing Reality for Film and TV, Boston: Focal Press. Rosenthal, Allan (Hg.) (1988): New Challages for Documentary, Berkeley/Los Angeles/London: University of Californian Press. Rosenthal, Gabriele (2002): Erzählte Lebensgeschichten zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Zum Phänomen „falscher“ Identitäten, in: Diekmann, Irene/Schoeps, Julius H. (Hg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerung oder von der Sehnsucht, Opfer zu sein, Zürich: PendoVerlag. Roth, Wilhelm (1982): Der Dokumentarfilm seit 1960, München/Luzern: C. J. Bucher. Runge, Erika (1968): Bottroper Protokolle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Runge, Erika (1969): Frauen. Versuche zur Emanzipation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rupnow, Dirk (2010): Die Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik und unser Umgang mit den Bildern der Täter, veröffentlicht auf dem Portal Zeitgeschichte Online, http://www.zeitgeschichte-online.de/film/ die-spuren-nationalsozialistischer-gedaechtnispolitik-und-unserumgang-mit-den-bildern-der [zuletzt gesichtet am 12.12.2014]. Rupnow, Dirk (2013): Unser Umgang mit den Bildern der Täter. Veröffentlicht auf dem Portal der Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/geheimsacheghettofilm/154336/dirk-rupnow-zu-geheimsache-ghettofilm?p=all [zuletzt gesichtet am 12.12.2014].

Ruppert, Wolfgang (1988): Fotogeschichte der deutschen Sozialdemokratie, herausgegeben von Willy Brandt, Berlin: Siedler. Ruppert, Wolfgang (Hg.) (1982): Erinnerungsarbeit: Geschichte und demokratische Identität in Deutschland, Opladen: Leske + Budrich. Santner, Eric L. (1990): Stranded Objects. Mourning, Memory, and Film in Postwar Germany, Ithaca-London: Cornell University Press. Schadt, Thomas (2012/2002): Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms, 4. Auflage, Konstanz: UVK. Schändlinger, Robert (1998): Erfahrungsbilder. Visuelle Soziologie und dokumentarischer Film, Konstanz: UVK Medien, Close Up. Schank, Roger C. (1990): Tell Me a Story. A New Look at Real and Artificial Memory, New York: Charles Scribner. Schenk, Irmbert/Tröhler, Margit/Zimmermann, Yvonne (Hg.) (2010): Film – Kino –Zuschauer: Filmrezeption, Marburg: Schüren. Scherer, Christina (2001): Ivens, Marker, Godard, Jarman. Erinnerung im Essayfilm, München: Wilhelm Fink. Schillemans, Sandra (1995): Die Vernachlässigung des Dokumentarfilms in der neueren Filmtheorie, in Hattendorf, Manfred (Hg.), Perspektiven des Dokumentarfilms, München: diskurs film, S. 11-28. Schreyer, Klaus (1989): Einübung in Demokratie und Gesellschaft, in: Steinmetz, Rüdiger/Spitra, Helfried (Hg.): Dokumentarfilm als Zeichen der Zeit, München: Ölschläger. Schuhmacher, Heidemarie (1995): Das frühe ›Panorama‹, in: Heller, Heinz-B./Zimmermann, Peter (Hg.): Blicke in die Welt. Reportagen und Magazine des nordwestdeutschen Fernsehens in den 50er und 60er Jahren, Konstanz: Ölschläger. Seegers, Armgard (1984): Eberhard Fechner. Blick ins Gestern, in: DIE ZEIT, 23.11.1984, Nr. 48. Seider, Tanja (2012): Filmische Gegen-Erinnerungen an das Trauma der Shoah, in: Bruns, Claudia/Dardan, Asal/Dietrich, Anette (Hg.): Welchen der Steine du hebst. Filmische Erinnerung an den Holocaust, Berlin: Bertz + Fischer, Medien/Kultur 3, S. 65-76. Seider, Tanja (2013): Dokumentaristen und Interventionisten der Erinnerung: Auseinandersetzungen mit Familiengeschichte und Nationalsozialismus im autobiografischen Dokumentarfilm, in: Heinze, Carsten/Hornung, Alfred (Hg.): Medialisierungsformen des (Auto-) Biografischen, Konstanz: UVK, S. 247-274.

Silbermann, Edith (1995): Begegnung mit Paul Celan. Erinnerung und Interpretation, 2. Auflage, Aachen: Rimbaud. Singer, André im Interview mit Christine Amtmann für das ARTE Magazin, Januar 2015, http://www.arte.tv/sites/fr/das-arte-magazin/2015/ 01/05/gegen-das-vergessen [zuletzt gesichtet am 22.7.2015]. Sobchack, Vivian (1988): No LIES: Direct Cinema as Rape. In: New Challenges for Documentary. Hrsg. v. Alan Rosenthal. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, S. 332-341. Squire, Larry R./ Kandel, Eric R. (1999): Gedächtnis. Die Natur des Erinnerns, Heidelberg, Berlin. Staas, Christian (2010): Was geht mich das noch an? Unsere Umfrage zeigt: Die NS-Zeit bewegt die Jugendlichen nach wie vor. Aber sie wollen nicht auf Befehl betroffen sein, in: ZEITmagazin vom 4.11.2010, http://www.zeit.de/2010/45/Erinnern-NS-Zeit-Jugendliche [zuletzt gesichtet am 13.4.2015]. Steinmetz, Rüdiger/Spitra, Helfried (Hg.) (1989): Dokumentarfilm als „Zeichen der Zeit“. Vom Ansehen der Wirklichkeit im Fernsehen. München: Ölschläger. Stott, William (1986): Documentary Expression and Thirties America, Chicago: University of Chicago Press. Straub, Jürgen (Hg.) (1998): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Tabori, George (1984): Ein Schulterzucken, ein Lächeln und eine Hand, die zittert, in: Süddeutsche Zeitung, 29.11. Taylor, Henry M. (2002): Rolle des Lebens. Die Filmbiografie als narratives System, Marburg: Schüren. Thiele, Martina (2001): Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, Münster: LIT Verlag. Thomson, Alistair (2007): Eine Reise durch das Gedächtnis unserer Bewegung: Vier paradigmatische Revolutionen in der Oral History, in: Charlotte Heinritz et al. (Hg.): BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Sonderheft 2007 (20. Jahrgang), Leverkusen: Verlag Barbara Budrich, S. 21-30. Tondera, Benedikt (2008): Die gespaltene Erinnerung Traudl Junges. Eine Analyse der autobiografischen Erzählung Traudl Junges, in: BIOS.

Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Jg. 21, Heft 2, S. 157-183. Tröhler, Margit (2004): Filmische Authentizität, in: montage/av 13/2, Marburg: Schüren, S. 149-169. Tröhler, Margrit (2002): Von Weltenkonstellationen und Textgebäuden. Fiktion – Nichtfiktion – Narration in Spiel- und Dokumentarfilm, in: montage/av 11/2, Marburg: Schüren, S. 9-41. Tschopp, Silvia Serena (Hg.) (2008): Kulturgeschichte, Stuttgart: Franz Steiner. Vatter, Christoph (2009): Gedächtnismedium Film, Würzburg: Königshausen & Neumann. Vaughan, Dai (1992): The Aesthetics of Ambiguity, in: Crawford, Peter Ian/Turton, David (Hg.): Film as Ethnography, Manchester: Manchester University Press. Vertov, Dziga (1998/1929): Kinoglaz, in: Hohenberger, Eva (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8, S. 87-99. Vertov, Dziga (2003/1923): Wir. Variante eines Manifests & Kinoki – Umsturz, in: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films, 5. erw. Aufl., Stuttgart: Reclam. Visual History Archive an der Freien Universität Berlin 2000, www.vha.fuberlin.de [zuletzt gesichtet am 30.12.2014]. Voss, Gabriele (1983): Chronik einer Zeche und ihrer Siedlung. Ein Tagebuch, in: Duisburger Filmwoche, 5. Duisburger Filmwoche, S. 60-70. Voss, Gabriele (Hg.) (1996): Dokumentarisch arbeiten. Texte zum Dokumentarfilm Band I, Berlin: Vorwerk 8. Wachtel, Nathan (1986): Memory and History: An Introduction, in: History and Anthropology 2, S. 207-224. Welzer, Harald (2002): Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München: C.H. Beck Verlag. Welzer, Harald (2004): Gedächtnis und Erinnerung, in: Jaeger, F. et al. (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Themen und Tendenzen, Bd. 3. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 155-174. Welzer, Harald (2005): Wozu erinnern wir uns? Einige Fragen an die Geschichtswissenschaften, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften ÖZG 16/2005/1, S. 12-35.

Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline (2002): Opa war kein Nazi. Nazionalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M.: Fischer. Wember, Bernward (1991/1976): Wie informiert das Fernsehen. Ein Indizienbeweis, München: List Paul Verlag. Wende, Waltraud (2002): Medienbilder und Geschichte. Zur Medialisierung des Holocaust, in: Dies. (Hg.): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis, Stuttgart/ Weimar: J.B. Metzler. Wende, Waltraud (2011): Filme, die Geschichte(n) erzählen. Filmanalyse als Medienkulturanalyse, Würzburg: Königshausen & Neumann. Wende, Waltraud (Hg.) (2002): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler. Wende, Waltraud (Hg.) (2007): Der Holocaust im Film. Mediale Inszenierung und kulturelles Gedächtnis, Heidelberg: Synchron. Wendt, Ulrich (1993): Prozesse der Erinnerung. Filmische Verfahren der Erinnerungsarbeit in den Filmen Shoah, Der Prozess und Hotel Terminus, in: Cinema 39: Non-Fiction. Wenzel, Eike (2000): Gedächtnisraum Film. Die Arbeit an der deutschen Geschichte in Filmen seit den 60er Jahren, Stuttgart/Weimar: Metzler. Wenzel, Mirjam (2012): Vom Zeugnis zum Tribunal, in: Bruns/Dardan/Dietrich (Hg.): Welchen der Steine du hebst. Filmische Erinnerungen an den Holocaust, Berlin: Bertz + Fischer, Medien/ Kultur 3, S. 332-343. White, Hayden (1991): Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M.: Fischer. Wilbers, Dörthe (2001): Montierte Erkenntnis. Überlegungen zur Relevanz der Methoden Eberhard Fechners für den kulturwissenschaftlichen Film, in: Ballhaus, Edmund (Hg.): Kulturwissenschaftlicher Film und Öffentlichkeit. Münster/Berlin: Waxmann, S. 275-289. Wildt, Michael (2012): Worte, Blicke, Bilder. In: Bruns, Claudia/Dardan, Asal/Dietrich, Anette (Hg.): Welchen der Steine du hebst. Filmische Erinnerung an den Holocaust, Berlin: Bertz + Fischer, S. 300-309. Winkler, Hartmut (1992): Der filmische Raum und der Zuschauer. Apparatus – Semantik – Ideology, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag.

Winston, Brian (1995): Claiming the Real. The Griersonian Documentary and its Limitations, London: British Film Institute. Wulff, Hans J. (2001): Konstellation, Kontrakt, Vertrauen: Pragmatische Grundlagen der Dramaturgie, in: montage/av 10/2, Marburg: Schüren, S. 131-154. Young, James E. (1997): Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Zellmer, Elisabeth (2011): Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München, Institut für Zeitgeschichte, Oldenburg: Wissenschaftsverlag. Zielinski, Siegfried (1989): Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte, Reinbek: Rowohlt. Ziewer, Christian (2ooo): Verzeihung ich lebe, http://www.basisfilm.de/bas is_neu/seite4.php?id=192&inhalt=zumFilm [zuletzt gesichtet am 3.9. 2015]. Zimmermann, Peter (1994b): Geschichte von Dokumentarfilm und Reportage von der Adenauer-Ära bis zur Gegenwart, in: Ludes/Schuhmacher/Zimmermann, (Hg.): Informations- und Dokumentarsendungen. Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Band 3, München: Wilhelm Fink, S. 213-324. Zimmermann, Peter (2006): Der Autorenfilm und die Programm-Maschine Fernsehen, in Zimmermann, Peter/Hoffman, Kay (Hg.): Dokumentarfilm im Umbruch: Kino – Fernsehen – Neue Medien, Konstanz: UVK, S. 85-104. Zimmermann, Peter (Hg.) (1994a): Fernseh-Dokumentarismus. Bilanz und Perspektiven, München: UVK-Medien. Zimmermann, Peter, 1995: Fernsehen in der Adenauer-Ära. In: Heller, Heinz-B. und derselbe (Hrsg.): Blicke in die Welt. Reportagen und Magazine des nordwestdeutschen Fernsehens in den 50er und 60er Jahren. Konstanz, S. 181-262. Zimmermann, Peter/Hoffmann, Kay (Hg.) (2003): Triumph der Bilder. Kultur- und Dokumentarfilme vor 1945 im internationalen Vergleich, Konstanz: UVK. Zimmermann, Peter/Hoffmann, Kay (Hg.) (2006): Dokumentarfilm im Umbruch: Kino – Fernsehen – Neue Medien, Konstanz: UVK. Zutavern, Julia (2015): Politik des Bewegungsfilms, Marburg: Schüren. Zweites Deutsches Fernsehen (1965). Jahrbuch 1962/64, Mainz.

  

1945 – Burger, Hanus: DIE TODESMÜHLEN/DEATH MILLS (USA) 1955 – Resnais, Alain: NACHT UND NEBEL (FR) 1960-61 – Huber, Heinz/Müller, Artur: DAS DRITTE REICH, 14teilige Dokumentarserie (BRD) 1961 – Rouche, Jean/Morin, Edgar: CHRONIQUE D’UN ETÉ (FR) 1961-2007 – Junge, Barbara/Junge, Winfried: DIE KINDER VON GOLZOW, 20teilige Langzeitdokumentation (DDR/DE) 1965 – Romm, Michail: DER GEWÖHNLICHE FASCHISMUS (SFSR) 1966 – Schütze, Bernhard: GAMMLER – AUSWEG UND UMWEG (BRD) 1967 – Syberberg, Hans-Jürgen: ROMY. PORTRAIT EINES GESICHTS (BRD) 1968 – Grabe, Hans-Dieter: DIE TRÜMMERFRAUEN VON BERLIN (BRD) 1968 – Runge, Erika: WARUM IST FRAU B. GLÜCKLICH? (BRD) 1969 – Fechner, Eberhard: NACHREDE AUF KLARA HEYDEBRECK (BRD) 1969 – Ophüls, Marcel: LE CHAGRIN ET LA PITIÉ (CH/BRD) 1970 – Fechner, Eberhard: KLASSENPHOTO (BRD) 1972 – Grabe, Hans-Dieter: MENDEL SCHAINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND (BRD) 1975 – Brückner, Jutta: TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND. DAS LEBEN DER GERDA SIEPENBRINK (BRD) 1975 – Ophüls, Marcel: THE MEMORY OF JUSTICE (D/GB/USA) 1975-97 – Koepp, Volker: DER WITTSTOCK-ZYKLUS (DDR/DE) 1976 – Fechner, Eberhard: LEBENSDATEN (BRD) 1977 – Hübner, Christoph/Voss, Gabriele: DIE LEBENSGESCHICHTE DES BERGARBEITERS ALPHONS S. (BRD) 1977 – Fechner, Eberhard: COMEDIAN HARMONISTS (BRD) 1978 – Chomsky, Marvin J.: HOLOCAUST, 4teilige TV-Serie (USA)

1979 – Demant, Ebbo: LAGERSTRASSE AUSCHWITZ (BRD) 1983 – Ruppert, Wolfgang: NAILA. LEBEN UND ARBEITEN IM FRANKENWALD (BRD) 1984 – Fechner, Eberhard: DER PROZESS (BRD) 1985 – Lanzmann, Claude: SHOAH (FR) 1988 – Ophüls, Marcel: HOTEL TERMINUS. LEBEN UND ZEIT DES KLAUS BARBIE (USA) 1990 – Schönemann, Sybille: VERRIEGELTE ZEIT (DDR) 1990 – Tajiri, Rea: HISTORY AND MEMORY (USA) 1990 – Burns, Ken: THE CIVIL WAR, 9teiliger Dokumentarfilm (USA) 1991 – Fechner, Eberhard: WOLFSKINDER (DE) 1993 – Reichenbach, Tsipi: CHOICE AND DESTINY (IL) 1994 – Heinrich, Margarete/Erne, Eduard: TOTSCHWEIGEN (AT) 1994 – Grabe, Hans-Dieter: ER NANNTE SICH HOHENSTEIN (DE) 1994 – Duyns, Cherry: SETTELA, GEZICHT VAN HET VERLEDEN (NL) 1996 – Kotanyi, Sophie: AMOR FATI – LIEBE ZUM SCHICKSAL. EINE FAMILIE VOR UND NACH IHRER FLUCHT 1956 AUS UNGARN (DE/BE/HU) 1996 – Berliner, Alan: NOBODY'S BUSINESS (USA) 1996 – Pallières, des Arnaud: DRANCY AVENIR (FR) 1997 – Baur, Elke: ZWEI NAMEN, EIN LEBEN (DE/CH) 1997 – Beatrice Michel, Hans Stürm: KADDISCH (CH) 1997 – Reichenbach, Tsipi: MUTTER UND IHRE SCHWESTERN (IL) 1997 – Pallières, Arnaud de: DRANCY AVENIR (FR) 1998 – Moll, James: DIE LETZTEN TAGE/THE LAST DAYS (USA) 1999 – Berger, Karin: CEIJA STOJKA (AT) 1999 – Grabe, Hans-Dieter: MENDEL LEBT (DE) 1999 – Koepp, Volker: HERR ZWILLING UND FRAU ZUCKERMANN (DE) 1999 – Melitopoulos, Angela: PASSING DRAMA (DE) 2000 – Alemann, Claudia: WAR EINST EIN WILDER WASSERMANN (DE) 2000 – Klamt, Andrzej: ...VERZEIHUNG, ICH LEBE (DE) 2001 – Klusemann, Caterina: IMA (DE) 2001 – Jurschick, Karin: DANACH HÄTTE ES SCHÖN SEIN MÜSSEN (DE) 2001 – Suhr, Elke: PEREMOHA (DE) 2002 – Heller, André/Schmiderer, Othmar: IM TOTEN WINKEL – HITLERS SEKRETÄRIN (DE) 2002 – Kratz, Käthe: VIELLEICHT HABE ICH GLÜCK GEHABT (AT)

2003 – Hüetlin, Sissi/Wauer, Britta: DIE RAPOPORTS – UNSERE DREI LEBEN (DE) 2003 – Winkels, Sebastian: SIEBEN BRÜDER (DE) 2003 – Salomonowitz, Anja: DAS WIRST DU NIE VERSTEHEN (AT) 2003 – Levi, Angelika: MEIN LEBEN TEIL 2 (DE) 2005 – Ludin, Malte: 2 ODER 3 DINGE, DIE ICH VON IHM WEISS (DE) 2005 – Schanze, Jens: WINTERKINDER – DIE SCHWEIGENDE GENERATION (DE) 2005 – Klamt, Andrej/Pelc, Marek: …VERZEIHUNG, ICH LEBE (DE/PL) 2006 – Bauder, Marc/Franke, Dörte: JEDER SCHWEIGT VON ETWAS ANDEREM (DE) 2006 – Carney, Marcus J.: DAS ENDE DES NEUBACHERPROJEKTS (AT/NL) 2008 – Wauer, Britta: GERDAS SCHWEIGEN (DE) 2009 – Hars-Tscharchotin, Boris: SERGEJ IN DER URNE (DE) 2009 – Jendreyko, Vladim: DIE FRAU MIT DEN 5 ELEFANTEN (DE/CH) 2009 – Hersonski, Yael: GEHEIMSACHE GHETTOFILM (IL) 2009 – Hars-Tschachotin, Boris: SERGEJ IN DER URNE (DE) 2012 – Goldfinger, Arnon: DIE WOHNUNG (DE/IL) 2012 – Karolinski, Alexa: OMA & BELLA (DE/USA) 2012 – Oppenheimer, Joshua: THE ACT OF KILLING (DK/NO/GB) 2014 – Trampe, Tamara: MEINE MUTTER, DER KRIEG UND ICH (DE) 2014 – Singer, André: NIGHT WILL FALL (GB/IL/USA) 2014 – Spiller, Elkan: L’CHAIM – AUF DAS LEBEN (DE/FR/IL) 2015 – Oppenheimer, Joshua: THE LOOK OF SILENCE (DK)

         Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5-6: Abb. 7: Abb. 8-10: Abb. 11-12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16-21:

NACHREDE AUF KLARA HEYDEBRECK, Screenshots, Privatarchiv KLASSENPHOTO, Screenshot(s), UdK-Mediathek LE CHAGRIN ET LA PITIÉ, Screenshots, DVD MENDEL SCHEINFELDS ZWEITE REISE NACH DEUTSCHLAND, Screenshots, Privatarchiv TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND – DAS LEBEN DER GERDA SIEPENBRINK, Screenshots, UdK-Mediathek DER PROZESS, Screenshots, Deutsche Kinemathek VERRIEGELTE ZEIT, Screenshots, Privatarchiv CHOICE & DESTINY, Screenshots, Privatarchiv PASSING DRAMA, Screenshots, Privatarchiv NOBODY’S BUSINESS, Screenshots, UdK-Mediathek HERR ZWILLING UND FRAU ZUCKERMANN, Screenshots, Privatarchiv …VERZEIHUNG, ICH LEBE, Screenshots, Privatarchiv

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)

Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de