Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz: Grundlagentheoretische Reflexionen [1. Aufl.] 9783839404775

Was ist darunter zu verstehen, wenn von einem Aufeinandertreffen der Kulturen die Rede ist? Was genau wird postuliert, w

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Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz: Grundlagentheoretische Reflexionen [1. Aufl.]
 9783839404775

Table of contents :
Inhalt
Einleitende Bemerkungen: ›Kulturelle Differenz‹ aus wissenssoziologischer Sicht
Konstitution und Konstruktion ›kultureller Differenz‹
Kultur, die soziale Konstruktion, das Fremde und das Andere
Transdifferenz, Kulturhermeneutik und alltägliches Übersetzen: Die soziologische Perspektive
Vertraute Fremdheit und desperate Vergemeinschaftung – Ethnizität und die doppelte Normalisierung kultureller Differenz in der Moderne
Methodologischer Kosmopolitismus – Die Erhaltung kultureller Vielfalt trotz wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung
Kulturelle Differenz und Probleme der Übersetzung
Konstitutionsprinzipien ›kultureller Differenz‹: Zur Analyse der Konstruktion kultureller Grenzbestimmungen in grundlagentheoretischer Absicht
Materiale und methodologische Analysen
Attributionen kultureller Fremdheit in der Psychotherapie: Vom Kulturstandard zur kulturspezifischen Gegenübertragung
Indische Musik – Europäische Musik: Möglichkeiten und Grenzen interkulturellen Verstehens
Die dialogische Anverwandlung – Zur Ausdeutung fremdkultureller Daten mit Hilfe von ›kulturvertrauten Co-Interpreten‹
Unter Aborigines: Reflexionen über eine exotische Fremdheitserfahrung
Hegemoniale Moral: Die Einebnung kultureller Differenz in der Debatte um den 3. Golfkrieg
Autoren

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Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz

Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.)

Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Jochen Dreher und Peter Stegmaier Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-477-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt JOCHEN DREHER UND PETER STEGMAIER Einleitende Bemerkungen: ›Kulturelle Differenz‹ aus wissenssoziologischer Sicht

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Konstitution und Konstruktion ›kultureller Differenz‹ HUBERT KNOBLAUCH Kultur, die soziale Konstruktion, das Fremde und das Andere

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ILJA SRUBAR Transdifferenz, Kulturhermeneutik und alltägliches Übersetzen: Die soziologische Perspektive

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JOACHIM RENN Vertraute Fremdheit und desperate Vergemeinschaftung – Ethnizität und die doppelte Normalisierung kultureller Differenz in der Moderne

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HANS-GEORG SOEFFNER Methodologischer Kosmopolitismus – Die Erhaltung kultureller Vielfalt trotz wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung

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SHINGO SHIMADA Kulturelle Differenz und Probleme der Übersetzung

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JOCHEN DREHER Konstitutionsprinzipien ›kultureller Differenz‹: Zur Analyse der Konstruktion kultureller Grenzbestimmungen in grundlagentheoretischer Absicht

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Materiale und methodologische Analysen BARBARA ZIELKE Attributionen kultureller Fremdheit in der Psychotherapie: Vom Kulturstandard zur kulturspezifischen Gegenübertragung

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RONALD KURT Indische Musik – Europäische Musik: Möglichkeiten und Grenzen interkulturellen Verstehens

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NORBERT SCHRÖER Die dialogische Anverwandlung – Zur Ausdeutung fremdkultureller Daten mit Hilfe von ›kulturvertrauten Co-Interpreten‹

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THOMAS S. EBERLE Unter Aborigines: Reflexionen über eine exotische Fremdheitserfahrung

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ANDREAS GÖTTLICH Hegemoniale Moral: Die Einebnung kultureller Differenz in der Debatte um den 3. Golfkrieg

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Autoren

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Einleitende Bemerkungen: ›Kulturelle Differenz‹ aus w issenssoziologischer Sicht JOCHEN DREHER UND PETER STEGMAIER

Was ist eigentlich darunter zu verstehen, wenn in einer globalen Welt von einem Aufeinandertreffen der Kulturen die Rede ist? Welche sozialen Prozesse laufen ab, wenn Konflikte zwischen den Kulturen oder gar Kulturkämpfe auftreten? Was wird postuliert, wenn umgekehrt der Ruf nach ›Kosmopolitisierung‹ oder ›Amalgamierung‹ bzw. ›Hybridisierung‹ von Kulturphänomenen laut wird? Auf diese und ähnliche Fragestellungen antworten die im Sammelband vertretenen Beiträge, die das Phänomen der ›kulturellen Differenz‹ ausgehend von empirischen Erkenntnissen grundlagentheoretisch reflektieren. Es sind nicht »die Kulturen«, also die kulturellen Systeme selbst, die sich begegnen – sich begegnen können nur Menschen. Diese tragen immer schon die Erfahrungen des Andersseins gegenüber den begegnenden Individuen und deren sozialen Welten in sich. Verständigung ist allenfalls approximativ möglich. Viele Globalisierungstheorien setzen zu einseitig emphatisch bei der Wünschbarkeit von politisch-kultureller Verständigung und idealistisch überhöht bei kollektiven und übernationalen Fragen der Kosmopolitisierung an. Wir wollen das Augenmerk im vorliegenden Band primär auf das Verstehen richten. Die Auseinandersetzung mit der Problematik des Kulturkontakts und der kulturellen Codierung sozialer Ungleichheit verlangt eine Analyse der Grundlagen jener sozialen Prozesse, in welchen Phänomene wie ›Kultur‹ und diesbezüglich insbesondere ›Fremdheit‹ herausgebildet bzw. konstruiert werden. Ausgehend vom methodologischen Individualismus Max Webers muss die Perspektive des Subjekts ins Auge gefasst werden, um beschreiben zu können, mit welchen »Mechanismen« des

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JOCHEN DREHER UND PETER STEGMAIER

subjektiven Bewusstseins (Alfred Schütz) jene Differenzierungen und Relationierungen konstituiert werden, die der sozialen Konstruktion ›kultureller Differenz‹ und ›Fremdheit‹ zugrunde liegen. Die Aktualität der Thematik ergibt sich sowohl aus der zunehmenden Bedeutung von Prozessen der Internationalisierung und Globalisierung als auch im Rahmen der Diskussionen um Integrationspolitik und Parallelgesellschaften«, welche die Problematik der ›kulturellen Differenz‹ und die Relevanz der Beziehungsform der ›Fremdheit‹ besonders virulent erscheinen lassen. In diesem Band wird die Frage der kulturellen Differenz vornehmlich von der Konstitution des subjektiven Bewusstseins und den praktischen Problemen intersubjektiven Verstehens her aufgerollt. Nur so können schlichte Vorstellungen der Überwindung kultureller Differenz vermieden und gesellschaftliche Ausprägungen kultureller Phänomene fundiert analysiert werden. Sozialwissenschaftler unterschiedlicher Provenienz befassen sich in den hier versammelten Beiträgen konkret mit der Konstruktion der sozialen Phänomene der ›kulturellen Differenz‹ und der ›Fremdheit‹. Sie stellen dabei materiale Analysen vor, die mit der Zielsetzung einer grundlagentheoretischen Reflexion gekoppelt sind und sich dementsprechend den konstitutionstheoretischen Prinzipien widmen, die der Herausbildung ›kultureller Differenz‹ zugrunde liegen. Alle Menschen sind prinzipiell in der Lage, miteinander zu kommunizieren und sich dabei zu verstehen. Davon müssen wir in der alltäglichen Lebenspraxis ausgehen, weil wir nicht immer die mehr oder minder großen Erfahrungen des Missverstehens im sozialen Miteinander zum akuten Problem unseres Handelns erheben können. Es ist indes keine Form menschlicher Vergesellschaftung vorstellbar, in der nicht früher oder später auf massivere oder sanftere Weise erfahrbar würde, dass dem Verstehen von Anderen Grenzen gesetzt sind. Eine Kooperation misslingt, ein Problem ist undefinierbar, eine Lösung unentscheidbar, das Tun allzu widersprüchlich – und schon merken wir, wie fragil der Faden der Intersubjektivität ist. Wenn »wir uns untereinander« auf eine Sicht der Dinge geeinigt haben, dann merken wir umso deutlicher, wie »die Anderen« davon abweichen, wie stark »wir« unsere Welt miteinander teilen und wie verschieden »die Anderen« sie sehen und damit umgehen. Schon über mich selbst kann ich nicht alles wissen, schon in uns nahestehende Menschen können wir uns nicht vollständig hineinversetzen. So merken wir alsbald, wie zerbrechlich kulturelle Gewissheiten – Wissensbestände wie Relevanzen, Werte, Normen und vieles mehr – doch sind. Wir bemerken die Differenz auch an der Bedeutung von Begriffen, die in verschiedenen Sprachen nicht völlig äquivalent zu verstehen sind – Übersetzungen bleiben somit notgedrungen stets unvollstän8

EINLEITENDE BEMERKUNGEN

dig, was den originalen Sinn eines Ausdrucks oder einer Äußerung angeht. Über die Erfahrung, wie mächtig und zugleich begrenzt die eigene Kultur, das was unserer Lebenswelt umfassend Sinn verleiht, ist, denkt man heute oft anlässlich des Globalisierungsdiskurses nach. Historisch betrachtet, wird es nie eine Zeit gegeben haben, in der man nicht immer auch schon auf Andere, auf Fremde, auf Unterschiedliche gestoßen ist. Umgangsweisen mit der kulturellen Differenzerfahrung variieren über die Zeit und über die jeweiligen Kulturformationen hinweg, aber man hatte schon immer Verwendung für das Unterscheiden: Aus Unterschieden erwächst Identität. Eine weitere zeitgenössische Form, Kulturdifferenz zu behandeln, ist durch die so genannten ›cultural studies‹ inspiriert. Mit Konzepten der ›Hybridisierung‹, der ›Kreolisierung‹ und vielen mehr werden Gemengelagen beschrieben, die sich ergeben, wenn soziale Akteure verschiedener kultureller Prägung nicht ganz selbstverständlich zusammenleben können. Noch mehr gehört zu diesen Konzepten: Sie sind auch politische Projekte, mit denen die ehemalig Kolonialisierten den Angehörigen ehemaliger Kolonialmächte Potentiale des Widerstands und der Subversion aufzeigen und die koloniale Herrschaft in Frage stellen. ›Hybridität‹ etwa ist von Homi Bhabha (2000) konzipiert als eine Praxis der kulturellen Subversion, woran Kien Nghi Ha (2004) erinnert. Indem die Zeichen und Diskurse kolonialer Macht umgewertet, entstellt und unscharf gemachten werden, werden Grenzen der vermeintlich totalen Beherrschung der Kolonialisierten aufgezeigt (ebd.: 222 ff.). ›Hybridität‹ wird des Weiteren als Projekt wohlmeinender Multikulturalitätspolitik ästhetisiert und das Lob der ethnisch-nationalen Kulturvermischung als Befruchtung und wünschenswerter Exotismus überhöht (ebd.: 229 ff.). Subversion und Faszination werden also als kulturdifferenzpolitische Projekte betrieben, die wissenschaftliche Analyse zur Diskurspolitik und Ästhetik zuspitzend. Kulturdifferenz als Praxis zu betrachten macht Sinn, weil man im Zuge eines empirischen Zugangs gar nicht umhin kommt, die Praxis in Betracht zu ziehen: als etwas zu nehmen, das von Akteuren in der alltäglichen Praxis behandelt, benutzt und reproduziert wird. Denken wir etwa an Beispiele, wie man mit Sprachproblemen am Arbeitsplatz in einem fremden Land zurecht kommt, wie man auf einer Großbaustelle unterschiedliche Berufe und Arbeitsweisen unter internationalen Kollegen koordiniert, wie Fußballfans aus vielen Ländern auf den Public Viewing-Plätzen in unseren Innenstädten miteinander umgehen, wie Rechtsradikale mit Migranten in Konflikt treten. Inwiefern soziales Handeln eine kulturelle Basis hat, ist seit langem eine Kernfrage der kontinenta9

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len Soziologie, nicht erst seit dem ›cultural turn‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. So ist zu fragen, mit welchen Begriffswerkzeugen wir in der Lage sind zu verstehen, was im Zusammenhang mit der Praxis kultureller Differenzen vor sich geht. Uns geht es hierbei gerade auch um die spezifische grundlagentheoretische Tauglichkeit der Begriffe. Erlauben es die Begriffe, die Bedingungen von Sozialität und Kulturalität so fundamental zu erfassen, dass normative und politische Projekte (wie etwa im postkolonialen Diskurs und in der idealistischen Hybridisierungsästhetik) ausgeklammert, zugleich aber das Verhältnis von handelndem Individuum und soziokulturellem Kontext einbezogen werden können? An die Überwindbarkeit kultureller Differenzen zu glauben, ist ein schönes und ehrenwertes politisches Projekt. Wir wollen es nicht in Misskredit bringen, denn wie verschiedene unserer Autoren aufzeigen, kommt der Vorstellung, ein transkultureller, polyphoner Zusammenklang sei möglich und wünschenswert, der funktionale Status einer »regulativen Idee« (Ronald Kurt) zu. Doch das Wünschenswerte sollte in der soziologischen Analyse eben nicht das Problematische verdecken. Kulturelle Differenzen zu überwinden, ist in modernen weltoffenen Gesellschaften ein »ganz normales« Handlungsproblem, mit dem wir alltäglich konfrontiert werden. Patentlösungen – wenn man denn solche sucht – gibt es nicht. Lösungen sind nur zu finden, wenn man sich die Mühe macht, die Wurzeln des Problems zu verstehen. Unser Ansatzpunkt für dieses notwendige Verstehen liegt in der Frage, wie es kommt, dass kulturelle Prägungen – um es salopp zu sagen – nicht gewechselt werden können wie Hemden, auch nicht so einfach vermischt werden können wie die Zutaten von Milchshakes. Einzelne Kulturdifferenzen mögen gelegentlich überwunden werden, aber ebenso brechen permanent neue auf. Wo etwas zusammenwächst, bildet es eine umso schärfere Differenz zu anderen Formen. Gegenseitiges Verstehen ist für Akteure nie vollständig möglich, so dass wir es gewohnt sind, mit Unschärfen des Verstehens und mit Missverständnissen zu rechnen. Der vorliegende Band bietet eine ganze Reihe von diskutierenswerten Ansätzen zum Verständnis der tiefer liegenden Problematik von Kulturdifferenz. Wo liegt unser Ausgangspunkt, vor dessen Hintergrund die Beiträge zu lesen sind? Wir gehen davon aus, dass die Wissenssoziologie ein beachtliches Instrumentarium bietet, um kulturelle Differenz als Handlungsproblem zu begreifen. Der Band widmet sich explizit nicht der ideengeschichtlichen Rekonstruktion der Begriffe ›kulturelle Differenz‹ und ›Fremdheit‹ oder der emphatischen Überhöhung solcher Konzepte durch diejenigen der »Hybridisierung« oder »Kosmopolitisie-

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EINLEITENDE BEMERKUNGEN

rung«, sondern stellt letztere mit grundlagentheoretischen, material ›untermauerten‹ Analysen in Frage. Wenn wir von »Kultur« sprechen, so verstehen wir darunter den unser Wahrnehmen, Deuten und Handeln umgebenden, gemeinsam geteilten Sinnhorizont, der nicht nur in unseren Lebensäußerungen allgegenwärtig ist. Er ist darüber hinaus der von uns allen »berücksichtigte, aufrechterhaltene und immer wieder hergestellte Ordnungszusammenhang, der das Geordnete und Sinnhafte vom bloß Zufälligen und Sinnlosen abgrenzt« (Soeffner 2000: 168). Nach Max Weber ist »›Kultur‹ [...] ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens« (Weber 1988: 180). Aus diesem Blickwinkel sind wir alle bei unseren Wahrnehmungen, Orientierungen, Handlungen in »selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt« (Geertz 1999: 9), die als »Kultur« gefasst werden können. Diese Vernetzungen scheinen uns einerseits Sicherheit zu gewähren, bergen jedoch andererseits Risiken in sich, insofern sie von Menschen selbst geschaffen sind und aus Konstruktionen gebildet wurden, die nur bis auf weiteres gültig sind. »Kultur« als jenes »selbstgesponnene Bedeutungsgewebe« bindet uns, obwohl es Ausdruck einer tendenziellen Freiheit gegenüber uns unmittelbar auferlegten Handlungszwängen ist (Soeffner 2000: 168), das heißt der Mensch ist in der Lage, prinzipiell von Handlungsvorgaben abzuweichen und neue Handlungslösungen zu entwickeln. Allgemein betrachtet beruht die Entstehung von gesellschaftlicher Ordnung auf der fundamentalen Notwendigkeit des Menschen zur Herstellung von Kultur. Der Mensch als »Mängelwesen« ist aufgrund der Exzentrizität seiner Lebensform zur kontinuierlichen Kulturproduktion gezwungen. Die mangelnde Ausstattung und Angepasstheit des Menschen – seine »Ergänzungsbedürftigkeit« – erfordern die Herstellung von kulturellen Produkten (beispielsweise Werkzeugen) und ›Kultur‹ im weiten Sinne. Helmuth Plessner umschreibt »Kultur« demgemäß als »zweite Natur« des Menschen (vgl. Plessner 1975: 309-311). In Bezug auf die »Massenkultur« der westlichen Industrienationen erweist es sich als nicht sinnvoll, Einzelkulturen – Völker oder Nationen – als tragende Elemente einer multinationalen Kultur zu betrachten. Genauso wenig kann man von einer all diese Kulturen übergreifenden, historisch eingrenzbaren Allgemeinkultur ausgehen. Die Kultur westlicher Industrienationen repräsentiert konkrete grenzüberschreitende Kulturmuster, Lebensgewohnheiten, Weltbilder, Lebensstile etc.; in ihr werden die Grenzen zwischen den konkreten Kulturen nicht mehr ausschließlich von den traditionellen Trägern – Völkern, Nationen, regional verwurzelten Gemeinschaften – beeinflusst, sondern immer mehr auch von neuen, 11

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übernationalen gesellschaftlichen Strukturen, die allen westlichen Industriegesellschaften gemeinsam sind (Soeffner 2000: 160), wie beispielsweise die übernational geteilte Vorstellung universeller Menschenrechte. Der Anspruch für empirische Forschungen, die sich mit »Kultur« auseinandersetzen, besteht deshalb sinnvollerweise darin, konkret zu rekonstruieren, mit welchen Kulturzuordnungen die Individuen sich in bestimmten sozialen Milieus identifizieren und wie die entsprechenden Fremdzuschreibungen aussehen. »Beide, die ›klassischen‹ Entwicklungslinien und die quer zu ihnen verlaufenden, sie durchsetzenden neuen Strukturen müssen zum Beobachtungs- und Analysegegenstand werden. Nur auf diese Weise wird es gelingen, die neu entstandenen konkreten Kulturen, ihre Grenzen, Abgrenzungsmechanismen und schließlich die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Bedingungen zu erfassen.« (ebd.: 160 f.; Hervorhebung im Original). Wichtig für derartige Überlegungen ist, dass im Sinne eines »methodischen Individualismus’« Individuen als »Träger« der Kultur betrachtet werden. Wie Thomas Luckmann argumentiert, wird Kultur als gesellschaftliches Sinngebilde vom Handlungssubjekt hervorgebracht und objektiviert, während gleichzeitig der individuell Handelnde wiederum in kulturellen Sinnzusammenhängen sozialisiert wird. Das Individuum als Handlungssubjekt erweist sich deshalb als ›Träger‹ der Kultur und als die entscheidende Instanz, das die Kultur prozesshaft immer wieder neu hervorbringt und ›am Leben erhält‹ (Luckmann 1989: 34). In Anlehnung an Alfred Schütz nehmen wir an, dass Kultur größtenteils in der Form von Wissen und Wissensbereichen festgelegt ist. Schütz geht davon aus, dass Wissen subjektiv konstituiert ist, in Erfahrungen erworben und typisiert wird und nach Relevanzen gegliedert ist (Schütz 1982). Dabei ist von Bedeutung, dass faktisch und empirisch der subjektive Wissensvorrat der meisten Individuen zum größten Teil aus sozial abgeleitetem Wissen besteht, das heißt sozial erworben ist und in der Erfahrung anderer gründet (Knoblauch 1995: 77). Das sozial abgeleitete Wissen ist somit – als Kultur – Teil der Lebenswelt des Subjekts: »Auch die Kultur – und sie vor allem – ist ein Bestandteil der uns selbstverständlich erscheinenden Lebenswelt« (Schütz, zit. nach Knoblauch, ebd.). Im Anschluss an Schütz und Berger/Luckmann vertreten wir also die Position, dass jegliches Kulturverständnis sowie die Konstruktion »kultureller Differenz« beim Individuum ansetzen muss. ›Kultur‹ bzw. ›Kulturen‹, ›kulturelle Zugehörigkeit‹ und ›Differenz‹ werden als soziale Kategorien im dialektischen »Zusammenspiel« von Individuum und Gesellschaft/Kollektiv herausgebildet. Das Konzept der ›persönlichen Identität‹ (Berger/Luckmann 1977: 139 ff.) stellt ein theoretisch fruchtbares 12

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Bindeglied für das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft dar. Die im Wissensvorrat des Einzelnen abgelagerten Vorstellungen des ›Fremden‹ und des ›Eigenen‹ haben eine wichtige Bedeutung für die Herausbildung von Identität. In der Interaktion mit ›significant others‹ definiert das Individuum sich selbst (in »Spiegelungsprozessen« innerhalb eines bestimmten Milieus) über diese Anderen fortwährend neu. Dadurch bildet sich eine prozesshafte, ständig in Entwicklung begriffene Identitätsformation heraus (Mead 1967: 135 ff.). In den Interaktionen zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen wirken die in diesen Prozessen sich konstituierenden Fremdtypisierungen und Fremddeutungen der Anderen auf das jeweilige Selbst des Interaktionspartners zurück. Kulturelle Zugehörigkeiten, unabhängig davon, ob sie Bezug auf die klassischen, historisch festgelegten Unterscheidungskategorien ›Nationalität‹, ›Volkszugehörigkeit‹, ›Ethnizität‹ etc. oder auf neu definierte kulturelle Kollektivzuordnungen nehmen, werden in diesen Spiegelungsprozessen produziert und reproduziert. Entscheidend ist, dass Identität immer relational und nicht substantiell gedacht, d. h. immer in der – konkreten bzw. imaginierten – »Begegnung« mit den ›Fremden‹ gebildet wird. Statt eines verdinglichenden Begriffs der ›kollektiven Identität‹ möchten wir mit Blick auf die alltagspraktischen Kontexte, in denen die Kulturdifferenz zum Tragen kommen kann, für den Begriff der ›partizipativen Identität‹ von Alois Hahn plädieren (Hahn 2000). Darunter ist zu verstehen, das das Individuum für die Herausbildung der ›persönlichen Identität‹ auf Angebote kollektiver Vorstellungen, wie beispielsweise ›Nationalität‹, ›Ethnizität‹, ›Religionszugehörigkeit‹, aber sich auch auf kulturübergreifende – wenn man so möchte – »transkulturelle« Phänomene beziehen kann. Mit Hilfe empirischer Analysen kann man – wenn man von diesen Voraussetzungen ausgeht – versuchen herauszufinden, auf welche kulturellen Vorstellungen bzw. Zugehörigkeiten die individuellen Akteure für die Herausbildung ihrer persönlichen Identität jeweils zugreifen. Kehren wir nun zu den Überlegungen zu einer wissenssoziologischen Kulturtheorie zurück, so erweist sich das zu Beginn dargestellte Begriffsrepertoire als besonders geeignet, die dargestellten aktuellen Kulturphänomene zu erfassen. Über die erläuterten Begriffszusammenhänge von Individuum, Identität und Kollektiv lässt sich erfassen, wie individuelle Akteure als ›Träger‹ der Kultur sich mit kollektiven, objektivierten Angeboten von Kulturvorstellungen und -produkten identifizieren, in Interaktionsprozessen kulturelle Gruppierungen konstituieren und »kulturelle Differenz« erzeugen. Kulturgebilde werden in dieser Hin13

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sicht in erster Linie symbolisch konstruiert. Diese kulturtheoretische Konzeption ermöglicht sowohl die Identifikation der Individuen mit klassischen Kulturkategorien als auch mit transkulturellen Kulturangeboten zu erklären: Es muss deutlich werden, dass eine Kulturtheorie benötigt wird, die erklären kann, inwiefern klassische Kulturangebote für die individuellen Akteure immer mit den globalen, transkulturellen konkurrieren. Fassen wir zusammen: Auf der Grundlage von Überlegungen zu einer wissenssoziologischen Kulturtheorie im Anschluss an Alfred Schütz und Peter L. Berger/Thomas Luckmann wird die Argumentation vertreten, dass jegliches Kulturverständnis sowie die Konstruktion »kultureller Differenz« beim Individuum ansetzen müssen. »Kultur« bzw. »Kulturen«, »kulturelle Zugehörigkeit« und »Differenz« werden als soziale Kategorien im dialektischen ›Zusammenspiel‹ von Individuum und Gesellschaft/Kollektiv herausgebildet. Individuen müssen im Sinne eines »methodischen Individualismus’« Max Webers als »Träger« der Kultur betrachtet werden. Daraus lässt sich ein wissenssoziologisches Modell der theoretischen Analyse von Kulturkonstruktionen ableiten, mit dem nicht nur Völker, Nationen oder Regionen als Einzelkulturen verstanden werden können, sondern beispielsweise auch die »Massenkultur« westlicher Industrienationen und darüber hinaus »Kulturen« von sozialen Kollektivgebilden, wie Organisationen, Unternehmen etc. Die These wird vertreten, dass kulturelle Zugehörigkeiten symbolisch ›konstruiert‹ und aufrecherhalten werden, d. h. dass Individuen in unterschiedlichen sozialen Welten und Milieus auf ein Repertoire aus symbolisch repräsentierten Identifikationsmöglichkeiten ›zugreifen‹, um ihre persönliche Identität zu konstruieren (Thomas Luckmann). Dieses Repertoire aus symbolischem Wissen lenkt die Wahrnehmungen der Einzelnen und stellt Handlungsorientierungen zur Verfügung – letztlich werden kulturelle Gruppierungen über ein Netzwerk aus kollektiven Symbolen zusammengehalten. Trotz Globalisierungstendenzen weisen empirische Analysen der aktuellen Kulturforschung auf die besonders ausgeprägte identitätsstiftende Wirkung traditioneller Kulturkategorien – die über Nationalität und Ethnizität mit einer Vorstellung der ›Einheitlichkeit‹ definiert werden –und die erschwerte Etablierung »transkultureller« Symboliken hin. Grade der identifikatorischen Wirkung der Kultursymboliken zeichnen sich ab, wobei den traditionellen kulturellen Symbolsystemen die größte Relevanz für die Individuen hinsichtlich deren Identitätsbildung zukommt: Im Sinne dieser Beobachtungen kann beispielsweise die Nationalkultur als ›primordial‹ gekennzeichnet werden und auch das Phänomen des

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EINLEITENDE BEMERKUNGEN

(alltagspraktischen, nicht des methodischen) Ethnozentrismus gewinnt an neuer Aktualität (Dreher 2005: 73 ff.). Werfen wir nun einen kurzen Blick auf die Beiträge der Autoren: Hubert Knoblauch erläutert in seinem Beitrag, wie plausibel es ist, kulturelle Differenzen weniger als Differenzen von Kulturen zu begreifen, sondern eher als Differenzen in der Art und Weise, wie mit anderen Akteuren umgegangen wird. Es geht darum, wie in Kommunikation und in anderen Formen des Handelns das Gegenüber, der Andere, der Fremde, seine Kultur und das, was man für different daran hält, sozial konstruiert werden. Zwei Modelle Differenz schaffenden Umgangs stellt Knoblauch gegenüber: zum einen Alterität, wonach der Andere als Ähnlicher behandelt wird, zum anderen Alienität, nach dem der Andere als Fremder behandelt wird. Alltäglichem Übersetzen wendet sich Ilja Srubar zu. Er spricht damit den gesamten Bereich alltäglicher Hermeneutik in der Praxis des Denkens, Handelns und in der Kommunikation an, den Umstand, dass in der globalisierten Welt sich begegnende Menschen sich gegenseitig über Kulturgrenzen hinweg interpretieren (müssen). Wenn nach der Entstehung und dem Wandel heterogener und ambivalenter Kulturwelten gefragt werden soll, dann müssen, so Srubar, ganz besonders lokale, regionale und globale Kulturen beachtet werden. Mit dem Begriff der ›Transdifferenz‹ macht sich Srubar auf den Weg, eine Hermeneutik zu entwerfen, mittels derer er sozialweltliche Phänomene der sich entwickelnden Weltgesellschaft zu erfassen hofft. Transdifferenz bezeichnet dabei Prozesse der Sinnkonstitution, in Verlauf derer verschiedene Sinnbereiche aufeinander bezogen werden, ohne dass dadurch die zueinander bestehende Fremdheit bzw. Differenz aufgehoben würde. Joachim Renn schlägt einen theoretischen Zugriff auf die Analyse von kultureller Fremdheit vor, der neben den wissenssoziologischen und konstitutionsanalytischen Ansatz einen differenzierungstheoretischen stellt, um so die doppelte Normalisierung von Fremdheit in der Moderne begreifen und Essentialisierungen von ›Kulturen‹ vermeiden zu können. Mit ›doppelter Normalisierung‹ spricht Renn den Umstand an, dass man ›kulturelle Fremdheit‹ zum einen alltäglich erlebt und damit umzugehen hat, dass die Welt äußerst vielgestaltig geworden ist, und dass man andererseits diese Konstrasterfahrungen wiederum semantisch, also in Begriffen, Stereotypen ausdrückt und der Unterschiedlichkeit und Vielfalt eine nun auch sprachlich fixierte Realität verleiht. Wie kann man in der Soziologie selbst vermeiden, Differenzen, die »lediglich« konstruiert sind, in ihren Grundannahmen und Konzepten zu essentialisieren? Wie lassen sich ethnische Selbst- und Fremddeutungen nicht als Rückschritt von der funktional differenzierten Moderne begreifen, sondern – auch in 15

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der wissenschaftlichen Analyse – als Ausdruck von ›desparaten Vergemeinschaftungen‹, also selbst als soziale Phänomene? Ethnisierung kollektiver Identitäten, Ethnizität kommt für Renn auf Grund dafür besonders fruchtbarer Bedingungen zustande, die man nicht in einem Grundlagenstreit über Substanz oder Manipulation der Selbst- und Fremdbilder auflösen kann. Ausgehend von der Annahme der anthropologisch festgelegten Mehrdeutigkeit menschlicher Existenz und der Labilität von sozialen Gebilden argumentiert Hans-Georg Soeffner für die Anerkennung des Unvermeidlichen: der Differenz. Geschichte und Kultur gibt es nur in Vielfalt, daher empfiehlt er einen umfassenden politischen und kulturellen, wissenschaftlichen und alltäglichen Kosmopolitismus, um den mannigfaltigen Kulturdifferenzen und den Kulturen der Differenz gerecht zu werden. Seinem humanistischen Weltbild zufolge bedeutet die wissenschaftliche und politische Anerkennung der Differenz die einzige Chance, mit den Herausforderungen zugleich der Globalisierung, Interkulturalität und Individualisierung konstruktiv umzugehen. Shingo Shimada konzipiert die Sozialfigur des ›Fremden‹ als ein relationales Konstrukt. Relational heißt, das Konstrukt erwächst aus der Situation heraus in den Kommunikationen zwischen mehr oder weniger fremden Kommunikationspartnern. Shimada legt den Schwerpunkt seiner Analyse auf die Bedingungen der Kontexte, in denen Fremdheitskonstrukte kommunikativ ausgehandelt werden. Mit Übersetzung bezeichnet er die kommunikative Vermittlung verschiedener Sinnwelten. Dabei hebt er am Beispiel lebensgeschichtlicher Interviews in Japan darauf ab, wie im 19. Jahrhundert das westliche Konzept der individuellen Erfolgsbiographie in Buchform ins Japanische übersetzt und dann dort weiter in die eigensprachliche Sinnwelt und Lebenspraxis gewissermaßen »hinein« interpretiert worden ist. Shimada macht klar, wie schwer hierbei die kulturelle und die individuelle Dimension des Vorgangs zu trennen sind. Im Rahmen einer Parallelaktion von sozialwissenschaftlicher und phänomenologischer Forschung zeigt Jochen Dreher eine Möglichkeit auf, wie grundlagentheoretisch die »Konstitutionsprinzipien kultureller Differenz« beschrieben werden können. Erkenntnisse aus einem empirischen Forschungsprojekt über »Interkulturelle Arbeitswelten bei DaimlerChrysler« werden dafür verwendet, protosoziologische bzw. phänomenologische ›Reduktionen‹ zu inspirieren, d. h. analog zur Reduktionsmethode der Phänomenologie werden die für Konstruktion und Konstitution des sozialen Phänomens der kulturellen Differenz relevanten, interaktions- und bewusstseinstheoretischen Grundlagen dargestellt. In einer Abgrenzung zu Kulturtheorien, welche nach dem ›cultural turn‹ 16

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von Prozessen der Amalgamierung und Hybridisierung sprechen, wird verdeutlicht, dass die Konstitution kultureller Differenz nur mit Bezug auf individuelle Handlungssubjekte in konkreten Interaktionsprozessen zureichend bestimmt werden kann. So weit der erste Teil des Buches mit theoretischen Beiträgen. Barbara Zielke eröffnet die Reihe der dann folgenden Analysen, die aus aktuellen und jüngeren empirischen Studien gespeist sind. Sie befasst sich mit dem interkulturell kompetenten Umgang mit kultureller Differenz in der Psychotherapie, wie diese Differenz in Interaktionen entsteht und bearbeitet wird. Von besonderer Bedeutung seien hierbei unbewusste Projektionen. Durch sie werde von Therapeuten den Patienten zugeschrieben, welche kulturell bedingten Faktoren das Patientienverhalten beeinflussen, inwiefern also in der Therapiesituation kulturell bedingte Vorstellungen von Geschlechterrollen und Sexualität zum Tragen kommen, was dann wiederum Missverständnisse auslöst. Zielke unterscheidet zwischen einer expliziten, einer impliziten und einer unbewussten Dimension der Attribution von Fremdheit, zusammengefasst in ihrem dreidimensionalen Modell kultureller Fremdheit in der Psychotherapie. Sie stellt dabei auch das Konzept eines spezifischen »Gegenübertragungswissens« vor, das sie aus der psychoanalytischen interkulturellen Psychotherapie ableitet und mikrosoziologisch auswertet. Sie bezieht sich dabei auf kulturpsychologische und kulturvergleichende Forschungen zu Kulturstandards und interkultureller Kompetenz und bezieht Fälle aus eigenen Daten mit ein. Interessant ist das Modell auch deshalb, weil es zum Vergleich mit anderen Professionen anregt. Ronald Kurt beschreibt verschiedene Differenzen von Kulturen. Im Mittelpunkt steht ein musiksoziologisch-ethnographischer Vergleich der Lehr- und Lernkulturen bei der Vermittlung musikalischen Wissens und instrumenteller Fertigkeiten in Indien und Europa. Daneben bezieht er aber auch Unterschiede in Kulturbegriffen und zwischen den Disziplinen der Musikwissenschaft und der Soziologie ein und reflektiert das Vergleichen in beiden Wissenschaftskulturen. An seinem empirischen Beispiel illustriert Kurt überaus anschaulich, was es heißt, sich an ›das Fremde‹ vom ›Eigenen‹ her anzunähern: Erforderlich ist in der Praxis der Kulturbegegnung die Kompetenz, die wechselseitige Verstehensinkompetenz zu kompensieren; es kommt gleichwohl darauf an, sich einer prinzipiell anerkennenden Haltung gegenüber dem ›Fremden‹ zu befleißigen. Aus ganz pragmatischen Gründen: Man muss sich – wenn man eine Verständigung erreichen will – konstruktiv zu dem wechselseitigen Fremdheitsverhältnis ins Verhältnis setzen, zu einer interkulturellen Einstellung finden. Dann verändern sich die Begriffe vom Eigenen und vom

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Fremden – ohne dass leicht und schnell die musikalische Identität verschmolzen oder gar vereinnahmt werden könnte. Norbert Schröer schildert am Beispiel von polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen, wie die unter Verdacht stehenden Personen mit Migrationshintergrund und Polizeibeamte ohne einen solchen sich schnell in Verständigungsschwierigkeiten wiederfinden. Doch nicht nur das: Auch der Forscher, der die Vernehmungen verfolgt, muss sich die Vernehmungskommunikation und den fremdkulturellen Anteil der Beschuldigten erschließen. Hier leistet Schröer einen spezifisch methodologischen Beitrag zum Problem differentkultureller Verständigung, indem er eine Verfahrensweise beschreibt, mit Hilfe derer dieses doppelte Verstehensproblem des Forschers abgemildert werden kann. Die »dialogische Anverwandlung« an die fremde Kultur der Beschuldigten in der Vernehmung bewerkstelligt Schröer durch gemeinsame Dateninterpretation mit einem fremdkulturvertrauten Dolmetscher. Thomas S. Eberle befasst sich auch mit dem Thema der von Srubar bereits angesprochenen alltäglichen Begegnung von Menschen verschiedener Kulturen und der daraus resultierenden Notwendigkeit, sich gegenseitig zu interpretieren im Rahmen dessen, was man voneinander weiß oder ahnt, aus der Situation erschließen kann oder mitgeteilt bekommt. Dazu stilisiert er die Bemühungen eines relativ uninformierten Urlaubers in Begegnung mit australischen Aboriginies, diese Leute und ihr Tun zu deuten. Die typischen Probleme, Möglichkeiten und Grenzen dieses Unterfangens zeigt er im zweiten Teil seines Beitrags an Hand einer theoretischen Analyse aus lebensweltanalytischer Sicht auf. Dabei kommt er zum Schluss, dass gerade in der extremen Fremdheitserfahrung zwischen Angehörigen sehr ferner Kulturen auf Basis der Irreziprozität der Perspektiven gehandelt werden muss, während Schütz und Luckmann ja die Reziprozität der Perspektiven voraussetzten. Eberle begreift die äußerst geringe Verstehenswahrscheinlichkeit als lebensweltliche Grenzerfahrung innerhalb des Schütz’schen Alteritätsmodells, das auf der Reziprozität der Perspektiven in normalen Alltagssituationen basiert. Andreas Göttlich untersucht am Beispiel der öffentlichen Debatte um die moralische Legitimität des dritten Golfkrieges im Frühjahr 2003, wie »aus westlicher Sicht« die Interessenlage der irakischen Zivilbevölkerung beurteilt wurde. Er fokussiert hierbei speziell die USamerikanische Position, welche mittels der Schütz’schen Relevanztheorie rekonstruiert wird. Seine empirischen Ergebnisse zeigen, dass die westlichen Deutungs- und Argumentationsmuster die irakischen überdeckten und sich eher die US-amerikanische Nation ihres eigenen

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EINLEITENDE BEMERKUNGEN

Selbstverständnisses als ernsthaft der irakischen Perspektive vergewisserte. Der vorliegende Band zielt darauf ab, in wissenssoziologischer Perspektive theoretische Konzeptionen vorzustellen, die den Begriff der ›kulturellen Differenz‹ näher zu bestimmen erlauben. Die hier vorgestellten Beiträge sind – und das ist entscheidend – in der Mehrzahl durch empirische Studien angeleitet und informiert worden. Die Autoren der Beiträge setzen sich auf verschiedene Weise ins Verhältnis zu den eingangs erläuterten Annahmen – stützen, erweitern, kritisieren sie. Dieser offene Dialog war die Absicht der Veranstaltung auf dem Soziologiekongress in München im Jahre 2004, von woher ein Teil der Papiere stammt. Andere Beiträge sind danach hinzugenommen worden von geschätzten Kolleginnen und Kollegen, die wir im Rahmen der Veranstaltung selbst nicht zu Wort kommen lassen konnten, die aber ein (ge-) wichtiges Wort zum Thema mitzureden haben, wie wir meinen. Wir danken Andreas Göttlich, Michael Walter und Tobias Röhl für ihre gewissenhafte Unterstützung bei der Editionsarbeit und beim transcript-Verlag Karin Werner, Gero Wierichs, Jörg Burkhard und Alexander Masch für die kompetente und geduldige Betreuung.

Literatur Dreher, Jochen (2005): Interkulturelle Arbeitswelten. Produktion und Management bei DaimlerChrysler, Frankfurt/M., New York: Campus Geertz, Clifford (1999) [1973]: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M.: Suhrkamp Ha, Kein Nghi (2004): Hybridität und ihre deutschsprachige Rezeption. Zur diskursiven Einverleibung des ›Anderen‹, in: Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld: transcript, S. 221-238 Hahn, Alois (2000): Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp Knoblauch, Hubert (1995): Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte, Berlin, New York: de Gruyter Luckmann, Thomas (1980): Persönliche Identität als evolutionäres und historisches Problem, in: ders., Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh, S. 123-141 Luckmann, Thomas (1989): Kultur und Kommunikation, in: Haller, Max (Hg.), Kultur und Gesellschaft, Frankfurt/M., New York: Campus, S. 33-45 19

JOCHEN DREHER UND PETER STEGMAIER

Mead, George H. (1967): Mind, Self, and Society. From the Standpoint of the Social Behaviorist, Chicago: University Of Chicago Press Plessner, Helmuth (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York: de Gruyter Schütz, Alfred (1982) [1970]: Das Problem der Relevanz, Frankfurt/M.: Suhrkamp Soeffner, Hans-Georg (2000): Kulturmythos und kulturelle Realität(en), in: ders., Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Göttingen: Velbrück, S. 153-179 Srubar, Ilja (2004): Die pragmatische Lebenswelttheorie als Grundlage interkulturellen Vergleichs, Manuskript Weber, Max (1980) [1920]: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr Weber, Max (1988) [1904]: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr, S. 146-214 Weber, Max (2001) [1920]: Gesamtausgabe, Bd. 22. Wirtschaft und Gesellschaft: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass, Teilbd. 1: Gemeinschaften, hgg. v. Wolfgang J. Mommsen, Tübingen: Mohr

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Kultur, die soz iale Konstruktion, das Fremde und das Andere HUBERT KNOBLAUCH

Einleitung Der Begriff der Kultur ist heute zu einer der umfassendsten Klammern der Wissenschaften geworden. Seit dem ›cultural turn‹ beschäftigen sich nicht nur die Wissenschaften, die traditionell um den Kulturbegriff kreisen (wie Volkskunde und Ethnologie), mit Kultur, auch die gesamten Geisteswissenschaften und teilweise auch die Sozialwissenschaften werden nunmehr den Kulturwissenschaften zugeordnet. Der Begriff der Kultur wird damit zu einem der breitesten Gegenstandsbereiche der gegenwärtigen Wissenschaft. Das führt zu einer beträchtlichen Unschärfe, die manche dazu verleitet, den Begriff Kultur vollständig aufzugeben. Ein solcher Schluss wäre für die Wissenschaft jedoch sehr bedenklich, taucht dasselbe Problem doch auch bei einer Reihe anderer Schlüsselbegriffe nicht nur der Sozial- und Kulturwissenschaften auf (etwa ›Religion‹, aber auch ›Natur‹ oder ›Leben‹). Zudem unterlässt es ein solcher Begriffs-Prohibitionismus, den Gründen dieser Unschärfe nachzuspüren und sie zu beseitigen. Die vielfältige Semantik des Begriffes der Kultur liegt zum einen darin begründet, dass er zum Wortschatz unserer modernen Sprachen zählt. Das hat zur Folge, dass ihm aus dem Gebrauch in den unterschiedlichen Kontexten eine entsprechend unterschiedliche Bedeutung zuwächst: Seine Bedeutung in der Politik (»Kulturpolitik«) unterscheidet sich deswegen beträchtlich von der Bedeutung in der Wirtschaft (z. B. »Organisationskultur«) oder in der kirchlichen Religion (»Kulturreligion«). Zielt man nicht auf die Klärung der gegenwärtigen alltagssprachlichen Semantik des Begriffes – eine, soweit ich sehe, nach

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wie vor noch nicht unternommene Arbeit –, dann ist für uns hier die wissenschaftliche Diskussion des Begriffes von besonderem Belang. Freilich gründet die wissenschaftliche Verwendung des Begriffes selbst wiederum in einem Sprachgebrauch, den man eher als »intellektuell« und »bürgerlich« bezeichnen müsste. Deswegen soll im ersten Teil ein kurzer Abriss der Begriffsgeschichte erfolgen. Auch in den Wissenschaften ist der Kulturbegriff zweifellos sehr vielfältig. Beschränkt man sich – wie in diesem Rahmen ja durchaus vertretbar – auf die Königsdisziplinen der Sozialwissenschaft, dann kann in dieser Vielfalt durchaus eine gewisse Ordnung gefunden werden. Dies jedenfalls ist das Ziel des zweiten Abschnittes, der vier Aspekte des Verständnisses von Kultur in den Sozialwissenschaften identifiziert. Vor dem Hintergrund der Theorie des Sozialkonstruktivismus soll im dritten Teil ein Begriff der Kultur skizziert werden, der diese vier Aspekte miteinander verknüpft. Auf dieser Grundlage soll schließlich das Thema der kulturellen Differenz angegangen werden. Dabei werde ich argumentieren, dass kulturelle Differenz anhand von zwei sehr gegensätzlichen Modellen gefasst werden kann: Alterität und Alienität.

Die Entwicklung des Kulturbegriffes Raymond Williams, einer der Begründer der Cultural Studies, bezeichnete ›Kultur‹ als eines der kompliziertesten Wörter der englischen Sprache (Williams 1976: 76). Weil der Begriff durch seine Verwendung in der deutschen Sprache noch weitere Komplikationen erhält, ist es ratsam, seine Wurzeln zu betrachten. Kultur leitet sich vom lateinischen ›colere‹ ab, das so viel bedeutet wie bewohnen, kultivieren, schützen und ehren. Darauf aufbauend nahm ›cultura‹ die Bedeutung von Pflege des Ackers, Bearbeitung, Bestellung, Anbau und Landbau an. Kultur steht damit in einer semantischen Opposition zur Natur. Daneben erhielt sie eine zweite Bedeutung, die auf intellektuelle Fähigkeiten und »kultische« Verehrung verweist. Diese zweite, metaphorische Bedeutung erfährt ab dem 16. Jahrhundert eine Ausweitung, die das »Geistige« mit einbezieht. Weil ›Kultur‹ auch die Nachfolge des Begriffes ›Geschmack‹ (›taste‹) annahm, wird dieses Geistige eher im Unterschied zum Vernunftgemäßen und Instrumentellen gefasst. So sprechen die Philosophen Bacon und Hobbes schon von ›culture of minds‹, der ›Kultur des Geistes‹. Im Deutschen tritt Kultur im frühen 18. Jahrhundert als Lehnwort aus dem Französischen auf (wo es zunächst eine unbedeutende Rolle spielt). Hier wird sie zunächst in ihrem Bezug auf die Landwirtschaft verstanden, nimmt jedoch bald die metaphorische Bedeutung 22

KULTUR, DIE SOZIALE KONSTRUKTION, DAS FREMDE UND DAS ANDERE

an, die die Ausbildung und geistige Vervollkommnung des Individuums beinhaltet. In der deutschen Aufklärung ändert sich diese Bedeutung dann rasch. So sieht schon der deutsche Philosoph von Pufendorf Kultur nicht mehr als ein Merkmal des Individuums an, sondern als Gesamtheit sozialer Bindungen, Fertigkeiten und menschlicher Tugenden. Kant (1968: 676) stellt die Kultur in einen Gegensatz zur Zivilisation, die noch der Moral entbehrt. Für ihn wirkt die Kultur als Gegenkraft zur rohen Natürlichkeit des Menschen, die in seiner »pragmatischen Anlage der Zivilisierung durch Kultur« stecke.1 Es ist vor allem Herder, der diesen Begriff verschiebt, indem er Kultur als historisch gewordene Lebensweise von Völkern und Nationen bestimmt. Damit eröffnet sich die Möglichkeit zum Kulturvergleich, wie etwa zwischen der europäischen und der außereuropäischen Kultur. Herder lenkt den Blick auch auf die Volkskultur, die dann von der aufkommenden Volkskunde erforscht und der Hochkultur gegenüber gestellt wird. Ein weiterer Aspekt des Kulturbegriffes bezieht sich auf die Lebensform, während der Begriff schließlich auch auf besondere kulturelle Bereiche verweist, wie Musik, Literatur oder Bildende Kunst – und natürlich ebenso der Religion. Auch wenn sich die Religion nunmehr als Telos eines Kulturprozesses ansehen mag (Bahr 2004: 658): sie wird selbst relativiert zu einem der Kulturbereiche, die etwa Schleiermacher konsequent auch mit einer eigenen »Provinz im Gemüthe« verbindet. So sieht Belting (1990: 538) etwa die Entstehung der Sphäre des Ästhetischen im »Austausch der Aura des Sakralen gegen die Aura des Künstlerischen« begründet. Der wissenschaftliche Begriff der Kultur wird zunächst vor allem von der Volkskunde, der Völkerkunde und besonders von ihrer amerikanischen Variante, der Kulturanthropologie geprägt, die den Vergleich zwischen Kulturen als zentrale Methode betrachtet. So definiert Tylor (1873: 1) Cultur oder Civilisation ethnologisch als »Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat. Der Zustand der Cultur in den mannigfachen Gesellschaftsformen der Menschen ist, soweit er sich auf Grundlage allgemeiner Principien erforschen lässt, ein Gegenstand, welcher für das Studium der Gesetze menschlichen Denkens und Handelns wohl geeignet ist«. Anstelle von Begriffen wie etwa Rasse wurden die Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaften zunehmend auf »Kultur« zurückge1

Dieses Motiv tritt später bei Freud wieder auf, der Kultur wesentlich durch Triebverzicht definiert; für die Psychoanalyse ist Kultur die Summe aller Sublimationen, die die triebhaften Impulse ablenken und sie auf eine verzerrte Weise befriedigen. 23

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führt (Cuche 2004). Besonders für den Funktionalismus ist die Kultur von besonderer Bedeutung. Dem Funktionalismus Malinowskis zufolge erfüllt jeder Aspekt der Kultur eine besondere Funktion in der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, wie Ernährung, Fortpflanzung etc. Es sind besonders die Institutionen, die als kollektive Lösungen auf die individuellen Bedürfnisse angesehen werden. Die amerikanische »Kulturund-Persönlichkeits«-Schule richtet ihr Augenmerk auf das Gesamt der Kultur: Neben einer besonderen Sprache, Glaubensvorstellungen und Sitten wiesen Kulturen einen eigenen und einheitlichen Stil auf, ein Kulturmuster (»cultural pattern«), das entsprechend auch die einzelnen Persönlichkeiten präge. Lévi-Strauss und der französische Strukturalismus koppelten die Vorstellung der Kultur dann von der Persönlichkeit ab. Für ihn ist jede Kultur ein System symbolischer Regeln, das Sprache, Ehebeziehungen, ökonomische Verhältnisse, Kunst, Wissenschaft und Religion bestimmt. Die Systeme verschiedener Kulturen sind für ihn Varianten oder Ausdrucksformen einer kollektiven und umfassenden menschlichen Kultur. Spätestens mit den Schriften von Clifford Geertz wird der so genannte »cultural turn« in einer Breite von sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen eingeläutet, die nunmehr immer häufiger unter dem Etikett »Kulturwissenschaften« geführt werden. Wie auch schon andere Autoren vor ihm, lenkte Geertz das Augenmerk auf die sinnhaften, bedeutungstragenden Aspekte der menschlichen Gesellschaften. Kultur soll nicht mehr essentialistisch oder als großräumige und geschlossene Einheit (Huntington 1997), sondern relativ zum Beobachterstandpunkt betrachtet werden. Aus »der Kultur« wird dadurch eine Vielfalt von Kulturen, die durch ein Wechselspiel von Identitäten und Differenzen bestimmt werden. So ist etwa in der postkolonialen Kulturtheorie Bhabhas (1994) von Kultur als Differenz und Aushandlungsprozess die Rede, in der es zwischenkulturelle »Interkulturen« und kulturelle Hybride gibt (Lüsebrink 2003). Die begriffliche Auflösung der Kultur wird als Symptom einer faktischen Hybridisierung und Fragmentierung gesehen, deren Ursache in der kulturellen Globalisierung gesehen wird. Die Globalisierung hat eine »métissage« oder, wie man in Anlehnung an die Sprachwissenschaft sagt, eine Kreolisierung zur Folge. Damit bezeichnet man eine Aufgliederung in ein unübersehbares Patchwork von Kulturen der unterschiedlichsten Milieus, Gruppierungen und Lebensstile, in denen sich lokale und überlokale Tradition verwischen. Diese Entwicklung wird vor allem von den »Cultural Studies« zum Gegenstand gemacht, die sich in verschiedenen, durchaus auch herkömmlich geisteswissenschaftlichen (Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Volkskunde), aber auch neuen Disziplinen (»Gender Studies«, »Medienwis24

KULTUR, DIE SOZIALE KONSTRUKTION, DAS FREMDE UND DAS ANDERE

senschaft«) ausbreiten. Sie betrachten Kultur als umfassende Lebensweise, die in der sozialen Praxis zum Ausdruck kommt. Weil sich die sozialen Praktiken unterschiedlich gestalten, wird die Kultur zum Ort der Austragung gesellschaftlicher Konflikte. Kultur wird also doppelt bestimmt: »Zum einen als die Bedeutungen und Werte, die unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen auf der Grundlage gegebener historischer Bedingungen und Verhältnisse hervorbringen und mit deren Hilfe sie ihre Existenzbedingungen ›bewältigen‹ und auf sie reagieren; zum anderen als Gesamtheit der gelebten Traditionen und Praktiken, mittels derer diese ›Übereinkunft‹ ausgedrückt wird« (Hall 1999: 123).

Vier Felder des wissenschaftlichen Kulturbegriffes Schon vor zwei Generationen waren mehr als 100 Definitionen von Kultur im Umlauf – und es ist kaum davon auszugehen, dass die Zahl zwischenzeitlich geschrumpft ist. Nähert man sich diesen Definitionen, scheinen dennoch einige durchgängige Züge auf. Der Kultursoziologe Rehberg (2001: 68) definiert Kultur »als die Gesamtheit der erlernten Normen und Werte, des Wissens, der Artefakte, der Sprache und der Symbole, die ständig zwischen Menschen einer gemeinsamen Lebensweise ausgetauscht werden«. In dieser Definition sind die wesentlichen Aspekte enthalten, die in vielen, sich zum Teil widersprechenden Definitionen der Kultur auftreten: also (a) Lebensweisen (Gewohnheiten, Gebräuche und Sitten), (b) ideelle und normative Vorstellungen (Werte, Wissen, Sprachen) und schließlich (c) Artefakte und Institutionen (Kunst, Recht etc.). Kultur lässt sich aber auch funktional definieren. So führt Müller (2003: 24ff.) die folgenden zentralen Funktionen der Kultur an: (a) Kulturen dienen der selektiven Anpassung an eine gegebene und sich verändernde Umwelt; (b) Kulturen sind Instrumentarien zur Befriedigung elementarer biologischer und nachgeordneter sekundärer Bedürfnisse; (c) Kulturen sind integrierte Systeme, die den Menschen bei der Suche nach Lösungen für ihre existentiellen Probleme helfen; (d) Kulturen sind Ordnungssysteme bzw. Strukturmuster, die Verhalten, Moral, Denken und Ideale der Menschen durchgreifend beeinflussen; (e) Kulturen sind integrierte Symbol- oder Sinnsysteme mit einer jeweils eigenen Textur, die den einzelnen Orientierung geben und Regeln bereitstellen; (f) Kulturen sind hochkomplexe Kommunikationssysteme, die geschichtlich vermittelt sind und (g) Kulturen sind kognitive Orientierungssysteme, die sich aus den in Erfahrungen gebildeten Vorstellungen der Menschen aufbauen. 25

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Man kann die Versuche, Kultur zu definieren, noch weiter fortsetzen, wird dabei aber immer auf einige der schon genannten Grundelemente stoßen: Kultur wird als ein quasi objektives Gebilde angesehen, das in einem gewissen Kontrast zur Natur steht; zum anderen ist sie ein, wenn man so will, metaphysisches, genauer: subjektives Gebilde par excellence: Sie besteht aus Sinn bzw. Wissen oder aus Symbolen bzw. Zeichen. Beide Begriffspaare sollten jedoch keineswegs gleichgesetzt werden, sondern stellen zwei Pole in der Bestimmung dessen, was Kultur auszeichnet. Am einen Pol stehen die strukturalistischen Vorstellungen der Kultur als eines Symbolsystems, wie sie etwa von Parsons vertreten werden: »Wenn aber Verhalten seine Ausrichtung und Bedeutung durch Symbole erhält, existiert auch ein kulturelles System. Kultur besteht aus kodifizierten Systemen sinntragender Symbole und aus jenen Aspekten von Handeln, die sich [...] auf Fragen der Sinnhaftigkeit dieser Symbole beziehen.« (Parsons/Platt 1990: 21)

Kultur wird entsprechend nach den Symbolsystemen unterschieden, die als Formen der hohen Kultur erscheinen: Religion, Kunst und Literatur, aber auch Wissenschaft, Technologie und Wirtschaft erscheinen dann als Bereiche einer Kultur, die sich vor allem durch ihre unterschiedliche Orientierung auszeichnen: Während sich die Religion durch normative Orientierungen auszeichnet, ist die Kunst wesentlich expressiv, die Wissenschaft deskriptiv und die Technologie (oder die Wirtschaft) instrumentell. Hieran schließen auch die strukturalistischen und semiotischen Vorstellungen an, die Kultur im Wesentlichen als ein System von Zeichensystemen oder als ein System von Texten betrachten. In den Zeichen sind die Bedeutungen gleichsam eingeschrieben, die Kultur ausmachen. Dazu zählt keineswegs nur die Schrift, sondern auch die materiale Kultur, wie etwa Möbel, Kleider oder Autos. Die Bedeutungen dieser Zeichen sind als Codes in die Mentalität der Zeichenbenutzer eingeschrieben (Posner 2003: 64). Aus strukturalistischer Sicht ist die Bedeutung der Zeichen jedoch nicht vom Zeichenbenutzer abhängig. Sie ist vielmehr im Zeichensystem und damit im Verhältnis der Zeichen zueinander bestimmt. Kultur bildet damit ein quasi objektives Gebilde, in dem das Geistige wirkt. Ihren Kern bilden die großen Kulturbereiche, wie etwa Kunst, Religion oder Wissenschaft. Diese objektivistische Vorstellung ist häufig mit einer Art »korrelationistischem« (Knoblauch 2005: 17) Verhältnis zwischen dem Geistigen und dem Gesellschaftlichen verknüpft. Seit den britischen Funktionalisten ist es üblich geworden, Gesellschaft und Kultur als zwei »Kom26

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ponenten« des gesellschaftlichen Lebens zu behandeln, die analytisch sauber zu unterscheiden sind. So hatte schon Alfred Weber (1913/14: 855) als zentrale Frage der Kultursoziologie formuliert: »Wie hängen soziale Formen und Kultur, soziale Daseinsgestaltung und Kulturgestaltung, vitaler Inhalt und Kulturtendenzen zusammen? Wie bauen sich auf den Lebensformen die Gehäuse und Medien auf, in denen sich das Geistige auswirkt? Welche Schichten tragen die verschiedenen geistigen Tendenzen, und mit welchem Lebenseingestelltsein hängt dies dann zusammen? Was ist die Kulturbedeutung dieser oder jener Lösung, Bindung, inneren oder äußeren Gestaltung der großen lebenstragenden Kräfte?«

Um das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft zu erfassen, schlagen der Ethnologe Kroeber und der Soziologe Parsons (1970) vor, unter einem Sozialsystem die Struktur der Interaktionsbeziehungen von Individuen und Gruppen einer Gesellschaft, unter Kultur dagegen die Summe ihrer artifiziell entwickelten und tradierten Formen des materiellen, axiologischen, ideellen und sonstigen symbolisch-bedeutungsvollen Besitztums zu verstehen. Diese korrelationistische Betrachtungsweise der Kultur als etwas, das ein der Gesellschaft gegenüber stehendes, eigenständiges Ganzes bildet, wird von denjenigen Ansätzen unterlaufen, die den Begriff des Sinns in den Mittelpunkt ihrer Bestimmung von Kultur stellen. In dieser Linie scheinen durchaus auch die Vorstellungen von Geertz zu stehen, der Kultur als Symbol- und Sinnsysteme begreift. Wir leben, wie Geertz (1975: 5) sagt, in »webs of significance man himself has spun« oder, um mit Soeffner (2003: 184) zu sprechen, in einem »unser Wahrnehmen, Deutung und Handeln umgebende gedeutete und ausgeleuchtete Sinnhorizont«. Wie man sieht, rückt in den letzten beiden Zitaten der Begriff des Sinns an die Stelle dessen, was in strukturalistischen Definitionen noch als Zeichen oder Symbol auftritt. In der Tradition Webers (1988: 180) und der Verstehenden Soziologie versteht man hier unter Kultur »einen mit Sinn und Bedeutung bedachten endlichen Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens«. Dieser Ausschnitt ist schon für Weber Gegenstand der Kulturwissenschaft. Deren Voraussetzung besteht darin, »dass wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen« (ebd.). Kultur entsteht, um mit Simmel (1983: 186) zu sprechen, »indem zwei Elemente zusammen kommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektive geistige Erzeugnis«. In einer sehr ausgeprägten Fassung wird diese Vorstellung von Kultur als einem in den »Köpfen der Menschen« verankerten

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Wissen von der kognitiven Anthropologie vertreten. Die Kultur einer Gesellschaft«, so formuliert es etwa der Anthropologe Goodenough (1957: 167), »besteht aus allem, was man wissen oder glauben muss, um sich im Einklang mit anderen zu verhalten«. Man sollte beachten, dass hier Kultur zwar im Subjekt verankert, aber keineswegs subjektiviert wird. Ähnlich der Sprache stellt sie eine Struktur dar, die jedoch im Individuum verankert ist und im Individuum gefunden wird. »Jede Kultur besteht aus Kategorien, mit denen Erfahrungen sortiert und klassifiziert werden. Die Menschen lernen Regeln für angemessenes Verhalten. Sie erwerben kognitive Landkarten, die es ihnen erlauben, Verhalten und Ereignisse zu deuten, die sie beobachten können« (Spradley 1972: 9). Es handelt sich hier im zweiten Fall also um eine Form von Wissen, das Menschen nicht nur erwerben, sondern auch im eigenen Handeln umsetzen. Kultur ist damit kein eigenständiger Bereich, der dem Handeln (und damit der Struktur) gegenüber steht, sondern in das Handeln eingelassen ist. Sinn bzw. Zeichen als die zwei Pole des Kulturbegriffes verweisen auf zwei grundlegende theoretische Konzepte, nämlich einen interaktionistisch-handlungstheoretischen und einen semantischen Kulturbegriff (Luhmann 1999: 54). Die Verknüpfung von Handeln und Sinn im Begriff der Kultur ist einer der Gründe für die Verlagerung von »geistes«- und »sozialwissenschaftlichen« Ansätzen zu kulturwissenschaftlichen: Geist und Gesellschaft gelten nicht mehr als zwei getrennte Bereiche, sondern sind miteinander verknüpft. Diese Verknüpfung hat zuweilen zu einer regelrechten (»kulturalistischen«) Umkehrung des Bedingungsverhältnisses geführt: Hatte Scheler noch zwischen »Realfaktoren« und »Idealfaktoren« unterschieden und hatte Parsons noch die Gesellschaft als ein System angesehen, in dem gehandelt wird, und Kultur dagegen als das System der Ideen, so wird in manchen kulturalistischen Ansätzen die kulturelle Dimension als entscheidend für Handlungen und die durch Handlungen gebildeten Institutionen und Strukturen angesehen: Es sind kulturelle Vorstellungen, »Modelle« und »Muster«, die das Miteinander der Menschen regeln, und es sind Zeichen und Symbole, mit denen die gesellschaftliche Ungleichheit markiert oder politische Macht erzeugt wird. Mustergültig dafür sind die kultursoziologischen Arbeiten Bourdieus (etwa: 1984), der in großem empirischen Detail gezeigt hat, wie sehr das kulturelle Wissen (»Kapital«) und das dafür geschaffene System der kulturellen Güter nicht nur zur Widerspiegelung, sondern selbst zur Schaffung der Unterschiede zwischen unterschiedlichen sozialen Klassen dient. Für Deutschland wurde dieser Nachweis vor allem von Schulze (1992) geführt, der die Rolle »alltagsästhetischer Schemata« und die ih28

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nen folgende materiale Kultur für die Konstitution der verschiedenen sozialen Milieus in der Bundesrepublik Deutschland materialreich aufgezeigt hat. Sowohl Bourdieu wie Foucault betrachten die materiale Kultur keineswegs als ein eigenständiges, abgeschlossenes System, sondern – einmal durch den Habitus, das andere mal durch das in alltagsästhetischen Schemata enthaltene Wissen – gleichsam in die Handelnden eingelassen.

Skizze einer sozialkonstruktivistischen Theorie der Kultur Die Widersprüchlichkeit der eben skizzierten Begriffsfelder könnte vor die Entscheidung stellen, welcher der (eingestandermaßen: etwas überzeichneten) Begriffe bevorzugt wird. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, einen Begriff der Kultur zu formulieren, der es erlaubt, diese widersprüchlichen Aspekte zu vereinen. In der Tat gibt es einen theoretischen Rahmen, dem die Verbindung dieser beiden Gegensatzpaare auf eine Weise wie wenig anderen gelingt: die Theorie der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Diese Theorie verbindet ja bekanntlich nicht nur die subjektive Perspektive der Akteure mit der objektiven der Institutionen; in seiner handlungstheoretischen Grundlegung ist er ausgesprochen integrationistisch, zumal Sinn und Handeln die Basis der gesellschaftlichen Konstruktion darstellen. Obwohl grundlegend integrationistisch, erlaubt die Theorie durchaus auch eine korrelationistische Betrachtung etwa von Identitätstypen und Gesellschaftsstrukturen (Luckmann 1980), von Religion und gesellschaftlicher Differenzierung (Luckmann 1991) oder sogar von Bewusstseinstypen und gesellschaftlichen Entwicklungsstufen (Berger et al. 1975). Allerdings sollte man betonen, dass weder Berger noch Luckmann bislang einen expliziten Begriff der Kultur vorgeschlagen haben. Ich möchte deswegen diesen Abschnitt nutzen, um eine Vorstellung dessen zu entwickeln, was wir aus dieser Perspektive unter Kultur verstehen können. Aufschluss darüber, wie man Kultur aus einer sozialkonstruktivistischen Sicht bestimmen könnte, gibt bezeichnenderweise die Theorie der Religion. Bekanntermaßen definiert Luckmann (1991) Religion durch einen sehr weiten funktionalen Begriff: Religion ist das Transzendieren der biologischen Natur des Menschen. Dieser Begriff hat vielfach zu verwirrenden Ausweitungen des Religionsbegriffes geführt, die auf die Kritik stießen, man könne mit diesem Begriff alles als Religion bezeichnen: Sport und Drogen, Comics und Soap Operas, Wissenschaft und Marxismus. In einer gewissen Weise ist die Kritik berechtigt, umfasst 29

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dieser weite Religionsbegriff doch nicht nur das, was wir selbst im weiteren Sinne als Religion bezeichneten. Genau genommen umschließt er alles, was wir als Kulturphänomen bezeichnen. Es wäre deswegen genauer, das Transzendieren der biologischen Natur als ein Bestimmungsmerkmal nicht von Religion, sondern von Kultur anzusehen. In der Tat hat Luckmann auch einen »engeren« Religionsbegriff gebildet, den er an die Ausbildung eines Heiligen Kosmos band – während sich der weitere durch eine geteilte Weltansicht auszeichnet. Die unsichtbare Religion, so also die These, ist, genau genommen, die Kultur. Oder anders gesagt: Kultur ist die gesellschaftliche Bewältigung von Transzendenz. Die menschliche Wirklichkeit ist eben jener Bereich, der neben der organisch wahrgenommenen Schicht besteht, und diese Wirklichkeit ist die Kultur. Diese These möchte ich kurz in drei Schritten entwickeln, in denen auch die Verbindung der zwei genannten Achsen der Kulturdefinition skizziert wird. (a) Die Aussage, dass die Bewältigung der Transzendenz Kultur ist, bedeutet nicht, dass die Kultur damit Religion ist. Man kann dies anhand der späteren Unterscheidung verschiedener Arten von Transzendenz erläutern, die Luckmann (1991) im Anschluss an Schütz formuliert: Die kleinen Transzendenzen von Zeit und Raum überschreiten das, was wir unmittelbar im Hier und Jetzt erfahren und wahrnehmen. Sie bilden gleichsam eine erste, vom Bewusstsein geschaffene Sinnschicht, die auf den Dingen liegt, die der organischen Wahrnehmung gegeben sind. Auch die mittlere Transzendenz der Anderen als handelnder Agenten ist eine besondere Sinnschicht, die nicht selbst der Erfahrung gegeben ist. Die Intentionalität muss, wie Schütz sagt, einer Generalthesis zugeschrieben werden, weil sie selbst nur mittelbar zugänglich ist. Der eigentlichen Religion nähern wir uns erst mit den großen Transzendenzen, also jenen Erfahrungen, die die Wirklichkeit des Alltags, in der wir mit Anderen leben, auf sie zu handeln und mit ihnen kommunizieren, überschreiten. Hier bricht sozusagen die Transzendenz in religiöser Form ein, etwa in der Begegnung mit dem Tod, in der Erscheinung eines Geistes oder in der magischen Heilung. Allerdings ist selbst diese große Transzendenz keineswegs ausschließlich religiös. Denn die Eingebungen zum Beispiel müssen keineswegs religiöser Natur sein, sondern können, wie in der frühen griechischen Antike (und der abendländischen Romantik) eine durch Genien vermittelte ästhetische Mitteilung beinhalten. Das »Augustum« (Otto 1987 [1936]) muss kein Merkmal des Heiligen sein, sondern kann auch mit Musik oder politischem Charisma verbunden sein. Es ist keineswegs zufällig, dass Religion nur mit den »höheren« Transzendenzen verbunden ist, denn die Bewältigung der kleinen und mittleren Transzendenzen selbst ist Teil der alltäglichen Lebens30

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welt, die sich nur unter großem Aufwand mit religiösen Deutungen versehen lässt: Die Transzendenz des Raumes kann durch die Wünschelrute überwunden, die Transzendenz des Anderen durch Telepathie oder den Glauben an die Seelenverwandtschaft bewältigt werden. Allerdings werden wir selbst in diesen Fällen mit den Anderen auch noch alltäglich kommunizieren, und auch beim bloßen Gehen vertrauen wir auf die zeitliche Dauer des Grundes, auf dem wir gehen. Wie die »objektive« Wirklichkeit auch immer gestaltet sein mag – sie besteht für uns in jenem Mehr der Wahrnehmung, das wir Transzendenz nennen. (b) Die subjektiv erfahrenen Transzendenzen sind eine Grundlage für die Kultur; sie werden aber erst zur Kultur durch die Vergesellschaftung. In der Tat kann man sagen, dass die Transzendenzen selbst eigentlich erst in der Vergesellschaftung des Menschen entstehen. Denn auch wenn »konstitutionslogisch« die kleinen Transzendenzen den mittleren vorausgehen, so ist die Genesis der Bewältigung von Transzendenzen sehr wahrscheinlich doch eng mit der Sozialität des Menschen verknüpft. Ihre Ausbildung scheint damit zusammenzuhängen, dass wir als Menschen in einer besonderen Art auf Andere angewiesen sind. In der Tat hat schon Mead (an den ja auch Schütz anknüpft) sehr genau gezeigt, wie das (anthropologisch bedingte) Angewiesensein des Menschen von frühester Kindheit an zu einer Bewältigung der Transzendenz des Anderen zwingt. Die Annahme, dass andere (z. B. Mütter) als signifikante Andere existieren, ist die zeitlich (also genetisch) erste Transzendenz, die der Organismus des Kleinkindes mit Sinn bewältigen muss. Mead (1984) hat denn auch beschrieben, wie diese Bewältigung auf den Verhaltensgrundlagen des Organismus aufbaut, um dann jedoch eine neue Stufe zu nehmen, in der Bedeutung vermittelt wird: Auf der Grundlage von Reiz-Reaktionsmustern bildet sich die Fähigkeit zur intersubjektiven Spiegelung, zur Rollenübernahme, zur Reziprozität der Perspektiven und damit auch zur Ausbildung einer Identität aus (vgl. Luckmann 1980). Nun erst wird man der Anderen gewahr – und damit auch der eigenen Immanenz. (Die Transzendenz von Raum und Zeit geht damit einher.) Transzendenzerfahrungen sind also sehr grundlegend in den Prozessen der (frühkindlichen) Interaktion und Kommunikation begründet; die erste Form der Transzendenz sind sicherlich die signifikanten Anderen, die sich als Akteure erst allmählich gegen die nicht oder nur vermeintlich handelnde Umwelt abzeichnen. Ist diese Fähigkeit zum Transzendieren einmal in der Begegnung mit Anderen erworben, kann sie auch auf andere Erfahrungen übertragen werden: Im Abstand von der eigenen unmittelbaren Erfahrung können dann vergangene Erfahrungen erinnert und zu einem individuellen Gedächtnis werden (das sich ebenso erst in der Sozialität ausbildet). Und auf derselben Grundla31

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ge können zukünftige Erfahrungen als Handlungen entworfen und langfristig Handlungsplanungen durchgeführt werden. Sozialität – also Interaktion bzw. Kommunikation – ist damit die Voraussetzung für die Bewältigung der Transzendenz.2 (c) In der Vergesellschaftung der Transzendenzen stoßen wir auf die für den Kulturbegriff so wichtige Integration von Sinn und Handeln. Sinn als Bewältigung der Transzendenz tritt nicht für sich auf, sondern ist grundlegend verbunden mit den Prozessen wechselseitigen Handelns. Allerdings bleibt es nicht bei der engen Verknüpfung und damit Integration – und zwar aufgrund der inneren Logik des beschriebenen Prozesses. Denn die anfängliche Interaktion – der Grundprozess der Menschwerdung – ist nicht nur Interaktion, sondern immer auch Kommunikation. Es werden nicht nur wechselseitige Handlungen koordiniert, zur Koordination menschlicher Handlungen bilden sich auch eigene Objektivationen aus, die in manchen Fällen zeichenhafte Formen annehmen. Für die Objektivität der Kultur spielen Zeichen eine herausragende Rolle. Schon aus Frühkulturen bekannt sind aber auch »Objekte«, deren Sinn fürs Handeln man nachträglich nur schwer rekonstruieren kann. Diese Objekte tragen zweifellos zur Objektivität der Kultur entscheidend bei. Schon in ihrer basalen Funktionalität (als Töpfe oder Werkzeuge) tragen sie auch eine elementare Bedeutung, sind also objektivierter Sinn. Im Unterschied zu ihnen dienen jedoch manche Objektivationen ausschließlich der Kommunikation: Zeichen. Sie erleichtern nicht nur die Koordination der Handlungen; sie erlauben es auch, diese Bedeutungen und Funktionen zu vermitteln. Eine besondere Rolle nimmt dabei die Sprache ein, die ja ein recht kohärentes System von Objektivationen bildet. Wenn man Sprache als System betrachtet, dann erscheint sie auch schnell als »soziale Tatsache«. Und wenn man sie als soziale Tatsache betrachtet, kann man sie auch mit anderen »Systemen« korrelieren – ein Umstand, den sich nicht nur der Strukturalismus sehr zunutze gemacht hat. Auch Berger und Luckmann (1970) betrachten die Sprache als eine eigene Institution, die mit der Struktur der Gesellschaft korreliert werden kann. Um einem strukturalistischen Pansemiotismus zu entgehen, sollte man jedoch bedenken, dass viele Objektivationen nicht den Charakter eines geschlossenen Systems annehmen: Auch wenn Barthes (1967) vermutete, dass wenigstens in modernen Gesellschaften Kleider ein System 2

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Soweit ich sehe, findet sich dieses Argument der Gleichursprünglichkeit von Transzendenz und Interaktionskompetenz auch schon bei Luckmann (1991[1967]), obwohl die Folgen dieses Arguments insbesondere für die Phänomenologie weitgehend ignoriert wurden – sieht man von der bahnbrechenden Arbeit von Srubar (1988) ab.

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bilden, unterscheidet sich dies doch sehr vom systematischen Charakter der Sprache. Als Objektivationen jedoch transzendieren die Zeichen zweifellos die subjektiven Ausprägungen der Transzendenz und können als »objektive Kultur« betrachtet werden. Denn die Bedeutungen dieser Kulturobjektivationen, also die berühmte »Sinnschicht«, die das Dingliche transzendiert, haften nicht den Dingen selbst an, sondern entstehen in kommunikativen Akten. Dazu zählt durchaus die (eben nicht systemische) Ordnung der Zeichen und Dinge in einer Kultur (ein »Liebesfilm« im Unterschied zu einem »Krimi«, Wein im Unterschied zu Bier), die damit selbst einen kommunikativen Charakter annehmen. Wie z. B. Degele (2004) zeigt, ist die »Schönheit« eines Menschen nicht einfach da, sondern durchaus eine handelnd erschaffene Objektivation. Dazu zählt die Kommunikation, die im Umgang mit den Objektivationen durchgeführt wird – und die Kommunikation über diese Objektivationen. Die verschiedenen Arten der Objektivationen – Gesten, Gebärden, Sprache, Kulturobjekte – sind die wesentlichen Medien der Vergesellschaftung des Umgangs von Transzendenzen, und sie sind es auch, die in der Kommunikation das ursprünglich Subjektive des Transzendierens in eine unübersehbare oder unüberhörbare Objektivität verwandeln, die allerdings ohne das Transzendieren selbst keinen Sinn machte. (Die Verschiedenheit der Medien ist Ausgangspunkt für die Ausdifferenzierung in unterschiedliche Künste, die sich in medienspezifische Bereiche von Objektivierung ausdifferenzieren.) Nachdem wir von der Subjektivität des Transzendierens ausgegangen sind, landen wir hier also beim anderen Pol der zweiten Dimension des Kulturbegriffes, der Objektivität. Objektivierung und Vergesellschaftung von Transzendenz bilden in der Tat das, was Luckmann eine Weltansicht nennt. Die Welt als Raum der erfahrbaren Möglichkeiten wird hier nicht als ein vorgegebenes Konzept, sondern als eine zusätzliche Sinnschicht betrachtet, die nicht nur zeichenhaft objektiviert und damit auch mitteilbar wird. Dieses Merkmal ermöglicht es, die Kultur zum Gegenstand der Wissenschaft zu machen. Überdies wird sie von Anderen geteilt (und damit zum Gegenstand der Soziologie). Mit dem Teilen der Kultur berühren wir auch dessen Gegensatz, das Nichtteilen: Differenz und Fremdheit. Weil Kultur als Vergesellschaftung von Transzendenz wesentlich in der Interaktion gründet, gehe ich davon aus, dass die Differenz von Kultur – Fremdheit und Andersheit – selbst Modus der Interaktion ist. Ich möchte deswegen im abschließenden Teil Fremdheit und Andersheit als zwei Modi der Interaktion beschreiben, die gleichsam die Form der Gesellschaftlichkeit von Kultur beschreiben.

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D a s F r e m d e u n d d a s An d e r e : Al i e n i t ä t u n d Al t e r i t ä t In seinem berühmten Aufsatz über den Fremden schilderte Alfred Schütz (1972) die typische Situation desjenigen, der von einer Kultur in die andere wechselt. Dessen Wissen, Relevanzen und gesamten »Kulturund Zivilisationsmuster« unterscheiden sich von der Kultur, in die er hineinwechselt – ohne jedoch wirklich in sie hineinzukommen. Doch so unterschiedlich auch die Kulturen sein mögen und so fremd sich der Fremde auch fühlen wird, so steht für ihn doch die Möglichkeit der Kommunikation und die Fähigkeit zum sozialen Handeln nicht in Frage. Handeln und Kommunikation geschehen ja für Schütz vor dem Hintergrund einer geteilten Lebenswelt, die auf einer gemeinsamen Bewusstseinsstruktur gründet. Die Lebenswelt ist jedoch keineswegs eine bloß subjektive Bewusstseinsstruktur, die durch Intentionalität und Transzendenz ausgezeichnet ist, sondern zeichnet sich auch durch eine grundlegende Struktur dessen aus, was Schütz als »Intersubjektivität« bezeichnet und hier ›Alterität‹ genannt werden soll.3 Im Unterschied zu Husserl, der Intersubjektivität als präkognitives Bewusstseinsschema supponiert, basiert die Theorie des Fremdverstehens bei Schütz auf der Betrachtung der sozialen Beziehung in der natürlichen Umgebung und der unhinterfragten Gegebenheit des Anderen darin: Seine Generalthesis des alter ego geht davon aus, dass der Mensch als ein immer bereits in eine bestehende Sozialwelt hineingeborenes Wesen die Existenz seiner Mit- und Nebenmenschen als fraglos gegeben hinnimmt und in der relativ-natürlichen Einstellung des Alltags davon ausgeht, dass das Du ebenfalls ein Bewusstsein besitzt, das dauerhaft ist und als dem seinigen wesentlich ähnlich angenommen wird (Schütz 1991 [1932]). Diese Idealisierung des Alltagsdenkens bildet die Grundlage für die – genau genommen – kontrafaktische Annahme der Verständigung. Kontrafaktisch ist diese insofern, als dass Schütz keinesfalls behauptet, den Alltagshandelnden sei eine direkte Erfassung fremder Bewusstseininhalte möglich. Deren Unzugänglichkeit – eben jene Transzendenz, die wir als genetische Grundlage allen Transzendierens ausmachten – ergibt sich aus der unhintergehbaren Subjektivität: Eigener Sinn ist für »jedes Du wesensmäßig unzugänglich, weil er sich nur innerhalb des jemeinigen Bewußtseinsstromes konstituiert« (Schütz 1991[1932]: 140). Diese »wesensmäßige Unzugänglichkeit« ist jedoch nicht gleichzusetzen mit prinzipieller Verständigungsunmöglichkeit. 3

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Ich greife hier auf Ausführungen zurück, die ich zusammen mit Bernt Schnettler (2004) angestellt habe.

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Ganz im Gegenteil. Fremdverstehen, so Schütz, fundiert sich vielmehr alltagsweltlich in einer Idealisierung, die auf einer Ähnlichkeitsübertragung beruht – und nicht etwa auf einer wie auch immer gearteten »Einfühlung« in das fremde seelische Erleben. Die Annahme, dass alter ego sei »wie ich«, bleibt dann allerdings nicht nur eine Zuschreibung, sondern zieht eine Reihe weiterer Bewusstseinsakte nach sich und bildet schließlich den Ausgangspunkt für das soziale Handeln. Im sozialen Handeln dann muss sich diese Zuschreibung bewähren – oder eben nicht. Zweifellos ist die Tragfähigkeit dieser Unterstellung abhängig von einer Reihe von Bedingungen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Anonymitätsgrad des Gegenübers, der in Abhängigkeit der Erlebnisnähe und -dichte zu ihm variiert. Aber selbst wenn damit »Fremdverstehen« stets graduell zu verstehen ist, weil mein Vorwissen um die Deutungsschemata des Partners notwendigerweise fragmentarisch bleiben muss, so gründet diese Konzeption jedoch auf der Annahme, dass es eine universal menschliche Grundlage für das Verstehen gibt. Es handelt sich um eine grundlegend menschliche Sinnübertragung auf den andern, eine »universale Projektion« (Luckmann 1980), die erst im Verlauf der Interaktion und als Folge kultureller Sinnablagerung modifiziert und eingeschränkt wird. Die universale Projektion beschränkt sich keineswegs auf Menschen.4 Wie Luckmann betont, bezieht sich die universale Projektion der Unterstellung von Intentionalität – also der Transzendenz – zunächst (also mit der Ausbildung der Fähigkeit zur Interaktion und der Erfahrung erster mittlerer Transzendenz) auf alles – auch auf Steine und auf Tiere. Alles Andere ist zunächst gleich. Denn diese universale Projektion kann durchaus problematisch werden: Das vermeintliche Alter ego stellt sich als eine Kleiderpuppe heraus, die sich gar nicht bewegt; es kann sich als Stimme entlarven, die automatisch läuft und der wir keine Frage stellen können. Diese Fälle ontologischer Enttäuschung sollten wir von solchen Fällen unterscheiden, in denen bestimmte Rollenerwartungen enttäuscht werden: Die Frau entpuppt sich als ein verkleideter Mann, der Fremde als ein Vertrauter, die Geliebte als eine Fremde (vgl. dazu Schütz 1974). All dies beinhaltet Enttäuschungen besonderer Rollen-(oder allgemeiner: sozialer Typen-)Erwartungen, die jedoch die Intersubjektivität nicht grundlegend antasten. Die Intersubjektivität wird tatsächlich erst berührt, wenn die »Bewährung« ontologisch in Frage gestellt wird: Das Ding, das wie ein Mensch aussieht, regt sich nicht, der vermeintliche Freund ist ein Zombie. 4

So behauptet etwa Lindemann (2001), die Soziologie beschränke den Akteursbegriff lediglich auf Menschen. Diese Behauptung trifft mindestens für Luckmann nicht zu. 35

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Auch wenn die universale Projektion praktisch eingeschränkt wird – als Projektion bleibt sie der zentrale Mechanismus der Intersubjektivität, die allen Interaktionen zugrunde liegt. Im Kern besteht sie in der Zuschreibung der Ähnlichkeit, also der Handlungs- und Erkenntnisfähigkeit »wie ich«.5 Hier werden Erwartungen der Fortführung von Interaktionen in Frage gestellt, die auf Annahmen über den Anderen beruhen. Nicht nur das: Sie beruhen auf einer Ähnlichkeit zwischen alter ego und ego, die natürlich von ego imputiert sind, aber sich auf Dauer bewähren – und bewähren sollen, will man die Annahme aufrechterhalten. Die Annahmen solcher Ähnlichkeiten sind ein Grundbaustein dessen, was wir als Lebenswelt des Alltags bezeichnen. Für Schütz ist also selbst die prinzipielle Fremdheit der Akteure im Rahmen pragmatischen Alltagshandelns bis auf weiteres ›eingeklammert‹. Sie wird zugunsten der initialen Annahme einer Ich-Ähnlichkeit (zunächst – d. h. solange sie sich bewährt) außer Kraft gesetzt. Alter ego ist also eigentlich kein »Fremder«; vielmehr ist Alter ego eher ein »Ähnlicher«, eben ein alter ego. Man könnte deswegen von Alterität reden. Diesen Begriff ziehe ich dem deutschen »Anderen« vor, um die Verwechslung mit der Andersartigkeit zu vermeiden. Alterität soll aber auch die häufige Substantialisierung des »Anderen« vermeiden, die in der kulturwissenschaftlichen Debatte so häufig geschieht (vgl. Wierlacher und Albrecht 2003). Die Eigenheit dieser Alterität wird erst deutlich, vergleicht man sie mit einem zweiten Modell der Bewältigung von mittleren Transzendenzen (auf der ja die Konstitution weiterer Transzendenzen und deren Vergesellschaftung gründet). Dieses Modell findet sich in der soziologischen Diskussion desselben Grundproblems der Überwindung sozialer Transzendenzen, und zwar insbesondere in den systemischen Theorien, die Intersubjektivität als doppelte Kontingenz fassen.6 So bemerken Parsons und Shils etwa: »There is a double contingency inherent in social interaction« (Parsons und Shils 1951: 16), das heißt: Beide Interaktionspartner wissen, dass das Verhalten des jeweils anderen kontingent ist, wodurch eine strukturell unbestimmte Situation entsteht: »Jeder kann nicht nur so handeln, wie es der andere erwartet, sondern auch anders, 5

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Deswegen ist auch der Andere in solipsistischen Erkenntnistheorien enthalten. Auch Descartes muss ja noch einen Gott ansetzen, um die Möglichkeit der Erkenntnis der Dinge zu begründen. Ohne einen Anderen, der mir wenigstens hinsichtlich seines Erkenntnisvermögens ähnelt, ist kein gemeinsames Erkennen möglich. Für beide Modelle finden sich auch Vorläufer in der früh- und vorsoziologischen Gesellschaftstheorie, etwa bei Hobbes, Rousseau oder Locke, die das Problem durch zusätzliche anthropologische Annahmen zu lösen versuchten.

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und beide stellen diese Doppelung in erwartete und andere Möglichkeiten an sich selbst und am anderen in Rechnung« (Kieserling 1999: 87). An die Stelle der Identitätsunterstellung, wie sie die Alterität kennzeichnet, wird hier die Idealisierung der Differenz gesetzt. Sie gründet, wie Schröer (1999: 190) feststellt, in der Ausgangsannahme einer grundsätzlichen und im Prinzip unüberwindlichen Eingeschlossenheit der Individuen: »Zentral ist für die Systemtheorie Luhmanns die Annahme der operationalen Geschlossenheit sowohl der psychischen als auch der sozialen Systeme. Beide Systemtypen sind unverzichtbar aneinander gekoppelt, also energetisch zueinander offen, sie können sich aber lediglich irritieren und zu internen selbstreferentiellen Operationen veranlassen.« Aus dieser ausschließlichen Selbstreferentialität sieht Luhmann, in existentialistisch anmutender Weise, keine Möglichkeit des Entrinnens. Seine theoretische Lösung des Intersubjektivitätsproblems – das hier unmittelbar mit dem Emergenzproblem sozialer Ordnung verkoppelt ist – präsentiert er als die paradoxe Gleichzeitigkeit einer Enttäuschung: »Ego erfährt Alter als alter Ego. Er erfährt mit der Nichtidentität der Perspektiven zugleich die Identität dieser Erfahrung auf beiden Seiten. Für beide ist die Situation dadurch unbestimmbar, instabil, unerträglich. In dieser Erfahrung konvergieren die Perspektiven [...]« (1984: 172). Das ist die doppelte Kontingenz. Sie unterscheidet sich von Alterität keineswegs in der Frage der Bewährung (und der Enttäuschung von Erwartungen). Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass doppelte Kontingenz auf der Annahme beruht, alter ego sei eine unbekannte Black Box. Was immer wir von der Black Box erführen, resultierte allein aus ihren zunächst erratisch erscheinenden Handlungen, nicht aber aus dem, was wir vorneweg über alter wissen – wir wissen im Grunde nichts. Genau deswegen ist hier auch der Begriff der Alienität angemessen, denn die Black Box ist – jedenfalls als Vorwissen – völlig unbekannt (auch hier ist der deutsche Begriff »Fremdheit« eher irreführend, weil er eine zu große Nähe unterstellen könnte). In beiden Modellen sind die Subjekte füreinander eigentlich nicht zugänglich. Während im einen Fall jedoch die Unterstellung einer Gemeinsamkeit »wie ich« vorherrscht, gehen die Interaktionspartner im Falle der doppelten Kontingenz von einer prinzipiellen Differenz des Anderen aus. Der Andere ist nicht »alter ego«, er ist Fremdes. Sofern die Unterstellung »wie ich« sogar ausdrücklich zurückgehalten wird, könnte man sogar sagen: ein »maximal Fremdes«.7 7

So der Titel des Sammelbandes von Schetsche (2004). Damit soll nicht gesagt werden, dass hier das Fremde als okkult behandelt werden soll, wohl aber, dass dieses Modell die Grundlage für die Konstruktionen von radikalen Differenzen sein kann. 37

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Es steht außer Zweifel, dass empirisch viele Übergänge zwischen beiden Typen möglich sind, die etwa bei Schütz anhand der Grade der Anonymisierung von Akteuren und Handlungsmustern entwickelt wurden. Es soll auch nicht behauptet werden, dass die beiden Modelle aus dem Nichts geschaffen wurden. Dazu scheint ihre nachträglich sichtbare Parallelität zu der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft doch zu deutlich. Und dazu ist auch ihre Bedeutung für die zwei Grundeinstellungen der Kulturtheorie – kultureller Universalismus und Relativismus – zu groß.8 Beachtenswert ist jedoch, dass es sich um zwei grundsätzliche Modelle der Intersubjektivität handelt, sofern sie sich sozialtheoretisch auf die Begegnung zweier Subjekte beziehen. Dabei vermeiden beide Modelle den Fehler vieler xenologischen Ansätze, die das »Andere« und das »Fremde« vorschnell substantialisieren.9 Denn die Modelle behaupten nicht, was das Andere bzw. das Fremde ist, sondern antworten lediglich auf die Frage, wie wir die Transzendenz des Anderen bewältigen (und damit konstruieren). Man könnte deswegen auch vermuten, dass es sich hier um mehr als zwei Modelle für bloße »Einstellungen« handelt, die wir in Interaktionen einnehmen und die zu situativen Zuschreibungen von Gemeinsamkeit und Differenz führen. Weil sich diese Modelle auf die Grundlage für die Kultur als Vergesellschaftung von Transzendenz beziehen, könnte man sie auch als zwei Grundmuster ansehen. Grundmuster nicht der Kultur, sondern Grundmuster dafür, wie wir Kultur und kulturelle Differenz sozial konstruieren. Kulturelle Differenzen sind also nicht zuvörderst Differenzen der Kultur – schon gar nicht in einer äußerst differenzierten Gesellschaft. Es sind Differenzen in der Art, wie mit Anderen umgegangen wird – eben als Ähnlichen oder als ganz Anderen.

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Bedenklich ist, dass die auf Anerkennung zielenden Ansätze etwa des Postkolonialismus die Differenz betonen, während die auf Eigenheit pochenden modernistischen Ansätze Ähnlichkeit als Grundlage einfordern. Das Konzept der Alienität scheint auch in der kulturrelativistischen Anthropologie (besonders in deren postmodernen Variante) ausgeprägt zu sein: Denn wer die Differenz der Kulturen verabsolutiert, macht aus dem Anderen ein Fremdes. Ganz gegensätzlich dazu ist die Strategie der Lebenswelttheorie, die dem Fremden ein Gemeinsames mit dem Eigenen unterstellt und den Fremden damit zum Anderen macht. Mustergültig dafür: Kippenberg und Luchesi (1987). Sieht man von solchen völlig kulturrelativistischen Vorstellungen ab, ist das Fremde selbst in der Ethnologie in der Regel das Andere, das nicht als Anderes akzeptiert und einseitig behandelt wird. In diesem Sinne spricht auch Said (1986) vom »schweigenden Anderen« (in diesem Fall des Orients), das von der europäischen Wissenschaft nicht als »Diskurspartner« anerkannt worden sei. Vgl. dazu auch Stagl (1985).

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Transdifferenz, Kulturhermeneutik und alltägliches Übersetzen: Die soziologische Perspektive ILJA SRUBAR

Transdifferenz Der Begriff der ›Transdifferenz‹ bezieht sich auf Prozesse der Sinnkonstitution, in denen zwei oder mehrere Sinnbereiche miteinander relationiert werden, ohne dass dadurch ihre gegenseitige Fremdheit/Differenz aufgehoben würde. Der Begriff ›Transdifferenz‹ bezeichnet in diesem Sinne »Phänomene der spannungsreichen und unaufgelösten Ko-Präsenz von gegensätzlichen Semantiken, Sinn-Komponenten oder Zugehörigkeiten. Transdifferenzphänomene werden lebensweltlich von Individuen und Kollektiven erfahren und symbolisch verarbeitet. Der Transdifferenzbegriff zielt auf die Untersuchung von Momenten der Ungewissheit, der Unentscheidbarkeit und des Widerspruchs, die in Differenzkonstruktionen auf der Basis binärer Ordnungslogik ausgeblendet werden« (Lösch 2005: 252 f.). Das erste definitorische Merkmal von ›Transdifferenz‹ besteht also in der Gleichzeitigkeit, in der die Sinnkonstituierenden mehreren Sinnwelten angehören, sich also zugleich innerhalb von mehreren Realitätsbereichen befinden. Dies zieht notwendigerweise die temporäre Transitivität einer solchen Sinnbildung nach sich: Die so entstehenden Sinnkonstrukte sind weder dauerhaft stabil, noch sind sie in ihrer wechselnden Zusammensetzung »homogen« – ihre Gestalt wechselt je nach ihrer Verortung in der Zeit und im sozialen Raum. Es sind keine »Substanzen«, sondern Zeitkonstrukte. Aus der Heterogenität von Sinnelementen, die in der ›transdifferenten‹ Sinnkonstitution relationiert werden, und aus ihrer nicht eliminierbaren gegenseitigen ›Fremdheit‹ 43

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qua Differenz ergibt sich denn auch ihr zweites definitorisches Merkmal: In diesem Prozess muss mit Ungewissheiten, Unentscheidbarkeiten und Widersprüchen umgegangen werden, die aus der gegenseitigen Inkohärenz und Inkonsistenz der involvierten Sinnelemente resultieren. Festgemacht wird der Prozess sowohl in Akten der subjektiven Sinnund Identitätskonstitution als auch im intra- und interkulturellen Kommunikationsgeschehen. Betrachtet man dann ›Kultur‹ als ein Resultat derartiger Sinnkonstitution, führt dies zu einer Erosion von Kulturvorstellungen, die »Kultur« als ein dauerhaftes Gefüge von Werten, Normen sowie kognitiven Mustern ansehen, und infolgedessen zur Auflösung des Kulturbegriffs in eine Vielzahl von sinnkonstituierenden Praktiken, in welchen eine ambivalente und »oszillierende« Varietät von Sinnkonstrukten entsteht (Grossberg 1999; Clifford 1988; Bhabha 1994).

Soziologie Akzeptiert man, und vieles spricht dafür, die Sicht Luhmanns (Luhmann 1990: 271ff.), nach der Wissenschaften Wissenssysteme sind, die das System ›Gesellschaft‹ zu seiner Selbstbeschreibung hervorbringt, dann gilt dies insbesondere auch für die Soziologie. In diesem Sinne sind der soziologischen Gesellschaftsbeobachtung die mit ›Transdifferenz‹ bezeichneten Phänomene nicht verborgen geblieben und auch sie hat aus dieser Beobachtung theoretische Schlüsse gezogen. Phänomene, auf die der Begriff ›Transdifferenz‹ zielt, sind seit langem Themen soziologischer Forschung und Theoriebildung, insbesondere im Rahmen von Ansätzen, die die Konstruktion sozialer Realität als einen Prozess der Sinnkonstitution und Sinnverarbeitung auffassen und deren Spektrum vom ›sozialen‹ bis zum ›radikalen‹ Konstruktivismus reicht (Mead 1973; Schütz 1932; Mannheim 1969; Berger/Luckmann 1970; Luhmann 1984; Habermas 1981; Dux 2000). Historisch macht die Soziologie diese Phänomene am Prozess der Ausdifferenzierung qua Modernisierung der Gesellschaft und an der damit verbundenen Individualisierung fest. Systematisch werden sie dann in den Theorien der Konstitution sozialer Realität behandelt. Natürlich ist die Soziologie nicht die erste Beobachterin der Heterogenisierung und der subjektbezogenen Relativität von Sinnkonstitution, die dazu zwingen, Ungewissheit der Deutung zu akzeptieren: »Nicht bei Montaigne, sondern bei mir selbst finde ich alles, was ich dort sehe«, bemerkt bereits Pascal in seinen »Pensées« (Pascal 1997: 689). Eine Reihe von Analysen verweist darauf, dass die Ungewissheit der Deutung, die hier ihre Lösung findet in der Reflexion zweier unter44

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schiedlicher Sinnuniversa, die sich in einem und demselben Text niederschlagen, sich seit dem 17. Jahrhundert in Europa in dem Maße steigert, in dem die Einsicht in die semiotische Konstruktion der Realität und in ihre sozio-historische Bedingtheit zunimmt (Esposito 2002; Luhmann 1995; Baudrillard 1982). Die sichtbar werdende Relativität und soziale ›Seinsgebundenheit‹ des Wissens führen nicht nur zu der Reflexion dessen, dass die Vergegenwärtigung von Epochen, Biografien und Wissenssystemen eine Leistung der Gegenwart sei, sondern auch dazu, dass man lernte, die eigene Gegenwart durch den Vergleich mit anderen copräsenten Kulturen als ein Konstrukt zu erkennen. Wie eurozentrisch, nostrifizierend oder sonst inadäquat diese Vergleiche sein mochten (Matthes 1992), sie haben dazu beigetragen, dass die Soziologie als eine der ersten wissenschaftlichen Disziplinen lernte, den Konstruktcharakter der sozialen/kulturellen Wirklichkeit zu erkennen, und infolgedessen auch die durch die sozio-historische Bedingtheit dieser Konstruktion gegebene Heterogenität ihrer »Bausteine« zu sehen. Es ist dann nur der Ausdruck dieser Heterogenität, dass zu gleicher Zeit Entwürfe nebeneinander standen, die ›Kulturen‹ als relativ homogene Wertesysteme behandelten (so etwa Weber 1920), oder aber diese als Aggregate recht heterogener Vergesellschaftungsformen anzusehen erlaubten (Simmel 1908). Die zunehmende Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft zwang nichtsdestoweniger dazu, die Vorstellung von Subjekten und sozialen Kollektiven als homogenen sinnkonstituierenden Einheiten aufzugeben, und stattdessen differenzierte Modelle zu entwerfen. Dies lässt sich insbesondere am Begriff der ›sozialen Person‹ bzw. an der Entwicklung der wissenssoziologischen Fragestellung gut zeigen. Bereits 1890 in seiner Arbeit über Soziale Differencierung formuliert Simmel (1989) ein Konzept der sozialen Realität als einer heterogenen Vielzahl von sozialen Kreisen, an denen Individuen qua Rolle partizipieren, so dass sich die soziale Identität – die ›soziale Person‹ – aus der sich im Verlauf der Biografie wandelnden Schnittmenge dieser Kreise ergibt. Damit wurde das Modell einer zwischen diversen ›Kulturkreisen‹ in der Zeit oszillierenden Identität in den Raum gestellt, wie auch an der lebhaften Rezeption Simmels in der postmodernen Semantik der Gegenwart gesehen werden kann (Bauman 1995; Frisby 1989). Die Reflexion der Relativität von ›Weltanschauungen‹, die an unterschiedliche soziale Standorte gebunden sind, die ein Individuum in seiner Biografie durchläuft, dient ebenso bereits Karl Mannheim 1929 (Mannheim 1969) zur Illustration der Auflösung der vermeintlichen Homogenität des individuellen Wissensvorrats in eine zeitliche Sequenz von ungewissen Wahlen und Entscheidungen, von der auch die Patchwork-IdentityKonzeption der Postmodernen spricht (Mannheim 2000; Beck 1997). 45

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Viel wichtiger ist es jedoch, dass die wissenssoziologische Arbeit Mannheims paradigmatisch »die Gesellschaft« in eine Vielfalt von Denkstandorten verwandelt, die sich durch eine beschreibbare Eigenlogik auszeichnen und zwischen welchen Übersetzungsprozesse stattfinden müssen, sollen Gesellschaftssysteme nicht zusammenbrechen. Den Rettungsanker in dieser Situation sah Mannheim bekanntlich in der Anerkennung der unaufhebbaren Relativität und Perspektivität von Wissenssystemen, die jedem von ihnen eine Geltung sui generis verleihen. Mannheims Bestreben war es allerdings, die Übersetzungsprozesse zwischen den Denkstandorten wissenschaftlich in Gang zu setzen, indem er seine Wissenssoziologie als die Disziplin verstand, die sich als eine »semiotische Maklerin« betätigen sollte (Mannheim 1969; Bauman 1995). Die von Mannheim eingeforderte, aber nicht eingelöste Beschäftigung mit kommunikativer Verarbeitung der Heterogenität von intrakulturellen/innergesellschaftlichen Sinnbereichen wurde diesseits und jenseits des Atlantiks etwa zu gleicher Zeit aufgenommen. Der Interaktionismus Meads (Mead 1973) und die »phänomenologische Soziologie« von Schütz (Schütz 1932) haben Prozesse kommunikativer Konstruktion der Realität aufgezeigt, die auf der Ebene des alltäglichen sozialen Handelns ansetzten, und somit das Grundgeschehen des sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt qua Kulturwelt thematisiert. Selbstverständlich gehen aber auch in diese Konzepte jene von der Semantik der Moderne geführten Topoi ein, die die Heterogenität von Sinnbereichen innerhalb der sozialen Welt ebenso wie die Mehrschichtigkeit des sinnkonstituierenden Subjekts hervorheben. Meads Leistung besteht dann vor allen Dingen darin, dass er den Prozess der Semiosis als den die Sozialität stiftenden Mechanismus par excellence aufzeigte. Er fasste die Sinnkonstitution als einen dreistelligen Prozess, in dem sinnhafte Deutungen nicht etwa Produkte einzelner Individuen bzw. sozialer Gruppen sind, sondern immer erst aus der intersubjektiven »Spiegelung« von eigenen und fremden Sinnelementen ineinander hervorgehen, wobei das jeweilige Resultat dieses Prozesses als ein signifikantes Symbol einen gegenüber seinen Produzenten unabhängigen und normativen Charakter gewinnt. In dieser Perspektive bringt der Kommunikationsprozess einerseits die Möglichkeit eines normativ homogenisierenden Gruppenkonsensus hervor. Daran schließt etwa die Habermas’sche Vorstellung des kommunikativen Handelns an (Habermas 1981). Andererseits fertigt der »trianguläre« Prozess der Sinnkonstitution keine automatischen »Bewusstseinskopien« an, die sich in den beteiligten Interaktanten festsetzen würden, sondern verbindet zumindest drei heterogene Elemente – zwei oder mehrere zeitlich-biografisch unterschiedlich geprägte Interaktanten und ein von ihnen produziertes und zugleich unabhängiges semiotisches 46

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Deutungssystem, zu dem sich die Interaktanten zu verhalten haben, indem sie es annehmen, ablehnen, modifizieren etc. In jedem Falle geht ein solches »Sich-Verhalten« mit einer Deutung einher, deren Resultate per Handlung in den Kommunikationsprozess wieder eingespeist werden (können). Diese Sicht schließt zwar die Möglichkeit eines durch den normativen Charakter von Zeichensystemen homogenisierten Gruppenkonsensus nicht aus, zeigt jedoch, dass eine solche Konstruktion derart voraussetzungsvoll und im Prinzip unwahrscheinlich ist, dass sie als ein idealtypischer Grenzfall gelten muss. In dieser Perspektive zeigt es sich, dass die Tatsache, dass der Prozess der Kommunikation durch die Hervorbringung semiotisch objektivierter gemeinsamer Erwartungen Verständigung ermöglicht, nicht dafür blind machen darf, dass dieser Prozess zwischen sich gegenseitig transzendierenden subjektiven und sozialen Sinnbereichen abläuft. Kommunikation impliziert also immer auch einen Prozess des Fremdverstehens, der die immer mitgeführte Erfahrung der Ungewissheit über die transzendenten Sinnbereiche der Anderen durch alltägliche Deutungspraktiken zu überbrücken sucht, aber nie einholen kann. Extrem radikalisiert führt dann diese Problemsicht dazu, dass – wie etwa bei Niklas Luhmann (1984) – die Transzendenz von Sinnbereichen zu einer substanziellen Differenz von sinnverarbeitenden Systemen verabsolutiert wird mit der Konsequenz, dass die Möglichkeit der Kommunikation zwischen Individuen und sozialen Systemen negiert wird. Selbstverständlich spielt das Moment der Ungewissheit über das Gelingen von Kommunikation eine gewichtige Rolle auch in Luhmanns Ansatz, denn dieses ist es, was soziale Systeme zur Strukturbildung und Stabilisierung antreibt. Die Ungewissheit der Deutung dagegen ist für ihn offensichtlich nur sichtbar, wenn ein »reflexiver« Schritt im System erfolgt und die binären Differenzen, durch die das System auf seiner »Alltagsebene« seine Welt beobachtet, zum Gegenstand der Beobachtung zweiter Ordnung werden, in der die blinden Flecke der Beobachtung erster Ordnung sichtbar und damit die Unzulänglichkeiten alltäglicher Beobachtung deutlich werden. Ungewissheit der alltäglichen Deutung ist so zwar beobachtbar, sie wird aber nie zum Motiv dieser Deutung selbst. Die Sache stellt sich anders dar, wenn Kommunikation zugleich auch als ein Prozess des Fremdverstehens aufgefasst wird, wie es in den sozialkonstruktivistischen Ansätzen in Anschluss an Alfred Schütz geschieht. Hier stellen sich alltägliche Handlungssituationen prinzipiell als explorative Situationen dar, in welchen die Kommunikation und Interaktion der Produktion von Wissen, d. h. der Überführung des Unvertrauten ins Vertraute dient. Die Ausgangssituation ist hier also die des Fremd47

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verstehens, der die Erfahrung von gleichzeitig bestehenden heterogenen, sich gegenseitig transzendierenden und keineswegs ohne weiteres transparenten oder gar kommensurablen Sinnbereichen zugrunde liegt. In dieser Sicht bedarf es nicht gesonderter Reflexionsakte zweiter Ordnung, um die Vielfalt und die Heterogenität der Sinnbereiche zu erfahren, in der sich alltägliches Leben vollzieht. Diese Vielfalt manifestiert sich unmittelbar in der Erfahrung handelnder Subjekte, etwa in der Parallelität von alltäglichen Lebenswelten, in denen ich existiere, die – wenn ich sie auch nacheinander betrete – gleichzeitig meine Biografie prägen; sie wird deutlich auch in der Erfahrung meiner unterschiedlichen Bewusstseinsmodi mit ihren differenten kognitiven Stilen, in denen ich Tag für Tag wechselweise lebe; sozial präsent ist diese Erfahrung in der Transzendenz der Anderen, die zu verstehen mir auferlegt ist, sowie in der Notwendigkeit, mich in unvertrauten sozialen Beziehungen zu orientieren, die für mich pragmatisch relevant geworden sind. Die Erfahrung der Ungewissheit, der Transzendenz und der Heterogenität von Sinnbereichen sowie die der explorativen Praktiken, durch die mit dieser Erfahrung umgegangen wird, ist also offensichtlich nicht besonderen Situationen interkultureller, postmoderner oder postkolonialer Art vorbehalten, sondern liegt jeglicher alltäglicher Kommunikation zugrunde, und stellt so die elementare soziale Situation dar, von welcher die Konstruktion sozialer Wirklichkeit schlechthin ihren Ausgang nimmt. Vor diesem Hintergrund kann man nun folgende Punkte festhalten, die veranschaulichen, dass die Problematik, auf die der Begriff der »Transdifferenz« zielt, zugleich mit Mechanismen der Konstruktion sozialer Wirklichkeit korrespondiert, die auch im Zentrum wissenssoziologischer Forschung stehen: 1. Menschliches Handeln wird durch Sinn/Wissen geleitet. 2. Wissen generiert sich in Interaktion/Kommunikation mit Objekten und Anderen. 3. Die Transzendenz der Welt und der Anderen erzwingt kommunikatives Handeln als Grundlage der Sozialität und der kollektiven Wissensbildung schlechthin (Luhmann 1984: 148ff.; Schütz 1932: 23ff.; Mead 1973: 107ff.) Das subjektive Wissen um die Sinnorientierung des Handelns lässt Handlungen prinzipiell als Zeichen erscheinen, die anderen zur Deutung auferlegt sind. Die Ungewissheit der Referenz, auf die sich die Deutungspraxis bezieht, kennzeichnet allerdings nicht nur Handlungen als Zeichen, sondern auch alle Zeichensysteme, die als Resultat des kommunikativen Bemühens um die Reduktion dieser Ungewissheit entste48

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hen. Die für die Konstruktion sozialer Wirklichkeit basale Handlungssituation ist daher eine »hermeneutische«, d. h. eine praktisch deutende und eine zeichengenerierende zugleich. Kundgabe und Interpretation als Interaktion im Sinne von 2. kennzeichnen den primären Weltzugang des Menschen. Da für die hermeneutische Praxis grundsätzlich alles einen Zeichencharakter gewinnen kann, muss sie auch mit allen Konsequenzen umgehen, die sich aus diesem Zeichencharakter ergeben. Dazu gehört vor allem die Ungewissheit der Zeichenreferenz, die sich prinzipiell durch das Verwenden weiterer Zeichen nicht beheben lässt. Aus diesem Phänomen der unaufhebbaren kommunikativen Unschärfe resultiert die Erfahrung der Nichtidentität und Fremdheit, auf die auch der Begriff der Transdifferenz zielt. Wenn auch die alltägliche hermeneutische Praxis primär auf die Herstellung von Eindeutigkeit und auf die Überführung des Unvertrauten ins Vertraute ausgerichtet sein mag, so kann sie sich doch nur aufgrund gleichzeitiger Präsenz differenter Sinnbereiche vollziehen, deren Differenz und Widersprüche sie nie restlos aufzulösen vermag, und so im Unentschiedenen belassen muss. Dass diese Praxis auf zeichengestützte Praktiken angewiesen ist, bedeutet zugleich auch die kommunikativ nicht einholbare Reproduktion dieses ›transdifferenten‹ Zustands. Paradox formuliert: Indem der in der Handlungssituation auferlegte Interpretationsbedarf nach Eindeutigkeit und Identität verlangt, wird Ungewissheit, Unschärfe und Differenz (re-)produziert. Die letztendliche Unmöglichkeit, unterschiedliche Sinnbereiche vollends ineinander zu überführen, ihre Differenzen und ihre gegenseitige ›Fremdheit‹ qua Transzendenz einzuebnen, gehört so zum Horizont jeder Handlungssituation und generiert eine Reihe von Praktiken, die damit umgehen (Schütz 1971). In diesem Sinne stellt ›Transdifferenz‹ einen Bestandteil der Matrix der Lebenswelt dar (Luckmann 1979; Srubar 2003), und die von ihr gekennzeichneten Sinnkonstitutionsprozesse gehören zu jenen, durch die Semiosis schlechthin geprägt wird.

Semiosis und Macht Der hermeneutische Charakter der Handlungssituationen sowie die darin mitgeführten »transdifferenten« Momente der Ungewissheit der Deutung haben konstitutionstheoretisch weitreichende Konsequenzen. Sie verlangen nach einer intersubjektiven Handhabbarkeit dieser Situationen, die in der Genese von Zeichensystemen resultiert, mit deren Hilfe kommunikative Muster der Herstellung handlungsorientierender Situationsdeutungen entstehen, die man mit Luhmann (1980) als Semantiken 49

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bezeichnen kann. Wenn im Folgenden von der Semiosis im Sinne einer symbolisch-kommunikativen Wirklichkeitskonstruktion gesprochen wird, ist dieser Prozess mit gemeint. Aus den obigen Darstellungen geht allerdings hervor, dass die handlungsorientierende Wirkung von Semantiken keineswegs deterministisch gedacht werden darf. Ihre orientierende Funktion besteht vornehmlich in ihrer Selektivität, durch die sie bestimmte Sinnoptionen in den Raum stellen und dadurch andere unartikuliert lassen. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass Semantiken aufgrund ihrer Selektivität eine Macht ausüben, die einige semantische Räume und damit auch Handlungsräume öffnet und andere verschließt. Aufgrund des hermeneutischen Charakters von Handlungssituationen können sich jedoch Akteure zu diesen Angeboten interpretativ, d. h. auch ablehnend verhalten. Der hier skizzierte Prozess der Semiosis erhält also aufgrund seiner unvermeidlichen Selektivität Momente der Macht, bzw. der Mächtigkeit, die sich in dem Prozess der Wirklichkeitskonstruktion als sinnorientierter Praxis niederschlagen. Diese wirklichkeitskonstituierende, sinnselektive Mächtigkeit von Semantiken ist auch der Grund dafür, dass der Prozess der Semiosis selbst zum Gegenstand von Macht wird. Hier müssen zumindest zwei Ansatzpunkte unterschieden werden, an welchen Machtpraktiken am Prozess der Semiosis Anschluss finden. Erstens haben wir es mit der Konkurrenz um die Definitionsmacht zu tun, der die Semantikbildung samt der ihr zugrunde liegenden Kommunikationsprozesse unterworfen ist. Dies ist der Bereich der Machtdiskurse und der unterschiedlichen Ebenen ihrer Institutionalisierung. Prozesse der informellen sowie der formalen Hierarchisierung sozialer Positionen sowie die Herrschaftsbildung im Sinne der Entstehung hoheitlicher Gewaltmonopole begünstigen hier die Differenzierung zwischen legitimem und illegitimem, bzw. konformem und nonkonformem Wissen sowie die Versuche, ihren Trägern typische Laufbahnen zuzuweisen. Macht wirkt sich hier nicht nur im Sinne der Definitionsmacht aus, sondern auch im Sinne der Wissensverteilung oder gar der Wissenszuteilung (Foucault 1977; Berger/Luckmann 1970; Bourdieu 1984). Angesichts des hermeneutischen Charakters von Handlungssituationen ist allerdings damit eine determinierende Verbindung von legitimen Semantiken, subjektivem Wissen und konformem Handeln keineswegs gegeben. Dieses Problem bezeichnet den zweiten Anschlusspunkt, an dem Machtpraktiken mit der Semiosis verbunden sind. Hier handelt es sich um Macht- und Herrschaftsmechanismen, die sicherstellen sollen, dass soziales Handeln – trotz möglicher abweichender Sinnbildung und -deutung – im Rahmen legitimer Semantik und konformer Handlungsmuster bleibt oder zumindest so deutbar und damit auch im systemkon50

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formen Rahmen anschlussfähig wird (Luhmann 1997; Berger/Luckmann 1970). Bildungs- und Erziehungsanstalten (Habermas 1981; Foucault 1977a) bzw. Berufsorganisationen (Bourdieu 1984) sind Beispiele solcher effizienten Mechanismen. Versagen diese, so bleibt nur der unmittelbare Zwang – die Gewalt – übrig, um anschlussfähiges Handeln zu erzwingen: Die Kommunikation verlässt somit den Bereich der Zeichengebundenheit und wird asemiotisch. Die Gewalt ist hier allerdings nicht das einzige Mittel der leibgebundenen asemiotischen Kommunikation. Hier eröffnet sich der Bereich der Sexualität, Emotionalität und Lust, der von psychoanalytischen Ansätzen verwaltet wird. In allen genannten Fällen bleibt allerdings die Leiblichkeit des Menschen der finale Ansatzpunkt dieser Art von Machtausübung. Um den körperlichen Zwang als eine sozial äußerst belastende und desintegrierende Konsequenz der Machtanwendung zu vermeiden, wird die Semiosis im Sinne der Semantikbildung als Mittel der Machtausübung selbst quasi reflexiv eingesetzt in der Form von symbolischen Macht- und Herrschaftsrepräsentationen. Durch die Entwicklung von Macht- und Herrschaftssymbolik sowie deren Semantiken wird es möglich, dass an die Legitimität der Macht im Sinne Max Webers (1965) geglaubt wird, oder dass zumindest das symbolische Aufblitzen der Macht in der Semantik und Symbolik ihrer semiotischen Träger genügt, um Gefolgschaft zu finden, ohne dass gewaltsamer Zwang angewendet werden müsste. Die dargestellten Macht- und Herrschaftsmechanismen, die die Gesellschaft entwickelt, um das der Semiosis entspringende Vermögen der Wirklichkeitskonstruktion zu bändigen, lassen uns das Machtpotential erahnen, das in dem hermeneutischen Charakter von Handlungssituationen eingelagert ist, und das sich jederzeit und an jedem Ort im Sinne einer nonkonformen Semantik artikulieren kann. Die Diffusität der Macht der semiotischen Wirklichkeitskonstruktion ist so der Grund für die Strukturbildung zwecks ihrer Beherrschung. Diese Zusammenhänge sind in den Geistes- und Sozialwissenschaften der letzten Jahrzehnte unter verschiedenen Aspekten wahrgenommen und konzeptuell entwickelt worden. In der Sprachphilosophie wurde im Anschluss an Quine das Problem der Ungewissheit von Zeichenreferenz thematisiert (Quine 1975, 1980); die diskursive Konstruktion der Realität wurde vor dem Hintergrund der Machtproblematik beleuchtet und es wurden Mittel der kritischen Analyse dieses Zusammenhangs angeboten (Foucault 1977, 1977a; Lyotard 1987; Derrida 2004). Die Konsequenzen des unter dem Stichwort der Globalisierung zusammengefassten sozialen Wandels, der in Folge der aktuellen Entwicklung von Medien sowie der globalen Mobilität als ein Übergang von Nationalgesellschaften 51

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zu einer ›Weltgesellschaft‹ wahrgenommen wird, wurden im kulturwissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart als ›Hybridisierung‹, ›Glokalisierung‹ bzw. ›Kreolisierung‹ (Hannerz 1992; Robertson 1995; Pieterse 1995) von Kulturen bezeichnet, womit auch die mit dem Begriff der ›Transdifferenz‹ belegte Problematik auf der interkulturellen Ebene deutlich greifbar wurde. Die gleiche Sachlage wird auch von einer Reihe sozialwissenschaftlicher Ansätze zum Ausgangspunkt genommen, die das Resultat der Semiosis – die Kultur – thematisieren (Berger/Luckmann 1970; Luhmann 1980, 1984; Münch 1998; Hall 1999; Jameson 1999; Dux 2000; Stichweh 2000; Stäheli 1998; Soeffner 2000). Aus der Betonung unterschiedlicher Aspekte des dargestellten Problemkomplexes ergibt sich auch hier eine Vielfalt von Konzeptionen. Eine schwerwiegende theoretische Konsequenz, die aus der Einsicht in den hermeneutischen Charakter des menschlichen Weltzugangs und infolgedessen in die pragmatisch-symbolische Variabilität der Wirklichkeitskonstruktion abgeleitet wurde, besteht in der Ablehnung universalistischer Kulturkonzepte. Der semiotische Charakter von Kultur wurde als Argument herangezogen für die Unmöglichkeit eines ›tertium comparationis‹ jenseits des hermeneutischen Zugangs. Da nun der Deutungsprozess immer auch eine Überführung des Unvertrauten ins Vertraute enthält, seien Versuche des inter- und intrakulturellen Verstehens bzw. Vergleichens als eine Art Nostrifizierung des Fremden anzusehen und würden daher prinzipiell der standpunktbezogenen Relativität der Eigenkonstruktion anheimfallen (Matthes 1992). Im Zusammenhang mit der Macht- bzw. Herrschaftsverbundenheit von Semantiken und Bedeutungsmustern wurde dieser Verdacht in Ansätzen radikalisiert, die die Rekonstruktion fremder Kulturen als ein Resultat von Machtdiskursen betrachten und nahe legen, diese Rekonstruktion als das Ergebnis expliziter bzw. latenter Machtinteressen zu »dekonstruieren« (Said 1995, Clifford 1988). Damit stellt sich allerdings das Problem, woran denn eine solche Dekonstruktion bzw. schlicht nur eine Deutung von Kulturen methodisch ansetzen könnte. Der semiotische Charakter von Kulturen führte einerseits dazu, die Kulturwelt als »Text« aufzufassen, d. h. ihren Zeichencharakter zu universalisieren (Geertz 1991; BachmannMedick 1996). Die Praxisgebundenheit der Semiosis ließ andererseits ›Kultur‹ als eine Summe von Codierungs- und Decodierungspraktiken erscheinen, die einen Sinn anzeigen, der für den Beobachter/Forscher lesbar ist, aber die in ihrer Gesamtheit kein »Kulturganzes« mit stabilen, in der Zeit persistenten Strukturen mehr ausmachen (Grossberg 1999). Diese Einsichten, die den Konstruktionscharakter von Kultur immer deutlicher werden ließen, führten schließlich zu einer »nicht essentialistischen« Kulturauffassung, der nach dem »Containerbegriff« von Kultur 52

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im Sinne eines für eine soziale Gesamtheit typischen Wissensvorrats in die transitiven, partikulären Praktiken und Mechanismen der semiotischen Sinnkonstitution aufgelöst wurde. Damit allerdings laufen derartige kulturwissenschaftliche Ansätze Gefahr, in eine Paradoxie zu geraten. Denn, wenn sie auf der einen Seite nicht müde werden, zu behaupten, dass »culture matters«, wird es durch die zunehmende Auflösung von ›Kultur‹ in einzelne heterogene lokale Praktiken zunehmend schwierig, Faktoren der Kulturwirksamkeit zu identifizieren. So wichtig die gewonnene Einsicht in die kulturbildenden Prozesse einerseits ist, so bedenklich ist andererseits, die damit einhergehende Tendenz, Kulturkonstrukte anhand ihrer Konstruiertheit für beliebig, folgenlos und daher für wirkungslos zu halten, zu der die Gleichsetzung von Kultur und Text zu verführen scheint.

Kulturhermeneutik Die aufgezeigte enge Verknüpfung von Semiosis und Handlung einerseits sowie von Semiosis und Macht andererseits zeigt an, dass die Kulturgenese durchaus mit nicht-textartigen Momenten und Mechanismen der Wirklichkeitskonstruktion verzahnt ist, in die auch die jeweilige Praxis der Wirklichkeitsauslegung eingebettet ist. Diesen Zusammenhängen geht nun die soziologische Forschung nach, für die die Klärung der sinnkonstituierenden und sinnverarbeitenden sozialen Prozesse den unverzichtbaren Beitrag darstellt zur Beantwortung der primären Frage aller soziologischen Theoriebildung – nämlich »wie ist Gesellschaft möglich?«. In dieser konstitutionstheoretischen Absicht wurden etwa die nicht-textförmige soziale Bindekraft und die wirklichkeitsbildende Funktion der Sprache untersucht (Habermas 1981; Luckmann 2002; Dux 2000) sowie die Kommunikation als die basale Operation der selbstorganisierenden sozialen Systeme aufgezeigt (Luhmann 1984). Das Verständnis der Kulturgenese stellt auch in sozialwissenschaftlicher Sicht eine der zentralen Fragestellungen dar. So groß allerdings das Interesse an dieser Frage ist, so weit ist man von ihrer Beantwortung entfernt. Weder das Problem des Fremdverstehens noch seine interkulturelle Variante, die als Voraussetzung jeglichen Kulturvergleichs gelten muss, ist nur annähernd geklärt. Daraus ergibt sich der Bedarf eines methodologischen Zugangs, der die Komplexität der dargestellten Problematik reflektieren und zumindest einigen der skizzierten Desiderate Rechnung tragen würde: Sofern der hermeneutische Weltzugang des Menschen auch die Grundlage seiner Wirklichkeitskonstitution ist, sollte der gesuchte methodologische Zugang ebenfalls ein hermeneutischer 53

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sein, d. h. er sollte den wirklichkeitskonstituierenden Prozessen der Semiosis und ihrer praktischen Lagerung Rechnung tragen. Eine kulturwissenschaftliche Hermeneutik kann also offensichtlich nicht entwickelt werden ohne die Untersuchung von »basalen« Konstitutionsprozessen, in welchen sich der »sinnhafte Aufbau der sozialen Welt« (Schütz 1932) in den Akten alltäglicher Interaktion und Kommunikation noch vor dem Zugriff jeglicher Wissenschaft bereits vollzieht. Es wurde bereits gezeigt, dass ›Transdifferenz‹ im Sinne eines Sinnbildungsprozesses, in dem differente Sinnbereiche nicht restlos ineinander überführbar sind und insofern unaufgelöst, »nicht identisch« bestehen bleiben und trotzdem eine sinnhafte Orientierung zeitigen, durchaus mit Befunden in jenem breiten Spektrum soziologischer Untersuchungen korrespondiert, die im Anschluss an die phänomenologische Soziologie Alfred Schütz’ unter der Bezeichnung des ›sozialen Konstruktivismus‹ bzw. der interpretativen Soziologie entstanden sind. Diesem Ansatz folgend gehen wir davon aus, dass die hier sichtbar werdende hermeneutische Ausgangssituation des Handelns und die Praktiken ihrer Bewältigung eine allgemeine Struktur aufweisen, die als »Matrix« der lebensweltlichen Sinnkonstitution begriffen werden kann und die der Konstitution des Eigenen und des Fremden sowie ihrer kommunikativen »Vermittlung« zugrunde liegt. Diese Matrix könnte zum Ausgangspunkt des Verständnisses der überall alltäglich vor unseren Augen stattfindenden Auslegungsprozesse werden und so auch zur Grundlage einer Kulturhermeneutik, deren Universalität nicht in dem kulturzentrierten Anspruch eines Wissenssystems (Kulturwissenschaft), sondern in den auch ihm zugrundeliegenden Strukturen begründet wäre. Das Konzept der Transdifferenz ist hier geeignet, die diese Struktur konstituierenden Prozesse differenzierter zu sehen.

Al l t ä g l i c h e s Ü b e r s e t z e n Sollen die nichttextförmigen Konnotationen der Semiosis beleuchtet werden, dann muss der pragmatische Hintergrund der Sinnkonstitution erfasst werden. Geht man von der handlungsorientierenden Wirkung der Semiosis aus, einer Wirkung, die als die notwendige Grundannahme für die Kulturbildung gelten muss, dann wird klar, dass sich diese Wirkung nur im Zusammenhang mit den die textförmige (d. h. die zeichensystemartige) Semiosis transzendierenden Bereichen der Kommunikation und der Handlung selbst entfalten kann. Um dies sichtbar werden zu lassen, ist es notwendig, den Zusammenhang zwischen Denkform (Kognition), Handlungsform (Praxis) und Sprachform (und in Fortsetzung des54

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sen auch der jeweiligen Medienform) ins Auge zu fassen, der als latenter Wirkungszusammenhang notwendigerweise angenommen wird, wenn von sozialer Wirksamkeit der Semiosis im Sinne »sozialer Texte« qua Semantiken ausgegangen wird (Srubar 2003a). Dies ist auch der Bereich, in dem die kommunikative Herausbildung von Identitäten und Handlungsmustern im biografischen sowie kollektiv-geschichtlichen Zusammenhang angesiedelt und untersucht werden kann. Bereits hier stoßen wir auf komplexe Übersetzungsprozesse, die im Rahmen der alltäglichen Wirklichkeitskonstitution zwischen den drei genannten Sinngebieten ablaufen. Obwohl sie den Akteuren nicht unmittelbar zugänglich zu sein brauchen, sind sie nichtsdestoweniger Bestandteile ihrer alltäglichen sinnbildenden Praxis. Diese Praxis, die in beobachtbaren interaktiven kommunikativen Abläufen fassbar wird, deren Kern der Umgang mit den unaufhebbaren Transdifferenz-Phänomenen darstellt, kann nun als die des alltäglichen Übersetzens gefasst werden. Insofern als Transdifferenz als ein Prozess der Sinnkonstitution aufgefasst wurde, in dem Differenzen aufeinander bezogen sind, ohne eingeebnet zu werden, wird sie als basale Eigenschaft von Kommunikation begriffen, in der die der Kommunikation zugrundeliegende Ungewissheit von Bedeutung zum Ausdruck kommt. Damit kann die soziale Praxis des Umgangs mit den Transdifferenz-Phänomenen als die des Übersetzens in seinen vielfältigen alltäglichen und institutionalisierten Formen bestimmt werden. Alltägliches Übersetzen bezeichnet also die alltägliche Auslegungspraxis von Akteuren, die unter Bedingungen von Transzendenz und ungenügender Deckung von heterogenen Sinnbereichen, d. h. unter den Bedingungen von Unbestimmtheit und Ambivalenz von Situationen handeln. Übersetzen wird hier selbstverständlich nicht nur im sprachlichen Sinne gemeint, sondern es umfasst auch das Vermögen, fremde Handlungsmuster zu verstehen und sie zum Mittel der eigenen Situationsbewältigung zu machen. Die so begriffene soziale Übersetzungspraxis, die differente Sinnbereiche aufeinander bezieht, ohne deren Heterogenität aufheben zu können, und ein Translat produziert, das sich mit keinem der Ausgangsbereiche deckt (Srubar 2002a), führt so auch über den Bereich der »Kultur als Text« hinaus, denn sie verlangt auch die Berücksichtigung der pragmatischen Ebene von Übersetzungsdiskursen und der unterschiedlichen Modi ihrer sozialen Organisation. Diese Betrachtungsweise öffnet auch den Zugang zu asemiotischen Aspekten der kommunikativen Kulturbildung, etwa jenen der Leiblichkeit bzw. der Gewalt, sowie zu den Auswirkungen der Materialität der involvierten Medien. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Translat im Sinne einer Semantik, in der sich das Resultat einer von »der Transdifferenz« gekennzeichneten Praxis niederschlägt, nicht immer die transdiffe55

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renten Momente explizit zu artikulieren braucht, durch welche die Übersetzungstätigkeit ausgelöst wurde. Zu typischen Resultaten alltäglichen Übersetzens gehören auch Praktiken und Semantiken, die als Reaktion auf die in der Auslegungssituation erfahrene Transdifferenz Differenzen entweder einebnen oder antagonistisch verabsolutieren. Die transdifferenten Momente innerhalb des alltäglichen Übersetzens werden zunehmend greifbar als Folge des gegenwärtigen als Globalisierung bezeichneten sozialen Wandels. Die weltweite Massenmobilität und die mediale Zugänglichkeit von unterschiedlichsten Sinnwelten erzwingen den alltäglichen Umgang mit heterogenen Sinnelementen auf geographischer sowie institutionalisierter Ebene, der Übersetzungspraktiken nach sich zieht, deren Resultate sich in einschlägigen Semantiken sedimentieren. »Transdifferenz« wird hier nicht nur als Charakteristik und Auslöser hermeneutischen Handelns sichtbar, sondern wird auch zum Gegenstand institutionellen, insbesondere auch politischen Handelns sowie gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Diskurse, in welchen die Probleme von Migration, Identität und Integration, d. h. von Inklusion und Exklusion verhandelt und institutionell behandelt werden. ›Transdifferenz‹ bezeichnet somit auch eine Problemlage, von der das Handeln in der sich per Globalisierung konstituierenden Weltgesellschaft wesentlich geprägt wird. Die Phänomene der Transdifferenz sind demnach in Übersetzungsprozessen auf allen gesellschaftlichen Handlungsebenen aufzufinden und auch zu untersuchen. Sie können auf der Mikroebene der Lebensführung, auf der Mesoebene des Handelns einzelner Institutionen sowie auf der Makroebene der staatlichen und transnationalen Kommunikationsprozesse beobachtet werden.

Zusammenfassung1 Das Programm einer kulturwissenschaftlichen Hermeneutik reflektiert die im wissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart in Veränderung begriffenen Beziehungen zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften. Aus soziologischer Perspektive maßgeblich ist hierbei insbesondere die methodologische Frage nach den Verhältnissen zwischen sozialer Praxis, sozialem Text und wissenschaftlicher Reflexion. Zu nennen sind zumindest drei kontroverse Diskussionsbereiche, zu denen im Rahmen des soziologischen Zugangs erfahrungswissenschaftlich fundierte Theoriebeiträge generiert werden sollen: 1 56

Dieser Abschnitt wurde zusammen mit Ulrich Wenzel verfasst.

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(1) Die methodologische Kontroverse (vgl. Münkler/Ladewig 1996; Haverkamp 1997; Bachmann-Medick 1997; Hartmann/Janich 1996; Sutter 1997; Straub/Shimada 1999; Reckwitz 2000, 2001; Dux 2000; Nucci et al. 2000; Straub 2000; Winter 2001; Srubar 2003) über Probleme der Kulturgenese und des Kulturvergleichs bedarf einer Weiterführung. Mittlerweile allgemein konsentiert ist die Überlegung, wonach kulturelle und interkulturelle Prozesse nicht nur als (in Kontexte der Alltagspraxis eingebettete) Symbolsysteme zu verstehen sind, sondern selbst Praktiken der alltäglichen Lebensführung darstellen, die u. a. zu Selbst- und Fremdidentifikationen beitragen. Jenseits dieses Konsenses jedoch herrscht Uneinigkeit über die Frage, ob diese Praktiken der alltäglichen Lebensführung selbst als textförmig (Diskurstheorie, Cultural Studies, Poststrukturalismus etc.) oder aber als Resultate eines Konstitutionsprozesses zu verstehen sind, der nicht-textförmige und textförmige Elemente in sich einschließt (phänomenologisch orientierte Soziologie, strukturgenetische Theorie, Pragmatismus, methodischer Kulturalismus etc.). (2) Damit steht zweitens die Frage zur Debatte, auf welche Weise im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Hermeneutik die für kulturelle wie inter- und transkulturelle Konstitutions- und Differenzierungsprozesse grundlegenden Momente des Handelns, Denkens und der Kommunikation qua Symbolsystemen ins Verhältnis zu setzen sind (vgl. Srubar 2003). In der soziologischen Sicht wird dieser konstitutionstheoretische Problemhorizont mit der Frage nach einer angemessenen Konzeptualisierung von inter- und transkulturellen Kommunikationsprozessen verknüpft. Die Forschungsliteratur sowohl in den Geistes- wie den Sozialwissenschaften weist zu dieser Frage ein relativ unabhängiges Nebeneinander von Ansätzen auf, die sich entweder am Modell gelingender Verständigung (paradigmatisch: Habermas 1981; BachmannMedick 1996; Straub 2000) oder aber am Modell selbstreferentieller Signifikationsprozesse orientieren (paradigmatisch: Luhmann 1991; Stäheli 1998). Es besteht Grund für die Annahme, dass sich diese unbalancierte Entgegenstellung mit dem Modell alltäglichen Übersetzens überwinden lässt (vgl. Renn et al. 2002; Srubar 2002a). Damit ist eine Praxis allgegenwärtiger alltäglicher Hermeneutik bezeichnet, die nicht nur Symbolisches, sondern das gesamte Repertoire kommunikativer und interpretativer Techniken und Ebenen umfasst: Handeln, Denken und Symbolkommunikation. Fruchtbar für die Gesamtfragestellung nach den Entstehungsbedingungen und Formen von Transdifferenz ist der Begriff des alltäglichen Übersetzens, weil in ihm von je her mitgeführt wird, dass diese Prozesse stets unter der Bedingung eingeschränkter Kenntnisse des fremden Kontexts ablaufen, das heißt stets Unschärfen und Ambivalenzen in unterschiedlicher Intensität mitführen. Alltägliches Über57

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setzen steht jedoch zugleich unter dem Zwang, Realitätskonstruktionen anzufertigen, die unter suboptimalen Bedingungen nicht zum Abbruch von Kommunikation, sondern zu einer Praxis führen, die als Alltagshermeneutik der Transdifferenz rekonstruiert werden kann. (3) Drittens ist aus soziologischer Perspektive auf die Dynamik sozialstruktureller Bedingungszusammenhänge einer sich herausbildenden Weltgesellschaft abzustellen. Hier führen die Prozesse der Transdifferenz zur Herausbildung transitiver, nichtsdestoweniger aber handlungswirksamer lokaler, regionaler und globaler (Sub-)Kulturfelder (vgl. bspw. Münch 1998; Stichweh 2000; Soeffner 2000). Erst vor diesem Hintergrund kann sinnvoll nach den Entstehungs- und Wandlungsprozessen heterogener, hybridisierter und ambivalenter Kulturwelten gefragt werden, in deren Rahmen sich jene symbolischen wie praktischen Unschärfen erheben, die Elemente des Transdifferenten sind. Die Resultate alltäglichen Übersetzens in der Praxis einer sich weiter differenzierenden Weltgesellschaft können unterschiedliche typische Formen annehmen. In einer soziologischen Zuspitzung der Kulturhermeneutik ist in diesem Zusammenhang der Ebenenunterschied zwischen individuellen und kollektiven Identitäten, Lebensformen, Milieus, Organisationen, Institutionen und Funktionssystemen von entscheidender Bedeutung. Hierbei ist das Wechselspiel zwischen den drei genannten Ebenen (Handeln, Denken, symbolische Kommunikation) zu betrachten, in denen sich je eigenständige Prozesse herausbilden, die zugleich in einem wechselseitigen Ermöglichungsverhältnis stehen. Reflexionsfiguren des intra-, inter- und transkulturellen Kulturkontakts, beispielsweise die aufeinander bezogenen Figuren des Verstehens und Missverstehens, entstehen sowohl im Bereich des Handelns, des Denkens wie der Kommunikation, und gehen dabei ein Spannungsverhältnis ein, ohne notwendig aufeinander zu konvergieren. Die Entscheidung für eine Grundbegrifflichkeit, die das Gesamtrepertoire des menschlichen Weltzugangs (als Spannungsverhältnis) integrativ zu erfassen sucht, ermöglicht sozialweltliche Phänomene der sich entwickelnden Weltgesellschaft auf neuartige Weise zu thematisieren. Die im Zuge vielgestaltiger Kulturkontakte sich herausbildenden Deutungsschemata (Wirklichkeitskonstruktionen) tragen zur Heterogenisierung von ›Kulturen‹ bei, ohne den inter-/intrakulturellen Bezug abreißen zu lassen. Das langfristige Ziel eines solchen Projekts ist es, Grundzüge einer alltäglichen Hermeneutik der Transdifferenz auszuarbeiten und hierbei die aufeinander bezogenen Ebenen der Selbst- und Fremdverständigungsprozesse analytisch zu beleuchten. In anwendungsbezogener Hinsicht sollen hierdurch Grundlagen für eine Hermeneutik von Kommunikationsprozessen in der heterokulturellen Weltgesellschaft erarbei58

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tet werden, die zur Lokalisierung von Problemen und zur Erarbeitung von Lösungsvorschlägen zur Verbesserung intra-, inter- und transkultureller Kommunikation beitragen könnten.

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Vertraute Fremdheit und desperate Vergemeinschaftung – Ethnizität und die doppelte Normalisierung kultureller Differenz in de r Moderne JOACHIM RENN

Vorbehalte gegen einen essentialistischen K o n s t r u k t i vi s m u s In der Moderne bilden das Vertraute und das Fremde keinen einfachen Gegensatz, sondern Fremdheit ist in bestimmten Formen alltäglich vertraut geworden (Nassehi 1990). In einfachen Verhältnissen (d. h. in verhältnismäßig undifferenzierten gesellschaftlichen Lagen) hebt sich der Tendenz nach das Vertraute vor dem Gegensatz zum Unheimlichen ab, und der Bezirk des »Eigenen« ist als dichte praktische Alltagswelt geformt, von äußeren Dunkelheiten wie von verdächtigen »Anderen« abgegrenzt (und sie ist gerade damit von dem Anderen abhängig, vgl. Kristeva 1990; Janz 2001). In modernen, differenzierten und komplexen sozialen Alltagswelten treten hingegen mindestens zwei (normalisierte) Formen der Fremdheit auf und auseinander: die bloße Anonymität, die z. B. im Verhältnis zwischen abstrakt identifizierten und formal »integrierten« Mitbürgern und Konsumenten herrscht, und die polemogene kulturelle Fremdheit, die zwischen vermeintlich geschlossenen ›Kulturen‹ gesucht und in diesem Verhältnis in der Form stereotyper Zuschreibungen materialer, womöglich bedenklicher bis bedrohlicher, Differenzen konstruiert wird. In der Moderne treffen nicht einfach ›Kulturen‹ an sich aufeinander, sondern es werden Konfrontationen und Kontraste auf pragmatischer Ebene im Lichte semantischer oder auch diskursiv expli65

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ziter »Kulturkonstruktionen« ausgelegt, Zugehörigkeiten strategisch ›konstruiert‹ und essentialistische Vorstellungen kultureller Eigenheiten wie Fremdheiten in die Arena »identitätspolitischer« Kämpfe getragen (vgl. Ha 1999; Beck-Gernsheim 1999: 102 ff.). Der »Kampf der Kulturen« (Huntington 1996) ist zuerst ein rhetorischer Kampf um die kulturelle Hegemonie einer essentialistischen Auslegung konkurrierender ›Kulturen‹, die genau jene soziale Konstruktion geschlossener Kulturen, vor der sie zu warnen vorgibt, befördert, indem sie sie als Tatsache ausgibt.1 Auf welcher Ebene und durch wen, mit welchen pragmatischen Folgen werden also ›Kulturen‹ und entsprechende Differenzen wie Fremdheiten ›konstruiert‹? In jedem Falle sind Phänomene kultureller Fremdheit unter den Bedingungen der Moderne vielfältig gebrochen und treten in jeweils unterschiedlicher Gestalt, als jeweils unterschiedliche ›Konstruktionen‹ in Erscheinung entlang der ihrerseits mannigfaltigen Grenzen zwischen differenzierten Handlungszusammenhängen, zwischen denen in unterschiedlichen Formen übersetzt wird (Renn 2006a). Eine entscheidende Differenzierungsfolge besteht deshalb darin, dass kulturelle Lebensformen in der Moderne strukturell auf den Weg einer reflexiven Distanzierung von der ungebrochenen Selbstverständlichkeit des »taken for granted« (Schütz) lebensweltlichen Hintergrundwissens gedrängt werden. Kulturen, worin immer ihre Substanz bestehen oder bestanden haben mag, müssen sich als explizite ›Kulturen‹, als von außen semantisch konstruierte und mit einem Namen belegte Handlungs- und Deutungszusammenhänge, entdecken und entsprechend »von innen« explizieren. Die reflexive Haltung zu polyvalenten Zuschreibungen der eigenen Identität ist so unausweichlich wie die Kontrasterfahrungen in pluralisierten Umgebungen. Kulturelle Fremdheit ist darum auf doppelte Weise »normalisiert«, sie ist strukturell in »multikulturellen«, multiethnischen durch Migration und Lebensstildifferenzierung polychrom gewordenen Konstellationen auf alltägliche Weise an der Tagesordnung, und sie 1

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Die Analyse von Huntington (Huntington 1996 und 2000; vgl. kritisch: Riesebrodt 2000: 15 ff.) kommt insofern selbst als ein soziales Phänomen in Betracht. Die implizite Aussage der auf politische Beratung gerichteten Kulturvergleiche der »Harvard Academy for International and Area Studies« steckt im methodischen Setting. Es lässt die Überprüfung der unterstellten klaren Abgegrenztheit und substantiellen Einheit von ›Kulturen‹ gar nicht zu, denn diese Unterstellungen sind konstitutiv z. B. für die binäre Gegenüberstellung von (zwanzig) entwicklungsfördernden oder – hemmenden Kulturmustern bzw. Einstellungen (Grondona 2000: 79 ff.) wie auch für die quantitative Untersuchung der Korrelationen zwischen »familistischen« oder »katholischen« (National-) Kulturen und (subjektiv eingeschätzter) Korruptionsintensität (Lipset/Lenz 2000: 149 ff.).

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wird in der Explikation pragmatischer Kontrasterfahrungen semantisch normalisiert, d. h. auf explizite Begriffe bzw. Stereotypen gebracht, die stets einen essentialisierenden Sog ausüben, gegen den unter Umständen Praktiken der ›Resignifikation‹ aufgeboten werden müssen (Butler 1998; Benhabib 2002: 12 f.). Diese Reflexivität kultureller Differenzierung betrifft auch die soziologische Analyse auf doppelte Weise, da sie nun einerseits gezwungen ist, sich differenzierungstheoretisch zu positionieren, sofern sie unterschiedliche Ebenen der Fremdheitszuschreibung auf den Begriff bringen will, andererseits mit ihren Kategorisierungen kultureller Gruppen und Lebensformen selbst zu einer Stimme im sozialen Konzert der Fremdheitskonstruktion und -bearbeitung wird. Eine generalisierte, vielleicht sogar universalistische Analytik der ›Konstruktion‹ kultureller Fremdheit, die sich der subjektiven Konstitution und der sozialen Konstruktion kultureller Differenz mit den vermeintlich allgemeingültigen Mitteln phänomenologischer oder anthropologischer Theoriebildung annehmen will, steht vor dem Problem der sozialen Kontingenz von Fremdheitsformen. Sie muss die eigenen Generalisierungen davor bewahren, der sozialen Hypostase substantialistischer Differenzunterstellungen und -zuschreibungen (sowie der darin angelegten »Exotisierungen« und Exklusionen) aufzusitzen und zuzuarbeiten. Anders gesagt: Sie muss es vermeiden, konstruierte Differenzen, vor allem semantische Abgrenzungen zwischen Gruppen zu reifizieren, was sie noch nicht dadurch leistet, dass sie allen Vorstellungen und Semantiken konstruktiven Charakter zuschreibt. Denn die Relativierung von vermeintlich substantiellen kulturellen Identitäten durch die Aufdeckung des konstruierten Charakters nimmt sich selbst zurück, sobald sie diese Konstruktion unter der Hand einer geschlossenen Gruppe, eben einer ›Kultur‹ zuschreibt. Die soziologische Analyse wahrt also zwar dadurch Abstand zur Essentialisierung von ›Kulturen‹, die sich gegenseitig fremd erscheinen, dass sie die entsprechenden Erfahrungen von Fremdheit und Wahrnehmungen von Differenz als »Konstruktionen« betrachtet. Aber bei Lichte besehen besagt diese Relativierung wenig, wenn denn für die wissenssoziologische Analyse ohnehin alle soziale Realität als Konstruktion gilt und solche Konstruktionen nun wiederum als »real« gelten, wenn sie von den Beteiligten als real in ihren Konsequenzen definiert werden (Thomas). Die Soziologie muss deshalb Formen und Typen der Konstruktion von Fremdheit unterscheiden, und das bedeutet, dass sie neben die allgemeine phänomenologische und handlungstheoretische Konstitutionsanalyse wenigstens Elemente einer Differenzierungstheorie stellen muss. Nur auf dieser Grundlage kann eine Untersuchung der doppelten Normalisierung von kultureller Fremdheit unter den Bedingungen der 67

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Moderne konsequent die implizite Affirmation einer gesellschaftlich verbreiteten Tendenz zur Essentialisierung von ›Kulturen‹ mit all ihren pathologischen Folgen vermeiden. Die folgenden Überlegungen bemühen darum neben konstitutionsanalytischen Elementen die (bzw. eine) soziologische Differenzierungstheorie, um erstens das Phänomen »doppelter Normalisierung« als typisch modernen Effekt und zweitens die Figur einer »desperaten Vergemeinschaftung« als inadäquate und »pseudo-essentielle« aber wahrscheinliche Reaktionsform auf diese Normalisierungen beschreiben zu können.

Problematische Ethnizität Dieses zunächst abstrakt wirkende Problem eines verdeckten Essentialismus gewinnt Anschaulichkeit, wenn man es auf die gegenwärtige Renaissance ethnischer Deutungen kultureller Gruppen bzw. Gemeinschaften bezieht. Nicht nur muss die zeitdiagnostische Aufmerksamkeit den Zuwachs der sozialen Bedeutung des Schemas der Ethnizität konstatieren, sondern nicht wenige Theoretiker und Diagnostiker kehren im Zuge einer gewissen Erschütterung des »multikulturellen« Optimismus2 mehr oder weniger ausdrücklich zu einer soziologischen Substantialisierung ethnischer Gruppenbildungen und Identitäten zurück. Diese Wendung hat viele Gesichter. Es wird zum einen verhältnismäßig nüchtern zur Kenntnis genommen, dass bei Widerständen gegen Globalisierungseffekte (Appadurai 1996; Castells 2004) oder gegen Anerkennungsdefizite (Benhabib 2002) im nationalstaatlichen Rahmen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten vermehrt die ethnische Karte gespielt wird, d. h. dass »Identitätspolitik« sowohl in der Selbst- wie in der Fremdzuschreibung einer Ethnisierung der Semantik kollektiver Identi2

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In der Abwendung vom Modell ›multikultureller Gesellschaften‹ laufen soziale und (manche) soziologische Distanzierungen in entgegengesetzte Richtungen auseinander: In der politischen Polemik und in alltagsweltlichen Semantiken wird die multikulturelle Lebensform mit Hinweis auf die vermeintliche Unterschätzung gleichsam naturwüchsiger Unverträglichkeiten zwischen den ›Kulturen‹ und auf das Integrationsdesaster angeblicher »Parallelgesellschaften« für gescheitert und naiv erklärt. ›Integration‹ wird darum wieder kompromissloser auf Anpassung festgelegt. Die normative politische Theorie der gerechten Koexistenz von kulturellen Gruppen in differenzierten Rechtsstaaten hat geradezu im Gegenteil dem Multikulturalismus (etwa: Taylor 1993; Kymlicka 1995) die implizite Essentialisierung von Kulturen vorgeworfen, um auf die Fluidität kultureller Identitäten und die komplexe Aufgabe der Bestimmung normativ akzeptabler Formen der Koexistenz hinzuweisen (siehe: Bhabha 1996; Benhabib 2002: 49 ff.; Frazer 1997).

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tät zuarbeitet (Ha 1999: 90 ff.; Bielefeld 2001; Schetter 2002). Die politikwissenschaftliche Analyse identifiziert auf dieser Schiene neue Konfliktlinien, die Verteilungsasymmetrien nicht mehr entlang älterer Gegensätze (Konfessionen, Kapital und Arbeit) zum Streitpunkt werden lassen (Leggewie 1997; vgl.: Butterwegge 1996). In eine Substantialisierung schlägt die Bestandsaufnahme um, sobald der Ausbruch ethnischer Konflikte und die Rückkehr zu ethnischen Selbst- und Fremdbestimmungen als Formen der Wiederkehr des Verdrängten und dieses selbst als eine in der rationalistischen Tradition vergessene natürliche Identität von Personen und Gruppen behandelt wird (Huntington 1996 und 2000, vgl. erneut: Riesebrodt 2000). Die ethnische Gruppe erhält den Status einer »natürlichen« Antwort auf ein universales Bedürfnis der vollständigen Person, sich als Angehörige einer kulturell homogenen Abstammungsgemeinschaft verstehen zu können. Diese Rückerstattung von Legitimität an die Adresse substantialistischer Deutungen von ethnischen und kulturellen Gruppenidentitäten liegt inzwischen in mindestens zwei unterscheidbaren Varianten vor. Die Hardliner-Fassung knüpft direkt an der zunächst romantischen Idee der Volksgeister und dann an der bei Toynbee und Spengler (auf allerdings verschieden moderate Weise) transportierten Vorstellung der Wesenseinheit von Kulturen als »Völkern« an (Toynbee 1970; Spengler 1963); sie drückt sich in rezenten Analysen aus in den direkten Behauptungen eines ›clash of civilizations‹ oder in entsprechenden indirekten Kausalzuschreibungen. Diesen führen ethnisierte Kämpfe und Greuel im ehemaligen Jugoslawien wie in Ruanda modo hydraulico auf langfristig unterdrückte und (im ersten Falle) bei postsozialistischem Druckabfall ausbrechende ethnische Antagonismen und Ressentiments zurück (vgl.: Antweiler, 1998). Für solche historischen Erklärungen sind ethnische Konflikte verursacht durch angeblich persistente Differenzen zwischen »Völkern«. Im Fall der Erosion staatlicher Ordnungskraft sollen dann zuvor langfristig unterdrückte substantielle ethnische Konflikte als das, was sie lange schon waren, wieder sichtbar werden. Fremdheit entsteht dann nicht im Zuge der Dramatisierung von Konflikten zwischen Gruppen, die sich und die anderen sekundär ethnisch identifizieren, sondern sie wird mit dem Rückzug pazifizierender Kontrolle, die aber als Fremdherrschaft gelten muss, aus dem Schlummer erweckt, verschafft sich als autochthoner Druck – einmal freigesetzt – Luft (vgl.: Harvey 2000). Von dieser ganz ungehemmten Behauptung substantieller Einheiten, Grenzen und Differenzen der Kulturen ist eine moderatere Version zu unterscheiden. Sie nimmt die symbolischen Konstruktionen kultureller oder ethnischer, in jedem Falle aber partikularer und »dichter« Kollek69

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tividentitäten als legitime Ressourcen personaler Identität gegen das vermeintlich rationalistische Vorurteil der Modernisierungstheorie gegenüber traditionalen Bindungen in Schutz. Ein parsonianisches Bild gesellschaftlicher Modernisierung, für das sich die Zivilisierung von gesellschaftlichen Verkehrsformen und Identitäten in universalistischen Wertorientierungen und säkularisierten bzw. rationalisierten lebensweltlichen Gewissheiten ausdrückt 3 , hat in diesem Punkt unterschiedliche Gegner, die unterschiedliche empirische Evidenzen mobilisieren. Sie haben gemeinsam, dass sie partikulare kollektive Identitäten und eine entsprechende Eingebundenheit der Person gegen die Vorstellung eines universalistischen und nur aufgrund »verfassungspatriotischer« Einsichten gebundenen Individuums stark machen. Charles Taylor empfiehlt, den Gemeinschaftsaspekt der Demokratie abzuwägen (Taylor 2002), und legt der multikulturellen Gesellschaft nicht nur die Anerkennung von partikularen kollektiven Identitäten, sondern gar die kulturell legitimierte Partikularisierung von juridischen Geltungsräumen, d. h. von gruppenspezifischen Rechten nahe (Taylor 1993; Kymlicka 1995; vgl. Benhabib 2002: 63 f.). Der Kommunitarismus hält der Modernisierungstheorie die vermeintliche Leere universaler und formaler Gerechtigkeitsprinzipien zugunsten einer gemeinschaftlichen (kulturell substantiellen) Idee des guten Lebens vor, und er kritisiert darum an einem formalistischen Liberalismus vor allem das verfehlte Modell einer »unencumbered person« (Sandel 1982: 175 f.). Der ›postkolonialistische‹ Diskurs opponiert schließlich gegen die liberale Vorstellung von Toleranz und gegen die multikulturalistische Idee der konstitutionellen Fixierung von kulturellen Grenzen, indem er Partei ergreift für flüchtige und hybride Identitätskonstellationen (Bhabha 1996). Die verzweigten normativen Implikationen dieser Diskussionen verweisen bei aller Komplexität auf ein gemeinsames Problem: das Problem der Referenz von Ausdrücken, die ethnische oder kulturelle Gruppen bezeichnen. Damit ist man wieder bei der Frage angelangt, was unter einer ›Konstruktion‹ kollektiver Identität zu verstehen ist. Die Verbindung von kultureller und ethnischer Identität ist dabei von besonderer Bedeutung, da der Begriff der ›ethnischen Gruppe‹ eine Bezugnahme auf objektive Verbindungen zwischen Personen, auf biologische Abstammung und 3

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Hartmut Esser und Armin Nassehi gehen trotz unterschiedlicher theoretischer Zurüstung gemeinsam von der Voraussetzung aus, dass in der modernen, wahlweise primär funktional differenzierten oder vorzugsweise durch Modelle rationaler Wahl, intelligiblen Welt ethnische Selbst- und Fremddeutungen tendenziell funktionslos werden, so dass diese, sobald sie trotz allem in Erscheinung treten, bestenfalls als Regressionen gelten können; siehe Esser (1988); Nassehi (1990).

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Verwandtschaft, suggeriert, die jede »bloß« symbolische oder imaginäre Konstruktion von Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit oder kontingente Entscheidungen zur Vergemeinschaftung zu transzendieren bzw. real zu unterfüttern scheinen. Dabei zeigen auch flüchtige Blicke in das weitläufige Material, mit dem die Kulturanthropologie die Vielfalt von möglichen und historisch oder regional realisierten Verwandtschaftssystemen belegt hat (Müller 2004: 443 ff.), dass jeder Verweis auf die Abgrenzbarkeit einer Abstammungsgemeinschaft, der die historische Extension ethnischer Gruppenabgrenzungen belegen will, eine hoch selektive Symbolisierung bleiben muss. Und deshalb drängt sich schon an dieser Stelle die Vermutung auf, dass es gerade diese Verheißung von Substantialität und Interpretationsunabhängigkeit ist, in der ein (trügerisches) Versprechen auf die Zurückdrängung von Kontingenzerfahrungen liegt, die unter komplexen Bedingungen differenzierter, moderner Gesellschaft an der Tagesordnung sind. Die Ethnisierung von kollektiven Identitäten erscheint darum als eine besonders markante sekundäre »Normalisierung« von kulturellen Differenzen, deren Pluralität und Kontingenz in der Moderne auf struktureller Ebene zu normalen Phänomenen geworden sind, und sie nimmt aufgrund dieser strukturellen Bedingungen den Charakter einer »desperaten« Form individueller und kollektiver Identitäts-›Konstruktion‹ an. Um diese Annahmen im Folgenden deutlicher werden zu lassen, sind mehrere Analyseschritte erforderlich: zuerst ist in aller Kürze an die (unfruchtbare) Opposition zwischen substantialistischen und konstruktivistischen Begriffen der Ethnizität zu erinnern, um den Umweg durch handlungs- und differenzierungstheoretische Überlegungen zu legitimieren. Dieser Umweg erlaubt die genauere Rekonstruktion der genannten »doppelten Normalisierung« kultureller Fremdheit in modernen Konstellationen. Damit wird es schließlich möglich, ›Ethnisierung‹ auf gesellschaftstheoretischer Grundlage – nicht auf der Basis eines fundamentalistischen anthropologischen Credos – als problematische Konstruktion von Fremdheit zu analysieren, was sich in der Form einer ›desperaten Vergemeinschaftung‹ zeigt.

K r i t e r i e n d e r Au t h e n t i z i t ä t ? Die Debatte pendelt – schon lange – zwischen der Unterstellung, Ethnizität sei eine autochthone sowie gewissermaßen »objektive« Identitätsdimension, und der Überzeugung, ethnische Fremd- und Selbstdeutungen wären prinzipiell »ideologisch«, d. h. Produkt selektiver und mehr oder weniger referenzfreier Selbst- und Fremdzuschreibung (eben: ein askriptives Merkmal). Dabei stehen sich – lange vor den Debatten des 71

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Multikulturalismus und des Postkolonialismus – die Position eines »Primordialismus« (vgl.: Fenton 2003: 73) und das Paradigma der Betonung der »Umstände« gegenüber: Verfechter eines so genannten »Zirkumstantialismus« (Schetter 2003) verweisen, wie Fredrik Barth (Barth 1969) sowie Nathan Glazer und Daniel Moynihan (1963), die in den sechziger Jahren maßgeblich die Integrations-Metapher des »melting pot« in Zweifel gebracht haben, auf die Konstruiertheit ethnischer Identitäten. Nichts anderes bedeutet die Einführung eines umständlichen Begriffs wie der ›Ethnizität‹ (Fenton 2003: 92). Mit der Ausbreitung konstruktivistischer Sozialtheorien verliert die bloße Aufdeckung konstruktiver Züge an ethnisierenden Zuschreibungen allerdings insofern an Trennschärfe (bzw. an ideologiekritischer Eindeutigkeit), als sich in den Zeiten nach der postmodernistischen Zuspitzung des Fiktionalitätsverdachtes eine gewisse Umwertung des ›Imaginären‹ (siehe dazu: Anderson 1991; sowie: Castoriadis 1990) in seiner Rolle für die pragmatische Konstitution praktisch realer, weil wirksamer, Identitätsimagos vollzieht. So hat Arjun Appadurai die globale Diffusion medial vermittelter Identitätskonstruktionen als performativ reale Grundlage von ›ethnoscapes‹ beschrieben und gewertet, wobei er die Kategorie des »Imaginären« als Ressource realer »Agency« gegen die reine Fiktionalität »eingebildeter« und »falscher« Identitätszuschreibungen abgegrenzt hat (Appadurai 1996). Eine verwandte Transfiguration des symbolisch interaktionistischen »Thomas-Axioms« findet sich in der Argumentation Manuel Castells. Er entkoppelt zuerst die Begriffe »Staat« und »Nation«, um schließlich die historische Einheit verschiedener Nationen, die sich nicht innerhalb staatlicher Organisation »verwirklichen« müssen, als autochthone Gemeinschaften zu skizzieren. Dabei genügt ihm der empirische Verweis auf Beispiele von Nationen ohne Staat (Katalonien) und Staaten ohne Nationen (Sowjetunion) als Widerlegung der Anderson’schen (und Gellner’schen) Charakterisierung imaginärer Gemeinschaft, der er die Gleichsetzung von ›Imagination‹ und ›Manipulation‹ zuschreibt (Castells 2004: 30 ff.). Castells schließt dabei übermäßig optimistisch von der Abwesenheit effizienter, vor allem staatlich intendierter Manipulation ethnischer Selbstdeutungen auf die »Echtheit« und Fraglosigkeit der narrativen Symbolisierungen ethnischer, im Sinne von: »nationaler« Gemeinschaften. Abgesehen davon, dass es natürlich gleichwohl genügend empirische Beispiele – in Exjugoslawien (Bielefeldt 2001), den Hindunationalismus in Indien (Panikkar/Muralidharan 2002; Puniyani 2003) oder in Ruanda (Behrend und Meillassoux 1994; Des Forges 2002) – für manipulative Strategien der Instrumentalisierung ethnisierender Semantik durch staatliche oder ökonomische Eliten gibt, bleiben dabei erhebliche Fragen offen. Woran soll 72

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die »Authentizität« ethnischer Deutung kultureller Fremdheit bemessen werden, wenn die Castells’sche Unterstellung des autochthonen Charakters »nationaler« Gemeinschaften sich allein auf die Plausibilität von narrativ begründeten Ansprüchen auf Tradition, Territorium und Brauch aus der Teilnehmerperspektive stützt, wo doch solche mentalen Gewissheiten ebenso in Fällen manipulierter und offenkundig rein phantasmagorischer Ethnisierung von Identitäten nachweisbar sind? Völkische Xenophobiker glauben ja nachweisbar nachhaltig an die Einheit und Überlegenheit der eigenen »Rasse«; und die historische Narration tausendjähriger Kontinuität einer katalanischen Nation hält der gewissenhaften historiographischen Probe auf die Reinheit der Linie in keiner demgegenüber qualitativ überlegenen Weise Stand. Geklärt wird die Frage nach dem Status konstruierter Ethnizität in dieser Debatte also nicht; deutlich wird vorerst nur, dass die Aufdeckung konstruktiver Elemente in den Narrativen der Abstammung, des kollektiven Ursprungs und der Spezifizierung von Verpflichtungen qua Zugehörigkeit allein keinesfalls genügen kann, um zwischen verschiedenen Formen der ›Ethnisierung‹ und gar zwischen Graden der ›Legitimität‹ und Originalität ethnischer Auslegungen kollektiver Identitäten und kultureller Grenzen wie Fremdheiten zu unterscheiden.4 Nur solche Unterscheidungen aber gestatten es, ethnische Selbstund Fremddeutungen, die eine pragmatische Faktizität und einen entsprechenden Differenzierungsstandard artikulieren, abzuheben von Praktiken und Folgen der ›Ethnisierung‹ (von etwas »eigentlich« anderem). Nur im Ausgang von der Annahme einer zumindest graduell (was auch immer) verzeichnenden Konstruiertheit kollektiver Identitäten im Lichte rituell und symbolisch verwalteter Vorstellungen gemeinsamer Vergan4

»Originalität« bemisst sich dabei eben nicht mehr an der substantialistischen Unterstellung des objektiven »Wesens« eines ethnischen oder kulturellen Kollektivs. Die gegenläufige Übergeneralisierung, die dem Dekonstruktivismus den Gedanken der stets verstellenden Supplementierung des Originals in jeder Bezugnahme auf dieses entlehnt, führt allein nicht weiter, da alle möglichen Katzen der kulturellen Fremdheitstypisierung in der Nacht verschollener Originalität gleichermaßen grau wären. Solche Metaphysikkritik gestattet es dann nur, grundsätzlich jede ethnische Abgrenzung von Gruppen als Verzeichnung zu verwerfen – welche (Art der) Abgrenzung dann aber nicht? »Authentische« kollektive Identitäten sind darum nur relational im Verhältnis zu den Konstellationen zwischen Organisationen, Milieus und Personen, die historisch und regional jeweils möglich sind, und stets nur graduell von anderen zu unterscheiden. Entscheidend ist nicht ein kulturhistorischer Nachweis »echter« Kontinuität, sondern die Form des praktischen Umgangs mit Typisierungen aus der Teilnehmerperspektive, die zwischen Stereotypisierung und Situationsflexibilität bzw. Erfahrungsoffenheit variieren kann. 73

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genheit und Situiertheit sprechen wir von Ethnisierung. Erst wenn sich die Zuschreibung ethnischer Attribute beispielsweise in der unbelehrbaren und gegen jede (sachlich angemessene) Revision immunisierten Festnagelung von konkreten Personen auf abstrakte Kollektiveigenschaften vollzieht, durchleuchten wir entsprechende Selbstverhältnisse als Phänomene substanzloser Zuschreibung und können spezifisch nach der kontrafaktischen bis zwanghaften Konstitution von Fremdheitsstereotypen fragen. Die konkrete Analyse gegenwärtiger Fremdheitskonstruktionen muss also ein Kriterium bzw. eine theoretische Grundlage für die Differenzierung zwischen Formen subjektiver und kollektiver Selbst- und Fremdauffassungen in Anschlag bringen, die es ermöglichen, adäquate von inadäquaten Konstruktionen zu unterscheiden, wenn sie Ethnisierung überhaupt noch in irgend einem Sinne als »falsche«, dysfunktionale oder unangemessene Typisierung, oder eben: Stereotypisierung von kultureller Fremdheit beschreiben können soll. Dafür ist wenig gewonnen durch die eventuelle Entscheidung eines Grundlagenstreites darüber, ob nun ethnische Selbstbestimmungen und beigestellte Abgrenzungen von »Fremden« generell oder (in welchem Sinne?) prinzipiell fiktional, substanziell etc. sind. Es ist vielmehr relevant, nach spezifischen strukturellen Konditionen zu forschen, durch die ethnisierende Selbst- und Fremdverhältnisse zugleich in den Augen bestimmter Akteure praktische Signifikanz erhalten und einen desperaten, weil pragmatisch zum Scheitern verurteilten, kontrafaktischen Status bekommen.

Soziale Differenzierung und N o r m a l i s i e r u n g s t yp e n Der strukturtheoretische Umweg wählt das Mittel der begrifflichen Generalisierung kultureller Differenzphänomene. Anonymisierung und reaktive Stereotypisierung lassen sich bei hinreichendem Abstraktionsgrad zunächst in Unabhängigkeit von historisch, regional oder soziostrukturell spezifischen Formen der Selbst- und Fremddeutungen rekonstruieren. Auf einer solchen generalisierten Basis lässt sich schließlich die ethnisierende Variante der Stereotypisierung von Fremdheit durch Kontrastierung bzw. vor der Folie differenzierungstheoretischer Eingrenzungen verständlich machen und bewerten. Das Interpretament einer »doppelten Normalisierung« kultureller Fremdheit zielt auf die Rekonstruktion von intentionalen Perspektiven, es bezieht die Konstitutionsbedingungen solcher Perspektiven aber auf die Formen und Folgen der Differenzierung zwischen Personen, Gruppen, Organisationen und 74

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»Systemen« in der modernen Gesellschaft zurück. Nicht eine universale subjektive oder lebensweltliche Struktur, sondern die für die Moderne typische Ausdifferenzierung von sozialen Integrationsformen (z. B. die Verzweigung von ›Sozial‹- und ›Systemintegration‹, siehe: Lockwood 1964; Habermas 1981) erzeugt und bedingt die genannten gegenläufigen Tendenzen der ›Normalisierung‹ von kultureller Differenz. Dass die moderne (regional allerdings jeweils unterschiedliche) Konstellation von Integrationsformen und integrationsrelevanten Systemen, Medien, Organisationen bezogen auf die Konstruktion von Fremdheit im Vergleich zu einer allgemeinen konstitutionstheoretischen Rekonstruktion einen spezifischen Fall darstellt, lässt sich zunächst handlungstheoretisch zeigen. Soziale Praxis und Interaktion lassen sich im Allgemeinen als permanente Herstellung von Anschlussfähigkeit oder auch Fortsetzbarkeit innerhalb von jeweils spezifischen Situationen auffassen. Der Fluss sozialen Handelns spielt sich ab zwischen den Polen der konkreten Momente stets präzedenzloser Situationen und der nötigen typisierenden Selektivität jeder Fortsetzung angesichts endloser Möglichkeiten (auch wegen ›doppelter Kontingenz‹, Luhmann 1984). So gesehen erfordert jede Kommunikation und jede Handlung eine basale Form der »Normalisierung« von je unvertrauten, sprich »fremden« Momenten einer konkreten Handlungssituation. Interaktion basiert (auch) auf dem habitualisierten impliziten kulturellen Wissen (Bourdieu 1979), wie eine Regel, ein Typus, eine Form des Handelns in einer spezifischen Situation »angemessen« (normativ akzeptabel, instrumentell erfolgreich und vor allem als Konkretion korrekt) angewendet werden muss; diese Spezifikation, die keine Regel und kein Typus selbst determinieren kann, ist – in Abwandlung einer Bezeichnung von Hans Joas (Joas 1996) – auf die Leistung einer »basalen Kreativität« in der pragmatischen Verwendung von Typisierungen angewiesen. Die Anschlusszwänge des Handelns, die Übertragbarkeit von konkret ausgebildeten Problemlösungen und Routinisierungen in andere Situationen sowie die allgemeine Fähigkeit zur reflexiven Artikulation des performativ gewissen und schließlich in praktischen Krisen ungewissen praktischen Wissens machen Generalisierung erforderlich. Sie setzen die Möglichkeit und die faktische Ausübung der Auslegung von Ereignissen, Objekten, Personen etc. als typische Ereignisse, Objekte, Personen voraus. Typisierung lässt sich in diesem Sinne als eine elementare Normalisierung der relativen Fremdheit von Situationsaspekten begreifen. Diese Normalisierung zieht in die type-token Dialektik der Typisierung Momente der Kontinuität als eine Form der Anschlusssicherung ein: Ereignisse, Personen etc. als typische aufzufassen, reduziert die Unsicherheit angemessener Fortsetzung durch eine normalisierende Einsortierung von 75

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fremden Aspekten der Situation in stabil gehaltene Erwartungsschemata.5 Das gilt für alle Formen sozialen Handelns, bei dem »Verhalten« durch die intervenierenden Instanzen kulturellen Wissens, normativer Einstellungen und intentionaler Entwürfe sowie durch die Ausrichtung auf ein soziales (selbst intentionales) Gegenüber zum Handeln wird. Wenn ein Handlungszusammenhang, d. h. primär eine Praxis als kulturelle Lebensform, zugleich relativ stabil und hinreichend flexibel innerhalb einer wechselhaften Umgebung (nicht: Umwelt im systemtheoretischen Sinne) sein soll, muss sowohl die Generalisierung von Ereignissen und Momenten zu Typen als auch die Spezifikation von Typen zu konkreten Gegenständen, Personen etc. auf die Intersubjektivität einer relativen Gleichsinnigkeit gemeinsamer Praxis und eines geteilten impliziten Wissens zurückgreifen können und zugleich diese Gleichsinnigkeit reproduzieren. Auf der Generalisierung und Typisierung bauen schließlich unterschiedliche Institutionen abstrakter Vergesellschaftung auf. Aus unscharfen Typisierungen (Analogien, Transduktionen, vgl.: Piaget 1993: 292 ff.) werden Kategorien, Klassifikationen, Begriffe; aus praktischen Routinen und impliziten Regelmäßigkeiten werden ausdrückliche Regeln, Vorschriften, Rechte und technische Normen. Diese Explikationen des impliziten praktischen Wissens verdichten sich – auf der Basis von Kommunikationsmedien –zu interaktionstranszendenten sozialen Systemen (Renn 2006a). Formen der sozialen Differenzierung affizieren deshalb die gesellschaftliche Funktion des kollektiven impliziten Wissens. Die Pluralisierung und die Abstraktion von Vergesellschaftungsformen führen in der modernen Gesellschaft zur strukturellen Einheit von Differenzierung und Interdependenz (nicht schon: Integration) zwischen abstrakten und konkreten Sphären sozialer Integration (funktionale, kulturelle und segmentäre Differenzierung stellt »Kulturen« als »Kulturen« neben »Kulturen« und zusätzlich alle diese neben, zwischen und in Märkte, Administrationen, Öffentlichkeiten etc.). Formalisierung und Abstraktion führen zu Organisation und zu »Systemen« verselbständigter Kommunikation bzw. zu autonomen »Rationalitätssphären« (Weber). Mit der Komplexität des sozialen Gefüges verwandelt sich auch das Verhältnis zwischen Person und Gruppe, denn Differenzierung (inklusive abstrahierter Integration) verändert den Sinn von Zugehörigkeit. Die »Inklusion« von einzelnen Personen wird partiell umgestellt und plurali5

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Gemeint ist hier das Ineinandergreifen von Typenbildung und Typenverwendung, die bei der praktischen Inanspruchnahme reflektiver Urteilskraft das Typisierte nicht ohne den Typus zu fassen bekommen, zugleich aber an den »nichtidentischen« Momenten des Typisierten entlang den Typus umzubilden in der Lage sind.

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siert. Die Person gehört nun nicht allein und nicht einmal primär einem Milieu, einer Familie, einer Szene oder einem Netzwerk an, sondern sie taucht jetzt in je kontextspezifisch selektiver Form auf in der Verwaltung, auf dem Markt, in medialer Öffentlichkeit, als Konsument, Klient, Patient und Staatsbürger. Das zeigt sich u. a. als struktureller Übergang von Korporationen zu Organisationen, also als Ausdifferenzierung von formalen Rollen, schließlich in der Differenzierung von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit. Diese Differenzierung wirkt sich durch die Identität der Person hindurch aus, indem sie heterogene Anforderungen an die Person und Bindungen der Person nach sich zieht. Die soziale Position des Einzelnen wird in komplexen, vorzugsweise »modernen« Sozialstrukturen nicht mehr nachhaltig durch Verwandtschaft und Zugehörigkeit bestimmt, sondern notwendig auch durch Mitgliedschaft und erworbene Merkmale (Nassehi 1990; Hahn/Bohn 1999; vgl. auch: Renn 2002).6

Triangulationswechsel Diese Entwicklung – nur äußerst grob skizziert entlang der gängigen Charakterisierungen von Formen und Folgen funktionaler Differenzierungen – bedingt die Normalisierung von Fremdheitserfahrung, die sich in den unterschiedlichsten Handlungssituationen jeweils als Auffälligkeit kommunikativer Grenzen zeigt. Die erste Seite der doppelten Normalisierung besteht in der Tendenz der allgegenwärtig erhöhten Wahrscheinlichkeit von Interaktion zwischen Angehörigen erheblich, d. h. kommunikativ auffällig, differenter kultureller Milieus. Das heißt, Personen treffen notorisch auf Personen, die anderen (und vielleicht mehreren) ›Habitusgemeinschaften‹ pragmatisch hinreichend geteilten impliziten Wissens angehören. Der Kulturunterschied macht sich hier als

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Durch und in formaler Organisation verengt und spezialisiert sich der Zugriff auf Personen zur sozialen Typik von abstrakten Rollen. D. h. die soziale Referenz auf eine Person konzentriert sich hier auf abstrakte typische Eigenschaften (Leistungsberechtigte, Schadensersatzpflichtige, Gewerbetreibende) und auf die numerische Identität, die in Gestalt der Kategorien des bürokratischen »Personenstandswesens« Aussortierbarkeit einer einzelnen Person gewährleistet. Die numerisch identifizierte, typisierte Person teilt relevante Eigenschaften mit vielen anderen, muss dabei aber als einzelne Person für organisierte Zugriffe erreichbar bleiben. Die soziale Identität als klassifizierende Zuordnung folgt dann der numerisch besonderen Konjunktion von allgemein typisierten Prädikaten (vgl. zur Unterscheidung zwischen numerischer, sozialer und qualitativer Identität: Habermas 1988). 77

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kommunikative Hürde intentional und sequentiell – in der Einstellung der Akteure und in der Fortsetzung von Interaktion – bemerkbar. Diese kulturelle Differenz hat primär gar nichts mit den gewöhnlich präsentierten Beispielen für »interkulturelle Kommunikation« zu tun, bei der unter der Hand von einer holistischen Kulturkonzeption aus immer schon »geschlossene« kulturelle Großgruppen oder gar »Nationen« in Opposition zueinander gebracht werden. Nicht erst der vermeintliche Repräsentant einer schon als fremd typisierten Gruppe (der »Kurde«, der »Sikh«, die »Lombardin« etc.), sondern schon der einzelne Nachbar, die Kollegin, der zuständige Sachbearbeiter oder die Ärztin gehören in diesem Sinne einer »anderen« Kultur an, sobald sie in der Kommunikation mir fremde implizite Gewissheiten voraussetzen; und diese Erfahrung wird hochwahrscheinlich und damit »normal« – weil abstrakte Integration (d. h. generalisierte Inklusion in funktional differenzierte und jeweils spezialisierte Kommunikationsräume) die Koexistenz und die Berührung vieler verschiedener konkret (praktisch) integrierter Milieus und Identitäten wahrscheinlicher macht. Diese Erfahrung von Fremdheit ist keine Minoritäten-Spezialität. Sie ist nicht exzeptionell wie im Fall des Schütz’schen Fremden (Schütz 1972), der indirekt an der kulturellen Homogenität einer Gesellschaft orientiert bleibt und sozusagen einen Antrag auf Aufnahme an die Majorität stellt (vgl. dazu: Janz 2001), sondern generelles Charakteristikum einer durch Abstraktionen ermöglichten Kooperation zwischen anonymen Gegenübern. Moderne Formen der Vergesellschaftung – das ist Standard der soziologischen Klassik und beispielsweise von Simmel schon ausführlich beschrieben (Simmel 1992) – erzeugen Fremdheit zwischen alltäglich nahen Personen als Folge von Differenzierung und gleichzeitiger Abstraktion von Integration, d. h. aufgrund von Formalisierung und Standardisierung von Kommunikation, die durch ›symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien‹ Chancen auf Kooperation gewähren. Derart strukturierte Begegnungen zwischen Personen erlauben es, weitgehend auf substantiell geteiltes, spezifisches und in gemeinsamer Praxis erworbenes und bestätigtes ›lebensweltliches Hintergrundwissen‹ zu verzichten. Die Pluralisierung von Integrationsweisen macht sich bemerkbar in der Auswechslung von Horizonten, auf deren Grundlage Personen in der direkten Interaktion kommunizieren können: Innerhalb gering differenzierter bzw. segmentärer Gesellschaftskonstellationen beruhen Verständigung und wechselseitige Erwartungserwartungen weitestgehend auf geteiltem implizitem Wissen. Über die Triangulation zwischen den intentionalen Horizonten (mindestens) zweier Personen und einem geteilten kulturellen Milieu kann praktisch hinreichend gemeinsames implizites Wissen zur Handlungskoordination genügen. Es lohnt sich, an dieser 78

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Stelle den Begriff der ›Triangulation‹ einzuführen und etwas genauer zu erläutern, da die erste Normalisierung (die ubiquitäre Anonymisierung) strukturtheoretisch als Tendenz zur Auswechslung typischer Triangulationselemente verständlich gemacht werden kann. Mit dem Begriff der ›Triangulation‹ wird hier auf die basale Form der praktischen Konstitution hinreichend übereinstimmender, »gleichsinniger« Intersubjektivität Bezug genommen (nicht auf gleichlautende methodologische Konzepte): Die Intention von ego lässt sich auf der Ebene der Interaktion in die Intention von alter (durch ego oder alter) »übersetzen«, indem der pragmatische Horizont eines Milieus, die praktische Einheit einer kulturellen Lebensform als ein drittes »Sinnsystem« mit den intentionalen Horizonten von ego und alter trianguliert wird. Wenn nämlich die jeweiligen intentionalen Sinnzuschreibungen (respektive »Konstitutionen«) foro interno personenspezifisch sind (vgl. Schütz 1974: 140), muss jener Milieuhorizont von den Deutungen, die die Personen von diesem Horizont ausbilden, unterschieden werden – nur dann lässt sich die »Intersubjektivität« der Bedeutung wie auch die praktisch hinreichende Übereinstimmung von Typisierungen in situ als interaktiv erzeugte, nicht aber schon als gegebene und dann genutzte Intersubjektivität rekonstruieren. Die Differenz von Bedeutungen einer Handlung (für einerseits ego, andererseits alter) wird durch die Triangulation von Milieuhorizont und personalen Übersetzungen überbrückt. Die Handlungen und Äußerungen verschiedener Personen können aneinander anschließen, einander fortsetzen, auch wenn man – anders als in repräsentationalistischen Handlungs- und Kommunikationsmodellen – bei der Rekonstruktion dieser Möglichkeit von der Identität der Bedeutung als intersubjektiver Ressource nicht ausgehen kann. Was ego und alter in ihrem intentionalen Horizont mit einer Handlung verbinden, bleibt different; die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Milieu (habituelle Verankerung in der gemeinsamen Praxis im Sinne von: Bourdieu 1979) garantiert aber pragmatisch hinreichende Ähnlichkeit des jeweiligen impliziten Wissens. 7 Triangulation bedeutet dann beispielsweise mit Bezug auf das Schütz’sche Problem des »Fremdverstehens« (Schütz 1974), dass sich ego die Intention von alter im Zuge des übersetzenden Rückgriffs auf ein drittes, von beiden Intentionen unterscheidbares Element, die se-

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Dabei ist an Wittgensteins ›Familienähnlichkeit‹ zu denken, die als Alternative zur Identität der Exemplare eines Typus die vage und ausfransende Einheit von (auf wechselhafte Weise) praktisch analogisierten Einzelheiten unterstreicht. 79

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mantisch-pragmatische Einheit des Milieus (als Einheit einer Praxis), hinreichend klar machen kann.8 Die Normalisierung von Fremdheit durch moderne Konstellationen zwischen integrierten Teilzusammenhängen beruht nun im Wesentlichen auf der Differenzierung von typischen oder paradigmatischen Triangulations-Elementen. Die Anonymisierungsschübe, die in der Ausdifferenzierung abstrakter Medien der Koordination von Handeln und Kommunizieren begründet liegen, bedeuten gegenüber der paradigmatischen Milieuabhängigkeit der Kommunikation eine Tendenz zur häufigen und dauerhaften Auswechslung des dritten Elements der praktischen Triangulation: nicht Milieu- bzw. kultureller Horizont, sondern formale Organisation und abstrakte Systeme bilden den (zu übersetzenden) gemeinsamen Bezugshorizont einander fremder Gegenüber. »Verständigung« im schlichten Sinne einer anschlussfähigen und pragmatisch erfolgreichen Kommunikation setzt dann geringere spezifische Kenntnis des personalen Gegenübers und vor allem weniger ausführliche gemeinsame praktische Vergangenheit voraus. Das soziale Handeln lässt sich über die Triangulation zwischen getrennten Intentionalitäten und formalen Handlungszusammenhängen abwickeln. Das heißt z. B., dass die Person ihre Deutung der kommunikativen Züge des Gegenübers abkürzend über die formalen Charakteristika einer standardisierten Rolle abwickelt, auf Details verzichtet und gewissen abstrakten Stereotypisierungen vertraut. ›Systemvertrauen‹ (siehe Luhmann 1973 und Endreß 2001) nimmt in der Interaktion zwischen Personen die Form des Zutrauens in Rollenkonformität des konkreten aber doch abstrakten anderen an. Diese Abstraktion des Gegenübers, das mir in der Interaktion – aber auch medial ›repräsentiert‹ – begegnet, zum sozial identifizierten Exemplar eines aus abstrakten Bestimmungen und ihrer Konjunktion gewonnenen Typus (z. B. »eine« arbeitslose Anästhesistin mit sozialdemokratischem und esoterischem Hintergrund) ist die intentionale Realisierungsform sozialer Anonymisierung.

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Diese Unterscheidbarkeit zwischen dem Milieu und den intentionalen Horizonten bedürfte weiterer Erläuterungen (siehe: Renn 2006, Kap. VI). Der Anlass für eine solche Unterscheidung liegt in der handlungstheoretischen Kritik an der Unterstellung identischer Bedeutungen; nicht nur ist sie plausibel zu bestreiten, sondern bei Lichte besehen, würde Bedeutungsidentität (ego und alter »lesen« Handlungsereignisse in kompletter Übereinstimmung) Handeln und Kommunikation verhindern. Die Konsequenz daraus lautet, dass die Einheit einer Lebensform, das ›lebensweltliche‹ Wissen in einem Milieu und dessen performative Einheit, sprich: Praxis, von den Versionen, die die individuellen Akteure intentional ›repräsentieren‹, abweichen muss.

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Zw e i e r l e i N o r m a l i s i e r u n g v o n F r e m d h e i t Kulturelle Differenzen fallen im Zuge der beschriebenen Anonymisierung zunächst pragmatisch durch die Begrenztheit der Reichweite impliziten (performativ kulturellen) Wissens auf – man weiß nicht, worauf man sich verlassen kann. Diese Kulturdifferenzen sind als solche zunächst noch ganz neutral gegenüber sekundären Explikationen von habituell integrierten Kollektiven zu »Ethnien«, »Nationen«, »Religionsgemeinschaften«, oder »Völkern«. Doch bei dieser Anonymisierung bleibt der Umgang von Personen in modernen Koexistenzräumen nicht stehen. Die Identitätsdimension expliziter Zugehörigkeit und die entsprechende Zuordnung von Einzelmenschen zu kollektiven Identitäten, die nur in einer »dichten Beschreibung« artikulierbar sind, verschwinden nicht im Sog einer Formalisierung von modernen Integrationsformen. Implizites praktisches Wissen bleibt überdies sozial funktional (denn auch abstrakte Regulierung muss in Situationen »übersetzt« werden). Allein der Status von Zuschreibungen solcher Identitäten ändert sich. An die Stelle traditionaler Milieueingebundenheit tritt in Reaktion auf die erste Normalisierung von Fremdheit sensu Anonymisierung eine zweite Normalisierung, die als Reaktion auf die verunsichernden Effekte der ersten Normalisierung verständlich wird, wenn diese erste Normalisierung aus der Teilnehmerperspektive als problematische Fremderfahrung aufgefasst wird. Fremderfahrung kann – vor dem Hintergrund des oben beschriebenen Triangulationswechsels – problematisch werden (oder erscheinen) aufgrund der Inkongruenz zwischen der Differenzierung von Integrationsformen einerseits und der räumlichen Strukturierung von wahrscheinlicher Interaktion anderseits. Die Grenzen zwischen sozialen Gruppen sind nicht kongruent mit den Grenzen zwischen formal und abstrakt differenzierten Kommunikationssphären. Modernisierung bedeutet dann bezogen auf kulturell integrierte Gruppen, dass relativ geschlossene Lebensformen nun als Milieu erscheinen, idealtypisch gesprochen: dass »Gemeinschaften« immer weniger für sich selbst den Anschein aufrecht erhalten können, dass (die jeweils eigene) Gemeinschaft mit Gesellschaft, mit der umfassenden Gesamtheit aller funktionalen Institutionen, kongruent bzw. koextensiv sein kann. Die »kulturelle Gruppe« oder die »ethnische Gemeinschaft« kann bezogen auf ihre Funktion für die eigenen Angehörigen nicht mehr alle relevanten sozialen Aufgaben erfüllen, nicht mehr alles relevante Wissen verwalten und vermitteln, nicht mehr alle relevanten normativen Fragen beantworten. Die Auslagerung solcher Funktionen erzwingt eine Vermehrung von Kontrast und Fremdheitserfahrungen sowohl im Verhältnis zwischen 81

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kulturellen Gruppen als auch im Verhältnis zwischen ihnen und Einzelpersonen und schließlich zwischen ihnen und Organisationen. »Ethnische« Gruppen sind deshalb von der Diversifizierung und Abstraktion der Vergesellschaftungsformen in modernen Konstellationen allein schon über die Übersetzungsverhältnisse betroffen, in die individuelle Zugehörige einer ethnisch identifizierten Gruppe durch Bildungsinstitutionen, das Militär und Arbeitsmärkte, vielleicht durch Nachbarschaften, sicher aber wenigstens über massenmedial vermittelte Konsum- und Kulturangebote geraten. Zugehörigkeit ist hier auf der Strukturebene, potentialiter bzw. de jure wenigstens der Tendenz nach bereits optional, auch weil bzw. wenn z. B. milieuinterne Normen und Werte subjektiv Alternativen bekommen und angesichts solcher Kontraste begründungspflichtig werden können.9 Grenzen zwischen Milieuzugehörigkeiten kreuzen Grenzen, die von Organisationen und anderen abstrakten Handlungszusammenhängen gezogen werden. Personen sind nicht eindeutig und exklusiv mit einer durch Milieugrenzen bestimmten sozialen Position zu identifizieren, sondern werden strukturell und dann auch subjektiv von heterogenen sozialen Differenzierungsweisen gleichzeitig in verschiedene jeweils spezifische Lagen versetzt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit dringen deshalb in die Interaktion auch zwischen Personen, die einer gemeinsamen praktischen Lebensform eines Milieus angehören, Elemente kommunikativ auffälliger Fremdheit ein (etwa: Generationenkonflikte).10 Gemes9

Deswegen hat die Habermas’sche »Rationalisierung der Lebenswelt« (Habermas 1981) mehrere Bedeutungen. Sie meint nicht nur großflächig die Entzauberung der Welt (Weber) und die »Entkoppelung« von System und Lebenswelt, sonder betrifft auch die internen Verhältnisse kulturell integrierter Kollektive. Solche Gruppen, die über eine gemeinsame Praxis, ein geteiltes implizites Wissen bzw. ein entsprechendes ›kollektives Gedächtnis‹ verfügen (vgl. Halbwachs 1985), können auf die wachsende Konkurrenz durch andere Integrationsinstanzen (Schule, Märkte, Massenmedien, Parteien aber auch andere Milieus) mit der Transformation ihrer internen Kommunikationsform reagieren. Rationalisierung lebensweltlichen Wissens kann dann die milieuinterne Explikation und Legitimation von Werten, Traditionen und Gewissheiten einschließen, sowie die Umstellung ihrer Inklusionsform, die dann z. B. Mehrfachmitgliedschaften und – zugehörigkeiten ihrer eigenen Angehörigen tolerierbar macht (auf diese »Liberalisierung« des Selbstverständnisses kultureller Gruppen, die ein Recht auf Anerkennung ihrer Eigenart dann »begründen« können sollen, setzt mehr oder weniger implizit die multikulturalistische Demokratietheorie, vgl. dazu die oben im zweiten Abschnitt stehenden Ausführungen). 10 An dieser Bruchstelle zwischen eindeutiger Zugehörigkeit (man ist »einer von uns, oder einer von den anderen«) und individualisierten Personen, die ihre eigenen »blends« kultureller Muster ausbilden, setzt der sozialtheoretische »Hype um Hybridität« an (so: Ha 2005, vgl. Bhabha 1994.) 82

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sen an der relativen Überschaubarkeit und entsprechender Vertrauensressourcen der typischen milieubasierten Triangulation, begegnen sich in modernen, differenzierten Arrangements von sich kreuzenden Grenzen unentwegt »Fremde«. Und das kann – je nach individueller oder auch kollektiver Lage, also je nach Status und Ressourcenausstattung von Individuen und Milieus – mehr oder weniger unbequem sein. Vor allem im Motivhaushalt solcher Personen, die in den Kategorien abstrakter, formaler und leistungsbezogener Positionierung relativ schlecht abschneiden bzw. exkludiert sind, deshalb ein Interesse an der ReTraditionalisierung (Giddens 2001: 51 ff.) sozialen Vertrauens haben, öffnet sich dadurch die Pforte zur zweiten Form der »Normalisierung« von Fremdheit. Diese zweite Normalisierungstendenz besteht in der unvollkommenen, selektiven und einem konkreten Gegenüber abstrakten Stereotypisierung »anderer« so genannter Kulturen. Sie wird von der ersten Tendenz (Anonymisierung) provoziert, sofern sie den zentrifugalen Kräften der Fremdheits-Erfahrung erster Art in spezifischen Situationen das Beharrungsvermögen der Stereotypen entgegen setzt. Die erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass in der Interaktion und Kommunikation Vorannahmen und kommunikative Voraussetzungen fehlen oder scheitern, und schon deshalb permanent revidiert werden müssen, also als unzuverlässig und kontingent offenbar werden, setzt die Idealisierungen der zuverlässigen Kontinuität und Stabilität eigener Vorannahmen und Gewissheiten (Schütz) unter Druck, so dass Unsicherheiten anwachsen. Das wird durch die semantische Normalisierung von Fremdheits-Typen (zwanghaft aber funktional notwendig) kompensiert. Die »zweite Normalisierung« stellt als Stereotypisierung von »fremden« Gruppen (aber auch als Selbststereotypisierung zum »Fremden«) unter der Bedingung der ersten Normalisierung eine hoch wahrscheinliche Reaktionsform dar. Stereotype Deutungen bilden ein imaginäres Substitut der Kenntnis des konkreten kulturellen Hintergrundes des Gegenübers. Das Substitut wird erforderlich, soweit die formale Zuschreibung anonymer Eigenschaften des anderen nicht genügend erscheint, zugleich aber die interaktiv gewonnene praktische Kenntnis des anderen nicht erreichbar ist, schon weil die dafür erforderliche Dauerinteraktion mit allen potentiellen Gegenübern unmöglich ist. Die zweite Normalisierung tritt der Verunsicherung durch die erste Normalisierung entgegen. Verunsicherung herrscht vor allem dort, wo den Personen die Interaktion mit anonymisierten anderen und auf der Basis rein abstrakter Typisierungen unzureichend oder gar nachteilig erscheint, so dass hier der Rückzug auf die Identifizierung von Personen durch eindeutige Milieupositionen nahe gelegt wird – erstens durch einen (empfundenen) problematischen Status 83

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der eigenen Person (etwa durch mangelnde Inklusion), zweitens aber auch durch semantische Verlockungen und Suggestionen einer von Eliten propagierten substantiellen kollektiven Identität, die weit reichende Übereinstimmung zwischen den Insidern und zweifelsfreie Geltung der internen kognitiven und normativen Horizonte verspricht. Die semantische (politisch, publizistisch transportierte) Ethnisierung von Zugehörigkeiten versteht es, das Wasser der alltäglichen Verunsicherung angesichts von Marginalisierung und Anonymisierung auf die Mühlen strategischer Mobilisierung zu leiten. Ethnische Zugehörigkeit stellt, wenn sie als substantielle organisiert und artikuliert wird, in einer Umgebung normalisierter Fremdheit eine Suggestion einfacher Verhältnisse und Zugehörigkeiten wie klarer Unterscheidungen und übersichtlicher Eigenschaften der jeweils anderen dar. Normalisiert werden angesichts der normalen Fremdheit anonymer anderer die Stereotypen anderer »Kulturen«, die eine Einschätzbarkeit jener vertraut-fremden anderen suggeriert. Gerade weil solche Suggestionen aber angesichts der Pluralisierung von individuellen Personen wenig Aussicht auf Bewährung haben, verlangt die zweite Normalisierung nach der kontrafaktischen Aufrechterhaltung von Stereotypen auch angesichts widerstreitender Erfahrung mit Handlungen und Personen, die ex ante aufgrund solcher Typisierungen vordefiniert wurden. Solche stereotypen semantischen Konstrukte und ihre stereotype Verwendungsweise werden für Personen wie für Organisationen, politisch und privat zugleich zu Ressourcen der Abkürzung und zu Hürden der Flexibilität der Kommunikation – als Ressourcen sichern sie Erwartbarkeit, als Hürden wälzen sie die Kosten dieser Erwartbarkeit als Anpassungs- und Normalisierungsdruck auf die schwächere Seite ab.11 Die dabei eingespannte zuerst »hermeneutische Gewaltsamkeit« der Zuordnung von Personen zu stereotypisierten Kollektiven muss dabei aber nicht unbedingt die offenkundige Form der Volksverhetzung annehmen, sie geht in weltgesellschaftlichen Regionen, die einen hohen Standard zivilgesellschaftlicher Institutionen und Strukturen aufweisen, auf vergleichsweise leisen Sohlen vermittelt über die organisatorische und behördliche Klassifikation, die die numerisch identifizierte Person in formal begrenzte Gruppen, Ethnien oder Religionsgemeinschaften einordnet (vgl. Benhabib 2002: 72). Die damit 11 Gewalt im Zuge und als Folge von Ethnisierungsstrategien wie in Serbien, Indien oder Ruanda (Harvey 2000; Panikkar und Muralidharan 2002; Des Forges 2002) ist über diesen Zusammenhang auch zuzurechnen auf die indirekt wirksame Strategie von politischen oder literarischen »Ethnopreneuren« (Gupta 2004), ohne dass dabei die vollständige Passivität individueller Akteure vorausgesetzt werden muss, die aus der semantischen Suggestion eine triviale Manipulation machen würde. 84

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erzielte formale Eindeutigkeit erlaubt es dann, abstrakte Rechte und Pflichten in der Sprache der Jurisdiktion konsistent und jeweils eindeutig zuzuteilen. Die juristischen Begründungen von Abschiebungen gelten zwar dem Einzelfall, subsumieren diesen jedoch unter Bedingungen, die für stereotypisierte Kollektive gelten (etwa: die Lage »der« Homosexuellen in Afghanistan).

Desperate Vergemeinschaftung Personale Identität, die auf die Ressource einer stereotypisierenden Konstruktion der »eigenen Gruppe« wie der »Fremden« zurückgreift und diese zur konstitutiven Grundlage alltäglichen Handelns und Kommunizierens zu machen versucht, wird aufgrund dieser strukturellen Lage »desperat«. Sie bedeutet, sofern sie suggerierte Gemeinschaften als imaginäre Ressource zu mobilisieren versucht und dabei streckenweise durch stereotype Verwendung von Fremdheitskonstruktionen die Eskalation der Fehldeutungen anheizt, eine »desperate Vergemeinschaftung«. Die Suggestion der Übersichtlichkeit und Aufgehobenheit, die den Kern von Ethnisierungen (von eigenen und anderen Identitäten und von Konflikten) bildet, bedeutet vor dem Hintergrund differenzierter Verhältnisse die Aspiration, die Pluralität und Interdependenz von verschiedenen Integrationsformen in komplexer Gesellschaft zurück in die pragmatische Reichweite und unter die praktische, vornehmlich hierarchische Kontrolle eines soziokulturellen Milieus bzw. seiner Normen und Regulierungskraft zu bekommen. Diese Aspiration richtet sich gegen den Zweifel (die Kontingenz des Wissens), gegen die exit option der Person und ihre relative Autonomie auch innerhalb eines kulturellen Milieus. Sie nimmt aus Selbsterhaltungsgründen Anstoß an differenzierten und reflexiven Formen der Perspektivenübernahme, der »Rollenambiguitätstoleranz« und einer gewissen interkulturellen Kompetenz, aber auch an der Abstraktion sozialen Handelns, sozialer Normen und personaler Identitäten durch Markt, Politik und Recht. Der Affekt gegen die (erste) Normalisierung von Fremdheit und Unsicherheit folgt dabei nicht notwendig einer üblen, in der Regel nicht einmal einer sich selbst transparenten Absicht, sondern er stellt sich ein unter dem seinerseits auferlegten Zwang, Kontrasterfahrungen zu unterdrücken. Desperate Vergemeinschaftung kann je nach Lage »von oben«, wie »von unten« motiviert sein: als Rückzugsmanöver von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten erster wie zweiter Generation, als Versuch der Selbstethnisierung im Zuge der Bemächtigung von Ressourcen in Anerkennungskämpfen, z. B. im Zuge einer »Identitätspolitik« (Ha 1999; 85

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Beck-Gernsheim 2004: 32 ff.) oder aber als semantisches Programm von Ethnopreneuren (Gupta 2004), von politischen Eliten, die unter dem Banner der »communal politics« (Puniyani 2003) oder des Rechtspopulismus mit der imaginären Prämie auf einfache Verhältnisse um Rückhalt werben (Butterwegge 1996; Bielefeld 2001). Der desperate Charakter einer Ethnisierung als stereotyper Konstruktion von kultureller Eigen- und Fremdheit mit dem Ziel der Wieder- oder Neuvergemeinschaftung ergibt sich nicht allein aus dem »fiktiven« Charakter der semantisch konstruierten kollektiven Identität. Desperat werden solche Identifizierungsangebote vor allem dadurch, dass eine vermeintlich »kollektive« Identität im modernen Falle vom Individuum in Regie genommen und ausgelegt werden muss, gerade weil die imaginäre kollektive Einheit der pragmatischen Basis einer tatsächlich geschlossenen und abgeschlossenen Gemeinschaft entbehrt, weil also die affektiv besetzte Imagination ihre soziostrukturelle Referenz eingebüsst hat, so dass die Aufrechterhaltung des Gemeinschafts-Imagos kontrafaktische Dauerbemühung vereinzelter Personen bleiben muss. Verkünden können die kulturelle Konstruktion ethnischer Stereotype Organisationen und Eliten; praktisch gegen alltägliche Gegenevidenzen und aufdringliche Zweifel aufrechterhalten müssen sie aber Individuen in ihren alltäglichen Identitäts- und Ressourcenkonflikten. Gerade die »ethnische« Gemeinschaft bleibt darum zugleich eine jeweils individuelle Fiktion, da dem imaginierten ethnischen Kollektiv nicht wirklich (soll heißen: nicht in performativer Faktizität) eine geschlossene kollektive Praxis entsprechen kann. Die ethnisierte Identität ist dann doppelt fiktiv, wenn das kollektive Muster erstens auf die phantasmagorisch konstruierte, sprich fingierte Geschichte einer Gruppe (als Abstammungsgemeinschaft) gegründet ist, und zweitens die Individuen auf ihrer individuellen Imagination einer ethnischen Gemeinschaft sitzen bleiben, sobald unter den Bedingungen moderner Pluralisierung kein kulturelles Milieu die semantisch konstruierte Geschlossenheit pragmatisch durchhalten kann. Die Individuen müssen das Phantasma ihrer konkurrenzlosen Zugehörigkeit gerade deshalb umso zwanghafter gegen Widerlegungen verteidigen. Anlässe zur Widerlegung sind in der modernen Konstellation pluralistischer Vergesellschaftung die Regel, denn hier lässt sich das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft nicht auf die dichte Bindung einer Gemeinschaft zurückdrehen. In dieser Analyse zeigt sich die Leistung eines struktur- und differenzierungstheoretisch gewonnenen Kriteriums der Unterscheidung zwischen imaginär-desperaten und pragmatisch adäquaten Fremdheitskonstruktionen: Die strukturelle Differenz zwischen einfachen Lebensformen bzw. sozialen Differenzierungsmustern, die zwischen Lebensformen und 86

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Habitusgemeinschaften auf allen Ebenen streng segregieren, und komplexen, modernen Konstellationen macht die zwanghafte Stereotypisierung als Verweigerung der Anerkennung von Übersetzungsverhältnissen verständlich (Renn 2006a). Milieuhorizonte müssen innerhalb solcher Übersetzungsverhältnisse von den Personen im Sinne flexibler Typisierungen in Situationen übersetzt werden. Und das bedeutet beispielsweise, dass sie die Differenz zwischen individualisierten Personen und »typischen Angehörigen« typischer kultureller Gruppen nachvollziehen. Das Angebot ethnischer Vergemeinschaftung suggeriert demgegenüber die Erfüllung des Versprechens auf die Rückkehr zu den – imaginierten – Sicherheiten vorpluralistischer Zeiten, sie ist gerade darum in Situationen steigender ökonomischer Unsicherheit, sinkender Zuverlässigkeit personaler Bindung und Vertrauenswürdigkeit und subjektiv erlittener Marginalisierung oder Abwertung attraktiv. Mit dem Interesse des Individuums an der Reduktion von Unsicherheit, an der Wiederherstellung von Einfachheit, Zuverlässigkeit und gesicherter Anerkennung, steigt der Widerstand gegen die Revision ethnisierter Selbst- und Fremddeutungen. Die imaginäre Prämie auf klare Zugehörigkeit senkt die Bereitschaft, angesichts von Kontrast- und Kontingenz-Erfahrungen entlastende Stereotypen zu prüfen und zu revidieren. Das Versprechen auf Sicherheit lässt sich indessen nicht halten.12 Denn das Problem einer desperaten Vergemeinschaftung sind die untilgbaren »Gegenevidenzen«. Zu ihnen gehört die pragmatisch begegnende Individualität des ethnisch stereotypisierten anderen, der faktisch keines der Merkmale des projizierten Genotyps des anderen, fremden ethnos aufweist, oder die aufdringliche Erfahrung, dass administrative Leistungen, Marktinteraktion, massenmediale Kommunikation, Ausbildungswege und auch schon ethnische ›Organisationen‹ nicht der Solidaritätsform ethnischer Bindung entsprechen. Das heißt nicht, dass der modernen Differenzierungsform ausschließlich hoch individualisierte

12 Die hier vorgetragene differenzierungstheoretische Rekonstruktion des »desperaten« Charakters ethnisierender Identitätskonstruktionen zeigt äußerliche Verwandtschaft zum klassischen Modell des ›autoritären Charakters‹, mit dem zunächst die Kritische Theorie Vorurteilsstrukturen und spezifisch Antisemitismus auf charakterologischer Basis zu erklären versuchte (vgl. Adorno 1973). Allerdings ist die gesellschaftstheoretische Erläuterung der Verbreitung des vorurteilsbeladenen Sozialcharakters bei Adorno ungleich einsinniger – setzt sie doch die vollzogene Totalvermittlung individueller Identität durch den Identitätszwang der verwalteten Welt und das psychoanalytische Konstrukt einer manipulierbaren »IchSchwäche« voraus, wogegen das hier vertretene Argument psychoanalytisch zurückhaltender und differenzierungstheoretisch variantentoleranter bleibt. 87

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Einzelgänger, ohne jede gruppenspezifische und partikulare Milieubindung entsprechen. Die Beck’sche Individualisierungsthese (Beck 1994) sieht beispielsweise durchaus »aufgesuchte« kollektive Bindungen für wahrscheinlich an. Ihnen entspräche allerdings der Charakter der »reflexiven«, optionalen und mehr oder weniger provisorischen Zugehörigkeit, die mit einer so genannten ›kommunitären Individualität‹ (Keupp 1997) kompatibel bliebe. Die affektive Seite der Zugehörigkeit, zu der Loyalität und Geborgenheiten gehören, wird in einer Semantik der »Ehre« und entsprechenden Praktiken demgegenüber auf »anachronistische« Weise artikuliert. Sie bleibt aus strukturellen Gründen unausweichlich belauert von der aufdringlichen Einsicht in die Kontingenz und die Verpflichtung zu pragmatisch flexiblen Vollzugsformen von sozialen Bindungen. Die moderne Inklusion von Individuen in kulturellen Milieus reflektiert den Pluralismus der Kontexte in der Anerkennung des fluiden Charakters der praktischen Form von Zugehörigkeit der Person zu einer Gruppe. Die kognitive Unterdrückung von Gegenevidenzen durch selektive Wahrnehmung muss im Vergleich zu dieser reflexiven und protheischen Form von Zugehörigkeit die Häufigkeit und Aufdringlichkeit der praktischen Inadäquatheit von Stereotypisierungen ihrerseits steigern; und damit steigt wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass die Bereitschaft und der Zwang, selektive Wahrnehmungen und Stereotypisierungen zwanghaft und schlussendlich gewaltsam zu verteidigen, zunehmen. Diese Eskalation wird unterstützt, sobald ein erklärter Gegner – die andere vermeintlich ethnische Gruppe – den gleichen Zwängen folgt, so dass Selbst- und Fremdstereotypisierungszwänge sich auf zwei Seiten ergänzen (im Sinne eines »Sicherheitsdilemmas«, siehe: Posen 1993).13

13 In diesem Sinne stellt also auch das Ziehen der »terroristischen« Karte etwa von Seiten fundamentalistischer oder rechtsradikaler Gruppen eine Externalisierung der Kosten einer kontrafaktischen Identitätsstereotypisierung und ihrer Aufrechterhaltung dar. Das Phantasma ethnischer (und strukturell affiner religiöser) Zugehörigkeit lässt sich leichter vor Gegenevidenzen schützen, wenn die jeweils Fremden, denen man stereotype Grenzziehungen gewaltsam aufzwingt, schließlich selbst die Reifizierung dieses Phantasmas besorgen und auf die Zwänge desperater Vergemeinschaftung mit der Semantik des Kampfes der Kulturen antworten (darum sind »Aussteiger-Telefonadressen« für die De-Eskalation bedeutsamer als Wachdienst-Verstärkungen). 88

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P e r f o r m a t i ve K r i t e r i e n u n d Differenzierungslagen – Folgen für die Konstitutionstheorie Die vorstehenden Analysen einer »doppelten Normalisierung«, eines strukturellen »Triangulations-Wechsels« und einer »desperaten Vergemeinschaftung« haben dem Versuch zugearbeitet, die Frage nach Kriterien der für eine Unterscheidung zwischen »adäquaten« und »inadäquaten« Konstruktionen der eigenen und der fremden Identitäten zu beantworten. Es ist deutlich geworden, dass ein solches Kriterium, wenn es überhaupt sinnvoll rekonstruiert werden kann, nicht aus einer abstrakten Entscheidung für oder gegen eine substantielle oder eine konstruktivistische Vorstellung von Ethnizität gewonnen werden kann, sondern nur mit Rücksicht auf das Verhältnis zwischen semantischen Konstruktionen und pragmatischen Formen des Umgangs mit solchen Konstruktionen und zudem nur unter Bezugnahme auf spezifische Konstellationen gesellschaftlicher Differenzierung. Der Unterschied zwischen einer problematischen Ethnisierung und adäquaten Bezugnahmen auf ethnische Artikulationen kollektiver Zusammengehörigkeit zeigt sich vor dem Hintergrund weit reichender Differenzierung zwischen Personen, Milieus und Organisationen als Differenz von Formen des praktischen Umgangs mit ethnischen Selbst- und Fremdheitskonstrukten, anders gesagt: als Differenz zwischen stereotypen Verwendungen von Stereotypen (inklusive der Verdrängung von Gegenevidenzen) und der flexiblen, situations- und personenspezifischen Verwendung von Typisierungen. Dieser Befund hat Konsequenzen für den theoretischen Typus einer Konstitutionstheorie, die es auf generelle Bedingungen der Konstruktion kultureller Fremdheit abgesehen hat. Denn die Unterscheidung zwischen einer erfahrungsoffenen Typisierung von Fremdheit und einer stereotypen Orientierung innerhalb »desperater« Vergemeinschaftung stützt sich auf die Untersuchung von strukturabhängigen interaktiven Verwendungsweisen von Typisierungen, nicht aber von Typen der Typisierung als solchen; diese Unterscheidung (mithin das fragliche Kriterium) entziehen sich darum einer Konstitutionsanalyse, die sich exklusiv auf die Phänomenologie einer intrasubjektiven Sinnkonstitution bezieht. Differenzierungstheoretische Analysen können sich nicht auf die Interpretation subjektiver Reflexe struktureller Konstellationen beschränken (auf die Verteilung subjektiven Wissens). Das zeigt sich bereits in der Bedeutung, die der Prozess der Triangulation für Interaktion überhaupt hat, in der nötigen Differenz zwischen Milieu- oder eben Organisationsperspektiven bzw. -semantiken und subjektiven Deutungen oder Übersetzungen der entsprechenden Sinnhorizonte. Deswegen wird eine phäno89

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menologische Zugangsweise jedoch keineswegs überflüssig; ihr Status innerhalb komplexer Erklärungen muss allerdings präzise angegeben werden können, und dazu kann eine genauere Unterscheidung von Dimensionen des Konstitutionsbegriffs nützlich sein: In der Tradition der Schütz’schen Handlungstheorie ist der Konstitutionsbegriff zweifellos auf den Bezug zu subjektiven Sinnsynthesen festgelegt (Schütz 1974). Schütz übernimmt – und transformiert – den Husserl’schen Konstitutionsbegriff. 14 Das Problem des Husserl’schen Konstitutionsbegriffs ist nicht allein die exklusive Referenz auf subjektive Innerlichkeit, auf das Medium der Intentionalität, sondern die Neigung, die »Konstitution« in die Nähe der Erzeugung des Sinnes einer Handlung zu rücken. Erzeugung ist gerade im handlungstheoretischen und mundanen Bereich aber ein äquivoker Ausdruck, denn es muss klar unterschieden werden zwischen der »Auslösung« oder auch dem Anstoß (Motiv) zu einer Handlung und der identifizierenden Bestimmung des Sinnes einer Handlung. Hier meint Konstitution dann jeweils Verschiedenes. Die ethnische Auslegung kultureller Fremdheit, die pragmatisch zuerst als kommunikative Ungewissheit erscheint, ist einerseits sozial oder semantisch ›konstruiert‹, also in intersubjektiver Praxis oder auch in z. B. organisationaler Kommunikation vorentworfen, andererseits wird sie subjektiv »übernommen«. In der Art und Weise dieser Übernahme verzweigen sich stereotype und flexible Vollzugsformen subjektiver Konstitution, wenn Konstitution hier die intentionale Auslegung von konkreter Erfahrung im Lichte der in subjektive Typisierungen übersetzten semantischen Konstruktionen meint. Darüber hinaus muss unterschieden werden zwischen der Konstitution des (subjektiv und sozial unterschiedlichen) Sinnes einer bestimmten Handlung, bei der einem Ereignis unter Verwendung eines Schemas ein bereits typisierter Sinn zugeschrieben, die Handlung also identifiziert oder subsumiert wird, und der ereignistranszendenten Konstitution solcher Schemata bzw. des Typus, dem typengleiche ›tokens‹ zugeordnet werden. Die (flexible oder stereotype) Verwendung ethnischer Fremdheitskonstrukte bei der Auslegung konkreter Situationen ist nicht identisch mit der Konstruktion solcher Typen, die je nach Referenz (Milieu, Person, Organisation) eine andere Form und einen anderen Abstand zu den intentionalen Perspektiven der Individuen hat. Und auch wenn im nicht stereotypen Falle die Verwendung selbst zum Moment der interak14 Schütz kommentiert ihn kritisch (siehe: Schütz 1971), und zugleich bringt er den Begriff mit der methodischen Wendung zur mundanen Analyse der Lebenswelt im »Sinnhaften Aufbau« selbst in eine problematische Äquivokation, die derjenigen ähnlich ist, die er Husserl vorwirft (Schütz 1974; vgl. Renn 2006b). 90

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tiven Konstruktion von Typisierungen kultureller Fremdheit (als ›Resignifikation‹) wird, so ist auch hier zu unterscheiden zwischen den intentionalen Übersetzungen semantischer Konstrukte und diesen selbst. Schon daraus erhellt sich, dass »die« Sinnkonstitution mit Rücksicht auf kulturelle Fremdheit (und ebenso auf anderes) nicht erschöpfend durch die allgemeine Form der introspektiven Analyse subjektiver Reflexion und Antizipation aufgeklärt werden kann. Die Intersubjektivität der Schemata und der ›Konstrukte‹ kann soziologisch nicht wie bei Husserl durch Hinweise auf die universale Idealität von Bedeutungen, die dem Subjekt qua transzendentaler Subjektivität »gegeben« sind, beantwortet werden – das hatte Schütz selbst nicht mehr im Sinne. Wenn die Genese der Typen und Schemata in der pragmatischen und kommunikativen Interaktion vollzogen wird (vgl. Srubar 1981 und 1988), dann ist die Praxis konstitutiv für den Sinn der Handlungen (im Sinne der Genese von Typen). Für die praktische Sinnkonstitution sind dann neben Hermeneutik und Pragmatik auch differenzierungstheoretische Analysen von Übersetzungsverhältnissen zu konsultieren. Schemata wie kulturelle Typisierungen oder Stereotypen, die sich auf Gruppen beziehen, sind als konstruierte konstitutiv für die Möglichkeit der Zuordnung von Personen zu kulturellen oder ethnischen Stereotypen. Sie bilden ein regionales, historisches und vergängliches Apriori der Grammatik einer Lebensform. Darüber hinaus aber sind kraft sozialer Differenzierung explizite Semantiken abstrakter sozialer Systeme von milieuspezifischen Typisierungen zu unterscheiden. Subjektive Reflexionen sind dann – wenn sie nicht als passive Ausführungen »diskursiver« Strukturen missverstanden werden – konstitutiv für die individuierende und kontextuierende Auslegung des allerdings anderweitig schon konstituierten generalisierten Sinnes, sie konstituieren den konkreten Sinn einer bestimmten Handlung, das aber in Abhängigkeit von der gesellschaftsspezifischen Dominanz bestimmter Triangulationsformen. Dabei ist der Spielraum, der sich jenseits der stereotypen Verwendung von Stereotypen eröffnet, in nicht unwesentlichem Maße auf die Freiheiten der Übersetzung von sozialen, milieuoder organisationsbasierten Konstruktionen in intentionale Horizonte zurückzuführen. Denn diese Übersetzungen bestehen nicht einfach in einer Umdeutung allgemeiner Typen in einen intentional individuellen Typus, sondern in der pragmatischen Applikation generalisierten Sinnes, der im Modus der Erfahrungsoffenheit rezeptiv bleibt für das »NichtIdentische« an kulturellen Fremden. An dieser Stelle ist die phänomenologische Analyse subjektiver Sinnkonstitution als Rekonstruktion intentionaler Übersetzungsleistungen anzulegen.

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In der Moderne verzweigen sich schließlich Typen der subjekttranszendenten Konstruktionen kultureller Fremdheit. So stellt die bürokratische Konstruktion von (politisch instrumentalisierbaren) Typen fremder Gruppen einen besonderen Typus dar. Ein zentraler Gesichtspunkt weiter gehender Analysen ist darum »verrechtlichte Fremdheit«. Ihre praktische Bedeutung besteht in der spezifischen Übersetzung rechtlicher Kategorien in andere Kontexte. Eine Folge z. B. des Ausländerrechts ist die Interferenz und Applikation abstrakter (konstitutiver) Regeln in externen Kontexten, bei der für die Triangulation zwischen Personen formale Kategorien und Typen bereitgestellt werden, die sich als Stereotype geradezu anbieten. Und auch das ist nicht allein ein Problem von Gruppenidentitäten, denen man im Sinne der Modernisierungstheorie voreilig einen gewissermaßen »regressiven« Status zuzuschreiben geneigt ist. Es betrifft darüber hinaus die Frage nach der Einheit des kulturellen Horizontes eines komplexen politischen Gemeinwesens, die nach wie vor in den institutionellen Semantiken legitimer staatlicher und juridischer Ansprüche auf die Einheit des »Volkes« bezogen bleibt. Auf welche Grundgesamtheit aber bezieht sich das Selbstbestimmungsrecht der »Völker«, wenn der demos sich vom ethnos dadurch unterscheidet, dass er durch die politische Konstitution und die Praxis der durch diese Konstitution versammelten Staatsbürger erst geschaffen wird? Wie eine bestimmte, einzelne demokratische Kultur überhaupt innerhalb der Weltgesellschaft von anderen abzugrenzen wäre, wenn das Konzept der »Volkssouveränität« ohne ethnisierende Konstruktion der Gesamtheit der Staatsbürger auskommen muss, ist eine gute und noch offene Frage.

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Methodologischer Kosmopolitismus – Die Erhaltung k ulture lle r Vielfalt trotz w irtschaftlicher und kultureller Globalisierung 1 HANS-GEORG SOEFFNER

Vielfältige Geschichte Immer dann, wenn der Himmel durch mythische Bilder versinnbildlicht wurde, verwiesen diese auf eine heilige Ordnung: So, wenn er dadurch entstand, dass sich, wie im Glauben der Ägypter, die Himmelsgöttin Nut über die Welt beugte und der von ihr überwölbten Schöpfung eine transzendente Ordnung gab; wenn man den Himmel als Kuh darstellte, die an ihrem Bauch die Sterne und die Schiffe der Sonne trug und ihrerseits selbst vom »Luftgott Schu und anderen Göttern gehalten« (Müller 1997: 21; siehe dazu auch Assmann 1991) wurde; wenn man sich ihn – wie im ›Fernen Osten‹ – als Drachen oder in der hinduistischen Bilderwelt als Sieb vorstellt, durch das der Soma-Saft gepresst wird, der dann als Regen fällt und das Land fruchtbar macht: Der himmlische Baldachin steht, in welcher Gestalt auch immer, für eine heilige Ordnung, in der alles Leben und jeder Gegenstand seinen Platz und seine Zeit in einem umfassenden Sinngefüge haben. 1

Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine überarbeitete Übersetzung des 2005 erschienenen Aufsatzes »Methodological Cosmopolitanism – How to Maintain Cultural Diversity despite Economic and Cultural Globalization« in »Die Ordnung der Gesellschaft«, der Festschrift zum 60. Geburtstag von Richard Münch, hgg. von Hans-Jürgen Aretz und Christian Lahusen. Die Überarbeitung und Teile der Übersetzung besorgte Tobias Röhl. 97

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All die durch den Glauben der Völker und Kulturen gestützten Überwölbungen der Erde – so unterschiedlich sie auch waren und selbst dann, wenn sie von neuen Kosmologien abgelöst wurden – galten über die Jahrtausende hinweg und gelten für viele von uns bis in die Gegenwart in ihrer zentralen Funktion: Garanten gesellschaftlicher Sinngebung und Ordnung zu sein, als unverzichtbar. Eben daher erschienen sie als so unzerstörbar wie jene ›Feste des Himmels‹, die der Gott der Genesis durch sein Wort schuf. Es dauerte lange, bis es – im Gefolge der Aufklärung und mit der durch die ›Kritik der Vernunft‹ an jedwedem Glaubenssystem wachsenden Skepsis gegenüber menschlichen Sinngebungskonstruktionen – zu dem kaum mehr zu beseitigenden Verdacht kam, dass »von Überwölbungen [...] nichts zu erwarten (sei), außer dass sie einstürzen« (Plessner 1981: 147). Und in ähnlicher Weise stehen gegenwärtig die Globalisierungsutopien von umfassend versorgten Informations- und Wissensgesellschaften oder virtuellen, ans Internet geknüpften globalen »Interaktionsgemeinschaften« neben apokalyptischen Visionen einer durch Technik dehumanisierten und schließlich zerstörten Welt: Das Schrumpfen der Fernreisen zu Nahreisen und der in Bildmosaiken medial geordnete Globus im heimischen Guckkasten neben Schreckensbildern von einem durch Atomkriege oder überhitzte Atmosphäre entvölkerten Erdball. Konstruktionen, Kritik und Selbstkritik der Vernunft führen, sofern sie aufeinander bezogen werden, beinahe zwangsläufig zu einem unaufhörlichen Wechselspiel von Aufbau und Zerstörung, Utopie und Gegenutopie, Hoffnungsentwürfen und Desillusionierung, Ordnungen der Welt und der Dinge und »Ordnungen des Terrors« (vgl. Sofsky 1993): Sie treiben die Einsicht in das hervor, was Plessner als »das Stehen im Nirgendwo«, als den »utopischen Standort« (Plessner 1975: 341 ff.) des Menschen gekennzeichnet hat. Dieses Wissen um die in der »exzentrischen Positionalität« (ebd.: 288 ff.) und »konstitutiven Wurzellosigkeit« (ebd.: 341) des Menschen angelegte Unsicherheit, um die Mehrdeutigkeit der eigenen Existenz und um die Labilität gesellschaftlicher Konstruktionen – seien es Gemeinschaften, Institutionen, Staatswesen, Rechts- oder Weltanschauungssysteme – ist der Hintergrund für die menschliche Sehnsucht nach Ordnung. Sowohl der Antrieb für immer neue Ordnungsentwürfe als auch der Versuch der Wiederherstellung dessen, was nie bestanden hat – die Rückwendung zu verlorengegangenen goldenen Zeitaltern – entspringen dieser Sehnsucht. Gemeinsam garantieren sie die Fortschreibung der Labilitätsgeschichte von Ordnungskonstruktionen. Solange man sich eingebunden fühlt in transzendent fundierte oder auch innerweltlich verankerte Heilsgeschichten, Ordnungen und Sinn98

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entwürfe, glaubt man an die Chance, die Bilder vergangener Größe in der Gegenwart wiederbeleben zu können: »Aus einer provisorisch gewordenen Wirklichkeit« hofft man, sich dadurch retten zu können, dass man in einer als geordnet vorgestellten oder nach bestimmten »Gesetzen« ablaufenden Geschichte die doch »unwiederbringlich verlorenen Möglichkeiten (der) eigenen Existenz« (Plessner 1981: 167) sucht. Solche Rettungsversuche werden vollends sinnlos, wenn Geschichtsmodelle dieser Art sich nicht mehr begründen lassen, wenn sie im ›Kollektivbewusstsein‹ einer Zeit abgedankt haben: wenn man glaubt, dass – wie Fukuyama (1992) überspitzt formulierte – das »Ende der Geschichte« eingetreten sei. Auch die Antike wusste um religiöse Vielfalt und die Konkurrenz der Religionen: Kleinasien und der Mittelmeerraum kannten lange vor unseren Weltanschauungsmärkten den Basar der Religionen, Mysterien und Kulte. Die Christen, zunächst eine randständige Sekte, eroberten in langem Kampf das römische Imperium, nicht zuletzt weil sie dem Wettstreit der Religionen, der religiösen Kleinstaaterei und dem Exklusivcharakter vieler Mysterien, Kulte und Staatsreligionen die universelle, Stände, Klassen, Rassen und Völker überwindende Idee von der ›Gotteskindschaft‹ aller Menschen entgegensetzen konnten: Die neu entstehende ›Weltreligion‹ wurde damals durch die Konkurrenz der Weltanschauungen nicht behindert, sondern gefördert. Heute werben mehrere (tendenziell, d. h. ihrem Selbstverständnis nach) universalistische ›Weltreligionen‹ weltweit um die Gunst derer, denen die Tradition Religion gebietet oder die noch bewusst religiös zu glauben bereit sind. Voraussetzung dafür, dass der gesamte Globus zum Schauplatz dieses Wettkampfes werden kann und dass dabei alle Religionen gleichzeitig um Anteile an einem Weltmarkt der Sinnentwürfe kämpfen können, ist die sowohl verkehrstechnische als auch mediale Erreichbarkeit aller Regionen und ihrer Bewohner. Mögen die überkommenen (christlichen) Vorstellungen von Ökumene und Mission in ihren Ansprüchen und Zielen gleich geblieben sein, sie haben ihren Charakter – vor allem durch die audiovisuellen Medien – radikal verändert. Ein Beispiel: Selbst die – historisch neue und modernistische – Reisetätigkeit des letzten Papstes wäre nach wie vor Ausdruck des traditionellen Musters der Apostelreisen gewesen, wenn nicht die Medien dafür gesorgt hätten, dass die jeweiligen lokalen Papstauftritte gleichzeitig (!) ein globales Publikum gefunden hätten. Zudem haben Existenz und Wirkung des weltumspannenden Medienverbundes erheblich zur Entstehung eines neuen Mythos beigetragen: dem der ›Globalisierung‹. Das umfassende engmaschige Mediennetz, ›transnational‹ organisierte und operierende Banken- und Firmen99

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verbände, weltweit beobachtbare Migrationsströme und nicht zuletzt global abrufbare Produkte einer scheinbar omnipräsenten Unterhaltungsund Freizeitindustrie suggerieren, dass die Welt zu einer Einheit zusammenwachse. So, als ob allein dadurch, dass alle möglichen Zutaten in einen Topf geschüttet werden, ein akzeptabler Eintopf entstünde. Trotz des ambivalenten Erscheinungsbildes der vermuteten ›Globalisierung‹ und der entsprechend diffusen Bedeutung dieses Ausdrucks scheint ein relativ bedeutender Teil des meinungsbildenden und politikberatenden Faculty-Club (vgl. Berger 1999) von Intellektuellen – wie üblich gestört von ihrem natürlichen Widerpart, den Apokalyptikern (s. o.) – die Hoffnung in eine mehr oder weniger zwangsläufig entstehende oder zumindest durch gezielte Anstöße machbare ›posttraditionale‹, ›postindustrielle‹ ›Postmoderne‹ oder eine sich selbst erneuernde ›reflexive Moderne‹ zu setzen.2 Das Auseinandertreten von Raum und Zeit, die Möglichkeit vieler Akteure, ›disloziert‹ von verschiedenen Orten aus über den »entleerten« Raum hinweg in »entleerter Zeit« gleichzeitig zu interagieren (vgl. Giddens 1996: insbes. 28 ff.), lässt MacLuhans ›globales Dorf‹ (vgl. MacLuhan 1962, 1964), so hofft man, zu einem informationstechnologisch basierten Gemeinwesen werden, in dem der Medienverbund den freien Zugang aller zu jedweder Information garantiert. Dadurch entstehe – »in the long run« – tendenziell eine Teilhabe aller Menschen an einer globalen Kultur und an einem Weltbürgertum. Beide stützten sich auf zentrale Werte (meist westlicher Herkunft) wie: allgemeine Menschenrechte, Demokratie, freie Marktwirtschaft und ökologische Verantwortung. Wie vielen Visionen so steht auch dieser eine Realität gegenüber, der man – frei nach Brecht – böse sein müsste, weil sie sich nicht so verhält, wie man es sich vorgestellt hat.3 Denn Globalisierung findet, anders als der Ausdruck vortäuscht, nicht überall und auch nicht für alle statt. Die »Weltwirtschaft« (das Banken-, Aktien- und Firmenverbundbzw. Konkurrenzsystem) hat ihre Standorte vorrangig in der »ersten« und »zweiten« Welt. Nutznießer sind auch dort nicht die Mehrheiten, sondern die Wohlhabenden und/oder überdurchschnittlich gut Ausgebildeten. Die weltweit beobachtbare Migration signalisiert nicht die freie Zugänglichkeit aller Weltregionen für jedermann, sondern ist verursacht durch Vertreibung, politische Verfolgung und Armut. 2 3

Vgl. hierzu die neueren Arbeiten von Albrow, Barber, Beck, Giddens und Lash – um nur einige wenige prominente Autoren zu nennen. »Mein Lehrer ist ein enttäuschter Mann. Die Dinge, an denen er Anteil nahm, sind nicht so gegangen, wie er es sich vorgestellt hatte. Jetzt beschuldigt er nicht seine Vorstellungen, sondern die Dinge, die anders gegangen sind.« Brecht (1967: 65)

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Globalen Einfluss auf eine Mehrheit der Menschen kann man am ehesten der Unterhaltungs- und Freizeitindustrie zusprechen. Die asiatischen Filmindustrien sind dennoch mit Hollywood nicht zu vergleichen, und nach wie vor diktieren kulturelle Unterschiede und unterschiedliche Bildungsniveaus Vorlieben, Ablehnung und Gleichgültigkeit gegenüber den jeweiligen Produkten der ›kulturellen‹ Angebotspaletten. Auch der tendenziell freie Zugang zu dem auf elektronischen Datenträgern angehäuften Wissen hat – trotz des Medienverbundes und des world wide web – nicht zu einer Globalisierung des Wissens beigetragen. Er führte lediglich bei den wissenschaftlichen, technischen, ökonomischen und ästhetischen Eliten oder Spezialisten – aber auch bei diesen nur in den entsprechenden Gebrauchssektoren – zu einer schnelleren Verfügbarkeit von Spezialwissen. Gleichzeitig vergrößern sich in den Datenbanken die Bereiche, von denen man weiß, dass man von ihnen nichts weiß: Unser Nichtwissen über das, was wir wissen könnten, wächst schneller als unser Wissen. Wir alle, Wissenschaftler und Intellektuelle eingeschlossen, treten unserer Welt bestenfalls als Halbgebildete gegenüber. Den »gut informierten Bürger« (vgl. Schütz 1972: 85-101) zeichnet dabei nur aus, dass er – um seine Halbbildung wissend – sich umso intensiver um Informationen bemüht. Das Wissen um das, was er nicht weiß, aber eventuell wissen könnte, hindert ihn – anders als die in ihrem Wissen und Glauben Ruhenden – daran, an Wunder zu glauben. Insofern wird er sich weder wissenschaftlich gewandeten Propheten noch Menschheitserziehern oder Weisen anvertrauen. Eher wird er Huxley verstehen, der vorschlug, man möge an die in den Weltkriegen ausgebrannten Ruinen der Städte die »schlichten Worte setzen: Geweiht dem Andenken der Erzieher der Welt. Si monumentum requiris circumspice« (Huxley 1953: 8). Alle guten Absichten, das ›Mängelwesen‹ Mensch dadurch zu verbessern, dass man ihm immer neue Glaubensund Verhaltensrezepturen verordnete, statt es zu ermutigen, alle Lehren an der persönlichen Erfahrung zu überprüfen, setzen darauf, dass uns – irgendwo, vielleicht unsichtbar – doch noch ein großer Baldachin überspannt, den wir nur wiederentdecken müssen, um uns in einem gemeinsamen Wissen und einer gemeinsamen Ordnung wiederzufinden.

Globalisierung, Interkulturalität, Individualisierung Weltstädte wie Tokio, Singapur, Kairo, New York, London, Sao Paulo, selbst Berlin, sind die sichtbaren Zeichen dessen, was man ›Globalisierung‹ nennt. Es ist beinahe unmöglich, Zeitungen zu lesen, die Nach101

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richten anzuschauen, wirtschaftlichen oder soziologischen Debatten zu folgen – sei es auf Tagungen oder in Fachzeitschriften – ohne auf den Ausdruck ›Globalisierung‹ zu stoßen und durch ihn – bis hin zum Ärger – irritiert zu werden. Denn die genaue Bedeutung und Aussagekraft dieses Terminus sind alles andere als klar. Ständig wird er auf vage und widersprüchliche Weise verwendet. In dieser Hinsicht stellt auch die soziologische Zunft keine Ausnahme dar. Ein Blick in die soziologische Literatur zur Globalisierung lässt folgende Verwendungsweisen erkennen: (1) ›Globalisierung‹ als das Schlüsselwort einer sogenannten ›postmodernen‹ Ideologie, die normative Aussagen enthält über eine ›posttraditionelle‹ und ›post-industrielle‹, mehr oder weniger kohärente Welt. Diese Welt ist gekennzeichnet durch •



geteilte Wertvorstellungen, meist »westlichen« Ursprungs (zum Beispiel Menschenrechte, Glaube an die freie Marktwirtschaft, Umweltbewusstsein etc.); Informationsnetzwerke und freien Zugang zu Informationen für jedermann (McLuhans ›globales Dorf‹, in dem Zeit und Raum komprimiert werden (A. Giddens) und jeder zum globalen Bürger einer globalen Kultur wird (Albrow, Barber, Beck, Giddens etc.)).

Die – ebenfalls normativen – negativen Varianten dieser Sichtweisen behaupten, dass die Globalisierung kulturelle Vielfalt und Autonomie zerstöre, gesellschaftliche »Anonymität« erhöhe und die Menschen mit einer Flut von Informationen überschütte und überwältige. (2) ›Globalisierung‹ als deskriptiver Terminus, der sich auf verschiedene Erscheinungen transkultureller und transnationaler Entwicklungen und Trends bezieht, wie z. B.: •





die Spannung zwischen globalen Entwicklungen in Wirtschaft, Informationssystemen, transnationalen Organisationen (einschließlich der NGOs) auf der einen und lokalen Reaktionen auf der anderen Seite (Fast-Food-Ketten vs. Großmutters Küche, Hollywood vs. nationale Filmindustrien, ›global players‹ vs. örtliche Unternehmen oder Bürgerinitiativen, internationale Pop Awards vs. lokale Musikgruppen etc.); die vielfältigen und vom jeweiligen Kontext abhängigen Typen lokaler Adaption/Assimilation an globale Produkte (Stichwort: ›Glokalisierung‹); weltweite Migration als der Hauptgrund für die Herausbildung verschiedener kultureller, wirtschaftlicher usw. »scapes« (Appadurai),

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die einerseits räumlich sehr nahe und andererseits doch strikt getrennt voneinander existieren. (3) Soziologische und ökonomische Theorien, die Struktur und Richtung transnationaler Entwicklungen analysieren und konzeptualisieren, wenngleich viele dieser Theorien Ideologie und Analyse vermischen, so dass sie unter das erste, oben angeführte Muster fallen. In einer Welt schrumpfender Entfernungen (durch elektronische Medien, weltweite Transportnetzwerke und global verteilte Güterproduktion) führt die Suche nach Funktion und Entwicklung einer »kulturellen Globalisierung« zu paradoxen Ergebnissen. Konzernzusammenlegungen, miteinander vernetzte Mediensysteme, die zunehmende Standardisierung von Angebot und Nachfrage, das darauf bezogene Verhalten der Konsumenten, stehen zunehmender Regionalisierung und kultureller Fragmentierung gegenüber. Insofern hat Mike Featherstone recht, wenn er behauptet: »Hence one of the paradoxical consequences of the process of globalization, the awareness of the finitude and boundedness of the planet and humanity, is not to produce homogenity but to familiarize us with greater diversity, the extensive range of local cultures« (Featherstone 1995: 86)

Was Alfred Schütz als ›ausgezeichnete Wirklichkeit‹ beschrieben hat, die ›paramount reality‹ des Alltags, kann in den gegenwärtigen globalisierten Gesellschaften durch einen Verlust von Homogenität charakterisiert werden. Statt einer homogenen Wirklichkeitssphäre finden wir unzählige verschiedene kulturelle, subkulturelle, ethnische und ideologische Wirklichkeitssphären. Die Spannung zwischen dem Regionalen und dem Globalen, die zu ethnischen und/oder nationalistischen Tendenzen als Reaktion und Antwort auf transnationale Strukturen und kosmopolitische Identitäten geführt hat, ist in dieser Alltagswirklichkeit spürbar: die Grenzen zwischen globalen und regionalen/nationalen Identitäten, zwischen religiösen und säkularen Gruppen verlaufen nicht nur entlang der Grenzen von Gemeinschaften, sondern zeigen sich aufgrund von multikultureller Erziehung, interkulturellen Heiraten, religiösen Konversionen usf. in den Individuen selbst. Der von Peter Berger beschriebene »Zwang zur Häresie« (Berger 1980) findet hier seinen strukturellen Platz. Die Pluralisierung der Lebenswirklichkeiten hat neue, flüchtige Zugehörigkeiten geschaffen und gleichzeitig die Konfrontation zwischen den Verhaltensmustern, Handlungsformen, Glaubenssystemen und Einstellungen der jeweiligen Aufnahmegesellschaften und den entsprechenden Kulturmustern der Zuwanderungsgruppen verschärft. 103

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Moderne Industriestaaten sind – ob sie es wissen oder nicht und ob sie wollen oder nicht – zwangsläufig ›offene Gesellschaften‹. Die klare Unterscheidung von »Binnen«- und »Außenlage« ist für solche Gesellschaften nicht mehr möglich: Jede moderne Industriegesellschaft rekrutiert sich aus ›heimischen‹ und ›fremden‹ Kulturen, wird tendenziell – wie New York, Singapur oder London – in verkleinertem Maßstab zum Abbild des multikulturellen Makrokosmos. Der weltumspannende Zusammenschluss von Medien und Verkehrsmitteln, der internationale Umschlag von Massenwaren und Massentouristen durch übernationale Konzerne, die globale Arbeits- und Elendsmigration und schließlich die weltweite Standardisierung der Fertigungs- und Verwaltungstechniken haben die universellen Kontaktmöglichkeiten, und das ist historisch neu, in einen universellen Kontaktzwang zwischen den Kulturen überführt. Innerhalb dieses sich selbst tragenden Gefüges Völker und Kulturen übergreifender Netzwerke vollzieht sich – vorläufig erst in den modernen Industriegesellschaften – das, was Alois Hahn eine »Generalisierung der Fremdheit« (Hahn 1994: 162) genannt hat. Die Globalisierung des ökonomischen und kulturellen Austausches bringt weltweit Menschen mit mehrfacher Staats-, Kultur- und selbst Religionszugehörigkeit hervor, verschränkt Fremdheit der Nähe mit Bekanntheit der Ferne und verweist damit unübersehbar darauf, dass der Versuch, an den »Grenzen« offener Gesellschaften kulturelle Schlagbäume zu errichten, notwendig scheitern muss. Andererseits weckt gerade die Internationalisierung von Teilen der Massenkultur bei vielen die Angst, »alte kollektive Identitäten« zu verlieren. Eine der Folgen dieser Angst ist ein wiedererweckter Nationalismus, eine andere der religiöse Fundamentalismus. Zwar gibt es keine Weltkultur im eigentlichen Sinne, aber es zeigen sich weltweit mehr als nur Tendenzen zu globalen Organisationsformen und Produktions- bzw. Konsumtionsweisen. Nicht nur die von dem – euphemistisch als »weltweite Staaten-›Gemeinschaft‹« betitelten – Sammelsurium großer und kleiner, armer und reicher, demokratisch, diktatorisch oder kaum regierter Staaten »unterhaltenen« internationalen Organisationen wie UNO, UNESCO, Internationaler Gerichtshof und Weltbank repräsentieren diese Tendenzen. Es ist insbesondere die weltumspannende Allgegenwart der Massenmedien, die es fertiggebracht hat, trotz der unübersehbaren Vielfalt und Verschiedenheit der Kulturen, eine weltweite, beinahe uniforme Akzeptanz bestimmter Produkte durchzusetzen: Film und Show; Popmusik und Videoclip; Automobil und Computerspiele; Jeans-, T-Shirt-, Turnschuh- und Sportmode, »zeitgenössische« Architektur und Imbissketten. Ein übernationaler »General Store« für Alltags- und Freizeitartikel scheint die Einzelkulturen beinahe zwang- oder kampflos und besser zu beherrschen, als dies alle bisher 104

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bekannten Kultur-, Missions- und Zwangsprogramme von Kolonisatoren und Eroberern vermochten. Ebenfalls ›Kultur‹-übergreifend ist die atemberaubende Geschwindigkeit, in der sich die Einübung in den Gebrauch moderner Schnellfeuerwaffen vollzieht. Keine Kriegs- oder Bürgerkriegspartei, in welcher Großstadt oder welchem Busch auch immer, hat bisher bei der Umsetzung dieses Curriculums versagt: Einen »Analphabetismus« in der Beherrschung von Vernichtungswaffen gibt es nicht. Dies alles bietet Stoff genug für eine Analyse dessen, was offen oder heimlich und unheimlich zwischen den Kulturen verglichen und angeglichen wird: für eine Analyse dessen, was tendenziell bereits akzeptierte Welt-›Kultur‹ ist und regionale Kulturformen, nationale »Eigenarten« und eben auch regionale Riten und Rituale überflutet. Neben den – unsere Gesellschaft übergreifenden – Globalisierungstendenzen und dem in ›westlichen‹ Gesellschaften anhaltenden Individualisierungsdruck, lässt sich in den offenen, multikulturellen Gesellschaften eine dritte Tendenz erkennen. Sie antwortet auf die beiden anderen und zielt – in unterschiedlichen Ausformungen – auf strukturell Ähnliches ab: auf die Bildung übersichtlicher, geschlossener Einheiten. Regionalisierung; die Bildung kultureller, sozioökonomischer Inseln; radikaler Nationalismus und religiöser Fundamentalismus, aber auch Kommunitarismus, sie alle suchen ihr Heil gegenüber den unübersichtlichen offenen Gesellschaften ebenso wie gegenüber dem ›atomisierten‹ Individuum im Rückweg zur Gemeinschaft, oder zu den geschlossenen Gesellschaften der Heimaten, Stämme und Heilsbruderschaften. Ein dreimaliges »I«, die Trinität von »Interkulturalität – Individualisierung – Inselbildung« beherrscht die westlichen Industrienationen. Die Spannung zwischen diesen drei Elementen und der Versuch der modernen Demokratien, eine Balance zwischen den einander bekämpfenden, aufeinander reagierenden Tendenzen herzustellen, bringt jene bewegliche Ordnung hervor, von der offene Gesellschaften leben und auf die sie sich stützen. In solchen Gesellschaften tritt zunehmend an die Stelle des Konsenses über gemeinsame Normen der Konsens, dass es solche gemeinsamen Normen kaum mehr gebe. – Im Hinblick auf die Bewahrung und Gültigkeit traditioneller Normen mag diese neue Einschätzung zutreffen. Es wird darin aber übersehen, dass an die Stelle verloren gegangener alter andere gemeinsame normativ wirksame Überzeugungen getreten sind, so zum Beispiel auch die, dass die besten Verwalter öffentlicher Meinungen und die kompetentesten Schiedsrichter gegenüber der Beachtung oder Verletzung sozialer Regeln ›die Medien‹ seien: eine durchaus fragwürdige, aber praktizierte Überzeugung.

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Methodologischer Kosmopolitismus Vor dem Problem, ein Weltreich gründen und erhalten zu wollen und dabei dennoch die kulturelle Vielfalt der darin zusammengefassten unterschiedlichen Völker, Religionsgemeinschaften und Traditionen zu erhalten, standen schon frühere Imperien. Beispielhaft erinnert sei sowohl an das Römische Reich als auch and das Reich Kubilai Khans, des mongolischen Herrschers auf dem chinesischen Kaiserthron (1215-1294, ab 1260 chinesischer Kaiser). Konfrontiert mit den kulturellen und religiösen Unterschieden innerhalb seines Großreiches und genau darum wissend, welche Gefahren aus kulturellen Differenzen und religiösen Spannungen drohten, demonstrierte er an seinem Hof ostentativ das Zusammenleben der unterschiedlichen Kulturen: Gelehrte, Kaufleute, Politiker und religiöse Führer der unterschiedlichen Volksgruppen wurden bewusst eingeladen zu einem frühen »interkulturellen Diskurs« und zum Austausch von Ideen, Wissen, aber auch von Fertigungstechniken oder Verwaltungs- und Wirtschaftsformen. Heute würde man eine solche Politik als Balance zwischen politischer Einheit und kultureller Differenz bezeichnen. Auf der Ebene politischer Integration verband der Khan kompromisslos eine straffe Organisation mit Kompromissbereitschaft bei der Beteiligung der unterschiedlichen Volksgruppen an den Verwaltungsstäben. Er griff jedoch bei den kleinsten Anzeichen von religiösem oder ethnischem Fundamentalismus strikt und erbarmungslos durch. Zwar ist das feudal-diktatorische Politikmodell Kubilai Khans unvereinbar mit den Idealen einer modernen Zivilgesellschaft, aber es zeigt dennoch, dass es möglich ist, kosmopolitisch zu denken – d. h. »fremde«, andere Kulturen als unverzichtbare Elemente einer gemeinsamen Welt zu verstehen und zu würdigen. Der gegenwärtig beobachtbare Prozess der Globalisierung und die dadurch entstehende Gefährdung kultureller Vielfalt ist von früheren Globalisierungstendenzen (Entdeckungsreisen und Eroberungszügen, Kolonialisierung und damit verbunden – christlicher Missionierung) grundsätzlich zu unterscheiden. Zwar findet diese Globalisierung längst nicht auf allen Ebenen menschlichen Zusammenlebens statt, wie neue Nationalismen, Nationengründungen und religiöser Fundamentalismus, der ›clash of religions‹, zeigen. Aber es spricht vieles dafür, dass gerade diese Erscheinungen nicht aus sich selbst heraus entstanden, sondern Antworten auf jene Globalisierung sind, die – im Wesentlichen wirtschaftlich und medial – in den Alltag aller Menschen eingreift. Die weltweiten Migrationsbewegungen tragen das Ihrige dazu bei, dass in sich geschlossene, homogene Staats- und Gesellschaftsgebilde immer 106

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unwahrscheinlicher werden und dass sie da, wo sie noch bestehen, in ihrer »Einheitlichkeit« und Geschlossenheit als vorübergehende Ausnahmeerscheinungen angesehen werden müssen. Gerade weil dies so ist, werden die Erhaltung kultureller Eigenständigkeit einzelner Volksgruppen und damit die kulturelle Vielfalt im Zusammenleben der Völker zu einem zentralen Thema der Auseinandersetzung – und dies weltweit. Denn die Bedrohung kulturell, d. h. religiös, ideologisch oder ethnisch relativ geschlossener Staats- und Gesellschaftsgebilde durch ungesteuerte Globalisierung und z. T. politische, vor allem aber wirtschaftliche, mediale sowie sprachliche »Amerikanisierung« führt zu Reaktionen, die – gerade weil sie aus dem Gefühl »bedrohter [nationaler, religiöser, ethnischer etc.] Identität« heraus – entstehen, das Zusammenleben der unterschiedlichen Volksgruppen und Gemeinschaften in einer »Kultur des Unterschieds« (Sennett 1991) bedrohen. So stellen die auf beinahe allen zentralen Ebenen beobachtbaren Fundamentalismen – in Politik, Religion, ethnischen Einheitsfiktionen – auf ihre Weise kulturelle Vielfalt in negativer Form her. Natürlich würde der sprichwörtliche Beobachter vom Mars auf der Erde nach wie vor eine unerhörte Vielfalt von Kulturen und kulturellen Erscheinungen feststellen. Zugleich aber müsste er bedauernd zur Kenntnis nehmen, dass an die Stelle eines dominanten »westlichen« Ethnozentrismus nun eine Vielfalt von Ethnozentrismen getreten ist, die allesamt darin bestehen, dass sie das Andere als fremd – das Eigene bedrohend – darstellen, ablehnen und abwerten, und dies womöglich noch unter der Flagge der »Bewahrung kultureller Vielfalt« (preservation of cultural diversity) angesichts der Bedrohung durch die Globalisierung. Der Verdacht liegt nahe, dass in manchen Fällen nicht etwa deshalb für die Erhaltung kultureller Eigenständigkeit gekämpft wird, weil man das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen in einer gemeinsamen Kultur der Unterschiede zum Ziel hat, sondern weil man die eigene Kultur von jedwedem fremden Einfluss in selbstgenügsamen Ethnozentrismen abschotten will. Auf der Suche nach gegenwärtigen politischen Modellen, die sowohl kulturelle Vielfalt erhalten als auch zivilgesellschaftliche Strukturen sichern könnten, stößt man auf den immer noch fortschreitenden, verwickelten und auch spannungsreichen Prozess der Europäischen Einigung. In der Tat handelt es sich bei diesem Einigungsprozess um einen – in einem besonderen Sinne – einmaligen Vorgang: Es ist der freiwillige, von keiner imperialen oder dominanten Macht aufgezwungene Zusammenschluss von Staaten und Nationen, die eine beinahe 2.000 Jahre alte Geschichte von politischen, religiösen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen hinter sich haben: Machtkämpfe, blutige Religionskriege, 107

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Weltkriege, ideologisch motivierten, nationalsozialistischen Völkermord und kommunistische Massenvernichtungen. Eher als die vagen Ideen oder Fiktionen bzw. Konstruktionen von einer all diese Auseinandersetzungen überwölbenden Europäischen Identität sind die Jahrtausende alten Kriegsgeschichten das reale Gemeinsame, das jene Völker verbindet, die sich als »europäisch« fühlen oder bezeichnen. Gerade diese Geschichte führte jedoch auch dazu, dass in Europa jene zivilgesellschaftlichen, im Prinzip übernationalen Verfassungen entwickelt wurden, die den Einzelnen schützen, Glaubens- und Religionsfreiheit sichern, ethnische Differenzen überwinden und Minderheitenrechte festschreiben sollten. Die geschichtlichen Rückschläge, unter denen diese Verfassungen unter den verschiedenen politischen Systemen gelitten haben, sind bekannt. Aber selbst die Geschichte der Rückschläge gereicht den Europäern nun zum Vorteil, wie die Diskussionen über eine gemeinsame europäische Verfassung zeigen. Denn diese Diskussionen sind unübersehbar gekennzeichnet durch den – spannungsgeladenen – Austausch von Erinnerungen. Selbst die »Kopftuchdebatte«, vordergründig eine Auseinandersetzung um ein »islamisches Symbol«, gerät zu einer neuen Grundsatzdebatte über den demokratischen Säkularstaat, der seine Rechtfertigung daraus ableitet, dass er alle Religionen gleich behandelt, aber im Gegenzug dafür von allen Religionen verlangt, dass sie sich uneingeschränkt dem Verfassungsgrundsatz der Freiheit aller Religionen unterwerfen und Alleinvertretungsansprüche einzelner Religionen auf Wahrheit ebenso aufgeben wie den Versuch, religiöse in politische Dominanz umzumünzen. Der gegenwärtig beobachtbare ›prozedurale Föderalismus‹ der sich erweiternden europäischen Union ist allerdings nicht nur ohne jedes historische Vorbild oder theoretische Blaupause, er macht darüber hinaus auch deutlich, dass er vermutlich nicht dazu geeignet ist, umstandslos auf andere Weltreligionen übertragen zu werden. Dennoch können sowohl aus dem Modell Kubilai Khans als auch aus dem europäischen Beispiel Vorstellungen darüber entwickelt werden, wie ein erfolgreiches Zusammenleben in der Vielfalt der Kulturen aussehen könnte und welche Bedingungen geschaffen werden müssten, damit kulturelle Vielfalt keine bloße theoretische Maxime bleibt, sondern kulturübergreifend Bestandteil alltäglich-lebensweltlichen Denkens wird. Als Immanuel Kant am Ende des 18. Jahrhunderts seine »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« niederschrieb und Johann Gottfried Herder um die gleiche Zeit nicht nur betonte, dass jede Religion »gleich nahe zu Gott« sei, sondern, dass auch »jegliche Kultur einen Eigenwert« besitze, der es nicht erlaube, einzelne Kulturen gegenüber anderen als höher oder niedriger einzustufen, hatten sie nie 108

METHODOLOGISCHER KOSMOPOLITISMUS

isolierte Einzelkulturen im Blick. Es ging ihnen vielmehr um das Zusammenleben und ›Voneinander-Lernen‹ der unterschiedlichen Kulturen: Um die Einheit der Menschheit bei aller Differenz der Kulturen. Dahinter stand die Idee, dass jeder Bürger ein Weltbürger, ein wahrhafter Kosmopolit, sein könne. Die Kulturen sollten einander nicht lediglich tolerieren bzw. ertragen oder erdulden, sondern sich wechselseitig anerkennen. Der »Kultur des Unterschieds« sollte also eine Kultur wechselseitiger Anerkennung hinzugefügt werden. Es ist leicht zu erkennen, dass es bei diesen, wie ich glaube, immer noch gültigen Ideen nicht um »kleine Münzen« geht: um die pure Konservierung oder nachträgliche Wiederentdeckung religiöser und nationaler Folklore sowie religiöser und nationaler Mythen im Dienste einer aufwendig gesellschaftlich konstruierten, sich von anderen Kulturen abriegelnden ›kollektiven Identität‹. Globalisierung heute bedeutet, dass eine solche kollektive Inklusion durch Selbstexklusion von anderen nicht mehr möglich ist. Aus der Kontaktsuche früherer Entdeckungsreisen ist heute ein – sei es friedlicher oder kriegerischer – Kontaktzwang geworden. Sofern wir uns nicht zu Eremiten machen wollen, können wir einander nicht mehr entgehen, und die weltweit gespannten Mediennetzwerke sorgen dafür, dass wir einander – wie verzerrt auch immer – wahrnehmen müssen. Aus einer solchen Wahrnehmung und dem bloßen Kontaktzwang wird jedoch nicht auch zwangsläufig ein Kosmopolitentum. Mögen auch Einzelne bei vielem guten Willen aus sich einen Kosmopoliten machen können, bei der Mehrheit der Menschen sind weder die Chancen noch oft auch der gute Wille zum Weltbürgertum gegeben. Es geht also darum, einen methodologischen Kosmopolitismus zu entwickeln: die Idee des Weltbürgertums methodisch und systematisch mit solchen realen Strukturen zu unterfüttern, die den Weltbürgern unterschiedlicher kultureller Herkunft zwar keinen ›Weltstaat‹, wohl aber gemeinsame Foren des Austausches – und auch der Auseinandersetzung geben. Als Soziologe, der den einzelnen Menschen schätzt, die Kraft des Einzelnen jedoch nicht überschätzt, setze ich auf Institutionen und Organisationen, die uns da unterstützen und absichern müssen, wo wir allein überfordert wären. In der Menschheitsgeschichte haben von je her die großen Ausbildungsstätten: die Schulen und Akademien bis hin zu den heutigen Universitäten eine zentrale Rolle nicht nur bei der Weiterentwicklung von Einzelkulturen, sondern auch beim Kulturaustausch und der Weiterentwicklung des Menschheitswissens gespielt. Jede Tagung und jede Konferenz, die allein unsere kleine internationale Wissenschaftlergemeinschaft in den letzten Jahren beinahe weltweit organisiert hat, ist ein Beispiel für die Kraft und Leistungsfähigkeit dieser Institu109

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tionen. Personen wie beispielsweise die Professoren Aoki, Yalman, Kajiwara und Nandy – um nur einige wenige aus dieser Gruppe zu nennen – wirken seit Jahren als Multiplikatoren eines nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch allgemeinen Kulturaustausches. In praktischer Hinsicht bedeutet dies den permanenten Austausch von Studenten, akademischen Lehrern und Forschungsergebnissen, aber auch von wechselseitigem Wissen über die jeweiligen unterschiedlichen Kulturen, Bräuche, Glaubenssysteme und Lebensweisen. Neben den großen Ausbildungsstätten haben auch die Märkte immer dann zu einem erfolgreichen Kulturaustausch und zu wechselseitiger Anerkennung von wirtschaftlichen Leistungen geführt, wenn auf diesen Märkten ein fair geregelter Wettbewerb herrschte. Es hat immer einmal wieder einzelne wirtschaftliche Kontaktzonen gegeben, in denen ein solcher Austausch annäherungsweise »gerecht« stattfand. Wir sind heute allerdings trotz der gegebenen technischen Möglichkeiten weit von einem nicht nur freien, sondern auch einigermaßen gerecht geregelten Wettbewerb und Weltmarkt entfernt. Hier wäre ein wichtiges Betätigungsfeld internationaler Politik, die mehr zu erreichen hätte als das, was die sogenannte ›Weltbank‹ heute leistet. Es reicht auch nicht aus, darauf hinzuweisen, dass es die Staatengemeinschaft immerhin geschafft hat, Institutionen wie die UNO und die UNESCO aufzubauen. Beide Institutionen sind nicht so stark, wie sie es sein müssten, und auch die internationalen NGOs werden permanent konterkariert durch die unterschiedlichen Fundamentalismen oder nationalen Egoismen. Das Konzept des methodologischen Kosmopolitismus kann dementsprechend nicht »von oben nach unten«, d. h. von – noch – schwachen Weltorganisationen in die einzelnen Staaten der Staatengemeinschaft hinein exportiert werden. Entscheidend ist vielmehr, dass in den einzelnen Staaten, diejenigen Institutionen gefördert werden, die mit der paradoxen Wahrheit umgehen können, dass kulturelle, religiöse und ethnische Unterschiede zwischen den Menschen nicht nur das wahrscheinlich einzige tatsächliche Universale an der Menschheit ausmachen, sondern dass sich menschlicher Fortschritt, wenn es ihn geben sollte, nicht aus der Vereinheitlichung der Lebensweisen, des Wissens und der Fertigkeiten speist, sondern aus dem in den Unterschieden zum Ausdruck kommenden Potential: aus den in sich verschiedenen kulturellen Laboratorien der Menschheit. Die »Zielgruppen« des methodologischen Kosmopolitismus müssen dementsprechend die jeweiligen nationalen Erziehungssysteme – vom Kindergarten bis zu den Universitäten –, aber auch die »öffentlich rechtlichen Medien« sein. – Um nicht ganz pessimistisch zu enden, sei zum Schluss denn doch noch auf etwas Positives hingewiesen: Traditionelle 110

METHODOLOGISCHER KOSMOPOLITISMUS

Verbündete eines Weltbürgertums, in dem sich die Kultur der Unterschiede immer schon Gehör verschafft hat, waren und sind die Künste: die Malerei, die Musik, das Theater. Von ihnen gilt es zu lernen, nicht nur weil sie an sich so wertvoll sind, sondern weil sie es geschafft haben, sich in der alltäglichen Lebenswelt der Menschen einen festen Platz zu erobern. Eben dies macht ihren zusätzlichen sozialen, humanen Wert aus.

Literatur Assmann, Jan (1991): Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im alten Ägypten, München: Fink Brecht, Bert (1967): Marxistische Studien, in: ders., Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 20; Frankfurt/M.: Suhrkamp Berger, Peter L. (1999): In the Faculty Club. Besprechung von Jameson, Frederic; Miyoshi, Masao (Hg.), The Cultures of Globalization, Duke University Press, in: Times Literary Supplement, 20. August 1999, S. 8 Berger, Peter L. (1980): Der Zwang zur Häresie, Frankfurt/M.: S. Fischer. Featherstone, Mike (1995): Undoing Culture. Globalization, Postmodernism and Identity. London: Sage Fukuyama, Francis (1992): Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München: Kindler Giddens, Anthony (1996): Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp Hahn, Alois (1994): Die soziale Konstruktion des Fremden. Sprondel, Walter (Hg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 140-163 Aretz, Hans-Jürgen/Lahusen, Christian (Hg.) (2005): Die Ordnung der Gesellschaft. Festschrift zum 60. Geburtstag von Richard Münch, Frankfurt/M.: Lang MacLuhan, Marshall (1962): The Gutenberg Galaxy, Toronto: University of Toronto Press MacLuhan, Marshall (1964): Understanding Media: The Extensions of Man, New York: McGraw-Hill Müller, Klaus E. (1997): Geschichte der antiken Ethnologie, Hamburg: Rowohlt Plessner, Helmuth (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin: de Gruyter

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Plessner, Helmuth (1981): Gesammelte Schriften V. Macht und menschliche Natur, Frankfurt/M.: Suhrkamp Schütz, Alfred (1972): Der gut informierte Bürger, in: ders., Gesammelte Aufsätze II. Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag: Nijhoff, S. 85-101 Sennett, Richard (1991): Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt/M.: Fischer Sofsky, Wolfgang (1993): Die Ordnung des Terrors: das Konzentrationslager, Frankfurt/M.: Fischer

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Kulturelle Differenz und Probleme der Übersetz ung SHINGO SHIMADA

E i n l e i t u n g – › D e r F r e m d e ‹ a l s Au s g a n g s p u n k t Es ist in letzter Zeit immer wieder davon die Rede, dass man die Komplexität der Fremdkulturalität heutzutage auch auf der Alltagsebene erfahre. Die kulturelle Differenz sei überall spürbar und auch in bestimmten Kontexten nicht überwindbar. Nicht nur Medien vermitteln Bilder und Ereignisse aus entfernten Gegenden der Welt, sondern auch Reisen in die Karibik oder auf die Insel Bali der Nachbarn und Kollegen gehören zu den Themen der Kurzgespräche auf der Straße. Reisen in die Fremde gehören also schon längst zur Alltagswelt. Zugleich vernimmt man in den Bussen auf dem Weg zur Arbeit unterschiedlichste Sprachen, die man nicht versteht. Insofern scheint das Fremde allgegenwärtig zu sein, was dem eigentlichen Wortsinn dieses Ausdrucks zu widersprechen scheint. Der Fremde ist längst nicht mehr allein »der Wandernde, der heute kommt und morgen bleibt«, wie Georg Simmel in seiner klassischen Studie formuliert hat. Das Bild des Fremden ist komplexer und auch dynamischer geworden. Die Aufnahmegesellschaft – oder allgemeiner gesprochen das »wir« gegenüber einem Fremden – kann den Fremden als Typus längst nicht mehr allein aus ihrer Perspektive bestimmen. Die Fremden gewinnen Stimme und beginnen, ihre Ansprüche zu artikulieren. Die Semantik des Fremden liegt daher zunehmend in dem Überkreuzungspunkt unterschiedlicher Perspektiven, in dem die Relationalität und Wechselseitigkeit des Eigenen und Fremden immer stärker sichtbar werden. Und die jeweilige Perspektivität wird durch gegenseitige historisch zurückliegende Projektionen des Anderen als

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Kulturfremden gebildet, von der wir uns offensichtlich schwer loslösen können. Der Blick auf die fremde Kultur ist also schon längst vorbestimmt, bevor man ihr tatsächlich begegnet. Diese Perspektivität auf den Fremden wird auch dadurch komplexer, dass die Projektion des Fremden aus der Eigenkontextualität wiederum von der fremden Kultur selbst übernommen werden kann, um sich selbst zu inszenieren oder den eigenen Identitätsanspruch zu artikulieren. So begegnen wir heute an vielen Orten der Erde kulturalistischen Selbstbehauptungsdiskursen, die sich die kulturrelativistische Fremdezuschreibung zueigen machen. Insofern ist Kultur zu einem Politikum geworden. An dieser Stelle möchte ich vorweg meinen Ausgangspunkt kurz zusammenfassen und festhalten, auf welche Weise ich das Thema der kulturellen Differenz von der Perspektive des Fremden zu behandeln gedenke. Ich gehe davon aus, dass der Fremde ein relationales Konstrukt darstellt, dessen Semantik von der jeweiligen situativen Konstellation der Kommunikation bestimmt wird. Erst entsteht in der zunächst flüchtigen Konstitutionsphase der Kommunikation, in der das Verhältnis zwischen den Kommunikationspartnern relational verhandelt wird, das Vertrauens- bzw. Fremdheitsverhältnis, das sich dann im Laufe des weiteren Kommunikationsprozesses verfestigen oder sich verändern kann. Damit trete ich gegen die Ontologisierung der kulturellen Differenz und auch gegen die Ansicht ihrer Unüberbrückbarkeit. Mich interessieren also die lebendigen Momente, wie ein Fremder aus jeweiliger Kontextualität hervorgeht.

D i e Am b i v a l e n z d e s F r e m d e n Von der veränderten Konstellation zwischen Eigen- und Fremdkulturalität sind die beiden Disziplinen Soziologie und Ethnologie gleichermaßen betroffen. Die soziologische Erwartung, dass in den modernen westlichen Gesellschaften das Element der Kultur mit der Zeit keine so nennenswerte Rolle mehr spielen würde, wurde u. a. dadurch enttäuscht, dass gerade diese Gesellschaften immer stärker von »fremden« Kulturen unterwandert werden, wie die Diskussion um die »multikulturelle Gesellschaft« aufzeigt. Damit ist die Soziologie mit einer unerwarteten Thematik konfrontiert, nämlich die fremden Kulturen in der eigenen Gesellschaft. Auf der anderen Seite verschwinden die klassischen Gegenstandsfelder der Ethnologie – die traditionellen Stammesgesellschaften außerhalb Europas. Diese Krise der beiden Disziplinen ist ein Ausdruck des veränderten gesellschaftlichen Fremdheitsverhältnisses, und diese Fächer sind auch deshalb tief davon betroffen, weil sie ihr wissen114

KULTURELLE DIFFERENZ UND PROBLEME DER ÜBERSETZUNG

schaftliches Selbstverständnis in der Beschäftigung mit Fremden sehen. Dies könnte für die Soziologie etwas überraschend klingen: Während für das Fach Ethnologie dies wohl von vorneherein zutreffen mag, bleibt die Frage für das Fach Soziologie als Wissenschaft der modernen Gesellschaft, inwiefern sie sich mit dem Phänomen des Fremden beschäftigt. Doch bekanntlich haben sich zwei Klassiker der Soziologie ausdrücklich mit dem Fremden auseinandergesetzt und einen Diskurs zu dem Thema begründet: Georg Simmel und Alfred Schütz. Simmel behandelt das Thema ausgehend von der allgemeinen Problematik des Raumes und arbeitet die Perspektive der Aufnahmegesellschaft auf den Fremden heraus. Hier ist die klassische Figur des Fremden der Jude als Händler, der zwischen Welten vermittelt. Schütz setzt sich mit diesem Thema aus der subjektiven Perspektive eines Migranten auseinander und liefert wichtige Ansätze zur Problematik des Fremdverstehens. Diese frühen Ansätze zur Problematisierung des Fremden führten zwar zu einer innerhalb der Soziologie etablierten Forschungsrichtung, doch scheint mir damit geradezu ein theoretisches Problem eingepflanzt worden zu sein. Nämlich führten diese Ansätze zu einer ausdrücklichen Thematisierung des Fremden, ohne diese mit der allgemeinen gesellschaftstheoretischen Fragestellung zu verbinden. Das heißt, es existiert eine explizite Problematisierung des Fremden im Sinne der Kulturfremden wie z. B. in der Migrationssoziologie oder Entwicklungssoziologie, doch sie wurde nicht mit der allgemeinen gesellschaftlichen Fremdheitsthematik verzahnt. Darauf komme ich deshalb, weil in der soziologischen Auseinandersetzung in ihrer Gründungsphase ersichtlich wird, wie sehr das Problem einer modernen Gesellschaft ebenso unter dem Aspekt des Fremden verstanden wurde. Demnach verlieren die vertrauten Bezüge durch den Modernisierungsprozess ihre Relevanz, so dass die Sozialität immer stärker als eine Beziehung unter Fremden interpretiert wird. So spricht ein anderer Klassiker der Soziologie, Ferdinand Tönnies, von der modernen Gesellschaft im Gegensatz zur »Gemeinschaft« als Gesellschaft der Fremden, in der »ein jeder für sich allein [ist]« (Tönnies 1991: 34). Das heißt, die funktionale Differenzierung macht aus allen Beteiligten Fremde. Alois Hahn nennt dies »Generalisierung der Fremdheit«. Damit ist gemeint, dass Gesellschaftsmitglieder nun »als Funktionsträger in die verschiedenen arbeitsteiligen Systeme integriert sind« (Hahn 1994: 162). Somit wird der Fremde als ein allgemein gesellschaftliches Problem der Moderne angesprochen. Nach diesem Verständnis hat jedes Individuum – als eine der Hauptkategorien der Moderne – gewisse Fremdheit in sich. In diesem Moment ist der Fremde kein Sonderstatus mehr, sondern ein allgemeines Merkmal des modernen Menschen überhaupt. Jedoch bedeutet dies keineswegs, dass die Figur des Fremden als Sonderstatus 115

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verschwindet. Denn die klare Unterscheidung zwischen der Moderne und Tradition ermöglicht wiederum, bestimmte Menschengruppen als Fremde einzuordnen, während die moderne Gesellschaft, die ja durchaus von Fremden gebildet wird, als das Eigene begriffen wird. Darin liegt die komplexe Doppeldeutigkeit des Fremden. Aus dieser Perspektive heraus gesehen liegt das Problem des Fremden bei Simmel und Schütz zum einen in der bewussten Verengung des Blicks auf den Fremden und zum anderen in der Tendenz, den Fremden auf bestimmte Gruppe von Menschen festzuschreiben. Die Verengung der Perspektive liegt darin, dass die beiden Autoren nicht die Fremden aus entfernten Kulturen in Betracht ziehen, sondern nur um mehr oder weniger nahe Fremden thematisieren. Bei Simmel werden die Juden paradigmatisch erwähnt, während Schütz seine Ausführungen ausdrücklich auf die Migrationsverhältnisse zwischen modernen (westlichen) Gesellschaften beschränkt sehen möchte. Insofern ist ihre Perspektive genuin soziologisch zu bezeichnen, was die Arbeitteilung der Disziplinen der Soziologie und der Ethnologie widerspiegelt. Doch stärker wiegt hier das Problem der Festschreibung des Fremden. Bei beiden Autoren ist die Situation des Fremden eine Sondersituation. Der Fremde verkörpert das Außeralltägliche durch seine Ambivalenz und verunsichert die etablierte Sinnwelt der Aufnahmegesellschaft. Diese Konstellation ist von dem theoretischen Interesse der Autoren getragen und insofern nachvollziehbar. Jedoch liegt das Problem in dieser Konstellation darin, dass die Fremdheitsverhältnisse innerhalb der Aufnahmegesellschaft dadurch ausgeblendet werden. Es wird ein Gesellschaftsbild in der Differenz zum Fremden entworfen, als ob das Problem des Verstehens innerhalb der Aufnahmegesellschaft nicht vorhanden wäre. So spricht Schütz von der unhinterfragbaren Sinnwelt, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft gleichermaßen verinnerlicht und geteilt würde. Dieser Punkt ist deshalb zu betonen, weil gerade dieser Fehler im Kontext des Interkulturalitätsdiskurses heute immer wieder wiederholt wird. Nämlich wird hierin der Eindruck erweckt, als ob das Verstehensproblem innerhalb einer Kultur nie bestünde, während dies bei interkulturellen Begegnungen dies zwangsläufig der Fall sein müsste. Das Differenzverhältnis zwischen dem Eigenen und Fremden ist hier allzu eindeutig, eindimensional und von vorneherein festgeschrieben. Gerade die neueren kulturwissenschaftlichen Diskurse wie die Globalisierungsdebatte, der Postkolonialdiskurs und der Diskurs um die Krise der Repräsentation machen deutlich, dass eine solche Zu- und Festschreibung des Fremden zunehmend problematisch geworden sind. Die kritische Reflexion auf die eigenen Wissenschaften zeigt auf, dass unsere Wissenschaften selbst in dieser durch und durch von Machtver116

KULTURELLE DIFFERENZ UND PROBLEME DER ÜBERSETZUNG

hältnissen besetzten Fremd-Machung (»othering«) der Anderen zutiefst beteiligt waren. Darin ist das Fach Ethnologie sicherlich besonders empfindlich. Auch die Arbeitsteilung zwischen der Soziologie und der Ethnologie ging von dieser festgeschriebenen kulturellen Differenz aus und bestätigte sie durch ihre Forschung immer wieder neu. Betrachten wir die Behandlung des Fremden in den Fächern Ethnologie und Soziologie in ihrer Frühphase näher, so könnte man von einem ambivalenten doppelten Fremdheitsverhältnis sprechen. Auf der einen Seite wird wie bereits erwähnt der Modernisierungsprozess als ein Vorgang der Entfremdung wahrgenommen, woraus die Frage hervorgeht, wie die Gesellschaft überhaupt möglich sei. Doch dieser Prozess wird aus der damaligen Perspektive auf den Okzident beschränkt, wodurch eine Differenz geschaffen wird, die den Okzident und den Orient, den Westen und den Rest und somit die Fächer Soziologie und Ethnologie letztendlich trennt. Die Ambivalenz des Fremdheitsverhältnisses liegt darin, dass das moderne Europa, das den Zustand der wohlvertrauten »Gemeinschaft« hinter sich lassend seine Gesellschaftlichkeit auf das neue Fremdheitsverhältnis aufzubauen wähnt, glaubt in der Fremde das zu entdecken, was es gerade hinter sich gelassen hat und erhebt den universalistischen Anspruch zu wissen, dass dieser Fremde mit der Zeit durch die Modernisierung verschwinden würde. Der entscheidende Punkt hier ist, dass dem Fremden gerade durch diese theoretische Operation das Fremdartige entzogen wird, so dass man in der Fremde nur das Vertraute entdeckt. Wenn Max Weber von der chinesischen Kultur als einem Zaubergarten spricht, meint er damit zugleich den Zustand des Okzidents, den er schon längst hinter sich gelassen hat. Dass man durch seine Forschung im Grunde nichts wirklich Fremdes mehr sehen oder erfassen könne, ist die klassische Selbstkritik der Ethnologie. Diese Selbstkritik besagt, dass sie gerade von ihrer theoretischen Anlage her das Fremde verfehlt. Es mag umstritten bleiben, worin der Verdienst dieses Faches dann liegt, doch liegt die Bedeutung der ethnologischen Forschung in ihrer komplementären Beziehung zur Soziologie zumindest darin, eine klare Trennlinie zwischen dem europäischen Moderne und allen anderen kulturellen Traditionen gezogen zu haben. Das Fremdheitsverhältnis in der Moderne wurde vollkommen anders als in allen anderen fremden Kulturen gesehen. Diese Denkoperation bewirkt aber zugleich, dass eine vorgestellte Homogenität der Moderne in der Differenz zu anderen fühlbar wird. Die moderne Gesellschaft, die im Grunde von Fremden gebildet und getragen wird, hält sich nur durch innere kulturelle Homogenisierung zusammen. Die vertikale Differenz wird von dem Prinzip der Moderne her 117

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geleugnet, und eine allgemein angenommene Wertvorstellung wie die demokratische Verfasstheit oder die Würde des Menschen wird für die Moderne allgemeingültig angenommen. Das innereuropäische Fremdheitsverhältnis der Moderne wurde kompensiert durch die Konstruktion der kollektiven Identität in doppelter Hinsicht. Zum einen wurde die Identität des Westens als ›die Moderne‹ geschaffen, zum anderen wurde ›die Nation‹ zur Grundlage der kollektiven Identifikation. Die Zugehörigkeit zur nationalstaatliche verfassten Gesellschaft überwand kompensatorisch die oben genannte Fremdheit der Mitglieder. Mit diesem Vorgang eng verbunden war die Vorstellung, dass jede nationalstaatlich verfasste Gesellschaft eine eigenständige Kultur besitze, die allen Mitgliedern einen gemeinsamen Sinnrahmen bietet. Vorgestellt wurde die nationale Einheit durch die gemeinsame Kultur unabhängig davon, ob sie ethnisch-kulturalistisch wie im deutschen Fall oder politisch-wertbezogen wie im französischen Fall begründet wurde. Doch stets blieb diese nationale Identifikation von dem Verständnis der westlichen Moderne überlagert, das die Bedeutung des äußeren Fremden bis heute prägt. Aus bisherigen Überlegungen wird ersichtlich, dass der Fremde in mehrerer Hinsicht mit seiner ambivalenten Bedeutung konstitutiv für das Bewusstsein der Moderne war und ist. Während der moderne Vergesellschaftungsprozess wie oben gesehen von einem Bewusstsein der Fremdheit geprägt ist, konstituiert er die äußeren Fremden, wodurch das innere Fremdheitsverhältnis verblendet wird. Darüber hinaus beanspruch das Projekt der Moderne gar die Vernichtung des Fremden, indem es eine universalistische Gesellschaftstheorie aufstellt. An dieser Stelle können wir zumindest vier Formen des Fremden unterscheiden: a) b)

c)

d)

Der innere Fremde, womit das generelle Fremdheitsverhältnis innerhalb der modernen Gesellschaft gemeint ist. Der innere explizite Fremde innerhalb der modernen Gesellschaft wie Delinquenten, Kranke, Arme usf., wie Michel Foucault herausgearbeitet hat (Foucault 1972, 1975). Der intra-westliche Fremde, womit die modernen Menschen außerhalb der eigenen national staatlich verfassten Gesellschaft gemeint sind. (Der Fremde bei Simmel und Schütze fällt weitgehend in diese Kategorie hinein.) Der äußere Fremde, der nicht zur westlichen Moderne gehört.

Bisher wurden die Komplexität und Ambivalenz des Fremden theoretisch erörtert. Um eine Grundlage zur weiteren Vertiefung zu bilden, behandle ich nun das Problem des Verstehens.

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KULTURELLE DIFFERENZ UND PROBLEME DER ÜBERSETZUNG

Das Problem des Verstehens Das Problem des Verstehens stellt sich in dem Moment ein, in dem in der Moderne das Fremdheitsverhältnis verallgemeinert wird. Daher gehen das Konzept des Verstehens und das des Fremden Hand in Hand. So bleiben in allen Verstehensakten gewisse Anteile der Fremdheit übrig, wenn dies auch durch bestimmte emotionale Situationsbezogenheit wie Verliebtheit überdeckt werden mag. Doch muss man immer wieder vor Augen führen, dass es ein Verstehen im wörtlichen Sinne nicht geben kann. Es bleibt immer eine Annahme, jemanden anderen verstehen zu können. Und die gegenseitige Annahme der Verstehbarkeit des Anderen begründet jede Kommunikationssituation, worauf Schütz aufmerksam macht: »Für unsere Zwecke genügt uns die Einsicht, dass auch das Du Bewusstsein überhaupt habe, dass es dauere, dass sein Erlebnisstrom die gleichen Urform ausweise wie der meine.« (Schütz 1974: 138). Und dies basiert widersprüchlicherweise auf einer intersubjektiven Ignoranz, dass ein Verstehen möglich sei, obwohl wir niemals genau wissen können, was der Kommunikationspartner wirklich denkt (Hahn 1994: 145). Insofern ist der Begriff des Verstehens verführerisch, denn er verweist auf ein unerreichbares Ideal und verblendet den Blick auf seine Grundlage, die nichts anderes als brüchig ist. Der schöne Schein des gegenseitigen Verstehens beruht also auf das Nicht-Verstehen. Doch das Gelingen der Kommunikation gründet sich auf die alltägliche Erfahrung der gegenseitigen Annahme der Verstehbarkeit, dass bestimmte Absicht und Vorhaben auf der praktischen Ebene erreicht werden. Eine Vertrautheit in Opposition zur Fremdheit bedeutet in diesem Kontext, dass man diese Annahme der Verstehbarkeit reflexionslos auf die kommunikative Situation anwenden kann. Diese Vertrautheit beruht, wie Schütz aufzeigt, auf der gemeinsam geteilten Zeit. Die gemeinsam geteilte Erinnerung ist die Grundlage der sozialen Vertrautheit (vgl. Sommer 1990: 140). Doch unsere Alltagserfahrung lehrt uns ebenso, dass diese soziale Vertrautheit in welcher Konstellation auch immer grundsätzlich in Brüche gehen kann. Jedoch bleibt hier weiter festzuhalten, dass in jedem Verstehensakt ein gewisser Anteil von Projektion des Anderen aus der eigenen Perspektive enthalten ist. Unabhängig davon, wie gut wir den Kommunikationspartner kennen, machen wir stets ein Bild von ihm und überprüft es während des Kommunikationsprozesses. 1 Man könnte hier vielleicht sagen, dass die lebendige Kommunikation von der beiderseitigen Bereit1

Ich entlehne das Projektionskonzept von Sigmund Freud und wende es auf das allgemeine Problem der Kommunikation an. Diesen Hinweis verdanke ich Christian Geulen. 119

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schaft aufrechtgehalten wird, das Bild des jeweiligen Partners durch den Kommunikationsprozess hindurch immer wieder zu revidieren und neu zu entwerfen. Häufige kommunikative Probleme treten in dem Moment auf, in dem man den Partner in einer Typisierung festschreiben und in diesem Sinne »vollständig« verstehen zu können glaubt. Wir werden später sehen, dass dieses Konzept der Projektion bei der Behandlung des Themas der Übersetzung eine wichtige Rolle spielen wird. Wir können mit dem Konzept des ›vollkommenen Verstehens‹ und dem des ›radikalen Fremden‹ eine graduelle Skala aufbauen: An einem Pol ist das Verstehen zu positionieren und an dem anderen Ende die radikale Fremdheit. Diese beiden Polen sind Konzepte, die in ihrer Radikalität so nicht in der Realität vorkommen können. Sowohl das vollkommene Verstehen eines anderen als auch die absolute Unerreichbarkeit eines anderen sind Konstrukte eines Denkspiels, das die Annäherung an das Problem des Fremden erleichtern soll. Bei der Problematik des Fremdverstehens bewegen wir uns auf dieser Skala zwischen den beiden extremen Polen, ohne jemals einen dieser Polen zu erreichen. Auf dieser Skala können wir irgendwo in der Mitte vorläufig einen Strich ziehen, der idealtypisch zwei unterschiedlichen Verstehensakte unterscheidet. Das vollkommene Verstehen

Die radikale Fremdheit

Auf der einen Seite in Richtung des vollkommenen Verstehens können wir ein Verstehen platzieren, das einen gemeinsam geteilten Rahmen vorsieht. Auf der anderen, rechten Seite, fehlt dieser Rahmen. Dies würde der gängigen Unterscheidung zwischen der intra- und der interkulturellen Kommunikation entsprechen. Demnach bedeutet eine interkulturelle Kommunikation die Situation, in der die beiden Kommunikationspartner davon ausgehen, dass ihre Annahmen der Verstehbarkeit nicht gelten oder im Laufe des Gesprächs als hinfällig erweist. Das Alltagsleben beruht weitestgehend auf der Annahme, dass ein gemeinsam geteilter Sinn zwischen den Akteuren vorliegt, so dass man in der Regel davon ausgehen kann, eine Handlungsratlosigkeit käme so nicht ohne weiteres auf. Der gemeinsam geteilte Rahmen bietet auch Verhaltensanweisungen für die Fälle, wenn das gegenseitige Verstehen nicht so wie erwartet eintrifft. Das Heimtückische dabei ist, dass durch die Existenz eines solchen gemeinsam geteilten Rahmens die Illusion entstehen kann, dass man selbstverständlich den Zustand des vollkommenen Verstehens erreichen könne. Die Alltagsroutinen bewirken die Naturalisierung der ursprüng120

KULTURELLE DIFFERENZ UND PROBLEME DER ÜBERSETZUNG

lich vorläufigen Annahmen als bestehende Fakten. Für jemanden, der sich in diese naturalisierte Sinnwelt einigelt, erscheint dann der Fremde bedrohlich, weil er durch seine Existenz allein auf die Flüchtigkeit und Brüchigkeit seiner Sinnwelt hinweist. Doch das Problematische bei der Betrachtung des Kommunikationsprozesses tritt in dem Moment ein, in dem man den gemeinsam geteilten Kommunikationsrahmen auf die Herkunftskultur in der Einheit der Nationalstaatlichkeit festschreibt. Diesen Fehler begeht die herkömmliche Vorstellung der interkulturellen Kommunikation, in dem sie die Differenz zwischen den von den Kulturen vorgegebenen Rahmen verabsolutiert. Dieser gängige Fehler beruht auf dem oben erwähnten Konzept der kollektiven Identität im Rahmen einer nationalstaatlich verfassten Gesellschaft. Das moderne Konzept des Nationalstaates beruht auf der kulturellen Homogenität seiner Mitglieder und trachtet von seinem Grundprinzip her nach der Eliminierung des Fremden. Hier ist die ideologische Annahme wirksam, dass innerhalb einer nationalstaatlich verfassten Gesellschaft ein gemeinsamer geteilter Sinnrahmen wirksam sei oder sein sollte. Diese Annahme war konstitutiv für eine Gesellschaft, in der das bereits thematisierte innergesellschaftliche Fremdheitsverhältnis grundlegend vorherrschte. Also konnte eine nationalstaatlich verfasste Gesellschaft nur auf der Grundlage einer »vorgestellten Gemeinschaft« (Anderson) konstituiert werden.2 Dieser existentielle Charakter der Sozialität ist der Hintergrund dafür, dass der kulturelle Rahmen im Kontext der Kommunikation überbetont wird. Doch die aufgestellte Skala verhilft uns, diese kulturalistische Betrachtung zu relativieren. Das Verstehens- bzw. Fremdheitsverhältnis ist ein allgemeines Problem, in dem die Frage der Interkulturalität nur eine untergeordnete Rolle spielt. Denn das Problem des fehlenden gemeinsam geteilten Sinnrahmens kann in jeder Kommunikationssituation unabhängig von der kulturellen Herkunft der Beteiligten auftreten. Denn gerade der entscheidende Punkt einer modernen Gesellschaft liegt ja in der Heterogenität der Sinnwelten. Jedes Individuum gehört zu unterschiedlichen Sinnwelten an, so dass von einem vorsausetzungslos geteilten Sinnrahmen nur bei bestimmten Kommunikationssituationen wie zwischen zwei Mitglieder einer Familie ausgegangen werden kann (wenn selbst dieser immer zweifelhaft bleibt). Das Verstehensproblem

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Es ist hier zu betonen, dass dieser Vorgang natürlich nicht nur ideologischer Natur war. Die Nationenbildungsprozesse sind überall u. a. von einer Homogenisierung des Wissens der Gesellschaftsmitglieder getragen, die von solchen Institutionen wie Schule und Universität eingeleitet wurde. 121

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kann daher prinzipiell in jeder Situation auftreten, wenn dies auch von der Ideologie der vorgestellten Gemeinschaft häufig verdeckt sein mag.3 Es ist also davon auszugehen, dass in einer modernen Gesellschaft durch funktionale Differenzierung prinzipiell mehrere Sinnwelten existieren, so dass zur alltäglichen individuellen Kommunikationshandlung die Fähigkeit gehört, sich von einer Sinnwelt zur anderen zu wechseln. Es gehört zur Banalität des modernen Lebens, dass wir in der eigenen Familie eine andere Sprache bedient und auch das Selbst anders verortet als in der Berufswelt. Insofern gehört die Vermittelungsfähigkeit von der Sinnwelt zu anderen zur grundlegenden kommunikativen Kompetenz eines jeden. Die Pluralität der Sinnwelten in den außereuropäischen Gesellschaften ist sogar häufig durch die multikulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung noch höher. Damit kommen wir von der Verstehensproblematik zu der der Vermittlung zwischen unterschiedlichen Sinnwelten.

Fremdkulturalität und Übersetzung Für die Vermittlung unterschiedlicher Sinnwelten steht der Ausdruck Übersetzung zur Verfügung. Dabei sollten wir zunächst von dem Modell ausgehen, in dem um die Vermittlung unterschiedlicher Sprachen geht. Das gängige Verständnis der Übersetzung ist also die Vermittlung zwischen zwei Nationalsprachen, wie etwa zwischen dem Englischen und dem Chinesischen. Im Hintergrund treffen wir hier wieder auf die Konstellation, die wir bereits oben bei der Behandlung des Fremden gesehen haben. Erst die Generierung der unterschiedlichen Nationalsprachen lässt die Notwendigkeit der Übersetzung bewusst werden. Der Begriff der Übersetzung ist daher mit dem Konzept der kulturellen Differenz untrennbar verbunden. Hier wird schon vielfach erwähnte Ambivalenz des Fremden wieder spürbar. Die Moderne konstruiert die kulturelle Differenz und nivelliert sie zugleich. Von kulturellen Differenzen können wir erst sprechen, seitdem wir die Einheit der Menschheit annehmen und sie in unterschiedliche Kulturen unterteilen und vergleichen (vgl. Baecker 2003: 12 f.). Erst diese Sicht der Differenz macht die Übersetzung notwendig und ermöglicht sie zugleich. Das Konzept der Übersetzung legt zunächst die Annahme einer universalen Sinnwelt nahe, die hinter allen Sprachen der Welt verborgen liegt. Nach dieser Vorstellung sind unterschiedliche Sprachen nur ver3

Damit wird aber nicht verneint, dass in den Kommunikationen zwischen den Mitglieder zweier entfernten Kulturen verstärkt das Verstehensproblem auftreten kann.

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KULTURELLE DIFFERENZ UND PROBLEME DER ÜBERSETZUNG

schiedene Ausdrücke des gemeinsamen universalen Sinns. Demnach dient dieser gemeinsame universale Sinn als tertium comparationis und garantiert somit die Richtigkeit einer Übersetzung. Hierbei wird angenommen, dass der Sinngehalt trotz Kontextwechsels identisch bleibt. Ein fremdsprachiges Wörterbuch ist auf diesem Prinzip aufgebaut, auf dem jedes Wort eine Äquivalenz in einer anderen Sprache hat. Diese Idee der gleichbleibenden Bedeutung ist jedoch ebenso heimtückisch wie das Konzept des vollkommenen Verstehens. Denn beim näheren Hinsehen stellt sich heraus, dass ein völliges Äquivalenzverhältnis zwischen zwei Ausdrücken zweier Sprachen illusorisch ist. Walter Benjamin verdeutlicht bekanntlich diesen Umstand am Beispiel des deutschen Wortes ›Brot‹ im Vergleich zum französischen ›pain‹ (Benjamin 1991). So geht die neuere translatorische Forschung davon aus, dass eine unveränderliche Übertragung des Sinns von einem zum anderen Kontext nicht weiter tragfähig ist (vgl. Vermeer 2002). Der Sinngehalt eines jeden Wortes, eines jeden Satzes und eines jeden Textes verändert sich durch die Übersetzung. Dabei gibt es keine universale Sinnstruktur, die hinter jeder Sprache steht und die Angemessenheit der Übersetzung garantiert. Doch trotz dieser folgenreichen Feststellung bleibt die Idee der Äquivalenz konstitutiv für das Konzept der Übersetzung. Wie beim Vorgang des Verstehens ist hier wiederum die Annahme für das Konzept der Übersetzung überhaupt konstitutiv, dass der Sinn, der übersetzt wird, in dem neuen Kontext in etwa die gleiche Bedeutung hat wie im Ursprungskontext. Nur die Annahme einer gleichbleibenden Bedeutung garantiert, dass die sprachliche Handlung der Übersetzung gelingen kann. Doch die Gültigkeit der Übersetzung lässt sich wohl nur pragmatisch überprüfen. Durch die Operation der Analogiekonstruktion vergleichen wir Handlungsvollzüge und andere Geschehnisse in den Ursprungs- sowie Zielkontexten und stellen bei gelungenen Übersetzungen Ähnlichkeiten und Differenzen fest, die zur Vertiefung des Verständnisses sowohl des Eigenen als auch des Fremden führen kann. Aber nichts garantiert, dass der Ursprungssinn und der übertragene Sinn so übereinstimmen, dass man von einer Identität der Bedeutung sprechen könnte. Übersetzung wurde in den westlichen Gesellschaften lange Zeit vernachlässigt, weil man von der Äquivalenzvorstellung ausgehend sie als eine Hilfsmaßnahme der Verständigung ansah. Übersetzung ist nach dieser Ansicht stets ein hilfsmäßiger Ersatz für das Original, also eine Kopie, die in einen fremden Kontext übertragen wird. So haftet der Übersetzung die Konnotation der Zweitrangigkeit. Aus meiner Perspektive wird der Blick genau andersherum umgewendet, um darauf aufmerksam zu machen, dass Übersetzung mit seinem Illusionscharakter 123

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des Als-ob konstitutiv für die Kommunikation überhaupt ist. Ähnlich wie im Vorgang des Verstehens ist die Ignoranz der unübersetzbaren Sinnanteile konstitutiv für jeden Übersetzungsvorgang. In diesem Sinne spricht Hans Vermeer davon, dass »[e]rst die Unmöglichkeit des Übersetzens […] das Übersetzen möglich [macht]« (Vermeer 2002: 125). Das bisher Dargelegte ist ein theoretisches Ergebnis meiner kulturvergleichenden Forschung, in der ich das Thema der Übersetzung in der japanischen Kultur auf unterschiedlichen Ebenen untersucht habe. Hier soll ein kurzes Beispiel zum individuellen Biographiekonzept diesen Umstand veranschaulichen: Das Konzept der individuellen Lebensführung in der japanischen Gesellschaft ist ohne die Übernahme verschiedener Konzepte, Theorien und Institutionen aus dem westlichen Kontext seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht denkbar. Für die Konstitution der neuen nationalstaatlich verfassten Gesellschaft wurde die Einführung und Verbreitung des modernen selbständig rational handelnden Individuums unumgänglich erachtet. Dafür wurden verschiedene sozialwissenschaftliche Werke aus den westlichen Sprachen ins Japanische übersetzt. Eines der einflussreichsten Übersetzungen damals war »Self-Help« (1859) von Samuel Smiles (1812-1891) durch den japanischen »Aufklärer« Nakamura Masanao (1832-1891), die unter dem Titel »Seigoku risshi hen (Erfolgreiche Lebensführungen im Westen)« 1870 veröffentlicht wurde und zu den Bestsellern dieser Zeit zählte. Dieses Buch sammelt Biographien erfolgreicher Personen aus den europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften, die die Möglichkeit des gesellschaftlichen Erfolges durch persönlichen Einsatz veranschaulichen. Dieses Konzept des erfolgreichen Lebenslaufes wurde durch die neu eingerichteten Bildungsinstitutionen wie Schule und Universität verbreitet. Auf diese Weise ging das aufklärerische Individuumskonzept von Anfang der japanischen Modernisierung an in die Konzeptualisierung des Selbst ein, wenn auch dies später im Zuge des verstärkten Nationalismus massiv uminterpretiert wurde. Dennoch bildet dieser Übersetzungs- und Übernahmeprozess des westlichen Individuumskonzeptes die Grundlage der Semantik, die bis heute die Vorstellung zum Verhältnis zwischen Individuen und Gesellschaft in Japan prägt. Diese Semantik ist auch die Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Methode der lebensgeschichtlichen Interviews. In den lebensgeschichtlichen Erzählungen der Informanten in Japan findet man immer wieder Verweise auf solche aus dem westlichen Kontext übersetzten Konzepte, die auch für erzählerische Kohärenz konstitutiv sind (Shimada et al. 1997). Die wichtigen Markierungspunkte einer lebensgeschichtlichen Erzählung wie die Ausbildung, das Berufsleben, aber auch die Familiengründung sind ohne die übernommenen Konzepte nicht dar124

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stellbar. Die Ergebnisse der Analyse solcher lebensgeschichtlichen Interviews habe ich an anderen Stellen bereits vorgestellt (Shimada 2001, 2006). Darin wird ersichtlich, dass zum einen wie sehr das Konzept des Selbst im japanischen Kontext von den vom Westen übernommenen Semantiken geprägt ist, dass aber zum anderen ein anderes Erzählmuster als im Westen zur Erscheinung tritt, in dem beispielsweise die Perspektive der Selbstverwirklichung kaum eine Rolle Spielt. Der Hinweis auf die empirische Ebene verdeutlicht die bereits oben erwähnten Befunde, dass das Problem des Fremden aus einem ambivalenten Mischverhältnis zwischen Eigenem und Fremdem hervorgeht. Diese theoretische Perspektive auf das Problem des Fremden lenkt den Blick auf das Translatorische, das quer zwischen verschiedenen Sinnwelten liegt. Das Erkenntnisinteresse dieser Forschungsperspektive liegt nicht in der Untersuchung der bereits bestehenden Sinnwelten oder Kulturen, sondern in der Untersuchung des Prozesses der Relationalität, durch den das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem erst als solches hervorgeht und darauf sich ständig verändert und stets von den Beteiligten ausgehandelt wird. Das Konzept der Übersetzung hat den Vorteil, genau diesen Vorgang genau analysieren zu können, in dem das Fremde und das Eigene in ein Wechselwirkunsverhältnis treten und gerade durch gegenseitige Übernahme so etwas wie kulturelle Differenz konstituieren. Mit dem Konzept der Übersetzung hier meine ich den Vorgang, in dem ein in einer fremden Sprache ausgedrückter Sinnzusammenhang vor dem eigensprachigen Sinnhorizont interpretiert und in den eigenen Kontext übertragen wird. Bei den Interpretationen prägen zwangsläufig die oben erwähnten Projektionen des Übersetzers seine Perspektive. Hierbei ist wohl kaum möglich die individuelle und kulturelle Ebene der Projektion voneinander zu trennen. Dabei bleiben die beiden Beteiligten keineswegs identisch, sie verändern ständig durch diesen Prozess und entwerfen immer wieder das Eigen- und das Fremdbild neu. Es ist hierbei davon auszugehen, dass das Bild des Fremden, das in diesem Prozess entsteht, nicht immer den Eigeninterpretationen des Fremden über seine Wirklichkeit entspricht. Das Bild des Fremden wird stets aus der eigenkulturellen Perspektive entworfen, in die häufig Projektionen eingehen. Insofern hängen Übersetzung und Projektion eng miteinander zusammen. Durch Übersetzung wird die Annahme vermittelt, dass man den Fremden verstehe. Wie wir durch die Ausführungen zum Problem des Verstehens gesehen haben, gehen in diesen Akt die Projektion aus der eigenen Kontextualität zwangsläufig ein, so dass durch den Prozess der Übersetzung ständig das Bild des Fremden aus der Perspektive der eigenen Kultur entworfen 125

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wird. In einer direkten Kommunikation werden diese gegenseitig projizierten Fremdbilder im Grunde immer wieder thematisiert und ausgehandelt, so dass eine Annäherung an die gegenseitige Projektionen möglich zu sein scheint, wenn auch die Wirklichkeit des Anderen immer unergründlich bleiben muss. Dieser Vorgang ist im Grunde allgemeingültig für jede Kommunikation.

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KULTURELLE DIFFERENZ UND PROBLEME DER ÜBERSETZUNG

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Konstitutionsprinzipien ›kultureller Differenz‹: Zur Ana l ys e de r Konstruktion kultureller Grenzbestimmungen in grundlagentheoretischer Ab sicht JOCHEN DREHER

Theoretische Grundlagen ›kultureller Differenz‹ Eine Auseinandersetzung mit dem, was in den Sozialwissenschaften als ›Kultur‹ gekennzeichnet wird, und in diesem Zusammenhang mit dem Phänomen der ›kulturellen Differenz‹, erfordert eine Begriffsklärung und theoretische Fundierung dieser wissenschaftlichen Konstruktionen. Bekanntlich ist für Max Weber ›Kultur‹ ein »vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens« (Weber 1988 [1904]: 180). Die Auffassung von Kultur als dem sinnstiftenden Symbolsystem einer Gesellschaft hat dem Kulturbegriff eine Schlüsselstellung verschafft und – einhergehend mit der Postulierung eines ›cultural turn‹ – zur Etablierung der Kulturwissenschaften geführt, welche heutzutage vielfach als Ausgangsposition für die Human- und Geisteswissenschaften betrachtet werden. Klaus E. Müller zufolge hat »der vielbeschworene ›cultural turn‹« jedoch »eher, im Wellenschlag postmoderner Verwirbelungen, zu einer inflationären Lysierung des Kulturbegriffs und damit zur Mollifizierung seines analytischen Leistungsvermögen geführt« (Müller 2003: 10). So ist beispielsweise von »Essens«- oder »Restaurantkultur«, von »Spiel«-, »Theater«- oder »Jugendkultur« die Rede, man spricht von »Unternehmens«-, »Vertrauens«- oder »Wissenschaftskultur« und bemerkenswerterweise werden kulturelle Vermischungsprozesse mit na129

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turwissenschaftlichen Metaphern wie »Amalgamierung«, biologistisch gar als »Hybridisierung« bezeichnet. Was ist unter ›Kultur‹ zu verstehen, wie wird ›kulturelle Differenz‹ konstituiert und wer muss aus soziologischer Perspektive als ›Träger‹ der Kultur verstanden werden? Im Folgenden wird eine sozialwissenschaftliche Position vertreten, die auf der Basis qualitativ-empirischer Forschung ermittelte, wissenssoziologische Erkenntnisse zur Konstruktion ›kultureller Differenz‹ als Ansatzpunkt für grundlagentheoretische Überlegungen zur Konstitution dieses Phänomens verwendet. Für eine Analyse des sozialen Phänomens der ›kulturellen Differenz‹ erweist sich eine Auseinandersetzung mit dessen theoretischen Grundlagen als entscheidend, da nur eine Klärung von dessen Voraussetzungen seine adäquate Beschreibung ermöglicht, wie im Folgenden verdeutlicht werden soll. In dieser Hinsicht werden unterschiedliche Ebenen der Begriffsbildung aufgezeigt, auf welchen einerseits die soziale Konstruktion ›kultureller Differenz‹ aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, und zum anderen die intersubjektive Konstitution1 dieses Phänomens aus protosoziologischer bzw. phänomenologischer Sicht erklärt wird. Dafür werden die Ergebnisse einer materialen, sozialwissenschaftlich-empirischen Analyse »interkultureller Arbeitswelten« mit bewusstseinstheoretischen Erkenntnissen hinsichtlich der Konstitution ›kultureller Differenz‹ konfrontiert. In den im Rahmen der empirischen Studie analysierten Interaktionssituationen der Arbeitskontexte werden in der Begegnung mit dem ›Anderen‹ unterschiedliche Grade der ›Fremdheit‹ bzw. ›Vertrautheit‹ konstituiert, die in bestimmten Fällen hauptsächlich mit der nationalkulturellen Herkunft des einzelnen in Verbindung gebracht werden. Subjektive Fremdheitserfahrungen werden über im Wissensvorrat der individuellen Akteure vorhandene symbolische Konstruktionen erklärt und ›material‹ mit ›Sinn‹ versehen. Das ›Fremde‹ kann so »erklärt« und im Rahmen der alltäglichen Lebenswelt symbolisch verankert werden und dementsprechend die Basis für eine Differenzierung der ›Kulturen‹ bilden. Für die Beschreibung der allgemeinen Konstitutionsprinzipien wird stufenweise ein analog zur ›phänomenologischen Reduktion‹ (Edmund Husserl) entworfenes Verfahren für die Beschreibung allgemeiner »Mechanismen« der Konstitution ›kultureller Differenz‹ verwendet. Die sich empirisch abzeichnende »Unvereinbarkeit der Kulturen«, ›kulturelle

1 Wenn in diesem Zusammenhang von ›intersubjektiver Konstitution‹ die Rede ist, so wird der Begriff der Konstitution in Anlehnung an Husserl nicht rein egologisch verstanden, sondern für die Analyse der Grundlagen sozialer Phänomene angepasst. 130

KONSTITUTIONSPRINZIPIEN ›KULTURELLER DIFFERENZ‹

Differenz‹, deren Überwindung sich als nahezu unerreichbar zeigt, kann so auf allgemeine, subjektiv festgelegte Konstitutionsprinzipien zurückgeführt werden. Eine Beschäftigung mit den grundlagentheoretischen Begründungszusammenhängen sozialwissenschaftlicher Forschung, die auch für die Analyse konkreter sozialer Phänomene von entscheidender Bedeutung ist, kann insbesondere durch eine Bezugnahme auf phänomenologisches Denken erreicht werden. Die im Folgenden entwickelte Auseinandersetzung mit dem sozialen Phänomen der ›kulturellen Differenz‹, vor allem mit dessen konstitutionstheoretischen Bedingungen, wurde durch die Überlegungen Thomas Luckmanns zu einer Protosoziologie inspiriert, einer grundlagentheoretischen Position, die darauf abzielt, die Strukturen der subjektiven Orientierung in der Welt freizulegen (vgl. Luckmann 1980 [1973], 1980 [1970]). In seinen protosoziologischen Untersuchungen geht es Luckmann darum, die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Soziologie ausgehend von der Phänomenologie Edmund Husserls (1987 [1931], 1992 [1913]) sowie der phänomenologisch orientierten Soziologie von Alfred Schütz (2003 [1955], 2003 [1945], 2004 [1932]) zu beschreiben. Vorliegende Analyse ist geleitet von der Zielsetzung, in grundlagentheoretischer Absicht die Konstitutionsprinzipien des Phänomens der ›kulturellen Differenz‹ zu erforschen. Zum einen geht es dabei aus soziologischer Perspektive um die Erforschung der sozialen Konstruktionen, der kulturellen Zuschreibungen, aufgrund welcher individuelle Akteure sich voneinander abgrenzen bzw. entsprechenden sozialen Gruppen zuordnen. Zum anderen jedoch – und darauf richtet sich das besondere Interesse dieser Überlegungen – widmet sich die Untersuchung der Beschreibung der erkenntnistheoretischen Grundlagen, präziser formuliert, der subjektiven Voraussetzungen der Herausbildung von ›kultureller Differenz‹: Sie konzentriert sich ausgehend von phänomenologischen Prämissen auf die Analyse der Konstitutionsprinzipien kultureller Differenz. Die Problematik einer möglichen Verbindung dieser beiden unterschiedlichen Perspektiven wird mit folgender Fragestellung deutlich werden: Können die Erkenntnisse aus materialen empirischen, beispielsweise wissenssoziologischen Analysen der ›kulturellen Differenz‹ als Ausgangspunkt verwendet werden, um protosoziologische Beschreibungen der prinzipiellen lebensweltlichen Gegebenheiten vorzunehmen, die die Basis für die Konstruktion kultureller Unterscheidungen bilden? Kann man sich durch Erkenntnisse zur Konstruktion von ›Kultur‹ und ›kultureller Differenz‹, die aus empirischer Forschung resultieren, für

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die Beschreibung der phänomenologischen Grundlagen der Herausbildung des Phänomens inspirieren lassen? Wenn derartige Verbindungen zwischen Disziplinen hergestellt werden, muss berücksichtigt werden, dass es sich bei beiden methodischen Vorgehensweisen – jene der Phänomenologie und der empirischen Sozialforschung – um grundsätzlich verschiedene ›Forschungsaktionen‹ handelt. Man kann, wie noch verdeutlicht werden wird, von einer ›Parallelaktion‹ von phänomenologischer und sozialwissenschaftlicher Forschung sprechen.

Z u r D i f f e r e n z vo n p h ä n o m e n o l o g i s c h e r u n d s o z i a lw i s s e n s c h a f t l i c h e r F o r s c h u n g Die Phänomenologie ist als subjektphilosophische Position in der Tradition von Immanuel Kant speziell für eine Beschreibung der epistemologischen Voraussetzungen der Konstitution sozialer Phänomene geeignet, da – im Sinne des ›methodologischen Individualismus‹ Max Webers (vgl. Heine 1983) – der individuelle Akteur, der mit seinem Handeln einen subjektiven Sinn verfolgt, fokussiert werden muss. Weber zufolge muss die sozialwissenschaftliche Erkenntnis des Kulturellen beim Individuellen beginnen: »weil […] keine Erkenntnis von Kulturvorgängen anders denkbar ist, als auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat« (Weber 1988 [1904]: 180; Hervorhebung im Original). Eine phänomenologische Analyse dessen, was darunter zu verstehen ist, wenn individuell Handelnde mit ihrem Handeln einen subjektiven Sinn verbinden, wurde bekanntlich von Alfred Schütz vorgenommen (2004 [1932]). Die Grundlagen für die Konstitution ›kultureller Differenz‹ sind im Rahmen der hier entwickelten Perspektive im subjektiven Bewusstsein des individuellen Akteurs zu suchen. Edmund Husserl veranschaulicht im »Nachwort« zu seinen Ideen I, in welchem Sinne die phänomenologische Methode darauf abzielt, das »universale subjektive Sein und Leben« zu erforschen. Es geht ihm darum, zu zeigen, wie die »›transzendentale Subjektivität‹ als die Urstätte aller Sinngebung und Seinsbewährung« beschrieben werden kann (Husserl 1992 [1930]: 139). Die Phänomenologie dient also der Rückfrage nach den letzten erdenklichen Erkenntnisvoraussetzungen, die Husserl zufolge in der »transzendentalen Subjektivität« festgelegt sind. Es geht ihm um die Freilegung des Apriori des transzendentalen Mög-

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KONSTITUTIONSPRINZIPIEN ›KULTURELLER DIFFERENZ‹

lichkeitsraums mit dessen Wesensstruktur. Der phänomenologische Idealismus2 leugnet nicht die wirkliche Existenz der realen Welt oder der Natur, wie Husserls Kritiker ihm häufig vorwarfen. Das Ergebnis einer phänomenologischen Sinneserklärung der Seinsweise der realen Welt und einer erdenklichen Welt überhaupt verdeutliche, so Husserl, dass nur die transzendentale Subjektivität den Seinssinn des absoluten Seins habe und dementsprechend »irrelativ« sei (ebd.: 153). Die reale Welt hingegen ist immer relativ zur transzendentalen Subjektivität, da sie ihren Sinn als intentionales Sinngebilde der transzendentalen Subjektivität erhält. Husserls Absicht war es, der Philosophie durch die Einführung einer exakten Methode den Rang einer strengen Wissenschaft zu geben. Entscheidend dabei ist, dass die Perspektive der Phänomenologie »egologisch« und nicht »kosmologisch« ist und ihre Methode, die phänomenologische Reduktion oder Epoché, »reflexiv« vorgeht und nicht »induktiv« (Luckmann 1979: 196). Die Methode der phänomenologischen Reduktion, die hauptsächlich ausgehend von der des cartesianischen Zweifels entwickelt wurde, vollzieht den Rückgang auf den Anfang aller Erfahrung, auf das transzendentale Bewusstsein. Dieses ›reine Bewusstsein‹, das ›phänomenologische Ego‹, stellt kein Fragment der existierenden Welt dar und kann als letzter und absoluter Gründungszusammenhang verstanden werden. Der phänomenologischen Vorgehensweise geht es darum, die Voraussetzungen jeglicher Erfahrung methodisch und kontrolliert dadurch zu erfassen, dass die intentionalen Eigenschaften des Erfahrungsstromes beschrieben werden (ebd.: 197). So betrachtet konzentriert sich die Phänomenologie darauf, zu beschreiben, wie sich die Gegenstände im subjektiven Bewusstsein ›konstituieren‹, weshalb die methodische Vorgehensweise der Phänomenologie unter anderem auch als ›Konstitutionsanalyse‹ gekennzeichnet wird. Die methodische Ausrichtung der Phänomenologie ist ebenso systematisch wie irgendeine empirische Wissenschaft, ihr Zuschnitt ist jedoch völlig anders – er ist egologisch und konzentriert sich auf die Prozesse, durch die die Welt als eine spezifisch menschliche aufgebaut wird. Die empirischen Wissenschaften, und so auch die Sozialwissenschaften, können im Gegensatz zur Phänomenologie ontologisch nicht neutral sein; sie müssen dem Priorität geben, was sie für die wirkliche Welt halten. Im Unterschied zur Phänomenologie sind die Sozialwissenschaften prinzipiell mundan und nicht auf das transzendentale ego bzw. transzen-

2 Diese erkenntnistheoretische Position geht davon aus, dass Objekte ohne Referenz auf das subjektive Bewusstsein nicht existieren können. 133

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dentale alter ego bezogen, sondern auf Phänomene der mundanen Intersubjektivität. Die Sozialwissenschaften haben in diesem Sinne nicht direkt mit den Konstitutionsphänomenen zu tun, die mit Hilfe der phänomenologischen Reduktion beschrieben werden. Sie befassen sich, methodologisch bzw. wissenschaftstheoretisch betrachtet, als eidetische mundane Wissenschaften mit den Phänomenen der Kultur- und Sozialwelt (Schütz 1971 [1940]: 138). Für die Sozialwissenschaften behalten aber – und dies ist für vorliegende Überlegungen von zentraler Bedeutung – die in phänomenologischer Reduktion durchgeführten Analysen Geltung und sind deshalb auch für sozialwissenschaftliche Fragestellungen relevant. Aus diesem Grund sind die Erkenntnisse Husserls von entscheidender Bedeutung für die Begründung einer Theorie der Sozialund Kulturwissenschaften. Es gilt jedoch festzuhalten, dass sozialwissenschaftliche Forschung sich auf die Analyse der in der natürlichen Einstellung gegebenen Konstruktionen von Kultur- und Sozialwelt konzentriert. Die Daten der Sozialwissenschaften werden nicht a priori vom Forscher definiert, sie sind im menschlichen Handeln vorkonstituiert und wurden darüber hinaus auch schon vom individuellen Akteur vorinterpretiert. Dementsprechend ist die Objektivität der Daten, wie sie von sozialwissenschaftlich Forschenden verwendet werden, immer schon intersubjektiven Ursprungs.

Schnittstellen Es wird deutlich, dass es sich bei phänomenologischer und sozialwissenschaftlicher Forschung um unterschiedlich konzipierte Unternehmungen handelt, die sich jedoch in spezifischer Hinsicht auch überschneiden. Jeder Phänomenologe, der stufenweise Reduktionen durchführt – und das ist für diese Argumentation der springende Punkt –, muss auf konkrete Erfahrungen, die er sich zum fokussierten Phänomen schon einmal angeeignet hatte, zurückgreifen. Er kann nicht unabhängig von den Konstruktionen der Sozialwelt, die in seinen Erfahrungen auftauchen, zu den lebensweltlich verankerten Konstitutionsprinzipien vorstoßen. Für eine Analyse der konstitutionstheoretischen Grundlagen ›kultureller Differenz‹ wird vom grundlegenden Verhältnis von Konstruktion und Konstitution ausgegangen: Für diese konzeptuelle Unterscheidung ist zentral, dass historische Welten in konkreten Erfahrungen gesellschaftlich konstruiert werden und sich Wirklichkeit auf der Basis von allgemeinen Strukturen der Erfahrung in Bewusstseinstätigkeiten konstituiert (Luckmann 1999: 18 f.). Hinsichtlich der sozialwissenschaftlichen 134

KONSTITUTIONSPRINZIPIEN ›KULTURELLER DIFFERENZ‹

Ebene steht die Erforschung der im gesellschaftlichen Handeln konstruierten historischen menschlichen Welten im Vordergrund, die rekonstruiert werden sollen, wobei sich die phänomenologische Konstitutionsanalyse auf die einzige unmittelbare Evidenz bezieht, die jedem individuell Handelnden immer, unabhängig davon, welche wissenschaftliche Position vertreten wird, zur Verfügung steht, nämlich auf das eigene Bewusstsein. Auf der Suche nach den Prinzipien der Konstitution der ›kulturellen Differenz‹ geht es nun darum, die allgemeine Matrix (Luckmann 1983: 516 ff.) als formale Strukturgegebenheit des Bewusstseins zu beschreiben, in welcher die sinngenerierenden Mechanismen festgelegt sind, die dafür verantwortlich sind, dass die lebensweltliche Realität überhaupt mit Bedeutung besetzt ist. Die ›Lebenswelt‹, wie sie von Alfred Schütz dargestellt wird, ist immer schon ein Produkt des konkreten Vollzugs derartiger Mechanismen. Diese verfügen – wie Ilja Srubar argumentiert – über eine eigene Selektivität und Plastizität, durch welche die Lebenswelt eine historische Form angenommen hat. Die Lebenswelt ist natürlich empirisch nur in Form konkreter Kulturwelten und ihrer unterschiedlichen Kulturformen anzutreffen (Srubar 2004: 2). Die gleichen Mechanismen, so die Auffassung, durch die alle Kulturformen hervorgebracht werden (Identität), bewirken auch ihre Andersartigkeit (Differenz). Unter Rekurs auf die ethnomethodologischen Studien Harold Garfinkels (2003 [1967]: 33 f.) gelangt Srubar zu folgender Überlegung: »Die Praktiken, mit deren Hilfe Menschen eine Situation, ein Sprachspiel hervorbringen, und diejenigen, durch welche sie diese Situation/das Sprachspiel verstehen, sind die gleichen« (Srubar 2004: 4). Daraus wird abgeleitet, dass die menschliche Aktivität, in der die Produktion und die Ausdifferenzierung von Kulturformen verankert sind, auch immer objektivierte Praktiken mitführt, die den Kulturformen einerseits Sinn verleihen, und sie andererseits auch gegenseitig verstehbar machen. In diesem Sinne geht es um eine Beschreibung der Strukturgegebenheiten, die der Bestimmung von Kultur zugrunde liegen und die es annäherungsweise zu rekonstruieren gilt. Kehrt man nun zur Fragestellung zurück, so werden insbesondere zwei Probleme erkennbar: Beim ersten handelt es sich um das der Zirkularität bezüglich der Zusammenführung von phänomenologischer und sozialwissenschaftlicher Vorgehensweise, da von vorneherein von ›Kultur‹ als einer sozial konstruierten Entität und dadurch von Annahmen ausgegangen wird, die auf bestimmten Vorstellungen über die Konstitution von Gesellschaft beruhen. Gerade diese Vorannahmen als vorgefasste Urteile gehen in jegliche Beschreibung – also notwendig auch in die phänomenologische Beschreibung – mit ein, womit unmöglich ist, 135

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aus dem hermeneutischen Zirkel auszubrechen. Jegliches Verstehen beruht immer auf einem Vorverständnis (Gadamer 1990 [1960]: 297; Heidegger 1993 [1927]: §§ 31, 32). Dieses für phänomenologische Analysen grundsätzlich vorhandene Problem schränkt die an dieser Stelle durchzuführenden Beschreibungen bzw. dargestellten Reduktionen nicht ein, wie sich im Fortgang der Analyse zeigen wird. Das zweite Problem entsteht durch die Verschiedenheit der methodischen Vorgehensweise: Empirische Erkenntnisse werden in der qualitativen Forschung – wie im folgenden Beispiel – induktiv aus den Daten heraus gewonnen, daraufhin Hypothesen generiert, dann falsifiziert bzw. verifiziert. Im Rahmen einer Grounded Theory-Untersuchung (vgl. Glaser/Strauss 1967; Strauss 1994) geht es sozusagen darum, theoretische Konzepte in kontrastierenden Verfahren zu gewinnen, mit dem Ziel, sowohl eine materiale als auch formale Theorie mittlerer Reichweite zu einer entsprechenden Problemstellung zu gewinnen. Werden unterschiedliche soziale Welten bezüglich des Fokus der Konstruktion der ›kulturellen Differenz‹ kontrastiert, so kann durchaus ein gewisser Grad der Generalisierung der so gewonnenen theoretischen Konzepte erreicht werden. Bei phänomenologischen Reduktionen hingegen versucht der Forscher durch schrittweise Ausklammerung von Sinnschichten konstitutionsanalytisch konkrete, biographisch und historisch variable Bestandteile der Erfahrung von »formalen« Strukturen zu unterscheiden, ohne die konkrete menschliche Erfahrung undenkbar wäre (Luckmann 1999: 20). Die offensichtlichsten dieser Strukturen sind die Kategorien der subjektiven Orientierung im Raum, wie »oben«/«unten«, »vor mir«/«hinter mir« oder Zeitbestimmungen. Lebensweltliche Strukturierungen sozialer Beziehungen nach Graden der Unmittelbarkeit, Vertrautheit/Fremdheit und Anonymität sind demgegenüber schon wesentlich komplexer. Im folgenden Beispiel können diese Probleme der Zirkularität und der Verschiedenartigkeit der methodischen Vorgehensweise keineswegs aufgelöst werden, dennoch wird aufgezeigt, wie formale Erkenntnisse aus einer empirischen Analyse in den Zirkel der phänomenologischen Beschreibung eingebracht werden können.

S ym b o l i s c h e K o n s t r u k t i o n e n ›kultureller Differenz‹ Im Folgenden werden exemplarisch die Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Analyse interkultureller Arbeitswelten im Automobilunternehmen DaimlerChrysler präsentiert (vgl. Dreher 2005), die für eine Be136

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stimmung der Schnittstellen von sozialwissenschaftlicher und phänomenologischer Forschung zu Rate gezogen werden. Neben der Forschungsmethode der Grounded Theory basierte die empirische Untersuchung unter anderem auf dem Verfahren der Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik (vgl. Soeffner 1982; Soeffner/Hitzler 1994), welche versucht, die interpretativen Kompetenzen der Alltagshandelnden sowie deren typische Wahrnehmungsmuster systematisch auszuformulieren. Durch eine ›künstliche‹ Form des Verstehens zielt diese hermeneutische Methode auf die Erkenntnis des Typischen ab, und zwar sowohl auf das typische Handeln als auch auf das mit diesem zusammenhängende typische Wissen sowie auf das typisch alltägliche Verstehen. Im Rahmen der Kontrastierung zweier verschiedenartiger Arbeitswelten im Automobilkonzern – Produktion und internationales Management – kristallisierten sich im Forschungsprozess folgende Ergebnisse heraus: ›Kulturelle Differenzen‹ zwischen den Mitarbeitern werden über die symbolische Konstruktion kultureller Zugehörigkeiten, in erster Linie nationalkultureller und Unternehmenszugehörigkeiten in Interaktionssituationen produziert und reproduziert. Auf der wissenssoziologischen Ebene der materialen Konstruktion kultureller Unterschiede erweist sich die »Idee der Nation« für die Mitarbeiter als verbindlich, sowohl was die Selbstwahrnehmung als auch die Fremdwahrnehmung des jeweiligen Anderen in den Arbeitszusammenhängen anbelangt. Es ist von größter Relevanz, ob jemand italienischer, deutscher, US-amerikanischer, türkischer oder russischer Herkunft ist. Die »Nationalkultur« stellt ein entscheidendes Identifikationsmerkmal für die Interaktionsteilnehmer dar, die über das von den Informanten beschriebene »Nationalgefühl« eine emotionale Fundierung erhält (»Primordialität des Nationalgefühls«). Symbolisch etablierte Kulturbereiche – wie der der »Nation« – transzendieren die Alltagswelt des Individuums (Schütz) und beinhalten diejenigen weltanschaulichen Konstrukte, mit welchen die »Idee« der entsprechenden »Nation« material gefestigt ist. Die für die Arbeitswelten relevanten, mit kulturellen Determinierungen in Verbindung gebrachten Kollektive bzw. Kollektivvorstellungen, wie die jeweiligen Nationalitäten, Regionen wie Schwaben, Bayern, Ostfriesland etc., das Unternehmen »DaimlerChrysler«, die Marken »Mercedes« oder »Chrysler«, die »türkische«, »italienische«, »deutsche«, »amerikanische« Kultur usw., werden über gemeinsam geteilte Symbole repräsentiert (Dreher 2005: 177 f.). Für die zu den Arbeitswelten gehörigen individuellen Akteure erweisen sich die traditionell ›gewachsenen‹ Kulturkategorien, wie nationale oder regionale Zugehörigkeiten, als besonders ausgeprägt und identitätsstiftend. Ein Repertoire an kollektiven Identifikationsmöglichkeiten, welches zum einen über die 137

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Herkunft der Individuen und zum anderen über das kulturelle Angebot des Unternehmens festgelegt ist, ermöglicht den einzelnen, sich selbst innerhalb eines gegebenen Sinnhorizonts an Kollektivvorstellungen zu definieren, wahrzunehmen, gleichzeitig jedoch auch über die Fremdwahrnehmung kategorisieren zu lassen. Die an dieser Stelle präsentierten Erkenntnisse verdeutlichen, dass Kulturtheorien, welche von Hybridisierungs- oder Amalgamierungsprozessen bezüglich des für die Sozialwissenschaften relevanten Handlungssubjekts sprechen, und auch poststrukturalistische Überlegungen zur Interkulturalität zu kurz greifen, da diese Positionen in einer folgenschweren Distanz zu konkreten empirischen Sachverhalten argumentieren und das individuell handelnde und interagierende Subjekt ignorieren (Dreher 2005: 183). ›Kulturelle Differenz‹ wird nicht nur in Diskursen produziert und reproduziert, sondern in der konkreten Begegnung von Individuen prozesshaft immer wieder neu hergestellt. Dies geschieht aufgrund der partizipativen Identifikation (Hahn 2000: 13-115) des einzelnen mit den material festgelegten »Kulturen«, die – wie im Rahmen der empirischen Studie deutlich wurde – über Symbole repräsentiert werden, in spezifischen Interaktionssituationen ihre Bedeutung erlangen und für die individuellen Mitarbeiter relevant werden. Aus diesem Grunde ist gerade nicht »der Gestus der Kultur immer einer des Vermischens (Nancy 1993: 6), sondern ›Kultur‹, d. h. die jeweilige kulturelle Identifikation, wird von den Handlungssubjekten in der konkreten Begegnung mit dem Anderen zur Differenzierung verwendet bzw. vernachlässigt, wobei der einzelne zwischen unterschiedlichen kulturellen Symbolwelten variieren kann. ›Kultur‹ ist nicht, wie eine semiotische Sichtweise nahelegt, »immer schon multikulturell« (vgl. ebd.), sondern von den Individuen wird viel eher eine Einheitlichkeit der Kultur unterstellt, auf welche in konkreten Handlungssituationen der Begegnung mit dem Anderen Bezug genommen werden kann. Innerhalb der Kultur ist so gesehen auch nicht eine »Anerkennung des kulturellen ›Un-eins-Seins‹« verankert (Düttmann 1997: 144); von den Individuen wird hingegen die ›kulturell andere‹ Person, die sich mit unterschiedlichen kulturellen Kollektivvorstellungen identifiziert, entweder anerkannt oder eben nicht. Entscheidend ist dafür immer eine Kombination aus der subjektiven Identifikation mit einer bestimmten Kultur und der Fremdzuschreibung, mit welcher das Individuum in der Begegnung mit dem Anderen konfrontiert wird. Nicht zuletzt können poststrukturalistische Stellungnahmen zum Problem der Interkulturalität, die sich ausschließlich auf der Diskursebene bewegen, Fremdheitskonstruktionen nicht erfassen, die aus der konkreten Begegnung von individuell Handelnden resultieren. ›Kulturelle Differenz‹ wird häufig an Aussehen und 138

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Gestik des Anderen festgemacht, wobei die Leiblichkeit des anderen Individuums in der Interaktion innerhalb der face-to-face-Situation zur Geltung kommt und in die symbolische Konstruktion der ›kulturellen Differenz‹ mit einfließt. Das Anderssein des jeweiligen, im konkreten Fall auftretenden Akteurs wird immer über die gegenseitige Wahrnehmung in den Interaktionskontexten konstituiert. Die nationalkulturelle Zugehörigkeit der DaimlerChrysler-Mitarbeiter sowie deren Identifikation mit den Konzernen Daimler und Chrysler und den entsprechenden Marken sind derart symbolisch ›gefestigt‹, dass eine ›Vermischung der Kulturen‹ – wie sie in der Idee des »Mergers«, des Zusammenschlusses der Unternehmen impliziert wird – sich als unmöglich erweist, zumindest solange diese ein von der Management-Elite geschaffenes Abstraktum in der Vorstellungswelt der Individuen ist, dem nur geringfügig identitätsstiftende und handlungsleitende Wirkung zukommt.

Protosoziologische Reduktionen: E i n e k o n s t i t u t i o n s t h e o r e t i s c h e An a l ys e der ›kulturellen Differenz‹ Diese Erkenntnisse aus dem empirischen Forschungsprozess sind Bestandteil einer Theorie mittlerer Reichweite (vgl. Merton 1968) und weisen so einen gewissen Grad der Generalisierbarkeit auf, verfügen jedoch – wie erläutert wurde – nur indirekt über Verbindungen zu den Erkenntnissen des egologisch vorgehenden Phänomenologen. Die Ergebnisse aus der empirischen Studie werden nun, äquivalent zu den Erfahrungen des Phänomenologen bezüglich eines spezifischen Phänomens, dazu verwendet, protosoziologische Reduktionen zu ›inspirieren‹ bzw. in einem bestimmten Sinne zu leiten. Analog zur streng egologisch ausgerichteten Methode der phänomenologischen Reduktion werden für vorliegende Analyse der Konstitution ›kultureller Differenz‹ drei unterschiedliche Reduktionsebenen präsentiert, mit welchen die grundlagentheoretischen Prinzipien der Herausbildung dieses Phänomens verdeutlicht werden können. Im Rahmen einer Konstitutionsanalyse des intersubjektiv etablierten Phänomens der ›kulturellen Differenz‹ könnten darüber hinaus weitere Reduktionsstufen ausgearbeitet werden, an dieser

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Stelle soll die protosoziologische Beschreibung auf drei Ebenen beschränkt bleiben:3

I. Sozio-eidetische Reduktion der Konstruktion ›kultureller Differenz‹ Die auf einer ersten Stufe durchzuführende Reduktion wird als sozioeidetische Reduktion der Konstruktion kultureller Differenz verstanden, welche in Anlehnung an die Überlegungen Husserls hinsichtlich der methodischen Ausrichtung der Psychologie entwickelt wird. Husserl kennzeichnet die Psychologie als Erfahrungswissenschaft, welche sich auf »Tatsachen« und »Realitäten« konzentriert. Die Phänomene, die sie als psychologische »Phänomenologie« behandelt, werden als reale Vorkommnisse aufgefasst, die sich, wenn sie ein wirkliches Dasein haben, realen Subjekten, denen sie zugehören, als Teil einer räumlich-zeitlichen Welt zuordnen lassen (Husserl 1992 [1913]: 6). Demgegenüber handelt es sich bei der transzendentalen Phänomenologie nicht um eine Tatsachen-, sondern um eine Wesenswissenschaft, die sich für »Tatsachen« nicht interessiert. Die zugehörige Reduktion, die – so Husserl – vom psychologischen Phänomen zum reinen »Wesen«, bzw. im urteilenden Denken von der tatsächlichen (empirischen) Allgemeinheit zur Wesensallgemeinheit überführt, ist die eidetische Reduktion. Analog zur Psychologie müssen auch die Sozialwissenschaften als Erfahrungswissenschaften verstanden werden, bei welchen die empirischen Ausprägungen sozialer Phänomene für die Entwicklung von Typiken der Konstruktion derselben verwendet werden. Der Beschreibung der typischen Ausprägung sozialer Phänomene – wie im vorliegenden Fall der ›kulturellen Differenz‹ – geht eine »eidetische Variation« (Husserl 1992 [1929]: 296) bezüglich der unterschiedlichen Möglichkeiten des Auftretens des Phänomens4 voraus, welche

3 Dabei wird argumentiert, dass für die grundlagentheoretische Analyse des sozialen Phänomens der kulturellen Differenz die drei präsentierten Reduktionen relevant sind. Weitere, beispielsweise hinsichtlich der Beschreibung von Konstitutionsprinzipien im Bereich der transzendentalen Subjektivität mögliche Reduktionen wären durchführbar, jedoch für das Erkenntnisinteresse nicht gewichtig. 4 Entscheidend im Rahmen vorliegender Analyse ist die Überlegung, dass die Eidetik eines sozialen, intersubjektiv konstruierten Phänomens angestrebt wird, und nicht wie bei Husserl die eidetische Variation eines bestimmten, fokussierten Bewusstseinsphänomens. Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass kein Zusammenhang zwischen beiden Perspektiven besteht. Für die Konsti140

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dann dazu dient, zum einen die für die individuellen Akteure des empirischen Feldes zentralen »Konstruktionen erster Ordnung« zu bestimmen, die es zum anderen dem Sozialwissenschaftler ermöglichen, Begriffe auszuarbeiten, d. h. »Konstruktionen zweiter Ordnung« zu definieren. Bei der Ermittlung der Konstruktionen erster Ordnung geht es um die Rekonstruktion der Sinn- und Relevanzstruktur der in einer Sozialwelt lebenden, denkenden und handelnden Menschen (Schütz 1971 [1953]: 3 ff.). Auf diesen Konstruktionen basieren nun diejenigen des Sozialwissenschaftlers, jene zweiter Ordnung, die als Abstraktionen der »natürlichen Begriffe« der individuell Handelnden ›allgemeine‹ Gesetzmäßigkeiten beschreiben sollen. Die dargestellten wissenssoziologischen Erkenntnisse über die symbolische Konstruktion der ›kulturellen Differenz‹ im Automobilunternehmen DaimlerChrysler beinhalten einerseits eine Beschreibung des Möglichkeitshorizontes der Herausbildung ›kultureller Differenz‹, d. h. derjenigen »natürlichen« Kategorien, Wahrnehmungsmuster oder Kollektivvorstellungen, welche von den individuellen Mitarbeitern für die Herausbildung kultureller Unterscheidungen konkret verwendet werden. Dazu gehören beispielsweise die erwähnten nationalkulturellen Kategorien, regionale oder Unternehmenszugehörigkeiten bzw. Identifikationen mit Marken etc., die im Rahmen einer Fremd- und Selbstbestimmung der Individuen verwendet werden. Wahrnehmungsmuster, wie beispielsweise das der »Mentalität«, zählen zu den natürlichen Kategorien, die dazu dienen, die Verhaltensweisen des ›kulturell Anderen‹ zu erklären. Konstruktionen zweiter Ordnung, wie diejenige der »Primordialität des Nationalgefühls« (Dreher 2005: 73 ff.) bzw. der »Strategien der Anerkennung« (ebd.: 95 ff.), dienen der Beschreibung typischer, für die Fallkontrastierung relevanter ›Gesetzmäßigkeiten‹, die für die Konstruktion ›kultureller Differenz‹ entscheidend sind und mit sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeiten gekennzeichnet werden. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive dienen so die dargestellten wissenssoziologischen Erkenntnisse im Rahmen dieser Reduktionsstufe dazu, eine konstruktionsanalytische Eidetik ›kultureller Differenz‹ zu entwerfen, mit welcher der Horizont der Ausprägung des Phänomens, seine Variationsmöglichkeiten, erfasst werden. Die beschriebenen Kategorien, die sich auf Wahrnehmungs- und Interaktionsmuster beziehen, erweisen sich für die subjektive Sichtweise des individuell Handelnden als kennzeichnend und können im Verlauf der weiter durchzuführenden

tution des sozialen, intersubjektiv festgelegten Phänomens der kulturellen Differenz bildet insbesondere die Bewusstseinsebene eine entscheidende Voraussetzung. 141

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Reduktionsstufen als Basis für die Analyse der Konstitution ›kultureller Differenz‹ dienen. Schritt für Schritt können somit die bewusstseinstheoretischen Grundlagen für die Herausbildung dieses spezifischen ›sozialen‹ Phänomens herausgearbeitet werden.

II. Strukturebene der symbolischen Konstitution ›kultureller Differenz‹ Hinsichtlich der zweiten Reduktionsstufe werden nun die auf kulturellen Symbolisierungen basierenden und aus den benannten Interaktionsmustern abgeleiteten soziologischen Kategorien »eingeklammert«, um zu zeigen, wie das Anderssein bzw. die Fremdheit des Interaktionspartners strukturell erzeugt bzw. als Differenz konstituiert wird. Diese im Rahmen der Reduktion vorgenommene Einklammerung von Sinnbeständen, welche die Konstruktion ›kultureller Differenz‹ »inhaltlich« bestimmen, soll einen Erkenntnisgewinn in der Hinsicht erbringen, dass Strukturprinzipien der Konstitution der ›kulturellen Differenz‹ bestimmt werden. Es geht darum, die materialen Codierungen ›kultureller Differenz‹ außer acht zu lassen, um herausfinden zu können, welche konstitutiven Mechanismen, d. h. Bewusstseins- und Interaktionsvoraussetzungen, die Grundlage für die Herausbildung des Phänomens bilden. Die mit der zweiten Reduktion erreichte Abstraktionsstufe wird als Strukturebene der symbolischen Konstitution ›kultureller Differenz‹ gekennzeichnet, wie im Folgenden erläutert wird: Das im Alltag wahrnehmende und interagierende Individuum bezieht sich in der Begegnung mit den Anderen oder Fremden auf außeralltägliche Bereiche der ›Kultur‹, auf alltagstranszendente Vorstellungswelten, welche die für die Interagierenden relevanten Kulturkonstruktionen enthalten. Die mit Hilfe der sozio-eidetischen Reduktion abstrahierten, material bestimmten Kulturausprägungen sind, dies wird im Rahmen der empirischen Studie deutlich, symbolisch konstruiert worden. Für eine Erläuterung dieses Zusammenhangs kann insbesondere die Lebenswelttheorie von Alfred Schütz zu Rate gezogen werden (Schütz 1994 [1956], 2003 [1955], 2003 [1945]): Die entsprechende, von den einzelnen verwendete kulturelle Symbolik – beispielsweise nationaler oder korporativer Prägung –, die im Wissensvorrat der sich Begegnenden vorhanden ist, wird zur Deutung des Andersseins des Gegenübers bzw. Fremden verwendet. Alltagstranszendente Kulturideen können in intersubjektiven Zusammenhängen ausgetauscht werden, indem sie in der alltäglichen Wirklichkeit mit Hilfe von Symbolen kommuniziert werden. Werden die von den Individuen verwendeten kulturellen Codierungen »eingeklammert«, so wird ein für 142

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die Konstitution der ›kulturellen Differenz‹ entscheidender Strukturzusammenhang deutlich, der sich – wie folgt – herleiten lässt. Im Rahmen seiner Lebenswelttheorie versteht Schütz Symbole als Elemente der Alltagswelt, die außeralltägliche Ideen und Vorstellungen aus alltagstranszendenten Wirklichkeitsbereichen versinnbildlichen (Srubar 1988; Soeffner 2000; Dreher 2003). Die Lebenswelt des Individuums besteht im Sinne von Schütz aus der Welt des »einsamen Ich«, insbesondere aus der durch Intersubjektivität gekennzeichneten Sozialwelt sowie ›mannigfaltigen Wirklichkeiten‹, zu denen die Wirkwelt des Alltags zu zählen ist, jedoch auch Traum- oder Phantasiewelten, die Welten der Religion, der Politik, der Wissenschaft etc. (Schütz 2003 [1945]). Symbole müssen als Zeichenformen verstanden werden, mit welchen – im vorliegenden Falle kulturell geprägte – außeralltägliche Erfahrungen und Ideen kommuniziert werden können. Dabei kann es sich um Gegenstände, Gegebenheiten und Geschehnisse innerhalb unserer alltäglichen Wirklichkeit handeln, die als Sinnbilder funktionieren und auf Ideen verweisen, die zu einer nicht alltäglichen Vorstellungswelt gehören (Schütz 2003 [1955]: 169). Außeralltägliche Wirklichkeitsbereiche »überschreiten« bzw. ›transzendieren‹ die Wirkwelt des Alltags, in welcher mit anderen Menschen kommuniziert werden kann. Symbole, die in intersubjektiven Zusammenhängen verwendet werden, ermöglichen nun, die Grenzen bzw. ›Transzendenzen‹ der Alltagswelt zu überwinden, indem sie dafür sorgen, dass außeralltägliche – beispielsweise religiöse oder ästhetische – Erfahrungen, Ideen oder Vorstellungen kommuniziert werden können. In diesem Sinne tragen Symbole dazu bei, dass außeralltägliche Bedeutungswelten intersubjektiv erfahrbar, d. h. kollektiv »zugänglich« werden; darüber hinaus werden diese politischen, religiösen, ästhetischen, wissenschaftlichen etc., im weitesten Sinne kulturell geprägten Wirklichkeitsbereiche gleichzeitig auf der Basis der kontinuierlichen Verwendung von Symbolen in sozialen Kontexten erst konstituiert. Zentral für die Beschreibung der zweiten protosoziologischen Reduktionsebene ist nun, dass aufgrund der Strukturierung der Lebenswelt des Handlungssubjekts – insbesondere hinsichtlich deren Aufteilung in Alltagswelt und mannigfaltige Wirklichkeiten – sowie der Symbolfähigkeit des Individuums die ›kulturelle Differenz‹ symbolisch konstituiert werden kann. Die auf die Bewusstseinstätigkeit der ›Appräsentation‹ oder Mit-Vergegenwärtigung zurückzuführende Fähigkeit des Erfahrungssubjekts zur Herausbildung und Verwendung von Symbolen (Schütz 2003 [1955]: 128 ff.), die auf dessen intersubjektiver Einbindung in eine soziale Mitwelt basiert, ermöglicht dem Individuum außeralltägliche Kulturwirklichkeiten zu erfahren und diese, da sie intersub143

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jektiv konstituiert wurden, mit anderen Menschen zu teilen. Daraus lässt sich ableiten, dass Kulturkonstruktionen unbedingt hinsichtlich deren subjektiver Konstitution untersucht werden müssen, da sie jeweils vom Handlungssubjekt aktualisiert und in pragmatischen Wirkungszusammenhängen ausgehandelt werden. Die mit der zweiten Reduktion ermöglichte Beschreibung der Strukturebene der symbolischen Konstitution ›kultureller Differenz‹ weist eindeutig darauf hin, dass das soziale Phänomen der ›kulturellen Differenz‹ zutreffend nicht unabhängig vom individuellen Akteur und dessen subjektiven Bewusstseinsleistungen analysiert werden kann. Die Aushandlung konkreter symbolischer Kulturcodierungen und in diesem Zusammenhang von kulturellen Differenzierungskonstellationen erfolgt immer in Interaktionszusammenhängen, in welche individuell Handelnde involviert sind. »Träger« der Kultur sind Individuen, die in kontinuierlichen Interaktions- und damit einhergehend Symbolisierungsprozessen ›kulturelle Differenz‹ immer wieder neu bestimmen und auf Dauer stellen. In dieser Hinsicht wird erklärbar, inwiefern eine symbolische Festigung und Etablierung der »klassischen« Kulturkategorien – Nationalität, regionale Zugehörigkeit – zustande kommt, die über die empirische Analyse der Konstruktion ›kultureller Differenz‹ ermittelt wurde. Diese ist auf lebensweltlich bestimmte, vom interagierenden Subjekt prozesshaft hervorgebrachte Symbolisierungsvorgänge zurückzuführen. Die entscheidende Bedeutung dieser Kulturkategorien für die Konstruktion der persönlichen Identität des einzelnen basiert auf der Strukturebene der symbolischen Konstitution ›kultureller Differenz‹.

III. Reduktionsstufe der sinnlichen Empfindung der Leiblichkeit des Anderen Die dritte protosoziologische Reduktionsstufe rückt insbesondere die ›Leiblichkeit‹ des einzelnen, an der Begegnung beteiligten Menschen ins Zentrum der Betrachtungen. Diese Reduktionsstufe wird in der Folge der Realisierung der eidetischen Reduktion sowie der Reduktion der symbolischen Konstitution ›kultureller Differenz‹ erreicht. Es handelt sich dabei um die formale Ebene der Begegnung mit dem Anderen; die Intentionalität des subjektiven Bewusstseins ist auf dieser Stufe auf den Gegenüber als einen anderen Menschen gerichtet. Diese Ebene kann als die Reduktionsstufe der sinnlichen Empfindung der Leiblichkeit des Anderen bezeichnet werden. Empfindungen wie »Fremdheit« und »Vertrautheit«, »Anonymität« und »Unmittelbarkeit« bestimmen hier die subjektive Wahrnehmung des Anderen, dessen Erscheinungsbild als be144

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fremdend oder vertraut aufgefasst wird. Auf dieser grundlegenden Ebene der Begegnung zwischen Menschen werden Sprache und in diesem Sinne auch semiotische Symbolzusammenhänge ›eingeklammert‹ und somit reflektierend außer acht gelassen; durch die Beschreibung der beiden vorausgehenden Reduktionsstufen wird die Beschreibung dieser Konstitutionsebene möglich. Es handelt sich um die vortheoretische, vorsprachliche Ebene der leiblichen Begegnung, auf welcher diffuse Empfindungen auf das Anderssein des intentional vom Bewusstsein erfassten menschlichen Gegenübers hindeuten. Es steht außer Frage, dass die an dieser Stelle präsentierte Reduktionsstufe nicht zur transzendentalen Subjektivität – wie dies in der Darstellung der Husserl’schen Überlegungen zur Reduktion verdeutlicht wurde – führen kann, was aber nicht heißen soll, dass nicht jegliche Begegnung mit dem Anderen in dieser begründet ist. Für die III. Reduktionsstufe der sinnlichen Empfindung der Leiblichkeit des Anderen muss Intersubjektivität, die nicht transzendental-phänomenologisch erklärt werden kann, als konstitutive Voraussetzung verstanden werden. Intersubjektivität wird in Anlehnung an Schütz als ein nicht innerhalb der transzendentalen Sphäre lösbares Problem, sondern als eine Gegebenheit der Lebenswelt verstanden. Er beschreibt Intersubjektivität als ontologische Grundkategorie des menschlichen Seins und somit aller philosophischer Anthropologie. Die Möglichkeit der Reflexion auf das Selbst, die Entdeckung des Ich, die Fähigkeit zum Vollzug jeglicher Epoché, aber auch die Möglichkeit aller Kommunikation sei auf der Urerfahrung der Wir-Beziehung fundiert (Schütz 1971 [1956]: 116). Methodisch können dennoch diese Annahmen für die Durchführung der III. Reduktion außer Acht gelassen werden, so dass – immer noch in Abhängigkeit von diesen Annahmen – die Grundprinzipien der Begegnung mit dem Anderen beschrieben werden können. Wenn in diesem Sinne der begegnende Andere analogisch als anderer Mensch aufgefasst wird, was hinsichtlich der konstitutionsanalytischen Beschreibung des Phänomens der ›kulturellen Differenz‹ unabdingbar ist, muss der Leib des Anderen als dem eigenen ähnlich verstanden werden; sprachlich bzw. symbolisch determinierte Vorstellungen von »Menschlichkeit« müssen im Rahmen dieser Reduktion – man könnte sagen, durch einen Kunstgriff – ›eingeklammert‹ werden. Alles, was in der Begegnung mit dem Leib des Anderen als »nicht eigen« wahrgenommen wird, wird als dem Anderen zugehörig aufgefasst. Dabei findet eine Sinnübertragung statt, in welcher sich bestätigt oder nicht, ob der Andere als mir ähnlich wahrgenommen wird. So betrachtet findet ein Sinntransfer zwischen ego und alter ego statt, wobei nach dem

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Modus der Bewährung und Nicht-Bewährung Grade der Ähnlichkeit herausgebildet werden können.5 Im Rahmen einer Bestimmung der ›Grenzen der Sozialwelt‹ stellt Luckmann fest, dass die Begegnung mit dem Anderen, der als anderer Mensch wahrgenommen wird, auf eine Sinnübertragung zurückzuführen ist, die er als »universale Projektion« oder auch »personifizierende Apperzeption« versteht. Die Grenzen des Sozialen können so gesehen auf eine grundlegende Bewusstseinsleistung zurückführt werden, wie dies auf ähnliche Weise für vorliegende Analyse für die Konstitution ›kultureller Differenz‹ behauptet wird. Die »universale Projektion« ist ein wesentlicher Bestandteil der Welterfahrung, wobei alle Gegenstände der Lebenswelt in einer Synthese ihrer wahrgenommenen Qualitäten mit der appräsentierten Bedeutung »Leib« erfahren werden. In diesem Sinne wird argumentiert, dass nur das empirische und weltliche Ich Menschlichkeit erlangen kann. Die Menschlichkeit sei konstituiert und nicht konstitutiv, und was von besonderer Bedeutung ist, sie sei auf die Menschlichkeit des alter ego gegründet, nicht umgekehrt. »Mit anderen Worten: die Bedeutung ›Mensch‹ ist eine Modifizierung der Bedeutung ›Leib‹« (Luckmann 1980 [1970]: 64 ff.). In Anlehnung an diese Argumentation kann davon ausgegangen werden, dass ebenso für die Konstitution ›kultureller Differenz‹ die Wahrnehmung der Leiblichkeit des Anderen entscheidend ist für die Festlegung »kultureller« Nähe bzw. Distanz, immer unter Berücksichtigung dessen, dass die Menschlichkeit des begegnenden Anderen bereits konstituiert ist. Ähnlichkeiten bzw. Verschiedenheiten, die in der Begegnung mit dem menschlichen Leib des Anderen wahrgenommen werden, können als Basis für die Differenzierung zum Anderen verwendet werden und in lebensweltlichen Zusammenhängen für die Codierung der ›kulturellen Differenz‹ verwendet werden. Sinnübertragungen bezüglich der Leiblichkeit des Anderen können eingelöst werden und auf die eigene Vertrautheit verweisen oder auf die Fremdheit zur Leiblichkeit der Andern hindeuten. Auf dieser protosoziologischen bzw. phänomenologischen Reduktionsstufe können allgemeine Grundlagen entdeckt werden, die dem Erfahrungssubjekt als Basis für die Konstitution der ›kulturellen Differenz‹ gegeben sind. Strukturell bzw. material wird diese natürlich auf den anderen, vorher beschriebenen Ebenen herausgebildet. Auf dieser Ebene

5 So ist nicht von vornherein gegeben, dass es sich bei alter ego um einen »Menschen« handeln muss; derartige Ähnlichkeitskonstitutionen sind durchaus auch in Bezug auf die Begegnung mit Tieren denkbar, wie Schütz in seiner Kritik an Husserls Konzeption des Fremdverstehens anmerkt (Schütz 1971 [1956]). 146

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der sinnlichen Empfindung des Andersseins kann phänomenologisch aufgezeigt werden, wie Differenzen konstituiert werden; wie diese Differenzen formal und material mit ›Sinn‹ versehen werden und ob diese Differenzen kulturell codiert werden, wird aus den davor beschriebenen Reduktionsstufen ersichtlich. Dieser Versuch einer protosoziologischen Beschreibung von Reduktionsstufen der Konstruktion und Konstitution ›kultureller Differenz‹ wurde durch die Erkenntnisse einer Erfahrungswissenschaft inspiriert. Diese können auch als eine Art Korrektiv zu den Reduktionen des reflektierenden Phänomenologen verstanden werden. Sie könnten eine Bestätigung oder Infragestellung des im Vollzug der Epoché beschriebenen bedeuten. Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass mit Hilfe der präsentierten ›Parallelaktion‹ von empirischer und phänomenologischer Forschung hinsichtlich der Analyse der Konstruktion und Konstitution ›kultureller Differenz‹ aufgezeigt werden konnte, wie angelehnt an Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt über »Interkulturelle Arbeitswelten bei DaimlerChrysler« protosoziologische Reduktionen »inspiriert« werden können. Bestimmte, aus der Empirie abgeleitete Gesetzmäßigkeiten, wie beispielsweise die der symbolischen Konstruiertheit des Phänomens, erfahren in den protosoziologischen Überlegungen eine Erläuterung, wie aus der II. Reduktion deutlich werden soll. Die im Rahmen einer aus den Daten entwickelten Theorie mittlerer Reichweite gebildeten sozialwissenschaftlichen Kategorien zur Bestimmung der Konstruktion kultureller Differenz – wie beispielsweise »Primordialität des Nationalgefühls«, »Mentalität«, »Strategien der Anerkennung« etc. – ermöglichen eine Beschreibung der Variationsmöglichkeiten unterschiedlicher Differenzkonstruktionen. Deutlich wird hierbei, dass ›klassische‹ etablierte Kulturkategorien – wie jene der »Nationalität« – von entscheidender Bedeutung für die mit ihnen assoziierten Individuen und deren Identitätsbildung sind. Empirisch zeichnet sich eine übermächtige identitätsstiftende Wirkung dieser ›klassischen‹ Kulturkategorien ab, die auf eine nahezu unmögliche Vermischung bzw. »Unvereinbarkeit« der Kulturen hindeutet, wie sich aus der Kennzeichnung der Variationsmöglichkeiten erschließen lässt. Diese Kulturkonstruktionen leiten aus grundlagentheoretischer Sicht die dargstellte sozio-eidetische Reduktion an, die auf Gesetzmäßigkeiten innerhalb eines beschriebenen eidetischen Variationsraumes hinweist, indem typische Ausprägungen der Konstruktion ›kultureller Differenz‹ gekennzeichnet werden. Deutlich wird an dieser Stelle, dass – dem methodologischen Individualismus entsprechend – die von individuellen Akteuren verwendeten, in Interaktionsprozessen reproduzierten und he147

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rausgebildeten, inhaltlich festgelegten Differenzkonstruktionen ins Auge gefasst werden müssen, um das Differenzierungsphänomen begreifen zu können. Die aufgrund ihrer Einzigartigkeit sich unterscheidenden Individuen rekurrieren im Rahmen einer Fremd- und Selbstdefinition ihrer persönlichen Identität auf ›klassische‹, eindeutige Kulturzugehörigkeiten, wobei »hybride Identitäten« bzw. ein »hybrides Selbst« hinsichtlich kultureller Zuschreibungen ausgeschlossen werden können. Kulturelle Differenzen zwischen Individuen können in erster Linie über Symbolisierungsvorgänge etabliert werden und erhalten durch sie ihre Relevanz für die Einzelnen; kulturelle Gebilde werden als solche in der konkreten Begegnung von Menschen über Symbolisierung konstituiert, wie im Rahmen der zweiten Reduktion zur Strukturebene der symbolischen Konstitution erkennbar wird. Die Symbolisierung kultureller Zugehörigkeiten basiert auf der Strukturierung der subjektiv festgelegten Lebenswelt des Einzelnen. Außeralltägliche Kulturvorstellungen können mit Hilfe von Symbolen kommuniziert und so mit anderen Menschen geteilt werden, gleichzeitig konstituieren Symbolisierungsvorgänge objektivierte kulturelle Kollektivgebilde, denen Individuen zugehören. Die entsprechenden, eindeutig festgelegten Zugehörigkeiten dienen nun als Ausgangspunkt für die Konstitution kultureller Differenz, wobei deren Verwendung in konkreten Interaktionszusammenhängen ausschlaggebend ist. Wie im Zusammenhang mit der Reduktion der sinnlichen Empfindung der Leiblichkeit des Anderen feststellbar wird, sind die Grundlagen für die Herausbildung ›kultureller Differenz‹ im intentionalen, an einen Leib gebundenen subjektiven Bewusstsein im reziproken Verhältnis zur Leiblichkeit des begegnenden Anderen festgelegt. Daraus wird die Wichtigkeit ersichtlich, die für die grundlagentheoretische Beschreibung des Phänomens der ›kulturellen Differenz‹ der in der konkreten Begegnung von individuell Handelnden involvierten Leiblichkeit zukommt; die entscheidende Bedeutung der face-to-face-Situation für die Konstitution dieses Phänomens wird dadurch verdeutlicht. Grade der Fremdheit und Nähe, die sich in der leiblichen Begegnung über die sinnliche Empfindung abzeichnen, bilden aus phänomenologischer Sicht die Grundlage für jene Prozesse, die für Herausbildung ›kultureller Differenz‹ verantwortlich sind.

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KONSTITUTIONSPRINZIPIEN ›KULTURELLER DIFFERENZ‹

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At tributionen kultureller Fremdheit in der Ps ychotherapie: Vom Kulturstandard zur kulturspezifischen Gegenübertragung BARBARA ZIELKE

Einleitung und Überblick Durch die kulturelle Pluralität moderner Gesellschaften und deren zunehmende Bedeutung in der Gesundheitsversorgung sind auch Psychotherapeuten häufig mit Patienten aus anderen Kulturen und daher besonderen Anforderungen konfrontiert. Sie können nur dann professionell arbeiten, wenn der Bewältigung von Kommunikationsanforderungen in der interkulturellen Psychotherapie fachliche Bedeutung beigemessen wird. Auf beiden Seiten der therapeutischen Beziehung ist der reflexive Umgang mit Differenz unausweichlich. Während es für den Klienten um eine existenzielle Herausforderung geht, da bereits die Psychotherapiesituation eine Infragestellung seiner Identität beinhalten kann, scheint es sich für den Therapeuten in erster Linie um eine paradigmatische »Technik« oder zusätzliche professionelle Expertise zu handeln. Wenngleich interkulturelle Kompetenz auch im Psychotherapiebereich zu den neuen Schlüsselqualifikationen zählt (vgl. Rohr 2002), wird es noch etwas dauern, bis die mit dieser Expertise verbundenen Fragen eine angemessene Bearbeitung erfahren. Weder über die interaktive Konstitution kultureller Differenz in der psychotherapeutischen Beziehung noch was die Kriterien des interkulturell kompetenten Umgangs mit dieser Differenz betrifft, stehen bislang einschlägige Forschungen und Befunde zur Verfügung. Wie werden Probleme interkultureller Kommunikation und Fremdheit in Psychotherapien überhaupt »aktualisiert« und interaktiv bearbeitet, im günstigen Fall im Sinne einer pro153

BARBARA ZIELKE

duktiven Revision der therapeutischen Praxis? Wie bestimmen die Interaktionspartner überhaupt, was als kulturbedingtes Missverstehen und was dann als kulturell kompetenter Umgang damit gilt? Konzeptualisieren die Interaktionspartner dasjenige, was fremd erscheint, als Mangel an Wissen über den anderen, als Handlungsblockade oder gar als Bedrohung? Wie selbstverständlich werden Fremdheitsattribute zugeschrieben, in welchem Maße geschieht diese Zuschreibung bewusst, und welche Rolle spielen implizite oder gar im psychoanalytischen Sinn unbewusste Selbst- und Fremdzuschreibungen dabei? Um diese Fragen zu klären, werden im Folgenden unterschiedliche Wege theoretischer und empirischer Forschung integriert: Zunächst liegt der Fokus auf der kulturpsychologischen und kulturvergleichenden Forschung zu Kulturstandards, insbesondere zu kulturell differenten Selbstkonzepten. Zweitens werden einschlägige Befunde zum Konstrukt einer interkulturellen Kompetenz diskutiert. Dabei wird deutlich, dass die psychologische und linguistische Forschung zur interkulturellen Kompetenz grundlegende Aspekte des Fremderlebens anscheinend nur unzureichend beachtet. Daher wird in einem dritten Teil auf die Diskussion kulturspezifischer Übertragungskonstellationen in der psychoanalytischen interkulturellen Psychotherapie zurückgegriffen, die der psychologischen Konzeptualisierung von Fremdheit, interkultureller Kommunikation und interkultureller Kompetenz noch eine entscheidende Differenzierung hinzufügt. Diese theoretisch begründeten Dimensionen von Fremderleben und interkultureller Kompetenz werden über Erfahrungsberichte interkulturell arbeitender Psychotherapeutinnen und -therapeuten sowie anhand eines Fallbeispiels aus einem aktuellen Forschungsprojekt illustriert.

Kulturstandardwissen und Selbstkonzept Unter Kulturstandards versteht Alexander Thomas für eine Kultur typische Arten des Wahrnehmens, Denkens und Handelns. Sie sind für alle Mitglieder der entsprechenden Kultur verbindlich und haben Regelfunktion im Umgang mit anderen (Thomas 2000: 249 f.).1 In Befragungen

1

Bei genauerer Betrachtung ist die Konzeption groß angelegter (z. B. »deutscher«, »indischer« oder »chinesischer«) Kulturstandards, etwa im Sinne Alexander Thomas’ (2000, 2003), in verschiedener Hinsicht unzureichend. Wenngleich eine explizite und detaillierte Kritik des Konzepts der Kulturstandards hier aus Platzgründen unterbleiben muss, so hat auch die vorliegende Abhandlung zum Ziel, die Ebene der Kulturstandards als eine wichtige, aber bei weitem nicht als die einzige und auch nicht als die

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ATTRIBUTIONEN KULTURELLER FREMDHEIT IN DER PSYCHOTHERAPIE

mit Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die interkulturell arbeiten, stehen bestimmte Kulturstandards, nämlich typisierte, bestimmten Kulturen zugeschriebene Charakteristika des Selbstkonzepts oder damit verbundener Kognitionen und Emotionen als unverzichtbare Wissensbestände der interkulturellen Arbeit im Vordergrund. Die Kenntnis der zentralen Kulturstandards des Selbst ist nötig, um unverständliche Handlungsweisen des Gegenübers als kulturell bedingt zu spezifizieren und zu kategorisieren. Häufig zwingt bereits dieses Kulturstandardwissen, von in westlichen Kulturen bewährten psychotherapeutischen Techniken abzusehen oder sie zu modifizieren. So ist etwa das Prinzip der »Individuation«, das in den meisten Psychotherapiekonzeptionen selbstverständlich vorausgesetzt wird, nicht mit allen kulturell möglichen Formen der Selbstwahrnehmung und des Selbstwertgefühls kongruent. Was steht an Befunden über Kulturstandards des Selbst zu Verfügung und auf welche Weise kommen diese Erkenntnisse in interkulturellen Psychotherapien zum Einsatz?

Das kulturelle Selbst als Kulturstandard Es ist allgemein bekannt, dass die typische Form des Selbst und damit auch die Konzeptualisierung der psychisch gesunden Persönlichkeit kulturell variabel sind. Die kulturvergleichende Forschung zum Selbst reagiert auf diese Einsicht klassischerweise mit der eingespielten Gegenüberstellung eines »independenten« (westlichen) und eines »interdependenten« (östlichen) Selbst in Analogie zur Gegenüberstellung »individualistischer« und »kollektivistischer« Kulturen. Während das independente Selbst einer unabhängigen, autonomen Person zugerechnet wird (Markus/Kitayama 1991: 226 f.), steht in vielen nicht-westlichen Kulturen die fundamentale Verbundenheit von Individuen untereinander im Vordergrund.2 Dementsprechend, so die Logik dieses dichotomen Mo-

2

grundlegendste Ebene der Wahrnehmung und Zuschreibung kultureller Differenz zu spezifizieren. Bereits in den 70er Jahren hat der Psychoanalytiker Takeo Doi die Erfahrungen mit japanischen Patientinnen und Patienten aus psychoanalytischer Sicht thematisiert und ähnliche Charakteristika beschrieben. Er beschreibt das Emotionskonstrukt »amae«, dessen Kenntnis und Verständnis für die Partizipation an der japanischen Gesellschaft und Kultur unerlässlich, dessen Bedeutung aber nicht ohne weiteres ins Englische oder Deutsche übersetzbar ist. Amae, nämlich »Freiheit in Geborgenheit«, so der deutsche Untertitel des Buches, hat mit dem auf Autonomie und Handlungsfreiheit ausgelegten Freiheitsbegriff und in diesem Sinne konzipierten Identitätsidealen des »westlichen« Denkens nicht viel gemein (vgl. Doi 1973). 155

BARBARA ZIELKE

dells, besteht der normative kulturelle Anspruch an das Selbst in »kollektivistisch« orientierten Kulturen eher darin, diese Interdependenz aufrecht zu erhalten: Der oder die Einzelne sieht sich selbst als Teil umfassender sozialer Beziehungen, das eigene Verhalten ist bestimmt und zum Großteil organisiert durch den Bezug auf Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen anderer. Die Person ist weniger angehalten, sich als getrennt und unabhängig vom sozialen Kontext, als unterscheidbar von anderen zu entwerfen, sondern soll sich stärker mit ihnen verbunden wahrnehmen, sich arrangieren und flexibel in viele interpersonale Beziehungen einfügen. Diese Form der Selbstkonstruktion bezeichnen die Kulturpsychologen Hazel Markus und Shinobu Kitayama als »interdependent«, alternativ auch als »soziozentrisch, holistisch, allozentrisch, kontextualistisch oder relational« (ebd.: 227). Individuelle, auf die Verwirklichung der »eigentlichen« Bedürfnisse und Fähigkeiten der Person ausgelegte Aspekte des Lebensentwurfes können damit kaum mehr als unzweifelhaftes Kriterium für »gelingende Identität«, ihre Reflexion und Akzeptanz keinesfalls als allgemein verbindliches, übergreifendes Ziel von Psychotherapien gelten. Vielmehr zeigen die Forschungen zum interdependenten Selbst, dass in Fällen entsprechender Kulturzugehörigkeit interne, individuelle Ansprüche und Kompetenzen ständig kontrolliert und reguliert werden im Dienste der übergeordneten Aufgabe, die Interdependenz mit anderen zu erreichen und zu erhalten. »Autonomie« der Lebensführung ist im Sinne des interdependenten Selbst sekundär, sie bleibt per definitionem beschränkt durch das zentrale Ziel der Interdependenz. Dagegen gilt im Falle independenter Selbstkonstrukte autonome Lebensführung nach wie vor als erstrebenswertes Ziel und als Kriterium gelingender Identität. Schon der eher groben, dichotomen Unterscheidung zwischen independent und interdependent folgend, wird also offensichtlich, dass Psychotherapien sich verändern müssen, um sich auf die Lebenswelt der Mitglieder globalisierter Gesellschaften einzustellen. Nichtsdestotrotz bleiben die Ziele psychotherapeutischen Handelns bis heute an Charakteristika des »westlichen« Selbstverhältnisses gebunden (Littlewood 1992). Schon die Tatsache, dass Psychotherapien gemeinhin auf Individuen zugeschnitten sind, die ihr Leben biographisch reflektieren, macht die Psychotherapie zu einem modernen, westlichen »Biographiegenerator« (Hahn 1987; vgl. Straub 2003; Zielke/Straub 2007). In den vergangenen Jahren haben sich abgesehen davon die Hinweise gehäuft, dass die Gegenüberstellung von nur zwei Selbstkonzepten angesichts der immer differenzierteren und »lokalen«, zugleich aber vernetzten »Kulturen« zu kurz greift: Die dichotome Gegenüberstellung eines »westlichen« und eines »östlichen« kulturellen Typus des Selbst 156

ATTRIBUTIONEN KULTURELLER FREMDHEIT IN DER PSYCHOTHERAPIE

muss unterkomplex bleiben, schon allein aus dem Grunde, dass sie solchen »lokalen« oder »regionalen« Kulturen ebenso wenig Rechnung tragen kann wie der Tatsache, dass interkultureller Austausch für immer mehr Menschen auf einfachere Weise möglich ist und die zunehmende Vernetzung von lokalen kulturellen Lebensformen bewirkt. Um den vielfältigen kulturellen Gestaltungen des Selbst in globalisierten bzw. glokalisierten Gesellschaften gerecht zu werden, muss die theoretische und empirische Forschung auch von einer Vielfalt an Selbstkonzepten ausgehen und entsprechende begriffliche Differenzierungen vornehmen. In der globalisierten Welt leben Menschen in lokalen Räumen, in denen sich lokale Bräuche, Märkte, Lebensformen und für das Selbst relevante Praktiken entwickeln und etablieren (vgl. Robertson 1992; Hermans/Kempen 1998; Miller 2002; Zielke 2005 et al.). Nimmt man das ernst, so reichen kulturelle Dichotomien grundsätzlich nicht aus, sondern es handelt sich bei dem, was wir das Selbst nennen, um spezifische Formen der Verflechtung von Individuum und Gesellschaft, die für bestimmte Sprach- oder Kulturgemeinschaften charakteristisch sind. Nicht nur die Beschreibung des independenten bzw. interdependenten Selbst, sondern vor allem auf lokale Lebensformen zugeschnittene, typisierte Besonderheiten oder Tendenzen im Bereich des Selbst lassen sich als spezifische, für die interkulturelle Psychotherapie besonders relevante Kulturstandards bezeichnen, deren Kenntnis für interkulturell arbeitende Therapeutinnen von Relevanz ist. So schildert etwa der in Indien und Deutschland praktizierende Psychoanalytiker Sudhir Kakar, wie das Konzept der gleichschwebenden Aufmerksamkeit und die damit verbundene Neutralität des Psychoanalytikers aufgrund der in Indien üblichen Form sozialer Beziehungen für indische Patienten eine Atmosphäre reservierter Formalität vermitteln und die therapeutische Absicht des Analytikers unglaubwürdig wirken lassen, so dass der Psychoanalytiker sich gegenüber indischen Patienten weitaus aktiver als konkrete Person einbringen muss als mit deutschen Patienten (vgl. Kakar 1999). Natürlich gehören zu den im Psychotherapiebereich relevanten Kulturstandards nicht nur solche Normen, Werte und Praktiken, die sich direkt auf das Selbst und damit auf die kulturelle implizite Vorstellung einer gesunden Persönlichkeit beziehen, sondern auch andere kulturelle oder auch religiöse Normen und Werte, die für das Selbst-, Welt- und Menschenbild des Patienten konstitutiv sind. In den Gesprächen mit interkulturell arbeitenden Therapeutinnen wird oft auf die Bedeutung sprachlichen Konzeptwissens verwiesen, entweder abstrakte Konzepte wie etwa Zeit und Raum betreffend, oder aber mit Bezug auf konkrete Regeln und Normen, die etwa die Bedeutung und Bewertung bestimmter Lebensabschnitte, Verwandtschaftsbeziehungen, Geschlechterrollen, 157

BARBARA ZIELKE

kulturspezifische Konzepte von Gesundheit, Krankheit und Heilung oder die kulturelle Bedeutung wichtiger Lebensbereiche wie Sexualität bestimmen.

Der Einsatz von Kulturstandardwissen in der interkulturellen Psychotherapie Ich möchte die Verwendung solcher Wissensbestände in der interkulturellen Psychotherapie nun anhand der Aussagen einer Psychotherapeutin illustrieren, die im Rahmen eines teilstrukturierten Interviews mit längeren narrativen Passagen darüber Auskunft gibt, wie sie mit den Anforderungen interkultureller Kommunikation in der psychotherapeutischen Beziehung umgeht. Die Interviewpartnerin, Frau Schulte, ist DiplomPsychologin und Psychotherapeutin in einer deutschen Großstadt und arbeitet in erster Linie mit für sie »fremdkulturellen« Patientinnen und Patienten. Frau Schulte hat selbst längere Zeit im europäischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Ausland gelebt und praktiziert. Im Interview konnte sie auf eine Vielzahl von Beispielen aus ihrer interkulturellen Praxis verweisen, die illustrieren, wie wichtig die Kenntnis kulturell differenter Konzepte und Standards für ihre Arbeit ist. Oft waren es semantische Konzepte, die in Frau Schultes Selbstzuschreibung von Kulturstandardwissen relevant wurden, wie etwa in der folgenden Passage3: IP:

Konzepte von Zeit; nicht? Zum Beispiel, wenn sie äh aus dem, nehm ma ma aus dem spanischen Kulturkreis oder- oder Lateinamerika (--), dann heißt es, die Zeit ist el tiempo, nich? Aber el tiempo ist gleichzeitig das Wetter; ne. Also iss nur! so=n Beispiel; aber was bedeutet das, nich, oder wenn ein hawaiianisches Sprichwort heißt, ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit, nicht, also des iss- des iss unwahrscheinlich wichtig so etwas; nich.

Auch dieses sprachliche Wissen über identitätsrelevante Konzepte und Orientierungen ist zwar vage und die z. B. mit der Übersetzung von »el tiempo« verbundenen kulturellen Bedeutungen liegen nicht etwa als ein3

Als Transkriptionssystem werden Notationsregeln verwendet, die neben Unterbrechungen und Betonung auch die Verzeichnung parasprachlicher Äußerungen und Pausen unterschiedlicher Länge vorsehen. Das verwendete System wurde als vereinfachte Version der GAT-Transkriptionskonventionen für Basistranskripte (Selting et al., 1998) erstellt; einbezogen wurden auch Vorschläge von Riemann (1987), Kallmeyer und Schütze (1976). Eine kurze Darstellung der hier verwendeten Transkriptionsregeln findet sich am Ende des Textes.

158

ATTRIBUTIONEN KULTURELLER FREMDHEIT IN DER PSYCHOTHERAPIE

deutige Lesarten vor, sondern sind im Sinne des Kulturpsychologen Ernst Boesch polyvalent, d. h. per definitionem interpretationsbedürftig und performativ mehrdeutig. Um Kulturstandardwissen handelt es sich hier gleichwohl, da es für Frau Schulte um den Zugriff auf die für sie verfügbaren Bestände an Sprach- und Bedeutungswissen geht, auf die sie sich reflexiv bezieht und die eine unverzichtbare Grundlage für das Verständnis ansonsten nur schwer deutbarer Orientierungen oder Handlungen bieten. Frau Schulte verfügt über einen großen Fundus spezifischer konzeptueller Kulturstandards, auf den sie sich in ihrer Arbeit immer wieder bezieht. Eine andere Art des für sie wichtigen Kulturstandardwissens, nämlich Wissen über allgemeine Konventionen oder Regeln des Handelns, bezieht sich auf den Umgang mit Sexualität: IP:

In der islamischen Kultur iss:::es ja eigentlich n=Tabu; (.) nich, darüber zu sprechen. Also es wird sexuell sag ich jetzt mal ganz frech, agiert aber es wird nicht äh, äh darüber gesprochen; ja? Es wird nicht über die Qualität der sexuellen Beziehung gesprochen; (.) es wird nicht über die Art der Begegnung gesprochen es wird auch nicht über den Austausch von Gefühlen (.) gesprochen, es wird einfach totgeschwiegen.

Auch wenn die hier enthaltenen Wissensbestände mit emotional aufgeladenen Bewertungen verbunden sind (»einfach totgeschwiegen«) und vornehmlich über die negative Bestimmung dessen, was nicht möglich oder aber gefährlich ist, durchgeführt werden, entsprechen sie doch der oben stehenden Definition von Kulturstandards, insofern Frau Schulte hier allgemeine Kommunikations- und Interaktionsregeln nennt (»es wird nicht über die Qualität der sexuellen Beziehung gesprochen«). Die gute Kenntnis dieser kulturspezifischen Konzepte und Regeln sowie die Fähigkeit, sie zu reflektieren, sind gewiss unerlässlich für die Durchführung interkultureller Therapien. Dieses Kulturstandardwissen allein macht allerdings noch keinen interkulturell kompetenten Therapeuten aus: Es bedarf noch weiterer Fähigkeiten oder Kompetenzen, um angesichts verfügbaren Wissens über Kulturstandards dann tatsächlich über kulturelle Grenzen oder kulturell differente Selbstverständnisse hinweg zu kommunizieren bzw. kulturübergreifend therapeutisch zu handeln. Sobald es um die Übertragung des allgemeinen Regelwissens auf spezielle Situationen geht, reicht seine Verfügbarkeit allein nicht mehr aus. Das »Thema« Sexualität ist auch hier ein gutes Beispiel: IP:

Ja und dann geht es zum Beispiel um Themen (-) Sexualität, nicht, das ist ne ganz, ganz problematische Sache. […] Und auch zum Beispiel grade bei

159

BARBARA ZIELKE Männern; ne? also iss::: gefährlich; auch jetzt für mich als Frau; muslimischer Mann, über Sexualität zu sprechen.

Es ist trivial, dass das Wissen darüber, dass das Sprechen über Sexualität »problematisch« ist und dass man es nach Ansicht der »muslimischen Männer« – so irgend möglich – vermeiden solle, noch lange nicht garantiert, dass Frau Schulte sich in entsprechenden Situationen sicher zu verhalten weiß. Der Satz, der eigentlich beschreiben soll, wie diese bereits mehrfach zitierte Regel auf eine konkrete Situation bezogen wird, fällt elliptisch aus (»iss’ gefährlich für mich als Frau, muslimischer Mann, über Sexualität zu sprechen«) und gibt möglicherweise damit einen Hinweis darauf, wie schwer der Therapeutin die Einschätzung fällt, ab wann oder in welcher Weise dieses Thema problematisch oder gar »gefährlich« wird und was dann zu tun ist. Hier konstituiert sich Fremdheit offensichtlich noch auf einer anderen Ebene als derjenigen des fehlenden Wissens über kulturelle Konventionen und kulturell bestimmte Handlungsregeln oder -erwartungen (diese sind bekannt, sie geben vor, dass eben nicht oder nur sehr versteckt über »die Art der Begegnung«, über »Gefühle« oder über Sexualität gesprochen »wird«). Vielmehr zeigt sich, dass Frau Schulte sich dann besonders fremd (und darüber hinaus auch bedroht) fühlt, wenn es darum geht, dass ihr ein »muslimischer Mann« gegenübersitzt, mit dem sie bereits verschiedene Themen bearbeitet hat, und den sie nun als einen Fall erkennen und spezifizieren muss, für den die ihr bekannte Konvention »man spricht im Islam nicht frei über Sexualität oder über Gefühle« tatsächlich zutrifft. Wie gesagt: Der Unterschied zwischen Wissen und seiner Umsetzung, auf den hier hingewiesen ist, mag trivial erscheinen – es wird aber in auf Kulturstandards basierenden Modellen kultureller Differenz und interkultureller Kompetenz bis heute in der Regel an den Rand gedrängt, dass kulturelle Differenz zwar dann zum Kommunikations- und Interaktionsproblem wird, wenn Interaktionspartnern das Wissen über andere Kulturen fehlt, dass das Interaktionsproblem aber mit der Akkumulation expliziten Wissens über die »andere Kultur« keineswegs gelöst ist. Um auf der Basis von Kulturstandardwissen, das per definitionem als typisierte Charakterisierungen des Fremden vorliegt, zu handeln, ist die praktische Kompetenz notwendig, die es erlaubt, konkrete Situationen zu spezifizieren und abstraktes Regelwissen auf sie anzuwenden. Es wird im folgenden Abschnitt Thema sein, dass und inwiefern sich die hier geforderte »Anwendungskompetenz« psychologisch spezifizieren lässt und wie sie sich vom expliziten »Kulturstandardwissen« unterscheidet. Ich werde zunächst kurz beleuchten, wie die einschlägige Forschung zur interkulturellen Kompetenz die hier relevante Unterschei160

ATTRIBUTIONEN KULTURELLER FREMDHEIT IN DER PSYCHOTHERAPIE

dung zwischen Fakten- und Regelwissen auf der einen, Handlungswissen auf der anderen Seite aufnimmt, um dann wieder auf das Fallbeispiel zurückzukommen.

Interkulturelle Kompetenz: Kulturstandardwissen oder Handlungskompetenz? Interkulturelle Kompetenz ist Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und wird unter unterschiedlichen Gesichtspunkten erforscht. In der Psychologie nehmen bislang Arbeiten aus der (angloamerikanischen) Anwendungsforschung im Bereich interkultureller Trainings oder Schulungen den größten Raum ein und versuchen unter variierenden Titeln, wie z. B. »cross-cultural effectiveness«, »cross-cultural competence« oder »intercultural communication competence« eine einheitliche Definition dieser neuen Schlüsselqualifikation zu erstellen (vgl. zusammenfassend Rohr 2002). Allerdings sind die meisten Arbeiten zur Thematik interkultureller Kompetenz bislang auf die Optimierung (bestehender) Trainingsprogramme ausgerichtet, was dazu führt, dass die Präzisierung des begrifflichen Konstrukts in den Hintergrund rückt.4

Interkulturelle Kompetenz als implizites Wissen Dieses Defizit wird allerdings heute innerhalb der Psychologie interkulturellen Handelns immer deutlicher gesehen. Verstanden wird unter interkultureller Kompetenz zwar in der Regel zunächst die Kenntnis jeweils relevanter Kulturstandards der anderen und der eigenen Kultur, gepaart mit der Fähigkeit, eigenkulturell effektive Verhaltensmuster sowie kulturell bestimmte Bewertungen zu relativieren und auch solchen Situationen, in denen die interkulturelle Verständigung dennoch nicht erfolgreich ist, mit einer Wertschätzung des Fremden, Ambiguitätstoleranz und ausreichender emotionaler Stabilität zu begegnen. Dabei wird zwischen kognitiven, affektiven und konativen Komponenten einer solchen Kompetenz unterschieden (Thomas 2003; Bolten 2003). Darüber hinaus wird mittlerweile aber immer häufiger betont, dass zentrale Be4

Ein gravierender Mangel ist etwa, dass bis heute nicht klar definiert ist, wie sich interkulturelle Kompetenz von anderen Expertisen unterscheidet, welche psychologische Lerntheorie geeignet sein könnte, den Erwerb kultureller Kompetenz zu erläutern, oder worin der entscheidende Unterschied zur allgemeinen sozialen Kompetenz liegt (vgl. Thomas 2003; Eder 2003). 161

BARBARA ZIELKE

standteile interkultureller Kompetenz als »implizites Hintergrundwissen«, als implizites, praktisches oder prozedurales Wissen zu konzeptualisieren sind (Thomas 2003; Renn 2004; Zielke 2005; Fischer/Straub 2005). Praktisches oder implizites Wissen zeichnet sich z. B. dadurch aus, dass es in sozialen Situationen »spontan« und mit einer gewissen Sicherheit aktualisiert wird, aber dem Handelnden selbst nicht etwa in Form expliziter Handlungsregeln, die sich verbalisieren ließen, bewusst ist. Das bedeutet, dass sich Erwerb wie Anwendung eines solchen Wissens im praktischen Vollzug interkultureller Kommunikation aktualisieren. Wie soll man sich die Verfügbarkeit oder Repräsentation dieses impliziten Wissens vorstellen? Für die Analyse der spezifischen Repräsentationsform des impliziten Wissens erscheint zunächst ein Exkurs in die Wissenspsychologie nahe liegend, schon ein kurzer Blick in einschlägige Arbeiten und Lehrbücher (z. B. Mandl/Spada 1988; Anderson 2001; Gazzaniga et al. 2002) allerdings zeigt, dass man sich in der kognitivistischen Wissens- und Gedächtnispsychologie mit der Konzeptualisierung prozeduralen oder impliziten Wissens eher halbherzig befasst hat. Dies mag dem nachhaltigen Einfluss des kognitivistischen Paradigmas der Symbolverarbeitung geschuldet sein: In den Jahren nach der kognitiven Wende wurde der Computationalismus zwar verschiedentlich als eine Fehlentwicklung der Kognitionswissenschaften kritisiert, allerdings mehr in der Philosophy of Mind und weniger innerhalb der kognitiven Psychologie (s. kritisch Zielke 2004, Kap. 1 und 2). Auch wenn es mittlerweile als gesichert gilt, dass die computationalistische Informationsverarbeitungstheorie das kulturelle Alltagswissen der Menschen bis heute nur in sehr unzureichender Weise beschreibt (Bruner 1990; Still/ Costall 1991 u. a.), hat die Psychologie sich keineswegs von computationalistischen Modellen verabschiedet. Entsprechend wird auch die Verbindung von Wissen und Handeln bis heute nach dem Muster »bewusster Handlungsplan bestimmt körperliche Ausführung« gedacht, bei dem das Bild der kognitiven »Schaltzentrale« im Vordergrund steht, die alles, was »der Rest« tut, nicht nur plant, sondern auch nach Maßgabe expliziter Regeln kontrolliert und über Ist-Soll-Vergleiche korrigiert. Einen solchen »Intellektualismus« hatte bekanntlich Gilbert Ryle schon in den 40er Jahren der Philosophy of Mind vorgehalten (Ryle 1997: 32). Die gekonnte Ausführung von Handlungen, so Ryle, funktioniert nicht etwa vorrangig über explizit angebbare, »theoretische« Regeln oder Kriterien. Dies zeige der alltagssprachliche Gebrauch solcher Adverbien, die sich auf die gelungene Ausführung von Tätigkeiten beziehen (wie etwa gut, intelligent, gekonnt, geschickt, versiert usw.): Sie signalisieren nämlich eher die Beherrschung derjenigen Praxis, auf die 162

ATTRIBUTIONEN KULTURELLER FREMDHEIT IN DER PSYCHOTHERAPIE

sie sich beziehen (also etwa ›Schach spielen‹ oder ›argumentieren‹), als die Verfügbarkeit theoretischen Wissens über die korrekte Ausführung dieser Praxis (etwa die Regeln des Schachspiels bzw. des Argumentierens genau zu kennen) (Ryle 1997: 214). Mit einer Fertigkeit ist eben nicht eine bilaterale (intelligent geplante und nach einiger Übung ausgeführte), sondern eine auf einheitliche Operationen einer speziellen Verfahrensweise ausgerichtete Fähigkeit gemeint. Darauf bezieht sich Ryle mit der bekannten Unterscheidung zwischen ›knowing-how‹, also Können, im Gegensatz zu ›knowing-that‹, also propositionalem Fakten- und Regelwissen.5 Auch die für den Umgang mit kultureller Differenz und Fremdheit erforderliche Kompetenz ist zu einem Gutteil eben ein Können; sie besteht nicht allein in explizitem, theoretischem Wissen über kulturelle Regeln oder Konzepte, sondern vielleicht sogar vorrangig in der gekonnten Anwendung dieses Regelwissens. Dabei ist zu betonen, dass dasjenige Wissen über kulturelle Differenz, das den Umgang mit diesen Differenzen in konkreten Situationen ermöglicht, nicht nur auf besondere Weise, nämlich durch Partizipation an den entsprechenden sozialen Praktiken erworben werden muss, sondern sich auch hinsichtlich des Status seiner Repräsentation unterscheidet. Handlungswissen ist unsicher, vage, polyvalent oder »unscharf« – und das muss es bis zu einem gewissen Grad auch bleiben, um situativ flexibel einsetzbar zu sein. Beziehen wir diese allgemeine Unterscheidung unterschiedlicher Wissenstypen auf den Psychotherapiekontext, so ist einer Therapeutin, deren Arbeit zunehmend in interkulturellen Kontexten vonstatten geht, 5

Der Kognitionspsychologie, die prozedurales Wissen mit Hilfe algorithmischer Wenn-dann-Optionen konzeptualisiert (vgl. Dörner et al. 1983), ist dieser Kerngedanke der Ryle’schen Unterscheidung fremd geblieben, wenngleich auch die psychologische Unterscheidung zwischen deklarativem und prozeduralem Wissen angeblich auf Ryle zurückgeht (s. Tergan 1986; kritisch: Zielke 2004). Dagegen wird außerhalb der Psychologie vielfach auf den signifikanten Unterschied zwischen theoretischem und praktischem Regelwissen Bezug genommen: Neben dem Ryle’schen ›knowing-how‹ wäre hier etwa Clifford Geertz’ Unterscheidung der ›experience near concepts‹ von rein kognitiven, theoretischen Konzepten oder Anthony Giddens’ ›Strukturierung‹ zu nennen. Auch Schütz’ Konzeptualisierung des »Alltagswissens« oder Bourdieus These eines sozial verankerten, leiblich repräsentierten und niemals voll explizierbaren ›Habitus‹ sind Versuche, das kulturelle Wissen, das ein Individuum zur Partizipation an einer kulturellen Lebensform befähigt, als implizites, praktisches Wissen zu spezifizieren und dieses »Wissen« vom theoretischen Wissen zu unterscheiden. Angeknüpft werden kann auch an die wissenssoziologische Expertiseforschung, in der die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem (bzw. deklarativem und prozeduralem) Wissen ebenfalls konstitutiv ist (Polanyi 1985; Bohnsack 2001). 163

BARBARA ZIELKE

sicherlich zu raten, dass sie sich erstens das notwendige explizite Wissen über Kulturstandards, insbesondere über das Selbst und damit zusammenhängende Themen und Wirklichkeitsbereiche verfügbar macht. Dies könnte im oben beschriebenen Sinn etwa bedeuten: Sie macht sich vertraut mit bekannten Besonderheiten des familiären Rollenverständnisses ihrer Klientel, mit kulturell bestimmten, auch religiösen Normen und Werten, Welt- und Menschenbildern der betreffenden Kultur sowie damit verbundenen Verhaltens- und Interpretationsregeln (zum Beispiel den Umgang mit dem anderen Geschlecht oder Sexualität betreffend). Hat sie sich hier informiert, verfügt sie immerhin über einen beträchtlichen Fundus dessen, was wir mit Alexander Thomas als spezifisches, das Selbst und Weltbild betreffendes Kulturstandardwissen bezeichnen könnten, das ihr für den Umgang mit Fremdheit in der Psychotherapie sicherlich nützlich ist. Zusätzlich aber benötigt diese Therapeutin die für die Umsetzung dieses Wissens in therapeutisches Handeln notwendige praktische Kompetenz, »Fingerspitzengefühl«, ein ›knowing-how‹ oder praktisches Wissen, das sich nicht vollständig standardisieren und explizieren und nicht durch Lektüre oder Trockenübungen aneignen lässt und das notwendigerweise implizit bleibt. Ungeachtet dieser Einsichten wird interkulturelle Kompetenz in der Psychologie interkulturellen Handelns nach wie vor als Fähigkeit zum bewussten, reflexiven Umgang mit typischen Differenzen gehandelt – dies geben zumindest bis heute viele der gängigen Definitionen des Begriffs vor. Stellt man dann noch Begriffe wie ›Handlungssicherheit‹, ›Handlungsflexibilität‹ oder einfach ›Effizienz‹ in den Vordergrund (Thomas 2003: 144, 146; Bolten 2003: 157), wird ein Ausmaß an Eindeutigkeit kulturellen Wissens und an »Technisierbarkeit« seiner Anwendung suggeriert, das weder einem differenzierten Konzept interkultureller Kompetenz im Allgemeinen noch der Komplexität der psychotherapeutischen (und jeder sozialen) Anwendungssituation im Besonderen gerecht wird.6 Darüber hinaus geht in den gängigen Definitionen i. d. R. unter, dass das implizite, praktische kulturelle Wissen an intersubjektive Erfahrungen gebunden ist und nur in sozialen Interaktionssituationen erworben werden kann – dies aber bedeutet, dass die Zuschreibung interkultureller Kompetenz auf einzelne Individuen, etwa im Sinne indi6

Technisierbarkeit und individuelle Messbarkeit interkultureller Kompetenz wäre allenfalls angemessen, wenn man der Engführung kognitionswissenschaftlicher Konzeptualisierungen »praktischen« bzw. »prozeduralen« Wissens folgen wollte (z. B. Dörner et al. 1983), die unter der Umsetzungskomponente ebenfalls einen als Algorithmus gespeicherten Kanon eindeutig benennbarer »Wenn-dann-Operationen« verstehen (vgl. kritisch Zielke 2004, Kap. 1 und 2).

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ATTRIBUTIONEN KULTURELLER FREMDHEIT IN DER PSYCHOTHERAPIE

viduell verfügbarer Handlungskompetenz, gar nicht möglich ist, da es sich immer um ein interaktiv erworbenes und erprobtes Können handelt, das prinzipiell unsicher bleibt (vgl. Bourdieu 1995; Renn 2004; Zielke 2004).

Interkulturelle Handlungskompetenz in der psychotherapeutischen Beziehung Der Psychotherapeut Thomas Hegemann betont in einem praxisorientierten Handbuch für die transkulturelle Therapie und Beratung, dass es für den Erwerb interkultureller Kompetenz wichtig sei, das erworbene kulturelle Wissen »nicht zu stereotypisieren«, und dass daher diese schwer zu fassende Kompetenz am ehesten und in bewusster Vagheit als »kompetenter Umgang mit Unterschiedlichkeit« beschrieben sei (2004: 82 f.). So oder in ähnlichen Formulierungen klingt in den gängigen, für praktisch tätige Psychologen oder die Beraterin gedachten Definitionen oder Hinweisen durchaus an, dass sich die Zuschreibung interkultureller Kompetenz nicht vorrangig auf Wissensbestände oder auf Handlungssicherheit im Ungang mit fremden Kulturen beziehe, sondern immer auch auf »unsicheres Wissen« oder auf den Umgang mit Nicht-Wissen bzw. mit Unsicherheit und Unentscheidbarkeit (vgl. Mecheril 2004). Auch Frau Schulte äußert sich nämlich, sobald es um die Anwendung der ihr verfügbaren Konzepte – etwa zur kulturspezifischen Bedeutung von Sexualität – geht, im Sinne eines eher vagen »Ausprobierens«. Sie wird gefragt, wie man es denn anstellen sollte, in den von ihr beschriebenen Fällen überhaupt über Sexualität zu sprechen oder damit konnotierte Themen zu bearbeiten. I: IP:

Ist es denn möglich? Ähh: es ist schon möglich, aber mmhh es ist ein Tastvorgang; nich.

Was man dabei braucht, ist eine Art Fingerspitzengefühl für die richtige Art des Thematisierens, man kann »zunächst mal mit Bildern arbeiten«, dann »metaphorische Konzepte hernehmen«, oder aber »klarstellen… sie leiden darunter« – wie die Bearbeitung dann gelingt, muss sich stets vor Ort erst herausstellen. Ein solcher »Tastvorgang«, so die Interviewte weiter, kann immer auch misslingen und zum Abbruch der Kommunikation bzw. der Behandlung führen. Das »Thema« Sexualität mag auftauchen und auch angesprochen werden, aber es kann nicht immer bearbeitet, »behandelt« werden.

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BARBARA ZIELKE IP:

Also des sagt jetzt kein muslimischer Mann aber es kommt immer wieder raus; (.) ne: ich hab Probleme mit Frauen-