Zwischen Individualrechtsschutz und völkerrechtlichen Auslieferungspflichten: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr Deutschlands als Mitgliedstaat der EU mit Drittstaaten am Beispiel der USA [1 ed.] 9783428582266, 9783428182268

Gegenstand der Arbeit ist die Frage, wie ein hinreichender Individualrechtsschutz im europäisierten Auslieferungsverkehr

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Zwischen Individualrechtsschutz und völkerrechtlichen Auslieferungspflichten: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr Deutschlands als Mitgliedstaat der EU mit Drittstaaten am Beispiel der USA [1 ed.]
 9783428582266, 9783428182268

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Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften Band 75

Zwischen Individualrechtsschutz und völkerrechtlichen Auslieferungspflichten Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr Deutschlands als Mitgliedstaat der EU mit Drittstaaten am Beispiel der USA

Von Sandra Petry

Duncker & Humblot · Berlin

SANDRA PETRY

Zwischen Individualrechtsschutz und völkerrechtlichen Auslieferungspflichten

Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften Herausgegeben von C l a u s K r e ß, C o r n e l iu s Ne s t l e r F r a n k Ne u b a c h e r, F r a u k e R o s t a l s k i M a r t i n Wa ßm e r, T h o m a s We i g e n d , B e t t i n a We i ß e r Professoren an der Universität zu Köln

Band 75

Zwischen Individualrechtsschutz und völkerrechtlichen Auslieferungspflichten Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr Deutschlands als Mitgliedstaat der EU mit Drittstaaten am Beispiel der USA

Von Sandra Petry

Duncker & Humblot · Berlin

Die Hohe Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Jahr 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0936-2711 ISBN 978-3-428-18226-8 (Print) ISBN 978-3-428-58226-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2020 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten bis September 2020 berücksichtigt werden. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei allen Personen bedanken, die mich auf unterschiedlichste Weise bei meinem Promotionsprozess begleitet haben. Mein besonderer Dank gilt zunächst meiner Doktormutter Professorin Dr. ­Bettina Weißer, die meine Promotion mit viel Engagement unterstützt und begleitet hat. Mit zahlreichen wertvollen Anregungen und kritischen Hinweisen hat sie entscheidend zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Auch aufgrund der lehrreichen und prägenden Zeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an ihrem ehemaligem Lehrstuhl an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und ihrem Institut an der Universität zu Köln bin ich ihr zu tiefem Dank verpflichtet. Ich möchte diese Zeit nicht missen. Mein herzlicher Dank gilt zudem Professor Dr. Thomas Weigend für die zügige und engagierte Übernahme des Zweitgutachtens. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe „Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften“. Für die vielen hilfreichen Diskussionen und sowohl unterstützenden als auch aufmunternden Worte danke ich meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Kriminalwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und am Institut für ausländisches und internationales Strafrecht der Universität zu Köln, ganz besonders Johannes Block, Katrin Klein, Christine Untch und Dr. Isabel Wendeburg. Dankbar bin ich Johannes Block, Katrin Klein, Dennis Stein, Christine Untch und Dr. Isabel Wendeburg auch für die Durchsicht dieser Arbeit und die nützlichen Anmerkungen. Mein größter Dank gilt meinen Eltern und Großeltern, die mir mit ihrem grenzenlosen Rückhalt stets zur Seite stehen. Ohne ihre unermüdliche Unterstützung wäre diese Arbeit nicht entstanden. Düsseldorf, im Oktober 2020

Sandra Petry

Inhaltsverzeichnis Einleitung

Gegenstand, Zielsetzung und Gang der Untersuchung 17 Kapitel 1 Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit den USA? 28



A. Auslieferungspflicht im vertraglichen Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I.

Der rechtliche Rahmen: Der Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Die völkerrechtlichen Auslieferungsverträge D / USA und EU / USA . . . . . . . 29 2. Innerstaatliche Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Auslieferungsverträge mit den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

II. Überblick über die Auslieferungsvoraussetzungen in den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen mit den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Positive Auslieferungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Negative Auslieferungsvoraussetzungen: Nichteingreifen von Ablehnungsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 a) Ablehnungsgründe aus dem multilateralen AuslAbk EU-USA . . . . . . . . 37 b) Ablehnungsgründe aus dem bilateralen AuslV D-USA . . . . . . . . . . . . . . 37 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 B. Begrenzung der Auslieferungspflicht im Auslieferungsverkehr mit den USA durch völkervertraglich geregelten Grund- und Menschenrechtsvorbehalt? . . . . . . . . . . . . . 39 I.

Explizit völkervertraglich geregelter Grund- und Menschenrechtsvorbehalt? . . 39 1. Individualrechtsschutz in Art. 13 AuslAbk EU-USA und Art. 12 AuslV D-USA i. V. m. ZusV und 2. ZusV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Individualrechtsschutz in Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. dem AuslV D-USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

II. Durch Auslegung ermittelbarer Individualrechtsschutz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1. Auslegungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2. Auslegung der innerstaatlich anwendbaren Auslieferungsverträge: EU / ​USA und D / ​USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

8

Inhaltsverzeichnis a) Präambel des AuslAbk EU-USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 b) Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 27 AuslV D-USA . . . . . . . 52 aa) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 bb) Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 cc) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 dd) Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 ee) Zusammenfassung: Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 27 AuslV D-USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 c) Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 aa) Der Wortlaut der Norm, Art. 31 Abs. 1 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 bb) Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 cc) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 dd) Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 ee) Zusammenfassung: Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA . . . . . . . . . . . . 61 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 e) Generelle grund- und menschenrechtsfreundliche Auslegung? . . . . . . . . 62 aa) Inzidenter Vorbehalt der Beachtung nationaler oder europäischer Werte? 63 bb) Inzidenter Vorbehalt der Beachtung gemeinsamer Werte? . . . . . . . . . 63 3. Ergebnis der Auslegung der innerstaatlich im Auslieferungsverkehr mit den USA anwendbaren Auslieferungsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

C. Ergebnisse Kapitel 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Kapitel 2 Anwendbarkeit eines allgemeinen Individualrechtsvorbehalts jenseits völkervertraglicher Klauseln 68



A. Relevanz von Grund- und Menschenrechten des Auszuliefernden im ersuchenden Staat nach Auslieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 I.

Die Extraterritorialität grund- und menschenrechtlicher Fragen . . . . . . . . . . . . . 68

II. Umfassender Grund- und Menschenrechtsschutz durch Gesamtschau punktueller individualrechtsschützender Ablehnungsgründe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Der Anwendungsbedarf von Individualrechten als Ablehnungsgrund . . . . . . 72 2. Bedenken bezüglich der Strafe / ​des Strafvollzugs im ersuchenden Staat . . . . 73 3. Bedenken bezüglich des Strafverfahrensrechts des ersuchenden Staates . . . 76 4. Weitere Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 B. Völkerrechtliche Grenzen der Auslieferung: Existenz eines genuin völkerrechtlichen Menschenrechtsvorbehalts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 I.

Menschenrechte als Teil eines völkerrechtlichen Ordre-Public-Vorbehalts . . . . 82

Inhaltsverzeichnis

9

1. Rechtsquellen völkerrechtlicher Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Menschenrechte als objektive Wertordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 II. Normenhierarchie im Völkerrecht zur Auflösung einer völkerrechtlichen Pflichtenkollision? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Genereller Vorrang von Menschenrechten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2. Die Unterscheidung von ius-cogens- und erga-omnes-Normen . . . . . . . . . . 88 a) Auslieferungspflichten und ius-cogens-Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 aa) Das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im ersuchenden Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 (1) Teil des ius cogens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 (2) Die problematische Inhaltsbestimmung des Verbots von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung . . . . . . . . . . . . 96 bb) Rechtspraktische Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 cc) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Auslieferungspflichten und andere völkerrechtliche Menschenrechte . . . 101 3. Völkervertragliche Auslieferungspflicht und regionales ius cogens . . . . . . . 102 III. Andere völkerrechtliche Vorrangregelungen: „Lex posterior“ und „lex specialis“ bei gleichwertigen Völkerrechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 C. Genuin europäischer Ordre Public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 I.

Anwendbarkeit des § 73 S. 1 IRG im Auslieferungsverkehr mit den USA – das Verhältnis zwischen Gesetz und Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

II. Bindung deutscher Hoheitsträger an Recht und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Korrektur des völkerrechtlichen Auslegungsergebnisses? . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Grundsätzliche Anwendbarkeit regionaler und nationaler Grund- und Menschenrechte im Auslieferungsverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Die rein völkerrechtliche Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Regionale und nationale Grundrechte als Schranken einer Auslieferung? 120 aa) Kompletter Ausschluss regionaler und nationaler Grundrechte? . . . . 120 bb) Volle oder eingeschränkte Grundrechtsgeltung trotz einer etwaig abweichenden völkerrechtlichen Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 (1) Volle Grundrechtsgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 (2) Eingeschränkte Grundrechtsgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) Bestandsaufnahme und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3. Anwendbarer Grundrechtskatalog für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Auslieferungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Unionsrechtliche Grundrechtsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

10

Inhaltsverzeichnis b) Anwendungsvorrang von Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Anwendungsbereich des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 aa) Durchführung von Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 bb) Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 cc) Beurteilungen bei Auslieferungsentscheidungen bezüglich der USA als ersuchendem Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 (1) Überstellung von Unionsbürgern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 (2) Überstellung von Drittstaatsangehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 dd) Extraterritorialität von Auslieferungssachverhalten und die Anwendbarkeit der GrCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 d) Grundrechtliche Grenzen einer Überstellung im Anwendungsbereich von Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 aa) Grund- und Menschenrechtsstandards bei Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 (1) Grenzen des gegenseitigen Vertrauens und des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 (2) Die Rechtsprechung des EuGH zur Berücksichtigung unionaler Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (a) Strikte Ablehnung eines europäischen Grundrechtsvorbehalts 160 (b) Ansätze eines europäischen Grundrechtsvorbehalts . . . . . . . 162 (aa) Die Gefahr des Verstoßes gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (bb) Die Gefahr des Verstoßes gegen das Recht auf ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (cc) Die Chance des EuGH zur Entwicklung echter Mindeststandards in Bezug auf Art. 4 GrCh . . . . . . . . . . . . . . . 168 (c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (aa) Erforderlicher Grundrechtsstandard . . . . . . . . . . . . . . . 173 (bb) Nachweis und Zurechenbarkeit einer drohenden Grundrechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (3) Berücksichtigung nationaler Grundrechte im Anwendungsbereich von Unionsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 (a) Hintergrund: Uneingeschränkter Vorrang von Unionsgrundrechten vor nationalen Grundrechten? . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 (aa) Parallele Anwendbarkeit von nationalen und unionalen Grundrechten i. S. e. Meistbegünstigung? . . . . . . . . . . 185 (bb) Die Anwendungsbereiche von Unionsgrundrechten und nationalem Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (b) Das BVerfG und die Identitätskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Inhaltsverzeichnis

11

(c) Ansätze eines nationalen Grundrechtsvorbehalts in der Rechtsprechung des EuGH? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (d) Unionsrechtskonformität einer Identitätskontrolle? . . . . . . . 195 (aa) Schutzgehalt nationaler Identität: Grundlegende Verfassungsstrukturen eines Nationalstaats . . . . . . . . . . . . . . 197 (bb) Der unionsrechtliche Schutz nationaler Identitäten und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (cc) Die Entscheidungsbefugnis über die Verletzung identitätsbildender Verfassungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . 202 (dd) Zwischenergebnis: Keine Anwendbarkeit des GG, Maßstab: Art. 52 Abs. 1 GrCh in den Grenzen des Art. 2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 bb) Übertragbarkeit des Maßstabs der GrCh auf Auslieferungen an die USA 207 (1) Übertragbarkeit des Maßstabs der GrCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 (2) Anwendbarkeit nationalen Verfassungsrechts? . . . . . . . . . . . . . . 209 (3) Einschränkung der Unionsgrundrechte bei Auslieferungen an die USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (a) Grundsatz gegenseitigen Vertrauens im Verhältnis zu Drittstaaten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (b) Grundrechtsreduzierung aufgrund einer „Völkerrechtsfreundlichkeit“ der Union? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 (c) Grundrechtsreduzierung auf Null wegen entgegenstehender Souveränitätsinteressen der USA? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 4. Zwischenergebnis und weiterführende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 III. Vereinbarkeit von Überstellungen aufgrund von Zusicherungen mit dem reduzierten Maßstab der GrCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1. Vereinbarkeit der Auslieferung bei drohender Todesstrafe mit dem reduzierten Grundrechtsmaßstab? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2. Zusicherung der Nichtvollstreckung der Todesstrafe als Zurechnungs­ ausschluss grundrechtswidrigen Verhaltens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 a) Die Rechtsnatur völkerrechtlicher Zusicherungen im Auslieferungs­verkehr 228 b) Zurechnungsausschluss möglicher Grundrechtsverletzungen durch Zusicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 aa) Bedenken gegen und Begründungen für Zusicherungen im Auslieferungsverkehr zu Drittstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 bb) Mindestanforderungen an eine die reale Gefahr einer Unionsgrundrechtsverletzung beseitigende Zusicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 cc) Der Fall der drohenden Todesstrafe im Auslieferungsverkehr mit den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 c) Vereinbarkeit von Art. 13 AuslAbk EU-USA und Art. 12 AuslV D-USA i. V. m. ZusV und 2. ZusV mit dem Sinn und Zweck völkerrechtlicher Zusicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

12

Inhaltsverzeichnis IV. Übermaßverbot nationaler Justizbehörden bei Auslieferungsentscheidungen . . 241

E. Ergebnisse Kapitel 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

Kapitel 3 Vorgaben für einen Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr der EU mit Drittstaaten 247



A. Unionsgesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines unionalen Grundrechts­ vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 I.

Schutzpflichten für den Unionsgesetzgeber im Rahmen des Untermaßverbots . . 247

II. Legitimität eines Grundrechtsvorbehalts durch die EU in Form einer völker­ vertraglichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 1. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 2 EUV . . . . . . . . . . 253 2. Subsidiaritätsprinzip, Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3. Verhältnismäßigkeit, Art. 5 Abs. 4 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 a) Das Verfolgen eines legitimen Ziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 b) Die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer europäischen Grundrechtsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 c) Die Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 III. Vorschlag eines europäischen Grundrechtsvorbehalts im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 B. Prozessuale Ausgestaltung im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten  . . . . . . . . . . . . 268 I.

Durchsetzung eines Grundrechtsvorbehalts vor dem Hintergrund des innerstaatlichen Auslieferungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 1. Gegenstand des Zulässigkeits- und Bewilligungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . 268 2. Rechtsschutzmöglichkeiten gegen positive Auslieferungsentscheidungen unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 47 Abs. 1 GrCh) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 a) Die Garantie effektiven Rechtsschutzes im Unionsrechtsgefüge: Eine geteilte Verantwortung von EU und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 b) Rechtsschutzmöglichkeiten des Auszuliefernden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

II. Prozessuale Geltendmachung einer Zusicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

Abkürzungsverzeichnis a. A. andere Ansicht a. F. alte Fassung am Main a. M. ABl. Amtsblatt der Europäischen Union Abs. Absatz AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AJIL American Journal of International Law Alt. Alternative AnwBl Anwaltsblatt Archiv des öffentlichen Rechts AöR Art. Artikel American Society of International Law ASIL Aufl. Auflage AuslAbk EU-USA Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung AuslV D-USA Auslieferungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika Ausn. Ausnahme AVR Archiv des Völkerrechts Bayerische Verwaltungsblätter BayVbl. BeckOK Beck’sche Online-Kommentare BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in BGHSt Strafsachen bspw. beispielsweise BVerfG Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des BundesverfassungsgeBVerfGE richts bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise Common Market Law Review CMLR Case Western Reserve Journal of International Law CWRJIL D Deutschland das heißt d. h. Drucks. Drucksache DStR Deutsches Steuerrecht Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung EEA-RL EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice EJCCLCJ

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Abkürzungsverzeichnis

European Journal of International Law EJIL EL Ergänzungslieferung Europäische Menschenrechtskonvention EMRK Europäische Rechtsakademie Forum ERA Forum Europäische Union EU EuCLR European Criminal Law Review The European Criminal Law Association’ Forum Eucrim European Foreign Affairs Review EuFAR Europäischer Gerichtshof (amtlich: Gerichtshof) EuGH Europäische Grundrechte-Zeitschrift EuGRZ Europäischer Haftbefehl EuHb The European Legal Forum EuLF EuR Europarecht Europäische Staatswanwaltschaft EuStA Vertrag über die Europäische Union EUV Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EuZW Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht EWS Europäische Zentralbank EZB f. folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ ff. fortfolgende Fn. Fußnote FS Festschrift Goltdammer’s Archiv für Strafrecht GA gem. gemäß GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls German Law Journal GLJ Goettingen Journal of International Law GoJIL GrCh Charta der Grundrechte der Europäischen Union grds. grundsätzlich GR-Schutz Grundrechtsschutz GS Gedächtnisschrift Harvard International Law Journal HILJ Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung in StrafsaHRRS chen Hrsg. Herausgeber hrsgg. herausgegeben in der Fassung i. d. F. im Sinne des / der i. S. d. in Verbindung mit i. V. m. International and Comparative Law Quarterly ICLQ International Human Rights Law Review IHRLR inkl. inklusive insbes. insbesondere Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte IPbpR Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen IRG Juristische Rundschau JR

Abkürzungsverzeichnis

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Journal für Strafrecht JSt Juristische Ausbildung JURA Juristische Schulung JuS JZ JuristenZeitung Kap. Kapitel KG Kammergericht Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und RechtswissenKritV schaft lit. littera Lebensmittel und Recht LMuR Legal Tribune Online LTO mit weiteren Nachweisen m. w. N. Memo Memorandum Michigan Journal of International Law MichJIL Minnesota Journal of International Law MinnJIL Melbourne Journal of International Law MJIL MR-Schutz Menschenrechtsschutz Münchener Kommentar MüKo North Carolina Journal of International Law and Commercial RegulaNCILJ tion New Journal of European Criminal Law NJECL Neue Juristische Online-Zeitschrift NJOZ Neue Juristische Wochenschrift NJW Nr. Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ Rechtsprechungsreport der Neuen Zeitschrift für Strafrecht NStZ-RR Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ New York Law School Review NYLSR Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZA NZWiSt Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht OLG Oberlandesgericht Public Sector Purchase Programme PSPP Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen RbEuHB Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten Recht der Arbeit RdA Rn. Randnummer Rs. Rechtssache Rspr. Rechtsprechung s. siehe S. Seite siehe auch s. a. Stanford Journal of International Law SJIL Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Slg. Union sogenannt / e/er / es sog. StGB Strafgesetzbuch Strafverteidiger Forum StraFo ständige Rechtsprechung st. Rspr.

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Abkürzungsverzeichnis

StV Strafverteidiger Vereinte Nationen UN Charta der Vereinten Nationen UN-Charta Vereinigte Staaten von Amerika USA v. vom vgl. vergleiche Virginia Journal of International Law VJIL Vor Vorbemerkungen Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VVDStRL Journal der Wirtschaftsstrafrechtlichen Vereinigung e. V. WiJ Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge WVK Yale Journal of International Law YJIL zum Beispiel z. B. Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ZaöRV Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik ZAR Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik ZIS Zeitschrift für das Juristische Studium ZJS Zeitschrift für öffentliches Recht ZÖR Zeitschrift für Rechtspolitik ZRP Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft ZStW ZusV Zusatzvertrag

Einleitung

Gegenstand, Zielsetzung und Gang der Untersuchung Bei der Überstellung eines Individuums durch einen Staat an einen anderen Staat zur Strafverfolgung oder -vollstreckung besteht ein Spannungsverhältnis zwischen den Individualrechten des strafrechtlich Verfolgten und völkerrechtlichen Auslieferungspflichten gegenüber einem anderen Staat. Regelmäßig gibt es Nachrichten zu solchen Konflikten. Dies gilt insbesondere auch in Bezug auf die USA: Edward Snowden und Martin Winterkorn sind nur zwei prominente Beispiele, bei denen die Frage der Zulässigkeit der Auslieferung an die USA in jüngerer Zeit auch wegen Bedenken bezüglich der dortigen grund- und menschenrechtskonformen Behandlung der Betroffenen in die Schlagzeilen geraten ist.1 Auch bezüglich Überstellungen von Terroristen stellt sich regelmäßig die Frage nach der Zulässigkeit der Auslieferung an die USA: Erst Anfang Februar 2019 ist die Auslieferung von Adem Yilmaz – einem Terrorgruppenmitglied der sog. Sauerland-Gruppe, dessen Auslieferung bereits im Jahre 2016 von US-amerikanischen Justizbehörden begehrt worden war – von dem zuständigen OLG Frankfurt unter Berufung auf das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem) für unzulässig erklärt worden,2 was zu politischen Spannungen zwischen Deutschland und den USA geführt hat.3 Grundund menschenrechtliche Bedenken wirft auch das nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 errichtete Gefängnis des US-Stützpunktes Guantánamo Bay auf Kuba auf, in dem nach wie vor Personen teilweise ohne Anklage inhaftiert sind4 1 S. bspw. https://www.amnesty.de/2013/6/24/usa-duerfen-keine-jagd-auf-den-whistle​ blower-edward-snowden-machen (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020); https://www.lto.de/​recht/ kanzleien-unternehmen/k/us-justiz-klagt-ehemaligen-volkswagen-chef-martin-winterkorn-an/ (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 2 S. hierzu die Presemittteilung der Redaktion beck-aktuell v. 8. 2. 2019, becklink 2012202; s. a. die Berichte von LTO: https://www.lto.de/recht/presseschau/p/presseschau-2019-02-06-bverfgzu-kennzeichenerfassung-loverparade-prozess-vor-einstellung-lag-zu-lohnungleichheit/ (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020) und von Welt (Brause / Naber): https://www.welt.de/politik/ deutschland/article188287983/Sauerland-Gruppe-Terrorist-Adem-Yilmaz-in-die-Tuerkeiabgeschoben.html (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 3 S. die Worte des US-amerikanischen Botschafters in Deutschland Richard Grenell: „we are gravely disappointed by Germany’s decision to deport a dangerous terrorist to Turkey, despite a pending request to extradite him to the US“, vgl. https://edition.cnn.com/2019/02/06/ politics/us-german-terror-dispute/index.html (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 4 Dies betrifft bspw. Kalid Scheikh, der den Anschlag vom 11. September 2001 maßgeblich geplant hat, und dessen Prozess laut Medienberichten erst im Jahre 2021 – und damit rund 20 Jahre nach dem Terroranschlag – beginnen soll, s. den Beitrag vom 31. 8. 2019 in der FAZ: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/prozess-gegen-9-11-verschwoerer-soll-2021beginnen-16361013.html (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020).

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Gegenstand, Zielsetzung und Gang der Untersuchung

und in dem nachweisbar Häftlinge gefoltert worden sind.5 Auch wenn seit März 2008 keine neuen Häftlinge mehr in das Gefangenenlager geschickt worden sind,6 hat US-Präsident Donald Trump im Januar 2018 in einem Erlass erklärt, das Gefangenenlager in Zukunft wieder stärker nutzen zu wollen – insbesondere im Kampf gegen den sog. „Islamischen Staat“.7 Das könnte dann auch für Personen gelten, die von Deutschland an Justizbehörden der USA ausgeliefert werden. Besondere Brisanz erlangt die Frage nach der Zulässigkeit einer Auslieferung an die USA gerade auch aufgrund der Möglichkeit der Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe in einigen Bundesstaaten in den USA und neuerdings auch wieder auf Bundesebene,8 wenn im konkreten Fall zu befürchten ist, dass der Verfolgte zum Tode verurteilt und diese Strafe auch vollstreckt werden wird. Erst im Jahre 2016 hat das OLG Köln9 eine Auslieferung einer Honduranerin an die USA trotz des Mordverdachts mit der Möglichkeit der Todesstrafe für zulässig erklärt. Dies wurde mit der Abgabe einer völkerrechtlichen Zusicherung begründet, dass in Bezug auf die Betroffene wenn auch nicht auf die Verhängung der Todesstrafe, so doch zumindest auf ihre Vollstreckung verzichtet wird. In welchem Verhältnis Grund- und Menschenrechte des Auszuliefernden zu völkerrechtlich begründeten Auslieferungspflichten stehen, bleibt in der Diskussion oftmals offen. Gegenstand dieser Arbeit ist die Untersuchung, wie solche Konflikte 5

S. bspw. den Bericht der Inter-American Commission on Human Rights v. 5. 6. 2015: Towards the Closure of Guantanamo Bay, Rn. 101 ff.; zum Ganzen s. https://www.amnesty.ch/ de/laender/amerikas/usa/dok/2019/guantanamo-bedrohung-fuer-die-menschenrechte (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020); zur Kritik hieran s. Mitsilegas, EuFAR 8 (2003), 515, 531; Paust, HILJ 33 (2003), 503. 6 S. https://www.amnesty.de/sites/default/files/2018-02/042_2018_DE_USA_.pdf (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 7 S. https://www.whitehouse.gov/presidential-actions/presidential-executive-order-protecting-​ america-lawful-detention-terrorists/ (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020); s. a. urgent action Nr. UA-042/2018 bei Amnesty International: https://www.amnesty.de/sites/default/files/​201802/042_2018_DE_USA_.pdf (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 8 Zur Frage der Zulässigkeit s. Kapitel 1 B. I. 1. und Kapitel 2 D. III. In jüngerer Zeit wurde in den USA entgegen der weltweiten Tendenz zur Abschaffung der Todesstrafe nicht nur darüber disktuiert, die Todesstrafe wieder auf Bundesebene zu vollstrecken: Erst im Juli 2020 wurden zum ersten Mal seit 17 Jahren Todesurteile in den USA vollstreckt, die auf Bundesebene verhängt worden waren (vgl. https://www.amnesty.de/mitmachen/urgent-action/ weitere-drohende-hinrichtungen, zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). Zuvor hatte Justizminister William P. Barr im Juli 2019 die US-Gefängnisbehörde beauftragt, einen Zusatz zum sog. „Federal Excution Protocol“ anzufügen, um die Todesstrafe wieder auf Bundesebene vollstrecken zu können und erstmals seit 16 Jahren die Festlegung der Exekution von fünf Häftlingen auf Bundesebene angeordnet, gegen die bereits die Todesstrafe verhängt worden war, s. hierzu https://www.justice.gov/opa/pr/federal-government-resume-capital-punishment-afternearly-two-decade-lapse (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020); s. a. https://rsw.beck.de/aktuell/ meldung/usa-wollen-auf-bundesebene-wieder-todesstrafe-vollstrecken (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 9 OLG Köln, 30. 5. 2016 – 6 AuslA 134/15 – 102, vgl. Redaktion FD-StrafR, FD-StrafR 2016, 378754.

Gegenstand, Zielsetzung und Gang der Untersuchung

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zwischen Auslieferungspflichten und der Pflicht zur Wahrung und zum Schutz von Grund- und Menschenrechten aufgelöst werden können. Es soll eine Lösung gefunden werden, wie solche Normkonflikte in einem Auslieferungsverfahren mit Drittstaaten wie den USA so gelöst werden können, dass Grund- und Menschenrechten auch trotz daraus folgender politischer Spannungen zwischen den Staaten tatsächlich zur Wirksamkeit verholfen wird. Zu einer solchen Pflichtenkollision eines Staates kommt es regelmäßig, weil Straftaten vor Staatsgrenzen keinen Halt machen. Eine extraterritoriale Strafverfolgung ist heutzutage nicht nur aufgrund der globalen Mobilität des Einzelnen und damit auch der Delinquenten, sondern auch aufgrund der möglichen grenzüberschreitenden Kriminalität unabdingbar.10 Gerade weil ein Bedürfnis der Verfolgung von transnationaler Kriminalität und Auslandstaten besteht, wird die Strafgewalt auch auf Taten außerhalb des eigenen Territoriums erstreckt.11 Ohne die Unterstützung anderer Staaten wird eine Strafverfolgung oder -vollstreckung allerdings wesentlich erschwert oder gar unmöglich. Ein Staat ist daher zwingend auf die Mitwirkung eines anderen Staates angewiesen, wenn die Strafverfolgung und -vollstreckung auf dem eigenen Territorium nicht möglich ist, weil sich der Verfolgte in einem anderen Hoheitsgebiet aufhält.12 Grundlage der Hilfeleistung des ersuchten Staates gegenüber dem ersuchenden Staat durch die Auslieferung ist deshalb das Gebot internationaler Solidarität der Staaten bei der Verfolgung und Aburteilung von Straftaten bzw. bei der Vollstreckung von Strafen.13 Es steht im Interesse eines 10

Ambos / Gronke, in: Ambos / König / Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 3; Bassiouni, in: FS Triffterer, S. 715, 716 f.; Vogel / Burchard, in: Grützner / Pötz / K reß / Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 1. 11 Das völkerrechtliche Interventionsverbot schließt lediglich die Ausübung exekutiver und judikativer Staatsgewalt auf fremdem Staatsgebiet absolut aus, nicht jedoch die Ausübung legislativer Staatsgewalt. Gleichwohl erfordert die transnationale Erstreckung legislativer Staatsgewalt einen Anknüpfungspunkt, der sich aus dem berechtigten Strafverfolgungsinteresse herleiten lässt (so bspw. die Staatsangehörigkeit von Täter oder Opfer, s. z. B. § 7 StGB); s. hierzu statt vieler Ambos, in: MüKo zum StGB, Vor §§ 3 ff. StGB Rn. 12 ff.; Böse, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), StGB, Vor §§ 3 ff. StGB Rn. 12 ff.; Eser / Weißer, in: Schönke / Schröder (Hrsg.), StGB, Vor §§ 3 ff. StGB Rn. 11. 12 Ambos, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 18; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 54; Heimgartner, Auslieferungsrecht, S. 9; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 27; Weigend, JuS 40 (2000), 105; zur Entführung einer Person aus dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates s. Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 258 ff. 13 Capus, Strafrecht und Souveränität, S. 236; Vogel / Burchard, in: Grützner / Pötz / K reß / Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 114; Deiters, ZIS 2006, 472, 473 geht davon aus, dass der europäische Staatenverbund ohne zwischenstaatliche Solidarität nicht auskommt, folgert daraus aber nicht zwingend die Alternativlosigkeit des Europäischen Haftbefehls. Das Gebot internationaler Solidarität entwickelt sich immer mehr zu einem Strukturprinzip der Völkerrechtsordnung, s. von Arnauld, Völkerrecht, § 4 Rn. 303; Koroma, in: Hestermeyer / König / Matz-Lück / Röben / Seibert-Fohr / Stoll / Vöneky (Hrsg.), Coexistence, cooperation and solidarity, S. 103 ff.; Matz-Lück, in: Hestermeyer / König / Matz-Lück / Röben / ​ Seibert-Fohr / Stoll / Vöneky (Hrsg.), Coexistence, cooperation and solidarity, S. 141, 145 ff.; Wellens, in: Wolfrum / Kojima (Hrsg.), Solidarity: A Structural Principle of International Law, S. 3 ff.

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Gegenstand, Zielsetzung und Gang der Untersuchung

jeden zivilisierten Staates und seiner Bürger, dass Straftaten verfolgt werden und nicht unbestraft bleiben. Dementsprechend sollen Staaten einander Hilfe leisten, um zu verhindern, dass Straftäter sich der Strafverfolgung bzw. -vollstreckung durch Flucht und einen bloßen Wechsel des Aufenthaltsorts entziehen können.14 Die Auslieferung ist daher sowohl eine notwendige Konsequenz aus als auch eine Kompensation der territorialen Begrenzung staatlicher Hoheitsgewalt. Staaten gewähren sich deshalb traditionell Rechtshilfe in Strafsachen. Nationalstaatliche Grenzen sollen die Strafverfolgung und -vollstreckung nicht zu sehr beschränken. Insofern öffnen die Staaten gewissermaßen wechselseitig ihre staatliche Souveränität.15 Zur Bekämpfung von Straftaten auf transnationaler Ebene hat sich der Auslieferungsverkehr durch den vielfach erfolgenden Abschluss völkerrechtlicher Auslieferungsübereinkommen immer weiter verrechtlicht.16 Dies gilt nicht nur im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Europäischen Union (Art. 67 Abs. 1 AEUV), in dem der Europäische Haftbefehl die Auslieferung vereinfacht und beschleunigt und durch ein System der Übergabe zwischen den Justizbehörden ersetzt hat.17 Vielmehr werden auch vermehrt mit Drittstaaten Auslieferungsübereinkommen getroffen. Dies erfolgt einerseits zwischen den einzelnen Staaten. Rein bilaterale Auslieferungsübereinkommen Deutschlands gibt es generell nur noch noch im Verhältnis zu Australien, Kanada, Indien, Tunesien, Hongkong und den Vereinigten Staaten.18 Andererseits ist aber auch zwischen der Europäischen Union als solcher und den USA ein Auslieferungsabkommen abgeschlossen worden und in Kraft getreten.19 Der Auslieferungsverkehr mit den USA ist der erste und bislang einzige Auslieferungsverkehr mit einem Drittstaat20, bei dem die EU

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Baier, GA 2001, 427, 428; Vogel / Burchard, in: Grützner / Pötz / K reß / Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 114. 15 Böhm / Ahlbrecht, in: Ahlbrecht / Böhm / Esser / Eckelmanns, Internationales Strafrecht, Rn. 696; Capus, Strafrecht und Souveränität, S. 1. 16 Zur historischen Entwicklung der Rechtshilfe s. Capus, Strafrecht und Souveränität, S. 266 ff. 17 Zur Ersetzung des klassischen Auslieferungsverkehrs innerhalb der EU hat der Rat der Europäischen Union am 13. 6. 2002 den „Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten“ erlassen (2002/584/JI), ABl. L 190 v. 18. 7. 2002, S. 1 ff.; s. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa). 18 Vgl. Heger / Wolter, in: Ambos / König / Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 2. Hauptteil Rn. 596 ff.; vgl. zudem Lagodny, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 31 Rn. 8. 19 AuslAbk EU-USA, ABl. L 181 v. 19. 7. 2003, S. 27 ff. 20 Drittstaaten sind alle Staaten, die nicht Mitgliedstaaten der EU sind oder dem Europäischen Wirtschaftsraum angehören. Island und Norwegen, mit denen die EU am 27. 6. 2006 ein Abkommen über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Island und Norwegen (s. das Übereinkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über das Übergabeverfahren zwischen der Europäischen Union und Island und Norwegen, ABl. L 292 v. 21. 10. 2006, S. 1 ff.) abgeschlossen hat, sind daher keine Drittstaaten.

Gegenstand, Zielsetzung und Gang der Untersuchung

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selbst als Vertragspartnerin eines völkerrechtlichen Vertrages völkerrechtliche Vorgaben für die Mitgliedstaaten geschaffen hat. Von diesen völkervertraglich geregelten Auslieferungsbeziehungen ist der interessanteste und praktisch bedeutendste Auslieferungsverkehr Deutschlands mit einem Drittstaat der mit den Vereinigten Staaten von Amerika: Bei einem Blick in die Auslieferungsstatistik des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz offenbart sich, dass die USA der Drittstaat ist, von dem regelmäßig die meisten Ersuchen jährlich eingehen und dem daher die größte praktische Bedeutung zukommt: Denn während beispielsweise sowohl im Jahre 2018 als auch 2017 nur ein Auslieferungsersuchen zur Strafverfolgung seitens Indien und im Jahre 2017 zwei Auslieferungsersuchen zur Strafverfolgung seitens Tunesien und im Jahre 2016 keine neuen Auslieferungsersuchen seitens Australien, Kanada, Indien, Tunesien oder Hongkong eingegangen sind, ist dies bei den USA kontinuierlich anders: Im Jahre 2018 sind seitens der USA zwar nur sieben neue Auslieferungsersuchen zur Strafverfolgung eingegangen. Dies ist für die USA allerdings eine verhältnismäßig geringe Zahl: Im Jahre 2017 sind seitens der USA sogar fünfzehn neue Auslieferungsersuchen zur Strafverfolgung und zwei zur Strafvollstreckung, im Jahre 2016 immerhin elf neue Auslieferungsersuchen zur Strafverfolgung und im Jahre 2015 vierzehn Auslieferungsersuchen zur Strafverfolgung eingegangen.21 Die Beweggründe der Staaten für eine effektive und dementsprechend möglichst durchsetzungsfähige Auslieferung sind offensichtlich und von praktischen Motiven geleitet: Um Straftaten auch grenzüberschreitend verfolgen zu können, haben sich Staaten seit jeher zur Auslieferung verpflichtet, um im umgekehrten Fall eigene Strafverfolgungsinteressen gegenüber im Ausland befindlichen Personen mit Hilfe anderer Staaten durchsetzen zu können. Eine Auslieferung dient also seit jeher primär staatlichen Interessen. Doch bei einer Betrachtung der staatlichen Interessen und Beweggründe der Auslieferung kann eine Befassung mit dem Auslieferungsrecht nicht stehen bleiben: Grund- und Menschenrechte des Auszuliefernden sind im Auslieferungsverfahren, in dem der Betroffene in Auslieferungshaft genommen, gegebenenfalls überstellt und dann in einem anderen Staat gegen ihn Strafverfolgung bzw. Strafvollstreckung betrieben wird, offensichtlich stets tangiert. Die Bedeutung des Schutzes von Grund- und Menschenrechten gerade im Auslieferungsrecht zeigt sich insbesondere daran, dass ein Zugriff des ausliefernden Staates auf den Einzelnen nach dessen Auslieferung regelmäßig nicht mehr möglich ist. Werden Grund- und Menschenrechte unmittelbar durch Hoheitsträger des ersuchenden Staates verletzt, hat der ausliefernde Staat nach der Überstellung des Einzelnen praktisch keine Möglichkeit mehr, den Ausgelieferten zu schützen und Grund- und Menschenrechten zur Wirksamkeit zu verhelfen, solange die Justizbehörden des ersuchenden Staates sich hiergegen zur Wehr setzen. Damit wird der 21

S. die Auslieferungsstatistik des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/Statistiken/ Download/Gesamt_Auslieferung.html (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020).

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Gegenstand, Zielsetzung und Gang der Untersuchung

von der Auslieferung Betroffene gleichsam seinem Schicksal überlassen: Wie er behandelt wird, liegt nach der Auslieferung nicht mehr in der Hand des ausliefernden Staates. Tatsächlich kann der Einzelne aber – trotz gegebenenfalls bestehender Grund- und Menschenrechtsverpflichtungen des ersuchenden Staates nach erfolgter Auslieferung – Grund- und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sein. Ein solches Risiko ist vom ausliefernden Staat nach der Auslieferung weder sicher kalkulierbar noch kontrollierbar oder im Zweifel überhaupt nachträglich überprüfbar. Gleichwohl wurden die Individualrechte des Betroffenen lange Zeit grundsätzlich bewusst nicht berücksichtigt, was teilweise plakativ als eine „Objektivierung“ des Auszuliefernden kritisiert worden ist.22 Erst seit ungefähr 30 Jahren und damit seit verhältnismäßig kurzer Zeit wird die Rechtsstellung des Auszuliefernden als eigene „Dimension“ im Auslieferungsverfahren wahrgenommen und der Betroffene – zumindest teilweise – als Völkerrechtssubjekt eingeordnet,23 dessen eigene Rechte völkerrechtlich berücksichtigt werden müssen. In jüngerer Zeit kann sich der Auszuliefernde jedenfalls nicht über ein Defizit an wissenschaftlicher Beachtung beklagen: Beim Europäischen Haftbefehl und damit im Rahmen der Übergabe eines Auszuliefernden innerhalb Europas ist die Diskussion über eine grundund menschenrechtliche Grenze der Übergabe in jüngster Zeit verstärkt geführt worden.24 Der Fokus in der wissenschaftliche Debatte wird dabei regelmäßig auf den Übergabeverkehr innerhalb der EU gelegt.25 Und obwohl dem Auslieferungsverkehr von einem EU-Mitgliedstaat wie Deutschland an einen Drittstaat wie den USA auch generell eine große praktische Bedeutung zukommt, wird der Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten und der hier erforderliche Grund- und Menschenrechtsstandard in der Diskussion bislang eher stiefmütterlich behandelt. In diese Lücke stößt die vorliegende Untersuchung, indem sie nach den grund- und menschenrechtlichen Grenzen der Auslieferung im Verhältnis zu Drittstaaten sucht. Trotz der verstärkten staatlichen Bemühungen, das Auslieferungsrecht weltweit immer weiter fortzuentwickeln, zielen neue Normierungen in der Regel auf eine noch effektivere Strafverfolgung und die Achtung der Souveränität der Staaten: Sie lassen wegen dieser einseitigen Betrachtung der staatlichen Interessen die Rechte des Auszuliefernden jedoch oftmals weitgehend aus den Augen26  – und das, obwohl dieser durch die Auslieferung unübersehbar in seinen Freiheitsrechten betroffen ist. Diese Arbeit hat insofern das Ansinnen, die Freiheitsrechte des

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S. kritisch hierzu Schomburg, StV 18 (1998), 153; den Auszuliefernden noch ausdrücklich als „Objekt“ bezeichnend: Schröder, BayVbl. 1979, 231; Trechsel, EuGRZ 14 (1987), 69, 70. 23 S. Pieronczyk, AnwBl 2019, 362; zum sog. „dreidimensionalen Modell“ und der Völkerrechtssubjektitivät des Einzelnen s. Kapitel 2 D. II. 2. b) aa). 24 S. hierzu noch eingehend Kapitel 2 D. II. 3. d) aa). 25 S. bspw. Bachmaier, eucrim 2018, 56; Böhm, StraFo 2013, 177; Böse, HRRS 13 (2012), 19; Brodowski, HRRS 14 (2013), 54; Satzger, NStZ 2016, 514; Vennemann, ZaöRV 63 (2003), 103. 26 S. hierzu Dugard / van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187.

Gegenstand, Zielsetzung und Gang der Untersuchung

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Betroffenen bereits bei der Ausgestaltung von Auslieferungsverträgen verstärkt zu berücksichtigen. Denn ohne völkervertragliche Regelungen zum Schutz von Individualrechten bleibt den Justizbehörden des ersuchten Staates nur eine praktische Möglichkeit, Einfluss auf die Durchsetzung von Grund- und Menschenrechten zu nehmen: die Ablehnung der Auslieferung aufgrund von grund- und menschenrechtlichen Bedenken entgegen der völkervertraglichen Rechtslage. Ziel muss es jedoch sein, bereits durch den rechtlichen Rahmen völkervertraglicher Regelungen die richtige Balance zwischen effektiver Strafverfolgung und der Wahrung von Individualinteressen zu finden – und das nicht nur innerhalb Europas, sondern auch und gerade im Auslieferungsverfahren mit Drittstaaten wie insbesondere den USA, mit denen gerade keine Rechtsgemeinschaft besteht, wie dies innerhalb Europas der Fall ist. Um eine solche Balance herzustellen, muss ein Blick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen geworfen werden. Für die Frage, ob und in welchem Umfang die im konkreten Einzelfall tangierten Rechtskreise eine zwischenstaatliche Auslieferungspflicht und mögliche Abwehrrechte gegen eine Auslieferung für den Einzelnen vorsehen, ist zwischen der völkerrechtlichen und der innerstaatlichen Ebene zu unterscheiden. Eine Pflicht zur Auslieferung gegenüber den USA kann völkerrechtlich aufgrund völkerrechtlicher Verträge bestehen. Ist eine solche Pflicht wiederum bereits vertraglich durch explizite Grund- und Menschenrechtsvorbehalte eingeschränkt, besteht eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht nicht, wenn entsprechende grund- und menschenrechtliche Bedenken bestehen oder die Auslieferung zumindest in das Ermessen der Staaten gestellt ist. Besteht jedoch keine völkervertragliche Einschränkung und liegt keine Fakultativklausel im völkerrechtlichen Vertrag vor, ist eine zwischenstaatliche Pflicht zur Auslieferung gegeben. Von dieser völkerrechtlichen Sichtweise zu trennen ist jedoch die Frage, ob eine Pflicht zur Auslieferung oder überhaupt eine Berechtigung hierzu auch innerstaatlich vorliegt. Das ist wiederum abhängig von den Regelungen des IRG bzw. von der innerstaatlichen Umsetzung der völkerrechtlichen Auslieferungsverträge. Besteht eine grundsätzliche Pflicht zur Auslieferung, stellt sich das Problem, dass die Staaten zugleich jedoch auch an Grund- und Menschenrechte gebunden sind, die einer Auslieferung entgegenstehen können und das wiederum in völkerrechtlicher wie in innerstaatlicher Hinsicht: Ein Staat ist sowohl völkerrechtlich als auch innerstaatlich zur Wahrung von Grund- und Menschenrechten verpflichtet. Stehen völkerrechtliche Menschenrechte einer völkerrechtlichen Auslieferungspflicht entgegen, besteht eine Kollision auf völkerrechtlicher Ebene und damit im zwischenstaatlichen Verhältnis. Ihre Auflösung muss nach Möglichkeit auf der Ebene des Völkerrechts gesucht werden. Der um Auslieferung ersuchte Staat steht insofern vor dem Konflikt, dass er – ganz egal wie er sich entscheidet27 – 27 Van der Wilt, in: de Wet / Vidmar (Hrsg.), Hierarchy in International Law, S. 148 spricht insofern von einer „Catch-22“ situation; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 30 bestreitet die Existenz solcher Kollisionen, solche „Probleme“ seien vielmehr nach

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Gegenstand, Zielsetzung und Gang der Untersuchung

eine völkerrechtliche Pflicht verletzen wird: entweder die zur Wahrung und zum Schutz von Grund- und Menschenrechten oder eine bestehende völkerrechtliche Auslieferungspflicht. Jedenfalls würde eine Überstellung des Auszuliefernden bei einer drohenden Menschenrechtsverletzung im ersuchenden Staat dazu führen, dass der ausliefernde Staat zumindest mitursächlich für die Verletzung geworden ist, was im Hinblick auf den Menschenrechtsschutz problematisch wäre. Versagt der ersuchte Staat aber die Auslieferung, um eine Menschenrechtsverletzung zu vermeiden, so wäre damit zumindest das Risiko verbunden, dass der andere Staat in einem vergleichbaren umgekehrten Fall ebenfalls nicht ausliefern wird. Dadurch würde eine effektive Strafverfolgung und das eigene staatliche Interesse an Strafverfolgung und -vollstreckung erheblich beeinträchtigt. Schließlich kann ein Staat auch innerstaatlich unter bestimmten Voraussetzungen durch innerstaatliche Selbstbindungsakte zur Auslieferung verpflichtet sein. So ist beispielsweise das im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (RbEuHb) teilweise eingeräumte Ermessen in den nationalen Umsetzungsgesetzen auf Null reduziert worden bzw. es steht dem Gesetzgeber auch im vertraglichen Auslieferungsverkehr frei, ein in einem Auslieferungsvertrag eingeräumtes Ermessen in Form von Fakultativklauseln auf Null zu reduzieren.28 Ist er jedoch andererseits innerstaatlich wegen entgegenstehender Grundrechtsgewährleistungen nicht zur Überstellung berechtigt, weil entsprechende (Schutz-)Verpflichtungen sich aus der innerstaatlichen Rechts- bzw. Verfassungsordnung ergeben, bestehen auch auf nationaler Ebene Friktionen zwischen dem innerstaatlichen Müssen und dem innerstaatlichen Dürfen.29 Als Mitgliedstaat der EU ist Deutschland darüber hinaus an europäische Grundund Menschenrechte gebunden, welche wiederum Einfluss auf das nationale Recht haben. Aufgrund dieser verschiedenen Verpflichtungsebenen können sich im vertraglichen Auslieferungsverkehr mit den USA deshalb Kollisionsprobleme einerseits zwischen Völkerrecht und europäischem Recht und dem nationalen Recht manifestieren, andererseits aber auch zwischen einander widersprechenden völkerrechtlichen Verpflichtungen: Demzufolge drohen einerseits vertikale Friktionen zwischen den unterschiedlichen Rechtsordnungen des Völkerrechts, des Europarechts und des nationalen Rechts, andererseits aber auch horizontale Friktionen innerhalb derselben rechtlichen Ebene eben dieser Rechtsordnungen. den völkerrechtlichen Regeln der Normenkonkurrenz auflösbar; s. zudem Vogler, ZStW 105 (1993), 3, 7 ff. 28 So räumt Art. 5 Nr. 3 RbEuHb bspw. ein Ermessen des Vollstreckungsstaates dahingehend ein, dass bei Staatsbürgern des Vollstreckungsstaates die Vollstreckung der Übergabe von der Rücküberstellung des Betroffenen zur Strafvollstreckung an den Vollstreckungsstaat abhängig gemacht werden kann. § 80 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 IRG, der die Norm des RbEuHb umsetzt, normiert hingegen, dass die Übergabe ausschließlich dann zulässig ist, wenn eine Rücküberstellung eigener Staatsangehöriger zur Strafvollstreckung gesichert ist und verengt das Ermessen somit auf Null; s. a. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 27. 29 Zu dieser Terminologie s. Schomburg / Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Einleitung Rn. 72 ff.; s. zudem Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 27 ff.

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Gegenstand, Zielsetzung und Gang der Untersuchung

Eine Auflösung einer solchen Pflichtenkollision kann wiederum auf völkerrechtlicher oder auch innerstaatlicher Ebene gesucht werden.30 Aus der Trennung der völkerrechtlichen und der innerstaatlichen Rechtsbeziehung folgt, dass es zu Konflikten zwischen beiden Ebenen kommen kann: Die beiden Ebenen (völkerrechtlich und innerstaatlich) sind unabhängig voneinander zu beurteilen und müssen deshalb nicht kongruent sein.31 Dementsprechend kann Deutschland zwar im Einzelfall völkerrechtlich zur Auslieferung verpflichtet sein, völkerrechtlich und / oder innerstaatlich können jedoch andererseits Rechte des Betroffenen entgegenstehen. Die Frage, ob der ersuchte Staat gegenüber dem Betroffenen zur Auslieferung ermächtigt ist, ist unabhängig davon zu beantworten, ob gegenüber dem ersuchenden Staat eine zwischenstaatliche Auslieferungspflicht besteht. Hierdurch können insofern Kollisionen entstehen, als dass der ersuchte Staat gegenüber dem ersuchenden Staat zwar zur Auslieferung verpflichtet sein kann, während er gegenüber dem Betroffenen nicht zur Auslieferung berechtigt ist. Ebenso wie auf der völkerrechtlichen Ebene der völkerrechtlichen Pflicht Menschenrechte entgegenstehen können, können auch innerstaatlich Grundrechte oder in innerstaatliches Recht integrierte Grund- und Menschenrechte einer völkerrechtlichen oder auch einer innerstaatlichen Pflicht zur Auslieferung entgegenstehen. Zur Veranschaulichung der verschiedenen Rechtsebenen und des Zusammenspiels von Auslieferungspflichten und Grund- und Menschenrechtsschutz soll folgendes Schaubild dienen: Völkerrechtliche

Auslieferungspflicht?

Ebene

Kollision auf

MR-Schutz

völkerrechtlicher Ebene

Einwirkung

Nicht Europäische

unbedingt

Ebene

kongruent

Auflösung?

Nicht unbedingt

Auflösung?

kongruent

Einwirkung

Innerstaatliche Ebene

30

Auslieferungspflicht?

Kollision auf

GR- und

innerstaatlicher Ebene

MR-Schutz

S. hierzu Kapitel 1. und 2. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 31; Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 200 f. Eine Wechselwirkung besteht lediglich der Art, dass allgemeine Regeln des Völkerrechts gem. Art. 25 S. 1 GG Bestandteil des deutschen Bundesrechtes sind, s. hierzu Kapitel 2 B. I. 31

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Gegenstand, Zielsetzung und Gang der Untersuchung

Zu einer Kollision zwischen der Pflicht zur Wahrung von Grundrechtsgewährleistungen und den Auslieferungspflichten gegenüber dem um Auslieferung ersuchenden Staat kommt es im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA allerdings dann nicht, wenn in den für diesen Auslieferungsverkehr maßgeblichen Auslieferungsverträgen ein genereller grund- und menschenrechtlicher Vorbehalt vorgesehen ist. Sind die Voraussetzungen dieses Vorbehalts erfüllt, so ist auch keine völkervertragliche Auslieferungspflicht gegeben. Dementsprechend wird der Frage nachgegangen, ob die für den Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA maßgeblichen Auslieferungsverträge eine Grund- und Menschenrechtsklausel als Auslieferungshindernis enthalten32 und falls nicht, wie eine dann im Einzelfall bestehende Pflichtenkollision völkerrechtlich oder innerstaatlich so aufgelöst werden kann, dass eine vertretbare Balance zwischen den staatlichen Interessen und den Rechten des Einzelnen geschaffen wird.33 Oftmals wird zur Lösung dieses Problems der Ordre-Public-Vorbehalt ins Spiel gebracht: Eine Stärkung etwaiger im Auslieferungsverfahren zu beachtender Individualinteressen des Auszuliefernden könnte sich in einem die Individualinteressen des Einzelnen schützenden allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt als Auslieferungshindernis finden. Ein solcher Vorbehalt könnte einen angemessenen Ausweg aus dem dem Auslieferungsrecht inhärenten Kollisionsproblem zwischen völkerrechtlicher Auslieferungspflicht und den Individualinteressen des Auszuliefernden bieten – auf völkerrechtlicher und / oder auf innerstaatlicher Ebene. Im vertraglichen Rechtshilfeverkehr greifen vorrangig Regelungen in den vertraglichen Vereinbarungen (§ 1 Abs. 3 IRG),34 sodass zu untersuchen ist, ob im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA eine entsprechende Vorbehaltsklausel zu finden ist. Hierfür werden die Rechtsgrundlagen des Auslieferungsverkehrs mit den USA näher betrachtet und auf einen allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt hin untersucht. Sodann wird der Frage nachgegangen, ob Grund- und Menschenrechte auch dann als Ablehnungsgrund fungieren können, wenn ein entsprechender Vorbehalt nicht in den einschlägigen Übereinkommen im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA enthalten ist.35 Es ist zweifelhaft, inwieweit drohende Risiken einer Grund- und Menschenrechtsverletzung im ersuchenden Drittstaat dennoch eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht vollständig beseitigen können oder ihr zumindest angesichts innerstaatlicher Grundrechtsbindungen der über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörden effektiv entgegenstehen 32

S. hierzu Kapitel 1. S. hierzu Kapitel 2. 34 Ein mögliches Auslieferungshindernis insbesondere im vertragslosen Auslieferungsrecht stellt der nationale Ordre-Public-Vorbehalt dar, welcher für Deutschland (innerstaatlich) in § 73 S. 1 IRG geregelt ist. Hiernach ist eine Rechtshilfeleistung nach innerstaatlichem Recht unzulässig, „wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde“. 35 S. hierzu Kapitel 2. 33

Gegenstand, Zielsetzung und Gang der Untersuchung

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können. Fehlen grund- und menschenrechtliche Vorbehalte in den für den Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA maßgeblichen völkerrechtlichen Verträgen, drohen angesichts der dennoch bestehenden völkerrechtlichen und innerstaatlichen Verpflichtung zur Wahrung von Grund- und Menschenrechten Kollisionen zwischen den völkerrechtlichen Auslieferungspflichten und der völkerrechtlichen und innerstaatlichen Berechtigung zur Auslieferung. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Drittstaaten wie die USA offensichtlich einem anderen Grund- und Menschenrechtsstandard unterliegen als Deutschland als Mitgliedstaat der EU. Die Arbeit geht der Frage nach, ob im Rahmen der Auslieferung an die USA grund- und menschenrechtliche Grenzen einer Vollstreckung der Auslieferung entgegengesetzt werden können und falls ja, wie diese ausgestaltet sind. Gerade aufgrund des Auslieferungsabkommens der EU mit den USA wird zu untersuchen sein, ob auch europäische Werte in Form eines europäischen Grundrechtsvorbehalts im Auslieferungsverkehr mit den USA zum Tragen kommen und als Grenze der Vollstreckung einer Auslieferung dienen können. Es drängt sich der Verdacht auf, dass das Auslieferungsabkommen und seine innerstaatliche Umsetzung veraltet sind, da es vor dem Vertrag von Lissabon abgeschlossen worden ist und die EU zu dieser Zeit noch nicht an die GrCh gebunden war. Von diesem Ansatzpunkt ausgehend wird ferner untersucht, ob allgemeine Grundsätze für Drittstaaten entwickelt werden können und müssen, die unionsweit bei Auslieferungen eines Mitgliedstaates der EU an einen Drittstaat Anwendung finden, da es den innerstaatlichen mitgliedstaatlichen Justizbehörden ansonsten nicht möglich wäre, ihre Auslieferungsentscheidung im Einklang mit dem nationalen Recht und dem Unionsrecht zu treffen.

Kapitel 1

Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit den USA? Die einer Auslieferung folgende Behandlung des strafrechtlichen Verfolgten im ersuchenden Staat kann entweder generell oder im konkreten Fall gegen einen bestimmten Grund- und Menschenrechtsstandard verstoßen. In Betracht kommen insoweit universal, regional oder national unverzichtbare grund- und menschenrechtliche Bestimmungen, die entweder bereits im völkerrechtlichen Auslieferungsvertrag mit den USA als Grenze der Auslieferung in Form eines Ablehnungsgrundes geregelt sein können oder eventuell unabhängig von einer völkervertraglichen Regelung Wirkung entfalten. Greift ein völkervertraglich ausdrücklich vorgesehener Grundrechtsvorbehalt im Einzelfall ein, so steht dies einer völkerrechtlichen Auslieferungspflicht entgegen. Deshalb kommt es dann gar nicht mehr auf die Frage an, ob ein solcher auch bei Fehlen einer völkervertraglichen Regelung der Auslieferung Grenzen setzen kann. Wegen dieses Vorrangs völkervertraglicher Grund- und Menschenrechtsvorbehalte sind zunächst bestehende Auslieferungsverträge mit den USA auf die Existenz von Auslieferungspflichten und Grundrechtsvorbehalten hin zu untersuchen.1 Besteht im vertraglichen Auslieferungsverkehr eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Auslieferung aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages und seiner innerstaatlichen Umsetzung, kommt es insofern nicht zu Brüchen mit dem innerstaatlichen Recht, als dass § 1 Abs. 3 IRG ausdrücklich bestimmt, dass Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen den Vorschriften des IRG vorgehen, soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind.2 Dann kann die über die Auslieferung innerstaatlich entscheidende Justizbehörde im Einklang mit dem Völkerrecht einen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt gegen eine Auslieferung vorbringen und die Auslieferung völkerrechtskonform ablehnen. Greifen hingegen keine vorrangigen völkervertraglich geregelten Grundrechtsvorbehalte ein, können sich Auslieferungshindernisse im Hinblick auf den Individualrechtsschutz des Einzelnen möglicherweise aus sonstigen völkerrechtlichen, unionsrechtlichen oder innerstaatlichen Rechtsgrundsätzen ergeben.3 Denn unabhängig von der Existenz einer völkervertraglichen Auslieferungspflicht ist 1

S. Kapitel 1 B. Aufgrund der Gemengelage an bi- und multilateralen Auslieferungsverträgen kommt das IRG fast ausschließlich subsidiär zur Anwendung. 3 S. Kapitel 2. 2

A. Auslieferungspflicht im vertraglichen Auslieferungsverkehr  

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Deutschland sowohl völkerrechtlich, als auch unionsrechtlich und innerstaatlich an Grund- und Menschenrechte gebunden. Dann kann der Fall eintreten, dass die völkerrechtliche Rechtslage im Hinblick auf staatliche Auslieferungsverpflichtungen einerseits und die individualrechtliche völkerrechtliche, unionsrechtliche oder nationale Menschenrechtsrechtslage andererseits auseinanderfallen. Die Bindung an Grund- und Menschenrechte könnte insbesondere sogar zu einer Verpflichtung für nationale über die Auslieferung entscheidende Justizbehörden führen, bei drohenden Grund- und Menschenrechtsverletzungen eine etwaige zwischenstaatliche Auslieferungspflicht nicht zu erfüllen.

A. Auslieferungspflicht im vertraglichen Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA I. Der rechtliche Rahmen: Der Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA Mangels einer gewohnheitsrechtlichen oder allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungspflicht4 vollzieht sich der Auslieferungsverkehr mit den USA aufgrund völkerrechtlicher Verträge, die vorbehaltlich der Erfüllung vertraglich geregelter Voraussetzungen und dem Nichteingreifen von Ablehnungsgründen eine grundsätzliche Auslieferungspflicht statuieren.5 Da ohne eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht die Auslieferung aus jeglichen Gründen abgelehnt werden kann, sodass auch grund- und menschenrechtliche Interessen eine umfassende Berücksichtigung finden können, sind im Folgenden die maßgeblichen völkerrechtlichen Auslieferungsverträge im Verhältnis zu den USA herauszufiltern und die Voraussetzungen der Auslieferung an die USA anhand dieser Verträge zu ermitteln. 1. Die völkerrechtlichen Auslieferungsverträge D / USA und EU / USA Der Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA ist von einer parallelen Anwendbarkeit bi- und multilateraler Verträge gekennzeichnet: Er richtet sich sowohl nach dem bilateralen Auslieferungsvertrag zwischen Deutschland 4

S. hierzu Kimminich, JZ 35 (1980), 174, 175; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 16 Rn. 37; Riegel  / ​ Schierholt, in: Schomburg / Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Vor § 2 Rn. 2; Schomburg / L agodny / Schallmoser, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 13 Rn. 34; Vogel / Burchard, in: Grützner / Pötz / K reß / Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 22; zum Streit um etwaige völkergewohnheitsrechtliche Rechtshilfepflichten im vertragslosen Rechtshilfeverkehr s. Vogel / Burchard, in: Grützner / Pötz / K reß / Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 119. 5 Art. 1 AuslV D-USA regelt eine allgemeine völkerrechtliche Auslieferungspflicht zwischen Deutschland und den USA nach Maßgabe der Vorschriften und Bedingungen des Vertrages.

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

und den USA vom 20. 6. 19786 (AuslV D-USA) in Verbindung mit dem Zusatzvertrag vom 21. 10. 19867 und dem Zweiten Zusatzvertrag vom 18. 4. 20068 als auch nach dem Abkommen zwischen der Europäischen Union selbst und den USA vom 25. 6. 20039 (AuslAbk EU-USA). Die Grundlage des heutigen Auslieferungsverkehrs mit den USA ist für Deutschland durch den Abschluss des AuslV D-USA im Jahre 1978 und durch dessen Modifikation durch den Zusatzvertrag von 1986 und damit durch bilaterale Auslieferungsverträge geschaffen worden. Bei Auslieferungsverträgen vollzieht sich der Abschluss des völkerrechtlichen Vertrages Deutschlands im sog. zusammengesetzten Verfahren.10 Für eine innerstaatliche Wirksamkeit des Völkerrechts bedarf es stets eines innerstaatlichen Aktes.11 Innerstaatlich ist gem. Art. 59 Abs. 2 GG ein Zustimmungsverfahren erforderlich, welches in das völkerrechtliche Verfahren auf Abschluss des völkerrechtlichen Vertrages integriert wird.12 Damit ist in Deutschland verfassungsrechtlich ein Zustimmungsverfahren erforderlich, das dafür sorgt, dass die völkerrechtliche Verträge abschließende Regierung einer innerstaatlichen demokratischen Kontrolle unterworfen wird.13 Neben den bilateralen Verträgen Deutschlands mit den USA ist zudem das ­ uslAbk EU-USA für Auslieferungen an die USA maßgeblich, dem eine besonA dere Bedeutung zukommt: Die EU ist durch den Abschluss des AuslAbk EU-USA

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BGBl. 1980 II, S. 646, 1300; in Kraft getreten am 29. 8. 1980. BGBl. 1988 II, S. 1087; BGBl. II 1993 II, S. 846; in Kraft getreten am 11. 3. 1993. 8 BGBl. 2007 II, S. 1634; BGBl. II 2010, S. 829 f.; in Kraft getreten am 1. 2. 2010 (zusammen mit dem AuslAbk EU-USA; s. Art. 8 Abs. 3 2. ZusV AuslV D-USA; s. hierzu Dokument des Rates der EU, 13341/11, S. 1). 9 ABl. L 181 v. 19. 7. 2003, S. 27 ff. 10 Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 10. Nur Verträge mit geringer Bedeutung werden dagegen im sog. einphasigen Verfahren abgeschlossen, s. hierzu von Arnauld, Völkerrecht, § 3 Rn. 200. 11 Vgl. nur den „Solange-II“-Beschluss des BVerfG v. 22. 10. 1986, BVerfGE 73, 339, 375 (Solange II). Dies gilt unabhängig davon, ob es sich dabei um einen bloßen Rechtsanwendungsbefehl handelt, sodass das Völkerrecht unmittelbar im Inland aufgrund eines innerstaatlichen Umsetzungsaktes anwendbar ist (sog. Vollzugslehre, so bspw. Schmahl, JuS 53 (2013), 961, 965) oder um eine Transformation des Völkerrechts der Art, dass das Völkerrecht in inhaltsgleiches inländisches Recht umgewandelt wird (sog. Transformationslehre, so wohl bspw. Holterhus / ​Mittwoch / ​El-Ghazi, JuS 58 (2018), 313, 314 f.); s. hierzu Becker, NVwZ 2005, 289 f.; Pieper, in: Epping / ​Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 59 GG Rn. 41; Will, JURA 2015, 1164, 1167. Was von beidem vorliegt wird vom GG nicht entschieden und ist in der Regel auch unerheblich, s. Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 168; s. zudem Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 7. 12 Von Arnauld, Völkerrecht, § 3 Rn. 202 f., § 7 Rn. 510 ff.; Schweitzer / ​Dederer, Staatsrecht III, Rn. 389 ff.; Will, JURA 2015, 1164, 1168. Da das Auslieferungsrecht in die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nach Art. 73 Nr. 3 GG fällt, sind Auslieferungsverträge Verträge i. S. d. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG. 13 Schmahl, JuS 53 (2013), 961, 964; Schweitzer / ​Dederer, Staatsrecht III, Rn. 369; Will, JURA 2015, 1164, 1171. 7

A. Auslieferungspflicht im vertraglichen Auslieferungsverkehr  

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als solche (vgl. Art. 2 Abs. 1 AuslAbk EU-USA) erstmalig14 ein strafrechtliches Übereinkommen mit einem Drittstaat eingegangen, das die existierenden bilateralen völkerrechtlichen Verträge der Mitgliedstaaten15 mit den Vereinigten Staaten ergänzen, wenngleich nicht ersetzen sollen.16 Die Europäische Union kann im Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (damalige 3. Säule)17 seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam vom 2. 10. 199718 international handeln und ist selber Vertragspartner des AuslAbk EUUSA geworden.19 Am 25. 6. 2003 hat die Union ein Auslieferungsabkommen mit den USA unterzeichnet, um den bilateralen Auslieferungsverkehr zwischen den Migliedstaaten der EU und den USA zu vereinheitlichen und zu verbessern20 und insbesondere, um „die grenzüberschreitende Kriminalität und den Terrorismus effizienter bekämpfen zu können.“21 Das Abkommen ist erst am 1. 2. 2010 in Kraft 14

Das AuslAbk EU-USA ist nicht mehr das einzige völkerrechtliche Abkommen, das die EU als solche im Bereich der strafrechtlichen Zusammenarbeit mit anderen Staaten eingegangen ist: Mittlerweile hat sie auch ein Rechtshilfeabkommen mit Japan abgeschlossen (ABl. L 39 v. 12. 2. 2010, S. 20 ff.). 15 In Deutschland handelte es sich bis dato um den AuslV D-USA i. V. m. dem 1. Zusatz­ vertrag. 16 Ratsdokument 8024/11, S. 5; Ambos, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 13; KaiafaGbandi, KritV 87 (2004), 3, 15; Mitsilegas, EuFAR 8 (2003), 515, 526; Mitsilegas, ­EuFAR 12 (2007), 457, 476; Propp, ASIL 43 (2004), 747; Rackow / ​Birr, GoJIL 2 (2010), 1087, 1124; Raphael, ERA Forum 11 (2010), 545, 569; Schröder / ​Stiegel, in: Sieber / ​Satzger / ​von ­Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 35 Rn. 7. Das Verhältnis zwischen den einzelnen Vorschriften des AuslAbk EU-USA und des AuslV D-USA wird im Einzelnen in Art. 3 ­AuslAbk EU-USA festgelegt. 17 Zur ehemaligen Drei-Säulen-Struktur der EU s. statt vieler Haratsch / ​Koenig / ​Pechstein, Europarecht, Rn. 54 ff.; Safferling, Internationales Strafrecht, § 9 Rn. 34 ff.; zur Dritten Säule vgl. insbes. Böse, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 1 Rn. 9; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 79; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 6. 18 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, ABl. C 340 v. 10. 11. 1997, S. 1 ff. Der Vertrag von Amsterdam ist am 1. 5. 1999 in Kraft gereten, BGBl. 1999 II, S. 296. 19 Das damalige Primärrecht – zur Zeit des Abschlusses des Vertrages der EU mit den USA handelte es sich dabei um die Nizza-Fassung – regelte explizit die Kompetenz der Union zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge mit Drittstaaten auch bzgl. des Titels VI (Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen): Art. 38, 24 EUV a. F. (Nizza-Fassung); s. hierzu eingehend Mitsilegas, EuFAR 12 (2007), 457, 469 ff.; Propp, ASIL 43 (2004), 747, 748; Thym, ZaöRV 66 (2006), 863, 889 ff.; s. a. und insbesondere zum Abschluss des AuslAbk EU-USA Brodowski, NJECL 2 (2011), 21, 29 ff.; zu den Verhandlungen zum AuslAbk EU-USA, die bis Mai 2003 geheim gehalten wurden, s. Mitsilegas, EuFAR 8 (2003), 515, 523 ff.; Spinellis, in: FS Eser, S. 873 ff.; Wouters / ​Naert, Working Paper No. 56, S. 19; s. zudem das Handbuch zur praktischen Anwendung des AuslAbk EU-USA v. 25. 3. 2011, 8024/11, S. 1 ff. (Dokument des Rates der EU); zur heutigen Kompetenz zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge mit Drittstaaten s. Kapitel 3 A. II. 1. 20 So war der zuvor im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA maßgebliche AuslV D-USA i. V. m. dem 1. ZusV aus den 1970ern bzw. 1980ern und daher schon älter. 21 Vgl. Erwägungsgrund 2 des Beschlusses 516/2003/EG des Rates vom 6. 6. 2003 über die Unterzeichnung der Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

getreten.22 Das AuslAbk EU-USA ist als Ausdruck der Solidarität der EU-Mitgliedstaaten gegenüber den USA unter dem Eindruck des Terroranschlags vom 11. 9. 2001 zu werten.23 Hierdurch werden den USA die Strafverfolgung und -vollstreckung von gegen amerikanische Rechtsgüter gerichteteten Taten erleichtert. Die Regelungen des AuslAbk EU-USA bedurften aufgrund des Vertragsschlusses vor dem Vertrag von Lissabon24 der weiteren Umsetzung durch die einzelnen Mitgliedstaaten der EU, welche ihre jeweiligen bilateralen Verträge an das als Rahmenvertrag dienende und als solches Mindeststandards setzende AuslAbk EU-USA anzupassen hatten.25 Deutschland ist dieser Verpflichtung durch den Zweiten Zusatzvertrag vom 18. 4. 200626 nachgekommen,27 indem der bisherige bilaterale Vertrag (AuslV D-USA i. V. m. dem Zusatzvertrag) an die Regelungen im AuslAbk EU-USA angeglichen worden ist und im Widerspruch zum AuslAbk EU-USA stehende Normen des bilateralen Vertrages geändert worden sind.28 Für den Fall, dass sich die bilateralen Auslieferungsverträge zwischen Deutschland und den USA und das AuslAbk EU-USA widersprechen, soll das AuslAbk EUUSA vorgehen.29 Insofern ist das AuslAbk EU-USA als eine Art Rahmenvertrag

von Amerika über Auslieferung und Rechtshilfe in Strafsachen (ABl. L 181 v. 19. 7. 2003, S. 25). In Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses wird der Präsident des Rates ermächtigt, die Person zu bestellen, welche autorisiert ist, im Namen der EU den Vertrag zu unterzeichnen. 22 S. Art. 22 Abs. 1 AuslAbk EU-USA; Dokument des Rates der EU, 13341/11, S. 1; Rats­ dokument 8024/11, S. 6.; s. hierzu Brodowski, NJECL 2 (2011), 21, 24 f.; Spinellis, in: FS Eser, S. 873. Das Ratifikationsverfahren hat sich in die Länge gezogen, da gem. Art. 24 Abs. 5 EUV (Nizza-Fassung) die Vertreter der Mitgliedstaaten der EU Zustimmungsvorbehalte im Rat erklären konnten und dies bezüglich des AuslAbk EU-USA auch überwiegend getan haben – hieraus folgte auch unionsrechtlich ein zweistufiges Ratifikationsverfahren bzgl. des AuslAbk EU-USA: Die unionsinterne Genehmigung des Abkommens war von der nationalen Zustimmung aller Mitgliedstaaten der EU abhängig, s. hierzu eingehend Thym, ZaöRV 66 (2006), 863, 891; s. zudem Kaiafa-Gbandi, KritV 87 (2004), 3, 15; Wouters / ​Naert, Working Paper No. 56, S. 19 f. 23 BT-Drs. 16/4377, 70; Capus, Strafrecht und Souveränität, S. 236 Fn. 96; Mitsilegas, EuFAR 12 (2007), 457, 471; Propp, ASIL 43 (2004), 747; Spinellis, in: FS Eser, S. 873. 24 Seit dem Vertrag von Lissabon besteht hingegen die Rechtslage, dass ein von der Union abgeschlossenes Abkommen mit einem Drittstaat auch ohne Ratifikation durch die einzelnen Mitgliedstaaten der EU mit Abschluss des Ratifikationsverfahrens nach Art. 218 AEUV sowohl für alle Organe der Union als auch für die Mitgliedstaaten anwendbar ist, Art. 216 Abs. 2 AEUV, s. Kapitel 3 A. II. 2.; s. zudem Trautmann, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, III B 3 d Rn. 1. 25 Gem. Art. 3 Abs. 2 lit. a des AuslAbk EU-USA trägt die EU dafür Sorge, dass jeder Mitgliedstaat anerkennt, dass der jeweilige bilaterale Auslieferungsvertrag mit den USA in der in Art. 3 AuslAbk EU-USA vorgegebenen Weise zur Anwendung gelangt; zur internen Anwendung der Verträge s. Kapitel 1 A. I. 2. 26 BGBl. 2007 II, S. 1618, 1634. 27 BT-Drs. 16/4377, 62, 70; s. hierzu Rackow / ​Birr, GoJIL 2 (2010), 1087, 1124; Riegel / ​Trautmann, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, V A c Rn. 2. 28 Drucksache 16/4377, S. 70. 29 Art. 3 Abs. 2 a AuslAbk EU-USA; s. a. BT-Drs. 16/4377, 62, 70; s. hierzu Docke / ​Momsen, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 2. Hauptteil Rn. 731.

A. Auslieferungspflicht im vertraglichen Auslieferungsverkehr  

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für den Auslieferungsverkehr Deutschlands als EU-Mitgliedstaat mit den USA anzusehen, welcher verbindliche Standards für alle Mitgliedstaaten der EU setzt. Völkerrechtlich stehen im Auslieferungsverkehr Deutschlands mit den USA damit zwei Instrumente nebeneinander – das multilaterale AuslAbk EU-USA und der modifizierte bilaterale AuslV D-USA in Form des ZusV und des 2. ZusV, wovon letzterer die bilateralen Regelungen an das multilaterale Vertragswerk angleicht. Beide völkerrechtlichen Vertragswerke nehmen inhaltlich Bezug aufeinander30 und sind daher stets im Zusammenhang zu betrachten.31 2. Innerstaatliche Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Auslieferungsverträge mit den USA In Kraft getretene völkerrechtliche Übereinkommen können zwar grundsätzlich zwischenstaatliche Auslieferungspflichten begründen, wenn und weil im konkreten Fall die Voraussetzungen des einschlägigen Vertrages gegeben sind. Sie sind aber erst nach einer innerstaatlichen Umsetzung dieser Verträge unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht und berechtigen und verpflichten auch nationale Behörden und damit auch die über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörden. Der Auslieferungsvertrag mit den USA in Form der zwei Zusatzverträge und das AuslAbk EU-USA müssen daher auch unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sein, um von den über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörden Berücksichtigung zu finden. Erst dann haben die dort geregelten Voraussetzungen und Hindernisse der Auslieferung gem. § 1 Abs. 3 IRG Vorrang vor den Regelungen des IRG.32 Eine Auslieferungspflicht aus einem Auslieferungsvertrag liegt dann vor, wenn diese völkervertraglich obligatorisch geregelt ist und es sich um keine völkerrechtliche Fakultativklausel handelt, die die Auslieferung in das Ermessen des ersuchten Staates stellt.33 Denn dem Vertragsinhalt eines völkerrechtlichen Vertrages kann nur insgesamt (und damit auch inklusive der Auslieferungsverpflichtungen) zugestimmt werden.34 Da die Zustimmungsgesetze zu dem AuslV D-USA und den zwei Zusatzverträ­ gen35 in Kraft getreten sind, liegt der erforderliche innerstaatliche Akt vor und die 30

Hierzu näher Kapitel 1 A. I. 1. Drucks. 16/4377, S. 62, 70; Jacoby, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, II V 10 Rn. 4; vgl. insbes. auch Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. AuslV D-USA. 32 Zu den Folgen einer völkerrechtlichen Verpflichtung trotz Fehlens des Zustimmungsgesetzes s. Kempen, in: Voßkuhle / ​Starck / ​K lein / ​Huber / ​Brenner / ​Classen / ​Danwitz / ​Mangoldt (Hrsg.), GG, Art. 59 Abs. 2 Rn. 96 f. 33 Riegel, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 1 Rn. 38; Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 45 f. 34 Schweitzer / ​Dederer, Staatsrecht III, Rn. 401; s. a. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 27; Will, JURA 2015, 1164, 1171. 35 BGBl. 1980 II, S. 646; BGBl. 1988 II, S. 1086; BGBl. 2007 II, S. 1618. 31

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

benannten völkerrechtlichen Auslieferungsverträge Deutschlands mit den USA sind innerstaatlich anwendbar. Auch in Bezug auf das AuslAbk EU-USA hat innerstaatlich ein reguläres nationales Zustimmungsverfahren für völkerrechtliche Verträge entsprechend Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG stattgefunden, das dem AuslAbk EU-USA den Status eines völkerrechtlichen Vertrages des Mitgliedstaates Deutschlands verschafft hat.36 Mit Gesetz vom 26. 10. 2007 hat Deutschland der Bindung an das AuslAbk EU-USA zugestimmt,37 sodass das Abkommen innerstaatlich unmittelbar anwendbar ist. Damit sind die parallel anwendbaren bi- und multilateralen Verträge (AuslV ­ -USA i. V. m. den zwei Zusatzverträgen und das AuslAbk EU-USA) innerD staatlich unmittelbar anwendbares Recht und gehen gem. § 1 Abs. 3 IRG den Bestimmungen des IRG vor. Insofern liegt auch innerstaatlich eine grundsätzliche Auslieferungspflicht Deutschlands gegenüber den USA vor, wenn und soweit die Voraussetzungen gegeben sind und insbesondere keine Ablehnungsgründe nach diesen Verträgen vorliegen. Der AuslV D-USA mit seinen zwei Zusatzverträgen und das AuslAbk EU-USA sind damit für die im Auslieferungsverfahren zuständigen Justiz­behörden unmittelbar anwendbar und bei der Prüfung der Auslieferungsvoraussetzungen zu beachten. Dabei gelten die völkerrechtlichen Verträge innerstaatlich als einfachgesetzliches Recht, da sie im Rang des Zustimmungsgesetzes stehen.38

II. Überblick über die Auslieferungsvoraussetzungen in den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen mit den USA Ob überhaupt eine Auslieferungspflicht gegenüber einem Drittstaat wie den USA besteht, sodass es zu einer Pflichtenkollision zwischen Grund- und Menschenrechten und Auslieferungspflichten kommen kann, richtet sich nach den Positiv- und Negativvoraussetzungen der Auslieferung. Diese sind deshalb auch bei einem Auslieferungsersuchen seitens der USA an Deutschland von der zuständigen über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörde zu prüfen. Jede Auslieferung setzt voraus,39 dass die materiellen Voraussetzungen der Auslieferung vorliegen und keine Auslieferungshindernisse eingreifen. Ein erster Anknüpfungspunkt für einen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit den USA könnten daher die sich aus den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen er-

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Thym, ZaöRV 66 (2006), 863, 907. BGBl. II 2007, S. 1618; s. auch Drucks. 10/07, S. 1 f. 38 S. statt vieler Becker, NVwZ 2005, 289, 290; Pieper, in: Epping / ​Hillgruber (Hrsg.), ­­BeckOK GG, Art. 59 GG Rn. 41; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 168. 39 Dies gilt sowohl für das Zulässigkeits- als auch für das Bewilligungsverfahren, s. hierzu näher Kapitel 3 B. I. 1. 37

A. Auslieferungspflicht im vertraglichen Auslieferungsverkehr  

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gebenden Voraussetzungen der Auslieferung sein, die deshalb im Folgenden zunächst zu ermitteln sind. Soweit sich die positiven und die negativen Kriterien bereits in den für den Auslieferungsverkehr mit den USA geltenden völkerrechtlichen Verträgen finden, bietet sich kein Konfliktpotenzial der völkerrechtlichen mit der innerstaatlichen Pflichtenlage, da das deutsche Zustimmungsgesetz dem Vertragsinhalt nur insgesamt zustimmen kann.40 Die Auslieferungsvoraussetzungen, welche die für die Auslieferung zuständige Justizbehörde zu prüfen hat, richten sich daher zunächst nach den Regelungen in den innerstaatlich unmittelbar anwendbaren bi- und multilateralen völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen mit den USA. Diese sind daher auf positive und negative Auslieferungsvoraussetzungen hin zu untersuchen. 1. Positive Auslieferungsvoraussetzungen Positive Voraussetzung für eine Auslieferung an die USA ist gem. Art. 2 Abs. 1 AuslV D-USA und Art. 4 Abs. 1 AuslAbk EU-USA, dass die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Straftat sowohl in den USA als auch in Deutschland strafbar und noch verfolgbar ist (sog. Prinzip beiderseitiger Strafbarkeit).41 Außerdem muss gem. Art. 4 Abs. 1 AuslAbk EU-USA und Art. 2 Abs. 2, 3 AuslV D-USA im konkreten Fall eine Mindeststrafbarkeit in beiden Staaten vorliegen: Nach Art. 4 Abs. 1 AuslAbk EU-USA und Art. 2 Abs. 2, 3 AuslV D-USA muss die Auslieferung zur Strafverfolgung aufgrund einer Straftat erfolgen, die sowohl in den USA als auch in Deutschland mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens einem Jahr oder einer strengeren Strafe bedroht ist bzw. bei einem Ersuchen zur Strafvollstreckung wegen einer auslieferungsfähigen Straftat muss eine verbleibende Strafe von mindestens vier Monaten vorliegen. Klassischerweise ist eine positive Voraussetzung der Auslieferung, dass beide Staaten wechselseitig zur Auslieferung verpflichtet sind (sog. Prinzip der Gegenseitigkeit),42 was sich im vertraglichen Auslieferungsverkehr mit den USA aus der wechselseitigen vertraglichen Auslieferungsverpflichtung gem. Art. 1 AuslAbk EU-USA und Art. 1

40 Schweitzer / ​Dederer, Staatsrecht III, Rn. 401; s. a. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 27; Will, JURA 2015, 1164, 1171; zu den Grenzen einer innerstaatlichen Verpflichtung durch die Auslegung des Zustimmungsgesetzes s. Kapitel 2 D. II. 1. 41 S. hierzu generell Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 25, 102; eingehend Schomburg / ​L agodny, NJW 2012, 348 ff.; Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Einleitung Rn. 64. Voraussetzung für die beiderseitige Strafbarkeit ist zudem, dass noch keine Verjährung eingetreten ist, Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 9 AuslV D-USA. Im Rahmen der Übergabe beim Europäischen Haft­ befehl findet der Grundsatz beiderseitiger Strafbarkeit bei 32 Katalogtaten eine Einschränkung, Art. 2 Abs. 2 RbEuHb; s. hierzu Kapiel 2 D. II. 3. d) aa); s. zudem Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, S. 82 f. 42 Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 24, 101.

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

Abs. 1 AuslV D-USA ergibt. Voraussetzung der Auslieferung an die USA ist gem. Art. 22 AuslV D-USA weiterhin, dass eine Strafverfolgung bzw. -vollstreckung lediglich wegen der im Auslieferungsersuchen ausgewiesenen und bewilligten Unterstützung stattfindet (sog. Grundsatz der Spezialität).43 2. Negative Auslieferungsvoraussetzungen: Nichteingreifen von Ablehnungsgründen Liegen die positiven Auslieferungsvoraussetzungen vor, ist dem Auslieferungsersuchen der USA stattzugeben, sofern nicht im Einzelfall besondere Gründe gegen eine Auslieferung sprechen (sog. negative Voraussetzungen der Auslieferung oder auch: Auslieferungshindernisse/-verweigerungsgründe).44 Eine grundsätzliche Auslieferungspflicht ist damit ihrerseits durch Ablehnungsgründe eingeschränkt. Als Ablehnungsgrund des ersuchten Staates kommt insbesondere in Betracht, dass im ersuchenden Staat generell ein gewisser Grund- und Menschenrechtsstandard nicht erreicht wird bzw. im Einzelfall zu erwarten ist, dass die der Auslieferung folgende Behandlung gegen einen solchen verstoßen wird. Ein Grund- und Menschenrechtsvorbehalt kann sowohl in den bilateralen Verträgen als auch in dem multilateralen Vertragswerk geregelt sein: Da der bilaterale Vertrag neben dem AuslAbk EU-USA gilt und die beiden Vertragswerke stets im Zusammenhang betrachtet werden müssen,45 lassen sich Ablehnungsgründe im Auslieferungsverkehr mit den USA nicht nur dem AuslAbk EU-USA, sondern insbesondere auch dem bilateralen AuslV D-USA i. V. m. den zwei Zusatzverträgen entnehmen. Ausgangspunkt der Ermittlung von völkervertraglichen Ablehnungsgründen im Auslieferungsverkehr mit den USA ist hier zunächst das AuslAbk EUUSA, da die bilateralen Verträge zwischen Deutschland und den USA an dieses angepasst worden sind46 und diesem daher jedenfalls nicht widersprechen.

43 Zum Grundsatz der Spezialität s. Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 58 ff. Aufgrund der völkervertraglichen Regelung des Grundsatzes der Spezialität im Verhältnis Deutschlands zu den USA bedarf es hier keiner Entscheidung der Frage, ob dieser Grundsatz völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist (so BVerfGE 57, 9, 27 f.; BVerfG, 24. 3. 2016  – 2 BvR 175/16 = NStZ 2017, 43, 45 f.; BVerfG, 8. 6. 2010 – 2 BvR 432/07 = NJW 2011, 591, 592 Rn. 28; Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 28) oder nicht (so Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 59). 44 Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, S. 83. 45 S. Kapitel 1 A. I. 1. 46 S. Kapitel 1 A. I. 1.

A. Auslieferungspflicht im vertraglichen Auslieferungsverkehr  

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a) Ablehnungsgründe aus dem multilateralen AuslAbk EU-USA Als einzig ausdrücklich geregelten Ablehnungsgrund regelt das AuslAbk EUUSA in Art. 13 S. 3 AuslAbk EU-USA die Todesstrafe, sofern der um Auslieferung ersuchende Staat47 nicht auf die Verhängung oder zumindest auf die Vollstreckung der Todesstrafe verzichtet.48 Dem entspricht Art. 12 des bilateralen AuslV D-USA, der durch Art. 1 des Zweiten Zusatzvertrages zum AuslV D-USA an Art. 13 AuslAbk EU-USA angepasst worden ist. Weitere ausdrückliche Ablehnungsgründe sind nicht explizit im AuslAbk EU-USA geregelt, können jedoch – wie Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA deklaratorisch klarstellt – dem bilateralen AuslV D-USA in der Fassung seiner zwei Zusatzverträge entnommen werden.49 Weitere als die im AuslAbk EU-USA erfassten Ablehnungsgründe widersprechen diesem Abkommen daher nicht und sind von der im Auslieferungsverfahren zuständigen Justizbehörde im Falle ihres Eingreifens zu beachten, solange sie im bilateralen Vertrag festgehalten sind. b) Ablehnungsgründe aus dem bilateralen AuslV D-USA Für Deutschland lassen sich weitere Ablehnungsgründe im Auslieferungs­ verkehr mit den USA daher Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 4–8, 10, 12, 13 AuslV D-USA i. V. m. den entsprechenden Modifikationen in den zwei Zusatzverträgen entnehmen:50 Hiernach kann die Auslieferung an die USA im Falle

47 Sofern eine Straftat ausschließlich in einem Bundesstaat der USA begangen worden ist, sind nur die jeweiligen Behörden dieses Bundesstaates für die Auslieferung zuständig. Nur ausnahmsweise wird eine Zuständigkeit der Bundesbehörden und damit der USA an sich als Staat begründet, s. hierzu Jacoby, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, II V 10 Rn. 5. 48 Die Neuformulierung führt dazu, dass eine Zusicherung diesbezüglich nicht mehr ausdrücklich erklärt werden muss, s. hierzu und zu der Unvereinbarkeit der Todesstrafe mit europäischen Werten Kapitel 2 D. III. 49 Auch in dem Handbuch zum AuslAbk EU-USA wird auf S. 19 zu Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA dargelegt, dass der einzige dort geregelte Auslieferungsverweigerungsgrund die Todesstrafe ist und dass sich alle anderen Ablehnungsgründe nur aus den bilateralen Verträgen entnehmen lassen: „The non-derogation provision of the EU-U. S. Extradition Agreement has two parts. Article 17(1) specifies that nothing in the EU-U. S. Extradition Agreement precludes a State from invoking a ground for refusal of extradition if that ground is based on the bilateral treaty and is not otherwise governed by the EU-U. S. Agreement. Aside from the provision on capital punishment, the EU – U. S. Extradition Agreement does not address the grounds for refusal of extradition, such grounds being governed by the existing bilateral extradition treaties in force. This provision was inserted in order to leave no doubt on this issue“. 50 S. hierzu auch BT-Drs. 16/4377, 72. Hierbei ist die deutsche Sprache jeweils als authentische Sprache gleichermaßen wie die englische verbindlich, s. das Postskriptum des AuslV D-USA und des 2. ZusVAusl.

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

von politischen51 oder militärischen52 Straftaten verweigert werden.53 Darüber hinaus kann die Auslieferung in Abgaben-, Steuer-, Zoll- und Devisenstrafsachen verweigert werden, „wenn die zuständige Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates entscheidet, daß der Auslieferung wegen einer solchen Tat die öffentliche Ordnung (ordre public) oder andere wesentliche Interessen des ersuchten Staates entgegenstehen.“54 Ob hierin ein völkervertraglich geregelter allgemeiner Grund- und Menschenrechtsvorbehalt zu sehen ist, wird noch durch Auslegung zu klären sein.55 Darüber hinaus statuiert Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 7 AuslV D-USA ein Auslieferungsverbot Deutschlands hinsichtlich eigener Staatsangehöriger.56 Weitere Ablehnungsgründe finden sich im Falle einer Doppelbestrafung (Art. 8 AuslV D-USA), für den Fall der Verjährung der Straftat nach dem Recht des ersuchten Staates (Art. 9 AuslV D-USA), im Falle der eigenen (konkurrierenden) Gerichtsbarkeit (Art. 10 AuslV D-USA) und im Falle der Aburteilung vor einem Ausnahmegericht (Art. 13 Abs. 2 AuslV D-USA). Darüber hinaus findet gem. Art. 27 AuslV D-USA auf das Verfahren der vorläufigen Auslieferungshaft, der Auslieferung und der Durchlieferung das Recht des ersuchten Staates Anwendung. Fraglich und zu ermitteln ist deshalb, ob hierin ein Verweis auf § 73 S. 1 IRG zu sehen ist und damit auf einen allgemeinen an deutschen Maßstäben zu messenden Grund- und Menschenrechtsvorbehalt.57 c) Zwischenergebnis Damit finden sich in den Auslieferungsverträgen zwar einige ausdrückliche Ablehnungsgründe, die im Einzelfall eine Auslieferung bereits völkervertraglich ausschließen und aufgrund ihrer innerstaatlichen Umsetzung auch eine innerstaat-

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Art. 4 AuslV D-USA i. V. m. Art. 2 des ZusVAusl. Art. 5 AuslV D-USA. 53 Dies gilt gem. Art. 4 Abs. 3 AuslV D-USA i. V. m. Art. 2 des ZusV zum AuslV D-USA nicht für die dort benannten Straftaten wie bspw. Mord, Totschlag, schwere Körperverletzung und Menschenraub. 54 Art. 6 AuslV D-USA i. V. m. Art. 1 lit. b) des Zusatzvertrags vom 21. 10. 1986 zum AuslV D-USA; BGBl. 1988 II, S. 1087. 55 S. Kapitel 1 B. I. 2. 56 Innerstaatlich ist in Deutschland die Auslieferung eigener Staatsangehöriger i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG an die USA als Drittstaat verfassungsrechtlich untersagt, Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG. Eine Kompensation zur Verhinderung strafrechtsfreier Räume findet dies dadurch, dass eine innerstaatliche Verfolgung von im Ausland begangenen Straftaten durch deutsche Staatsangehörige möglich ist (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB, sog. aktives Personalitätsprinzip), sodass es nicht zu einer Straflosigkeit kommt, s. Ambos in: MüKo zum StGB, § 7 StGB Rn. 1; Docke  / ​ Monsen, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 2. Hauptteil Rn. 736. Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 7 AuslV D-USA gilt nur für deutsche Staatsangehörige, nicht hingegen für andere EU-Bürger, s. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) bb) (3) (c). 57 S. Kapitel 1 B. II. 2. b); so jedenfalls BVerfG, 17. 5. 2017 – 2 BvR 893/17 = NStZ-RR 2017, 226, 228. 52

B. Begrenzung der Auslieferungspflicht  

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liche Auslieferungspflicht aufheben. Diese sind daher von der im Auslieferungsverfahren zuständigen Justizbehörde als Ablehnungsgründe zu beachten. Die benannten Ablehnungsgründe enthalten aber keinen ausdrücklichen Vorbehalt bei zu erwartender grund- und menschenrechtswidriger Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat. Ein solcher Vorbehalt könnte sich aber aus den benannten völkervertraglichen Regelungen dergestalt ergeben, dass die Überstellung bei grund- und menschenrechtlichen Bedenken bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat abzulehnen ist.

B. Begrenzung der Auslieferungspflicht im Auslieferungsverkehr mit den USA durch völkervertraglich geregelten Grund- und Menschenrechtsvorbehalt? Sofern die benannten Voraussetzungen erfüllt sind und keine der völkervertraglich geregelten Ablehnungsgründe greifen, besteht eine grundsätzliche Auslieferungspflicht gegenüber den USA. Eine solche Auslieferungspflicht könnte aber unter einen allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt gestellt worden sein: Es könnte sich in einem der benannten Ablehnungsgründe ein Vorbehalt finden lassen, der Grund- und Menschenrechte des Auszuliefernden schützt bzw. es könnte möglicherweise ein solcher individualrechtsschützender Vorbehalt zumindest durch Auslegung der völkerrechtlichen Auslieferungsverträge ermittelbar sein. Immerhin lassen sich einige Ablehnungsgründe im bilateralen AuslV D-USA finden. Bei der Entscheidung über die Auslieferung könnten von den für die Auslieferung zuständigen Justizbehörden völkerrechtlich, europäisch oder national unverzichtbare Indvidualrechte zu beachten sein und der Auslieferung an die USA im Einzelfall entgegenstehen.

I. Explizit völkervertraglich geregelter Grundund Menschenrechtsvorbehalt? In den Auslieferungsverträgen Deutschlands mit den USA finden sich einige bereits im 19. Jahrhundert entwickelte traditionelle Schranken der Auslieferung, die  – abgesehen von dem Auslieferungsverbot eigener Staatsangehöriger  – ursprünglich einzig und allein darauf ausgerichtet waren, zwischenstaatliche Interessen miteinander in Einklang zu bringen58 und damit insbesondere dem Schutz der 58 S. hierzu Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Einleitung Rn. 57 ff.; Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, S. 190 f. Dies entsprach der früher vorherrschenden sog. zweidimensionalen Sichtweise, auf deren Grundlage das Individuum bei der Betrachtung des Auslieferungsrechts außen vor gelassen worden ist, s. Kapitel 2 B. II. 2. und Kapitel 2 D. II. 2. a).

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

Souveränität der beteiligten Staaten gedient haben, nicht jedoch einem Grund- und Menschenrechtsschutz des Auszuliefernden. Zu den bloß die staatlichen Interessen schützenden Schranken der Auslieferung zählen insbesondere der Grundsatz der Gegenseitigkeit der Auslieferung, der Grundsatz der Nichtauslieferung politischer Straftäter und der Grundsatz der Nichtauslieferung bei fiskalischen Delikten.59 Nichtsdestotrotz kommt einigen Auslieferungshindernissen im Verhältnis zu den USA mittlerweile zumindest ein Doppelcharakter dergestalt zu, dass sie auch Individualrechte schützen.60 1. Individualrechtsschutz in Art. 13 AuslAbk EU-USA und Art. 12 AuslV D-USA i. V. m. ZusV und 2. ZusV Die offensichtlichste Ausprägung einer individualrechtsschützenden Norm findet sich im einzigen Ablehnungsgrund des AuslAbk EU-USA, der dem Schutz des Lebens dient: Gem. Art. 13 AuslAbk EU-USA und Art. 12 AuslV D-USA i. V. m. ZusV und 2. ZusV kann die Auslieferung abgelehnt werden, wenn die Straftat, derentwegen um Auslieferung ersucht wird, im ersuchenden Staat mit Todesstrafe bedroht ist, im ersuchten Staat jedoch nicht und der ersuchende Staat keine Zusicherung abgibt, dass die Todesstrafe im konkreten Fall zumindest nicht vollstreckt wird. Auch wenn die Zahlen der Verhängung und der Vollstreckung der Todesstrafe rückläufig sind61 und immer mehr Staaten die Todesstrafe abschaffen,62 so wird die Todesstrafe weltweit noch in einigen Ländern  – wie insbesondere in einigen Bundesstaaten der USA63  – verhängt und auch 59 Vgl. Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Einleitung Rn. 58 f.; Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, S. 201. 60 S. hierzu insbes. auch Dugard / ​van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187, 188. 61 Laut der Todesstrafen-Statistik von Amnesty International sind im Jahre 2015 weltweit über 1.634 Todesurteile vollstreckt worden. 2016 sind weltweit über 3.117 Menschen zu Tode verurteilt worden. 1.032 Todesurteile sind 2016 vollstreckt worden. Im Jahre 2017 waren es hingegen 2.591 Verurteilungen und 993 Vollstreckungen. Auch im Jahr 2018 hat die Zahl weiter abgenommen: Hier sind weltweit 690 Vollstreckungen von Todesurteilen verzeichnet worden. Im Jahre 2019 sind 657 Todesurteile vollstreckt worden, was die niedrigste von Amnesty International übermittelte Zahl des letzten Jahrzents darstellt; s. hierzu den Amnesty International Global Report, Death Sentences and Executions 2017, S. 6 f., den Amnesty International Global Report, Death Sentences and Executions 2018, S. 8 ff. und den Amnesty International Global Report, Death Sentences and Executions 2019, S. 8 f. 62 Im Jahre 2017 haben Guinea und die Mongolei die Todesstrafe abgeschafft, s. hierzu den Amnesty International Global Report, Death Sentences and Executions 2017, S. 10 f. 1987 waren es 69 Staaten, welche die Todesstrafe für alle Straftaten abgeschafft hatten, 2017 dagegen 106 Staaten, s. hierzu den Amnesty International Global Report, Death Sentences and Executions 2017, S. 5. 63 Nicht nur auf der Grundlage von Bundesgesetzen kann in den USA die Todesstrafe verhängt werden (zur derzeitigen Entwicklung, die Todesstrafe auch auf Bundesebene nach 17 Jahren wieder zu vollstrecken, s. Einleitung Fn. 8), sondern auch auf der Grundlage der Gesetze einzelner Bundesstaaten sowie des Militärstrafgesetzbuches. 28 von 50 Bundesstaa-

B. Begrenzung der Auslieferungspflicht  

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vollstreckt,64 sodass auch die Vollstreckung der Todesstrafe jedenfalls nicht grundlegenden universal geltenden Wertevorstellungen widerspricht und der Verzicht auf die Todesstrafe damit nicht Teil eines an völkerrechtlichen Werten gemessenen Grund- und Menschenrechtsstandards ist.65 Allerdings ist die Todesstrafe sowohl in Deutschland66 als auch in der EU67 abgeschafft und damit Teil eines deutschen und eines europäischen Standards.68 Damit schützt der Verzicht auf die Todesstrafe als Ablehnungsgrund der Auslieferung aufgrund der im ersuchenden Staat folgenden Behandlung der verfolgten Person zwar fundamentale nationale und europäische Individualrechte.69 Dies stellt jedoch nur einen punktuellen Individualrechtsschutz ten der USA sehen die Todesstrafe in ihren Strafgesetzen zumindest vor, s. den Bericht von Amnesty International, Wenn der Staat tötet – Todesstrafe in den USA, Stand 21. 4. 2020, S. 9. 27 dieser Bundesstaaten vollstrecken die Todesstrafe auch heute noch. Hierzu zählen bspw. die Bundesstaaten Florida, Ohio und Texas, s. hierzu den Bericht von Amnesty International, Wenn der Staat tötet – Todesstrafe in den USA, Stand 21. 4. 2020, S. 9. Erst am 14. 11. 2018 wurde der gebürtige Mexikaner Roberto Moreno Ramos aufgrund einer Verurteilung wegen Mordes in Texas am 23. 3. 2003 hingerichtet (s. Spiegel Online v. 15. 11. 2018: https://www.spiegel. de/panorama/justiz/texas-todesstrafe-in-den-usa-verurteilter-moerder-hingerichtet-a-1238511. html, zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020) – und das, obwohl bereits im Jahre 2004 vom IStGH in Den Haag festgestellt worden ist, dass Roberto Moreno Ramos nicht über seine konsularischen Rechte entsprechend des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen (WÜK) aufgeklärt worden sei. Texas ist der Bundesstaat in den USA, in dem mit Abstand die meisten Todesurteile verhängt und auch vollstreckt werden: Von allen Exekutionen seit 1976 haben 37 % allein in Texas stattgefunden, s. den Bericht von Amnesty International, Todesstrafe in den USA, Stand 13. 3. 2019, S. 9. Im Jahre 2019 gab es 22 vollstreckte Hinrichtungen in den USA, 9 davon alleine in Texas, s. Bericht von Amnesty International, Wenn der Staat tötet – Todesstrafe in den USA, Stand 21. 4. 2020, S. 9. 64 Weltweit ist die Todesstrafe im Jahr 2017 noch offiziell in 23 Staaten verhängt und vollstreckt worden – in den Jahren 2018 und 2019 hingegen in 20 Staaten, wobei die meisten Verurteilungen und Vollstreckungen im Iran, in Saudi-Arabien, im Irak und in Pakistan stattgefunden haben, ihnen folgend in den USA, s. hierzu den Amnesty International Global Report, Death Sentences and Executions 2017, S. 6 und den Amnesty International Global Report, Death Sentences and Executions 2018, S. 8 f.; Amnesty International Global Report, Death Sentences and Executions 2019, S. 52. Auch China verhängt und vollstreckt die Todesstrafe, allerdings gibt China die Daten über die Zahl von Verurteilungen und Vollstreckungen laut den Berichten von Amnesty International nicht preis, s. den Amnesty International Global Report, Death Sentences and Executions 2019, S. 8. 65 S. hierzu Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 49 ff. 66 Art. 102 und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG stehen einer Todesstrafe nach innerstaatlichem Recht entgegen. 67 In keinem Mitgliedstaat der EU wird die Todesstrafe noch verhängt geschweige denn vollstreckt. Vielmehr ist es sogar eine zwingende Voraussetzung für den Beitritt zur EU, dass die Gesetze des jeweiligen Staates keine Todesstrafe vorsehen: So setzt Art. 49 UAbs. 1 EUV für eine Antragsbefugnis für den Beitritt zur EU voraus, dass der jeweilige Staat die in Art. 2 EUV genannten Werte achtet und sich für sie einsetzt. Hierzu zählt insbesondere auch die Abschaffung der Todesstrafe, s. Kapitel 2 D. III. 1. 68 S. zudem den Beschluss des OLG Köln, 30. 5. 2016 – 6 AuslA 134/15 – 102 (vgl. Redaktion FD-StrafR, FD-StrafR 2016, 378754), in dem die Auslieferung an die USA bei drohender Todesstrafe nur für zulässig befunden wurde, weil eine Zusicherung seitens der USA vorlag, dass die Todesstrafe in dem konkreten Fall jedenfalls nicht vollstreckt wird. 69 S. Kapitel 2 D. III. 1.

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in Bezug auf das Leben des Auszuliefernden dar. Der Ablehnungsgrund der Todesstrafe schützt den Verfolgten hingegen nicht umfassend vor einer grund- und menschenrechtswidrigen Behandlung im ersuchenden Staat oder aufgrund von in der Person des Auszuliefernden liegenden Hindernissen. 2. Individualrechtsschutz in Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. dem AuslV D-USA Darüber hinaus könnten auch die übrigen gem. Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EUUSA i. V. m. dem bilateralen AuslV D-USA ausdrücklich im bilateralen Vertrag geregelten Ablehnungsgründe zumindest punktuelle Anwendungsbereiche eines Grund- und Menschenrechtsvorbehalts regeln. Das Auslieferungshindernis bei der Strafverfolgung einer politischen (Art. 4 AuslV D-USA i. V. m. Art. 2 ZusV) und militärischen (Art. 5 AuslV D-USA) Straftat stellt staatliche Interessen in den Vordergrund und basiert maßgeblich auf der Souveränität der Staaten.70 Ihnen liegt der Gedanke zugrunde, sich nicht in die politischen oder militärischen Angelegenheiten eines anderen souveränen Staates einmischen zu wollen,71 sodass sie dementsprechend primär staatliche Interessen einbeziehen. Als ein in dem bilateralen Auslieferungsvertrag mit den USA vertraglich geregelter allgemeiner Grund- und Menschenrechtsvorbehalt kommt aufgrund der Offenheit der Klausel jedoch Art. 6 AuslV D-USA i. V. m. Art. 1 lit. b) des ZusVAusl in Betracht. Nach dieser Norm kann die Auslieferung in Abgaben-, Steuer-, Zoll- und Devisenstrafsachen verweigert werden, „wenn die zuständige Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates entscheidet, daß der Auslieferung wegen einer solchen Tat die öffentliche Ordnung (ordre public) oder andere wesentliche Interessen des ersuchten Staates entgegenstehen.“72 Grundsätzlich ist die Auslieferung aufgrund fiskalischer Straftaten demnach zwar möglich.73 In Art. 6 AuslV D-USA i. V. m. Art. 1 lit. b) des ZusVAusl74 findet sich jedoch ein bereichsspezifischer Vorbehalt für Fiskalstraftaten im Falle des Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung. Der unbestimmte Begriff der „öffentlichen Ordnung“ ist jedoch nicht 70

Hierzu eingehend Hailbronner / ​Olbrich, AVR 24 (1986), 434 ff.; s. a. Dugard / ​van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187, 188; Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Einleitung Rn. 59; Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, S. 201; Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, S. 195 f. 71 Dugard / ​van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187, 188; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 46 f.; Weigend, JuS 40 (2000), 105, 108. 72 Art. 6 AuslV D-USA i. V. m. Art. 1 lit. b) des Zusatzvertrags vom 21. 10. 1986 zum AuslV D-USA; BGBl. 1988 II, S. 1087. 73 Dies war nach dem vor dem AuslV D-USA von 1978 geltenden Auslieferungsvertrag zwischen Deutschland und den USA vom 12. 7. 1930 nicht möglich. Eine solche Bestimmung war für das amerikanische Recht neu, s. Drucksache 8/3107, S. 22. 74 Zusatzvertrag vom 21. 10. 1986 zum AuslV D-USA vom 20. Juni 1978.

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als Anküpfungspunkt für einen allgemeinen grund- und menschenrechtlichen Vorbehalt zu werten: Der für Fiskalstraftaten geregelte Vorbehalt rührt daher, dass eine Auslieferung aufgrund von Fiskalstraftaten zuvor traditionell aufgrund unterschiedlicher Steuersysteme ausgeschlossen war, diese Privilegierung jedoch mittlerweile immer weiter aufgegeben wird.75 So ist beispielsweise innerhalb der EU beim Europäischen Haftbefehl aufgrund der Wirtschaftsunion bewusst auf das Auslieferungshindernis bei fiskalischen Delikten verzichtet worden.76 Dies ist mit Drittstaaten wie den USA – mit denen eine solche Wirtschaftsunion nicht besteht – jedoch nicht zu vergleichen, sodass vor diesem Hintergrund die Fakultativklausel des Art. 6 AuslV D-USA erklärt werden kann. Damit dient diese bereichsspezifische Klausel nicht primär dem Schutz von Grund- und Menschenrechten77 und damit nicht dem Individualrechtsschutz. Auch dem Auslieferungsverbot hinsichtlich eigener Staatsangehöriger (Art. 7 AuslV D-USA) wurde zunächst eine rein staatsorientierte Bedeutung beigemessen. Im Laufe der Zeit wurde ihm auch individualrechtliche Bedeutung zugeschrieben,78 weil es Teil des deutschen Grundrechtsstandards ist, deutsche Staatsangehörige nicht auszuliefern (Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG).79 Ein solcher Vorbehalt ist gem. Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 7 AuslV D-USA völkervertraglich geregelt. Er schützt deutsche Staatsangehörige davor, an einen Staat mit einem anderen und unvertrauten Strafsystem ausgeliefert zu werden, bezieht aufgrund dieser Schutzfunktion auch die Individualinteressen des von der Auslieferung Betroffenen ein und gewährt deutschen Staatsangehörigen einen Vertrauensschutz. Auch dieser Vorbehalt hat jedoch lediglich einen punktuellen Anwendungsbereich und kann deshalb nicht als Ausdruck eines allgemeinen – an deutschen Maßstäben gemessenen – Grund- und Menschenrechtsvorbehalts eingeordnet werden. Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 8 AuslV D-USA enthält das Verbot der doppelten Strafverfolgung (ne bis in idem). Diese Norm ist auf rechtskräftige Entscheidungen des ersuchten Staates80 und damit Deutschlands beschränkt.81 So 75

S. hierzu Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 229 ff.; Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, S. 196. 76 Vgl. Art. 4 Nr. 1 RbEuHb. Innerstaatlich ergibt sich dies aus § 81 Nr. 3 IRG, s. BT-Drs. 15/1718 v. 15. 10. 2003, S. 17; s. hierzu Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, S. 201. 77 Vgl. Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Einleitung Rn. 59. 78 Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Einleitung Rn. 57, 62 f.; s. zur staatlichen Schutzpflicht Deutschlands in Bezug auf eigene Staatsangehörige eingehend Baier, GA 2001, 427, 437 ff. 79 Dieses sog. Deutschenprivileg ist gem. Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG dergestalt eingeschränkt, als dass durch Gesetz im Übergabeverkehr innerhalb der EU oder an einen internationalen Gerichtshof eine Überstellung auch Deutscher für zulässig erklärt werden kann, soweit im Einzelfall rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. 80 Jacoby, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, II V 10 Rn. 12. 81 S. hierzu Kapitel 2 A. II. 3.

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

bestand beispielsweise im Auslieferungsverfahren bezüglich des Mitglieds der sog. Sauerland-Gruppe Adem Yilmaz82 bereits keine völkervertragliche Auslieferungspflicht mehr:83 Adem Yilmaz war bereits in Deutschland wegen der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung verurteilt worden und hatte die verhängte Freiheitsstrafe von elf Jahren bereits vollständig verbüßt.84 In Bezug auf Taten in diesem Zusammenhang bestand jedoch die Gefahr, dass er in den USA erneut verurteilt wird.85 Dieser Vorbehalt beruht zunächt einmal auf der Souveränität der Staaten und stellt die Erwartung an den anderen am Auslieferungsverfahren beteiligten Staat, strafprozessuale Entscheidungen oder innerstaatliche Rechtswirkungen des ersuchten Staates zu akzeptieren.86 Durch den ne-bis-in-idem-Grundsatz werden daher zwischenstaatliche Konflikte vermieden, sodass er staatlichen Interessen dient. Darüber hinaus schützt der Vorbehalt allerdings zumindest auch insofern Individualrechte, als dass er dem Einzelnen das Recht zugesteht, wegen derselben Sache keine nochmalige Verfolgung fürchten zu müssen (Vertrauensschutz).87 Der ne-bis-in-idem-Grundsatz gewährt dem Einzelnen somit Rechtssicherheit. Dementsprechend stellt auch dieser Vorbehalt nur einen punktuellen Anwendungsbereich eines Grund- und Menschenrechtsvorbehalts dar. Das Auslieferungshindernis der Verjährung der Straftat nach dem Recht des ersuchten Staates (Art. 9 AuslV D-USA) dient sowohl dem Schutz staatlicher Interessen als auch dem von Individualrechten. Einerseits beruht er auf der Souveränität der Staaten, indem der ersuchende Staat zu akzeptieren hat, wenn eine Straftat im ersuchten Staat bereits verjährt ist. Andererseits schützt er durch die Rechts­ friedensfunktion auch die Individualinteressen des Verfolgten.88 Das Auslieferungshindernis der eigenen Gerichtsbarkeit (Art. 10 AuslV D-USA) basiert auf Zweckmäßigkeitserwägungen, solange ein völkerrechtlich anerkannter Anknüpfungspunkt für die eigene Strafverfolgung besteht.89 Es ist damit nicht Ausdruck des Grund- und Menschenrechtsschutzes, sondern beruht auf staatlichen Souveränitätserwägungen. Das Auslieferungshindernis der Aburteilung vor einem Ausnahmegericht (Art. 13 Abs. 2 AuslV D-USA) dient auch dem Individualrechtsschutz: In den 82

S. Einleitung, S. 17 Dies ist in den USA wohl anders bewertet worden: Die Ablehnung der Auslieferung ist dort auf scharfe Kritik geraten, s. hierzu Redaktion beck-aktuell v. 8. 2. 2019, becklink 2012202. 84 S. hierzu Redaktion beck-aktuell v. 4. 3. 2010, becklink 299559 und v. 8. 2. 2019, becklink 2012202. 85 S. hierzu hierzu Redaktion beck-aktuell v. 8. 2. 2019, becklink 2012202. 86 S. Dugard / ​van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187, 188; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 45. 87 Dugard / ​van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187, 188; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 45; Zimmermann, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 9 Rn. 2 ff. 88 Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Einleitung Rn. 65. 89 Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 157 f. 83

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USA sind teilweise Ausschüsse (nicht notwendigerweise Gerichte) für Fälle des Terrorismus zuständig und können sogar die Todesstrafe verhängen, ohne dass ein Rechtsmittel hiergegen zulässig wäre.90 Damit kann dieses Auslieferungshindernis als Teil der Gewährleistung eines fairen Prozesses interpretiert werden, welches dem Einzelnen subjektive Rechte gewährt. Insofern regelt es auch einen – punktuellen – Anwendungsbereich eines Grund- und Menschenrechtsvorbehalts. Gem. Art. 27 AuslV D-USA findet auf das Verfahren der vorläufigen Auslieferungshaft, der Auslieferung und der Durchlieferung das Recht des ersuchten Staates Anwendung. Unklar ist zwar, ob hierin ein Verweis auf § 73 S. 1 IRG und damit auf einen allgemeinen an deutschen Maßstäben zu messenenden Grund- und Menschenrechtsvorbehalts gesehen werden kann.91 Ein ausdrücklich geregelter allgemeiner Vorbehalt zum Schutz von Grund- und Menschenrechten ist hierin jedenfalls nicht zu sehen. 3. Zwischenergebnis Insgesamt ist damit festzuhalten, dass sich einerseits in dem bilateralen Auslieferungsvertrag inklusive seiner zwei Zusatzverträge Ablehnungsgründe finden lassen, die ausschließlich staatlichen Interessen dienen. Andererseits lassen sich auch durchaus Normen finden, die wichtige individuelle Rechte des von der Auslieferung Betroffenen schützen – auch wenn es sich insbesondere bei den Ablehnungsgründen in dem bilateralen Vertrag nicht um Normen handelt, die alleine dem Individualschutz dienen, sondern deren Entstehung sich historisch betrachtet primär aus staatlicher Sicht erklären lässt. Die ausdrücklich in den Auslieferungsverträgen geregelten Ablehnungsgründe decken also teilweise Anwendungsfälle eines grund- und menschenrechtlichen Vorbehalts ab, indem dort zwar nicht durchgehend, jedoch zumindest auch Ablehnungsgründe existieren, die (jedenfalls auch) dem Schutz des Einzelnen dienen oder andere völkerrechtliche, europäische oder deutsche Wertvorstellungen schützen. Ein punktueller Individualrechtsschutz ist damit gegeben. Ein allgemeiner und „offen“ formulierter Vorbehalt, welcher Grund- und Menschenrechte in Gänze und damit allein fundamentale Individualrechte in Bezug nimmt, ist dort jedoch nicht ausdrücklich geregelt. Während die staatlichen Interessen bereits durch die Regelung der Auslieferungsvoraussetzungen als Ausdruck staatlicher Souveränität und auch durch die 90 S. Spinellis, in: FS Eser, S. 873, 878; zu den amerikanischen Militärkommissionen, die die in Guantánamo Bay Inhaftierten aburteilen (sollen), s. Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 IRG Rn. 75; zu dem Military Commission Act aus dem Jahre 2006 (MCA), wonach unter der Regierung von George W. Bush im „Kampf gegen den Terror“ Militärkommissionen eingerichtet wurden, s. Bradley / ​Farer / ​Martin, AJIL 101 (2007), 322 ff. 91 S. Kapitel 1 B. II. 2. b); so jedenfalls das BVerfG, 17. 5. 2017 – 2 BvR 893/17 = NStZ-RR 2017, 226, 228.

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meisten Auslieferungshindernisse Berücksichtigung finden, ist in Bezug auf den Grund- und Menschenrechtsschutz des Auszuliefernden ausdrücklich nur ein punktueller Schutz geregelt. Im Folgenden ist daher die Frage zu klären, ob über diesen ausdrücklich geregelten punktuellen Individualrechtsschutz hinaus durch Auslegung ein weitergehender völkervertraglich geregelter Individualrechtsschutz ermittelt werden kann.

II. Durch Auslegung ermittelbarer Individualrechtsschutz? Ausdrücklich geregelte dem Individualrechtsschutz dienende Ablehnungsgründe finden sich nur spärlich. Dementsprechend stellt sich die Frage, ob nicht auch weitere Ablehnungsgründe durch Auslegung der innerstaatlich anwendbaren völkerrechtlichen Auslieferungsverträge ermittelt werden können, bzw. ob nicht sogar ein genereller Ablehnungsgrund bei einem (voraussichtlichen) Verstoß gegen Grund- und / ​oder Menschenrechte im ersuchenden Staat in Betracht kommt. 1. Auslegungsgrundsätze Zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge selbst sind die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden heranzuziehen.92 Dies gilt auch für die aufgrund der Zustimmungsgesetze innerstaatlich anwendbaren völkerrechtlichen Auslieferungsverträge mit den USA, obwohl die Zustimmungsgesetze selbst nationaler Natur in Form einfachen Bundesrechts sind: Die Vertragsgesetze zu dem AuslV D-USA und den zwei Zusatzverträgen bzw. zu dem AuslAbk EU-USA statuieren die Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen.93 Die Vertragspflichten sind daher auch innerstaatlich – zumindest im Ausgangspunkt – durch völkerrechtliche Auslegungsregeln zu ermitteln94 und nicht durch nationale und damit deutsche Auslegungsgrundsätze. Ob und inwieweit ein so ermitteltes Auslegungsergebnis innerstaatlich einer Korrektur unterliegt, steht hingegen auf einem anderen Blatt.95 Zur Auslegung der innerstaatlich anwendbaren völkerrechtlichen Auslieferungsverträge mit den USA sind hier deshalb die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden

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Vgl. statt vieler Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht, § 18 Rn. 23; Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 28 ff.; Vitzthum, in: Vitzthum / ​P roelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 123. 93 Auch das AuslAbk EU-USA behält in der Unionsrechtsordnung die völkerrechtliche Herkunft bei, s. Lorenzmeier, ZJS 2012, 322, 324. 94 Grundlegend BVerfGE 4, 157, 168; s. a. BVerfGE 74, 358, 370; s. hierzu Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 32; Pieper, in: Epping / ​ Hillgruber (Hrsg.), B ­ eckOK GG, Art. 59 GG Rn. 44; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​ Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 170. 95 S. Kapitel 2. D. II. 1.

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heranzuziehen. Insofern kann auf die WVK96 verwiesen werden. Die WVK gilt als völkerrechtliches Übereinkommen jedoch nur inter partes. Während Deutschland eine Vertragspartei der WVK ist, hat die USA die WVK zwar bereits am 24. 4. 1970 unterzeichnet,97 sie jedoch bis heute nicht ratifiziert und ist damit keine Vertragspartei. Die WVK kann im Verhältnis zu Nicht-Vertragsparteien nur insoweit gelten, als es sich um völkerrechtlich anerkanntes Gewohnheitsrecht handelt.98 Genau dies trifft bei den wesentlichen Regelungen der WVK allerdings zu: Die WVK ist überwiegend aus Gewohnheitsrecht entstanden oder hat solches aufgrund der hohen Anzahl an Vertragsparteien entstehen lassen – insofern gilt sie in ihren wesentlichen Regelungen unabhängig davon, ob ein Staat der WVK beigetreten ist.99 Die WVK und die Regeln des gewohnheitsrechtlichen Völkervertragsrechts sind größtenteils kongruent.100 Damit gelten auch die Auslegungsregeln der WVK (Art. 31 ff. WVK) insofern für die Auslieferungsverträge mit den USA, als dass die Regelungen der WVK zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge zu völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht erstarkt sind,101 sodass hier auf die in der WVK kodifizierten Auslegungsgrundsätze zurückgegriffen werden kann. In Art. 31 Abs. 1 WVK heißt es: „A treaty shall be interpreted in good faith in accordance with the ordinary meaning to be given to the terms of the treaty in their context and in the light of its object and purpose.“102 Die WVK verbindet hiernach für die Vertragsauslegung völkerrechtlicher Verträge objektive mit subjektiven Elementen. Insofern ist zunächst der objektive Parteiwille, wie er Ausdruck im Vertragstext (in seinem gewöhnlichen Sprachgebrauch, ordinary meaning rule) 96

WVK vom 23. 5. 1969; innerstaatliches Zustimmungsgesetz v. 3. 8. 1985, BGBl. II 1985, S. 926. 97 Stand September 2020: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetailsIII.aspx?src=TREATY&​ mtdsg_no=XXIII-1&chapter=23&Temp=mtdsg3&clang=_en (zuletzt aufgerufen am: 23. 9. 2020). 98 Scheidler, JURA 2004, 9, 10; Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, S. 10. 99 Scheidler, JURA 2004, 9, 10; Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, S. 10; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​ Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 182. 100 Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 4. 101 Zur Erstarkung des Art. 31 Abs. 1 WVK zum Völkergewohnheitsrecht s. statt vieler Vitzthum, in: Vitzthum / ​Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 123 m. w. N.. Die Art. 31–33 WVK werden regelmäßig als Völkergewohnheitsrecht anerkannt, s. z. B. EGMR, der die Art. 31–33 WVK bereits als „generally accepted principles of international law“ bezeichnet hat, bevor die WVK überhaupt in Kraft getreten ist, s. das Urteil des EGMR im Fall Golder v. United Kingdom, Application No. 4451/70, S. 10; s. zudem EuGH, Urteil vom 22. 11. 2012 – C-410/11 (Rs. Pedro Espada Sánchez u. a. / ​Iberia Líneas Aéreas de España SA) = NJW 2013, 845 Rn. 21; s. zum Ganzen: Criddle, VJIL 44 (2004), 431, 447 f. Das U. S. Department of State hat selber bekundet, dass in den USA davon ausgegangen wird, dass die meisten Regeln der WVK zu Gewohnheitsrecht erstarkt sind, s. https://www.state.gov/s/l/treaty/faqs/70139.html (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 102 Art. 85 WVK legt als authentische Texte der WVK den chinesischen, englischen, französischen, russischen und spanischen Wortlaut fest, sodass hier auf den verbindlichen englischen Wortlaut Bezug genommen werden kann.

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gefunden hat, maßgeblich.103 Dementsprechend ist der Wortlaut des Vertragstextes in seiner ursprünglichen Fassung Ausgangspunkt jeder Auslegung. Ergänzt wird diese objektive Auslegung des üblichen Wortsinns durch ein subjektives Element: So sind besondere Intentionen der Vertragsparteien auch dann zu berücksichtigen, wenn der Wortlaut diese nicht hinreichend wiedergibt, solange feststeht, dass die Vertragsparteien einem Ausdruck eine bestimmte Bedeutung absichtlich beimessen wollten.104 Ergänzende Auslegungskriterien sind der systematische Zusammenhang, in dem die auszulegende Vertragsbestimmung steht,105 Sinn und Zweck der Vertragsbestimmung106 ebenso wie der historische Wille der Vertragsparteien107. Gerade bei völkerrechtlichen Verträgen finden regelmäßig umfassende vorbereitende Arbeiten statt (sog. travaux préparatoires), die – allerdings nur hilfsweise zu den anderen Auslegungsmethoden – herangezogen werden können.108 Den vorbereitenden Arbeiten kommt damit eine subsidiäre Rolle zu. Da völkerrechtliche Verträge regelmäßig – und so auch die hier maßgeblichen Auslieferungsverträge (AuslAbk EU-USA und AuslV D-USA)  – in mehreren Sprachen verfasst sind, stellt sich die Frage, welche Sprachfassung verbindlich und daher für die Auslegung heranzuziehen ist. Dies wird oftmals im Vertragstext selber bestimmt, wobei von mehreren authentischen Sprachfassungen alle gleich verbindlich und damit gleich auslegungserheblich sind.109 Eine solche Bestimmung findet sich sowohl im Postskriptum des AuslV D-USA, nach dem sowohl die Urschrift in deutscher als auch in englischer Sprache authentisch und damit gleichermaßen verbindlich ist, als auch im AuslAbk EU-USA: Gemäß des Postskriptums des AuslAbl EU-USA findet sich die Urschrift in dänischer, deutscher, englischer, finnischer, französischer, griechischer, italienischer, niederländischer, portugiesischer, schwedischer und spanischer Sprache. Damit ist die deutsche Urschrift sowohl des AuslV D-USA als auch des AuslAbk EU-USA authentisch und damit gleichermaßen völkerrechtlich verbindlich und kann hier zur Auslegung herange-

103 Dieser Grundsatz ist zu völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht erstarkt, s. von Arnauld, Völkerrecht, § 3 Rn. 228; Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 29; Vitzthum, in: Vitzthum / ​Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 123. 104 Art. 31 Abs. 4 WVK; s. hierzu Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 29; Scheidler, JURA 2004, 9, 10 f. 105 Art. 31 Abs. 1, 2, 3 WVK. Hierzu gehören insbesondere auch die Präambel und Anlagen, aber auch Übereinkünfte und Urkunden, welche sich auf den Vertrag beziehen oder anlässlich des Vertrages geschlossen wurden sowie spätere Übereinkünfte, Übungen und zwischen den Vertragsparteien geltende Völkerrechtssätze. 106 Art. 31 Abs. 1 WVK. Der Telos ergibt sich objektiv aus dem Vertragstext. 107 Art. 32 WVK. Dieser ist insbesondere den vorbereitenden Arbeiten und den Umständen, welche zu dem Vertragsschluss geführt haben, zu entnehmen. 108 S. hierzu Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 28. 109 Art. 33 Abs. 1 WVK; von Arnauld, Völkerrecht, § 3 Rn. 229; Schmahl, JuS 58 (2018), 961, 742; Vitzthum, in: Vitzthum / ​P roelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 123. Art. 33 Abs. 3 WVK stellt die Vermutung auf, „dass die Ausdrücke des Vertrags in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben“.

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zogen werden. Gleichwohl können sich bei nicht wortgleichen Übereinstimmungen mehrerer authentischer Sprachfassungen Auslegungsschwierigkeiten ergeben.110 2. Auslegung der innerstaatlich anwendbaren Auslieferungsverträge: EU / ​USA und D / ​USA Mögliche Anknüpfungspunkte für eine grund- und menschenrechtsfreundliche Auslegung der im Auslieferungsverkehr mit den USA maßgeblichen Auslieferungsverträge und damit Einfallstore für weitere völkervertraglich geregelte Ablehnungsgründe finden sich sowohl im AuslAbk EU-USA als auch im bilateralen AuslV DUSA – und zwar in der Präambel des AuslAbk EU-USA, Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 27 AuslV D-USA und Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA. a) Präambel des AuslAbk EU-USA In der Präambel des AuslAbk EU-USA und damit zu Beginn des Abkommens ist ein generelles Bekenntnis zu Menschenrechten zu finden, in dem auf individuelle Rechte, die Rechtsstaatlichkeit und das Recht auf ein faires Verfahren ausdrücklich Bezug genommen wird: Die Präambel enthält die Ziele, erstens „die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika weiter zu erleichtern“ und zweitens „zum Schutz ihrer demokratischen Gesellschaften und ihrer gemeinsamen Werte Verbrechen effizienter zu bekämpfen“111. Dies soll „unter gebührender Beachtung der Rechte des Einzelnen und des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit“ und „unter Berücksichtigung der in ihren jeweiligen Rechtsordnungen verankerten Garantien, die für ausgelieferte Personen das Recht auf ein gerechtes Verfahren einschließlich des Rechts auf ein Urteil durch ein unparteiisches und ordentlich eingesetztes Gericht vorsehen“112 geschehen. Insbesondere durch den ausdrücklichen Vermerk in der Präambel, dass die Vertragsparteien die Rechte des Einzelnen und den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gebührend beachten wollen und die in den jeweiligen Rechtsordnungen verankerten Garantien zum Recht auf ein faires Verfahren und ein Urteil vor einem Gericht berücksichtigen wollen, könnte ein Ablehnungsgrund des ersuchten Staates bei Verstoß gegen diese Rechte und den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit völkervertraglich statuiert worden sein. Hierfür müsste die Präambel als solche allerdings überhaupt rechtlich verbindliche Verbote aufstellen können. Eine Präambel ist eine Absichtserklärung der 110

Hierzu Kapitel 1 B. II. 2. b) aa). Erwägungsgrund 1 und 2 der Präambel des AuslAbk EU-USA. 112 Erwägungsgründe 3 und 4 der Präambel des AuslAbk EU-USA. 111

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

Vertragsparteien bezüglich der Beweggründe des Abschlusses des Vertrages und der damit verfolgten Ziele. Insofern ist diese bei der Auslegung möglicher Anknüpfungspunkte für einen Ablehnungsgrund zwar heranzuziehen, kann für sich genommen jedoch nicht bereits zweifelsfrei einen völkervertraglich geregelten Grund- und Menschenrechtsvorbehalt in der Gestalt eines Auslieferungshindernisses begründen.113 Hierfür spricht insbesondere, dass sie dem eigentlichen Vertragstext vorangestellt und diesem daher nicht gleichgestellt ist. Als Absichtserklärung der Vertragsparteien (EU und USA) ist die Präambel vielmehr symbolischer Natur: Sie ist dem Vertragstext zwar vorangestellt, aber dennoch Teil des Vertrages an sich114 und daher bei der Auslegung zugunsten möglicher grundrechtsfreundlicher Einfallstore im eigentlichen Vertragstext als im Zusammenhang hierzu stehend heranzuziehen (Art. 31 Abs. 2 WVK)115 und bei der Interpretation des Vertrages an sich zu berücksichtigen. Selbst wenn man es grundsätzlich für möglich hielte, in der Präambel einen verbindlichen Ablehnungsgrund zu regeln, stünde der Wortlaut einer entsprechenden Auslegung ohnehin entgegen: Nach dem Wortlaut sollen Grund- und Menschenrechte zwar zu beachten und zu berücksichtigen sein. Dies statuiert nach dem üblichen Wortsinn jedoch gerade keinen Ablehnungsgrund, sondern gibt vielmehr das Bewusstsein über die innerstaatlichen Verpflichtungen der beteiligten Staaten in Bezug auf den Grund- und Menschenrechtsschutz wieder. Denn während die Todesstrafe in Art. 13 S. 3 AuslAbk EU-USA explizit im Vertragstext als Ablehnungsgrund formuliert ist116 und auch Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA ausdrücklich auf weitere sich aus den bilateralen Verträgen ergebende Ablehnungsgründe verweist, ist in der Präambel eine nicht vergleichbare Wortwahl dergestalt verwendet worden, dass die Rechte des Einzelnen zu „beachten“ seien.117 Insofern lässt es 113

Mitsilegas, EuFAR 12 (2007), 457, 473 Fn. 72 geht davon aus, dass die Rechtskraft der Präambel unklar sei. 114 Der völkerrechtliche Vertrag umfasst in seiner Gänze den eigentlichen Vertragstext, die Präambel und eventuelle Anlagen, s. hierzu von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 14 Rn. 9 m. w. N.; Nettesheim, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, AEUV vor Präambel Rn. 14; Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of ­Treaties, Art. 31 Rn. 10. 115 S. hierzu auch von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 14 Rn. 13; s. z. B. auch zur Bedeutung der Präambel zum Römischen Statut des IStGH Triffterer / ​Bergsmo / ​Ambos, in: Triffterer / ​Ambos (Hrsg.), Rome Statute oft he International Criminal Court, Prämbel Rn. 4. Die Präambel völkerrechtlicher Verträge ist daher mit den Erwägungsgründen des RbEuHb vergleichbar, s. zur Verbindlichkeit der Erwägungsgründe Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, S. 76 ff.; s. zudem ­Andreou, Gegenseitige Anerkennung, S. 185, 198. 116 „Akzeptiert der ersuchende Staat die Bedingungen nicht, so darf das Auslieferungsersuchen abgelehnt werden.“ 117 Zu einem anderen Ergebnis gelangt man auch dann nicht, wenn man die deutsche Sprachfassung mit anderen Sprachfassungen vergleicht. So sind bspw. auch die englische („having due regards for rights of individuals“), die spanische („teniendo debidamente en cuenta los derechos individuales“), die französische „dans le respect des droits des personnes“) und die niederländische („met inachtneming van de rechten van het individu“) Sprachfassung so for-

B. Begrenzung der Auslieferungspflicht  

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bereits der übliche Wortsinn der Präambel nicht zu, die Erwägungsgründe 3 und 4 als Auslieferungshindernis und damit als Einfallstore eines Grund- und Menschenrechtsvorbehalts – gleich welchen näheren Inhalts – aufzufassen. Etwas anderes könnte sich jedoch hinsichtlich des Erwägungsgrundes 4 ergeben: Die EU ist in ihrem am 25. 6. 2003 veröffentlichten Factsheet „Extradition and Mutual Legal Assistance“ zumindest davon ausgegangen, dass das Recht auf ein faires Verfahren der ausgelieferten Person insoweit gewährleistet sei, als dass das Recht auf ein Urteil durch ein unparteiisches und ordentlich eingesetztes Gericht in dem AuslAbk EU-USA vorgesehen sei.118 Wie ein solcher Schluss gezogen worden sein könnte, bleibt offen: Die Wortwahl des Erwägungsgrundes 4, wonach die EU und die USA das AuslAbk EU-USA „unter Berücksichtigung der in ihren jeweiligen Rechtsordnungen verankerten Garantien, die für ausgelieferte Personen das Recht auf ein gerechtes Verfahren einschließlich des Rechts auf ein Urteil durch ein unparteiisches und ordentlich eingesetztes Gericht vorsehen“, abgeschlossen haben, ist zwar eine andere als in Erwägungsgrund 3. Nichtsdestotrotz ist hier keine derart „stärkere“ Formulierung verwendet worden, dass von der „Berücksichtigung“ des Rechts auf ein faires Verfahren automatisch auf einen Ablehnungsgrund bei Nichtvorliegen eines fairen Verfahrens geschlossen werden könnte.119 Unabhängig davon reicht die einseitige Vorstellung, Erwägungsgrund 4 könne einen Ablehnungsgrund darstellen, völkerrechtlich ohnehin nicht aus: Grundsätzlich sind besondere Intentionen der Vertragsparteien zwar auch dann zu berücksichtigen, wenn der Wortlaut diese nicht hinreichend wiedergibt (Art. 31 Abs. 4 WVK). Hierfür muss jedoch feststehen, dass die Vertragsparteien (und damit hier sowohl die EU als auch die USA, vgl. Art. 2 Nr. 1 AuslAbk EU-USA) einem Ausdruck eine bestimmte Bedeutung absichtlich beimessen wollten. Selbst wenn die EU der Präambel die Intention beimessen wollte, dass der Erwägungsgrund 4 der Präambel zum AuslAbk EU-USA als Auslieferungshindernis dienen soll (wovon nach dem Wortlaut des Factsheets aber auch nicht zwingend auszugehen ist und sich in anderen EU-Dokumenten kein weiterer Hinweis in dieser Richtung finden lässt120),

muliert, dass ihr „schwache“ Wörter zugrunde liegen, welche keinen Rückschluss auf einen Ablehnungsgrund zulassen. 118 Das Factsheet ist abrufbar unter: https://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/ docs/pressdata/en/er/76324.pdf (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020): „The Extradition Agreement (…) enshrines the right to a fair trial of an extradited person by an impartial tribunal established pursuant to law“. 119 Auch hier gelangt man durch einen Vergleich mit anderen Sprachfassungen der Präambel zu keinem anderen Ergebnis: Weder die englische „mindful of“), noch die spanische („­teniendo presentes“), französische („gardant à l’esprit“) oder niederländische („indachtig de“) Sprachfassung enthält eine Wortwahl, aus der man einen Ablehnungsgrund ableiten könnte. 120 So wird in dem Handbuch zur praktischen Anwendung des AuslAbk EU-USA (8024/11) auf S. 19 die Todesstrafe ausdrücklich als einziger im AuslAbk EU-USA geregelter Ablehnungsgrund genannt und im Übrigen auf die bilateralen Auslieferungsverträge verwiesen (Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA).

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

kann ein solcher Wille der USA nicht ermittelt werden, sodass es hier allein auf den üblichen Wortsinn und damit auf eine objektive Betrachtung ankommt. Insgesamt kann die Präambel zum AuslAbk EU-USA nicht als Einfallstor eines allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalts dienen. Ihre Erwägungsgründe sind jedoch bei der Auslegung der übrigen möglichen Einfallstore innerhalb des eigentlichen Vertragstexts heranzuziehen und könnten in einer Gesamtschau mit Öffnungsklauseln des eigentlichen Vertragstextes zu dem Ergebnis eines allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalts führen. b) Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 27 AuslV D-USA Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA stellt klar, dass weitere Ablehnungsgründe den bilateralen Verträgen zwischen den USA und den einzelnen Mitgliedstaaten der EU (hier: dem AuslV D-USA inklusive der zwei ZusV) zu entnehmen sind. Über Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 27 AuslV D-USA könnte die innerstaatliche Vorschrift des § 73 S. 1 IRG im Auslieferungsverkehr mit den USA anwendbar sein.121 Im deutschen Recht bestimmt § 73 S. 1 IRG einfachgesetzlich für den vertragslosen Auslieferungsverkehr,122 dass die Leistung von Rechtshilfe unzulässig ist, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde und regelt damit einen allgemeinen an deutschen Standards gemessenen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt  – unter Einschluss der über Art. 25 GG innerstaatlich geltenden völkerrechtlich anerkannten Standards.123 Enthielte Art. 27 AuslV D-USA einen Verweis auf § 73 S. 1 IRG, so wäre gem. Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 27 AuslV D-USA i. V. m. § 73 S. 1 IRG ein nationaler Grund- und Menschenrechtsvorbehalt verfassungsrechtlichen Inhalts 121

So hat das BVerfG (BVerfG, 17. 5. 2017 – 2 BvR 893/17 = NStZ-RR 2017, 226, 228) angenommen, dass in Art. 27 AuslV D-USA ausdrücklich die Anwendbarkeit des § 73 S. 1 IRG im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA bestimmt sei, sodass die Leistung von Rechtshilfe unzulässig ist, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widerspricht. 122 Gem. § 1 Abs. 3 IRG gehen Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen, soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind, den Vorschriften des IRG vor, sodass sich § 73 S. 1 IRG unmittelbar nur auf den vertragslosen Rechtshilfeverkehr bezieht, wenn und weil Verträge die Rechtshilfevoraussetzungen abschließend regeln; s. hierzu Kapitel 2 D. I. 123 S. statt vieler: Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 78. Mangels einer völkerrechtlichen und einer innerstaatlichen Auslieferungspflicht im vertragslosen Rechtshilfeverkehr kann die Bewilligungsbehörde die Auslieferung ohnehin aus menschenrechtlichen und sogar grundrechtlichen Erwägungen verweigern. Praktische Bedeutung kommt der innerdeutschen Ordre-Public-Klausel des § 73 S. 1 IRG daher als Vorschrift über den Rechtshilfeverkehr im Allgemeinen insofern zu, als dass sie Ordre-­P ublicErwägungen bereits in das Zulässigkeitsverfahren vor dem OLG verlagert, s. Rübenstahl, WiJ 2014, 53, 54; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 2 f., 121 ff.

B. Begrenzung der Auslieferungspflicht  

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im Auslieferungsverkehr mit den USA völkervertraglich geregelt und verhinderte damit bereits das Entstehen einer völkerrechtlichen Auslieferungspflicht Deutschlands gegenüber den USA im Falle des Verstoßes gegen einen solchen Vorbehalt. Dies würde auch innerstaatlich durch das Zustimmungsgesetz124 gelten und damit ebenfalls eine innerstaatliche Auslieferungsverpflichtung aufheben. Insofern bestünde damit ein Gleichlauf zwischen der völkerrechtlichen und der innerstaatlichen Verpflichtung gegenüber den USA. aa) Wortlaut Der Wortlaut der deutschen Urschrift gem. Art. 27 AuslV D-USA besagt: „­Soweit dieser Vertrag nichts anderes bestimmt, findet auf das Verfahren der vorläufigen Auslieferungshaft, der Auslieferung und der Durchlieferung das Recht des ersuchten Staates Anwendung.“ Damit regelt Art. 27 AuslV D-USA ausdrücklich die Anwendbarkeit des innerstaatlichen Rechts auf das Verfahren der Auslieferung und damit auf das Auslieferungsverfahren an sich. Hiermit ist dem üblichen Wortsinn nach beispielsweise zunächst einmal die Frage gemeint, welche Stelle über eine Zusicherung bezüglich des Verzichts auf die Todesstrafe zu entscheiden hat. Darüber hinaus kommt auch die Einteilung des Auslieferungsverfahrens Deutschlands in ein gerichtliches Zulässigkeits- und ein exekutivisches Bewilligungsverfahren125 in Betracht. Grund- und Menschenrechte als Ablehnungsgründe sind jedoch negative Voraussetzungen der Auslieferung und regeln nach dem üblichen Wortsinn nicht die Art und Weise des Auslieferungsverfahrens als solches. § 73 S. 1 IRG regelt eine allgemeine Grenze der Rechtshilfe in Form eines Auslieferungshindernisses insbesondere bei Bedenken bezüglich der der Auslieferung folgenden Behandlung oder bezüglich der in der Person des von der Auslieferung Betroffenen liegende Hindernisse. Damit sind für § 73 S. 1 IRG gerade auch solche Verstöße relevant, die sich im durch die Auslieferung zu fördernden ausländischen Strafverfahren manifestieren.126 Der übliche Wortsinn der deutschen Urschrift in Art. 27 AuslV D-USA bezieht sich jedoch nicht auf das der Auslieferung folgende ausländische Strafverfahren, sondern auf das Auslieferungsverfahren als solches. Das Auslieferungsverfahren stellt jedoch gerade kein Strafverfahren dar, sondern befasst sich vielmehr mit der förmlichen Abwicklung des Auslieferungsersuchens,127 sodass der übliche Wortsinn der deutschen Fassung dagegen spricht, in Art. 27 AuslV D-USA einen Verweis auf § 73 S. 1 IRG zu sehen.

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S. hierzu Kapitel 1 A. I. 2. S. hierzu Kapitel 3 B. I. 126 S. hierzu auch Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechts­ hilfeverkehr, § 73 Rn. 4. 127 Ahlbrecht, in: Ahlbrecht / ​Böhm / ​Esser / ​Eckelmanns, Internationales Strafrecht, Rn.  1157; Köberer, in: Hamm / ​Leipold (Hrsg.), Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, XIII E. 1. Rn. 1. 125

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

Die englische Urschrift des Art. 27 AuslV D-USA regelt hingegen: „Except where this Treaty otherwise provides, the law of the Requested State shall be applicable with respect to provisional arrest, extradition and transit.“ Sie bezieht sich damit nicht ausdrücklich auf das Auslieferungsverfahren. Vielmehr könnte die Regelung in der englischen Fassung auch so zu verstehen sein, dass stets dann das innerstaatliche Recht des ersuchten Staates anwendbar ist, wenn der völkerrechtliche Auslieferungsvertrag nichts in Bezug auf einen bestimmten Punkt regelt. Da sich ein allgemeiner Grund- und Menschenrechtsvorbehalt im AuslV D-USA nicht finden lässt,128 könnte Art. 27 AuslV D-USA in der englischen Sprachfassung abweichend zur deutschen so zu verstehen sein, dass diesbezüglich auf innerstaatliche Normen und damit auch auf § 73 S. 1 IRG zurückzugreifen ist. Da sowohl die deutsche als auch die englische Sprachfassung authentisch und damit gleichermaßen verbindlich ist,129 beide Fassungen jedoch nicht zwingend deckungsgleich zu verstehen sind, stellt sich die Frage nach der richtigen Auslegung des Art. 27 AuslV D-USA. Gem. Art. 33 Abs. 4 WVK ist bei einer Divergenz zweier authentischer Texte die Auslegung zu wählen, die beide Texte miteinander in Einklang bringt. Außerdem wird gem. Art. 33 Abs. 3 WVK vermutet, dass den Begrifflichkeiten des Vertragstextes in den verschiedenen authentischen Fassungen stets dieselbe Bedeutung zukommt. Die deutsche Fassung stellt hier eindeutig auf das Verfahren ab, sodass davon auszugehen ist, dass der englischen Fassung – die nicht so eindeutig ist wie die deutsche – dieselbe Bedeutung zukommt wie der deutschen. Daher ist in diese hineinzulesen, dass die innerstaatlichen Normen auf das Verfahren der Auslieferung Anwendung finden, wenn und soweit der völkerrechtliche Auslieferungsvertrag nichts anderes regelt. Diese Bedeutung kann unproblematisch in die englische Textfassung hineingelesen werden, sodass diese Auslegung gem. Art. 33 Abs. 4 WVK beide Texte miteinander in Einklang bringt. Damit kommt eine Auslegung mittels des Wortlauts zu dem Ergebnis, dass in Art. 27 AuslV D-USA kein Verweis auf § 73 S. 1 IRG zu sehen ist. bb) Sinn und Zweck Ein völkerrechtlicher Vertrag und seine einzelnen Bestimmungen sind außerdem im Lichte des Vertragszieles und -zweckes auszulegen (Art. 31 Abs. 1 WVK). Dieser ist dem Vertrag selber zu entnehmen und kann dabei auch aus vorhandenen Anhängen sowie aus der Präambel ermittelt werden.130 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass durch die Auslegung die größtmögliche Wirksamkeit des Vertragszwecks erreicht werden soll (effet utile).131 Sinn und Zweck der Neuregelung des Ausliefe 128

Vgl. Kapitel 1 B. I. 2. S. hierzu Kapitel 1 B. II. 1. 130 Von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 14 Rn. 15. 131 S. Denkschrift Drucksache 8/3107, S. 20: Beide Vertragsparteien sind sich einig, dass der AuslV weit ausgelegt werden soll, sodass hierdurch eine lückenlose Strafverfolgung gewährleistet wird; s. hierzu Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 32. 129

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rungsverkehrs zwischen Deutschland und den USA durch den AuslV D-USA war eine effektive und vereinfachte Strafverfolgung und -vollstreckung,132 sodass der Vertrag auslieferungsfreundlich auszulegen ist. Die Anwendbarkeit des innerstaatlichen Rechts eines Staates außerhalb des Auslieferungsverfahrens bereits bei der Frage des Bestehens eines Auslieferungsablehnungsgrundes steht einer solchen vereinfachten Auslieferung jedoch entgegen. Dagegen richtet sich der Ablauf des Verfahrens der Auslieferung auch traditionell nach dem innerstaatlichen Recht – auch wenn sich in den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen Modifikationen bezüglich z. B. erforderlicher Auslieferungsunterlagen finden.133 Der Ablauf des Auslieferungsverfahrens richtet sich daher ganz überwiegend nach den §§ 10 ff. IRG, da § 1 Abs. 3 IRG insofern nicht greift.134 Verfahrensfragen bezüglich der Auslieferung an sich werden als originär innerstaatliche Angelegenheit angesehen, sodass dies auch dann gelten würde, wenn Art. 27 AuslV D-USA dies nicht regeln würde. Sinn und Zweck des Vertrages sprechen damit gegen eine Auslegung des Vertrages dahingehend, in Art. 27 AuslV D-USA einen Verweis auf § 73 S. 1 IRG und damit auf einen an deutschen Grundrechten gemessenen Vorbehalt zu sehen. cc) Systematik Dieses Ergebnis wird auch durch systematische Erwägungen untermauert: Ablehnungsgründe finden sich im AuslV D-USA in den Art. 4–10, 12, 13 AuslV DUSA und damit in einem anderen Abschnitt des Auslieferungsvertrages. Art. 27 AuslV D-USA steht nicht im systematischen Zusammenhang mit den geregelten Ablehnungsgründen, sondern vielmehr im Zusammenhang mit Fragen des Auslieferungsverfahrens wie z. B. der anzuwendenden Sprache in Auslieferungsersuchen (Art. 28 AuslV D-USA) oder Regeln zu den Auslieferungsunterlagen (Art. 29 AuslV D-USA).135 Dies ergibt sich auch im Vergleich zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. 12. 1957, dem der AuslV D-USA in Aufbau und Inhalt weitgehend folgt.136 Dort ist in Art. 22 geregelt, dass „[s]oweit in diesem Übereinkommen nichts anderes bestimmt ist, […] auf das Verfahren der 132

S. Präambel zum AuslV D-USA: „in dem Wunsch, die Zusammenarbeit beider Staaten bei der Bekämpfung der Kriminalität wirksamer zu gestalten und insbesondere den Verkehr zwischen beiden Staaten auf dem Gebiet der Auslieferung neu zu regeln und dadurch zu erleichtern.“ 133 So z. B. in Art. 14 AuslV D-USA. 134 So Hecker, Europäisches Strafrecht, § 2 Rn. 77; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 24; Schaefer, NJW-Spezial 2008, 536; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​ Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 1 Rn. 24; Weigend, JuS 40 (2000), 105, 106. 135 S. a. die Herausgabe von Gegenständen (Art. 25 AuslV D-USA), die Unterrichtung über den Ausgang des Strafverfahrens (Art. 24 AuslV D-USA); s. den letter of submittal von Warren Christopher an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika am 16. 10. 1978, S. 3: „Articles 14–30 outline the procedures by which extradition shall be accomplished.“ 136 S. Denkschrift zum AuslV D-USA, Drucks. 8/3107, S. 20; s. a. Bericht der Abgeordneten Dr. Wittmann (München) und Lambinus, Drucks. 8/3641, S. 4.

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

Auslieferung und der vorläufigen Auslieferungshaft ausschließlich das Recht des ersuchten Staates Anwendung [findet]“.137 Die vorangestellte Norm (Art. 21) ist ebenso wie beim AuslV D-USA (Art. 26) eine Norm zur Durchlieferung, die nachgestellte Norm (Art. 23) ist ebenso wie beim AuslV D-USA (Art. 28) eine Norm zur anzuwendenden Sprache. Da das EuAlÜbk als „Vorbild“ gedient hat, ist davon auszugehen, dass durch diese Normen inhaltlich das Gleiche geregelt werden sollte. Auch die Systematik spricht damit gegen eine Auslegung des Vertrages dergestalt, dass in Art. 27 AuslV D-USA ein Verweis auf § 73 S. 1 IRG und damit auf einen allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt gemessen an deutschen Werten enthalten ist. dd) Historie Auch wenn historische Erwägungen bezüglich der Entstehung einer fraglichen Regelung subsidiär und damit erst dann heranzuziehen sind, wenn die Auslegung nach Maßgabe der vorherigen Auslegungsgrundsätze noch nicht eindeutig ist oder offensichtlich kein vernünftiges oder einsichtiges Auslegungsergebnis vorliegt,138 steht eine historische Auslegung dem bisherigen Auslegungsergebnis auch nicht entgegen: In der Denkschrift zum AuslV D-USA139 steht ausdrücklich, dass Art. 27 AuslV D-USA die Anwendung des Verfahrensrechts des ersuchten Staates klarstellen soll, nicht jedoch, dass sich Ablehnungsgründe auch aus dem innerstaatlichen Verfassungsrecht ergeben sollen. Historische Erwägungen stehen damit der Auslegung, dass Art. 27 AuslV DUSA keinen Verweis auf § 73 S. 1 IRG enthält, nicht entgegen. ee) Zusammenfassung: Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 27 AuslV D-USA Insgesamt kann hinsichtlich des Art. 27 AuslV D-USA festgehalten werden, dass die Regelung Bezug auf das Verfahren der Auslieferungshaft, das Verfahren der Auslieferung und das Verfahren der Durchlieferung nimmt und für diese Verfahren die Anwendung des innerstaatlichen Rechts für den Fall normiert, dass der jeweils maßgebliche völkerrechtliche Vertrag keine speziellen Vorgaben hierzu enthält. Art. 27 AuslV D-USA stellt damit die Anwendbarkeit des Auslieferungsverfahrens nach innerstaatlichem Recht klar, das in den §§ 10 ff. IRG geregelt ist, solange § 1 Abs. 3 IRG nicht entgegensteht. Damit findet sich in Art. 27 AuslV 137 Auch in der englischen Fassung ist die Formulierung von Art. 22 EuAlÜbk eindeutig: „Except where this Convention otherwise provides, the procedure with regard to extradition and provisional arrest shall be governed solely by the law of the requested Party.“ 138 Art. 32 WVK; s. hierzu von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 14 Rn. 18. 139 BT-Drucks. 8/3107, S. 28.

B. Begrenzung der Auslieferungspflicht  

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­ -USA kein Verweis auf § 73 S. 1 IRG, da dies keine Vorschrift zur Regelung des D Auslieferungsverfahrens darstellt, sondern ein allgemeines Rechtshilfehindernis. § 73 S. 1 IRG ist damit nicht über Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 27 AuslV D-USA im Auslieferungsverkehr mit den USA anwendbar.140 c) Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA sieht Konsultationen i. S. d. Art. 15 AuslAbk EU-USA für den Fall vor, dass „die Verfassungsgrundsätze des ersuchten Staates oder die für diesen verbindlichen endgültigen richterlichen Entscheidungen ein Hindernis für die Erfüllung seiner Auslieferungspflicht darstellen können und dieses Abkommen oder der geltende bilaterale Vertrag keine Regelung dieser Angelegenheit vorsehen“. Hierin könnte ein Verweis auf einen allgemeinen an deutschen Maßstäben zu messenden Grund- und Menschenrechtsvorbehalt i. S. d. § 73 S. 1 IRG141 oder gar auf einen an europäischen Werten zu messenden allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt142 zu sehen sein und damit auf ein Auslieferungshindernis bei nationalen bzw. europäischen grund- und menschenrechtlichen Bedenken bezüglich der Behandlung des Verfolgten nach der Auslieferung. aa) Der Wortlaut der Norm, Art. 31 Abs. 1 WVK Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA regelt die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen als Rechtsfolge Konsultationen zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Staat stattfinden sollen. Dies ist der Fall, wenn die Verfassungsgrundsätze des ersuchten Staates oder die für diesen verbindlichen endgültigen richterlichen Entscheidungen – und damit die Entscheidungen des EGMR und des EuGH –143 im konkreten Auslieferungsfall ein Hindernis für die Erfüllung der Auslieferungspflicht seitens des ersuchten Staates darstellen. Darüber hinaus darf das AuslAbk EU-USA oder der AuslV D-USA inklusive seiner zwei Zusatzverträge keine Regelung einer solchen „Angelegenheit“ treffen. Damit ist völkervertraglich festgelegt, dass sich bei verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich einer der Auslieferung folgenden Behandlung des Verfolgten oder wegen in seiner Person liegender Auslieferungshindernisse der ersuchende und der ersuchte Staat konsultieren sollen. Das AuslAbk EU-USA und der AuslV D-USA inklusive seiner Zusatzverträge nor 140 Hiervon zu trennen ist jedoch die Frage, ob 1 Abs. 3 IRG tatsächlich innerstaatlich die Anwendbarkeit eines Grundrechtsvorbehalts verhindert, s. hierzu Kapitel 2 D. II. 1. 141 So Rübenstahl, WiJ 2014, 53, 54, welcher hieraus ein Auslieferungshindernis ableitet; für einen Ablehnungsgrund aufgrund nationaler Verfassungsbedenken auch Wouters / ​Naert, Working Paper No. 56, S. 20 f. 142 So Wouters / ​Naert, Working Paper No. 56, S. 21. 143 Schröder / ​Stiegel, in: Sieber / ​Satzger / ​von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 35 Rn. 10; Mitsilegas, EuFAR 8 (2003), 515, 528.

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

mieren zwar punktuelle Anwendungsbereiche eines Grund- und Menschenrechtsschutzes, sie enthalten jedoch keinen allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt, sodass zum Beispiel bei verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich der Behandlung des Verfolgten im ersuchenden Staat Konsultationen stattfinden. Es wird damit zwar eindeutig auf die Verfassungsgrundsätze und die endgültigen richterlichen Entscheidungen völkervertraglich Bezug genommen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Norm nach ihrem üblichen Wortsinn einen Ablehnungsgrund vorsieht, da sie „nur“ Konsultationen i. S. d. Art. 15 AuslAbk EU-USA als Rechtsfolge vorgibt. Nach dem gewöhnlichen Wortsinn meinen Konsultationen Verhandlungen. Nach dieser Regelung sollen zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Staaten also Verhandlungen stattfinden, wenn gegen die Auslieferung verfassungsrechtliche Bedenken des ersuchten Staates bestehen oder Entscheidungen des EGMR oder des EuGH entgegenstehen. Der Wortlaut lässt damit objektiv nach seinem üblichen Wortlaut erkennen, dass sogar entsprechende grund- und menschenrechtliche Bedenken durch Konsultationen völkerrechtlich überwindbar sind,144 da nicht geregelt ist, ob im Falle des Scheiterns der Konsultationen die Auslieferungspflicht dennoch besteht. Die Konsultationen sollen damit zwar zu einer Einigung führen, bei Scheitern der Verhandlungen stellen sie nach dem gewöhnlichen Wortsinn jedoch kein Recht zur Ablehnung der Auslieferung dar und beseitigen eine Auslieferungspflicht damit nicht. In der Praxis können bloße Verhandlungen dem üblichen Wortsinn nach lediglich zu einem Aufschub der tatsächlichen Auslieferung durch längere Gespräche zwischen den Staaten führen, sie vermögen eine Auslieferungspflicht jedoch nicht zu beseitigen. Auch bei Einbeziehung der Überschrift des Art. 17 AuslAbk EU-USA („Nichtabweichung“) ergibt sich nichts anderes: Es stellt keine Abweichung von den Vertragspflichten dar, wenn die USA und Deutschland sich im Falle von verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Auslieferung seitens Deutschland konsultieren. Im Umkehrschluss lässt sich dies dann auch so interpretieren, dass es dagegen sehr wohl eine Abweichung von den vertraglichen Pflichten darstellt, wenn zwar Konsultationen stattgefunden haben, diese allerdings fruchtlos geblieben sind und Deutschland trotzdem aufgrund grundrechtlicher Bedenken nicht ausliefert. bb) Sinn und Zweck Sinn und Zweck des Abkommens könnten aber zu einem anderen Ergebnis führen: Die Präambel zum AuslAbk EU-USA gibt als Vertragsziel und -zweck an, für eine effektivere Strafverfolgung und -vollstreckung zu sorgen und den Auslieferungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten der EU und den USA zu erleichtern.145 Konsultationen und damit Verhandlungen zwischen dem ersuchenden und dem er 144 145

Zu einem solchen Ergebnis gelangt auch Kaiafa-Gbandi, KritV 87 (2004), 3, 16. Erwägungsgrund 1 der Präambel zum AuslAbk EU-USA.

B. Begrenzung der Auslieferungspflicht  

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suchten Staat an verfassungsrechtliche Bedenken oder an einen Widerspruch zu den endgültigen richterlichen Entscheidungen zu knüpfen, kann in Anbetracht des Zwecks einer effektiven Nutzung des Abkommens in zweierlei Hinsicht verstanden werden: Zunächst kann dies so verstanden werden, dass die USA die nationalen Bedenken akzeptieren und in den Verhandlungen entsprechende den Bedenken Rechnung tragende Bedingungen der Auslieferung aushandeln sollen (z. B. durch Zusicherungen seitens der USA), sodass daraufhin ohne solche Bedenken ausgeliefert werden kann. Andererseits kann dies auch so verstanden werden, dass Deutschland als ersuchter Staat durch die Verhandlungen davon überzeugt werden soll, trotz verfassungsrechtlicher Bedenken bezüglich der endgültigen richterlichen Entscheidung auszuliefern.146 Eine effektive Nutzung des Abkommens wird jedenfalls nicht dadurch erreicht, dass ein generelles Auslieferungshindernis bei verfassungsrechtlichen Bedenken angenommen wird, sondern nur dadurch, dass eine Auslegung zu dem Ergebnis führt, dass auch tatsächlich ausgeliefert wird. Dementsprechend ergibt eine Auslegung nach Sinn und Zweck des Vertrages, dass durch die Verhandlungen entweder der ersuchende oder der ersuchte Staat zum „Einlenken“ gebracht werden soll – in beiden Fällen mit dem Ergebnis, dass tatsächlich ausgeliefert wird. Ein völkervertraglich geregelter Ablehnungsgrund kann aus dem Sinn und Zweck des Vertrages daher nicht abgeleitet werden. cc) Systematik Aus systematischen Erwägungen könnte sich jedoch ein Ablehnungsgrund aus Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA ergeben. Eine Einbeziehung der Präambel zum AuslAbk EU-USA könnte zu einem Ablehnungsgrund bei Bedenken zumindest gegen den europäischen Grund- und Menschenrechtsstandard führen.147 Gem. Art. 31 Abs. 2 WVK ist die Präambel im Zusammenhang zum eigentlichen Vertragstext bei der Auslegung heranzuziehen. Die Präambel selber enthält ein generelles Bekenntnis zu den Rechten des Einzelnen und zum Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Allerdings wird auch in der Präambel darauf verwiesen, dass die Rechte zu beachten und zu berücksichtigen seien, sodass diese Wortwahl dem üblichen Wortsinn nach gegen einen Ablehnungsgrund spricht.148 Auch ein Vergleich mit Art. 3 des Vertrages zwischen Deutschland und den USA über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 14. 10. 2003149 i. d. F. des Zusatzvertrages

146

Vgl. Kaiafa-Gbandi, KritV 87 (2004), 3, 16. So wohl Wouters / ​Naert, Working Paper No. 56, S. 21, der davon ausgeht, dass unter Berücksichtigung der Präambel die Individualrechte und das Recht auf ein faires Verfahren, wie es durch die Rechtsprechung des EGMR garantiert wird, als Auslieferungshindernis anerkannt sind. 148 S. hierzu Kapitel 1 B. II. 2. a). 149 BGBl. 2007 II, S. 1620. 147

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

vom 18. 4. 2006150 führt zu einem solchen Schluss: Dort ist ein ausdrücklicher Ablehnungsgrund für die sonstige Rechtshilfe enthalten, „wenn die Erledigung des Ersuchens die Souveränität, die Sicherheit oder andere wesentliche Interessen des ersuchten Staates beeinträchtigen würde“. Bei sonstiger Rechtshilfe ist damit ausdrücklich ein allgemeiner Vorbehalt geregelt, was auch dadurch deutlich wird, dass die Überschrift dort eindeutig von „Ablehnung“ bzw. „refusal“ spricht. Ein solch ausdrücklicher Ablehnungsgrund ist in Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA jedoch gerade nicht geregelt. dd) Historie In Bezug auf Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA haben die bisher dargelegten Auslegungsmethoden bereits zu einem eindeutigen Ergebnis geführt. Dies könnte auch mit historischen Erwägungen im Einklang stehen. Das AuslAbk EU-USA ist als Ausdruck der Solidarität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegenüber den USA vor dem Hintergrund der Terroranschläge vom 11. September 2001 zu werten. Als solches war den Vertragsparteien daran gelegen, die Vertragsverhandlungen möglichst zügig durchzuführen. Dies zeigt sich insbesondere auch daran, dass der verhandelte Vertragstext sehr lange geheim gehalten worden ist und zunächst weder das Europäische Parlament151 noch nationale Parlamente einbezogen worden sind.152 In einer Empfehlung vom 3. 6. 2003 (und damit nur kurz vor Abschluss des AuslAbk EU-USA vom 25. 6. 2003) hat das Europäische Parlament sogar seine Freude darüber kundgetan, dass sich der Rat kurz zuvor dazu entschieden hat, die Geheimhaltung des Inhalts der Entwürfe zum AuslAbk EU-USA aufzuheben.153 Vor dem Hintergrund der Terroranschläge sollten die Auslieferungsverfahren der Mitgliedstaaten mit den USA vielmehr schnell einheitlicher ausgestaltet werden. Widersprüchlich ist jedoch Folgendes: Das Europäische Parlmanent hat in der Empfehlung an den Rat bezüglich des AuslAbk EU-USA vom 3. 6. 2003154 klargestellt, dass das Abkommen den Schutz des Beschuldigten stärken soll, indem die in den bilateralen Abkommen enthaltenen und zugleich die in der europäischen 150

BGBl. 2007 II, S. 1643. Das Europäische Parlament war unter dem Verfahren nach Art. 24, 38 EUV a. F. nicht zwingend zu beteiligen, s. hierzu Brodowski, NJECL 2 (2011), 21, 29; Mitsilegas, EuFAR 12 (2007), 457, 472; Mitsilegas, EU criminal law, S. 294. 152 S. hierzu statt vieler Mitsilegas, EuFAR 8 (2003), 515, 523 ff.; Mitsilegas, EU criminal law, S. 293 ff.; Wouters / ​Naert, Working Paper No. 56, S. 19. Vielmehr hat das Europäische Parlament in einer Empfehlung bzgl. des AuslAbk EU-USA (B5–0540/2002) dem Rat der EU vorgeschlagen, sowohl das Europäische Parlament als auch die nationalen Parlamente über den Stand der Vertragsverhandlungen zu informieren. 153 ABl. C 68 E v. 18. 3. 2004, S. 140 f. 154 ABl. C 68 E v. 18. 3. 2004, S. 141 f. 151

B. Begrenzung der Auslieferungspflicht  

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Gesetzgebung vorgesehenen Garantien bestärkt werden.155 Zugleich hat das Europäische Parlament empfohlen, in dem Abkommen ausdrücklich auf Art. 6 EUV und auf die GrCh der EU zu verweisen, damit diese Bestimmungen bindend sind, da der EU die Legitimation fehle, über diese Rechte hinaus Verpflichtungen einzugehen, und dies den USA gegenüber auch aufrichtig mitgeteilt werden solle.156 Darüber hinaus sollte nach der Empfehlung eine Auslieferung an die USA ausdrücklich ausgeschlossen werden, wenn in den USA ein Sondergericht und / ​oder ein Militärgericht zuständig ist.157 In dem in Kraft getretenen AuslAbk EU-USA ist jedoch trotz der eindeutigen Empfehlungen des Europäischen Parlaments weder ein solcher Verweis auf Art. 6 EUV und auf die GrCh der EU noch ein ausdrücklicher Ablehnungsgrund bei der Zuständigkeit amerikanischer Sondergerichte und / ​oder Militärgerichte zu finden. Dies kann einerseits so gewertet werden, dass die europäischen Grund- und Menschenrechte absichtlich nicht aufgenommen worden sind, weil diesbezüglich kein Ablehnungsgrund eingeführt werden sollte. Andererseits kann dies auch daran gelegen haben, dass die Vertragsverhandlungen mit den USA diesbezüglich zu keinem Ergebnis geführt haben und den Vertretern der EU daran gelegen war, aus Solidarität gegenüber den USA den Vertragsabschluss zeitnah herbeizuführen. In beiden Fällen hat die EU objektiv betrachtet jedenfalls keinen allgemeinen Ablehnungsgrund bei europäischen grund- und menschenrechtlichen Bedenken bezüglich der der Auslieferung folgenden Behandlung des Auszuliefernden installiert. Historische Erwägungen stehen dem bisherigen Auslegungsergebnis daher nicht entgegen. ee) Zusammenfassung: Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA Die in Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA angeordneten Konsultationen stellen damit keinen Ablehnungsgrund im Falle von verfassungsrechtlichen Bedenken oder bei Bedenken bezüglich endgültiger verbindlicher richterlicher Entscheidungen dar. Es handelt sich vielmehr um eine politische Lösung, die im Konfliktfall zu einer einvernehmlichen Lösung der Staaten führen soll und bei der die Effektivität 155

ABl. C 68 E v. 18. 3. 2004, S. 141. S. ABl. C 68 E v. 18. 3. 2004, S. 142: „Recommends that the agreements should refer explicitly to Article 6 of the EU Treaty and to the Charter of Fundamental Rights of the European Union so that the provisions of those agreements are binding: firstly, because the Union may not lawfully negotiate in areas outside the powers conferred and constraints imposed on it by its founding treaty and, secondly, on grounds of good faith towards the United States which, being a party neither to the European Convention nor to the control mechanisms, must not be surprised by the constraints on the Union deriving therefrom; believes that an explicit ­reference to the Charter of Fundamental Rights (where appropriate, in the explanatory notes to the agreements)would also be more than appropriate, given that it was formally proclaimed at the Nice European Council on 7 December 2000“. 157 Vgl. ABl. C 68 E v. 18. 3. 2004, S. 142. 156

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

der Strafverfolgung und -vollstreckung im Vordergrund steht – die Individualinteressen werden dieser untergeordnet. Die Durchsetzung nationaler Verfassungsrechte und damit die Grundrechte des GG oder auch fundamentale europäische Grund- und Menschenrechte werden hiernach von dem Ergebnis der Verhandlungen zwischen den USA und Deutschland abhängig gemacht. Ein völkervertraglich geregelter Ablehnungsgrund kann hierin nicht gesehen werden.158 Deutschland bleibt damit völkerrechtlich zur Auslieferung verpflichtet, solange die USA in den Konsultationen nicht auf die Auslieferung verzichten und ist dementsprechend bei verfassungsrechtlichen Bedenken bzw. Bedenken in Bezug auf endgültige richterliche Entscheidungen auf ein Einlenken seitens der USA in den Verhandlungen angewiesen. Dadurch werden Grund- und Menschenrechte zugunsten eines effektiven Auslieferungsverkehrs zum Verhandlungsobjekt zwischen den Staaten. d) Zwischenergebnis Auch die Auslegung der einzelnen möglichen Öffnungsklauseln in den Auslieferungsverträgen mit den USA führt nicht zu dem Ergebnis eines völkervertraglich geregelten allgemeinen Ablehnungsgrundes bei grund- und menschenrechtlichen Bedenken bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat. e) Generelle grund- und menschenrechtsfreundliche Auslegung? Eine weitere Möglichkeit, im Rahmen einer Auslegung einen weitergehenden Individualrechtsschutz durch einen allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt zu ermitteln, besteht darin, eine grund- und menschenrechtsfreundliche Auslegung von Auslieferungsverträgen dergestalt vorzunehmen, dass die völkerrechtlichen Auslieferungsverträge mit den USA generell inzident unter dem Vorbehalt einer grund- und menschenrechtskonformen Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat stehen. Immerhin könnte sich der Gedanke aufdrängen, dass die Vertragsparteien eines völkerrechtlichen Auslieferungsvertrages die Bindung des jeweils anderen Vertragspartners an (andere) Grund- und Menschenrechte akzeptieren müssen und dieser insofern von vornherein entgegenstehenden völkerrechtlichen Pflichten nicht nachzukommen braucht. Bei den Auslieferungsverträgen könnte dann auch bei Fehlen einer entsprechenden Regelung davon ausgegangen werden, dass sich die Staaten nicht bei drohender Grund- und Menschenrechtsverletzung zur Auslieferung verpflichten wollten, sodass jeder Auslieferungsvertrag unter dem stillschweigenden Vorbehalt einer grund- und menschenrechtskonformen Behandlung im ersuchenden Staat stünde.

158 So i. E. auch Kaiafa-Gbandi, KritV 87 (2004), 3, 16; Mitsilegas, EuFAR 8 (2003), 515, 528; Mitsilegas, EuFAR 12 (2007), 457, 473.

B. Begrenzung der Auslieferungspflicht  

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aa) Inzidenter Vorbehalt der Beachtung nationaler oder europäischer Werte? Es könnte insbesondere zu berücksichtigen sein, dass Deutschland als Mitgliedstaat der EU dazu verpflichtet ist, die Vorgaben der EU einzuhalten und auch die EU selber an Grund- und Menschenrechte gebunden ist  – insbesondere da der Grundrechtsschutz innerhalb der EU immer mehr an Bedeutung erlangt.159 Dies war den Vertretern der USA auch bei der Vertragsunterzeichnung sowohl des AuslAbk EU-USA als auch bei der des Zweiten ZusV zum AuslV D-USA bekannt.160 Dennoch ist die Grenze der Auslegung der Verträge der Wortlaut.161 Der Wortlaut der möglichen Einfallstore eines Grund- und Menschenrechtsvorbehalts – die nur teilweise Bezug auf nationales und europäisches Recht nehmen – gibt einen solchen inzidenten Grund- und Menschenrechtsvorbehalt jedoch nicht her. Deswegen hat das Europäische Parlament dem Rat wohl auch in der Empfehlung vom 3. 6. 2003 kurz vor der Vertragsunterzeichnung als Verbesserungsvorschlag dringend dazu angeraten, ausdrücklich auf Art. 6 EUV und auf die GrCh zu verweisen. Völkervertraglich162 ist damit kein Ablehnungsgrund für den Fall geregelt, dass die Behandlung des Verfolgten im ersuchenden Staat nationalen oder europäischen Standards widerspricht, sodass ein solcher auch nicht innerstaatlich durch das Umsetzungsgesetz anwendbar geworden ist. bb) Inzidenter Vorbehalt der Beachtung gemeinsamer Werte? Anderes könnte jedoch hinsichtlich der sowohl für die USA als auch für die Mitgliedstaaten der EU bestehenden gemeinsamen universellen Wertvorstellungen gelten, die sich beispielsweise aus dem Völkergewohnheitsrecht oder aus dem IPbpR ergeben. Dafür, dass das innerstaatlich anwendbare AuslAbk EU-USA unter einen solchen Vorbehalt völkerrechtlichen Inhalts gestellt worden ist, könnte zunächst die Präambel sprechen: Erwägungsgrund 2 der Präambel zum AuslAbk EU-USA geht davon aus, dass die Vertragsparteien sich über die vertraglichen Regeln geeinigt haben, um ihre gemeinsamen Werte vor Verbrechen zu schützen. Dies deutet darauf hin, dass sich die Vertragsparteien nicht dazu verpflichten wollten, auch dann auszuliefern, wenn der ersuchende Staat im Einzelfall gegen gemeinsame völkerrechtliche Wertvorstellungen verstößt und den Verfolgten nach der Auslieferung gemessen an den gemeinsamen Wertvorstellungen grund- bzw. 159

Dies zeigt sich bspw. daran, dass die Achtung der Menschenrechte im Erwägungsgrund 4 der Präambel zum EUV und in Art. 2 EUV erklärtes Ziel der Mitgliedstaaten und der EU selbst ist. 160 S. nur Art. 21 AuslAbk EU-USA, wonach eine Überprüfung der Durchführung des Abkommens innerhalb von fünf Jahren nach dem Inkrafttreten insbesondere unter dem Aspekt erfolgen soll, dass sich die EU noch in einem Prozess der Weiterentwicklung befindet. 161 S. hierzu Kapitel 1 B. II. 1. 162 Unabhängig hiervon ist jedoch die Frage, ob dieses völkervertragliche Auslegungsergebnis einer innerstaatlichen Korrektur bedarf, s. hierzu Kapitel 2 D. II. 1.

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

menschenrechtswidrig behandelt. Die Auslieferung soll vielmehr dazu dienen, völkerrechtliche Werte zu schützen. Darüber hinaus besteht ein Unterschied zu den benannten Einfallstoren eines Grund- und Menschenrechtsvorbehalts (Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 27 AuslV D-USA und Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA): Letztere nehmen ausschließlich nationale oder europäische Werte in Bezug, haben sich jedoch nicht als völkervertraglich geregelte Ablehnungsgründe erwiesen. Völkerrechtliche Grund- und Menschenrechte finden in diesen Klauseln keinerlei Erwähnung. Es findet sich vielmehr keine allgemeine Öffnungsklausel für völkerrechtliche Grund- und Menschenrechte. Diese zwei Erwägungen machen Folgendes sehr deutlich: Bei den Vertragsverhandlungen ist der Fall, dass der ersuchende Staat den Verfolgten nach der Auslieferung entgegen gemeinsamer völkerrechtlicher Werte behandeln könnte, schlicht nicht bedacht worden. Ein tatsächlicher Anknüpfungspunkt für einen Ablehnungsgrund im Fall eines Verstoßes gegen gemeinsame völkerrechtliche Wertvorstellungen lässt sich nicht finden. Der Wortlaut ist jedoch die Grenze der Auslegung. Etwaige subjektive Vorstellungen der Vertragsparteien sind erst dann zu berücksichtigen, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien einem Ausdruck eine bestimmte Bedeutung absichtlich beimessen wollten (Art. 31 Abs. 4 WVK).163 An einer Öffnungsklausel fehlt es jedoch gerade im Vertragstext. Es lässt sich damit kein Anknüpfungspunkt ermitteln, dem die Bedeutung beigemessen werden könnte, als allgemeiner Grund- und Menschenrechtsvorbehalt völkerrechtlichen Inhalts zu dienen. Auch eine grund- und menschenrechtsfreundliche Auslegung vermag nicht zu dem Ergebnis zu kommen, dass die Auslieferungspflicht unter den inzidenten Vorbehalt einer in Bezug auf universelle Werte grund- und menschenrechtskonformern Behandlung im ersuchenden Staat gestellt worden ist. Völkervertraglich besteht damit auch kein entsprechender Vorbehalt in Bezug auf gemeinsame Grund- und Menschenrechte. 3. Ergebnis der Auslegung der innerstaatlich im Auslieferungsverkehr mit den USA anwendbaren Auslieferungsverträge Einzelne Bezüge zu Grund- und Menschenrechten finden sich in den innerstaatlich unmittelbar anwendbaren völkervertraglichen Regelungen für den Auslieferungsverkehr mit den USA zwar insbesondere in den Erwägungsgründen 3 und 4 der Präambel und Art. 13 und Art. 17 des AuslAbk EU-USA, allerdings findet sich in dem multilateralen Vertragswerk der EU lediglich in Art. 13 ein tatsächlicher völkervertraglich geregelter Ablehnungsgrund. Die Präambel enthält zwar ein Bekenntnis zur Wahrung von Grund- und Menschenrechten, statuiert jedoch keinen allgemeinen Ablehnungsgrund, sodass Deutschland auch bei grund- und 163

S. hierzu Kapitel 1 B. II. 1.

C. Ergebnisse Kapitel 1 

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menschenrechtlichen Bedenken bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden im um Auslieferung ersuchenden Staat grundsätzlich zur Auslieferung verpflichtet bleibt. Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA ermöglicht nur Konsultationen zwischen den beteiligten Staaten bei Bedenken bezüglich der (an nationalen und europäischen Werten gemessenen) grund- und menschenrechtskonformen Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat. Dies stellt jedoch keinen völkervertraglich geregelten Ablehnungsgrund dar. In dem bilateralen Vertag zwischen Deutschland und den USA (AuslV D-USA i. d. F. seiner zwei Zusatzverträge) wird zwar punktuell auf Individualrechte Bezug genommen, auch hier findet sich jedoch kein durch Auslegung ermittelbarer genereller Vorbehalt bei grund- und menschenrechtlichen Bedenken.

C. Ergebnisse Kapitel 1 Der Auslieferungsverkehr mit den USA ist völkervertraglich geregelt. Diese Normierungen führen die (positiven und negativen) Voraussetzungen auf, unter denen Deutschland als ersuchter Staat völkerrechtlich zur Auslieferung verpflichtet ist und die ausländische (amerikanische) Strafverfolgung oder -vollstreckung durch Übergabe des Auszuliefernden unterstützen muss. Diese völkerrechtlichen Verträge haben durch Umsetzungsgesetze Eingang in die deutsche Rechtsordnung gefunden. Eine Diskrepanz zwischen der völkerrechtlichen und der innerstaatlichen Pflichtenlage wird dadurch, dass eine völkerrechtliche Ratifikation einer innerstaatlichen Umsetzung bedarf, zunächst grundsätzlich ausgeschlossen: Sowohl der AuslV D-USA in der Fassung seiner zwei Zusatzverträge als auch das AuslAbk EU-USA sind innerstaatlich in Deutschland durch Vertragsgesetze umgesetzt worden. Allerdings findet sich in den Auslieferungsverträgen im Auslieferungsverkehr mit den USA nur ein punktueller Schutz von Individualinteressen des Verfolgten. Sowohl das AuslAbk EU-USA als auch der AuslV D-USA in der Fassung seiner zwei Zusatzverträge weisen zwar einzelne spezielle individualrechtsschützende Vorschriften auf. Diese gewähren jedoch nur einen punktuellen Individualrechtsschutz und normieren keinen allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt als Ablehnungsgrund – weder in Form eines völkerrechtlichen, eines europäischen noch eines nationalen Grund- und Menschenrechtsvorbehalts. Insbesondere sind kaum Ablehnungsgründe aus rechtsstaatlichen Gründen wie beispielsweise bei Bedenken bezüglich eines fairen Verfahrens im um Auslieferung ersuchenden Staat oder bei drohender Folter nach erfolgter Auslieferung erfasst. Auch z. B. der Fall, dass in den USA nach erfolgter Auslieferung eine Isolationshaft des Verfolgten droht, ist nicht völkervertraglich als Auslieferungshindernis geregelt. Damit gehen die Auslieferungsverträge im Verhältnis zu den USA davon aus, dass im zwischenstaatlichen Auslieferungsverkehr die verschiedenen Rechtsordnungen zu achten und nicht an den nationalen, europäischen oder völkerrechtlichen Wertvorstellungen zu messen sind. Dem steht es jedoch entgegen, dass der Auslieferung traditionell dort Grenzen gesetzt sind und Ablehnungsgründe entgegenstehen, wo die

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Kap. 1: Völkervertraglicher Individualrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr?

Wertvorstellungen der beteiligten Staaten zu weit auseinanderfallen, was sich z. B. in der traditionellen Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit zeigt. Überträgt man dies auf die Wahrung von Grund- und Menschenrechten, bleibt zu klären, ob unabhängig von einer völkervertraglichen Regelung die Auslieferung dennoch im Einzelfall versagt werden kann oder sogar versagt werden muss, wenn das ernste Risiko einer Grund- und Menschenrechtsverletzung nach erfolgter Auslieferung in den USA besteht: Grund- und menschenrechtliche Bedenken könnten das im Zulässigkeitsverfahren zuständige OLG dennoch dazu berechtigen oder sogar verpflichten, die Auslieferung als unzulässig zu bewerten, wenn die grund- und menschenrechtlichen (völkerrechtlichen, europäischen oder deutschen) Standards im ausländischen Staat (voraussichtlich) nicht eingehalten werden. Überraschend ist vor allem, dass das AuslAbk EU-USA keine Norm enthält, die europäische Werte bezüglich der Individualinteressen des Auszuliefernden explizit schützt, obwohl die EU selbst Vertragspartner des Abkommens ist:164 Das Abkommen regelt keinen ausdrücklichen Ablehnungsgrund in Gestalt eines europäischen Grund- und Menschenrechtsvorbehalts – und das obwohl alle Mitgliedstaaten der Union zum Zeitpunkt des Abschlusses des Abkommens an die durch die Mitgliedstaaten des Europarats entwickelten europäischen Garantien der EMRK gebunden waren und die GrCh zu diesem Zeitpunkt zumindest proklamiert165 worden war. Vielmehr enthält das AuslAbk EU-USA sogar lediglich einen einzigen Ablehnungsgrund (Art. 13 AuslAbk EU-USA). Für weitere Ablehnungsgründe wird in Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA auf die bilateralen Verträge der Mitgliedstaaten der EU verwiesen, obwohl das Abkommen der EU als Rahmenvertrag dienen und als solcher zumindest unionale Mindeststandards setzen sollte. So ist es doch verwunderlich, dass das AuslAbk EU-USA als solches den eigenen europäischen Grund- und Menschenrechtsstandard, auf dem die EU fußt und der Kernelement europäischer Integration geworden ist, noch nicht einmal ausdrücklich als Ablehnungsgrund erwähnt hat – und das trotz ausdrücklicher Empfehlung des Europäischen Parlaments, eine entsprechende Klausel aufzunehmen. Einheitliche Standards innerhalb der EU werden durch das AuslAbk EU-USA zwar beispielsweise 164 Insbesondere in neueren Instrumenten der EU werden die europäischen Grund- und Menschenrechtsgewährleistungen stärker in Bezug genommen, vgl. bspw. Art. 11 Abs. 1 lit. f) der Richtlinie 2014/41 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. 4. 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, ABl. L 130 v. 1. 5. 2014, S. 1 ff. und Erwägungsgrund 80 zur Verordnung 2017/1939 des Rates v. 12. 10. 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EuStA), ABl. L 283 v. 31. 10. 2017, S. 1, 10. 165 Die GrCh ist erstmalig bereits am 7. 12. 2000 unterzeichnet worden (vgl. ABl. C 364 v. 18. 12. 2000, S. 1 ff.). Am 12. 12. 2007 ist sie leicht abgeändert erneut proklamiert worden (vgl. ABl. C 303 v. 14. 12. 2007, S. 1 ff., 17 ff.) und hat erst mit dem Vertrag von Lissabon den Rang von Primärrecht erhalten (s. Art. 6 Abs. 1 EUV; vgl. zudem das Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Unionauf Polen und das Vereinigte Königreich (Nr. 30), ABl. C 115 v. 9. 5. 2008, S. 313 ff.), s. hierzu Borowsky, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, GrCh Vorbemerkungen Rn. 2 ff.; Weißer, in: Schulze / ​Janssen / ​ Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, § 16 Rn. 6.

C. Ergebnisse Kapitel 1 

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für die auslieferungsfähigen Straftaten gesetzt (Art. 4 AuslAbk EU-USA). Erstaunlicherweise werden hingegen in Bezug auf die europäischen Grund- und Menschenrechte durch das AuslAbk EU-USA keine Mindestvoraussetzungen gesetzt. Zugunsten einer effektiveren Auslieferung und um bessere Beziehungen zu den USA durch Solidaritätsbekundungen aufzubauen, ist die EU aus Anlass der Terroranschläge vom 11. September 2001 Vertragspartnerin eines Auslieferungsabkommens geworden, in dem Grund- und Menschenrechte keine bedeutende Rolle spielen und abgesehen von dem Ablehnungsgrund bei der Möglichkeit einer Vollstreckung der Todesstrafe keine Ablehnungsgründe aufgrund von europäischen Grund- und Menschenrechten enthält. Damit werden die Errungenschaften der Grund- und Menschenrechte innerhalb der EU im Auslieferungsverfahren mit den USA zugunsten einer effektiven Strafverfolgung zur Disposition gestellt: Die Grund- und Menschenrechte, die innerhalb eines Übergabeverfahrens in der EU zu berücksichtigen sind,166 könnten jedoch erst recht im Verhältnis zu Drittstaaten wie den USA als Anlass für ein Auslieferungshindernis dienen, handelt es sich bei den USA doch um einen politisch-gesellschaftlich wesentlich weiter entfernten Staat. Die EU und auch Deutschland haben die grundsätzliche Auslieferungspflicht in den völkerrechtlichen Verträgen im Verhältnis zu den USA nicht inzident unter einen allgemeinen Vorbehalt der Wahrung von völkerrechtlichen, europäischen oder nationalen Grund- und Menschenrechten gestellt. Daher stellt sich im Auslieferungsverkehr mit den USA die Frage, ob die im Auslieferungsverfahren zuständigen Justizbehörden in Deutschland unter Berufung auf die Bindung an nicht im Auslieferungsvertrag explizit genannte innerstaatliche, europäische und völkerrechtliche Grund- und Menschenrechte die Vollstreckung einer Auslieferung verweigern oder zumindest aufschieben können, indem einer Auslieferungspflicht Grund- und Menschenrechte entgegengesetzt werden können, sodass eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht beseitigt wird. Ist eine solche Lösung nicht möglich, könnten die über die Auslieferung entscheidenden Behörden aufgrund der eigenen Bindungen an die Grund- und Menschenrechte die völkerrechtlichen Vertragspflichten unter Berufung auf eine innerstaatliche Unmöglichkeit der Vollstreckung der Auslieferung verletzen müssen.

166

S. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa).

Kapitel 2

Anwendbarkeit eines allgemeinen Individualrechtsvorbehalts jenseits völkervertraglicher Klauseln Der multi- und die bilateralen völkerrechtlichen im Auslieferungsverkehr mit den USA innerstaatlich anzuwendenden Auslieferungsverträge enthalten keinen ausdrücklichen oder durch Auslegung ermittelbaren allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt. Deshalb ist zu klären, ob die tatsächliche völkervertragliche Rechtslage im Auslieferungsverkehr mit den USA hinter den völkerrechtlichen, europäischen und nationalen Grund- und Menschenrechtsschutzgeboten zurückbleibt. Dies ist nur dann der Fall, wenn Grund- und Menschenrechten bei der Entscheidung nationaler Justizbehörden über die Auslieferung überhaupt eine Relevanz zukommt. Dies erscheint bereits deshalb bedenklich, weil es bei der Auslieferung stets um einen extraterritorialen Sachverhalt geht.

A. Relevanz von Grund- und Menschenrechten des Auszuliefernden im ersuchenden Staat nach Auslieferung I. Die Extraterritorialität grund- und menschenrechtlicher Fragen Unverkennbar wohnt jeder Auslieferung eine erhebliche Belastung für das Individuum inne.1 Offensichtlich gehen mit Auslieferungen Beeinträchtigungen von Grund- und Menschenrechten einher: Der Auszuliefernde wird gegebenenfalls in Auslieferungshaft genommen und anschließend an Hoheitsträger eines anderen Staates übergeben, sodass im um Auslieferung ersuchenden Staat Strafverfolgung oder Strafvollstreckung betrieben werden kann, die ebenfalls in Individualrechte eingreift. Aufgrund der Eingrenzung des Themas dieser Arbeit wird hier ausschließlich der Frage nachgegangen, inwiefern grund- und menschenrechtliche Bedenken bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat nach bereits erfolgter Auslieferung2 zu einer Ablehnung der Auslieferung durch 1 Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 94; Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, S. 3; Weigend, JuS 40 (2000), 105, 106. 2 Zu den anderen möglichen Stadien der Auslieferung, die Grund- und Menschenrechte berühren, s. insbes. Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, S. 218 ff.

A. Relevanz von Grund- und Menschenrechten  

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die jeweils zuständige über die Auslieferung entscheidende Justizbehörde führen (müssen). Obwohl diesem Thema eine hohe praktische Relevanz zukommt und die Frage nach einem Ablehnungsgrund aufgrund von grund- und menschenrechtlichen Bedenken in jüngerer Zeit nicht zuletzt beim Europäischen Haftbefehl immer stärker in den Fokus der wissenschaftlichen Debatte gerückt ist,3 ist eine Antwort auf diese Frage immer noch nicht unumstritten. Dies mag nicht zuletzt in der Vielschichtigkeit des Themas insbesondere aufgrund der verschiedenen Verpflichtungsebenen der Staaten begründet sein: Eine reine Beurteilung der Rechtmäßigkeit der jeweiligen Maßnahme nach dem Recht des Staates, in dem die unmittelbar grundrechtsverletzende Handlung vorgenommen wird – wie beispielsweise durch die Verhängung von Isolationshaft, verkennt, dass die Folgen des hoheitlichen Handelns des ausliefernden Staates teilweise notgedrungen und vorhersehbar erst in dem ersuchenden Staat eintreten,4 dies jedoch unter Umständen den Justizbehörden des ausliefernden Staates zuzurechnen sein könnte. Erst die tatsächliche Überstellung des Betroffenen ermöglicht es dem ersuchenden Staat, seine Juris­ diktion auszuüben und Strafverfolgung bzw. -vollstreckung zu betreiben. So ermöglicht erst die Überstellung des von der Auslieferung Betroffenen an den anderen Staat beispielsweise eine Verurteilung bzw. die Vollstreckung der Todesstrafe. Um überhaupt darüber diskutieren zu können, ob und in welchem Umfang Grundund Menschenrechtsstandards zu berücksichtigen sind, muss danach differenziert werden, ob es um die Vornahme der Auslieferung im ersuchten Staat oder um deren mittelbare Folgen im ersuchenden Staat geht.5 Denn während die Geltung von Grund- und Menschenrechten im rein innerstaatlichen Strafverfahren juristisch betrachtet selbstverständlich ist, stellt dies im Rahmen der grenzüberschreitenden Strafverfolgung eine Besonderheit dar:6 Im Gegensatz zu einem Strafverfahren auf der Grundlage eines rein innerstaatlichen Sachverhalts findet bei der Überstellung eines Betroffenen an Hoheitsträger eines anderen Staates die letztliche Strafverfolgung bzw. -vollstreckung in einem anderen Staat statt. Das Auslieferungsverfahren stellt damit kein Strafverfahren an sich dar, sondern die Unterstützung eines ausländischen Strafverfahrens.7 Auch wenn der Abschluss des Auslieferungsverfahrens im ersuchenden Staat keine unmittelbare Folge des Aktes der Überstellung darstellt, ermöglicht Letztere erst Grund- und Menschenrechtsverletzungen im ersuchenden Staat durch dessen Hoheitsträger. Eine gewisse Verantwortlichkeit 3

S. bspw. Bachmaier, eucrim 2018, 56; Böhm, StraFo 2013, 177; Böse, HRRS 13 (2012), 19; Brodowski, HRRS 14 (2013), 54; Satzger, NStZ 2016, 514; Vennemann, ZaöRV 63 (2003), 103. 4 S. hierzu Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, S. 222 ff. 5 Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, S. 222 ff. 6 Böse, in: GS Vogel, S. 211, 212. 7 Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 4 ff.; Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 1; Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, S. 131 f.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

der über die Auslieferung entscheidenden Hoheitsträger des ersuchten Staates im Fall einer folgenden Grund- und Menschenrechtsverletzung lässt sich damit nicht bestreiten. Insofern stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang die zuständige über die Auslieferung entscheidende Justizbehörde im innerdeutschen Auslieferungsverfahren Grund- und Menschenrechte in grenzüberschreitenden Fällen wie der Auslieferung im Hinblick auf ein zu erwartendes Verfahren eines anderen Staates beachten müssen, d. h. ob sie auch solche Grund- und Menschenrechte beachten müssen, an die sie in rein innerstaatlichen Verfahren gebunden sind, die jedoch erst durch eine Behandlung im ersuchenden Staat tangiert werden. Hierfür ist eine Unterscheidung zwischen der unmittelbaren Vornahme der Auslieferung im ersuchten Staat und den daraus folgenden mittelbaren Folgen im ersuchenden Staat erforderlich.8 Die Reichweite von Grund- und Menschenrechten wird erst dort problematisch, wo eine Verletzung im die Auslieferung ersuchenden Staat droht,9 sodass hier diese Fallkonstellation näher untersucht werden wird. Bei der Frage, ob die Auslieferung auf Grund von grund- bzw. menschenrechtlichen Bedenken abgelehnt werden kann, stellt sich das Problem, dass sich der Grund- und Menschenrechtsschutz traditionell auf die Verantwortlichkeit eines Staates innerhalb seines eigenen Hoheitsgebietes bezieht. Grund- und Menschenrechte sind gerade historisch innerhalb einer bestimmten Rechtsgemeinschaft gewachsene Rechte, die eng mit den Wertevorstellungen des jeweiligen Staates bzw. der jeweiligen Staatengemeinschaft verknüpft sind.10 Damit drängt sich die Frage nach der Anwendbarkeit von Grund- und Menschenrechten auf, wenn es um das Handeln eines anderen Staates nach tatsächlicher Übergabe des Verfolgten geht, d. h. danach, inwiefern Grund- und Menschenrechte trotz des Vorliegens eines extraterritorialen Sachverhalts anwendbar sind. Sind diese dem Grunde nach anwendbar, muss den Grund- und Menschenrechten auch von staatlicher Seite aus Wirksamkeit verliehen werden – ansonsten wären sie ein bloßes Lippenbekenntnis. Wegen des mit den USA völkervertraglich geregelten Verbots der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger (Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 7 AuslV D-USA)11 betrifft die Frage der weitergehenden Anwendung von Grund- und Menschenrechten jenseits völkervertraglicher Regelungen als Ablehnungsgrund 8

S. hierzu Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, S. 222 ff. Eine Differenzierung in inlands- und auslandskausale Eingriffe findet sich bei: Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 94 f., 161 ff.; s. zudem van den Wyngaert, ICLQ 39 (1990), 757, 758 ff. 9 Maßnahmen, die allein von deutschen Behörden getroffen werden und in Grund- und Menschenrechte des Auszuliefernden eingreifen – wie bspw. die Auslieferungshaft – müssen sich unstreitig an den innerstaatlich verbindlichen Grund- und Menschenrechten messen lassen, s. hierzu eingehend Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 95; s. a. Graßhof / ​Backhaus, EuGRZ 23 (1996), 445, 447. 10 Vgl. bspw. Jäkel, ZJS 2018, 300 ff.; Voßkuhle, RdA 2015, 336 ff. 11 S. hierzu Kapitel 1 A. II. 2. b) und Kapitel 1 B. I. 2. Innerstaatlich ergibt sich dies darüber hinaus auch aus dem verfassungsrechtlichen Schutzgebot des Art. 16 Abs. 2 GG; s. hierzu ­Kokott, in: Sachs, GG, Art. 16 GG Rn. 34 ff.

A. Relevanz von Grund- und Menschenrechten  

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der Auslieferung keine Deutschen und damit ausschließlich Ausländer. Zu Letzteren sind nicht nur Drittstaatsangehörige, sondern auch Unionsbürger zu zählen.12 Eine mögliche Anwendbarkeit von Grund- und Menschenrechten als Beurteilungsmaßstab der Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat nach erfolgter Auslieferung kann dabei von einer vollen über eine eingeschränkte bis hin zu gar keiner Geltung von nationalen Grundrechten, regionalen Grund- und Menschenrechten und universell geltenden Menschenrechten reichen. Der Bedeutungsgehalt von nationalem Verfassungsrecht, Menschenrechten der EMRK und Grundrechten der GrCh für den Auslieferungsverkehr steht dabei in Frage.13 Bedenken bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung unmittelbar durch den ersuchenden Staat an völkerrechtlichen, unionsrechtlichen und nationalen Maßstäben können jedoch nur dann zu einer Pflichtenkollision mit einer grundsätzlichen Auslieferungspflicht führen, wenn eine Gesamtschau aller völkervertraglich normierten punktuell individualschützenden Ablehnungsgründe nicht zu dem Ergebnis eines umfassenden Grund- und Menschenrechtsschutzes gelangt und über den völkerrechtlichen Auslieferungsvertrag hinausgehende Grund- und Menschenrechte auch im Auslieferungsverkehr relevant werden.

II. Umfassender Grund- und Menschenrechtsschutz durch Gesamtschau punktueller individualrechtsschützender Ablehnungsgründe? Die Suche nach einem über die völkervertraglichen Regelungen hinausgehenden Ablehnungsgrund aufgrund grund- und menschenrechtlicher Bedenken bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung ist nur dann sinnvoll, wenn die völkervertraglichen Regelungen nicht bereits alle Fallkonstellationen abdecken, in denen Grund- und Menschenrechte betroffen sein können. Im Folgenden ist daher zu prüfen, ob die völkerrechtlichen Auslieferungsverträge mit den USA eine Grund- und Menschenrechtslücke aufweisen. Die bisherige Untersuchung der völkerrechtlichen Auslieferungsverträge mit den USA hat nicht zu einem allgemeinen Grund- und Menschenrechtsschutz des Auszuliefernden geführt. Es sind lediglich einzelne Ablehnungsgründe ermittelt worden, die punktuelle Individualrechte des Verfolgten schützen. Zu klären ist, ob ein solch punktueller Schutz überhaupt ausreichend sein kann oder ob sich nicht bereits offensichtlich Fallkonstellationen ergeben, die nicht völkervertraglich ge-

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EuGH, Urteil vom 6. 9. 2016 – C-182/15 (Rs. Petruhhin) = NJW 2017, 378; s. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) bb) (c). 13 Vgl. Kapitel 2 B., C., und D.

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regelt sind, jedoch bereits auf den ersten Blick grund- und menschenrechtliche Bedenken beim ersuchten Staat hervorrufen können. Um überhaupt überprüfen zu können, ob sich in den völkervertraglichen Regelungen mit den USA eine Grund- und Menschenrechtsschutzlücke auftut, die durch einen unabhängig von den völkervertraglichen Regelungen geltenden Grund- und Menschenrechtsschutz zu schließen ist, ist daher zunächst der sich aufdrängenden Frage nachzugehen, ob eine Gesamtschau der punktuell individualrechtsschützenden normierten Ablehnungsgründe zu einem insgesamt umfassenden Grund- und Menschenrechtsschutz führt. Ist dies nicht der Fall, so könnten sich Fallkonstellationen aufdrängen, in denen Grund- und Menschenrechte offensichtlich tangiert sind, deren Fallkonstellation jedoch keine Berücksichtigung in den völkerrechtlichen Verträgen gefunden hat. Eine Gesamtschau aller punktuell individualrechtsschützenden Ablehnungsgründe könnte zu dem Ergebnis führen, dass durch die Summe dieser insgesamt ein umfassender Grund- und Menschenrechtsschutz bei der Entscheidung über die Auslieferung gewährleistet ist, sodass es eines allgemeinen Vorbehalts nicht bedarf. Hierfür ist zunächst zu untersuchen, welche Individualrechte des Verfolgten grundsätzlich tangiert sein können. Die Summe der explizit geregelten Ablehnungsgründe gewährleistet dann keinen umfassenden Grund- und Menschenrechtsschutz im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten, wenn eine grundsätzliche Schutzlücke in den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen mit den USA besteht.14 Es könnten Fallkonstellationen denkbar sein, in denen die normierten Ablehnungsgründe keinen Grund- und Menschenrechtsschutz bieten. 1. Der Anwendungsbedarf von Individualrechten als Ablehnungsgrund Aufgrund der grenzüberschreitenden Dimension eines Auslieferungsverfahrens treffen stets (mindestens) zwei verschiedene Rechtsordnungen aufeinander, die grundsätzlich von unterschiedlichen materiellrechtlichen und strafprozessualen Wertungen und Regelungen geprägt sind. Dies gilt insbesondere, wenn man die Regelungen von Drittstaaten wie den USA mit denen von Mitgliedstaaten der EU wie Deutschland vergleicht und sich damit nicht in einem einheitlichen Rechtskreis mit einem einheitlichen Wertesystem befindet, wie dies beispielsweise bei Mitgliedstaaten der EU ist, der ein gemeinsamer Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zugrunde liegt (Art. 67 Abs. 1 AEUV). Im Auslieferungsverfahren geht es dabei stets um grund- und menschenrechtliche Verpflichtungen, die der ersuchte Staat völkerrechtlich, unionsrechtlich und national eingegangen ist und zu deren Wahrung er gegenüber den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden 14 Zur Untersuchung, ob die tatsächliche völkervertragliche Rechtslage bezüglich der Auslieferungspflicht hinter dem völkerrechtlichen, europäischen oder nationalen Grund- und Menschenrechtsschutzgebot zurückbleibt, s. Kapitel 2 B., C. und D.

A. Relevanz von Grund- und Menschenrechten  

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Personen verpflichtet ist. Den für den ersuchten Staat verpflichtenden Grund- und Menschenrechten kommt insofern eine transnationale Bedeutung zu.15 Die Folgen der Auslieferungsvollstreckung können daher den Grund- und Menschenrechtsverpflichtungen des ersuchten Staates widersprechen. Zur Veranschaulichung haben sich deshalb verschiedene Fallgruppen eines Grund- und Menschenrechtsvorbehalts entwickelt, in denen ein Ablehnungsgrund diskutiert wird:16 Der Vollstreckung der Auslieferung können Auslieferungshindernisse entgegenstehen, die aus einer der Auslieferung folgenden Behandlung – entweder in Form von einem erwarteten oder bereits vollzogenen grund- oder menschenrechtswidrigen Strafverfahren, in Form von einer grund- oder menschenrechtswidrigen erwarteten oder bereits verhängten Strafe oder aufgrund von in der Person des von der Auslieferung Betroffenen liegenden Hindernisse wie die Staatsangehörigkeit oder humanitäre Gründe – folgen. In Anknüpfung an diese Fallgruppen kann sich ein Grund- und Menschenrechtsvorbehalt bezüglich einer Auslieferung daher insbesondere mit der Frage befassen, welche (völkerrecht­ lichen, europäischen oder deutschen) Maßstäbe an die Strafe, an das Strafvollzugsrecht oder an das Strafverfahrensrecht des ersuchenden Staates anzulegen sind.17 2. Bedenken bezüglich der Strafe / ​des Strafvollzugs im ersuchenden Staat Ist eine erwartete oder im Falle des Auslieferungsersuchens zur Strafvollstreckung bereits verhängte Strafe bedenklich, weil sie völkerrechtlichen, europäischen oder deutschen unverzichtbaren Wertvorstellungen widerspricht, so können innerstaatlich im ersuchten Staat grund- und menschenrechtliche Bedenken bezüglich der verhängten oder erwarteten Strafe oder bezüglich des Strafvollzugs in dem ersuchenden Staat aufkommen. Auch wenn das völkervertragliche Erfordernis des Grundsatzes beiderseitiger Strafbarkeit18 zumindest dazu führt, dass eine Tat sowohl in dem ersuchenden Drittstaat wie den USA als auch in Deutschland strafbar ist und damit keine grund 15 Dies gilt unabhängig davon, ob es sich hierbei um die Einhaltung einer extraterritorialen Pflicht handelt oder um die Zurechnung von Grund- und Menschenrechtseingriffen als mittelbare Eingriffe seitens der ausliefernden Justizbehörden. 16 Vgl. hierzu Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 80 ff.; Anderson, MichJIL 4 (1983), 153; Böhm, in: Ahlbrecht / ​Böhm / ​Esser / ​Eckelmanns, Internationales Strafrecht, Rn. 808 ff.; Dugard / ​van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187, 195 ff.; Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 29, 107 ff.; Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, S. 277 ff.; Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 232 ff.; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 94. 17 S. hierzu eingehend Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 59 ff. 18 S. Kapitel 1 A. II. 1.

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und menschenrechtlichen Bedenken bezüglich einer Verfolgung einer bestimmten Straftat in Betracht kommt, so deckt dieser Grundsatz nicht alle Anwendungsfälle ab, in denen die Strafe bzw. der Strafvollzug im ersuchenden Staat grund- und menschenrechtlich bedenklich erscheinen kann. Die Auslieferungsverträge mit den USA regeln überraschenderweise lediglich einen einzigen zusätzlichen Ablehnungsgrund, der im Zusammenhang mit grund- und menschenrechtlichen Bedenken bezüglich der Strafe im ersuchenden Staat steht: die Möglichkeit zur Ablehnung bei Vollstreckung der Todesstrafe. Das Verbot der Todesstrafe ist wohl eine der offensichtlichsten Ausprägungen des universell garantierten Rechts auf Leben (Art. 6 Abs. 1 IPbpR), dennoch wird in Teilen der Welt die Todesstrafe verhängt und auch vollstreckt.19 Die Todesstrafe widerspricht damit zwar nicht völkerrechtlichen, aber immerhin europäischen und deutschen Grund- und Menschenrechtsstandards.20 Das AuslAbk EU-USA kann damit für sich zwar in Anspruch nehmen, in Bezug auf die Todesstrafe eine unionsweit einheitliche Regelung einer grund- und menschenrechtsschützenden Zulässigkeitsvoraussetzung der Auslieferung an die USA zu treffen.21 Unabhängig von der Todesstrafe können dem Verfolgten nach erfolgter Auslieferung allerdings auch weitere Rechtsfolgen drohen, die den völkerrechtlichen, europäischen oder deutschen Maßstäben widersprechen. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn die Strafen des Verfolgten das Recht auf dessen körperliche Unversehrtheit verletzen: Auch unmenschliche oder erniedrigende Strafen wie beispielsweise Verstümmelungs- oder Prügelstrafen22 oder auch das Fehlen einer schuldangemessenen Strafe sind Beispiele einer möglichen grundund menschenrechtswidrigen Behandlung des Verfolgten. Das Schuldprinzip gehört sowohl zum völkerrechtlichen,23 zum europäischen (vgl. Art. 48 Abs. 1 GrCh) als auch zum deutschen (vgl. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG) Grund- und Menschenrechtsstandard. Nicht mehr schuldangemessene Strafen widersprechen damit einem solchen Vorbehalt  – wobei sich die Kriterien für die Frage, wann eine Strafe nicht mehr schuldangemessen ist, deutlich unterscheiden, je nachdem 19 Dementsprechend finden sich in den weiteren Absätzen des Art. 6 IPbpR Ausnahmen für das Recht auf Leben: Art. 6 Abs. 2 IPbpR regelt eine Ausnahme des Rechts auf Leben für die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe unter den Voraussetzungen, dass sie auf gesetzlicher Grundlage und in einem rechtsstaatlichen Verfahren verhängt worden sein muss; Art. 6 Abs. 5 IPbpR regelt, dass die Todesstrafe bei Jugendlichen unter 18 Jahren nicht verhängt und bei schwangeren Frauen nicht vollstreckt werden darf; s. hierzu Dörr, JZ 73 (2018), 224, 229. 20 S. hierzu noch eingehend unter Kapitel 2 D. III. 1. 21 Zu der Frage der unionsrechtlichen Zulässigkeit dieser Regelung s. noch eingehend Kapitel 2 D. III. 22 Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 96. 23 Der Schuldgrundsatz gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerstrafrechts, s. Cassese / ​Gaeta, Cassese’s international criminal law, S. 15; so bereits Glaser, ZStW 76 (1964), 514, 516.

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ob man völkerrechtliche, europäische oder deutsche Kriterien heranzieht. Insbesondere die USA sind jedoch für – an deutschen und auch europäischen Kriterien gemessen  – die Verhängung vergleichsweise hoher Strafen bekannt. So widerspricht beispielsweise die drohende lebenslange Freiheitsstrafe unter Ausschluss jeglicher Entlassungsmöglichkeit, wie sie auch in den USA praktiziert wird, den europäischen und deutschen Grund- und Menschenrechtsstandards, wenn keine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit ersichtlich ist.24 Diesbezüglich findet sich jedoch kein expliziter Ablehnungsgrund in den Auslieferungsverträgen mit den USA. Darüber hinaus gehört das Gesetzlichkeitsprinzip sowohl zu den völkerrechtlichen (Art. 15 IPbpR), zu den europäischen (Art. 7 EMRK, Art. 49 Abs. 1, 2 GrCh) als auch zu den deutschen (Art. 103 Abs. 2 GG) unverzichtbaren Werten.25 Auch die Verhältnismäßigkeit des Strafmaßes gehört hierzu.26 Darüber hinaus kann eine menschenunwürdige Gestaltung von Straf- und Haftvollzug (z. B. durch Folter und sonstige grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung) den völkerrechtlichen27, europäischen28 oder auch deutschen29 Grundund Menschenrechtsmaßstäben widersprechen. So statuiert beispielsweise Art. 19 Abs. 2 GrCh insbesondere für den Fall ein ausdrückliches Auslieferungsverbot an einen Drittstaat, in dem für den Betroffenen das ernsthafte Risiko der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Auch diesbezüglich lässt sich jedoch kein expliziter Ablehnungsgrund in den Auslieferungsverträgen finden – und das, obwohl die USA häufiger aufgrund

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S. EGMR, Urteil vom 4. 9. 2014 – Nr. 140/10 (Trabelsi / ​Belgien) = NJOZ 2016, 389, 391 Rn. 112 ff., in dem dem Auszuliefernden in den USA wegen Beteiligung an teroristischen Straftaten eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne eine Möglichkeit der Entlassung drohte, die mit Art. 3 EMRK nicht vereinbar war; s. a. EGMR, Urteil vom 20. 5. 2014 – Nr. 73593/10 (László Magyar / ​Ungarn) Rn. 48 ff.; EGMR, Urteil vom 12. 2. 2008 – Nr. 21906/04 (Kafkaris / ​Zypern) = NJOZ 2010, 1599, 1601 Rn. 97 ff.; BVerfGE 113, 154, 164 ff.; s. a. BVerfGE 45, 187, 228 f.; BVerfG, 4. 12. 2019 – 2 BvR 1258/19; 2 BvR 1497/19 = HRRS 2020, 36 f.; KG, 3. 7. 2018 – (4) 151 AuslA 44/18 (41/18) = NStZ-RR 2018, 326, 327; KG, 14. 12. 2015 – (4) 151 AuslA 121/15 (156/15) = NStZ-RR 2016, 122, 123; s. zum Ganzen Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 97. 25 Rübenstahl, WiJ 2014, 53, 58; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas, Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 60. 26 Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 62; vgl. insbes. Art. 49 Abs. 3 GrCh; s. zudem BVerfGE 75, 1, 16; s. a. Graßhof / ​Backhaus, EuGRZ 23 (1996), 445, 449; Peukert, in: GS Vogler, S. 151 ff.; beachte zudem den aktuellen Fall Julian Assange, bei dem im Falle einer Auslieferung Großbritanniens an die USA eine Freiheitsstrafe von 175 Jahren im Raum steht, s. https://www.spiegel.de/politik/ ausland/wikileaks-showdown-in-london-wird-julian-assange-ausgeliefert-a-eb0ee580-5c4949ea-b178-e4798e184494 (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 27 Art. 7 IPbpR; Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe v. 10. 12. 1984, s. Kapitel 2 B. II.  2. a) aa). 28 Art. 3 EMRK und Art. 4 GrCh; vgl. auch Art. 19 Abs. 2 GrCh. 29 Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2, 104 Abs. 1 S. 2 GG.

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eines exzessiven Gebrauchs von Isolationshaft und teils schlechter medizinischer Versorgung von Häftlingen in den Fokus geraten.30 Verwunderlich ist das Fehlen weitergehender Regelungen im AuslAbk EU-USA insbesondere auch deshalb, weil innerhalb der EU Straftatbestände und Strafrahmen einzelner Straftaten eine immer weitergehende Vereinheitlichung finden, sodass es sogar europäische Standards gibt,31 auf die in völkervertraglichen Regelungen Bezug genommen werden könnte. 3. Bedenken bezüglich des Strafverfahrensrechts des ersuchenden Staates Ist hingegen ein erwartetes oder vollzogenes Strafverfahren in dem um Auslieferung ersuchenden Staat bedenklich, weil es völkerrechtlichen, europäischen oder deutschen unverzichtbaren Wertvorstellungen widerspricht,32 so können innerstaatlich im ersuchten Staat grund- und menschenrechtliche Bedenken bezüglich des Strafverfahrensrechts des ersuchenden Staates aufkommen. Bedenken bezüglich des Strafverfahrens im die Auslieferung ersuchenden Staat stellen den Hauptanwendungsfall dar.33 Auffällig ist, dass das AuslAbk EU-USA als einzigen Ablehnungsgrund die Todesstrafe regelt und damit nur grund- und menschenrechtliche Bedenken bezüglich der Strafe des ersuchenden Staates einbezieht, sich jedoch überhaupt nicht zu solchen grund- und menschenrechtlichen Bedenken verhält, die das Strafverfahrensrecht des ersuchenden Staates betreffen – und das, obwohl es in der Union mittlerweile eigene europäische Strafverfahrenrechtsstandards gibt: Die EU ist nach dem Vertrag von Lissabon insbesondere im Rahmen des Stockholmer Programms34 vermehrt legislatorisch tätig geworden und hat nach dem Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte35 schrittweise Mindestverfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten entwickelt.36 Umso erstaunlicher ist es, dass das AuslAbk EU-USA 30

S. z. B. FS-StrafR 2018, 402891. In den USA gibt es die sog. Supermax Prisons (wie bspw. das ADX Florence), in denen Häftlinge teilweise vollständig isoliert werden, s. hierzu eingehend Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 202 f. m. w. N. 31 S. hierzu im Überblick Böse, ZJS 2019, 1 ff.; Böse, ZJS 2019, 85 ff. m. w. N. 32 So bspw. im Fall von Adem Yilmaz, bei dem das OLG Frankfurt die Auslieferung unter Berufung auf das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis idem) für unzulässig erklärt hat, s. hierzu die Einleitung. 33 Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 94; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 67 ff. 34 ABl. C 115 v. 4. 5. 2010, S. 1 ff. 35 Entschließung des Rates vom 30. November 2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren, ABl. C 295 v. 4. 12. 2009, S. 1 ff. 36 Bei den Maßnahmen auf der Grundlage des Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte handelt es sich bislang um sechs erlassene Richtlinien, s. hierzu den Bericht der Kommission

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immer noch überhaupt keinen Ablehnungsgrund bei Verstoß gegen europäische Mindestverfahrensrechte vorsieht und generell für Ablehnungsgründe – abgesehen von der Todesstrafe – einfach auf die bilateralen Auslieferungsverträge verweist. Auch wenn das AuslAbk EU-USA „nur“ ergänzend zu den bilateralen völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen heranzuziehen ist, muss eine Ergänzung, die der unionsweiten Vereinheitlichen des Auslieferungsverkehrs mit einem Drittstaat dient, doch gerade auch europäische Mindestgrundrechte umfassen, die dem Auszuliefernden zu gewähren sind.37 Immerhin finden sich bilateral geregelte Ablehnungsgründe partiell in dem AuslV D-USA i. d. F. seiner zwei ZusV: So ist die Einhaltung der Gewährleistung des gesetzliches Richters bei Ausnahme-, Sonder- und Militärgerichten mangels Unparteilichkeit und Unabhängigkeit grund- und menschenrechtlich höchst bedenklich,38 als Ablehnungsgrund jedoch gem. Art. 13 Abs. 2 AuslV D-USA i. d. F. seiner zwei ZusV völkervertraglich im bilateralen Vertrag geregelt, wonach der Auszuliefernde nach erfolgter Auslieferung nicht von einem Ausnahmegericht abgeurteilt werden darf. Diese Norm trägt allerdings nur dem national geregelten Art. 101 Abs. 1 GG Rechnung.39 Darüber an das Europäische Parlament und den Rat v. 18. 12. 2018, COM(2018) 858 final. Bei den einzelnen Richtlinien handelt es sich um: die Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26. 10. 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, ABl. L 297 v. 4. 11. 2016, S. 1 ff.; Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 5. 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtigte oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, ABl. L 132 v. 21. 5. 2016, S. 1 ff.; Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 9. 3. 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren, ABl. L 65 v. 11. 3. 2016, S. 1 ff.; Richtlinie (EU) 2013/48 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22. 10. 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, ABl. L 294 v. 6. 11. 2013, S. 1 ff.; Richtlinie (EU) 2012/13 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22. 5. 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, ABl. L 142 v. 1. 6. 2012, S. 1 ff.; Richtlinie (EU) 2010/64 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20. 10. 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. L 280 v. 26. 10. 2010, S. 1 ff. 37 Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass gerade aufgrund der Existenz und Anwendbarkeit des AuslAbk EU-USA bei Überstellungen eines Mitgliedstaates an die USA jede dieser Überstellungen die Durchführung von Unionsrechts darstellt und damit den europäischen Werten der GrCh unterliegt, s. hierzu eingehend Kapitel 2 D. II. 3. d). 38 Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 74. 39 S. hierzu Jacoby, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, II V 10 Rn. 17; zur Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren s. eingehend Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 Abs. 1 AMRK und Art. 14 Abs. 1 des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

hinaus ist auch auf Unionsebene ein Recht auf ein unparteiisches Gericht gewährleistet (Art. 47 Abs. 2 GRCh). Ein Verweis hierauf findet sich hingegen nicht – und das noch nicht einmal im AuslAbk EU-USA und damit in einem Auslieferungsabkommen der EU selbst. Auch das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren gehört sowohl zum völkerrechtlichen,40 zum europäischen41 als auch zum deutschen42 Grund- und Menschenrechtsstandard und wird immerhin teilweise durch den Ablehnungsgrund in Art. 13 Abs. 2 AuslV D-USA i. d. F. seiner zwei ZusV in Bezug genommen. Das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren kann jedoch auch beispielsweise im Fall von Abwesenheitsurteilen in dem die Auslieferung ersuchenden Staat zur Vollstreckung der in Abwesenheit verhängten Strafe Bedenken hervorrufen.43 Ein entsprechender Ablehnungsgrund lässt sich jedoch nicht in den Auslieferungsverträgen mit den USA finden. Bei dem Grundsatz, dass niemand wegen derselben Straftat zweimal verurteilt werden darf (ne bis in idem), ist zu differenzieren: Der völkerrechtliche ne-bisidem-Grundsatz44 und der deutsche ne-bis-in-idem-Grundsatz45 verbieten zwar eine Strafverfolgung wegen einer Straftat, die bereits abgeurteilt worden ist, jedoch nur von Gerichten desselben Staates. Der völkerrechtliche und der deutsche nebis-in-idem-Grundsatz setzen damit eine Entscheidung eines Gerichts des gleichen Staates voraus. Insofern kommt ihnen keine transnationale Bedeutung zu.46 Der europäische ne-bis-in-idem-Grundsatz gilt hingegen zwischenstaatlich innerhalb verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Union.47 Art. 8 AuslV D-USA ist nach seinem eindeutigen Wortlaut48 jedoch darauf beschränkt, dass lediglich rechtskräftige Entscheidungen des ersuchten Staates selbst der Auslieferung an die USA als Ablehnungsgrund entgegengehalten werden können. Wenn allerdings ein anderer Mitgliedstaat der EU bereits eine rechtskräftige Entscheidung bezüglich der der Auslieferung zugrunde liegenden Straftat getroffen hat, besteht kein völkervertraglich geregelter Ablehnungsgrund, obwohl eine Auslieferung an die 40

Vgl. Art. 14 IPbpR. Vgl. Art. 6 EMRK; Art. 47 Abs. 2 GRCh. 42 Vgl. Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 Abs. 1  GG; vgl. hierzu BVerfGE 107, 339, 383 f.; 46, 202, 210; 39, 156, 168; teilweise wird auch auf Art. 1 Abs. 1 GG abgestellt, s. nur BVerfGE 55, 1, 5 f. 43 So bspw. in der Rs. des BVerfG vom 15. 12. 2015: BVerfGE 140, 317 ff.; s. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (3) (b). 44 Vgl. Art. 4 Abs. 1 des 7. ZP zur EMRK; Art. 14 Abs. 7 IPbpR. 45 Vgl. Art. 103 Abs. 3 GG. 46 Von Arnauld, Völkerrecht, § 9 Rn. 692, § 15 Rn. 1373; Eckstein, ZStW 124 (2012), 490, 493; Gazeas, StV 40 (2020), 622, 623; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 221 ff.; s. für den deutschen ne-bis-inidem-Grundsatz BVerfGE 75, 1, 15 f.; 12, 62, 66; BVerfG, 15. 12. 2011 – 2 BvR 148/11 = NJW 2012, 1202, 1203 Rn. 32 f. 47 Dies ergibt sich aus Art. 50 GrCh und Art. 54 SDÜ; zum transnationalen Schutz vor mehrfacher Strafverfolgung s. insbes. Eckstein, ZStW 124 (2012), 490 ff.; Hackner, NStZ 2011, 425; Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 262 ff. 48 Vgl. Kapitel 1 B. I. 2. 41

A. Relevanz von Grund- und Menschenrechten  

79

USA dann europäischen Standards widerspräche. Die hierdurch entstehende Schutzlücke hat sich erst kürzlich in einem Beschluss des OLG Frankfurts a. M.49 gezeigt. Das OLG hatte über die Zulässigkeit der Auslieferung einer Italienierin an die USA zu entscheiden. US-amerikanische Strafverfolgungsbehörden begehrten die Auslieferung der Italienerin wegen bandenmäßigen Kunstfälschungsbetruges. Wegen eben dieser Tat war die Italienerin jedoch bereits rechtskräftig in Italien verurteilt worden.50 Das OLG Frankfurt a. M. hat die Auslieferung unter Berufung auf Art. 8 AuslV D-USA abgelehnt,51 obwohl der Wortlaut dies für rechtskräftige Entscheidungen in anderen Mitgliedstaaten der EU gerade nicht zulässt.52 Zur Begründung hat das Gericht angeführt, dass eine Auslieferung der Italienerin diese gem. Art. 18 i. V. m. Art. 21 AEUV in unzulässiger Weise in ihrem Freizügigkeitsrecht eingeschränkt hätte.53 In dem Fall bestand aufgrund des eindeutigen Wortlauts des Art. 8 AuslV D-USA, der die Grenze der Auslegung bildet,54 eine völkervertragliche Auslieferungspflicht, das OLG hat die Auslieferung aber dennoch unter Berufung auf unionsrechtliche Verpflichtungen abgelehnt.55 4. Weitere Gründe Als weitere grund- und menschenrechtlichen Bedenken begegnende Gründe kommen in der Person des von der Auslieferung Betroffenen liegende Hindernisse wie z. B. die Staatsangehörigkeit und individuelle humanitäre Gründe in Betracht.56 So wird durch die Überstellung eines Verfolgten in einen anderen Staat beispielsweise dessen Recht auf Privat- und Familienleben offensichtlich tangiert. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist zwar gem. Art. 7 AuslV D-USA als Ablehnungsgrund geregelt. Darüber hinaus sind allerdings beispielsweise familiäre Bindungen Teil eines europäischen (vgl. Art. 8 EMRK) und eines deutschen (vgl. Art. 6 GG) Grund- und Menschenrechtsstandards, die keine Berücksichtigung in den Auslieferungsverträgen mit den USA finden.

49

OLG Frankfurt a. M., 19. 5. 2020 – 2 AuslA 3/20 = StV 40 (2020), 620 ff.; eine Entscheidungsanmerkung findet sich bei Gazeas, StV 40 (2020), 622 ff. Diese Schutzlücke kritisierend: Gazeas, StV 40 (2020), 622, 623. 50 OLG Frankfurt a. M., 19. 5. 2020 – 2 AuslA 3/20 = StV 40 (2020), 620, 621. 51 OLG Frankfurt a. M., 19. 5. 2020 – 2 AuslA 3/20 = StV 40 (2020), 620, 621 f. 52 So auch Gazeas, StV 40 (2020), 622, 623. 53 OLG Frankfurt a. M., 19. 5. 2020 – 2 AuslA 3/20 = StV 40 (2020), 620, 622. 54 Vgl. Kapitel 1 B. II. 2. e) aa). 55 OLG Frankfurt a. M., 19. 5. 2020 – 2 AuslA 3/20 = StV 40 (2020), 620 ff.; die europarechtlichen Verpflichtungen in einem ähnlichen Fall unberücksichtigt lassend: OLG München, 2. 4. 2020 – 1 AR 335/19 = BeckRS 2020, 6724. 56 Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 96 f.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

III. Ergebnis Auslieferungen führen regelmäßig zu Grund- und Menschenrechtsbeeinträchtigungen des Auszuliefernden in den dargelegten Fallgruppen – sei es aufgrund einer der Auslieferung folgenden Behandlung – entweder in Form von einem erwarteten oder bereits vollzogenen grund- oder menschenrechtswidrigen Strafverfahren, in Form von einer grund- oder menschenrechtswidrigen erwarteten oder bereits verhängten Strafe oder Behandlung oder aufgrund von in der Person des von der Auslieferung Betroffenen liegenden Hindernissen wie humanitären Gründen. Eine Gesamtschau der in den Auslieferungsverträgen mit den USA geregelten punktuell individualrechtsschützenden Ablehnungsgründe kommt zu dem Ergebnis, dass auch in der Summe der Ablehnungsgründe kein Grund- und Menschenrechtsschutz gewährleistet ist, der alle potenziellen Fallkonstellationen regelt, in denen die Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat völkerrechtlichen, europäischen und nationalen Standards widerspricht. Beispielsweise findet sich keine Regelung für den Fall einer unverhältnismäßigen Strafe (z. B. bei Freiheitsstrafe unter Ausschluss einer Entlassungsmöglichkeit) und eines unfairen, nicht rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Insofern öffnet sich eine Schutzlücke in den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen mit den USA. Insbesondere verwundert es, dass trotz einer immer stärkeren europäisierten Strafrechtspflege europäische Mindeststandards betreffend das Strafverfahrensrecht und das materielle Strafrecht bzw. das Strafvollzugsrecht auf den ersten Blick keinerlei Berücksichtigung im Auslieferungsabkommen mit den USA finden – und das, obwohl die EU selber Vertragspartner des Abkommens ist. Im Folgenden ist aufgrund der bisherigen Ergebnisse die Frage zu klären, ob über den ausdrücklich geregelten oder durch Auslegung ermittelbaren punktuellen Individualrechtsschutz hinaus ein weitergehender völkervertraglich nicht geregelter Individualrechtsschutz ermittelt werden kann, der Vorrang vor einer völkervertraglichen Auslieferungsverpflichtung beansprucht. Es ist dargelegt worden, dass die grund- und menschenrechtliche Relevanz der Auslieferung generell die der Auslieferung folgende Behandlung – in Form von einem erwarteten oder bereits vollzogenen grund- oder menschenrechtswidrigen Strafverfahren, in Form von einer grund- oder menschenrechtswidrigen erwarteten oder verhängten Strafe oder Behandlung im Strafvollzug oder in der Person des von der Auslieferung Betroffenen liegenden Hindernisse berührt. Die geregelten Auslieferungshindernisse bei Auslieferungen an die USA decken bereits auf den ersten Blick nicht alle diesbezüglichen potenziellen Anwendungsfälle ab und gehen auch nicht weit genug, wenn und soweit diese Regelungen enthalten, die im Widerspruch zur völkerrechtlichen, deutschen oder europäischen Linie betreffend des Grund- und Menschenrechtsschutzes stehen. Beispielsweise besteht bei der zumindest nach den expliziten Ablehnungsgründen der völkervertraglichen Regelungen bestehenden Möglichkeit trotz einer – gemessen an europäischen und deutschen Standards – zu erwartenden unverhältnismäßigen Strafe in den USA ein Spannungsverhältnis zum Kurs

B. Genuin völkerrechtlicher Menschenrechtsvorbehalt 

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der EU und Deutschlands betreffend den Grund- und Menschenrechtsschutz.57 Es stellt sich deshalb die Frage, ob die maßgeblichen Auslieferungsverträge im Auslieferungsverkehr mit den USA tatsächlich so weitgehende Pflichten regeln, dass das im Zulässigkeitsverfahren zuständige OLG die Auslieferung mangels eines ausdrücklich geregelten allgemeinen Vorbehalts bei befürchteter Verletzung von Grund- und Menschenrechten im um Auslieferung ersuchenden Staat zumindest in Anbetracht des Völkerrechts auch dann für zulässig erklären muss, wenn die nach der Auslieferung folgende Behandlung des Verfolgten nationalen, völkerrechtlichen oder europäischen Grund- und Menschenrechten widerspricht. Die normierten Ablehnungsgründe sind nicht geeignet, potenzielle grund- und menschenrechtliche Bedenken vollständig auszuräumen. Es existieren offensichtlich Fallkonstellationen, die im Auslieferungsverkehr mit den USA nicht völkervertraglich geregelt sind, obwohl sie bereits auf den ersten Blick grund- und menschenrechtliche Bedenken beim ersuchten Staat hervorrufen. Ein Anknüpfungspunkt für einen grund- und menschenrechtlichen Ablehnungsgrund könnte sich – wie die vorherigen Ausführungen zeigen – in den verschiedenen Rechtsebenen (Völkerrecht, Unionsrecht, nationalem Recht) finden lassen. Die auf den verschiedenen Ebenen existierenden Menschen- und Grundrechte könnten die Hoheitsträger Deutschlands derart binden, dass die Auslieferung gegenüber den USA versagt werden muss. Vergegenwärtigt man sich, dass bei einer Anwendbarkeit von Grund- und Menschenrechten verschiedene Verpflichtungsebenen (Völkerrecht, Unionsrecht, nationales Recht) bestehen,58 kann eine Auflösung der Pflichtenkollision zwischen völkerrechtlichen Auslieferungspflichten und völkerrechtlichen, unionsrechtlichen und nationalen Grund- und Menschenrechten auch nur auf diesen verschiedenen Ebenen gesucht werden. Inwiefern für den Fall eines grundsätzlich anwendbaren Grund- und Menschenrechtskatalogs dieser wiederum einer Einschränkung unterliegt, ist Gegenstand der jeweiligen Rechtsebene.

B. Völkerrechtliche Grenzen der Auslieferung: Existenz eines genuin völkerrechtlichen Menschenrechtsvorbehalts? Eine Kollision völkervertraglicher Auslieferungspflichten mit Menschenrechtsgewährleistungen kann aufgrund der völkerrechtlichen Bindung von Staaten an Menschenrechte zunächst auf der Ebene des Völkerrechts existieren.

57

Ambos, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 13; Kaiafa-Gbandi, KritV 87 (2004), 3, 7 u. 14 ff. kennzeichnet die Unterzeichnung des Auslieferungsvertrages der EU mit den USA als ein Beispiel für den Abbau des Grundrechtsschutzes in der EU; s. hierzu auch Kaiafa-Gbandi, EJCCLCJ 13 (2005), 483, 489. 58 Vgl. hierzu das Schaubild in der Einleitung, S. 25.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

I. Menschenrechte als Teil eines völkerrechtlichen Ordre-Public-Vorbehalts Gem. Art. 27 WVK kann sich eine Vertragspartei nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines völkerrechtlichen Vertrags zu rechtfertigen. Selbst für den Fall, dass positive Auslieferungsentscheidungen nationaler Justizbehörden auf der Grundlage der Zustimmungsgesetze zu den völkerrecht­ lichen Auslieferungsverträgen wegen Verstoßes gegen nationales Verfassungsoder umgesetztes Unionsrecht nicht rechtmäßig ergehen können, hat dies auf völkerrechtlicher Ebene im Verhältnis zu den USA keine Auswirkungen: Da die völkerrechtlichen Auslieferungsverträge sowohl Deutschlands als auch der EU mit den USA ratifiziert worden sind, ist und bleibt Deutschland bei Vorliegen der Positiv- und Negativvoraussetzungen im konkreten Auslieferungsfall59 völkervertraglich zur Auslieferung verpflichtet – und zwar unabhängig davon, ob das Zustimmungsgesetz im Hinblick auf individualrechtliche Gewährleistungen innerstaatlich verfassungsgemäß war.60 Ist Deutschland völkerrechtlich gegenüber den USA zur Auslieferung verpflichtet, kann eine solche völkerrechtliche Verpflichtung und damit eine Pflichtenkollision zwischen Auslieferungspflicht und Menschenrechten daher ausschließlich durch völkerrechtliche Normen aufgehoben werden. Nichtsdestotrotz sollte ein Gleichlauf der völkerrechtlichen und der innerstaatlichen Pflichtenlage stets angestrebt werden, sodass hier zunächst nach einer Lösung auf der völkerrechtlichen Ebene zu suchen ist. Anhaltspunkte für einen von der im Rahmen der Auslieferungsentscheidung zuständigen Justizbehörde zu beachtenden völkerrechtlichen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt könnte mangels einer völkervertraglichen Regelung in den Auslieferungsabkommen mit den USA auf der Ebene des Völkerrechts das übrige Völkerrecht liefern: Es könnte ein Menschenrechtsvorbehalt in Form eines OrdrePublic-Vorbehalts auf der völkerrechtlichen Ebene verwurzelt und damit Bestandteil des Völkerrechts sein, sodass er als immanente Schranke des Völkerrechts eine völkerrechtliche Pflicht zur Auslieferung beseitigen könnte. In Betracht kommt insoweit ein (genuin) völkerrechtlicher Ordre Public.61 Von einem völkerrecht­ lichen Ordre Public als Bestandteil des Völkerrechts ist dabei selbstredend nur dann zu sprechen, wenn es um elementare, da universell „unverzichtbare“

59

S. hierzu Kapitel 1 A. II. BVerfGE 111, 307, 317 f.; 24, 33, 53 f.; 1, 396, 410 ff.; von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 531 f.; vgl. auch Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 16; Kempen / ​Schiffbauer, ZaöRV 77 (2017), 95, 103 f. 61 Vgl. Kokott, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 38 (1998), 71, 74; teilweise wird dieser auch als internationaler Ordre Public bezeichnet, s. bpsw. Gusy, GA 1983, 73; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 134; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 15. 60

B. Genuin völkerrechtlicher Menschenrechtsvorbehalt 

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bzw. „unabdingbare Rechtssätze“62 geht, die für die Völkerrechtssubjekte in ihren Rechtsbeziehungen untereinander unmittelbar gelten.63 Trotz seiner genuin völkerrechtlichen Natur hätte ein solcher Vorbehalt in Deutschland auch innerstaatlich über Art. 25 GG (so der aufgrund seines völkergewohnheitsrechtlichen Charakters universell geltende Ordre-Public-Vorbehalt) bzw. über Art. 59 Abs. 2 GG (so der über das Völkervertragsrecht geltende OrdrePublic-Vorbehalt) Verbindlichkeit, was zu dem optimalen Gleichlauf von völkerrechtlicher und innerstaatlicher Pflichtenlage führen würde. 1. Rechtsquellen völkerrechtlicher Menschenrechte Der Gewährleistungsinhalt eines völkerrechtlichen Ordre-Public-Vorbehalts kann aufgrund seines völkerrechtlichen Charakters nicht aus der Perspektive einer einzelnen Rechtsordnung beurteilt werden, sondern nur vor seinem supranationalen Hintergrund.64 Er lässt sich daher nur völkerrechtlichen Menschenrechtsquellen entnehmen. Da ein Gesetzgeber auf der Ebene des Völkerrechts gerade nicht existiert, müssen sich die Staaten im Völkerrecht über das gültige Recht einigen, was in Form des Völkervertragsrechts geschieht.65 Auch Menschenrechte sind Gegenstand zahlreicher völkerrechtlicher Verträge geworden. Da völkerrechtliche Verträge nur die Vertragsparteien binden,66 sind für die hier interessierende Frage eines völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes nur Verträge mit (nahezu) universeller Wirkungskraft maßgeblich. Ein solcher Menschenrechtsschutz findet sich beispielsweise in der Charta der Vereinten Nationen von 1945 und im IPbpR der UN vom 19. 12. 1966 inklusive seiner Zusatzprotokolle.67 Zudem existieren mittlerweile spezielle Konventionen zum Schutz der Menschenrechte, wie u. a. die Konvention über die Verhütung und Bestrafung

62 So insbesondere die Terminologie der Lit., s. bspw. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 100 m. w. N.; s. a. Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 29. 63 Für den Bereich des IPR erörternd: v. Hein, in: MüKo zum BGB, Art. 6 EGBGB Rn. 115; s. zudem Kokott, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 38 (1998), 71, 73. 64 Vgl. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 134 f. 65 Will, JURA 2015, 1164. Das Völkervertragsrecht umschreibt die Summe aller völkerrechtlichen Verträge i. S. d. Art. 38 Abs. 1 lit. a IGH-Statut: In Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut findet sich eine Auflistung der völkerrechtlichen Rechtsquellen; zur Bedeutung des Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut (BGBl. 1973 II, S. 505 v. 6. 6. 1973) für die Rechtsquellen des Völkerrechts s. statt vieler Herdegen, Völkerrecht, § 14 Rn. 2 ff.; zur Rechtsquelle des Völkervertragsrechts s. zudem z. B. Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rn. 1 ff. m. w. N. 66 Vgl. statt vieler Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht, § 18 Rn. 24; Schmahl, JuS 58 (2018), 737 f. 67 S. hierzu Kälin / ​Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2.18 ff.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

des Völkermordes vom 9. 12. 194868 und das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. 12. 1984.69 Darüber hinaus kommen für einen völkerrechtlichen Ordre-Public-Vorbehalt im Auslieferungsrecht Menschenrechte in Betracht, die aufgrund ihres völker­ gewohnheitsrechtlichen Charakters universell gelten.70 Menschenrechtsschützende Normen des Völkergewohnheitsrechts, denen etwa das Folter- und Genozidverbot, das Verbot von Sklaverei, das Verbot rassischer Diskriminierung und das Verbot willkürlicher Verhaftung zugewiesen werden,71 werden generell mit dem menschenrechtlichen Mindeststandard gleichgesetzt.72 Zudem haben sich auch Allgemeine Rechtsgrundsätze gebildet.73 Zu ihnen zählen solche Grundsätze, die allen oder zumindest den meisten nationalen Rechtsordnungen gemeinsam sind und daher nicht nur national, sondern auch auf der völkerrechtlichen Ebene Geltung beanspruchen.74 Diese Prinzipien sind demzufolge ursprünglich nationaler Natur, können aber aufgrund ihrer Geltungskraft in der überwiegenden Anzahl nationaler Rechtsordnungen auf die völkerrechtliche Ebene übertragen werden.75 Aufgrund der Existenz von Menschenrechten auf der Ebene des Völkerrechts wird oftmals postuliert, dass eine völkerrechtliche Berechtigung zur Auslieferung 68

Sog. UN-Genozidkonvention, s. hierzu Kälin / ​Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2.35. 69 Sog. UN-Antifolterkonvention, s. hierzu Kälin / ​Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2.37; s. zudem Kapitel 2 Fn. 108; s. bspw. auch das Folterverbot in Art. 7 S. 1 IPbpR und Art. 3 Abs. 1 Antifolterkonvention der UN, s. hierzu auch Kapitel 2 B. II. 2. a) aa); hierzu und für weitere Beispiele s. zudem Kau, in: Vitzthum / ​Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Abschnitt Rn. 242 ff. 70 S. hierzu Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 34. Das Völkergewohnheitsrecht stellt ebenfalls eine der Rechtsquellen des Völkerrechts dar (zur Rechtsquelle des Völkergewohnheitsrechts s. Herdegen, Völkerrecht, § 16 Rn. 1 ff.) und ist völkervertraglich in Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut kodifiziert; zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht s. Dörr, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 19 Rn. 2 ff.; Holterhus / ​Mittwoch / ​El-Ghazi, JuS 58 (2018), 313, 314; Scheidler, JURA 2004, 9, 11; Vitzthum, in: Vitzthum / ​Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, Rn. 131 ff.; Will, JURA 2015, 1164. 71 Kälin / ​Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2.111 f.; Klein, EuGRZ 26 (1999), 109, 110. 72 Klein, EuGRZ 26 (1999), 109, 110; Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, S. 234. 73 Eine Auflistung findet sich in Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut; zur Rechtsquelle der allgemeinen Rechtsgrundsätze s. etwa Herdegen, Völkerrecht, § 17 Rn. 1 ff. 74 Will, JURA 2015, 1164, 1165. 75 Die Grenzen der Allgemeinen Rechtsgrundsätze zum Völkergewohnheitsrecht sind fließend, auch wenn ersteres ursprünglich den nationalen Rechtsordnungen entstammt und das Völkergewohnheitsrecht genuin völkerrechtlich ist, s. Scheidler, JURA 2004, 9, 12; Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, S. 238 f.

B. Genuin völkerrechtlicher Menschenrechtsvorbehalt 

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(das völkerrechtliche Dürfen) durch völkerrechtliche Mindeststandards bzw. ius cogens und durch Menschenrechtspakte wie dem IPbpR und die EMRK bestimmt sei.76 Inwiefern dies tatsächlich zutrifft, wird im Folgenden untersucht. 2. Menschenrechte als objektive Wertordnung Es handelt sich bei den einem völkerrechtlichen Ordre-Public-Vorbehalt zu­ gehörigen Menschenrechten um derart unverzichtbare Rechtssätze einer weltweiten Rechtsgemeinschaft, dass sie sich auf der Ebene des Völkerrechts zu einem gemeinsamen Bestand versammelt haben: Universell geltende Menschenrechte sind von der internationalen Staatengemeinschaft als grundlegende Rechte anerkannt, die sich mit der Zeit entwickelt haben. Insofern kann von einer auf gemeinsamen Werten beruhenden (weltweiten) Rechtsgemeinschaft gesprochen werden. Sie bilden daher als gemeinsamer Wertebestand insgesamt eine international öffentliche Wertordnung.77 Dieser ist insofern eine objektiv-rechtliche Bedeutung zuzumessen, als dass sie gegenüber der Staatengemeinschaft insgesamt wirkt und diese bindet und verpflichtet.78 Auch wenn es Menschenrechte gibt, die universell gelten und von der Staatengemeinschaft insgesamt anerkannt sind, bedeutet dies jedoch nicht automatisch, dass alle Menschenrechte einer solchen universellen Wertordnung völkerrechtlich betrachtet eine völkervertragliche Auslieferungspflicht beseitigen können.79 Hierfür ist herauszufinden, unter welchen Voraussetzungen universell geltende Menschenrechte eine völkervertragliche Auslieferungsverpflichtung aufzuheben vermögen. Von einer menschenrechtlichen Grenze der Auslieferung (an Drittstaaten wie die USA) in Form eines völkerrechtlichen Ordre-Public-Vorbehalts kann auf der Ebene des Völkerrechts nur gesprochen werden, wenn er eine Verpflichtung zur Auslieferung auch tatsächlich nach völkerrechtlichen Gesichtspunkten beseitigen kann. Dementsprechend ist zunächst nach völkerrechtlichen Kriterien zu schauen, nach denen eine Pflichtenkollision zwischen völkervertraglicher Auslieferungspflicht und der Pflicht zur Wahrung von Menschenrechten aufgelöst werden kann. Dies 76

Schomburg / ​L agodny / ​Schallmoser, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 13 Rn. 34. Der Begriff des „Mindeststandards“ entstammt insbes. der Rspr., vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 2. b) bb) (2). 77 S. nur Jaenicke, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 7 (1967), 77, 85 ff. Ebenso wie sich auf völkerrechtlicher Ebene eine völkerrechtliche Wertordnung findet, existiert auch auf der Ebene des Unionsrechts eine unionsrechtliche Wertordnung und auf der Ebene des nationalen Rechts eine nationale Wertordnung; zur nationalen Wertordnung aufgrund nationaler Grundrechte s. Klein, EuGRZ 26 (1999), 109 ff. 78 Grundlegend hierzu Kälin, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 33 (1994), 9, 13 ff. 79 So bereits Kokott, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 38 (1998), 71, 76.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

wiederum ist nur dann der Fall, wenn sich zugunsten von (bestimmten) Menschenrechten eine Normenhierarchie im Völkerrecht finden lässt oder wenn völkerrechtliche Regelungen existieren, die bestimmten völkerrechtlichen Menschenrechten einen Vorrang vor anderen völkerrechlichen Verpflichtungen einräumen.

II. Normenhierarchie im Völkerrecht zur Auflösung einer völkerrechtlichen Pflichtenkollision? Das Dilemma einer Kollision von völkerrechtlichen Auslieferungspflichten und völkerrechtlichen Menschenrechten könnte sich völkerrechtlich auflösen lassen, wenn eine der Pflichten die andere durch ihre Wirkungsweise verdrängt. Dann aber müsste entweder die völkervertragliche Auslieferungspflicht oder die Pflicht zum Schutz der Menschenrechte vorrangig zu berücksichtigen sein. Diese der Auslieferung immanente Pflichtenkollision zwischen der Einhaltung und dem Schutz von Menschenrechten des von der Auslieferung Betroffenen und etwaigen Auslieferungspflichten wirft unweigerlich die Frage auf, ob es im Völkerrecht eine Normenhierarchie zugunsten von Menschenrechten gibt. Eine solche Rangfrage kann sich nur nach völkerrechtlichen Rechtsgrundsätzen beantworten lassen. 1. Genereller Vorrang von Menschenrechten? Wenn völkerrechtliche Menschenrechte gleich welcher Herkunft in einer völkerrechtlichen Normenhierarchie stets an oberster Stelle stünden, könnten diese einer völkerrechtlichen Auslieferungspflicht entgegenstehen und würden stets durchschlagen, d. h. sie beseitigten auch eine völkervertraglich begründete Auslieferungspflicht im Verhältnis zu Drittstaaten wie den USA. Dies unterstellt, müsste zwischen den verschiedenen Menschenrechten nicht differenziert werden – dann wären alle völkerrechtlichen Menschenrechte geeignet, eine völkervertragliche Auslieferungspflicht aufzuheben. Während aus dem nationalen Recht durchaus eine Normenhierarchie bekannt ist, hat sich das Völkerrecht hingegen horizontal entwickelt,80 sodass grundsätzlich keine Rangordnung der Völkerrechtsquellen – auch nicht zugunsten von Menschenrechten – existiert. Nichtsdestotrotz ist von manchen Stimmen in der Literatur der Versuch unternommen worden, eine generelle Höherrangigkeit von zumindest internationalen Menschenrechtsverträgen vor anderen Völkerrechtsnormen nachzuweisen.81

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Vidmar, in: de Wet / ​Vidmar (Hrsg.), Hierarchy in International Law, S. 13; de Wet, ICLQ 55 (2006), 51. 81 Frowein / ​Kühner, ZaöRV 43 (1983), 537, 557 f.; Kälin, Das Prinzip des non-refoulement, S. 58, 166 f.; Stöcker, JZ 31 (1976), 45, 47 f.

B. Genuin völkerrechtlicher Menschenrechtsvorbehalt 

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Eine generelle Höherrangigkeit von Menschenrechtsverträgen ist auf Art. 30 WVK gestützt worden, nach dessen Abs. 1 sich die Rechte und Pflichten von Staaten, die völkerrechtliche Verträge abschließen, vorbehaltlich des Art. 103 UNCharta nach den nachfolgenden Absätzen der WVK bestimmen. Dementsprechend gehe Art. 30 Abs. 1 WVK von einem Vorrang der Verpflichtungen aus Art. 103 UN-Charta vor solchen aus völkerrechtlichen Verträgen (und damit auch vor völkervertraglichen Auslieferungspflichten) aus. Art. 103 UN-Charta unterstreiche so den Vorrang von Verpflichtungen aus der UN-Charta vor anderen hierzu im Widerspruch stehenden Verpflichtungen aus internationalen Abkommen. Art. 55 lit. c) und Art. 56 der UN-Charta wiederum statuierten die Pflicht zum Schutz der Menschenrechte als eines der wichtigsten Ziele der Vereinten Nationen und damit als „höherrangig“ vor völkervertraglichen Auslieferungspflichten, sodass i. S. d. Art. 103 UN-Charta diese Pflicht der völkervertraglichen Auslieferungspflicht vorgehe.82 Festzuhalten ist zunächst, dass eine völkervertragliche Auslieferungspflicht im Verhältnis zu einem Drittstaat wie den USA eine Verpflichtung aus einer anderen internationalen Übereinkunft i. S. d. Art. 103 UN-Charta sein kann. Nichtsdestotrotz erfordert Art. 103 UN-Charta, dass diese andere Pflicht einer Verpflichtung aus der UN-Charta widerspricht. Insofern ist es jedoch verfehlt, in einem Verweis auf Art. 55 lit. c), 56 UN-Charta eine generelle Pflicht zum Schutz der Menschenrechte zu sehen, die im Widerspruch zur Auslieferungspflicht steht: Art. 56 UNCharta spricht sehr deutlich von einer Verpflichtung der Staaten, „mit der Organisation zusammenzuarbeiten, um die in Artikel 55 dargelegten Ziele zu erreichen“. Um eine Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen geht es bei Auslieferungsfragen zwischen Deutschland und den USA gerade nicht.83 Eine generelle Höherrangigkeit von (völkervertraglich normierten) Menschenrechten lässt sich damit jedenfalls aus Art. 30 WVK und Art. 103 UN-Charta nicht begründen. In Betracht kommt aber, dass bestimmte Menschenrechte aufgrund ihres zwingenden Charakters völkervertragliche Auslieferungspflichten verdrängen.

82

So z. B. Frowein / ​Kühner, ZaöRV 43 (1983), 537, 557 f.; Kälin, Das Prinzip des non-refoulement, S. 58, 166 f.; Stöcker, JZ 31 (1976), 45, 48; zur Diskussion s. Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 105 ff.; van den Wyngaert, ICLQ 39 (1990), 757, 761 ff.; van der Wilt, in: de Wet / ​Vidmar (Hrsg.), Hierarchy in International Law, S. 148, 151 ff. 83 Zu einem anderen Ergebnis gelangt man auch dann nicht, wenn man die authentischen Sprachfassungen der UN-Charta (laut Art. 111 UN-Charta: chinesisch, französisch, russisch, englisch und spanisch) heranzieht; s. hierzu Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 105 ff.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

2. Die Unterscheidung von ius-cogens- und erga-omnes-Normen Es ist bereits angeklungen, dass sich völkerrechtliche Menschenrechte in Bezug auf ihre Wirkungsweise unterscheiden lassen: Es ist zwischen dem Bestand an sog. ius-cogens-Normen und sog. erga-omnes-Normen zu differenzieren.84 Dass zwingende Normen des Völkerrechts existieren (ius cogens), ist mittlerweile – insbesondere seit der Kodifizierung in Art. 53 S. 2 WVK – wohl unumstritten.85 Zugunsten solcher zwingenden Normen ist davon auszugehen, dass bei einem Verstoß gegen diese Norm durch einen völkerrechtlichen Vertrag letzterer nichtig ist (Art. 53 S. 1 WVK). Es ist dabei nicht von Belang, ob man von einer Normenhierarchie zugunsten von ius cogens ausgeht86 oder ob man zwar eine Nichtigkeit bei Verstoß gegen ius cogens annimmt, diese jedoch nicht mit einer Höherrangigkeit im Sinne einer Normenhierarchie zugunsten des ius cogens begründet, sondern mit der unbedingten Anerkennung der Norm in der Gesamtheit der Staatengemeinschaft.87 In beiden Fällen beseitigt entgegenstehendes ius ­cogens eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht aus einem Auslieferungsvertrag, sodass eine solche weder völkerrechtlich noch innerstaatlich gegenüber dem ersuchenden Staat besteht. Kein Staat ist völkerrechtlich dazu verpflichtet, seine Auslieferungsverpflichtung zu erfüllen, wenn die Erfüllung dieser Verpflichtung im konkreten Fall zu einer Verletzung von ius cogens führen würde.88 Dies hat man sich in der Literatur schon früh zu Nutzen gemacht: Eine ältere in der Literatur ehemals vertretene Auffassung89 – die sog. rein völkerrechtliche Betrachtungsweise – hat als Beurteilungsmaßstab für die im ersuchenden Staat folgende Behandlung des Auszuliefernden bei der Entscheidung nationaler Justizbehörden über die Zulässigkeit oder Bewilligung einer Auslieferung allenfalls

84 S. statt vieler Kokott, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 38 (1998), 71, 84 ff.; Vidmar, in: de Wet / ​Vidmar (Hrsg.), Hierarchy in International Law, S. 13, 23 ff. 85 Klein, in: FS Ress, S. 151; Vogler, ZStW 105 (1993), 3, 8; zur Entstehung von ius-cogensNormen s. Bianchi, EJIL 19 (2008), 491, 493 f.; zum theoretischen Erfordernis der Existenz von ius-cogens-Normen s. Verdross, AJIL 31 (1937), 571. 86 So z. B. Hobe / ​Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, Kapitel 4.6, S. 220; Jaenicke, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 7 (1967), 77, 88 ff.; Kokott, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 38 (1998), 71, 85 f.; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 13, 187; so wohl auch: Bianchi, EJIL 19 (2008), 491, 493 f. 87 So bspw. von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 18 Rn. 36 ff.; Klein, in: FS Ress, S. 151, 152, 157, 163; Vitzthum, in: Vitzthum / ​Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 154; Vranes, ZaöRV 65 (2005), 391, 400. 88 S. statt vieler Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 229; Vogler, in: GS Meyer, S. 477, 489; s. zudem von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 18 Rn. 46; Frowein / ​Kühner, ZaöRV 43 (1983), 537, 557; Kälin / ​Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2.115. 89 Begründet von Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 28 ff., 43 ff., 202 ff.; s. a. Gillmeister, NJW 1991, 2245 ff.; Schröder, BayVbl. 1979, 231 ff.; Stein, Die Auslieferungsausnahme bei politischen Delikten, S. 11, 15 ff.; Vogler, in: FS Pötz, S. 251 ff.; Vogler, GA 1996, 569, 573 ff.

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mittelbar völkerrechtliches ius cogens als Norm anerkannt, die einem Auslieferungsersuchen entgegengehalten werden kann. Auch wenn diese Ansicht in dieser Form heutzutage wohl nicht mehr vertreten wird,90 wirkt sie bis heute in der Rechtsprechung fort.91 Diese Auffassung geht auf das in der Rechtshilfe einst vorherrschende sog. zweidimensionale Modell92 zurück: Ursprünglich wurde die Rechtshilfe als rein zweidimensionale Angelegenheit zwischen zwei Staaten als Völkerrechtssubjekten verstanden. Diese Auffassung findet ihre Grundlage in der sog. Vertragstheorie: Jeder Auslieferung liegt ein konkreter Vertrag zugrunde, der durch das Ersuchen der Hoheitsträger des ersuchenden Staates und die Bewilligung der Auslieferung durch die Hoheitsträger des ersuchten Staates geschlossen wird.93 Das Auslieferungsersuchen und die Auslieferungsbewilligung stellen einen einheitlichen Vorgang dar, da jeder Auslieferung ein entsprechendes Ersuchen vorausgeht. Als Angebot ist hierbei das Ersuchen, als Annahme die Bewilligung der Auslieferung durch den ersuchten Staat zu werten, sodass jede Auslieferung alle Merkmale eines zweiseitigen völkerrechtlichen Vertrags erfülle – unabhängig davon, ob zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Staat ein genereller Auslieferungsvertrag besteht.94 Da ein konkreter dem Völkerrecht unterliegender Auslieferungsvertrag nur von Staaten geschlossen wird, begründe er auch nur zwischen den vertragsschließenden Staaten Rechte und Pflichten, sodass die Auslieferung einen rein völkerrechtlichen Charakter aufweise.95 Die Auslieferung stellt hiernach die Durchführung einer sich aus dem völkerrechtlichen Vertrag ergebenden Verpflichtung dar.96 Bindungen und Beschränkungen einer etwaigen völkervertraglichen Auslieferungspflicht könnten sich dementsprechend nur aus dem völkerrechtlichen Vertrag selbst durch die Regelung von negativen Voraussetzungen97 oder aus den die völkerrechtliche 90

So Gleß / ​Wahl / ​Zimmermann, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 73 Rn. 6a; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 96 f. 91 S. hierzu Kapitel 2 D. II. 2. b) bb) (2). 92 Eser hat die Begriffe der „Zweidimensionalität“ und der „Dreidimensionalität“ erstmals angeführt, dokumentiert in: Weigend, ZStW 96 (1984), 624, 626. 93 Grundlegend zur sog. Vertragstheorie: Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 28 ff., 43 ff. In Abgrenzung hierzu ist unter einem generellen völkerrechtlichen Auslieferungsvertrag die vorherige Regelung von völkervertraglichen Auslieferungsvoraussetzungen und -hindernissen gemeint, hier also der AuslV D-USA i. d. F. seiner zwei Zusatzverträge und das AuslAbk EU-USA; zur Differenzierung zwischen einem konkreten und einem generellen Auslieferungsvertrag s. Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 45 ff.; diesen Begriff verwendend: Lagodny, NJW 1988, 2146, 2147; s. a. Meurer, Die Tatidentität im Auslieferungsrecht, S. 8 ff.; Stein, Die Auslieferungsausnahme bei politischen Delikten, S. 11; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​Kreß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 10. 94 S. statt vieler grundlegend Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 33 f., 69 ff.; s. a. Gillmeister, NJW 1991, 2245; zusammenfassend: Andreou, Gegenseitige Anerkennung, S. 65 f. 95 Grundlegend Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 43 ff.; s. a. Gillmeister, NJW 1991, 2245; Vogler, ZStW 105 (1993), 3. 96 Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 33 f., 45 f. 97 Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 43 ff., 214 ff.

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Vertragsfreiheit als solche begrenzenden Schranken – also völkerrechtlich zwingendem Recht (ius cogens) – ergeben.98 Diese Ansicht kann dahingehend als unbestritten betrachtet werden, dass ius cogens eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht aufhebt. Ob entgegen einer rein völkerrechtlichen Betrachtungsweise noch weitere Grund- und Menschenrechte einer Auslieferungspflicht entgegengehalten werden können, ist hingegen eine andere Frage.99 a) Auslieferungspflichten und ius-cogens-Normen Auch wenn die völkervertragliche Auslieferungspflicht entfällt, wenn die Erfüllung eben dieser Pflicht gegen ius cogens verstößt, so sagt dies noch nichts über den Gewährleistungsinhalt von ius-cogens-Normen aus. Art. 53 S. 2 WVK definiert ius cogens als zwingende Norm, „die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann“. Menschenrechtliche Gewährleistungen spielen hierbei eine besondere Rolle.100 Allerdings werden nur wenige Menschenrechte komplett vorbehaltlos gewährleistet, sodass von den meisten Meschenrechten in gewissen Zügen abgewichen werden kann.101 Die Suche nach einem exakten Bestand an menschenrechtlichen ius-cogens-Normen hat jedoch in Ermangelung einer normierten Aufzählung102 hierunter fallender Rechte in Art. 53 S. 2 WVK bisher nicht zum Erfolg geführt: Die Wissenschaft beschränkt sich ohne Anspruch auf Vollständigkeit darauf, solche Rechte aufzuzählen, die jedenfalls hierzu zählen.103 Dies hat auch einen nachvollziehbaren Grund: Das 98 Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 214 ff.; Vogler, ZStW 105 (1993), 3, 8 f.; Vogler, in: FS Pötz, S. 251, 261 f. 99 S. hierzu Kapitel 2 C. und D. 100 Bianchi, EJIL 19 (2008), 491; Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1, 6, 11; Klein, in: FS Ress, S. 151, 155. 101 Klein, in: FS Ress, S. 151, 155. 102 Eine inhaltliche Bestimmung durch Aufzählung hierzu zählender Menschenrechte ist bei der Entstehung des Art. 53 WVK bewusst offen gelassen worden, um aufgrund der rasanten Entwicklung des Völkerrechts eine angemessene Inhaltsbestimmung durch Staatenpraxis und internationale Spruchkörper herbeiführen zu können, s. den Bericht der Kommission an die Generalversammlung, YILC 1966, Vol. II, S. 248: „The emergence of rules having the character of jus cogens is comparatively recent, while international law is in process of rapid development. The Commission considered the right course to be to provide in general terms that a treaty is void if it conflicts with a rule of jus cogens and to leave the full content of this rule to be worked out in State practice and in the jurisprudence of international tribunals.“ S. hierzu eingehend Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 65. 103 So bspw. Kälin / ​Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2.115; Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, S. 261; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung,

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Problematische an einer umfassenden Aufzählung ist insbesondere die mangelnde Existenz einer Instanz, die die Befugnis hätte, über die Zuordnung einer Norm zum ius cogens zu entscheiden. Außerdem können solche Normen im Laufe der Zeit variieren, da auf die Rechtsauffassung innerhalb der Rechtsgemeinschaft insgesamt abgestellt wird und sich diese mit der Zeit ändern kann. Vom ius cogens sollen jedenfalls unabdingbare Mindeststandards erfasst sein.104 Was hierunter zu verstehen ist, bleibt jedoch offen und der Auslegung überlassen. Zum ius cogens gehören soweit ersichtlich wohl zumindest das Genozidverbot, das Verbot von Sklaverei, das Verbot der Folter und einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, das Verbot von Kollektivstrafen und die diskriminierende Verfolgung.105 Unbestritten ist, dass es jedenfalls einen Bestand an Normen gibt, der völkervertragliche Auslieferungspflichten i. S. d. Art. 53, 64 WVK beseitigt. aa) Das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im ersuchenden Staat (1) Teil des ius cogens Einigkeit besteht darüber, dass die Verbote von Folter und von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung als Kernbestandteile internationaler Menschenrechtsstandards Teil des zwingenden Rechts (ius cogens) sind.106 Zudem kann der S. 97; insofern von einer „Großbaustelle des Völkerrechts“ sprechend: Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 134 f. 104 Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 219 f.; s. a. Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 16; Neuhold, in: Neuhold / ​Hummer / ​Schreuer (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Rn. 31; Vitzthum, in: Vitzthum / ​Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, Fn. 28; Vogler, ZStW 105 (1993), 3, 9. In Anbetracht des Umstands, dass ius-cogens-Normen universell und damit für alle Staaten der Staatengemeinschaft schlechthin zwingende Normen sind, ist bei der Zuweisung einer Norm hierzu äußerste Zurückhaltung geboten, s. Bianchi, EJIL 19 (2008), 491, 495; Gleß / ​Wahl / ​Zimmermann, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 73 Rn. 32; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 139; Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, S. 61. 105 Hobe / ​Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, Kapitel 4.6, S. 219; Klein, in: FS Ress, S. 151, 156; Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, S. 261; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 172 f.; Kälin, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 33 (1994), 9, 39 f.; Kälin / ​Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2.115; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 16; Vogel / ​ Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 125. 106 Heimgartner, Auslieferungsrecht, S. 127, E.II.1.4.b.; Kokott, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 38 (1998), 71, 75; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 187; zum Auslieferungsverbot bei drohender Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung s. a. Schwaighofer, Auslieferung und internationales Strafrecht, S. 40, 126.

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Auszuliefernde in dem ersuchenden Staat einer Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein. Unabhängig von der Einordnung des ius cogens als höherrangig besteht eine Auslieferungspflicht bei drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im ersuchenden Staat demzufolge selbst dann nicht, wenn grundsätzlich eine auf einem generellen Auslieferungsvertrag beruhende völkervertragliche Auslieferungspflicht besteht.107 Deshalb soll beispielhaft an diesen Verboten überprüft werden, ob dem ius-­cogensBestand zuzuordnende Grundsätze überhaupt dazu geeignet sind, eine völkerrechtliche Grenze der Auslieferung an Drittstaaten zu bilden. Die Auslieferung einer Person an einen Staat, in dem dieser Person Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, ist universell verboten: Dies ergibt sich zunächst aus der sog. UN-Antifolterkonvention108 als Ausfluss des Rechts auf Leben.109 Art. 3 Abs. 1 der UN-Antifolterkonvention normiert ein entsprechendes Auslieferungsverbot bei drohender Folter: „Ein Vertragsstaat darf eine Person nicht in einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden.“ Auch Art. 7 S. 1 IPbpR110, der sowohl für Deutschland als auch für die USA verbindlich ist, statuiert ein entsprechendes völkervertragliches Verbot – ebenso der regional völkervertraglich geregelte Art. 3 EMRK111, der von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt worden ist112 und der unionsrechtlich geltende Art. 19 Abs. 2 GrCh.113 Das Verbot der Folter ist in jedem menschenrechtlichen

107

Vgl. hierzu Vogler, in: GS Meyer, S. 477, 489 f.; Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 214 ff., 219 ff.; s. a. Frowein / ​Kühner, ZaöRV 43 (1983), 537, 557. 108 Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmensch­ liche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe v. 10. 12. 1984; aktuell haben weltweit 171 Staaten das Übereinkommen ratifiziert (Stand: September 2020), darunter auch Deutschland und die USA, vgl. https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_ no=IV-9&chapter=4&clang=_en (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). Deutschland hat dem Übereinkommen mit Gesetz v. 6. 4. 1990 zugestimmt, s. BGBl. II 1990, S. 246. 109 S. hierzu Heimgartner, Auslieferungsrecht, S. 127, E.II.1.4.b.; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 187. 110 Art. 7 S. 1 IPbpR: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Insbesondere darf niemand ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen werden.“ S. hierzu Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 187. 111 Art. 3 EMRK: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ 112 S. hierzu statt vieler Vogler, in: GS Meyer, S. 477, 489 f. 113 Art. 19 Abs. 2 GrCh: „Niemand darf in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.“

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Völkerrechtsvertrag enthalten.114 Das Folterverbot ist überdies auch völkergewohnheitsrechtlich anerkannt.115 Dennoch wird in Ausnahmefällen diskutiert, das Verbot von Folter oder von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung einer Einschränkung zugänglich zu machen: Insbesondere wenn es um Terrorismusstraftaten oder Straftaten zu Lasten von Kindern geht, steht eine Lockerung des Folterverbots in der öffentlichen Diskussion.116 Nicht zuletzt seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 werden vermehrt Stimmen in der Öffentlichkeit laut, nach denen vor allem in Fällen von Terrorismus(-straftaten) Folter zum Schutz wichtiger Interessen zulässig sein soll.117 Solche Stimmen finden sich vereinzelt auch in der deutschen Justiz.118 Vor allem in den USA wird eine restriktive Interpretation der Folter zum Schutze nationaler und internationaler staatlicher Sicherheitshinteressen insbesondere seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 befürwortet, um im sog. „Kampf gegen den Terror“ robustere Methoden anwenden zu können.119 Als Beispiel sei nur an die Folter-Memos120 unter der Bush-Regierung aus den Jahren 2002–2005 (und damit unmittelbar nach den Terroranschlägen) erinnert, die Terroristen dem Schutzbereich der Genfer Flüchtlingskonvention entzogen121 und brutale „Verhör“-

114

S. hierzu nur Dugard / ​van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187, 197. Reiling, ZaöRV 78 (2018), 311, 323 f. Ein enstprechendes Verbot findet sich bereits in Art. 5 AEMR (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte v. 10. 12. 1948). Auch wenn diese eine unverbindliche Empfehlung der Vereinten Nationen darstellt (s. hierzu Jäkel, ZJS 2018, 300, 306), hat sie als erstmalige Erklärung nahezu aller Staaten bezüglich grundlegender Menschenrechte den Menschenrechtsschutz universell und regional angeregt und ist entsprechend bedeutend. 116 Vgl. bspw. Dershowitz, NYLSR 48 (2003), 275 ff. In Fällen des Terrorismus ist insbesondere die Rede davon, dass Terroristen, die den demokratischen Rechtsstaat nicht anerkennen, keinen unbedingten Schutz durch diese Rechtsordnung erhalten müssten, so z. B. Amelung, JR 2012, 18, 19 f.; vgl. hierzu auch Kapitel 2 Fn. 118. 117 Zur Diskussion s. Bianchi, EJIL 19 (2008), 491, 505 ff.; Frowein, ZaöRV 62 (2002), 879, 898 ff. m. w. N. 118 So führte das VG Gießen am 7. 6. 2018 (4 L 6810/17 GI A) im Falle einer in Frage stehenden Abschiebung eines wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung in Deutschland Verurteilten gegen gegen die Berücksichtigung einer bestehenden Gefahr für Folter nach erfolgter Überstellung ins Feld, dass bei Verzicht auf die Abschiebung eine Gefahr für den deutschen Rechtsstaat in Kauf genommen würde. Der Fall wird berichtet von Podolski in der Legal Tribune Online am 5. 7. 2018: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ vg-giessen-4l6810-17gia-abschiebung-tuerkei-terrorist-bverfg-kritik/ (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 119 S. hierzu Bianchi, EJIL 19 (2008), 491, 505; Dershowitz, NYLSR 48 (2003), 275 ff. Eine Bewertung der amerikanischen Politik des „Krieges gegen den Terrorismus“ findet sich bei Alvarez, CWRJIL 37 (2006), 175 ff. 120 Die relevanten Memoranda finden sich zusammengefasst in: Greenberg / ​Dratel (Hrsg.), The torture papers. 121 S. das Rechtsgutachten des Office of Legal Counsel vom 1. August 2002 (Memo 14), in: Greenberg / ​Dratel (Hrsg.), The torture papers, S. 172 ff. 115

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Methoden der US-Behörden wie „Waterboarding“122 gegenüber (mutmaßlichen) Terroristen ausdrücklich legitimiert haben.123 Auffällig ist, dass der Begriff der Folter in den Folter-Memos generell sehr restriktiv ausgelegt wurde, sodass nur die „extremsten“ bzw. „brutalsten“ Methoden unter das Folterverbot subsumiert worden sind.124 Dies hat zu einer Debatte über die Zulässigkeit von umstrittenen Behandlungen von Straftätern in den USA geführt – nicht zuletzt bezüglich der Frage, ob diese im „Kampf gegen den Terrorismus“ zulässig sind. Auch wenn umstrittene „Verhör“-Methoden unter der Regierung von Barack Obama am 22. 1. 2009 teilweise per Erlass verboten worden sind,125 so zeigt sich doch, dass eine Beurteilung, unter welchen konkreten Voraussetzungen im Einzelfall die Grenze zur Folter überschritten ist, sehr variabel und auch dem historischen Kontext geschuldet sein kann. So hat beispielsweise Präsident Donald Trump in dem Fernseh-Network American Broadcasting Company (ABC) vor dem Hintergrund der verstärkten Gefahr von „IS-Kämpfern“ Waterboarding wieder als wirkungs 122

Das „zulässige“ Waterboarding wird in einem Memorandum von Jay S. Bybee vom Büro für Rechtsfragen an den damaligen Chefjustiziar des US-Geheimdienstes CIA John Rizzo vom 10. 5. 2005 ausführlich inkl. seiner genauen Ausführung und einer Höchstdauer beschrieben. Mangels einer ausreichenden Schwere von Leiden oder Schmerzen fiele das Waterboarding nicht unter das Folterverbot der UN-Antifolterkonvention: „However frightening the experience may be, OMS personnel have informed us that the waterboard technique is not physically painful. This conclusion, as we understand the facts, accords with the experience in SERE training, where the waterboard has been administered to several thousand members of the United States Armed Forces. To be sure, in SERE training, the technique is confined to at most two applications (and usually only one) of no more than 40 seconds each. Here, there may be two sessions, of up to two hours each, during a 24-hour period, and each session may include multiple applications, of which six may last 10 seconds or longer (but none more than 40 seconds), fur a total time of application of as much as 12 minμtes in a 24-hour period. Furthermore, the waterboard may be used on up to five days during the 30-day period for which it is approved.“ 123 So findet sich z. B. im Memo 26 vom 4. April 2003, S. 357 ff. eine Liste von „Verhör“-­ Methoden, die sich vielmehr nach einer Liste von Foltermethoden mit detaillierter Beschreibung anhört: So werden dort bspw. Ohrfeigen, Entkleiden, Isolation und stundenlanges Verharren in einer unangenehmen Position als „Verhör“-Methoden benannt. 124 S. bspw. das Rechtsgutachten des Office of Legal Counsel vom 1. August 2002 (Memo 14), das vom damaligen Justizminister Alberto R. Gonzalez in Auftrag gegeben worden war und in dem das Verbot der Folter erheblich gelockert worden war, indem der Begriff restriktiv gefasst worden ist: „Those acts must be of an extreme nature to rise to the level of torture ­within the meaning of Section 2340A and the Convention.We further conclude that certain acts may be cruel, inhuman, or degrading, but still not produce pain and suffering of the requisite intensity to fall within Section 2340A’s proscription against torture. We conclude by examining possible defenses that would negate any claim that certain interrogation methods violate the statute (…). Physical pain amounting to torture must be equivalent in intensity to the pain ­accompanying serious physical injury, such as organ failure, impairment of bodily function, or even death. For purely mental pain or suffering to amount to torture under Section 2340, it must result in significant psychological harm of significant duration, e. g., lasting for months or even years.“ Zu den Folter-Memos und ihrer Vereinbarkeit mit Völkerrecht und amerikanischem Recht s. Alvarez, CWRJIL 37 (2006), 175 ff. 125 Executive Order on Interrogation 13491 – Ensuring Lawful Interrogations v. 22. 1. 2009.

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volle Verhör­methode beschrieben und die Wiedereinführung zumindest zur Diskussion gestellt und ausdrücklich befürwortet.126 Darüber hinaus ist auch zur Abwehr anderer Straftaten die Lockerung des Folterverbots diskutiert worden, wie z. B. im „Fall Daschner“, in dem ermittelnde Polizeibeamte auf Anweisung des stellvertretenden Präsidenten der Frankfurter Polizeibehörde dem dringend Tatverdächtigen mit der Anwendung von körperlicher Gewalt drohten, um den Aufenthalt eines entführten und vermeintlich noch lebenden Kindes herauszufinden.127 Diese Beispiele verdeutlichen, dass eine Lockerung des Folterverbots in Ausnahmesituationen diskutiert wird, in denen das Strafbedürfnis der Gesellschaft oftmals besonders stark ist bzw. Folter als einzige Option zur Rettung eines anderen Menschen betrachtet wird. Darüber hinaus dürften sich Staaten im „Kampf gegen den Terror“ dazu verpflichtet sehen, nach außen hin ein klares Zeichen zu setzen und politische Stärke zu zeigen. Würde man Folter allerdings in gewissen (Ausnahme-)Situationen zulassen und damit einer Abwägung zugänglich machen, wäre das Folterverbot kein zwingendes absolutes Recht und damit kein Bestandteil des völkerrechtlichen ius cogens. Auch wenn es menschlich nachvollziehbar erscheinen mag, insbesondere bei Terrorismusstraftaten oder bei Straftaten zu Lasten von Kindern die Absolutheit des Folterverbots anzweifeln zu wollen, so ist dem aufgrund der universellen Unterstützung des Folterverbots entschieden entgegenzutreten: Folter macht den Menschen zum reinen Objekt, sodass stets ein Verstoß gegen die Menschenwürde vorliegt. Das Folterverbot gilt absolut128 und ist damit nicht einschränkbar – auch nicht zur 126

Trump hat in dem Interview v. 25. 1. 2017 geäußert, dass es nötig sei, „Feuer mit Feuer zu bekämpfen“ (“ to fight fire with fire“), s. https://abcnews.go.com/Politics/president-trumptells-abc-news-david-muir-absolutely/story?id=45045055 (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 127 Zu dem Fall eingehend Ziegler, KritV 87 (2004), 50 ff. Dieser Fall führte in der deutschen Literatur zu einer umfassenden Diskussion zur Absolutheit des Folterverbots, s. Jahn, KritV 87 (2004), 24; Jerouschek / ​Köbel, JZ 58 (2003), 613; Miehe, NJW 2003, 1219; Perron, in: FS Weber, S. 143 ff.; Saliger, ZStW 116 (2004), 35, 37 ff. 128 Art. 2 Abs. 2 UN-Antifolterkonvention; Art. 3, 15 Abs. 2 EMRK; s. hierzu Böse, ZJS 2019, 1, 3. Der absolute Charakter des Folterverbots – auch in Fällen von Terrorismus – wird deshalb regelmäßig von Gerichten und in der Literatur betont: EGMR, Urteil vom 7. 11. 2017 – Nr. 54646/17 (X / ​Deutschland) = NVwZ 2018, 715, 716 Rn. 27; EGMR, Urteil vom 1. 6. 2010 – Nr. 22978/05 (Gäfgen / ​Deutschland) = NJW 2010, 3145, 3146 Rn. 107: „Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dürfen selbst dann nicht angewendet werden, wenn das Leben eines Menschen in Gefahr ist. Von diesem Verbot kann nicht abgewichen werden, nicht einmal im Fall eines öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht.“; EGMR, Urteil vom 28. 2. 2008 – Nr. 37201/06 (Saadi / ​Italien) = NVwZ 2008, 1330, 1332 Rn. 137: „Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Staaten gegenwärtig erhebliche Schwierigkeiten haben, ihre Bevölkerung vor terroristischer Gewalt zu schützen […]. Er unterschätzt also keineswegs die Größe der Gefahr und die Bedrohung für die Gesellschaft, die der Terrorismus heute darstellt. Das kann aber den absoluten Schutz von Art. 3 EMRK nicht in Frage stellen.“; EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989  – Nr. 14038/88 (Soering / ​Vereinigtes Königreich) = NJW 1990, 2183, 2184, Rn. 88; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 187 f.; Ziegler, KritV 87 (2004), 50, 56.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Abwehr von terroristischen Straftaten. Hierfür spricht auch, dass in keinem bekannten Fall von einem Staat ausdrücklich postuliert wird, dass Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen erlaubt seien.129 Vielmehr wird in solchen extremen Ausnahmefällen „nur“ eine Lockerung der Definition von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung diskutiert, nicht jedoch das Verbot an sich zur Diskussion gestellt. Aufgrund seiner weltweiten Verankerung und Anerkennung ist daher nicht ernsthaft diskutabel, die Zugehörigkeit des Folterverbots zum ius cogens abzustreiten – auch wenn ein solches Bestreben in Ausnahmesituationen menschlich nachvollziehbar erscheint. Eine Auslieferung an einen Staat, in dem der Auszuliefernde (voraussichtlich) gefoltert wird, ist damit stets unzulässig: Das Verbot hebt eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht sogar auf. Dies gilt unabhängig davon, ob ein entsprechender Vorbehalt völkervertraglich zwischen den Vertragsparteien geregelt ist. (2) Die problematische Inhaltsbestimmung des Verbots von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung Universelle Geltung kann nur für den allgemein konsentierten Kerngehalt des Folterverbots angenommen werden. Insofern ist bei der Inhaltsbestimmung eines solchen allgemeingültigen Verbots Vorsicht geboten. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die zurückhaltende Mindestdefinition des Art. 1 Abs. 1 UN-Antifolterkonvention erklären.130 Art. 1 Abs. 1 UN-Antifolterkonvention definiert Folter als „jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind.“ Folter setzt damit zunächst in objektiver Hinsicht voraus, dass eine un­ menschliche oder erniedrigende Behandlung sehr ernste und grausame seelische oder körperliche Schmerzen und Leiden hervorruft. Darüber hinaus muss eine

129

So auch Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 141; s. zudem Alle­ weldt, Schutz vor Abschiebung, S. 101. 130 Herrmann, ZIS 2007, 299, 300; Reiling, ZaöRV 78 (2018), 311, 324.

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solche Behandlung vorsätzlich und zu einem bestimmten Zweck vorgenommen werden.131 Nach Art. 1 Abs. 2 UN-Antifolterkonvention sind weitergehende Bestimmungen durch internationale Übereinkünfte und innerstaatliche Rechtsvorschriften möglich. So ist z. B. innerhalb Europas der Begriff der Folter durch das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe des Europarats132 konkretisiert worden, ohne jedoch eine weitergehende Definition zu enthalten. Die vorhandenen Definitionen bleiben damit sehr vage. Ohnehin hätte eine weitergehende Definition des Folterbegriffs innerhalb Europas auf den völkerrechtlichen Begriff der Folter, der ein universelles Verbot darstellt, keinen Einfluss. Damit gehört jedenfalls das Folterverbot in der Ausprägung zum universell zwingenden ius cogens, die es durch Art. 1, 16 UN Anti-Folterkonvention, Art. 5 UN-Menschenrechtserklärung, Art. 7, 10 Abs. 1 IPbpR, Art. 3 EMRK erfahren hat. Dies ändert jedoch nichts daran, dass eine universell gültige Definition von Folter bloß eine abstrakte Umschreibung eines Verhaltens ist. Beispielsweise an den sog. Foltermemos zeigt sich, dass eine abstrakte Definition nicht immer einheitlich angewandt wird, sondern die Subsumtion eines Falles unter die Definition von dem Rechtsanwender abhängt. Jenseits der Folter sind auch sonstige unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen des Auszuliefernden als Teil des ius cogens unzulässig.133 Bezüglich der Behandlung eines Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung kommt insofern in Betracht, dass der Auszuliefernde unmenschlichen oder erniedrigenden Haftbedingungen oder Verhörmethoden ausgesetzt ist.134 Anders als bei der Folter findet sich in der UN-Antifolterkonvention keine Definition der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, was eine weltweit einheitliche Definition erschwert. Gleichwohl ist das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung dort normiert.135 Art. 16 Abs. 1 UN-Antifolterkonvention statuiert: „Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, in jedem seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiet andere Handlungen zu verhindern, die eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe darstellen, ohne der Folter im Sinne des Artikels 1 gleichzukommen, wenn diese Handlungen von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft 131

S. hierzu Heimgartner, Auslieferungsrecht, S. 127, E.II.1.4.b. ETS Nr. 126. Das Übereinkommen ist am 1. 2. 1989 in Kraft getreten. Alle 47 Mitgliedstaaten des Europarats haben das Übereinkommen ratifiziert. 133 Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 191 ff. m. w. N. 134 Vgl. die unverbindlichen Regeln der UN bzgl. Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung von Gefangenen (sog. Nelson Mandela Regeln), General Assembly, UNResolution 70/175 v. 17. 12. 2015. 135 Vgl. hierzu Esser, in: Ahlbrecht / ​Böhm / ​Esser / ​Eckelmanns, Internationales Strafrecht, Rn. 653. 132

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis begangen werden.“ Hieraus wird die Negativ­ abgrenzung zur Folter geschlussfolgert, dass eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dann gegeben ist, wenn einer Person Leid zugefügt wird, ohne dass die Merkmale der Folter gegeben sind.136 Eine solche Definition kann aber kaum taugliche Kriterien für eine Subsumtion bieten. bb) Rechtspraktische Grenzen Auf eine nähere Bestimmung des universell geltenden Kernbestands des Verbots von Folter und unmenschlicher oder erniedriedrigender Behandlung kommt es aber nicht an, soweit eine solche Bestimmung für die hier interessierende Frage einer völkerrechtlichen Auslieferungsgrenze ohnehin nicht hilfreich wäre. Droht dem Auszuliefernden Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im ersuchenden Staat, besteht bereits völkerrechtlich keine Auslieferungspflicht mehr. Daraus könnte man schließen, dass es für diese Fall­ konstellationen unerheblich ist, ob die für den konkreten Auslieferungsverkehr maßgeblichen Auslieferungsverträge eine entsprechende Vorbehaltsklausel enthalten und insofern eine exakte Bestimmung der universell geltenden Grundsätze für erforderlich erachten. Solche universelle Geltung beanspruchenden Auslieferungshindernisse stoßen aber an eine praktische Grenze: Es lassen sich zwar völkerrechtliche Rechtssätze finden, die abstrakt umschreiben, wann ein Verhalten gegen das Verbot der Folter oder gegen das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verstößt. Das Verbot der Folter ist sogar in Art. 1 Abs. 1 UN-Antifolterkonvention definiert. Diese Definition umschreibt das gegen die zwingenden Normen verstoßende Verhalten allerdings nur abstrakt,137 wie dies für eine Definition typisch ist. Ob aber im Fall eines konkreten Auslieferungsersuchens eines Drittstaates dem Auszuliefernden dort nach erfolgter Auslieferung eine entsprechende Behandlung tatsächlich droht, d. h. ob sich der konkrete Fall unter die definierten Verbote subsumieren lässt, steht hingegen auf einem anderen Blatt. Auch wenn sich mehr Kriterien für eine präzisere Definition ermitteln lassen könnten, würde dies hier nicht weiterführen. Eine völkerrechtlich verbindliche Beurteilung, ob ein Verstoß gegen ein zwingendes Verbot vorliegt, hängt von einer Instanz ab, die verbindlich über

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Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 191 m. w. N. S. hierzu eingehend Doehring, in: Hailbronner / ​Klein (Hrsg.), Einwanderungskontrolle und Menschenrechte, S. 207, 209 ff.; s. a. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 148. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Begriffe der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auf der Ebene des Unionsrechts eine immer weitergehende Konkretisiert erfahren, s. hierzu Wennholz, Ausnahmen vom Schutz vor Refoulment im Völkerrecht, S. 69 ff. 137

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eine entsprechende Subsumtion entscheiden kann138 – und genau an einer solchen fehlt es im Völkerrecht. Während also weltweit grundsätzlich Einigkeit über die Zugehörigkeit des Verbots der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zum ius cogens besteht, wird in der Praxis bezüglich der Subsumtion einer konkreten Behandlung unter die Verbote Uneinigkeit bestehen: So wird ein Staat die Verpflichtung zur Wahrung von völkerrechtlichem ius cogens, wie z. B. die Unzulässigkeit von Folter, an sich nicht bestreiten. Vielmehr wird er – wie am Beispiel der USA dargelegt – bestreiten, dass Hoheitsträger des eigenen Staates foltern, indem bereits der Sachverhalt an sich bestritten wird oder indem das Verhalten als nicht dem Folterverbot unterfallend subsumiert wird.139 Eine Verletzung völkervertraglicher Auslieferungspflichten ist damit weder völkerrechtlich verbindlich festgestellt, noch kann sie mit Sicherheit verneint werden: Völkerrechtlich verbindlich lässt sich eine (drohende) Verletzung von ius cogens ohne eine verbindliche Feststellungskompetenz140 nicht einseitig feststellen. Während innerstaatlich in Deutschland die zuständige Justizbehörde eine entsprechende Entscheidung für das innerstaatliche Rechtsverhältnis treffen kann, richtet sich diese auf der völkerrechtlichen Ebene im Ausgangspunkt nach dem Völkerrecht: So wie völkerrechtliche Pflichten ausschließlich völkerrechtlich begründet werden können, können sie im Verhältnis zwischen zwei Völkerrechtssubjekten auch nur völkerrechtlich aufgehoben werden.141 Die staatliche Disposition, sich zur Auslieferung zu verpflichten, ist Ausdruck der Souveränität der Staaten,142 sodass auch die Entscheidung, wann eine Subsumtion eines konkreten Falles unter geltungsstärkeres Völkerrecht eine völkervertragliche Auslieferungspflicht aufhebt, auf völkerrechtlicher Ebene dem Völkerrecht überlassen ist. Denn das Völkerrecht regelt das Verhältnis autonomer Staaten zueinander, wenn und weil die Staaten dies geregelt haben. Eine einseitige Bestimmung der (Nicht-)Verletzung völkerrechtlicher Pflichten kann daher nur dann erfolgen, wenn diese Feststellungskompetenz völkerrechtlich einem Staat auch tatsächlich zugewiesen worden ist. Bei der Subsumtion unter völkerrechtliche Ablehnungsgründe, die nicht im völkerrechtlichen Vertrag geregelt sind und die sich aus ius-cogens-Normen ergeben, richtet sich die Feststellungskompetenz daher ausschließlich nach dem Völkerrecht. Etwas anderes gilt hingegen für die Feststellungskompetenz bezüglich der Subsumtion eines konkreten Falles unter die (Nicht-)Einhaltung völkervertraglich normierter Auslieferungsvoraussetzungen. Diese ist entsprechend dem Willen der Vertrags 138

Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 145; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn.  126. 139 So z. B. im Falle der Folter-Memos bei der Frage, ob Waterboarding eine Foltermethode ist, s. Kapitel 2 B. II. 2. a) aa) (1). 140 Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 146 f. 141 S. hierzu Kimminich, JZ 35 (1980), 174, 175; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 146. 142 S. nur von Arnauld, Die Friedens-Warte 89 (2014), 51, 53 f.

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parteien regelmäßig den Hoheitsträgern des ersuchten Staates zugewiesen,143 sodass es ihnen überlassen ist, über das Vorliegen der Voraussetzungen im konkreten Auslieferungsfall zu entscheiden. Der völkerrechtliche Auslieferungsvertrag mit den USA regelt jedoch gerade keine Feststellungskompetenz in Bezug auf Voraussetzungen, die sich nicht aus dem völkerrechtlichen Auslieferungsvertrag ergeben und damit in Bezug auf die Frage, wer verbindlich über einen Verstoß gegen unabhängig vom Auslieferungsvertrag existierende ius-cogens-Normen entscheidet. Im Streitfall können die Hoheitsträger im ersuchten Staat Deutschland keine Auflösung der Pflichtenkollision einseitig herstellen, indem auf einen drohenden Verstoß gegen ius cogens verwiesen wird. Damit ist die Entscheidung über das Bestehen einer völkerrechtlichen Auslieferungsverpflichtung im Verhältnis zu den USA von einer Instanz abhängig, die völkerrechtlich verbindlich eine (drohende) Verletzung gegen ius-cogens-Normen feststellen kann. Eine solche Kompetenz ist jedoch niemandem zugewiesen. Letztlich können dann nur die Hoheitsträger des ersuchten Staates über die Subsumtion entscheiden. Sie sind aber völkerrechtlich hierzu gar nicht befugt. Das führt zu der Konsequenz, dass sich der ersuchte Staat innerstaatlich einer grundsätzlich bestehenden völkerrechtlichen Pflicht entziehen könnte, indem seine Hoheitsträger einseitig zu dem Subsumtionsergebnis gelangen, dass eine drohende Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat gegen zwingendes Völkerrecht verstößt.144 Damit erübrigt es sich für die hier interessierende Frage nach einem völkerrechtlichen Menschenrechtsvorbehalt in Auslieferungsfällen erstens, das Verbot von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung näher zu bestimmen. Zweitens kann auch die Erörtung weiterer zum ius cogens gehörender Grundsätze unterbleiben. Denn auch wenn zwingendes Recht eine völkerrechtliche Auslieferungsverpflichtung aufzuheben vermag, führt der Lösungsansatz eines völkerrechtlichen Menschenrechtsvorbehalts in Ermangelung einer völkerrechtlich verbindlichen Feststellungskompetenz in der auslieferungsrechtlichen Praxis nicht weiter. Das Problem einer fehlenden völkerrechtlichen Feststellungskompetenz lässt sich dadurch nicht überwinden.

143 Hierbei handelt es sich um die sog. Qualifikationskompetenz, s. Hobe / ​Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 3. Kapitel, S. 94; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 146 f.; Vogler, ZStW 105 (1993), 3, 18. 144 Kritisch zu einer solchen einseitigen Feststellung eines völkerrechtliches Verstoßes bereits: Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 82 ff.; s. a. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 150 ff., der insofern von einer „Zwangsläufig(…) völkerrechtliche(n) Unwirksamkeit der Selbstkonkretisierung“ spricht.

B. Genuin völkerrechtlicher Menschenrechtsvorbehalt 

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cc) Zusammenfassung So erfreulich auch die Erkenntnis ist, dass es Menschenrechte gibt, die universell gelten und aufgrund ihres zwingenden Charakters auch völkervertragliche Auslieferungspflichten aufheben können, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine solche Auflösung völkerrechtlicher Pflichten vor erheblichen praktischen Problemen steht. Aufgrund des universellen Geltungsanspruchs von ius-cogensNormen ist bereits bei der Inhaltsbestimmung dieser Normen äußerste Rücksicht geboten, sodass ius-cogens-Normen nur geringe Mindeststandards setzen können. Insbesondere in Ermangelung einer Instanz, die befugt wäre, über die Zugehörigkeit einer Norm zu universell geltenden ius-cogens-Normen zu entscheiden, ist bereits die Ermittlung solcher Normen äußerst schwierig. Darüber hinaus muss die Wirkungskraft von ius-cogens-Normen sich auf die Rechtsgemeinschaft insgesamt beziehen. Ein Bestand an ius-cogens-Normen ist dementsprechend von deren gemeinsamen universellen Wertevorstellungen abhängig. Diese können sich im Laufe der Zeit jedoch stets ändern, sodass auch der Bestand von ius-cogens-Normen einem stetigen Wandel unterliegt. Auch dies vereinfacht eine Inhaltsbestimmung nicht. Nicht zuletzt muss bedacht werden, dass selbst für den Fall, dass die Zugehörigkeit einer Norm zum ius-cogens-Bestand zwischen den an einem Auslieferungsverfahren beteiligten Hoheitsträger zweier verschiedener Staaten nicht bestritten wird, die Subsumtion einer konkreten Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat unter eine ius-cogens-Norm dennoch unterschiedlich ausfallen kann: So wird der ersuchende Staat regelmäßig bestreiten, dass eine konkrete Behandlung nach erfolgter Auslieferung gegen beispielsweise das Folterverbot verstößt, ohne dass ihm diesbezüglich eine Feststellungskompetenz zukäme und völkerrechtlich betrachtet eine fehlende Auslieferungspflicht wegen eines (drohenden) Verstoßes gegen ius cogens nicht festgestellt werden könnte. Insgesamt ist damit festzuhalten, dass eine Auflösung der völkerrechtlichen Pflichtenkollision von völkerrechtlichen Auslieferungspflichten und völkerrechtlichen Menschenrechten über ius-cogens-Normen keine für die Praxis befriedigende Lösung darstellt.

b) Auslieferungspflichten und andere völkerrechtliche Menschenrechte Mangels einer generellen Höherrangigkeit von Menschenrechten vor anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen und einer abseits von ius-cogens-Normen existierenden Normenhierarchie im Völkerrecht bedürfen weitere für den Auslieferungsverkehr relevanten Menschenrechte an dieser Stelle keiner Erläuterung: Denn unabhängig davon, welche Menschenrechte man betrachtet – ob diese nun dem (regionalen) Völkervertragsrecht wie der EMRK, dem Völkergewohnheitsrecht oder den Allgemeinen Rechtsgrundsätzen entstammen – steht jedenfalls fest, dass sie eine völkervertragliche Auslieferungspflicht nicht aufheben können. Da-

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

mit können sie für sich betrachtet keine völkerrechtliche Grenze der Auslieferung darstellen und können nicht Bestandteil eines völkerrechtlichen Menschenrechtsvorbehaltes sein, solange sich keine anderen völkerrechtlichen Vorrangregelungen ermitteln lassen. 3. Völkervertragliche Auslieferungspflicht und regionales ius cogens Auch innerhalb einer bestimmten Region – wie beispielsweise innerhalb Europas durch die EMRK oder die GrCh – kann sich zwingendes Recht entwickeln.145 Dies wird regelmäßig viel weitergehende Rechte umfassen, da es nicht die Anerkennung der Staatengemeinschaft insgesamt sondern nur eines bestimmten Teils erfordert. Rein regionales ius cogens vermag jedoch eine völkervertragliche Auslieferungsverpflichtung gegenüber einem Staat, der nicht Teil dieser Region ist und daher nicht an das regionale ius cogens gebunden ist, nicht aufzuheben: Regional zwingendes Recht greift nicht auf gegenüber Drittstaaten bestehende vertragliche Verpflichtungen durch, da der jeweilige Drittstaat gerade nicht an das jeweils geltende regional zwingende Recht gebunden ist:146 Art. 53 S. 2 WVK, der das völkerrechtliche ius cogens definiert, spricht insofern von einer zwingenden Norm „des allgemeinen Völkerrechts“, „die von der internationalen Staatengemeinschaft insgesamt angenommen und anerkannt wird“. Hiervon kann keine Rede sein, wenn es um „nur“ regional anerkannte Normen geht. Regional zwingendes Recht lässt sich daher nicht unter Art. 53 S. 2 WVK subsumieren.147 Regional zwingendes Recht kann eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht nicht aufheben. Deshalb kann eine Erörterung des für den Auslieferungsverkehr relevanten regionalen ius cogens an dieser Stelle unterbleiben.

III. Andere völkerrechtliche Vorrangregelungen: „Lex posterior“ und „lex specialis“ bei gleichwertigen Völkerrechtsquellen Mangels einer Normenhierarchie der drei Primärquellen des Völkerrechts ist abgesehen von ius-cogens-Normen (Art. 53 und 64 WVK) völkerrechtlich nicht bestimmt, wie sich die Völkerrechtsquellen zueinander und damit völkervertragliche Auslieferungspflichten zu völkerrechtlichen Menschenrechten verhalten. 145

S. hierzu Verdross / ​Simma, Universelles Völkerrecht, § 531. So auch Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 16 ff.; a. A. Schwaighofer, Auslieferung und internationales Strafrecht, S. 40 f. 147 So auch von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 18 Rn. 43; Jaenicke, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 7 (1967), 77, 89. 146

B. Genuin völkerrechtlicher Menschenrechtsvorbehalt 

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Bei Gleichwertigkeit der Völkerrechtsquellen – hiervon sind ius-cogens-Normen auszusondern – könnten allerdings die allgemeinen Grundsätze „lex posterior derogat legi priori“ und „lex specialis derogat legi generali“ zumindest in modifizierter Form greifen und Abhilfe schaffen.148 Nach dem Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ könnten später begründete völkerrechtliche Pflichten  – und zwar solche aus völkervertraglichen Menschenrechtsabkommen wie der EMRK oder völkergewohnheitsrechtlich entstandende Menschenrechtsverpflichtungen – zuvor begründete Vertragsverpflichtungen zur Auslieferung aufheben.149 Problematisch ist es praktisch betrachtet jedoch bereits, eine völkervertragliche Menschenrechtsverpflichtung zu finden, an die sowohl Mitgliedstaaten der EU wie Deutschland als auch die USA als Drittstaat gebunden sind. Der Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ ist für Verträge entwickelt worden, die von denselben Vertragspartnern unterzeichnet worden sind und gilt daher auch nur für diese.150 Menschenrechtsverträge könnten jedoch spezieller sein und deshalb völker­ vertragliche Auslieferungsverpflichtungen aufheben („lex specialis derogat legi generali“). Selbst wenn man das befürworten wollte, so kann dies auch nur gelten, wenn sowohl die Vertragspartner der Menschenrechtsverträge als auch die des Auslieferungsabkommens identisch sind.151 Der Grundsatz vermag im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten daher auch nicht weiterzuhelfen. Wegen der Gleichrangigkeit von völkerrechtlichen Menschenrechten – unabhängig davon, ob diese völkervertraglich begründet sind oder ob sie völkergewohnheitsrechtlich entstanden sind – mit völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen lässt sich eine völkerrechtliche Pflichtenkollision zwischen Auslieferungspflichten und dem Menschenrechtsschutz nicht auf der Ebene des Völkerrechts auflösen, solange durch die Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat kein Verstoß gegen ius cogens droht bzw. vorliegt.

148

Dugard / ​van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187, 194 f.; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 14; Vitzthum, in: Vitzthum / ​Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 1. ­Abschnitt Rn. 154; Vogler, ZStW 105 (1993), 3, 7 f. 149 Zum sog. Prioritätsprinzip zwischen Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht und zur Anwendbarkeit des Grundsatzes zwischen zwei völkervertraglichen Pflichten s. Hobe  / ​ Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, Kapitel 4.6, S. 220. 150 Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 102 ff. 151 Van Sandick, International Legal Materials 29 (1990), 1375, 1385; Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 102 ff.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

IV. Zwischenergebnis Wenn in der wissenschaftlichen Debatte die Begriffe des völkerrechtlichen Ordre-Public-Vorbehalts und ius-cogens-Normen gleichgestellt werden,152 kann dem in Bezug auf das Auslieferungsrecht nur zugestimmt werden: Da eine menschenrechtliche Grenze der Auslieferung nur dann existiert, wenn diese eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht aufhebt und dies auf völkerrechtlicher Ebene nur bei ius-cogens-Normen der Fall ist, umfasst der völkerrechtliche Ordre Public im Auslieferungsrecht die zwingenden Normen des Völkerrechts. Auch wenn es weitere völkerrechtliche erga-omnes-Normen gibt, die zwar Interessen der Völkerrechtsgemeinschaft schützen, jedoch noch nicht zu ius-cogens-Normen erstarkt sind, sind diese kein Teil eines völkerrechtlichen Ordre-Public-Vorbehalts: Sie können eine völkervertraglich begründete Auslieferungspflicht völkerrechtlich nicht beseitigen. Nach einer rein völkerrechtlichen Betrachtungsweise kann also lediglich zwingendes Völkerrecht (ius cogens) einer völkerrechtlichen Auslieferungspflicht gegenüber den USA entgegenstehen und diese aufheben. Auch ohne einen entsprechenden völkervertraglich geregelten Vorbehalt besteht eine völkervertragliche Auslieferungspflicht nicht, wenn die Übergabe den Verfolgten einer Behandlung aussetzt, die gegen zwingende Normen des Völkerrechts verstößt. Über Art. 25 GG beseitigt dies auch innerstaatlich eine Auslieferungsverpflichtung und schafft daher eine Gleichstellung der völkerrechtlichen mit der innerstaatlichen Pflichtenlage des ersuchten Staates (auf beiden Ebenen keine Auslieferungspflicht). Diese Erkenntnis hilft jedoch für die hier interessierende Frage nach einem völkerrechtlichen Auslieferungsverbot nicht weiter. Denn zunächst ist eine einschränkende Auslegung des ius cogens angesichts des Anspruchs universeller Geltungskraft geboten. Damit können die zwingenden Normen des Völkerrechts nur einen Minimalstandard darstellen. Insbesondere fällt jedoch ins Gewicht, dass den Hoheitsträgern des ersuchten Staates ohnehin keine Feststellungskompetenz bezüglich eines (zu erwartenden) Verstoßes gegen ius-cogens-Normen zugewiesen ist, sodass Menschenrechten über eine ius-cogens-Lösung im Auslieferungsrecht auch nicht nicht zur Durchsetzung verholfen werden kann. Insofern ist eine nähere Umschreibung der ius-cogens-Normen hier entbehrlich. Alle anderen völkerrechtlichen Menschenrechte haben auf völkerrechtliche Auslieferungspflichten keine Auswirkungen. Eine völkerrechtliche Auflösung von Pflichtenkollisionen ist hier nicht möglich. Dementsprechend wird in der Literatur 152 So Heimgartner, Auslieferungsrecht, B. IV. 1, S. 30; Hobe / ​Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, Kapitel 4.6, S. 220; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 14; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 34; kritisch zu einer Gleichstellung des ius cogens mit dem völkerrechtlichen Ordre ­P ublic: Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 71 f.; zudem Graßhof / ​Backhaus, EuGRZ 23 (1996), 445, 448.

C. Genuin europäischer Ordre Public 

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teilweise als einziger Ausweg eine „politische Lösung“ dergestalt vorgeschlagen, dass der ersuchte Staat Deutschland den ersuchenden Staat (hier: die USA) in Verhandlungen davon überzeugt, das Auslieferungsersuchen aufzugeben.153 Ob eine solche Lösung durch Verhandlungen tatsächlich zur Aufgabe des Begehrens um Auslieferung führt, sei jedoch einmal dahingestellt. Insbesondere kann eine Verhandlungslösung jeweils nur für den Einzelfall gelingen und keine klaren Maßstäbe für künftige Fälle liefern. Besser wäre daher eine grundsätzlich anwendbare Regel. Eine solche könnte sich durch eine europäische oder innerstaatliche Betrachtungsweise finden lassen. Ein weitergehender Schutz durch solche Betrachtungsweisen ist jedenfalls nicht dadurch ausgeschlossen, dass in den Fällen des ius cogens bereits auf der völkerrechtlichen Ebene eine Pflichtenkollision zwischen der Auslieferungspflicht und Menschenrechten durch Obsiegen der Letzteren aufgelöst werden kann.

C. Genuin europäischer Ordre Public In Ermangelung einer völkervertraglichen Regelung eines allgemeinen Grundund Menschenrechtsvorbehalts und eines praktisch hilfreichen Schutzes über das Völkerrecht könnte sich eine Pflichtenkollision zwischen Auslieferungspflicht und Grund- und Menschenrechtsschutz auf der unionsrechtlichen Ebene auf­lösen lassen. Unabhängig von einem völkerrechtlichen Ordre-Public-Vorbehalt wird als grund- und menschenrechtliche Grenze der Entscheidung über ein Auslieferungsersuchen auch ein europäischer Ordre-Public-Vorbehalt diskutiert.154 Der Gewährleistungsinhalt eines genuin europäischen Ordre-Public-Vorbehalts155 kann nur vor dem europäischen Hintergrund bestimmt werden und richtet sich deshalb nach den europäischen Werten aus der GrCh und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts wie der EMRK, d. h. nach dem regional in der EU entwickelten und insoweit begrenztem Wertesystem. Maßgeblich ist insbesondere Art. 6 EUV, der auf die GrCh und die EMRK verweist. Ein genuin europäischer Vorbehalt vermag jedoch nur dann zu einer Auflösung der Pflichtenkollision zwischen Auslieferungspflichten und Grundrechten führen, wenn beide Pflichten auf europäischer – und damit auf der gleichen – Ebene an 153

So z. B. ausdrücklich Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 107 f. 154 S. nur Böse, HRRS 13 (2012), 19; Brodowski, HRRS 14 (2013), 54; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 14. 155 Angesichts der zunächst im Europarat und sodann in der EU steten Entwicklung der Auslieferung könnte auch hier ein Ordre-Public-Vorbehalt existieren: Es kommt in Betracht, dass sich eine dogmatische Grundlage im europäischen Recht finden lässt, s. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d).

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

gesiedelt sind. Ansonsten ist eine Lösung über das innerstaatliche Recht zu suchen unter Berücksichtigung der Einwirkungen des Völkerrechts und des Europäischen Rechts auf das nationale Recht. Auch wenn das völkerrechtliche AuslAbk EU-USA zwar integraler Bestandteil des Unionsrechts geworden ist, ist es selbst jedoch nicht Unionsrecht und bleibt damit Völkerrecht.156 Damit sind der unionsrechtliche Bestand an Grundrechten und das völkerrechtliche Abkommen der EU auf verschiedenen Rechtsebenen angesiedelt. Eine Auflösung der verschiedenen Pflichten allein über das europäische Recht ist nicht möglich. Anders als beispielsweise die Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ist die Auslieferung an einen Drittstaat gerade nicht nur europäisch und national geregelt, sondern insbesondere völkerrechtlich determiniert. Gleichwohl wirkt das Unionsrecht über das nationale Recht, da die einzelnen Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht an dieses gebunden sind (Art. 51 Abs. 1 GrCh). Insofern werden bei der Betrachtung der innerstaatlichen Bindung der über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörde unionale Vorgaben Berücksichtigung finden müssen.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen Mangels einer völkerrechtlichen oder unionsrechtlichen Auflösung der Pflichtenkollision zwischen Grund- und Menschenrechtsschutz und völkervertraglichen Auslieferungspflichten zugunsten des Ersteren könnte sich ein Ablehnungsgrund bei grund- und menschenrechtlichen Bedenken aufgrund der innerstaatlichen Bindung der für die Auslieferungsentscheidung zuständigen deutschen Justizbehörden an Recht und Gesetz auf nationaler Ebene finden lassen. Ein innerstaatlich wirkender Grundrechtsvorbehalt könnte ein Auslieferungshindernis für den Fall eines Verstoßes gegen unverzichtbare Werte des ersuchten Staates darstellen, zu deren Einhaltung nationale Justizbehörden bei Ausübung von Hoheitsgewalt unbedingt verpflichtet sind. Dabei umschreibt der deutsche Ordre Public international die Gesamtheit der (nationalen) Normen, die nach der deutschen Rechtsordnung im internationalen Auslieferungsrecht Geltung beanspruchen.157 Als Einfallstor für Grund- und Menschenrechte kann sich ein deut 156

Lorenzmeier, ZJS 2012, 322, 324. Jaenicke, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 7 (1967), 77, 80. Zunächst ist es üblich, dem Begriff des Ordre Public voranzustellen, aus welchem Staat ausgeliefert werden soll, vgl. statt vieler: Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 26 ff. Das Voranstellen macht dabei deutlich, dass es sich um einen nationalen Ordre Public handelt: Das „nationale“ wird dabei einfach durch den jeweiligen Staat, aus dessen Perspektive dies zu beurteilen ist, ergänzt / ​ersetzt, vgl. hierzu eingehend Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 55 ff. 157

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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scher Ordre-Public-Vorbehalt nur nach den für die Hoheitsträger Deutschlands verbindlichen Grund- und Menschenrechten richten – und damit in Deutschland aus innerstaatlicher Perspektive insbesondere nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben des GG. Darüber hinaus wird die Grundrechtsbindung aus innerstaatlicher Sicht auch durch europarechtliche und völkerrechtliche Vorgaben konkretisiert (durch Umsetzung europarechtlicher und völkerrechtlicher Vorgaben in nationales Recht, vgl. Art. 23, Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG), zu deren Einhaltung auch deutsche Justizbehörden bei Ausübung von Hoheitsgewalt verpflichtet sind. Als europarechtliche Wertungen kommen insbesondere die Umsetzung der GrCh und der EMRK in Betracht. Wenngleich eine solche innerstaatliche Bindung durch völkerrechtliche und europäische Werte angereichert ist, handelt es sich dennoch um einen im Kern national geprägten Inhalt, der national unverzichtbare und durch europarechtliche und völkerrechtliche Wertungen angereicherte Werte schützt.158 Konflikte zwischen einer völkerrechtlichen Auslieferungspflicht und der innerstaatlichen Bindung deutscher Justizbehörden an (durch völkerrechtliche und europarechtliche Vorgaben angereicherte) Grundrechte entstehen allerdings nur dann, wenn auch innerstaatlich überhaupt eine Auslieferungspflicht besteht. Die zwischenstaatliche Verpflichtung zur Auslieferung gegenüber einem anderen Staat sagt noch nichts darüber aus, inwiefern ein Staat auch innerstaatlich zur Auslieferung verpflichtet ist – dies überlässt das Völkerrecht dem innerstaatlichen Recht.159 Allerdings ergibt sich aus Art. 26 WVK ein Durchsetzungsanspruch: Dort ist geregelt, dass völkerrechtliche Verträge von nationalen Justizbehörden einzuhalten sind (pacta sunt servanda). Ob die zwischenstaatliche Auslieferungspflicht auch innerstaatlich zu einer Auslieferungsverpflichtung wird, richtet sich nach der innerstaatlichen Wirksamkeit völkerrechtlicher Verträge und damit nach dem nationalen Recht. In Deutschland ist hierfür Art. 59 Abs. 2 GG maßgeblich. Liegt eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Auslieferung im zwischenstaatlichen Verhältnis (also beispielsweise zwischen Deutschland und den USA) grundsätzlich vor, wenn und weil im konkreten Fall die Voraussetzungen des einschlägigen Vertrages erfüllt sind, besteht im vertraglichen Auslieferungsverkehr auch innerstaatlich eine solche Verpflichtung, solange gem. Art. 59 Abs. 2 GG der Auslieferungsvertrag in das deutsche Recht übertragen worden ist160 und es sich um keine völkerrechtliche Fakultativklausel handelt, welche die Auslieferung in das Ermessen des ersuchten Staates stellt,161 da das Transformationsgesetz bzw. der Vollzugsakt dem Vertragsinhalt nur insgesamt (und damit auch inklusive der Aus 158 S. hierzu Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 30. 159 S. statt vieler Nettesheim, in: Herzog / ​Scholz / ​Herdegen / ​K lein (Hrsg.), Maunz / ​Dürig GG, Art. 59 GG Rn. 173. 160 Schmahl, JuS 53 (2013), 961, 965. 161 Riegel, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 1 Rn. 38; Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 45 f.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

lieferungsverpflichungen) zustimmen kann.162 Ist das Zustimmungsgesetz in Kraft getreten, ist das völkerrechtliche Übereinkommen auch innerstaatlich anwendbar, sodass auch innerstaatlich eine Auslieferungspflicht begründet wird. Dabei gilt der völkerrechtliche Vertrag innerstaatlich als einfachgesetzliches Recht, da er im Rang des Zustimmungsgesetzes steht.163 Art. 59 Abs. 2 GG sorgt so dafür, dass die innerstaatliche Pflichtenlage aufgrund von völkerrechtlichen Verträgen der BRD den Pflichten aus dem völkerrechtlichen Vertrag entspricht. Die innerstaatliche Verpflichtung zur Auslieferung ergibt sich daher – vorbehaltlich von Fakultativklauseln – aus der innerstaatlichen Umsetzung der Auslieferungsverpflichtung im zwischenstaatlichen Bereich. Da die im Verhältnis zwischen den USA und Deutschland maßgeblichen Auslieferungsabkommen164 innerstaatlich in Deutschland anwendbar geworden sind,165 besteht bei Vorliegen der Voraussetzungen auch innerstaatlich eine Auslieferungspflicht. Der Nachteil einer solchen Lösung über das innerstaatlich für nationale Justiz­ behörden verbindliche Recht liegt auf der Hand: Die Nichteinhaltung völkervertraglicher Auslieferungspflichten gegenüber den USA steht selbst dann nicht in Frage, wenn nationales Recht einer Auslieferung entgegensteht: Ein national wirkender Vorbehalt vermag eine solche Pflicht nicht zu beseitigen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass nationale Justizbehörden nicht entgegen national verbindlichem Recht Hoheitsgewalt ausüben dürfen. Um einen Gleichlauf zwischen völkerrechtlicher und nationaler Ebene herzustellen, muss eine Lösung dann bereits auf der Ebene des Völkerrechts durch Normierung eines entsprechenden völkervertraglichen Ablehnungsgrundes gesucht werden.166

I. Anwendbarkeit des § 73 S. 1 IRG im Auslieferungsverkehr mit den USA – das Verhältnis zwischen Gesetz und Vertrag Eine Lösung könnte zunächst ein Blick in das innerstaatlich normierte einfache Recht liefern: Unabhängig von einem völkervertraglich geregelten Verweis auf die Norm167 könnte § 73 S. 1 IRG – als einziger Anknüpfungspunkt im innerstaat­ lichen Recht – innerstaatlich trotz der fehlenden Normierung in den einschlägigen Auslieferungsabkommen auch im Auslieferungsverkehr mit den USA anwendbar und damit von dem zuständigen OLG und der zuständigen Bewilligungsbehörde 162

Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 27; Schweitzer / ​Dederer, Staatsrecht III, Rn. 401; Will, JURA 2015, 1164, 1171. 163 Becker, NVwZ 2005, 289, 290; Schmahl, JuS 53 (2013), 961, 965; Will, JURA 2015, 1164, 1172. 164 S. Kapitel 1 A. I. 1. 165 S. Kapitel 1 A. I. 2. 166 S. hierzu Kapitel 3. A. III. 167 S. Kapitel 1 B. II. 2. b).

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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als Ablehnungsgrund zu beachten sein. Nach § 73 S. 1 IRG ist die Leistung von Rechtshilfe – und damit auch die Auslieferung – „unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde.“ Wenn § 73 S. 1 IRG auch bei Auslieferungen an die USA innerstaatlich anwendbar ist, würde das innerstaatliche Recht eine Norm für deutsche Justizbehörden vorsehen, die diese dazu verpflichten, grund- und menschenrechtliche Bedenken bei der Entscheidung über die Auslieferung zu berücksichtigen und die Auslieferung ggfs. abzulehnen. Damit enthielte § 73 S. 1 IRG einen Ablehnungsgrund aufgrund der innerstaatlichen Bindung an Grundrechte, der die Auslieferung im Einzelfall „unzulässig“ macht, sodass der Vorbehalt bereits im Zulässigkeitsverfahren von dem OLG zu prüfen ist. Zu klären ist daher, ob § 73 S. 1 IRG im Auslieferungsverkehr mit den USA unabhängig von einem völkervertraglichen Verweis auf diese Norm anwendbar ist. Einem innerstaatlichen Rückgriff auf § 73 S. 1 IRG könnte im Auslieferungsverkehr mit den USA § 1 Abs. 3 IRG entgegenstehen. Nach § 1 Abs. 3 IRG gehen Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen, soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind, den Vorschriften des IRG vor. Ein Rückgriff auf die Vorschriften des IRG ist im vertraglichen Auslieferungsverkehr mit den USA daher nur dann möglich, wenn die innerstaatlich anwendbaren Regelungen nicht abschließend sind, sondern eine Regelungslücke aufweisen168 und insofern kein innerstaatlicher Vorrang nach § 1 Abs. 3 IRG besteht. Eine solche Lücke besteht beispielsweise bezüglich des Ablaufs des innerstaatlichen Verfahrens der Auslieferung: Dieser richtet sich selbst dann nach dem innerstaatlichen Recht (§§ 10 ff. IRG), wenn der völkerrechtliche Auslieferungsvertrag einzelne Regelungen hierzu trifft und füllt die restlichen Lücken – hier steht § 1 Abs. 3 IRG nicht entgegen.169 Der Grund hierfür liegt insbesondere darin, dass das Auslieferungsverfahren des jeweiligen Staates an sich eine primär innerstaatliche Aufgabe ist: Die Überstellung eines Verfolgten an die Justizbehörden eines anderen Staates bedeutet insbesondere einen Souveränitätsverzicht durch die Hoheitsträger des ersuchten Staates. Demzufolge soll sich das Verfahren eben auch nach den für den ersuchten Staat maßgeblichen Vorschriften richten.170 Es stellt sich daher die Frage, ob die völkerrechtlichen Auslieferungsverträge mit den USA eine Lücke bezüglich eines allgemeinen Grundrechtsvorbehalts aufweisen, sodass ein Rückgriff auf § 73 S. 1 IRG und damit zumindest auf die national verbindlichen Grundrechte möglich ist. Denn es ist durchaus auch möglich, dass 168

Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 39 ff.; Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 19; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 24; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 1 Rn. 23. 169 S. hierzu bereits Kapitel 1 B. II. 2. b) bb). 170 Zum Ganzen eingehend Hecker, Europäisches Strafrecht, § 2 Rn. 77; s. a. Hackner / ​Schier­ holt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 19; Schaefer, NJW-Spezial 2008, 536; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​Kreß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 1 Rn. 24.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

ganz bewusst auf eine weitergehende Regelung in Bezug auf Ablehnungsgründe aus grund- und menschenrechtlichen Bedenken verzichtet worden ist, sodass den Ablehnungsgründen insofern eine Sperrwirkung zukommt, als dass weitere Ablehnungsgründe nicht existieren. Die ständige Rechtsprechung171 und die Literatur172 gehen überwiegend davon aus, dass in Bezug auf Grund- und Menschenrechtsvorbehalte in völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen keine Regelungslücke besteht, sondern die innerstaatlich anwendbaren völkervertraglichen Regelungen einen abschließenden Charakter aufweisen, ein Rückgriff auf § 73 S. 1 IRG somit ausgeschlossen ist. Hiernach beschränkt sich der Anwendungsbereich des § 73 S. 1 IRG grundsätzlich auf den vertragslosen Auslieferungsverkehr.173 Damit haben insbesondere auch vertragliche Grundrechtsvorbehalte Vorrang, solange und soweit sie innerstaatlich unmittelbar anwendbar sind.174 Generell besteht eine Regelungslücke, wenn ein bestimmter Regelungsgegenstand nicht geregelt und darüber hinaus nicht ausgeschlossen worden ist.175 Im Auslieferungsverkehr mit den USA findet sich weder in den innerstaatlich anwendbaren AuslV D-USA inklusive seiner zwei Zusatzverträge ein allgemeiner Grundrechtsvorbehalt, noch findet sich ein solcher im innerstaatlich anwend­baren AuslAbk EU-USA. Ob das IRG in Bezug auf einen allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt neben den völkervertraglichen Regelungen anwendbar ist, sodass innerstaatlich auf § 73 S. 1 IRG zurückgegriffen werden kann, oder ob die völkerrechtlichen Verträge diesbezüglich abschließend sein sollen, ist durch Auslegung zu ermitteln.176 Systematische Erwägungen sprechen dafür, die völkerrechtlichen Auslieferungsablehnungsgründe in Bezug auf grund- und menschenrechtliche Erwägungen als abschließend anzusehen: Die Verträge enthalten Ablehnungsgründe, die Individualinteressen des Auszuliefernden punktuell in Bezug nehmen.177 Insbesondere in Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA finden Grund- und Menschenrechte eine 171

BGHSt 35, 67, 71 f.; 33, 310, 315 ff.; BGH NJW 1988, 2185, 2186; OLG Karlsruhe, 17. 4. 1985 – 1 AK 15/85 = NJW 1985, 2906. 172 Vgl. Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 65, 104; Rübenstahl, WiJ 2014, 53, 54; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 1 Rn. 26 f., § 73 Rn. 5. 173 Gleß / ​Wahl / ​Zimmermann, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 73 Rn. 2; Rübenstahl, WiJ 2014, 53, 54; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 5; anders Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 101 ff. 174 Rübenstahl, WiJ 2014, 53, 54; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 6. 175 Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 1 Rn. 24 ff. 176 Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 39; von Bubnoff, Der Europäische Haftbefehl, S. 11. 177 Vgl. Kapitel 1 A. II. 2.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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Erwähnung, sie sind jedoch nicht als Ablehnungsgrund ausgestaltet. Grund- und Menschenrechte des Auszuliefernden sind demzufolge nicht völlig außen vor gelassen worden, es ist vielmehr bewusst auf eine allgemeine Regelung bei grundund menschenrechtlichen Bedenken verzichtet worden. Damit haben nationalstaatlich gewährleistete Individualinteressen jedoch Eingang in die völkerrechtlichen Verträge gefunden und führen in den dort geregelten Fällen zu Auslieferungshindernissen, sodass davon auszugehen ist, dass bewusst auf einen umfassenden allgemeinen Grundrechtsvorbehalt verzichtet worden ist. Auch die Tatsache, dass eine dem § 73 S. 1 IRG vergleichbare Regelung in Art. 3 des VRh D-USA178 und damit im sonstigen Rechtshilfeverkehr enthalten ist, spricht dafür, im Bereich der Auslieferung einen bewussten Verzicht auf eine solche Klausel anzunehmen. Auch Sinn und Zweck sprechen für eine abschließende Regelung in den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen mit den USA: Auslieferungshindernisse sind materielle (negative) Voraussetzungen einer Auslieferung, über die innerstaatlich im Auslieferungsverfahren entschieden wird. Auf einen allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt ist in den Auslieferungsverträgen zugunsten einer effektiven Strafverfolgung bewusst verzichtet worden. Auslieferungsverträge sehen auf der völkerrechtlichen Ebene Mindestrechte des ersuchenden Staates und Mindestpflichten des ersuchten Staates vor, sodass das IRG neben völkerrechtlichen Verträgen anwendbar ist, wenn es eine Auslieferung zulässt, die nach den völkerrechtlichen Verträgen nicht zulässig wäre und dementsprechend über die völkerrechtlichen Regelungen hinaus geht.179 Der Fall eines allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalts ist jedoch genau anders herum gelagert: Würde man eine Anwendbarkeit des § 73 S. 1 IRG bejahen, würde dies in völkerrechtlich nicht vorgesehener Weise eine Auslieferung einfachrechtlich nur weiter beschränken. Eine Anwendung des § 73 S. 1 IRG ohne entsprechende völkervertragliche Regelung würde völkerrechtlich einen Eingriff in die Souveränität der Staaten darstellen, die einen entsprechenden Vorbehalt in den Auslieferungs­verträgen hätten regeln können, hierauf jedoch verzichtet haben. Deutlich gegen eine Anwendbarkeit des § 73 S. 1 IRG spricht zudem Art. 27 WVK,180 der ausdrücklich bestimmt, dass sich eine Vertragspartei nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen kann, um die Nichterfüllung eines Vertrages zu rechtfertigen.

178

Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Rechtshilfe in Strafsachen i. d. F. des Zusatzvertrages vom 18. 4. 2006, BGBl. 2007 II, S. 1620, 1643. 179 So die allgemeine Meinung, BGHSt 35, 67, 71 f.; 20, 152, 155; 10, 227 f.; 8, 59, 60; BGH, 6. 11. 1964 – 4 Ars 24/64, BAusl. 5/64 = NJW 1965, 1145; s. aus der Literatur s. von Bubnoff, Der Europäische Haftbefehl, S. 11; Riegel, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 1 Rn. 31; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 1 Rn. 25. 180 So auch Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 65; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 8.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Auch ein Vergleich mit dem innerstaatlichen Verfahrensrecht, bei dem unstreitig auch weitergehende innerstaatliche Vorschriften heranzuziehen sind, ergibt nichts anderes: Während das innerstaatliche Auslieferungsverfahren als solches rein innerstaatlich erfolgt und damit auch eine rein innerstaatliche Angelegenheit darstellt, knüpft die Ablehnung einer Auslieferung aufgrund grund- und menschenrechtlicher Bedenken bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat hingegen stets auch immer an ein unmittelbares Handeln der Justizbehörden des ersuchenden Staates an: an die Behandlung des Verfolgten nach der Überstellung. Eine rein innerstaatliche Angelegenheit liegt hierbei nie vor. Damit sind die Auslieferungsverträge mit den USA in Bezug auf Grund- und Menschenrechtsvorbehalte abschließend und ein Rückgriff auf § 73 S. 1 IRG ist nicht möglich. Der Anwendungsbereich des § 73 S. 1 IRG ist damit auf den vertragslosen Auslieferungsverkehr beschränkt und wird im vertraglichen Auslieferungsverkehr durch innerstaatlich anwendbare Auslieferungsabkommen verdrängt. Auf einfaches nationales Recht wie § 73 S. 1 IRG können sich deutsche Justizbehörden nicht berufen, um einen Verstoß gegen eine völkervertragliche Auslieferungspflicht zu rechtfertigen. Gleichwohl könnten deutsche Justizbehörden bei Auslieferungsentscheidungen innerstaatlich dazu verpflichtet sein, die Auslieferung bei grund- und menschenrechtlichen Bedenken bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung im Zweifelsfall abzulehnen. Denn das Gebot der Beachtung von Grund- und Menschenrechten folgt nicht aus dem einfachen Recht, sondern aus der Verfassung selbst. § 73 S. 1 IRG stellt lediglich eine einfachrechtliche Konkretisierung dieses Gebots im vertragslosen Auslieferungsverkehr dar. Auch wenn § 73 S. 1 IRG im vertraglichen Auslieferungsverkehr nicht anwendbar und daher nicht von den über die Auslieferung entscheidenden deutschen Justizbehörden zu beachten ist, bedeutet dies nicht, dass die aufgrund der Auslieferungsverträge mit den USA bestehende Auslieferungspflicht bei der Gefahr einer grund- und menschenrechtswidrigen Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat einschränkungslos durchsetzbar sind.181 Es ist daher im Folgenden zu untersuchen, ob unabhängig von einer völkervertraglichen Normierung eines Grund- und Menschenrechtsvorbehalts und unabhängig von einer Anwendbarkeit des § 73 S. 1 IRG im vertraglichen Auslieferungsverkehr mit den USA Grund- und Menschenrechte dennoch zu beachten sind und in Form eines allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalts als Ablehnungsgrund fungieren.

181 Vgl. auch Rübenstahl, WiJ 2014, 53, 55; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 9.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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II. Bindung deutscher Hoheitsträger an Recht und Gesetz Unabhängig von einer völkervertraglichen Regelung zur Berücksichtigung von Grund- und Menschenrechten oder von einer Anwendbarkeit des § 73 S. 1 IRG auf nationale Auslieferungsentscheidungen im Verhältnis zu den USA könnten Grundund Menschenrechte auch ohne einen ausdrücklichen oder durch Auslegung ermittelbaren (und damit ohne einen aktiven) Vorbehalt zumindest in eingeschränktem Maße Geltung erlangen. Dann würde es sich um Grund- und Menschenrechte handeln, die durch völkerrechtliche Auslieferungsverträge innerstaatlich nicht abbedungen werden können und die auch ohne eine völkervertragliche Regelung ein tatsächliches Auslieferungshindernis darstellen. Die nationalen Justizbehörden sind innerstaatlich dazu verpflichtet, eine Auslieferung abzulehnen, wenn eine positive Auslieferungsentscheidung nicht rechtmäßig wäre, weil sie gegen geltendes Recht verstößt. Denn zumindest müssen Grund- und Menschenrechte insofern bei einer Entscheidung des ersuchten Staates Deutschland über die Auslieferung Berücksichtigung finden, als dass die staatliche Hoheitsgewalt bei Ausübung derselben stets an Grund- und Menschenrechte gebunden ist: Die über die Auslieferung entscheidenden deutschen Justizbehörden sind über Art. 1 Abs. 3 GG an Grund- und Menschenrechte und über Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht und damit an die innerstaatliche Rechtsordnung gebunden. Die Grundrechtsbindung umfasst nicht nur die nationalen Grundrechte des GG, sondern auch die innerstaatlich verbindlichen Menschenrechte der Völkerrechtsordnung und die nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh von Justizbehörden der Mitgliedstaaten bei Durchführung von Unionsrecht zu beachtenden Grundrechte der Unionsrechtsordnung: Die Bindung an Recht und Gesetz umfasst die gesamte Rechtsordnung unter Einschluss völkerrechtlicher und europäischer Einflüsse auf das nationale Recht.182 Es erscheint äußerst bedenklich, ob eine Entscheidung deutscher Hoheitsträger über eine Auslieferung aufgrund eines Zustimmungsgesetzes überhaupt rechtmäßig sein kann, wenn die Zustimmungsgesetze zu den völkervertraglichen Auslieferungsabkommen keine generelle Ablehnungsmöglichkeit bei grund- und menschenrechtswidriger Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat vorsehen, sondern auch für diesen Fall eine Auslieferungspflicht statuieren. Im Auslieferungsverkehr mit den USA bestehen nur punktuell individualrechtsschützende Ablehnungsgründe und auch aus völkerrechtlicher Sicht sind nur iuscogens-Normen überhaupt dazu geeignet, eine völkerrechtliche und damit auch eine innerstaatliche Auslieferungspflicht aufzuheben. Dementsprechend stellt sich die Frage, ob es verfassungs- und unionsrechtlich überhaupt zulässig sein kann, lediglich völkerrechtliche und keine darüber hinausgehenden europäischen und nationalen Grundrechte bei der Auslieferungsentscheidung zu berücksichtigen. 182

Möllers, Juristische Methodenlehre, § 1 Rn. 39; Pernice, EuR 1996, 27, 33; Schulze-­Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 93.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Eine Entscheidung deutscher Hoheitsträger über die Auslieferung kann nur dann rechtmäßig sein, wenn sie auf Grund eines Gesetzes ergeht, bei dessen Ausübung nicht gegen geltendes Recht verstoßen wird. Die Entscheidung darf nicht auf Grund eines Gesetzes ergehen, das gegen Unionsrecht oder gegen das deutsche GG verstößt. Justizbehörden haben ihre Entscheidungen grundrechtskonform zu treffen, um ihrer Bindung an Recht und Gesetz gerecht zu werden. 1. Korrektur des völkerrechtlichen Auslegungsergebnisses? Die Entscheidung über die Auslieferung erfolgt innerstaatlich auf Grundlage der nationalen Zustimmungsgesetze zu den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen und damit auf Grund von nationalem Recht. Es stellt sich daher die Frage, ob eine innerstaatliche Auslegung der Zustimmungsgesetze aufgrund der nationalen Bindung an Grund- und Menschenrechte zu einem anderen Ergebnis gelangen müsste als die völkerrechtliche Auslegung der völkerrechtlichen Auslieferungsverträge: Da die Zustimmungsgesetze deutsches Recht (einfaches Bundesrecht)183 sind, könnten abweichend zur völkerrechtlichen Rechtslage innerstaatlich nationale Auslegungsgrundsätze heranzuziehen und insbesondere eine verfassungsorientierte184 oder eine verfassungskonforme Auslegung185 unter Berücksichtigung der Grundrechte als Ablehnungsgründe vorzunehmen sein, um ein verfassungswidriges Auslegungsergebnis der Zustimmungsgesetze bei Fehlen eines grundrechtlichen Vorbehalts zu vermeiden. Denn als einfaches Bundesrecht stehen die maßgeblichen innerstaatlichen Zustimmungsgesetze unterhalb der nationalen Verfassungsordnung des GG und sind daher grundsätzlich an diesem zu messen. Das durch die völkerrechtlichen Auslegungsregeln ermittelte Auslegungsergebnis des Fehlens eines allgemeinen Grundrechtsvorbehalts könnte wegen verfassungsrechtlicher Bedenken daher einer innerstaatlichen Korrektur unterliegen. Allerdings statuieren die Zustimmungsgesetze sowohl zu den bilateralen Auslieferungsveträgen Deutschlands mit den USA als auch das Zustimmungsgesetz zu dem AuslAbk EU-USA die Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen,186 sodass Einigkeit darüber besteht, dass auch die innerstaatlichen Vertragspflichten durch völkerrechtliche Auslegungsregeln zu ermitteln sind – obwohl es sich bei den der Entscheidung deutscher Justizbehörden zugrunde liegenden Zustimmungsgesetzen um nationales Recht handelt.187 Denn Art. 25 GG bringt die Völkerrechtsfreund 183

St. Rspr. des BVerfG, s. nur BVerfGE 141, 1, 19; 111, 307, 318 f.; s. a. Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn.  168. 184 Zur verfassungsorientierten Auslegung s. Möllers, Juristische Methodenlehre, § 11 Rn. 38 ff. 185 Zur verfassungskonformen Auslegung s. Möllers, Juristische Methodenlehre, § 7 Rn. 47 ff. 186 Auch das AuslAbk EU-USA behält in der Unionsrechtsordnung die völkerrechtliche Herkunft bei, vgl. Lorenzmeier, ZJS 2012, 322, 324. 187 BVerfGE 4, 157, 168; s. a. 74, 358, 370; s. hierzu Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 32; Pieper, in: Epping / ​Hillgruber (Hrsg.), B ­ eckOK

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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lichkeit des GG als Verfassungsprinzip zum Ausdruck.188 Gem. Art. 25 GG sind daher von Gerichten und der Exekutive auch bei der Auslegung und Anwendung von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu beachten. Sie müssen eine völkerrechtskonforme Auslegung vornehmen und sind grundsätzlich daran gehindert, innerstaatliches Recht so auszulegen bzw. anzuwenden, dass es gegen Völkerrecht verstößt: Das nationale Recht – hier: die Zustimmungsgesetze zu den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen – soll vielmehr so ausgelegt werden, dass ein Einklang mit dem Völkerrecht hergestellt wird. Es soll ein größtmöglicher Gleichlauf zwischen nationalem Recht und Völkerrecht geschaffen und Widersprüche zwischen beiden Rechtsordnungen wie Pflichtenkollisionen beseitigt werden.189 Die völkerrechtliche Auslegung der Auslieferungsverträge mit den USA ist jedoch zu dem Ergebnis gelangt, dass ein allgemeiner Grund- und Menschenrechtsvorbehalt im Verhältnis zu den USA nicht existiert190 und ein entsprechender Ablehnungsgrund im Einzelfall daher nicht völkerrechtskonform geltend gemacht werden kann, solange er nicht ius-cogens-Normen betrifft.191 Dem Staateninteresse einer effektiven Strafverfolgung ist damit völkervertraglich ein übergeordnetes Interesse zugewiesen worden. Auf der Grundlage einer völkerrechtskonformen Auslegung ergibt sich, dass wegen einer grundsätzlich bestehenden völkerrechtlichen Auslieferungspflicht auch bei Bedenken bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung auch national eine solche Auslieferungspflicht besteht und keine regionalen oder nationalen Grundund Menschenrechte als Ablehnungsgrund fungieren können, ein Verstoß gegen ius-cogens-Normen als Ablehnungsgrund hingegen zu beachten ist. Eine völkerrechtskonforme Auslegung spricht daher gegen eine Korrektur dieses völkerrechtlichen Auslegungsergebnisses über die Berücksichtigung von völkervertraglichen Pflichten verdrängende ius-cogens-Normen hinaus. Nach der Rechtsprechung des BVerfG kann eine völkerrechtskonforme Auslegung allerdings nicht unbegrenzt gelten.192 Vielmehr kann der grundgesetzliche Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit hiernach keine einschränkungslose Verpflichtung zur Befolgung jeglicher völkerrechtlichen Pflicht bewirken, sodass sich Grenzen einer solchen Auslegung wiederum aus dem GG ergeben: Eine unbedingte Unterwerfung der deutschen Rechtsordnung unter die Völkerrechtsordnung ist gerade nicht vom GG angeordnet worden. Dies zeigt sich allein schon darin, dass GG, Art. 59 GG Rn. 44; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 170. 188 Vgl. hierzu statt vieler und m. w. N.: Herdegen, in: Herzog / ​Scholz / ​Herdegen / ​K lein (Hrsg.), Maunz / ​Dürig GG, Art. 25 GG Rn. 6 ff. 189 BVerfGE 141, 1, 29 f.; 128, 326, 367 f.; 112, 1, 24 ff.; 111, 307, 317 f.; 99, 145, 158; 74, 358, 370; 31, 58, 75 f.; 6, 309, 362 f.; zum Ganzen s. von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 522; Pieper, in: Epping / ​Hillgruber (Hrsg.), ­BeckOK GG, Art. 59 Rn. 44; zur völkerrechtskonformen Auslegung s. eingehend Möllers, Juristische Methodenlehre, § 12 Rn. 126 ff. 190 Vgl. Kapitel 1 B. 191 Vgl. Kapitel 2 B. 192 Vgl. BVerfGE 141, 1, 28 f.; 128, 326, 371; 112, 1, 25 f.; 111, 307, 317 ff.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Völkerrecht innerstaatlich nicht unmittelbar ist, sondern stets eines Anwendungsbefehls bedarf.193 Wenn das völkerrechtliche Auslegungsergebnis betreffend den Grund- und Menschenrechtsschutz in den völkerrechtlichen Verträgen aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht mehr haltbar erscheint, endet die Option einer völkerrechtskonformen Auslegung.194 Dies präzisiert das BVerfG in ständiger Rechtsprechung: Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit könne nur im Rahmen des durch das GG festgelegten demokratischen und rechtsstaatlichen Systems Geltung beanspruchen.195 Die Grenze jeglicher völkerrechtskonformen Auslegung stellen damit demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien dar. Hiernach soll ein Gleichlauf zwischen nationalem Recht und Völkerrecht erst dann nicht mehr herbeigeführt werden, wenn durch eine völkerrechtskonforme Auslegung die Grenzen eines demokratischen Rechtsstaats erreicht werden. Tatsächlich erscheint es höchst bedenklich, ob rechtsstaatliche Grenzen nicht bereits dann erreicht sind, wenn eine Auslieferung keinem allgemeinen Grund- und Menschenrechtsvorbehalt unterliegt und damit ggf. kein hinreichender Grund- und Menschenrechtsschutz gewährleistet ist, sondern vielmehr über den Grundrechtsschutz hinaus die Einhaltung einer völkerrechtlichen Auslieferungsverpflichtung völkerrechtlich vorgegeben wird. Denn ein Rechtsstaat zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er sich zu Grund- und Menschenrechten bekennt und seine Hoheitsträger bei Ausübung staatlicher Gewalt diese achten und schützen. Zumindest eine unbedingte Garantie des Kernbestands strafprozessualer Verfahrensgarantien und des materiellen Kernbestands scheint für die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze auf den ersten Blick unabdingbar zu sein. Stellen rechtsstaatliche Grundsätze die Grenze einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung der Zustimmungsgesetze zu den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen dar, so stellt sich die Frage, woraus sich die für Deutschland verbindlichen rechtsstaatlichen Grundsätze ergeben, die zwingend im Auslieferungsverfahren mit den USA einzuhalten sind. Denn Deutschland ist nicht nur in seine eigene verfassungsmäßige Ordnung eingebunden, sondern als Mitgliedstaat der EU auch dem Unionsrecht und den diesem zugrunde liegenden Werten verpflichtet. In Deutschland ergeben sich rechtsstaatliche Grundsätze zunächst aus Art. 20 Abs. 3 GG, wonach die Legislative an die verfassungsmäßige Ordnung und die Exekutive und Judikative an Recht und Gesetz gebunden sind. Darüber hinaus ist Deutschland als Mitgliedstaat der EU an die unionsrechtlichen Rechtsstaatlichkeitsgrundsätze i. S. d. Art. 2 EUV gebunden. Über Art. 23 Abs. 1 GG196 wirkt

193

Vgl. BVerfGE 141, 1, 28 f.; 112, 1, 25 f. So BVerfGE 141, 1, 30 f.; 128, 326 f. 195 BVerfGE 141, 1, 30; 128, 326 f., 366, 371 f.; 111, 307, 318, 323, 329; s. zu den Grenzen der völkerrechskonformen Auslegung der Verfassung Bernhardt, in: FS Steinberger, S. 391, 395 ff.; Peters, ZÖR 65 (2010), 3, 59 ff. 196 Zur geschichtlichen Entwicklung s. Franzius, EuR 2019, 365, 366 ff. 194

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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Deutschland an der Verwirklichung einer rechtsstaatlichen Union mit. Damit ist die deutsche Rechtsordnung verfassungsrechtlich nicht nur mit der Völkerrechtsordnung, sondern auch mit der Rechtsordnung der Europäischen Union verflochten: Das GG ist nicht nur völkerrechtsfreundlich ausgestaltet, sondern bekennt sich zusätzlich zur Europäischen Union und deren Werten. Gem. Art. 4 Abs. 3 EUV „achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben“, und die Mitgliedstaaten unterstützen „die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unterlassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten“ (Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit bzw. Unionstreue).197 Die Mitgliedstaaten der EU sind hiernach unionsrechtlich dazu verpflichtet, das Recht der Union durchzusetzen und die Unionsziele bestmöglich zu erreichen (effet utile). Dementsprechend sind im Anwendungsbereich des Unionsrechts ein nationaler Richter – und damit auch der über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidende Richter am OLG  – auch ein Unionsrichter198 und die über die Bewilligung der Auslieferung entscheidende Exekutive auch stets ein Justizorgan der Europäischen Union. Als solche müssen die deutschen Justizbehörden dem Unionsrecht zur Durchsetzung verhelfen und insbesondere auch unionsrechtliche Grundrechtsgarantien durchsetzen. Dies wird auch von Art. 19 EUV als Konkretisierung unionsrechtlicher Rechtsstaatlichkeitsgrundsätze i. S. d. Art. 2 EUV bestätigt, wonach es die Sache nationaler Gerichte ist, die Anwendung von Unionsrecht – und damit auch den Schutz der Rechte des Einzelnen – zu gewährleisten. Aufgrund des Integrationsbefehls des Art. 23 Abs. 1 GG könnte das nationale Zustimmungsgesetz zum AuslAbk EU-USA dementsprechend primär unionsrechtskonform auszulegen199 sein. Eine Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung besteht auch unionsrechtlich gem. Art. 4 Abs. 3 EUV. Rechtsstaatliche Grundsätze sind daher nicht nur aus nationaler Perspektive, sondern auch aus unionsrechtlicher Sicht abzusichern,200 sodass primär Unionsgrundrechte als Ablehnungsgründe in Betracht kommen könnten. Bestandteil sowohl des deutschen als auch des unionsrechtlichen Verständnisses eines Rechtsstaats ist gerade auch die Einhaltung und der Schutz von Grundrech 197

Zu dem Begriff s. statt vieler Kahl, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​A EUV, Art. 4 EUV Rn. 29 ff. 198 Jourova, DRiZ 2020, 286 f.; Möllers, Juristische Methodenlehre, § 1 Rn. 17 f.; Pernice, EuR 1996, 27, 33; Zuleeg, JZ 49 (1994), 1, 2. 199 Zur unionsrechtskonformen Auslegung s. Ehlers, in: Schulze / ​Janssen / ​Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, § 11 Rn. 46 ff.; Hassemer / ​Kargl, in: Kindhäuser / ​Neumann / ​Paeffgen (Hrsg.), StGB, § 1 StGB Rn. 111 ff.; Wegener, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​A EUV, Art. 19 EUV, Rn. 33; zu den einzelnen Möglichkeiten einer unionsrechtskonformen Auslegung s. Müller / ​Christensen, Juristische Methodik, Rn. 163 ff. 200 Andernfalls droht Deutschland auch ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 Abs. 2 AEUV, bzw. sogar ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Art. 7 EUV; vgl. Hatje  / ​ Schwarze, EuR 2019, 153, 180 f.; s. a. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (1).

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

ten.201 Eine Grenze der völkerrechtsfreundlichen Auslegung könnte daher insofern zu ziehen sein, als dass Grundrechte des GG und Grundrechte der GrCh nicht als allgemeine Ablehnungsgründe in den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen mit den USA installiert sind. Die Grenzen eines (deutschen und unionsrechtlichen) rechtsstaatlichen Verständnisses könnten dann überschritten sein, wenn kein hinreichender (zumindest eingeschränkter) Grundrechtsvorbehalt völkervertraglich geregelt ist. Ein solche Grenze wäre zumindest dann nicht überschritten, wenn unionsweit und national geltende Grund- und Menschenrechte im Auslieferungsverkehr mit den USA generell nicht anwendbar wären und daher auch nicht als Ablehnungsgründe für den Fall herangezogen werden könnten, dass die Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung den Unionsgrundrechten oder nationalen Grundrechten des GG widerspricht. Denn wenn unionale und nationale Grund- und Menschenrechte bereits nicht anwendbar sind, kann ein Fehlen eines allgemeinen grund- und menschenrechtlichen Ablehnungsgrundes in den Auslieferungs­verträgen mit den USA rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht entgegen­stehen. Rechtsstaatliche Grundsätze können daher nur dann durch eine Nichtbeachtung von Grundrechten verletzt werden, wenn Grundrechte auch grundsätzlich anwendbar sind. Eine völkerrechtsfreundliche Auslegung der Auslieferungsverträge bedürfte bei mangelnder Anwendbarkeit von Grundrechten daher keiner innerstaatlichen Korrektur. Dementsprechend muss in einem ersten Schritt ermittelt werden, ob regional oder national bindende Grund- und Menschenrechte im Auslieferungsverkehr anwendbar sind. Ist dies zu bejahen, ist einem zweiten Schritt zu ermitteln, welcher Katalog an Rechten der maßgebliche ist und ob dieser ggf. noch weiter einzuschränken ist. 2. Grundsätzliche Anwendbarkeit regionaler und nationaler Grund- und Menschenrechte im Auslieferungsverkehr Aufgrund des völkerrechtlichen Charakters der Auslieferung war es lange Zeit umstritten, ob regional und national verpflichtende Grund- und Menschenrechte überhaupt im Auslieferungsverkehr bei der Entscheidung über die Zulässigkeit oder Bewilligung der Auslieferung anwendbar sind oder ob dem der völkerrechtliche Charakter der Auslieferung entgegensteht.

201 Bäcker, EuR 2015, 389; Calliess, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 2 EUV Rn. 25; Voßkuhle, NJW 2018, 3154.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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a) Die rein völkerrechtliche Betrachtungsweise Nach der in der Literatur ehemals vertretenen sog. rein völkerrechtlichen Betrachtungsweise202 war eine Beurteilung der Entscheidung nationaler Justizbehörden über die Auslieferung anhand von regionalen oder nationalen Grundrechten aufgrund des rein völkerrechtlichen Charakters einer Auslieferung ausgeschlossen.203 Regionale oder nationale Grundrechte konnten hiernach kein Beurteilungsmaßstab für die im ersuchenden Staat folgende Behandlung des Auszuliefernden sein und einer nach dem völkerrechtlichen Vertrag bestehenden Auslieferungsverpflichtung nicht entgegengesetzt werden. Vielmehr sollten selbst die Individualrechte, die völkervertraglich geregelt waren, den von der Auslieferung Betroffenen nur mittelbar über die Staaten schützen:204 Menschenrechte seien zwar völkerrechtlich verbindlich und daher in die völkerrechtlichen Verbindlichkeiten zwischen den Staaten eingegliedert, sodass sie insofern Berücksichtigung zu finden haben.205 Dennoch solle sich der Schutz der Menschenrechte dabei für den Betroffenen nicht als eigenes subjektives Recht, sondern nur als Reflex des völkerrechtlich verbindlichen Rechtsstatus darstellen, deren Geltendmachung allein den Staaten obliege.206 Nach einer solchen Sichtweise sind Grund- und Menschenrechte im völkervertraglichen Auslieferungsverkehr mit den USA kein Auslieferungshindernis, wenn sie nicht als solche völkervertraglich als Ablehnungsgrund geregelt sind207 bzw. wenn es sich nicht um solche Rechte handelt, die zu ius cogens erstarkt sind. Eine Auslieferung an die USA kann hiernach mangels eines in dem Auslieferungsabkommen bzw. den Auslieferungsverträgen geregelten allgemeinen nationalen, europäischen oder völkerrechtlichen Grund- und Menschenrechtsvorbehalts nicht unter Berufung auf einen solchen abgelehnt werden, solange es sich nicht um Grund- und Menschenrechte handelt, die völkerrechtlich zu ius cogens erstarkt sind.208

202

S. hierzu bereits Kapitel 2 B. II. 2. Vgl. insbes. Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 214 ff., 233; Vogler, in: FS Pötz, S. 251 ff. 204 Vgl. Gillmeister, NJW 1991, 2245; Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 214 ff.; Vogler, in: FS Pötz, S. 251, 261 f. 205 So Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 214 ff. 206 Vgl. Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 214 ff.; s. hierzu auch Weigend, JuS 40 (2000), 105, 110; Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, S. 226. 207 So bspw. im Auslieferungsverkehr mit den USA gem. Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 7 AuslV D-USA in Bezug auf eigene Staatsangehörige. 208 Zu den praktischen Problemen, vor denen eine ius-cogens-Lösung steht, vgl. Kapitel 2 B. II. 2. a) bb). 203

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

b) Regionale und nationale Grundrechte als Schranken einer Auslieferung? Während das traditionelle Rechtshilferecht nach vorgenannter ehemals überwiegender Ansicht nur auf den Ausgleich zwischenstaatlicher Interessen gerichtet war, hat sich auch in der Literatur mehr und mehr die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch die Interessen des Individuums bei der Entscheidung über die Auslieferung an einen anderen Staat Berücksichtigung zu finden haben.209 Insbesondere aufgrund der Stärkung der Individualinteressen sowohl nationalstaatlich als auch durch die Bekenntnis zu Menschenrechten durch die internationale Staatengemeinschaft oder regionaler Grundrechtsverpflichtungen wie solche der GrCh innerhalb der Union haben individualrechtliche Positionen auch im Auslieferungsrecht immer mehr Bedeutung erlangt.210 Die wissenschaftliche Diskussion kreist dabei um die Frage, ob regional oder national gewährte Grundrechtsgarantien gleichsam einem Exportverbot unterliegen und deshalb von vornherein bei der nationalen Entscheidung über die Auslieferung unanwendbar sind oder ob sie als Schranke einer Überstellung an die USA dienen können bzw. sogar müssen. Hierbei reicht die Diskussion von gar keiner über eine eingeschränkte bis hin zu einer vollen Geltung von Grundrechten. Die Ablehnung einer Anwendbarkeit regionaler oder nationaler Grundrechte würde auf die – aus dem traditionellen anglo-amerikanischen Rechtskreis stammende211 – sog. rule of non-inquiry hinauslaufen, nach der die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens oder die Strafen bzw. die Behandlung des Verfolgten im ersuchenden Staat nach erfolgter Auslieferung nicht hinterfragt werden darf.212 aa) Kompletter Ausschluss regionaler und nationaler Grundrechte? Für einen kompletten Ausschluss der Anwendbarkeit regionaler oder nationaler Grundrechte ist in der wissenschaftlichen Debatte insbesondere Folgendes ange 209 Dies wird durch das von Lagodny begründete sog. dreidimensionalen Modell dargestellt; hierzu grundlegend: Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 11 ff. 210 Vgl. zur Entwicklung Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, S. 228. 211 S. hierzu Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 164. 212 S. zur rule of non-inquiry und zu seiner geschichtlichen Entwicklung in den USA insbes. van Cleave, Golden Gate University School of Law 13 (1999), 27, 36 ff.; Murchison, SJIL 43 (2007), 295, 300 ff.; Semmelmann, Cornell Law Review 76 (1991), 1198 ff.; s. zudem Bassiouni, International Extradition, 7. Kapitel, S. 632 ff.; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 164 ff. m. w. N.; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 24, 129. In den USA wird die rule of non-inquiry von den Gerichten noch vertreten, s. hierzu Murchison, SJIL 43 (2007), 295, 300 ff.; Rose, YJIL 27 (2002), 193, 210 ff.; kritisch hierzu insbes. Quigly, NCILJ 15 (1990), 401; kritisch insbes. zu Fällen der Folter Bassiouni, International Extradition, 7. Kapitel, S. 801 ff.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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führt worden: Würde man die Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung (unmittelbar) durch den ersuchenden Staat an innerstaatlichen Grundrechten messen, würde das letztlich darauf hinauslaufen, dass man einem anderen Staat eigene Grundrechtsvorstellungen aufoktroyieren würde. Ausländische Hoheitsträger seien jedoch gerade nicht an die Grundrechte des ersuchten Staates gebunden, sodass ihr Verhalten nicht an nationalen oder regionalen Individualrechten gemessen werden könne.213 Gegen eine Anwendbarkeit regionaler oder nationaler Grundrechte ist in diesem Zusammenhang insbesondere auch ein Exportverbot regional beschränkter Individualrechte aus Gründen der Höflichkeit gegenüber einem anderen Staat angeführt worden.214 Eine Anwendbarkeit würde quasi auf eine „Verabsolutierung“215 der eigenen Grundrechtsstandards hinauslaufen. Würde eine Beurteilung der Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Überstellung unmittelbar durch den ersuchenden Staat nationalen oder regionalen Grundrechten des ersuchten Staates unterliegen, liefe dies auf einen Grundrechtsimperialismus216 und insbesondere auf eine Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Souveräns hinaus, die dem Souveränitätsgrundsatz im Völkerrecht zuwiderliefen. Dies könne nur durch einen Kontrollverzicht der Überprüfung der Behandlung des Auszuliefernden verhindert werden, indem regional oder national verbindliche Grundrechte für unanwendbar erklärt werden.217 Diese Sichtweisen verkennen jedoch Folgendes: Unbestreitbar sind ausländische Hoheitsträger nicht an national verbindliche Individualrechte gebunden. Bei der Frage nach der Anwendbarkeit von national oder auch regional verbindlichen Grundrechten bei der Auslieferungsentscheidung des ersuchten Staates geht es nicht darum, dem GG oder der GrCh eine Geltung für Hoheitsträger anderer Staaten zuzusprechen, die diesen Katalogen nicht zukommt. Vielmehr steht eine Zurechnung der Verletzung der Grundrechte an die Justizbehörden des ersuchten Staates im Raum: Unmittelbare Grund- und Menschenrechtsverletzungen seitens der Justizbehörden des ersuchenden Staates könnten den Hoheitsträgern des über die Auslieferung entscheidenden ersuchten Staates als mittelbarer Eingriff zugerechnet werden. Es ist also nicht das Verhalten der Justizbehörden des ersuchenden Staates, das an den regionalen oder nationalen Grundrechten des ersuchten Staates zu messen ist. Vielmehr ist es das Verhalten der Justizbehörden des ersuchten Staates selbst. An der Grundrechtsbindung nationaler Justizbehörden ändert sich jedoch nichts, wenn es um eine Auslieferung an einen anderen Staat geht, solange 213

Vogler, NJW 1994, 1433, 1434 f. In den USA wird die sog. rule of non-inquiry mit der Souveränität des ersuchenden Staaten begründet, vgl. hierzu Bassiouni, International Extradition, 7. Kapitel S. 632 ff.; Rose, YJIL 27 (2002), 193 ff. 214 Isensee, in: Doehring / ​Isensee / ​Kisker / ​Püttner (Hrsg.), Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, S. 49, 63; Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 200 f.; Vogler, in: GS Meyer, S. 477, 480. 215 So Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 233; Vogler, in: GS Meyer, S. 477, 480. 216 Isensee, in: Doehring / ​Isensee / ​Kisker / ​Püttner (Hrsg.), Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, S. 49, 63; Vogler, NJW 1994, 1433, 1436. 217 Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 199 ff.; Vogler, in: GS Meyer, S. 477, 480.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

ein zurechenbarer Grundrechtseingriff vorliegt. Bei der Auslieferung geht es zuvörderst darum, dass sich das durchführende Justizorgan an den für ihn zu beachtenden Grundrechten messen lassen muss. Das vorgebrachte Argument für einen Ausschluss regionaler oder nationaler Grundrechte vermengt daher unzulässigerweise Fragen der grundsätzlichen Anwendbarkeit eines Grundrechts mit denen der Zurechnung einer Verletzung. Wenn es jedoch die Hoheitsträger des eigenen Staates sind, die an den nationalen Verbindlichkeiten gemessen werden, dann folgt hieraus auch, dass anderen Staaten nicht die eigene Rechtsauffassung und damit nationale bzw. regionale Werte aufgezwungen werden. Wenn aber verbindliche Grundrechte für einen Mitgliedstaat nur als Maßstab für eben diesen Staat angelegt werden, so kann auch nicht von einer „Verabsolutierung“ oder einem „Imperialismus“ die Rede sein.218 Vielmehr kann man den Gedankengang sogar umkehren: Wenn eigene Grundrechtsverbindlichkeiten keine Berücksichtigung finden, dann kann man argumentieren, dass der deutschen Rechtsordnung als ersuchtem Staat die Wertevorstellung eines anderen Staates aufgezwungen wird, wenn eigene Grundrechte für schlichtweg unanwendbar erklärt werden.219 Im Übrigen erscheint es nicht überzeugend, die Verweigerung einer Auslieferung aufgrund regional oder national bestehender grund- und menschenrechtlicher Bedenken trotz einer im Einzelfall bestehenden Auslieferungspflicht als Einschränkung der Souveränität des um Auslieferung ersuchenden Staates zu interpretieren. Denn immerhin geht es bei einer Ablehnung der Auslieferung durch die Justizbehörden des ersuchten Staates darum, dass die Ausübung der Hoheitsgewalt durch Justizbehörden des ersuchenden Staates nicht aktiv durch die Überstellung des Verfolgten unterstützt wird. Damit wird die Hoheitsgewalt des ersuchenden Staates zwar nicht ausgeweitet. Dies stellt jedoch auch keine Einschränkung der staatlichen Souveränität des ersuchenden Staates dar, sondern eine natürliche Grenze, die sich schlichtweg daraus ergibt, dass verschiedene Souveräne aufeinander treffen. Dies ist jedoch keine Besonderheit des Auslieferungsrechts, sondern der Normalfall im Völkerrecht. Als weiteres Argument gegen eine Anwendbarkeit nationaler oder regionaler Grundrechte ist lange Zeit auch eine mangelnde eigene Rechtsposition des Verfolgten auf der Ebene des Völkerrechts angeführt worden.220 Unabhängig davon, 218

Gleß / ​Wahl / ​Zimmermann, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 73 Rn. 15 ff.; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 86 ff.; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 173 f.; Schomburg / ​Hackner / ​Zimmermann, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 8 Rn. 14. 219 So schon Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 86 f.; so auch bereits Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht, S. 313 f. (in Bezug auf die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit). 220 Sog. zweidimensionales Modell, s. Kapitel 2 B. II. 2. und Kapitel 2 D. II. 2. a). Die Frage der Völkerrrechtssubjektivität des Individuums war lange eine der umstrittensten im Völkerrecht (s. hierzu Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 9 Rn. 1), da traditionell allein Staaten eine Völkerrechtssubjektivität zugeschrieben wurde, s. hierzu Kindt, Menschenrechte und Souveränität, S. 32. Dies wurde insbesondere durch die dualistische Theorie unterstützt, welche davon ausgeht, dass völkerrechtliche und innerstaatliche Normen streng voneinander zu

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dass dies für die Bindung der über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörden keine Rolle spielen kann – sogar die rein völkerrechtliche Betrachtungsweise ging davon aus, dass zumindest ius cogens mittelbar quasi als „Reflex“ über die Staaten Beachtung finden musste,221 kommt dem Einzelnen im Bereich des Menschenrechtsschutzes mittlerweile durchaus eine partielle – wenngleich keine originäre222 – Rechtssubjektivität auf der Ebene des Völkerrechts zu (sog. partielle Völkerrechtssubjektiviät).223 Der Einzelne leitet seine Völkerrechtsubjektivität hierbei von der der Staaten ab, weil und insofern diese ihm über Menschenrechtsübereinkommen Völkerrechtssubjektivität verleihen.224 Kommt dem Einzelnen im Bereich des Menschenrechtsschutzes eine Rechtssubjektivität zu, dann kann auch im Auslieferungsverfahren nichts anderes gelten. Aus dieser Erkenntnis heraus hat sich das sog. zweidimensionale Modell in der Literatur zu einem dreidimensionalen Modell weiterentwickelt.225 Durch die Erweiterung zum dreidimensionalen Modell wird ausgedrückt, dass die Rechtshilfe und damit die Auslieferung auch einen innerstaatlichen Charakter aufweist, welcher Berücksichtigung finden muss: Auch Eingriffe in die Individualrechte des Betroffenen durch Auslieferungsmaßnahmen seitens des ausliefernden Staates bedürfen einer Rechtfertigung.226 Das dreidimensionale Modell beinhaltet damit lediglich die Aussage, dass sich der Betroffene gegenüber den Staaten auf seine Interessen berufen kann und nicht darauf angewiesen ist, dass der ersuchte Staat die Individualinteressen berücksichtigt, diese sich für ihn also bloß als ein Rechtsreflex darstellen. Demnach stellt eine Auslieferung nicht mehr nur einen Interessenausgleich zwischen zwei Staaten her, sondern bezieht auch die Interessen des Individuums mit ein. Bei der Auslieferung muss das Individuum daher Träger materieller Rechte sein und diese in einem Verfahren durchsetzen können. Die Zulässigkeit der Auslieferung und die Auslieferungspflicht hängen damit auch zwischenstaatlich von der Garantie der Rechte des Betroffenen ab.227 Stehen dem Verfolgten jedoch bereits auf der Völkerrechtsebene eigene subjektive Rechte zu, muss in einem Auslieferungstrennen sind, s. hierzu statt vieler Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 9 Rn. 1; Kempen, in: Voßkuhle / ​Starck / ​K lein / ​Huber / ​Brenner / ​Classen / ​Danwitz / ​Mangoldt (Hrsg.), GG, Art.  59 Abs. 2 Rn. 83 ff.; Will, JURA 2015, 1164, 1166 f. 221 Vgl. Kapitel 2 D. II. 2. a). 222 Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 9 Rn. 4; Kindt, Menschenrechte und Souveränität, S. 32 f. 223 Vgl. nur Herdegen, Völkerrecht, § 12 Rn. 1 ff.; Kau, in: Vitzthum / ​P roelß (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Abschnitt Rn. 14 ff.; Krajewski, Völkerrecht, § 7 Rn. 5. 224 Krajewski, Völkerrecht, § 7 Rn. 9. 225 Zu den Begrifflichkeiten des zwei- und dreidimensionalen Modells s. Kapitel 2 Fn. 92; vgl. auch Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Einleitung Rn. 6 ff. 226 Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 77. 227 Die Entwicklung der zweidimensionalen hin zur dreimensionalen Sichtweise steht im engen Zusammenhang mit dem Streit um die Völkerrechtssubjektivität des Individuums, die lange Zeit eine der umstrittensten Fragen des Völkerrechts war, s. hierzu Kapitel 2 Fn. 220; s.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

verfahren insgesamt eine angemessene Beachtung der menschenrechtlichen Belange des Betroffenen erfolgen. Rechtsstaatliche Grundsätze müssen eingehalten werden und das Individuum darf bei der Auslieferung nicht zum Objekt staatlichen Handelns gemacht werden. Darüber hinaus ist für einen Ausschluss regional und national verbindlicher Grundrechte als Maßstab einer Auslieferungsentscheidung der Justizbehörden des ersuchten Staates angeführt worden, dass eine Auslieferung eine außenpolitische Angelegenheit sei. Als völkerrechtlicher Akt der außenpolitischen Gewalt könne die Auslieferung keinen innerstaatlichen, sondern nur völkerrechtlichen Bindungen unterliegen und sei daher nicht an regionalen und nationalen Grundrechten zu messen.228 Dies ist jedoch mit Art. 1 Abs. 3 GG nicht vereinbar, der jegliche nationale Hoheitsgewalt bindet und damit auch die Justizbehörden, die über die Auslieferung in Deutschland entscheiden. Nicht nur die Exekutive ist bei Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages gem. Art. 1 Abs. 3 GG an national verbindliche Grundrechte gebunden, sondern auch die Judikative, die über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidet. Regionale oder nationale Grundrechte setzen damit stets eine Grenze des staatlichen Handelns deutscher Justizbehörden. Es bedarf keiner Begründung, dass Grundrechte überhaupt anwendbar sind. Vielmehr wäre eine Einschränkung regional oder national verbindlicher Grundrechte begründungsbedürftig.229 Hieraus folgt, dass eine Auslieferung aus grundrechtlicher Sicht nicht um jeden Preis erfolgen darf, sondern eine Balance zwischen den grundrechtlichen Individualrechten und den völkerrechtlichen Auslieferungsinteressen gefunden werden muss. Eine Lösung ausschließlich auf der Ebene des Völkerrechts, die regionale oder nationale Grund- und Menschenrechte ignoriert, lässt sich aufgrund des heutigen Grund- und Menschenrechtsschutzes wohl kaum legitimieren. Vielmehr ist grundsätzlich von einer Anwendbarkeit regionaler und nationaler Grundrechte auszugehen, die jedoch ggf. weiteren Einschränkungen unterliegt. Sind der Auslieferungsentscheidung grund- und menschenrechtliche Erwägungen zugrunde zu legen, können die Justizbehörden Deutschlands trotz einer Auslieferungsverpflichtung aus grund- und menschenrechtlichen Erwägungen zur Ablehnung der Auslieferung angehalten sein. Damit ist zunächst festzuhalten, dass es kein überzeugendes Argument gibt, weshalb regionale oder nationale Grundrechte von vornherein für schlichtweg unanwendbar erklärt werden sollten. Vielmehr sind diese grundsätzlich anwendbar. Auch in der Literatur und Rechtsprechung wird – da die deutlich überzeugenderen

zudem Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, S. 229. 228 Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 199 ff., 219 ff., 233; Vogler, in: GS Meyer, S. 477, 480 ff.; Vogler, NJW 1994, 1433, 1434 ff. 229 So auch Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 103 f.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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Argumente gegen einen von vornherein bestehenden Ausschluss der Anwendbarkeit von Grund- und Menschenrechten sprechen – heutzutage regelmäßig entweder eine volle oder eine eingeschränkte Grundrechtsgeltung postuliert.230 Die Frage ist daher, inwiefern und ob eine Anwendbarkeit von Grundrechten einzuschränken ist. bb) Volle oder eingeschränkte Grundrechtsgeltung trotz einer etwaig abweichenden völkerrechtlichen Verpflichtung Die Schlussfolgerung, dass deutsche Justizbehörden auch bei einer Auslieferungsentscheidung grundsätzlich an Grund- und Menschenrechte gebunden und diese auch anwendbar sind, entscheidet noch nicht darüber, welcher Grundrechtskatalog in welchem Umfang zum Tragen kommt und sich innerstaatlich zu einer Ablehnungsverpflichtung für die über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörden verdichtet: Dies betrifft vielmehr Fragen der Schutzbereichseröffnung, der Zurechnung eines Grundrechtseingriffs und der Rechtfertigung. (1) Volle Grundrechtsgeltung Als Gegenposition zu der rein völkerrechtlichen Betrachtungsweise ist eine volle Grundrechtsgeltung bei der Auslieferungsentscheidung postuliert worden:231 Grundrechte seien in vollem Umfang als „Auslieferungsverweigerungsrechte“232 einer Auslieferung entgegenzusetzen. Der Gedanke des ius cogens schließt es hiernach nicht aus, dass unabhängig von völkerrechtlichen Gegenrechten auch über die innerstaatliche Ebene nach nationalen (und auch völkerrechtlichen) Gegenrechten zu suchen ist.233 Für die Frage, ob der Staat innerstaatlich gegenüber dem Auszuliefernden zur Auslieferung ermächtigt ist, sei das innerstaatliche Recht und damit insbesondere das Verfassungsrecht maßgeblich: Der innerstaatliche Vollzugsakt in Form der Übergabe des Verfolgten greife als Akt zumindest auch innerstaatlicher Hoheitsgewalt in die Rechte des Betroffenen ein, sodass das hoheitliche Handeln als solches gem. Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden sei234 und der 230

S. hierzu Kapitel 2 D. II. 2. b) bb). Zur Veranschaulichung wird in der Literatur oftmals zwischen der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Auslieferung (dem völkerrechtlichen „Müssen“) und der innerstaatlichen Ermächtigung hierzu (dem innerstaatlichen „Dürfen“) differenziert, s. Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 2 f.; Lagodny, NJW 1988, 2146, 2147. 231 Maßgeblich begründet von: Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland. 232 So Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 16 f., 28, 161 ff. 233 Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 91. 234 Sog. Lehre vom innerstaatlichen Vollzugsakt, begründet von Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 2, 16 f., 28, 193 ff.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Auslieferung damit den rein völkerrechtlichen Charakter nehme.235 Die zwischenstaatliche Dimension sei daher durch eine dritte Dimension zu ergänzen236 und der Verfolgte müsse genau so gestellt werden, als handele es sich um ein rein innerstaatliches Strafverfahren.237 (2) Eingeschränkte Grundrechtsgeltung Zwischen einer vollumfänglichen und gar keiner Anwendbarkeit von Grundrechten bei der Entscheidung deutscher Justizbehörden über die Auslieferung steht eine eingeschränkte Grundrechtsgeltung. Eine Begründung der Einschränkung der Grundrechtsgeltung wird entweder darauf gestützt, dass der Schutzbereich der Grundrechte in Auslieferungsfällen einzuschränken sei,238 kein Eingriff in Grundrechte durch die Justizbehörden des ersuchten Staates vorliege239 oder ein Eingriff in Grundrechte zu rechtfertigen sei.240 Eine eingeschränkte Grundrechtsgeltung wird insbesondere von der ständigen Rechtsprechung des BVerfG postuliert: Hiernach müssen die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte einerseits mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen des GG und andererseits mit den unabdingbaren völkerrechtlichen Grundsätzen, die von deutschen Behörden gem. Art. 25 GG zu beachten sind, zu vereinbaren sein, d. h. dem sog. „verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Mindeststandard“ genügen. Erfüllt sie diese Mindestvoraussetzungen nicht, ist die Auslieferung für unzulässig zu erklären.241 Erst seit der Entscheidung des BVerfG vom 15. 12. 2015242 rekurriert das BVerfG für die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze ausdrücklich auf Art. 79 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG.243 235 Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 3; hiergegen ausdrücklich Vogler, in: FS Pötz, S. 251, 257. 236 Sog. dreidimensionales Modell; grundlegend hierzu Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 63 ff.; 129 ff.; s. a. Gusy, GA 1983, 73, 75 ff. 237 Sog. Lehre vom international arbeitsteiligen Strafverfahren, begründet von Lagodny, NJW 1988, 2146 ff.; s. a. Schomburg / ​L agodny, NJW 2012, 348. 238 So bspw. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 74 ff.; s. a. Häde, Der Staat 36 (1997), 1, 22 f.; s. zudem die Rspr. des BVerfG in Kapitel 2 Fn. 241. 239 So Isensee, in: Bethge / ​Isensee / ​Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der BRD, § 191 Rn. 208 ff. 240 Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 114 ff.; Sachs, JuS 46 (2006), 170, 172. 241 BVerfGE 140, 317, 346 f. Rn. 60, 352 Rn. 75; 113, 154, 162; 108, 129, 136; 75, 1, 16, 19; 63, 332, 337 f.; 59, 280, 282 f.; BVerfG, 4. 12. 2019 – 2 BvR 1832/19 = NVwZ 2020, 144, 145 Rn. 36; BVerfG, 17. 5. 2017 – 2 BvR 893/17 = NStZ-RR 2017, 226, 228; BVerfG, 24. 3. 2016 – 2 BvR 175/16 = NStZ 2017, 43, 45; BVerfG, 19. 11. 2015 – 2 BvR 2088/15 = NVwZ-RR 2016, 201; BVerfG, 0. 11. 2014 – 2 BvR 1820/14 = WM 2015, 65, 66. Für eine solche vermittelnde Lösung spricht sich zudem aus: Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 67 ff. 242 BVerfGE 140, 317 ff.; s. hierzu noch eingehend Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (3) (b). 243 So in: BVerfG, 4. 12. 2019 – 2 BvR 1832/19 = NVwZ 2020, 144, 145 Rn. 36; BVerfG, 4. 12. 2019 – 2 BvR 1258/19; 2 BvR 1497/19 = BeckRS 2019, 32770 Rn. 53; BVerfG, 6. 9. 2016 –

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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Diese Rechtsprechung des BVerfG hat sich insbesondere auch in der Rechtsprechung der über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidenden OLGe244 durchgesetzt.245 Sie wird passenderweise als „restriktive Einheits- und Mischformel“246 bezeichnet: Zunächst wendet die Rechtsprechung die Formel einheitlich im vertraglichen, im vertragslosen und im europäischen Auslieferungsverkehr an.247 Damit wendet die Rechtsprechung diese Formel auch dann an, wenn – wie im Auslieferungsverkehr mit den USA – kein vertraglich vorbehaltener Grundund Menschenrechtsvorbehalt in der konkreten Auslieferungsbeziehung existiert. Darüber hinaus vermischt sie einerseits die nach Art. 25 GG verbindlichen völkerrechtlichen Standards (und damit insbesondere ius-cogens-Normen)248 mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen (insofern wendet die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung die Wertung des § 73 IRG an) und beschränkt sowohl den völkerrechtlichen als auch den verfassungsrechtlichen Gewährleistungsinhalt auf einen Kernbereich. Die Reduzierung der Grundrechtsgeltung wird hierbei maßgeblich auf die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG (insbes. auf Art. 25 GG) gestützt: Trotz grundsätzlicher Anwendbarkeit der Grundrechte des GG sei der Schutzbereichsumfang nationaler Grundrechte bereits zu reduzieren, da auf die Rechtsordnungen anderer Staaten Rücksicht zu nehmen sei bzw. um eine Kollision von völkerrechtlicher Auslieferungspflicht und verfassungsrechtlichem Auslieferungsverbot wegen Art. 27 WVK zu vermeiden. Der Schutzbereich sei völkerrechtskonform auf den Kernbereich unabdingbarer verfassungsrechtlicher Grundsätze zu reduzieren.249 Hierin liegt im Prinzip nichts anderes als eine völkerrechtskonforme Auslegung: Kern des Arguments ist, dass gem. Art. 25 GG „bei der Gestaltung der innerstaatlichen Rechtsordnung durch den Normgeber und bei der Auslegung und Anwendung 2 BvR 890/16 = JZ 71 (2016), 1113, 1114 Rn. 30 ff.; BVerfG, 24. 3. 2016 – 2 BvR 175/16 = NStZ 2017, 43, 45. 244 S. Kapitel 3 B. I. 1. 245 Vgl. bspw. OLG Hamm, 11. 12. 2017 – 2 Ausl. 147/17 = NJW 2018, 2580, 2581; OLG Köln, 5. 4. 2012 – 6 Ausl 103/11 = BeckRS 2012, 17787; OLG Hamm, 26. 3. 2009 – 4 Ausl A 170/07 = NStZ 2010, 707; OLG Stuttgart, 8. 1. 2002 – 3 Ausl 63/01 = NStZ-RR 2002, 180, 181. 246 So von Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 52. 247 Vgl. OLG Hamm, 11. 12. 2017 – 2 Ausl. 147/17 = NJW 2018, 2580, 2581; OLG Dresden, 10. 7. 2014 – OLGAusl 53/14 = NStZ-RR 2015, 26; OLG Stuttgart, 8. 1. 2002 – 3 Ausl 63/01 = NStZ-RR 2002, 180, 181. In seinem Aufsehen erregenden Beschluss vom 15. 12. 2015 hat das BVerfG auch im Rahmen des EuHb auf einen solchen grundgesetzlichen Mindeststandard rekurriert, s. insbes. BVerfGE 140, 317, 346 f. Rn. 59 ff., 350 f. Rn. 72 ff. (sog. Solange III-Entscheidung); zur „Sprengkraft“ dieser Auffassung im Bereich des Europäischen Haftbefehls s. Satzger, NStZ 2016, 514. 248 Rübenstahl, WiJ 2014, 53, 57; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn. 55. 249 BVerfGE 75, 1, 16 f.; vgl. auch BVerfG, 4. 12. 2019 – 2 BvR 1832/19 = NVwZ 2020, 144, 145 Rn. 37; BVerfG, 4. 12. 2019 – 2 BvR 1258/19; 2 BvR 1497/19 = BeckRS 2019, 32770 Rn. 54; s. kritisch hierzu Gleß / ​Wahl / ​Zimmermann, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 73 Rn. 14 ff.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts durch Verwaltung und Gerichte die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu beachten“250 sind.251 Eine Folge hiervon sei insbesondere, dass „die Behörden und Gerichte der Bundes­republik Deutschland kraft Art. 25 GG grundsätzlich daran gehindert sind, innerstaatliches Recht in einer Weise auszulegen und anzuwenden, welche die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verletzt“252 und sie außerdem dazu verpflichtet sind, „alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft, und gehindert, an einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken.“253 Diese völkerrechtskonforme Auslegung hat das BVerfG im Bereich der Auslieferung konkretisiert: Auch wenn die innerstaatlichen Gerichte in Deutschland bei der Zulässigkeitsprüfung eines Auslieferungsersuchens von der Wirksamkeit des zugrunde liegenden Strafurteils auszugehen und dessen Rechtmäßigkeit nicht nach Maßgabe des nationalen Rechts zu überprüfen haben, hindere dies nicht „eine Überprüfung, ob die Auslieferung und ihr zugrunde liegende Akte gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard, der nach Art. 25 GG von den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland zu beachten ist, sowie gegen unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze ihrer öffentlichen Ordnung verstoßen“.254 Grundsätzlich versucht das BVerfG also, eine Kollision zwischen völkerrecht­ licher Auslieferungspflicht und innerstaatlichen Grundrechtsbindungen durch einen Vorrang des Völkerrechts aufzulösen. Nur wenn verfassungsrechtliche Mindeststandards berührt sind, sind diese nach der Rechtsprechung zu berücksichtigen, ohne dass in diesem Fall die völkervertragliche Auslieferungspflicht entfallen würde. Wenn das BVerfG also in ständiger Rechtsprechung davon ausgeht, dass die Grenze einer völkerrechtskonformen Auslegung durch rechtsstaatliche Grundsätze gezogen wird, so zieht das BVerfG diese in Auslieferungsfällen bei dem sog. verfassungsrechtlichen Mindeststandard. Diese Sichtweise der Beschränkung des Schutzbereichs deutscher Grundrechte aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG wird im Schrifttum teilweise geteilt.255 Teilweise wird nicht versucht, den Schutzbereich der Grundrechte einschränkend auszulegen, sondern vielmehr eine Zurechnung von Grundrechtsverlet 250

BVerfGE 75, 1, 18 f. St. Rspr. des BVerfG, s. BVerfGE 75, 1, 18 f.; BVerfG, 17. 5. 2017 – 2 BvR 893/17 = NStZRR 2017, 226, 228 m. w. N.; s. zudem auch BVerfG, 4. 12. 2019 – 2 BvR 1832/19 = NVwZ 2020, 144, 145 Rn. 37; BVerfG, 4. 12. 2019 – 2 BvR 1258/19; 2 BvR 1497/19 = BeckRS 2019, 32770 Rn. 54. 252 BVerfGE 75, 1, 19. 253 BVerfGE 75, 1, 19. 254 St. Rspr. des BVerfG, s. nur BVerfGE 113, 154, 162; 108, 129, 136; 75, 1, 18 f.; 63, 332, 337 f. 255 So bspw. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 74 ff.; s. a. Häde, Der Staat 36 (1997), 1, 22 f. 251

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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zungen zur Diskussion gestellt256 oder es wird das Interesse Deutschlands an einer effektiven Strafverfolgung als Belang von Verfassungsrang angesehen, der eine immanente Grundrechtsschranke bei einschränkbaren Grundrechten darstellt.257 c) Bestandsaufnahme und Stellungnahme Dass nicht im völkerrechtlichen Auslieferungsvertrag als Ablehnungsgrund normierte Grundrechte innerstaatlich dennoch grundsätzlich anwendbar sind, ist mittlerweile wohl überwiegend anerkannt.258 Ob und wie eine Einschränkung der Grundrechtsgeltung vorzunehmen ist, ist hingegen unklar. Die dargestellten Optionen von einer vollen bis hin zu einer eingeschränkten Grundrechtsgeltung kranken allesamt an einem fehlenden Gedankenschritt: Bevor sinnvoll darüber diskutiert werden kann, ob aufgrund der Extraterritorialität und dem Staateninteresse an einer effektiven Strafverfolgung und -vollstreckung zur Vermeidung von „safe havens“ Grundrechtsschutzbereiche einzuschränken sind, eine Zurechnung eines Eingriffs zu den Hoheitsträgern des ersuchten Staates unzulässig ist, oder ein Eingriff gegebenenfalls gerechtfertigt ist, ist zu klären, welcher Grundrechtskatalog überhaupt der maßgebliche bei Auslieferungsentscheidungen deutscher Justizbehörden im Verhältnis zu den USA ist. Erst im Anschluss daran kann der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Anwendbarkeit von Grundrechten bei der innerstaatlichen Entscheidung über die Auslieferung gegebenenfalls wiederum eingeschränkt werden kann. Eine Einschränkung eines Grundrechtskatalogs ist innerhalb des jeweils anwendbaren Grundrechtskatalogs zu diskutieren. Deshalb kann es hier zunächst dahinstehen, auf welcher Ebene (Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung) eine Einschränkung von Grundrechten des GG vorzunehmen sein könnte259 – die Grundrechte des GG müssten überhaupt der maßgebliche Grundrechtskatalog sein, an dem die Entscheidung über die Auslieferung zu messen ist. Grundsätzlich sind deutsche Hoheitsträger bei Ausübung von Hoheitsgewalt gem. Art. 1 Abs. 3 GG umfassend an Recht und Gesetz und gebunden: Deutsche Hoheitsträger dürfen bei der Entscheidung über die Zulässigkeit bzw. bei der Entscheidung über die Bewilligung der Auslieferung jedenfalls das nationale Recht

256

Isensee, in: Bethge / ​Isensee / ​K irchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der BRD, § 191 Rn. 208 ff. lehnt eine Zurechnung von Handlungen auswärtiger öffentlicher Gewalt anderer Staaten zwar ab, geht aber dennoch davon aus, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Schutzpflicht dahingehend hat, einen Betroffenen nicht auszuliefern, wenn ihm im ersuchenden Staat eine Verletzung „fundamentaler Menschenrechte droht“. 257 So z. B. Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 114 ff.; Sachs, JuS 46 (2006), 170, 172. 258 Vgl. nur Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 74; Lagodny, NJW 1988, 2146; Rübenstahl, WiJ 2014, 53, 54 ff. 259 Anders: Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 104.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

und damit insbesondere auch die nationalen Grundrechte nicht unterlaufen. In Auslieferungsverfahren mit den USA könnte jedoch das deutsche GG gar nicht der maßgebliche Grundrechtskatalog sein, wenn ein anderer Grundrechtskatalog vorrangig anwendbar wäre. Denn das GG geht nicht nur von der Eingliederung Deutschlands in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft aus (Präambel, Art. 24–26 GG), sondern auch von der Mitwirkung Deutschlands an der Entwicklung der Europäischen Union, die insbesondere auch rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen muss (Präambel, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG). Insofern sind die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV auch dazu verpflichtet, das Recht der Union durchzusetzen und diesem zur größtmöglichen Wirksamkeit zu verhelfen. Damit sind bei Auslieferungen eines Mitgliedstaates der EU an Drittstaaten nicht nur nationale Sicherheitsinteressen und die Wahrung von Individualinteressen des Verfolgten in eine Balance zu bringen. Vielmehr eröffnet auch die Europäisierung, zu deren Entwicklung sich Deutschland verfassungsrechtlich verpflichtet hat, ein neues Spannungsfeld: Die EU selbst ist mittlerweile ein eigenständiger Akteur im Bereich der kooperativen Strafverfolgung geworden. Auch hier muss den Unionsinteressen über die innerstaatlichen Justizbehörden unionsweit zur Durchsetzung verholfen werden. Soll ein im Vergleich zu rein innerstaatlichen Sachverhalten abweichender Grundrechtsmaßstab gelten, so ist nach einer rechtlichen Begründung dafür zu suchen, dass die umfassende Grundrechtsbindung deutscher Hoheitsgewalt nach Art. 1 Abs. 3 GG einzuschränken ist. Eine solche kann sich nur aus dem deutschen Grundgesetz selbst ergeben.260 Zunächst kommt eine Suspendierung der deutschen Grundrechte aufgrund der Europarechtsfreundlichkeit des GG in Betracht, die durch den Integrationsbefehl gem. Art. 23 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommt und die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG im Verhältnis zu Drittstaaten dadurch überlagern könnte. Der Grundrechtsschutz nach den Grundrechten des GG könnte also deshalb einzuschränken oder gar zu suspendieren sein, weil Unionsrecht bei Auslieferungsentscheidungen bezüglich Überstellungen an die USA vorrangig zur Anwendung gelangt. Ist Unionsrecht und damit auch auch der unionsrechtlich garantierte Grundrechtskatalog der GrCh anwendbar und schließt dieser aufgrund eines Anwendungsvorrangs eine Anwendbarkeit des GG aus, so ist im Folgenden auch nicht mehr zu prüfen, ob die deutschen Grundrechte in ihrer Anwendbarkeit aufgrund des Interesses an einer effektiven Strafverfolgung im Bereich der Auslieferung weiter einzuschränken sind. Vielmehr wäre dann eine Einschränkung (vorrangig anwendbarer) unionsrechtlicher Grundrechte zu diskutieren. Auffällig ist, dass die Diskussion regelmäßig um die Anwendbarkeit nationaler Grundrechte des GG oder um Menschenrechte der EMRK kreist, nicht jedoch darum, ob sich eine grundrechtliche Grenze aus der (eventuell vor den Grund­

260

Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 69 ff., der jedoch allein auf die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG abstellt.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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rechten des GG vorrangig anwendbaren) – wenngleich noch recht „jungen“ – GrCh ergibt.261 Insbesondere die Rechtsprechung des BVerfG262 bezieht die europäischen Grundrechte der GrCh nicht als solche in seine Standardformel zur Beurteilung der Auslieferungsentscheidung263 ein, obwohl die Auslieferung an die USA auch auf der Grundlage des AuslAbk EU-USA und damit der Union selbst als Vertragspartnerin des der Auslieferung zugrunde liegenden völkerrechtlichen Übereinkommens erfolgt, sodass auch bei Auslieferungen an die USA ein unionsrechtlich determinierter Sachverhalt vorliegen könnte. Die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG kann aber überhaupt nur dann als Argument für eine Einschränkung des Schutzbereichs deutscher Grundrechte bei der Auslieferungsentscheidung über Auslieferungsersuchen US-amerikanischer Justizbehörden angeführt werden, wenn es tatsächlich auch der Grundrechtskatalog des GG ist, der bei der Entscheidung über Auslieferungen an die USA als Maßstab heranzuziehen ist. 3. Anwendbarer Grundrechtskatalog für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Auslieferungsentscheidung Die Grundrechte des GG könnten bereits deshalb nicht als Ablehnungsgründe bei grundrechtlichen Bedenken bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung heranzuziehen sein, weil Deutschland verfassungsrechtlich nach Art. 23 GG in die Unionsrechtsordnung eingegliedert ist und in einer solchen unionsrechtliche Grundrechtsgarantien vorrangig zu berücksichtigen sein könnten. Insofern könnten nationale Grundrechte möglicherweise bereits wegen des Vorrangs des Unionsrechts ausgeschlossen sein: Innerstaatliche Vorschriften, die einen Unionsrechtsakt umsetzen, sind nicht am Maßstab der Grundrechte des GG, sondern am Unionsrecht zu messen (Art. 6 Abs. 1 EUV, Art. 51 Abs. 1 GrCh). Für den Fall, dass Auslieferungsentscheidungen deutscher Behörden zugleich in Durchführung von Unionsrecht i. S. d. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh erfolgen, ist in der Konsequenz das nationale Grundrechtsniveau zunächst nicht maßgeblich. Die Auslieferung hat dann vielmehr im Einklang mit der primärrechtlichen GrCh zu erfolgen. Die Frage besteht damit im Auslieferungsverkehr zu Drittstaaten, mit 261 Anders als im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten wird innerhalb des Übergabeverkehrs in der EU hingegen durchaus auf die GrCh Bezug genommen, s. hierzu noch Kapitel 2 D. II. 3. d) aa). 262 S. hierzu Kapitel 2 Fn. 241. Die Unionsgrundrechte hat das BVerfG auch nicht in seinem Beschluss v. 4. 12. 2019 im Falle einer Auslieferung eines Betroffenen an US-amerikanische Justizbehörden (BVerfG, 4. 12. 2019 – 2 BvR 1258/19; 2 BvR 1497/19 = BeckRS 2019, 32770 Rn. 53 ff.) berücksichtigt – und damit noch nicht einmal zeitlich nach den Beschlüssen v. 6. 11. 2019 (BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13 = JZ 75 (2020), 189; BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201), in denen es sich zum Garant der Unionsgrundrechte aufgeschwungen hat, vgl. zu diesen Beschlüssen Kapitel 2 D. II. 3. c) bb) und Kapitel 3 B. I. 2. 263 Vgl. Kapitel 2 D. II. 2. b) bb) (2).

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

denen die EU selbst ein Auslieferungsübereinkommen abgeschlossen hat, zunächst einmal darin, ob europäische Grundrechte vorrangig anzuwenden sind, weil bei Auslieferungsentscheidungen bezüglich Auslieferungsersuchen der USA Unionsrecht durchgeführt wird. Für den Fall, dass unionsrechtliche Grundrechtsgewährleistungen vorrangig anwendbar sind, ist sodann darauf einzugehen, inwiefern die Anwendung europäischer Grundrechte suspendiert wird. a) Unionsrechtliche Grundrechtsgarantien Der unionsrechtliche Grundrechtsschutz setzt sich aus mehreren Rechtsquellen zusammen:264 Gem. Art. 6 Abs. 3 EUV werden einerseits die von den Mitgliedstaaten des Europarates geschaffenen menschenrechtlichen Gewährleistungen der EMRK und andererseits die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.265 Damit sind die Mitgliedstaaten an die EMRK gebunden, wenn sie mittels eines nationalen Umsetzungsgesetzes Unionsrecht durchführen. Darüber hinaus ist die GrCh seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon gem. Art. 6 Abs. 1 EUV im Rang des Primärrechts der Union266 Teil des Unionsrechts. Gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1, 53 GrCh wird den Grundrechten der GrCh die gleiche Bedeutung und Tragweite zugeschrieben, wie sie den Menschenrechten der EMRK beigemessen wird.267 Dies ist im Sinne eines Mindestschutzes zu verstehen: Die Garantien der GrCh gewährleisten mindestens den gleichen Schutz, den die korresponierenden Garantien der EMRK gewähren – unter Einschluss der Rechtsprechung des EGMR.268 Dadurch findet der Menschenrechtsschutz der EMRK auch auf der Unionsebene in zweifacher Hinsicht Anwendung: Die vertraglich vereinbarten Menschenrechte der EMRK und die hierzu bestehende Rechtsprechung des EGMR sind nicht nur als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts ge 264

Von einem „grundrechtlichen Pluralismus“ sprechend: Classen, EuR 2017, 347; eingehend zum unionsrechtlichen Grundrechtsschutz nach dem Vertrag von Lissabon: Pache / ​Rösch, EuR 2009, 769, 785 ff.; Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 99 ff. 265 Eingehend hierzu Ambos, Internationales Strafrecht, § 1 Rn. 1 ff.; Kokott / ​Sobotta, EuGRZ 37 (2010), 265 f. 266 Fassbender, NVwZ 2010, 1049; Kingreen, JURA 2014, 295, 296; Pache / ​Rösch, EuR 2009, 769, 774; Schorkopf, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 6 EUV Rn. 28; vergleichend zu der europäischen Grundrechtsordnung vor und nach dem Vertrag von Lissabon s. Pache / ​Rösch, EuR 2009, 769 ff. 267 Vgl. hierzu Ambos, Internationales Strafrecht, § 10 Rn. 6; Grewe, EuR 2012, 285, 289 ff.; Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 GrCh Rn. 52 ff. 268 Ambos, Internationales Strafrecht, § 10 Rn. 6; Becker, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 52 GrCh Rn. 14 ff.; Jarass, NStZ 2012, 611, 612; Jarass, EuR 2013, 29, 42 f.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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worden, vielmehr wird auch im Rahmen der GrCh Bezug auf die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR genommen, indem mindestens der gleiche Schutzstandard durch die Grundrechte der GrCh zu gewähren ist. Ebenso verhält es sich mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten: Gem. Art. 52 Abs. 4, 53 GrCh sind Unionsgrundrechte der GrCh, soweit sie sich aus gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben, im Einklang mit den gemeinsamen Überlieferungen auszulegen. Insofern kommt den gemeinsamen nationalen Grundrechten ein Einfluss auf die Auslegung der Unionsgrundrechte zu. b) Anwendungsvorrang von Unionsrecht Ein grundsätzlicher Anwendungsvorrang von Unionsrecht gegenüber nationalem Recht ist heutzutage an sich aufgrund der Notwendigkeit eines einheitlichen europäischen Standards für eine europäische Integration unbestritten:269 Eine autonome Rechtsordnung,270 die auf ein vereintes Europa und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts angelegt ist, muss sich auch unionsweit durchsetzen lassen. Hieraus folgt, dass nationales Recht, das gegen Unionsrecht verstößt, unanwendbar ist und im Konfliktfall daher hinter dem Unionsrecht zurücktritt.271 Damit ist im Anwendungsbereich von Unionsrecht diesem grundsätzlich Vorrang zuzusprechen.272 Damit überhaupt darüber diskutiert werden kann, ob europäische Grundrechte auch gegenüber nationalen Grundrechten vorrangig anwendbar und im Auslieferungsverkehr zu den USA maßgeblich sind, muss eine Auslieferungsentscheidung nationaler Justizbehörden überhaupt in den Anwendungsbereich von Unionsrecht fallen.

269 Der grundsätzliche Vorrang des Unionsrechts ist in der Erklärung zum Vorrang Nr. 17 zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat, niedergeschrieben, s. ABl. C 326 v. 26. 10. 2012, S. 337, 346; s. BVerfG, 6. 7. 2010 – 2 BvR 2661/06 = NJW 2010, 3422, 3423, Rn. 53; s. hierzu aus der Literatur Kirchhof, NVwZ 2014, 1537; Pernice, VVDStRL 2001, 148, 184; Ruffert, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 1 AEUV Rn. 16; Satzger, in: Sieber / ​Satzger / ​von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 1 Rn. 8; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 17 ff. 270 Wegweisend zur Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung: EuGH, Urteil vom 15. 7. 1964 – 6/64 (Rs. Costa / ​ENEL) = Slg. 1964, 1251, 1269 ff. 271 Ein Geltungsvorrang dergestalt, dass nationales Recht gebrochen wird, wird dem Unionsrecht hingegen nicht zugesprochen, s. Kirchhof, NVwZ 2014, 1537; Ludwigs / ​Sikora, EWS 2016, 121 f. Dies ist in der Anfangszeit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durchaus anders bewertet worden, s. hierzu Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, S. 98 ff., 113 ff. 272 Zu der Frage, ob der Anwendungsvorrang des Unionsrechts uneingeschränkt gilt, s. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (3).

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

c) Anwendungsbereich des Unionsrechts Gem. Art. 51 Abs. 1 GrCh sind die Mitgliedstaaten selbst ausschließlich bei der Durchführung von Unionsrecht durch ihre Hoheitsträger an die GrCh gebunden. Maßgeblich ist daher die Bestimmung, wann Unionsrecht i. S. d. Art. 51 Abs. 1 GrCh durchgeführt wird: Stellt die Überstellung eines Betroffenen zur Strafverfolgung oder -vollstreckung an die USA die Durchführung von Unionsrecht dar, ist der um Auslieferung ersuchte Staat Deutschland gem. Art. 51 Abs. 1 GrCh unionsrechtlich dazu verpflichtet, eine Auslieferung auch an einen Drittstaat im Einklang mit den in der GrCh normierten Garantien zu gewähren, deren Gewährleistungsumfang mindestens dem der Menschenrechte der EMRK entsprechen muss. Denn aus Art. 4 Abs. 3 EUV ergibt sich eine Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten gegenüber der Union, das nationale Recht im Einklang mit dem Unionsrecht auszuüben und den Unionszielen zur bestmöglichen Verwirklichung zu verhelfen (­effet utile).273 Problematisch ist dabei insbesondere, dass die Entscheidung über die Überstellung auf der Grundlage der nationalen Zustimmungsgesetze zum AuslV D-USA und zum AuslAbk EU-USA erfolgt und damit aufgrund nationalen Rechts. aa) Durchführung von Unionsrecht Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Frage, ob ein Mitgliedstaat in einem konkreten Fall Unionsrecht durchführt, im Zusammenhang der jeweiligen einschlägigen Norm und ihrer Funktion zu beantworten.274 Der Anwendungsbereich des Unionsrechts i. S. d. Art. 51 Abs. 1 GrCh ist jedenfalls dann eröffnet, wenn eine unionsrechtliche Vorschrift unmittelbar betroffen ist: Fest steht danach, dass mit dem Unionsrecht i. S. d. Art. 51 Abs. 1 GrCh sowohl das Primär- als auch das Sekundärrecht i. S. d. Art. 288 AEUV gemeint ist. Darüber hinaus sind hiervon auch die völkerrechtlichen Übereinkommen der Union, an die die Mitgliedstaaten gem. Art. 216 Abs. 2 AEUV gebunden sind, und das sog. Tertiärrecht umfasst – also Rechtsvorschriften, die auf der Grundlage einer sekundärrechtlichen Ermächtigung ergangen sind.275 Ob ein Mitgliedstaat in einem konkreten Fall der Bindung an die GrCh nach Art. 51 Abs. 1 GrCh unterliegt, ist daher durch Auslegung des anwendbaren Unionsrechts zu ermitteln. Das innerstaatliche Handeln der Justizbehörden und 273

EuGH, Urteil vom 15. 7. 1964 – 6/64 (Rs. Costa / ​ENEL) = Slg. 1964, 1251, 1269 ff.; s. statt vieler Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 4 EUV Rn. 33 f. 274 EuGH, Urteil vom 19. 11. 1998  – C-159/96 (Portugal / ​Kommission) = Slg. 1998, 7379 Rn. 40; EuGH, Urteil vom 30. 10. 1975 – 23/75 (Rs. Rey Soda) = Slg. 1975, 1279 Rn. 10/14; s. Hatje, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 51 GrCh Rn. 17. 275 Hatje, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 51 GrCh Rn. 14; Jarass, NVwZ 2012, 457, 458; Kingreen, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 51 GrCh Rn. 8; Meyer, ZStW 128 (2016), 1089, 1091; Ohler, NVwZ 2013, 1433; Risse, HRRS 15 (2014), 93, 94.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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damit die Entscheidung über die Auslieferung müsste in einem „hinreichenden Zusammenhang mit Unionsrecht“276 stehen. Die Auslegung, was hierunter zu verstehen ist, gestaltet sich zuweilen schwierig – insbesondere dann, wenn es um Sachverhaltskonstellationen geht, die zwar einen Bezug zum Unionsrecht aufweisen und daher nicht rein nationaler, aber eben auch nicht vollständig unionsrechtlicher Natur sind. bb) Ausgangslage Der EuGH plädiert schon lange für eine weite Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GrCh und möchte den gesamten Anwendungsbereich des Unionsrechts erfassen.277 Durch die GrCh solle sichergestellt werden, dass der Unionsrechtsraum insbesondere auch ein einheitlicher Grundrechtsraum sei: Ziel der GrCh sollte es von Anfang an sein, den Raum der Union einer umfassenden Grundrechtsbindung zu unterwerfen.278 Besonders deutlich wurde eine weite Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GrCh in der Rechtssache Åkerberg Fransson:279 In der Sache ging es um einen ausschließlich nationalen Sachverhalt. Herr Åkerberg Fransson hatte falsche Angaben bei seiner Steuererklärung gemacht, die beinahe zu einem Einnahmeverlust bei der Einkommenssteuer und bei der Mehrwertsteuer Schwedens geführt hätten. Die zuständigen schwedischen Behörden hatten ihm deshalb Steuerzuschläge erteilt. Zusätzlich wurde er in Schweden von der Staatsanwaltschaft wegen schwerer Steuerhinterziehung angeklagt. Das zuständige Gericht hat daraufhin die Rechtssache dem EuGH nach Art. 267 AEUV vorgelegt, um klären zu lassen, ob eine strafrechtliche Verfolgung neben der verhängten Steuerzuschläge als steuerliche Sanktion überhaupt möglich sei oder ob hierin ein Verstoß gegen Art. 50 GrCh liege. In der Sache ging es also um die Frage, ob die unionsrechtliche ne-bis-in-idem-Vorschrift in Art. 50 GrCh anwendbar war. Dies hing wiederum davon ab, ob es im konkreten Fall um die Durchführung von Unionsrecht nach Art. 51 Abs. 1 GrCh ging. Auch wenn die schwedischen Vorschriften, nach denen die Steuerzuschläge erlassen worden waren, nicht der Umsetzung der unionsrechtlichen Mehrwertsteuer-Richtlinie280 dienten, da sie bereits vor Erlass der Richtlinie normiert waren, ging der EuGH 276 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 19; Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 44 ff.; von dem Erfordernis einer „unionsrechtlich geregelten Situation“ spricht: Zimmermann, ZIS 2017, 220, 222 f. 277 Vgl. nur EuGH, Urteil vom 18. 6. 1991 – C-260/89 (Rs. ERT) = Slg. 1991, 2925, 2964 Rn. 42 ff.; EuGH, Urteil vom 13. 7. 1989 – 5/88 (Rs. Wachauf) = Slg. 1989, 2609, 2639 Rn. 19; s. hierzu Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 63 ff. 278 S. hierzu Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 15; s. zudem Swoboda, ZIS 2018, 276, 283. 279 EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-617/10 (Rs. Åkerberg Fransson) = NJW 2013, 1415. 280 Im konkreten Fall ging es um die Richtlinie 2006/112/EG des Rates v. 28. 11. 2006 über das gemeinsame Merhwertsteuersystem, ABl. L 347 v. 11. 12. 2006, S. 1 ff.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

davon aus, dass die Rechtssache die Durchführung von Unionsrecht i. S. d. Art. 51 Abs. 1 GrCh betraf, da es um einen unionsrechtlich geregelten Bereich – in dem Fall: die Mehrwertsteuer – ging. Der Sache nach hat der EuGH Art. 51 Abs. 1 GrCh weit ausgelegt und eine Durchführung von Unionsrecht sogar dann angenommen, wenn nationale Vorschriften nicht der Umsetzung einer unionsrechtlichen Richtlinie dienen, sondern nur ein mittelbarer Bezug zum Unionsrecht besteht.281 Hierbei hat der EuGH ausdrücklich klargestellt, dass „keine Fallgestaltungen denkbar (sind), die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte“.282 Nach dieser Rechtsprechung ist immer dann der Anwendungsbereich der GrCh eröffnet, wenn eine Materie (auch nur mittelbar und auch wenn sie unionsrechtlich Gestaltungsspielräume eröffnet) in den Anwendungsbereich der Gründungsverträge fällt.283 Darüber hinaus hat der EuGH mittlerweile zwar eine parallele Anwendung nationaler Grundrechte neben den Grundrechtsgewährleistungen der GrCh anerkannt, allerdings nur solange der „Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts“ nicht beeinträchtigt wird.284 Das BVerfG vertrat dem entgegen schon lange die Ansicht, dass eine Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GrCh eng vorzunehmen sei: Eine Durchführung von Unionsrecht durch einen Mitgliedstaat liege nur vor, wenn Unionsrecht als solches umgesetzt oder vollzogen, der Mitgliedstaat also gleich einem „verlängerten Arm“ der Union“ tätig werde.285 Es ging dabei davon aus, dass Maßnahmen, die den Mitgliedstaaten unionsrechtlich überlassene Gestaltungsspielräume ausnutzten, keine Durchführung von Unionsrecht seien und daher ausschließlich an den Grundrechten des GG zu messen seien.286 Für den Fall, dass mitgliedstaatlichen Hoheitsbehörden hingegen kein Gestaltungsspielraum bei der Durchführung von Unionsrecht verbleibt, erkennt das BVerfG den (grundsätzlichen)287 Anwendungs 281

EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-617/10 (Rs. Åkerberg Fransson) = NJW 2013, 1415, 1416; s. hierzu auch Ambos, Internationales Strafrecht, § 10 Rn. 157. 282 EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-617/10 (Rs. Åkerberg Fransson) = NJW 2013, 1415, 1416 Rn. 21. 283 S. Hatje, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art.  51 GrCh Rn. 15 ff. m. w. N. Zur Anerkennung der Möglichkeit einer parallelen Anwendung von Grundrechten neben den Unionsgrundrechten s. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (3). 284 EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-399/11 (Rs. Melloni) = NJW 2013, 1215, 1219 Rn. 60; vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2). 285 BVerfGE 125, 260, 306 f.; 121, 1, 15; 118, 79, 95; s. hierzu Kingreen, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​A EUV, Art. 51 GrCh Rn. 13 ff.; Risse, HRRS 15 (2014), 93, 94 f.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 22. 286 BVerfGE 142, 74, 112 Rn. 112 ff.; 125, 260, 306 f.; 121, 1, 15; 118, 79, 95; s. hierzu Bäcker, EuR 2015, 389, 390 f.; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 74; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 22; Streinz  / ​ Michl, in: Streinz (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 51 GrCh Rn. 26. 287 Ausnahmen vom Anwendungsvorrang erkennt das BVerfG in Fällen der sog. Identitätskontrolle an (s. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (3) (b)) und für den Fall, dass das Grundrechts-

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vorrang der GrCh hingegen schon länger an.288 Hieraus folgte eine Trennung der Anwendbarkeit nationaler Grundrechte (in Fällen mit Gestaltungsspielraum) mit ausschließlicher Zuständigkeit des BVerfG und unionaler Grundrechte (in Fällen zwingenden Unionsrechts) mit ausschließlicher Zuständigkeit des EuGH.289 Erst im November 2019 hat sich das BVerfG in zwei Beschlüssen290 grundlegend zum Verhältnis von deutschem GG und unionaler GrCh geäußert. Hierbei hat es sich erstens für einen echten Grundrechtspluralismus291 ausgesprochen292 und sich zweitens zur Kontrollinstanz der Wahrung von Unionsgrundrechten293 aufgeschwungen. In dem ersten Beschluss294 hat das BVerfG für den Fall, dass unionsrechtlich begründete Umsetzungsspielräume für die Mitgliedstaaten verbleiben, entschieden, dass das GG innerhalb dieser Spielräume „primär“ zur Anwendung gelange.295 Die GrCh trete neben den Katalog des GG,296 wobei die widerlegliche Vermutung aufzustellen sei, dass das Gewährleistungsniveau der GrCh durch die Anwendung der Grundrechte des GG mitgewährleistet sei.297 Insbesondere seien die Grundrechte des GG im Lichte der GrCh auszulegen.298 Der zweite Beschluss299 befasste sich hingegen mit dem Verhältnis nationaler und unionaler Grundrechte im Fall zwingenden Unionsrechts. Das BVerfG betonte in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung,300 dass im Fall des Fehlens unionsrechtlicher Gestaltungspielniveau auf Unionsebene generell absinkt (sog. Solange-II-Beschluss: BVerfGE 73, 339 ff.); vgl. hierzu auch Wendel, JZ 75 (2020), 157, 159. 288 BVerfGE 142, 74, 112 Rn. 112 ff.; 125, 260, 306 f.; 121, 1, 15; 118, 79, 95; BVerfG, 19. 7. 2011 – 1 BvR 1916/09 = NJW 2011, 3428, 3433 Rn. 91. 289 S. hierzu Wendel, JZ 75 (2020), 157, 159; zu der Entwicklung der Judikatur des BVerfG zu dem Verhältnis nationaler Grundrechte zu der GrCh s. eingehend Hofmann / ​Heger / ​Gharibyan, KritV 102 (2019), 277, 279 ff. 290 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13 = JZ 75 (2020), 189 (sog. „Recht auf Vergessen I“); BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201 (sog. „Recht auf Vergessen II“). 291 Vgl. auch Wendel, JZ 75 (2020), 157, 159. 292 So explizit BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13 = JZ 75 (2020), 189, 190 Rn. 44. 293 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 2020 75, 201, 203 Rn. 50 ff. Zur daraus resultierenden Konsequenz der Möglichkeit, eine Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG mit der Begründung zu erheben, dass ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in Unionsgrundrechte vorliege, sodass die GrCh unmittelbarer Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde wird, s. Kapitel 3 B. I. 2. 294 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13 = JZ 75 (2020), 189. 295 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13 = JZ 75 (2020), 189, 190 Rn. 42. Dies begründete das BVerfG damit, dass das Unionsrecht eine Grundrechtsvielfalt gerade dort zulasse, wo es Umsetzungsspielräume eröffne. Insofern sei eine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes nicht erforderlich, s. BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13 = JZ 75 (2020), 189, 191 Rn. 49 ff. 296 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13 = JZ 75 (2020), 189, 190 Rn. 43 f. 297 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13 = JZ 75 (2020), 189, 192 Rn. 55 ff. 298 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13 = JZ 75 (2020), 189, 192 Rn. 60. 299 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201. 300 BVerfGE 142, 74, 112 Rn. 112 ff.; 125, 260, 306 f.; 121, 1, 15; 118, 79, 95; BVerfG, 19. 7. 2011 – 1 BvR 1916/09 = NJW 2011, 3428, 3433 Rn. 91.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

räume für die Mitgliedstaaten die Grundrechte des GG wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht anwendbar seien, sondern Maßstab vielmehr die GrCh sei.301 Die Neuerung schlechthin stellt es dar, dass das BVerfG die Unionsgundrechte zum unmittelbaren Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG erhebt.302 Für die hier interessierende Frage nach dem anwendbaren Grundrechtskatalog ist daher maßgeblich, ob bei Auslieferungsentscheidungen deutscher Justizbehörden bezüglich der Überstellung eines Betroffenen an die USA als ersuchendem Staat überhaupt Unionsrecht durchgeführt wird und falls ja, ob den Mitgliedstaaten für diesen Fall unionsrechtlich Gestaltungsspielräume verbleiben, in deren Rahmen nationale Grundrechte (primäre) Anwendung erlangen. cc) Beurteilungen bei Auslieferungsentscheidungen bezüglich der USA als ersuchendem Staat Grundsätzlich lassen sich bei Überstellungen an die USA aufgrund von US-amerikanischen Auslieferungsersuchen zwei Fallkonstellationen unterscheiden: das Ersuchen zum Zweck der Überstellung eines Unionsbürgers i. S. d. Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV und das Ersuchen zum Zweck der Überstellung von Drittstaatsangehörigen an die USA. (1) Überstellung von Unionsbürgern Die Überstellung eines Unionsbürgers i. S. d. Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV an die USA könnte zunächst in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, weil ein Unionsbürger durch seinen Aufenthaltswechsel nach Deutschland von seinem unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht nach Art. 21 AEUV Gebrauch macht. Insofern könnte in seiner Überstellung stets eine Diskriminierung nach Art. 18 AEUV gegenüber deutschen Staatsangehörigen zu sehen sein, die nach den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen nicht an die USA überstellt werden müssen.303 Nichtsdestotrotz hat das BVerfG304 bereits mehrfach bezüglich der Frage des Vorliegens einer unionsrechtlichen Diskriminierung, wenn Unionsbürger keinen 301

BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 202 Rn. 42. Auch hier erkennt das BverfG jedoch Ausnahmen von diesem „grundsätzlichen“ Anwendungsvorrang an, insbesondere in Fällen der Verfassungsidentität, vgl. BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 203 Rn. 49. 302 BVerfG, 6. 11. 2019  – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 202, 32 ff.; s. hierzu Kapitel 3 B. I. 2. 303 Vgl. Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EU-USA i. V. m. Art. 7 AuslV D-USA. 304 BVerfG, 17. 2. 2014 – 2 BvQ 4/14 = NJW 2014, 1945; BVerfG, 28. 7. 2008 – 2 BvR 1347/08 = BeckRS 2011, 87018.

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dem Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG vergleichbaren Schutz erhalten, entschieden, dass eine Auslieferung durch einen Mitgliedstaat der EU an einen Drittstaat keine Materie sei, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle – und zwar selbst dann, wenn es um die Überstellung eines Unionsbürgers an die USA auf der Grundlage des AuslAbk EU-USA ging: Das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot sei mangels einer Materie im Anwendungsbereich des Unionsrechts gar nicht erst einschlägig.305 Hierbei hat das BVerfG insbesondere auf Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA abgestellt und darauf verwiesen, dass das AuslAbk EU-USA hier eine Ausnahme zugunsten einer nationalstaatlichen Regelung schaffe, sodass der Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht eröffnet sei.306 Demgegenüber hat der EuGH neuerdings bereits häufiger judiziert, dass die Auslieferung eines Unionsbürgers, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, in einen Drittstaat stets in den Anwendungsbereich der Art. 18, 21 AEUV falle: Demnach sei bei Auslieferungsentscheidungen hierüber der Anwendungsbereich von Unionsrecht eröffnet und es werde Unionsrecht i. S. d. Art. 51 Abs. 1 GrCh durchgeführt, sodass insbesondere auch die Grundrechte der GrCh zu gewährleisten seien.307 Gehe es um eine Entscheidung bezüglich der Überstellung eines Unionsbürgers an die USA, führe der Mitgliedstaat stets Unionsrecht durch und der Anwendungsbereich der GrCh i. S. d. Art. 51 Abs. 1 GrCh sei automatisch eröffnet. Dies gelte unabhängig davon, ob die Union selber ein Auslieferungsübereinkommen mit dem Drittstaat abgeschlossen habe.308 Demzufolge sprechen für die Eröffnung des unionsrechtlichen Anwendungsbereichs bei Überstellungen eines Unionsbürgers i. S. d. Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV an einen Drittstaat wie den USA gewichtige Argumente: Es ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Anwendungsbereich der Verträge i. S. d. Art. 18 AEUV eröffnet ist, wenn ein Unionsbürger sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält und durch den Aufenthaltswechsel in einen anderen Mitgliedstaat von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat.309 Die Auslieferung eines Unionsbürgers an einen Drittstaat ist offensichtlich immer eine Einschränkung seiner Freizügigkeit, 305

BVerfG, 17. 2. 2014 – 2 BvQ 4/14 = NJW 2014, 1945 Rn. 21; BVerfG, 28. 7. 2008 – 2 BvR 1347/08 = BeckRS 2011, 87018 Rn. 14. 306 BVerfG, 17. 2. 2014 – 2 BvQ 4/14 = NJW 2014, 1945 Rn. 21. 307 EuGH, Urteil vom 13. 11. 2018 – C-247/17 (Rs. Raugevicius) = BeckRS 2018, 28167 Rn. 27, 44; EuGH, Urteil vom 10. 4. 2018 – C-191/16 (Rs. Pisciotti) = NJW 2018, 1529, 1530 Rn. 34; EuGH, Urteil vom 6. 9. 2017  – C-473/15 (Rs. Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR) = BeckRS 2017, 124630 Rn. 19; EuGH, Urteil vom 6. 9. 2016 – C-182/15 (Rs. Petruhhin) = NJW 2017, 378, 379 Rn. 30; s. hierzu Epiney, NVwZ 2017, 846, 848 ff. 308 EuGH, Urteil vom 6. 9. 2017 – C-473/15 (Rs. Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR) = BeckRS 2017, 124630 Rn. 19; EuGH, Urteil vom 6. 9. 2016 – C-182/15 (Rs. Petruhhin) = NJW 2017, 378, 379 Rn. 26 ff. 309 S. Esser / ​Rübenstahl / ​Boerger, NZWiSt 2014, 401, 406 f.; vgl. auch Leidenmühler / ​Grafeneder, EuLF 2016, 57, 58: „it is obvious that Article 18 TFEU and Article 21(1) TFEU are applicable“; s. zudem Zehetgruber, StraFo 2015, 133, 135 f., der die „Beantwortung dieser Frage“ als „recht simpel“ bezeichnet.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

die in Art. 21 AEUV und damit im unionsrechtlichen Primärrecht gewährleistet ist. Insofern kann sich ein Unionsbürger regelmäßig auf sein Freizügigkeitsrecht und damit auf Unionsrecht berufen. Auch wenn es sich bei Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG um eine nationalstaatliche Vorschrift handelt, die nach Art. 17 Abs. 1 AuslAbk EUUSA i. V. m. Art. 7 AuslV D-USA auch völkerrechtlich zulässig ist und ihre Wirkung entfaltet, kann diese Erkenntnis nicht darüber hinweghelfen, dass dennoch bereits dadurch, dass sich ein Unionsbürger rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, dieser Unionsbürger von seinem unionsrechtlich gewährten Freizügigkeitsrecht Gebrauch macht. Insofern ist der Anwendungsbereich von Unionsrecht und damit der Anwendungsbereich der Grundrechte der GrCh immer dann eröffnet, wenn es um eine Auslieferungsentscheidung bezüglich der Überstellung eines Unionsbürgers geht. Ob Art. 18 und 21 AEUV es einem Mitgliedstaat verwehren, die Überstellung eigener Staatsangehöriger an Drittstaaten auszuschließen, die anderer Unionsbürger jedoch zuzulassen und daher einen vergleichbaren Schutz von nationalen Staatsangehörigen und Unionsbürgern fordern, ist deshalb eine Frage der Rechtfertigung eines Eingriffs in das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot,310 ändert jedoch nichts an der Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts und damit auch an der Eröffnung des Anwendungsbereichs der GrCh. Die Ansicht des BVerfG,311 die selbst in diesen Fällen den Anwendungsbereich von Unionsrecht nicht als eröffnet ansieht und pauschal darauf verweist, dass der Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten keine Materie des Unionsrechts sei, vermag daher nicht zu überzeugen. Unabhängig von einer Anwendbarkeit eines Auslieferungsabkommens der Union selbst mit einem Drittstaat ist der Anwendungsbereich des Unionsrechts jedenfalls dann eröffnet, wenn einem sich in einem anderen Migliedstaat rechtmäßig aufhaltenden Unionsbürger das Freizügigkeitsrecht nach Art. 21 AEUV beschnitten wird. (2) Überstellung von Drittstaatsangehörigen Schwieriger gestaltet sich die Auslegung der Frage nach der Anwendbarkeit von Unionsrecht i. S. d. Art. 51 Abs. 1 GrCh hingegen, wenn die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen an einen Drittstaat wie den USA im Raum steht. In diesem Fall kann sich der Betroffene nicht auf das an die Unionsbürgerschaft anknüpfende Freizügigkeitsrecht berufen. Vielmehr ist Unionsrecht zumindest nicht unmittelbar betroffen. Ein unionsrechtlicher Bezug könnte bei Auslieferungen an die USA jedoch stets aufgrund des AuslAbk EU-USA bestehen. Das AuslAbk EU-USA soll den 310

S. hierzu eingehend Zimmermann, ZIS 2017, 220, 224 ff.; s. zudem Kapitel  2 D. II. 3. d)  bb) (3) (c). 311 BVerfG, 17. 2. 2014  – 2 BvQ 4/14 = NJW 2014, 1945; BVerfG, 28. 7. 2008  – 2 BvR 1347/08 = BeckRS 2011, 87018.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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unionsweiten Auslieferungsverkehr mit den USA vereinheitlichen und regelt diesbezüglich Mindestvoraussetzungen, die innerhalb der Union gelten, wenn ein Mitgliedstaat von Justizbehörden der USA um Auslieferung ersucht wird. Auch wenn das Abkommen von der EU selbst als Vertragspartnerin unterzeichnet worden ist, sodass die Eröffnung des Anwendungsbereichs von Unionsrecht naheliegend erscheint, lohnt sich ein tiefergehender Blick bezüglich der Frage, ob Auslieferungen deutscher Justizbehörden, die auf der Grundlage des deutschen Zustimmungsgesetzes zu dem AuslAbk EU-USA erfolgen, tatsächlich in Durchführung von Unionsrecht erfolgen. Denn es ergeben sich Bedenken, ob das AuslAbk EU-USA in einem konkreten Auslieferungsfall über das innerstaatliche Zustimmungsgesetz hierzu zur Anwendung gelangt. Immerhin ergänzt es die bilateren Auslieferungsverträge lediglich und muss daher im konkreten Fall nicht zwingend zur Anwendung gelangen, da jedenfalls regelmäßig die Zustimmungsgesetze zu den bilateralen Auslieferungsverträgen Deutschlands mit den USA die meisten Voraussetzungen der Auslieferung regeln. Die Zustimmungsgesetze zu den bilateralen Verträgen mit den USA und das Zustimmungsgesetz zum AuslAbk EU-USA sind allerdings stets im Zusammenhang zu betrachten und die Voraussetzungen sind insgesamt zu erfüllen.312 Das Zustimmungsgesetz zum AuslAbk EU-USA beinhaltet Mindestvoraussetzungen, die unionsweit bei Auslieferungen eines Mitgliedstaates an die USA erfüllt sein müssen. Deswegen erfolgt jedenfalls stets eine Überprüfung dahingehend, ob die Mindestvoraussetzungen erfüllt sind, die das AuslAbk EU-USA vorgibt. Der völkerrechtliche Vertrag der Union mit den USA dient damit als Rahmenvertrag im Auslieferungsverkehr eines Mitgliedstaates mit den USA, sodass bei der Entscheidung über Überstellungen an die USA jedenfalls immer auch die innerstaatlich anwendbaren Vorschriften zum AuslAbk EU-USA herangezogen werden. Es könnte für die Eröffnung des Anwendungsbereichs von Unionsrecht auch unschädlich sein, dass bereits vor dem Zustimmungsgesetz zum AuslAbk EU-USA Regelungen durch die Zustimmungsgesetze zu den bilateralen Verträgen bestanden, die immer noch anwendbar sind und im Zweifelsfall nur durch unionsrechtlich abgeschlossene Mindestvorschriften ergänzt werden. Die bilateral geschlossenen Verträge Deutschlands mit den USA und die Zustimmungsgesetze hierzu dienen jedoch keinen unionsrechtlichen Zwecken, sondern den generellen internationalen Staateninteressen, Straftätern nicht die Möglichkeit zu bieten, durch einen Aufenthaltswechsel in ein anderes Hoheitsgebiet vor einer Strafverfolgung oder -vollstreckung fliehen zu können und damit der Vermeidung sog. „safe havens“ für Straftäter. Nichtsdestotrotz erfolgt  – unabhängig von einer Unionsbürgerschaft des Verfolgten – im Auslieferungsverkehr mit den USA eine Entscheidung über die Übergabe stets (auch) unter Zugrundelegung des Zustimmungsgesetzes zum AuslAbk EU-USA.

312

Vgl. Kapitel 1 A. I. 1.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Bei dem AuslAbk EU-USA handelt es sich zwar um ein völkerrechtliches Abkommen der Union selbst. Es stellt jedoch kein internationales Abkommen i. S. d. Art. 216 AEUV dar, das das Verfahren nach Art. 218 AEUV durchlaufen hat und unmittelbar gilt,313 da es bereits unter dem Vertrag von Nizza314 abgeschlossen worden ist: Dass eine Überstellung eines strafrechtlich Verfolgten durch deutsche Justizbehörden an US-amerikanische Behörden eine Durchführung von Unionsrecht darstellt, könnte gegebenenfalls vor dem Hintergrund bestritten werden, dass das AuslAbk EU-USA als solches Völkerrecht bleibt und kein Unionsrecht wird: Völkerrechtliche Verträge der EU mit Drittstaaten, die – wie das AuslAbk EU-USA – unter dem Vertrag von Nizza in der sog. 3. Säule der EU abgeschlossen worden sind, sind zwar durch ihr völkerrechtliches Inkrafttreten integraler Bestandteil der – damaligen – Gemeinschaftsrechtsordnung geworden und bedurften keines weiteren unionsrechtlichen Transformationsaktes.315 Nichtsdestotrotz haben völkerrechtliche Verträge der EU ihren völkerrechtlichen Charakter beibehalten und sind nicht zu Unionsrecht geworden.316 Völkerrechtliche Verträge der Union wie das AuslAbk EU-USA konnten für die einzelnen Mitgliedstaaten der EU unter dem Vertrag von Nizza keine weitere rechtliche Bindung erzeugen als das unionale Sekundärrecht der ehemaligen dritten Säule. Sie standen im Rang zwischen dem Primär- und dem Sekundärrecht.317 Im Gegensatz zur heutigen Rechtslage, in der nach Art. 216 Abs. 2 AEUV internationale Übereinkünfte die Mitgliedstaaten unmittelbar binden, mussten völkerrechtliche Übereinkommen der Union vor dem Vertrag von Lissabon für eine innerstaatliche Bindung und Anwendbarkeit umgesetzt werden.318 Eine solche Umsetzung hat mittels eines nationalen Umsetzungsgesetzes stattgefunden. Zu einer solchen innerstaatlichen Umsetzung waren die Mitgliedstaaten unionsintern allerdings verpflichtet: Unionsrechtlich bestand für sie die Pflicht, die von der Union begründeten Pflichten innerstaatlich zu implementieren und die bereits bestehenden bilateralen Verträge an das multilaterale Vertragswerk anzupassen.319 Eine unmittelbare Anwendbarkeit der Regelungen des AuslAbk EU-USA erforderte deshalb eine nationale Umsetzungsmaßnahme gem. den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten, in Deutschland 313

Zu dem Verfahren nach Art. 218 AEUV s. eingehend Brodowski, NJECL 2 (2011), 21, 29 f. 314 Vertrag von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, ABl. C 80 v. 10. 3. 2001, S. 1 ff. 315 St. Rspr. des EuGH, s. nur EuGH, Urteil vom 30. 4. 1974 – C-181/73 (Rs. Haegeman) = BeckRS 1974, 106490 Rn. 2/6; Aust, EuR 2017, 106, 109; Thym, ZaöRV 66 (2006), 863, 900. 316 Vgl. Lorenzmeier, ZJS 2012 322, 324 m. w. N. 317 Aust, EuR 2017, 106, 109. 318 S. hierzu Brodowski, NJECL 2 (2011), 21, 24; Thym, ZaöRV 66 (2006), 863, 901; Hackner, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, III A Rn. 6 spricht dementsprechend von einer einem Rahmenbeschluss vergleichbaren Wirkung. 319 S. hierzu Propp, ASIL 43 (2004), 747, 748. Insofern kam den Unionsabkommen mit Drittstaaten in der Nizza-Fassung keine Durchgriffswirkung in die mitgliedstaatlichen Rechts­ ordnungen zu.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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also gem. Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG: In Deutschland hat sodann – zur Umsetzung der seitens der Union begründeten Pflicht – ein reguläres nationales Zustimmungsverfahren für völkerrechtliche Verträge stattgefunden, das dem AuslAbk EU-USA den Status eines völkerrechtlichen Vertrages des Mitgliedstaates Deutschlands verschafft hat.320 Mit Gesetz vom 26. 10. 2007 hat Deutschland der Bindung an das AuslAbk EU-USA zugestimmt,321 sodass nicht nur das Abkommen innerstaatlich unmittelbar anwendbar geworden ist, sondern Deutschland auch seiner unionsinternen Verpflichtung zur Implementierung der von der EU begründeten Mindestvoraussetzungen bei Auslieferungen an die USA nachgekommen ist. Dass es sich bei den Vorgaben des AuslAbk EU-USA und dessen innerstaatlicher Umsetzung um einen unionsrechtlich geregelten Bereich handelt, lässt sich daher nicht ernsthaft bestreiten. Der völkerrechtliche Vertrag der EU (AuslAbk EU-USA) enthält bei jeder Auslieferung an die USA bindende Mindestvorgaben, die zwingend einzuhalten sind. Existieren für einen bestimmten Sachbereich unionsrechtliche Rahmenvorgaben, sind die darauf beruhenden Tätigkeiten der Mitgliedstaaten in der Konsequenz auch an den unionsrechtlichen Vorgaben – insbesondere der GrCh – zu messen.322 Nach der Rechtsprechung des EuGH ist es indes sogar unschädlich, wenn nationale Vorschriften ursprünglich nicht geschaffen worden sind, um eine unionsrechtliche Verpflichtung zu erfüllen.323 Insofern ist es auch im Falle der Überstellung eines Drittstaatsangehörigen an einen Drittstaat unschädlich, wenn die Auslieferungsentscheidung (auch) auf einer Grundlage erfolgt, die nicht geschaffen worden ist, um eine unionsrechtliche Pflicht zu erfüllen. Insofern überrascht auch die Ansicht des BVerfG, dass der Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten keine Materie des Unionsrechts sei, selbst wenn Unions­bürger ausgeliefert werden: Denn das BVerfG erachtet in ständiger Rechtsprechung ausschließlich den Maßstab der GrCh für maßgeblich, solange keine Umsetzungs­ spielräume beim nationalen Gesetzgeber verbleiben.324 Das Zustimmungsgesetz zum AuslAbk EU-USA ist ein reguläres Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag, bei dem es gerade keine Gestaltungsspielräume wie beispielsweise bei einer Richtlinie gibt: Einem völkerrechtlichen Vertrag und der damit vorbehaltlich des Erfüllens aller Voraussetzungen vorliegenden grundsätzlichen Auslieferungspflicht kann nur insgesamt zugestimmt werden.325 Die Ablehnungs 320

Thym, ZaöRV 66 (2006), 863, 907. BGBl. II 2007, S. 1618; s. auch Drucks. 10/07, S. 1 f. 322 Bäcker, EuR 2015, 389, 393. 323 Vgl. nur EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-617/10 (Rs. Åkerberg Fransson) = NJW 2013, 1415, 1416 Rn. 28. 324 BVerfGE 142, 74, 112 Rn. 112 ff.; 125, 260, 306 f.; 121, 1, 15; 118, 79, 95; BVerfG, 19. 7. 2011 – 1 BvR 1916/09 = NJW 2011, 3428, 3433 Rn. 91. Hieran ändert sich auch durch die Beschlüsse „Recht auf Vergessen I und II“ nichts, da das BVerfG den Anwendungsvorrang im unionsrechtlich determinierten Sachverhalt ohne Gestaltungsspielraum für die Mitgliedstaaten – mit Ausnahme sog. Reservevorbehalte wie der Identitätskontrolle – nicht in Frage stellt, s. BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 202 f. Rn. 42 ff. 325 Vgl. Kapitel 1 Fn. 34. 321

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

gründe aufgrund von grundrechtlichen Bedenken sind in den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen jedoch abschließend geregelt,326 sodass diesbezüglich auch kein Gestaltungsspielraum bei den Mitgliedstaaten verbleibt. Deshalb müsste auch nach der Auffassung des BVerfG die Durchführung von Unionsrecht bei Überstellungen an die USA bei Vorliegen der Voraussetzungen mit der Konsequenz bejaht werden, dass der GrCh Anwendungsvorrang vor dem GG zukommt. Darüber hinaus sind die Regelungen des AuslAbk EU-USA, auch wenn sie in der sog. Dritten Säule geschaffen wurden, durch den Vertrag von Lissabon in den Anwendungsbereich des AEUV einbezogen worden (Art. 9, 10 Abs. 1, 3 Protokoll Nr. 26 über die Übergangsbestimmungen vom 26. 10. 2012)327 und damit Teil des Unionsrechts. (3) Zwischenergebnis Während bei Überstellungen eines Unionsbürgers an Drittstaaten Unionsrecht unmittelbar in Bezug genommen wird, ist dies bei Überstellungen von Drittstaatsangehörigen nur mittelbar der Fall. Da die EU selbst als Vertragspartnerin ein Auslieferungsabkommen mit den USA abgeschlossen hat, das bei Auslieferungsentscheidungen stets ergänzend zu den bilateralen Verträgen heranzuziehen ist,328 erfolgt eine Auslieferung immer auch aufgrund des Zustimmungsgesetzes zum AuslAbk EU-USA und stellt damit stets die Durchführung von (zumindest auch) Unionsrecht dar.329 Damit ist der Anwendungsbereich der unionsrechtlich gewährten Grundrechtsgarantien automatisch bei Auslieferungsentscheidungen bezüglich Auslieferungen an die USA eröffnet – und zwar unabhängig davon, ob die Überstellung eines Unionsbürgers oder die eines Drittstaatsangehörigen im Raum steht. Da solche Auslieferungsentscheidungen immer auch auf der Grundlage des AuslAbk EU-USA ergehen, dessen Implementierung im nationalen Recht jedoch gerade keinen Gestaltungsspielraum für die Mitgliedstaaten belässt und bezüglich individualrechtlicher Ablehnungsgründe abschließend ist, handelt es sich um einen unionsrechtlich zwingend determinierten Sachverhalt, in dessen Rahmen der GrCh Anwendungsvorrang zukommt.330 Wenn eine Auslieferung an die USA stets im unionsrechtlich determinierten Bereich und damit in Durchführung von Unionsrecht erfolgt, dann kann im Ver 326

Vgl. Kapitel 2 D. I. ABl. C 326 v. 26. 10. 2012, S. 1 ff. 328 S. Kapitel 1 A. I. 1. 329 Dies i. E. ebenfalls befürwortend: Esser / ​Rübenstahl / ​Boerger, NZWiSt 2014, 401, 408 f.; Marauhn / ​Simon, ZJS 2012, 593, 595; bei Auslieferungen auf der Grundlage des AuslAbk EUUSA die GrCh auch für anwendbar haltend: Ambos, in: FS Kühne, S. 503, 507 f. Fn. 27. 330 Zu der Ausnahme bei Fällen eines drohenden Verstoßes gegen die Verfassungsidentität (vgl. nur BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 203 Rn. 49) s. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (3) (b). 327

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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hältnis zu einem Drittstaat wie den USA in Anbetracht der einzuhaltenden Grundund Menschenrechtsstandards kein großzügigerer Maßstab gelten als innerhalb der Union selbst, die einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts darstellt (Art. 67 AEUV) und mit einem eigenen Grundrechtekatalog in der GrCh aufwarten kann. Vielmehr müssen die grund- und menschenrechtlichen Voraussetzungen, die innerhalb der Union zwingend gewahrt werden müssen, erst recht als grundsätzlicher Maßstab der grund- und menschenrechtlichen Voraussetzungen an einen Drittstaat dienen, in Bezug auf den die Auslieferungsentscheidungen in Durchführung von Unionsrecht erfolgen. Dies gilt zumindest solange entweder die Abwehrfunktion der Grund- und Menschenrechte maßgeblich ist, weil erstens eine etwaige Grund- und Menschenrechtsverletzung im ersuchenden Staat nach erfolgter Auslieferung Deutschland als ersuchtem Staat zugerechnet werden kann oder zweitens die Schutzfunktion der europäischen Grundrechte eine Auslieferung untersagt. dd) Extraterritorialität von Auslieferungssachverhalten und die Anwendbarkeit der GrCh Der Verbindlichkeit der Gewährleistungen der GrCh dürfte es auch nicht entgegenstehen, dass Auslieferungssachverhalte mit Drittstaaten stets einen extraterritorialen Sachverhalt aufweisen. Für die Anwendbarkeit der GrCh auch auf extraterritoriale Sachverhalte könnte insbesondere das generelle Schutzkonzept der GrCh sprechen: So sind die Mitgliedstaaten und damit die nationalen über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörden an die GrCh gebunden, wenn sie Unionsrecht durchführen (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh). Nach dem grundlegenden Konzept der Grundrechtsgewährleistungen soll durch die GrCh bei hinreichendem Bezug zum Unionsrecht ein einheitlicher Grundrechtsrahmen geschaffen werden, auf den sich der Einzelne berufen kann.331 Auch bei extraterritorialen Sachverhalten haben die über die Auslieferung entscheidenden nationalen Justizbehörden ihr Handeln grundrechtskonform auszugestalten. Die indirekten Auswirkungen auf andere Staaten sind dabei hinzunehmen. Nur so kann ein einheitlicher Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Grundrechte geachtet werden (Art. 67 Abs. 1 AEUV), verwirklicht werden. Dies ergibt sich beispielsweise auch aus Art. 19 Abs. 2 GrCh, der ein Auslieferungsverbot für den Fall statuiert, dass der Betroffene nach erfolgter Auslieferung dem ernsthaften Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung ausgesetzt ist.332 331 Vgl. nur Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 27 ff. 332 Art. 19 Abs. 2 GrCh findet jedoch keine Anwendung auf den unionsinternen Übergabeverkehr auf der Grundlage eines EuHb, da der EuGH die „Übergabe“ auf der Grundlage eines EuHb nicht als „Auslieferung“ i. S. d. Art. 19 Abs. 2 GrCh wertet, sondern unter dem Begriff

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Zudem ist der Schutz der GrCh ganz überwiegend nicht nur auf Unionsbürger beschränkt: Auf einzelne spezielle Grundrechte kann sich zwar nur ein Unionsbürger berufen (bezüglich der Bürgerrechte in Art. 39 ff. GrCh), die meisten Grundrechte der GrCh garantieren aber Mindestrechte für jedermann im Anwendungsbereich des Unionsrechts.333 Auch wenn der Auszuliefernde kein Unionsbürger ist, steht das der Verbindlichkeit der GrCh-Gewährleistungen in diesem Verhältnis daher nicht entgegen. Die Extraterritorialität des Sachverhalts ändert an der Verbindlichkeit der Gewährleistungen der GrCh demnach nichts, solange den über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörden Grundrechtsverletzungen als mittelbare Eingriffe zugerechnet werden können. Eine andere Beurteilung würde Fragen der Anwendbarkeit der GrCh mit denen der Zurechenbarkeit grundrechtswidriger Behandlungen durch Hoheitsträger des ersuchenden Staates an Hoheitsträger des ersuchten Staates vermengen. Insofern sind die grundrechtlichen Unionsrechtsstandards auch nach außen hin – und zwar auch im Verhältnis zu Drittstaaten wie den USA – zu wahren.334 Die GrCh legt in ihrem Anwendungsbereich den Grundrechtsverpflichteten demnach die unionsinterne Pflicht auf, auch bei extraterritorialen Sachverhalten den Unionsgrundrechten zur Durchsetzung zu verhelfen, wenn andernfalls zurechenbare Grundrechtseingriffe vorliegen. Soweit die Gefahr besteht, dass die Überstellung des Auszuliefernden zu einer Grundrechtsverletzung führt, müssen die Grundrechte gegen die Auslieferung daher in Stellung gebracht werden können.335

der „Auslieferung“ ausschließlich Überstellungen versteht, die nicht auf der Grundlage eines EuHb volltsreckt werden. Jedenfalls nimmt der EuGH beispielsweise sowohl in den Rechtssachen Pál Aranyosi und Robert Căldăraru (EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709) als auch in der Rechtssache Dorobantu (EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468) ausschließlich Art. 4 GrCh und nicht etwa Art. 19 Abs. 2 GrCh in Bezug. Zu den unterschiedlichen Begriffen von „Übergabe“ auf der Grundlage eines EuHb und „Auslieferung“ im Rahmen des traditionellen Auslieferungsverkehrs s. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa). 333 S. Hatje, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 51 GrCh Rn. 5; Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 60. 334 So ausdrücklich auch: Borowsky, in: Meyer / ​Bernsdorff (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 16; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 82; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 39; zur völkerrechtlichen Vereinbarkeit des extraterritorialen Anwendungsbereichs der GrCh s. Fontaine, Die Anwendbarkeit und Durchsetzbarkeit der Unionsgrundrechte bei militärischen Operationen der Europäischen Union, S. 338 ff. 335 Zu den Anforderungen an eine solche Gefahr und damit an die Zurechenbarkeit einer Grundrechtsverletzung s. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c).

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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d) Grundrechtliche Grenzen einer Überstellung im Anwendungsbereich von Unionsrecht Anders als im Auslieferungsverkehr zu Drittstaaten wird bereits länger über eine unionsgrundrechtliche Grenze im Übergabeverfahren innerhalb der EU diskutiert.336 Erfolgt eine Auslieferungsentscheidung deutscher Justizbehörden auch im Auslieferungsverkehr zu Drittstaaten in Durchführung von Unionsrecht, könnten grundrechtliche Grenzen der GrCh, die zwingend innerhalb des Übergabeverfahrens in der Union gelten, erst recht im Verhältnis zu Drittstaaten Geltung beanspruchen. Denn auch für diesen Fall ändert sich jedenfalls nichts an der unionsinternen Verpflichtung, hoheitliches Handeln primärrechtskonform und damit auch grundrechtskonform auszugestalten. Dies gilt nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass einem Europäischen Haftbefehl nach dem AuslAbk EU-USA (Art. 10 Abs. 2 AuslAbk EU-USA) und nach dem RbEuHb (Art. 16 Abs. 3 RbEuHb) kein unbedingter Vorrang vor einem Auslieferungsersuchen eines Drittstaates einzuräumen ist.337 Für die Beantwortung der Frage, welchen grundrechtlichen Grenzen der GrCh eine Überstellung eines Auszuliefernden an Justizbehörden der USA im Anwendungsbereich von Unionsrecht unterliegt, könnte daher ein Rückschluss aus den grundrechtlichen Grenzen einer Überstellung innerhalb der Union gezogen werden: Denn auch hier erfolgt die Übergabe auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls in Durchführung von Unionsrecht, sodass grundsätzlich von einer Anwendbarkeit der GrCh auszugehen sein müsste.338 Innerhalb der EU sind die Voraussetzungen einer Überstellung durch die Einführung des Europäischen Haftbefehls erheblich eingeschränkt worden. Das Verfahren sollte vereinfacht werden, da das gesamte Übergabesystem innerhalb der Union auf einem gemeinsamen europäischen Wertesystem beruht,339 sodass von einem Vertrauen bezüglich der Einhaltung gemeinsamer unionsrechtlicher Werte innerhalb der Union auszugehen ist. Ein gemeinsames Wertesystem existiert mit den USA in Bezug auf die Gewährleistungen der GrCh gerade nicht. Dies ist zunächst nichts Ungewöhnliches, sondern liegt in der Natur der Auslieferung: Regelmäßig treffen hier Staaten aufeinander, die unterschiedlichen Wertesystemen folgen, um dem übergeordneten Staateninteresse der Möglichkeit zur Strafverfolgung und -vollstreckung nachzukommen. Zunächst ist der das Übergabeverfahren innerhalb der Union begrenzende Grundrechtskatalog der GrCh heranzuziehen. Dies bedeutet nicht, dass ein solcher Maßstab nicht einer weiteren Einschränkung bedarf. Vielmehr ist eine solche Einschränkung dann in einem weiteren Schritt zu begründen. 336

S. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2). S. hierzu noch Kapitel 2 D. II. 3. d) bb) (3) (c). 338 Vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa). 339 Vgl. statt vieler Ambos, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 46 ff.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 26. 337

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Da bei Auslieferungen an die USA Unionsrecht durchgeführt wird, können im Verhältnis zu Drittstaaten aus unionsrechtlicher Perspektive grundsätzlich keine „lockereren“ Voraussetzungen gelten als bei Überstellungen auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls innerhalb der EU: Wenn bereits ein Europäischer Haftbefehl abgelehnt und nicht vollstreckt werden muss, und das in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 67 Abs. 1 AEUV), dann müssen die hier maßgeblichen Grenzen unionsrechtlich betrachtet erst recht für das Verhältnis zu Drittstaaten gelten. Denn die unionsgrundrechtlich verpflichteten Mitgliedstaaten bzw. die nationalen Justizbehörden sind bei Auslieferungsentscheidungen an die USA dazu verpflichtet, diese im Einklang mit der GrCh zu treffen. Im Folgenden ist daher zu prüfen, welche Grund- und Menschenrechtsstandards in dem Übergabeverfahren aufgrund eines Europäischen Haftbefehls innerhalb der Union zwingend gewahrt werden müssen, sodass in einem zweiten Schritt nach einer Einschränkung dieser Standards gefragt werden kann. aa) Grund- und Menschenrechtsstandards bei Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls Um die Frage nach grund- und menschenrechtlichen Grenzen der Übergabeentscheidung innerhalb der Union beantworten zu können, lohnt zunächst ein Blick auf die Rechtsgrundlagen des Übergabeverkehrs innerhalb der Union und der mit ihnen verfolgten Ziele. Innerhalb der Union erfolgt die Überstellung eines strafrechtlich Verfolgten zwischen zwei Mitgliedstaaten seit dem 1. 1. 2004 mittels des Europäischen Haftbefehls auf der Grundlage des RbEuHb,340 den Deutschland im Achten bis Zehnten Teil des IRG in deutsches Recht umgesetzt hat und damit in die bereits bestehenden Vorschriften zum Rechtshilfeverkehr im IRG implementiert hat. Im Gegensatz zum traditionellen auf völkerrechtliche Verträge gestützten Auslieferungsver 340

Rahmenbeschluss des Rates vom 13. 6. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, 2002/584/JI, ABl. L 190 v. 18. 7. 2002, S. 1 ff. Aufgrund der zögerlichen Umsetzung der völkerrechtlichen Übereinkommen in der EU (s. hierzu Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht, § 24 Rn. 16; Klip, European criminal law, S. 374 ff.) ist die Handlungsform des völkerrechtlichen Vertrages in der ehemals 3. Säule der EU zunächst durch den Rahmenbeschluss und sodann durch die Richtlinie ersetzt worden (s. hierzu Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht, § 24 Rn. 13; Hackner  / ​ Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 10). Der Vorteil des Rahmenbeschlusses lag darin, dass er nicht der Ratifikation der einzelnen Staaten bedurfte, sondern vom EU-Rat beschlossen wurde, s. Lagodny, in: Sieber / ​Satzger / ​von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 31 Rn. 11. Mit dem Vertrag von Lissabon ist die Handlungsform des Rahmenbeschlusses durch die Richtlinie ersetzt worden. Gem. Art. 9 des Protokolls Nr. 36 zum Vertrag von Lissabon gelten Rahmenbeschlüsse allerdings fort, solange sie nicht aufgehoben oder für nichtig erklärt oder geändert werden, s. ABl. C 115 v. 9. 5. 2008, S. 325; zur Handlungsform des Rahmenbeschlusses s. eingehend Giannakoula, EuCLR 7 (2017), 275 ff.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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fahren wie dem mit den USA erfolgt die Übergabe eines strafrechtlich Verfolgten innerhalb der Union durch ein durch die Exekutive geprägtes Übergabeverfahren: Gem. Art. 1 Abs. 1 RbEuHb handelt es sich bei dem Europäischen Haftbefehl um „eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt“. Der Europäische Haftbefehl dient demzufolge der (gleichsam automatisch) unionsweiten Durchsetzung eines nationalen Haftbefehls.341 Im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl ändern sich daher auch die Begrifflichkeiten: Das Ersuchen wird zur Anordnung, der ersuchende Staat zum Ausstellungsstaat und der ersuchte Staat zum Vollstreckungsstaat.342 Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls erfolgt gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb auf der Grundlage des mittlerweile primärrechtlich verankerten Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen in Strafsachen (Art. 82 Abs. 1 AEUV).343 Der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung ist auf der Sondertagung in Tampere vom 15. 10. –16. 10. 1999 vom Europäischen Rat zu einem „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen erhoben worden344 und drückt aus, dass eine in einem Mitgliedstaat rechtmäßig ergangene justizielle Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat wie eine eigene anerkannt wird.345 Der Europäische Haftbefehl ist damit von der Akzeptanz und der Umsetzung einer anderen Jurisdiktion unterliegenden strafrechtlichen Entscheidung geprägt. Insofern verzichten die Vollstreckungsmitgliedstaaten auf die Ausübung der aus ihrer staatlichen Souveränität eigentlich folgenden Kontrollbefugnisse, die bei der Verwirklichung eines von der Union angestrebten einheitlichen Rechtsraums 341 Es handelt sich also nicht um ein Strafverfahren im eigentlichen Sinne, vielmehr wird das Strafverfahren eines anderen Mitgliedstaates wie im traditionellen Auslieferungsverkehr unterstützt, s. Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 4; Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 1; Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, S. 131 f. Insofern stellt er ein Fahndungsinstrument dar, vgl. Böhm, NStZ 2019, 256. Der Anwendungsbereich eines EuHb umfasst gem. Art. 2 Abs. 1 RbEuHb nur solche Handlungen, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsstaats mit einem zu erwartenden Strafmaß von einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind oder im Fall einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, wenn diese mindestens vier Monaten beträgt. 342 Ambos, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 14; Klip, European criminal law, S. 381 ff., 394 ff., 400 ff. 343 Jähnke / ​Schramm, Europäisches Strafrecht, Kapitel 2, S. 18. Der RbEuHb stellt die erste sekundärrechtliche Umsetzung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung dar, s. zur Entwicklung Böse, in: Momsen / ​Bloy / ​Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, S. 233 ff. 344 So die Schlussfolgerung 33 des Europäischen Rates von Tampere, abrufbar unter: https:// www.consilium.europa.eu/media/21051/tampere-europ%C3%A4ischer-rat-schlussfolgerungendes-vorsitzes.pdf (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020); s. hierzu Böse, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​ Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 14; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 26 345 Grundlegend Böse, in: Momsen / ​Bloy / ​Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, S. 233 ff.; s. a. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 26.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

nur hinderlich wären.346 Dies erfolgt maßgeblich vor dem Hintergrund des Postulats gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten der Union in die Rechtsordnungen und insbesondere in die Rechtsstaatlichkeit der anderen Mitgliedstaaten.347 Die im traditionellen Auslieferungsverkehr bestehenden und zeitaufwendigen Hindernisse sollen in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den die EU bilden soll (Art. 67 Abs. 1 AEUV) und in dem auf die Rechtsstaatlichkeit anderer Mitgliedstaaten vertraut wird, beseitigt werden: Durch die Einführung des Europäischen Haftbefehls sollte das Auslieferungsverfahren innerhalb der Union beschleunigt und vereinfacht werden.348 Zur Beschleunigung des Übergabeverfahrens innerhalb der EU führt zunächst der Umstand, dass ein Europäischer Haftbefehl gem. Art. 17 Abs. 1 RbEuHb als Eilsache erledigt und vollstreckt wird.349 Eine Beschleunigung bewirkt insbesondere auch die Möglichkeit des Betroffenen zur vereinfachten Übergabe: Stimmt der Betroffene der Übergabe zu, soll diese gem. Art. 17 Abs. 2 RbEuHb innerhalb von zehn Tagen ab seiner Zustimmung vollstreckt werden.350 346

Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 26 ff. m. w. N. S. die Schlussfolgerungen des Rates zur gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen (ABl. C 449 v. 13. 12. 2018, S. 6): „unter Bestätigung, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung auf gegenseitigem Vertrauen beruht, das sich durch die gemeinsamen Werte der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte entwickelt hat, sodass jede Behörde darauf vertrauen kann, dass die anderen Behörden in ihren Strafrechtsordnungen gleichwertige Standards für den Schutz der Rechte anwenden;“ s. hierzu Klip, European criminal law, S. 400 ff.; Meyer, StV 40 (2020), 644; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 26; eingehend zum Grundsatz gegenseitigen Vertrauens innerhalb der Union: Meyer, EuR 2017, 163 ff. 348 S. Böhm, NStZ 2020, 204, 205; Böhm, NStZ 2019, 256; Meyer, StV 40 (2020), 644; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 26; Satzger, EuCLR 9 (2019), 285, 287; s. insbes. auch den Schlussantrag der Generalanwältin Sharpston v. 18. 10. 2012, C-396 (Rs. Radu) = BeckEuRS 2012, 690201 Rn. 33 ff. 349 Hiermit gehen engere Fristen für das Übergabeverfahren einher: Gem. Art. 17 Abs. 3 RbEuHb soll eine endgültige Entscheidung über die Übergabe des Betroffenen ab dem Moment der Festnahme nicht länger als 60 Tage dauern. Nach dem Arbeitspapier der Kommissionsdienststelle v. 30. 8. 2019, SWD(2019) 318/F1 (11804/19), S. 25 hat das Übergabeverfahren in Deutschland im Jahr 2017 von der Festnahme des Betroffenen bis zur Entscheidung über die Übergabe im Durchschnitt 41,13 Tage gedauert, wobei in den Fällen, in denen sich der Betroffene bereits in Haft befunden hat, erst ab dem Tag gezählt wird, ab dem die Inhaftierung ausschließlich zu Auslieferungszwecken durchgeführt wird. Gem. Art. 17 Abs. 4 RbEuHb kann die Frist in Ausnahmefällen höchstens um weitere 30 Tage verlängert werden. 350 S. hierzu Böhm, NStZ 2019, 256; Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Euro­ päischen Haftbefehls, S. 123. Im Jahr 2017 haben in Deutschland von 1196 von einer Übergabe Betroffene 662 Betroffene ihrer Übergabe zugestimmt, vgl. das Arbeitspapier der Kommissionsdienststelle v. 30. 8. 2019, SWD(2019) 318/F1 (11804/19), S. 23. In Fällen der Zustimmung des Betroffenen hat das Übergabeverfahren in Deutschland im Jahr 2017 von der Festnahme des Betroffenen bis zur Entscheidung über die Übergabe im Durchschnitt 18,02 Tage gedauert, s. das Arbeitspapier der Kommissionsdienststelle v. 30. 8. 2019, SWD(2019) 318/F1 (11804/19), S. 24. Auch in diesen Fällen kann die Frist in Ausnahmefällen gem. Art. 17 Abs. 4 RbEuHb höchstens um weitere 30 Tage verlängert werden. 347

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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Erwartungsgemäß normiert der RbEuHb (im Vergleich zum traditionellen Auslieferungsverfahren) zudem erleichterte Voraussetzungen, unter denen die Übergabe auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls erfolgt. Zu diesen Erleichterungen gehört insbesondere die Zurückdrängung des Bewilligungsverfahrens (vgl. Art. 9 ff. RbEuHb).351 Zudem findet im Übergabesystem eine direkte Kommunikation zwischen den Justizbehörden352 statt (vgl. Art. 9 Abs. 1 RbEuHb) und es werden einheitliche Formulare verwendet (Art. 8 RbEuHb). Eine Vereinfachung und Beschleunigung des Übergabeverfahrens innerhalb der EU zeigt sich nicht zuletzt an dem Entfall bzw. an Einschränkungen von aus dem traditionellen Auslieferungsverkehr bekannten Ablehnungsgründen: Während politische, militärische und fiskalische Ablehnungsgründe353 im Übergabesystem des Europäischen Haftbefehls wegfallen,354 ist eine Übergabe eigener Staatsangehöriger355 unter Einschränkungen356 grundsätzlich möglich. Eine der Neuerungen schlecht-

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S. hierzu Ambos, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 4. Trotz der Vorgaben des RbEuHb hat der deutsche Gesetzgeber das zweistufige Verfahren bei der innerstaatlichen Umsetzung des RbEuHb beibehalten bzw. dem Zulässigkeitsverfahren durch das OLG sogar noch eine Vorabentscheidung der Bewilligungsbehörde vorgeschaltet (§ 79 Abs. 2 S. 1 IRG), in der diese erklärt, ob sie eine der Bewilligungshindernisse i. S. d. § 83b IRG geltend machen wird (kritisch zu den daraus resultierenden Verfahrensverzögerungen: Böhm, StraFo 2013, 177, 178) und über deren Entscheidung das OLG noch einmal befindet (§ 79 Abs. 2 S. 3 IRG; s. Schomburg / ​L agodny / ​Schallmoser, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 13 Rn. 17; kritisch hierzu: Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 39, 42). Dem Zulässigkeitsverfahren folgt auch hier ein Bewilligungsverfahren nach § 74 IRG. 352 Gem. Art. 6 Abs. 1 und 2 RbEuHb richten sich die zuständigen ausstellenden und vollstreckenden Justizbehörden nach dem Recht des Staats, der für die Ausstellung bzw. für die Vollstreckung des EuHb zuständig ist. Erst kürzlich hat der EuGH bzgl. der Aktivlegitimation von Staatsanwaltschaften zur Ausstellung EuHb entschieden. Der Begriff der Justizbehörde erfordere eine unionsrechtlich autonome und einheitliche Auslegung und erfasse die an der Strafrechtspflege der Mitgliedstaaten mitwirkenden Behörden unter Ausschluss der zur Exekutive angehörenden Behörden wie Ministerien oder Polizeibehörden. Diese müsse jedoch unabhängig sein und dürfe nicht der Gefahr ausgesetzt sein, einer Weisung der Exekutive zu unterliegen, vgl. EuGH, Urteil vom 27. 5. 2019 – C-508/18; C-82/19 (PPU (OG und PI)) = NJW 2019, 2145, 2147 ff. Rn. 49 f., 71 ff.; s. auch neuerdings EuGH, Urteil vom 12. 12. 2019 – C-566/19 (PPU) = EuGRZ 47 (2020), 16 ff. Rn. 52. Zu der hieraus folgenden Konsequenz, dass die deutsche Staatsanwaltschaft keinen EuHb ausstellen darf, vgl. Böse, NStZ 2020, 204, 205 ff.; ­Brodowski, ZIS 2019, 602 ff.; Eisele / ​Trentmann, NJW 2019, 2365; hierzu und einen Ausblick für die Staatsanwaltschaft anderer Mitgliedstaaten gibt: Böhm, NZWiSt 2019, 325 ff. 353 Zu diesen Ablehnungsgründen im traditionellen Auslieferungsverkehr mit den USA s. Kapitel 1 B. I. 2.  und Kapitel 1 A. II. 2. b). 354 Vgl. nur Esser, in: Ahlbrecht / ​Böhm / ​Esser / ​E ckelmanns, Internationales Strafrecht, Rn. 948; Satzger, NStZ 2016, 514. 355 Zum Ablehnungsgrund eigener Staatsangehöriger im traditionellen Auslieferungsverkehr mit den USA s. Kapitel 1 B. I. 2. 356 Solche Einschränkungen finden sich in Art. 4 Nr. 6 RbEuHb und Art. 5 Nr. 3 RbEuHb: Der Vollstreckungsstaat kann sich bei einem EuHb zur Strafvollstreckung dazu verpflichten, die Übergabe abzulehnen, wenn er selbst die Strafvollstreckung durchführt (Art. 4 Nr. 6 RbEuHb) oder er kann bei einem EuHb zur Strafverfolgung die Übergabe eines eigenen Staatsangehörigen davon abhängig machen, dass der Verfolgte nach der Gewährung rechtlichen

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

hin, insbesondere auch für die Vereinfachung des Verfahrens, betrifft allerdings den Grundsatz beiderseitiger Strafbarkeit: Auch wenn grundsätzlich an diesem Prinzip festgehalten wird und der Vollstreckungsmitgliedstaat die Übergabe davon abhängig machen kann,357 dass die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Handlungen des Verfolgten nach eigenem Recht eine Straftat darstellen (Art. 2 Abs. 4 RbEuHb), so findet sich in Art. 2 Abs. 2 RbEuHb sogleich eine wichtige Ausnahme von diesem Grundsatz: Geregelt sind hier 32 Katalogtaten,358 bei denen eine Überprüfung der Strafbarkeit des Handelns des Verfolgten im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht stattfindet. Voraussetzung ist dafür, dass es sich nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaates um eine der Katalogtaten handelt und diese nach dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist. In diesen Fällen verzichtet der Vollstreckungsmitgliedstaat auf seine Kontrollbefugnisse und übt insofern seine staatliche Souveränität nicht aus. Im Gegenzug hierfür wird die justizielle Entscheidung des Ausstellungsmitgliedstaates einschränkungs­ los anerkannt und vollstreckt. Besonders deutlich zeigen sich die Auswirkungen einer fehlenden Prüfung gegenseitiger Strafbarkeit auf das Übergabeverfahren im Fall Carles Puigdemonts: Der katalanische Separatistenführer Puigdemont hatte Ende 2017 die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien ausgerufen und das Land damit in eine politische und rechtliche Krise gestürzt.359 Er wurde von seinem Präsidialamt abgesetzt und es wurden nationale Haftbefehle gegen ihn erlassen: Diese ergingen zum einen wegen des spanischen Straftatbestandes der Rebellion und zum anderen wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder. Überdies stellten spanische Justizbehörden einen Europäischen Haftbefehl aus,360 auf dessen Grundlage Puigdemont am 25. 3. 2018 in Deutschland festgenommen wurde.361 Das OLG Schleswig hatte im Folgenden zunächst über die Auslieferungshaft362 und sodann über die ÜberGehörs zur Verbüßung der durch den Ausstellungsstaat verhängten Strafe zurück in den Vollstreckungsstaat überstellt wird. Dies ist innerstaatlich in § 80 IRG umgesetzt worden, s. hierzu Kokott, in: Sachs, GG, Art. 16 Rn. 45 ff.; vgl. Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG. 357 Während der RbEuHb dies in das Ermessen des Vollstreckungsmitgliedstaates stellt (s. Art. 2 Abs. 4 RbEuHB: „kann“), verpflichtet die deutsche Umsetzung nationale Behörden hingegen, bei Fehlen der beiderseitigen Strafbarkeit – vorbehaltlich der Ausn. – die Übergabe abzulehnen (s. § 81 Nr. 4 IRG i. V. m. § 3 IRG). 358 Hierzu zählen u. a. Terrorismus, Menschenhandel und Cyberkriminalität. 359 Editorial, FD-StrafR 2017, 396058; vgl. zudem https://www.stern.de/politik/ausland/ spanien-katalonien-erklaert-unabhaengigkeit--madrid-reagiert-sofort-7677450.html (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020); https://www.spiegel.de/politik/ausland/katalonien-krise-carlespuigdemont-ruft-zum-friedlichen-widerstand-auf-a-1175241.html (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 360 Vgl. hierzu Böhm, NStZ 2019, 256, 257; s. zudem die Meldung der Redaktion beck-­a ktuell vom 3. 11. 2017, becklink 2008218. 361 OLG Schleswig, 5. 4. 2018 – 1 Ausl (A) 18/18 (20/18) = NJW 2018, 1699, 1700; Böhm, NStZ 2019, 256; 257; Foffani, EuCLR 8 (2018), 196. 362 OLG Schleswig, 5. 4. 2018 – 1 Ausl (A) 18/18 (20/18) = NJW 2018, 1699.

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gabe363 ­Puigdemonts an Spanien zu entscheiden und erklärte die Übergabe jedenfalls wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder für zulässig.364 Hierbei handelt es sich um eine Straftat, die im Katalog des Art. 2 Abs. 2 RbEuHb normiert ist, sodass das OLG nicht mehr zu prüfen hatte, ob das dem Vorwurf zugrunde liegende Handeln Puigdemonts in Deutschland strafbar wäre. Die Übergabe wegen des spanischen Straftatbestandes der Rebellion erklärte das OLG hingegen für unzulässig.365 Da es sich nicht um eine der Katalogtaten i. S. d. Art. 2 Abs. 2 RbEuHb handelt, hatte das OLG zu prüfen, ob das der Tat zugrunde liegende Handeln nach deutschem Recht strafbar wäre. Dies verneinte das OLG jedoch, da die entsprechenden Voraussetzungen des allenfalls in Betracht kommenden § 81 StGB nicht erfüllt seien, sodass eine Übergabe auf der Grundlage der Rebellion nicht in Betracht kam.366 Vor dem Hintergrund des grundsätzlich auch im Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Grundsatzes der Spezialität (Art. 27 Abs. 2 RbEuHb) bedeutete dies jedoch, dass eine Strafverfolgung und -vollstreckung wegen Rebellion nach einer Übergabe Puigdemonts an Spanien aufgrund eines Europäischen Haftbefehls in Spanien ausgeschlossen gewesen wäre – weshalb der Europäische Haftbefehl seitens spanischer Justizbehörden auch zurückgezogen worden ist.367 Während also eine weitere Prüfung wegen des Vorwurfs der Veruntreuung öffentlicher Gelder nicht erfolgte, sah dies bei der Rebellion ganz anders aus. Dies zeigt, welche Auswirkungen die Ausnahmen vom Grundsatz beiderseitiger Strafbarkeit haben: Auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung werden die Kontrollbefugnisse des Vollstreckungsmitgliedstaates zugunsten eines effektiven Übergabeverkehrs sehr weit zurückgenommen. (1) Grenzen des gegenseitigen Vertrauens und des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung Das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in die jeweiligen Rechtsordnungen und insbesondere in die Rechtsstaatlichkeit der anderen Mitgliedstaaten und 363

OLG Schleswig, 12. 7. 2018 – 1 Ausl (A) 18/18 (20/18) = NJW 2019, 93. OLG Schleswig, 12. 7. 2018 – 1 Ausl (A) 18/18 (20/18) = NJW 2019, 93, 98 f. Rn. 49 ff. Zu einem entsprechenden Ergebnis gelangte das OLG Schleswig bereits im Beschluss bezüglich der Auslieferungshaft, da diese davon abhing, ob die Übergabe von vornherein unzulässig ist (vgl. § 15 Abs. 2 IRG), sodass das OLG Schleswig inzident eine Zulässigkeitsprüfung der Übergabe vornahm, vgl. OLG Schleswig, 5. 4. 2018 – 1 Ausl (A) 18/18 (20/18) = NJW 2018, 1699, 1700 ff. Rn. 17 ff., 37 ff. 365 OLG Schleswig, 12. 7. 2018 – 1 Ausl (A) 18/18 (20/18) = NJW 2019, 93, 95 ff. Rn. 17 ff. Auch diesbezüglich war das OLG Schleswig bereits in der Entscheidung bezüglich der Auslieferungshaft zu einem entsprechenden Ergebnis gelangt, OLG Schleswig, 5. 4. 2018 – 1 Ausl (A) 18/18 (20/18) = NJW 2018, 1699, 1700 ff. Rn. 19 ff. („von vornherein unzulässig“). Entscheidungsbesprechungen finden sich bei Heger, ZIS 2018, 195; Foffani, EuCLR 8 (2018), 196. 366 OLG Schleswig, 12. 7. 2018 – 1 Ausl (A) 18/18 (20/18) = NJW 2019, 93, 95 ff. Rn. 23 ff.; OLG Schleswig, 5. 4. 2018 – 1 Ausl (A) 18/18 (20/18) = NJW 2018, 1699, 1701 Rn. 23. 367 S. die Meldung der beck-aktuell-Redaktion vom 19. 7. 2018, becklink 2010475. 364

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damit auch der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung finden wiederum ihre Grenzen im RbEuHb.368 Solche Grenzen bilden einerseits die aus dem traditionellen Auslieferungsverkehr bekannten und verbleibenden Ablehnungsgründe, die in den Art. 3, 4, 4a RbEuHb normiert sind, und andererseits die Möglichkeit, Garantien vom Ausstellungsstaat für eine Übergabe zu verlangen (Art. 5 RbEuHb). Sowohl die Ablehnungsgründe als auch die Garantien begrenzen den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung und konkretisieren diesen daher erst:369 Nur vorbehaltlich des Nichtvorliegens der normierten Ablehnungsgründe und der Zusicherung eingeforderter Garantien ist innerhalb der Union der Europäische Haftbefehl automatisch zu vollstrecken und insofern in die Rechtsordnung des anderen Mitgliedstaates zu vertrauen. Art. 5 RbEuHb enthält dabei Garantien, von deren Abgabe der Vollstreckungsstaat die Übergabe abhängig machen kann. Dies betrifft nach Art. 5 Nr. 2 RbEuHb die Garantie, dass im Falle einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Ausstellungsstaat nach zwanzig Jahren eine Überprüfungsmöglichkeit der verhängten Strafe oder die Möglichkeit einer Begnadigung besteht. Nach Art. 5 Nr. 3 RbEuHb kann der Vollstreckungsstaat für den Fall, dass der zu Übergebende eigener Staatsangehöriger oder im Vollstreckungsstaat wohnhaft ist, die Übergabe zur Strafverfolgung davon abhängig machen, dass der Betroffene zur Strafverbüßung an den Vollstreckungsstaat rücküberstellt wird. Die sekundärrechtlich normierten Ablehnungsgründe teilen sich in obligatorische (Art. 3 RbEuHb) und fakultative Ablehnungsgründe (Art. 4, 4a RbEuHb) auf. Art. 3 RbEuHb enthält drei obligatorische Ablehnungsgründe der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls. Gem. Art. 3 Nr. 1 RbEuHb ist die Vollstreckung zwingend abzulehnen, wenn die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegende Straftat im Vollstreckungsstaat unter eine Amnestie fällt und dieser nach dessen Jurisdiktion für die Strafverfolgung zuständig wäre. Zudem findet sich in Art. 3 Nr. 2 RbEuHb als obligatorischer Ablehnungsgrund eine Ausprägung des ne-bisin-idem-Grundsatzes: Für den Fall, dass der Betroffene bereits von einem Mitgliedstaat der EU wegen der dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Handlung rechtskräftig verurteilt worden ist und dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, noch vollstreckt wird oder nicht mehr vollstreckt werden kann, ist die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zwingend abzulehnen. Zudem enthält Art. 3 Nr. 3 RbEuHb einen obligatorischen Ablehnungsgrund für den Fall, dass der Betroffene nach dem Recht des Vollstreckungsstaates strafunmündig ist.370 Als fakultativen Ablehnungsgrund findet sich 368

Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 28, 40. Ambos, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 52; Böse, in: Ambos, Kai (Hrsg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, S. 57, 60; Böse, HRRS 13 (2012), 19; Böse, in: Becker / ​Hatje / ​ Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 82 AEUV Rn. 16. 370 Innerhalb der EU sind die Grenzen der Strafmündigkeit sehr unterschiedlich ausgestaltet, sodass es ohne diese Regelung zu entsprechenden Konflikten des Vollstreckungsstaates 369

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in Art. 4a RbEuHb das Vorliegen eines Abwesenheitsurteils.371 Gem. Art. 4 Nr. 1 RbEuHb kann der Europäische Haftbefehl zudem im Falle des Fehlens beiderseitiger Strafbarkeit abgelehnt werden (solange keine Katalogtat nach Art. 2 Abs. 2 RbEuHb vorliegt).372 Nach Art. 4 Nr. 2 RbEuHb kann die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zudem abgelehnt werden, wenn der Betroffene im Vollstreckungsmitgliedstaat bereits strafrechtlich wegen derselben Handlung verfolgt wird, die auch dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt. Darüber hinaus findet sich in Art. 4 Nr. 4 RbEuHb für den Fall der Verjährung nach den Regelungen des Vollstreckungsstaates ein fakultativer Ablehnungsgrund, sofern eine Gerichtsbarkeit des Vollstreckungsstaates bestand. Als weiteren fakultativen Ablehnungsgrund normiert Art. 4 Nr. 6 RbEuHb den Fall, dass sich der Vollstreckungsstaat zur innerstaatlichen Vollstreckung einer vom Ausstellungsstaat bereits verhängten Strafe verpflichtet, sofern sich der Betroffene im Vollstreckungsstaat aufhält, seinen Wohnsitz dort hat oder dessen Staatsangehöriger ist. Art. 4 Nr. 7 RbEuHb ermöglicht zudem die Ablehnung aus territorialen Aspekten. Nicht zuletzt finden sich in Art. 4 RbEuHb zwei weitere Aspekte des ne-bis-in-idem-Grundsatzes: Nach Art. 4 Nr. 3 RbEuHb kann die Vollstreckung abgelehnt werden, wenn die Justizbehörden des Vollstreckungsstaates nach dem innerstaatlichen Recht ein Strafverfahren bezüglich der dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Straftat eingestellt haben beziehungsweise kein entsprechendes Strafverfahren einleiten. Nach Art. 4 Nr. 5 RbEuHb kann die Übergabe zudem abgelehnt werden, wenn der Betroffene bereits von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, sofern die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, noch vollstreckt wird oder nicht mehr vollstreckt werden kann. Auch im Übergabeverfahren auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls zeigt sich daher nur ein punktueller Individualrechtsschutz: Es sind spezielle Ablehnungsgründe geregelt. Ein genereller Ablehnungsgrund für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgrund eines zu erwartenden Unionsgrundrechtsdefizits im Ausstellungsstaat – insbesondere bei einem zu erwartenden Einkommen würde. So kann ein Kind unter 14 Jahren in Deutschland nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden (§ 19 StGB). In Belgien ist man hingegen erst mit 18 Jahren strafmündig. Für Kinder ab 14 Jahren können in Belgien nur verwaltungsrechtliche Sanktionen erhoben werden, bei 16- und 17-Jährigen kann das Verfahren nur ausnahmsweise an die Strafgerichte übergeben werden. In Irland liegt die Altersgrenze der Strafmündigkeit hingegen bereits bei 12 Jahren, in Fällen von Mord, Totschlag, Vergewaltigung und schweren sexuellen Missbrauchs hingegen bereits ab 10 Jahren; vgl. zu den Altersgrenzen den Sachstand WD 7 – 3000 – 120/19 zur rechtlichen Situation der Strafmündigkeit in der EU der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags v. 7. 8. 2019, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/ resource/blob/657526/c653898dc32a439fcef295ab9ad3475f/WD-7-120-19-pdf-data.pdf (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 371 Dieser Ablehnungsgrund war zuvor als Garantieregelung in Art. 5 Nr. 1 RbEuHb geregelt, wurde jedoch mit dem Rahmenbeschluss 1009/299/JI v. 26. 2. 2009 (ABl. L 81 v. 27. 3. 2009, S. 24 ff.) gestrichen und als fakultativer Ablehnungsgrund ausgestaltet; s. hierzu Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, S. 143 ff. 372 Vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa).

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griff in die Menschenwürde (Art. 1 GrCh) oder bei zu erwartenden rechtsstaatlichen Defizitien  – ist im RbEuHb nicht vorgesehen. Vielmehr soll ein solcher Vorbehalt in dem Übergabesystem des Europäischen Haftbefehls gerade keine Bedeutung mehr erlangen.373 Dies ist insbesondere darin begründet – und hier liegt auch der Unterschied zum Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten wie den USA –, dass innerhalb der Union ein einheitlicher Rechtsraum besteht, bei dem die Übergabe auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht: Im gegenseitigen Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit des anderen Mitgliedstaates ist eine justizielle Entscheidung innerhalb der Union anzuerkennen und der Betroffene zu überstellen. Von daher verwundert es auf den ersten Blick nicht, dass die Individualrechte des zu Übergebenden keine umfassende Beachtung in den normierten Ablehnungsgründen gefunden haben. Ein Mitgliedstaat der EU sollte und darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass die Betroffenenrechte in dem anderen Mitgliedstaat hinreichend Beachtung finden (Grundsatz gegenseitigen Vertrauens). Immerhin sind formal alle Mitgliedstaaten an die gleichen Unionsgrundrechte gebunden. Mangels eines einheitlichen Rechtsraums mit Drittstaaten kann ein solches gegenseitiges Vertrauen jedoch von vorherein schon nicht im Verhältnis zu Drittstaaten Geltung beanspruchen, sodass die Grenzen hier zumindest nicht weiter zu ziehen sind. Auch innerhalb der Union kann der Grundrechtsstandard eines Mitgliedstaats im Einzelfall allerdings hinter den unionsrechtlichen Grundrechtsstandard zurückfallen.374 Besonders gravierend ist das in Fällen, in denen ein Eingriff in die Menschenwürde des Betroffenen droht. Dies ist kein theoretisches Problem, sondern hat sich auch in der Praxis – insbesondere bei Haftbedingungen in einzelnen Mitgliedstaaten375 – gezeigt. Außerdem denke man nur an die sowohl abgeschlossenen als auch anhängigen Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen aufgrund der dortigen bedenklichen und umfassenden Justizreformen,376 wegen denen Zweifel an der Unabhängigkeit der Gerichte (Art. 19 Abs. 1 EUV i. V. m. Art. 47 GrCh) bestehen, die ein elementarer Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist (Art. 2 EUV). Erst kürzlich hat der EuGH die Zwangspensionierung von Richtern in Polen für unionsrechtswidrig erklärt und 373

Böhm, in: Ahlbrecht / ​Böhm / ​Esser / ​Eckelmanns, Internationales Strafrecht, Rn.  1011; Satzger, NStZ 2016, 514. 374 S. hierzu Tinsley, EuCLR 2 (2012), 338. 375 So bestanden bspw. in der Republik Ungarn oder in Rumänien in jüngerer Zeit häufiger Bedenken bezüglich der Wahrung unionsrechtlicher Grundrechtsstandards in Bezug auf die dort herrschenden Haftbedingungen, vgl. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 53 ff.; OLG Bremen, 21. 9. 2018 – 1 AuslA 21/17 = BeckRS 2018, 26658 Rn. 16 ff. m. W. n.; s. insbes. auch EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709; s. hierzu Brodowski, JR 2016, 415, 417 f. 376 Zu den Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen aufgrund der dortigen neuen Disziplinarregelungen für Richter s. insbes. Brauneck, NVwZ 2018, 1423; Werner, DRiZ 2019, 202; zu den Justizreformen und den diesbzgl. rechtsstaatlichen Bedenken s. a. Voßkuhle, NJW 2018, 3154 ff.; vgl. auch Böhm, NStZ 2020, 204, 209 f.

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einen Verstoß Polens gegen die Verträge festgestellt.377 Dem lag zugrunde, dass das Pensionsalter für Richter am Obersten Gericht durch ein neues Gesetz für Männer von 70 auf 65 Jahre und für Frauen auf 60 Jahre gesenkt wurde, wodurch eine erhebliche Anzahl an Richtern zwangsweise frühzeitig pensioniert wurde.378 Am 3. 4. 2019 hat die Europäische Kommission ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet.379 Gegenstand des Verfahrens sind neue Disziplinarregelungen für Richter, nach denen Staatsanwälte und Laien über die Einhaltung der berufsrechtlichen Regelungen der richterlichen Tätigkeit befinden können und nach denen gegen Richter wegen des Inhalts ihrer Entscheidungen Disziplinarverfahren eingeleitet werden können und letztlich sogar Sanktionen unterworfen werden können. Dies betrifft sogar die Frage, ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV einzuleiten und dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen – was die richtliche Entscheidung diesbezüglich erheblich beeinträchtigen dürfte. Beispielweise hatten die Richter Ewa Maciejewska und Igor Tuleya auf der Grundlage des Art. 267 AEUV dem EuGH Fragen betreffend die Unabhängigkeit der Justiz in Polen vorgelegt und sind aufgrund dieser Entscheidung von Disziplinarbeauftragten einbestellt worden.380 In der Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 3. 4. 2019 wählte diese deutliche Worte: „Das Vorabentscheidungsverfahren –  Rückgrat der Rechtsordnung der Union  – kann nur funktionieren, wenn es den nationalen Gerichten in jeder Phase des Verfahrens freisteht, dem Europäischen Gerichtshof jede Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, die sie für erforderlich halten.“ Neben Vertragsverletzungsverfahren hat die Europäische Kommission gegen Polen sogar ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Art. 7 EUV eingeleitet.381 Gemessen an rechtsstaatlichen Grundsätzen erscheint es auch besonders bedenklich, dass mit der Änderung der Gerichtsverfassung in Polen durch das mittlerweile in Kraft getretene Gesetz vom 20. 12. 2019 Richter nur aufgrund ihrer Würdigung von Beweisen im Strafverfahren mit disziplinarischen Maßnahmen rechnen müssen.382 Auch deshalb hat die Europäische 377

EuGH, Urteil vom 5. 11. 2019 – C-192/18 (Rs. Europäische Kommission / ​Republik Polen) = NJW 2020, 527. Die Europäische Kommission hatte am 2. 7. 2018 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet, s. hierzu die Pressemitteilung der Europäischen Kommission v. 2. 7. 2018, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_18_4341 (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 378 EuGH, Urteil vom 5. 11. 2019 – C-192/18 (Rs. Europäische Kommission / ​Republik Polen) = NJW 2020, 527 ff.; vgl. hierzu Böhm, NStZ 2020, 204, 209 f. 379 S. die Pressemitteilung der Europäischen Kommission v. 3. 4. 2019, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_19_1957 (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 380 S. hierzu Werner, DRiZ 2019, 202, 204 f. 381 Vgl. hierzu https://www.europarl.europa.eu/news/de/agenda/briefing/2020-01-13/4/ rechtsstaatlichkeit-in-ungarn-und-polen-fortschritt-der-artikel-7-verfahren (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020); s. zudem Voßkuhle, EuGRZ 47 (2020), 165, 167 f. 382 Zu dieser Änderung s. insbesondere OLG Karlsruhe, 17. 2. 2020 – Ausl 301 AR 156/19 = BeckRS 2020, 1720 Rn. 15 ff. Das OLG Karlsruhe hat in diesem Beschluss erst kürzlich aufgrund der jüngsten Justizreformen in Polen die Auslieferungshaft gegen einen polnischen Staatsangehörigen aufgehoben, da es die Übergabe an Polen auf der Grundlage eines EuHb

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Kommission abermals ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet,383 das noch vor dem EuGH anhängig ist. Eine formale Bindung aller Mitgliedstaaten der EU an Unionsgrundrechte bedeutet also nicht zwingend, dass diese auch in jedem konkreten Einzelfall hinreichend Beachtung finden. Dies zu unterstellen würde zu einem „blinden“ Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten führen.384 So wünschenswert es auch ist, dass sich alle Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht stets an die Unionsgrundrechte der GrCh halten, so realitätsfremd ist diese Vorstellung auch. Ein formal weitreichender Individualrechtsschutz nützt nichts, wenn er nicht auch durchgesetzt werden kann. Daher stellt sich auch im Übergabeverfahren der Union die Frage, ob die im RbEuHb geregelten Ablehnungsgründe abschließend sind und eine Sperrwirkung bezüglich weiterer Ablehnungsgründe entfalten oder ob der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung durch einen ungeschriebenen Grundund Menschenrechtsvorbehalt weiter eingeschränkt und damit konkretisiert werden kann. Tatsächlich haben manche Mitgliedstaaten der EU einen allgemeinen europä­ ischen Grundrechtsvorbehalt für das Übergabeverfahren innerhalb der Union auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls installiert.385 Auch der deutsche Gesetzgeber hat sich bei Umsetzung des RbEuHb in nationales Recht durch die Implementierung des § 73 S. 2 IRG ausdrücklich für ein solches Auslieferungshindernis entschieden: § 73 S. 2 IRG erklärt die Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls für unzulässig, „wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen in Widerspruch stünde“. Trotz oder gerade wegen der Installation eines europäischen Grundrechtsvorbehalts im innerstaatlichen Recht ist die Frage nach einem solchen im Übergabeverfahren auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls in jüngerer Zeit ein ständiges Thema in der unionsrechtlichen und nationalen Judikatur gewesen.386 Damit ist im Folgenden der Frage nachzugehen, ob die Pflicht zur Anerkennung justizieller Entscheidungen des Ausstellungsmitgliedstaates und damit zur Vollals voraussichtlich unzulässig i. S. d. § 15 Abs. 2 IRG eingestuft hat und der Auslieferungshaftbefehl deshalb gem. § 24 Abs. 1 IRG aufzuheben war; vgl. hierzu auch https://www.lto.de/recht/ justiz/j/olg-karlsruhe-ausl301ar156-19-ausliefung-polen-faires-verfahren-justizreform/ (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020); https://rsw.beck.de/aktuell/meldung/olg-karlsruhe-zweifeltwegen-polnischer-justizreform-an-fairem-strafverfahren-bei-auslieferung-nach-polen (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 383 Vgl. die Pressemittteilung der Europäischen Kommission v. 29. 4. 2020, https://ec.europa. eu/germany/news/20200429-rechtsstaatlichkeit-polen-ungarn_de (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 384 S. bspw. Satzger, NStZ 2016, 514, 515 m. w. N. 385 So bspw. in Österreich in § 19 Abs. 4 EU-JZG, wonach „(D)ie Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (…) auf Grund von Einwänden der betroffenen Person abzulehnen (ist), wenn ihre Übergabe die in Art. 6 des Vertrags über die Europäische Union anerkannten Grundsätze verletzen würde“, s. hierzu Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 376. 386 S. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2).

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streckung der Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls auch dann besteht, wenn ein Verstoß gegen europäische Grundrechtsstandards (Art. 1 Abs. 3 RbEuHb i. V. m. Art. 6 EUV) ernsthaft zu befürchten ist. Für einen umfassenden unionsrechtlichen Grundrechtsschutz spricht insbesondere, dass dem primärrechtlich geregelten Art. 6 EUV Vorrang vor dem sekundärrechtlichen Rechtsakt des RbEuHb zukommt, sodass eine Übergabepflicht innerhalb der Union stets hinter den europäischen Individualrechtsschutz zurücktreten würde. Nichtsdestotrotz könnte dem Sekundärrecht jedoch auch eine Sperrwirkung dergestalt zukommen, dass kein weitergehender Individualrechtsschutz als der durch die Ablehnungsgründe im RbEuHb geregelte zu gewährleisten ist. Ausgangspunkt der Diskussion um einen europäischen Grundrechtsvorbehalt ist Art. 6 EUV, der von Art. 1 Abs. 3 RbEuHb ausdrücklich in Bezug genommen wird: „Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten“. Art. 6 EUV wiederum erhebt in seinem Abs. 1 die GrCh zum Primärrecht des Unionsrechts und ordnet in seinem Abs. 3 die durch die Mitgliedstaaten des Europarechts geschaffenen Garantien der EMRK den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Union zu. Die EMRK findet darüber hinaus insofern Berücksichtigung, als dass gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh den Grundrechten der GrCh die gleiche Bedeutung und Tragweite zukommt, wie sie denen der EMRK beigemessen wird, sodass der Schutzstandard der GrCh nicht unter den der EMRK abfällt. Aufgrund dessen ist eine eigenständige Betrachtung der innerstaatlichen Bindung an die Menschenrechte der EMRK allerdings nicht erforderlich: Wenn unionale Grundrechte der GrCh als Ablehnungsgrund fungieren können, dürfen diese jedenfalls nicht unter das Mindestgewährleistungsniveau der EMRK abfallen. (2) Die Rechtsprechung des EuGH zur Berücksichtigung unionaler Grundrechte Zu der Frage, ob die Ablehnungsgründe in Art. 3–4a RbEuHb abschließend sind oder ob daneben auch ein allgemeiner europäischer Grundrechtsvorbehalt als Ablehnungsgrund für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls greifen kann, hat der EuGH gerade in jüngster Zeit vermehrt Stellung bezogen und seine Rechtsprechung fortlaufend weiterentwickelt. Die wissenschaftliche Diskussion über grundrechtliche Grenzen eines Europäischen Haftbefehls und damit ebenso des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung in der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ist damit verstärkt geführt worden – und das trotz des einheitlichen Rechtsraums innerhalb der Union und des Postulats gegenseitigen Vertrauens in die Einhaltung rechtsstaalicher Grundsätze aller Mitgliedstaaten. Hierbei steht einerseits die Frage nach einem europäischen Grundrechtsvorbehalt, andererseits aber auch die Frage im Raum, ob es trotz des grundsätzlichen Anwendungsvorrangs

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von Unionsrecht nationale Grundrechte gibt, die einer Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls entgegenstehen und die Justizbehörden des Vollstreckungsstaats zur Ablehnung der Übergabe ermächtigen. (a) Strikte Ablehnung eines europäischen Grundrechtsvorbehalts In mehreren Verfahren387 hatte der EuGH bislang zu entscheiden, ob sich durch den Verweis des Art. 1 Abs. 3 RbEuHb auf Art. 6 EUV ein allgemeiner europäischer Grundrechtsvorbehalt ermitteln lässt, der den Vollstreckungsstaat zur Ablehnung der Überstellung des Verfolgten für den Fall berechtigt, dass die ernste Gefahr einer grundrechtswidrigen Behandlung im Ausstellungsstaat besteht. Trotz der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Åkerberg Fransson,388 Art. 51 Abs. 1 GrCh und damit den Anwendungsbereich der GrCh weit auszulegen und trotz des Postulats, dass keine denkbaren Fälle existierten, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass automatisch die GrCh anwendbar wäre (Anwendbarkeit von Unionsrecht = Anwendbarkeit der GrCh),389 hat der EuGH in zwei akademisch viel beachteten Entscheidungen im Jahre 2013 einen nicht explizit im RbEuHb normierten europäischen Ablehnungsgrund ausdrücklich zurückgewiesen und sich dabei insbesondere auf den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung justizieller Entscheidungen innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts berufen.390 In der Rechtssache Radu391 hatte der EuGH zu entscheiden, ob der über die Übergabe entscheidende Vollstreckungsstaat das Verfahren in dem Ausstellungsstaat am Maßstab der GrCh prüfen und die im konkreten Fall bestehenden vier Europäischen Haftbefehle trotz des Fehlens eines entsprechenden Ablehnungsgrundes im RbEuHb ablehnen darf, sofern die grundrechtliche Behandlung dem unionsrechtlichen Maßstab nach erfolgter Übergabe (voraussichtlich) nicht genügt. Konkret hatte ein rumänisches Gericht dem EuGH die Frage vorgelegt, ob der Vollstreckungsmitgliedstaat überhaupt prüfen dürfe, ob die durch die GrCh und die EMRK garantierten Grundrechte im Ausstellungsstaat gewährleistet seien und bei Bejahung der Frage, ob es dann bei nicht hinreichendem Grundrechtsschutz die Übergabe ablehnen dürfe. 387

EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019  – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018  – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018  – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161; EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709; EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-399/11 (Rs. Melloni) = NJW 2013, 1215; EuGH, Urteil vom 29. 1. 2013 – C-396/11 (Rs. Radu) = NJW 2013, 1145. 388 EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-617/10 (Rs. Åkerberg Fransson) = NJW 2013, 1415. 389 Vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. c) bb). 390 Ein Überblick hierzu findet sich bei: Vogel, StV 33 (2013), Editorial I. 391 EuGH, Urteil vom 29. 1. 2013 – C-396/11 (Rs. Radu) = NJW 2013, 1145.

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Die Generalanwältin Sharpston hatte in dieser Rechtssache noch versucht, den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung durch einen europäischen Grundrechtsvorbehalt zu begrenzen und zu konkretisieren, indem sie auf den Verweis auf Art. 6 EUV in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb und auch auf die Erwägungsgründe 10, 12 und 13 zum RbEuHb Bezug genommen hat.392 Gleichwohl hat der EuGH einen solchen Vorbehalt zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich zurückgewiesen und darauf abgestellt, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ausschließlich aus den in Art. 3–4a RbEuHb normierten Ablehnungsgründen verweigert werden dürfe.393 Hiermit hat der EuGH einer weiteren Konkretisierung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung durch einen ungeschriebenen grundrechtlichen Ablehnungsgrund eine Absage erteilt. In seiner zweiten wegweisenden Entscheidung aus dem Jahre 2013 hat der EuGH in der Rechtssache Melloni394 diese vorangegangene Rechtsprechung aufgegriffen und ist dabei sogar noch einen Schritt weiter gegangen: Nicht nur eine Prüfung des Verfahrens in dem Ausstellungsstaat am Maßstab der GrCh dürfe nicht erfolgen, auch über die Garantien der GrCh hinausgehendes weiterreichendes nationales Verfassungsrecht dürfe nicht als Beurteilungsmaßstab herangezogen werden.395 Konkret hatte ein spanisches Gericht dem EuGH die Frage vorgelegt, ob es eine Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls an die Voraussetzung knüpfen darf, dass dem Betroffenen Melloni in Italien ein Rechtsmittel gegen seine Verurteilung offenstehen wird. Ein Urteil war zu diesem Zeitpunkt bereits ergangen: Melloni war in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt worden.396 Auch hier hat der EuGH in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nicht nur die Ablehnungsgründe im RbEuHb abschließend seien, sondern auch die in Art. 5 RbEuHB genannten Gründe für das Anknüpfen einer Bedingung an die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abschließenden Charakter aufweisen.397 Der EuGH wandte hierbei seine in der Rechtssache Åkerberg Fransson entwickelten Grundsätze an, dass nationale Verfassungsrechte, die das Schutzniveau der Unionsgrundrechte übersteigen, im Anwendungsbereich von Unionsrecht nur unter der Voraussetzung Geltung finden, dass dies den „Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts“ nicht beeinträchtige.398 Im kon-

392

S. den Schlussantrag der Generalanwältin Sharpston v. 18. 10. 2012, C-396 (Rs. Radu) = BeckEuRS 2012, 690201 Rn. 37 ff. 393 EuGH, Urteil vom 29. 1. 2013 – C-396/11 (Rs. Radu) = NJW 2013, 1145, 1147 Rn. 36 ff. 394 EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-399/11 (Rs. Melloni) = NJW 2013, 1215. 395 EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-399/11 (Rs. Melloni) = NJW 2013, 1215, 1219 Rn. 59 ff. 396 EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-399/11 (Rs. Melloni) = NJW 2013, 1215. 397 EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-399/11 (Rs. Melloni) = NJW 2013, 1215, 1217 Rn. 38 ff. 398 EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-617/10 (Rs. Åkerberg Fransson) = NJW 2013, 1415, 1416 Rn. 29; EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-399/11 (Rs. Melloni) = NJW 2013, 1215, 1219 Rn. 60.

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kreten Fall stünden nationale Grundrechte einer solchen effektiven Wirksamkeit des Unionsrechts allerdings entgegen.399 Sowohl in der Rechtssache Radu als auch in der Rechtssache Melloni kam der EuGH deshalb zu dem Ergebnis, dass ein Ablehnungsgrund jenseits der normierten Ablehnungsgründe im RbEuHb nicht existiert, die Aufzählung von Ablehnungsgründen im RbEuHb somit abschließend sei und der RbEuHb insgesamt insbesondere unter Berücksichtigung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung einen einheitlichen und ausreichenden Grundrechtsstandard gewährleiste. Eine weitergehende Berufung auf nationale oder europäische Grund- und Menschenrechte im Übergabeverfahren des Europäischen Haftbefehls war nach dieser Rechtsprechung des EuGH unzulässig. Der Auszuliefernde war hiernach auch dann an den Ausstellungsstaat zu übergeben, wenn ernste Befürchtungen bestanden, dass der Auszuliefernde im Ausstellungsstaat einer an europäischen Grundrechten gemessen grundrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt wird. (b) Ansätze eines europäischen Grundrechtsvorbehalts Diese starre und ein immerwährendes Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten fordernde Rechtsprechung der Ablehnung eines jenseits der Art. 3 ff. RbEuHb existierenden Ablehnungsgrundes bei grundrechtlichen Bedenken hat der EuGH seit dem Jahre 2016 zaghaft wieder aufgegeben. Seitdem diskutiert der EuGH eine mögliche Ablehnung der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen in Fällen, in denen im Kern ein Eingriff in die Menschenwürde des zu Überstellenden droht oder die Gefahr besteht, dass rechtsstaatliche Grundsätze im Wesentlichen nicht gewahrt werden.400 (aa) Die Gefahr des Verstoßes gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung Erst 2016 hat der EuGH eine überraschende aber erfreuliche Wende seiner bisherigen Rechtsprechung eingeläutet. Diese lässt darauf schließen, dass die Luxemburger Richter darum bemüht waren, eine Auseinandersetzung mit nationalen Gerichten zu umgehen: Auf Vorlage des OLG Bremen401 entschied der EuGH in den verbundenen Rechtssachen Pál Aranyosi und Robert Căldăraru zu Gunsten 399

EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-399/11 (Rs. Melloni) = NJW 2013, 1215, 1219 Rn. 63. Vgl. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161; EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709. 401 OLG Bremen, 8. 12. 2015 – 1 Ausl. A 23/15 = BeckRS 2016, 1193. 400

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eines (eingeschränkten) europäischen Grundrechtsvorbehalts.402 Konkret ging es um Europäische Haftbefehle aus Ungarn bzw. aus Rumänien: Die Europäischen Haftbefehle zur Strafverfolgung aus Ungarn gegen Herrn Aranyosi ergingen erstens wegen des mutmaßlichen Eindringens in ein Wohnhaus und eines mutmaßlichen Diebstahls in Ungarn und zweitens wegen des unbefugten Einstiegs durch ein Fenster in eine Schule in Ungarn und dabei erfolgter Sachbeschädigung. In der zweiten Rechtssache erging ein Europäischer Haftbefehl gegen den rumänischen Staatsangehörigen Herrn Căldăraru zum Zwecke der Strafvollstreckung. Er wurde am 16. 4. 2015 von einem Gericht erster Instanz wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. Diese Verurteilung wurde im Anschluss an ein Urteil des zuständigen Berufungsgerichts vom 15. 10. 2015 rechtskräftig. Am 29. 10. 2015 erließ ein Gericht erster Instanz in Ungarn gegen Herrn Căldăraru einen Europäischen Haftbefehl. In beiden Fällen brachten die Betroffenen vor, dass die Haftbedingungen in Ungarn bzw. in Rumänien nicht den völkerrechtlichen Mindeststandards entsprechen und eine Inhaftierung den Anforderungen des Art. 3 EMRK sowie den Grundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, widersprächen.403 Für den Fall eines drohenden Verstoßes gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung im Ausstellungsstaat sieht der RbEuHb jedoch keinen ausdrücklichen Ablehnungsgrund vor.404 Erstmals entschied der EuGH, dass die Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ausnahmsweise auch außerhalb eines der Ablehnungsgründe der Art. 3–4a RbEuHb aufzuschieben405 sei. Dies könne jedoch nur unter außergewöhnlichen Umständen Geltung beanspruchen. Denn grundsätzlich habe der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens eine fundamentale Bedeutung und es sei davon auszugehen, „dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten“.406 Beachtenswert ist, dass der EuGH auch hier noch daran festgehalten hat, dass ernste Bedenken bezüglich einer 402

EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709. 403 EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1710; vgl. hierzu Satzger, NStZ 2016, 514, 519 f. 404 Vgl. zu den im RbEuHb normierten Ablehnungsgründen Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (1). 405 EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1713 Rn. 98: „Stellt die vollstreckende Justizbehörde … fest, dass für die Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in dem in Rn. 94 des vorliegenden Urteils angesprochenen Sinne besteht, ist die Vollstreckung des Haftbefehls aufzuschieben, aber nicht aufzugeben.“ 406 EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1711 Rn. 78. Die fundamentale Bedeutung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten der EU hatte der EuGH bereits in seinem Gutachten über die Möglichkeit eines Beitritts der EU zur EMRK vom 18. 12. 2014 betont und eine Einschränkung nur unter „außergewöhnlichen Umständen“ zugelassen, s. EuGH, Urteil vom 18. 12. 2014 (Gutachten 2/13) = JZ 70 (2015), 773, 777 Rn. 191.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

grundrechtskonformen Behandlung des zu Übergebenden keinen Ablehnungsgrund jenseits der Art. 3 ff. RbEuHb darstellen, sondern lediglich die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls aufschieben können.407 Er hat damit wohl bewusst davon abgesehen, Art. 1 Abs. 3 RbEuHb zu einem allgemeinen unionsrechtlichen Grundrechtsvorbehalt beim Europäischen Haftbefehl zu erheben. Voraussetzung für einen Aufschub der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sei eine zweistufige Prüfung: In einem ersten Schritt sei zu prüfen, ob abstrakt eine echte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GrCh im Ausstellungsstaat drohe, es also Anhaltspunkte für allgemeine oder systemische Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsstaat gebe.408 Entsprechende Anhaltspunkte könnten sich insbesondere aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des EGMR, aus Entscheidungen von Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats oder aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben“.409 Der EuGH hob in der konkreten Rechtssache besonders hervor, dass es sich bei Art. 4 GrCh um ein absolutes Unionsgrundrecht handelt, das keiner Einschränkung zugänglich ist und daher einen absoluten Vorrang genieße.410 Dies begründete er insbesondere mit dem engen Bezug des in Art. 4 GrCh aufgestellten Verbots von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung zur Menschenwürde, deren Unantastbarkeit in Art. 1 GrCh verbürgt wird.411 Das Vorliegen allgemeiner oder systemischer Mängel der Haftbedigungen und damit eine abstrakte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GrCh im Ausstellungsstaat allein sei jedoch nicht ausreichend.412 In einem zweiten Schritt müsse auch im konkreten Fall überprüft werden, ob es objektiv ernsthafte und durch Tatsachen belegte Gründe für die Annahme gibt, dass auch der zu Übergebende einer solchen Gefahr im Ausstellungsstaat nach erfolgter Übergabe ausgesetzt sein wird.413 Hierfür habe die über die Übergabe entscheidende Behörde auch weitere Informationen i. S. d. Art. 15 Abs. 2 RbEuHb einzuholen, zu deren Preisgabe der Ausstellungsstaat auch innerhalb einer kurz bemessenen

407

EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1711 ff. Rn. 80, 98. 408 EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 88. 409 EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 89. 410 EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 84 ff.; zur Begründung des absoluten Charakters hat der EuGH bemerkenswerterweise insbesondere auf Art. 3 EMRK abgestellt. 411 EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 85. 412 EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 91. 413 EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 92 ff.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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Frist verpflichtet sei.414 Erst wenn eine solche konkrete Gefahr feststehe, dürfe die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls vorerst aufgeschoben werden. Da über die Übergabe innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden ist,415 läuft dies de facto letztendlich allerdings auch auf einen Ablehnungsgrund hinaus, wenn der Ausstellungsmitgliedstaat keine entlastenden Tatsachen vorbringt.416 Eine Konkretisierung fand diese Rechtsprechung in der Entscheidung des EuGH vom 25. 7. 2018.417 Auch hier stand erneut eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung des Betroffenen ungarischen Staatsangehörigen ML in Gefängnissen im Ausstellungsstaat Ungarn im Raum, die Bedenken bezüglich der Zulässigkeit der Übergabe hervorriefen. Auch hier betonte der EuGH zunächst, dass grundsätzlich eine Übergabe nur aus den in Art. 3 ff. RbEuHb normierten Ablehnungsgründen abgelehnt werden dürfe,418 die für den Fall einer drohenden Verletzung von Art. 4 GrCh aufgrund des gegenseitigen Vertrauens und des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung jedoch keinen Ablehnungsgrund vorsehen.419 Ausnahmsweise könnten unter „außergewöhnlichen Umständen“ allerdings Einschränkungen des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung vozunehmen sein: Hierfür stellte er abermals auf seine in den verbundenen Rechtssachen Pál Aranyosi und Robert Căldăraru entwickelte zweistufige Prüfung ab und präzisierte seine vorherigen Aussagen in zweierlei Hinsicht: Zunächst betonte der EuGH, dass allein die Möglichkeit des Verfolgten, nach seiner Übergabe an den Ausstellungsstaat dort Rechtsschutzmöglichkeiten nutzen zu können, eine Gefahr der unmenschlichen Behandlung nicht ausschließen könne.420 Bezüglich der Haftbedingungen im Ausstellungsstaat betonten die Luxemburger Richter, dass diese jedenfalls die Wahrung der Menschenwürde gewährleisten müssten.421 Im Übrigen stellte er fest, dass die nach Art. 15 Abs. 2 RbEuHb einzuholenden Informationen die Schnelligkeit des Übergabeverfahrens nicht unterlaufen dürfen.422 (bb) Die Gefahr des Verstoßes gegen das Recht auf ein faires Verfahren Am gleichen Tag wie in der Rechtssache ML hatten die Luxemburger Richter erneut die Möglichkeit, zu der Frage eines europäischen Grundrechtsvorbehalts 414

EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1713 Rn. 97. 415 Die Fristen richten sich nach Art. 17 RbEuHb, vgl. hierzu Kapitel 2 Fn. 349, 350. 416 Dies schwingt auch in der Entscheidung mit: EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1713 Rn. 104; anders jedoch Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 451 ff. 417 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161. 418 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161, 3163 Rn. 54 f. 419 Vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (1). 420 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161, 3164 f. Rn. 72 ff. 421 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161, 3166 Rn. 90 ff. 422 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161, 3167 Rn. 101 ff.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Stellung zu beziehen – und zwar erstmalig abseits einer drohenden unmenschlichen Behandlung im Ausstellungsstaat: In der Rechtssache LM423 entschied der EuGH für den Fall eines im Raum stehenden unfairen Verfahrens i. S. d. Art. 47 Abs. 2 GrCh, dass Bedenken diesbezüglich unter Umständen sogar zu einem Ablehnungsgrund führen können, sodass eine Überstellung in den Ausstellungsstaat zwingend abzulehnen ist. Anders als in den Rechtssachen Pál Aranyosi und Robert Căldăraru stand ein Ablehnungsgrund also nicht aufgrund von Bedenken bezüglich der Wahrung eines absoluten, sondern aufgrund von Bedenken bezüglich der Wahrung eines einschränkbaren – aber für die Rechtsstaatlichkeit i. S. d. Art. 2 EUV elementaren – Unionsgrundrechts zur Diskussion. In casu ging es um drei Europäische Haftbefehle, die von polnischen Gerichten ausgestellt worden waren und die Festnahme und Übergabe des Verfolgten LM an die polnischen Justizbehörden zur Strafverfolgung u. a. wegen unerlaubten Handelns mit Betäubungsmitteln bezweckten. Der Verfolgte LM wurde daraufhin in Irland verhaftet und in Übergabehaft genommen. Er widersprach einer Übergabe an Polen und begründete dies insbesondere damit, dass er durch eine Übergabe an Polen der Gefahr einer gegen Art. 6 EMRK verstoßenden Rechtsverweigerung ausgesetzt würde, sodass sein Recht auf ein faires Verfahren in Polen nicht gewährleistet sei.424 Dies sei vor dem Hintergrund der jüngsten gesetzgeberischen Justizreformen in Polen zu sehen, aufgrund derer sogar auf den begründeten Vorschlag der Kommission vom 20. 12. 2017425 hin ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV eingeleitet worden war. Für den Fall der drohenden Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren sieht der RbEuHb jedoch keinen Ablehnungsgrund vor, wenn diese auf einer mangelnden Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsstaat beruht.426 Auch in dieser Rechtssache betonte der EuGH abermals, dass die Ablehnungsgründe im RbEuHb abschließend seien, schränkte diese Aussage jedoch sogleich wieder ein, indem er ausdrücklich darauf hinwies, dass unter außergewöhnlichen Umständen eine weitere Einschränkung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung erforderlich sei.427 Zur Präzisierung dieser außergewöhnlichen Umstände griff der EuGH auf das in den Rechtssachen Pál Aranyosi und Robert Căldăraru entwickelte zweistufige Verfahren zurück: In einem ersten Schritt müsse die über die Übergabe entscheidende Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats bei Bestehen objektiver und zuverlässiger Anhaltspunkte prüfen, ob eine echte Gefahr der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 47 Abs. 2 GrCh besteht, die auf allgemeinen oder systemischen Mängeln in Bezug auf die Unab-

423

EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396. EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 397 Rn. 16. 425 COM (2017) 835 final. 426 Vgl. zu den im RbEuHb normierten Ablehnungsgründen Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (1). 427 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 399 Rn. 41 ff. 424

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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hängigkeit der Justiz in dem Ausstellungsstaat beruhe.428 In einem zweiten Schritt sei zu prüfen, ob auch der zu Übergebende einer solchen Gefahr bei Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat konkret ausgesetzt sei. Dies gelte selbst dann, wenn gegen den Ausstellungsmitgliedstaat ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren i. S. d. Art. 7 Abs. 1 EUV eingeleitet worden sei, solange noch keine Feststellung des Europäischen Rats i. S. d. Art. 7 Abs. 2 EUV vorliege, dass im Ausstellungsmitgliedstaat eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte vorliege.429 Auf den zweiten Schritt könne ausschließlich unter der Voraussetzung verzichtet werden, dass ein schwerwiegender und anhaltender Verstoß gegen die in Art. 2 EUV benannten Werte durch den Europäischen Rat einstimmig i. S. d. Art. 7 Abs. 2 EUV festgestellt worden sei.430 Hervorzuheben ist, dass der EuGH hier erstmals ausdrücklich betont hat, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat bei Vorliegen allgemeiner systemischer Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat, die zu einer konkreten Gefahr für das Recht auf ein faires Verfahren für den zu Übergebenden führen, von einer Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls absehen muss.431 Hierdurch hat der EuGH festgehalten, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Ausnahmefällen zwingend abzulehnen (und nicht bloß aufzuschieben) ist. Der EuGH hat damit erstmals ausdrücklich einen Ablehnungsgrund im Falle der Unterschreitung unionsrechtlicher Grundrechtsstandards neben den Ablehnungsgründen des RbEuHb ausdrücklich zugelassen. Zudem hat der EuGH seine bisherige Rechtsprechung432 sogar auf einschränkbare Unionsgrundrechte erweitert. Als Begründung für einen Ablehnungsgrund hat der EuGH nicht – wie vom Betroffenen LM angeführt – an Art. 6 EMRK angeknüpft, sondern an Art. 52 Abs. 1 GrCh i. V. m. Art. 47 Abs. 2 GrCh und damit an den Wesensgehalt unionaler 428

EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 401 Rn. 61. 429 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 402 Rn. 72. 430 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 402 Rn. 69 ff. 431 Hieran anknüpfend hat das OLG Karlsruhe (Beschluss vom 17. 2. 2020 – Ausl 301 AR 156/19 = BeckRS 2020, 1720) erst kürzlich die Auslieferungshaft nach § 15 Abs. 2 i. V. m. § 24 Abs. 1 IRG aufgehoben, da es in einer Prognoseentscheidung die Überstellung eines polnischen Staatsangehörigen auf der Grundlage eines EuHb wegen der derzeitigen Justizreformen in Polen (vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (1)) als derzeit unzulässig bewertet hat und die polnischen Justizbehörden um nähere Informationen bezüglich der Auswirkungen der Justizreformen auf das konkrete Verfahren ersucht hat; vgl. hierzu insbes. die Pressemitteilung des OLG Karlsruhe vom 9. 3. 2020, abrufbar unter: https://oberlandesgericht-karlsruhe.justiz-bw. de/pb/,Lde/6096769/?LISTPAGE=1149727 (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020) und diesbezügliche Urteilsanmerkung von Oehmichen, FD-StrafR 2020, 427866; eine solche Prognoseentscheidung kann allerdings auch zur Zulässigkeit der Auslieferungshaft führen, solange der Europäische Rat keinen Beschluss i. S. d. Art. 7 Abs. 2 EUV getroffen hat, vgl. auch OLG Brandenburg, 18. 8. 2020 – 2 AR 16/20 = BeckRS 2020, 20879; KG, 3. 4. 2020 – (4) 151 AuslA 201/19 (234/19) = BeckRS 2020,14760. 432 Vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (b) (aa).

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Grundrechte. Obwohl der EuGH zwar keine klaren Kriterien nennt, ob erforder­ liche Voraussetzung für einen Ablehnungsgrund über Art. 3 ff. RbEuHb hinaus die Verletzung des Wesensgehalts unionaler Grundrechte ist, haben die Luxemburger Richter durch die Bezugnahme auf die GrCh ein deutliches Zeichen der Selbstständigkeit des Unionsrechts gesetzt und ein Einfallstor für die Begründung weiterer unionsgrundrechtlicher Ablehnungsgründe eröffnet. Nach dieser Rechtsprechung unterbleibt eine Prüfung der Behandlung des zu Übergebenden nach erfolgter Übergabe anhand des Unionsrechts grundsätzlich. Bestehen im Einzelfall allerdings Anhaltspunkte dafür, dass nicht nur eine allgemeine, sondern im konkreten Fall auch für den Einzelnen eine ernsthafte Gefahr besteht, dass unzulässigerweise in den Wesensgehalt des fairen Verfahrens eingegriffen wird, ist die Übergabe abzulehnen. Der EuGH gestattet eine Ablehnung der Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls unter den Voraussetzungen, dass allgemeine systemische Mängel bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz vorliegen, die auch eine konkrete Gefahr eines Verstoßes gegen das Recht auf ein Verfahren für den zu Übergebenden begründen. Von dem zweiten Erfordernis kann hiernach abgesehen werden, wenn eine Feststellung des Europäischen Rats nach Art. 7 Abs. 2 EUV vorliege. Im Fall des Vorliegens allgemeiner systemischer Mängel bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz stellt der EuGH gundsätzlich auf das innerhalb der EU bestehende gegenseitige Vertrauen in die Einhaltung unionaler Grundrechte ab und erlaubt eine Prüfung der Wahrung dieser Standards nur dann, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Wesensgehalt einzelner Grundrechtsgarantien der GrCh nach Art. 52 Abs. 1 GrCh nicht gewahrt wird. Dies soll insbesondere dann der Fall sein, wenn die richterliche Unabhängigkeit im Ausstellungsstaat in Frage steht.433 Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache LM deutet damit an, dass im Anwendungsbereich der GrCh jede ernsthafte Gefahr für den Wesensgehalt eines Unionsgrundrechts i. S. d. Art. 52 Abs. 1 GrCh434 potenziell als Grenze gegenseitigen Vertrauens einzustufen ist. Ob der EuGH dies auch für die weiteren Unionsgrundrechte so beurteilen würde, bleibt abzuwarten. (cc) Die Chance des EuGH zur Entwicklung echter Mindeststandards in Bezug auf Art. 4 GrCh Erst kürzlich hat der EuGH in der Rechtssache Dorobantu435 wiederholt zu Gunsten eines europäischen Grundrechtsvorbehalts im Übergabeverfahren innerhalb der EU wegen Bedenken bezüglich der Wahrung unionaler Mindeststandards in Bezug auf das absolute Unionsgrundrecht des Art. 4 GrCh Stellung bezogen. Er 433

EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 400 Rn. 48. Vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c). 435 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468. 434

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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hat im Kern die drohende Verletzung der Menschenwürde aufgrund menschenunwürdiger Haftbedingungen im Ausstellungsstaat als Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls anerkannt.436 In der Sache stand die Übergabe des Rumänen Dumitru-Tudor Dorobantu an Rumänien auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls des Amtsgerichts Medgidia vom 12. 8. 2016 zum Zwecke der Strafverfolgung wegen Vermögens- und Urkundsdelikten im Raum. Dieser Europäische Haftbefehl ist, nachdem der Betroffene in Rumänien zwischenzeitlich in Abwesenheit verurteilt worden war, aufgehoben und am 1. 8. 2018 durch einen neuen Europäischen Haftbefehl des Amtsgerichts Medgidia zur Strafvollstreckung ersetzt worden.437 Das für die Überprüfung der Zulässigkeit der Überstellung des Betroffenen Herrn Dorobantu zuständige OLG Hamburg hatte zunächst positiv über die Übergabe entschieden, obwohl in Rumänien teilweise lediglich 2 m² Haftraum inklusive Mobiliar zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe zur Verfügung stehen und deshalb ein Eingriff in die Menschenwürde des Herrn Dorobantu zu befürchten war.438 Gegen diese Beschlüsse vom 3. und 19. 1. 2017439 legte Herr Dorobantu eine Verfassungsbeschwerde ein und begründete dies mit einer Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG. Das BVerfG verwies die Rechtssache daraufhin an das OLG zurück. Es stellte dabei entgegen der Rüge des Beschwerdeführers440 allerdings nicht auf eine mögliche Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG ab. Vielmehr sah es in Ermangelung hinreichender unionsgrundrechtlicher Standards in Bezug auf die Haftbedingungen die Vorlage an den EuGH als erforderlich an und ging deshalb im konkreten Fall von einem Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG aus.441 Daraufhin legte das OLG Hamburg Anfang Februar 2018 die entsprechende Vorlage zur Vorabentscheidung dem EuGH vor.442 Die Vorlagefragen des OLG Hamburg betreffen vor allem die Auslegung des Art. 4 GrCh in Bezug auf die unionalen Mindestanforderungen – insbesondere inwiefern Art. 4 GrCh unter Rückgriff auf Art. 3 EMRK und die 436

EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 85. Die Vorlagefragen an den EuGH wurden dennoch aufrechterhalten, s. hierzu EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 37; zur „Ersetzung“ eines EuHb durch einen anderen und dem Erfordernis, den ersten EuHB für hinfällig zu erklären und ein neues Übergabeverfahren einzuleiten, da der zweite EuHb eine neue justizielle Entscheidung i. S. d. Art. 1 Abs. 1 RbEuHb darstellt, s. den Schlussantrag des Generalanwalts Sánchez-Bordona v. 30. 4. 2019, C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 7196 Rn. 24 ff. 438 Vgl. hierzu Oehmichen, FD-StrafR 2018, 405297. 439 OLG Hamburg, 3. 1. 2017  – Ausl 81/16 = BeckRS 2017, 100229; OLG Hamburg, 19. 1. 2017  – Ausl 81/16. Der zweite Beschluss bestätigte die Zulässigkeit der Auslieferung nach Berücksichtigung ergänzend vorgelegter Unterlagen. 440 BVerfGE 147, 364, 375 Rn. 26. 441 BVerfGE 147, 364, 378 f. Rn. 36 f. Das BVerfG verwies hierbei ausdrücklich auf die Unvollständigkeit der Rspr. des EuGH in Bezug auf unionale Mindeststandards (vgl. Rn. 49 in den Urteil) und hielt sich insofern mit der Aktivierung einer nationalen Identitätskontrolle zurück, s. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (3) (b). 442 OLG Hamburg, 8. 2. 2018 – Ausl 81/16 = BeckRS 2018, 6930. 437

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Rechtsprechung des EGMR hierzu auszulegen ist  – und die Intensität und den Umfang der Prüfung des über die Übergabe entscheidenden Gerichts, die für den Nachweis systemischer Mängel erforderlich sind. Auch in dieser Rechtssache nimmt der EuGH zunächst Bezug auf seine seit den Rechtssachen Pál Aranyosi und Robert Căldăraru entwickelte Rechtsprechung zur Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgrund eines nicht im RbEuHb geregelten Ablehnungsgrundes.443 Dabei formuliert der EuGH seine Grundsatz-Ausnahme-Regel sehr klar und findet sehr deutliche Worte zum Verhältnis von Vollstreckung und Ablehnung in Bezug auf den Europäischen Haftbefehl: Er betont ausdrücklich, dass die „Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (…) den Grundsatz dar(stellt), während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist.“444 Wiederum verweist der EuGH darauf, dass deshalb nur unter „außergewöhn­ lichen Umständen“ eine Einschränkung der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens möglich ist.445 Sodann hält er unter Bezugnahme auf seine vorhergehende Rechtsprechung fest, dass das Übergabeverfahren unter Umständen beendet werden muss.446 Überraschenderweise verweist der EuGH hierbei nicht nur auf seine Entscheidung in der Rechtssache LM,447 in der er eine Ablehnungsverpflichtung in Ausnahmefällen tatsächlich statuiert hatte,448 sondern auch auf die Entscheidungen in den Rechtssachen Pál Aranyosi und Robert Căldăraru449 und auf die Rechtssache ML,450 obwohl die Luxemburger Richter in den beiden zuletzt genannten Entscheidungen noch keine so deutliche Formulierung finden konnten.451 Diese deutliche Klarstellung der Ablehnungsverpflichtung in eng begrenzten Fällen ist begrüßenswert. Da es im konkreten Fall um die Gefahr menschenunwürdiger Haftbedingungen in Rumänien ging, knüpft der EuGH für eine mögliche Ablehnung der Übergabe an eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i. S. d.

443

Der EuGH verweist auch hier zunächst darauf, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruhe, dass alle Mitgliedstaaten den Werten des Art. 2 EUV unbedingt verpflichtet sind und dass diese Tatsache das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten rechtfertige, EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 45. 444 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 48. 445 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 49. 446 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 50. 447 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396. 448 Vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (b) (bb). 449 EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709. 450 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161. 451 So sprach der EuGH in den Rechtssachen Pál Aranyosi und Robert Căldăraru insbesondere noch von einem „Aufschub“ des EuHb und nicht von einem Ablehnungsgrund, vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (b) (aa).

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

171

Art. 4 GrCh nach erfolgter Übergabe an452 – und damit wiederholt an ein absolutes Unionsgrundrecht. Für die Feststellung einer Gefahr einer grundrechtswidrigen Behandlung zieht er seine bereits dargelegte zweistufige Prüfung heran.453 Nach den Vorbemerkungen äußert sich der EuGH zunächst zur Intensität und zum Umfang der Prüfung der Haftbedingungen für die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaates und damit zu den Anforderungen an den Nachweis einer drohenden Grundrechtsverletzung: Hierbei verweist der EuGH darauf, dass Art. 4 GrCh gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh die gleiche Bedeutung und Tragweite zukomme wie Art. 3 EMRK.454 Dementsprechend sei auch im Rahmen des Art. 4 GrCh eine Gesamtwürdigung der maßgeblichen Haftbedingungen vorzunehmen.455 Denn Art. 4 GrCh sei absolut und eine Beschränkung der Prüfung auf offensichtliche Unzulänglichkeiten der jeweiligen Haftbedingungen würde der von Art. 4 GrCh geforderten Achtung der Menschenwürde nicht gerecht.456 Da für eine Ablehnungsverpflichtung jedoch auch eine konkrete Gefahr für den Betroffenen erforderlich sei, müssten nicht alle Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaates überprüft werden, in denen der Betroffene inhaftiert werden könnte.457 Zu diesem Zweck müsse die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde nach Art. 15 Abs. 2 RbEuHb um die Übermittlung von Informationen zu den im konkreten Fall zu erwartenden Haftbedigungen bitten.458 Liege eine Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaates vor, dass der Betroffene – unabhängig von der Haftanstalt – einer Behandlung ausgesetzt sein wird, die keinen Verstoß gegen das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung darstellt, müssten die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaates hierauf vertrauen, solange keinen gegenteiligen Anhaltspunkte vorlägen.459 Erst danach bezieht der EuGH Stellung zu den Mindestanforderungen, die unionsrechtlich an Art. 4 GrCh zu stellen sind. Dabei verweist er darauf, dass seine weiteren Ausführungen nur für die Inhaftierung in Gemeinschaftszellen gelten.460 Der EuGH greift zur Bestimmung der die Menschenwürde achtenden

452

EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 51. Auch hier stellt er wieder nicht auf Art. 19 Abs. 2 GrCh ab, vgl. hierzu Kapitel 2 D. III. 453 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019  – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 52 ff.; zur zweistufigen Prüfung vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (b) (aa). 454 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019  – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 58. 455 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 61. 456 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019  – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 62 ff. 457 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019  – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 63 ff. 458 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 67. 459 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 68. 460 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 70.

172

Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Haftbedingungen auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK zurück461 und begründet dies einerseits damit, dass Art. 4 GrCh gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh die gleiche Bedeutung und Tragweite zukäme wie Art. 3 EMRK in der Rechtsprechung des EGMR. Andererseits führt er als Begründung an, dass „im Unionsrecht gegenwärtig keine Mindestvorschriften“ existieren,462 anstatt dies zum Anlass zu nehmen, weitergehende unionale Mindeststandards zu setzen oder die unionalen Standards auf die des Art. 3 EMRK in der Rechtsprechung des EGMR zu beschränken. In Bezug auf die Ausgestaltung unionaler Mindestgrundrechtsstandards des Art. 4 GrCh sind die Ausführungen des EuGH daher enttäuschend.463 Erfreulicherweise hat der EuGH auf die Frage des OLG, ob eine Abwägung zwischen einer echten Gefahr für eine konkrete unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit vorgenommen werden darf, den absoluten Charakter von Art. 4 GrCh betont und festgehalten, dass es ausgeschlossen ist, „dass das Grundrecht (…) in irgendeiner Weise durch derartige Erwägungen beschränkt wird.“464 (c) Bewertung Der EuGH sichert gem. Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Da die GrCh gem. Art. 6 Abs. 1 EUV zum Primärrecht der Union zählt, ist auch ausschließlich der EuGH dafür zuständig, den unionsrechtlichen Mindestgrundrechtsschutz zu definieren.465 Dieser Aufgabe ist der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht hinreichend nachgekommen. Das vom EuGH postulierte zweistufige Verfahren umfasst erstens die allgemeinen Grundrechtsstandards und zweitens die Voraussetzungen eines hinreichenden Nachweises einer konkreten Grundrechtsgefährdung für den Betroffenen im Falle der Übergabe. Letzteres stellt die Voraussetzungen einer Zurechenbarkeit einer drohenden Grundrechtsverletzung an die Justizbehörden des ersuchten Staates dar.

461

EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 71. Hierbei verweist er insbesondere auf ein neueres Urteil, in dem der EGMR sich näher mit der erforderlichen Größe einer Haftzelle befasst hat: EGMR, Urteil vom 20. 10. 2016 – Nr. 7334/13 (Mursic / ​Kroatien) = BeckRS 2016, 121215. 462 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 71. Diese Vorgehensweise wiederholt der EuGH in Bezug auf die Berechnung der Raumgröße einer Haftzelle, s. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 77. 463 Vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c). 464 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 82. 465 S. hierzu Swoboda, ZIS 2018, 276; dies auch anerkennend: BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 205 Rn. 68 ff.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

173

(aa) Erforderlicher Grundrechtsstandard Zunächst stellt sich die Frage nach den Anforderungen an den erforderlichen Grundrechtsstandard bezüglich der Behandlung des Betroffenen im Ausstellungsstaat. Der EuGH stellt sowohl in den verbundenen Rechtssachen Pál Aranyosi und Robert Căldăraru als auch in der Rechtssache LM trotz der ausdrücklichen Bezugnahmen auf die EMRK seitens der Betroffenen ganz überwiegend auf die GrCh ab.466 Dennoch offenbaren die Luxemburger Richter eine Parallelität in ihrer Rechtsprechung zu der des EGMR in diesen Entscheidungen, indem sie beispielsweise in den Rechtssachen Pál Aranyosi und Robert Căldăraru für die Begründung der Absolutheit der Gewährleistung des Art. 4 GrCh auf Art. 3 EMRK und die Rechtsprechung des EGMR hierzu verweisen.467 Die Bezugnahmen des EuGH auf die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR lassen sich dadurch erklären, dass Mindestgarantien eines unionalen Grundrechtsschutzes nicht losgelöst von der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR beurteilt werden können, da diese auch für die Unionsgrundrechte der GrCh gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh einen echten Mindestschutz vorgeben: Das Niveau der durch die EMRK geschützten Gewährleistungen darf bei den entsprechenden Unionsgrundrechten nicht unterschritten werden. Die grundrechtlichen Schutzstandards, die für die Charta erfüllt sein müssen, haben sich insofern in der Bedeutung an der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR zu orientieren, d. h. dass bei der Untersuchung der von einzelnen Unionsgrundrechten gewährten Mindestgarantien Bezug auf die entsprechenden Menschenrechte der EMRK unter Einschluss der Rechtsprechung des EGMR zu nehmen ist.468 Dies betont der EuGH nunmehr in seiner neuesten Entscheidung in der Rechtssache Dorobantu sogar ausdrücklich, indem er Art. 3 EMRK und die Rechtsprechung des EGMR hierzu in Ermangelung eigener unionaler Standards heranzieht.469 Es ist zwar zuzugestehen, dass der über Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh vermittelte Mindestschutz dergestalt zu gewährleisten ist, dass die Unionsgrundrechte nicht hinter die entsprechenden Menschenrechte der EMRK zurückfallen dürfen und insofern eine Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls auch an den Gewährleistungen der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR zu messen ist. Gleichwohl steht es dem EuGH frei, weitergehende Anforderungen an die erforderlichen Standards zu stellen. Er könnte den Schutz des Unionsrechts weiter fassen oder zumindest festhalten, dass der unionale Grundrechtsschutz des Art. 4 GrCh dem in Art. 3 EMRK entspricht und gerade nicht weiter zu fassen ist. Zu beidem hat sich der EuGH jedoch nicht durchgerungen. Stattdessen greift er 466

Vgl. EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 400 Rn. 4, 47 ff.; EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 84 ff. 467 EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 85 ff. 468 S. zur Rspr. des EGMR zur Grundrechtsverletzung durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen eingehend Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 381 ff. 469 Vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (b) (cc).

174

Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

unter ausdrücklicher Klarstellung, dass dem Unionsrecht eigene Standards fehlen, auf Art. 3 EMRK zurück, ohne dabei den Schritt zu gehen, genau diesen in seiner Ausgestaltung durch die Rechtsprechung des EGMR auch als unionsrechtlich ausreichend zu deklarieren und einen weitergehenden unionalen Schutz auszuschließen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass das BVerfG die Pflicht zur Vorabentscheidung daraus abgeleitet hat, dass die Rechtsprechung des EuGH zu den aus Art. 4 GrCh abzuleitenden Mindeststandards unvollständig ist und nicht geklärt ist, nach welchen Maßstäben die Haftbedingungen unionsgrundrechtlich zu bewerten sind.470 Unionale Mindeststandards des Art. 4 GrCh hat der EuGH durch seine Entscheidung aber weiterhin nicht festgelegt, sondern sich durch die Formulierung, dass im Unionsrecht „gegenwärtig“ keine Mindestvorschriften existieren, vielmehr offen gehalten, in Zukunft unionale Mindestvorschriften zu schaffen. Ironischerweise betont der EuGH jedoch, dass ein Mitgliedstaat eine Überstellung nicht von nationalen Haftstandards abhängig machen darf, sondern nur von den in der Union festgelegten Standards471 – ohne einen solchen Standard überhaupt abschließend zu entwickeln. In Bezug auf die Haftbedingungen in einer Einzelhaft hat sich der EuGH gar nicht geäußert. Damit sind die Anforderungen, die an Haftbedingungen zur Wahrung des Art. 4 GrCh zwingend zu stellen sind, weiterhin nicht erschöpfend geklärt. Dabei liegt es gem. Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV gerade in der Verantwortung des EuGH, Mindestschutzstandards auch der absoluten Unionsgrundrechte zu definieren. Da die unionalen Grundrechtsgarantien, die in der EMRK eine Entsprechung finden, lediglich einen echten Mindestschutz über Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh erfahren, kann dies unionsrechtlich nicht alleine den erforderlichen Mindestschutzstandard begründen. Ein solcher muss sich vielmehr unmittelbar aus dem Unionsrecht ergeben. Der EuGH geht davon aus, dass das im Übergabeverfahren auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls geforderte gegenseitige Vertrauen in ein grundrechtskonformes Handeln der mitgliedstaatlichen Justizbehörden auf der Prämisse beruhe, dass alle Mitgliedstaaten an die Werte i. S. d. Art. 2 EUV gebunden sind.472 Dann ist die Wahrung eben dieser Werte aber auch zwingend im Übergabeverfahren auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls durch die Anerkennung eines entsprechenden Grundrechtsvorbehalts abzusichern. Denn die in Art. 2 EUV 470

BVerfGE 147, 364, 384 f. Rn. 51. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019  – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 79, wo der EuGH davon spricht, dass andernfalls „die Einheitlichkeit des Standards für den Schutz der unionsrechtlich definierten Grundrechte in Frage gestellt w(e)rd(en)“. Überraschenderweise spricht der EuGH hier jedoch von Standards, „die sich aus Art. 4 der Charta und Art. 3 EMRK in der Auslegung durch den EGMR ergeben“, was darauf schließen lassen könnte, dass sich die Auslegung des Art. 4 GrCh abschließend durch die Auslegung des Art. 3 EMRK durch den EGMR ergibt. 472 St. Rspr. des EuGH, s. nur EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 45; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 399 Rn. 35; s. EuGH, Urteil vom 18. 12. 2014 (Gutachten 2/13) = JZ 70 (2015), 773, 776 Rn. 168; s. hierzu auch Meyer, StV 40 (2020), 644; Zeder, JSt 2015, 351, 355. 471

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

175

niedergelegten Werte bilden das Fundament der Union.473 Zu diesen Werten zählt zunächst die Achtung der Menschenwürde, die plakativ an erster Stelle genannt wird. Darüber hinaus erhebt Art. 2 EUV die Rechtsstaatlichkeit zu einem elementaren Wert der Union. Die Rechtsstaatlichkeit i. S. v. Art. 2 EUV setzt wiederum voraus, dass ein hinreichender und effektiver Grundrechtsschutz gewährleistet ist.474 Allein schon aufgrund der Unantastbarkeit der Menschenwürde und aus rechtsstaatlichen Erwägungen (Art. 2 EUV) ist es daher zwingend erforderlich, dass jedenfalls mehr unionsgrundrechtliche Schutzstandards aus der GrCh im Übergabeverfahren innerhalb der Union Geltung beanspruchen, als der RbEuHb ausdrücklich in Art. 3 ff. RbEuHb vorsieht: Ein gegenseitiges Vertrauen in die Grundrechtskonformität des Handelns der Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten – wie der EuGH dies im Grundsatz postuliert475 – lässt sich nur dort rechtfertigen, wo jedenfalls die Menschenwürde und rechtsstaatliche Grundsätze auch tatsächlich bedingungslos gewährleistet sind. Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH hin zu einer Anerkennung eines europäischen Grundrechtsvorbehalts in Ausnahmefällen zu begrüßen. Rechtsstaatliche Grundsätze der Union erfordern es, dass eine Übergabe eines Betroffenen auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls erfolgt, ohne dass der Betroffene der Gefahr eines nicht zu rechtfertigenden Unionsgrundrechtseingriffs ausgesetzt wird. Demzufolge lässt sich – neben dem aus Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh folgenden Mindestschutz  – ein unionales Mindestgrundrechtsniveau nur aus der unionsgrundrechtsspezifischen Dogmatik herleiten. Ein ungeschriebener Ablehnungsgrund bezüglich der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ist deshalb von den Einschränkungsmöglichkeiten der Unionsgrundrechte abhängig.476 Die Grundrechte der GrCh unterliegen primärrechtlich einem eigenen Schrankensystem.477 Die Einschränkungsmöglichkeiten unionaler Grundrechte sind wiederum selbst begrenzt. Zunächst einmal können absolute Grundrechte nicht eingeschränkt werden. Zudem weist Art. 52 Abs. 1 GrCh eine äußerste Grenze unionaler Einschränkungsmöglichkeiten für einschränkbare Grundrechte auf. Insofern ist im Folgenden zwischen den absoluten und den einschränkbaren Unionsgrundrechten zu differenzieren.

473 Vgl. Calliess, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​A EUV, Art. 2 EUV Rn. 5; von Danwitz  / ​ Arbor, EuR 2020, 61, 79; Hilf / ​Schorkopf, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 8; Voßkuhle, EuGRZ 47 (2020), 165, 167. 474 Vgl. Kapitel 2 Fn. 200. 475 Vgl. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 46; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 399 Rn. 25 ff.; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161, 3162 f. Rn. 49; EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1711 Rn. 87. 476 Vgl. auch Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 427 ff. 477 Folz, in: Vedder / ​Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 52 GrCh Rn. 2 f.; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 GrCh Rn. 19.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Nur wenige unionale Grundrechte dürfen nicht eingeschränkt werden und gelten daher absolut,478 sodass ein Grundrecht automatisch bei einem Eingriff in dieses verletzt ist. Da der unionsrechtliche Schutzstandard nicht unter den durch die EMRK gewährten Schutz zurückfallen darf (Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh), gelten die durch die EMRK und den EGMR absolut gewährten Garantien, die in der GrCh eine Entsprechung finden, auch unionsrechtlich absolut.479 Selbst die allgemeine Schrankenklausel des Art. 52 Abs. 1 GrCh ist auf die absoluten Grundrechte nicht anwendbar.480 Zu den absolut gewährten unionalen Grundrechten zählen insbesondere die Menschenwürde gem. Art. 1 GrCh481 und  – nicht zuletzt aufgrund des engen Bezugs zur Menschenwürde482 – das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gem. Art. 4 GrCh.483 Die Menschenwürde gehört zudem zum Wesensgehalt anderer unionaler Grundrechte und ist in diesem Rahmen ebenfalls keiner Einschränkung zugänglich.484 Erfreulicherweise stellt der EuGH in der Rechtssache Dorobantu nunmehr auch ausdrücklich klar, dass Art. 4 GrCh keiner Abwägung zugänglich sei und daher auch keine Abwägung mit der möglichen Straffreiheit bei Ablehnung der Übergabe erfolgen dürfe, sodass bei einer echten Gefahr für den Verstoß gegen Art. 4 GrCh die Übergabe 478

Folz, in: Vedder / ​Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 52 GrCh Rn. 7; Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 GrCh Rn. 27. Dagegen bestreitet Groppi, in: Mock / ​Demuro (Hrsg.), Human Rights in Europe, S. 325 die Existenz absoluter unionaler Grundrechte und geht davon aus, dass jedes Unionsgrundrecht Einschränkungen unterliegt. 479 Dies erkennt auch der EuGH in der Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru an, indem er zur Begründung des absoluten Charakters von Art. 4 GrCh auf Art. 3 EMRK verweist, s. EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016  – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 85 ff. 480 Borowsky, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 1 GrCh Rn. 44; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 1 GrCh Rn. 12. 481 Dies ergibt sich aus den eindeutigen Erläuterungen des Grundrechtekonvents zu Art. 1 GrCh, s. CHARTE 4473/00, S. 3 v. 11. 10. 2000; s. hierzu Borowsky, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 1 GrCh Rn. 44; Voet van Vormizeele, in: Becker / ​ Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 51 GrCh Rn. 7. 482 Vgl. nur EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 85. 483 Borowsky, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 4 Rn. 15. Dies ergibt sich allein schon daraus, dass gem. Art. 52 Abs. 3 GrCh die unionalen Grundrechte in Bedeutung und Tragweite nicht hinter den Menschenrechtsgarantien der EMRK zurückfallen dürfen, das Verbot von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gem. Art. 3 EMRK absolut gilt, s. aus der Rspr. EGMR, Urteil vom 12. 1. 2016 – Nr. 13442/08 (A. G.R / ​Niederlande)  = NVwZ 2017, 293, 294 Rn. 54; EGMR, Urteil vom 13. 12. 2012  – Nr. 39630/09 (El-Masri / ​Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien) = NVwZ 2013, 631, 635 Rn. 195; EGMR, Urteil vom 1. 6. 2010 – 22978/05 (Gäfgen / ​Deutschland) = NJW 2010, 3145, 3149 Rn. 176 m. W. n.; s. aus der Literatur Lohse / ​Jakobs, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, Art. 3 EMRK Rn. 3; Meyer-Ladewig / ​L ehnert, in: Meyer-Ladewig / ​Nettesheim / ​Raumer (Hrsg.) EMRK, Art. 3 EMRK Rn. 1. 484 Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 GrCh Rn. 34; vgl. zudem die Erläuterung zu Art. 1 der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (2007/C303/02), ABl. C 303 v. 14. 12. 2007, S. 17.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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abzulehnen sei.485 In der Konsequenz bedeutet dies, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls immer dann abzulehnen ist, wenn im Kern die Gefahr der Verletzung der Menschenwürde des Betroffenen besteht. Dies folgt nicht nur daraus, dass die Achtung der Menschenwürde in Art. 2 EUV an erster Stelle benannt ist und insofern Fundament der Union und Bezugspunkt für die weiteren elementaren Werte der Union ist.486 Dies ergibt sich auch daraus, dass rechtsstaatliche Grundsätze nicht mehr gewahrt sind, sobald ein Eingriff in absolut gewährte Grundrechte vorliegt. Bezüglich einschränkbarer Unionsgrundrechte hat der EuGH in der Rechtssache LM487 erstmals entschieden, wann eine echte Gefahr eines Verstoßes gegen das Recht auf ein faires Verfahren i. S. d. Art. 47 Abs. 2 GrCh im Rahmen einer Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls zu einem Ablehnungsgrund führen kann bzw. muss. Hier ist auffällig, dass sich der EuGH in Bezug auf das einschränkbare Unionsgrundrecht des Art. 47 Abs. 2 GrCh letztlich dergestalt auf die Grundsätze des Art. 2 EUV zurückzieht, dass eine Prüfung des Bestehens systemischer rechtsstaatlicher Mängel bezüglich der Unabhängigkeit des Gerichts dann nicht mehr erforderlich ist, wenn im Rahmen eines Rechtsstaatlichkeitsverfahrens eine Feststellung nach Art. 7 Abs. 2 EUV getroffen worden ist, „dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt“. Er setzt die absolute Grenze einer Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls damit letztlich ausdrücklich bei den für Art. 2 EUV zwingend erforderlichen Standards. Für alle einschränkbaren unionalen Grundrechte beinhaltet Art. 52 Abs. 1 GrCh eine allgemeine Schrankenklausel.488 Gem. Art. 52 Abs. 1 S. 1 GrCh darf eine Einschränkung unionaler Grundrechte deren Wesensgehalte nicht berühren. Was den Wesensgehalt eines Unionsgrundrechts ausmacht, ist unionsrechtlich für jedes Grundrecht der GrCh separat zu ermitteln und im Zweifelsfall im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens durch den EuGH zu klären. Jedenfalls gehören die aus der Würde des Menschen folgenden Anforderungen zum Wesensgehalt der einzelnen Grundrechte.489 Im Übrigen ist dieser den einzelnen Grundrechten zu entnehmen. In der Rechtssache LM hat der EuGH entschieden, dass zum Wesens 485

EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 82. Vgl. die Erläuterung zu Art. 1 der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (2007/ C303/02), ABl. C 303 v. 14. 12. 2007, S. 17. 487 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396. 488 Anders als bspw. bei den deutschen Grundrechten gibt es keine sog. verfassungsimmanenten Schranken, da Art. 52 Abs. 1 GrCh einen einheitlichen allgemeinen Gesetzesvorbehalt aufweist; s. hierzu und zu der Bedeutung für die deutsche Rechtsordnung Fassbender, NVwZ 2010, 1049; s. zudem Folz, in: Vedder / ​Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 52 GrCh Rn. 2 f. 489 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 GrCh Rn. 29; Schwerdtfeger, in: Meyer / ​ Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 GrCh Rn. 34; vgl. zudem die Erläuterung zu Art. 1 der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (2007/C303/02), ABl. C 303 v. 14. 12. 2007, S. 17. 486

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

gehalt des Rechts auf ein faires Verfahren i. S. d. Art. 47 Abs. 2 GrCh insbesondere die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit des Gerichts zählen.490 Da die Unabhängigkeit des Gerichts Grundlage und Garant für die Durchsetzung von Grundrechten und damit für ein rechtsstaatliches Verfahren ist, ist diese Feststellung nur zu begrüßen. Zum Wesensgehalt gehören dementsprechend nur solche Werte, die für rechtsstaatliche Grundsätze unverzichtbar sind. Gem. Art. 52 Abs. 1 S. 2 GrCh müssen Einschränkungen von Unionsgrundrechten zudem dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Dies setzt voraus, dass sie einem legitimen Zweck dienen, geeignet, erforderlich und angemessen sind.491 Als legitimes Ziel kommen gem. Art. 52 Abs. 1 S. 2 GrCh von der Union anerkannte und dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen in Betracht oder solche, die dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich dienen. Das unionale Interesse an einem funktionierenden Übergabeverkehr und der damit einhergehenden Sicherheit innerhalb der EU ist ein primärrechtlicher Belang, der einen normativen Anknüpfungspunkt in Art. 3 Abs. 5 EUV findet.492 Die Straflosigkeit eines Täters soll durch die Überstellung des Betroffenen an den Staat, der seinen Strafanspruch geltend macht, weltweit vermieden werden. Dies und der damit einhergehende Beitrag zur weltweiten Kriminalitätsbekämpfung stellt stets ein dem Gemeinwohl dienendes und daher legitimes Ziel i. S. d. Art. 52 Abs. 1 S. 2 GrCh dar. In Bezug auf dieses Unionsziel bietet die Überstellung eines Betroffenen auch die Möglichkeit, Straflücken zu vermeiden und dadurch die weltweite Kriminalität zu bekämpfen. Darüber hinaus müsste die Überstellung auch erforderlich sein, d. h. es dürfte kein milderes und gleich geeignetes Mittel zur Verwirklichung des legitimen Ziels geben.493 Bei Übergabeersuchen zum Zwecke der Strafverfolgung besteht zwar grundsätzlich die Möglichkeit, stellvertretend für den ersuchenden Staat die Strafverfolgung zu betreiben. Dies wird allerdings regelmäßig nicht

490

EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 401 Rn. 63 ff. Erfreulicherweise hat sich dies erst kürzlich das OLG Karlsruhe (s. Beschluss vom 17. 2. 2020 – Ausl 301 AR 156/19 = BeckRS 2020, 1720) zu Nutze gemacht und die Auslieferungshaft gegen einen polnischen Staatsangehörigen aufgehoben, da es in einer Prognoseentscheidung die Überstellung des Betroffenen auf der Grundlage eines EuHb wegen der derzeitigen Justizreformen in Polen (vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (1)) als derzeit unzulässig bewertet hat, vgl. Kapitel 2 Fn. 382, 431. 491 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 GrCh Rn. 30 ff.; Kingreen, in: Calliess / ​ Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 52 GrCh Rn. 66 ff.; Möllers, Juristische Methodenlehre, § 10 Rn. 59; Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 52 Rn. 16. 492 S. hierzu Kapitel 3 A. II. 1. 493 S. aus der Rspr. des EuGH insbes. EuGH Urteil vom 22. 1. 2013 – C-283/11 (Rs. Sky Österreich) = MMR 2013, 265, 267 Rn. 50; EuGH, Urteil vom 23. 10. 2012 – C-581/10, C-829/10 (Rs. Nelson u. a. / ​Deutsche Lufthansa AG und The Queen / ​Civil Aviation Authority) = NJW 2013, 671, 674 f. Rn. 71; EuGH, Urteil vom 8. 7. 2010 – C-343/09 (Rs. Afton Chemical Limited) = ZUR 2010, 592, 595 Rn. 45; vgl. hierzu Becker, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 52 GrCh Rn. 6; Schwerdtfeger, in: in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 GrCh Rn. 37.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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gleich geeignet sein, da sich die Beweismittel überwiegend im ersuchenden Staat befinden werden. Zwar käme europaweit als milderes Mittel eine Vernehmung des Betroffenen über die in der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA-RL)494 festgelegten Mittel (Art. 2, 10 Abs. 2 lit. c), 24, 25 EEA-RL) in Betracht. Da im Ausstellungsstaat allerdings bereits eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen wird, wird es an der Erforderlichkeit wohl nicht scheitern.495 Im Endeffekt stehen damit das Interesse an einem funktionierenden Auslieferungsverkehr und das Grundrechtsinteresse des Betroffenen gegenüber. Solange nicht in Wesensgehalte der Unionsgrundrechte eingegriffen wird, kann das Interesse an einem funktionierenden Auslieferungsverkehr im Übergabefall überwiegen. Liegt hingegen ein Eingriff in den Wesensgehalt unionaler Grundrechte vor, ist dieser automatisch unangemessen und daher unverhältnismäßig.496 Damit erfordert die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze nach Art. 2 EUV zwingend, dass absolute Rechte nicht eingeschränkt werden und die Wesensgehalte unionsrechtlicher Grundrechte i. S. d. Art. 52 Abs. 2 GrCh nicht angetastet werden, da dies die äußerste Schranke von Eingriffsmöglichkeiten in die Unionsgrundrechte markiert. Art. 2 EUV statuiert damit die Wahrung absoluter Rechte der Union und des Wesensgehalts der Grundrechte der GrCh, von denen nach Art. 52 Abs. 1 GrCh nicht abgewichen werden darf. Damit ist zwar grundsätzlich von einem gegenseitigen Vertrauen in die Grundrechtskonformität des hoheitlichen Handelns anderer Mitgliedstaaten auszugehen. Immerhin haben sich alle Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit mit der Union verpflichtet, sind den Werten des Art. 2 EUV verpflichtet und sind an die Grundrechte der GrCh formal gebunden. Dort allerdings, wo konkrete Anhaltspunkte für die Missachtung eines absoluten Rechts oder eines unionsrechtlichen Wesensgehalts i. S. d. Art. 52 Abs. 1 GrCh bestehen, muss eine Grenze gezogen werden. Hier kann der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens und damit auch der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung keine Geltung beanspruchen. Innerhalb der Union beschränken sich die Mindestschutzstandards daher auf absolute Rechte und die 494

Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 3. 4. 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, ABl. L 130 v. 1. 5. 2014, S. 1 ff. 495 S. hierzu eingehend Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 378 f., 445. 496 Vgl. EuGH, Urteil vom 23. 3. 2006 – C-408/03 (Rs. Kommission / ​Belgien) = Slg. 2006, I-2647 Rn.68, wo der EuGH aus der Verletzung des Wesensgehalts von Unionsgrundrechten die Unverhältnimäßigkeit des Eingriffs geschlussfolgert hat. Trstenjak / ​Beysen, EuR 2012, 265, 280 stellen deshalb in Frage, ob der Wesensgehaltsprüfung neben der Verhältnismäßigkeit noch eine eigene Relevanz zukommt. Allerdings bietet die Wesensgehaltsgarantie die Möglichkeit einer einheitlichen Umschreibung dessen, was im Auslieferungsverkehr eines Mitgliedstaates der EU die äußerste Grenze eines verhältnismäßigen Eingriffs in Unionsgrundrechte darstellt (die Wahrung des Wesensgehalts unionaler Grundrechte), während die Verhältnismäßigkeit stets eine Abwägung erfordert. Deshalb kommt der Wesensgehaltsgarantie eine eigene Bedeutung zu, so zutreffend Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 GrCh Rn. 28; Streinz  / ​ Michl, in: Streinz (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 52 GrCh Rn. 14.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Wesensgehalte unionaler Grundrechtsgarantien i. S. d. Art. 52 Abs. 1 GrCh. Diese sichern die Rechtsstaatlichkeit i. S. d. Art. 2 EUV ab. Zu den Garantien des für mitgliedstaatliche Justizbehörden verbindlichen Rechts zählen demnach die Unionsgrundrechte soweit sie von vornherein unbeschränkbar da absolut sind und soweit der Wesensgehalt unionaler Grundrechte betroffen ist. Hierfür ist es jedoch zwingend erforderlich, dass der EuGH sowohl bestimmt, welchen Gewährleistungsinhalt die absoluten Unionsgrundrechte haben, als auch, was zum Wesensbestand einschränkbarer Unionsgrundrechte gehört. Insbesondere kann er sich nicht mit der Begründung, dass das Unionsrecht gegenwärtig keine Mindeststandards habe, seiner Aufgabe nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV dadurch entziehen, dass er nur auf die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR verweist, ohne diese als abschließend zu bewerten oder weitergehende Standards zu entwickeln. Diese beschriebene eingeschränkte Grundrechtsprüfung widerspricht auch dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung nicht, sondern konkretisiert diesen gerade erst: Nur dort, wo die für rechtsstaatliche Grundsätze unbedingt zu beachtenden Grundrechte gewahrt werden, sind justizielle Entscheidungen wie der Europäische Haftbefehl in einem anderen Mitgliedstaat zwingend anzuerkennen. Nur bei ernsten Befürchtungen, dass Wesensgehalte eines Unionsgrundrechts nicht eingehalten werden, darf der Verfolgte im Einzelfall nicht übergeben werden. Nur dann, wenn die für die Rechtsstaatlichkeit i. S. d. Art. 2 EUV immanenten Werte geschützt sind und diese einen Ablehnungsgrund für eine Übergabe eines strafrechtlich Verfolgten darstellen, lässt sich ein gegenseitiges Vertrauen rechtfertigen, da zumindest rechtsstaatliche Grundsätze tatsächlich abgesichert sind. Hierfür spricht auch, dass der RbEuHb in der Normenhierarchie unter der GrCh steht, die Teil des Primärrechts ist. Insofern vermag der RbEuHb keine Sperrwirkung zu Lasten von solchen Unionsgrundrechten zu schaffen, die das rechtsstaatliche Fundament der Union nach Art. 2 EUV absichern.

(bb) Nachweis und Zurechenbarkeit einer drohenden Grundrechtsverletzung Eine Übergabe bei drohender Verletzung eines absoluten unionalen Grundrechts ist automatisch unzulässig, wenn ein Eingriff in das Grundrecht vorliegt, da absolute Grundrechte auch in der Konzeption der GrCh vorbehaltlos gewährleistet werden.497 Bei einschränkbaren unionalen Grundrechten ist eine Übergabe hingegen unzulässig, wenn ein zurechenbarer Eingriff in das Unionsgrundrecht vorliegt und der Wesensgehalt des Unionsgrundrechts angetastet ist, da eine weitergehende Einschränkung dieser Grundrechte nicht möglich ist. In beiden Fällen ist die Übergabe unzulässig, wenn eine drohende Grundrechtsverletzung den Justiz 497

So erfreulich klarstellend: EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 82.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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behörden des ersuchten Staates zurechenbar ist. Die ständige Rechtsprechung498 orientiert sich für eine Zurechenbarkeit grundrechtswidrigen Verhaltens an den Voraussetzungen eines erforderlichen Nachweises einer Grundrechtsverletzung und damit letztlich an der Vorhersehbarkeit einer drohendenden Grundrechtsverletzung für den ersuchten Staat. Nach der zweistufigen Prüfung des EuGH müssen zunächst objektive und zuverlässige Anhaltspunkte existieren, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel im Ausstellungsstaat abstrakt begründen.499 Anhaltspunkte hierfür können sich insbesondere „aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des EGMR, aus Entscheidungen von Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats oder aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben“.500 Insofern stellt der EuGH darauf ab, dass solche Anhaltspunkte im Falle ihres Vorliegens von den über die Übergabe entscheidenden Justizbehörden von Natur aus berücksichtigt werden müssen.501 Der EuGH bezieht auch hier die Rechtsprechung des EGMR mit ein. Bezüglich des Nachweises verlangt der EuGH weiterhin konkrete Anhaltspunkte dafür, dass auch der zu Übergebende einer „echten Gefahr“ einer Grundrechtsverletzung im Ausstellungsmitgliedstaat ausgesetzt sein wird: Dies muss auf Grund objektiv zuverlässiger, genauer und gebührend überprüfter Anhaltspunkte feststehen.502 Es müssen demnach begründete und stichhaltige Anhaltspunkte für eine drohende Grundrechtsverletzung vorliegen. Insbesondere aber hat die über die Übergabe entscheidende Behörde auch weitere Informationen i. S. d. Art. 15 Abs. 2 RbEuHb einzuholen.503 498

Vgl. Kapitel 2 Fn. 499–502. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 52; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161, 3163 Rn. 60; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 401 Rn. 60 f.; EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 89. 500 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 52; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161, 3163 Rn. 60; EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 89. 501 Dies ergibt sich bspw. daraus, dass der EuGH statuiert, dass „das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen“ sei, s. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 51; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161, 3163 Rn. 59; EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 88. 502 EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019  – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 52, 63; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161, 3164 Rn. 62; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 402 Rn. 75; EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 94. 503 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (b). Da sich in Bezug auf Haftbedingungen die Prüfpflicht nicht auf die Bedingungen in allen Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaates erstrecken kann, kann die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaates nur um Informationen i. S. d. 499

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Diese Anforderungen an den Nachweis einer nicht ausreichend grundrechtskonformen Behandlung des zu Übergebenden im Ausstellungsmitgliedstaat sind im Grundsatz nicht neu, sondern entsprechen im Ergebnis wohl auch der Linie der Rechtsprechung des EGMR,504 wenngleich die Orientierung des EuGH an der des EGMR nur an wenigen Stellen durchscheint.505 Dass innerstaatlich Menschenrechte der EMRK einer Auslieferung entgegenstehen können, ist bereits seit Längerem Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion und Judikatur und ganz überwiegend anerkannt.506 In Bezug auf den Nachweis einer solchen Verletzung von unabdingbaren Menschenrechten der EMRK besteht auch bereits eine gefestigte Rechtsprechung des EGMR, die ihren Ausgangspunkt in der grundlegenden Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Soering gefunden hat.507 In dieser Rechtssache ging es um die Auslieferung des Herrn Soering vom Vereinigten Königreich an die USA. Ihm drohte bei einer Auslieferung nach einer Überstellung in den USA die Todesstrafe, da er wegen Doppelmordes im US-Staat Virginia angeklagt war. Der EGMR hat festgestellt, dass eine Überstellung Soerings aufgrund des mit der Todesstrafe verbundenen Todeszellensyndroms Art. 3 EMRK widerspreche508 und die Auslieferung deshalb abzulehnen sei.509 Art. 15 Abs. 2 RbEuHb bitten, die sich auf die Haftbedingungen beziehen, denen der Betroffene im Ausstellungsmitgliedstaat ausgesetzt sein wird, so EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 64 ff. Hieran anknüpfend hat das OLG Karlsruhe in dem Beschluss vom 17. 2. 2020 – Ausl 301 AR 156/19 = BeckRS 2020, 1720, in dem es die Auslieferungshaft nach § 15 Abs. 2 i. V. m. § 24 Abs. 1 IRG aufgehoben hat, da es wegen der derzeitigen Justizreformen in Polen erhebliche Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens hatte (vgl. hierzu die Kapitel 2 Fn. 382, 431), die polnischen Justizbehörden um nähere Informationen bezüglich der Auswirkungen der Justizreformen auf das konkrete Verfahren ersucht und eine endgültige Entscheidung über die Übergabe noch nicht getroffen, s. OLG Karlsruhe, 17. 2. 2020 – Ausl 301 AR 156/19 = BeckRS 2020, 1720 Rn. 1. 504 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (b); s. zur Rspr. des EGMR eingehend Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 381 ff. 505 Grundsätzlich betont der EuGH die Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung, nimmt allerdings Rekurs auf die Rspr. des EGMR, s. bspw. EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 87 ff. 506 Zu den Menschenrechten der EMRK als Ablehnungsgründe eines EuHb s. eingehend Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte; vgl. zudem Bartels, Die Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils in Europa; Brodowski, JR 2016, 415, 419 ff.; Hailbronner, in: FS Ress, S. 997 ff.; Kromrey / ​Morgenstern, ZIS 2014, 704. 507 EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989 – Nr. 14038/88 (Soering / ​Vereinigtes Königreich) = NJW 1990, 2183; eingehend zur Rspr. des EGMR zur Grundrechtsverletzung durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen: Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 381 ff. 508 S. hierzu Trechsel, EuGRZ 14 (1987), 69, 72 f.; s. zudem Haas, Die Auslieferung in Frankreich und Deutschland, S. 333 ff.; Vogler, in: GS Meyer, S. 477 ff. Zu diesem Zeitpunkt war das 13. Zusatzprotokoll zur EMRK noch nicht in Kraft getreten, wonach die Todesstrafe an sich gegen die EMRK verstößt (s. hierzu Kapitel 2 D. III. 1.), sodass die Auslieferung nicht wegen der Todesstrafe als solcher verweigert werden konnte, s. hierzu Kromrey / ​Morgenstern, ZIS 2014, 704, 710. 509 EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989 – Nr. 14038/88 (Soering / ​Vereinigtes Königreich) = NJW 1990, 2183, 2185 Rn. 92 ff.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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Der EGMR hat damit erstmals ein Auslieferungshindernis aufgrund einer drohenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung akzeptiert, da eine Konventionsverletzung Großbritanniens vorliege, wenn trotz einer auf der Grundlage begründeter Tatsachen vorliegenden ernsten Gefahr einer der EMRK widersprechenden Behandlung des Auszuliefernden Soering ausgeliefert wird.510 Eine Auslieferung ist in solchen Fällen nach der Rechtsprechung des EGMR unzulässig, wenn begründete Tatsachen („substantial grounds“) dafür vorliegen, dass der Auszuliefernde für den Fall der Auslieferung einer ernsten Gefahr („real risk“) einer menschenrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt sein wird.511 Einen solchen Nachweis verlangt der EGMR ebenso für den Fall, dass dem Ausgelieferten im ersuchenden Staat eine Behandlung droht, die dem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK nicht gerecht wird.512 Auch der EGMR verlangt damit eine konkrete Gefahr einer konventionswidrigen Behandlung gerade für den zu Überstellenden. Insofern entspricht die Linie des EuGH der des EGMR. Dies ist auch zu befürworten, da der Schutz der GrCh hinsichtlich der Bedeutung und Tragweite nicht hinter den Standard zurückfallen darf, die den Menschenrechten der EMRK – unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR – zukommt (Art. 52 Abs. 3 GrCh).513 Dies umfasst auch den Nachweis einer grundrechtswidrigen Behandlung, sodass die Anforderungen bezüglich des Nachweises einer ernsten Gefahr im Ansatz auf die Überstellungen auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls zu übertragen sind. Damit reicht eine – ausnahmsweise bestehende – generell grundrechtsbedenkliche Lage im Ausstellungsmitgliedstaat nicht aus, um ein Übergabehindernis zu begründen. Vielmehr müssen begründete Tatsachen dafür bestehen, dass auch der zu Übergebende nach erfolgter Übergabe konkret einer grundrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt sein wird, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen des Art. 2 EUV nicht 510

EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989 – Nr. 14038/88 (Soering / ​Vereinigtes Königreich) = NJW 1990, 2183, 2185 Rn. 91; dies ist auch in der verfassungsrichterlicher Rspr. anerkannt, s. nur BVerfGE 140, 317, 361 f. Rn. 98 ff. 511 S. erstmals EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989 – Nr. 14038/88 (Soering / ​Vereinigtes Königreich) = NJW 1990, 2183; kritisch hierzu und auf eine völkerrechtliche Lösung unter ausschließlicher Beachtung von ius cogens verweisend Vogler, in: GS Meyer, S. 477, 485 ff.; s. aus der neueren Zeit bspw. EGMR, Urteil vom 13. 12. 2016 – Nr. 41738/10 (Paposhvili / ​Belgien) = NVwZ 2017, 1187, 1188 f. Rn. 173 ff.; EGMR, Urteil vom 4. 11. 2014 – Nr. 29217/12 (Tarakhel / ​Schweiz) = NVwZ 2015, 127, 129 Rn. 93 ff.; EGMR, Urteil vom 10. 4. 2012  – Nr. 24027/07, 11949/08, 36742/08, 66911/09, 67354/09 (Babar Ahmad / ​Vereinigtes Königreich) = NVwZ 2013, 925, 927 Rn. 172; EGMR, Urteil vom 28. 2. 2008 – Nr. 37201/06 (Saadi / ​Italien) = NVwZ 2008, 1330, 1331 Rn. 125 ff. 512 So die st. Rspr. des EGMR, s. bspw. EGMR, Urteil vom 17. 1. 2012 – Nr. 8139/09 (Othmann [Abu Qatada]/Vereinigtes Königreich) = NVwZ 2013, 487, 492 Rn. 258 ff.; EGMR, Urteil vom 27. 10. 2011 – Nr. 37075/09 (Ahorugeze / ​Schweden) = NJOZ 2012, 1564, 1567 Rn. 113 ff. Ob dies für alle befürchteten konventionswidrigen Behandlung zu gelten hat, ist noch nicht restlos in der Rspr. des EGMR geklärt, s. hierzu Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 398 f. 513 S. Kapitel 2 Fn. 267.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

zu vereinbaren ist. In diesen Fällen dürfen die über eine Übergabe entscheidenden Justizbehörden eine wohl zu erwartende grundrechtswidrige Behandlung des zu Überstellenden nicht ignorieren und müssen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ablehnen.514 (3) Berücksichtigung nationaler Grundrechte im Anwendungsbereich von Unionsrecht? Das Mindestgewährleistungsiveau grundrechtlicher Schranken bei einer Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ergibt sich nach dem Vorgenannten aus den Unionsgrundrechten. Die Vorgaben des RbEuHb sind bezüglich der dort geregelten Ablehnungsgründe grundsätzlich abschließend.515 In Ausnahmefällen bestehen ungeschriebene Ablehnungsgründe der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgrund zwingender Unionsgrundrechtsgewährleistungen, die unmittelbar aus dem Primärrecht folgen.516 Damit besteht jedoch kein unionsrechtlich gewährter Gestaltungsspielraum für die einzelnen Mitgliedstaaten, einen Ablehnungsgrund jenseits der im RbEuHb normierten Ablehnungsgründe zu schaffen. Dementsprechend würde auch die Rechtsprechung des BVerfG517 den Anwendungsvorrang der GrCh hier grundsätzlich anerkennen. Aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts518 kommt eine Berücksichtigung nationaler Grundrechte als Grenze der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls damit grundsätzlich nicht mehr in Betracht. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob es bestimmte Grundrechte gibt, die für die nationale Rechtsordnung von so elementarer Bedeutung sind, dass sie auch im Anwendungsbereich von Unionsrecht zur Anwendung gelangen. Das BVerfG behält es sich jedenfalls weiterhin vor, das nationale GG auch in Fällen zwingenden Unionsrechts bei einem drohenden Verstoß gegen die deutsche Verfassungsidentität in Stellung zu bringen.519 Über die jüngste Rechtsprechung des EuGH520 zur Beachtung der Unionsgrundrechte auch im Übergabeverfahren auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls hinaus hat das BVerfG in einem Beschluss vom 15. 12. 2015521 für den Fall des Unterschreitens unionsrechtlicher Grundrechtsgewährleistungen unter die integrationsfesten Bestandteile der deutschen Verfassungsidentität in Übergabe 514 Zu den einzelnen Nachweispflichten und der Frage, wie zu verfahren ist, wenn eine konkrete Gefahr weder bestätigt noch verneint werden kann s. Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 415 ff. 515 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (a) und (b). 516 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c). 517 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 202 Rn. 42. 518 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. b). 519 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 203 Rn. 49. 520 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2). 521 BVerfGE 140, 317 ff.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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verfahren auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls innerhalb der EU eine nationale Identitätskontrolle konkret angedroht. Zudem hat es das BVerfG mit seinem historischen Urteil vom 5. 5. 2020522 nicht mehr bei einer Androhung einer am Maßstab des GG durchgeführten Identitätskontrolle belassen. Erstmals hat es Unionsrechtsakte als ultra vires bezeichnet und insoweit in Deutschland für unanwendbar erklärt.523 Zum Verständnis dieser Entscheidungen ist zunächst der Frage nachzugehen, ob der Vorrang des Unionsrechts uneingeschränkt gilt oder ob zu Gunsten von deutschen Grundrechten eine Ausnahme zu machen ist. Dann käme es nicht mehr darauf an, inwiefern nationale Grundrechte bei den Auslieferungsentscheidungen im Verhältnis zu den USA aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG einzuschränken sind: Diese würden stets aufgrund der vorrangigen Anwendbarkeit von Unionsrecht hinter die unionsrechtlichen Grundrechtsgarantien zurücktreten. (a) Hintergrund: Uneingeschränkter Vorrang von Unionsgrundrechten vor nationalen Grundrechten? Während der grundsätzliche Anwendungsvorrang von Unionsrecht zwar anerkannt wird,524 wird nicht einheitlich beurteilt, ob dies einschränkungslos gilt oder ob Durchbrechungen zugunsten bestimmten nationalen Verfassungsrechts möglich oder gar notwendig sind. (aa) Parallele Anwendbarkeit von nationalen und unionalen Grundrechten i. S. e. Meistbegünstigung? Mit den Vorgaben des Art. 53 GrCh waren lange Bedenken und Hoffnungen zur Geltung nationaler Grundrechte neben den Unionsgrundrechten verbunden.525 Art. 53 GrCh normiert, dass „(k)eine Bestimmung dieser Charta (…) als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen (ist), die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union und das Völkerrecht sowie durch die internationalen Übereinkünfte, bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, darunter insbesondere die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden.“ Dies 522

BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744 ff. BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 756 Rn. 229 ff. 524 S. Kapitel 2 D. II. 3. b); vgl. insbesondere auch ausdrücklich BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 202 Rn. 42. 525 S. hierzu Borowsky, in: Meyer / ​Bernsdorff (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 53 GrCh Rn. 7. 523

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

könnte zu der Auslegung führen, dass nationale Grundrechte, die einen höheren Schutzstandard als die entsprechenden unionalen Grundrechte der GrCh aufweisen, stets neben den Unionsgrundrechten zur Anwendung gelangen und insofern zu einer Meistbegünstigung des Grundrechtsberechtigten führen. Würde Art. 53 GrCh eine regelmäßige Anwendbarkeit nationalen Verfassungsrechts neben dem unionalen Grundrechtsschutz statuieren, würde die Norm den grundsätzlichen Anwendungsvorrang von Unionsrecht vor nationalem Recht unterlaufen. Art. 53 GrCh setzt aber vielmehr einen solchen Anwendungsvorrang voraus: Nur für den Fall, dass nationale Grundrechte mangels der Anwendbarkeit von Unionsgrundrechten oder neben den Unionsgrundrechten anwendbar sind, ist überhaupt Raum für eine Anwendbarkeit von Art. 53 GrCh.526 Dass Art. 53 GrCh gerade nicht den Anwendungsvorrang des Unionsrechts in Frage stellen soll, ergibt sich zunächst aus dem Mandat des Grundrechtekonvents: Die Schaffung eines einheitlichen unionalen Grundrechtsschutzes sollte insbesondere auch der Absicherung des Anwendungsvorrangs von Unionsrecht dienen.527 Außerdem ist die Formulierung „in dem jeweiligen Anwendungsbereich“ gerade zur Absicherung des Anwendungsvorrangs eingefügt worden528 und soll diesem daher nicht zuwiderlaufen. Damit enthält Art. 53 GrCh ebensowenig für nationale Verfassungsgrundrechte eine Mindestschutzklausel wie sie eine für Menschenrechte der EMRK enthält. In Bezug auf die Menschenrechte der EMRK ergibt sich ein Mindestschutz vielmehr bereits aus Art. 52 Abs. 3 GrCh.529 Und auch die nationalen Verfassungsrechte haben über Art. 52 Abs. 4 GrCh Einfluss auf die Auslegung der Unionsgrundrechte, indem zumindest die Unionsgrundrechte, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, in deren Licht sie auszulegen sind.530 Damit stellt Art. 53 GrCh den Anwendungsvorrang von Unionsrecht auch vor nationalem Verfassungsrecht nicht in Frage, sondern stellt in Bezug auf nationale Grundrechte einen weiteren Schutz nur vorbehaltlich der Anwendbarkeit nationalen Verfassungsrechts zur Diskussion: D. h. nur dann, wenn entweder Unionsgrundrechte gar nicht anwendbar sind oder nationale Verfassungsgrundrechte neben Unionsgrundrechten zur Anwendung gelangen, ist Art. 53 GrCh anwendbar.

526 S. hierzu eingehend Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 100 ff.; s. a. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 53 GrCh Rn. 25; Risse, HRRS 15 (2014), 93, 104. 527 Liisberg, CMLR 38 (2001), 1171, 1193; Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 101 Fn. 7. 528 Dieser Passus ist aufgrund ausgiebiger Diskussionen im Grundrechtekonvent aufgenommen worden, um Zweifel bezüglich des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts auszuschließen; s. hierzu eingehend Liisberg, CMLR 38 (2001), 1171, 1176, 1190; Vervaele, Review of European Administrative Law 6 (2013), 37, 49 ff. 529 Vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. a). 530 Vgl. hierzu Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 100.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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Daher ist im Folgenden der Frage nachzugehen, wann nationales Verfassungsrecht neben den Unionsgrundrechten zur Anwendung gelangen kann. Dies ist für diese Arbeit nur dann relevant, wenn sich unionale und nationale Anwendungsbereiche von Grundrechten überhaupt bei der Übergabe eines Verfolgten auf der Grundlage des RbEuHb überschneiden. (bb) Die Anwendungsbereiche von Unionsgrundrechten und nationalem Verfassungsrecht Die Anwendungsbereiche von Unionsgrundrechten und nationalem Verfassungsrecht können sich überhaupt nur dann überschneiden und zur Frage des Anwendungsvorrangs führen, wenn nationales Recht in Umsetzung von Unionsrecht durchgeführt wird.531 Dies ist in Bezug auf Überstellungen auf der Grundlage der innerstaatlichen Umsetzung des RbEuHb allerdings für den Zeitrahmen des Übergabeverfahrens gerade der Fall. Der EuGH geht im Anwendungsbereich von Unionsrecht von einem uneingeschränkten Anwendungsvorrang des Unionsrechts aus, der sowohl bezüglich des einfachen Rechts als auch bezüglich des nationalen Verfassungsrechts Wirkung entfaltet.532 Neben den Unionsgrundrechten können nationale das Schutzniveau der Unionsgrundrechte übersteigende Verfassungsrechte im Anwendungsbereich von Unionsrecht ausschließlich dann Anwendung finden, wenn weder der „Vorrang, die Einheit (noch) die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“ noch das unionale Schutzniveau dadurch herabgesetzt wird.533 Eine solche Beeinträchtigung wird regelmäßig dann abzulehnen sein, wenn den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume bei der nationalstaatlichen Umsetzung verbleiben.534 Wenn den Mitgliedstaaten hingegen keine Umsetzungsspielräume verbleiben, ist eine Beeinträchtigung des Unionsrechts regelmäßig anzunehmen, da eine Anwendung

531

Das Unionsrecht selbst ist nicht anhand nationaler Grundrechte überprüfbar, s. hierzu Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 53 GrCh Rn. 22 ff.; s. zudem Terhechte, in: von der Groeben / ​Schwarze / ​Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 53 GrCh Rn. 9. 532 EuGH, Urteil vom 9. 3. 1978 – C-106/77 (Rs. Simmenthal) = Slg. 1978, 629, 644 Rn. 17/18; EuGH, Urteil vom 15. 7. 1964 – 6/64 (Rs. Costa / ​ENEL) = Slg. 1964, 1251, 1269 ff.; EuGH, Urteil vom 5. 2. 1963 – C 26/62 (Rs. Gend & Loos) = Slg. 1963, 7 ff. Den Anwendungsvorrang vor nationalem Verfassungsrecht hat der EuGH erstmalig festgehalten in: EuGH, Urteil vom 17. 12. 1970 – C-11/70 = NJW 1971, 343 Rn. 3 f.; zur Rspr. vgl. Franzius, EuR 2019, 365, 369 ff. 533 EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-399/11 (Rs. Melloni) = NJW 2013, 1215, 1219 Rn. 60; EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-617/10 (Rs. Åkerberg Fransson) = NJW 2013, 1415, 1416 Rn. 29. Diese Ansicht hat der EuGH in seinem Gutachten 2/13 v. 18. 12. 2014 bestätigt, s. EuGH, Urteil vom 18. 12. 2014 (Gutachten 2/13) = JZ 70 (2015), 773, 777 Rn. 188; s. hierzu Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 53 GrCh Rn. 25. 534 So bspw. bei der nationalstaatlichen Umsetzung von Ablehnungsgründen im RbEuHb, denen im Rahmenbeschluss ein Umsetzungsspielraum zugebilligt wird, s. hierzu die Einleitung Fn. 28.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

nationaler Grundrechte ansonsten zu einer Unanwendbarkeit von Unionsrecht führen würde, das keine andere mitgliedstaatliche Gestaltung duldet.535 Der EuGH betont damit die Erforderlichkeit einer einheitlichen Rechtsanwendung innerhalb der Union, die eine wesentliche Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Union ist. Dies leitet der EuGH zuvörderst aus der Autonomie der Unionrechtsordnung ab und stellt auf die Loyalität der Mitgliedstaaten gegenüber der Union nach Art. 4 Abs. 3 EUV ab.536 Hiernach ist, da eine Übergabe auf der Grundlage des RbEuHb stets in Durchführung von Unionsrecht erfolgt und die GrCh daher gem. Art. 51 Abs. 1 GrCh anwendbar ist, der Grundrechtskatalog des GG nicht als Maßstab für einen allgemeinen Grundrechtsvorbehalt anwendbar, sofern die Effektivität des Unionsrechts dadurch in Frage gestellt wird. Genau eine solche Beschränkung des Unionsrechts hat der EuGH allerdings durch die Anwendbarkeit nationaler Grundrechte auf das Übergabeverfahren des Europäischen Haftbefehls angenommen und fand äußerst deutliche Worte: Die Anwendung des nationalen Verfassungsrechts des Vollstreckungsstaates „würde (…), indem die Einheitlichkeit des im Rahmenbeschluss festgelegten Grundrechtsschutzstandards in Frage gestellt wird, zu einer Verletzung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, die der Rahmenbeschluss stärken soll, führen und daher die Wirksamkeit dieses Rahmenbeschlusses beeinträchtigen“.537 Ein Abstellen auf nationales (auch: Verfassungs-)Recht würde hiernach der Funktionsfähigkeit der Union widersprechen, sodass eine effektive Durchsetzung des Unionsrechts nach der Rspr. des EuGH einen uneingeschränkten Anwendungsvorrang von Unionsrecht erfordert. Ausschließlich dort, wo völkervertraglich ein fakultativer Ablehnungsgrund geregelt ist, können innerstaatlich nationale Grundrechte anwendbar sein, solange das Unionsrecht nicht beeinträchtigt wird. Hiernach käme im Übergabeverfahren auf der Grundlage des RbEuHb dem Katalog der GrCh stets in der hier untersuchten Konstellation des Fehlens eines allgemeinen normierten Grundrechtsvorbehalts Vorrang zu. Das GG bliebe hiernach unanwendbar. Das BVerfG folgt dem EuGH heutzutage zwar im Ansatzpunkt und akzeptiert den grundsätzlichen Vorrang von Unionsrecht aufgrund der Autonomie der Unionsrechtsordnung.538 Gleichwohl geht es von einem verfassungsrechtlichen Vorbehalt

535 Millet, CMLR 51 (2014), 195, 213 f.; Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 104. 536 S. insbes. EuGH, Urteil vom 18. 12. 2014 (Gutachten 2/13) = JZ 70 (2015), 773, 776 Rn. 170; EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013  – C-399/11 (Rs. Melloni) = NJW 2013, 1215, 1219 Rn. 59. 537 EuGH, Urteil vom 26. 2. 2013 – C-399/11 (Rs. Melloni) = NJW 2013, 1215, 1219 Rn. 63. 538 S. erst kürzlich BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 746 f. Rn. 110 ff.; BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 202 Rn. 42; s. zudem BVerfGE 140, 317, 334 f. Rn. 36; BVerfG, 6. 9. 2016 – 2 BvR 890/16 = HRRS 2016, 418 Rn. 32; BVerfG, 6. 7. 2010 – 2 BvR 2661/06 = NJW 2010, 3422, 3423 Rn. 53.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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aus,539 den es aus der rechtlichen Begründung des Anwendungsvorrangs von Unionsrecht herleitet: Anders als der EuGH leitet das BVerfG diesen Anwendungsvorrang nicht aus der Autonomie der Unionsrechtsordnung ab, sondern aus der Übertragung nationaler Kompetenzen auf die Union nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG und damit aus der verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung.540 Denn die Union selbst ist auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge und aufgrund der Übertragung hoheitlicher Kompetenzen der Mitgliedstaaten auf die Europäische Union entstanden. Demzufolge könne ein Vorrang des Unionsrechts nur so weit gelten, wie Kompetenzen überhaupt auf die Union übertragen werden können.541 Erst das innerstaatliche Zustimmungsgesetz zu den völkerrechtlichen Gründungsverträgen der Union begründe den Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Insofern richte sich eine mögliche Übertragung hoheitlicher Kompetenzen aus verfassungsrechtlicher Sicht nach dem Integrationshebel des Art. 23 Abs. 1 GG.542 Ein Anwendungsvorrang des Unionsrechts beruht hiernach auf der verfassungsrechtlichen Ermächtigung hierzu durch den Integrationshebel des Art. 23 Abs. 1 GG. Während das BVerfG zu Beginn der Europäischen Gemeinschaft einen vergleichbaren Grundrechtsschutz verneinte und sich einem Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Verfassungsrecht deshalb entgegenstellte,543 hat sich dies mit der Entwicklung des gemeinschaftrechtlichen Grundrechtsschutzes geändert: Mittlerweile nimmt das BVerfG zur Konfliktvermeidung mit dem EuGH in ständiger Rechtsprechung seine Ausübungskompetenz zur Wahrung grundrechtlicher Garantien des GG zurück, solange ein vergleichbarer Grundrechtsschutz durch die Unionsgrundrechte gewährleistet wird.544 Gleichzeitig behält sich das 539

Auch in seinem Beschluss „Recht auf Vergessen II“ (BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 202 Rn. 49) hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betont, dass der Vorbehalt der Wahrung der Verfassungsidentität dem grundsätzlichen Anwendungsvorrang des Unionsrechts entgegenstehen kann. Einen solchen Vorbehalt hat das BVerfG erst kürzlich erstmals geltend gemacht (BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744 ff.). 540 S. zuletzt BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 747 Rn. 113; s. a. BVerfG, 6. 9. 2016 – 2 BvR 890/16 = HRRS 2016, 418 f.; BVerfG, 6. 7. 2010 – 2 BvR 2661/06 = NJW 2010, 3422, 3423 Rn. 53; s. hierzu Satzger, in: Sieber / ​Satzger / ​von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 1 Rn. 10; Satzger, NStZ 2016, 514, 517. 541 So zuletzt BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 746 Rn. 101 ff.; s. insbes. auch BVerfGE 140, 317, 334 ff. Rn. 36, 40 ff.; 134, 366, 384 Rn. 27; 123, 267, 348; BVerfG, 6. 7. 2010 – 2 BvR 2661/06 = NJW 2010, 3422, 3423 f. Rn. 53 ff. 542 Vgl. BVerfGE 140, 317, 334 f. Rn. 35 ff. (Solange-III); BVerfGE 73, 339, 374 f. (Solange-II); BVerfGE 37, 271, 279 ff. (Solange-I). 543 S. nur BVerfGE 37, 271, 280 f. (Solange-I); zur historischen Entwicklung vgl. Eßlinger  / ​ Herzmann, JURA 2016, 852, 854 f. 544 Sog. Solange II-Beschluss des BVerfG: BVerfGE 73, 339, 387: „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemein-

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Verfassungsgericht allerdings vor, für den Fall des Verstoßes gegen elementare Strukturprinzipien der deutschen Verfassungsordnung bzw. des integrationsfesten Bestands nach Art. 79 Abs. 3 GG den Grundrechtsschutz doch auszuüben.545 Dies umfasst nach Überzeugung des BVerfG auch den Fall, dass die EU oder eines ihrer Organe eine der EU bzw. dem Organ in den Verträgen eingeräumte Kompetenz überschreitet (ultra-vires-Akt).546 Auch im Prozess europäischer Integration behält sich das BVerfG also vor, sowohl über die Einhaltung der nationalen Verfassungsidentität als auch darüber zu wachen, dass EU-Organe ihre in den Unionsverträgen eingeräumten Kompetenzen nicht überschreiten. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts findet nach Ansicht des BVerfG daher seine Grenzen in dem nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Bestand der deutschen Verfassungsidentität und damit in der deutschen Verfassung selbst.547 Das BVerfG hat sich durch diese Rechtsprechung dazu entschieden, einer Konfrontation mit dem EuGH bezüglich des Grundrechtsschutzes bestmöglich aus dem Weg zu gehen, solange ein „wesensgleicher Grundrechtsschutz“ unionsrechtlich gewährleistet ist und der integrationsfeste Bestand des deutschen Verfassungsrechts nicht gefährdet wird.548 (b) Das BVerfG und die Identitätskontrolle Bei dem Fehlen eines vergleichbaren unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes hat das BVerfG in seinem großes Aufsehen erregenden Beschluss vom 15. 12. 2015549 angesetzt. Dieser Beschluss wird vielfach als Grund des Rechtsprechungswechschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen“. 545 Dies soll in Form der sog. Identitätskontrolle erfolgen, s. hierzu insbes. BVerfGE 140, 317, 336 ff. Rn. 41 ff. und neuerdings BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 202 Rn. 42. 546 Vgl. hierzu m. w. N. BVerfGE 142, 123 Rn. 143 ff., 153; BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 746 f. Rn. 105 ff. Da eine entsprechende Kompetenzüberschreitung der EU bzw. ihrer Organe zugleich die Identität der nationalen Verfassung berührt, stellt die ultra-vires-Kontrolle einen speziellen Fall der Identitätskontrolle dar, s. BVerfGE 142, 123 Rn. 153; aus der Literatur: Calliess, NVwZ 2020, 897, 900 f.; Schneider, AöR 139 (2014), 196, 245 f. 547 BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 746 Rn. 101 m. w. N. 548 Satzger, NStZ 2016, 514, 517, spricht insofern von einer „Kooperation“ des BVerfG mit dem EuGH. 549 BVerfGE 140, 317 ff. Der Beschluss ist vielfach als „Solange 3“ bezeichnet worden, s. nur Eßlinger / ​Herzmann, JURA 2016, 852, 855; Kühne, StV 36 (2016), 299; Satzger, NStZ 2016, 514. Ein Verstoß gegen den integrationsfesten Kernbestand der deutschen Verfassungsidentität hat das BVerfG in seinem Beschluss jedoch nicht festgestellt, sodass die Bezeichnung unzutreffed ist.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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sels des EuGH bezüglich der Anerkennung eines europäischen Grundrechtsvorbehalts bei Überstellungen auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls interpretiert.550 In dem Verfahren vor dem BVerfG ging es um die Übergabe eines US-amerikanischen Staatsangehörigen nach Italien auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Strafurteils von 30 Jahren Freiheitsstrafe wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie der Einfuhr und des Besitzes von Kokain erlassen wurde. Der Beschwerdeführer wurde 2014 in Deutschland festgenommen. Im Übergabeverfahren machte er im Wesentlichen geltend, in dem nach italienischem Recht eröffneten Berufungsverfahren könne er keine erneute Beweisaufnahme herbeiführen, sodass sein Recht auf ein faires Verfahren nicht gewährleistet sei.551 Nichtsdestrotz hatte das im Zulässigkeitsverfahren zuständige OLG Düsseldorf552 die Auslieferung für zulässig erklärt. Hiergegen hatte der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde beim BVerfG eingelegt.553 Abermals hat das BVerfG in seinem Beschluss zunächst den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich anerkannt, allerdings für den Fall eines Absinkens des unionalen Grundrechtsschutzniveaus unter für die deutsche Verfassungsidentität maßgeblichen nationalen Grundrechte eine verfassungsrechtliche Identitätskontrolle angedroht: Das BVerfG hat in seinem Beschluss ausdrücklich festgestellt, dass für den Fall, „dass der vom Grundgesetz geforderte Mindeststandard vom ersuchenden Mitgliedstaat nicht eingehalten wird, (…) das zuständige Gericht die Auslieferung nicht für zulässig erklären (darf)“.554 Insofern hat das BVerfG die Auslegung des EuGH zum uneingeschränkten Anwendungsvorrang von Unionsrecht vor nationalem Verfassungsrecht in Bezug auf die tragenden Strukturprinzipien der deutschen Verfassung als aus deutscher Sicht unzulässigen ultra-vires-Akt bezeichnet:555 Es hat dabei die in Art. 79 Abs. 3 GG normierten Verfassungsgrundsätze als integrationsfeste Grundsätze bezeichnet, deren Sicherstellung das BVerfG auch im Übergabeverfahren an einen Mitgliedstaat der EU im Wege der Verfassungsbeschwerde zu gewährleisten habe.556 Zu diesen strukturtragenden Grundsätzen zählt das BVerfG insbesondere die Grundsätze des Art. 1 GG einschließlich des in der Menschenwürde verankerten Schuldgrundsatzes und Art. 20 GG.557 Diese verlangten im konkreten Fall danach, dass dem zu 550

So wohl bspw. von Brodowski, JR 2016, 415; Satzger, NStZ 2016, 514, 519. BVerfGE 140, 317, 318 ff. Rn. 1 ff. 552 OLG Düsseldorf, 7. 11. 2014 – 3 Ausl 108/14 = BeckRS 2016, 3446. 553 BVerfGE 140, 317, 318 Rn. 1. 554 BVerfGE 140, 317, 352 Rn. 75. Dieser Aussage ist in der Literatur viel Aufmerksamkeit geschenkt worden: Satzger, NStZ 2016, 514, 516, spricht bspw. von einer „Sprengkraft“ dieser Passage. 555 S. hierzu auch Swoboda, ZIS 2018, 276, 277. 556 BVerfGE 140, 317, 334 Rn. 36; BVerfG, 6. 9. 2016 – 2 BvR 890/16 = HRRS 2016, 418 f. 557 BVerfGE 140, 317, 334 ff., 341 Rn. 36 ff., 42, 48. 551

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Überstellenden in Italien ein erneutes Strafverfahen mit Beweisaufnahme in seiner Anwesenheit gewährt werde. Hiermit hat das BVerfG den Weg für eine Identitätskontrolle in Übergabeverfahren auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls geschaffen. Gleichwohl hat das BVerfG im konkreten Fall keine Verletzung des integrationsfesten Kernbestands der deutschen Verfassung gesehen, sondern den im Raum stehenden unionsrechtlichen Ablehnungsgrund des Art. 4a RbEuHb unionsrechtlich so ausgelegt, dass die Überstellung bereits nach dem Unionsrecht nicht zu vollstrecken war.558 Seine Aussagen hat das BVerfG daher obiter dictum getätigt, was deren grundsätzliche Aussagekraft nicht mindert. In einem weiteren Verfahren hatte das BVerfG dann Gelegenheit, seine vorherigen Aussagen zu bestätigen und zu präzisieren: Es hat seine Prüfung insoweit zurückgenommen, als dass nicht jede Verletzung eines integrationsfesten Grundrechts im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann. Nur solche Verletzungen, die den Kernbereich eines unabdingbaren Grundrechts verletzen, können geltend gemacht werden.559 Nach der Rechtsprechung des BVerfG existiert demnach ein sog. integrationsfester Kernbestand der Verfassungsidentität, der auch im Verhältnis zu anderen Mitgliedstaaten der Union unbedingt zu gewährleisten ist und einen Anwendungsvorrang von entgegenstehendem Unionsrecht nicht gestattet. Hierauf aufbauend hat es das BVerfG mit seinem Urteil vom 5. 5. 2020560 nicht mehr bei der Androhung einer am Maßstab des GG durchgeführten Kontrolle von Unionsrechtsakten belassen. Vielmehr hat es erstmals auf der Grundlage einer ultra-vires-Kontrolle Rechtsakte von Organen der EU für ultra vires und daher in Deutschland für unanwendbar561 erklärt. In dem Verfahren vor dem BVerfG ging es um das milliardenschwere Programm der EZB zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors.562 Der EuGH hatte zuvor geurteilt, dass das Programm rechtlich nicht zu beanstanden sei.563 Dem widersprach das BVerfG in seinem Urteil.564 Mehrere Personen hatten Verfassungsbeschwerde mit der Begründung eingereicht, dass die EU ihre Kompetenzen aus Art. 127 Abs. 6 i. V. m.,

558

BVerfGE 140, 317, 355 ff., 366 Rn. 84 ff., 107. BVerfG, 6. 9. 2016 – 2 BvR 890/16 = HRRS 2016, 418 f. 560 BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744 ff. 561 So ausdrücklich: BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 756 Rn. 234. Dementsprechend hat das Urteil in der Literatur bisher einige Reaktionen hervorgerufen, s. nur Calliess, NVwZ 2020, 897 ff.; Haltern NVwZ 2020, 824 ff.; Kahl, NVwZ 2020, 824 ff.; Ludwigs, EuZW 2020, 530 ff.; Mayer, JZ 75 (2020), 725 ff.; Schorkopf, JZ 75 (2020), 734 ff.; Wehmhörner, NVwZ 2020, 342 ff. 562 Zum Hintergrund dieses Urteils s. eingehend Calliess, NVwZ 2020, 897 f.; Mayer, JZ 75 (2020), 725 ff.; Schorkopf, JZ 75 (2020), 734 f.; Wehmhörner, NVwZ 2020, 342 f. 563 EuGH, Urteil vom 11. 12. 2018 – C-493/17 (Rs. Weiss u. a.) = EuZW 2019, 162 ff. 564 BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 756 Rn. 229 ff. 559

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

193

Art. 114 Abs. 1 AEUV überschritten habe und sie deshalb in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1, 2 GG und Art. 79 Abs. 3 GG verletzt seien.565 Das BVerfG hielt zwar fest, dass bei der Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung einer Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU im Rahmen einer ultra vires- oder Identitätskontrolle das BVerfG grundsätzlich die Beurteilung zugrunde zu legen habe, zu der der EuGH gemäß seinem Mandat aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern, gelangt sei.566 Insbesondere stehe dem EuGH im Rahmen seiner Aufgabenzuweisung in Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV auch ein Anspruch auf „Fehlertoleranz“ zu.567 Dessen Beurteilungen seien allerdings dann nicht mehr zu berücksichtigen, wenn die Auslegung durch den EuGH schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich sei.568 Das Urteil des EuGH vom 11. 12. 2018 überschreite aber gerade offensichtlich seine in Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV zugewiesene Kompetenz, soweit es die Verhältnismäßigkeit des PSPP-Programms bejaht.569 Denn die EZB habe nicht hinreichend begründet, warum das Programm verhältnismäßig sei. Es gingen mit dem Programm aber erhebliche wirtschaftliche Beeinträchtigungen einher. Diese Interessen seien nicht in die Abwägung einbezogen worden.570 Im Falle des Überschreitens des dem EuGH zustehenden Spielraums sei dessen Handeln nicht mehr vom Mandat des Art. 19 Abs. 2 S. 2 EUV i. V. m. dem Zustimmungsgesetz gedeckt. Seiner Entscheidung fehle insofern das in Deutschland gem. Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1, 2 GG und Art. 79 Abs. 3 GG erforderliche Mindestmaß an demokratischer Legitimation.571 (c) Ansätze eines nationalen Grundrechtsvorbehalts in der Rechtsprechung des EuGH? Der Fokus des EuGH, durch den unbedingten und absoluten Vorrang des Unionsrechts nationale Grundrechte keinesfalls im Anwendungsbereich des Unionsrechts 565

BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 745; vgl. hierzu insbes. Wehmhörner, NVwZ 2020, 342 ff. 566 BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 747 Rn. 112 ff.; vgl. zur grundsätzlichen Akzeptanz des Vorrangs von Unionsrecht und des Auslegungsmonopols des EuGH auch Kahl, NVwZ 2020, 824, 825 f. 567 BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 747 Rn. 112. 568 BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 748 Rn. 118. 569 BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 748 Rn. 117, 751 Rn. 155. 570 BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 748 ff. Rn. 123 ff. 571 BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 747 Rn. 113.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

zur Anwendung gelangen zu lassen, hat sein Konfliktpotenzial mit nationalen Verfassungsgerichten bewiesen. Der EuGH hat jedoch gezeigt, dass ihm daran gelegen ist, einem Konflikt mit den nationalstaatlichen Verfassungsgerichten aus dem Weg zu gehen. So hat er mittlerweile teilweise das Unionsrecht „passend“ ausgelegt, um nationale Verfassungsidentitäten zu berücksichtigen: Hintergrund ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Taricco aus dem Jahre 2015,572 in der der EuGH noch judiziert hatte, dass nationale Verjährungsvorschriften bezüglich Straftaten aus dem unionsrechtlich geregelten Bereich des Mehrwertsteuerbetrugs unanwendbar sind, wenn ihre Anwendung der primärrechtlichen Norm des Art. 325 Abs. 1, 2 AEUV widerspricht.573 Daraufhin hatte das oberste Verfassungsgericht Italiens in der Rechtssache M. A. S. und M. B. ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH in einer erneuten Sache bezüglich dieser Problematik bemüht:574 Es äußerte Zweifel bezüglich der Vereinbarkeit der vorherigen Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Taricco mit den obersten die italienische Verfassungsidentiät berührenden Grundsätzen. Es legte dar, dass die italienischen Vorschriften zum Verjährungsrecht in Italien Teil des materiellen Rechts seien, für die die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Gesetzmäßigkeit (des Legalitätsprinzips), des Rückwirkungsverbots und des Gewaltenteilungsprinzips anwendbar seien. Ähnlich wie das BVerfG in seinem Beschluss vom 15. 12. 2015 hat der italienische Corte Costituzionale mit einer verfassungsrechtlichen Kontrolle bezüglich der Wahrung der italienischen Verfassungsidentität (in Italien: sog. controlimiti) gedroht.575 Zur Konfliktvermeidung mit dem italienischen Gericht hat der EuGH bereits aus dem Unionsrecht ein im konkreten Fall hinreichendes Grundrechtsschutzniveau aus Art. 49 GrCh hergeleitet576 und ist der Frage nach dem Anwendungsvorrang von Unionsrecht bei verfassungsidentitätsberührenden Normen dadurch ausgewichen. Gleichwohl hat er das italienische Recht insofern anerkannt, als dass nach italienischem Recht die Verjährungsvorschriften zum materiellen Recht gehören,577 mit der Folge, dass Art. 49 GrCh anzuwenden war. Die italienischen Verjährungsvorschriften liefen den Unionsinteressen zwar zuwider, müssten im Hinblick auf Art. 49 GrCh dennoch Berücksichtigung finden.578

572

EuGH, Urteil vom 8. 9. 2015 – C-105/14 (Rs. Taricco) = NZWiSt 2015, 390. So EuGH, Urteil vom 8. 9. 2015 – C-105/14 (Rs. Taricco) = NZWiSt 2015, 390, 395 f. Rn. 58. 574 EuGH, Urteil vom 5. 12. 2017 – C-42/17 (Rs. M. A. S. und M. B.) = NJW 2018, 217. 575 Zum italienischen controlimiti-Verfahren in der Rs. M. A. S. und M. B. näher Viganò, NJECL 9 (2018), 18; zum controlimiti-Verfahren generell vgl. Tizzano, EuGRZ 37 (2010), 1, 4 f. 576 Vgl. EuGH, Urteil vom 5. 12. 2017 – C-42/17 (Rs. M. A. S. und M. B.) = NJW 2018, 217, 220 Rn. 52 ff. 577 EuGH, Urteil vom 5. 12. 2017 – C-42/17 (Rs. M. A. S. und M. B.) = NJW 2018, 217, 219 f. Rn. 43 ff. 578 EuGH, Urteil vom 5. 12. 2017 – C-42/17 (Rs. M. A. S. und M. B.) = NJW 2018, 217, 220 Rn. 52 ff. 573

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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Der EuGH hat hier durch die Anknüpfung an Art. 49 GrCh einen unionsrechtlichen Vorbehalt hergeleitet – und zwar im Hinblick auf ein unionsrechtlich geschütztes Rechtsgut (EU-Finanzinteressen). Dann muss dies erst recht gelten, wenn es um einen den Menschenwürdekern schützenden Vorbehalt (vgl. Art. 2 EUV, der die Achtung der Menschenwürde als ersten grundlegenden Wert der EU benennt) im Rahmen des Übergabeverfahrens zwischen zwei Mitgliedstaaten auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls geht.579 Auch wenn der EuGH hier einem Konflikt ausgewichen ist, stellt sich die generelle Frage, inwiefern eine Identitätskontrolle durch nationale Gerichte überhaupt unionsrechtskonform sein kann. (d) Unionsrechtskonformität einer Identitätskontrolle? Auch wenn es für Nationalstaaten typisch ist, dass ihre Rechtssysteme aus nationalstaatlicher Sicht unabdingbare Verfassungsgrundsätze aufweisen, so ist eine solche nationale Sichtweise auf den ersten Blick doch nur schwer mit dem europäischen Staatenverbund580 zu vereinbaren, der einem einheitlichen unionsweiten Wertesystem unterliegen soll. So gesehen könnte das Konzept einer Identitätskontrolle dem unionsrechtlichen Gefüge fremd sein bzw. sogar zuwiderlaufen. Allerdings erkennt das Unionsrecht die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Mitgliedstaaten an: Bereits in der Präambel zum EUV wird auf die einzelnen Nationalstaaten Bezug genommen und der Entschluss bekundet, den „Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ weiterzuführen.581 Auch in der Präambel zur GrCh findet sich ein primärrechtlicher Bezug zu den nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten: Nach Erwägungsgrund 3 der Präambel „trägt (die Union) zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene bei“. Unionsrechtlich finden nationale Identitäten demnach Anerkennung. Gleichwohl könnte der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV einer Identitätskontrolle nationaler Verfassungsgerichte entgegenstehen. Denn Identitätskontrollen einzelner Mitgliedstaaten der EU stellen die Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung und damit letztlich ihre Effektivität in Frage. Für eine größtmögliche Effektivität müsste das Unionsrecht einheitlich angewandt werden. Dann aber könnten nationale Verfassungidentitäten keine Berücksichtigung finden.

579

Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 29 ff. BVerfGE 89, 155, 181; Eßlinger / ​Herzmann, JURA 2016, 852, 855. 581 S. hierzu auch Haratsch, EuR 2016, 131, 132. 580

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Das BVerfG verweist dementgegen zur unionsrechtlichen Legitimation einer Identitätskontrolle auf Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV und erblickt hierin eine Einschränkung des Anwendungsvorrangs von Unionsrecht:582 Hiernach sei eine Identitätskontrolle bereits im unionsrechtlichen Primärrecht angelegt. Denn die EU ist kein Staat, sondern ein Staatenverbund. Als solcher obliege nicht nur die Anerkennung, sondern auch die Achtung der mitgliedstaatlichen Identitäten bereits primärrechtlich auch der EU, ihren Organen, Institutionen und sonstigen Einrichtungen (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV). Müsse die EU die mitgliedstaatliche Verfassungsidentität achten, könne diesbezüglich kein Anwendungsvorrang des Unionsrechts gelten.583 Nicht nur die Mitgliedstaaten müssten daher mit der Union loyal zusammenarbeiten. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit beruhe vielmehr auf einer Wechselseitigkeit zwischen den Mitgliedstaaten und der EU und ihrer Organe. Ob Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV tatsächlich so zu verstehen ist, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts in Bereichen der nationalen Identität zurücktritt und so den nationalen Verfassungsgrundsätzen Vorrang zukommen soll,584 kann allerdings nicht einfach pauschal behauptet werden. Der Wortlaut selbst585 gibt dies jedenfalls nicht ausdrücklich her. Auch in der wissenschaftlichen Debatte kreist daher die Diskussion bezüglich der Geltendmachung nationaler Verfassungsnormen auch im unionsrechtlichen Anwendungsbereich um Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV.586 Unionsrechtlich betrachtet erweist sich Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV als einziger normativer Anknüpfungspunkt für eine mögliche unionsrechtliche Legitimation einer verfassungsrechtlichen Identitätskontrolle. Zur Beantwortung der Frage nach einer solchen unionsrechtlichen Legitimation kann es sich als hilfreich erweisen, zunächst zu klären, was überhaupt Bestandteil der „nationalen Identität“ i. S. d. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV ist, in welchen Grenzen diese unionsrechtlich Geltung beansprucht und wer befugt ist, darüber zu entscheiden, ob im konkreten Fall die nationale Identität berührt ist.

582

S. hierzu und zum Folgenden BVerfGE 140, 317, 337 f. Rn. 44; 123, 267, 353 f. Das BVerfG hat als Begründung für die Zulässigkeit der Identitätskontrolle in seinem Beschluss vom 15. 12. 2015 insbesondere angeführt, dass auch in anderen Mitgliedstaaten der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht uneingeschränkt gelte, s. BVerfGE 140, 317, 339 ff. Rn. 47; zur Handhabe in anderen Mitgliedstaaten s. zudem Pernice, AöR 136 (2011), 185, 214. 583 S. hierzu Mayer, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 19 EUV Rn. 88 ff.; Walter, ZaöRV 72 (2012), 177, 179 f. 584 Als Souveränitätsvorbehalt der Mitgliedstaaten wird Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV allerdings angesehen von: Bleckmann, JZ 52 (1997), 265 ff.; Calliess / ​Kahl / ​Puttler, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 4 EUV Rn. 22; 585 Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV normiert, dass „(d)ie Union (…) die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität (achtet), die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“ 586 S. von Bogdandy / ​Schill, ZaöRV 70 (2010), 701; Pernice, AöR 136 (2011), 185; Schill  / ​ Krenn, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 14.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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(aa) Schutzgehalt nationaler Identität: Grundlegende Verfassungsstrukturen eines Nationalstaats Zunächst stellt sich die Frage, was aus unionsrechtlicher Sicht unter der nationalen Identität i. S. d. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV zu verstehen ist. Unstreitig erfasst die nationale Identität die Verfassungsidentität eines Mitgliedstaates.587 Dies ergibt sich bereits aus Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV selbst, in dem von „verfassungsmäßigen Strukturen“ gesprochen wird und damit an die Verfassung der Nationalstaaten angeknüpft wird. Allerdings kann – um die Effektivität des Unionsrechts nicht zu sehr einzuschränken – nicht jede Verfassungsnorm Bestandteil der nationalen Identität sein. Dies folgt aus Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV, der die Achtung der nationalen Identität auf die „grundlegenden (…) verfassungsmäßigen Strukturen“ beschränkt.588 Erfasst sind damit ausschließlich die strukturellen Verfassungsprinzipien eines Mitgliedstaates und damit die Grundentscheidungen einer mitgliedstaatlichen Verfassung, die das staatliche Gefüge im Wesentlichen ausmachen, nicht hingegen jegliche verfassungsrechtliche Normierung. Zu solchen grundlegenden verfassungsmäßigen Strukturen zählen beispielweise das Rechtsstaatsprinzip, das Demokratieprinzip und die Grundrechtsbindung und deren jeweilige Ausgestaltung im Nationalstaat.589 Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV ordnet daher normativ ausdrücklich den Schutz grundlegender verfassungsrechtlicher Strukturentscheidungen der Nationalstaaten wie beispielsweise das Rechtsstaatsprinzip in ihrem Wesensgehalt an. Aus der restriktiven Interpretation folgt allerdings in Bezug auf die Grundrechte auch, dass nicht jedes nationale Grundrecht einem unionsrechtlichen Schutz nach Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV unterliegt.590 Auch das BVerfG geht zwar nicht von einem umfassenden verfassungsrecht­ lichen Identitätsschutz aus, sondern beschränkt seine „Identitätskontrolle“ auf den Wesensgehalt der nationalen Verfassung.591 Der unionsrechtliche Schutz nationaler Identitäten nach Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV ist jedoch nicht national, sondern aus unionsrechtlicher Sicht zu bestimmen, da es sich hierbei um einen unionsrechtlichen Begriff handelt, der einheitlich für alle Mitgliedstaaten auszulegen ist592 – 587

BVerfGE 123, 267, 353 f. (Lissabon-Entscheidung); s. auch den Schlussantrag des Generalanwalts Bot v. 2. 10. 2012, C-399/11 (Rs. Melloni) = BeckRS 2012, 81984 Rn. 137; s. zudem Haratsch, EuR 2016, 131, 135; Pernice, AöR 136 (2011), 185, 189. 588 Ebenso von Bogdandy / ​Schill, ZaöRV 70 (2010), 701, 714; Haratsch, EuR 2016, 131, 135 f.; Puttler, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 4 EUV Rn. 15. 589 Haratsch, EuR 2016, 131, 135 f.; Pernice, AöR 136 (2011), 185, 189 f. Dass Art 4 Abs. 2 S. 1 EUV auch die Grundrechtsbindung umfasst, lässt sich Erwägungsgrund 3 der Präambel zur GrCh und der exponierten Stellung entnehmen, die den Grundrechten generell im Unionsrecht zukommt, insbesondere da Art. 2 S. 1 EUV ausdrücklich Individualrechte einbezieht, s. hierzu Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 106 Fn. 32. 590 Vgl. auch Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 106 f. 591 S. statt vieler BVerfGE 140, 317, 352 Rn. 75. 592 Von Bogdandy / ​Schill, ZaöRV 70 (2010), 701, 711 f.; Haratsch, EuR 2016, 131, 135, 138 f.; Obwexer, in: von der Groeben / ​Schwarze / ​Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 27; Pernice, AöR 136 (2011), 185, 186 f., 195; Schill / ​Krenn, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

wenngleich die Union die nationale Perspektive zwingend berücksichtigen muss.593 Denn es ist schließlich gerade das nationale Verfassungsrecht, dessen grundlegende Strukturen die nationale Identität ausmachen.594 Zu solchen nationalen Besonderheiten, die unionsrechtlich bei der Bestimmung der identitätsbildenden Verfassungsnormen eines Nationalstaates Berücksichtigung finden müssen, zählen insbesondere nationalstaatliche Verfassungsnormen, die eine gewisse Wichtigkeit im verfassungsrechtlichen Gefüge haben und damit eine grundlegende Entscheidung der Verfassung zum Ausdruck bringen: So ist z. B. unionsrechtlich durchaus zu berücksichtigen, wenn nationale Verfassungsnormen dem nationalen Gesetzgeber bei Verfassungsänderungen Grenzen in seiner Regelungsfreiheit setzen (wie beispielsweise Art. 79 Abs. 3 GG mit seiner Ewigkeitsklausel).595 (bb) Der unionsrechtliche Schutz nationaler Identitäten und seine Grenzen Die Frage, inwiefern nationale Verfassungsidentitäten dem unionsrechtlichen Konzept eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts widersprechen, eröffnet ein weites Spannungsverhältnis: Einerseits gebietet es das Gebot loyaler Zusammenarbeit, dass Unionsrecht und damit insbesondere auch die GrCh möglichst effektiv durchgesetzt wird und rein nationale Verbindlichkeiten insoweit zurücktreten sollen. Damit könnte das Spannungsverhältnis grundsätzlich zu Gunsten des Unionsrechts aufzulösen sein. Gleichwohl achtet und erkennt die Union die wesentlichen nationalen Identitätsstrukturen und damit die Kernbestandteile der jeweiligen nationalen Verfassungsidentitäten an. Dem Wortlaut nach sieht Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV primärrechtlich ausschließlich eine Anerkennung und Achtung nationaler Identitäten vor. Geregelt ist dort jedenfalls nicht, dass grundlegenden Bestandteilen der nationalen Verfassungsidentität Vorrang vor Unionsrecht zukommen soll und diese daher den grundsätzlichen Anwendungsvorrang des Unionsrechts durchbrechen. Vielmehr ist der Union durch Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV ein unverhältnismäßiger Eingriff in Bereiche der nationa(Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 15 ff.; Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 4 EUV Rn. 14; Swoboda, ZIS 2018, 276, 279 Fn. 36, 284; anders: Wendel, ZaöRV 74 (2014), 615, 645, der postuliert, dass die „unionsrechtliche Wahrung nationaler Identität von einer autonomen Begriffsbestimmung der nationalen Verfassungsidentität durch die Mitgliedstaaten auszugehen (habe)“; ebenso Franzius, EuR 2019, 365, 378, der davon ausgeht, dass die Mitgliedstaaten festlegen, was zur nationalen Identität gehört. 593 Schill / ​Krenn, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 25; Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 4 EUV Rn. 14; Swoboda, ZIS 2018, 276, 284. 594 So auch: von Bogdandy / ​Schill, ZaöRV 70 (2010), 701, 719; Pernice, AöR 136 (2011), 185, 186 f. 595 Von Bogdandy / ​Schill, ZaöRV 70 (2010), 701, 714; Haratsch, EuR 2016, 131, 139 f.; Schill  / ​ Krenn, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 24; Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 4 EUV Rn. 14.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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len Identität versagt: Es soll ein schonender Ausgleich zwischen der Funktionsfähigkeit der Union und nationalen Identitätsinteressen geschaffen werden, und das selbst dann, wenn der Kernbereich der nationalen Identität berührt ist.596 Durch das primärrechtlich normierte Achtungsgebot weist das Unionsrecht nationalen Identitäten also keinen absoluten Schutz zu.597 Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV ist im Sinne eines „föderalen Grundrechts“598 der Mitgliedstaaten selbst gegenüber der EU und ihren Organen zu verstehen, aus dem eine Achtungs- und Schutzpflicht gegenüber den Mitgliedstaaten resultiert.599 Denn auch die Organe der Union sind zur loyalen Zusammenarbeit gegenüber den Mitgliedstaaten und damit dazu verpflichtet, nationale Interessen einzubeziehen. Für diese stellt Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV durch den Verweis auf die Achtung und Rücksichtnahme auf nationale Identitäten eine Ausprägung des Grundsatzes loyaler Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV dar.600 Der Grundsatz loyaler Zusammenarbeit ist daher als Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme von Union bzw. Unionsorganen und den einzelnen Mitgliedstaaten zu verstehen. Eine solche Rücksichtnahme erfordert immer einen schonenden Ausgleich der in Frage stehenden Interessen. Damit enthält Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV jedoch keinen Souveränitätsvorbehalt in Form einer Identitätskontrolle der einzelnen Mitgliedstaaten für den Fall des Unterschreitens eines den Kernbestand betreffenden Verfassungsgehalts: Denn als unionsrechtlicher Begriff ist die nationale Identität i. S. d. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV einheitlich für alle Mitgliedstaaten durch den EuGH auszulegen und daher im Lichte der Verträge der Union und unterliegt den dortigen Grenzen.601 Bereits deshalb können Mitgliedstaaten nicht einfach national entscheiden, was unionsrechtlich hierunter zu verstehen ist. Unterliegt das Achtungsgebot unionsrechtlichen Grenzen, müssen auch bei einer Rücksichtnahme auf die nationale Identität die jeweiligen Verfassungsnormen mit 596

S. hierzu Calliess / ​Kahl / ​Puttler, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 4 EUV Rn. 111; Haratsch, EuR 2016, 131, 140 f.; Obwexer, in: von der Groeben / ​Schwarze / ​Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 35, 49; Pernice, AöR 136 (2011), 185, 194; Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 107 f.; Schill / ​Krenn, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 43 ff. 597 Von Bogdandy / ​Schill, ZaöRV 70 (2010), 701, 725 ff.; Pernice, AöR 136 (2011), 185, 194; anders: Calliess / ​Kahl / ​Puttler, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 4 EUV Rn. 22, die stets das Unionsrecht hinter den unantastbaren Kern der nationalen Verfassungsidentität zurücktreten lassen wollen und damit einen Anwendungsvorrang des nationalen Rechts anerkennen. 598 Pernice, AöR 136 (2011), 185, 187. 599 Pernice, AöR 136 (2011), 185, 187, 193 f.; Vedder, in: Vedder / ​Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 20. 600 So Pernice, AöR 136 (2011), 185, 194; Puttler, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​A EUV, Art. 4 EUV Rn. 10. 601 Pernice, AöR 136 (2011), 185, 187, 193 f.; Vedder, in: Vedder / ​Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 20.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

unionalen Werten des Art. 2 EUV konform sein.602 Denn auf Unionsebene normiert Art. 2 EUV Werte, die in den einzelnen Mitgliedstaaten zwingend verwirklicht sein müssen und statuiert damit unionsrechtlich einen absoluten Schutz: Die Werte des Art. 2 EUV sind unionsrechtlich keiner Einschränkung zugänglich. Dies ergibt sich einerseits aus Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV, der einen Antrag auf Beitritt zur EU nur solchen europäischen Staaten gestattet, die die Werte des Art. 2 EUV achten und fördern.603 Andererseits zeigt sich dies an Art. 7 EUV, wonach ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren eingeleitet werden kann, wenn ein Staat die Werte des Art. 2 EUV nicht achtet.604 Damit setzt Art. 2 EUV einerseits eine Grenze für die unionsrechtlich zu schützende nationale Identität. Das, was unionsrechtlich an nationaler Identität eines Mitgliedstaates unbedingt zu schützen ist, muss sich an Art. 2 EUV messen lassen. Insofern verknüpft Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV nationales Verfassungsrecht und Unionsrecht, als dass die mitgliedstaatliche nationale Identität unionsrechtlich in den Grenzen des Art. 2 EUV gewährleistet wird.605 Auf der anderen Seite bietet Art. 2 EUV durch den absoluten Schutz unionaler Werte eine normative Grundlage für eine sich aus allen Mitgliedstaaten zusammensetzende europäische Identität. Die nationale Identität ist damit stets auch Teil der sich aus Art. 2 EUV ergebenden europäischen Identität. Wird Art. 2 EUV jedoch ein absoluter Charakter zugesprochen und ist die nationale Identiät Teil der europäischen Identität und muss sich an Art. 2 EUV messen lassen, dann ist unionsrechtlich zumindest dem nationalen Verfassungsrecht absoluter Charakter zuzusprechen, der sich als elementarer Bestandteil einer mitgliedstaatlichen Verfassung auch als Teil der durch Art. 2 EUV bestimmten europäischen Identität wiederfindet. Dies folgt dann jedoch nicht aus dem nationalen Verfassungsrecht wie beispielsweise aus Art. 79 Abs. 3 GG, sondern aus Art. 2 EUV. Aus der unionsrechtlichen Pflicht zur Rücksichtnahme auf nationale Verfassungsidentitäten folgt zudem die unionsrechtliche Verpflichtung, die elementarsten Grundentscheidungen nationaler Verfassungen und damit den unantastbaren Kernbereich der nationalen Identität in die unionale Identität aufzunehmen und bei der Ausübung und Auslegung von Unionsrecht zu berücksichtigen.606 Denn die in Art. 2 EUV normierten zwingenden Werte haben sich aus den mitgliedstaatlichen gemeinsamen Rechtsordnungen entwickelt.607 Die Eingliederung der Mit 602 Unionsrechtlich kann die nationale Identität nicht geschützt werden, wenn die sie bildenden Verfassungsnormen gegen Art. 2 EUV verstoßen, so zutreffend von Bogdandy / ​Schill, ZaöRV 70 (2010), 701, 715; Pernice, AöR 136 (2011), 185, 190. 603 Haratsch, EuR 2016, 131, 143. 604 Zu dem Rechtsstaatlichkeitsverfahren s. Hatje / ​Schwarze, EuR 2019, 153, 180 f. 605 Pernice, AöR 136 (2011), 185, 203; Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV / ​A EUV, Art. 4 EUV Rn. 19. 606 Kokott / ​Sobotta, EuGRZ 37 (2010), 265, 270; Pernice, AöR 136 (2011), 185, 196; Rung, Grundrechtsschutz in der europäischen Strafkooperation, S. 107 f. 607 S. Art. 2 S. 2 EUV: „Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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gliedstaaten und ihre Vielfalt ist gerade elementarer Bestandteil des europäischen Verständnisses und damit Teil einer europäischen Identität. Dies ergibt sich auch aus deutscher Perspektive bereits aus der Verfassung: Die Europarechtsfreundlichkeit Deutschlands spiegelt sich nicht nur in Art. 23 Abs. 1 GG wider, sondern findet auch in der Präambel zum GG608 bereits ihren Ausdruck. Auch wenn das BVerfG regelmäßig anführt, dass das GG lediglich von einer Europarechtsfreundlichkeit spricht, eine unbedingte Unterwerfung unter Unionsrecht – genauso wie im Völkerrecht609 – hingegen nicht anordne,610 ist Folgendes zu berücksichtigen: In Art. 23 Abs. 1 GG findet sich ein vorbehaltloser verfassungsrechtlicher Auftrag Deutschlands zur Beteiligung an der europäischen Integration.611 Die Geltendmachung nationaler identitätsprägender Vorbehalte entgegen dem Unionsrecht widerspricht der Erfüllung eines solchen durch die Verfassung selbstgegebenen Identitätsauftrags. Im Übrigen spricht die Präambel des GG von Deutschland als einem „gleichberechtigte(n) Glied in einem vereinten Europa“. Damit geht das GG davon aus, dass die nationale Identität Deutschlands in ein vereintes Europa und damit in die europäische Identität eingegliedert ist.612 Dies wiederum findet gerade in Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV seine primärrechtliche Absicherung – allerdings nicht im Sinne eines Anwendungsvorrangs nationalen Verfassungsrechts in seinen Kernbestandteilen, sondern in Form eines Achtungsgebots für Unionsorgane in den Grenzen des Art. 2 EUV und darüber hinaus letztlich durch einen möglichst schonenden Ausgleich von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht. Die einzelnen Mitgliedstaaten haben durch ihren Beitritt zur Europäischen Union ihre nationale Identität nicht aufgegeben. Vielmehr ist diese nationale Vielfalt verfassungsrechtlicher Gestaltungsformen zu einem Wert der Union selbst erstarkt und von dieser zwingend zu beachten.613 Pernice bringt dies treffend auf den Punkt, indem er darlegt, dass die „Verfassungsvielfalt (…) der Reichtum der EU, Quelle ihrer Kraft und Grundlage ihres Zusammenhalts (ist)“.614 Die Eingliederung der Mitgliedstaaten in ein vereintes Europa ist damit Teil ihrer eigenen europäischen Identität. Dies findet nicht nur verfassungsrechtlich in Art. 23 Abs. 1 GG, sondern gerade auch im Primärrecht in Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV seine Absicherung. Dementsprechend umfasst die absolut zu schützende europäische Identität auch die grundlegendsten nationalen Strukturentscheidungen.

608 „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ 609 Vgl. Kapitel 2 D. II. 1. 610 Vgl. BVerfGE 140, 317, 336 Rn. 40 ff.; 134, 366, 384 Rn. 26; 129, 78, 99; 126, 286, 302; 123, 267, 348 ff. 611 Pernice, AöR 136 (2011), 185, 202 f.; Thiele, EuR 2017, 367, 377. 612 Pernice, AöR 136 (2011), 185, 219. 613 Pernice, AöR 136 (2011), 185, 198. Diese Verpflichtung besteht dann auch für den EuGH, s. Kapitel 2 D. II. 3. d) (3) (d) (cc). 614 Pernice, AöR 136 (2011), 185, 210.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Nach dem Vorgenannten kann der Schluss gezogen werden, dass, sofern sich verfassungsidentitätsprägende nationale Strukturenscheidungen mit denen des Art. 2 EUV decken, diese unionsrechtlich einem absoluten Schutz unterliegen. Hieraus folgt, dass die Mitgliedstaaten über Art. 2 EUV hinaus, der auch die Werte schützt, die allen Verfassungen gemein sind, unionsrechtlich betrachtet auf der Grundlage des Achtungsgebots des Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV keinen Anwendungsvorrang von nationalem Verfassungsrecht verlangen können. Vielmehr sind alle weiteren der nationalen Identität zugeschriebenen Werte unionsrechtlich nicht absolut, sondern nur relativ geschützt und daher einer Einschränkung durch eine Abwägung der verschiedenen Interessen zugänglich. Selbst für den Fall, dass es sich um eine grundlegende verfassungsrechtliche Norm handelt, die nach einer Abwägung mit unionsrechtlichen Interessen überwiegt, so ist es dennoch Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV, der die Beachtung der verfassungsrechtlichen Norm konstitutiert und damit das Unionsrecht. Bedeutung käme einer aus nationalstaatlicher Perspektive betrachteten „verfassungsgerichtlichen Identitätskontrolle“ daher nur dann zu, wenn es überhaupt überschießende Grundrechtsgarantien gibt, die im deutschen Verfassungsrecht anerkannt sind, aber keinen Schutz im EU-Recht genießen und bei einer Abwägung i. S. d. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV im konkreten Fall unterliegen würden. Dies ist in Anbetracht des mittlerweile sehr weit reichenden Unionsgrundrechtsschutzes ausschließlich in Randbereichen der Fall.615 (cc) Die Entscheidungsbefugnis über die Verletzung identitätsbildender Verfassungsstrukturen Als Staatenverbund besteht die EU aus 27 Mitgliedstaaten,616 die ihrerseits aus nationalstaatlicher Perspektive unbedingt einzuhaltende Verfassungsgrundsätze haben. Diese Verfassungsgrundsätze sind nach dem Vorgenannten, soweit sie zur über Art. 2 EUV geschützten europäischen Identität gehören, zwingend und im Übrigen im Rahmen einer Abwägung unionsrechtlich zu beachten. In beiden Fällen stellt sich dann aber stets die Frage, wer über das Vorliegen solch elementarer Verfassungsgrundsätze zu entscheiden hat. Das BVerfG geht nicht nur in seinem Beschluss vom 15. 12. 2015 von einer „europarechtsfreundlichen Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG“ aus und postuliert deshalb eine Feststellung der Verletzung der deutschen Verfassungsidentität durch das BVerfG selbst.617 Auch in seinem Urteil vom 5. 5. 2020 postuliert das BVerfG, dass eine ultra-vires-Kontrolle „europafreundlich“ und vom BVerfG durchzufüh 615

Zu solchen Ausnahmekonstellationen s. Oehmichen, StV 37 (2017), 257, 259 f.; Satzger, NStZ 2016, 514, 522. 616 Eine Auflistung der Mitgliedstaaten findet sich unter https://europa.eu/european-union/ about-eu/countries_de (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 617 BVerfGE 140, 317, 337 Rn. 43. Auch andere mitgliedstaatliche oberste Verfassungs­ gerichte sehen die Entscheidungsbefugnis regelmäßig bei sich selbst, so bspw. der italienische

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ren sei.618 Es mutet fast schon ironisch an, durch eine „europarechtsfreundliche“ Auslegung das Auslegungsmonopol einem nationalen Gericht zuzuweisen, wenn es um einen unionsrechtlich determinierten Sachverhalt geht. Diese Zuweisung einer Entscheidungsbefugnis zu einem nationalen Gericht in unionsrechtlichen Sachverhalten verdient wohl kaum den Stempel einer Europarechtsfreundlichkeit.619 Vielmehr könnte ein solches nationales Auslegungsmonopol die sprichwörtliche Büchse der Pandora öffnen, in die ein nationalstaatliches Gericht alles hinein­geben könnte, was es (im konkreten Fall) als nationale Identität begreifen und daher als dem Unionsrecht vorrangig anwendbar sehen möchte. Es mag sich zwar stets um nationalstaatlich tragende Verfassungsgrundsätze handeln, sodass deren Beurteilung aus nationalstaatlicher Perspektive naheliegt.620 Immerhin haben der jeweilige Staat und dessen Hoheitsträger die in der jeweiligen Verfassung zum Ausdruck kommenden grundlegenden Wertentscheidungen getroffen. Diese variieren in einem Staatenverbund wie der EU naturgemäß von Staat zu Staat. Gleichwohl ist eine solche Fragestellung stets unionsrechtlich determiniert: Denn es geht insoweit um die Frage, wann Unionsrecht vorrangig zur Anwendung gelangt. Kein nationales Verfassungsgericht – auch nicht das BVerfG – ist dazu berufen, zu bestimmen, was unionsrechtlich unter der nationalen Identität i. S. d. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV zu verstehen ist. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV nach ist vielmehr unionsrechtlich zu bestimmen, was zur primärrechtlich geschützten nationalen Identität gehört.621 Somit ist es in der Konsequenz die Aufgabe des EuGH, die unionsrechtliche Auslegung vorzunehmen. Schließlich sichert der Gerichtshof der EU – und damit insbesondere der EuGH – gem. Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Würde man dem BVerfG zugestehen, eine bestimmte Norm der unionsrechtlich geschützten deutschen Verfassungsidentität zuzuordnen, würde dies einem Ausgleich mit den europäischen Interessen einer einheitlichen Rechtsanwendung zuwiderlaufen und dem EuGH bereits im Vorfeld eine Entscheidungsmöglichkeit in Bezug auf die Auslegung von Unionsrecht nehmen.622 Nationale Verfassungsgerichte sind nicht dazu befugt, eigenmächtig den Anwendungsvorrang von Unionsrecht auszuhebeln.623 Ebenso wenig ist dem BVerfG in den Verträgen eine Kontrollkompetenz Verfassungsgerichtshof im Vorlagebeschluss Nr. 24/2017, Rn. 6, s. hierzu eingehend Burchardt, EuR 2018, 248, 262 f. 618 BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744, 747 Rn. 112. 619 Ähnlich kritisch Satzger, NStZ 2016, 514, 517. 620 Dementsprechend wird teilweise ein Ermessen der Mitgliedstaaten gefordert: Obwexer, in: von der Groeben / ​Schwarze / ​Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 27. 621 Swoboda, ZIS 2018, 276, 285. 622 Swoboda, ZIS 2018, 276, 285. 623 Vgl. so deutlich EuGH, Urteil vom 1. 4. 2008 – C-212/06 = Slg. I 2008, 1683 Rn. 58: Ein Mitgliedstaat kann sich „nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände der internen Rechtsordnung dieses Staates, einschließlich solcher, die sich aus seiner verfassungsmäßigen

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

bezüglich der Europarechtswidrigkeit von Unionsrechtsakten zugewiesen.624 Solche Annahmen würde auch dem Gebot der Unionstreue aus Art. 4 Abs. 3 EUV widersprechen. Selbst für den Fall, dass ein nationales Gericht eine Identitätskontrolle geltend machen möchte – in einem der aufgrund des weit reichenden Unionsgrundrechtsschutzes überhaupt möglichen Randbereiche, in denen eine überschießende Grundrechtsgarantie aus nationaler Perspektive in Betracht kommt – so kann der EuGH nicht übergangen werden. Aufgrund des nationalverfassungsrechtlichen Bezugs ist damit zwar ein Rekurs des EuGH auf die nationale verfassungsgerichtliche Rechtsprechung und die nationalen verfassungsrechtlichen Besonderheiten erforderlich. Gleichwohl handelt es sich bei dem Begriff der nationalen Identität nach Art. 4 Abs. 2 EUV um einen unionsrechtlichen, dessen Auslegung dem EuGH vorbehalten bleibt.625 Insofern ist hier ein Balanceakt vom EuGH gefordert, der einen möglichst schonenden Ausgleich zwischen einer einheitlichen Rechtsanwendung innerhalb der Union und der Berücksichtigung nationaler Identitätsinteressen schaffen muss.626 Damit kann eine Entscheidungsbefugnis letztlich jedoch weder allein beim BVerfG noch allein beim EuGH liegen. Es wäre ebenso widersprüchlich, wenn ein unionsrechtliches Gericht allein bestimmen könnte, was zur unabdingbaren Verfassungsidentität eines Nationalstaates zählt wie es widersprüchlich wäre, wenn ein nationales Gericht darüber befinden könnte, was unionsrechtlich zur nationalen Identität gehört. Stattdessen ist eine Kooperation zwischen EuGH und BVerfG erforderlich: Die Entscheidung, ob einer Verfassungsnorm Teil der unionsrechtlich geschützten Verfassungsidentität eines Mitgliedstaates ist, ist unionsrechtlich vom EuGH zu treffen – unabhängig davon, dass Art. 79 Abs. 3 GG für den verfassungsändernden Gesetzgeber Grenzen setzt und das BVerfG entscheidet, was aus nationaler Sicht zur Verfassungsidentität zu zählen ist. Daher muss ein nationales Verfassungsgericht für den Fall, dass es Bestandteile seiner nationalen Verfassungsidentität im Anwendungsbereich von Unionsrecht berührt sieht, den EuGH stets im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV anrufen.627 Dies gebietet innerstaatlich Art. 23 Abs. 1 GG, damit der Integrations-

Ordnung ergeben, berufen (…), um die Nichteinhaltung der aus dem Gemeinschaftsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen; vgl. zudem Pernice, AöR 136 (2011), 185, 196. 624 Mayer, JZ 75 (2020), 725, 729. 625 Vgl. Kapitel 2 Fn. 592. 626 So auch Meyer, NJECL 7 (2016), 277, 288; Swoboda, ZIS 2018, 276, 284. 627 Dies ebenso befürwortend: Walter, ZaöRV 72 (2012), 177, 196 ff.; Mayer, in: Grabitz / ​Hilf / ​ Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 19 EUV Rn. 88; Thym, Der Staat 48 (2009), 559, 573 ff.; Pernice, AöR 136 (2011), 185, 214; Voßkuhle, NVwZ 2010, 1, 5. Dementsprechend befürwortet Mayer, JZ 75 (2020), 725, 728 auch, dass das BVerfG vor seinem Urteil (BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744 ff.) zwingend mit der Vorlagefrage den EuGH hätte anrufen müssen, ob der EuGH seinen Spielraum bei Auslegung und Anwendung der Verträge nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV überschritten hat.

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verantwortung Deutschlands Rechnung getragen werden kann.628 Nur so kann eine Kooperation zwischen BVerfG und EuGH auch tatsächlich zu einem schonenden Ausgleich führen: Im Rahmen eines solchen Vorabentscheidungsverfahrens kann dem EuGH eine Begründung vorgelegt werden, weshalb eine bestimmte Norm aus nationalstaatlicher Perspektive zum unabdingbaren Kernbereich der nationalen Verfassung gehört. Da auch der EuGH gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV gebunden und zur Rücksichtnahme auf die nationalen Identitäten angehalten ist und daher der Verpflichtung unterliegt, die elementarsten Grundentscheidungen nationaler Verfassungen in die unionale Identität aufzunehmen,629 muss er größtmögliche Rücksicht auf den Kernbereich nationaler Verfassungsentscheidungen nehmen – allerdings in den Grenzen des Art. 2 EUV und dessen Konkretisierungen im Primärrecht wie der GrCh. Damit können nationale Verfassungsgerichte über das Vorabentscheidungsverfahren Identitätseinwendungen geltend machen, indem sie dem EuGH darlegen, inwiefern eine bestimmte Norm aus nationalstaatlicher Sicht zur unabdingbaren nationalen Verfassungsidentität zählt. Der EuGH hat hierauf größtmögliche Rücksicht zu nehmen (die Grenze bildet Art. 2 EUV) und das Unionsrecht im Zweifel entsprechend auszulegen: Spricht er einer Verfassungsentscheidung die erforderliche Bedeutung zu, ist diese unionsrechtlich zu beachten, da sie als Teil der europäischen Identität Eingang im Unionsrecht findet. Das Vorabentscheidungsverfahren wird hierbei zu einem echten Medium der Kooperation zwischen nationalen Verfassungsgerichten und dem EuGH.630 Durch eine solche Kooperation wird dem EuGH die Möglichkeit eröffnet, seiner unionsrechtlichen Aufgabe der Absicherung eines hinreichenden unionalen Grundrechtsschutzes gerecht zu werden und dennoch nationale Identitäten abzusichern. Gleichwohl ist es für ein Gelingen einer solchen Kooperation zwingend erforderlich, dass der EuGH eine Rolle annimmt, deren Akzeptanz ihm – angesichts der langsamen Entwicklung zur Akzeptanz eines europäischen Grundrechtsvorbehalts im Übergabeverfahren auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls631 – zu 628 Vgl. nur Mayer, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 19 EUV Rn. 88 ff. 629 Vgl. Kapitel 2 Fn. 593–595. 630 Vgl. Swoboda, ZIS 2018, 276, 295; s. zudem Kämmerer / ​Kotzur, NVwZ 2020, 177, 183; Kahl, NVwZ 2020, 824, 825, die für ein Gelingen der Kooperation die ernsthafte Bereitschaft des BVerfG zur Vorlage der „richtigen“ Fragen zur Vorabentscheidung fordern. 631 Einen Höhepunkt hat diese erst kürzlich in der Rs. Dorobantu (EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468) erfahren, in der der EuGH in Bezug auf Art. 4 GrCh selber bestätigt hat, dass es gegenwärtig keine Mindestvorschriften im Unionsrecht gibt und daraus nicht den logischen Schluss gezogen hat, entsprechende Standards zu entwickeln, sondern pauschal auf Art. 3 EMRK und die Rspr. des EGMR hierzu verwiesen hat, ohne diese Standards zu unionale Standards zu erheben (vgl. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 71, 77; vgl. insbes. auch die Formulierung in Rn. 79: „Anforderungen, die sich aus Art. 4 der Charta und Art. 3 EMRK in der Auslegung durch den EGMR ergeben“); vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (b) (cc).

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weilen schwer gefallen ist:632 Er muss seiner aus Art. 19 Abs. 1 EUV resultierenden Pflicht nachkommen, Grundrechtsmindestschutzbereiche durch Auslegung der Unionsgrundrechte und der möglichen Einschränkungsmöglichkeiten zu entwickeln. Dies können nationale Verfassungsgerichte – besser als mit dem Androhen einer Identitätskontrolle – durch Kooperation mit dem EuGH erreichen, indem sie bei Bedenken, dass im Anwendungsbereich von Unionsrecht die nationale Verfassungsidentität durch eine bestimmte Handlung berührt ist, dies dem EuGH vorlegen und diesem damit die Gelegenheit geben, Stellung zu beziehen und ggf. unionale Grundrechtsschutzbereiche näher auszugestalten.633 Eine solche Lösung dient letztlich auch dem EuGH. Denn auch dieser hat kein Interesse daran, dass bei mangelnder Berücksichtigung nationalstaatlicher unabdingbarer Verfassungsidentitäten die nationalen Verfassungsgerichte Unionsrecht  – wie jüngst zum ersten Mal geschehen634  – für unanwendbar erklären. Dementsprechend ist es nicht nur seine Aufgabe, sondern es liegt auch im Interesse des EuGH, unionale und nationale Interessen in einen Ausgleich zu bringen und aufgrund der unionsrechtlichen Pflicht zur Achtung nationaler Identitäten das Unionsrecht im Zweifelsfall so auszulegen, dass nationale Interessen unionsrechtliche Beachtung finden. Dass eine solche Kooperation zwischen EuGH und nationalen Verfassungsgerichten möglich ist, zeigt sich in der Rechtssache M. A. S. und M. B.635 Dort hat der EuGH eingelenkt, um einen offenen Konflikt mit dem italienischen Verfassungsgericht zu vermeiden. Er hat auf Art. 4 Abs. 2 EUV verwiesen und in diesem Rahmen festgestellt, dass zu der maßgeblichen Zeit Italiens Verjährungsregeln noch materiellrechtlicher Natur waren und insofern Art. 49 GrCh anwendbar gewesen sei.636 Der EuGH hat in dieser Rechtssache insofern eingelenkt, um das italienische Pendant zur deutschen Identitätskontrolle zu umgehen. Zudem besteht auch vor dem EuGH die Möglichkeit eines beschleunigten Verfahrens bzw. eines Eilverfahrens, sodass die vorgeschlagene Lösung wohl auch nicht zu einer überlangen Verfahrensdauer führen wird.637

632

Vgl. Swoboda, ZIS 2018, 276, 295. Diesen Weg hat erfreulicherweise erst kürzlich das BVerfG eingeschlagen: BVerfGE 147, 364, 383 f. Rn. 49 f. Umso enttäuschender ist es, dass der EuGH diese Chance zur Ausgestaltung unionaler Mindeststandards nicht ergriffen hat (vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c)). 634 BVerfG, 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15, 1651/15, 2006/15, 980/16 = JZ 75 (2020), 744 ff. 635 EuGH, Urteil vom 5. 12. 2017 – C-42/17 (Rs. M. A. S. und M. B.) = NJW 2018, 217. 636 EuGH, Urteil vom 5. 12. 2017 – C-42/17 (Rs. M. A. S. und M. B.) = NJW 2018, 217, 219 Rn. 43 ff.; vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (b). 637 Vgl. Walter, ZaöRV 72 (2012), 177, 199 f.; s. hierzu Kapitel 3 B. I. 2. b). 633

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(dd) Zwischenergebnis: Keine Anwendbarkeit des GG, Maßstab: Art. 52 Abs. 1 GrCh in den Grenzen des Art. 2 EUV Nationale Grundrechte  – auch wenn sie Bestandteil der Verfassungsidentität eines Mitgliedstaates sind – sind daher im Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht isoliert anwendbar. Ihren Schutz genießen sie vielmehr unionsrechtlich über Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV. Das Rücksichtnahmegebot des Art. 4 Abs. 3 EUV ist nach Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV wechselseitig zu verstehen: Insofern bestehen Schutzpflichten seitens der Union, nationale mitgliedstaatliche Interessen einzubeziehen. Dies kann allerdings nur im Rahmen des Art. 2 EUV erfolgen, der die äußerste Grenze jeglichen unionalen Handelns vorgibt. Insofern erübrigt sich eine Diskussion darüber, inwiefern eine Anwendbarkeit nationaler Grundrechte des GG im Übergabeverkehr einzuschränken ist: Aufgrund der vorrangigen Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte ist das GG auf Übergabesachverhalte bezüglich der Behandlung des Betroffenen nach erfolgter Überstellung nicht anwendbar. Um rechtsstaatlichen Grundsätzen zu genügen, ist eine Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, wenn dem zu Übergebenden im Ausstellungsstaat eine Behandlung droht, die in einen Wesensbestand eines Unionsgrundrechts eingreift. Insofern ist Art. 2 EUV ohnehin die äußerste Grenze einer Überstellung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls. National identitätsbildende Verfassungsnormen sind in diesem Rahmen unionsrechtlich zwar zu berücksichtigen. Dem GG kommt dennoch als eigener Maßstab als Ablehnungsgrund im Anwendungsbereich von Unionsrecht keine Bedeutung zu. Der grundrechtliche Maßstab sind die Unionsgrundrechte, bei denen gegebenenfalls auf nationale Besonderheiten Rücksicht zu nehmen ist. Ein solcher auf Art. 2 EUV basierender Vorbehalt konkretisiert den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung erst: Nur im Rahmen der dort normierten Werte wie der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit ist es unionsrechtlich überhaupt vertretbar, ein Vertrauen der einzelnen Mitgliedstaaten in die Rechtsstaatlichkeit der anderen Mitgliedstaaten zu verlangen. Besteht jedoch die ernste Gefahr, dass im Ausstellungsstaat die Standards des Art. 2 EUV nicht eingehalten werden, steht dies einer Überstellung des Verfolgten entgegen. bb) Übertragbarkeit des Maßstabs der GrCh auf Auslieferungen an die USA Ist eine aus der GrCh resultierende grundrechtliche Grenze bei Überstellungen auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ermittelt, stellt sich die Frage, inwiefern diese Grundsätze auf den Auslieferungsverkehr eines Mitgliedstaates der EU im Verhältnis zu einem Drittstaat übertragen werden können, solange hierbei Unionsrecht im unionsrechtlich determinierten Bereich durchgeführt wird.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

(1) Übertragbarkeit des Maßstabs der GrCh Im Anwendungsbereich von Unionsrecht kommt dem Unionsrecht grundsätzlich Anwendungsvorrang zu: Hierdurch soll sämtliches unionsrechtliches Tätigwerden an einer umfassenden und weitgehenden Grundrechtsbindung zu messen sein.638 Am Anwendungsvorrang von Unionsrecht nehmen nicht nur Rahmenbeschlüsse, Verordnungen und Richtlinien teil. Auch das AuslAbk EU-USA ist als völkerrechtliches Abkommen ein integraler Bestandteil des Unionsrechts und aufgrund einer unionsinternen Verpflichtung in den einzenen Mitgliedstaaten innerstaatlich umgesetzt worden. Hierdurch werden Auslieferungen, die auch auf der Grundlage des AuslAbk EU-USA erfolgen, stets in Durchführung von Unionsrecht vorgenommen.639 Demzufolge nimmt auch das AuslAbk EU-USA am Vorrang von Unionsrecht teil: Der Vorrang von Unionsrecht gilt daher auch insofern für das Verhältnis zu Drittstaaten, als dass nationale Justizbehörden bei Auslieferungsentscheidungen das Unionsrecht und damit auch unionale Grundrechte vorrangig berücksichtigen müssen. Im Anwendungsbereich von Unionsrecht ist bei Überstellungen eines strafrechtlich Verfolgten die GrCh der maßgebliche Grundrechtskatalog (Art. 51 GrCh), wobei die Mindestanforderungen der EMRK gewahrt bleiben müssen (Art. 52 Abs. 3 GrCh). Eine Entscheidung bezüglich der Auslieferung eines Unions- oder auch eines Drittstaatsangehörigen an die USA erfolgt stets im Anwendungsbereich des Unionsrechts, sodass auch bei Überstellungen an die USA die GrCh der maßgebliche Grundrechtskatalog ist. Die normierten Ablehnungsgründe in den völkerrecht­lichen Auslieferungsverträgen können insofern keine Sperrwirkung für die innerstaatliche Bindung an die GrCh erzeugen. Da die GrCh der maßgebliche Grundrechtskatalog auch im Verhältnis zu Drittstaaten wie den USA ist, gelten in diesem Verhältnis nicht nur die Ausführungen zum erforderlichen Grundrechtsstandard,640 sondern auch die übrigen Ausführungen zu dem Nachweis einer drohenden Grundrechtsverletzung als Voraussetzung einer Zurechenbarkeit der Grundrechtsverletzung an die Justizbehörden des ersuchten Staates.641 Auch im Verhältnis zu den USA muss eine echte Gefahr einer drohenden Grundrechtsverletzung bestehen – und zwar wie innerhalb der Union nicht nur abstrakt, sondern auch im konkreten Auslieferungsfall.642 Auf konkrete Anhaltspunkte im einzelnen Auslieferungsfall kommt es nur dann nicht an, wenn

638

Vgl. Kapitel 2 D. II. 3 b). Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. c) cc). 640 Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c) (aa). 641 Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c) (bb). 642 EuGH, Urteil vom 6. 9. 2017 – C-473/15 (Rs. Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR) = BeckRS 2017, 124630 Rn. 24 ff.; EuGH, Urteil vom 6. 9. 2016 – C-182/15 (Rs. Petruhhin) = NJW 2017, 378, 381 Rn. 58 f. 639

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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im ersuchenden Staat eine ständige Praxis evidenter Menschenrechtsverletzungen besteht.643 (2) Anwendbarkeit nationalen Verfassungsrechts? Bei Auslieferungen an die USA stellt sich ebenso wie bei einem Übergabeverfahren innerhalb der Union644 die Frage, ob nationale Grundrechte zusätzlich herangezogen werden und daher ein Auslieferungshindernis darstellen können, sofern ihr Schutzniveau höher als das der entsprechenden Unionsgrundrechte ist. Die Anwendbarkeit nationaler Grundrechte neben den Unionsgrundrechten wäre nach der Rspr. des EuGH nur dann zu bejahen – und daher eine andere Entscheidung als für das Übergabeverfahren innerhalb der Union zu treffen –, wenn die Effektivität des Unionsrechts durch die Anwendung nationaler Grundrechte nicht in Frage gestellt würde.645 Bedenken diesbezüglich könnten bestehen, weil Art. 17 Abs. 2 AuslAbk EU-USA eine Konsultation zwischen ersuchendem und ersuchtem Staat für den Fall gestattet, dass „die Verfassungsgrundsätze des ersuchten Staates oder die für diesen verbindlichen endgültigen richterlichen Entscheidungen ein Hindernis für die Erfüllung seiner Auslieferungspflicht darstellen können“. Da diese Klausel allerdings keinen Ablehnungsgrund bei verfassungsrechtlichen Bedenken darstellt,646 stellt eine Ablehnung bei nationalverfassungsrechtlichen Bedenken insofern eine Beeinträchtigung des Unionsrechts dar, als dass das Unionsziel einer unionsweit einheitlichen und effektiven Strafverfolgung mit Drittstaaten beeinträchtigt wird. Auch bei Auslieferungen an die USA ist der Anwendungsbereich nationaler Grundrechte neben den Unionsgrundrechten deshalb nicht eröffnet. Vielmehr findet das nationale Verfassungsrecht ebenso wie innerhalb der Union ausschließlich über das Unionsrecht Anwendung.647 Darüber hinaus finden Auslieferungen an die USA im unionsrechtlichen Bereich ohne Gestaltungsspielräume für die Mitgliedstaaten bezüglich eines Grundrechtsvorbehaltes statt.648 Insofern müsste auch das BVerfG649 zu dem Ergebnis gelangen, dass der GrCh Anwendungsvorrang zukommt.

643 Böhm, in: Ahlbrecht / ​Böhm / ​Esser / ​Eckelmanns, Internationales Strafrecht, Rn.  805. Anders als innerhalb der Union ist eine Feststellung nach Art. 7 Abs. 2 EUV innerhalb eines Rechtsstaatlichkeitsverfahrens bei drohender Grundrechtsverletzung durch US-amerikanische Hoheitsträger nicht möglich. 644 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (3). 645 S. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. c) bb) und Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (3) (a) (bb). 646 Vgl. Kapitel 2 B. II. 2. c). 647 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (3). 648 S. hierzu Kapitel 2 D. II. 3 c) cc). 649 Vgl. Kapitel 2 Fn. 324.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Damit ist im Auslieferungsverkehr mit den USA die GrCh der maßgebliche Grundrechtskatalog. Der Grundrechtskatalog des GG ist nicht isoliert daneben anwendbar.650 (3) Einschränkung der Unionsgrundrechte bei Auslieferungen an die USA Auch wenn der unionale Grundrechtskatalog der GrCh bei Auslieferungsentscheidungen bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung der (vorrangig) anwendbare Grundrechtskatalog ist, stellt sich die Frage nach den Konsequenzen dieser Grundrechtsbindung. Es fragt sich, ob die Grundrechte voll anwendbar sind oder einer Einschränkung unterliegen. Innerhalb der Union reduziert sich eine Grundrechtsprüfung auf absolute Rechte und die Wesensgehalte unionaler Grundrechte, da Eingriffe in absolute Grundrechte unzulässig sind und die Gewährung der Wesensgehalte unionaler Grundrechte die äußerste Grenze einer Einschränkungsmöglichkeit darstellt.651 Die Wahrung dieser Schranken ist für die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze nach Art. 2 EUV jedoch zwingend. Diese reduzierte Prüfung auf für Art. 2 EUV zwingende unionale Grundrechtsgewährleistungen könnte auch im Verhältnis zu Drittstaaten wie den USA Geltung beanspruchen. (a) Grundsatz gegenseitigen Vertrauens im Verhältnis zu Drittstaaten? Konkretisiert ein europäischer Grundrechtsvorbehalt den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung im Rahmen des Europäischen Haftbefehls gerade erst, bedeutet das übertragen für den Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten wie die USA Folgendes: Eine Einschränkung des Grundrechtskatalogs auf die für die Rechtsstaatlichkeit nach Art. 2 EUV maßgeblichen Wesensbestandteile der Grundrechte (Art. 51 Abs. 1 GrCh) und die absoluten Grundrechte rechtfertigt sich im Übergabeverfahren innerhalb der EU deshalb, weil alle Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta gebunden sind und deshalb ein grundsätzliches Vertrauen der Mitgliedstaaten in ein grundrechtskonformes Verhalten der Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten existiert.652 Insofern wird innerhalb der EU auf die eigentlich aus 650

Anders als regelmäßig vertreten (BVerfGE 75, 1, 16, 19; 108, 129, 136; 113, 154, 162; 140, 317, 346 f. Rn. 60, 352 Rn. 75; BVerfG, 24. 3. 2016 – 2 BvR 175/16 = NStZ 2017, 43, 45; BVerfG, 17. 5. 2017 – 2 BvR 893/17 = NStZ-RR 2017, 226, 228; aus der Literatur bspw. ­Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 74 ff.; s. a. Häde, Der Staat 36 (1997), 1, 22 f.) führt also nicht die Völkerrechtsfreundlichkeit im Auslieferungsverkehr zur reduzierten Anwendung nationaler Grundrechte (vgl. Kapitel 2 D. II. 2. b) bb) (2)). Vielmehr suspendiert bereits der Vorrang der Unionsgrundrechte eine parallele Anwendung nationaler Grundrechte des GG. 651 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa). 652 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (1).

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der Souveränität der Staaten folgenden Kontrollbefugnisse weitestgehend verzichtet. Im europäischen Rechtsraum würde ein allgemeiner normierter Vorbehalt Uneinigkeit bezüglich der Grundrechte signalisieren, die es wegen der Bindung an die GrCh offiziell nicht gibt. Deshalb ist im Übergabeverfahren innerhalb der Union der Grundrechtsschutz auf ein Minimum zu reduzieren, wobei sich dieses Minimum aus den weitestmöglichen Einschränkungen unionaler Grundrechte ergibt.653 Im Verhältnis zu den USA besteht ein solches Vertrauen aber nicht in Bezug auf die Wahrung der Grundrechte GrCh, da die Justizbehörden der USA gerade nicht an die GrCh gebunden sind und insofern gemeinsame Wertvorstellungen nach außen hin offen bereits gar nicht erst existieren. Auch im Verhältnis zu Drittstaaten besteht zwar ein sog. gegenseitiges Vertrauen, das sich nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes bezieht.654 Dies kann jedoch nur dergestalt gelten, dass sich die Justizbehörden des ersuchenden Staates an vertragliche Vereinbarungen oder gemeinsame Menschenrechtsverpflichtungen halten, da sie regelmäßig ein Interesse an der Aufrechterhaltung eines funktionierenden Auslieferungsverkehrs haben. Eine Grenze bezüglich des Vertrauens in die Wahrung von Grundrechten muss jedoch dort gezogen werden, wo der ersuchende Staat nicht an einen bestimmten Grundrechtskatalog – wie die USA an die GrCh – gebunden ist. Eine Zusicherung bezüglich der Wahrung von Rechten der GrCh gibt es jedoch regelmäßig nicht. Mangels eines einheitlichen an der GrCh gemessenen Wertesystems lässt sich eine Reduzierung des Prüfungsmaßstabs auf rechtsstaatliche Grundsätze nach Art. 2 EUV im Verhältnis zu Drittstaaten wie den USA nicht anhand eines gegenseitigen Vertrauens begründen. Vielmehr könnte ein umfassender anstelle eines reduzierten Prüfungsmaßstabs gelten. Denn die Verpflichtung nationaler Justizbehörden zur unionsrechtskonformen Entscheidung ist grundsätzlich die gleiche, wenn es um Überstellungen an einen Mitgliedstaat der EU oder an einen Drittstaat geht: Sie sind gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh an die Grundrechtsgarantien der GrCh gebunden. Wenn sich nun innerhalb der EU der Schutz auf absolute Rechte und den Wesensgehalt der Unionsgrundrechte reduziert, weil der jeweils andere Mitgliedstaat grundsätzlich auch an die GrCh gebunden ist, dann muss der Schutz der GrCh grundsätzlich vollständig greifen, wenn es um Überstellungen an einen Drittstaat geht, der offensichtlich nicht an die GrCh gebunden ist. Eine Zurücknahme staatlicher Kontrollbefugnisse lässt sich im Auslieferungsverkehr gerade nicht aufgrund eines Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung rechtfertigen.

653

Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c). St. Rspr. des BVerfG, s. BVerfG, 4. 12. 2019 – 2 BvR 1258/19; 2 BvR 1497/19 = BeckRS 2019, 32770 Rn. 59; BVerfG, 17. 5. 2017  – 2 BvR 893/17 = NStZ-RR 2017, 226, 228; vgl. BVerfGE 109, 38, 61; 13, 35 f.; s. a. BVerfGE 140, 317, 349.

654

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

(b) Grundrechtsreduzierung aufgrund einer „Völkerrechtsfreundlichkeit“ der Union? Gleichwohl könnte sich auch bei Auslieferungen an die USA der Maßstab auf den Wesensgehalt unionaler Grundrechte und absolute Rechte zurückziehen. Denn die Grundrechte der GrCh werden nicht einschränkungslos gewährleistet, sondern können grundsätzlich eingeschränkt werden. Soll ein von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh nach unten abweichender Grundrechtsmaßstab gelten, muss sich dies allerdings aus dem unionsrechtlichen Primärrecht selbst herleiten lassen. Eine Einschränkung der Grundrechte muss sich dabei abermals655 an den möglichen Einschränkungsmöglichkeiten unionaler Grundrechte orientieren: Weder der Wesensgehalt unionaler Grundrechte noch absolute Rechte dürfen angetastet werden. Ähnlich wie für deutsche Grundrechte eine Schutzbereichsreduzierung aufgrund einer Völkerrechtsfreundlichkeit Deutschlands postuliert wird,656 könnte eine Art „Völkerrechtsfreundlichkeit“ der Union dazu führen, dass der Schutzstandard der GrCh bei Auslieferungsersuchen der USA von vornherein zu reduzieren ist. Auch wenn sich die Union zu einer eigenen Rechtsordnung entwickelt hat, ist die EU selbst auf völkerrechtlichen Verträgen gegründet worden (vgl. Art. 1 Abs. 3 EUV). Diese Verträge regeln als Primärrecht auch Vorgaben zu den Außenbeziehungen der Union. Ziele zur europäischen Außenpolitik finden sich an plakativer Stelle in Art. 3 Abs. 5 EUV: Die Union leistet in ihren Beziehungen zur übrigen Welt „einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.“ Damit hat die Union auch die Sicherheit als erklärte Zielbestimmung657 aufgenommen, zu der insbesondere auch eine effektive grenzüberschreitende Strafverfolgung (auch im Verhältnis zu Drittstaaten) zählt. Das Interesse an einem funktionierenden Auslieferungsverkehr ist demnach ein primärrechtlicher Belang, der einen normativen Anknüpfungspunkt in den grundlegenden Zielbestimmungen der Union findet. Im Übrigen bietet die Union „ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbin 655 Vgl. zum Übergabeverkehr auf der Grundlage eines EuHb innerhalb der Union: Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c). 656 S. hierzu Kapitel 2 D. II. 2. b) bb) (2). 657 Zu den grundlegenden Zielbestimmungen der Union nach Art. 3 EUV vgl. nur Becker, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art.  3 EUV Rn.  1 ff.; Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 3 EUV Rn. 1 ff.

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dung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die (…) Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist.“ Sie erhebt die Bekämpfung und Verhütung von Kriminalität damit zu einem Unionszweck und nimmt eine Akteurstellung gegen die Kriminalität ein. Eine Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität kann jedoch nicht auf das Unionsgebiet beschränkt sein, sondern muss auch im Außenverhältnis der Union und damit mit Drittstaaten erfolgen. Eine Konkretisierung für das außenpolitische Handeln der Union findet sich in Art. 21 EUV:658 Die Union lässt sich gem. Art. 21 UAbs. 1 EUV „bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen leiten, die für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren und denen sie auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will“. Hiernach soll die Union im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik insbesondere die Maßstäbe, die für ihre eigene Entstehung maßgeblich waren, zur Richtschnur auch in ihren Außenbeziehungen – und damit auch im Verhältnis zu Drittstaaten wie den USA – machen.659 Als solche Maßstäbe benennt Art. 21 UAbs. 1 EUV die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, den Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts. Damit gibt das Primärrecht vor, dass unionsrechtliches Handeln nicht gegen Völkerrecht verstoßen soll. Völkerrechtlich betrachtet besteht jedoch kein allgemeiner Ablehnungsgrund bei einem zu erwartendem Verstoß gegen die Grundrechte der GrCh. Ist es ein erklärtes Unionsziel, völkerrechtskonform zu handeln, ist es auch ein unionsrechtliches Ziel, zu einer größtmöglichen Verwirklichung der völkerrechtlichen Auslieferungsverpflichtung beizutragen. Dies spricht für eine größtmögliche Einschränkung der GrCh. Auf der anderen Seite hat sich die Union zu einer eigenen Rechtsordnung entwickelt, die durch verschiedenste Mitgliedstaaten geprägt ist. Als solche hat sie die ihr zugrunde liegenden absoluten Werte des Art. 2 EUV und damit auch die Rechtsstaatlichkeit zwingend einzuhalten. Art. 21 UAbs. 1 EUV nimmt nicht nur auf das Völkerrecht, sondern auch auf die Werte des Art. 2 EUV Bezug. Rechtsstaatliche Grundsätze nach Art. 2 EUV setzen allerdings einen Mindestschutz unionaler Grundrechte voraus. Hierfür dürfen absolute Rechte und der Wesensge-

658

Gem. Art. 205 AEUV wird das auswärtige Handeln der Union – auch bei dem Abschluss völkerrechtlicher Übereinkünfte – „von den Grundsätzen bestimmt, von den Zielen geleitet und an den allgemeinen Bestimmungen ausgerichtet, die in Titel V Kapitel 1 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind.“ Bei den Bestimmungen des benannten Kapitels handelt es sich um Art. 21, 22 EUV. 659 S. hierzu Aust, EuR 2017, 106, 109.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

halt der Unionsgrundrechte nicht angetastet werden.660 Dies stellt damit die Untergrenze einer möglichen Einschränkung unionaler Grundrechtsschutzbereiche dar. Damit sind die Werte des Art. 2 EUV auch die äußerste Grenze für die Außentätigkeiten der Union und für die über die Auslieferung entscheidenden nationalen Justizbehörden, die das Unionsrecht durchsetzen: Die Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung durch die Justizbehörden im ersuchenden Staat muss sich zwingend an den absoluten Rechten und den Wesensgehalten der Grundrechte der GrCh messen lassen (Art. 52 Abs. 1 GrCh). In der Konsequenz bedeutet dies, dass in den Grenzen von Art. 52 Abs. 1 GrCh und absoluter Rechte und damit in den Grenzen des Art. 2 EUV völkerrechtliche Auslieferungspflichten auch unionsrechtlich einzuhalten sind: Eine Überprüfung einer grundrechtskonformen Behandlung des Auszuliefernden erfolgt am Maßstab des Art. 2 EUV und für die hiernach erforderlichen rechtsstaatlichen Grundsätze, wobei der Wesensgehalt der unionalen Grundrechte und absolute Rechte nicht angetastet werden dürfen. Die GrCh ist damit nur so weit der Maßstab für Auslieferungsentscheidungen bezüglich Auslieferungen an die USA, wie dies für rechtsstaatliche Erwägungen nach Art. 2 EUV erforderlich ist. Insgesamt ist damit festzuhalten, dass Art. 2 EUV zwingend bei Überstellungen an die USA zu wahren ist: Sobald der Wesensgehalt unionaler Grundrechte oder absolute Rechte der GrCh ernsthaft in Gefahr sind, ist die Auslieferung abzulehnen. Weitergehendes Verfassungsrecht eines Mitgliedstaates findet hingegen keine Berücksichtigung, da dem Unionsrecht insofern Anwendungsvorrang zukommt. Allerdings ist bei der Auslegung rechtsstaatlicher Grundsätze des Unionsrechts auch das nationale Verfassungsrecht zu berücksichtigen.661 (c) Grundrechtsreduzierung auf Null wegen entgegenstehender Souveränitätsinteressen der USA? Gleichwohl könnten Unionsgrundrechte auf Null einzuschränken sein, weil ihre Anwendbarkeit die staatliche Souveränität der USA tangiert. Denn die USA sind an die GrCh nicht gebunden, sodass man argumentieren könnte, dass einem Drittstaat der unionsgrundrechtliche Mindestschutz aufgezwungen wird. Unabhängig von der Frage, ob dies nicht bloß eine fehlende Erweiterung US-amerikanischer Souveränität darstellt,662 ist Folgendes zu berücksichtigen: Eine weitere Reduzierung der unionalen Grundrechtsschutzbereiche unter die unionsgrundrechtlichen Mindeststandards (die sich aus den nicht einschränkbaren Grundrechten und den Grenzen der Einschränkungsmöglichkeiten ergeben) ist – trotz entgegenstehender Souveränitätsinteressen der USA  – aufgrund der innerstaatlichen Bindung 660

Vgl. Kapitel 2 D. II. 3 d) aa) (2) (c) (aa). S. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (3). 662 Vgl. hierzu Kapitel 2. D. II. 2. b) aa). 661

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nationaler Justizbehörden an die Unionsgrundrechte nicht möglich und würde rechtsstaatlichen Aspekten diametral entgegenstehen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund zu untermauern, dass einem Europäischen Haftbefehl jedenfalls aus völkerrechtlicher Sicht vor einem Auslieferungsersuchen seitens der USA grundsätzlich kein Vorrang zu gewähren ist, sodass im Zweifelsfall trotz der Existenz eines Europäischen Haftbefehls eine strafrechtlich verfolgte Person primär an die Justizbehörden der USA ausgeliefert wird. Denn gem. Art. 10 Abs. 2 AuslAbk EU-USA „entscheidet die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats, welchem Staat die Person gegebenenfalls übergeben wird“, wenn parallel ein Auslieferungsersuchen seitens der Justizbehörden der USA und ein Übergabeersuchen seitens der Justizbehörden eines anderen Mitgliedstaates der EU „für dieselbe Person entweder wegen derselben Straftat oder wegen verschiedener Straftaten“ vorliegen. Bei der Entscheidung, welchem Staat die ersuchte Person überstellt wird, hat nach Art. 10 Abs. 3 AuslAbk EU-USA die entscheidende Justizbehörde alle maßgeblichen Umstände zu berücksichtigen, wie beispielsweise das jeweilige Interesse der ersuchenden Staaten, die Schwere der Straftaten und die Orte ihrer Begehung und die Staatsangehörigkeit des Opfers. Eine parallele Vorschrift findet sich auch in Art. 16 Abs. 1 und Abs. 3 RbEuHb. Sowohl das völkerrechtliche Auslieferungsabkommen der EU mit den USA als auch der Rahmenbeschluss gehen damit von einer grundsätzlichen Gleichrangigkeit paralleler Auslieferungs- und Übergabeersuchen aus. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob trotz dieser völkerrechtlichen und unionsrechtlichen Regelung einer gleichen Gewichtung der Ersuchen eine unionsinterne Pflicht für die Justizbehörden eines Mitgliedstaates besteht, eine strafrechtlich verfolgte Person bei parallelen Auslieferungs- und Übergabeersuchen primär an einen Mitgliedstaat der EU auszuliefern. Denn die Mitgliedstaaten müssen bei Durchführung von Unionsrecht ihre Verpflichtungen auch im Einklang mit dem Primärrecht ausüben. Dass sich die EU nicht dauerhaft für eine Gleichwertigkeit der Auslieferungs- und Übergabeersuchen aussprechen wollte, zeigt sich auch an Art. 21 AuslAbk EU-USA, wonach eine Überprüfung des Abkommens insbesondere auch unter Berücksichtigung von Art. 10 AuslAbk EU-USA stattfinden soll.663 Art. 10 AuslAbk EU-USA ist vor dem Hintergrund in das völkerrechtliche Auslieferungsabkommen aufgenommen worden, dass die Mitgliedstaaten der EU den USA gegenüber im Kampf gegen den Terrorismus Solidarität zeigen wollten.664 Dass sich unionsrechtlich eine gleiche Gewichtung von Auslieferungs- und Übergabeersuchen nicht unbedingt einschränkungslos durchführen lassen wird 663 Art. 21 AuslAbk EU-USA ist erstmalig am 17. Juni 2003 und damit sehr kurz vor Vertragsabschluss überhaupt in den Vertrag aufgenommen worden, s. 9153/03 COR5. Eine entsprechende aber gleichwohl sehr oberflächliche Überprüfung (insbesondere hinterfragt diese weder die Ablehnungsgründe in dem AuslAbk EU-USA noch behandelt sie die Frage, ob EuHb Vorrang zu gewähren sein könnte) findet sich in dem Outcome Report von Eurojust bzgl. des Seminars v. 8.–9. 10. 2015 in Den Haag, s. Ratsdokument 9519/16. 664 S. hierzu Mitsilegas, EuFAR 8 (2003), 515, 528 f.; vgl. auch Kapitel 1 A. I. 1.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

(beispielsweise wenn es um die Überstellung von Unionsbürgern geht) und dass zukünftig auch eine Vorrangigkeit Europäischer Haftbefehle vor Auslieferungsersuchen von Drittstaaten völkervertraglich zu normieren sein könnte, war bei Vertragsunterzeichnung auch im Bewusstsein der Vertragsparteien. Denn jedenfalls hat die EU bei Vertragsunterzeichnung erklärt, „dass sie sich in einer Phase des Aufbaus eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts befindet, der Auswirkungen auf die Abkommen mit den Vereinigen Staaten haben könnte. Diese Entwicklungen werden von der Union aufmerksam verfolgt, insbesondere was Artikel 10 Absatz 2 des Auslieferungsabkommens anbelangt. Die Union wird sich mit den Vereinigten Staaten beraten, um Lösungen für etwaige, die Abkommen berührende Entwicklungen zu finden, erforderlichenfalls auch durch eine Überprüfung der Abkommen. Die Union stellt fest, dass Artikel 10 keinen Präzedenzfall für Verhandlungen mit Drittstaaten darstellt.“665 Jedenfalls dann, wenn die Überstellung eines Unionsbürgers im Raum steht, könnte eine unionsinterne Pflicht bestehen, den Unionsbürger primär an den anderen Mitgliedstaat der EU zu übergeben. Denn immerhin besteht in Deutschland gem. Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG zugunsten deutscher Staatsangehöriger ein verfassungsrechtliches Auslieferungsverbot im Verhältnis zu Drittstaaten. Das könnte wegen einer ansonsten bestehenden unionsrechtlichen Diskriminierung i. S. d. Art. 18 AEUV auf Unionsbürger zu übertragen sein, sodass die Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls stets vorrangig zu berücksichtigen sein müsste. Auch wenn der EuGH mittlerweile häufiger judiziert hat, dass die Auslieferung eines Unionsbürgers, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, in einen Drittstaat stets in den Anwendungsbereich der Art. 18, 21 AEUV fällt, und daher der Anwendungsbereich von Unionsrecht eröffnet sei,666 hat der EuGH ebenso Folgendes postuliert: Eine Diskriminierung eines Unionsbürgers nach Art. 18, 21 AEUV sei jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn sie sowohl verhältnismäßig sei als auch auf objektiven Erwägungen beruhe.667 Das legitime Ziel der Überstellung an einen Drittstaat bestehe jedenfalls darin, die Nichtverfolgung von Straftaten zu verhindern.668 Während bei deutschen Staatsangehörigen eine solche Straflosigkeit nicht droht, da in diesem Fall selbst dann, wenn die Straftat 665 S. den Beschluss des Rates über die Unterzeichnung der Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung und Rechtshilfe in Strafsachen vom 6. Juni 2003, ABl. L 181 v. 19. 7. 2003, S. 25 (2003/516/G). 666 So EuGH, Urteil vom 6. 9. 2016  – C-182/15 (Rs. Petruhhin) = NJW 2017, 378, 389 Rn. 30; s. hierzu Epiney, NVwZ 2017, 846, 848 ff.; EuGH, Urteil vom 6. 9. 2017 – C-473/15 (Rs. Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR) = BeckRS 2017, 124630 Rn. 19; EuGH, Urteil vom 10. 4. 2018  – C-191/16 (Rs. Pisciotti) = NJW 2018, 1529, 1530 Rn. 34; EuGH, Urteil vom 13. 11. 2018  – C-247/17 (Rs. Raugevicius) = BeckRS 2018, 28167 Rn. 27; vgl. Kapitel 2 D. II. 3. c) cc) (1). 667 EuGH, Urteil vom 10. 4. 2018 – C-191/16 (Rs. Pisciotti) = NJW 2018, 1529, 1531 Rn. 46; EuGH, Urteil vom 6. 9. 2016 – C-182/15 (Rs. Petruhhin) = NJW 2017, 378, 379 Rn. 34. 668 EuGH, Urteil vom 10. 4. 2018 – C-191/16 (Rs. Pisciotti) = NJW 2018, 1529, 1531 Rn. 47; EuGH, Urteil vom 6. 9. 2016 – C-182/15 (Rs. Petruhhin) = NJW 2017, 378, 379 Rn. 35 ff.

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auf fremdem Territorium begangen worden ist, grundsätzlich deutsche Justizbehörden die Strafverfolgung betreiben können, da deutsches Strafrecht jedenfalls anwendbar ist (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB),669 droht eine solche Gefahr der Straflosigkeit bei Unionsbürgern mangels eines Anknüpfungspunktes zur deutschen Strafverfolgung sehr wohl. Gleichwohl sei dem Übergabeersuchen des Herkunftsstaates der strafrechtlich verfolgten Person ein Vorrang vor dem Auslieferungsersuchen des Drittstaattes einzuräumen. Für den Fall, dass eine Übergabe seitens des Herkunftsmitgliedstaates allerdings gar nicht begehrt wird, sei auch ein Unionsbürger an den Drittstaat auszuliefern.670 Hieraus ergibt sich jedoch Folgendes: Würde im Verhältnis zu den USA ein anderer Grundrechtsmaßstab Geltung beanspruchen als innerhalb der Union, würde dies zu willkürlichen Ergebnissen führen, die davon abhängig wären, an welchen Zielstaat der Betroffene ausgeliefert wird. Damit wäre das Niveau des unionalen Grundrechtsschutzes davon abhängig, an wen der Betroffene überstellt wird. Dies wäre der Fall, obwohl die Union selber ein Auslieferungsabkommen mit den USA abgeschlossen hat, sodass Auslieferungen an die USA in Durchführung von Unionsrecht erfolgen und die GrCh damit bei Auslieferungsentscheidungen bezüglich Überstellungen an die USA Anwendung findet. Diese enthält allerdings weder einen Territorialvorbehalt noch stellt sie für einen Grundrechtsschutz – vorbehaltlich weniger Ausnahmen hinsichtlich der Unionsbürgerrechte (Art. 39 ff. GrCh) – auf die Unionsbürgerschaft ab. Bei Überstellungen von Unionsbürgern würde das Grundrechtsschutzniveau dann von dem Zufall abhängen, ob der Herkunftsmitgliedstaat einen Europäischen Haftbefehl ausstellt oder nicht. Je nachdem müsste der Vollstreckungsmitgliedstaat dann zwar zunächst bei den Justizbehörden des Mitgliedstaates anfragen, ob diese nicht doch einen Europäischen Haftbefehl ausstellen.671 Entscheiden sich diese jedoch dagegen, wäre der Grundrechtsschutzmaßstab für den Verfolgten im Verhältnis zu den USA ein anderer und wäre daher vom Zufall abhängig. Dies würde gelten, obwohl die das Unionsrecht durchführenden Mitgliedstaaten ihr Handeln primärrechtskonform auszugestalten haben. Bei Überstellungen von Drittstaatsangehörigen würde dies hingegen dazu führen, dass je nachdem, ob die deutsche Justizbehörde sich für eine Auslieferung an die USA oder eine Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat entscheidet, der zu Überstellende einem anderen Grundrechtsschutzniveau ausgesetzt wäre, obwohl der Schutz der GrCh für Drittstaatsangehörige und Unionsbürger überwiegend gleichermaßen gilt und einen einheitlichen Grundrechtsraum672 schaffen soll.

669

Vgl. hierzu statt vieler Heger, in: Lackner / ​Kühl (Hrsg.), StGB, § 7 Rn. 4. EuGH, Urteil vom 10. 4. 2018 – C-191/16 (Rs. Pisciotti) = NJW 2018, 1529, 1531 Rn. 48 ff.; EuGH, Urteil vom 6. 9. 2016 – C-182/15 (Rs. Petruhhin) = NJW 2017, 378, 380 Rn. 42 ff. 671 EuGH, Urteil vom 10. 4. 2018 – C-191/16 (Rs. Pisciotti) = NJW 2018, 1529, 1531 Rn. 51 ff.; EuGH, Urteil vom 6. 9. 2016 – C-182/15 (Rs. Petruhhin) = NJW 2017, 378, 380 Rn. 48, 50. 672 Vgl. Kapitel 2 Fn. 278. 670

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Ein prominentes Beispiel für den Fall, dass der Mitgliedstaat auf das Ausstellen eines Europäischen Haftbefehls verzichtet und daher der Betroffene dem Grundrechtsschutzstandard im Verhältnis zu den USA unterliegt, findet sich in dem Australier Julian Assange, der sich derzeit in Großbritannien aufhält. Die Justizbehörden der USA haben erst im Juni 2019 an die Justizbehörden Großbritanniens – zu dem Zeitpunkt noch Mitgliedstaat der EU673 – ein Auslieferungsersuchen gerichtet, in dem Assange insbesondere Verschwörung wegen des Eindringens in geheime Computernetzwerke der Regierung vorgeworfen wird und dem die Veröffentlichungen geheimer US-Dokumente des WikiLeaks-Gründers zugrunde liegen.674 Parallel zu einer möglichen Auslieferung an die USA stand längere Zeit zur Diskussion, dass die Justizbehörden Schwedens wegen des Verdachts der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung einen Europäischen Haft­befehl gegen Julian Assange ausstellen werden.675 Hierauf haben die Justizbehörden Schwedens mittlerweile allerdings verzichtet, sodass nur noch die Auslieferung an die USA im Raum steht.676 Dies zeigt, dass parallele Strafverfolgungsinteressen von Drittstaaten und Mitgliedstaaten sehr praxisrelevant sind. Der Grundrechtsschutz jedoch kann – sofern die Überstellung in Durchführung von Unionsrechts erfolgt – nicht einem gänzlich anderen Maßstab unterliegen, je nachdem, ob an die Justizbehörden der USA oder an die eines Mitgliedstaates ausgliefert wird. Zur Verwirklichung eines einheitlichen Grundrechtsraums ist es daher zwingend erforderlich, dass die Grundrechtsschutzstandards, die innerhalb des Übergabeverfahrens auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls gelten, auch im Auslieferungs­verfahren zu den USA Geltung beanspruchen. Eine weitergehende Einschränkung der Unionsgrundrechte als auf die ermittelten Mindeststandards, die sich aus den absoluten Unionsgrundrechten und den Grenzen der Einschränkungsmöglichkeiten ergeben, ist daher trotz entgegenstehender Interessen der USA, die nicht an die GrCh gebunden sind, nicht möglich und aus rechtsstaatlichen Aspekten indiskutabel.

673

Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland ist am 31. 1. 2020 aus der EU ausgestreten, s. https://eur-lex.europa.eu/content/news/Brexit-UK-withdrawal-from-the-eu. html (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020); s. insbes. auch das Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl. L 29 v. 31. 1. 2020, S. 7 ff. 674 Mittlerweile hat der Auslieferungsprozess bzgl. der Auslieferung an die USA begonnen, vgl. die Mitteilung der Redaktion beck-aktuell v. 24. 2. 2020, becklink 2015562. Zwischenzeitlich war er ausgesetzt, wurde am 7. 9. 2020 aber wieder fortgesetzt, vgl. https://www. tagesschau.de/ausland/assange-prozess-101.html (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 675 Vgl. die Mitteilung der Redaktion beck-aktuell v. 21. 5. 2019, becklink 2013183. 676 Vgl. die Mitteilung der Redaktion beck-aktuell v. 19. 11. 2019, becklink 2014759.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

219

4. Zwischenergebnis und weiterführende Überlegungen Die nationalen Justizbehörden müssen eine rechtmäßige Entscheidung über die Auslieferung treffen und sich dabei an Recht und Gesetz halten. Insbesondere haben sie dabei als Durchführungsorgane des Unionsrechts unionalen Einflüssen hinreichend Rechnung zu tragen. Aus diesen kann sich trotz einer völkervertraglichen Auslieferungspflicht innerstaatlich eine Ablehnungspflicht der Auslieferung für die Justizbehörden ergeben. Auch wenn die nationalen Justizbehörden bei der Auslieferungsentscheidung der völkervertraglichen Auslieferungspflicht gegenüber den USA zur größtmöglichen Durchsetzung verhelfen müssen, ist eine völkerrechtsfreundliche Auslegung der Zustimmungsgesetze zu den Auslieferungsverträgen mit den USA durch rechtsstaatliche Grundsätze zu begrenzen. Rechtsstaaliche Grundsätze werden allerdings dann nicht mehr gewahrt, wenn das unbeschränkbare Maß an Grundrechten nicht gewährleistet wird. Aufgrund des Integrationsbefehls des Art. 23 Abs. 1 GG sind die völkerrechtlichen Auslieferungsverträge im Anwendungsbereich des Unionsrechts unionsrechtskonform auszulegen: Der hierfür erforderliche Maßstab ergibt sich bei Auslieferungen an die USA aus dem – vorrangig anwendbaren – Unionsrecht und damit als äußerster Grenze aus Art. 2 EUV, da Auslieferungen an die USA in Durchführung von Unionsrecht erfolgen. Dies gilt unabhängig davon, ob es um die Überstellung eines Unionsbürgers oder um die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen geht. Damit ist aber – unabhängig von einer völkervertraglichen Regelung – sowohl der nationale Richter als auch die über die Auslieferung entscheidende Exekutive dazu verpflichtet, eine Auslieferung unter Wahrung der rechtsstaatlichen Grundsätze i. S. d. Art. 2 EUV vorzunehmen. Die rechtsstaatlichen Grundsätze des Art. 2 EUV stellen damit die äußerste Schranke unionalen Handelns dar – und das nicht nur innerhalb der Union, sondern auch im Verhältnis zu Drittstaaten. Die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze erfordert als Minimum, dass kein Eingriff in absolute Rechte vorliegt und die Grenzen der Einschränkungsmöglichkeiten von Unionsgrundrechten nicht überschritten werden, also insbesondere keine Einschränkung der Wesensbestandteile der Unionsgrundrechte der GrCh vorliegt. Im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten müssen nationale Justizbehörden die Auslieferung daher ablehnen, wenn die zu erwartende Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat nicht den Unionsgrundrechten in ihren Wesensbestandteilen bzw. den absoluten Unionsgrundrechten genügt, da ein entsprechender Verstoß aufgrund dessen Vorhersehbarkeit ansonsten den nationalen Justizbehörden zurechenbar wäre. Im Verhältnis zu Drittstaaten erlangt der unionale Mindestgrundrechtsschutz über die nationale Bindung der Justizbehörden an das Unionsrecht damit eine eigenständige Bedeutung. Eine solche kommt unionalen Mindeststandards im Übergabeverfahren innerhalb der EU insofern nicht zu, als

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

dass hier – zumindest formal – alle Mitgliedstaaten zur Einhaltung der unionalen Mindeststandards verpflichtet sind. Im Verhältnis zu Drittstaaten entwickelt sich durch den unionalen Mindeststandard hingegen ein eigener Bestand an europäischen Rechtsgrundsätzen, der auch gegenüber Drittstaaten gilt. Dabei gewähren die grundrechtlichen Mindeststandards innerhalb der EU einen weiterreichenden Schutz als es völkerrechtliche Menschenrechte vermögen. Es fällt in die Aufgabe und Zuständigkeit des EuGH, den Mindestschutz einzelner Grundrechte konkret zu definieren und unionsweite Vorgaben zu machen, welche Mindestanforderungen an die einzelnen Unionsgrundrechte zu stellen sind (und damit insbesondere, was zum Wesensbestandteil unionaler Grundrechte i. S. d. Art. 52 Abs. 1 GrCh gehört). Denn gem. Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV sichert er die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Da die GrCh gem. Art. 6 Abs. 1 EUV Primärrecht der Union ist, ist auch ausschließlich der EuGH dafür zuständig, den Mindestgrundrechtsschutz zu bestimmen.677 Einen solchen hat der EuGH jedoch noch nicht umfassend, sondern ausschließlich punktuell bestimmt. Insbesondere kann eine Bestimmung durch den EuGH auch nicht mit einem bloßen Verweis auf die im Vergleich wesentlich detailliertere Rechtsprechung des EGMR unterbleiben.678 Auch wenn die Unionsgrundrechte in Bedeutung und Tragweite nicht unter den Schutzstandard der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR zurückfallen dürfen (Art. 52 Abs. 3 GrCh), bleibt es dem EuGH unbenommen, den Mindestschutzstandard der Unionsgrundrechte höher anzusetzen als der EGMR. Der EuGH legt die Unionsgrundrechte autonom aus und hat sich nur im Sinne eines Mindestschutzes an der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR zu orientieren.679 Im nationalen Verfahren über die Auslieferung ist daher im Zweifel der EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens zur Bestimmung des Mindestschutzes anzurufen. Da die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR ein Mindestschutzniveau auch für den unionalen Grundrechtsschutz begründen,680 bedarf es keines separaten Schutzes der Menschenrechte der EMRK. Insofern bedarf es auch keines ausdrücklichen Grundrechtsvorbehalts im Auslieferungsverkehr zwischen den USA und Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf die EMRK: Ein solcher Grundrechtsschutz ist automatisch in einem unionalen Grundrechtsschutz enthalten. Erst in wenigen Fällen hat der EuGH bislang überhaupt Aussagen zu einem unionsgrundrechtlichen Mindestschutz getätigt und damit zumindest mit der Bestimmung unionaler Mindeststandards begonnen. In Bezug auf grundrechtliche Bedenken bezüglich der Strafe bzw. des Strafvollzugs im ersuchenden Staat hat der EuGH begonnen, das Verbot von unmenschlicher Strafe oder Behandlung 677

Vgl. Swoboda, ZIS 2018, 276. So bspw. auch BVerfGE 147, 364, 384 ff. Rn. 50 ff. 679 Die EMRK und die Rspr. des EGMR insofern als Referenzpunkt bezeichnend: Schorkopf, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 6 EUV Rn. 57. 680 Vgl. Kapitel 2 Fn. 268. 678

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

221

(Art. 4 GrCh) näher zu definieren. Hierbei geht es regelmäßig um die Haftbedingungen, die für den unionalen Mindeststandard zwingend erforderlich sind und damit um eine Definition des Mindestschutzes nach Art. 4 GrCh. Der EuGH hat zumindest den absoluten Charakter von Art. 4 GrCh aufgrund der Nähe zur Menschenwürde und seiner Entsprechung in Art. 3 EMRK betont681 und aufgrund des Fehlens unionaler Mindestvorschriften in Bezug auf die erforderlichen Haftbedingungen auf Art. 3 EMRK und die Rechtsprechung des EGMR zurückgegriffen.682 Eine Übertragung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK in der Form, dass diese unionsrechtlich abschließend ist, hatte der EuGH allerdings weder angenommen noch ausgeschlossen.683 Dementsprechend hat das BVerfG in einer Entscheidung vom 19. 12. 2017 zutreffenderweise festgehalten, dass die Frage, welche Mindestanforderungen an Haftbedingungen aus Art. 4 GrCh konkret abzuleiten sind und nach welchen Maßstäben sich die unionsrechtliche Betrachtung richtet, vom EuGH noch nicht abschließend festgelegt worden sind684 und hat deshalb eine Pflicht zur Anrufung des EuGH angenommen.685 Es sei insbesondere zu klären, inwiefern Art. 4 GrCh unter Rückgriff auf Art. 3 EMRK und die hier bestehende Rechtsprechung des EGMR auszulegen sei, da der EuGH hierzu noch keine Stellung bezogen habe.686 Tatsächlich hatte der EuGH auf die inhaltlichen unmittelbar aus Art. 4 GrCh folgenden Anforderungen für Haftbedingungen in den Rechtssachen Pál Aranyosi und Robert Căldăraru und in der Rechtssache ML nicht Bezug genommen. Die entsprechende Vorlage zur Vorabentscheidung des OLG Hamburg687 war beim EuGH688 mit dem Zweck der Fortentwicklung der Rechtsprechung zu europäischen Standards bei Haftbedingungen (im konkreten Fall in Rumänien). Es ging insbesondere um die Frage, wie groß die Hafträume sein müssen, um der Menschenwürde gerecht zu werden.689 Erst am 15. 10. 2019 hat der EuGH sein Urteil gefällt und hierbei die Chance ungenutzt gelassen, uni 681

EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 58, 82; EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161, 3163 ff. Rn. 58, 90; EuGH, Urteil vom 5. 4. 2016 – C-404/15, C-659/15 PPU (Rs. Pál Aranyosi und Robert Căldăraru) = NJW 2016, 1709, 1712 Rn. 85 ff. 682 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161, 3166 Rn. 90 ff. 683 Becker, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 52 GrCh, Rn. 16; Kingreen, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 52 GrCh Rn. 32 f. 684 BVerfGE 147, 364, 384 f. Rn. 51. 685 BVerfGE 147, 364, 385 ff. Rn. 52 ff. 686 BVerfGE 147, 364, 383 ff. Rn. 48 ff. Der Entscheidung des BVerfG lag ein Beschluss des OLG Hamburg zugrunde (OLG Hamburg, 3. 1. 2017 – Ausl 81/16 = BeckRS 2017, 100229, in der das OLG die Übergabe an Rumänien für zulässig erklärte, obwohl in Rumänien lediglich 2 m² Haftraum inklusive Mobiliar zugesichert werden konnten, s. hierzu Oehmichen, ­F D-StrafR 2018, 405297. 687 OLG Hamburg, 8. 2. 2018 – Ausl 81/16 = BeckRS 2018, 6930; s. hierzu die Anmerkung Oehmichen, FD-StrafR 2018, 405297. 688 Das Verfahren ist vor dem EuGH als Rechtssache C-128/18 (Dorobantu) geführt worden, s. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468. 689 S. hierzu insbes. auch den Schlussantrag des Generalanwalts Sánchez-Bordona v. 30. 4. 2019, C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 7196 Rn. 75 ff.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

onale Mindeststandards für die Haftbedingungen in den Mitgliedstaaten zu setzen. Vielmehr hat der EuGH selber darauf hingewiesen, dass es keine unionalen Mindeststandards gebe und daraufhin wiederholt pauschal auf Art. 3 EMRK und die Rechtsprechung des EGMR hierzu verwiesen, ohne dabei ausdrücklich festzuhalten, dass die Rechtsprechung des EGMR zum unional verbindlichen Standard erhoben werden soll.690 In Bezug auf unionsrechtliche Bedenken bezüglich des Strafverfahrens im ersuchenden Staat hat der EuGH tatsächlich schon umfangreicher begonnen, einen Mindestschutz in Teilbereichen für das Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art. 47 Abs. 2 GrCh zu definieren. So hat er in der Rechtssache LM in seinem Urteil vom 25. 7. 2018 festgehalten, dass das Recht auf einen unabhängigen Richter zum Wesensbestand des Rechts auf ein faires Verfahren gehört, da diesem als Garant der Rechtsstaatlichkeit i. S. d. Art. 2 EUV und der Betroffenenrechte eine grundlegende Rolle zukomme.691 Dabei hat der EuGH zwei für die Unabhängigkeit des Richters und damit für den Wesensbestand von Art. 47 Abs. 2 GrCh wesent­ liche Aspekte herausgearbeitet: Der erste Aspekt betreffe das Außenverhältnis und erfordere die völlige Autonomie des Richters. Dieser dürfe keinen Interventionen oder irgendeinem Einfluss von außen ausgesetzt sein.692 Als zweiten Aspekt benennt der EuGH das Innenverhältnis: Der Richter dürfe kein Interesse an einem bestimmten Ausgang des Verfahrens haben, er müsse also unparteiisch sein.693 Damit hat der EuGH in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren zumindest in Teilbereichen unionale Mindestschutzstandards entwickelt, die es in Zukunft in weiteren Teilbereichen dieses Grundrechts auszuweiten gilt. Insgesamt ist damit festzuhalten, dass der EuGH begonnen hat, erstens den Mindestschutz des absoluten Rechts aus Art. 4 GrCh zu umschreiben und zweitens die nicht einschränkbaren Wesenbestandteile des unionalen an sich einschränkbaren Grundrechts auf ein faires Verfahren aus Art. 47 Abs. 2 GrCh zu definieren. In Zukunft wird es seine Aufgabe sein, eine Bestimmung aller absoluten Grundrechte und der Wesensbestandteile der einschränkbaren Grundrechte vorzunehmen, die potenziell im ersuchenden Staat verletzt werden können,694 solange eine solche Verletzung den Hoheitsträgern des ersuchten Staates zuzurechnen ist.

690

Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (b) (cc). EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 400 Rn. 48 ff. 692 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 401 Rn. 63; vgl. auch EuGH, Urteil vom 27. 2. 2018 – C-64/16 (Rs. Associação Sindical dos Juízes Portugueses / ​Tribunal de Contas) = EuZW 2018, 469, 472 Rn. 44. 693 EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 401 Rn. 65; vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. 9. 2006 – C-506/04 (Rs. Graham J. Wilson / ​Ordre des avocats du barreau de Luxembourg) = EuZW 2006, 658, 660 Rn. 52. 694 Zu solchen durch die Auslieferungsentscheidung potenziell gefährdeten Grundrechten s. die Aufzählung bei Meyer, ZStW 128 (2016), 1089, 1120. 691

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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III. Vereinbarkeit von Überstellungen aufgrund von Zusicherungen mit dem reduzierten Maßstab der GrCh Unionale Grundrechte können in Form der absoluten Grundrechte und der uneinschränkbaren Wesensbestandteile unionaler Grundrechte gegen Auslieferungs­ entscheidungen in Stellung gebracht werden, wenn eine ernste Gefahr ihrer Verletzung besteht. Eine solche Berücksichtigung von Individualinteressen des Betroffenen führt dazu, dass die Strafverfolgung bzw. -vollstreckung und damit schlussendlich auch die Effektivität des Auslieferungsverkehrs leidet. Dienen Grundrechte als Ablehnungsgrund einer Auslieferung, führt dies bei Berufung auf eine drohende Gefahr des Unterschreitens unionaler Mindeststandards letztlich dazu, dass nur noch zwei Möglichkeiten für die Strafverfolgung bzw. -vollstreckung verbleiben: Entweder betreibt der ersuchte Staat stellvertretend für den ersuchenden Staat Strafrechtspflege695 oder eine Strafverfolgung bzw. Strafvollstreckung unterbleibt gänzlich, da der ersuchende Staat bei fehlendem Überstellungswillen des Staates, in dem sich der Auszuliefernde aufhält, keine Möglichkeit hat, in völkerrechtlich zulässiger Weise auf den Betroffenen zuzugreifen. Die erste Möglichkeit der stellvertretenden Strafrechtspflege wird regelmäßig nicht effizient sein, da sich im Aufenthaltsstaat des Betroffenen oftmals keine Beweismittel finden werden. Dies wird insbesondere dann zutreffen, wenn sich der Betroffene absichtlich in einen anderen Staat begeben hat, um der Strafverfolgung zu entgehen. Selbst für den Fall, dass erfolgreich Strafrechtspflege betrieben werden kann, wird dies mit höheren Kosten für den ersuchten Staat verbunden sein. Auch für den Betroffenen ist eine Strafvollstreckung in einem Staat, dessen Sprache er im Zweifelsfall nicht einmal spricht, mit höheren Belastungen verbunden. Zudem trägt es nicht zur Resozialisierung eines Straftäters bei, wenn er fernab seines Heimatstaates eine Strafe verbüßen muss und so von seinen sozialen Kontakten getrennt ist.696 Die zweite Möglichkeit des vollständigen Unterlassens einer Strafverfolgung bzw. -vollstreckung führt letztlich dazu, dass sich der Betroffene dem Strafanspruch durch seinen Aufenthaltswechsel sogar völlig entziehen kann. Dies trägt weder staatlichen noch gesellschaftlichen Interessen Rechnung. Darüber hinaus würde diese Möglichkeit in Zukunft dazu führen, dass der ersuchende Staat im Zweifel ebenfalls nicht mehr an den ersuchten Staat ausliefern würde und so „rechtsfreie Räume“ geschaffen würden. Beide Möglichkeiten werden damit den Staateninteressen und auch den Interessen des Betroffenen nicht gerecht. Vor diesem Hintergrund hat sich in der völkerrechtlichen Praxis das Institut der Zusicherung entwickelt: Das Institut der Zusicherung vermag einen Ausgleich der

695 Zur Alternative der stellvertretenden Strafrechtspflege s. Baier, GA 2001, 427, 429 f.; Deiters, ZIS 2006, 472 ff. 696 Zu diesen angeführten Problemen der stellvertretenden Strafrechtspflege s. Deiters, ZIS 2006, 472 ff.; Gleß / ​Wahl / ​Zimmermann, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 73 IRG Rn. 5a.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Staateninteressen herzustellen, ohne dabei die Individualrechte zu missachten und den Betroffenen der Gefahr einer Grundrechtsverletzung auszusetzen.697 Auch in den völkerrechtlichen Verträgen bezüglich des Auslieferungsverkehrs mit den USA findet sich eine Normierung einer völkerrechtlichen Zusicherung: Gem. Art. 13 AuslAbk EU-USA und Art. 12 AuslV D-USA i. V. m. ZusV und 2. ZusV gilt Folgendes: „Ist die Straftat, derentwegen um Auslieferung ersucht wird, nach dem Recht des ersuchenden Staates mit der Todesstrafe bedroht, nach dem Recht des ersuchten Staates jedoch nicht, so kann der ersuchte Staat die Auslieferung unter der Bedingung bewilligen, dass die Todesstrafe gegen den Verfolgten nicht verhängt wird, oder – wenn eine derartige Bedingung vom ersuchenden Staat aus Verfahrensgründen nicht erfüllt werden kann – unter der Voraussetzung, dass die Todesstrafe, falls sie verhängt wird, nicht vollstreckt wird. Akzeptiert der ersuchende Staat die Auslieferung unter den in diesem Artikel genannten Bedingungen, so hat er diese Bedingungen zu erfüllen. Akzeptiert der ersuchende Staat die Bedingungen nicht, so darf das Auslieferungsersuchen abgelehnt werden.“ Damit kann (fakultativ) die Auslieferung seitens der Justizbehörden eines Mitgliedstaates nur dann abgelehnt werden, wenn die Straftat, derentwegen um Auslieferung ersucht wird, im ersuchenden Staat mit der Todesstrafe bedroht ist und die Justizbehörden der USA keine Zusicherung abgeben, dass die Todesstrafe im konkreten Fall zumindest nicht vollstreckt wird. Die Formulierung, dass eine solche Bedingung aus Verfahrensgründen unter Umständen nicht erfüllt werden kann, basiert darauf, dass es in manchen US-Staaten gegebenenfalls obligatorisch sein kann, die Todesstrafe zu verhängen, sodass eine völkerrechtliche Zusicherung der USA dahingehend nicht möglich ist, dass die Todesstrafe bereits nicht verhängt werden wird.698 Damit ist völkervertraglich für den Auslieferungsverkehr mit den USA zwar ein Ablehnungsgrund geregelt,699 allerdings nur für den Fall, dass keine Zusicherung der Nichtvollstreckung der Todesstrafe abgegeben wird. Dadurch kann die Abgabe einer entsprechenden Zusicherung das völkerrechtliche Eingreifen eines legitimen Ablehnungsgrundes verhindern: Der ersuchte Staat kann die Auslieferung bei entsprechender Zusicherung der Nichtvollstreckung der Todesstrafe gewähren. Da die Überstellung an die USA unionsrechtlich determiniert ist und stets in Durchführung von Unionsrecht erfolgt,700 sind die Ablehnungsgründe im Einklang mit dem Primärrecht auszuüben.701 Dies wiederum setzt voraus, dass durch eine Überstellung des Betroffenen weder der Wesensgehalt von Unionsgrundrechten

697

Gazeas, GA 2018, 277 f. S. hierzu Mitsilegas, EuFAR 8 (2003), 515, 527. 699 S. hierzu Kapitel 1 B. I. 1. 700 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. c) cc). 701 Vgl. EuGH, Urteil vom 10. 4. 2018 – C-191/16 (Rs. Pisciotti) = NJW 2018, 1529, 1530 Rn. 41 ff. 698

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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i. S. d. Art. 52 Abs. 1 GrCh noch absolute Unionsgrundrechte angetastet werden, da ansonsten bereits entweder ein unzulässiger Eingriff in den Schutzbereich vorliegt (bei absoluten Grundrechten) oder ein Eingriff nicht zu rechtfertigen ist (bei den einer Einschränkung zugänglichen Unionsgrundrechten). In Bezug auf die Möglichkeit der Überstellung trotz zu erwartender Todesstrafe für den Fall, dass die US-amerikanischen Behörden eine Zusicherung der Nichtvollstreckung der Todesstrafe im konkreten Fall abgeben, bestehen aber Bedenken, ob diese den unionsgrundrechtlichen Anforderungen an die Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat genügt. 1. Vereinbarkeit der Auslieferung bei drohender Todesstrafe mit dem reduzierten Grundrechtsmaßstab? Obwohl die Abschaffung der Todesstrafe heutzutage immer noch nicht zum zwingenden Völkerrecht gehört,702 ist sie jedenfalls innerhalb der EU abgeschafft worden. Ein entsprechendes Verbot der Todesstrafe innerhalb der Union ergibt sich aus Art. 2 Abs. 2 GrCh.703 Darüber hinaus sieht Art. 19 Abs. 2 GrCh explizit vor, dass niemand an einen Staat ausgeliefert werden darf, in dem das ernsthafte Risiko einer Todesstrafe im konkreten Fall besteht und statuiert damit ein ausdrückliches unionsrechtliches Auslieferungsverbot für den Fall einer drohenden Todesstrafe. Damit regelt Art. 19 Abs. 2 GrCh ausdrücklich die unionsrechtliche Pflicht, eine Auslieferung an Staaten, in denen die Todesstrafe droht, zu unterlassen.704 Ein entsprechendes Verbot der Todesstrafe existiert auch auf der Ebene des Europarats: Die in der GrCh gewährten Grundrechte dürfen in Bedeutung und Tragweite nicht hinter den entsprechenden Menschenrechten der EMRK zurückfallen (Art. 52 Abs. 3 GrCh). Darüber hinaus sind die in der EMRK gewährleisteten Grundrechte als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts (Art. 6 Abs. 3 EUV), sodass auch die Perspektive der EMRK heranzuziehen ist. Damit gelten insbesondere auch die durch die EMRK und den EGMR absolut gewährten Garantien, die in der GrCh eine Entsprechung finden, unionsrechtlich absolut.705 Auch wenn Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK die Todesstrafe unter der Voraussetzung erlaubt, dass ein Gericht die Todesstrafe wegen eines Verbrechens verhängt hat, ist diese Norm im Zusammenspiel mit den mittlerweile ratifizierten Zusatzprotokollen zu sehen: Nach

702

Vgl. Kapitel 2 A. II. 2. Teilweise wird in Art. 2 Abs. 2 GrCh ein eigenständiges Grundrecht gesehen (so Calliess, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 2 GrCh Rn. 27), teilweise wird die Existenz eines eigenen Grundrechts bestritten und Art. 2 Abs. 2 GrCh vielmehr als eine Grenze für Grundrechtseinschränkungen gesehen (so Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 2 GrCh Rn. 13). 704 S. hierzu EuGH, Urteil vom 6. 9. 2017 – C-473/15 (Rs. Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR) = BeckRS 2017, 124630 Rn. 19 ff. 705 Vgl. Kapitel 2 Fn. 479. 703

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Art. 1 des 6. Zusatzprotokolls zur EMRK706 ist die Todesstrafe – nach Art. 1 des 6. Zusatzprotokolls zur EMRK vorbehaltlich in Kriegsfällen – abgeschafft. Nach dem 13. Zusatzprotokoll zur EMRK707 gilt dies nunmehr auch in Kriegszeiten. Damit ist Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK durch eine geänderte Staatenpraxis mittlerweile derogiert708 und die Todesstrafe zwischen den Europaratsstaaten abgeschafft. Die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe stellt darüber hinaus auch stets einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar, da sie das Leben beendet und daher eine unmenschliche Strafe darstellt.709 Im Rechtsschutzsystem des Europarates ist das Verbot der Todesstrafe mittlerweile absolut, sodass die Todesstrafe auch schlichtweg unvereinbar mit Art. 19 Abs. 2 GrCh und Art. 2 Abs. 2 GrCh ist. Auf eine Verletzung des Wesensgehalts kommt es daher bei der Beurteilung, ob ein Verstoß gegen unionale Mindeststandards vorliegt, nicht an. Die Abschaffung der Todesstrafe gehört heutzutage zu einer wichtigen Errungenschaft der Grundrechtspolitik der EU.710 Es stellt sogar eine zwingende Voraussetzung für den Beitritt zur EU dar, die Todesstrafe im eigenen Staat abzuschaffen (vgl. Art. 49 UAbs. 1 EUV): Die Abschaffung der Todesstrafe ist Teil der unverzichtbaren Werte i. S. d. Art. 2 EUV, auf denen die EU gründet und deren Missachtung ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Art. 7 EUV auslöst.711 Soweit die Vollstreckung der Auslieferung an einen Drittstaat einen Eingriff in ein absolutes Recht darstellt, folgt daraus die Verletzung des Grundrechts durch die Justizbehörden des ausliefernden Staates, was zu einer Unzulässigkeit der Auslieferung führt. Insofern ist maßgebliches Kriterium für die Zulässigkeit der 706 S. das Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe v. 28. 4. 1983 (BGBl. II 1988, S. 662) i. d. F. der Bekanntmachung v. 22. 10. 2010 (BGBl. II 2010, S. 1198, 1223). 707 S. das Protokoll Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe v. 3. 5. 2002 (BGBl. II 2004, S. 982) i. d. F. der Bekanntmachung v. 22. 10. 2010 (BGBl. II 2010, S. 1198, 1226). 708 Vgl. EGMR, Urteil vom 2. 3. 2010 – Nr. 61498/08 (Al Sadoon et Mufdhi / ​Vereinigtes Königreich) Rn. 115 ff.; s. hierzu Dörr, JZ 73 (2018), 224, 229. In der Rs. Soering (EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989 – Nr. 14038/88 (Soering / ​Vereinigtes Königreich) = NJW 1990, 2183) hatte der EGMR dies noch abgelehnt und eine Verletzung des Art. 3 EMRK nur wegen der Art und Weise der Inhaftierung (des sog. Todeszellensyndroms) angenommen, vgl. Kapitel 2 D. II. ​ 3. d) aa) (2) (c) (bb); zur Derogation völkerrechtlicher Normen durch eine geänderte Staatenpraxis s. Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 180. 709 S. Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 180. 710 S. z. B. Erwägungsgrund C der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. 6. 2015 zur Lage in Ungarn 2015/2700(RSP), ABl. C 407 v. 4. 11. 2016, S. 46, 47; s. zudem die Pressemitteilung des Rates der EU vom 9. 10. 2017 bzgl. der Gemeinsamen Erklärung der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und des Generalsekretärs des Europarats zum Europäischen Tag und Welttag gegen die Todesstrafe, https://www.consilium. europa.eu/de/press/press-releases/2017/10/09/hr-joint-declaration-death-penalty/ (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 711 S. die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. 6. 2015 zur Lage in Ungarn 2015/2700(RSP), ABl. C 407 v. 4. 11. 2016, S. 46, 48.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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Auslieferung im Fall einer Zusicherung, ob die Zurechenbarkeit einer drohenden Grundrechtsverletzung ausgeschlossen ist, wenn die US-amerikanischen Justizbehörden eine Zusicherung abgeben, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt werden wird: Steht auf die Straftat, derentwegen die Auslieferung im konkreten Fall ersucht wird, in den USA die Todesstrafe, stellt sich die Frage, inwiefern eine Zusicherung der Nichtvollstreckung einen Zurechnungszusammenhang unterbricht. 2. Zusicherung der Nichtvollstreckung der Todesstrafe als Zurechnungsausschluss grundrechtswidrigen Verhaltens? Nach der völkervertraglichen Klausel des Art. 13 AuslAbk EU-USA kann die Auslieferung an die USA gewährt werden, wenn die zuständigen US-amerikanischen Justizbehörden eine Zusicherung der Nichtvollstreckung der Todesstrafe abgeben. Anknüpfungspunkt für die Frage der Zulässigkeit der Auslieferung im Fall einer solchen Zusicherung muss wiederum die spezifische Struktur des Grundrechtsschutzes der GrCh sein: Besteht keine reale Gefahr des Verstoßes gegen die Todesstrafe, liegt mangels eines zurechenbaren Eingriffs in das Unionsgrundrecht auch keine Verantwortlichkeit des Mitgliedstaates vor, dessen Justizbehörden über die Auslieferung entscheiden.712 Bei dem Negieren einer solchen realen Gefahr eines drohenden Grundrechtsverstoßes kann die grundrechtsspezifische Zulässigkeit einer Auslieferung im Fall völkerrechtlicher Zusicherungen ansetzen: Beseitigen völkerrechtliche Zusicherungen den Nachweis einer Gefahr für einen Eingriff in Unionsgrundrechte, besteht auch von vornherein keine Verantwortlichkeit der Justizbehörden des ausliefernden Staates bezüglich einer Grundrechtsverletzung.713 Insofern kann eine Zusicherung einen möglichen Grundrechtsverstoß zwar nicht kompensieren, allerdings die Zurechenbarkeit eines Grundrechtsverstoßes zu dem Handeln der Justizbehörden des ersuchten Staates unterbrechen. In Bezug auf die Todesstrafe bedeutet dies, dass eine (vermeintlich) drohende Grundrechtsverletzung durch die Todesstrafe gegebenenfalls deshalb nicht zu einem Ablehnungsgrund führen könnte, weil keine zurechenbare Grundrechtsverletzung vorliegt, wenn seitens der Justizbehörden des ersuchenden Staates eine völkerrechtliche Zusicherung der Nichtvollstreckung der Todesstrafe i. S. d. Art. 13 AuslAbk EU-USA und Art. 12 AuslV D-USA i. V. m. ZusV und 2. ZusV abgegeben wird. Eine Zusicherung könnte insofern einen Einfluss auf die Gefahrprognose haben, indem bei Abgabe einer Zusicherung keine reale Gefahr der Unionsgrundrechtsverletzung und damit kein zurechenbarer Grundrechtseingriff vorliegt.

712 713

Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c) (bb). Ähnlich: Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 291 ff.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

a) Die Rechtsnatur völkerrechtlicher Zusicherungen im Auslieferungsverkehr Zusicherungen sind seit jeher ein probates Mittel im Auslieferungsrecht714 und gehen auf den Grundsatz der Spezialität zurück, wonach die Leistung von Rechtshilfe von der Gewährung bestimmter Bedingungen abhängig gemacht werden kann.715 Eine völkerrechtliche (diplomatische) Zusicherung ist nichts anderes als eine völkerrechtliche Willenserklärung, die auf das Angebot des Abschlusses eines völkerrechtlichen (Einzel-)Vertrages gerichtet ist.716 Sie basiert auf dem Gedanken, dass sich zwei Souveräne gegenüberstehen und einander Zusagen eines bestimmten Inhalts geben und garantieren:717 Es wird eine bestimmte Verhaltensweise versprochen – im Fall des Art. 13 AuslAbk EU-USA die Nichtvollstreckung der Todesstrafe. b) Zurechnungsausschluss möglicher Grundrechtsverletzungen durch Zusicherungen Die reale Gefahr einer drohenden Grundrechtsverletzung im ersuchenden Staat, die zwingende Voraussetzung einer Zurechenbarkeit von Grundrechtsverletzungen an die Hoheitsträger des ersuchten Staates ist,718 kann nur dann durch eine völker­rechtliche Zusicherung beseitigt werden, wenn eine solche Zusicherung auch belastbar ist.719 Der EGMR hat in ständiger Rechtsprechung Voraussetzungen entwickelt, anhand derer die Belastbarkeit und Aussagekräftigkeit von Zusicherungen festgestellt werden können.720 Da die Grundrechte der GrCh nicht hinter die von der EMRK gewährten Garantien und die Rechtsprechung des EGMR zurückfallen dürfen 714

S. aus der Rspr. des BVerfG insbes. BVerfGE 63, 215, 224; s. aus der Literatur Gazeas, GA 2018, 277; Riegel / ​Speicher, StV 36 (2016), 250, 254. 715 Zum Grundsatz der Spezialität s. Kapitel 1 Fn. 43. 716 Gazeas, GA 2018, 277, 281; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 16. 717 Gazeas, GA 2018, 277 f. 718 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c) (bb). 719 Das Kriterium der Belastbarkeit ist allgemein anerkannt, s. nur Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 302 f.; Riegel, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 32 Rn. 13; Riegel / ​Speicher, StV 36 (2016), 250, 254; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn.  118. 720 S. hierzu Kapitel 2 D. III. 2. b) bb). Anfänge solcher Voraussetzungen finden sich bei EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989 – Nr. 14038/88 (Soering / ​Vereinigtes Königreich) = NJW 1990, 2183, 2185 f. Rn. 93 ff., 97 f.; s. auch die vom EGMR-Richter Johannes Silves entwickelte Checkliste in der am 20. 5. 2014 gehaltenen Präsentation „Extradition and Human Right, Diplomatic assurances and Human Rights in the Extradition Context“; s. außerdem Oehmichen, StV 37 (2017), 257, 258.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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(Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh), sind die Voraussetzungen des EGMR als Mindestvoraussetzungen auch für die Frage der Zurechenbarkeit von Unionsgrundrechtsverletzungen heranzuziehen. aa) Bedenken gegen und Begründungen für Zusicherungen im Auslieferungsverkehr zu Drittstaaten Bedenken gegen die Abgabe einer Zusicherung könnten bereits deshalb bestehen, weil die Notwendigkeit der Abgabe von Zusicherungen offenbaren könnte, dass die Justizbehörden des ersuchenden Staates hierbei ein reales Risiko eines konkreten Grundrechtsdefizits einräumen.721 Solche Bedenken, die im Übergabeverfahren innerhalb der EU, in der jeder Mitgliedstaat bei Überstellungen an die unionsgrundrechtlichen Mindeststandards gebunden ist, sicherlich eine gewisse Argumentationskraft aufweisen, schlagen im Auslieferungsverkehr zu Drittstaaten wie den USA hingegen nicht durch: Im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten ist es offenkundig, dass der jeweilige Drittstaat gerade nicht an die GrCh gebunden ist, sodass von vornherein das Risiko eines konkreten an den Unionsgrundrechten zu messenden Grundrechtsdefizits besteht. Geben US-amerikanische Justizbehörden eine Zusicherung beispielsweise dahingehend ab, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wird, erkennen sie hierdurch die Souveränität des ersuchten Staates insofern an, als dass die Mitgliedstaaten der EU an die GrCh gebunden sind und dies den Auslieferungsverkehr mit den USA beeinflusst. Ihr eigenes Verhalten wird jedoch selbstredend nicht an der GrCh gemessen. Ausschließlich die Zurechnung der drohenden Todesstrafe an das justizielle Handeln der über die Auslieferung entscheidenden mitgliedstaatlichen Behörden führt zu einem Auslieferungshindernis. Bedenken gegen Zusicherungen722 bestehen im Auslieferungsverkehr mit den USA weiterhin, weil auch im Auslieferungsverkehr mit den USA der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens gilt.723 Dieser könnte der Zulässigkeit von Auslieferungen im Fall von Zusicherungen entgegenstehen. Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens im Verhältnis zu Drittstaaten geht davon aus, dass sich die Justizbehörden des ersuchenden Staates an vertragliche Vereinbarungen halten, da sie regelmäßig ein Interesse an der Aufrechterhaltung eines funktionierenden Auslieferungsverkehrs 721

Gazeas, GA 2018, 277, 278; Giuffré, IHRLR 2 (2013), 266, 284; Noll, MJIL 7 (2006), 1; Oehmichen, StV 37 (2017), 257, 258. 722 Zu den entsprechenden Bedenken von Zusicherungen innerhalb der Union aufgrund des gegenseitigen Vertrauens zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten s. Gazeas, GA 2018, 277, 279 m. w. N. 723 Dass der Auslieferungsverkehr mit den USA von Grundsatz gegenseitigen Vertrauens geprägt ist, entscheidet das BverfG in st. Rspr., s. BVerfGE 140, 317, 349; 109, 38, 61; 109, 13, 35 f.; BVerfG, 17. 5. 2017 – 2 BvR 893/17 = NStZ-RR 2017, 226, 228; BVerfG, 2. 2. 2016 – 2 BvR 2486/15 = BeckRS 2016, 41837 Rn. 22.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

haben.724 Im Gegensatz zum Übergabeverfahren innerhalb der EU wird also nicht auf die Rechtsstaatlichkeit des justiziellen Handelns ausländischer Justizbehörden an sich vertraut, da es ohnehin an einer gemeinsamen Grundlage für ein solches Vertrauen fehlt, sondern darauf, dass sich die US-amerikanischen Justizbehörden an völkerrechtliche Zusicherungen halten werden.725 Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens spricht also nicht gegen eine Zulässigkeit von Auslieferungen im Fall von Zusicherungen, sondern setzt eine solche vielmehr voraus. Dementsprechend wird in ständiger Rechtsprechung des BVerfG aus dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens die Zulässigkeit von Auslieferungen für den Fall völkerrechtlicher Zusicherungen gefolgert, solange nicht im Einzelfall anzunehmen ist, dass sich der ersuchende Staat nicht an seine Zusicherungen halten wird.726 Für eine Zulässigkeit von Auslieferungen im Fall von Zusicherungen spricht außerdem, dass Art. 15 AuslAbk EU-USA ausdrücklich Konsultationen für eine effektive Nutzung des Abkommens und damit eine effektive Strafverfolgung vorsieht. Insofern sieht das völkerrechtliche Abkommen bereits Verhandlungen zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Staat vor, die dazu dienen, dass es letztlich doch zu einer Überstellung des Auszuliefernden kommt. Eine völkerrechtliche Zusicherung dient sowohl den Interessen des ersuchenden als auch den Interessen des ersuchten Staates und schafft gleichzeitig einen größtmöglichen Grundrechtsschutz für den Betroffenen, solange die Zusicherung belastbar ist. Der ersuchende Staat hat es letztlich in der Hand, durch die Abgabe einer entsprechenden Zusicherung die Überstellungschancen des Betroffenen zu erhöhen, um seinen Strafverfolgungsinteressen nachzukommen. Für den ersuchten Staat ist sichergestellt, dass seinen Justizbehörden keine Grundrechtseingriffe zugerechnet werden. Dadurch wird auch dem Grundrechtsschutz des Betroffenen zur größtmöglichen Wirksamkeit verholfen. Bedenken bestehen dahingehend, ob Auslieferungen im Fall von Zusicherungen bei absolut gewährten Grundrechten von vornherein unzulässig sind, da diese einschränkungslos gelten. Allerdings können Zusicherungen ein reales Risiko einer Grundrechtsverletzung ausräumen und daher einem zurechenbaren Eingriff entgegenstehen. Liegt kein zurechenbarer Grundrechtseingriff seitens der Justizbehörden des ersuchten Staates vor, ist das absolute Grundrecht bereits nicht verletzt. Zusicherungen sind daher auch bei absoluten Grundrechten zulässig und können gegebenfalls einen Zurechnungsausschluss von mittelbaren Grundrechtsverletzungen bewirken.

724

Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) bb) (3) (a). Kapitel 2 D. II. 3. d) bb) (3) (a). 726 St. Rspr. des BVerfG, s. nur BVerfGE 140, 317, 349; 109, 38, 61; 109, 13, 35 f.; 63, 215, 224 f.; BVerfG, 17. 5. 2017 – 2 BvR 893/17 = NStZ-RR 2017, 226, 228. 725

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

231

bb) Mindestanforderungen an eine die reale Gefahr einer Unionsgrundrechtsverletzung beseitigende Zusicherung Verletzen US-amerikanische Behörden ihre abgegebenen Zusicherungen, was regelmäßig erst nach der Überstellung des Betroffenen geschehen wird, besteht für die Justizbehörden des ausliefernden Staates keine Handhabe, hiergegen vorzugehen.727 Es gibt keine völkerrechtliche Instanz, die zu einer tatsächlichen Durchsetzung der abgegeben Zusicherung führen könnte. Damit bliebe lediglich die (politische) Aufforderung an den ersuchenden Staat, sich entsprechend der Zu­sicherung zu verhalten,728 d. h. bei Abgabe der Zusicherung einer Nichtvollstreckung der Todesstrafe diese tatsächlich auch nicht zu vollstrecken, und in Zukunft nicht mehr auf Zusicherungen des ersuchenden Staates zu vertrauen bzw. der Belastbarkeit einer Zusicherung des entsprechenden Staates einen geringeren Stellenwert zuzuschreiben. Damit hätte die Verletzung einer Zusicherung allerdings bloß Auswirkungen für den künftigen Auslieferungsverkehr. Für den konkreten Fall hilft dies nicht weiter. Dementsprechend sind von vornherein sehr hohe Mindestanforderungen an eine die reale Gefahr einer Unionsgrundrechtsverletzung beseitigenden Zusicherung zu stellen. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass den Justizbehörden des ersuchten Staates bei Verstoß gegen eine völkerrechtliche Zusicherung nach erfolgter Auslieferung keine rechtliche Handhabe mehr zur Verfügung steht, um legal auf den Betroffenen zuzugreifen und dem Grundrechtsschutz zur Durchsetzung zu verhelfen, kann eine Zusicherung die reale Gefahr einer Grundrechtsverletzung ausschließlich dann beseitigen, wenn auf sie absolut vertraut werden kann.729 Bestehen auch nur geringe Zweifel daran, ob sich die Justizbehörden des ersuchenden Staates an die abgegebene Zusicherung halten werden, ist die Auslieferung im Zweifelsfall abzulehnen, um den unionsgrundrechtlichen Mindeststandards zur Durchsetzung zu verhelfen. Nur unter dieser engen Voraussetzung kann eine völkerrechtliche Zusicherung Zweifel bezüglich einer grundrechtskonformen Behandlung nach erfolgter Auslieferung ausräumen und damit eine Zurechnung von Grundrechtsverletzungen an die mitgliedstaatlichen über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörden verhindern. Auf eine Zusicherung bezüglich der Nichtvollstreckung der Todesstrafe im ersuchenden Staat kann nur dann absolut vertraut werden, wenn sie belastbar ist. Hierfür sind bereits bestimmte inhaltliche Voraussetzungen zu erfüllen. Versucht man diese zusammenzufassen, lassen sich unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung folgende Mindestanforderungen ermitteln:730 727

Riegel / ​Speicher, StV 36 (2016), 250, 255. Riegel / ​Speicher, StV 36 (2016), 250, 255. 729 Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 302; Riegel, in: Schomburg / ​ Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 32 Rn. 18; Vogel, in: Grützner / ​ Pötz / ​Kreß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, 73 Rn. 118. 730 S. insbes. auch die vom EGMR-Richter Johannes Silves entwickelte Checkliste in der am 20. 5. 2014 gehaltenen Präsentation „Extradition and Human Right, Diplomatic assurances 728

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Bestehen Bedenken bezüglich der Wahrung unionaler Grundrechtsmindeststandards, kann der ersuchte Staat die völkerrechtliche Zusicherung abgeben, den Betroffenen nach erfolgter Überstellung in Bezug auf die in Frage stehenden Individualrechte grundrechtskonform zu behandeln. In dieser Abstraktheit reicht eine Zusicherung allerdings nicht aus, um bestehende Bedenken auszuräumen.731 Ausreichend kann eine Zusicherung vielmehr nur dann sein, wenn tatsächlich keinerlei Zweifel bezüglich ihrer Einhaltung bestehen und das reale Risiko einer Grundrechtsverletzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Das bedeutet auch, dass es keine Anhaltspunkte dafür geben darf, dass sich der ersuchende Staat nicht an die abgegebene Zusicherung halten wird.732 Entsprechende Bedenken werden am besten dadurch ausgeräumt, dass die Justizbehörden des ersuchten Staates sich nicht nur auf allgemeine Aussagen zur grundrechtskonformen Behandlung seitens der Justizbehörden des ersuchenden Staates verlassen müssen, sondern dass sie selber durch die Zusicherung in die Lage versetzt werden, eine eigene Gefahrenprognose in Bezug auf ein unionales Mindestgrundrechtsdefizit anstellen zu können. Hierfür muss die Zusicherung nicht nur Stellung zur allgemeinen Grundrechtslage im ersuchenden Staat in Bezug auf das in Frage gestellte Grundrecht beziehen.733 Darüber hinaus muss die Zusicherung sich auch auf die konkrete Lage des Betroffenen im ersuchenden Staat beziehen und es muss dargelegt werden, inwiefern dessen Behandlung dem abstrakt umschriebenen Grundrechtsmaßstab entspricht.734 Ohne eine solche konkrete Darand Human Rights in the Extradition Context“, abrufbar unter: https://rm.coe.int/168048bdaf (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 731 Vgl. insbes. die Ausführungen des EuGH bezüglich des Prüfungsumfangs bei in Frage stehenden Haftbedingungen, wonach die vollstreckende Justizbehörde Informationen i. S. d. Art. 15 Abs. 2 RbEuHb einholen muss, um Klarheit in Bezug auf die Haftbedingungen zu erhalten, unter denen der Betroffene voraussichtlich inhaftiert werden wird, s. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 63 ff. In der Konsequenz muss eine die reale Gefahr einer grundrechtswidirgen Behandlung i. S. d. Art. 4 GrCh ausschließende Zusicherung ebenfalls die entsprechenden Aspekte aufweisen. Vgl. zudem aus der nationalen Rspr. OLG Hamm, 11. 12. 2017 – 2 Ausl. 147/17 = NJW 2018, 2580, 2582 Rn. 32; OLG Karlsruhe, 25. 2. 2016 – 1 AK 4/16 = BeckRS 2016, 132673 Rn. 7; OLG München, 27. 10. 2015 – 1 AR 392/15 = BeckRS 2015, 18224 Rn. 28 ff.; s. aus der Literatur. Böhm  / ​ Ahlbrecht, in: Ahlbrecht / ​Böhm / ​Esser / ​Eckelmanns, Internationales Strafrecht, Rn.  875, 1210; anders hingegen BVerfG, 2. 2. 2016 – 2 BvR 2486/15 = BeckRS 2016, 41837 Rn. 23, wonach es ausreichen soll, wenn der ersuchende Staat zusichert, dass der Betroffene in Übereinstimmung mit Art. 3 EMRK nicht gefoltert, grausam, unmenschlich oder erniedrigend behandelt oder bestraft werden wird. 732 Vgl. nur EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989 – Nr. 14038/88 (Soering / ​Vereinigtes Königreich) = NJW 1990, 2183, 2186 Rn. 98; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 186. 733 In einem ersten Schritt muss der EuGH daher zwingend unionale Mindestgrundrechtsstandards definieren, vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c). 734 Vgl. zur allgemeinen und konkreten Grundrechtslage EGMR, Urteil vom 17. 1. 2012 – Nr. 8139/09 (Othmann [Abu Qatada]/Vereinigtes Königreich) = NVwZ 2013, 487, 488 Rn. 187 ff.; EGMR, Urteil vom 1. 4. 2010  – Nr. 24268/08 (Klein / ​Russland)  Rn. 55; EGMR, Urteil vom 28. 2. 2008 – Nr. 37201/06 (Saadi / ​Italien) = NVwZ 2008, 1330, 1331 Rn. 130 f.; BVerfG, 13. 11. 2017 – 2 BvR 1381/17 = NJW 2018, 37, 39 f. Rn. 35; OLG Schleswig, 2. 9. 2016 –

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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legung wäre es für die mitgliedstaatlichen Justizbehörden nicht möglich, eine Prognose bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung anzustellen. Zwar wird im Übergabeverfahren innerhalb der EU aufgrund der gleichen Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechtsstandards eine Zusicherung in Bezug auf die Wahrung von Grundrechten teilweise ausschließlich dergestalt als erforderlich erachtet, dass eine allgemeine Zusicherung zur Achtung der Unionsgrundrechte abgegeben wird. Dies wird damit begründet, dass innerhalb der EU aufgrund des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens darauf vertraut werden kann, dass sich der Ausstellungsstaat an abgegebene Zusicherungen halten wird.735 Dies kann im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten jedoch keine Geltung beanspruchen. Insbesondere im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten wie den USA ist der Voraussetzung der Darlegung auch der konkreten Behandlung des Betroffenen eine besondere Bedeutung für die Belastbarkeit der Zusicherung beizumessen. Denn die USA sind nicht an die GrCh gebunden, sodass auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass US-amerikanische Hoheitsträger über die Kenntnis verfügen, welche genauen unionalen Mindeststandards zwingend für die mitgliedstaatlichen Justizbehörden einzuhalten sind und daher eine Grenze der mitgliedstaatlichen Überstellung bilden. Ein bloßer Verweis darauf, dass der Betroffene beispielsweise keinen unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt sein wird, kann daher nicht für eine Belastbarkeit der Zusicherung zur Wahrung unionsgrundrechtlicher Mindeststandards ausreichen, insbesondere auch deshalb, weil die Standards in Drittstaaten mitunter erheblich abweichen können. Sichern Justizbehörden pauschal „menschliche“ Haftbedingungen zu, ohne dies näher zu spezifieren, kann ohne eine abstrakte und konkrete Beschreibung der Behandlung des Auszuliefernden auf eine Zusicherung nicht vertraut werden. Daher muss eine angefragte Zusicherung die konkreten Bedingungen, denen der Überstellte ausgesetzt sein wird, umfassen, sodass eine eigene Überprüfung mitgliedstaatlicher Behörden und eine entsprechende Beurteilung durch das OLG selbst auch tat­ sächlich möglich ist.736 Dies umfasst im Falle der Verhängung einer Freiheitsstrafe 1 Ausl (A) 45/15 = NStZ 2017, 50, 51 f.; OLG Stuttgart, 8. 6. 2016 – 1 Ausl. 321/15 = BeckRS 2016, 11835 Rn. 2; OLG Karlsruhe, 25. 2. 2016 – 1 AK 4/16 = BeckRS 2016, 132673 Rn. 6 f.; OLG Hamm, 1. 12. 2015  – 2 Ausl. 131/15 = BeckRS 2016, 50 Rn. 23 ff.; OLG Dresden, 11. 8. 2015 – Ausl 78/15 = BeckRS 2015, 17372 Rn. 13; s. hierzu Böhm, NStZ 2017, 77, 79 f. 735 Vgl. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 68, wonach im Fall der Abgabe einer Zusicherung durch einen Mitgliedstaat dahingehend, dass der Betroffene unabhängig von einer konkreten Haftanstalt eine dem Art. 4 GrCh entsprechende Behandlung erfahren wird, auf diese Zusicherung vertraut werden muss, solange keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Haftbedingungen einer bestimmten Anstalt gegen Art. 4 GrCh verstoßen; so auch EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-220/18 PPU (Rs. ML) = NJW 2018, 3161, 3167 Rn. 112; vgl. zudem OLG Karlsruhe, 19. 5. 2014 – 1 AK 77/13 = BeckRS 2014, 11797 Rn. 24. 736 Das BVerfG hat in einer einstweiligen Anordnung (BVerfG, 16. 7. 2019 – 2 BvR 1258/19 = BeckRS 2019, 15724 Rn. 8) dementsprechend zu Recht gerügt, dass das OLG München in seinem Beschluss v. 5. 6. 2019 (OLG München, 5. 6. 2019 – 1 AR 403/18 = BeckRS 2019, 15725) keine eigene Gefahrenprognose angestellt hat, sondern sich ausschließlich auf die

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

beispielsweise, dass nicht nur generell zu den Haftbedingungen im ersuchenden Staat Stellung bezogen werden muss, sondern auch konkret dargelegt werden muss, in welche Haftanstalt der Betroffene voraussichtlich kommen wird und wie die Haftbedingungen dort konkret ausgestaltet sind.737 Ein wichtiger Anhaltspunkt für die Belastbarkeit einer Zusicherung ist außerdem die rechtliche Verbindlichkeit, die die Zusicherung innerstaatlich für den über die Strafe entscheidenden Richter bewirkt.738 Auch wenn die Zusicherung ein völkerrechtlicher Vertrag und als solcher völkerrechtlich im Verhältnis zum ersuchten Staat verbindlich ist,739 ergeben sich Probleme bezüglich der tatsächlichen Umsetzung. Denn die Zusicherung wird von der Exekutive abgegeben, was den unabhängigen Richter zunächst nicht bindet.740 Ausschließlich dann, wenn entweder der Richter nach dem Recht des ersuchenden Staates an die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe gebunden ist und die Staatsanwaltschaft eine entsprechende völkerrechtliche Zusicherung abgibt741 oder wenn im Recht des ersuchenden Staates eine innerstaatliche Norm existiert, die den Richter innerstaatlich zur Umsetzung der völkerrechtlichen Zusicherung verpflichtet,742 kann diese den Richter auch binden. Insofern ist für jeden Einzelfall konkret zu prüfen, ob eine rechtliche Bindung des Richters des Strafverfahrens im ersuchenden Staat hergestellt werden kann, um die Aussagefähigkeit der Zusicherung durch ihre innerstaatliche Verbindlichkeit zu erhöhen. Elementar für die Belastbarkeit einer Zusicherung ist zudem die effektive Kontrollmöglichkeit des ersuchten Staates in Bezug auf die Einhaltung der abgegebenen Zusicherung. Die Zusicherung muss daher auch eine Klausel enthalten, in der eine nachträgliche Überprüfbarkeit der Einhaltung der abgegebenen Zusagen Gefahrenprognose US-amerikanischer Justizbehörden unter Zugrundelegung US-amerika­ nischen Rechts verlassen hat; zu dem Erfordernis einer eigenen Gefahrenprognose s. a. BVerfG, 13. 11. 2017 – 2 BvR 138/17 = NJW 2018, 37, 39 Rn. 35. 737 Präzisiert worden sind die hierfür erforderlichen Mindestanforderungen insbesondere in Bezug auf die Haftbedingungen in OLG Karlsruhe, 25. 2. 2016  – 1 AK  4/16 = BeckRS 2016, 132673 Rn. 7 f.; OLG München, 27. 10. 2015  – 1 AR 392/15 = BeckRS 2015, 18224 Rn. 34 ff.; s. hierzu Ahlbrecht, in: Ahlbrecht / ​Böhm / ​Esser / ​Eckelmanns, Internationales Strafrecht, Rn. 1211. Auch der EuGH postuliert in seinem Urteil vom 15. 10. 2019 (EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 64 ff.), dass die vollstreckende Justizbehörde sich Informationen i. S. d. Art. 15 Abs. 2 RbEuHb dahingehend beschaffen muss, unter welchen Haftbedingungen der Betroffene konkret inhaftiert werden wird. 738 So ausdrücklich EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989 – Nr. 14038/88 (Soering / ​Vereinigtes Königreich) = NJW 1990, 2183, 2186 Rn. 98. 739 S. hierzu Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 294; eingehend ­Worster, MinnJIL 21 (2012), 253 ff.; s. zudem BVerfGE 109, 38, 62. 740 Dugard / ​van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), 187, 197; Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 185. 741 Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 185. 742 Eine solche Norm findet sich für die deutschen Justizbehörden bspw. in § 72 IRG; s. hierzu Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 185; s. hierzu auch Vogel, JZ 57 (2002), 465, 468.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

235

durch Hoheitsträger des ersuchten Staates garantiert wird.743 Hierfür spricht insbesondere, dass ausschließlich eine Transparenz der Behandlung des Betroffenen nach der Überstellung eine hinreichende Gewähr dafür bieten kann, dass jegliche Zweifel bezüglich einer grundrechtskonformen Behandlung ausgeräumt werden. Deshalb muss es eine zwingende Voraussetzung sein, die nachträgliche Überprüfbarkeit der Einhaltung der Zusicherung zu gewährleisten – und damit auch aller Umstände, die tatsächlich zugesichert worden sind. Ohne eine solche Kontrollmöglichkeit wird der über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörde auch keine Möglichkeit eröffnet, in Zukunft aussagekräftige eigene Gefahrprognosen in Bezug auf die Einhaltung unionaler Mindestgrundrechtsstandards zu treffen. Eine Zusicherung kann daher nur dann Bedenken bezüglich einer grundrechtskonformen Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung vollständig ausräumen, wenn den Justizbehörden des ersuchten Staates nach der Überstellung des Betroffenen jedenfalls die Möglichkeit eröffnet wird, die Wahrung der Zusicherung jederzeit zu kontrollieren.744 Eine solche nachträgliche Überprüfung könnte beispielsweise durch den Besuch von Angehörigen einer diplomatischen oder konsularischen Vertretung im ersuchenden Staat durchgeführt werden, da sich diese bereits im ersuchenden Staat aufhalten.745 Dementsprechend wird teilweise bezüglich jeder abgegebenen Zusicherung die tatsächliche Kontrolle ihrer Einhaltung durch deutsche Hoheitsträger gefordert.746 Ob dies aufgrund des hohen Aufwands überhaupt praktikabel ist, sei dahingestellt. 743

EGMR, Urteil vom 17. 1. 2012 – Nr. 8139/09 (Othmann [Abu Qatada]/Vereinigtes Königreich) = NVwZ 2013, 487, 489 Rn. 189; BVerfG, 2. 2. 2016 – 2 BvR 2486/15 = BeckRS 2016, 41837 Rn. 23; OLG Schleswig, 17. 6. 2019 – 1 Ausl (A) 49/18 = BeckRS 2019, 11960 Rn. 35; KG, 15. 2. 2019 – 151 AuslA 178/17 = BeckRS 2019, 4799 Rn. 36; OLG München, 14. 12. 2015 – 1 AR 392/15 = BeckRS 2016, 4622 Rn. 5; OLG München, 27. 10. 2015 – 1 AR 392/15 = BeckRS 2015, 18224 Rn. 35; OLG Rostock, 30. 8. 2011 – 2 Ausl 28/11 = NStZ-RR 2012, 144, 145; vgl. zudem neuerdings EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 80 f., wonach die nachträgliche Überprüfung von Haftbedingungen durch die Justizbehörden des eigenen Mitgliedstaates dazu beitragen kann, die vollstreckenden Justizbehörden zu einer erhöhten Bereitschaft zu bringen, die Haftbedingungen einzuhalten und zu verbessern, dies für sich genommen jedoch nicht ausreichen kann, um eine reale Gefahr einer gegen Art. 4 GrCh verstoßenden Behandlung auszuschließen, sondern auch die vollstreckende Justizbehörde dazu verpflichtet ist, eine konkrete Prüfung der zu erwartenden Behandlung des Betroffenen vorzunehmen. 744 Aufgrund einer Zusicherung der Russischen Föderation, Mitarbeiter der Deutschen Botschaft könnten zwecks der Kontrolle der Einhaltung der abgegebenen Garantien den Betroffenen jederzeit in der Vollzugsanstalt besuchen, die das BVerfG als „gebotene effektive Kontrolle“ bezeichnet hat, hat das BVerfG in einem Beschluss vom 2. 2. 2016 die Zusicherung für geeignet erachtet, Bedenken bezüglich der Einhaltung der Garantien aufzuheben, s. BVerfG, 2. 2. 2016 – 2 BvR 2486/15 = BeckRS 2016, 41837 Rn. 23. 745 Ahlbrecht, in: Ahlbrecht / ​Böhm / ​Esser / ​Eckelmanns, Internationales Strafrecht, Rn.  1212; Gazeas, GA 2018, 277, 285. Dementsprechend wird auch in der Rspr. regelmäßig auf Konsularbeamte des Auswärtigen Amtes abgestellt, s. bspw. BVerfG, 2. 2. 2016 – 2 BvR 2486/15 = BeckRS 2016, 41837 Rn. 23; OLG Stuttgart, 8. 6. 2016 – 1 Ausl. 321/15 = BeckRS 2016, 11835. 746 Gazeas, GA 2018, 277, 285.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Jedenfalls sollten möglichst viele Erfahrungswerte gesammelt werden. Allein die jederzeitige Möglichkeit der Kontrolle und die möglichst häufige tatsächliche Kontrolle durch deutsche Hoheitsträger bietet jedenfalls – vorbehaltlich des Vorliegens der restlichen Voraussetzungen – eine hinreichende Gewähr dafür, Zweifel bezüglich der Wahrung unionaler Mindestgrundrechtsstandards auszuräumen. Die Möglichkeit der nachträglichen Kontrolle als Zulässigkeitsvoraussetzung einer völkerrechtlichen Zusicherung im Auslieferungsrecht spielt auch eine Rolle im Zusammenhang mit der nächsten Voraussetzung: Maßgeblich für die Belastbarkeit einer Zusicherung sind die Erfahrungen des ersuchten Staates bezüglich der Einhaltung von Zusicherungen seitens des ersuchenden Staates in der Vergangenheit: Insofern ist zu überprüfen, ob sich der ersuchende Staat in der Vergangenheit an Zusicherungen gehalten hat – und zwar sowohl allgemein als auch in Bezug auf das jeweils in Frage gestellte Grundrecht.747 Ein solcher Erfahrungssatz kann jedoch nur dann verlässlich Bedenken bezüglich einer grundrechtskonformen Behandlung des Auszuliefernden ausräumen, wenn die Behandlung des Betroffenen nach erfolgter Auslieferung auch transparent erfolgt. Insofern kann für die Zuverlässigkeit der Erfahrungen zwischen solchen Behandlungen des Betroffenen differenziert werden, die ihrer Natur nach nach außen offen erfolgen, da sie z. B. schwer von staatlicher Seite zu verheimlichen sind, und solchen Behandlungen, die mehr oder weniger verdeckt stattfinden, da sie einer Überprüfung durch die Hoheitsträger des ersuchten Staates regelmäßig nicht so einfach zugänglich sind.748 Zur ersten Gruppe der naturgemäß offenen Maßnahmen gehören insbesondere die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe und die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe, da der Urteilsspruch bzw. die tatsächliche Vollstreckung einer Todesstrafe in den USA öffentlich stattfinden. Hier können Verstöße gegen abgegebene Zusicherungen kaum verschleiert werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn eine Kontrollinstanz des ersuchten Staates einen konkreten Fall auch nach erfolgter Auslieferung noch verfolgt und regelmäßig von einer Überprüfungsmöglichkeit Gebrauch macht.749 Zu den verdeckten Maßnahmen gehören hingegen solche, die sich von den Justizbehörden des ersuchenden Staates leichter verschleiern lassen, wie dies beispielsweise bei Haftbedingungen der Fall ist. So besteht, wenn man keine jeder-

747

EGMR, Urteil vom 17. 1. 2012 – Nr. 8139/09 (Othmann [Abu Qatada]/Vereinigtes Königreich) = NVwZ 2013, 487, 489 Rn. 189; EGMR, Urteil vom 20. 2. 2007 – Nr. 35865/03 (AlMoayad / ​Deutschland) = NVwZ 2008, 761, 762 Rn. 68, 104; KG, 27. 3. 2015 – (4) 151 AuslA 61/15 = BeckRS 2015, 11831 Rn. 6 ff.; s. dazu Alleweldt, NVwZ 1997, 1078, 1079; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 293; s. aus der Rspr. BVerfGE 109, 38, 62. 748 So bereits Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 294. Diese Aussage gilt für alle potenziellen Unionsgrundrechtsverletzungen. 749 Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 294 ff.

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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zeitige Überprüfbarkeit der Behandlung des Auszuliefernden fordern würde, z. B. jedenfalls die theoretische Möglichkeit, dass der Betroffene kurzerhand vor einer Überprüfung in eine andere Haftanstalt verlegt wird, sodass eine Überprüfung der Situation vor Ort nicht mehr unbedingt der Realität entspricht.750 Allein weil eine theoretische Umgehung der Grundrechtsstandards möglich wäre, steht dies einer bedingungslosen Belastbarkeit einer Zusicherung jedenfalls entgegen. Dies spricht daher ebenfalls dafür, eine Zusicherung nur dann als hinreichend belastbar anzusehen, wenn sie eine jederzeitige nachträgliche Überprüfbarkeit der Behandlung des Auszuliefernden gestattet. Ein weiterer Anhaltspunkt für die Belastbarkeit der Zusicherung ist es insbesondere, wenn – wovon regelmäßig auszugehen ist – der ersuchende Staat ein Interesse an einem funktionierenden Auslieferungsverkehr in der Zukunft hat.751 Die Belastbarkeit einer völkerrechtlichen Zusicherung setzt sich damit aus folgenden Elementen zusammen und steigt, je eher in einer Gesamtbetrachtung die einzelnen Voraussetzungen bejaht werden können: Möglichkeit der eigenen Gefahrenpro­ gnose nationaler Justiz­ behörden

Rechtliche Verbindlichkeit der Zusicherung im ersuchenden Staat

Effektive Kontrollmöglichkeit bzgl. der Einhaltung der Zusicherung

Erfahrungswerte bzgl. Einhaltung von Zusicherungen

Interesse des ersuchenden Staates am zukünftigen Auslieferungs­ verkehr

Ausschließlich dann, wenn die Zusicherung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit belastbar ist, kann sie eine Zurechnung von unionalen Grundrechtsverletzungen im ersuchenden Staat an die Justizbehörden des mitgliedstaatlichen ersuchten Staates verhindern und daher ein ansonsten bestehendes Auslieferungshindernis aufheben. cc) Der Fall der drohenden Todesstrafe im Auslieferungsverkehr mit den USA Damit stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Zusicherung der Nichtvollstreckung der Todesstrafe seitens US-amerikanischer Justizbehörden überhaupt einen Zurechnungsausschluss bewirken kann.

750

Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 296. S. aus der Rspr. insbes. OLG Hamm, 1. 12. 2015 – 2 Ausl. 131/15 = BeckRS 2016, 50 Rn. 25; OLG Dresden, 13. 7. 2015 – Ausl 98/15 = BeckRS 2015, 17601 Rn. 29; s. hierzu Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 293.

751

238

Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Die Zusicherung der Nichtvollstreckung der Todesstrafe muss zunächst Angaben zur generellen Rechtslage im konkreten Bundesstaat in den USA enthalten: Nicht in jedem Bundesstaat wird die Todesstrafe heutzutage verhängt bzw. vollstreckt,752 sodass sich das Problem der Todesstrafe nach erfolgter Auslieferung an die USA nicht unbedingt stellt. Darüber hinaus sollte dargelegt werden, inwiefern der Auszuliefernde nach der jeweiligen Rechtslage des Bundesstaates für den Fall der Verurteilung tatsächlich der Gefahr der Todesstrafe ausgesetzt ist. Bedenken bezüglich der rechtlichen Verbindlichkeit bestehen insbesondere insofern, als dass Zusicherungen regelmäßig von der Exekutive abgegeben werden, wohingegen die Strafart / ​das Strafmaß von einem Richter ausgesprochen wird.753 Deshalb ist die teilweise geforderte Bedingung, dass ausschließlich eine Zusicherung dergestalt, dass die Todesstrafe bereits nicht verhängt wird, eine absolute Gewähr der Nichtvollstreckung der Todesstrafe bietet,754 zurückzuweisen. Nach US-amerikanischem Recht ist es auch dem Richter vorbehalten, über die Vollstreckung der Todesstrafe zu entscheiden – und zwar aufgrund seiner Unabhängigkeit losgelöst von völkerrechtlichen Zusicherungen der Exekutive.755 Solange dem Richter die Möglichkeit offensteht, die Vollstreckung der Todesstrafe festzusetzen, kann eine Zusicherung der Exekutive nicht belastbar sein.756 Der Zusicherung kann aber gleichwohl dann eine hohe Bestandskraft zugeschrieben werden, wenn es bereits nach US-amerikanischem Recht für den Richter nicht mehr zulässig wäre, die Vollstreckung der Todesstrafe anzuordnen. Denn wenn bereits nach US-amerikanischem Recht die Vollstreckung der Todesstrafe nicht in zulässiger Weise herbeigeführt werden kann, droht auch keine Gefahr einer solchen Vollstreckung. Eine Vollstreckung der Todesstrafe ist auch für den US-amerikanischen Richter dann nicht zulässig, wenn der zuständige US-amerikanische Staatsanwalt eidesstattlich versichert, dass er die Todesstrafe im konkreten Fall nicht beantragen wird.757 Ist die Vollstreckung der Todesstrafe in den USA bereits nicht rechtmäßig, 752 S. hierzu die Nachweise in Kapitel 1 Fn. 63. Nur 30 der Bundesstaaten sehen die Todesstrafe überhaupt noch rechtlich vor. Allerdings wird die Todesstrafe aktuell erstmals seit 17 Jahren auch wieder auf der Bundesebene vollstreckt, vgl. Einleitung Fn. 8. 753 Vgl. Kapitel 2 D. III. 2. b) bb). 754 Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 185; Schwaighofer, Auslieferung und internationales Strafrecht, S. 125; Allerdings kann die Verhängung der Todesstrafe insofern die Gefahr einer grundrechtsverletzenden Behandlung des Auszuliefernden in den USA hervorrufen, als dass das in den USA drohende death row phenomenon als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gegen Art. 4 GrCh und Art. 3 EMRK verstoßen kann (s. hierzu insbes. EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989 – Nr. 14038/88 (Soering / ​Vereinigtes Königreich) = NJW 1990, 2183) und sich die Zusicherung dann insofern bereits auf die Nichtverhängung der Todesstrafe beziehen muss. 755 Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 185. 756 Murschetz, Auslieferung und europäischer Haftbefehl, S. 185. 757 Vgl. hierzu den Beschluss des OLG Köln, 30. 5. 2016 – 6 AuslA 134/15 – 102 (vgl. Redaktion FD-StrafR, FD-StrafR 2016, 378754), in dem die Auslieferung einer Honduranerin an die USA bei drohender Todesstrafe für zulässig befunden und ein reales Risiko einer grundrechtswidrigen Behandlung abgelehnt worden ist, weil der zuständige US-amerikanische

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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kann darauf vertraut werden, dass sich die US-amerikanischen Justizbehörden hieran halten werden bzw. jedenfalls ein hinreichender Rechtsschutz im ersuchenden Staat gegeben ist. Darüber hinaus muss eine Zusicherung für die effektive Kontrollmöglichkeit eine jederzeitige Überprüfung der Justizbehörden des ersuchten Staates ermöglichen, dass die Todesstrafe im konkreten Fall auch tatsächlich nicht vollstreckt wird. Dies kann z. B. durch den Besuch von Angehörigen der konsularischen Vertretung im ersuchenden Staat verwirklicht werden.758 Dabei handelt es sich bei der Vollstreckung um eine Maßnahme, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht vertuscht werden kann. Insofern ist dies auch für die Erfahrungen in Bezug auf den Auslieferungsverkehr mit den USA aussagekräftig. Den Erfahrungen mit dem Auslieferungsverkehr ist in Bezug auf die Einhaltung der Zusicherung der Nichtvollstreckung der Todesstrafe eine positive Bewertung zuzuschreiben. Insbesondere da die Vollstreckung der Todesstrafe wohl kaum heimlich erfolgen kann, gewährleistet eine nachträgliche Überprüfungsmöglichkeit und ihre Wahrnehmung durch die mitgliedstaatlichen Justizbehörden eine mit an Sicherheit grenzende hohe Glaubwürdigkeit der Zusicherung. Generell ist es im Auslieferungsverkehr mit den USA bisher noch nicht vorgekommen, dass sich die US-amerikanischen Justizbehörden nicht an abgegebene Zusicherungen halten.759 Droht keine Vollstreckung der Todesstrafe, weil eine entsprechende Zusicherung seitens der US-amerikanischen Justizbehörden vorliegt, besteht im konkreten Einzelfall keine reale Gefahr einer Grundrechtsverletzung, sodass grundrechtliche Erwägungen einer Auslieferung nicht mehr entgegenstehen. Es dürfen allerdings keine vernünftigen Zweifel760 an einer grundrechtskonformen Behandlung verStaats­anwalt versichert habe, keine Verhängung der Todesstrafe zu beantragen und die Vollstreckung der Todesstrafe deshalb bereits nach US-amerikanischem Recht unzulässig gewesen wäre. Anders ist es hingegen zu beurteilen, wenn der zuständige US-amerikanische Staatsanwalt ausschließlich zubilligt, dem zuständigen Richter den Wunsch des ersuchten Staates zu übermitteln, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wird, dieser aber gleichwohl die Todesstrafe beantragt, vgl. EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989 – Nr. 14038/88 (Soering / ​Vereinigtes Königreich) = NJW 1990, 2183, 2186 Rn. 98. 758 Vgl. Gazeas, GA 2018, 277, 285. In Betracht kommt auch eine Kontrolle durch einen Rechtsbeistand. Der Nachteil im Auslieferungsverhältnis zu den USA läge dann aber entweder darin, dass dieser aus den USA stammt und damit zwar vor Ort ist, sich allerdings nicht mit den Unionsgrundrechten auskennt, oder dass dieser aus der Union selbst stammt, allerdings nicht spontan vor Ort sein kann. 759 EGMR, Urteil vom 20. 2. 2007 – Nr. 35865/03 (Al-Moayad / ​Deutschland) = NVwZ 2008, 761, 762 Rn. 62. Vielmehr haben sich US-amerikanische Justizbehörden in der Vergangenheit bereits öffentlich geweigert, bestimmte Zusicherungen abzugeben, so bspw. im Fall von Adem Yilmaz, s. hierzu die Einleitung. 760 So bspw. im Fall vor dem OLG Köln, 30. 5. 2016 – 6 AuslA 134/15 – 102 (vgl. Redaktion FD-StrafR, FD-StrafR 2016, 378754), in dem nicht nur der zuständige Staatsanwalt eidesstattlich versichert hatte, dass er die Verhängung der Todesstrafe nicht beantragen wird, sondern in dem auch die US-amerikanische Botschaft und das US-amerikanische Justizministerium entsprechende Zusicherungen abgegeben hatten.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

bleiben. Ansonsten vermag eine Zusicherung eine echte Gefahr der grundrechtswidrigen Behandlung nicht zu beseitigen.761 Die Auslieferung ist dann nicht zu gewähren. c) Vereinbarkeit von Art. 13 AuslAbk EU-USA und Art. 12 AuslV D-USA i. V. m. ZusV und 2. ZusV mit dem Sinn und Zweck völkerrechtlicher Zusicherungen Eine drohende Grundrechtsverletzung führt bei absoluten Grundrechten automatisch und bei einschränkbaren Grundrechten jedenfalls für den Fall, dass ein Eingriff in den Wesensgehalt eines Unionsgrundrechts droht, zu einem Ablehnungsgrund, wenn die Grundrechtsverletzung, die unmittelbar durch die Justizbehörden des ersuchenden Staates begangen wird, den Justizbehörden des ersuchten Staates zuzurechnen ist. Dies ist dann der Fall, wenn eine ernste Gefahr der Grundrechtsverletzung unmittelbar durch die Justizbehörden des ersuchenden Staates besteht.762 Eine solche Gefahr und damit die Zurechnung der Grundrechtsverletzung ist jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn eine belastbare Zusicherung besteht, dass im konkreten Auslieferungsfall die in Frage stehende Grundrechtsverletzung nicht eintreten wird. Damit kann eine Zusicherung den Zurechnungsausschluss nur im Ausnahmefall bewirken: Nur dann, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jegliche Bedenken bezüglich der grundrechtskonformen Behandlung aktiv ausgeräumt sind, ist die Zurechnung einer drohenden Grundrechtsverletzung ausgeschlossen. Die Regelung in Art. 13 AuslAbk EU-USA und Art. 12 AuslV D-USA i. V. m. ZusV und 2. ZusV dreht dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis hingegen um: Grundsätzlich geht die Regelung davon aus, dass die Auslieferung zu gewähren ist, allerdings kann sie unter die Bedingung gestellt werden, dass eine Zusicherung seitens der US-amerikanischen Justizbehörden abgegeben wird, dass die Todesstrafe nicht verhängt oder zumindest nicht vollstreckt wird. Damit wird zwar ein Ablehnungsgrund statuiert. Grundsätzlich wird allerdings von der Gewährung der Auslieferung ausgegangen („so kann der ersuchte Staat die Auslieferung unter der Bedingung … gewähren“). Vor dem Abschluss des AuslAbk EU-USA lautete die völkervertragliche Regelung im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und den USA hingegen: „Ist die Straftat, derentwegen um Auslieferung ersucht wird, nach dem Recht des ersuchenden Staates mit der Todesstrafe bedroht und ist diese für eine solche Tat 761

Vgl. ähnlich auch EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989 – Nr. 14038/88 (Soering / ​Vereinigtes Königreich) = NJW 1990, 2183, 2186 Rn. 98; OLG Hamm, 19. 3. 2013 – 2 Ausl 34/12 = BeckRS 2013, 6212; s. hierzu zudem Ambos / ​Gronke, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 95. 762 Zu Grund und Grenzen eines solchen Ablehnungsgrundes vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c) und Kapitel 2 D. II. 3. d) bb).

D. Innerstaatliche Perspektive und Grundrechtsbindungen 

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nach dem Recht des ersuchten Staates nicht zulässig, so kann die Auslieferung abgelehnt werden, sofern nicht der ersuchende Staat eine vom ersuchten Staat als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, daß die Todesstrafe nicht verhängt oder, falls sie verhängt wird, nicht vollstreckt werden wird.“763 Im Gegensatz zur aktuellen Fassung ging die ursprüngliche Fassung demnach ebenfalls davon aus, dass nur ausnahmsweise eine Zurechnung der Grundrechtsverletzung durch eine Zusicherung augeschlossen ist. Die heutige Regelung, die von einem grundsätzlichen Zurechnungsausschluss ausgeht, stellt die Belastbarkeit einer Zusicherung zur Diskussion: Denn diese wird nicht als Ausnahme, sondern als Normalfall und daher eher stiefmütterlich behandelt. Insbesondere ist auch nicht geregelt, wem letztlich die Entscheidungsbefugnis darüber zusteht, ob die Zusicherung der Nichtvollstreckung der Todesstrafe tatsächlich eine reale Gefahr der Grundrechtsverletzung auszuschließen vermag. Der Wert und die Aussagekraft einer solchen Zusicherung gehen damit verloren, sodass die Zusicherungsklausel in Art. 13 AuslAbk EU-USA und Art. 12 AuslV D-USA i. V. m. ZusV und 2. ZusV dem Sinn und Zweck von Zusicherungen im Auslieferungsverkehr widerspricht. Besser wäre ohnehin eine allgemeine Regel eines Zurechnungsausschlusses einer drohenden Grundrechtsverletzung, die sich nicht nur auf den Fall einer drohenden Todesstrafe beschränkt. Denn in Bezug auf die Behandlung des Auszuliefernden kann potenziell jedes Unionsgrundrecht einen Ablehnungsgrund darstellen.764

IV. Übermaßverbot nationaler Justizbehörden bei Auslieferungsentscheidungen Greifen nationale Justizbehörden durch eine positive Auslieferungsentscheidung unzulässigerweise in Unionsgrundrechte ein, weil diese Entscheidung mittelbar765 entweder bereits ein absolutes Grundrecht verletzt oder der Wesensgehalt unionaler Grundrechte angetastet wird, ist die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte betroffen:766 Gem. Art. 51 Abs. 1 S. 2 GrCh haben die Grundrechtsverpflichteten und damit auch die Justizbehörden der Mitgliedstaaten bei Durchführung von Unionsrecht die Unionsgrundrechte zu „achten“. Hieraus folgt, dass nicht zu rechtfertigende Eingriffe in die Unionsgrundrechte seitens der Grundrechtsverpflichteten zu unterlassen sind. 763 S. die ursprüngliche Fassung des AuslV D-USA v. 20. 6. 1978 (BGBl. 1980 II, S. 646, 300). 764 Vgl. den Vorschlag einer entsprechenden Klausel in Kapitel 3 A. III. 765 Zur Zurechnung der Behandlung des Betroffenen im ersuchten Staat nach erfolgter Auslieferung vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c) und Kapitel 2 D. II. 3. d) bb) (1). 766 Zur abwehrrechtlichen Dimension unionaler Grundrechte vgl. insbes. Hatje, in: Becker / ​ Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 51 GrCh Rn. 24; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 4.

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Nationale Justizbehörden dürfen bei der Durchführung von Unionsrecht die Unionsgrundrechte daher nicht über die grundrechtsdogmatisch zulässigen Einschränkungsmöglichkeiten hinaus verletzen: Die Unionsrecht durchführenden nationalen Behörden müssen das Übermaßverbot767 wahren, d. h. sie dürfen bei der Durchführung von Unionsrecht zulässigerweise nur insofern in Unionsgrundrechte eingreifen, wie die Einschränkungsmöglichkeiten der unionalen Grundrechtsdogmatik dies unionsrechtlich vorsehen. Für die über die Auslieferung entscheidenden nationalen Justizbehörden bedeutet dies, dass die Auslieferung aufgrund der für die nationalen Behörden bestehenden Grundrechtsverpflichtungen abzulehnen ist, wenn ein Eingriff in absolute unionale Grundrechte oder ein Eingriff in den Wesensgehalt unionaler Grundrechte zu befürchten ist und dieser den nationalen Justizbehörden zuzurechnen ist. Erklärt die zuständige Justizbehörde die Auslieferung für zulässig, obwohl die Unionsgrundrechte dem entgegenstünden bzw. aufgrund einer Unsicherheit diesbezüglich eine Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV zwingend erforderlich gewesen wäre, ist eine Staatshaftung aufgrund des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs möglich.768

E. Ergebnisse Kapitel 2 Bei Auslieferungsentscheidungen kommt grundrechtlichen Fragen eine große Relevanz zu, da regelmäßig grundrechtliche Bedenken bezüglich der Behandlung des Auszuliefernden nach erfolgter Auslieferung im Raum stehen können. Pro­ bleme ergeben sich nicht zuletzt dort, wo die am Auslieferungsverfahren beteiligten Staaten anderen Grund- und Menschenrechtsverpflichtungen unterliegen, wie dies im Auslieferungsverkehr zwischen Mitgliedstaaten der EU und Drittstaaten der Fall ist. Rein völkerrechtlich betrachtet können nur ius-cogens-Normen eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht beseitigen. Gleichwohl führt eine Auflösung der zwischen völkerrechtlicher Auslieferungspflicht und Grund- und Menschenrechtsverpflichtungen entstehende Pflichtenkollision rein völkerrechtlich in der Praxis nicht zum Erfolg. Mangels einer völkerrechtlichen Feststellungskompetenz, ob tatsächlich die Gefahr eines Verstoßes gegen ius cogens droht, kann der ersuchte Staat einen solchen Verstoß nicht einseitig feststellen. Auch wenn es Normen des Völkerrechts gibt, die eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht aufheben, hilft eine Lösung hierüber praktisch nicht weiter. Eine rein europäische Lösung kann eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht im Verhältnis zu Drittstaaten nicht beseitigen und vermag auch faktisch daher keine Lösung zu bieten. Unionsgrundrechte binden die Mitgliedstaaten allerdings 767

Zur Abgrenzung von Über- und Untermaßverbot vgl. Möllers, Juristische Methodenlehre, § 11 Rn. 9. 768 S. hierzu Möllers, Juristische Methodenlehre, § 1 Rn. 17, § 12 Rn. 118 ff.

E. Ergebnisse Kapitel 2 

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bei der Durchführung von Unionsrecht. Sie können daher insofern über eine innerstaatliche Perspektive zu einer Lösung für einen Grundrechtsvorbehalt führen. Innerstaatlich im einfachen Recht normierte Ablehnungsgründe, die völkerrechtlich kein Pendant aufweisen, sind aufgrund des Vorrangs völkerrechtlicher Verträge nicht anwendbar. Gleichwohl sind deutsche Hoheitsträger an Recht und Gesetz gebunden und dürfen keine Auslieferungsentscheidung treffen, die in nicht zu rechtfertigender Weise in Unionsgrundrechte eingreift. Die Bindung deutscher Hoheitsträger an die Grundrechte führt daher dann zu einer Korrektur des völkerrechtlichen Auslegungsergebnisses des Fehlens eines Grundrechtsvorbehalts, wenn rechtsstaatliche Grundsätze in der völkerrechtlichen Regelung in elementarer Weise unberücksichtigt geblieben sind. Die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze setzt wiederum zwingend eine hinreichende Beachtung von Grundrechten voraus. Die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze kann nur dann ernsthaft bezweifelt werden, wenn Grundrechte im Auslieferungsverkehr überhaupt Anwendung finden und nicht durch das völkerrechtliche Verhältnis ausgeschlossen sind. Es muss im Einzelfall eine nicht zu rechtfertigende Einschränkung der in Frage stehenden Grundrechte drohen. Gute Gründe sprechen dafür, nationale bzw. regionale Grundrechte nicht von vornherein im Auslieferungsverkehr als unanwendbar anzusehen. Der anwendbare Grundrechtskatalog bei Auslieferungsentscheidungen an die USA ist der Katalog der GrCh, wenn der Anwendungsbereich der GrCh eröffnet ist, d. h. die Entscheidungen nationaler Justizbehörden über die Auslieferung müssten die Durchführung von Unionsrecht darstellen. Dies ist bei Überstellungen von Unionsbürgern der Fall, da sie in ihrem unionsrechtlich gewährten Freizügigkeitsrecht (Art. 21 AEUV) eingeschränkt sind. Bei Überstellungen von Drittstaatsangehörigen ergibt sich die Durchführung von Unionsrecht daraus, dass die Überstellung stets auch unter Zugrundelegung des AuslAbk EU-USA und damit eines völkerrechtlichen Vertrages der Union selbst erfolgt. Die GrCh ist deshalb bei Auslieferungsentscheidungen an die USA unabhängig davon anwendbar, ob es sich um einen Unionsbürger oder um einen Drittstaatsangehörigen handelt. Gleichwohl ist bei der Auslieferungsentscheidung der von der GrCh gewährte Grundrechtsschutz nicht vollumfänglich, sondern unterliegt Einschränkungen. Anhaltspunkte für eine Einschränkung ergeben sich daraus, dass in vergleichbaren Überstellungen, die in Durchführung von Unionsrecht erfolgen, ebenfalls kein vollumfänglicher Grundrechtsmaßstab zur Anwendung gelangt. Auch innerhalb des Übergabeverfahrens der EU auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls erfolgt die Überstellung in Durchführung von Unionsrecht. Insofern könnten die Einschränkungen der GrCh, die innerhalb der Union gelten, auch im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten Geltung beanspruchen. Im Übergabeverfahren innerhalb der EU reduziert sich der Grundrechtsschutz einerseits auf die absoluten Grundrechte. Andererseits werden die einschränkbaren Grundrechte insofern unbedingt gewährt, als dass der Wesensbestand nicht angetastet werden darf (Art. 52

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

Abs. 1 S. 1 GrCh). Eine weitergehende Einschränkung der Grundrechtsgeltung ist nicht möglich. Die EU bekennt sich zur Rechtsstaatlichkeit nach Art. 2 EUV und damit auch zum Grundrechtsschutz in Form von Mindeststandards. Wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass nicht nur abstrakt in Bezug auf ein bestimmtes Grundrecht Bedenken bezüglich der Wahrung der Mindeststandards bestehen, sondern auch im konkreten Fall die Gefahr einer grundrechtswidrigen Behandlung besteht, ist ein drohender Grundrechtseingriff den Hoheitsträgern des ersuchten Mitgliedstaates zurechenbar. Insofern dürfen nationale Behörden bei Auslieferungsentscheidungen selbst innerhalb der Union nicht blind darauf vertrauen, dass die Hoheitsträger des anderen Mitgliedstaates nicht gegen die Grundrechte verstoßen werden. Im Anwendungsbereich von Unionsrecht finden im Übergabeverfahren nationale Grundrechte hingegen keine Berücksichtigung. Dies ergibt sich aus dem uneingeschränkten Vorrang von Unionsrecht bzw. zudem daraus, dass die für die nationale Identität elementaren Bestandteile nationaler Grundrechte sich regelmäßig in den unionalen Grundrechten wiederfinden werden bzw. bei Auslegung der Unionsgrundrechte auch einbezogen werden müssen. Dementsprechend ist bei Bedenken nationaler Justizbehörden gegen elementare Bestandteile nationaler Grundrechte die Entscheidung dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Auf diese Weise hat dieser die Gelegenheit, seine Rechtsprechung bezüglich des Gewährleistungsinhalts unionaler Grundrechte fortzuentwickeln und gegebenenfalls aus dem nationalen Recht stammende Bestandteile in die unionale Grundrechtsgewährleistung einzubeziehen. Dieser Mindestschutz unionaler Grundrechte ist auf die Auslieferungsentscheidungen bezüglich Überstellungen an die USA übertragbar. Denn sowohl in Fällen der Überstellung von Unionsbürgern als auch in Fällen der Überstellung von Drittstaatsangehörigen erfolgt die Überstellungsentscheidung in Durchführung von Unionsrecht, sodass die GrCh der grundsätzlich maßgebliche Grundrechtskatalog ist. Eine weitergehende Einschränkung unionaler Schutzstandards ergibt sich auch nicht durch den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens im Verhältnis zu Drittstaaten. Mangels einer einheitlichen Grundrechtsordnung ist im Verhältnis zu Drittstaaten gerade nicht davon auszugehen, dass diese die Rechtsstaatlichkeit in der Form wahren, dass die grundrechtlichen Mindestgarantien der GrCh gewahrt werden. Eine weitergehende Einschränkung unionaler Mindestschutzgarantien ergibt sich auch nicht aufgrund einer „Völkerrechtsfreundlichkeit der Union“. Auch wenn das Primärrecht selber davon ausgeht, dass unionales Handeln nicht gegen Völkerrecht verstoßen soll, setzen die rechtsstaatlichen Grundsätze nach Art. 2 EUV einen Mindestschutz an unionalen Grundrechten voraus. Eine weitergehende Einschränkung des unionalen Grundrechtsschutzes unter absolute Rechte und die Gewährleistung der Wesensgehalte unionaler Grundrechte ist unionsgrundrechtlich allerdings nicht begründbar, sondern vielmehr zwingende Voraussetzung für die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze nach Art. 2 EUV. Auch entgegenstehende Souveränitätsinteressen der USA vermögen keine weitere Einschränkung

E. Ergebnisse Kapitel 2 

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unionaler Mindestgarantien zu bewirken. Ein Eingriff in die US-amerikanische Souveränität ließe sich bereits deshalb bestreiten, weil bei einer Verweigerung der Überstellung ausschließlich eine Erweiterung US-amerikanischer Hoheitsmacht angeführt werden könnte. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass einem Europäischen Haftbefehl kein Vorrang vor dem Auslieferunsgersuchen der USA zukommt, ist ein gleichlaufender Grundrechtsschutz von Überstellungen an die USA und Überstellungen innerhalb der EU zu fordern. In Zukunft wird es die Aufgabe des EuGH sein, Mindestschutzgewährleistungen unionaler Grundrechte näher auszugestalten. Aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ist es zwingend erforderlich, die Auslieferung auch über die in den Auslieferungsverträgen mit den USA vorhandenen Ablehnungsgründe hinaus abzulehnen, wenn der unionale Grundrechtsmindeststandard in den USA nicht gewährleistet ist. Die im AuslAbk EU-USA normierte Möglichkeit der Überstellung bei dem zu erwartenden Strafmaß der Todesstrafe für den Fall, dass die USA eine völkerrechtliche Zusicherung abgibt, dass die Todesstrafe nicht verhängt oder zumindest nicht vollstreckt werden wird, vermag die Gefahr einer grundrechtswidrigen Behandlung nicht zu beseitigen. Grundsätzlich sind Zusicherungen im Auslieferungsverkehr zwar ein probates Mittel und es sprechen gute Gründe für ihre Anwendung. Dies kann jedoch nur dann gelten, wenn auf die Zusicherung absolut vertraut werden kann, sodass eine Gefahr der Grundrechtsverletzung unionaler Mindeststandards tatsächlich ausgeschlossen ist und eine Zurechnung einer grundrechtswidrigen Behandlung an die Justizbehörden des ersuchten Staates nicht mehr in Betracht kommt. Die normierte Klausel im AuslAbk EU-USA dreht jedoch die Zusicherung als Ausnahmefall um und normiert auch keine Entscheidungsbefugnis darüber, wer über die Verlässlichkeit der Zusicherung entscheiden darf. Damit vermag eine solche eine Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe nicht vollständig auszuräumen. Auch wenn die bisherigen Ausführungen zu dem Ergebnis gelangt sind, dass nationale Justizbehörden die Auslieferung abzulehnen haben, wenn die Gefahr eines nicht zu rechtfertigenden Eingriffs in Unionsgrundrechte besteht, bleibt das Problem bestehen, dass dies die völkervertraglich begründete Auslieferungspflicht nicht beseitigt. Völkervertraglich ist ein Ablehnungsgrund bei unionsgrundrechtlichen Bedenken gerade nicht geregelt. Damit bleibt jeder Mitgliedstaat der EU völkerrechtlich auch dann zur Auslieferung an die USA verpflichtet, wenn in den USA eine Behandlung des Betroffenen droht, die zu einem zurechenbaren Eingriff entweder bereits in absolute Unionsgrundrechte oder in den Wesensbestand unionaler Grundrechte führt. Die völkerrechtlichen Auslieferungsverträge mit den USA enthalten damit Verpflichtungen, die im Zweifelsfall von den Unionsrecht durchführenden nationalen Justizbehörden bei der Auslieferungsentscheidung nicht ohne nicht zu rechtfertigende Unionsgrundrechtseingriffe erfüllt werden könnten. Der

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Kap. 2: Individualrechtsvorbehalt jenseits völkervertraglicher Klauseln 

über die Auslieferung entscheidende nationale Hoheitsträger kann die Auslieferung daher im Zweifelsfall nicht positiv bescheiden und verstößt dadurch sehenden Auges gegen eine völkervetragliche Pflicht. Die völkerrechtliche Auslieferungspflicht und die nationale (durch unionale Einflüsse konkretisierte) Grundrechtsverpflichtung stehen demnach im Widerspruch zueinander. Für einen optimalen Gleichlauf zwischen völkerrechtlicher und innerstaatlicher Pflichtenlage muss das völkerrechtliche Vertragsgefüge im Auslieferungsverkehr so abgeändert werden, dass es in Bezug auf die Grundrechtsbindung die unionalen Pflichten berücksichtigt: Um eine Pflichtenkollision zwischen völkerrechtlicher Auslieferungspflicht und dem Schutz der Individualinteressen zu vermeiden, ist es erforderlich, einen völkervertraglichen Ablehnungsgrund in Form eines Grundrechtsvorbehalts zu installieren. Dementsprechend ist im Folgenden zu klären, ob sich nicht bereits aus einem Untermaßverbot des EU-Gesetzgebers eine Pflicht zur Schaffung eines Ablehnungsgrundes bei Bedenken bezüglich der Wahrung unionaler Grundrechte herleiten lässt. Der EU-Gesetzgeber könnte gesetzgeberische Maßnahmen zum Schutz von Grund- und Menschenrechten zu treffen haben. Denn immerhin führt eine faktische Versagung der Auslieferung durch die nationalen Justizbehörden trotz bestehender völkerrechtlicher Auslieferungspflicht zu politischen Spannungen mit dem ersuchenden Staat.

Kapitel 3

Vorgaben für einen Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr der EU mit Drittstaaten Aufgrund der bisher ermittelten Ergebnisse stellt sich die Frage, ob der Unionsgesetzgeber im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten, mit denen die EU selbst ein Auslieferungsabkommen abschließen wird oder bereits abgeschlossen hat, dazu verpflichtet ist, gesetzgeberische Maßnahmen zur Sicherung eines unionalen Mindestgrundrechtsschutzes zu treffen. Ist dies der Fall, hat der Unionsgesetzgeber in Bezug auf den Auslieferungsverkehr mit den USA – in dessen völkervertraglichen Rahmen ein entsprechender unionaler Mindestgrundrechtsschutz derzeit nicht installiert ist – zumindest darauf hinzuwirken, dass das bestehende Vertragswerk mit den USA um einen europäischen Grundrechtsvorbehalt ergänzt wird.

A. Unionsgesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines unionalen Grundrechtsvorbehalts Gem. Art. 51 Abs. 1 GrCh sind die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union an die GrCh gebunden. Hieraus folgt, dass auch die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe (der Unionsgesetzgeber) – hierzu gehören das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und der Rat der EU (sog. Ministerrat) – als Organe der EU (Art. 13 Abs. 1 EUV) beim Erlass gesetzgeberischer Maßnahmen wie dem Abschluss völkerrechtlicher Verträge an die Unionsgrundrechte gebunden sind.

I. Schutzpflichten für den Unionsgesetzgeber im Rahmen des Untermaßverbots Aufgrund der Bindung des Unionsgesetzgebers an die GrCh stellt sich die Frage, ob sogar eine Pflicht für diesen besteht, im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten durch eine entsprechende völkervertragliche Ausgestaltung einen europäischen Mindestgrundrechtsstandard abzusichern. Eine solche Pflicht würde bei neuen Vertragspartnern eine aktive Installation eines europäischen Grundrechtsvorbehalts umfassen und könnte im Übrigen eine Befugnis des Unionsgesetzgebers zum Abschluss eines völkerrechtlichen Auslieferungsabkommens ausschließen. Für den Fall der bereits bestehenden Existenz eines völkerrechtlichen Auslieferungsabkom-

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

mens ohne entsprechenden Grundrechtsvorbehalt könnte der Unionsgesetzgeber dazu verpflichtet sein, auf eine Korrektur des Abkommens hinzuwirken. Grundrechten kommen unterschiedliche Funktionen zu. Neben der abwehrrechtlichen Dimension1 kommt ihnen grundsätzlich auch eine Schutzfunktion zu.2 In ihrer Funktion als Abwehrrechte bieten die Grundrechte im Rahmen des Übermaßverbots den Schutz vor staatlichen Maßnahmen, die in nicht zu rechtfertigender Weise in grundrechtlich geschützte Freiheitsbereiche eingreifen. Dagegen verpflichten die Grundrechte in ihrer schutzrechtlichen Dimension den Adressaten zu einem positiven Tätigwerden wie beispielsweise auch zu gesetzgeberischen Maßnahmen.3 Neben den für nationale Behörden bestehenden abwehrrechtlichen Verboten, durch Auslieferungsentscheidungen in nicht zu rechtfertigender Weise in Unionsgrundrechte einzugreifen, könnte also außerdem ein Gebot zum Schutz eines Mindestgrundrechtsstandards zum Tragen kommen: Ein solches könnte den Unionsgesetzgeber dazu verpflichten, durch die Normierung eines Grundrechtsvorbehalts in einem anzustrebenden völkerrechtlichen Vertrag schützend für die Unionsgrundrechte im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten tätig zu werden. Ein solcher Schutz kann sich insbesondere auf den Schutz vor der Hoheitsgewalt mitgliedstaatlicher Justizbehörden und ihnen zurechenbare Grundrechtsverletzungen erstrecken. Dann aber muss überhaupt eine Schutzpflicht zugunsten von Unionsgrundrechten für den Unionsgesetzgeber bestehen. Gerade bei der Begründung von Handlungspflichten ist darzulegen, warum gerade der Handlungspflichtige (hier: der Unionsgesetzgeber) tätig werden muss.4 Während in der Literatur allgemein eine Schutzpflicht für die Union postuliert wird,5 hat der EuGH bislang eine Schutzpflicht der Union zugunsten von Grundrechten noch nicht ausdrücklich anerkannt.6 Dem EuGH ist das Konzept von 1

Vgl. Kapitel 2 D. IV. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 5; Leuschner, EUR 2016, 431, 443 ff.; Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 34, 73. 3 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 5. 4 Classen, EuR 2017, 347, 353 f. 5 Kingreen, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​A EUV, Art. 51 GrCh Rn. 26; Lindner, EuR 2007, 160, 184; Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 GrCh Rn. 34; Suerbaum, EuR 2003, 390 ff.; wie selbstverständlich von einer Schutzpflicht ausgehend: Hatje, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art.  51 GrCh Rn. 25; eine Schutzpflicht der Union ausdrücklich nicht für selbstverständlich erachtend, diese aber bejahend: Cremer, EuGRZ 38 (2011), 545, 546 f., 554; einschränkend und eine Schutzpflicht für jedes Unionsgrundrecht durch dessen Auslegung ermittelnd: Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 5; kritisch zur schutzrechtlichen Dimension: Classen / ​Nettesheim, in: Oppermann / ​Classen / ​Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 30. 6 Im Bereich der Grundfreiheiten ist dies anders, vgl. Kapitel 3 Fn. 7. Eine Schutzpflicht für die Union ist in der Rechtsprechung des EuGH hingegen noch nicht ausdrücklich relevant 2

A. Gesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines Grundrechtsvorbehalts 

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Schutzpflichten an sich jedoch bekannt: Im Bereich der unionsrechtlichen Grundfreiheiten erkennt der EuGH schon länger die Existenz von Schutzpflichten an.7 Unabhängig davon darf die Bedeutung und Tragweite unionaler Grundrechte gem. Art. 52 Abs. 3 GrCh nicht unter den Schutz der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR abfallen. Der EGMR hat eine schutzrechtliche Dimension der in der EMRK normierten Menschenrechte im Gegensatz zum EuGH bereits ausdrücklich anerkannt.8 Soll in Bezug auf die Unionsgrundrechte mindestens der gleiche Schutzstandard gewährleistet werden, wie dies innerhalb der Europaratstaaten der Fall ist, muss sich dies auch auf die Funktion der Grundrechte beziehen. Um das gleiche Schutzniveau zu gewährleisten, das der EGMR in Bezug auf die Garantien der EMRK leistet, ist deshalb innerhalb des Unionsrechts ebenfalls davon auszugehen, dass dem Unionsgesetzgeber Schutzpflichten für die Unionsgrundrechte zukommen.9 Für eine Pflicht zum Schutz unionaler Mindestgrundrechtsstandards spricht zudem der Grundsatz der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV). Denn wenn die Nationalstaaten keinen Verfassungsvorbehalt geltend machen können,10 kann im Gegenzug von der Union verlangt werden, dass diese beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge schützend für den unionalen Mindestgrundrechtsstandard eintritt.11 Es fragt sich aber, in welchem Umfang genau die Verpflichtung der Union zum Grundrechtsschutz besteht, d. h. welche Handlungsverpflichtungen hieraus konkret für sie abgeleitet werden können. Aus den Verträgen ergibt sich zwar keine Pflicht des Unionsgesetzgebers zum Abschluss völkerrechtlicher Auslieferungs­abkommen mit Drittstaaten, sodass der Unionsgesetzgeber eine Pflicht zur Rechtsetzung auch nicht unzureichend erfüllen kann. Die Schutzpflichten enthalten jedoch einen „Wesentlichkeitsschutz“ im Sinne eines Mindestschutzes, da den Grundrechtsverpflichteten und damit auch dem Unionsgesetzgeber bei der Ausübung gesetzgeberischer Tätigkeiten generell eine Einschätzungsprärogative bezüglich geworden, vgl. hierzu statt vieler Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 5; Kingreen, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 51 GrCh Rn. 28 f. 7 Erstmals EuGH, Urteil vom 9. 12. 1997 – C-265/95 (Rs. Kommission / ​Frankreich) = NJW 1998, 1931, 1932 Rn. 30 ff. in Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit; s. hierzu Haratsch / ​Koe­ nig / ​Pechstein, Europarecht, Rn. 696; Kainer, JuS 40 (2000), 431; vgl. zudem Leuschner, EUR 2016, 431, 445; Suerbaum, EuR 2003, 390. 8 S. nur EGMR, Urteil vom 5. 9. 2017 – Nr. 61496/08 (Bărbulescu / ​Rumänien) = NZA 2017, 1443, 1446 Rn. 108 ff.; EGMR, Urteil vom 5. 6. 2015  – Nr. 46043/14 (Lambert ua / ​Frankreich) = NJW 2015, 2715, 2719, 2720 f. Rn. 117 ff., 140 ff.; EGMR, Urteil vom 28. 10. 2014 – Nr. 15018/10 (Ibrahim Demirtaş / ​Türkei) = NJW 2015, 3771 f. Rn. 25 ff.; EGMR, Urteil vom 13. 6. 1979 – Nr. 6833/74 (Marckx / ​Belgien) = NJW 1979, 2449, 2450 Rn. 31; zur Herleitung der Schutzpflichtdimension aus der EMRK und der Rspr. des EGMR s. Leuschner, EUR 2016, 431, 444 f.; s. zudem Classen, EuR 2017, 347, 353. 9 Dies gilt zumindest für die Unionsgrundrechte, die ein Pendant in der EMRK finden, was bei Auslieferungsentscheidungen jedoch potenziell alle Grundrechte sind, vgl. hierzu die Übersicht bei Meyer, ZStW 128 (2016), 1089, 1120 ff. 10 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (3) und Kapitel 2 D. II. 3. d) bb) (2). 11 Ähnlich Kainer, JuS 40 (2000), 431, 432 ff. zur Begründung der Herleitung von Schutzpflichten von Grundfreiheiten in der Rspr. des EuGH.

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

der konkreten Ausgestaltung zukommt:12 Dem Unionsgesetzgeber steht bei dem Erlass gesetzgeberischer Maßnahmen ein weites Ermessen zu. Eine Schutzpflicht für den Unionsgesetzgeber in Bezug auf ein künftiges Tätigwerden kann sich daher ausschließlich im Rahmen des Untermaßverbots entfalten. Eine Verletzung unionaler Schutzpflichten durch den Unionsgesetzgeber kommt nur dann in Betracht, wenn entweder überhaupt keine Schutzmaßnahmen getroffen worden sind oder solche Maßnahmen getroffen worden sind, die völlig ungeeignet sind, um das erforderliche Mindestgrundrechtsniveau zu gewährleisten: Eine Prüfung von bereits getroffenen unionsgesetzgeberischen Maßnahmen hat sich daher darauf zu beschränken, ob diese zur Erreichung der Unionsziele völlig ungeeignet sind.13 Den Unionsgesetzgeber trifft daher für den Fall des Abschlusses völkerrechtlicher Auslieferungsverträge mit Drittstaaten ausschließlich die Pflicht, bei Abschluss solcher Verträge diese zumindest so auszugestalten, dass den nationalen Justizbehörden bei der Durchführung von Unionsrecht eine primärrechtskonforme Auslieferungsentscheidung möglich ist, ohne dabei zugleich gegen eine aus dem völkerrechtlichen Vertrag der EU begründete völkerrechtliche Auslieferungspflicht zu verstoßen. Denn die Verpflichtung zur Wahrung unionaler Mindestgrundrechtsstandards trifft den einzelnen Mitgliedstaat und seine Unionsrecht durchführenden Hoheitsträger unabhängig davon, ob der Betroffene an einen anderen Mitgliedstaat der EU überstellt wird, da sie von der Anwendbarkeit der GrCh abhängt. Im Falle der völkervertraglichen Regelung von Auslieferungsabkommen der EU ist der Anwendungsbereich der GrCh stets eröffnet.14 Auch wenn der Drittstaat nicht an die GrCh gebunden ist, ist eine zu erwartende unionsgrundrechtsverletzende Maßnahme den mitgliedstaatlichen Justizbehörden zuzurechnen. Insofern muss der ebenfalls unionsgrundrechtsverpflichtete Unionsgesetzgeber einen hinreichenden Schutz vor grundrechtsverletzenden Maßnahmen gerade von Drittstaaten gewähren, die den nationalen Justizbehörden, die zugleich im Dienste des Unionsrechts Hoheitsgewalt ausüben, zurechenbar sind.15 Dies ergibt sich zudem aus Art. 4 Abs. 3 EUV, wonach sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig zur loyalen Zusammenarbeit verpflichten: Schließt die EU selbst ein Ausliefe 12 Fontaine, Die Anwendbarkeit und Durchsetzbarkeit der Unionsgrundrechte bei militärischen Operationen der Europäischen Union, S. 340; Hatje, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 52 GrCh Rn. 25; Kingreen, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​ AEUV, Art. 51 GrCh Rn. 26; Leuschner, EUR 2016, 431, 444. 13 Vgl. EuGH, Urteil vom 6. 9. 2017 – C-643/15, C-647/15 (Rs. Slowakische Republik und Ungarn / ​Rat der EU) = NVwZ 2018, 391, 400 Rn. 221; EuGH, Urteil vom 28. 7. 2011 – C-309/10 (Rs. Agrana Zucker GmbH) = BeckRS 2011, 81181 Rn. 45; EuGH, Urteil vom 12. 5. 2011 – C-176/09 = BeckRS 2011, 80517 Rn. 62; s. aus der Literatur Bast, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 73; Trstenjak / ​Beysen, EuR 2012, 265, 273. Die Formulierung findet in der deutschen verfassungsgerichtlichen Rspr. eine Entsprechung, s. BVerfGE 92, 26, 46; 88, 203, 251 ff., 254 f.; 77, 170, 214 f. 14 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. c) cc). 15 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 41; s. zudem Meyer, ZStW 128 (2016), 1089, 1125, der ebenfalls den Unionsgesetzgeber in der Pflicht sieht, für die Formen der Zusammenarbeit in Strafsachen der EU einheitliche unionale Schutzstandards zu schaffen.

A. Gesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines Grundrechtsvorbehalts 

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rungsabkommen mit Drittstaaten, sodass die Auslieferungsentscheidungen stets auch in Durchführung von Unionsrecht erfolgen, muss sie den über die Auslieferung entscheidenden und hierbei an die GrCh gebundenen Justizbehörden auch eine unionsrechtskonforme Handhabe geben, die Auslieferung abzulehnen, wenn eine positive Auslieferungsentscheidung unionsrechtlichen Mindestgrundrechtsstandards nicht genügen würde. Eine unionale Schutzpflicht bezieht sich dabei auf alle Personen, die im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten dem Schutz der GrCh unterfallen und in dessen Mindestgrundrechte die nationalen Justizbehörden dementsprechend zurechenbar eingreifen können. Da die GrCh nicht nur Unionsbüger, sondern in den für die Auslieferungsentscheidung maßgeblichen unionalen Grundrechten jedermann in Bezug nimmt, bezieht sich die Schutzpflicht nicht nur auf Unionsbürger, sondern auch auf Drittstaatsangehörige.16 Wenngleich die EU zum Zeitpunkt des Abschlusses des AuslAbk EU-USA noch nicht an die GrCh gebunden war, da diese bis dato lediglich proklamiert worden war, haben die Unionsorgane zu der Zeit eigentlich grundsätzlich erkannt, dass (zumindest) die Gewährleistungen der EMRK im Auslieferungsvertrag hätten Berücksichtigung finden müssen: Das Europäische Parlament hat in einer Empfehlung an den Rat17 darauf hingewiesen, dass die EMRK ausdrücklich im AuslAbk EU-USA in Bezug genommen werden müsse, weil die EU nicht dazu befugt sei, über die Befugnisse und Verpflichtungen, die ihr von den Gründungsverträgen auferlegt worden sind, mit Drittstaaten hinaus zu verhandeln. Insbesondere ist darauf hingewiesen worden, dass die Menschenrechtsgewährleistungen der EMRK wie die Mindestverfahrensgarantien für ein faires Verfahren hinreichend Berücksichtigung im Auslieferungsverkehr mit den USA finden müssen und dass der Angeklagte bei drohender Todesstrafe nicht ausgeliefert werden darf.18 Trotz dieses Hinweises ist keine entsprechende Ablehnungsklausel aufgenommen worden. Insbesondere ist im weiteren Gesetzgebungsverfahren auch die Empfehlung des Europäischen Parlaments, im AuslAbk EU-USA ausdrücklich auf Art. 6 EUV und die GrCh zu verweisen,19 damit diese Bestimmungen bindend sind, letztlich bei der Ausgestaltung des Auslieferungsabkommens ignoriert worden. Die Union darf, wenn sie im Rahmen ihrer Kompetenzen als Gesetzgeber tätig wird und internationale Abkommen abschließt, eigene Unionsgrundsätze wie insbesondere die im Primärrecht der Union stehenden Grundrechte der GrCh nicht unberücksichtigt lassen. Vielmehr muss der Unionsgesetzgeber, wenn er durch den Abschluss eines völkerrechtlichen Abkommens mit Drittstaaten unmittelbar ver 16

Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. c) cc) (2). Empfehlung Nr. 2 der Empfehlung des Europäischen Parlaments 2003/2003 (INI), s. P5_ TA(2003)0239. 18 Vgl. Erwägungsgrund G b)  der Empfehlung des Europäischen Parlaments 2003/2003 (INI), s. P5_TA(2003)0239. 19 Vgl. Kapitel 1 B. II. 2. c) dd). 17

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

bindliche Vorgaben für die Mitgliedstaaten schafft, den nationalen Justizbehörden Entscheidungen ermöglichen, die im Einklang mit dem Primärrecht stehen und nicht zugleich gegen das von der Union abgeschlossene völkerrechtliche Abkommen verstoßen. Der Unionsgesetzgeber kommt dem Untermaßverbot dementsprechend dann nicht mehr nach, wenn er Auslieferungsverpflichtungen völkervertraglich dergestalt vereinbart, dass diese völkerrechtlich auch dann zu erfüllen sind, wenn sie gegen zwingende europäische Mindestgrundrechtsstandards20 verstoßen. Anknüpfend an die schutzrechtliche Dimension unionaler Grundrechte resultiert aus dem Untermaßverbot daher jedenfalls die Pflicht des Unionsgesetzgebers, im Falle des Abschlusses eines Auslieferungsabkommens ein Rahmenabkommen zu schaffen, auf dessen Grundlage eine Auslieferung an Drittstaaten im Einklang mit dem Primärrecht erfolgen kann. Ein bereits existierendes Abkommen, das diesen Anforderungen nicht genügt, ist insofern zu korrigieren bzw. es ist völkerrechtlich auf eine Änderung hinzuwirken. Dementsprechend muss der Gesetzgeber trotz der fehlenden Verbindlichkeit der GrCh bei Abschluss des AuslAbk EU-USA im Zweifelsfall die völkerrechtlichen Verträge ändern bzw. auf eine entsprechende Änderung hinwirken, da sie nicht mehr primärrechtskonform durch nationale Hoheitsträger ausgeübt werden können. Möchte die Union die Autonomie ihrer eigenen Rechtsordnung auch nach außen hin gegenüber Drittstaaten behaupten, muss sie die elementaren Grundsätze, auf denen sie fußt – und damit insbesondere die der Rechtsstaatlichkeit i. S. d. Art. 2 EUV und die hierzu gehörenden unionalen Mindestgrundrechtsstandards – auch nach außen hin vehement vertreten und ihnen unbedingt zur Durchsetzung verhelfen. Eine solche Pflicht ergibt sich aus Art. 21 Abs. 1 EUV, wonach die Union sich im Außenverhältnis auf völkerrechtlicher Ebene „von den Grundsätzen leiten (lässt), die für ihre Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren“ und als solche Grundsätze insbesondere die Rechtsstaatlichkeit und die Unteilbarkeit der Menschenrechte benennt. Die EU selbst ist mittlerweile ein eigenständiger Akteur im Bereich der kooperativen Strafverfolgung geworden. Als solcher kann ein Schutz eigener europäischer Mindestgrundrechtsstandards nicht nur auf mitgliedstaatlicher Ebene angesetzt sein, sondern er muss auch auf der Ebene der EU verwirklicht werden. Eine allgemeine europäische Grundrechtsklausel ist in dem AuslAbk EU-USA nicht enthalten. Der Unionsgesetzgeber ist daher – vorbehaltlich möglicher Einwände gegen ein unionales Tätigwerden21 – gefordert, durch die Aufnahme eines unionsgrundrechtlichen Ablehnungsgrundes in Auslieferungsabkommen mit Dritt 20

Der unionale Mindeststandard setzt sich dabei aus den absoluten Grundrechten und den Wesensbestandteilen unionaler Grundrechte zusammen, vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c) und Kapitel 2 D. II 3. d) bb) (1). 21 Eine Schutzpflicht der Union kann logischerweise nur insoweit bestehen, wie unionales gesetzgeberisches Handeln legitimiert werden kann, vgl. Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 34; zur Legitimität eines völkervertraglich geregelten europäischen Grundrechtsvorbehalts s. Kapitel 3 A. II.

A. Gesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines Grundrechtsvorbehalts 

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staaten eine primärrechtskonforme Auslieferungsentscheidung im Einzelfall zu ermöglichen.

II. Legitimität eines Grundrechtsvorbehalts durch die EU in Form einer völkervertraglichen Regelung Gem. Art. 47 EUV besitzt die Union Rechtspersönlichkeit. Dementsprechend kann sie als Völkerrechtssubjekt auch völkerrechtliche Verträge abschließen bzw. bestehende völkerrechtliche Verträge mit Zustimmung des Vertragspartners ändern.22 Wenngleich es daher auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, dass der europäische Gesetzgeber selbst einen Ablehnungsgrund bei unionalen Grundrechtsbedenken im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten völkervertraglich absichert, muss sich die These, dass die Einführung einer europäischen Grundrechtsschutzklausel im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten eine Aufgabe des Unionsgesetzgebers ist, auch gegen mögliche Einwände behaupten können. Denn immerhin geht mit einem Tätigwerden des Unionsgesetzgebers automatisch eine Souveränitätseinbuße der einzelnen Mitgliedstaaten einher, sodass ein Handeln der Union stets zurückhaltend zu erfolgen hat und primärrechtlichen Einschränkungen unterliegt.23 Insofern muss der Gesetzgeber auch dann, wenn er seiner Schutzpflicht zur Gewährung der Unionsgrundrechte nachkommt, die Grundsätze wahren, die unionalem Handeln generell eine Schranke auferlegen: Eine Handlungspflicht des Unionsgesetzgebers kann sich nur im Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten entfalten. Unionsgesetzgeberisches Handeln hat sich daher an den Art. 5 ff. EUV auszurichten.24 1. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 2 EUV Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EUV) wird die Union nur in den Bereichen tätig, in denen ihr durch die Verträge Hoheitsgewalt übertragen worden ist. Die Union kann damit keine eigenen Kompetenzen (sog. Kompetenz-Kompetenz) begründen.25 Dies gilt nicht nur für ein Tätigwerden innerhalb der Unionsrechtsordnung, sondern auch für das auswärtige Handeln der 22

Lorenzmeier, ZJS 2012, 322; Meng, in: von der Groeben / ​Schwarze / ​Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 47 EUV Rn. 5 ff.; Ruffert, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​A EUV, Art. 47 EUV Rn. 1. 23 Weißer, in: Schulze / ​Janssen / ​Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, § 16 Rn. 23. 24 Vgl. Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 45; Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 GrCh Rn. 34; speziell zu den primärrechtlichen Einschränkungen auswärtigen Handelns der EU s. Assakkali, EuZW 2019, 813, 815; Heuck, JURA 2013, 199. 25 Haratsch / ​Koenig / ​Pechstein, Europarecht, Rn. 178; Hatje / ​Schwarze, EuR 2019, 153, 154 f.; Heuck, JURA 2013, 199; Nettesheim, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 1 AEUV Rn. 18; Vedder, in: Vedder / ​Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 5 EUV Rn. 7 ff.

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

EU mit Drittstaaten. Nur soweit der Union Kompetenzen zur Regelung einer bestimmten Materie zugewiesen sind, kann sie als Vertragspartei völkerrechtliche Verträge abschließen (vgl. Art. 47 EUV). Eine eigene pimärrechtliche Regelung für den Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages mit Drittstaaten bzw. für die Änderung eines bestehenden völkerrechtlichen Vertrages wie dem AuslAbk EU-USA findet sich für die Union seit dem Vertrag von Lissabon in Art. 216 Abs. 1 AEUV.26 Hiernach kommt ihr die Kompetenz zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge mit Drittstaaten zu, soweit sich eine solche aus den Verträgen ergibt. Andernfalls kommt ihr die Kompetenz dann zu, wenn eine unionale Regelung zur Verwirklichung unionaler, in den Verträgen ausgewiesener Ziele erforderlich oder in einem anderen Rechtsakt der Union vorgesehen ist, wenn der Abschluss der Übereinkunft gemeinsame Vorschriften beeinträchtigen oder deren Anwendungsbereich ändern könnte. Hieraus folgt, dass der Union eine Sachkompetenz zur Regelung einer bestimmten Materie mit Drittstaaten entweder ausdrücklich an einer anderen Stelle in den Verträgen (Art. 216 Abs. 1 Var. 1 AEUV)27 oder implizit (Art. 216 Abs. 1 Var. 2–4 AEUV) in den Verträgen zugewiesen worden sein muss.28 Eine ausdrückliche Kompetenz der Union zum Abschluss völkerrechtlicher Auslieferungsübereinkommen mit Drittstaaten findet sich in den Verträgen nicht. Zwar ist die Kompetenz zur Regelung des Übergabeverkehrs in den Bereich des Unionsrechts überführt worden: Durch den Vertrag von Lissabon ist der ehemals in der 3. Säule verankerte gesamte Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in die geteilte Zuständigkeit (vgl. Art. 4 Abs. 2 lit. j) AEUV)) in die Art. 67 ff. AEUV aufgenommen worden. Allerdings umfassen die hier ausdrücklich zugewiesenen Kompetenzen gem. Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. d) AEUV den Übergabeverkehr zwischen den Mitgliedstaaten der EU.29 Diese Zu 26 Zu der bereits zuvor anerkannten Vertragsschlusskompetenz der damaligen EWG seit dem sog. AETR-Urteil des EuGH (vgl. EuGH, Urteil vom 31. 3. 1971 – Rs. 22/70 = Slg. 1971, 263), die Grundlage für die Normierung des Art. 216 AEUV war, s. nur Kempen / ​Schiffbauer, ZaöRV 77 (2017), 95, 113; Schmalenbach, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​A EUV, Art. 216 AEUV Rn. 1; vgl. in Bezug auf das AuslAbk EU-USA Kapitel 1 A. I. 1. 27 Art. 216 Abs. 1 Var. 1 AEUV ist deklaratorischer Natur, da sich die Kompetenz der Union bei ausdrücklich zugewiesenen Außenkompetenzen bereits aus den diese Kompetenzen zuweisenden Normen ergibt, vgl. hierzu Heuck, JURA 2013, 199, 200; Obwexer, EuR Beiheft 2012, 49, 51; s. bspw. zur Nachbarschaftspolitik Art. 8 Abs. 2 EUV, wonach sich die Kompetenzzuweisung bereits eben aus dieser Norm ergibt: „Für die Zwecke des Absatzes 1 kann die Union spezielle Übereinkünfte mit den betreffenden Ländern schließen.“; s. zudem bspw. Art. 207 AEUV und Art. 191 Abs. 4 AEUV für die Bereiche der gemeinsamen Außenpolitik und für die Umweltpolitik. 28 Obwexer, EuR Beiheft 2012, 49, 50 ff.; Terhechte, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 216 AEUV Rn. 4; Vöneky / ​Beylage-Haarmann, in: Grabitz / ​Hilf / ​ Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 216 AEUV Rn. 6. 29 So auch Brodowski, NJECL 2 (2011), 21, 30 f.; Esser / ​Rübenstahl / ​Boerger, NZWiSt 2014, 401, 407; vgl. auch Art. 4 Abs. 2 lit. j) AEUV, der sich ausschließlich auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beschränkt (s. Art. 67 ff. AEUV).

A. Gesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines Grundrechtsvorbehalts 

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weisung gilt demnach ausschließlich für den Übergabeverkehr innerhalb der Union und kann daher nicht als Kompetenzzuweisung für den Abschluss völkerrechtlicher Auslieferungsübereinkünfte mit Drittstaaten herangezogen werden. Eine ausdrückliche Kompetenz der Union zur Regelung des Auslieferungsverkehrs mit Drittstaaten lässt sich – im Gegensatz zur Zeit des Abschlusses des AuslAbk EUUSA30 – in den Verträgen daher nicht finden. Allerdings könnte eine implizite Kompetenz der Union i. S. d. Art. 216 Abs. 1 Var. 2 AEUV31 zum Abschluss völkerrechtlicher Auslieferungsübereinkünfte vorliegen. Solche impliziten Kompetenzen liegen dann vor, wenn der Abschluss eines völkerrechtlichen Abkommens zur Verwirklichung eines in den Verträgen festgelegten Unionziels erforderlich ist. Dies kann nicht nur als Verweis auf die Ziele des Art. 3 EUV,32 sondern auch als Verweis auf die Ziele des Art. 21, 22 EUV33 interpretiert werden. In Anbetracht des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung steht es jedoch in Frage, ob Art. 216 Abs. 1 Var. 2 AEUV als Generalermächtigung verstanden werden kann, die der Union zur Verwirklichung jedes Unionsziels eine Kompetenz zum Abschluss völkerrechtlicher Übereinkünfte zuweist. Andernfalls kann dies auch so verstanden werden, dass die Union nur dann völkerrechtliche Übereinkünfte über einen Regelungsgegenstand treffen darf, wenn ihr auch intern in Bezug auf die jeweilige Sachmaterie eine Kompetenz zukommt.34 Der Union kommt intern jedoch eine Regelungskompetenz für den Übergabeverkehr zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten zu (vgl. Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. d) AEUV, Art. 4 Abs. 2 lit. j) AEUV), sodass in Bezug auf Auslieferungsübereinkommen ein Gleichlauf von Innen- und Außenkompetenz nicht in Frage steht. Gem. Art. 3 Abs. 5 EUV „schützt und fördert“ die Union „(i)n ihren Beziehungen zur übrigen Welt (…) ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz 30

Im Gegensatz zur heutigen Rechtslage fand sich eine ausdrückliche Kompetenz der Union zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge mit Drittstaaten auch bzgl. des Titels VI (Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) vor dem Vertrag von Lissabon und damit vor der Existenz von Art. 216 AEUV noch in den Verträgen: Art. 38, 24 EUV a. F. (Nizza-Fassung), vgl. hierzu Kapitel 1 Fn. 19. 31 Art. 216 Abs. 1 AEUV benennt drei Varianten einer impliziten Kompetenz, s. hierzu statt vieler Haratsch / ​Koenig / ​Pechstein, Europarecht, Rn. 76. 32 Vöneky / ​Beylage-Haarmann, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 216 AEUV Rn. 9; so wohl auch Hatje / ​Schwarze, EuR 2019, 153, 154 f. 33 Terhechte, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art.  216 AEUV Rn. 7. Art. 21, 22 EUV enthalten allgemeine Bestimmungen über das auswärtige Handeln der Union. Ihre Geltung wird gem. Art. 205 AEUV auf den 5. Teil des AEUV – und damit auf den Abschluss völkerrechtlicher Übereinkünfte der Union – ausgeweitet. 34 S. hierzu und zur Anlehnung an die AETR-Rspr. des EuGH: Haratsch / ​Koenig / ​Pechstein, Europarecht, Rn. 76; Heuck, JURA 2013, 199, 200 f.; Mögele, in: Streinz (Hrsg.), EUV / ​ AEUV, Art. 216 AEUV Rn. 33 ff.; Terhechte, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EUKommentar, Art. 216 AEUV Rn. 7.

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.“ Demzufolge ist das unionale Interesse an einem funktionierenden Auslieferungsverkehr auch mit Drittstaaten und der damit einhergehenden Sicherheit „unter den Völkern“ ein primärrechtliches Ziel, das einen normativen Anknüpfungspunkt in Art. 3 Abs. 5 EUV findet.35 Darüber hinaus müsste der Abschluss völkerrechtlicher Auslieferungsübereinkommen mit Drittstaaten nach Art. 216 Abs. 1 Var. 2 AEUV auch erforderlich sein, um dieses Unionsziel zu erreichen. Hierfür hat es nach der Rechtsprechung des EuGH indizielle Wirkung, wenn die EU von dieser Kompetenz unionsintern zur Verwirklichung einer gemeinsamen Politik bereits Gebrauch gemacht hat.36 Für eine Erforderlichkeit i. S. d. impliziten Kompetenz in Art. 216 Abs. 1 AEUV reicht es jedenfalls aus, wenn eine Kompetenz der Union i. S. d. effet utile zur bestmöglichen Verwirklichung der Unionsziele führen würde, das Unionsziel also schneller und einfacher erreicht werden kann.37 Unionsintern ist der Übergabeverkehr durch den RbEuHb zwar bereits geregelt worden.38 Die Vermeidung strafrechtsfreier Räume lässt sich jedoch nicht nur durch eine interne Regelung, sondern in Anbetracht des Ziels auswärtigen Handelns der Union zur Förderung der weltweiten Sicherheit am einfachsten und am besten durch eine Regelung der EU hierzu mit Drittstaaten regeln. Eine implizite Kompetenz der Union zum Abschluss völkerrechtlicher Auslieferungsübereinkommen mit Drittstaaten ist insofern erforderlich i. S. d. Art. 216 Abs. 1 Var. 2 AEUV und liegt damit vor. Dementsprechend beinhaltet die Kompetenz der EU gerade auch den Bereich der Auslieferung im Verhältnis zu Drittstaaten,39 sodass dem Unionsgesetzgeber grundsätzlich die geteilte40 Kom 35

Vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) bb) (3) (b). S. das Gutachten des Gerichtshofes 1/76 v. 26. 4. 1977 (Stilllegungsfonds), Slg. 1977, 741 Rn. 4; s. hierzu Heuck, JURA 2013, 199, 201. 37 Heuck, JURA 2013, 199, 201; Vöneky / ​Beylage-Haarmann, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 216 AEUV Rn. 8 ff. 38 Vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. d) aa). Insofern kommt es hier nicht auf die Frage an, ob eine Außenkompetenz nach Art. 216 Abs. 1, 2. Fall AEUV nur dann vorliegt, wenn auch eine Innenkompetenz der Union zur Regelung der in Frage stehenden Materie besteht, s. hierzu Heuck, JURA 2013, 199, 201. 39 So i. E. auch Brodowski, NJECL 2 (2011), 21, 30 f.; Esser / ​Rübenstahl / ​Boerger, NZWiSt 2014, 401, 407; Obwexer, EuR Beiheft 2012, 49, 50. 40 Die implizite Kompetenz i. S. d. Art. 216 Abs. 1 Var. 2 AEUV ist regelmäßig eine geteilte und keine ausschließliche Kompetenz der Union. Dies beruht darin, dass abgesehen von den geregelten ausschließlichen Kompetenzen der Union i. S. d. Art. 3 Abs. 1 AEUV gem. Art. 3 Abs. 2 AEUV eine ausschließliche Kompetenz der Union insbesondere nur dann vorliegt, „wenn der Abschluss einer solchen Übereinkunft (…) notwendig ist, damit sie ihre interne Zuständigkeit ausüben kann“. Der Begriff der Notwendigkeit ist dabei allerdings sehr restriktiv auszulegen, s. hierzu und zum Ganzen Lachmayer / ​von Förster, in: von der Groeben / ​Schwarze / ​ Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 216 AEUV Rn. 8; Mögele, in: Streinz (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 216 AEUV Rn. 35; Terhechte, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 216 AEUV Rn. 7. Die Verwirklichung des dargelegten Unionsziels betrifft jedoch nicht die interne Zuständigkeit der Union zur Regelung des Übergabeverkehrs, 36

A. Gesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines Grundrechtsvorbehalts 

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petenz zukommt, völkerrechtliche Auslieferungsübereinkünfte mit Drittstaaten abzuschließen. Darüber hinaus müsste jedoch auch die Normierung eines europäischen Grundrechtsvorbehalts im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten eine der Union zugewiesene Kompetenz darstellen. Denn eine materielle Kompetenz der Union wäre hinsichtlich eines unionsgrundrechtlichen Ablehnungsgrundes dann problematisch, wenn die EU zwar den Auslieferungsverkehr an sich regeln könnte, ihr in den Verträgen allerdings keine Kompetenz zugewiesen worden wäre, einen Mindestgrundrechtsschutz in den völkerrechtlichen Auslieferungsübereinkünften zu installieren, sie also keine Maßnahmen zur Sicherung des Unionsgrundrechtsschutzes ergreifen dürfte. Auch Schutzpflichten für den Unionsgesetzgeber können nur im Rahmen der begrenzten Einzelermächtigung Wirkung entfalten.41 Eine Kompetenz zum Schutz unionaler Grundrechte ließe sich in Anbetracht der Regelung des Art. 51 Abs. 2 GrCh in Zweifel ziehen: Gem. Art. 51 Abs. 2 GrCh dehnt die GrCh den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet auch keine neuen Aufgaben oder Zuständigkeiten der Union. Eine Kompetenz zur Sicherung des unionalen Mindestgrundrechtsschutzes ist jedoch nicht ausdrücklich in den Verträgen vorgesehen, sodass die Annahme einer solchen die unionalen Kompetenzen entgegen Art. 5 Abs. 2 EUV erweitern könnte. Die Befürchtung, dass die GrCh dazu genutzt werden könnte, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 Abs. 2 EUV zu umgehen, hat nicht nur in Art. 51 Abs. 1 S. 2 GrCh ihren Ausdruck gefunden.42 Bereits Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV postuliert, dass „(d)urch die Bestimmungen der Charta (…) die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert (werden)“. Damit hängt die Beantwortung der Frage, ob sich eine an die Union übertragene Kompetenz zum Schutz unionaler Grundrechte herleiten lässt, davon ab, ob sich diese aus in den Verträgen bereits geregelten Zuständigkeiten herleiten lässt:43 Der Grundrechtsschutz folgt „akzessorisch“44 den in den Verträgen bezüglich einer Sachmaterie bereits zugewiesenen Kompetenzen. Die GrCh an sich begründet zwar keine Zuständigkeiten der Union. In den Bereichen, in denen der sondern das auswärtige Handeln der Union und ist damit nicht zur Ausübung der internen Zuständigkeit zwingend nötig. 41 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 6; Schwerdtfeger, in: Meyer / ​ Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 34. 42 S. hierzu Hatje, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art.  51 GrCh Rn. 28; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 8; Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 70 ff. 43 Vgl. Classen, EuR 2017, 347, 354. 44 So ausdrücklich Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 72, die deutlich herausstellt, dass die Grundrechte „akzessorisch zum sonstigen Unionsrecht“ sind; s. a. Haratsch / ​Koenig / ​Pechstein, Europarecht, Rn. 698; Masing, JZ 70 (2015), 477, 482 („Grundrechtsschutz ist Annex“).

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

Union allerdings Kompetenzen in den Verträgen zugewiesen wurden, sind diese auch im Lichte der GrCh auszuüben.45 Demzufolge geht der Grundrechtsschutz zwingend mit der Sachmaterie einher: Der Union kann keine Kompetenz in Bezug auf eine Materie zukommen, ohne dieser zugleich primärrechtskonform nachzukommen. Die völkervertragliche Regelung des Auslieferungsverkehrs mit Drittstaaten fällt in die geteilte Zuständigkeit der Union,46 sodass damit automatisch auch die Kompetenz der Union einhergeht, bei Ausübung eben dieser Zuständigkeit einen hinreichenden unionalen Mindestgrundrechtsschutz zu regeln. Wenn die EU wie durch das AuslAbk EU-USA grundrechtsrelevante völkerrechtliche Auslieferungsabkommen abschließt, besitzt sie auch die Kompetenz, solche Regelungen zu schaffen, die gewährleisten, dass es nicht zu einer nicht zu rechtfertigenden Grundrechtsverletzung durch die mitgliedstaatlichen Justizbehörden kommt. Die Annahme einer Schutzpflicht des Unionsgesetzgebers in Bezug auf die bei den Auslieferungsentscheidungen potenziell gefährdeten Grundrechtsgewährleistungen begründet demnach keine neue Kompetenz der Union, sondern entfaltet sich vielmehr im Rahmen bereits primärrechtlich zugewiesener Zuständigkeiten. Dem Unionsgesetzgeber kommt damit die Kompetenz zur völkerrechtlichen Regelung einer europäischen Grundrechtsschutzklausel zu, sodass das Prinzip begrenzter Einzelermächtigung gewahrt ist. Bei unionalen Maßnahmen sind allerdings – auch bei der Ausübung der geteilten Kompetenz der EU, völkerrechtliche Verträge mit Drittstaaten zu schließen – das Subsidiaritätsprinzip und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.47 Ein Grundrechtsvorbehalt genügt diesen Anforderungen nur dann, wenn ein europäischer Grundrechtsvorbehalt sinnvollerweise nur von der EU selbst geregelt werden kann. 2. Subsidiaritätsprinzip, Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV Unionale, nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fallende Maßnahmen dürfen nur dann getroffen werden, wenn das damit verfolgte Ziel nicht ausreichend auf mitgliedstaatlicher Ebene erreicht werden kann (Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV).48 Das Subsidiaritätsprinzip gilt gem. Art. 51 Abs. 1 GrCh auch für die Verwirklichung des Grundrechtsschutzes.

45

Schwerdtfeger, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 GrCh Rn. 72. 46 Vgl. Kapitel 3 Fn. 40. 47 Vgl. Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABl. C 306 v. 17. 12. 2007, S. 150 ff.; ABl. C 83 v. 30. 3. 2010, S. 206 ff.; Bickenbach, EuR 2013, 523; Nawparwar, Beiträge zum Europa- und Völkerrecht 2009, 1, 20.  48 Zum Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzbegrenzung der Unions s. Calliess, in: Calliess / ​ Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 5 EUV Rn. 19 ff.; Lienbacher, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​ Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 5 EUV Rn. 15.

A. Gesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines Grundrechtsvorbehalts 

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Grundsätzlich kann ein umfassender Grundrechtsschutz auch bei der Umsetzung unionaler Rechtsakte gewährt werden, wenn diese einen Umsetzungsspielraum belassen. Ein solcher besteht bei dem AuslAbk EU-USA als völkerrecht­ lichem Vertrag, dem nur im Ganzen zugestimmt werden kann,49 aber gerade nicht. Für den Fall, dass ein unionaler Gesetzgebungsakt keine Umsetzungsspielräume gewährt, ist es Aufgabe des Unionsgesetzgebers, die Einhaltung der Grundrechte zu gewährleisten.50 Gleichwohl dient das AuslAbk EU-USA nur der Ergänzung bilateraler Verträge und ist neben diesen anzuwenden.51 Das unionale Ziel der Schaffung einheitlicher Mindestgrundrechtsstandards im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten ließe sich daher auch dadurch erreichen, dass die einzelnen mitgliedstaatlichen Gesetzgeber Maßnahmen treffen, um einen einheitlichen Unionsmindestgrundrechtsschutz im Auslieferungsverkehr eines Mitgliedstaates mit Drittstaaten zu installieren. Die nationalen Gesetzgeber könnten also selber im jeweils bilateralen völkerrechtlichen Verhältnis zu den USA darauf hinwirken, europäische Grundrechtsklauseln in die bilateralen Verträge aufzunehmen. Zwar können Mitgliedstaaten im Rahmen der geteilten Kompetenz nur dann tätig werden, wenn die EU die ihr zukommende Kompetenz nicht ausgeübt oder entschieden hat, dass sie ihre Kompetenz nicht mehr ausüben wird (Art. 2 Abs. 2 S. 2, ­ U-USA 3 AEUV).52 Eine Ausübung ihrer Kompetenzen ist durch das AuslAbk E auch nur in Form eines Rahmenabkommens geschaffen worden, das weitergehenden bilateralen Regelungen nicht entgegensteht, da ihm eine ergänzende Wirkung zu den bilateralen Auslieferungsverträgen der Mitgliedstaaten zukommt: Gem. Art. 18 AuslAbk EU-USA sind weitere bilaterale Verträge zwischen den Mitgliedstaaten und den USA möglich, solange sie mit dem AuslAbk EU-USA im Einklang stehen. Ein bilateral geregelter europäischer Grundrechtsvorbehalt würde auch im Einklang mit dem AuslAbk EU-USA stehen, da es diesem nicht fremd ist, Individualrechte zu schützen.53 Dann müsste die Installation eines solchen Ablehnungsgrundes durch die einzelnen Nationalstaaten aber auch zu einer ausreichenden Verwirklichung des Ziels eines einheitlichen Unionsgrundrechtsschutzes im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten führen. Es wäre jedoch nicht zweckmäßig, wenn jeder einzelne Mitgliedstaat einen europäischen Grundrechtsvorbehalt in seine bilateralen Verträge mit den USA einfügen würde. Immerhin können die USA nicht dazu verpflichtet werden, ihre Auslieferungsverträge mit den Mitgliedstaaten abzuändern. Ganz 49

S. Kapitel 1 Fn. 40. So in Bezug auf fehlende Umsetzungsspielräume bei Richtlinien der Union: Teetzmann, EuR 2016, 90, 98. 51 S. hierzu Kapitel 1 A. I. 1. 52 S. hierzu statt vieler Callies, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 4 AEUV Rn. 1 (Callies spricht insofern von einem „mitgliedstaatlichen Kompetenzverlust in Form einer Sperrwirkung“), Art. 2 AEUV Rn. 11; Hummer, in: Vedder / ​Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 216 AEUV Rn. 16. 53 Vgl. Kapitel 1 B. 50

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

im Gegenteil: Es liegt überhaupt nicht im Interesse der USA, einen europäischen Grundrechtsvorbehalt in den einzelnen bilateralen Auslieferungsverträgen nachträglich zu akzeptieren, da ein solcher die völkerrechtlichen Auslieferungsverpflichtungen der Mitgliedstaaten einschränken würde. Vielmehr stehen solche Klauseln dem Interesse der USA an einer möglichst umfangreichen Auslieferungspraxis entgegen. Der politische Druck, der von der EU als solcher in Vertragsverhandlungen über eine entsprechende Änderung des AuslAbk EU-USA ausgeübt werden kann, ist wesentlich höher als der einzelner Mitgliestaaten. Damit ist es auch viel erfolgsversprechender, einen europäischen Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten aufzunehmen, wenn die EU als solche dem Drittstaat gegenübertritt und Vertragsverhandlungen aufnimmt. Ein entsprechendes Bewusstsein der Zweckmäßigkeit eines einheitlichen Auftretens der EU in Vertragsverhandlungen mit Drittstaaten zeigt sich auch in der Aufnahme von Art. 21 AuslAbk EU-USA in das völkerrechtliche Auslieferungsabkommen mit den USA durch die EU. Art. 21 AuslAbk EU-USA statuiert, dass die Weiterentwicklung der Union (und somit auch unzweifelhaft ein unionaler Grundrechtsmindestschutz) Auswirkungen auf das AuslAbk EU-USA haben kann und das Abkommen daher regelmäßig zu überprüfen ist. Die USA haben damit bereits gegenüber der EU eingeräumt, dass weitere Modifizierungen des Abkommens aus gewichtigen unionalen Gründen möglich sind. Darüber hinaus wäre eine Lösung über bilaterale Klauseln zwischen den USA und den einzelnen Mitgliedstaaten auch nicht schneller möglich und daher auch insofern nicht effektiv: Die bilateralen völkerrechtlichen Vertragsregelungen müssten in jedem einzelnen Mitgliedstaat national umgesetzt werden und daher ein langwieriges innerstaatliches Verfahren durchlaufen.54 In Bezug auf völkerrechtliche Abkommen der EU normiert Art. 216 Abs. 2 AEUV hingegen, dass die von der EU abgeschlossenen Übereinkünfte die Organe der Union und die Mitgliedstaaten binden. Auch wenn die Mitgliedstaaten völkerrechtlich nicht in den Vertrag einbezogen werden,55 werden die Vertragspflichten, die die EU eingegangen ist, integraler Bestandteil des Unionsrechts56 und erstrecken sich unionsintern auf die Mitgliedstaaten, ohne dass es hierfür eines Umsetzungsaktes bedarf.57 Insofern müsste eine neue Norm nach ihrem völkervertraglichen Abschluss durch die EU nicht erst national umgesetzt werden, um die über die Auslieferung entscheidenden Behörden zu binden. Eine solche Lösung ist dementsprechend schneller um-

54

Vgl. Kapitel 1 A. I. 2. Dies gilt vorbehaltlich der Ausnahme sog. gemischter Verträge, vgl. Terhechte, in: Becker / ​ Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 216 AEUV Rn. 10, 21; Vöneky / ​BeylageHaarmann, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 216 AEUV Rn. 48, 52. 56 Vgl. hierzu Terhechte, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 216 AEUV Rn. 17 ff., 21. 57 Terhechte, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art.  216 AEUV Rn. 22; Vöneky / ​Beylage-Haarmann, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 216 AEUV Rn. 48. 55

A. Gesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines Grundrechtsvorbehalts 

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setzbar und daher effektiver als die Installation eines Vorbehalts in den bilateralen Auslieferungsverträgen. Zudem ist es zur Verwirklichung des Ziels, einen einheitlichen unionalen Mindestgrundrechtsschutz im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten zu behaupten, effizienter, einheitliche unionale Standards zu setzen, die in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen verbindlich sind. Dies lässt sich jedoch nur durch eine legislative Regelung der Union selbst verwirklichen und nicht dadurch, dass die einzelnen Mitgliedstaaten eine allgemeine Grundrechtsklausel in ihren bilateren Auslieferungsverträgen einfügen. Darüber hinaus liegt es insbesondere im genuinen Eigeninteresse der Union, den unionalen Mindestgrundrechtsschutz auch gegenüber Drittstaaten zu behaupten (vgl. Art. 3 Abs. 5 EUV). Es ist die primäre Aufgabe der EU, ihre eigenen Werte und Interessen, auf denen sie aufgebaut ist, und somit auch die unionalen Mindestgrundrechtsgewährleistungen, zu schützen. Die GrCh hat ihren Ursprung auf unionaler Ebene. Insofern sollte ein einheitlicher Unionsgrundrechtsschutz nicht von den einzelnen mitgliedstaatlichen Gesetzgebern abhängen, sondern sinnvollerweise dem Unionsgesetzgeber obliegen. Im Hinblick auf ihre Eigeninteressen – und damit auch in Bezug auf den nicht einschränkbaren unionsgrundrechtlichen Mindeststandard, der Kern europäischer Integration ist – hat die Union gegenüber den einzelnen Mitgliedstaaten vorrangig zu handeln.58 Die Einführung von einheitlichen unionalen Mindestgrundrechtsstandards im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten (inklusive möglicher Zurechnungsausschlüsse durch die Vereinbarung völkerrechtlicher Zusicherungen) ist demnach eine Aufgabe der Union selbst.59 3. Verhältnismäßigkeit, Art. 5 Abs. 4 EUV Gem. Art. 5 Abs. 4 EUV haben alle Maßnahmen der Union den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren.60 Dies gilt dementsprechend auch für gesetzgeberische Maßnahmen der EU in Bezug auf einen Unionsgrundrechtsmindeststandard im völkerrechtlichen Vertragsverhältnis mit Drittstaaten.

58

Ähnlich für den Schutz von EU-Finanzinteressen Weißer, in: FS Rengier, S. 481, 485; ähnlich für den Schutz von EU-Institutionen Safferling, GLJ 10 (2009), 1383, 1395. 59 Meyer, ZStW 128 (2016), 1089, 1125 bezeichnet dies allgemein für die Formen der Zusammenarbeit innerhalb der EU als Residualverantwortung. Dies muss jedoch ebenso im Außenverhältnis Geltung beanspruchen. 60 Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36; zum Anwendungsbereich des kompetenzbezogenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes s. nur Trstenjak / ​Beysen, EuR 2012, 265, 267 ff.

262

Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

a) Das Verfolgen eines legitimen Ziels Die Normierung eines europäischen Grundrechtsvorbehalts dient einerseits der Vereinheitlichung europäischer Mindestgrundrechtsstandards im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten. Dies sichert rechtsstaatliche Grundsätze gem. Art. 2 EUV ab, die die Union gem. Art. 3 Abs. 5 EUV auch in ihren Außenbeziehungen zu schützen und zu fördern hat und von denen sie sich gem. Art. 21 EUV im Rahmen ihres auswärtigen Handelns leiten lässt. Insofern dient die Installation eines europäischen Grundrechtsvorbehalts in Auslieferungsübereinkünften mit Drittstaaten einem legitimen Ziel. Darüber hinaus bewirkt eine solche Vorbehaltsklausel, dass nationale Justizbehörden bei der Gefahr des Unterschreitens unionaler Mindestgrundrechtsstandards Auslieferungsentscheidungen nicht nur unionsrechtskonform, sondern auch völkerrechtskonform treffen können, indem ein Gleichlauf zwischen völkerrechtlicher und innerstaatlicher Auslieferungspflicht hergestellt wird. Gem. Art. 21 UAbs. 1 EUV ist ein solcher Gleichlauf ein erklärtes Unionsziel.61 Insofern stellt auch dies ein legitimes Ziel dar. b) Die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer europäischen Grundrechtsklausel Die Regelung eines völkervertraglichen Grundrechtsvorbehalts seitens der EU mit den USA müsste auch geeignet und erforderlich sein, das hiermit verfolgte Ziel zu erreichen.62 Geeignet ist sie dann, wenn die gesetzgeberische Maßnahme dem Anliegen gerecht wird, das legitime Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen.63 Die Schaffung eines völkervertraglichen europäischen Grundrechtsvorbehalts bewirkt, dass eine Pflichtenkollision zwischen der Verpflichtung zur Wahrung von Unionsgrundrechten und der völkerrechtlichen Auslieferungspflicht beseitigt wird. Darüber hinaus schafft sie einen unionsweit einheitlichen euro­ päischen Grundrechtsschutz bei Überstellungen durch einen Mitgliedstaat der EU an einen Drittstaat. Eine europäische Grundrechtsschutzklausel müsste auch erforderlich sein, d. h. das mildeste unter mehreren gleich geeigneten Mittel darstellen, um das legitime

61

Vgl. hierzu bereits Kapitel 2 D. II. 3. d) bb) (3) (b). Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36, 39; Trstenjak / ​Beysen, EuR 2012, 265, 269 ff.; zur uneinheitlichen Terminologie im Unionsrecht s. Calliess, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​ AEUV, Art. 5 EUV Rn. 44. 63 So die st. Rspr. des EuGH, s. nur EuGH, Urteil vom 21. 12. 2011 – C-28/09 = ZUR 2012, 291, 296 Rn. 126 m. w. N.; zur Geeignetheit s. Trstenjak / ​Beysen, EuR 2012, 265, 271. 62

A. Gesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines Grundrechtsvorbehalts 

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Ziel zu erreichen.64 Der Verzicht auf eine Vorbehaltsklausel und damit eine Beibehaltung der aktuellen Rechtslage führt dazu, dass die innerstaatliche und die völkerrechtliche Pflichtenlage im Einzelfall gegebenenfalls auseinanderfallen können, wenn ein Verstoß gegen unionale Grundrechte oder auch völkerrechtliche Menschenrechte droht – im letzten Fall kann es zumindest zu Spannungen zwischen den Staaten führen, wenn keine Feststellungskompetenz des ersuchten Staates besteht.65 Damit liegt es nach der derzeitigen völkerrechtlichen Pflichtenlage aufgrund der fehlenden völkervertraglichen Zuweisung einer Feststellungskompetenz und der fehlenden Normierung eines europäischen Grundrechtsvorbehalts letzten Endes in der Verantwortung der Hoheitsträger des ersuchten Staates, die Auslieferung abzulehnen und dabei unter Umständen Spannungen zu dem ersuchenden Staat hinzunehmen und der Ungewissheit ausgesetzt zu sein, ob eine völkervertragliche Auslieferungspflicht tatsächlich bestand oder nicht.66 Hinzu kommt, dass der unionale Grundrechtsschutz durch die Schaffung der GrCh geregelt worden ist und im Anwendungsbereich des Unionsrechts einen einheitlichen Grundrechtsraum schaffen soll.67 Die Verwirklichung eines einheitlichen Grundrechtsraums erfordert es jedoch, dass jede in den Anwendungsbereich der GrCh fallende Entscheidung mitgliedstaatlicher Justizbehörden – und damit auch jede Auslieferungsentscheidung in Bezug auf einen ersuchenden Drittstaat, mit dem die EU selber ein Auslieferungsabkommen abgeschlossen hat – auch tatsächlich unionsgrundrechtskonform getroffen werden kann, ohne gleichzeitig gegen Völkerrecht zu verstoßen. Insofern ist die Installation einer Grundrechtsklausel das einzige und auch das mildeste Mittel, um eine Pflichtenkollision zwischen der völkerrechtlichen und der innerstaatlichen Pflichtenlage völkerrechtlich aufzulösen. Damit steht jedoch noch nicht fest, wie eine entsprechende Klausel ausgestaltet sein könnte. Als milderes Mittel zur Erreichung der verfolgten Ziele käme in Betracht, auf eine allgemeine Vorbehaltsklausel zu verzichten und stattdessen Vorbehaltsklauseln bezüglich bestimmter Grundrechte zu installieren  – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Normen der GrCh. So könnte beispielsweise daran gedacht 64

Vgl. EuGH, Urteil vom 30. 6. 2016 – C-134/15 = LMuR 2016, 240, 242 Rn. 33; EuGH, Urteil vom 21. 7. 2011 – C-150/10 = BeckRS 2011, 81147 Rn. 75; EuGH, Urteil vom 8. 7. 2010 – C-343/09 = ZUR 2010, 592 Rn. 45; EuGH, Urteil vom 13. 11. 1990 – 331/88 = Slg. 1990, I-04023 Rn. 13; EuGH, Urteil vom 11. 7. 1989 – 265/87 = BeckRS 2004, 72769; zur Erforderlichkeit s. Trstenjak / ​Beysen, EuR 2012, 265, 271. 65 Zur fehlenden völkerrechtlichen Feststellungskompetenz s. Kapitel 2 B. II. 2. a) bb). 66 Vor diesem Hintergrund ist es umso erfreulicher, dass das OLG Frankfurt a. M. in seinem Beschluss v. 19. 5. 2020 – 2 AuslA 3/20 = StV 40 (2020), 620 ff. im Ergebnis richtigerweise die Auslieferung einer Italienerin an die USA abgelehnt hat, und zwar unter Berufung auf den europarechtlichen ne bis in-idem-Grundsatz und damit auf europarechtliche Verpflichtungen. Bei Normierung eines europäischen Grundrechtsvorbehalts hätte das OLG in diesem Beschluss nicht entgegen des eindeutigen Wortlauts des Art. 8 AuslV D-USA einen Ablehnungsgrund annehmen müssen, um den unionsrechtlichen Grundrechtsverpflichtungen nachzukommen, s. hierzu und zu der Entscheidung des OLG Kapitel 2 A. II. 3. 67 Vgl. Kapitel 2 Fn. 278.

264

Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

werden, im AuslAbk EU-USA einen ausdrücklichen Ablehnungsgrund für den Fall zu normieren, dass im ersuchenden Staat das ernsthafte Risiko der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung droht (vgl. Art. 19 Abs. 2 GrCh). Dies würde sowohl zu einheitlichen Unionsgrundrechtsstandards im Auslieferungsverkehr eines Mitgliedstaates mit einem Drittstaat führen als auch einen Gleichlauf zwischen völkerrechtlicher und innerstaatlicher Pflichtenlage bewirken. Allerdings basiert ein europäischer Grundrechtsvorbehalt auf unverzichtbaren Wertvorstellungen des Unionsrechts (insbesondere durch die Festlegung, was zu den unantastbaren Wesensbestandteilen unionaler Grundrechte gehört). Solche Wertungen können sich im Laufe der Zeit ändern bzw. es ist derzeit sogar noch in der Entwicklung, was überhaupt zu den unionalen Mindestgrundrechtstandards gehört.68 Ein insoweit offen formulierter Vorbehalt ist daher sinnvoller als die Regelung einzelner Anwendungsbereiche eines Grundrechtsvorbehalts. Die in den völkerrechtlichen Auslieferungsverträgen geregelten Ablehnungsgründe mögen zwar einen Teil der Anwendungsfälle eines Grundrechtsvorbehalts abdecken, sie umfassen aber nicht alle Anwendungsfälle. Eine solche Antizipation aller möglichen grundrechtsrelevanten Fallkonstellationen ist praktisch wohl auch gar nicht möglich. Daher bedarf es eines solchen offenen Konzepts eines allgemeinen Grundrechtsvorbehalts: Eine allgemeine europäische Grundrechtsklausel ist das mildeste unter gleich geeigneten Mitteln, um auf unvorhergesehene Fälle unionsgrundrechtlicher Gefahren reagieren zu können und daher erforderlich. Eine völkervertragliche Regelung eines allgemeinen europäischen Grundrechtsvorbehalts ist daher zwingend erforderlich, um eine im Einzelfall bestehende Pflichtenkollision zwischen einer völkervertraglich begründeten Auslieferungspflicht und den Grundrechtsbindungen aufzuheben und den unionalen Mindestgrundrechtsschutz auch im Außenverhältnis abzusichern. Im Übrigen hat sich gezeigt, dass eine solche europäische Lösung zur Vereinheitlichung des Auslieferungsverkehrs der Mitgliedstaaten mit Drittstaaten notwendig ist: Denn wenn im Übergabeverfahren innerhalb der EU bei einem gleichzeitig vorliegenden Auslieferungsersuchen eines Drittstaates der Mitgliedstaat keinen Antrag auf Übergabe des Betroffenen stellt, ist der Verfolgte an den Drittstaat auszuliefern – in diesem Fall kann nicht ein anderer Grund- und Menschenrechtsstandard gelten. Eine Lösung über eine unionsgrundrechtliche Mindestgrundrechtsschutzklausel ist auch insofern ein milderes Mittel, als dass die Notwendigkeit einer separaten Regelung einer Menschenrechtsvorbehaltsklausel zum Schutz der Gewährleistungen der EMRK entfällt, da der unionsrechtliche Mindeststandard ohnehin nicht unter den der EMRK zurückfallen darf (Art. 52 Abs. 3 GrCh) und daher sowieso inzident Berücksichtigung findet. Auch wenn eine Ausgestaltung grundrechtlicher Ablehnungsgründe im bila­ teralen Vertragsverhältnis mit den USA nicht gleich effektiv ist,69 drängt sich den 68 69

Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2). Vgl. Kapitel 3 A. II. 2.

A. Gesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines Grundrechtsvorbehalts 

265

noch die Frage auf, ob zumindest die Übertragung der Feststellungskompetenz eines Unterschreitens der Mindestgrundrechtsgarantien auf US-amerikanische Behörden ein milderes und gleich geeignetes Mittel wäre. Dann läge die völkerrechtlich verbindliche Kompetenz über die Entscheidung, ob ein Ablehnungsgrund die Auslieferungspflicht beseitigt (sog. Qualifikationskompetenz),70 bei den USA. Eine Zuweisung der Entscheidungsbefugnis sowohl bezüglich des Unterschreitens unionaler Mindestgrundrechtsstandards als auch bezüglich der Voraussetzungen einer zulässigen Zusicherung an die Justizbehörden des ersuchten Staates ist jedoch zwingend erforderlich, um einen unionalen Mindestgrundrechtsschutz abzusichern. Denn Drittstaaten sind nicht an die Grundrechte der GrCh gebunden, sodass ihnen dementsprechend auch keine Kompetenz bezüglich der Entscheidung zukommen kann, ob eine reale Gefahr des Unterschreitens des Mindeststandards besteht. Eine Übertragung der Feststellungskompetenz auf US-amerikanische Hoheitsträger wäre daher ungeeignet, um das Ziel zu erreichen. Die Aufnahme eines Grundrechtsvorbehalts in völkerrechtliche Auslieferungsabkommen der EU mit Drittstaaten ist daher zur Sicherung eines unionalen Mindestgrundrechtsschutzes im Auslieferungsverkehr mit dem jeweiligen Drittstaat erforderlich. c) Die Angemessenheit Eine europäische Grundrechtsklausel müsste auch angemessen sein, um das angestrebte Ziel zu erreichen.71 Hierbei müssen insbesondere die Nachteile berücksichtigt werden, die eine solche Lösung für die Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten mit sich bringt: Ein europäischer Grundrechtsvorbehalt durch die Union selbst ist dann nicht mehr angemessen, wenn der damit verfolgte Zweck die mit einer solchen Regelung verbundenen Nachteile (wie beispielsweise die Souveränitätseinbuße der Nationalstaaten zu Gunsten der EU) nicht mehr aufwiegen würde.72 Hier ist zugunsten einer unionalen Aufnahme eines europäischen Grundrechtsvorbehalts zu berücksichtigen, dass es um elementare Eigeninteressen der Union selbst geht: Die Etablierung eines unionalen Mindestgrundrechtsschutzes ist eine elementare Voraussetzung zur Verwirklichung einer rechtsstaatlichen Union i. S. d. Art. 2 EUV. Gleichwohl müssen die hiermit verbundenen Nachteile für die nationale Souveränität bedacht werden: Durch die Schaffung eines europäischen Grundrechtsvorbehalts durch die Union selbst wird die Souveränität der Mitgliedstaaten 70

S. hierzu Kapitel 2 Fn. 143. S. nur EuGH, Urteil vom 30. 6. 2016 – C-134/15 = LMuR 2016, 240, 242 Rn. 33; EuGH, Urteil vom 21. 7. 2011 – C-150/10 = BeckRS 2011, 81147 Rn. 75. 72 Es handelt sich hierbei um eine Art Proportionalität, s. hierzu Lienbacher, in: Becker / ​ Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 5 EUV Rn. 38; Trstenjak / ​Beysen, EuR 2012, 265, 272. 71

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

zu Gunsten einer europäischen Souveränität aufgegeben bzw. ihre Durchsetzung auf die Union übertragen. Vorbehaltsklauseln in völkerrechtlichen Verträgen sollen jedoch gerade die Souveränität der Vertragsparteien wahren. Verzichten Vertragsparteien auf Vorbehaltsklauseln, geben sie ein Stück weit ihre Souvänität auf bzw. sie teilen diese dann insoweit mit der anderen Vertragspartei. Insofern widerspricht das Instrument des völkerrechtlichen Vertrags innerhalb der EU den Zielen der EU, weshalb eine Rechtsangleichung innerhalb der Union seit dem Vertrag von Lissabon nicht mehr durch völkerrechtliche Übereinkommen erfolgt.73 Im Verhältnis zu Drittstaaten kommt den Vorbehalten in völkerrechtlichen Verträgen hingegen eine besondere Bedeutung zu: Hier kristallisiert sich das Bedürfnis des Schutzes der europäischen Souveränität gegenüber Drittstaaten heraus. Übernimmt die Union im Außenverhältnis zu Drittstaaten den Grundrechtsschutz durch die Installation einer europäischen Grundrechtsklausel, wird hierdurch zwar automatisch die nationale Souveränität beschnitten. Gleichwohl muss die Union bei Abschluss eines Auslieferungsabkommens mit einem Drittstaat die damit ohnehin einhergehenden europäischen Souveränitätseinbußen gegenüber dem Drittstaat auch durch einen hinreichenden Grundrechtsvorbehalt absichern, um ihre genuine europäische Souveränität zu schützen. Die EU bedarf nach außen europäischer Vorbehalte, um ihre Souveränität im Verhältnis zu Drittstaaten zu schützen. Solche Vorbehalte beeinträchtigen die nationale Souveränität auch nicht in unzulässiger Weise: Der Druck auf Drittstaaten ist viel größer, wenn die Union als solche im Rahmen ihrer Außenkompetenzen tätig wird. Ein mitgliedstaatlich normierter Ablehnungsgrund wäre nicht gleichermaßen effektiv. Eine nationale Souveränitätseinbuße zu Gunsten einer europäischen Souveränität führt damit im Außenverhältnis der EU zum Wachstum der „europäischen Stärke“ gegenüber Drittstaaten – insbesondere in Bezug auf die Verhandlungsposition – und ist daher nicht unverhältnismäßig.74 Vielmehr erwächst die europäische Souveränität gerade aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und führt so nicht nur zu einer Stärkung Europas, sondern automatisch auch zu einer Stärkung der Nationalstaaten.75 73

Dementsprechend hat die EU die völkerrechtlichen Verträge als rechtliche Handlungsmöglichkeit auch im Bereich des Strafrechts durch Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen und Verordnungen ersetzt (Art. 288 Abs. 2 AEUV). S. hierzu und zu den vor dem Vertrag von Lissabon bestehenden Handlungsmöglichkeiten der Union vgl. bereits Kapitel 2 Fn. 340. 74 Kaiafa-Gbandi, KritV 87 (2004), 3, 4 ff. 75 S. die Rede von Juncker zur Lage der Union 2018, S. 5 f., abrufbar unter: https://ec.europa. eu/commission/sites/beta-political/files/soteu2018-speech_en_0.pdf (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020): „The geopolitical situation makes this Europe’s hour: the time for European sovereignty has come. It is time Europe took its destiny into its own hands. It is time Europe developed what I coined „Weltpolitikfähigkeit“ – the capacity to play a role, as a Union, in shaping global affairs. Europe has to become a more sovereign actor in international relations. European sovereignty is born of Member States’ national sovereignty and does not replace it. Sharing sovereignty – when and where needed – makes each of our nation states stronger. This belief that „united we stand taller“ is the very essence of what it means to be part of the European Union.“

A. Gesetzgeberische Pflicht zur Ausgestaltung eines Grundrechtsvorbehalts 

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Auch die Nachteile, die für die US-amerikanischen Interessen dadurch entstehen, dass im Falle der Geltendmachung des Grundrechtsvorbehalts keine Auslieferung stattfinden wird, werden durch die Normierung eines Ablehnungsgrundes hinreichend berücksichtigt. Dies gilt zumindest so lange, wie der Ablehnungsgrund ausschließlich dann besteht, wenn eine tatsächliche Gefahr einer nicht zu rechtfertigenden Grundrechtsgefährdung im Raum steht und eine Grundrechtsverletzung daher mitgliedstaatlichen Justizbehörden zuzurechnen wäre. Für den Fall, dass durch eine völkerrechtliche Zusicherung der US-amerikanischen Behörden eine Grundrechtsgefahr und auch eine Zurechnung an die mitgliedstaatlichen Behörden ausgeschlossen werden kann, wird dem Strafverfolgungs- bzw. Strafvollstreckungsinteresse US-amerikanischer Justizbehörden weitestgehend Rechnung getragen, indem ihnen selbst die Wahl gelassen wird, eine entsprechende Zusicherung abzugeben. Insofern ermöglicht eine Grundrechtsklausel einen schonenenden Ausgleich zwischen allen im Auslieferungsverkehr tangierten Interessen. Demzufolge ist festzuhalten, dass die Schaffung eines europäischen Grundrechts­ vorbehalts durch den unionalen Gesetzgeber im völkerrechtlichen Auslieferungsvertrag mit den USA verhältnismäßig ist. Dies gilt zudem für alle künftigen Auslieferungsabkommen, die die Union als solche mit Drittstaaten abschließt. Es bestehen keine überzeugenden Einwände gegen die Normierung eines europäischen Grundrechtsvorbehalts im Auslieferungsabkommen der EU mit einem Drittstaat.

III. Vorschlag eines europäischen Grundrechtsvorbehalts im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten Dem Unionsgesetzgeber kommt nicht nur die Kompetenz zu, in völkerrecht­ lichen Auslieferungsverträgen mit Drittstaaten eine europäische Grundrechtsklausel zu installieren, sodass den nationalen Justizbehörden eine primärrechtskonforme Auslieferungsentscheidung ermöglicht wird. Er ist auch in der Pflicht, eine entsprechende Klausel in neuen Auslieferungsabkommen zu normieren und zudem das bereits bestehende AuslAbk EU-USA durch die Ergänzung einer entsprechenden Klausel zu modifizieren. Demgemäß wird folgende Vorbehaltsklausel zur Ergänzung des AuslAbk EUUSA und zur Aufnahme in künftige Auslieferungsübereinkommen der EU mit einem Drittstaat vorgeschlagen: Die Auslieferung wird abgelehnt, wenn die Hoheitsträger des ersuchten Mitgliedstaates infolge berechtigter Gründe zu der Annahme gelangen, dass die Vollstreckung der Auslieferung mit den Verpflichtungen des Mitgliedstaates aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unvereinbar wäre. In Ausnahmefällen kann die Auslieferung gewährt werden, wenn der ersuchende Staat eine Zusicherung abgibt, auf deren Grundlage die Hoheitsträger des ersuchten

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

Mitgliedstaates zu der Beurteilung gelangen, dass die Behandlung des Auszuliefernden den unabdingbaren Anforderungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union genügen wird.

B. Prozessuale Ausgestaltung im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten  I. Durchsetzung eines Grundrechtsvorbehalts vor dem Hintergrund des innerstaatlichen Auslieferungsverfahrens Die Normierung eines völkervertraglichen Vorbehalts für den Fall der realen Gefahr einer nicht zu rechtfertigenden unionalen Grundrechtsverletzung dient nur dann dem Individualrechtsschutz des Betroffenen, wenn dieser den Vorbehalt innerstaatlich im Auslieferungsverfahren auch geltend machen und durchsetzen kann. Wenn die EU selbst die vorgeschlagene Vorbehaltsklausel in das Vertragswerk mit den USA aufnimmt bzw. wenn sie ein neues Auslieferungsabkommen mit einem Drittstaat unter Einfügung einer solchen Vorbehaltsklausel abschließt, so erfordert dies zur innerstaatlichen Wirksamkeit seit der Zeit nach dem Vertrag von Lissabon keinen innerstaatlichen Umsetzungsakt mehr.76 Vielmehr gilt ein solcher Vorbehalt dann unmittelbar in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen für die innerstaatlich über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörden. Dies kann rechtsstaatlichen Grundsätzen jedoch nur dann hinreichend Rechnung tragen, wenn die Individualrechte auch mit Hilfe eines Rechtsbehelfs gerichtlich durchgesetzt werden können. Dementsprechend ist es unerlässlich, darzulegen, wer über Auslieferungsersuchen von Drittstaaten und damit auch über die Frage befindet, ob im konkreten Fall eine Grundrechtsverletzung droht und die Auslieferung daher abzulehnen ist und inwiefern dem Auszuliefernden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Auslieferungsentscheidungen zustehen. 1. Gegenstand des Zulässigkeits- und Bewilligungsverfahrens Gem. Art. 27 AuslV D-USA findet auf das Auslieferungsverfahren in Bezug auf Auslieferungen von deutschen Hoheitsträgern an US-amerikanische Hoheitsträger das Recht des ersuchten Staates Anwendung.77 Der bilaterale Auslieferungsvertrag zwischen Deutschland und den USA regelt daher, wer innerstaatlich über Auslieferungsersuchen entscheidet und ist auch neben dem AuslAbk EU-USA anwend 76 Terhechte, in: Becker / ​Hatje / ​Schoo / ​Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art.  216 AEUV Rn. 17 ff., 21 f. 77 S. hierzu Kapitel 1 B. II. 2. b).

B. Prozessuale Ausgestaltung im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten   

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bar.78 Innerstaatliche Vorgaben zum Auslieferungsverfahren mit den USA finden sich deshalb vor allem in den §§ 10 ff. IRG.79 Auch bei dem Fehlen einer entsprechenden völkerrechtlichen Regelung richtet sich das Auslieferungsverfahren nach dem innerstaatlichen Recht, da es eine nationale Angelegenheit darstellt.80 Insofern sind die §§ 10 ff. IRG generell für das innerstaatliche Auslieferungsverfahren bei Auslieferungen an Drittstaaten anwendbar. Für das Verständnis des Auslieferungsverfahrens ist es elementar, zwischen dem justiziellen Zulässigkeits- und dem exekutivischen Bewilligungsverfahren zu differenzieren. Das Auslieferungsverfahren mit Drittstaaten81 erfolgt in Deutschland zweistufig. Auf der ersten Stufe findet nach Übermittlung des Ersuchens seitens des ersuchenden Drittstaates auf dem diplomatischen Geschäftsweg das gerichtliche Zulässigkeitsverfahren vor dem zuständigen OLG statt. Das Auslieferungsverfahren wird nach dem Eingang eines Auslieferungsersuchens dadurch eingeleitet, dass die Staatsanwaltschaft bei dem OLG die Vernehmung des Verfolgten bei dem Amtsgericht beantragt, in dessen Bezirk sich der Betroffene befindet (§ 28 IRG). Parallel kann ein Auslieferungshaftverfahren eingeleitet und gegebenenfalls Auslieferungshaft i. S. d. §§ 15 ff. IRG gegen den Betroffenen angeordnet werden.82 Sobald die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Entscheidung der Zulässigkeit der Auslieferung i. S. d. § 29 IRG gestellt hat, prüft dasjenige OLG83, in dessen Bezirk 78

Zum Verhältnis der bilateralen Auslieferungsverträge Deutschlands mit den USA zum AuslAbk EU-USA vgl. Kapitel 1 A. I. 1. 79 Vorrangige vertragliche Regelungen (Art. 1 Abs. 3 IRG) existieren nicht, vielmehr bestimmt der bilaterale Auslieferungsvertrag D-USA gerade, dass sich die Verfahrensregeln nach dem innerstaatlichen Recht richten; s. a. Hecker, Europäisches Strafrecht, § 2 Rn. 77; Schaefer, NJW-Spezial 2008, 536. 80 S. Kapitel 1 Fn. 134. 81 Das Übergabeverfahren auf der Grundlage des EuHb erfolgt in Deutschland mittlerweile hingegen dreistufig, indem dem Zulässigkeitsverfahren eine Vorabentscheidung der Bewilligungsbehörde bezüglich der Geltendmachung von Auslieferungshindernissen i. S. d. § 83b IRG vorgelagert ist (§ 79 Abs. 2 S. 1 IRG), s. hierzu eingehend Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, S. 181 ff. 82 S. hierzu Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 71 ff.; Leipold / ​L ochmann, ZRP 2018, 43, 44. Die Auslieferungshaft setzt zunächst das bestehen eines Haftgrundes nach § 15 Abs. 1 IRG voraus. Darüber hinaus darf die Auslieferung nach § 15 Abs. 2 IRG nicht von vornherein unzulässig erscheinen; s. hierzu insbes. OLG Karlsruhe, 17. 2. 2020 – Ausl 301 AR 156/19 = BeckRS 2020, 1720. 83 Gem. Art. 83 GG haben grds. die Länder die sog. Ausführungskompetenz für Bundesgesetze. Der Bund hat die Sachgesetzgebungskompetenz für Auslieferungsangelegenheiten inne (s. hierzu eingehend Grotz, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 74 Rn. 5 ff.; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 80), sodass die Vollzugskompetenz eingehender Ersuchen bei den Ländern liegt (s. hierzu Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 81; zum Einfluss des Theoriensteits um das Wesen der Auslieferung auf die Kompetenz s. Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, S. 57 ff.). Dementsprechend entscheiden die Gerichte der Länder über das Zulässig-

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

sich der Auszuliefernde befindet (§§ 13 Abs. 1, 14 Abs. 1 IRG), die rechtliche Zulässigkeit der Auslieferung. Nach einer mündlichen Verhandlung i. S. d. § 31 IRG entscheidet das OLG durch Beschluss endgültig über die Zulässigkeit der Auslieferung (§ 32 IRG). Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung hat das OLG insbesondere die erforderlichen Voraussetzungen und etwaige Hindernisse der Auslieferung zu prüfen.84 Hierzu zählen nicht nur die bisher völkervertraglich geregelten positiven und negativen Voraussetzungen der Auslieferung,85 sondern bei Modifizierung des AuslAbk EU-USA durch die EU und die USA durch den vorgeschlagenen Grundrechtsvorbehalt auch die Prüfung, ob der Betroffene durch eine positive Zulässigkeitsentscheidung der realen Gefahr einer an der GrCh zu messenden und nicht zu rechtfertigenden Grundrechtsverletzung im ersuchenden Staat ausgesetzt sein wird. Im Zulässigkeitsverfahren wird demnach ausschließlich geprüft, ob nach dem innerstaatlichen Recht der Betroffene auszuliefern wäre. Die Prüfung einer völkerrechtlichen Auslieferungspflicht gegenüber dem ersuchenden Staat obliegt dagegen der Bewilligungsbehörde.86 Das OLG prüft im Zulässigkeitsverfahren daher das Vorliegen aller materiellrechtlichen Voraussetzungen der Auslieferung. Es hat insbesondere auch zu prüfen, ob Zusicherungen des ersuchenden Staates vorliegen, die die Gefahr einer drohenden Grundrechtsverletzung beseitigen, da dann mangels Zurechen­barkeit einer Grundrechtsverletzung kein Ablehnungsgrund mehr besteht.87 Es kann in diesem Stadium des Auslieferungsverfahrens nicht darauf vertrauen, dass die Bewilligungsbehörde die Einhaltung des nicht (weiter) einschränkbaren Mindestgrundrechtsstandards durch Zusicherungen sicherstellen wird, da gegen die Entscheidung der Bewilligungsbehörde keine Verteidigungsmöglichkeiten existieren.88 Insbesondere kommt dem OLG im gesamten Zulässigkeitsverfahren von Amts wegen die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dergestalt zu, dass es zumindest bestehenden Hinweisen nachgehen muss.89 keitsverfahren (s. Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 81). 84 Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht, § 24 Rn. 51; Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 67; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 2 Rn. 78; Pieronczyk, AnwBl 2019, 362, 363. Teilweise wird hier noch weitergehend danach differenziert, dass geprüft wird, ob eine Leistungsermächtigung gegenüber dem ersuchenden Staat vorliegt, s. Kromrey / ​Morgenstern, ZIS 2017, 106; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 221 Fn. 961. Im Zulässigkeitsverfahren werden dementsprechend die Zuständigkeit des Gerichts, die Positiv- und die Negativvoraussetzungen geprüft, vgl. Kapitel 3 B. I. 1. 85 Vgl. Kapitel 1 A. II. 86 Schierholt, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 12 Rn. 4. 87 Vgl. Kapitel 2 D. III.; vgl. zudem Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 31. 88 Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 23, Fn. 223; BVerfG, StV 2004, 440, 442; s. hierzu Kapitel 3 B. I. 2. 89 Böhm, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 30 Rn. 2, 8 ff.; Graßhof / ​Backhaus, EuGRZ 23 (1996), 445, 446; Riegel, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 30 Rn. 5; s. aus der Rspr. BVerfG, 6. 8. 2018 – 2 BvR 237/18 = FD-StrafR 2018, 408371 m. w. N.

B. Prozessuale Ausgestaltung im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten   

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Erst wenn die rechtliche Zulässigkeit der konkreten Auslieferung im Zulässigkeitsverfahren durch das zuständige OLG festgestellt worden ist, gelangt das Auslieferungsverfahren in die zweite Stufe: das exekutivische Bewilligungsverfahren, dessen einzige Rechtmäßigkeitsvoraussetzung – mit Ausnahme von vereinfachten Verfahren bei Einverständniserklärung des Betroffenen in Bezug auf die Überstellung i. S. d. § 41 IRG90 – die gerichtliche Feststellung der Zulässigkeit ist (§ 12 IRG).91 Im Bewilligungsverfahren entscheidet die Exekutive (in Deutschland das Bundes- bzw. die Landesjustizministerien, § 74 IRG)92 über die Bewilligung der Auslieferung. Sinn und Zweck des Bewilligungsverfahrens ist es, eine endgültige Entscheidung über die Auslieferung zu treffen (§ 12 IRG).93 Im Bewilligungsverfahren werden die rechtlichen Voraussetzungen der Zulässigkeit der Auslieferung erneut durch die Bewilligungsbehörde geprüft. Diese darf sich also nicht auf die rechtliche Prüfung des OLG verlassen.94 Darüber hinaus prüft die Bewilligungsbe 90 Zur vereinfachten Auslieferung aufgrund der Zustimmung des Verfolgten s. Hackner  / ​ Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 86 ff. 91 Ambos, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 19; Pieronczyk, AnwBl 2019, 362, 363; Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Eineitung Rn. 29. 92 Gem. Art 83 GG kommt zwar grds. den Ländern die Ausführungskompetenz für Bundesgesetze zu (s. bereits Kapitel 3 Fn. 83), aus Art. 32 Abs. 1 GG leitet sich jedoch die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Ausführungskompetenz des Bundes für Auslieferungsangelegenheiten als Teil der auswärtigen Beziehungen ab (BVerfG, 18. 7. 2005 – 2 BvR 2236/04 = NJW 2005, 2289), sodass gem. § 74 Abs. 1 IRG grds. das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz über ausländische Rechtshilfeersuchen im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und anderen Bundesministerien, deren Geschäftsbereich von der Rechtshilfe betroffen wird (Aufgabenübertragung an das Bundesamt für Justiz im Bereich der Rechtshilfe in Strafsachen durch Erlass des Bundesministeriums der Justiz v. 2. 1. 2007, II B 6 – BfJ, abgedruckt bei Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Anhang 1) entscheidet. Dennoch ist die Ausübung dieser Entscheidung im vertraglichen Auslieferungsverkehr de facto durch eine Vereinbarung überwiegend auf die Länder übergegangen, § 74 Abs. 2 S. 1 IRG (Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pflaz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen über die Zuständigkeit im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (Zuständigkeitsvereinbarung) v. 28. 4. 2004, BAnz S. 11 494, abgedruckt bei Hackner, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Anhang 2). Die Länder haben die Ausführungskompetenz ihrerseits wiederum weitgehend – teilweise sogar bis zu den Generalstaatsanwaltschaften – auf nachgeordnete Behörden im Wege der Organleihe delegiert, sodass in den Erlassen der jeweiligen Länder nach den für die Bewilligung zuständigen Stellen zu suchen ist. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz entscheidet damit nur noch über die nicht delegierten Aufgaben; hierzu eingehend Grotz, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 74 Rn. 6 ff.; s. a. Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 32; Rackow, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 1. Hauptteil Rn. 139; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 81. 93 Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht, § 24 Rn. 53. 94 Böhm, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 33 Rn. 5; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht, § 24 Rn. 53; Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 68; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 2 Rn. 79;

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

hörde im Gegensatz zum OLG im Zulässigkeitsverfahren, ob im Verhältnis zum ersuchenden Staat eine völkerrechtliche Pflicht zur Auslieferung vorliegt oder ob die Auslieferung aus politischen Erwägungen trotz einer fehlenden völkerrecht­lichen Auslieferungspflicht bei Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen dennoch zu gewähren ist.95 Der Bewilligungsentscheidung liegt ein weites außenpolitisches Grundsatzermessen zugrunde.96 Damit ist festzuhalten, dass das zuständige OLG bei der Zulässigkeitsentscheidung darüber befindet, ob die Bundesregierung die Auslieferung rechtlich betrachtet gewähren kann oder nicht und dabei nur das innerstaatlich verbindliche Recht prüft. Im Bewilligungsverfahren hingegen prüft die Exekutive zwar nochmals das innerstaatlich verbindliche Recht, darüber hinaus prüft sie aber auch die Existenz völkerrechtlicher Auslieferungspflichten und berücksichtigt hierbei außenpolitische Interessen. Wird nach Bejahung der Zulässigkeit über die Bewilligung entschieden, steht es der Bewilligungsbehörde nach der eigenen Prüfung und Bejahung aller Auslieferungsvoraussetzungen frei, die Bewilligung zu erteilen oder sie abzulehnen – es sei denn, es besteht eine völkerrechtliche Pflicht zur Auslieferung.97 2. Rechtsschutzmöglichkeiten gegen positive Auslieferungsentscheidungen unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 47 Abs. 1 GrCh) Dass dem Auszuliefernden Unionsgrundrechte zur Seite stehen, die einen materiellrechtlichen Ablehnungsgrund für die Auslieferung darstellen können und deshalb sowohl von dem über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidenden OLG als auch von der über die Bewilligung entscheidenden Exekutive beachtet werden müssen,98 hilft dem Betroffenen im Auslieferungsverfahren nur dann, wenn er dies gerichtlich auch einfordern kann. Insofern setzt die primärrechtlich gem. Art. 2 EUV garantierte Rechtsstaatlichkeit zwingend voraus, dass dem Betroffenen im Auslieferungsverfahren effektive Rechtsschutzmöglichkeiten zur Seite stehen: insofern von einer „gutachterliche(n) Wirkung“ des Zulässigkeitsbeschlusses für die die Bewilligungsbehörde sprechend: Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 272. 95 Leipold / ​L ochmann, ZRP 2018, 43, 44; Pieronczyk, AnwBl 2019, 362, 363; Schomburg / ​ Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 12 Rn. 4; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn.  272. 96 Ambos, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 19; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht, § 24 Rn. 53; Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 68; Schomburg / ​L agodny / ​Schallmoser, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 13 Rn. 17. 97 Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Einleitung Rn. 33 ff. 98 Entweder in der Form, dass sie in Ermangelung einer völkervertraglichen Klausel die mitgliedstaatlichen Justizbehörden innerstaatlich binden (vgl. Kapitel 2 D.) oder in Form einer völkervertraglichen Klausel (vgl. den Vorschlag unter Kapitel 3 A. III.).

B. Prozessuale Ausgestaltung im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten   

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Art. 47 Abs. 1 GrCh normiert im Anwendungsbereich von Unionsrecht einen unionsrechtlichen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Um prüfen zu können, ob die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten dieser Garantie gerecht werden, sind zunächst derzeit bestehende Rechtsschutzmöglichkeiten zu ermitteln, um sodann feststellen zu können, ob diese im innerstaatlichen Auslieferungsverfahren dem Auszuliefernden auch tatsächlich einen effektiven Rechtsschutz bieten. a) Die Garantie effektiven Rechtsschutzes im Unionsrechtsgefüge: Eine geteilte Verantwortung von EU und Mitgliedstaaten Die Rechtsschutzgarantie ist wesentlicher Bestandteil eines Rechtsstaats99 und daher ein elementarer Wert der Union i. S. d. Art. 2 EUV.100 Hiermit korrespondierend gewährt Art. 47 Abs. 1 GrCh im Anwendungsbereich von Unionsrecht – und damit auch bei Auslieferungsentscheidungen im Verhältnis zu Drittstaaten, mit denen die EU ein Auslieferungsabkommen abgeschlossen hat101 – „(j)eder Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, (…) das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.“ Art. 47 Abs. 1 GrCh dient dabei nicht nur dem Schutz des Einzelnen, sondern auch der Durchsetzung des Unionsrechts, die nur durch einen effektiven Rechtsschutz gewährleistet werden kann.102 Die Mitgliedstaaten sind über Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh im Anwendungsbereich von Unionsrecht zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes verpflichtet. Hiermit geht die unionsrechtliche Verpflichtung gem. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV für die Mitgliedstaaten einher, die erforderlichen Rechtsbehelfe für einen wirksamen Rechtsschutz im Anwendungsbereich von Unionsrecht für unionale Rechte – und damit auch für die Durchsetzung der Unionsgrundrechte – zu schaffen.103 Ob Deutschland dem in Bezug auf die Rechtsschutzmöglichkeiten des Auszuliefernden im Auslieferungsverfahren mit Drittstaaten nachgekommen ist, erscheint insofern bedenklich, als dass der fachgerichtliche Rechtsschutz gesetzlich rar ausgestaltet ist. Die Rechtsschutzgarantie gem. Art. 47 Abs. 1 GrCh setzt jedoch voraus, dass der Betroffene generell im gesamten Auslieferungsverfahren effektive 99 So die st. Rspr. des EuGH, s. EuGH, Urteil vom 25. 7. 2018 – C-216/18 PPU (Rs. LM) = EuGRZ 45 (2018), 396, 400 Rn. 50 f.; EuGH, Urteil vom 27. 2. 2018 – C-64/16 (Rs. Associação Sindical dos Juízes Portugueses / ​Tribunal de Contas) = EuZW 2018, 469, 471 Rn. 36; EuGH, Urteil vom 28. 3. 2017 – C-72/15 = EuZW 2017, 529, 532 Rn. 73; EuGH, Urteil vom 19. 7. 2016 – C-455/14 P = BeckRS 2016, 81565 Rn. 41; EuGH, Urteil vom 6. 10. 2015 – C-362/14 = EuZW 2915, 881, 887 Rn. 95. 100 Daragan, DStR 2019, 1329, 1331 f. 101 S. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. c) cc). 102 S. hierzu Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 47 GrCh Rn. 3. 103 Folz, in: Vedder / ​Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 47 GrCh Rn. 1, 6; Gaitanides, in: von der Groeben / ​Schwarze / ​Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 19 EUV Rn. 59 f.; Rademacher, JuS 58 (2018), 337, 338 spricht insofern von einer „Auffangverantwortung der Mitgliedstaaten“.

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

Rechtsschutzmöglichkeiten in Form eines Rechtsbehelfs vor einem Gericht hat, um im Zweifelsfall gegen deutschen Justizbehörden zurechenbare Unionsgrundrechtsverletzungen vorgehen zu können.104 b) Rechtsschutzmöglichkeiten des Auszuliefernden Obwohl das OLG mit einer positiven Zulässigkeitsentscheidung eine für den Auszuliefernden äußerst grundrechtsintensive Entscheidung trifft, ist der Beschluss des OLG gem. § 13 Abs. 1 S. 2 IRG unanfechtbar. Für den Fall, dass das im konkreten Zulässigkeitsverfahren zuständige OLG eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung klären möchte oder es in der Rechtsfrage von einer Entscheidung des BGH oder anderer OLGe abweichen möchte, kann das OLG gem. § 42 Abs. 1 IRG den BGH anrufen. Eine Entscheidung des BGH kann gem. § 42 Abs. 2 IRG auch vom Generalbundesanwalt oder der Staatsanwaltschaft bei dem OLG beantragt werden. Bis vor Kurzem blieben dem Auszuliefernden daher nur die Möglichkeiten, eine erneute Entscheidung des über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheiden­den OLG gem. § 33 Abs. 1 und Abs. 2 IRG herbeizuführen105 oder sich unter Berufung auf eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG wegen des Entzugs des EuGH als gesetzlichem Richter106 mit einer Verfassungsbeschwerde an das BVerfG zu wenden. Denn als zuständiges Gericht für das Auslieferungsverfahren war das OLG als letztinstanzliches Gericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV107 zur Vorlage der Rechtsfrage beim EuGH verpflichtet, sofern es um eine zu erwartende Unionsgrundrechtsverletzung des Betroffenen geht und die Auslegung der Verträge in Frage steht. Seit der Entscheidung „Recht auf Vergessen II“108 kann sich der Betrof­fene

104

Zu diesen drei Anknüpfungspunkten des Anspruchs aus Art. 47 Abs. 1 GrCh s. statt vieler Rademacher, JuS 58 (2018), 337, 339 ff. 105 Näher hierzu sogleich in diesem Abschnitt. 106 Der EuGH ist nach st. Rspr. des BVerfG gesetzlicher Richter i. S. d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG; s. BVerfGE 126, 286, 315; 82, 159, 192; BVerfG, 15. 12. 2011 – 2 BvR 148/11 = NJW 2012, 1202, 1203 Rn. 35; s. hierzu Karpenstein, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 267 AEUV Rn. 68 ff.; Latzel / ​Streinz, NJW 2013, 271. 107 Letztinstanzliche Gerichte i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV sind solche Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des nationalen Rechts angefochten werden können, vgl. Karpenstein, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 267 AEUV Rn. 51; Wegener, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 27. Da die Zulässigkeitsentscheidung des OLG gem. § 13 Abs. 1 S. 2 IRG unanfechtbar ist, besteht keine Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsmittels, sodass das über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidende OLG das letztinstanzliche Gericht ist. Hieran ändert auch die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs wie ein solcher nach § 33 IRG nichts, da diesem kein Devolutiveffekt zukommt. 108 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201.

B. Prozessuale Ausgestaltung im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten   

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nunmehr nach Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG)109 mit einer Urteilsverfassungsbeschwerde an das BVerfG wenden und diese unmittelbar auf eine Verletzung von Unionsgrundrechten110 durch eine positive Zulässigkeitsentscheidung des OLG stützen. In Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung111 hat das BVerfG nicht nur die Grundrechte des GG, sondern ausdrücklich auch die Grundrechte der GrCh zum direkten Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG erhoben, um für den Einzelnen einen umfassenden Grundrechtsschutz gegenüber der fachgerichtlichen Rechtsanwendung zu schaffen.112 Das BVerfG erklärt sich bei der Überprüfung der Wahrung von Unionsgrundrechten ausdrücklich zu einer engen Kooperation mit dem EuGH bereit und stellt die Zuständigkeit des EuGH für die letztverbindliche Auslegung des Unionsrechts nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV nicht in Frage.113 Vielmehr beschränkt das BVerfG seine Prüfungskompetenz auf die richtige Anwendung der vom EuGH definierten Unionsgrundrechte und bekundet seine Bereitschaft zu Vorlagen an den EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV für den Fall, dass die zugrunde liegende Grundrechtsauslegungsfrage unionsrechtlich noch nicht geklärt sei.114 Hierdurch erkennt das BVerfG die aus Art. 267 Abs. 3 AEUV folgende Vorlagepflicht ausdrücklich an.115 Wie sich die Vorlagepflicht des BVerfG auf die zuvor bestehende Vorlagepflicht der Fachgerichte bezüglich unionsgrundrechtlicher Fragestellungen116 auswirkt, lässt das BVerfG bewusst offen, äußert sich jedoch kritisch zu einer parallelen Vorlagepflicht von Fachgerichten und BVerfG.117 Da das BVerfG im innerstaatlichen Recht jedoch gerade keine „Superrevisionsinstanz“ darstellt und Verfassungsbeschwerden nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG außer 109 Vgl. hierzu Morgenthaler, in: Epping / ​Hillgruber (Hrsg.), ­BeckOK GG, Art. 93 GG Rn. 68 ff. 110 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 203 Rn. 50; zu der Erhebung der GrCh als direkten Prüfungsmaßstab des BVerfG vgl. Hoffmann, NVwZ 2020, 33, 34 ff.; Hofmann / ​Heger / ​Gharibyan, KritV 102 (2019), 277 ff.; Kämmerer / ​Kotzur, NVwZ 2020, 177 ff.; Meyer-Mews, StV 40 (2020), 564 ff.; Wendel, JZ 75 (2020), 157 ff.; von einer „Novemberrevolution“ sprechend: Kühling, NJW 2020, 275. 111 In ständiger Rspr. hat das BVerfG statuiert, dass es ausschließlich die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts des GG prüfe: st. Rspr. des seit BVerfGE 1, 418, 420; s. auch BverfGE 34, 369, 379; 18, 85, 92 f.; BVerfG, 27. 6. 2018 – 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17 = NJW 2018, 2385, 2387 Rn. 69. 112 Das BVerfG führt hierfür an, dass es „Garant eines innerstaatlichen Grundrechtsschutzes“ sei und aufgrund seiner Integrationsverantwortung aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG deshalb Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG entsprechende Anwendung bei Rügen bezüglich einer Verletzung von Unionsgrundrechten finde, s. BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 204 f. Rn. 5 ff., 60, 66 f. 113 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 205 Rn. 68 ff. 114 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 205 Rn. 69 ff. 115 Vgl. auch Wendel, JZ 75 (2020), 157, 165 f. 116 Abseits unionsgrundrechtlicher Fragestellungen, die im hier interessierenden Auslieferungsfall jedoch gerade relevant werden, bleibt die Vorlagepflicht der Fachgerichte hingegen unberührt, BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 206 Rn. 75 f.; vgl. hierzu Wendel, JZ 75 (2020), 157, 166. 117 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 206 Rn. 72 ff.

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

ordentliche Rechtsbehelfe sind,118 spricht bereits der Wortlaut dafür, das OLG in Auslieferungsfällen weiterhin als „letztinstanzliches Gericht“ i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV aufzufassen und dementsprechend bei unionsgrundrechtlichen Auslegungsfragen als vorlagepflichtig anzusehen.119 Zudem sprechen hierfür auch folgende Erwägungen: Das BVerfG begründet die Statthaftigkeit der Verfassungsbeschwerde für Fälle der Geltendmachung einer Unionsgrundrechtsverletzung damit, dass dies für einen umfangreichen Grundrechtsschutz gegenüber der fachgerichtlichen Rechtsanwendung erforderlich sei.120 Das letztinstanzliche Fachgericht kann Unionsrecht jedoch von vornherein nicht richtig anwenden, wenn es den EuGH bei Auslegungsfragen nicht anruft. Insofern sollten sie trotz der Möglichkeit des BVerfG, den EuGH anzurufen, weiterhin zur Vorlage beim EuGH gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet bleiben. Damit stehen dem von einer Auslieferung Betroffenen in beschränktem Maße Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Zulässigkeitsentscheidung des OLG offen. Ein Instanzenzug ist gesetzlich nicht vorgesehen. Für den Fall einer positiven Bewilligungsentscheidung sieht das Gesetz hingegen keinerlei Rechtsschutzmöglichkeiten vor. Die Rechtsschutzmöglichkeiten des Betroffenen sind demzufolge spärlich ausgestaltet. Damit stellt sich die Frage, ob die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten des Auszuliefernden einem effektiven Rechtsschutz überhaupt Rechnung tragen oder ob ein solcher nicht vielmehr entweder eine Anfechtbarkeit der Bewilligungsentscheidung oder jedenfalls eine weitere Instanz zur Überprüfung einer positiven Auslieferungsentscheidung des OLG erforderlich macht. Bezüglich eines fachgerichtlichen Rechtsschutzes ist die Ablehnung der Bewilligung im vertraglichen Auslieferungsverkehr121 mit den USA problematisch, sofern im konkreten Fall grundsätzlich eine Auslieferungspflicht besteht, der von der Auslieferung Betroffene jedoch geltend macht, in seinen Individualrechten verletzt zu sein: Ob der Betroffene die exekutivische Bewilligung gerichtlich angreifen kann, ist – obwohl es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt – in Ermangelung einer gesetzlichen Normierung einer solchen Rechtsschutzmöglichkeit umstritten.122 Die Bewilligungsbehörde prüft im Gegensatz zum OLG das 118

Vgl. statt vieler Morgenthaler, in: Epping / ​Hillgruber (Hrsg.), B ­ eckOK GG, Art. 93 Rn. 70 ff.; Walter, in: Herzog / ​Scholz / ​Herdegen / ​K lein (Hrsg.), Maunz / ​Dürig GG, Art.  93  GG Rn. 323. 119 Dies gesteht auch das BVerfG ein, s. BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 206 Rn. 73. 120 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 204 f. Rn. 60 f. 121 Im vertragslosen Rechtshilfeverkehr – d. h. sofern kein genereller Auslieferungsvertrag im konkreten Fall besteht – kann die Bewilligungsbehörde eine Auslieferung auch bei Zulässigkeit derselben ohne Angabe von Gründen verweigern, s. hierzu Lagodny, in: Sieber / ​Satzger / ​ von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 31 Rn. 80. 122 Sich für eine gerichtliche Anfechtbarkeit aussprechend: Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 53a; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, Vor § 1 Rn. 298 ff.; sich gegen eine gerichtliche Anfechtbarkeit aussprechend: Ambos, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 19.

B. Prozessuale Ausgestaltung im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten   

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Vorliegen einer völkerrechtlichen Auslieferungspflicht. Durch die Normierung der vorgeschlagenen Grundrechtsklausel im völkerrechtlichen AuslAbk EU-USA wird eine bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen bestehende völkerrechtliche Auslieferungspflicht davon abhängig gemacht, ob der Betroffene im ersuchenden Staat der Gefahr einer Grundrechtsverletzung ausgesetzt ist. Insofern muss die Bewilligungsbehörde auch die Gefahr eines Grundrechtsverstoßes und ein Unterschreiten europäischer Grundrechtsmindeststandards prüfen, sodass davon auszugehen sein könnte, dass diese Entscheidung gerichtlich überprüfbar sein muss. Teilweise wird dementsprechend eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Bewilligungsentscheidung gefordert und eine analoge Anwendung der §§ 29, 79 Abs. 2 IRG postuliert.123 Gegen eine gerichtliche Überprüfbarkeit des Bewilligungsverfahrens spricht jedoch, dass eine separate Anfechtungsmöglichkeit der Bewilligungsentscheidung mit einer sehr langen Verfahrensdauer verbunden wäre.124 Diese wiederum wäre für den Betroffenen äußerst belastend und entspräche auch nicht seinen Interessen, da er für die Zeit des Verfahrens regelmäßig in Auslieferungshaft (§§ 15 ff. IRG) verbleibt – und das in einem Staat, der nicht sein Herkunftsstaat ist. Problematisch ist hieran insbesondere, dass das Gesetz keine zulässige Höchstdauer für die Freiheitsentziehung durch die Auslieferungshaft vorsieht,125 sodass der Betroffene im Zweifel entweder jahrelang in Auslieferungshaft verbleibt oder dass die Auslieferungshaft für den Fall, dass die Dauer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspricht, aufgehoben wird und der Betroffene auf freien Fuß kommt, was die Überstellung in den meisten Fällen unmöglich machen dürfte. Eine gerichtliche Überprüfbarkeit einer positiven Bewilligungsentscheidung könnte gleichwohl aufgrund der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Rechtsschutzgarantie zwingend erforderlich sein (Art. 47 Abs. 1 GrCh).126 Denn die Effektivität des Rechtsschutzes ist nur gewährleistet, wenn jedes hoheitliche Handeln, das Unionsrechte verletzen kann, gerichtlich angegriffen werden kann – der Rechtsschutz also vollständig ist.127 Wenn die Bewilligungsentscheidung jedoch keinen eigenständigen Eingriff in das Unionsrecht darstellt, ergibt sich aus Art. 47 Abs. 1 GrCh auch kein Anspruch zur Schaffung einer Anfechtungsmöglichkeit gegen diese Entscheidung.128 Die Justiziabilität hoheitlicher Maßnahmen findet eine Grenze, wenn eine Entscheidung im Rahmen eines Ermessens getroffen wird, innerhalb dessen keine rechtlich geschützten Individualrechtspositionen betroffen werden. Bewilligungsentscheidungen der Exekutive liegt ein außenpolitisches Er 123

Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 53a. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 224 f. spricht von einer 3–5-jährigen Dauer des Verfahrens. 125 S. hierzu Leipold / ​L ochmann, ZRP 2018, 43, 44. 126 Vgl. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 47 GrCh Rn. 25a. 127 Rademacher, JuS 58 (2018), 337, 340. 128 So und zum Folgenden Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 225 f. 124

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

messen zugrunde. Die Erforderlichkeit einer Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Bewilligungsentscheidung hängt damit davon ab, ob für die Bewilligungsbehörde ein zu prüfender „Rechtsrest“129 verbleibt, der ansonsten dem gerichtlichen Rechtsschutz entzogen wäre.130 Maßgeblich ist demnach, ob die Bewilligungs­behörde durch eine positive Auslieferungsentscheidung in Individualrechte eingreifen könnte, die nicht bereits von einer positiven Zulässigkeitsentscheidung betroffen wären. Dies gilt zumindest so lange, wie jedenfalls die Zulässigkeitsentscheidung einem ausreichenden Rechtsschutz unterliegt. Für den Fall eines solchen „Individualrechtsrestes“ müsste zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Bewilligung der Auslieferung eröffnet werden. Verbleibt hingegen keine eigenständige rechtliche Prüfung der Bewilligungsbehörde in Bezug auf die innerstaatliche Ermächtigung, den Betroffenen auszuliefern, ist eine separate Rechsschutzmöglichkeit gegen die Bewilligung zur Gewährung der Rechtsweggarantie nicht erforderlich. Im Auslieferungsverfahren hat bereits das OLG über das Vorliegen aller positiven und negativen Voraussetzungen zu befinden, einschließlich über die reale Gefahr einer drohenden Grundrechtsverletzung, die zu einer – nach der vorgeschlagenen Grundrechtsklausel – völkerrechtskonformen Ablehnung der Auslieferung führen würde. Dann aber muss das OLG auch bereits alle individualrechtsschützenden Fragen im Zulässigkeitsverfahren klären.131 Hierzu zählt auch die Voraussetzung, dass der Betroffene nicht der realen Gefahr einer nicht zu rechtfertigenden gegen die GrCh verstoßenden grundrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt sein wird. Insofern und aufgrund des Umstands, dass die vorgeschlagene Grundrechtsklausel auch innerstaatlich im Falle einer drohenden Grundrechtsverletzung zu einer Ablehnung der Auslieferung verpflichtet („wird abgelehnt“), verbleibt keine Prüfung der innerstaatlichen Ermächtigung zur Auslieferung gegenüber dem Betroffenen, die nicht bereits zuvor vom OLG geprüft worden ist. Damit steht eine fehlende Überprüfungsmöglichkeit der Bewilligungsentscheidung einem effektiven Rechtsschutz nicht entgegen.

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So plakativ Lagodny, NJW 1988, 2146, 2149; s. a. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 226. 130 Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, S. 237 f.; Vogler, EuGRZ 8 (1981), 417 f.; vgl. zudem aus der Rspr. des BVerfG bzgl. der Wahrung der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG: BVerfG, 4. 12. 2019 – 2 BvR 1258/19; 2 BvR 1497/19 = BeckRS 2019, 32770 Rn. 44 f.; BVerfG, 18. 6. 2019 – 2 BvR 1092/19 = BeckRS 2019, 11958 Rn. 3 f.; BVerfG, 9. 6. 2015 – 2 BvR 965/15 = NJW-Spezial 2015, 664. 131 Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 226; Lagodny, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, S. 261 ff.; vgl. insbesondere auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. 2. 2020 – Ausl 301 AR 156/19 = BeckRS 2020, 1720 Rn. 1, in dem das OLG ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass eine endgültige Entscheidung bezüglich der Zulässigkeit der Überstellung des polnischen Staatsangehörigen erst nach einer weiteren Sachaufklärung durch polnische Justizbehörden erfolgt.

B. Prozessuale Ausgestaltung im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten   

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Hierfür sprechen auch folgende Erwägungen: Wenn das OLG bspw. keine Gefahr sieht, dass dem Betroffenen im ersuchenden Staat ein Verstoß gegen sein Recht auf ein faires Verfahren droht, die Bewilligungsbehörde jedoch zu einem anderen Ergebnis gelangt, so wird die Bewilligungsbehörde die Auslieferung ablehnen, sodass es auf eine Rechtsschutzmöglichkeit für diesen Fall nicht ankommt.132 Der Betroffene ist dann keiner Grundrechtsverletzung ausgesetzt. Sieht das OLG hingegen eine entsprechende Gefahr, wird es die Auslieferung für unzulässig erklären und der Betroffene ist keiner Gefahr einer Grundrechtsverletzung ausgesetzt. Ausschließlich für den Fall, dass sowohl das OLG als auch die Bewilligungsbehörde keine Gefahr einer Grundrechtsverletzung sehen, weil sie beispielsweise Rechtspositionen des Betroffenen übersehen haben, stellt sich das Problem. Nur in dieser Fallkonstellation kann ein von der Bewilligungsbehörde zu prüfender „Rechtsrest“ überhaupt relevant werden.133 Für den Fall, dass bei solchen Fehlentscheidungen des OLG eine Rechtsschutzmöglichkeit des Betroffenen besteht, kommt es nicht zu einer Konstellation, in der für einen effektiven Rechtsschutz eine Anfechtungsmöglichkeit der Bewilligungsentscheidung bestehen müsste. Der fachgerichtliche Rechtsschutz im Auslieferungsverfahren soll daher bereits durch die Zulässigkeitsentscheidung des OLG gewährt werden.134 Da keine weiteren Individualrechtsbeeinträchtigungen durch die Entscheidung der Bewilligungsbehörde in Betracht kommen als ohnehin schon im Zulässigkeitsverfahren, ist ein ausreichender effektiver Rechtsschutz vor einem Gericht i. S. d. Art. 47 Abs. 1 GrCh gewährleistet, solange dem Auszuliefernden für den Fall, dass es sich bei der Zulässigkeitsentscheidung um eine rechtliche Fehlentscheidung des OLG handelt, die Möglichkeit offen steht, effektiven Rechtsschutz gegen die Zulässigkeitsentscheidung zu erwirken. Denn für die Rechtsschutzgarantie des Art. 47 Abs. 1 GrCh reicht es aus, wenn dem Auszuliefernden im gesamten Auslieferungsverfahren die Möglichkeit des Rechtsschutzes eröffnet wird. Eine Fehlentscheidung des OLG kann zunächst darauf beruhen, dass das OLG die Zulässigkeitsentscheidung zwar rechtmäßigerweise unter zutreffender Berücksichtigung aller Umstände inklusive der Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat nach erfolgter Auslieferung positiv getroffen hat, nach der Entscheidung jedoch neue Umstände eintreten oder erst nach dem Beschluss solche Umstände bekannt werden, die eine andere Einschätzung der Grundrechtsgefährdung rechtfertigen würden. Im Übrigen kann eine Fehlentscheidung des OLG darin bestehen, dass es Individualrechte des Betroffenen unzutreffenderweise überhaupt nicht berücksichtigt, da die Umstände der Grundrechtsgefährdung dem Gericht nicht bekannt waren. 132 Böhm, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 33 Rn. 5. 133 Zu diesen Fallkonstellationen bereits Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungs­ hindernis, S. 227 ff. 134 Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 226; Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Einleitung Rn. 47 f.

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

In beiden Fällen könnte es insofern an ausreichenden Anfechtungsmöglichkeiten gegen positive Auslieferungsentscheidungen fehlen, wenn die einzige fachgerichtliche Überprüfungsmöglichkeit in Form der Zulässigkeitsentscheidung des OLG im Auslieferungsverfahren den Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz nicht Rechnung tragen würde. Denn der Beschluss des OLG ist unanfechtbar (§ 13 Abs. 1 S. 2 IRG), sodass sich die Frage stellt, ob der Berücksichtigung der Individualinteressen hinreichend Rechnung getragen wird. Trotz der Unanfechtbarkeit des Beschlusses des OLG ist eine erneute Zulässigkeitsentscheidung des OLG nach § 33 Abs. 1 und Abs. 2 IRG möglich – und zwar dann, wenn entweder nach der Entscheidung des OLG bis zur tatsächlichen Vollstreckung der Auslieferung Umstände eintreten, die eine andere Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zu begründen geeignet sind oder wenn solche Umstände erst nach der Entscheidung bekannt werden. Dies umfasst jedoch gerade die beiden Fälle einer möglichen Fehlentscheidung des OLG und kann vor allem auch den grundrechtsrelevanten Bereich und die Frage betreffen, ob der Auszuliefernde im ersuchenden Staat der realen Gefahr einer nicht zu rechtfertigenden unionsgrundrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt sein wird. Treten nach der Entscheidung des OLG über die Zulässigkeit Umstände ein bzw. wird erst danach bekannt, dass der Auszuliefernde der Gefahr einer nicht zu rechtfertigenden unionalen Grundrechtsverletzung ausgesetzt sein wird, so entscheidet das OLG von Amts wegen, auf Antrag der Staatsanwaltschaft bei dem OLG oder auch auf Antrag des Betroffenen selbst erneut über die Zulässigkeit der Auslieferung unter Berücksichtigung der neuen bzw. bekannt gewordenen Umstände. Damit sieht das Gesetz eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Zulässigkeitsentscheidung des OLG durch eine erneute Entscheidung des OLG vor, die gem. § 33 Abs. 1 IRG auch eine Antragsberechtigung des Auszuliefernden vorsieht. Darüber hinaus kann ein Betroffener neuerdings für den Fall, dass die erneute Entscheidung des OLG abermals die Zulässigkeit der Auslieferung bestätigt,135 auch eine Verfassungsbeschwerde unter unmittelbare Berufung auf die Verletzung von Unionsgrundrechten der GrCh erheben.136 Damit steht dem Betroffenen neben dem fachgerichtlichen Rechtsschutz eine weitere Rechtsschutzmöglichkeit zur Verfügung, falls er in der Zulässigkeitsentscheidung des OLG eine Verletzung unionaler Grundrechte sieht. Die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten müssten jedoch auch den Anforderungen der Rechtsschutzgarantie genügen. Die Rechtsschutzgarantie setzt gem. Art. 47 Abs. 1 GrCh zunächst voraus, dass ein Gericht über die Rechtssache ent 135

Die Verfassungsbeschwerde setzt eine Rechtswegerschöpfung voraus (vgl. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Der Beschwerdeführer muss vor Anrufung des BVerfG also zunächst jede gesetzliche Möglichkeit nutzen, ein anderes Gericht anzurufen, vgl. Morgenthaler in: Epping / ​Hillgruber (Hrsg.), B ­ eckOK GG, Art. 93 GG Rn. 71; Walter, in: Herzog / ​Scholz / ​Herdegen / ​K lein (Hrsg.), Maunz / ​Dürig GG, Art. 93 GG Rn. 371. 136 BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201.

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scheidet.137 Hierbei muss es sich um eine Stelle handeln, die auf Dauer und durch Gesetz errichtet ist und die Streitigkeiten in Anwendung von Rechtsnormen entscheidet. Sie muss die Gewähr für ihre Unparteilichkeit und Unabhängigkeit bieten.138 Da über § 33 IRG eine erneute Entscheidung des OLG möglich ist und dieses den Anforderungen an ein Gericht genügt, trägt dies den Voraussetzungen des Art. 47 Abs. 1 GrCh insofern Rechnung. Das gleiche gilt für das für Verfassungsbeschwerden zuständige BVerfG (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Ein den Anforderungen des Art. 47 Abs. 1 GrCh genügender Rechtsschutz muss zudem die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs gewähren.139 Der für das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf erforderliche Rechtsschutz erfordert damit ausschließlich eine tatsächliche effektive Kontrolle durch ein Gericht und damit eine umfassende richterliche individualrechtliche Würdigung im Auslieferungsverfahren. Eine Entscheidung eines anderen Gerichts im Wege des Instanzenzugs ist hierfür nicht erforderlich: Einen Anspruch auf einen Instanzenzug durch ein Rechtsmittel gewährleistet Art. 47 Abs. 1 GrCh gerade nicht.140 Vielmehr spricht der Wortlaut ausdrücklich von einem Rechtsbehelf und nicht von einem Rechtsmittel mit Devolutiveffekt. Für einen effektiven Rechtsschutz ist es daher ausreichend, wenn der Betroffene eine wirksame Rechtsschutzmöglichkeit hat.141 Auch wenn es sich bei § 33 Abs. 1 und Abs. 2 IRG in Ermangelung des Devolutiveffekts nicht um ein Rechtsmittel handelt142 und auch wenn die Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG ein außerordentlicher Rechtsbehelf und gerade keine Erweiterung des fachgerichtlichen Rechtsschutzes ist,143 steht dies einem ausreichenden Rechtsschutz i. S. d. Art. 47 GrCh demnach nicht entgegen. Ein effektiver Rechtsschutz muss aber auch wirksam sein.144 Für den Fall einer Rechtsverletzung durch Justizbehörden muss für den Betroffenen also eine tatsächliche Abhilfemöglichkeit bestehen.145 Wie diese ausgestaltet ist, ist unerheblich. Hierfür ist es ausreichend, wenn gesetzlich dem über die Rechtssache entscheiden 137

Vgl. Kapitel 2 B. I. 2. a). Zu dem vom EuGH verwendeten Begriff des Gerichts s. EuGH, Urteil vom 19. 9. 2006 – C-506/04 (Rs. Graham J. Wilson) = NJW 2006, 3697, 3698 f. Rn. 47 ff.; vgl. Nehl, in: Pechstein / ​Nowak / ​Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar EUV, GRC und AEUV, Art. 47 GrCh Rn. 54 ff.; Rademacher, JuS 58 (2018), 337, 341. 139 Vgl. Kapitel 2 B. I. 2. a). 140 Eser / ​Kubiciel, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 47 GrCh Rn. 11; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 47 GrCh Rn. 23, 28. 141 S. hierzu Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 47 GrCh Rn. 23. 142 Böhm, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 33 Rn. 3; ein echtes Rechtsmittel hingegen für erforderlich haltend: Leipold / ​L ochmann, ZRP 2018, 43, 45 ff.; Pieronczyk, AnwBl 2019, 362, 367 f. 143 Morgenthaler, in: Epping / ​Hillgruber (Hrsg.), ­BeckOK GG, Art. 93 GG Rn. 50; Walter, in: Herzog / ​Scholz / ​Herdegen / ​K lein (Hrsg.), Maunz / ​Dürig GG, Art.  93  GG Rn.  323. 144 Vgl. Kapitel 2 B. I. 2. a). 145 Eser / ​Kubiciel, in: Meyer / ​Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 47 GrCh Rn. 11; Rademacher, JuS 58 (2018), 337, 339. 138

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

den Gericht die Möglichkeit einer richterlichen Selbstkorrektur eröffnet wird.146 Eine solche Möglichkeit eröffnet bereits der fachgerichtliche Rechtsschütz über § 33 IRG durch die Option einer erneuten Entscheidung des OLG in den Fällen, in denen die Individualrechte des Auszuliefernden keine hinreichende Berücksichtigung gefunden haben. Entscheidet das OLG erneut über die Zulässigkeit der Auslieferung, kann es gem. § 33 Abs. 4 IRG den Aufschub der Auslieferung anordnen.147 Eine erneute Entscheidung des OLG i. S. d. § 33 IRG trägt den Interessen des Auszuliefernden viel mehr Rechnung, als eine zweite Instanz dies im Auslieferungsverfahren könnte. Darüber hinaus müssten bestehende Rechtsschutzmöglichkeiten effektiv i. S. d. Art. 47 Abs. 1 GrCh sein, was insbesondere erfordert, dass eine gerichtliche Entscheidung rechtzeitig und damit zeitnah erfolgt.148 Dies ist im Auslieferungsverfahren – währenddessen der Betroffene in Auslieferungshaft ist – umso wichtiger und lässt sich insbesondere durch eine richterliche Selbstkorrektur nach § 33 IRG daher besser verwirklichen als durch eine Entscheidung einer neuen Instanz. Eine erneute Entscheidung über die Zulässigkeit durch das OLG gem. § 33 IRG gewährt dem Auszuliefernden jedoch nur dann eine tatsächliche Abhilfemöglichkeit, wenn ein Antrag auf eine erneute Entscheidung während des gesamten Auslieferungsverfahrens und damit bis zur tatsächlichen Überstellung statthaft ist. Eine zeitliche Grenze der Statthaftigkeit könnte in dem Moment der Bewilligungsentscheidung liegen, da diese dem Zulässigkeitsverfahren zeitlich nachgelagert ist und nach außen hin den Abschluss eines konkreten völkerrechtlichen Auslieferungsvertrages darstellt. Dementsprechend wird teilweise davon ausgegangen, dass nur für den Fall eines völkerrechtlich relevanten Willensmangels, mit dem die Bewilligungsentscheidung aufgehoben werden kann, die Statthaftigkeit eines Antrags i. S. d. § 33 IRG auch noch nach der Bewilligungserklärung gegeben sei.149 Hiergegen spricht jedoch, dass das IRG gesetzlich keine zeitliche Grenze der Statthaftigkeit eines erneuten Beschlusses des OLG vorsieht und auch die Bewilligungsbehörde dazu angehalten ist, in jedem Stadium des Auslieferungsverfahrens die rechtlichen Voraussetzungen der Auslieferung zu überprüfen. Auch der Abschluss eines konkreten Auslieferungsvertrags im Einzelfall steht unter der Voraussetzung, dass die im generellen Auslieferungsabkommen normierten Voraussetzungen vorliegen. Bei Aufnahme der vorgeschlagenen Grundrechtsklausel wäre eine generelle Auslieferungspflicht im Falle der drohenden Unionsgrundrechtsverletzung jedoch abzulehnen, sodass auch im konkreten Auslieferungsfall keine völkerrechtliche 146

Schmidt-Aßmann, in: Herzog / ​Scholz / ​Herdegen / ​K lein (Hrsg.), Maunz / ​Dürig GG, Art.  19 Abs. 4 Rn. 17a; Vogel / ​Burchard, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 13 Rn. 15. 147 S. hierzu Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 67. 148 Rademacher, JuS 58 (2018), 337, 340. 149 So die st. Rspr. des OLG Frankfurt a. M., s. nur OLG Frankfurt a. M., 30. 4. 2019  – 2 Ausl A 96/18 = BeckRS 2019, 10809 Rn. 4 m. w. N.; OLG Karlsruhe, 8. 9. 2005 = StV 2005, 674 Rn. 5; s. a. Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 68; Pieronczyk, AnwBl 2019, 362, 363.

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Auslieferungspflicht bestünde.150 Darüber hinaus kann selbst dann, wenn der durch die Bewilligungsbehörde abgeschlossene konkrete völkerrechtliche Auslieferungsvertrag Bestand hat und im Einzelfall eine völkerrechtliche Auslieferungspflicht besteht, dies der innerstaatlichen Verpflichtung der Justizbehörden zu unionsrechtskonformem Handeln nicht entgegenstehen. Dann aber muss die Möglichkeit der Selbstkorrektur noch nach Bewilligung der Auslieferung möglich sein. Hierfür spricht auch Folgendes: Die Möglichkeit einer Selbstkorrektur des OLG nach § 33 IRG kommt in einem seiner zwei Anwendungsfelder dann in Betracht, wenn i. S. d. Abs. 2 neue Umstände bekannt werden. Diese Umstände werden jedoch wohl regelmäßig der Bewilligungsbehörde bekannt werden, da dies die Justizbehörde ist, die nach der Zulässigkeitserklärung des OLG mit dem Auslieferungsfall befasst ist. Die Bewilligungsbehörde ist gerade dazu angehalten, während des gesamten Bewilligungsverfahrens bis zur Überstellung des Betroffenen zu prüfen, dass die Auslieferungsvoraussetzungen (noch) gegeben sind.151 Dann aber muss eine Selbstkorrektur des OLG sinnvollerweise noch möglich sein. Hierfür spricht auch das ansonsten entstehende Spannungsfeld zwischen den staatlichen Interessen einerseits und den Individualinteressen andererseits: Ist die Auslieferung bereits für zulässig erklärt worden, wird es sowohl im Interesse des ersuchten152 als auch im Interesse des ersuchenden Staates liegen, dass die Auslieferung zügig erfolgt. Wenngleich die Bewilligung nicht innerhalb einer bestimmten Frist erfolgen muss, so gilt ein Beschleunigungsgebot des Bewilligungsverfahrens insbesondere dann, wenn sich der Auszuliefernde in Auslieferungshaft befindet.153 Dann aber ist die zeitliche Möglichkeit einer Selbstkorrektur des OLG stark eingeschränkt, was Sinn und Zweck der Regelung in § 33 IRG zuwiderliefe. Vor allem stellt sich für den Auszuliefernden das Auslieferungsverfahren – auch wenn es in zwei Stufen unterteilt ist – als ein Verfahren insgesamt dar, das mit seiner Überstellung an den ersuchenden Staat seinen Abschluss findet.154 Insofern ist es nur sinnvoll, dass eine erneute Entscheidung des OLG i. S. d. § 33 IRG während des gesamten Auslieferungsverfahrens statthaft ist und so eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit bietet. Auch ein Vergleich zum Übergabeverfahren auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls steht diesem Ergebnis nicht entgegen: Denn aufgrund der Nichtigkeitserklärung des BVerfG zum ersten Umsetzungsgesetz zum RbEuHb155 ist mit dem zweiten Umsetzungsgesetz156 eine Überprüfungsmöglichkeit der Bewilli 150

Zum Ganzen Böhm, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 33 Rn. 8. 151 Vgl. Kapitel 3 B. I. 1. 152 Bspw. zur Vermeidung weiterer Kosten durch die Auslieferungshaft und zur Vermeidung politischer Spannungen mit dem ersuchenden Staat. 153 Hackner / ​Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rn. 68. 154 Schomburg / ​L agodny, NStZ 1992, 353. 155 1. Europäisches Haftbefehlsgesetz v. 21. 7. 2004, BGBl. 2004 I, S. 1748; s. hierzu Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, S. 160 ff. 156 2. Europäisches Haftbefehlsgesetz v. 20. 7. 2006, BGBl. 2006 I, S. 1721; s. hierzu Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, S. 179 ff.

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

gungsentscheidung dergestalt geschaffen worden, dass der Zulässigkeitsprüfung durch das zuständige OLG eine Vorabentscheidung der Bewilligungsbehörde bezüglich der Geltendmachung von Auslieferungshindernissen i. S. d. § 83b IRG vorgeschaltet ist (§ 79 Abs. 2 S. 1 IRG).157 Das BVerfG hatte insbesondere die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG nicht als gewährleistet angesehen.158 Dies lag jedoch darin begründet, dass die Bewilligungsentscheidung im Übergabeverfahren durch die Vorgaben des ersten Haftbefehlsgesetzes auch individualrechtsschützende Belange betraf, die vom OLG nicht zu prüfen waren.159 Dies lässt sich auf das Auslieferungsverfahren mit Drittstaaten jedoch nicht übertragen, da die Bewilligungsbehörde hier in Bezug auf die Voraussetzungen des Grundrechtsschutzes keinen rechtlichen Beurteilungsspielraum hat, der nicht durch das OLG bereits abgedeckt wäre. Die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten müssten für einen effektiven und wirksamen Rechtsschutz allerdings auch vollständig sein.160 Der Auszuliefernde hat nicht nur die Möglichkeit, nach § 33 IRG eine erneute Entscheidung des OLG herbeizuführen, falls die reale Gefahr eines Verstoßes gegen unionale Mindestgrundrechtsstandards besteht. Er hat zudem nach Rechtswegerschöpfung die Möglichkeit, die fachgerichtliche Rechtsanwendung im Hinblick auf die Unionsgrundrechtswahrung überprüfen zu lassen: Für den Fall, dass der wiederholt positive Zulässigkeitsbeschluss des OLG gegen bereits vom EuGH definierte Unionsgrundrechtsstandards verstößt, ist zukünftig die Urteilsverfassungsbeschwerde vor dem BVerfG statthaft.161 Dieser Weg über das BVerfG dürfte einem rechtzeitigen Rechtsschutz des Auszuliefernden nicht entgegenstehen. Dies könnte jedoch deshalb problematisch sein, weil die Verfassungsbeschwerde keinen Suspensiveffekt besitzt.162 Sie kann jedoch mit einem Eilantrag verbunden werden: Gem. § 32 Abs. 1 BVerfGG entscheidet das BVerfG vorläufig durch einstweilige Anordnung, „wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.“ Im Rahmen dessen nimmt das BVerfG eine Folgenabwägung dergestalt vor, als dass etwaige Nachteile, die dann vorlägen, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache jedoch Erfolg hätte, mit den Nachteilen abgewogen werden, die durch die begehrte einstweilige Anordnung entstehen.163 Besteht die Möglichkeit, dass der Betroffene nach erfolgter 157

S. hierzu Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, S. 181 ff. BVerfG, 18. 7. 2005 – 2 BvR 2236/04 = NJW 2005, 2289, 2294 ff. 159 BVerfG, 18. 7. 2005 – 2 BvR 2236/04 = NJW 2005, 2289, 2295 f. 160 S. zu diesem Kriterium auch Rademacher, JuS 58 (2018), 337, 340. 161 Grundlegend hierzu BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201; vgl. hierzu Kapitel 2 D. II. 3. c) bb). 162 Morgenthaler, in: Epping / ​Hillgruber (Hrsg.), ­BeckOK GG, Art. 93 GG Rn. 50; Walter, in: Herzog / ​Scholz / ​Herdegen / ​K lein (Hrsg.), Maunz / ​Dürig GG, Art.  93  GG Rn.  323. 163 So die st. Rspr. des BVerfG, BVerfG, 16. 7. 2019 – 2 BvR 1258/19 = BeckRS 2019, 15724 Rn. 6; BVerfG, 3. 6. 2019 – 2 BvR 841/19 = BeckRS 2019, 10808 Rn. 14; s. zudem BVerfGE 132, 196, 232 f. Rn. 87; 125, 385, 393; 108, 238, 246; 106, 351, 355; 105, 365, 371; 104, 23, 28 f. 158

B. Prozessuale Ausgestaltung im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten   

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Auslieferung einer Unionsgrundrechtsverletzung ausgesetzt sein wird, wird eine einstweilige Anordnung allein deshalb bereits geboten sein, weil eine nachträg­ liche Rückholung des Betroffenen nicht mehr möglich sein wird. Dementsprechend werden die Nachteile, die dem Betroffenen durch die Gefahr einer Unionsgrundrechtsverletzung im ersuchenden Staat entstehen, eine verzögerte Auslieferung im Rahmen der Folgenabwägung regelmäßig überwiegen.164 Durch die einstweilige Anordnung des BVerfG kann insofern die Überstellung des Betroffenen an die USA oder einen anderen Drittstaat einstweilen bis zum Hauptverfahren untersagt werden.165 Das BVerfG kann insofern direkt über die richtige Anwendung der Unionsgrundrechte durch die Fachgerichte entscheiden. Die neue Möglichkeit der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde aufgrund der Verletzung von Unionsgrundrechten erweist sich insofern als äußerst bürgerfreundlich. Darüber hinaus muss für einen vollständigen Rechtsschutz für den zu Überstellenden allerdings auch die Überprüfungsmöglichkeit bestehen, was überhaupt unter den erforderlichen unionalen Mindestgrundrechtsstandards zu verstehen ist. Hierfür reichen die Möglichkeiten, eine erneute Entscheidung des OLG herbei­ zuführen oder eine Verfassungsbeschwerde zu erheben, jedoch nicht aus. Denn die unionsrechtliche Frage nach dem Gewährleistungsinhalt unionaler Mindestgrundrechtsgarantien liegt gerade nicht in der Entscheidungskompetenz des OLG oder in der des BVerfG,166 sondern ausschließlich in der des EuGH (vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV). Dem Auszuliefernden ist jedoch nicht damit gedient, wenn er zwar einen Antrag auf eine erneute Entscheidung des OLG i. S. d. § 33 IRG stellen kann oder subsidiär eine Verfassungsbeschwerde erheben kann, jedoch weder das zuständige Gericht im fachgerichtlichen Rechtsschutz noch das BVerfG dazu befugt ist, zu beurteilen, was beispielsweise zum Wesensbestand eines Unionsgrundrechts gehört und daher im konkreten Auslieferungsfall nicht berührt werden darf. Direkt kann ein Auszuliefernder sich nicht an den EuGH wenden. Dies ergibt sich daraus, dass sich die Grenzen der Unionsgerichtsbarkeit des EuGH nach dem Prinzip begrenzter Einzelermächtigung (Art. 5 EUV) aus den Verträgen ergeben (s. Art. 13 Abs. 2 S. 1, 19 Abs. 3 EUV),167 eine solche Beschwerde jedoch nicht vorgesehen ist. Es besteht auch keine allgemeine Zuständigkeit des EuGH für alle das Unionsrecht betreffenden Rechtssachen.168 Allerdings reicht ein mittelbarer Rechtsschutz vor dem EuGH dergestalt, dass das zuständige Gericht eine 164

S. BVerfG, 16. 7. 2019 – 2 BvR 1258/19 = BeckRS 2019, 15724 Rn. 9; BVerfG, 3. 6. 2019 – 2 BvR 841/19 = BeckRS 2019, 10808 Rn. 18. 165 So hat das BVerfG erst kürzlich entschieden: BVerfG, 16. 7. 2019  – 2 BvR 1258/19  = BeckRS 2019, 15724. 166 Dies erkennt das BVerfG auch ausdrücklich an, s. BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 205 f. Rn. 68 ff. und befürwortet insofern eine enge Kooperation mit dem EuGH. 167 Wegener, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 19 EUV Rn. 4. 168 Wegener, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 19 EUV Rn. 4.

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

Vorlagefrage nach Art. 267 AEUV an den EuGH richtet, aus.169 Denn immerhin liegt es gem. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV auch in der Mitverantwortung der Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, um einen wirksamen Rechtsschutz in dem vom Unionsrecht erfassten Bereich zu gewährleisten170 – im Zweifelsfall dergestalt, dass ein mittelbarer Rechtsschutz über den EuGH gewährleistet ist. Ein solcher Rechtsbehelf existiert auch im Verhältnis von nationalen Gerichten und dem EuGH: Gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV müssen Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können (sog. letztinstanzliche Gerichte) den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens anrufen. Hiervon kann das letztentscheidende Gericht ausschließlich dann absehen, wenn die Rechtsfrage bereits vom EuGH in einem identischen anderen Verfahren entschieden worden ist oder eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH existiert oder – nach einem unionsweiten Maßstab – nur eine Auslegung ernsthaft in Betracht kommen kann.171 Da der EuGH allerdings kaum unionale Mindestgrundrechtsstandards definiert hat, sondern höchstens damit begonnen hat,172 wird die Rechtslage derzeit oftmals unklar sein.173 Es kommt auch nicht nur eine Auslegung unionaler Mindestgrundrechtsstandards ernsthaft in Betracht, da die nicht beschränkbaren Wesensbestandteile unionaler Grundrechte und absolute Grundrechte beispielsweise einen weiteren Schutz gewähren können, als die entsprechenden Menschenrechte der EMRK dies gewähren.174 Dement­ sprechend wird das letztentscheidende Gericht regelmäßig dazu verpflichtet sein, bei der Geltendmachung einer realen Gefahr der Verletzung von Unionsgrundrechten den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens anzurufen. Jedenfalls das BVerfG wird dementsprechend im Fall einer Urteilsverfassungsbeschwerde gegen den wiederholten Zulässigkeitsbeschluss des OLG den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV anrufen,175 sofern die Auslegung der Unionsgrundrechte im konkreten Fall in Frage steht. Darüber hinaus wird wohl auch das OLG weiterhin verpflichtet,176 jedenfalls aber berechtigt sein,177 bei grundrechtlichen Auslegungsfragen den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens anzurufen. 169

Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 47 GrCh Rn. 27; Rademacher, JuS 58 (2018), 337, 340. 170 Zu dem mitgliedstaatlichen Rechtsschutzauftrag s. Wegener, in: Calliess / ​Ruffert (Hrsg.), EUV / ​AEUV, Art. 19 EUV Rn. 43 ff. 171 Zu den Ausnahmen von der Vorlagepflicht s. statt vieler Bergmann, ZAR 2011, 41, 43; Haratsch / ​Koenig / ​Pechstein, Europarecht, Rn. 592; Meyer-Mews, StV 40 (2020), 564, 565 f. 172 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2). 173 Dies gesteht sogar der EuGH ein, wenn er davon spricht, dass „im Unionsrecht gegenwärtig keine Mindestvorschriften hierzu existieren“, so EuGH, Urteil vom 15. 10. 2019 – C-128/18 (Rs. Dorobantu) = BeckRS 2019, 24468 Rn. 71 ff., 85 f. 174 Vgl. Kapitel 2 D. II. 3. d) aa) (2) (c). 175 Vgl. BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 205 Rn. 69 ff. 176 Vgl. hierzu oben in demselben Abschnitt. 177 Vgl. Art. 267 Abs. 2 EUV; s. BVerfG, 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17 = JZ 75 (2020), 201, 206 Rn. 75 f.

B. Prozessuale Ausgestaltung im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten   

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Die Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens als mittelbare Rechtsschutzmöglichkeit gewährt dem Auszuliefernden jedoch nur dann einen rechtzeitigen und damit einen effektiven Rechtsschutz, wenn die Entscheidung des EuGH zeitnah erfolgt. Dies ist vor dem Hintergrund bedenklich, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer eines Vorabentscheidungsverfahrens beim EuGH bei ca. 15 Monaten liegt178 und es sich hierbei im gesamten Verfahrensablauf auch bloß um ein Zwischenverfahren handelt, dem im Auslieferungsprozess noch eine erneute Entscheidung des BVerfG oder des OLG nachfolgen würde. Allerdings bestehen rechtliche Möglichkeiten dahingehend, dass der EuGH in Rechtssachen schneller entscheidet – und zwar mit ansteigender Dringlichkeit der Rechtssache entweder aufgrund eines Vorrangs der Rechtssache (Art. 53 ff. VerfOEuGH), im beschleunigten Verfahren (Art. 105 ff. VerfOEuGH) oder im Eilverfahren (Art. 107 ff. VerfOEuGH). Insbesondere findet in Haftsachen das Eilvorlageverfahren mittlerweile seine primärrechtliche Grundlage in Art. 267 Abs. 4 AEUV. Hiernach entscheidet der EuGH „innerhalb kürzester Zeit“,179 wenn die Vorlage in einem schwebenden Verfahren erfolgt, das eine inhaftierte Person betrifft,180 was in Auslieferungsfällen aufgrund der regelmäßig angeordneten Auslieferungshaft der Hauptanwendungsfall sein wird. Die Eilvorlage in Haftsachen in Art. 267 Abs. 4 AEUV sollte dem Zuwachs an Kompetenzen der EU in Strafsachen Rechnung tragen.181 Auch wenn vor der Normierung des Art. 267 Abs. 4 AEUV bereits ein sog. Eilvorlageverfahren beim EuGH eingeführt worden war (Art. 23a Satzung EuGH und Art. 107 ff. VerfOEuGH), so hat dieses ein weiteres Anwendungsfeld und ist nicht auf Haftsachen beschränkt. Jedenfalls findet sich in der Normierung des Art. 267 Abs. 4 AEUV eine primärrechtliche Regelung der Eilvorlage in Haft­ sachen. Da diese im Vergleich zu Art. 108 VerfO EuGH höherrangig ist, ist Art. 108 Abs. 1 VerfOEuGH, der eine Entscheidung über die Dringlichkeit i. S. d. Art. 107 Abs. 2 VerfOEuGH der Rechtssache voraussetzt, bevor sie ins Eilverfahren übergeht, so zu verstehen, dass in Haftsachen von Amts wegen eine Pflicht zur Ein-

178

S. den Jahresbericht 2019 des EuGH („Jahresüberblick“), wonach die durchschnittliche Verfahrensdauer bei 14,4 Monaten liegt (vgl. S. 55). Der Jahresbericht ist abrufbar unter: https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2020-05/ra_pan_2019_de_final.pdf, zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020; vgl. auch Karpenstein, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 267 Rn. 73; Latzel / ​Streinz, NJW 2013, 271. 179 Nach dem Jahresbericht 2019 des EuGH („Jahresüberblick“) liegt die durchschnittliche Dauer eines Eilvorabentscheidungsverfahrens bei nur 3,1 Monaten (vgl. S. 55). Der Jahresbericht ist abrufbar unter: https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2020-05/ ra_pan_2019_de_final.pdf (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). 180 S. hierzu Folz, in: Vedder / ​Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 47 GrCh Rn. 7. 181 Karpenstein, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 267 AEUV Rn. 95; Pache, in: Vedder / ​Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 267 AEUV Rn. 40.

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

leitung eines Eilverfahrens besteht.182 Die durchschnittliche Bearbeitungszeit von Eilvorlageverfahren beim EuGH liegt bei drei Monaten.183 Insofern trägt der mittelbare Rechtsschutz über den Weg des Vorabentscheidungsverfahrens auch dem Interesse des Betroffenen an einem rechtzeitigen Rechtsschutz Rechnung. Die Installation einer zweiten Instanz, wie sie teilweise in der Literatur gefordert wird,184 würde das Auslieferungsverfahren nur unnötig hinauszögern und den Interessen des Auszuliefernden erheblich widersprechen: Die Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens könnte hierdurch nicht umgangen werden, da auch eine zweite Instanz nicht dazu befugt wäre, zu entscheiden, was zu den uneinschränkbaren Bestandteilen der unionalen Mindestgrundrechte gehört. Vielmehr müsste dann das zweitinstanzliche Gericht als letztinstanzliches Gericht diese Frage dem EuGH vorlegen. Hierdurch würden die rechtlichen Grundrechtsfragen jedoch lediglich auf die nächsthöhere da dann letzte Instanz verschoben. Die Anrufung einer zweiten Instanz wäre mit erheblichen Verfahrensverzögerungen und daher Belastungen für den Auszuliefernden verbunden und seinen Interessen daher nicht dienlich. Insgesamt bestehen damit für den Betroffenen im Auslieferungsverfahren effektive Rechtsschutzmöglichkeiten i. S. d. Art. 47 Abs. 1 GrCh. 3. Zusammenfassung Hat das OLG in seinem Zulässigkeitsbeschluss bereits vom EuGH definierte Unionsgrundrechtsmindeststandards nicht gewahrt, so kann der Betroffene eine erneute Entscheidung des OLG beantragen, sodass er selber bzw. sein Rechtsbeistand eine Selbstkorrektur des OLG herbeiführen kann. Für den Fall, dass die Gefahr besteht, dass die Behandlung des Betroffenen im ersuchenden Staat unionsgrundrechtlichen Mindeststandards nicht genügt, darf das OLG die Auslieferung nicht für zulässig erklären. Beschließt das OLG dennoch, dass keine Gefahr einer Verletzung von uneinschränkbaren Unionsgrundrechten nach erfolgter Auslieferung besteht, ist der Auszuliefernde im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde 182

Karpenstein, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 267 AEUV Rn. 96; Pache, in: Vedder / ​Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 267 AEUV Rn. 42. Grundsätzlich kann das Eilverfahren entweder vom vorlegenden Gericht oder von Amts wegen vom Präsidenten des EuGH angeregt werden (Art. 107 Abs. 1 Alt. 1 VerfOEuGH bzw. Art. 107 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 3 VerfOEuGH). Der eigentliche Entschluss zur Einleitung des Eilverfahrens wird von einer eigens hierfür errichteten Kammer getroffen (Art. 108 Abs. 1 VerfOEuGH). 183 Vgl. den Jahresbericht 2019 des EuGH („Jahresüberblick“), abrufbar unter: https://curia. europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2020-05/ra_pan_2019_de_final.pdf (zuletzt aufgerufen am 23. 9. 2020). Im Jahre 2012 lag sie sogar nur bei zwei Monaten, s. den Bericht über die Anwendung des Eilvorlageverfahrens durch den Gerichtshof v. 31. 1. 2012; s. hierzu Karpenstein, in: Grabitz / ​Hilf / ​Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 267 Rn. 93. 184 Leipold / ​L ochmann, ZRP 2018, 43, 45 ff.

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beschwerdebefugt, solange er sich auf die Verletzung unionaler Mindestgrundrechtsstandards durch die Entscheidung des OLG beruft. Ist es hingegen ungewiss, ob eine bestimmte Behandlung unionalen Mindestgrundrechtsstandards Rechnung trägt, weil der EuGH noch keine für den Fall relevanten Unionsgrundrechtsmindeststandards entwickelt hat, muss auch insofern ein wirksamer, d. h. auch vollständiger, Rechtsschutz bestehen. Dem wird über die Möglichkeit des mittelbaren Rechtsschutzes vor dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV Rechnung getragen. Damit wird ein effektiver Rechtsschutz zwar nur durch eine Kooperation zwischen mitgliedstaatlichen Gerichten und dem EuGH erreicht. Dies stellt jedoch keine Besonderheit des Auslieferungsrechts dar, sondern ist im Anwendungsbereich von Unionsrecht üblich, wie sich aus dem mitgliedstaatlichen Auftrag zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV ergibt.185 Das existierende Rechtsschutzsystem trägt damit den Grundrechtsgefährdungen, denen der Auszuliefernde durch eine positive Auslieferungsentscheidung ausgesetzt ist, hinreichend Rechnung. Deutschland ist damit seiner Verantwortung aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV nachgekommen. Im Auslieferungsverfahren verbleiben nach Aufnahme der vorgeschlagenen Klausel keine ungeschützten Individualrechtspositionen in Bezug auf eine drohende Grundrechtsverletzung nach erfolgter Auslieferung.

II. Prozessuale Geltendmachung einer Zusicherung Zur Beurteilung der Zulässigkeit der Auslieferung gehört auch die Klärung der Frage, ob eine Gefahr der drohenden unionsgrundrechtswidrigen Behandlung des Auszuliefernden im ersuchenden Staat besteht. Lässt sich eine nicht zu rechtfertigende grundrechtswidrige Behandlung nicht ausschließen, ist die Auslieferung abzulehnen.186 Allerdings kann eine verlässliche völkerrechtliche Zusicherung die Gefahr einer grundrechtswidrigen Behandlung beseitigen, sodass eine solche die Zurechnung grundrechtsverletzender Handlungen an die Hoheitsträger des ersuchten Staates Deutschland unterbricht187 und als materielle Voraussetzung der Auslieferung die Belastbarkeit einer Zusicherung von Amts wegen188 bereits 185

Folz, in: Vedder / ​Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 47 GrCh Rn. 6; Gaitanides, in: von der Groeben / ​Schwarze / ​Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 19 EUV Rn. 59; Hatje / ​Kindt, NJW 2008, 1761, 1767; Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV / ​ AEUV, Art. 19 EUV Rn. 49; Terhechte, EuR 2008, 143, 159. 186 Vgl. Kapitel 2 D. II. 187 S. hierzu oben Kapitel 2 D. III. 188 Zur Amtsermittlungs- und Aufklärungspflicht des OLG im Zulässigkeitsverfahren s. Ahlbrecht, in: Ahlbrecht / ​Böhm / ​Esser / ​Eckelmanns, Internationales Strafrecht, Rn.  1209; Böhm, in: Grützner / ​Pötz / ​Kreß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 30 Rn. 2, 8 ff.; Riegel, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 30 IRG

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

durch das OLG im Zulässigkeitsverfahren geprüft werden muss.189 Wenn in der vorgeschlagenen völkervertraglich zu regelnden Grundrechtsklausel davon die Rede ist, dass der „ersuchende Staat eine vom ersuchten Staat als ausreichend erachtete Zusicherung abgibt“, dann ist damit vor allem die Einschätzung des für den konkreten Fall zuständigen OLG gemeint. Die nationalen Verfahrensvorschriften sehen für die Berücksichtigung völkerrechtlicher Zusicherungen ausreichende Gestaltungsmöglichkeiten vor: Gem. § 30 Abs. 1 S. 1 IRG „entscheidet das Oberlandesgericht (für den Fall, dass die Auslieferungsunterlagen zur Beurteilung der Zulässigkeit nicht ausreichen) erst, wenn dem ersuchenden Staat Gelegenheit gegeben worden ist, ergänzende Unterlagen beizubringen“. Hiernach wird es dem OLG ermöglicht, weitere Informationen einzuholen. Dies betrifft auch die Abgabe belastbarer Zusicherungen für den Fall einer drohenden Grundrechtsverletzung.190 Diese Möglichkeit ist darin begründet, dass das OLG jedenfalls dann einer Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung unterliegt, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass bestimmte Umstände einer Zulässigkeit der Auslieferung entgegenstehen.191 Insofern hat das OLG  – bevor es endgültig eine Auslieferung für zulässig erklärt – bei Zweifeln dem ersuchenden Staat Gelegenheit zu geben, ergänzende Unterlagen beizubringen. Unter den „ergänzenden Unterlagen“ sind insbesondere auch völkerrechtliche Zusicherungen zu verstehen. Die Aufforderung zur Beibringung ergänzender Unterlagen erfolgt in Form eines Zwischenbeschlusses,192 in dem das OLG tenoriert, dass weitere Unterlagen zur Entscheidungsfindung erforderlich sind. Für die Einholung der Unterlagen ist sodann gem. § 13 Abs. 2 IRG die Staatsanwaltschaft bei dem OLG zuständig, die – abhängig vom Geschäftsweg beim ersuchenden Staat – entweder selbst oder über die Bewilligungsbehörde eine entsprechende Anfrage beim ersuchenden Staat stellt.193 Hierbei stellt sich die Frage, ob hierin ein Zwischenbeschluss ausschließlich vorbereitender Natur für die eigentliche Zulässigkeitsentscheidung zu sehen ist oder Rn. 5 ff.; s. aus der Rspr. BVerfGE 63, 215 ff.; BVerfG, 9. 11. 2000 – 2 BvR 1560/00 = NStZ 2001, 203, 205; OLG Dresden, 13. 7. 2015 – Ausl 98/15 = BeckRS 2015, 17601 Rn. 25. 189 So auch Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 222; Vogel, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 73 Rn.  121. 190 Zu dem Prüfungsmaßstab einer solchen verlässlichen Zusicherung vgl. Kapitel 2 D. III. 2.  b) bb); s. zudem Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis, S. 291; Gleß / ​Wahl / ​ Zimmermann, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 73 IRG Rn. 42 ff. 191 Böhm, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 30 Rn. 2 ff. 192 Böhm, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 30 Rn. 33; Riegel, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 32 Rn. 18. 193 S. hierzu Ahlbrecht, in: Ahlbrecht / ​Böhm / ​Esser / ​Eckelmanns, Internationales Strafrecht, Rn. 1210; Böhm, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, 30 Rn. 33; Köberer, in: Ambos / ​König / ​Rackow (Hrsg.), Rechtshilferecht, 2. Hauptteil Rn. 377.

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ob die Auslieferung bereits unter der Bedingung der Abgabe einer entsprechenden Zusicherung für zulässig erklärt wird. Die Annahme einer bedingten Zulässigkeitserklärung findet im Gesetz keine Stütze. Vielmehr spricht bereits die amtliche Überschrift des § 30 IRG ausdrücklich von der „Vorbereitung der Entscheidung“. Dies legt die Auslegung nahe, dass die Zulässigkeitserklärung erst nach dem Einholen aller für die Entscheidung erforderlichen Umstände – auch unter Berücksichtigung von völkerrechtlichen Zusicherungen  – ergehen soll. Hierfür spricht auch, dass es sich um einen „Zwischen“-Beschluss handelt, der eigentliche Beschluss bezüglich der Zulässigkeit der Auslieferung also noch nicht möglich ist. Das OLG darf erst dann verbindlich über die Auslieferung entscheiden, wenn die Gefahr einer unionsgrundrechtswidrigen nicht zu rechtfertigenden Behandlung des Auszuliefernden ausgeschlossen ist und alle hierfür im Zweifelsfall erforderlichen belastbaren völkerrechtlichen Zusicherungen194 vorliegen. Ob die Zusicherung ausreichend ist, ist insofern auch bereits durch das OLG zu prüfen.195 Völkervertraglich würde die vorgeschlagene Klausel die Feststellungskompetenz auch den innerstaatlichen Hoheitsträgern und damit auch den über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidenden Richtern am OLG zuweisen. Im Übrigen sprechen auch Sinn und Zweck der Zusicherungen im Auslieferungsverkehr dafür, dass es sich bei dem Zwischenbeschluss um eine den eigentlichen Beschluss bloß vorbereitende Entscheidung handelt: Zusicherungen können nur im Fall ihrer tatsächlichen Belastbarkeit einen Zurechnungsausschluss einer unionalen Grundrechtsverletzung bewirken. Dies kann jedoch nur ausnahmsweise der Fall sein.196 Dem widerspräche es, wenn die Auslieferung trotz Bedenken bezüglich einer grundrechtsgemäßen Behandlung im ersuchenden Staat für zulässig erklärt werden würde – auch wenn dies unter der Bedingung einer entsprechenden völkerrechtlichen Zusicherung geschehen würde. Außerdem wird es regelmäßig im Interesse des ersuchenden Staates liegen, völkerrechtliche Zusicherungen abzugeben und die Möglichkeit der Stellungnahme in Bezug auf die grundrechtliche Behandlung im ersuchenden Staat zu ergreifen, da ansonsten eine Auslieferung durch das OLG für unzulässig zu erklären ist. Für den Fall, dass der ersuchende Staat auf die Aufforderung zur Beibringung weiterer Unterlagen nicht reagiert, ist die Auslieferung seitens des zuständigen OLG für unzulässig zu erklären.197 Dies gilt auch für den Fall, dass nach rechtlicher Würdigung des OLG keine belastende Zusicherung abgegeben wird. Was den Inhalt einer belastbaren Zusicherung angeht, ist nochmals zu betonen, dass das OLG keine Kompetenz zur Bestimmung unionaler Mindestgrundrechts 194

Vgl. Kapitel 2 D. III. 2. b) bb). Riegel, in: Schomburg / ​Lagodny (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 32 Rn. 18. 196 S. hierzu Kapitel 2 D. III. 2. b) bb) und Kapitel 2 D. II. 2. c). 197 Böhm, in: Grützner / ​Pötz / ​K reß / ​Gazeas (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr, § 30 Rn. 35. 195

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Kap. 3: Grundrechtsvorbehalt im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten

standards hat. Auch insofern muss das OLG im Wege des Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV den EuGH anrufen, um die Mindestschutzstandards unionsrechtlich definieren zu lassen und so letztlich zu der Überzeugungsbildung gelangen zu können, ob dem Betroffenen eine Verletzung seiner unionalen Mindestgrundrechte tatsächlich droht. Insofern hat das OLG nach der Entscheidung des EuGH Vorgaben an die Mindestanforderungen in der erwarteten völkerrechtlichen Zusicherung zu machen und dies den USA zukommen zu lassen. Von den Hoheitsträgern der USA kann jedenfalls nicht erwartet werden, dass sie wissen, welche Gestalt die völkerrechtliche Zusicherung aufweisen muss, um den Ablehnungsgrund nicht zu aktivieren. Insgesamt bietet das derzeitige Auslieferungsverfahren damit bereits die Möglichkeit, eine Zusicherung prozessual geltend zu machen und dadurch einen Ablehnungsgrund ausnahmsweise zu verneinen.

Resümee Gegenstand dieser Arbeit war es, das völkervertragliche Auslieferungsverfahren von Deutschland als Mitgliedstaat der EU mit Drittstaaten am Beispiel der USA auf einen Ablehnungsgrund hin zu untersuchen, der bei Bedenken bezüglich der grundrechtskonformen Behandlung des Betroffenen nach erfolgter Auslieferung eingreift. Hierbei hat sich im Rahmen des Kapitels 1 herausgestellt, dass sich in den derzeit existierenden Auslieferungsverträgen kein allgemeiner Ablehnungsgrund bei grundrechtlichen Bedenken finden lässt – weder in dem bilateralen Auslieferungsvertrag Deutschlands mit den USA noch in dem Auslieferungsabkommen der EU selbst mit den USA. Dies kann im Einzelfall zu einem Auseinanderfallen zwischen der völkerrechtlichen Auslieferungspflicht Deutschlands und den innerstaatlichen Grundrechtsbindungen der über die Auslieferung entscheidenden nationalen Hoheitsträger führen. Im Kapitel 2 wurde sodann herausgearbeitet, dass deutsche Hoheitsträger aus rechtsstaatlichen Gründen aufgrund ihrer innerstaatlichen Grundrechtsbindung bei Zweifeln bezüglich einer grundrechtskonformen Behandlung des Betroffenen verpflichtet sind, die Auslieferung abzulehnen. Dabei hat sich herausgestellt, dass sich die rechtsstaatliche Grenze einer Auslieferung an Drittstaaten, mit denen die EU selber ein Auslieferungsübereinkommen abgeschlossen hat, aus den unionsrecht­ lichen Maßstäben der GrCh ergeben muss. Denn solche Auslieferungen fallen immer in den Anwendungsbereich des Unionsrechts – und das unabhängig davon, ob die Überstellung eines Unionsbürgers oder die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen im Raum steht. Damit müssen auch ohne eine entsprechende völkervertragliche Regelung Auslieferungen an Drittstaaten, mit denen die EU selber ein Auslieferungsabkommen abgeschlossen hat, abgelehnt werden, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Behandlung des Betroffenen nach erfolgter Überstellung nicht den unionalen Mindestgrundrechtsstandards entspricht. Andernfalls liegt ein den deutschen Justizbehörden zurechenbarer Unionsgrundrechtsverstoß vor. Ausschließlich dann, wenn eine Zusicherung des ersuchenden Staates bezüglich der Einhaltung der Mindeststandards vorliegt und wenn auf diese absolut vertraut werden kann, liegt kein zurechenbarer Grundrechtsverstoß der Justizbehörden des ersuchten Staates vor. Die in dem AuslAbk EU-USA normierte Klausel für die Zusicherung bezüglich der Nichtvollstreckung der Todesstrafe hat sich dabei nicht als probates Mittel für den Zurechnungsausschluss erwiesen. Insgesamt hat sich herausgestellt, dass im Auslieferungsverkehr mit den USA für die über die Auslieferung entscheidenden Justizbehörden derzeit nur die Möglichkeit besteht, bei einer drohenden Unterschreitung unionaler Mindestgrundrechtsstandards die Aus-

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Resümee

lieferung aufgrund ihrer innerstaatlichen Verpflichtung zur Wahrung der Unionsgrundrechte abzulehnen und dabei gegen völkerrechtliche Auslieferungspflichten zu verstoßen. Für einen Gleichlauf von völkerrechtlicher und innerstaatlicher Pflichtenlage hat sich deshalb im Rahmen des Kapitels 3 bei Abschluss eines Auslieferungsabkommens der EU mit einem Drittstaat die Notwendigkeit der Schaffung eines allgemeinen Grundrechtsvorbehalts gezeigt, der sich die uneinschränkbaren unionalen Mindestgrundrechtsstandards als Stellschraube für einen Ablehnungsgrund zu Nutze macht. Ein solcher Vorbehalt ist aufgrund der Schutzpflicht des Unionsgesetzgebers für die unionalen Grundrechte nicht nur geboten, sondern kann sich auch gegen generelle Einwände gegen unionales Tätigwerden wie das Prinzip begrenzter Einzelermächtigung und den Grundsatz der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit behaupten. Um für die Zukunft im Außenverhältnis der Union klare und für alle Mitgliedstaaten einheitliche und verbindliche Maßstäbe bezüglich eines unionalen Mindestgrundrechtsschutzes zu setzen, muss der Unionsgesetzgeber für den Fall, dass er Auslieferungsabkommen abschließt, auch zum Schutz unionaler Grundrechte einen völkervertraglichen Ablehnungsgrund schaffen und auf die Aufnahme dieses Vorbehalts im AuslAbk EU-USA hinwirken. Es hat sich gezeigt, dass sich ein europäischer Grundrechtsvorbehalt unproblematisch in das bestehende innerstaatliche Auslieferungsverfahren eingliedern lässt und so zu einem angemessenen Individualrechtsschutz beiträgt. Die vorgeschlagene Grundrechtsklausel soll dabei den Auslieferungsverkehr der EU mit Drittstaaten – für den Fall, dass die EU zur Vereinheitlichung im Außenverhältnis Abkommen mit Drittstaaten abschließt  – konsequenterweise auch in Bezug auf die Wahrung der Unionsgrundrechte harmonisieren. Der Vorteil des Vorschlags liegt darin, dass er die Feststellungskompetenz dem ersuchten Mitgliedstaat zuweist, sodass völkerrechtlich klar geregelt ist, wer völkerrechtlich verbindlich darüber entscheidet, ob der Ablehnungsgrund eingreift oder nicht. Dem von einer Auslieferung an Drittstaaten Betroffenen wird es so möglich, seine durch die Klausel auch völkervertraglich abgesicherten unionalen Mindestgrundrechtsstandards gleichermaßen innerstaatlich- und völkerrechtskonform geltend zu machen.

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Sachverzeichnis Abwesenheitsurteil als Auslieferungs­ hindernis  78, 155, 161, 169 Allgemeine Rechtsgrundsätze  83 f., 163 Amnestie 154 Anordnung der Übergabe  149 Antifolterkonvention  84, 92 ff., 96 ff. Anwendbarkeit regionaler und nationaler Grundrechte im völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr – eingeschränkte  126 ff. – keine  119, 120 ff. – volle  125 f. Anwendungsbereich des Unionsrechts – bei Auslieferungen an die USA  138 ff. – bei Europäischen Haftbefehlen  148 ff. – Durchführung von Unionsrecht iSd § 51 GrCh  134 ff. Anwendungsvorrang von Unionsrecht  133, 184 ff., 208 f. Assange, Julian  218 Auslegung – Auslegung einzelner Normierungen ​ 46 ff., 49 ff. – innerstaatliche Korrektur des völkerrechtlichen Auslegungsergebnisses  46, 114 ff., 243 – unionsrechtskonforme  117, 219 – verfassungskonforme 114 – völkerrechtskonforme  114 ff., 127 f., 213 – von völkerrechtlichen Verträgen  46 ff. Auslieferungsabkommen EU-USA – Rechtsgrundlagen  29 ff., 35 ff., 40 ff. Auslieferungshaftverfahren  38, 52 ff., 269 f., 277, 283, 287 Auslieferungsmodell – dreidimensionales  89, 120, 123 f. – zweidimensionales 89 Auslieferungsstatistik 21 Auslieferungsverkehr Deutschland mit den USA – normierte Ablehnungsgründe  39 ff.

– punktuell gewährleisteter Individualrechtsschutz  40 ff., 42 ff., 65 ff., 71 ff. – rechtlicher Rahmen  29 ff. – Voraussetzungen der Auslieferung  35 ff. Ausstellungsstaat  149, 179 Außenbeziehung der Union – Außenkompetenzen  253 ff. – bilaterale Auslieferungsverträge  20, 29 ff. – primärrechtliche Zielvorgaben  212 ff., 252 Ausnahmegerichte  38, 44, 61, 77 Balance zwischen Individualrechten und effektiver Strafverfolgung  23, 124, 130 Beiderseitige Strafbarkeit  35, 73 f., 151 ff., 155 Beschleunigung – des Übergabeverfahrens  150 ff. – in Haftsachen  283 Bewilligungsverfahren – im traditionellen Auslieferungsverkehr  268 ff., 271 ff. – Rechtsschutzmöglichkeiten  277 ff. – Zurückdrängung innerhalb der EU  151 – Zuständigkeit  271 f. Bilaterale Auslieferungsverträge, siehe Auslieferungsverträge, bilaterale Charta der Vereinten Nationen  83, 87, 212 f., 255 f. Diskriminierungsverbot – unionsrechtliches  138 ff., 216 f. – völkerrechtliches  84, 96 Dritte Säule  31, 142, 144 Durchführung von Unionsrecht  113, 131, 134 ff., 147 ff., 188, 215 ff. Eigene Gerichtsbarkeit als Auslieferungshindernis  38, 44, 155 Eilvorlageverfahren  287 f.

Sachverzeichnis Einschätzungsprärogative des Unions­ gesetzgebers, siehe Unionsgesetzgeber, Einschätzungsprärogative des Effet utile  54 f., 117, 134, 162, 187 f., 209 Erga omnes  88 ff. Europäische Ermittlungsanordnung  179 Europäischer Haftbefehl – Ablehnungsgründe jenseits des RbEuHb  159 ff. – Aufschub der Vollstreckung  162 ff. – fakultative Ablehnungsgründe im RbEuHb  154 f. – Garantien  154, 161 f. – Grundlagen  147 ff. – obligatorische Ablehnungsgründe im RbEuHb  153 f. Europarechtsfreundlichkeit des GG  201, 203 Extraterritorialität von Auslieferungssachverhalten  68 ff., 145 ff. Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte 76 Faires Verfahren, siehe Recht auf ein faires Verfahren Fakultativklausel  23 f., 33, 107 f. Feststellungskompetenz  99 f., 242, 263 ff., 291 Fiskalstraftaten als Auslieferungshindernis  40, 42 f., 151 Folter-Memos  93 ff., 97 Folterverbot  75, 84, 91 ff., 145, 162 ff., 176, 263 Freizügigkeitsrecht  79, 138 ff., 216 f., 243 Garantie effektiven Rechtsschutzes  272 ff., 279 ff. Gegenseitige Anerkennung  149 f., 153 ff., 179 f., 207, 210 f. Gegenseitiges Vertrauen  150, 153 ff., 156 ff., 162 f., 174 f., 179 f., 210 ff. Gegenseitigkeitsprinzip  35, 40 Genfer Flüchtlingskonvention  93 Genozidverbot 84 Genuin europäischer Grundrechts­vorbehalt ​ 105 f. Genuin völkerrechtlicher Menschenrechtsvorbehalt  81 ff. Gesetzlicher Richter  77, 274

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Gesetzlichkeitsprinzip 75 Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, siehe gegenseitige Anerkennung Grundsatz der Gegenseitigkeit, siehe Gegenseitigkeit Grundsatz der Spezialität, siehe Spezialitätsgrundsatz Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, siehe gegenseitiges Vertrauen Guantánamo Bay  17 Haftbedingungen  156, 164 f., 168 ff., 174, 221 f., 233 f., 236 Humanitäre Ablehnungsgründe  73, 79 Identität – europäische  200 ff., 205 – nationale  195, 197 ff., 244 Identitätskontrolle  184 f., 190 ff. Integrationshebel des Art. 23 Abs. 1 GG  117, 130 f., 189, 201, 219 Isolationshaft  69, 75 f. Ius cogens – regionales 102 – völkerrechtliches  88 ff. Kompetenz-Kompetenz 253 Konsultationen  57 ff., 209, 230 Konventionen zum Schutz der Menschenrechte  83 f. Lebenslange Freiheitsstrafe  75, 154, 236 Lex posterior  102 f. Lex specialis  102 f. Loyalitätsgebot  117, 134, 188, 198 ff., 204, 249 Menschenwürde  155 f., 162 ff., 191, 195, 207, 213, 221 Militärische Straftaten als Auslieferungshindernis  37 f., 42, 151 Multilaterale Auslieferungsverträge, siehe Auslieferungsverträge, multilaterale Ne-bis-in-idem-Grundsatz, siehe Verbot der Doppelbestrafung Normenhierarchie im Völkerrecht  86 ff., 102

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Sachverzeichnis

Objektive Wertordnung  85 f. Objektivierung des Auszuliefernden  22 Ordre-Public-Vorbehalt – europäischer  105 ff. – nationaler  106 ff. – völkerrechtlicher  82 ff. Pacta sunt servanda  107 Politische Straftaten als Auslieferungs­ hindernis  37 f., 42, 151 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ​ 253 ff., 285 Prügelstrafe 74 Puigdemont, Carles  152 f. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts  20, 72 f., 133, 144 f., 148, 150, 156, 198, 212 f. Recht auf ein faires Verfahren  49 ff., 165 ff., 190 ff., 222 Recht auf Vergessen  137 f., 274 ff. Rechtssache Åkerberg Fransson  135 f., 143, 160 f. Rechtssache Aranyosi und Căldăraru  146, 162 ff., 221 Rechtssache Dorobantu  168 ff., 173, 176 Rechtssache LM  165 ff., 173, 177, 222 Rechtssache M. A.S. und M. B.  194, 206 Rechtssache Melloni  161 f. Rechtssache ML  165 ff. Rechtssache Petruhhin  70 f., 139, 216 f. Rechtssache Pisciotti  139, 216 f. Rechtssache Radu  160 ff., 170, 221 Rechtssache Soering  182 f., 228 Rechtssache Taricco  194 f. Rechtsstaatliche Grundsätze – als Einschränkung der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG  114 ff. – nationale  116 ff. – unionsrechtliche  116 ff., 156 ff., 175 ff. Rechtsstaatlichkeitsverfahren  157, 166 f., 177, 200, 226 Rule of non-inquiry  120 Schuldgrundsatz  74 f., 191 f. Schutzpflichten – der Union gegenüber den Mitgliedstaaten, siehe Loyalitätsgebot

– des Unionsgesetzgebers  247 ff. – Wesentlichkeitsschutz  249 f. Sklavereiverbot  84, 91 Souveränität der Staaten – europäische Souveränität  265 f. – im völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr  22 f., 39 f., 42, 44, 99, 214 f., 229 – Souveränitätsverzicht von Nationalstaaten zu Gunsten der EU  109, 152, 265 f. Spezialitätsgrundsatz  36, 153, 228 Staatsangehörigkeit als Auslieferungshindernis  38, 39, 43, 140, 151, 154 Stockholmer Programm  76 Subsidiaritätsprinzip  258 ff. Superrevisionsinstanz  275 f. Todesstrafe – als Ablehnungsgrund  37, 40 ff., 74, 182 f., 224, 225 ff. – Verhängung und Vollstreckung in den USA  18 f., 40 f. Übermaßverbot  241 ff., 248 Ultra vires  185, 190 ff., 202 f. Unabhängigkeit der Gerichte  156 ff., 166 ff., 177 f., 222, 280 f. Unionsbürger – Bürgerrechte  146, 217 – Überstellung an Drittstaaten 138 ff., 215 ff. Unionsgesetzgeber – Einschätzungsprärogative des  249 ff. – Grundrechtsbindung 247 – Schutzpflichten  247 ff. Unionsgrundrechte – absolute  164, 168 f., 171, 173, 176 f., 179 f., 210, 212, 214, 221 – Rechtsquellen des Grundrechts­schutzes ​ 132 ff. – Wesensgehalt  167 f., 173 ff., 179 f., 210, 212 ff. Unionsrichter 117 Unionstreue, siehe Loyalitätsgebot Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung  91 ff., 97 ff., 162 ff., 168 ff., 176 Untermaßverbot  247 ff. Verbot der Doppelbestrafung – europäisches  78, 135 f., 154 f.

Sachverzeichnis – nationales  43 f., 78 – völkerrechtliches 78 Verfassungsidentität, siehe Identität, nationale Verhältnis EuHb und Auslieferungsersuchen Drittstaat  147, 215 f. Verhältnis GrCh und EMRK  132 f. Verhältnismäßigkeit – als Maßstab unionsgesetzgeberischen Handelns  258, 261 ff. – des Strafmaßes  75 – von Grundrechtseinschränkungen  178 f., 216 f. Verrechtlichung des Auslieferungsverkehrs ​ 20 f. Verstümmelungsstrafe 74 Vertrag von Nizza  142 Vertragstheorie  89 f. Vertragsverletzungsverfahren  156 ff. Völkergewohnheitsrecht – als Rechtsquelle  83 ff., 93 – WVK  46 ff. Völkerrechtsfreundlichkeit – der Union  212 – des GG  114 f., 127 f., 185

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Völkerrechtssubjektivität  122 ff. Vollstreckungsstaat 149 Vorabentscheidungsverfahren  157 f., 169 f., 177, 204 ff., 220, 244, 285 ff. Waterboarding  93 f. Zulässigkeitsverfahren – Ablauf  268 ff. – erneute Entscheidung  280 ff. – gerichtliche Zuständigkeit  269 f. – Rechtsschutzmöglichkeiten  274 ff. Zurechnung drohender Grund- und Menschenrechtsverletzungen  68 ff., 180 ff. Zusicherungen – als Zurechnungsausschluss etwaiger Grundrechtsverletzungen  228 ff. – bei drohender Todesstrafe  225 ff., 237 ff. – prozessuale Geltendmachung  289 ff. Zustimmungsgesetz  33 f., 46 ff., 82, 107 f., 113 ff., 117, 140 ff. Zwingendes Recht, siehe ius cogens Zwischenbeschluss  291 f.