Zur Ästhetik psychischer Krankheit in kinder- und jugendliterarischen Medien: Psychoanalytische und tiefenpsychologische Analysen – transdisziplinär erweitert [1 ed.] 9783737010597, 9783847110590

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Zur Ästhetik psychischer Krankheit in kinder- und jugendliterarischen Medien: Psychoanalytische und tiefenpsychologische Analysen – transdisziplinär erweitert [1 ed.]
 9783737010597, 9783847110590

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Iris Schäfer (Hg.)

Zur Ästhetik psychischer Krankheit in kinder- und jugendliterarischen Medien Psychoanalytische und tiefenpsychologische Analysen – transdisziplinär erweitert

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung des Ruth Moufang-Fonds.  2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung:  Anna Stemmann. Zur Umschlagabbildung siehe auch S. 493. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1059-7

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Iris Schäfer Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Psychoanalytische Lesarten kinder- und jugendliterarischer Medien. Neue Ansätze der Freud’schen Analyse Anna Adler Über den unbewussten Umgang mit einer traumatischen Erfahrung in Alfred Döblins Die Tänzerin und der Leib . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lotta Zipp Der Anfang zum Schluss – Dunkler Frühling als Fundierung einer angelegten pathogenetischen Lesart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mona Baumann Ähnlich und doch nicht gleich. Das Unheimliche nach Sigmund Freud in Neil Gaimans Coraline und Henry Selicks gleichnamiger Verfilmung . . .

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Rachel Lupo Die Darstellung psychischer Konflikte in der Kinder- und Jugendliteratur am Beispiel von Sieben Minuten nach Mitternacht und Coraline . . . . .

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Rieke Neupert Zur Gruppendynamik in Janne Tellers Nichts. Was im Leben wichtig ist – Anführermotiv und Kollektivhalluzination nach Freud und Le Bon . . . . 135

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Inhalt

II. Sag- und Unsagbares im wachen und traumhaften Erleben. Linguistische, psychoanalytische und filmwissenschaftliche Perspektiven Vaiana Dyballa Zur »Erweckung« Schneewittchens über die Ästhetik des Visuellen – intermediale Spiegelmotive in Pablo Bergers Stummfilm Blancanieves. Ein Märchen aus Schwarz und Weiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Maren Feller Der Ausdruck des Unmöglichen – Die Sprache des Wahnsinns. Über den Nonsens in Lewis Carrolls Alice-Romanen und wie dieser in Tim Burtons filmischer Adaption umgesetzt wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Iana Hosch Traummetaphorik und Traumdeutung in Lou Andreas-Salom8s Novelle Wolga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Lisa Winter Das wahre Leben? Traumdarstellungen in ausgewählten Kinder- und Jugendromanen zum Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Carolin Schreiber »Halt den Mund. Schweig still. Sag kein ________.« Sprache und Sprachlosigkeit: Die Darstellung tabuisierter Themen im aktuellen Jugendroman am Beispiel von Janne Tellers Nichts und Tobias Elsäßers Für niemand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

III. Historische und vergleichende Analysen psychischer Dynamiken und ihrer Effekte aus transdisziplinärer Perspektive Laura Haas Eine transdisziplinäre Analyse der Figur des bösen Kindes in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Adriana Acquaviti Das Haus als Abbild der Seele: Pathogene Behausungen und die Gefängnismetaphorik der Anorexie in Lara Schützsacks Und auch so bitterkalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

Inhalt

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Io Josefine Geib Verlust der Außenwelt in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann . . . . . . . 337 Freya Brasse Kindliche Ängste und drohender Ich-Verlust als Motive von Neil Gaimans Coraline und Lewis Carrolls Alice im Wunderland . . . . . . . . 347 Lena-Marie John von Zydowitz »Du wirst frei sein.« – Suizid Jugendlicher zwischen literarischer Umsetzung und zeitgenössischen Suiziddiskursen am Beispiel von Emil Strauß’ Freund Hein und Tobias Elsäßers Für niemand . . . . . . . . . . 373

IV. Von Spiegelungen und Doppelgängerfiguren und ihrer Bedeutung für die Individuation. Psychoanalytische, tiefenpsychologische und entwicklungspsychologische Analysen Meggan Noack Der Spiegel und die Psyche. Spiegelmetaphorik und jugendliche Reifungsprozesse psychologisch erläutert am Beispiel von Hans Christian Andersens Schneekönigin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Lara Busch Verfilmte Initiation. Es war einmal Indianerland . . . . . . . . . . . . . . 413 Leonie Zilch Von Peter Banning zu Pan zu Peter – Der Weg der Individuation nach Carl Gustav Jung in Spielbergs Hook . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Lisa Winter Egoman(n)?: James Matthew Barries Peter Pan im Spiegel der Narzissmusforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Eva Neubauer Die Schattenseite Peter Pans – Untersuchung zum Unheimlichen und der Figur des Dritten am Beispiel des Schattens in Peter Pan . . . . . . . . . 471 Kurz-Biografien der Beiträgerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Zur Umschlagabbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

Danksagung

Ein ganz besonderer Dank gilt dem Ruth Moufang-Fonds, dessen großzügige Unterstützung es ermöglicht hat, die hier versammelten Beiträge, die das kinderund jugendliterarische Methodenarsenal mittels innovativer Zugänge erweitern und bereichern, der interessierten Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen.

Iris Schäfer

Vorwort

Literaturwissenschaftliche Analysen aus psychoanalytischer und bzw. oder tiefenpsychologischer Perspektive sind innerhalb der deutschsprachigen Kinder-/Jugendliteratur- und -medienforschung zu Unrecht unterrepräsentiert. Als Analyseinstrumente finden sie primär in der Märchenforschung Anwendung.1 Dass diese Zugänge – insbesondere, wenn sie eine transdisziplinäre Erweiterung erfahren – ein weitaus größeres Potenzial für eine differenzierte Analyse von Kinder- und Jugendmedien aufweisen als das sprichwörtliche Auf-die-CouchLegen der Figuren oder der Textproduzent*innen, wird am Beispiel der ausgewählten Beiträge deutlich. Die hier versammelten Aufsätze basieren auf studentischen Seminar- und Abschlussarbeiten, weshalb sie in ihrer Länge variieren. Gesichtet und ausgewählt wurden die 20 Beiträge im Verlauf mehrerer Jahre, in denen die Beiträgerinnen durch Seminare, die unterschiedliche Facetten von Kinder- und Jugendmedien fokussierten, inspiriert wurden. Die Aufsätze vermitteln einen Eindruck vom Spektrum und Potenzial einer psychoanalytischen und bzw. oder tiefenpsychologischen Analyse für das Gebiet der Kinder- und Jugendmedienwissenschaft und erweisen sich durch eine transdisziplinäre Erweiterung als besonders innovativ. Unter dem ersten thematischen Schwerpunkt sind Aufsätze versammelt, die eine klassische Freud’sche Literaturanalyse auf bisher kaum erforschte historische und neuere kinder- und jugendliterarische Texte anwenden. Anna Adler fokussiert den unbewussten Umgang mit einer traumatischen Erfahrung in Alfred Döblins Novelle Die Tänzerin und der Leib (1910). Eine Erweiterung erfährt der psychoanalytische Zugriff durch die Diskursanalyse und die GenderStudies. Adler liest die geschilderte Trennung von Geist und Körper als psychischen Vorgang und richtet den Fokus auf die Inszenierung von psychoana1 Siehe auch: Iris Schäfer : »Spektrum und Potenzial psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Zugänge zur Kinder- und Jugendliteratur«, Dettmar, Ute / Roeder, Caroline / Tomkowiak, Ingrid (Hrsg.): Schnittstellen der Kinder- und Jugendmedienforschung, Stuttgart: Metzler 2019, S. 199–213.

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Iris Schäfer

lytischen Phänomenen vor dem Hintergrund der Diskursverschränkung von Wissenschaft und Literatur, die im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert zur Ästhetisierung außerliterarischer, insbesondere psychologischer Wissensbestände beiträgt.2 In diesem Zusammenhang berücksichtigt sie unter anderem den zeitgenössischen Hysterie-Diskurs, der durch die Feder des auch als Arzt tätigen Döblins eine literarische Ästhetisierung erfährt. Erstaunlicherweise trifft dies auch auf Unica Zürns autobiografisch geprägte Erzählung Dunkler Frühling (1969) zu, deren Autorin nicht als Ärztin, sondern als Patientin der Psychoanalyse einen divergenten Blickwinkel auf die geschilderten psychischen Konflikte der weiblichen Hauptfigur gewährt, wie Lotta Zipp in ihrem hieran anschließenden Aufsatz veranschaulicht. Deutlich wird in diesem Beitrag zur Fundierung einer angelegten pathogenetischen Lesart – sowie in anderen psychoanalytisch-feministischen Analysen auch – die Nachhaltigkeit der Verknüpfung von Weiblichkeit und psychischer Krankheit in der Literatur für jugendliche Lesende. Unter Berücksichtigung des der Psychoanalyse eingeschriebenen patriarchalisch konstruierten Welt- und Kulturverständnisses fokussiert Zipp den Individuationsprozess der namenlosen adoleszenten Figur, den sie unter anderem mit Freuds Bruchstück einer Hysterie-Analyse vergleicht. Dass sich die psychoanalytischen Theorien Freuds auch auf aktuelle kinderund jugendliterarische Medien anwenden lassen, macht Mona Baumann in ihrem Beitrag zum Unheimlichen in Neil Gaimans Roman Coraline (2002) sowie Henry Selicks gleichnamiger Verfilmung deutlich. Sie verwendet Freuds Modell des Seelenapparats als Lektüreschlüssel und arbeitet auf diese Weise heraus, dass die andere Mutter Coralines keineswegs als Doppelgängerfigur der leiblichen Mutter der Figur fungiert, sondern vornehmlich verdrängte Persönlichkeitsanteile der adoleszenten Protagonistin repräsentiert. In der hieran anschließenden vergleichenden Analyse nimmt Rachel Lupo ebenfalls eine Analyse von Gaimans Coraline vor. Sie vergleicht den Roman mit Siobhan Dowds und Patrick Ness’ Sieben Minuten nach Mitternacht (2011) und fokussiert hierbei insbesondere die narratologische und ästhetische Ausgestaltung der psychischen Konflikte der jugendlichen Hauptfiguren. Abgeschlossen wird der erste thematische Schwerpunkt durch einen Aufsatz von Rieke Neupert zur Gruppendynamik in Janne Tellers Nichts. Was im Leben wichtig ist (2000). Neupert fokussiert insbesondere das Anführermotiv und die Kollektivhalluzination nach Freud und Le Bon und geht mit diesem innovativen Zugriff der Frage auf den Grund, ob die Figur Pierre Anthon, die in der Schü2 Vgl.: Stephanie Catani: »Die Geburt des Döblinismus aus dem Geist des Fin de SiHcle. Döblins frühe Erzählungen im Spannungsfeld von Ästhetik, Poetik und Medizin«, Davies, Steffan / Schonfield, Ernest (Hrsg.): Alfred Döblin. Paradigms of Modernism. Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 28–45, (S. 29).

Vorwort

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ler*innengruppe um die Ich-Erzählerin durch nihilistische Parolen die Angst vor der Bedeutungslosigkeit ihrer Existenz schürt, als Kolektivhalluzination der Kinder gelesen werden kann. Dieser Zugriff Bereichert die Lesart des überaus kontrovers diskutierten Texts als Parabel um eine weitere Facette. Im hieran anschließenden thematischen Schwerpunkt wird der Blick auf die spezifischen Besonderheiten der Ästhetisierung psychischer Leidensprozesse gerichtet. Unter der Rubrik des Sag- und Unsagbaren im wachen und traumhaften Erleben sind fünf Beiträge versammelt, die aus psychoanalytischer, linguistischer und filmwissenschaftlicher Perspektive die literar-ästhetische Ausgestaltung psychischer Leidensprozesse fokussieren. Die fünf Beiträge kreisen unter anderem um die textuelle Ausgestaltung des Wahnsinns, der sich durch sprachliche Eigenheiten auszeichnet und mitunter in einer finalen Verweigerung der Kommunikation – dem Suizid als Ausdruck des Schweigens – kulminiert. Auch in diesem Abschnitt werden sowohl historische Texte, wie etwa Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (1865), als auch aktuellere mediale Inszenierungen psychischer Krankheiten, wie beispielsweise Tobias Elsäßers Für niemand (2011) in den Blick genommen. Zunächst veranschaulicht Vaiana Dyballa die Betonung des Visuellen in einer modernen Stummfilm-Adaption von Schneewittchen. Deutlich wird hier vor allem die Relevanz der optischen Wahrnehmung, die auch in der Grimm’schen Märchenvorlage präsent ist, da Schneewittchen als Projektionsfläche für die Wünsche und Ängste der anderen Figuren gelesen werden kann; im visuellen Medium des Films jedoch eine zusätzliche Zuspitzung erfährt. Die Ästhetisierung der Hysterie, die mit der zeitlichen Nähe der Blütezeit der Psychoanalyse zur Etablierung des Stummfilms zusammenzuhängen scheint, wird ebenfalls anhand dieses Beispiels veranschaulicht. Anschließend nimmt Maren Feller die Sprache des Wahnsinns in Lewis Carrolls Alice-Romanen im Vergleich zur filmischen Adaption von Tim Burton aus dem Jahr 2010 in den Blick. In ihrer Analyse verbindet Feller psychoanalytische mit linguistischen Perspektiven und bereichert auf diese Weise das Methodenarsenal gängiger Filmanalysen. Eine Bereicherung in anderer Weise stellt Iana Hoschs Analyse der Novelle Wolga aus Lou Andreas-Salom8s Novellenzyklus Im Zwischenland (1902) dar. Da aus heutiger Perspektive die Mädchenliteratur der Zeit um 1900 primär auf die s. g. Backfischliteratur reduziert wird, in der die spezifischen Herausforderungen weiblicher Adoleszenz keine Beachtung finden, ist die Wiederentdeckung solcher Texte umso wertvoller für die Korrektur dieses eingeschränkten Blicks auf die historische Entwicklung der Gattung. Dass Andreas-Salom8 vor ihrer Ausbildung bei Sigmund Freud unter anderem als Kinder- und Jugendbuchautorin tätig war, ist ebenfalls kaum bekannt; sie wird zu Unrecht auf die Funktion der »Muse« berühmter Männer (Freud, Nietzsche, Rilke) reduziert. Unter Bezugnahme auf zeitgenössische psychoanalytische Studien gelingt es Hosch zu

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Iris Schäfer

veranschaulichen, dass Andreas-Salom8 in ihrer Novelle Wolga ein differenziertes Bild der psychischen Herausforderungen weiblicher Adoleszenz zeichnet. Deutlich wird auch, dass sich das literarische Werk Andreas-Salom8s auf hervorragende Weise durch die psychoanalytischen wissenschaftlichen Beiträge der Autorin erschließen lässt. Analog zu Freuds Traumdeutung gelangen in den Träumen der Protagonistin die im wachen Leben unterdrückten Wünsche und Ängste der Figur in verdichteter Weise zur Darstellung. Eine ganz andere Art von Traumdarstellungen nimmt Lisa Winter in ihrer Arbeit: »Das wahre Leben? Traumdarstellungen in ausgewählten Kinder- und Jugendromanen zum Holocaust« in den Blick, die auf ihrer Bachelorarbeit basiert. Die Phänomene des Traums und Träumens in Kinder- und Jugendmedien sind weitestgehend unerforscht. In diesem Beitrag wird der Fokus auf die Funktion des Motivs als für im wachen Erleben der Figuren schwer Darstellbares gerichtet. Die unterschiedlichen kinder- und jugendliterarischen Medien, die Winter analysiert, vermitteln einen Eindruck von den individuellen Auswirkungen traumatischer Erlebnisse des Holocaust über die Ebene der Träume. Die im Wachen manifeste Sprachlosigkeit wird im Traumerleben überwunden. Wie Winter eindrucksvoll aufzeigt, eignet sich das visuelle Medium des Comics besonders gut, um die rasche Bildabfolge von Traumbildern ästhetisch auszugestalten. Unterschiedliche Facetten der Sprachlosigkeit als Ausdruck psychischer Konflikte nimmt Carolin Schreiber in ihrer vergleichenden Analyse von Janne Tellers Nichts (2000) und Tobias Elsäßers Für niemand (2011) in den Blick, mit der der zweite thematische Schwerpunkt beendet wird. Während in Tellers Nichts ein sukzessives Verstummen auf die zunehmende psychische Belastung der Schüler*innengruppe bezogen werden kann, manifestiert sich in Elsäßers Für niemand der Wunsch nach der endgültigen Verweigerung jeglicher Kommunikation im Todeswunsch der jugendlichen Figuren. Unter dem dritten thematischen Schwerpunkt sind fünf Beiträge versammelt, welche die in historischen und zeitgenössischen Darstellungen illustrierten psychischen Dynamiken sowie ihre Effekte aus transdisziplinärer Perspektive analysieren. Zunächst nimmt Laura Haas die historische Entwicklung der Figur des bösen Kindes in den Blick. Dieser auf einer Bachelorarbeit basierende Beitrag zeichnet sich durch die Erweiterung einer psychoanalytischen Perspektive durch Aspekte der Gender Studies, der Entwicklungspsychologie sowie der Pädagogik aus. Haas geht der Frage auf den Grund, warum das böse Verhalten weiblicher und männlicher Figuren nach wie vor aufgrund von geschlechtsspezifischen Zuschreibungen variiert. Ein überaus innovativer Ansatz ist in Adriana Acquavitis Beitrag zum Haus als Abbild der Seele präsent. Sie kombiniert den psychoanalytischen Fokus mit raumtheoretischen und philosophischen Überlegungen, um die literar-ästhe-

Vorwort

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tisch ausgestaltete Verschränkung des in Lara Schützsacks Romans Und auch so bitterkalt (2014) geschilderten dynamischen Krankheitsverlaufs der magersüchtigen Hauptfigur mit dem sukzessiven Verfall des Familienhauses zu analysieren. Dass die Inszenierung des erkrankten Körpers einem Gefängnis gleicht, macht sie zudem durch Bezüge auf Michel Foucaults Studie Überwachen und Strafen deutlich. Während in diesem Beitrag die enge Verbindung der anorektischen jugendlichen Protagonistin mit dem Elternhaus der Familie und die hierdurch zum Ausdruck gebrachte gestörte Innenwelt bzw. Ich-Grenze (im Sinne von Funkes Ausführungen zur s. g. dritten Haut)3 deutlich wird, nimmt Io Josefine Geib in ihrem Beitrag den Verlust der Außenwelt der Hauptfigur als zentrales Motiv von E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) in den Blick. Sie arbeitet heraus, dass Hoffmann am Beispiel der Hauptfigur die Entwicklung eines Individuums veranschaulicht, das zunehmend in einer inneren Traumwirklichkeit versinkt, die immer weniger mit der Außenwelt kompatibel ist, wodurch die Figur den Bezug zur äußeren Wirklichkeit verliert. Aspekte des drohenden Ich-Verlusts lassen sich auch in Lewis Carrolls Alice im Wunderland (1865) sowie in Neil Gaimans Coraline (2002) ausfindig machen, worauf Freya Brasse in ihrem Beitrag eingeht. Sie fokussiert zentrale gemeinsame Motive, wie etwa die auslösenden Momente der Identitätsunsicherheiten, die zentrale Bedeutung des Spiels, beseelte Gegenstände und die bedeutsame Raumgestaltung, um die Funktion der Erzählungen als Entwicklungs- bzw. Adoleszenzgeschichte aus psychoanalytischer Perspektive zu belegen. Dass ein Ich-Verlust im schlimmsten Fall in den Suizid münden kann, macht Lena-Marie John von Zydowitz in ihrer vergleichenden Analyse von Emil Strauß’ Freund Hein (1902) und Tobias Elsäßers Für niemand (2011) deutlich. Sie erweitert ihre psychoanalytische Deutung um diskursanalytische Perspektiven auf das innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur lange Zeit tabuisierte Thema des Suizids. Im letzten thematischen Schwerpunkt sind fünf Beiträge versammelt, die sich mit den Motiven des Spiegel(n)s und Doppelgängerfigurationen befassen. Herausgearbeitet werden in den Aufsätzen insbesondere die Bedeutungen dieser Figuren und Motive für den Individuationsprozess adoleszenter Figuren. In diesem Abschnitt dominierten tiefenpsychologische Perspektiven, die insbesondere das Jung’sche Individuationsmodell für kinder- und jugendmediale Analysen fruchtbar machen. Ebenfalls berücksichtigt werden entwicklungspsychologische Überlegungen. Zunächst geht Meggan Noack auf die Spiegelmetaphorik in Verbindung mit dem jugendlichen Reifungsprozess am Beispiel von Hans Christian Andersens Kunstmärchen Die Schneekönigin (1844) ein. Sie veranschaulicht neue Verfahren der Märchenanalyse und verweist auf den Zu3 Vgl.: Dieter Funke: »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006.

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Iris Schäfer

sammenhang von Spiegelsymbolik und Psychoanaylse. Im Anschluss fokussiert Lara Busch eine aktuelle filmische Adaption (Es war einmal Indianerland) des gleichnamigen Romans von Nils Mohl aus dem Jahr 2011. Sie berücksichtigt hierbei primär entwicklungspsychologische Überlegungen. Eine genuin tiefenpsychologische Analyse erfolgt im Beitrag von Leonie Zilch zur filmischen Adaption von James Matthew Barries Peter and Wendy (1911) durch Stephen Spielberg (Hook, 1992). Zilch demonstriert auf eindrucksvolle Weise, dass die Hauptfigur sämtliche Stationen des von Carl Gustav Jung geschilderten tiefenpsychologischen Individuationsmodells durchläuft. Welche Eigen- und Besonderheiten die literarische Vorlage (Peter and Wendy) aufweist und wie diese sich aus einer psychoanalytischen bzw. tiefenpsychologischen Perspektive deuten lassen, wird in den beiden finalen Beiträgen deutlich. Zunächst liest Lisa Winter die Hauptfigur im Spiegel der Narzissmusforschung und zeichnet die Entwicklung dieser literarischen Figur nach, die in mehreren Versionen zunächst in einem an erwachsene Lesende gerichteten Roman, später in einem Kindertheaterstück und schließlich in einem Kinderroman durch die Feder des Autors zahlreiche Transformationen durchlebt hat.4 Der Narzissmus prägt sämtliche Erscheinungsformen dieser Figur. Ausgehend von der antiken Mythologie, über die mittelalterliche Rezeption des Narzissmus-Mythos bis hin zu psychoanalytischen Narzissmustheorien Sigmund Freuds und Dan Kileys,5 veranschaulicht sie am Beispiel des kinderliterarischen Klassikers Peter Pan, in welcher literarischen Tradition die Figur steht und durch welche außerliterarischen Diskurse sie geprägt wurde und wird. Dieser komparatistischen Analyse wird im folgenden Beitrag von Eva Neubauer eine Analyse gegenübergestellt, die eine andere Facette der ambivalenten Figur in den Blick nimmt. Neubauer fokussiert in ihrem Beitrag das Motiv des Schatten(verlust)s unter Berücksichtigung der Figur des Dritten sowie der Freud’schen Ausführungen zum Unheimlichen, womit der Bogen zum ersten thematischen Abschnitt geschlossen wird. Die hier versammelten Beiträge vermitteln einen Eindruck vom Spektrum und Potenzial sowohl einer klassischen psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Analyse als auch ihrer transdisziplinären Erweiterung für die Kinderund Jugendmedienwissenschaft. Im Sinne Gertrud Lehnerts wird die Bedeutung der psychoanalytischen Literaturinterpretation als

4 Siehe auch: Iris Schäfer: »Peter-Pan Illustrationen – Zur visuellen Ikonographie des ewigen Jünglings zwischen realem und antikem Vorbild«, Anker, Martin / Dettmar, Ute / Pecher, Claudia (Hrsg.): Bilder zu Klassikern, Baltmannsweiler : Schneider Hohengehren 2019, S. 153–178. 5 Vgl.: Dan Kiley : »Das Peter-Pan-Syndrom. Männer, die nie erwachsen werden«, Hamburg: Kabel 1987.

Vorwort

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kulturelles Konzept [transparent], das nur für eine bestimmte Kultur zu einer bestimmten Zeit modellhaft-komprimierende Gültigkeit beanspruchen kann und seinerseits in hohem Maße deutungs- und kritikbedürftig6

ist, weshalb diese durch eine gender- und diskursanalytische Perspektive ergänzt werden müsse, um ihr volles Potenzial zu entfalten.7 Die Beiträge, die Dank der großzügigen Unterstützung durch den Ruth Moufang-Fonds der interessierten Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht werden können, demonstrieren, dass auch die Erweiterung durch raumtheoretische, entwicklungspsychologische, philosophische, filmtheoretische sowie linguistische Schwerpunkte zu einer Bereicherung dieses Zugangs beiträgt. Es bleibt zu hoffen, dass der vorliegende Sammelband zur Inspirationsquelle für künftige Analysen wird und zur Aufwertung der psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Literaturanalyse im Bereich der Kinderund Jugendmedienwissenschaft beiträgt.

Literaturverzeichnis Catani, Stephanie: »Die Geburt des Döblinismus aus dem Geist des Fin de SiHcle. Döblins frühe Erzählungen im Spannungsfeld von Ästhetik, Poetik und Medizin«, Steffan Davies / Ernest Schonfield (Hrsg.): Alfred Döblin. Paradigms of Modernism. Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 28–45. Funke, Dieter : »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago Taschenbuch 2006. Kiley, Dan: »Das Peter-Pan-Syndrom. Männer, die nie erwachsen werden«, Hamburg: Kabel 1987. Lehnert, Gertrud: »Phantasie und Geschlechterdifferenz. Plädoyer für eine feministischkomparatistische Mädchenliteraturforschung«, Hans-Heino Ewers / Gertrud Lehnert / Emer O’Sullivan (Hrsg.): Kinderliteratur im interkulturellen Prozess. Studien zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft. Stuttgart: Metzler 1994, S. 27–44. Schäfer, Iris: »Peter-Pan Illustrationen – Zur visuellen Ikonographie des ewigen Jünglings zwischen realem und antikem Vorbild«, Martin Anker / Ute Dettmar / Claudia Pecher (Hrsg.): Bilder zu Klassikern, Baltmannsweiler : Schneider Hohengehren 2019, S. 153–178. Schäfer, Iris: »Von der Hysterie zur Magersucht. Adoleszenz und Krankheit in Romanen und Erzählungen der Jahrhundert- und der Jahrtausendwende«, Frankfurt am Main: Lang 2016.

6 Gertrud Lehnert: »Phantasie und Geschlechterdifferenz. Plädoyer für eine feministischkomparatistische Mädchenliteraturforschung«, Ewers, Hans-Heino / Lehnert, Gertrud / O’Sullivan, Emer (Hrsg.): Kinderliteratur im interkulturellen Prozess. Studien zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, Stuttgart: Metzler 1994, S. 27–44, (S. 36). 7 Vgl.: ebd.

I. Psychoanalytische Lesarten kinder- und jugendliterarischer Medien. Neue Ansätze der Freud’schen Analyse

Anna Adler

Über den unbewussten Umgang mit einer traumatischen Erfahrung in Alfred Döblins Die Tänzerin und der Leib

Einleitung – Zur psychoanalytischen Literaturinterpretation Wird Literatur im Rückgriff auf psychoanalytische Theorie analysiert, geschieht dies in der Annahme, dass Perspektiven, Aussagen und Handlungen der betrachteten Figuren mitunter auch unbewusst motiviert sein können. In dieser Perspektive auf Literatur verhalten sich Interpret*innen zu Figuren wie Therapeut*innen zum Seelenleben ihrer Patient*innen. Sie versuchen, über die explizite Figurendarstellung hinaus, rekurrierend auf deren Symbolhaftigkeit, einen impliziten Sinngehalt zu erschließen.1 Nach Thorsten Hoffmann kann jene Methodik indes nicht für Alfred Döblins Die Tänzerin und der Leib2 produktiv gemacht werden.3 Die 1904 verfasste Erzählung4 inszeniert den Leidensprozess der Tänzerin Ella, die ihre Tanzausbildung neunzehnjährig aufgrund eines nicht näher benannten »Siechtums«5 abzubrechen gezwungen ist. Zentrales Sujet der

1 Vgl. dazu etwa den Sammelband: »Grenzgänge: Literatur und Unterbewusstes. Zu Heinrich von Kleist, E. T. A. Hoffmann, Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann und Max Frisch«, Achim Würker / Sigrid Scheifele / Martin Karlson (Hrsg.), Würzburg: Königshausen und Neumann 1999. Des Weiteren: Peter-Andr8 Alt: »Einführung«, Peter-Andr8 Alt / Thomas Anz (Hrsg.): Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Berlin: de Gruyter 2008, S. 1–13, (S. 5f. und S. 8f.). 2 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23. 3 Vgl.: Torsten Hoffmann: »›Inzwischen gingen seine Füße weiter‹: Autonome Körperteile in den frühen Erzählungen und medizinischen Essays von Alfred Döblin und Gottfried Benn«, Steffan Davies / Ernest Schonfield (Hrsg.): Alfred Döblin. Paradigms of Modernism, Berlin und New York: de Gruyter 2009, S. 46–73, (S. 50ff.). 4 Vgl.: Sabine Kyora: »Der Novellenzyklus Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen (1912)«, Sabine Becker (Hrsg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2016, S. 39–41, (S. 35): »Die Erzählung war im Dezember 1904 fertig.« 5 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 19).

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Anna Adler

Erzählung ist, so Hoffmann im Einklang mit anderen Forschungspositionen,6 Ellas Umgang mit dem eigenen Körper, der als depersonalisiert und somit auch als pathologisch begriffen werden könne.7 Weil sie nicht auf die Bedürfnisse ihres Körpers Acht gebe, erkranke die Tänzerin.8 Der Text legt, so Hoffmann ferner, den Finger auf die Haltung eines expressionistischen Zeitgeistes, der im Sinne des cartesianischen Dualismus eine Überlegenheit des Geistes über den Körper behauptet.9 In Opposition zu diesem insistiert Die Tänzerin und der Leib nach Auffassung Hoffmanns auf einer Autonomie des Körpers, der in der Erzählung nicht Objekt eines körperbewussten Subjekts sei, sondern diesem eigenständig gegenübertrete; veranschaulicht werde dies an dem sich verselbständigenden Körper, welcher seine Autonomie der Tänzerin offenbare, indem er qua Krankheit sich ihrer Direktive entziehe.10 Hoffmann zufolge ist der Verlust des Körpergefühls vonseiten Ellas also kein mentaler Vorgang.11

6 Vgl.: Benjamin Bühler : »Lebende Körper. Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2004, S. 243. 7 Vgl.: Torsten Hoffmann: »›Inzwischen gingen seine Füße weiter‹: Autonome Körperteile in den frühen Erzählungen und medizinischen Essays von Alfred Döblin und Gottfried Benn«, Steffan Davies / Ernest Schonfield (Hrsg.): Alfred Döblin. Paradigms of Modernism, Berlin und New York: de Gruyter 2009, S. 46–73, (S. 49f.). Sieh ferner : Sabine Kyora: »Der Novellenzyklus Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen (1912)«, Sabine Becker (Hrsg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2016, S. 39–41, (S. 35) sowie Gaetano Mitidieri: »Wissenschaft, Technik und Medien im Werk Alfred Döblins im Kontext der europäischen Avantgarde«, Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2016, S. 254. 8 Vgl.: Erwin Kobel: »Alfred Döblin. Erzählkunst im Umbruch«, Berlin und New York: de Gruyter 1985, S. 26. Siehe hierzu auch: Gaetano Mitidieri: »Wissenschaft, Technik und Medien im Werk Alfred Döblins im Kontext der europäischen Avantgarde«, Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2016, S. 254. 9 Vgl.: Torsten Hoffmann: »›Inzwischen gingen seine Füße weiter‹: Autonome Körperteile in den frühen Erzählungen und medizinischen Essays von Alfred Döblin und Gottfried Benn«, Steffan Davies / Ernest Schonfield (Hrsg.): Alfred Döblin. Paradigms of Modernism, Berlin und New York: de Gruyter 2009, S. 46–73, (S. 47f.). Vgl. dazu auch: Benjamin Bühler : »Lebende Körper. Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2004, S. 244: »Döblin lieferte mit dieser Erzählung […] eine luzide Analyse der Ausbildungen und Konsequenzen eines Selbstverhältnisses, das auf der Objektivierung des Körpers beruht«. Des Weiteren siehe auch: Erwin Kobel: »Alfred Döblin. Erzählkunst im Umbruch«, Berlin und New York: de Gruyter 1985, S. 26. Siehe hierzu auch: Gaetano Mitidieri: »Wissenschaft, Technik und Medien im Werk Alfred Döblins im Kontext der europäischen Avantgarde«, Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2016, S. 24f. 10 In diesem Sinne formuliert Georg Braungart: »Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne«, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 327. Siehe hierzu auch: Sabine Kyora: »Der Novellenzyklus Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen (1912)«, Sabine Becker (Hrsg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2016, S. 39–41, (S. 35). 11 Vgl.: Torsten Hoffmann: »›Inzwischen gingen seine Füße weiter‹: Autonome Körperteile in den frühen Erzählungen und medizinischen Essays von Alfred Döblin und Gottfried Benn«,

Der Umgang mit traumatischer Erfahrung in Döblins Die Tänzerin und der Leib

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Ellas Beziehung zu ihrem Körper ist durchaus eine antagonistische. Schon im Paratext wird die Emphase auf eine Trennung zwischen Körper und Geist gelegt, wenn die Überschrift Die Tänzerin und der Leib Ellas Körper nicht durch ein Possessivpronomen als der Tänzerin zugehörig bezeichnet, sondern diesen mittels einer Konjunktion als eine äußerliche Entität markiert.12 Bezeichnend ist auch, dass die heterodiegetische Erzählinstanz in Die Tänzerin und der Leib im Gegensatz zu den Erzählinstanzen der anderen, im selben Band13 herausgegebenen Erzählungen, nicht nur das Geschehen, sondern auch die Innensicht der Protagonistin schildert.14 Während der Lektüre ist es den Leser*innen möglich nachzuvollziehen, wie Ella ihre Glieder im Tanz als »wehende Flamme«15 erlebt, später dieselben als »träges Tier«16 verachtet. Die ausführliche, die Handlung vorantreibende Darstellung von Ellas Perspektive legt nahe, Ellas entfremdetes Körpergefühl nicht allein als eines zu betrachten, welches die Tänzerin von ihrem Körper isoliert, sondern darüber hinaus als eines, das Ellas Körpererleben problematisiert. Der Körper wird als eigenständiges Subjekt inszeniert, aber er wird dies als Blick Ellas auf ihren Körper. Demnach ist die Trennung von Geist und Körper eine perspektivische, die als ebensolche auch auf einen psychischen Vorgang verweisen kann. Die Erzählung in diesem Sinne psychoanalytisch zu deuten; dies ist das Anliegen des vorliegenden Beitrags. Eingangs soll hierfür zunächst der historische Kontext betrachtet werden, um aufzuzeigen, dass die Inszenierung psychoanalytischer Theoreme in Die Tänzerin und der Leib unter anderem angenommen werden kann, weil eine Diskursverschränkung von Wissenschaft und Literatur im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert die Ästhetisierung außerliterarischer, insbesondere psychologischer Wissensbestände vorantrieb.17 Anschließend hieran wird die

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Steffan Davies / Ernest Schonfield (Hrsg.): Alfred Döblin. Paradigms of Modernism, Berlin und New York: de Gruyter 2009, S. 46–73, (S. 50). Vgl.: ebd., S. 49 sowie Gaetano Mitidieri: »Wissenschaft, Technik und Medien im Werk Alfred Döblins im Kontext der europäischen Avantgarde«, Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2016, S. 252f. Die Tänzerin und der Leib erschien zusammen mit elf anderen Erzählungen 1912 in »Der Sturm«. Vgl.: ebd., S. 235. Vgl.: Sabine Kyora: »Der Novellenzyklus Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen (1912)«, Sabine Becker (Hrsg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2016, S. 39–41, (S. 35) sowie Maya Christina Preiß: »Parataktische Erlebniswelten. Der Begriff der Beziehlichkeit und die Konzeption von Identität im frühen und mittleren Werk Alfred Döblins«, Konstanz: Hartung-Gorre 2014, S. 65 und S. 70. Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 22). Ebd., S. 23. Vgl.: Stephanie Catani: »Die Geburt des Döblinismus aus dem Geist des Fin de SiHcle. Döblins frühe Erzählungen im Spannungsfeld von Ästhetik, Poetik und Medizin«, Steffan Davies / Ernest Schonfield (Hrsg.): Alfred Döblin. Paradigms of Modernism, Berlin und New

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Genese des historischen Krankheitsbildes der Hysterie auszugsweise skizziert, um zu konkretisieren, auf welchen medizinischen Diskurs Döblin sich bezogen haben mag. Bevor die Textinterpretation begonnen werden kann, soll zudem näher auf den Dissoziationsbegriff Josef Breuers und Sigmund Freuds eingegangen werden, sowie Freuds frühes Konzept über die Entstehung psychogener Körpersymptome skizziert werden, um sodann an der vorliegenden Erzählung aufzuzeigen, worauf Julia Genz im 2007 erschienen Aufsatz über Döblins Schreibweise der Evokation und Aussparung18 schon verwies: Als Ursprung von Ellas Leiden kann ein traumatisches Ereignis in der Kindheit angenommen werden,19 das, obgleich nicht explizit auserzählt, dem Wortlaut des Textes entnommen werden kann. In einem Bericht zur Forschung über Döblins Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse20 stellt Thomas Anz heraus, dass bei der psychoanalytisch geprägten Beschäftigung mit Literatur zwischen verschiedenen »Typen von Aussagen«21 unterschieden wird. Die Argumentation dieses Beitrags, wie sie bis an diese Stelle skizziert wurde, reiht sich in denjenigen Typ von Aussagen ein, der davon ausgeht, dass der/die Autor*in, hier Döblin, psychoanalytisches Wissen besaß, »das in seinen Text eingegangen ist.«22 Im weiteren Verlauf der Arbeit soll hieran anschließend noch ein anderer Typ von Aussagen für die Textanalyse produktiv gemacht werden. Nach Anz besteht eine weitere Möglichkeit, Literatur psychoanalytisch zu interpretieren darin, »psychoanalytische Wissensbestandteile und Begriffe in heuristischer Funktion zur Beschreibung literarischer Texte der Vergangenheit«23 zu nutzen. Im Sinne des letzteren Ansatzes soll aufgezeigt werden, dass Ellas Umgang mit ihrem Körper als unbewusster Bewältigungsversuch gedeutet werden kann, den Freud

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York: de Gruyter 2009, S. 28–45, (S. 29 und S. 34ff.). Zur Rezeption der Psychoanalyse in der Literatur siehe Johannes Cremerius: »Der Einfluss der Psychoanalyse auf die deutschsprachige Literatur«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. 1987/41, S. 39–54, (S. 41ff.). Vgl.: Julia Genz: »Döblins Schreibweise der Evokation und Aussparung. Psychoanalytische und psychiatrische Diskurse in Die Tänzerin und der Leib«, Sabina Becker / Robert Krause (Hrsg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Emmendingen 2007. ›Tatsachenphantasie‹. Alfred Döblins Poetik des Wissens im Kontext der Moderne, Bern: Lang 2008, S. 69–82. Vgl.: ebd., S. 78. Vgl.: Thomas Anz: »Alfred Döblin und die Psychoanalyse. Ein kritischer Bericht zur Forschung«, Gabriele Sander (Hrsg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium. Leiden 1995, Bern: Lang 1997, S. 9–30. Ebd., S. 9. »[D]as die Texte beim Leser voraussetzen oder auf das sich literarische Texte mit intertextuellen Verweisen beziehen«. Ebd., S. 10. Vgl. zu diesem Aussagetyp ferner : ebd., S. 11, S. 14 und S. 17f. Ebd., S. 13.

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1914 als sogenannten »Wiederholungszwang«24 beschrieb. Gleichwohl Döblin dieser Terminus 1904 noch nicht geläufig sein konnte, ist ein Rückgriff darauf insofern berechtigt, als angenommen werden kann, dass der Text den theoretischen Gehalt des Begriffes, nämlich eine versuchte Revision der ursprünglichen Erfahrung, durchaus inszeniert. Wird davon ausgegangen, dass Ellas Leiden eine unverarbeitete traumatische Erinnerung zugrunde liegt, ist es nicht abwegig anzunehmen, dass nicht nur die Symptome dieser Neurose dargestellt werden, sondern auch eine Strategie, das Leiden zu überwinden. Dementsprechend sind beide oben angeführten Ansätze am Knotenpunkt der Freud’schen Traumatheorie miteinander verwoben.

Zum literarischen Diskurs über psychologisches Wissen Dass Die Tänzerin und der Leib außerliterarische Wissensbestände inszeniert, wird unter anderem mit Blick auf den kulturellen Diskurs um 1900 evident, aus dem heraus die Erzählung geschrieben wurde. Oftmals ist in der einschlägigen Forschung zum Œuvre Döblins auf intertextuelle Bezüge zur medizinischen Forschung verwiesen worden,25 die der Neurologe und Psychiater bekanntermaßen nicht nur verfolgte, sondern auch selbst vorantrieb.26 Dass medizinisches Wissen in die Lektüre verwoben und von den Rezipient*innen angenommen wurde, kann nicht nur mit Blick auf Döblins ärztliche Tätigkeit konstatiert werden.27 Gemäß zahlreicher literaturhistorischer Darstellungen prägt die 24 Zum Wiederholungszwang vgl.: Sigmund Freud: »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, Anna Freud (Hrsg.): Gesammelte Werke. Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913–1917, London und Breadford 1949 [1914], S. 126–136. 25 Vgl. zum psychiatrischen und psychoanalytischen Diskurs etwa Genz (wie Anm. 18), sowie Thomas Anz: »Psychiatrie und Psychoanalyse«, Sabina Becke (Hrsg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2016, S. 266–273. Des Weiteren siehe auch Bianca Lenertz / Silke Peters: »Medizin und Poetik: Psychiatrisches Wissen in Alfred Döblins Erzählung Die Tänzerin und der Leib«, Dominik Groß / Gertrude Celp-Kaufmann /Gereon Schäfer (Hrsg.): Die Konstruktion von Wissenschaft? Beiträge zur Medizin-, Literatur und Wissenschaftsgeschichte. Kassel: Kassel University Press 2008, S. 155–177, (S. 157ff.). Siehe ferner : Iris Schäfer : »Formvollendetes Leiden an ästhetisierten Krankheiten im aktuellen Jugend- bzw. All-Age-Roman«, in: Diegesis. 2017/2, S. 123–137, (S. 124). 26 Zu den Döblins populärwissenschaftlichen Aufsätzen vgl.: Torsten Hoffmann: »›Inzwischen gingen seine Füße weiter‹: Autonome Körperteile in den frühen Erzählungen und medizinischen Essays von Alfred Döblin und Gottfried Benn«, Steffan Davies / Ernest Schonfield (Hrsg.): Alfred Döblin. Paradigms of Modernism, Berlin und New York: de Gruyter 2009, S. 46–73, (S. 57ff.). . Zu Döblins psychiatrischer und medizinischer Forschung siehe auch: Gaetano Mitidieri: »Wissenschaft, Technik und Medien im Werk Alfred Döblins im Kontext der europäischen Avantgarde«, Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2016, S. 186ff. 27 Vgl.: Lenertz und Peters: »[Es] ist nicht zu leugnen, dass Döblins Werke, thematisch eine große Nähe zu seinem Beruf als Arzt und Forscher aufweisen«. Bianca Lenertz / Silke Peters:

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Epoche der Jahrhundertwende ein Diskurs über psychische Zustände,28 den auch Künstler*innen fortschrieben.29 Der im neunzehnten Jahrhundert errungene wissenschaftliche Fortschritt stellte Natur- und Geisteswissenschaften in ein Konkurrenzverhältnis, aus dem heraus von künstlerischer Seite versucht wurde, naturwissenschaftliches Wissen literarisch produktiv zu machen.30 Greifbar wird die Popularität dieser Ästhetisierungspraktiken31 nach Stephanie Catani beispielsweise im Vorwurf Marie Herzfelds an die D8cadents, gegen naturwissenschaftliche Exaktheit mit deren Methodik aufzubegehren.32 Selbige Entwicklung spiegelt, so Catani ferner, auch Hermann Bahrs Schrift über die Überwindung des Naturalismus33 wider, in welcher Bahr betont, dass die Rezeption psychologischer Wissensbestände »durch den Naturalismus hindurch und über den Naturalismus hinaus […] [ein] modernes Bedürfnis«34 darstelle.35 Die psychologischen Forschungen boten Döblin nicht nur reichlich Erzählstoff, sondern auch ein spezifisches Darstellungsverfahren – fokussierte doch

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»Medizin und Poetik: Psychiatrisches Wissen in Alfred Döblins Erzählung Die Tänzerin und der Leib«, in: Dominik Groß / Gertrude Celp-Kaufmann / Gereon Schäfer (Hrsg.): Die Konstruktion von Wissenschaft? Beiträge zur Medizin-, Literatur und Wissenschaftsgeschichte, Kassel: Kassel University Press 2008, S. 155–177, (S. 158). Vgl.: etwa Sabine Haupt: »Themen und Motive«, Dies. / Bodo Stefan Würffel (Hrsg.): Handbuch Fin de Si8cle. Stuttgart: Kröner 2008, S. 138–158, (S. 143ff.), sowie Bettina Rabelhofer : »Symptom, Sexualität, Trauma. Kohärenzlinien des Ästhetischen um 1900«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2006, S. 83f. Vgl. dazu auch: Stephanie Catani: »Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, S. 34ff. Zur Rezeption der Psychoanalyse in der Literatur siehe Cremerius, Johannes: »Der Einfluss der Psychoanalyse auf die deutschsprachige Literatur«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. 1987/41, S. 39–54, (S. 41ff.). Vgl.: Stephanie Catani: »Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, S. 29 und S. 34ff. Siehe hierzu auch: Hania Siebenpfeiffer : »Literatur und Wissen«, Sabina Becker (Hrsg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2016, S. 340–343, (S. 341). Siehe hierzu: Iris Schäfer : »Formvollendetes Leiden an ästhetisierten Krankheiten im aktuellen Jugend- bzw. All-Age-Roman«, in: Diegesis. 2017/2, S. 123–137, (S. 124). Vgl.: Marie Herzfeld: »Menschen und Bücher. Literarische Studien«, Wien: Leopold Weiß 1893, S. 171. Siehe auch: Stephanie Catani: »Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, S. 31. Vgl.: Hermann Bahr: »Die Überwindung des Naturalismus«, Claus Pias (Hrsg.): Hermann Bahr : Kritische Schriften in Einzelausgaben, Bd. 2, Weimar : VDG 2004 [1891], S. 128–133, (S. 128). Ebd. Vgl.: Stephanie Catani: »Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, S. 31f.

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ihr Vorhaben mentale Vorgänge nach naturwissenschaftlicher Manier am menschlichen Körper und somit einen Schnittpunkt zwischen Körper und Geist, der sich für eine naturalistisch geprägte Literarisierung wissenschaftlichen Wissens als fruchtbar erwies, weil er im Hinblick auf die Darstellung von Körpern eine »gegenstandsbezogene Sachlichkeitsästhetik«36 ermöglichte, die seelische Vorgänge, obgleich implizit, nicht unberücksichtigt ließ.37 Die literarische Bearbeitung medizinischer, genauer psychologischer Theoreme um die Jahrhundertwende war, so lässt sich festhalten, eine bewusst gewählte ästhetische Praxis. Dass auch an der Erzählung Die Tänzerin und der Leib eine solche nachweisbar ist, wird noch herauszustellen sein. Zunächst soll jedoch das historische Krankheitsbild der Hysterie betrachtet werden, vor dessen Folie um 1900 eine Korrelation zwischen Körper und Psyche sichtbar wurde, um im Anschluss aufzuzeigen, dass auch in Die Tänzerin und der Leib ebendieses historische Wissen literarisch bearbeitet wurde.

Zur Genese des Hysterie-Begriffs Seit der Antike sind die vielfältigen Symptome der sogenannten Hysterie bekannt. Hippokrates hatte die vermeintliche Umherwanderung des Uterus (gr. »Hystera«) als Ursache für epileptische Zuckungen, spasmodische Krämpfe, Lähmungen sowie Angstzustände entsprechend benannt.38 In feministischen Perspektiven auf die Hysterie wurde vielmals darauf hingewiesen, dass nicht nur Hippokrates, sondern vor und nach ihm bis ins 19. Jahrhundert hinein viele andere die Ursache unklassifizierbarer Symptome im weiblichen Körper suchten, weshalb das Krankheitsbild der Hysterie vielmehr Ergebnis männlicher Projektionen auf den weiblichen Körper, respektive die Hysterie nicht pathologisch im medizinischen Sinne, sondern ein kulturelles Konstrukt sei.39 Diese Dekonstruktion der Hysterie soll hier allerdings nicht 36 Sabina Becker : »Döblin und die literarische Moderne 1910–1933«, Dies. (Hrsg.): DöblinHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2016, S. 330–340, (S. 336f.). 37 Vgl. zu Döblins wissenspoetischer Erzählform: Hania Siebenpfeiffer : »Literatur und Wissen«, in: Sabina Becker (Hrsg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2016, S. 340–343, (S. 341): »Anstatt psychologische Zusammenhänge narrativ zu entfalten, adaptieren Döblins Erzähltexte wissenschaftliche Aufzeichnungsverfahren, allen voran die […] protokollarisch-dokumentarische Notation von Handlungsabläufen«. 38 Vgl.: Elisabeth Bronfen: »Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne«, Berlin: Volk und Welt 1989, S. 116–117. Siehe ferner : Jean Laplanche / Jean-Bertrand Pontalis: »Das Vokabular der Psychoanalyse«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972 [1967], S. 181. 39 Vgl.: Stephanie Catani: »Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, des Weiteren: Regina Schaps: »Hysterie und Weiblichkeit. Wissenschafts-

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weiterverfolgt werden. Entscheidend für die weitere Betrachtung ist die Annahme, dass die Klassifizierung als hysterisch bezeichneter Symptome zu unhaltbaren Ätiologiekonzepten mitunter dazu führte, dass die Hysterie als eine Krankheit organischen Ursprungs klassifiziert wurde, ohne dass ein solcher Ursprung jemals tatsächlich nachgewiesen werden konnte. Die für die Hysterie symptomatischen Krämpfe und Lähmungen erschienen als körperliche Symptome ohne Läsion.40 Dies ist mit Blick auf Die Tänzerin und der Leib insofern bezeichnend, als die Metaphorik, mittels derer Ellas Körpererleben dargestellt wird, der Beschreibung hysterischer Symptome ähnelt. Beispielsweise können Ellas Gliederverrenkungen41 als Krämpfe; der als schwer empfundene Körper42 als gelähmt43 gedeutet werden. Zudem benennt die Erzählung keine und somit auch keine organische Krankheitsursache explizit,44 obgleich ein leidender Körper beschrieben wird.45 Dies legt es nahe, Ellas Körperbewegungen als körperlich in Erscheinung tretendes Leiden psychogenen Ursprungs zu deuten. Eine Neuorientierung der hysterischen Ätiologie in ebendiesem Sinne verbreitete 1697 Thomas Sydenham.46 Als Ursache heftiger Körperbeschwerden nahm Sydenham »schwere seelische Erschütterungen«47 an. Nicht der Uterus, sondern »psychosoziale Ursachen«48 der Betroffenen seien demnach für die Entwicklung hysterischer Symptome verantwortlich.49 Gleicher Ansicht war auch Robert B. Carter, der die Auffassung von der Hysterie als psychosomatisches Leiden fortentwickelte. Der Gynäkologe Carter hatte Patientinnen unter-

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mythen über die Frau«, Frankfurt am Main und New York: Campus-Verlag 1992, ferner : Christina von Braun: »Nicht Ich. Logik, Lüge, Libido«, Frankfurt am Main: Neue Kritik 1988. Zum »Problem, das die Hysterie dem medizinischen Denken« stellte, vgl.: Jean Laplanche / Jean-Bertrand Pontalis: »Das Vokabular der Psychoanalyse«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972 [1967], S. 181. Vgl.: Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23 (S. 19). Vgl.: ebd. Vgl.: Stephanie Catani: »Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, S. 77. Vgl.: Gaetano Mitidieri: Wissenschaft, Technik und Medien im Werk Alfred Döblins im Kontext der europäischen Avantgarde. Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2016, S. 255: »[Die] Ursachen des geschilderten psychopathologischen Ablaufs [bleiben] unerklärt und [die] Diagnostik unbenannt.« Vgl.: Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 20). Vgl: Peter Fiedler : »Dissoziative Störungen und Konversion«, Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union 1999, S. 17f. Ebd., S. 18. Ebd. Vgl.: ebd.

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sucht, deren Geschlechtsorgane in der Annahme operiert wurden, dass diese hysterische Symptome hervorriefen, und stellte fest, dass eine Ätiologie, die an der Uterustheorie festhielt, nicht haltbar war, da eine Besserung der Beschwerden nach erfolgter Behandlung nicht eintrat. Im Anschluss an Sydenham vermutete Carter, dass Betroffene aufgrund von »persönliche[n] Belastungserlebnisse[n]«50 hysterische Symptome entwickelten. Aus diesem historischen Querschnitt wird ersichtlich, dass Ellas Leiden nicht zwingend als ein organisches gedeutet werden muss, sondern auch als ein psychosomatisches begriffen werden kann. Dieser Blick auf die Erzählung ermöglicht es, die Körperdarstellung und das Körpererleben der Tänzerin auf ein hysterisches Leiden51 zu beziehen, das – so lässt sich mit Sydenham und Carter schließen – durch ein Belastungserlebnis verursacht wurde. Weil der Text die hysterischen Symptome am Körper der Tänzerin inszeniert, diejenige Erfahrung, die selbige Symptome hervorrief, hingegen nicht, bleibt, bevor die Textanalyse aufgenommen werden kann, noch festzuhalten, wie zur Entstehungszeit der vorliegenden Erzählung vom sogenannten hysterischen Symptom auf dessen Ursache geschlossen wurde, um vor dem Hintergrund dieses diskursiven Wissens Die Tänzerin und der Leib deuten zu können.

Zur Dissoziation traumatischer Erfahrungen Ein Zusammenhang zwischen somatischen Symptomen und Belastungserlebnissen wird in der Traumaforschung aufgezeigt,52 weshalb in diesem Kapitel zunächst der Trauma-Begriff nähere Betrachtung finden soll. Nach Angela Kühner bezeichnet das psychische Trauma sowohl eine überwältigende Belastungserfahrung als auch einen psychischen Prozess, der aufgrund ebensolcher Erfahrungen ausgelöst wird.53 Angenommen wird in Traumakonzepten gemeinhin, dass »jeder Mensch über Verarbeitungsmöglichkeiten verfügt.«54 Diese 50 Robert B. Carter : »On the Pathology and Treatment of Hysteria«, London: John Churchill 1853. Zitiert nach Fiedler, S. 19. 51 Auch Mitidieri und Genz, sowie Kyora und Preiß im Anschluss an Genz, weisen darauf hin, dass Ellas Leiden im Sinne des zeitgenössischen Hysteriekonzepts gedeutet werden kann. Vgl. dazu: Mitidieri, S. 265, Genz, S. 72, Kyora, S. 36, Preiß, S. 72. 52 Siehe dazu etwa Jos8 Brunner: »Politik der Traumatisierung. Zur Geschichte des verletzbaren Individuums«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung. 2004/1, S. 7–24, (S. 10). 53 Vgl.: Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 33–36. Siehe auch: Judith Herman: »Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror«, New York: Basic Books 2015 [1992], S. 33. 54 Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 33–36, (S. 37).

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werden während und aufgrund einer traumatischen Erfahrung außer Kraft gesetzt.55 Ebendies beschrieben im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert im Hinblick auf das Krankheitsbild der Hysterie auch Josef Breuer und Sigmund Freud, als sie bezugnehmend auf den »psychischen Mechanismus«56 festhielten, dass jeder Sinnesreiz gewöhnlich »abreagiert«57 und als affektlose Erinnerung in das Bewusstsein integriert wird. Die Hysterie hingegen entsteht, so Breuer und Freud, aufgrund einer traumatischen Erfahrung,58 die gleichwohl über das Nervensystem als Sinneseindruck rezipiert, jedoch nicht verarbeitet werden kann, weil sie zu stark auf die Psyche einwirkt.59 Später definiert Freud hieran anschließend das psychische Trauma als Ereignis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, dass die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal gewohnter Weise missglückt.60 Die Hysterie begreifen Breuer und Freud demnach als eine Neurose, die durch ein psychisches Trauma verursacht wird.61 Warum traumatische Sinneseindrücke überwältigend intensiv wirken können, wird in der Traumaforschung erörtert. So weist Kühner darauf hin, dass die Gewaltausübung, die während des Traumas erlebt wird, eine Machtausübung ist. Da weder die Möglichkeit zur Selbstwehr, noch zur Flucht gegeben ist, wird »die Fähigkeit des Ichs, für ein minimales Maß an Sicherheit […] zu sorgen, abrupt überwältigt,«62 weshalb die Betroffenen sich hilflos und ohnmächtig fühlen. Während das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit radikal erschüttert wird, überwältigt das Gewahrwerden des eigenen Ausgeliefertseins das menschliche Instrumentarium geordneter psychischer Bewältigung. In Leonard L. Shengolds Worten: »What is happening is so terrible that it must not be felt and cannot be 55 Vgl.: ebd. 56 Sigmund Freud / Josef Breuer: »Studien über Hysterie«, Frankfurt am Main: Fischer 1970 [1895], S. 7. 57 Ebd., S. 11. 58 Vgl.: ebd., S. 15f. und S. 178. 59 Vgl.: ebd., S. 162. Vgl. auch: Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 33–36, (S. 37) in Bezug auf Freud. 60 Vgl.: Sigmund Freud: »18. Vorlesung: Die Fixierung an das Trauma, das Unbewusste«, in: Anna Freud (Hrsg.): Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Bd. 11, London/Breadford 1940 [1916/17], S. 282–295, (S. 284). 61 Vgl.: Sigmund Freud / Josef Breuer: »Studien über Hysterie«, Frankfurt am Main: Fischer 1970 [1895], S. 9 und S. 168. Vgl. auch: Jean Laplanche / Jean-Bertrand Pontalis: »Das Vokabular der Psychoanalyse«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972 [1967], S. 180. 62 Arnold Cooper: »Toward a limited definition of psychic trauma«, Arnold Rothstein (Hrsg.): The Reconstrucion of Trauma. Its Significance in Clinical Work. Madison: International University Press 1986, S. 41–56, (S. 44). Zitiert nach Werner Bohleber : »Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse«, in Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendung. 2000/54. Sonderheft: Trauma, Gewalt und kollektives Gedächtnis, S. 797–839, (S. 829). Siehe auch: Kühner, S. 38.

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registered.«63 Mathias Hirsch betont bezugnehmend auf Shengold, dass die Intensität der Gefühlsreaktion nicht verarbeitet werden kann, da die erzeugten »Affekte von Angst […] Zerstörungswut [… und] Vernichtung […] [das Bewusstsein] überschwemmen und zerstören würden.«64 Die traumatische Erfahrung bleibt, so Breuer und Freud ferner, gleichwohl sie als rezipierte im Bewusstsein vorhanden ist, aufgrund ihrer überwältigenden Wirkung unverarbeitet und kann daher nicht in den übrigen Bewusstseinsinhalt integriert werden.65 Das psychische Trauma bewirkt, schließen Breuer und Freud hieraus, eine Spaltung der Psyche in zwei Bewusstseinsinhalte, die untereinander nicht assoziierbar sind. Der vom übrigen Bewusstsein abgespaltene Inhalt speichert den unverarbeiteten traumatischen Eindruck.66 Zu ebendiesem Schluss kam bei der Erforschung psychischer Traumata auch Pierre Janet, der die Bewusstseinsspaltung sowie den dadurch entstehenden veränderten Bewusstseinszustand als Dissoziation bezeichnete.67 Die Abwehr unerträglicher Eindrücke wurde in der neueren Traumaforschung, etwa von Judith Herman und Shengold, als Schutzmechanismus bezeichnet,68 den vor allem, so bemerkt Kühner, missbrauchte Kinder nutzen, »um unerträgliche Realitäten zu verlassen.«69 Der Übergriff werde vom Kind folglich nicht als gegen das eigene Selbst gerichtet wahrgenommen, da es während des Traumas den angegriffenen Körper nicht als eigenen empfinde.70 Betroffene bezeichnen diesen psychischen Prozess als »Heraustreten aus dem eigenen Körper.«71 Erich Fromm definierte dementsprechend die Dissoziation als 63 Leonard L. Shengold: »Child abuse and deprivation: soul murder«, in Journal of the American Psychoanalytic Association. 1979/27, S. 533–559, (S. 538). 64 Mathias Hirsch: »›Mein Körper gehört mir … und ich kann damit machen, was ich will!‹ Dissoziation und Inszenierungen des Körpers psychoanalytisch betrachtet«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2010, S. 33. 65 Vgl.: Sigmund Freud / Josef Breuer: »Studien über Hysterie«, Frankfurt am Main: Fischer 1970 [1895], S. 14 und S. 190. 66 Vgl.: ebd., S. 14 und S. 179f. 67 Vgl.: Judith Hermann: »Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror«, New York: Basic Books 2015 [1992], S. 34. Vgl. zum Dissoziationsbegriff: Jantes nach Sigmund Freud / Josef Breuer : »Studien über Hysterie«, Frankfurt am Main: Fischer 1970 [1895], S. 183. 68 Vgl.: Judith Hermann: »Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror«, New York: Basic Books 2015 [1992], S. 96ff., sowie Leonard L. Shengold: »Child Abuse and Deprivation: Soul Murder«, in: Journal of the American Psychoanalytic Association. 1979/27, S. 533–559, (S. 538). 69 Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 33–36, (S. 42). 70 Zum dissoziativen Körpererleben vgl.: Mathias Hirsch: »›Mein Körper gehört mir … und ich kann damit machen, was ich will‹. Dissoziation und Inszenierungen des Körpers psychoanalytisch betrachtet«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2010, S. 18f. und S. 28f. 71 Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 33–36, (S. 42).

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»Spaltung zwischen beobachtendem […] und erlebendem Ich.«72 Abgewehrt wird demnach das Bewusstsein über den Körper als integrativer Teil des eigenen Selbst. Dies ist im Hinblick auf die Fragestellung dieses Beitrages insofern bezeichnend, als Freud den frühkindlichen sexuellen Missbrauch 1896 als die alleinige Ursache der Hysterie ausmachte.73 Zwar ließ Freud in seinen späteren Werken diese These wieder fallen, allerdings geschah dies laut Herman unter dem Druck einer patriarchalen Öffentlichkeit, die den Gedanken, dass jeder Fall von Hysterie die nahen männlichen Verwandten de facto unter Verdacht stellt, nicht wahrhaben wollte.74 Wissenschaftlich, so Herman, bestand für den Widerruf kein Anlass75 und es ist nicht abwegig, anzunehmen, dass Döblin dieser These ein gewisses Maß an Plausibilität zugemessen hatte. Dass auch Ella ein solches Erlebnis in ihrem Körperverlust zum Ausdruck bringt, beobachtet auch Genz.76 In der Forschung zum Œuvre Döblins wird gemeinhin eine intensive Auseinandersetzung Döblins mit der Psychoanalyse ab 1919 angenommen.77 Genz argumentiert, dass Döblin auch die jüngeren, die Hysterie thematisierenden Texte Freuds bereits 1904, zur Entstehungszeit von Die Tänzerin und der Leib, rezipiert haben mag.78 Plausibel sei die Annahme, weil Döblin in Bezug auf die Psychoanalyse rückblickend kommentierte, dass er sich zwischen 1900 und 1910 in die »Wellen der neuen geistesrevolutionären Strömung«79 geworfen habe.80 Genz’ Standpunkt bestätigt auch, dass Döblin in 72 Erich Fromm: »Hypnoanalysis. Therapy and two case excerpts«, in Psychotherapy. Theory, Research and Practice. 1965/2, S. 127–133. Vgl. hierzu auch: Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 33–36, (S. 42). 73 Vgl.: Sigmund Freud: »Zur Ätiologie der Hysterie«, Anna Freud (Hrsg.): Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1892–1899, London und Breadford 1972 [1896], S. 423–459, (S. 434). 74 Vgl.: Judith Hermann: »Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror«, New York: Basic Books 2015 [1992], S. 18f. 75 Vgl.: ebd., S. 13. 76 Vgl.: Julia Genz: »Döblins Schreibweise der Evokation und Aussparung. Psychoanalytische und psychiatrische Diskurse in Die Tänzerin und der Leib«, Sabina Becker / Roberg Krause (Hrsg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Emmendingen 2007. ›Tatsachenphantasie‹. Alfred Döblins Poetik des Wissens im Kontext der Moderne. Bern: Lang 2008, S. 69–82, (S. 78). 77 Vgl.: Thomas Anz: »Alfred Döblin und die Psychoanalyse. Ein kritischer Bericht zur Forschung«, Gabriele Sander (Hrsg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium. Leiden 1995, Bern: Lang 1997, S. 9–30. 78 Vgl.: Julia Genz: »Döblins Schreibweise der Evokation und Aussparung. Psychoanalytische und psychiatrische Diskurse in Die Tänzerin und der Leib«, Sabina Becker / Robert Krause (Hrsg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Emmendingen 2007. ›Tatsachenphantasie‹. Alfred Döblins Poetik des Wissens im Kontext der Moderne, Bern: Lang 2008, S. 69–82, (S. 74). 79 Ebd., S. 71. 80 Vgl.: ebd.

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einer biografischen Rückblende schreibt, Freud habe ihm nichts Wunderbares offenbart, da er das Krankheitsbild der Hysterie aus eigener klinischer Erfahrung kenne.81 Obschon Döblin in dieser Aussage keinen Zusammenhang zwischen seinem literarischen Schaffen und Freuds Hysterie-Konzept konstatiert, lässt sich doch schließen, dass er dieses nicht negiert, sondern als ein ihm bekanntes beschreibt.82 Auch wenn ein psychisches Trauma Ellas in der Erzählung nicht auf manifester Textebene erwähnt wird, ist ein solches doch anzunehmen, wenn man berücksichtigt, wie nach Breuer und Freud das psychische Trauma nach dem ursprünglichen Erlebnis fortwirkt. Nach der Spaltung oszilliert das Bewusstsein zwischen beiden Bewusstseinsinhalten.83 Gewinnt der abgespaltene, den Breuer und Freud aufgrund seiner Assoziationsunfähigkeit mit dem restlichen Bewusstsein »unbewusst«84 nennen, die Oberhand, entfaltet der unverarbeitete Affekt seine Wirkung. »Das psychische Trauma, respektive die Erinnerung an dasselbe wirkt, [so Breuer und Freud,] […] nach Art eines Fremdkörpers als gegenwärtig wirkendes Agens im Körper fort.«85 So kann er beispielsweise in eine Körperbewegung konvertiert werden, die von Breuer und Freud als hysterisches Symptom klassifiziert wird. Dieses erscheint, etwa in Form einer Lähmung oder epileptischen Zuckung, als ein organisch bedingtes Leiden.86 Tatsächlich jedoch wirkt der im Trauma entstandene Affekt.87 In Bezug auf die im folgenden Kapitel vorgenommene Interpretation ist von Bedeutung, dass nach Breuer und Freud vom hysterischen Symptom auf das psychische Trauma als Ätiologie der Hysterie geschlossen werden kann, weil das Symptom in einem Zusammenhang mit der traumatischen Erfahrung steht, der auch symbolischer Natur sein kann.88 »Die motorischen Phänomene des hysterischen Anfalles

81 Vgl.: Alfred Döblin: »Merkwürdiger Lebenslauf eines Autors«, Edgar Pässler (Hrsg.): Alfred Döblin: Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen, Olten und Freiburg im Breisgau: Walter 1980 [1927], S. 25–29, (S. 25). 82 Vgl.: Veronika Fuechtner : »Arzt und Dichter : Döblins Medical, Psychiatric, and Psychoanalytic Work«, Roland Dollinger / Wulf Koepke / Heidi Thomann Tewarson (Hrsg.): A Companion to the Works of Alfred Döblin, Rochester u. a.: Camden House 2004, S. 111–139, (S. 117). 83 Vgl.: Sigmund Freud / Josef Breuer: »Studien über Hysterie«, Frankfurt am Main: Fischer 1970 [1895], S. 182 und S. 188f. 84 Ebd., S. 179 und S. 181f. 85 Ebd., S. 9. 86 Vgl.: ebd., S. 170. 87 Vgl.: ebd. 88 Freud und Breuer illustrieren dies am Beispiel des Brechreizes, der nicht physiologischen Ursprungs sei, sondern durch moralischen Ekel ausgelöst werde. Vgl.: ebd., S. 8.

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lassen sich, [so wörtlich in den Studien über Hysterie] […], »als direkte Ausdrucksbewegungen […] der [unverarbeiteten] Erinnerung deuten.«89 Werden Ellas Körpergebärden als Ausdruck einer Hysterie-Erkrankung gedeutet, kann mit Blick auf den historischen Kontext angenommen werden, dass diese auf eine unerzählte Erfahrung – nach Freud ein Kindheitstrauma90 – verweisen. Die Plausibilität dieser Interpretation soll im folgenden Kapitel am Erzähltext untermauert werden.

Ellas unbewusstes Körperbild Bereits der erste Absatz von Die Tänzerin und der Leib charakterisiert Ellas Körpergebärden. So heißt es darin, dass die »zu glatte[n] Gelenke«, des elfjährigen Mädchens »federnde[n] Bänder[n]«91 gleichen. Die Epitheta »glatt« und »federnd« kennzeichnen Ellas Körper als überaus beweglich und leicht, insofern Glätte mit Biegsamkeit, Federn mit Elastizität und Leichtigkeit assoziiert werden. Es fällt auf, dass die außerordentliche Beweglichkeit als unwillkürliche inszeniert wird, was vornehmlich an der Körperbewegung Ellas zu erkennen ist. Prädestiniert zur Tänzerin sei sie, so wörtlich im Text, aufgrund ihres »läppische[n] Gang[s]« sowie der »Neigung zu Gliedverrenkungen« und »Grimassen.«92 Ellas Bewegungen werden demnach nicht als intendierte Körpergestik, sondern als zufällige Verrenkungen beschrieben, die als »Neigung«93 vielmehr einen unwillkürlichen Drang, denn eine bewusste Regung zu äußern scheinen. Relevant ist dies im Hinblick auf die Figurenzeichnung. Aufgrund ihres Körpererlebens wird Ella über die Erzählung hinweg als von ihrem Körper entfremdet beschrieben. Ihre Bewegungen werden nicht als diejenigen Ellas, sondern als von ihrer Person unabhängige inszeniert. Die Tänzerin stellt demzufolge eine gespaltene Figur dar.94 89 Ebd., S. 17. In der Vorlesung über Zur Ätiologie der Hysterie bemerkt Freud in diesem Sinne, hysterische Symptome seien »Erinnerungssymbole« von traumatisch wirksamen Erlebnissen. Vgl.: Sigmund Freud »Zur Ätiologie der Hysterie«, Anna Freud (Hrsg.): Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1892–1899, Bd. 1, London und Breadford 1972 [1896], S. 423–459, (S. 427). 90 Vgl.: ebd. 91 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 19). 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Auch Kobel verweist auf Ellas dissoziative Körperwahrnehmung, konstatiert hingegen im Unterschied zur vorliegenden Analyse, Ella habe bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr keinen Zwiespalt zwischen Geist und Körper gekannt. Kobel, S. 29. Vgl. dagegen: Preiß: »Auffallend ist, dass […] noch vor Ausbruch der tatsächlichen Krankheit, die leib-seelische

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Deutlich wird dies ferner in derjenigen Textpassage, die Ellas Tanzausbildung beschreibt. Sie wird nicht als Tanzende inszeniert, sondern ihr Körper führt die Bewegungen aus, derweil die Tänzerin selbige dirigiert. So heißt es im Text, dass Ella ihre »zu glatten Gelenke zwingen«95 lernt, ferner dass sie »habgierig die schmalen Schultern und die Biegung der schlanken Arme«96 überfällt und über diese wacht.97 Die Ellas Tun umschreibenden Verben bezeichnen keine Bewegung, sondern benennen metaphorisch eine Aneignung des Körpers durch das Bewusstsein. In der Erzählung werden Körper und Bewusstsein also nicht als Einheit beschrieben.98 Der Text inszeniert den Körper als eigenständiges, personifiziertes Subjekt.99 Ersichtlich wird dies insbesondere an den Nomen und Nominalisierungen, die sein Erscheinen in der Erzählung kennzeichnen. So wird der Körper beispielsweise als »Herr,«100 als »hinkendes Männlein,«101 oder als »finstere[r]«102 bezeichnet. Als personifiziert wird Ellas Körper zudem über den häufigen Gebrauch des Pronomens »er«103 markiert. Als solcher leidet der Körper auch, wenn im Text nicht erwähnt wird, dass Ella Schmerzen empfindet.104 Warum Ellas Körperverhältnis derart inszeniert wird, lässt die Erzählung offen. Möglich ist es, diese Inszenierung als Folge bzw. Nachwirkung einer Traumatisierung hermeneutisch zu deuten. Wird davon ausgegangen, Ella habe infolge eines sexuellen Missbrauchs ihren Körper von sich abgespalten, kann ihr Körpererleben als Ausdruck dieser noch immer fortbestehenden Dissoziation begriffen werden. Demnach wehrte Ella erstmals während einer traumatischen

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Einheit als aufgespalten dargestellt wird«. Preiß, S 66. Vgl. zum Standpunkt von Preiß auch: Braungart, S. 326, sowie Genz, S. 72f. Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 19). Ebd. Ebd. Vgl. dazu Kobel, S. 23f. Siehe ferner Bühler, S. 243, wie auch Michael J. Cowan: »Die Tücke des Körpers. Taming the nervous body in Alfred Döblin’s Die Ermordung einer Butterblume and Die Tänzerin und der Leib«, in A Journal of Germanic Studies. 2007/4, S. 482–498, (S. 490), oder Teresa Vinardell Puig: »Die innehaltende Tänzerin. Überlegungen zu Texten Franz Bleis, Robert Walsers und Alfred Döblins«, Dolores Sabat8 Planes / Jaime Feijjo (Hrsg.): Apropos Avantgarde. Neue Einblicke nach einhundert Jahren. Berlin: Camden House 2012, S. 389–306, (S. 294). Vgl. dazu Preiß, S. 66. Siehe auch: Hoffmann, S. 50f. Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 20 und S. 22). Ebd., S. 23. Ebd., S. 20. Ebd. und S. 23. »Ihren leidenden Körper hätte sie anspeien mögen, bitter höhnte sie ihn.« Ebd., S. 20.

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Erfahrung den Körper von sich ab, um der Situation auf symbolische Weise zu entkommen. Aus Sicht Ellas widerfuhr allein ihrem Körper – nicht ihr selbst – das Unerträgliche, weshalb es ihr auch unmöglich wahr und zum Zeitpunkt des erzählten Geschehens noch immer ist, dieses zu verarbeiten. Der unverarbeitete und darum wirksam gebliebene Affekt wirkt daher als konvertierter nach der ursprünglichen Erfahrung in der Bewegung fort.105 Ellas Körpergebärden können demzufolge als symbolhafte Darstellung der traumatischen Erinnerung begriffen werden. Die in Grimassen und Gliedverrenkungen sich äußernde Beliebigkeit der Bewegung ist in diesem Deutungszusammenhang Ausdruck der Dissoziation. Diese wiederum verweist in ihrer Ursache auf die während des Traumas empfundene Ohnmacht, respektive »das Gefühl, den äußeren Umständen hilflos ausgesetzt zu sein.«106 Die unkontrollierten Bewegungen stehen so besehen sinnbildlich für das Unvermögen bzw. die Unmöglichkeit, den eigenen Körper zu schützen.107 In diesem Sinne kann auch die Darstellung des personifizierten Körpers gedeutet werden. Da Ella unbewusst ihr Ohnmachtsgefühl mit dem Täter assoziiert, wird auch dieser im dissoziierten Körper symbolisiert.108 Seine von Ella unbewusst empfundene Anwesenheit offenbart sich im eigenmächtigen Handeln des Körpers, was ein symbolischer Ausdruck dafür ist, dass aufgrund der unbewusst noch immer empfundenen Ohnmacht, der Täter109 die körperlichen Bewegungen Ellas anstelle ihrer steuert. Im Bild des dissoziierten Körpers verdichtet sich demnach sowohl die Erinnerung eines erlebten Gefühls als auch die 105 Auch Genz verweist auf eine »Verdrängungsleistung« von Seiten Ellas. Julia Genz: »Döblins Schreibweise der Evokation und Aussparung. Psychoanalytische und psychiatrische Diskurse in Die Tänzerin und der Leib«, in: Sabina Becker / Roberg Krause (Hrsg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Emmendingen 2007. ›Tatsachenphantasie‹. Alfred Döblins Poetik des Wissens im Kontext der Moderne, Bern: Lang 2008, S. 69–82, (S. 79f.). 106 Vgl.: Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 45, sowie Judith Herman: »Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror«, New York: Basic Books 2015 [1992], S. 33. 107 »Viele der dem Trauma folgenden Symptome können als […] Verlust der Macht über sich selbst oder als Kontrollverlust bezeichnet werden, so […] etwa das plötzliche Wegkippen (Dissoziation)«. Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 49f. 108 »[Ellas] Angst und ihr Hass werden auf ihren als äußeres Objekt, als Mann empfundenen Körper projiziert«. Julia Genz: »Döblins Schreibweise der Evokation und Aussparung. Psychoanalytische und psychiatrische Diskurse in Die Tänzerin und der Leib«, in: Sabina Becker / Roberg Krause (Hrsg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Emmendingen 2007. ›Tatsachenphantasie‹. Alfred Döblins Poetik des Wissens im Kontext der Moderne, Bern: Lang 2008, S. 69–82, (S. 79f.). 109 Weil der Körper als »Herr« bezeichnet wird, geht diese Analyse von einem männlichen Täter aus. Vgl.: Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 20).

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mit dieser Erinnerung assoziierte Person. Von dieser Deutung her muss Ellas Körpererleben demnach als unbewusster Umgang mit einer traumatischen Erfahrung begriffen werden. Festzuhalten ist zudem, dass ein erlebtes Trauma zwar nicht explizit erwähnt wird, die Novelle vor dem Hintergrund eines solchen aber dennoch analysiert werden kann, da die Bewegungen der Tänzerin als unbewusste Erinnerung an ein Trauma gedeutet werden können. Im nächsten Kapitel soll mit Freud und Breuer aufgezeigt werden, dass dies auch mit Blick auf die Lebensphase, in welcher Ella sich zu Beginn der Erzählung befindet, deutlich wird.

Über die Inszenierung von Nachträglichkeit In Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen110 führt Freud aus, dass hysterische Symptome häufig nachträglich auftreten.111 Zudem bemerken Breuer und Freud in den Studien über Hysterie, dass der im Trauma entstandene, wirksam gebliebene Affekt wiederausgelöst werden könne – nämlich durch einen Sinneseindruck, den die Psyche unbewusst mit der traumatischen Erfahrung assoziiere.112 Demnach beginne, so Freud ferner, wer im frühen Kindesalter sexuell missbraucht worden sei, in der Pubertät an hysterischen Symptomen zu leiden, weil das Gewahr werden der eigenen Sexualität an den Missbrauch erinnere.113 Kühner führt, hierauf rekurrierend aus, dass das »ursprünglich nur diffus falsch Erlebte […] nachträglich zutreffend als sexualisiert«114 erkannt werde. Das »gegenwärtig Erlebte […] [wirkt demnach auf] die traumatische Erfahrung«115 zurück. Vor diesem Hintergrund wird auch die Darstellung der Lebensphase, in welcher Ella sich im Laufe der Handlung befindet, deutbar. Die ersten drei Absätze der Erzählung markieren diese durch Angabe des Lebensalters als Puber-

110 Sigmund Freud: »Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen«, Anna Freud (Hrsg.): Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1892–1899, Bd. 1, London und Breadford 1972 [1898], S. 489–516. 111 Vgl.: ebd., S. 511. 112 Vgl.: Sigmund Freud / Josef Breuer: »Studien über Hysterie«, Frankfurt am Main: Fischer 1970 [1895], S. 10 und S. 168ff. 113 Vgl.: Sigmund Freud: »Zur Ätiologie der Hysterie«, S. 438ff. und S. 447f. Zur Latenz traumatischer Erfahrung vgl. auch: Hudith Herman: »Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror«, New York: Basic Books 2015 [1992], S. 37ff., sowie Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 44f. 114 Ebd., S. 44. 115 Ebd.

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tät.116 Als Adoleszente erstarrt Ella beim Anblick ihrer Brust,117 weil der ausgewachsene Körper im Unbewussten die traumatische Erinnerung wachruft, da sich der Zusammenhang der traumatischen Erfahrung, hebt auch Genz hervor, Ella aufgrund ihres Alters und dem damit verbundenen Wissen über den Körper nachträglich erschließt.118 Mit Genz kann demnach festgehalten werden, dass auch das Lebensalter der Tänzerin die Deutung des entfremdeten Körpers als konvertierte Erinnerung stützt, da mit Breuer und Freud davon ausgegangen werden kann, dass insbesondere während der im Text entfalteten Adoleszenz die unverarbeitete Erfahrung im Körper psychosomatisch zum Ausdruck kommt. Dem soll im folgenden Kapitel hinzugefügt werden, dass nicht erst der ausgewachsene, sondern schon der auszuwachsen beginnende Körper eine traumatische Erfahrung symbolisiert.

Zum Wiederholungszwang als Re-Inszenierung Im Laufe der Handlung versucht Ella wiederholt, Kontrolle über ihren Körper zu erlangen.119 Dass dies im Zusammenhang der hier versuchten Deutung als Bewältigungsversuch begriffen werden kann, soll dieses Kapitel vor dem Hintergrund älterer wie neuerer Traumaforschung aufzeigen. Das »Affektloswerden einer Erinnerung«120 gelingt nach Freud und Breuer, wenn dieser andere Erinnerungen gegenübergestellt werden und sie somit be-

116 Als die Handlung einsetzt, ist Ella elf Jahre alt und befindet sich demnach am Beginn ihrer Pubertät, während das »Siechtum« sie erfasst, als sie neunzehnjährig sich an der »Schwelle zum Erwachsenendasein« befindet. Siehe dazu: Genz, S. 77, sowie Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 19). 117 Dass Ellas Entsetzen beim Anblick ihres Spiegelbildes Ausdruck ihres dissoziierten Körpergefühls ist, (vgl.: ebd., S. 20), konstatiert auch Mitidieri. Vgl.: Gaetano Mitidieri: »Wissenschaft, Technik und Medien im Werk Alfred Döblins im Kontext der europäischen Avantgarde«, Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2016, S. 254. 118 Zu dem im Text inszenierten Aspekt der Nachträglichkeit, der in Breuers und Freuds Hysteriekonzept ausgeführt wird vgl. auch: Julia Genz: »Döblins Schreibweise der Evokation und Aussparung. Psychoanalytische und psychiatrische Diskurse in Die Tänzerin und der Leib«, in: Sabina Becker / Roberg Krause (Hrsg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Emmendingen 2007. ›Tatsachenphantasie‹. Alfred Döblins Poetik des Wissens im Kontext der Moderne, Bern: Lang 2008, S. 69–82, (S. 79). 119 Vgl.: Maya Christina Preiß: »Parataktische Erlebniswelten. Der Begriff der Beziehlichkeit und die Konzeption von Identität im frühen und mittleren Werk Alfred Döblins«, Konstanz: Hartung-Gorre 2014, S. 68. 120 Sigmund Freud / Josef Breuer : »Studien über Hysterie«, Frankfurt am Main: Fischer 1970 [1895], S. 11.

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arbeitet wird.121 In Analogie hierzu sucht die Psyche unbewusst die noch wirksam gebliebene, respektive traumatische Erinnerung durch Wiederholung der Situation affektlos zu machen, indem sie der traumatischen Erinnerung eine andere entgegenhält, in welcher nicht Ohnmacht, sondern »das Gefühl, aktiv handelnd wirksam sein zu können,«122 erlebt wird.123 In der Traumaforschung wird dieser Mechanismus nach Freud gemeinhin »Wiederholungszwang«124 genannt.125 Ziel dessen sei, die ursprünglich traumatische Situation neu zu erleben.126 Dabei wird das Trauma als dualistisches Beziehungsgefüge begriffen, in welchem die Traumatisierten von einer ohnmächtigen Position in eine mächtige, genauer die der Täter*innen zu wechseln versuchen; das Machtgefälle soll umgekehrt werden. Insofern ein Beziehungsgefüge rekonstruiert wird, bezeichnet die gegenwärtige Traumaforschung den sogenannten Wiederholungszwang auch als Re-Inszenierung.127 Dieser Begriff rekurriert auf den mimetischen Charakter der Wiederholung. Diese ist die Nachahmung von etwas anderem und so besehen dessen Inszenierung.128 Ersichtlich wird dieser Zusammenhang nach Kühner, wenn die Re-Inszenierung gemäß entwicklungspsychologischem Verständnis analog zum Spiel begriffen wird. »Kinder spielen,«129 so Kühner, in Rollenspielen häufig Situationen nach, in denen sie sich als ohnmächtig erlebt haben. Im Spiel wird die Beherrschung der Situation wiederhergestellt. Die Kinder wollen sich wieder als machtvoll erleben.130 121 Ebd., S. 11f. 122 Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 45. 123 Vgl.: ebd., S. 49 sowie Judith Herman: »Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror«, New York: Basic Books 2015 [1992], S. 39. 124 Vgl.: Sigmund Freud: »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, Anna Freud (Hrsg.): Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1913–1917, Bd. 10, London und Breadford 1949 [1914], S. S. 126–136, (S. 130). 125 Vgl.: Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 45. S. 49. Siehe ferner Judith Herman: »Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror«, New York: Basic Books 2015 [1992], S. 41. 126 »Etwas wird »erinnert«, was nicht »vergessen« werden konnte«. Sigmund Freud: »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, Anna Freud (Hrsg.): Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1913–1917, Bd. 10, London und Breadford 1949 [1914], S. 128. 127 Vgl. ferner : Judith Herman: »Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror«, New York: Basic Books 2015 [1992], S. 41 sowie Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 49. 128 Vgl. zum Aspekt der Inszenierung in Bezug auf den Wiederholungszwang bei Freud: Judith Herman: »Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror«, New York: Basic Books 2015 [1992], S. 39ff. 129 Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 49. 130 Vgl.: ebd. sowie ferner Judith Herman: »Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror«, New York: Basic Books 2015 [1992], S. 39.

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Die Re-Inszenierung kann im Zusammenhang mit einer traumatischen Erfahrung als Bewältigungsversuch begriffen werden.131 Im Folgenden soll nun aufgezeigt werden, dass in Die Tänzerin und der Leib ein derartiger Bewältigungsversuch herauszulesen ist.

Wiederholung als Reversion: Ellas Tanz Um am Text nachzuvollziehen, was im vorigen Kapitel ausgeführt wurde, soll zunächst der Tanzbegriff Ellas nähere Betrachtung finden. In der Novelle wird dieser mit der Metapher des »Spiels«132 umschrieben. Hier soll nicht angenommen werden, dass die Erzählung avant la lettre auf das entwicklungspsychologische Verständnis des Spiels verweist. Gleichwohl kann die Metapher im gleichen Sinne wie das kindliche Spiel begriffen werden. Die Bezeichnung des Tanzes als Spiel kann als Verweis darauf gedeutet werden, dass die Bewegungen Ellas nicht Ausdruck ihrer selbst, sondern etwas anderem und so gesehen Ausdruck einer Inszenierung sind. Bei Betrachtung des Tanzstiles wird ferner ersichtlich, was gespielt wird. Erwin Kobel konstatiert, dass Ellas Bewegungen nicht etwa einen Ausdruckstanz darstellen, wie ihn Isadora Duncan 1904 in Berlin erstmals aufführte.133 Hieran anschließend hebt Michael Cowan hervor, dass Ellas Tanz vielmehr den zeitgenössischen Experimenten der Tanzpädagogik ähnelt.134 Gemäß dem Wortlaut des Textes überfällt Ella »habgierig die schmalen Schultern und die Biegung der schlanken Arme.«135 Sie zwingt ihre Gelenke und wacht über die Bewegungen des Körpers.136 Die Metaphern des Überfalls, der Überwachung und des Zwangs evozieren, so Cowan, einen Tanzbegriff, den um 131 Vgl. zum Wiederholungszwang als Bewältigungsversuch: ebd., S. 41, wie auch Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 49. 132 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 19). 133 Vgl.: Erwin Kobel: »Alfred Döblin. Erzählkunst im Umbruch«, Berlin und New York: de Gruyter 1985, S. 24. Vgl. ferner : Georg Braungart: »Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne«, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 327. 134 Vgl.: Michael J. Cowan: »Die Tücke des Körpers. Taming the nervous body in Alfred Döblin’s ›Die Ermordung einer Butterblume‹ and ›Die Tänzerin und der Leib‹«, in: A Journal of Germanic Studies. 2007/4, S. 482–498, (S. 490ff.). Siehe auch: Teresa Vinardell Puig: »Die innehaltende Tänzerin. Überlegungen zu Texten Franz Bleis, Robert Walsers und Alfred Döblins«, Dolores Sabat8 Planes / Jaime Feijjo (Hrsg.): Apropos Avantgarde. Neue Einblicke nach einhundert Jahren. Berlin: Frank und Timme 2012, S. 389–306, (S. 295). 135 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 19). 136 Vgl.: ebd.

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die Jahrhundertwende Pmile Jaques-Dalcroze prägte.137 Den Tanz betrachtete Jaques-Dalcroze als Möglichkeit, ein verlorenes Gefühl von Körperkontrolle mittels rhythmischer Tanzmusik zu erziehen.138 Ziel der Tanzreform sei, so Jaques-Dalcroze: »[d]en durch die Nerven auf die Muskeln übertragene[n] Wille[n] des Individuums […] [zum] Vermittler seiner Wünsche«139 zu machen. Karl Storck, Assistent von Jaques-Dalcroze, konstatiert hieran anschließend, dass der Rhythmus den Menschen »aus dem Diener, ja Sklaven jener in ihm angesammelten Kräfte zu ihrem Beherrscher«140 mache.141 Im Zusammenhang dieses Tanzbegriffes kann derjenige Ellas, Cowan zufolge, als Versuch gedeutet werden, den entfremdeten Körper zu disziplinieren.142 Zu keinen unwillkürlichen Gliedverrenkungen darf der Körper nach Auffassung Ellas sich krümmen, sondern seine Bewegungen sollen von der Tänzerin intendierte sein.143 In ihrer Tanzausbildung lernt Ella demnach nicht, den Körper im Sinne eines Integrationsprozesses als Teil ihrer selbst zu begreifen,144 sondern den noch immer als fremd empfundenen Körper qua Disziplinierung ihrem Willen zu unterwerfen.145 Wird davon ausgegangen, dass Ellas Bewegungen als gespielte auf etwas anderes verweisen, kann hieran anschließend nun konstatiert werden, dass sie im Tanz unbewusst eine Re-Inszenierung der traumatischen Erinnerung bemüht, um diese zu bearbeiten. Bewusst sucht Ella den Körper – im Eigentlichen jedoch unbewusst146 das im Körper symbolisierte Ohnmachtsgefühl zu bezwingen – 137 Vgl.: Michael J. Cowan: »Die Tücke des Körpers. Taming the nervous body in Alfred Döblin’s Die Ermordung einer Butterblume and Die Tänzerin und der Leib«, in A Journal of Germanic Studies. 2007/4, S. 482–498, (S. 290ff.). 138 Vgl.: ebd., S. 491. 139 Emile Jaques-Dalcroze: »Rhythmische Gymnastik«, Leipzig: Sandoz und Jobin 1907, S. XI. Zitiert nach Cowan, S. 491. 140 Karl Storck: »Das Programm«, Bildungsanstalt Jaques Dalcroze (Hrsg.): Die Schulfeste der Bildungsanstalt. Jena: Eugen Diedrichs 1912, S. 21–39, (S. 22). 141 Vgl.: ebd. 142 Vgl.: Michael J. Cowan: »Die Tücke des Körpers. Taming the nervous body in Alfred Döblin’s Die Ermordung einer Butterblume and Die Tänzerin und der Leib«, in A Journal of Germanic Studies. 2007/4, S. 482–498, (S. 492). Vgl. dazu auch: Lenertz / Peters, S. 168f., sowie Braungart, S. 327. 143 Vgl.: Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 19). 144 Vgl.: Teresa Vinardell Puig: »Die innehaltende Tänzerin. Überlegungen zu Texten Franz Bleis, Robert Walsers und Alfred Döblins«, Dolores Sabat8 Planes / Jaime Feijjo (Hrsg.): Apropos Avantgarde. Neue Einblicke nach einhundert Jahren. Berlin: Frank und Timme 2012, S. 389–306, (S. 294). 145 Vgl.: Erwin Kobel: »Alfred Döblin. Erzählkunst im Umbruch«, Berlin und New York: de Gruyter 1985, S. 22. 146 Gemäß Freud geschieht die Inszenierung unbewusst. Vgl.: Sigmund Freud »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, Anna Freud (Hrsg.): Sigmund Freud: Gesammelte

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indem sie den im Körper imaginierten Täter qua Disziplinierung unterzuordnen versucht. Steht der dissoziierte, unkontrollierbare Körper sinnbildlich für Ellas Ohnmachtsgefühl in der traumatischen Situation, so verweist der disziplinierte, kontrollierte Körper auf Ellas Überlegenheit diesem, respektive dem Täter gegenüber.147 In der Wiederholung kehrt Ella demnach die Rollenzuweisungen um. Die Re-Inszenierung hat demnach eine Revision der traumatischen Erinnerung zum Zwecke.

Reversion der Wiederholung: Ellas Leiden Als Ella mit neunzehn Jahren ein in der Erzählung sogenanntes »Siechtum«148 befällt, ist es ihr nicht länger möglich, zu tanzen. In der Forschung wird dieses Siechtum als physische oder psychische Krankheit gedeutet.149 Für den Fortgang der Handlung ist für die hier vorgenommene Deutung der Novelle jedoch weniger entscheidend, woran Ella leidet, als dass sie aufgrund dessen ihre Tanzausbildung beenden muss, da es ihr nach Ausbruch des Leidens nicht mehr möglich ist, die Bewegungen ihres Körpers zu kontrollieren. Dies illustriert die Metaphorik des Gewichts und der Spannung, mit welcher Ellas Körpererleben über den Text hinweg beschrieben wird. Ist ihr Körper vor Beginn der Tanzausbildung ein leichter,150 aber doch glatter,151 wird er während dieser als gespannter152 beschrieben. Nach Ausbruch des Leidens schließlich, spürt Ella ihren Körper »schwer«153 und »schlaff«154 werden. Symbolisiert der gespannte Körper Ellas dominante Position diesem gegenüber, ist selbiger als schwerer und schlaffer der Tänzerin wieder überlegen, da Ella nur einen leichten Körper anzuspannen vermag, einen schweren jedoch nicht. Aus dieser Metaphorik wird

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Werke. Werke aus den Jahren 1913–1917, Bd. 10, London zbd Breadford 1949 [1914], S. 126–136, (S. 129). Vgl. dazu ferner : Judith Herman: »Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror«, New York: Basic Books 2015 [1992], S. 40. Zu Ellas Haltung gegenüber dem eigenen Körper während der Tanzausbildung siehe: Braungart, S. 326f., sowie Bühler, S. 243. Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 19). Einen Überblick möglicher Diagnosen geben Lenertz / Peters, S. 162ff. Vgl.: Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 19). Vgl.: ebd. Vgl.: ebd. Ebd. Ebd., S. 21.

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nachvollziehbar, dass die Konfiguration zwischen Ella und ihrem Körper sich an dieser Stelle des Textes umkehrt. Gelang es Ella in der Tanzausbildung, den Körper zu dominieren und aus Perspektive dieser Deutung das erlebte Trauma zu re-inszenieren, bedeutet der Ausbruch des »Siechtums«155 eine Umkehrung des Herrschaftsgefälles.156 Der Körper lähmt nun seine Bewegungen, während Ella keinen Einfluss mehr auf diese hat.157 Kühner bemerkt in Bezug auf das Konzept der Re-Inszenierung, dass der Wiederholungsversuch scheitert, wenn die Traumatisierten keine neue Erfahrung machen. Infolge einer weiteren Ohnmachtserfahrung werden sie re-traumatisiert.158 Insofern Ella aufgrund des wiedergekehrten Kontrollverlustes gegenüber ihrem Körper auf eine Situation des Ausgeliefertseins zurückgeworfen wird, kann mit Kühner das ausbrechende »Siechtum«159 dementsprechend als Re-Traumatisierung Ellas begriffen werden. Auch Ellas Reaktion auf ihr Leiden ist dahingehend deutbar. Dieses begreift Ella nicht als physische Krankheit, die sie ex abrupto befällt. Sie sucht dessen Ursache vielmehr in sich selbst, was darin ersichtlich wird, dass Ella das Leiden als ihre »Schwäche«160 begreift. Diese Bezeichnung kann als Ausdruck des wiederkehrenden Ohnmachtsgefühls gedeutet werden. Hierauf verweist auch ein Ausruf Ellas im Krankenwagen, in welchem sie ausdrücklich ihr Ausgeliefertsein gegenüber dem Körper benennt. Nicht nur die mit diesem Ausruf verbundene wiederholte Interjektion »Oh«161 bekräftigt Ellas Perspektive auf ihr Leiden, sondern auch die Reaktion ihrer Mutter, die ihre Tochter im Krankenhaus besuchend »kleinmütig« und »hilfsbedürftig«162 erlebt. Diese Außensicht einer anderen Figur auf die Tänzerin bestätigt Ellas Eigenwahrnehmung, nämlich dass sie sich handlungsohnmächtig wie in der traumatischen Situation erlebt und sich aus diesem Grunde hilflos fühlt und ängstigt.163 155 Ebd., S. 19. 156 Vgl.: Georg Braungart: »Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne«, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 328. 157 Auch Preiß konstatiert, dass Ellas Körper »als Akteur […] die Rolle des Subjekts« übernimmt. Maya Christina Preiß: »Parataktische Erlebniswelten. Der Begriff der Beziehlichkeit und die Konzeption von Identität im frühen und mittleren Werk Alfred Döblins«, Konstanz: Hartung-Gorre 2014, S. 68f. 158 Vgl.: Angela Kühner : »Trauma und kollektives Gedächtnis«, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 49. 159 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 19). 160 Ebd. 161 Ebd., S. 20. 162 Ebd. 163 »Her overwhelming emotions are […] fear and dread, leading to a childish helplessness«. Heidi Thomann Tewarson: »Döblin’s Early Collection of Stories, die Ermordung einer Butterblume: Toward a Modernist Aesthetic«, Roland Dollinger / Wulf Koepke / Heidi

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Dass das ausbrechende Leiden Ellas als Re-Traumatisierung begriffen werden kann, ist im Hinblick auf Ellas Reaktion auch daran erkennbar, dass die Tänzerin selbst dieses als etwas »besiegt Geglaubtes«164 deutet. Dies impliziert, dass für Ella das Leiden ein Wiederkehrendes ist. Wenn nun berücksichtigt wird, dass die Tänzerin infolge des »Siechtums«165 ihren Körper wie vor Beginn der Tanzausbildung nicht zu kontrollieren vermag, wird ersichtlich, dass die Bezeichnung des Leidens als »besiegt Geglaubtes«166 auf die wiederholte Unmöglichkeit rekurriert, den Körper kontrollieren zu können. Wird ferner in Betracht gezogen, wie Ella diese Analogie deutet, nämlich als Sieg des Köpers,167 so wird anhand ihrer Reaktion deutlich, dass die Tänzerin selbst aufgrund des ausbrechenden Leidens den Wiederholungsversuch als gescheitert begreift. Festzuhalten bleibt demnach, dass der Ausbruch von Ellas Leiden die in der Tanzausbildung bemühte Re-Inszenierung unmöglich macht und damit zwischen Tänzerin und Körper wieder dasjenige Beziehungsgefüge konstruiert wird, welches Ella unbewusst mit der traumatischen Erfahrung assoziiert.

Reversion der Wiederholung: Ellas Patient*innenstatus Im weiteren Verlauf der Erzählung wird Ella in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort setzt sie sich ebenfalls mit ihrem Körper auseinander, doch wird an dieser Stelle der Novelle das dualistische Beziehungsgefüge aufgebrochen. Hinzu tritt das größtenteils anonym bleibende Krankenhauspersonal, das Ellas Körper zu kurieren beginnt.168 Wie diese neuen Handlungsträger*innen das Aufeinanderbezogensein zwischen Tänzerin und Körper prägen, soll in diesem Kapitel herausgestellt werden. Im Krankenhaus angekommen, begreift Ella schnell, dass Ärzte und Krankenschwestern ausschließlich ihren Körper behandeln, ohne sich um ihr seelisches Wohlergehen zu sorgen.169 Diesen Eindruck bestätigt der Fortgang der

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Thomann Tewarson (Hrsg.): A Companion to the Works of Alfred Döblin, Rochester u. a.: Camden House 2004, S. 23–54, (S. 44). Ebd., S. 19. Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 19). Ebd. Vgl.: ebd. Vgl.: ebd., S. 20. Ebd. Siehe auch Erwin Kobel: »Alfred Döblin. Erzählkunst im Umbruch«, Berlin und New York: de Gruyter 1985, S. 30, sowie Maya Christina Preiß: »Parataktische Erlebniswelten. Der Begriff der Beziehlichkeit und die Konzeption von Identität im frühen und mittleren Werk Alfred Döblins«, Konstanz: Hartung-Gorre 2014, S. 68.

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Erzählung. Der personifizierte Körper wird als Patient darstellt, dem die Ärzte zuhören und den sie ernst nehmen. So heißt es wörtlich im Text, dass jede »Äußerung« des Körpers mit »maßlosem Ernst«170 behandelt wird, wohingegen Ärzte und Krankenschwestern Ella als Mensch übersehen.171 Letzteres wird beispielsweise darin ersichtlich, dass Ella auf die Behandlung keinerlei Einfluss nehmen kann, was in der Erzählung mit dem Kommentar, alles geschehe »ohne ihren Willen«172 ausgedrückt wird.173 Zudem illustriert das inszenierte Arzt-Patient*innen-Verhältnis die Aphasie, welche die Tänzerin nach Ankunft im Krankenhaus erleidet.174 So wird berichtet, Ella habe es verlernt, zu sprechen und höre infolgedessen »das Befehlerische ihrer Stimme«175 nicht länger. Mitnichten bezeichnet der Sprachverlust eine physische Erkrankung.176 Die Aphasie referiert als Metapher vielmehr auf Ellas Patient*innenstatus. Die Tänzerin verlernt es zu sprechen, weil nicht gehört wird, was sie zu sagen hat. Das so gestaltete Arzt-Patient*innenverhältnis beeinflusst das Körpererleben Ellas insofern, als die Tänzerin sich ihrem Körper im Krankenhaus noch hilfloser als zuvor gegenübersieht. Zu Hause konnte sie noch gegen seine Schwere mit Wut aufbegehren und in dieser abwehrenden Haltung dem als Antagonisten begriffenen Körper Widerstand leisten. So vermochte Ella beispielsweise die Krankheit zu verheimlichen und dieserart ihre ohnmächtige Position, zumindest für die Außenwelt, unwirklich zu machen.177 Im Krankenhaus ist es ihr nicht länger möglich, Einfluss auf ihren Körper zu nehmen und dies nicht nur, weil sie diesen nicht länger bewegen kann, sondern weil das Unvermögen, den Körper zu len-

170 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 20). 171 Ebd., S. 20f. Siehe dazu auch: Georg Braungart: »Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne«, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 328f. 172 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 20). 173 Vgl.: Erwin Kobel: »Alfred Döblin. Erzählkunst im Umbruch«, Berlin und New York: de Gruyter 1985, S. 30. Auch Braungart betont, dass die Ärzte sich ausschließlich auf Ellas Körper konzentrieren. Braungart, S. 329. 174 Vgl. dazu: Preiß, S. 68. 175 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 20). 176 Vgl.: Georg Braungart: »Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne«, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 328. 177 Vgl.: Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 19).

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ken, von Seiten der Ärzte bestätigt wird, wenn jene Ellas Sicht auf die Körpervorgänge gänzlich missachten.178 Im vorigen Kapitel wurde festgehalten, dass der schwere Körper metaphorisch Ellas Ohnmacht versinnbildlicht. Hieran anschließend kann nun konstatiert werden, dass Ellas Aphasie – ebenfalls als Metapher gelesen – im Text dieselbe Wirkung und Funktion hat; mit dem Unterschied, dass Ella sich ohnmächtig nun nicht nur gegenüber dem Körper, sondern auch den Ärzten und Krankenschwestern fühlt. Dass Ellas Aphasie im gleichen Sinne wie der schwer gewordene Körper gedeutet werden kann, verdeutlicht, dass die Beziehung zwischen Ella und dem Krankenhauspersonal konfiguriert ist, wie diejenige zwischen Ella und ihrem Körper vor Beginn und nach Abbruch der Tanzausbildung. In Bezug auf das vorige Kapitel kann demnach festgehalten werden, dass die Ärzte und Krankenschwestern das nach Ausbruch der Erkrankung rekonfigurierte Herrschaftsgefälle zwischen Tänzerin und Körper aufrechterhalten.179 Dies macht neben der Aphasie ein weiteres als Metapher für Ellas Patient*innenstatus lesbares Symptom deutlich. Nicht nur verlernt Ella es im Krankenhaus, zu sprechen, sie erlahmt auch daran, dass die Krankenschwestern ihr Heiltränke und Nahrung bringen.180 Entscheidend ist hierbei die Präposition »daran,«181 die Ellas Lähmung dezidiert auf die Behandlung bezieht. Wie das Unvermögen zu sprechen, kann auch dasjenige zu gehen, als Ausdruck für Ellas Ohnmachtsgefühl gedeutet werden.182 Darüber hinaus wird in letztgenannter Metapher die Analogie zur Körperbeziehung noch deutlicher, insofern sie dasselbe Bild assoziiert: Am schwer werdenden Körper erlahmt Ella und sie erlahmt auch an der Behandlung im Krankenhaus. Ellas Aufenthalt im Klinikum, so lässt sich zum Ende dieses Kapitels schließen, bewirkt keine Heilung. In ärztlicher Obhut geht es Ella nicht besser – und dies nicht etwa, weil die Behandlung nicht anschlägt, sondern – so kann im Deutungszusammenhang dieser Arbeit geschlussfolgert werden – Ärzte und 178 Vgl.: Georg Braungart: »Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne«, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 328f. 179 Vgl.: Michael J. Cowan: »Die Tücke des Körpers. Taming the nervous body in Alfred Döblin’s Die Ermordung einer Butterblume and Die Tänzerin und der Leib«, in A Journal of Germanic Studies. 2007/4, S. 482–498, (S. 493). 180 Vgl.: Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 21). 181 Ebd. 182 Auch Kyora deutet Ellas Sprachlosigkeit in Bezug auf deren dissoziierte Haltung. Vgl.: Sabine Kyora: »Der Novellenzyklus Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen (1912)«, in: Becker, Sabine (Hrsg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 29–41, (S. 35).

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Krankenschwestern die durch das Leiden verursachte Re-Traumatisierung perpetuieren.

Wiederholung als Reversion: Formen des Widerstandes – Ellas imaginierter Kontrollversuch In diesem Kapitel soll, an die vorangegangenen anschließend, argumentiert werden, dass Ellas Widerstand gegen ihren Körper und die ihn behandelnden Ärzte, der die Handlung vorantreibt, als wiederholte Bemühung Ellas gedeutet werden kann, das Machtgefälle erneut in ihrem Sinne umzukehren.183 Das so betrachtete Aufbegehren Ellas kann demnach als wiederholter Re-Inszenierungsversuch gelesen werden. Sich zu bewegen ist der Tänzerin im Krankenhaus nicht länger möglich und doch versucht sie, das im Tanz erlebte Körperverhältnis wiederherzustellen – zunächst indem sie dieses imaginiert. Ella versucht Kontrolle über den dissoziierten Körper zu erlangen, indem sie selbigen in ihrer Vorstellung einsperrt und in Ketten legt.184 Bezeichnenderweise wird dieser Gedanke Ellas nicht als solcher ausformuliert, sondern er erscheint in der Diegese als reale Handlung. Beschrieben wird allein, wie Ella den Körper einsperrt, ohne hinzuzufügen, dass sich dies in ihrer Imagination ereignet, was verdeutlicht, dass Ella zwischen Vorstellung und Realität nicht (mehr) differenziert. Hieraus kann wiederum geschlossen werden, dass Ella ihr wiedergefundenes Körpererleben als real und darum wirksam begreift. Wurde zuvor aufgezeigt, dass Ellas ohnmächtige Position gegenüber dem Körper von Seiten der Ärzte und Krankenschwestern bestätigt wird, so kann nun Ellas Vorstellung vom eingesperrten Körper nicht nur als imaginierte Körperkontrolle gedeutet werden, sondern auch als eine Form des Widerstands gegen die Behandlung. Nachdem Ella ihren Körper in ihrer Imagination eingesperrt zu haben glaubt, ist es den Ärzten und Krankenschwestern nicht länger möglich, über sie hinwegzusehen, da Ella ihre Einstellung gegenüber ihrem Körper so zu

183 Siehe dazu Preiß: »[Nach ihrer Ankunft im Krankenhaus] schildert [die Erzählung] den Versuch Ellas […] die Herrschaft über ihren Leib zurückzugewinnen.« Maya Christina Preiß: »Parataktische Erlebniswelten. Der Begriff der Beziehlichkeit und die Konzeption von Identität im frühen und mittleren Werk Alfred Döblins«, Konstanz: Hartung-Gorre 2014, S. 68. 184 Vgl.: Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 21).

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verändern vermag, dass eine ärztliche Kommunikation mit selbigem nicht länger möglich ist.185 Somit kann festgehalten werden, dass Ella wieder, wie einst im Tanz, nun jedoch nicht länger in Bewegung, sondern in der Imagination, von einer ohnmächtigen in eine handlungsfähige Position zu wechseln versucht.186 Da die Figuren-Konfiguration sich um die Ärzte und Krankenschwestern als Handlungsträger*innen erweitert hat, stellt Ella sich nicht nur dem Körper, sondern in ihrem Widerstand gegen diesen auch den Ärzten und Krankenschwestern entgegen. So besehen wird Ellas Aufbegehren gegenüber dem Körper und den Ärzten, sowie Krankenschwestern während ihres Klinikaufenthaltes als wiederholte Re-Inszenierung lesbar.

Ellas versuchte Manipulation Weil Ellas imaginierte Inanspruchnahme des Körpers von Seiten der Ärzte und Krankenschwestern nicht bestätigt wird,187 bleibt diese entgegen Ellas Erwartungen unwirksam, woraufhin die Tänzerin eine neue Strategie des Widerstandes bemüht. Ella beginnt damit, die Ärzte zu belügen als diese sich bei ihr nach ihrem körperlichen Befinden erkundigen.188 Zudem verweigert sie die Antwort auf Fragen und verheimlicht Schmerzen.189 Da Ella die Kommunikation zwischen Körper und Ärzten nicht zu hemmen vermochte, sucht sie diese nun zu steuern. Ob Ellas Auskunft über ihre Körpervorgänge wahrheitsgemäß ist, oder nicht, vermögen die Ärzte nicht zu unterscheiden. Wurde zuvor konstatiert, dass Ella zu sprechen verlernt, weil nicht gehört wird, was sie zu sagen hat, so lässt sich in der Metaphorik desselben Bildes nun festhalten, dass Ella das »Befehlerische 185 Vgl.: ebd., S. 21. Vgl. auch Georg Braungart: »Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne«, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 329. 186 Auch Lenertz und Peters heben hervor, dass sich die Machtverhältnisse zwischen Ella und ihrem Körper umkehren. Vgl.: Bianca Lenertz, Silke Peters: »Medizin und Poetik: Psychiatrisches Wissen in Alfred Döblins Erzählung Die Tänzerin und der Leib«, Dominik Groß / Gertude Celp-Kaufmann / Gereon Schäfer (Hrsg.): Die Konstruktion von Wissenschaft? Beiträge zur Medizin-, Literatur und Wissenschaftsgeschichte, Kassel: Kassel University Press 2008, S. 155–177, (S. 169). 187 Vgl.: Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 21). 188 Auch Braungart deutet Ellas Verhalten als »Ausdruck […] der Verweigerung gegenüber den Ärzten«. Georg Braungart: »Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne«, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 329. 189 Vgl.: Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 21).

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ihrer Stimme«190 wieder zu hören imstande ist, weil es ihr gelingt, wieder über ihren Körper zu verfügen und dies insofern, als es ihr obliegt zu entscheiden, seine Verfassung entweder wahrheitsgemäß oder wahrheitswidrig zu beschreiben.191 Da Ella die Kontrolle über ihren Körper wiedererlangt, steht sie auch den Ärzten nicht länger ohnmächtig gegenüber, insofern sie die Validität der ärztlichen Diagnose vom Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen abhängig macht. Im Versuch, die Kommunikation zwischen dem Körper und den behandelnden Ärzten zu sabotieren, möchte Ella sich folglich wieder beiden Antagonisten, dem Körper wie auch den Ärzten gegenüber, handlungsfähig und darum überlegen erweisen und erleben.

Ellas Suizid Auch Ellas zweite Strategie geht nicht auf, weil ihren Aussagen von Seiten der Ärzte auf Dauer kein Glauben geschenkt wird.192 Ella wird demnach wieder auf eine Position der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins zurückgeworfen. Dass Ellas Suizid am Schluss der Erzählung als ein letztes Aufbegehren gegen Körper und Ärzte gedeutet werden kann, soll in diesem Kapitel herausgestellt werden. Auf drei Ebenen wird der Selbstmord thematisiert: Bevor Ella diesen vollzieht, antizipiert sie ihn in einer Stickerei und einer Halluzination.193 Weil die imaginierten Selbstmorde Ellas Perspektive auf den finalen Selbsttötungsakt veranschaulichen, sollen diese im Folgenden näher betrachtet werden. Bei der Diskussion der ersten beiden Widerstandsstrategien wurde hervorgehoben, dass Ella dasjenige Körperverhältnis wiederzufinden sucht, das sie während der Tanzausbildung bis zum Ausbruch des Leidens hatte aufrechterhalten können. Auch für ihren Suizid kann dies konstatiert werden. Einen Zusammenhang zwischen Tanz und Freitod legt an dieser Stelle des Textes die Chronologie der Handlung nahe: Erst als Ella Soldaten zu erklingender Marschmusik am Krankenhausfenster vorbeimarschieren hört, die sie womöglich aufgrund ihrer strengen Rhythmik an die vergangene Tanzausbildung erinnern, richtet sie sich im Bett auf und verlangt von der Krankenschwester, ihr Seide und Leinewand zu bringen, um anschließend in einer Stickerei ihren Freitod abzubilden und somit zu beschließen.194

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Ebd., S. 20. Vgl.: ebd., S. 21. Vgl.: ebd. Ellas Tanz als Halluzination benennt auch Braungart. Vgl.: Georg Braungart: »Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne«, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 331. 194 Vgl. dazu auch: Mitidieri, S. 256, ferner Kobel, S. 30, wie auch Braungart, S. 330f.

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Dass die Erinnerung an den Tanz Ella auf den Gedanken bringt, sich das Leben zu nehmen, macht auch das gestickte Bild deutlich, auf welchem drei Figuren abgebildet sind. Ein Arzt streichelt mit einem Thermometer einen unförmigen bein- und armlosen Körper, während ein kleines, barfüßiges Mädchen ebendiesem eine Schere von unten in den Bauch stößt, sodass er »wie eine Tonne […] in dickem Strahl«195 ausläuft. Vermehrt wird in der einschlägigen Forschung hervorgehoben, dass der abgebildete Arzt die real um Ella sich befindende Ärzteschaft symbolisiert, während Ella mit Darstellung der anderen beiden Figuren ihre innere Spaltung zum Ausdruck bringt.196 Im unförmigen Leib bildet sie den ihr entfremdeten Körper ab, im kleinen Mädchen ihr Selbstgefühl, wie Ella dieses begreift, nämlich als rein geistiges, das als solches keinerlei Körperbewusstsein besitzt.197 Gemäß ihrem Verständnis tötet Ella demnach nicht sich selbst, sondern allein ihren Körper.198 Das kleine Mädchen bleibt zurück, während der runde Leib verblutet.199 Ellas Absicht besteht demzufolge nicht darin, sich selbst umzubringen, sondern ihren Körper zu überwinden. Sie möchte sich diesem gegenüber wieder als machtvoll erleben, weshalb der Körper tun soll, was Ella ihm aufträgt.200 In der Stickerei gelangt zur Darstellung, dass der Körper stirbt – und zwar nicht von alleine, sondern weil das abgebildete Mädchen, respektive Ella, ihn in den Tod zwingt. Zudem soll der bildlich antizipierte Mord am Körper, Ellas Überlegenheit auch gegenüber den im Bild dargestellten Ärzten illustrieren, welche es nicht vermögen, die Tat zu verhindern. Im Selbstmord versucht Ella demzufolge, wie im Krankenhaus bereits zweimal zuvor auf anderer Ebene, das im Trauma verlorengegangene Vertrauen in die eigene Selbst195 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 22). 196 Vgl.: Maya Christina Preiß: »Parataktische Erlebniswelten. Der Begriff der Beziehlichkeit und die Konzeption von Identität im frühen und mittleren Werk Alfred Döblins«, Konstanz: Hartung-Gorre 2014, S. 69. 197 Siehe dazu beispielsweise: Sabine Kyora: »Der Novellenzyklus Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen (1912)«, Sabine Becker (Hrsg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 29–41, (S. 35). 198 Siehe hierzu Weinbacher : »[Ellas] Kampf […] endet mit einem Mord an dem »anderen« Ich, dem Leib«. Hannah Kristina Weinbacher : »Sexualmedizinisches im Werk des Arztes und Schriftstellers Alfred Döblin (1878–1957)«, München: Dissertation LMU München 2011, S. 268. 199 Vgl.: Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 22). 200 Vgl.: Erwin Kobel: »Alfred Döblin. Erzählkunst im Umbruch«, Berlin und New York: de Gruyter 1985, S. 30. Auch Mitidieri deutet Ellas Suizid als »Akt der Selbstbehauptung« gegenüber dem Körper. Gaetano Mitidieri: »Wissenschaft, Technik und Medien im Werk Alfred Döblins im Kontext der europäischen Avantgarde«, Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2016, S. 256.

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wirksamkeit wiederzuerlangen.201 Vor diesem Hintergrund ist Ellas Suizid als dritter Bewältigungsversuch deutbar und kann darum, wie die ersten beiden, als fortgesetzter Tanzversuch begriffen werden. Im Suizid meint Ella das lähmende Leiden überwinden zu können, insofern sie im Vollzug des Freitodes die im Tanz errungene Handlungsfähigkeit wiedererlangt.202 Dass Ella vom Gelingen ihres Vorhabens überzeugt ist, wird innerhalb einer Halluzination deutlich, in welcher die Tänzerin sich den Tod als Paartanz, genauer : einen Walzer mit ihrem Körper, vorstellt.203 Da Ella ihren Körper als Tanzpartner imaginiert, erscheint ihr dieser wie zuvor personifiziert, jedoch ist ein entscheidender Unterschied zur vorangegangenen Körperinszenierung auszumachen: Seit Ella sich durch den Entschluss zum Selbstmord eine wirksame Handlungsmöglichkeit erschlossen hat, erlebt sie ihren Körper nicht mehr als ihr überlegen.204 Er erscheint ihr nicht länger als »Herr«, sondern als »hinkende[s] Männlein.«205 Die Diminutivform markiert den Körper als klein. Als solcher ist er kein furchteinflößend Finsterer206 mehr, sondern ein Tanzpartner, an dessen Seite Ella sich gleichberechtigt bewegt. Nicht der personifizierte Körper führt Ella im Walzer, sondern sie »springen mitsamt.«207 Da Ella und ihr Körper Bewegungen einmütig ausführen, suggeriert der Paartanz ein aufkommendes Körperbewusstsein.208 In diesem Sinne ist der Walzer jedoch nicht zu verstehen, denn Ella begreift – wie schon während der Tanzausbildung – das Spiel mit dem Körper keineswegs als Integrationsprozess. Analog hierzu wird ihr Umgang mit dem Trauma nicht im Sinne einer Therapie beschrieben, im Verlauf derer Ella die Erinnerung an das Erlebte zum Bewusstsein käme; auch der letzte Satz verweist hierauf:209 »Noch im Tode,« so 201 Vgl. dazu Preiß: »Durch Suizid versucht die kränkelnde Seele Ellas, die alte Herrschaftsordnung wiederherzustellen.« Maya Christina Preiß: »Parataktische Erlebniswelten. Der Begriff der Beziehlichkeit und die Konzeption von Identität im frühen und mittleren Werk Alfred Döblins«, Konstanz: Hartung-Gorre 2014, S. 70. 202 Vgl.: Georg Braungart: »Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne«, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 331. 203 Vgl.: Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 22f.). 204 Vgl. dazu auch: Braungart: »Gegen Ende dieser Krankengeschichte ist scheinbar der alte Herrschaftszustand – auf neuem Niveau – wieder erreicht«. Braungart, S. 330. 205 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 23). 206 Vgl.: ebd., S. 20. 207 Ebd., S. 23. 208 Von einem Integrationsprozess gehen Lenertz und Peters aus. Lenertz / Peters, S. 169. 209 Ebd. Vgl. dazu auch: Gaetano Mitidieri: »Wissenschaft, Technik und Medien im Werk Alfred Döblins im Kontext der europäischen Avantgarde«, Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2016, S. 256.

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heißt es im Text, trägt Ella »den kalten verächtlichen Zug um den Mund.«210 Obgleich die Tänzerin mit ihrem Körper stirbt, begreift sie diesen bis zuletzt nicht als Teil ihrer selbst.211 Ellas dissoziiertes Körpergefühl wird im Zusammenhang ihrer Tanzausbildung metaphorisch als »Kälte« bezeichnet, die die Tänzerin »über den Körper«212 sprüht.213 Mit ebendieser Metapher wird auch Ellas letzter Gesichtsausdruck beschrieben. Die dem entfremdet gebliebenen Körper entgegengebrachte Verachtung trägt die Tänzerin bis über den Suizid hinaus im Gesicht.214 Der im Walzer dargestellte Gleichschritt symbolisiert demnach keine Einheit von Körper und Geist der Tänzerin, sondern er rekurriert in seiner Bildlichkeit auf Ellas Tanzausbildung. Die Protagonistin begreift sich erneut als Tanzende, insofern sie den Körper wieder – nun in den Tod hinein – lenkt.215 In diesem Sinne mündet der einheitliche, von Ella als »wundersüß«216 erlebte Walzer in einen Gewaltakt. Ganz im Gegensatz zum Bild eines ebenbürtigen Tanzpartners, imaginiert Ella ihren Körper innerhalb der geschilderten Halluzination als gekollerten217 und hinkenden218 und somit als unbewegliches Objekt.219 Als solcher ist er der Tänzerin unterlegen, was in der Halluzination dadurch zum Ausdruck gelangt, dass zu deren Ende hin Ella keinen Walzer an der Seite ihres Körpers mehr tanzt, sondern sie dessen Bewegung, wie in ihrer Tanzausbildung, dirigiert. Die Tänzerin kollert »die Tonne«220 und wirft »das hinkende Männlein«221 210 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 23). 211 Auch Kyora deutet Ellas Selbstmord als endgültigen Versuch, den Körper zu »beherrschen«. Sabine Kyora: »Der Novellenzyklus Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen (1912)«, Sabine Becker (Hrsg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 29–41, (S. 35f.). 212 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 22). 213 Ebd., S. 19. 214 Vgl.: Georg Braungart: »Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne«, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 331f. 215 Braungart konstatiert, dass die häufige Bezeichnung Ellas als Tänzerin nach Abbruch der Tanzausbildung als »spöttische Reminiszenz« verstanden werden kann. Wird hingegen davon ausgegangen, dass Ella in ihrem Widerstand gegen Körper und Ärzte die im Tanz errungene Selbstmächtigkeit wiederzufinden sucht, ist die Bezeichnung nicht nur zu Beginn des Textes zutreffend. Vgl.: ebd., S. 328. 216 Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, Christina Althen (Hrsg.): Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2013 [1910], S. 19–23, (S. 22). 217 Vgl.: ebd., S. 23. 218 Vgl.: ebd. 219 Vgl.: ebd. 220 Ebd.

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herum.222 Schließlich »steckt«223 Ella dem personifizierten Körper Sand in den Mund.224 Genz zufolge kann der imaginierte Gewaltakt als »Andeutung […] einer Vergewaltigung«225 gelesen werden. Insbesondere anhand der Metaphorik dieser Textstelle wird gemäß Genz das zu frühe Sexualerlebnis ersichtlich, vor dessen Folie Ellas Leiden deutbar wird.226 Wurde zuvor gezeigt, dass Ellas Umgang mit ihrem Körper als unbewusster Bewältigungsversuch eines traumatischen Erlebnisses zu lesen ist, so lässt sich mit Blick auf Ellas Halluzination nun festhalten, dass es der Tänzerin gelingt, das traumatische Erlebnis im Suizid neu zu erfahren, insofern sie im Wiedererleben des Gewaltaktes das Herrschaftsgefälle umkehrt.227 Nicht der Täter überwältigt Ella im Ausgang der Erzählung, sondern sie überwindet ihre Körperlichkeit und somit den im Körper symbolisierten Täter.228

Fazit Anliegen dieses Beitrages war es, herauszustellen, dass Die Tänzerin und der Leib von einem Zeitgeist geprägt ist, der die Literatur in die Nähe zur Psychologie bzw. Psychoanalyse rückt und dies am Text insofern nachzuvollziehen ist, als das Körpererleben der Protagonistin erst vor dem Hintergrund historischer Hysteriekonzeptionen als symbolischer Ausdruck einer dissoziierten traumatischen Erinnerung deutbar wird. Am Text wurde die Darstellung des unverarbeiteten Traumas am unkontrollierbaren, wie auch als personifiziert inszenierten Körper festgemacht. Dem wurde hinzugefügt, dass im Hinblick auf die Latenzwirkung traumatischer Erfahrungen auch Ellas Adoleszenz diese Deutung stützt, da mit Freud davon ausgegangen werden kann, dass insbesondere während diesem Lebensalter unverarbeitete Erinnerungen nachträglich und konvertiert ausgedrückt werden.

221 222 223 224 225

Ebd. Vgl.: ebd. Ebd. Vgl.: ebd. Julia Genz: »Döblins Schreibweise der Evokation und Aussparung. Psychoanalytische und psychiatrische Diskurse in Die Tänzerin und der Leib«, Sabina Becker / Robert Krause (Hrsg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Emmendingen 2007. ›Tatsachenphantasie‹. Alfred Döblins Poetik des Wissens im Kontext der Moderne, Bern: Lang 2008, S. 69–82, (S. 80). 226 Ebd. 227 Vgl: Erwin Kobel: »Alfred Döblin. Erzählkunst im Umbruch«, Berlin und New York: de Gruyter 1985, S. 30: »Mit ihrem letzten Totentanz glaubt [Ella] einen Ausweg gefunden […] zu haben«. Kobel, S. 30. Vgl. ferner : Mitidieri, S. 256 sowie Braungart, S. 330. 228 Vgl.: ebd., S. 30f.

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Von diesem Standpunkt aus wurde ferner aufgezeigt, dass Ellas Bemühen um Körperkontrolle in Rückgriff auf ältere wie neuere Traumatheorien als unbewusster Re-Inszenierungsversuch der traumatischen Erfahrung und somit als Bewältigungsstrategie begriffen werden kann. So konnte herausgestellt werden, dass Ella während ihrer Tanzausbildung den ihr entfremdeten Körper zu disziplinieren, im Eigentlichen hingegen unbewusst das im Körper symbolisierte Ohnmachtsgefühl zu bewältigen sucht, welches sie seit dem ursprünglichen Trauma begleitet. Gezeigt wurde zudem, dass Ellas unbenanntes Leiden im Deutungszusammenhang dieser Arbeit als Re-Traumatisierung auf die Tänzerin wirkt, insofern dessen lähmende Wirkung es Ella nicht länger erlaubt, ihren Körper zu kontrollieren. Hieraus ließ sich sodann schließen, dass Ella bis zum Ausgang der Novelle kontinuierlich um eine Aneignung der dissoziierten Körperlichkeit bemüht ist. Durch die Analyse der geschilderten Ermächtigungsversuche, konnte herausgearbeitet werden, dass die Erzählung selbige unterschiedlich inszeniert: Der erste Versuch ist im Eigentlichen ein imaginierter, der im Text nicht als solcher, sondern als reale Handlung in der Diegese erscheint, während der zweite Versuch in der Darstellung einer sabotierten Kommunikation zwischen Körper und Ärzten auszumachen ist. Ellas Freitod schließlich wird nicht als Mord am Selbst, sondern am Körper inszeniert. In Rekurs auf den ersten Re-Inszenierungsversuch konnte zudem gefolgert werden, dass Ella dasjenige Körperverhältnis, welches sie während der Tanzausbildung gefunden hatte, im Tod bzw. im Selbsttötungsakt, wiederzufinden versucht. Gleichwohl hervorgehoben wurde, dass es Ella im Suizid schließlich gelingt, das Trauma zu re-inszenieren, wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass die bemühte Bearbeitung keine bewusste ist, und daher auch keine Bewältigung im therapeutischen Sinne, wie Breuer und Freud sie in den Studien über Hysterie beschreiben,229 in der Erzählung dargestellt wird. Entgegen Hoffmanns Feststellung, geht aus der vorliegenden Untersuchung hervor, dass in Die Tänzerin und der Leib mentale Vorgänge inszeniert werden. Döblin mag eine »psychologisierend-allwissende Erzählhaltung«230 polemisch negiert haben,231 – dem widerspricht allerdings nicht, dass auch die von ihm

229 Vgl.: Sigmund Freud / Josef Breuer: »Studien über Hysterie«, Frankfurt am Main: Fischer 1970 [1895], S. 204. 230 Gaetano Mitidieri: »Wissenschaft, Technik und Medien im Werk Alfred Döblins im Kontext der europäischen Avantgarde«, Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2016, S. 238. 231 Siehe hierzu auch: Sabina Becker : »Döblin und die literarische Moderne 1910–1933«, Dies. (Hrsg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2016, S. 330–340, (S. 336).

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bemühte »Sachlichkeitsästhetik«,232 welche vielmehr darstellt als erklärt, mentale Vorgänge literarisch bearbeitet. Über den Gebrauch der gleichen Metaphern in unterschiedlichen Szenen, stellt die Erzählung einen Sinnzusammenhang her, der den Leser*innen Einsicht in Ellas Seelenleben gibt. Insbesondere das Bild des Tanzes wird immer wieder aufgegriffen, um zu illustrieren, wonach Ella strebt und worauf ihr Widerstand gegen Körper und Ärzte verweist. Eine psychoanalytische Lesart erlaubt demnach Erkenntnisse nicht nur über Döblins spätes, sondern auch über sein frühes Werk.233

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232 Vgl.: ebd. 233 Vgl.: ebd., S. 266ff.

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Der Anfang zum Schluss – Dunkler Frühling als Fundierung einer angelegten pathogenetischen Lesart

Einleitung »Ich versuche einen neuen Text zu schreiben. Die erotischen Erlebnisse eines kleinen Mädchens (aus der eigenen Kindheit).«1 Nicht nur Aussagen wie diese Unica Zürns, ihren 1969 erschienenen Text Dunkler Frühling2 betreffend, erschweren einen unvoreingenommenen Zugang zu ihrem Werk. Verweist die Autorin und Künstlerin zeitlebens unter anderem in Briefen und Gesprächen auf einen autobiografischen Hintergrund ihres Schaffens,3 wird diese intendierte Rezeptionsweise auch in der Struktur ihres gesamten künstlerischen Schaffens evident. Beschränkt man sich auf Zürns schriftstellerisches Œuvre, so ergibt sich für die Rezeption in Deutschland ein Sonderfall. Dort, im Gegensatz zu Frankreich – ihrer Wahlheimat seit 1953 – lässt sich bis zum Jahre 1975 kein Verlag finden, der dazu bereit ist, ihre ab Mitte der fünfziger Jahre entstandenen Texte zu veröffentlichen.4 Nach Weigel ist dies mehreren Faktoren geschuldet: zum 1 Franziska Schneider : »Unica Zürn. Zu ihrem Leben und ihrem Werk«, Unveröffentlichte Lizentiatsarbeit. Zürich: 1979, S. 21. Zitiert nach Sigrid Weigel: »›Wäre ich ein Mann, hätte ich aus diesem Zustand vielleicht ein Werk geschaffen‹: Unica Zürn«, Inge Stephan / Regula Venske / Sigrid Weigel (Hrsg.): Frauenliteratur ohne Tradition? Neun Autorinnenporträts, Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 243–277, (S. 263). 2 Verwendet wurde folgende Ausgabe: Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985. 3 Vgl. hierzu auch: Ruth Henry : »Die Einzige. Begegnung mit Unica Zürn«, Hamburg: Ed. Nautilus 2007. 4 Für eine ausführliche Bibliographie vgl.: Sabine Scholl: »Unica Zürn: Fehler Fallen Kunst. Zur Wahrnehmung und Re/Produktion bei Unica Zürn«, Frankfurt am Main: Hain 1990. Ausnahmen bilden die zuvor erwähnte Veröffentlichung Dunkler Frühling, 1969 im Hamburger Merlin Verlag erschienen, sowie die Anagrammsammlung Hexentexte, 1954 erschienen bei der Galerie Springer, Berlin. Beide Veröffentlichungen beinhalten jedoch zugleich Publikationen Hans Bellmers (im Falle der Hexentexte ein Nachwort, Dunkler Frühling enthält drei Zeichnungen Bellmers), Zürns Lebensgefährten, welcher sich als Künstler einer ungleich größeren Bekanntschaft erfreuen durfte. Auf Bellmers Publikationen wird von beiden Verlegern ausdrücklich hingewiesen, dies legt u. a. nahe, dass sie einer Veröffentlichung von Zürns Werken zumindest nicht abträglich waren. (Vgl. hierzu auch: Weigel: »›Wäre ich ein

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einen der in Deutschland verspätet eintretenden Rezeption surrealistischer Werke, in deren Umkreis Zürns Opus gemeinhin verortet wird, zum anderen der Ende der sechziger Jahre einsetzenden Frauenbewegung, die sich mit der Forderung nach einem »autonomen (weiblichen) Subjekt«5 jenen Texten verweigert habe, welche dieses Postulat augenscheinlich nicht zu erfüllen vermochten.6 Ferner verweist Rupprecht auf die Implikationen, welche die letztendlich 1975 erfolgte Publikation von Der Mann im Jasmin in der Reihe Neue Frau des Ullstein Verlags mit sich gebracht habe, indem u. a. durch Beibehaltung der Orthografie des Manuskripts sowie durch die Anfügung eines Nachworts Jean-FranÅois Rabains (in späteren Auflagen), eines Psychiaters Zürns, welche sich seit Ende der fünfziger Jahre kontinuierlich in sowohl stationärer als auch ambulanter Behandlung befand,7 eine Lesendenlenkung initiiert worden sei, hin zu einer Rezeption der Textsammlung als Ausdruck und Bericht einer Krankengeschichte.8 Die damit einhergehende Aberkennung des künstlerischen Status ihres Schaffens lässt sich anhand zahlloser Beispiele von Publikationen verfolgen, die ihr Schreiben ausschließlich unter dem Aspekt der Autopathogenese betrachten.9 Obschon die literaturwissenschaftliche wie auch die kunsthistorische Forschung sich zunehmend bemühen, von einer solchen Lesart Abstand zu nehmen, ist sie dennoch weiterhin vorherrschend. Helga Lutz sieht eine Erklärung dieses ihrer Meinung nach »von den RezipientInnen selbst hergestellten Phänomen[s]«10 etwa in dem Versuch, dem Werk durch eine Synthese von Autorin und Produkt einen Sinnzusammenhang abzuringen, welcher aus dem

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Mann…‹«, S. 243.) Zusätzlich war Zürn ab Mitte der vierziger Jahre bis zu ihrer Auswanderung nach Paris als Autorin von Kindergeschichten in deutschen Zeitungen vertreten. Sigrid Weigel: »›Wäre ich ein Mann, hätte ich aus diesem Zustand vielleicht ein Werk geschaffen‹: Unica Zürn«, Inge Stephan / Regula Venske / Sigrid Weigel (Hrsg.): Frauenliteratur ohne Tradition? Neun Autorinnenporträts. Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 243–277, (S. 247). Vgl.: ebd., S. 243ff. Während ein erstes ärztliches Gutachten eine Schizophrenie attestiert, nehmen spätere Gutachten von dieser Diagnose Abstand und attestieren eine bipolare Störung. Vgl. hierzu: Eva-Maria Alves: »›ernst ist der Name ICH – es ist Rache‹. Unica Zürn«, Keller, Ursula (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben/Schreiben/Suizid. Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 155–172, (S. 158), sowie Caroline Rupprecht: »The Violence of Merging: Unica Zürn’s Writing (on) the Body«, verfügbar unter : http://newprairiepress.org/sttcl/vol27/iss2/10/#? [01. 03. 2018], S. 371–3920020043 (S. 388). Vgl. Caroline Rupprecht: »The Violence of Merging: Unica Zürn’s Writing (on) the Body«, verfügbar unter : http://newprairiepress.org/sttcl/vol27/iss2/10/#? [01. 03. 2018], S. 371–392, (S. 376 und S. 389). Als Beispiel sei hier nur oben genannter Beitrag Eva-Maria Alves’ zu Zürn aus dem Jahr 2000 zu nennen, in welchem die Verfasserin die Autorin Zürn bar jeglicher kritischer Hinterfragung gleichsetzt mit der jeweiligen Protagonistin derer Texte. Helga Lutz: »Schriftbilder und Bilderschriften. Zum Verhältnis von Text, Zeichnung und Schrift bei Unica Zürn«, Stuttgart: Metzler 2003, S. 25.

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Werk alleine vermeintlich nicht herzustellen sei.11 Ungleich Lutz, welche konstatiert, dass gegenüber dem Werk Zürns eine »Inkommensurabilität kunsthistorischer und literaturwissenschaftlicher Parameter«12 herrsche, und somit eine Einordnung dessen infrage stellt, wird im Folgenden von einem Eingebundensein der Arbeiten Zürns in zur Zeit der Entstehung vorherrschende Diskurse und künstlerische Strömungen gemäß aktuellen kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen ausgegangen.13 Auch in Auseinandersetzung mit Weigel, die darauf hinweist, dass sich »autobiographische[] Deutungen […] im Fahrwasser jener psychologischen Deutungsmuster [bewegen], die Zürns literarische Texte selbst anbieten«14 und somit dazu tendierten »dieselbe hermetische imaginäre Welt abzubilden, die Zürns Werk umschreibt,«15 distanziere ich mich in der folgenden Analyse von einer solchen Lesart. Stattdessen soll nachgewiesen werden, dass Dunkler Frühling in mehr als nur einer Hinsicht die literarische Verarbeitung bzw. Umsetzung einer psychoanalytischen Fallgeschichte darstellt, und zwar unter Einbezug der der Psychoanalyse eingeschriebenen Problematik eines patriarchalisch konstruierten Welt- und Kulturverständnisses, ohne daraus Rückschlüsse auf die Person der Autorin ziehen zu wollen. So wird dem angebotenen Deutungsmuster zwar gewissermaßen Folge geleistet, jedoch nicht im Sinne einer autobiografischen Verklärung. Auch wenn eingangs genannte Umstände eine autobiografische Lesart durchaus zu rechtfertigen scheinen, muss dem entgegengesetzt werden, dass Dunkler Frühling ebenso wie andere Werke Zürns allein durch die Installation einer Erzählinstanz, welche sich nicht mit der Autorin deckt, eine solche Auslegung zumindest problematisiert.16 Ferner wird mit der 11 Lutz entwirft in ihrer Arbeit verschiedene Topoi der Rezeptionsgeschichte Zürns, auf die hier jedoch aufgrund des Umfangs der vorliegenden Arbeit nicht weiter eingegangen werden wird. Interessant für die Argumentation ist jedoch, dass selbst Lutz, welche sich zur Aufgabe gemacht hat, eine kritische Herangehensweise an Zürns Werk zu demonstrieren, selbst an mehreren Stellen dem Autobiographismus anheimfällt. (Vgl. hierzu u. a.: Helga Lutz: »Schriftbilder und Bilderschriften. Zum Verhältnis von Text, Zeichnung und Schrift bei Unica Zürn«, Stuttgart: Metzler 2003, S. 24.). 12 Ebd., S. 9. 13 Zur näheren Einordnung des Werks Zürns vgl. u. a.: Carola Hilmes: »Zeigen und erzählen: Texte, Bilder und wie sie zusammengehören. Überlegungen zu den Arbeiten von Unica Zürn«, in Arcadia 2002/37, (S. 67–84), sowie: Thomas Röske (Hrsg.): »Surrealismus und Wahnsinn«, Heidelberg: Wunderhorn 2009. 14 Sigrid Weigel: »Unica Zürn – Verkehrte Mimesis. Angleichung des Lebens an die Kunst«, Ursula Keller (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben / Schreiben / Suizid, Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 135–153, (S. 137). 15 Ebd. 16 Vgl. hierzu auch u. a.: Sigrid Weigel: »›Wäre ich ein Mann, hätte ich aus diesem Zustand vielleicht ein Werk geschaffen‹: Unica Zürn«, Inge Stephan / Regula Venske / Sigrid Weigel (Hrsg.): Frauenliteratur ohne Tradition? Neun Autorinnenporträts, Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 243–277, (S. 249).

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Analyse versucht, dem Kunstcharakter des Texts Rechnung zu tragen; unterstützt wird dies im Weiteren durch einen Verweis auf die immanente Intertextualität in ihrem Werk. Dies untermauert die These einer von der Autorin intendierten Lesart ihrer Texte, wobei Dunkler Frühling hier gewissermaßen als nachgereichte Genese ihrer Inszenierung gelesen werden kann.

Dunkler Frühling als vielgestaltige Antwort: Weibliche Suizidalität aus Sicht der neueren Psychoanalyse An einem langen Sonntagmorgen kriecht sie zu ihrer Mutter ins Bett und erschreckt sich vor diesem großen, dicken Körper, der seine Schönheit schon verloren hat. Die unbefriedigte Frau überfällt das Mädchen mit offenem, feuchtem Mund, aus dem sich eine nackte Zunge herausbewegt, lang wie das Objekt, das ihr Bruder mit seiner Hose verhüllt. Entsetzt stürzt sie aus dem Bett und fühlt sich tief gekränkt. Eine tiefe und unüberwindliche Abneigung vor der Mutter und der Frau entsteht in ihr.17

Dunkler Frühling behandelt die Entwicklung eines Mädchens, angefangen im Kleinkindalter bis zu den Anfängen der Adoleszenz, endend mit dem Suizid der in der Geschichte zu diesem Zeitpunkt zwölfjährigen, namenlosen Protagonistin. Oben genanntes Zitat findet sich relativ zu Beginn der Erzählung, ein genaues Alter der Protagonistin ist nicht angegeben; nach Freud würde diese Schilderung jedoch wohl den Übergang von der präödipalen zur ödipalen Phase bezeichnen,18 ist die Protagonistin sich erst in dem unmittelbar vorhergehenden Absatz der Geschlechterunterschiede bewusst geworden,19 aber hierzu später mehr. Im Folgenden soll unter Anlehnung an eine Theorie der Psychoanalytikerin Benigna Gerisch, welche von einer spezifisch weiblichen suizidalen Psychodynamik ausgeht,20 ebendiese Genese innerhalb des narrativen Aufbaus sowie der Figurenverhältnisse im Text Dunkler Frühling nachgewiesen werden, wobei obiges Zitat sich für den gewählten Ansatz ausschlaggebend zeichnet, nimmt Gerisch in ihrem Ansatz doch eine »dichte[] Korrespondenz von Suizidalität und der Ge17 Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 174f. 18 Vgl. hierzu: Sigmund Freud: »Das Ich und das Es« [1923], Anna Freud (Hrsg.): Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 13: Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es, Frankfurt am Main 1967, S. 235–289, (S. 258ff.). 19 Vgl. Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 174f. sowie S. 174: »Was sich unter den Hosen verbirgt, erfährt sie durch die Beobachtung ihres Bruders.« 20 Benigna Gerisch: »›Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich‹. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa«, Ursula Keller (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben/Schreiben/Suizid, Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 69–115.

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nese von Geschlechtsidentität«21 an.22 So verweist Gerisch aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung23 darauf, dass bei einer Vielzahl der Fälle, in denen Frauen suizidales Verhalten aufweisen, eine »komplexe weibliche Identitätsproblematik- und Störung«24 vorliege, die darin begründet sei, dass der »Separations- und Individuationsprozeß«25 misslungen sei, welcher sich bei Frauen umso schwieriger gestalte, sofern die Generierung des weiblichen Subjekts ein doppeltes Moment beinhalte – eine Identifizierung der Tochter mit der Weiblichkeit der Mutter sowie die gleichzeitige Entwicklung einer von der Mutter separaten weiblichen Identität.26 Von den im Anschluss von Gerisch ausgeführten »psychodynamisch-genetischen Charakteristika« sollen im weiteren Verlauf vier behandelt werden, die zum einen entscheidend für das von ihr skizzierte Krankheitsbild sind, und die sich zum anderen besonders gut anhand des Textes aufzeigen lassen.27

21 Benigna Gerisch: »›Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich‹. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa«, Ursula Keller (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben/Schreiben/Suizid, Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 69–115 (S. 73). 22 Gerisch arbeitet zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihres Beitrags nach eigenen Angaben bereits seit zehn Jahren im psychotherapeutischen und wissenschaftlichen Feld, u. a. im Therapie- und Forschungszentrum für Suizidgefährdete in der Universitätsklinik Hamburg (vgl.: ebd., S. 70.), was auf eine eingehende und fundierte Beschäftigung mit der Thematik schließen lässt. Zudem verweist auch das Vorwort der Herausgeberschrift auf Gerischs Beitrag als »gleichsam exemplarisch, die anderen Essays [u. a. auch zu Unica Zürn] psychoanalytisch grundierend« (Ursula Keller : »Vorwort«, Ders. (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben / Schreiben / Suizid, Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 7–17, (S. 11.), was das Heranziehen des Textes zum Zwecke der Analyse von Zürns Texten zwar nicht wesentlich motiviert hat, diesem aber im Nachhinein eine gewisse Fundierung verleihen mag. In Abgrenzung an Gerischs Herangehensweise möchte ich jedoch, wie oben erwähnt, hier keinen Zusammenhang zu Zürns Biographie herstellen, sondern lediglich werkimmanent arbeiten. 23 Sie selbst gibt an, dass trotz eines nachweislich unterschiedlichen Suizidverhaltens bei Männern und Frauen keine einschlägigen wissenschaftlich fundierten Arbeiten zu diesem Thema vorlägen. Vgl. Benigna Gerisch: »›Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich‹. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa«, Ursula Keller (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben / Schreiben / Suizid, Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 69–115, (S. 70). 24 Ebd., S. 73. 25 Ebd. 26 Vgl.: Ebd. 27 Eine Behandlung aller Charakteristika, die im Text aufgefunden werden können, lässt die Kürze der Arbeit nicht zu, weshalb sich hier auf die elementaren beschränkt wird und auch jene, auf die eingegangen wird, können nur angerissen werden; eine ausgiebige Analyse wäre jedoch durchaus von Interesse.

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Abgewehrte regressive Verschmelzungsängste vs. tiefe Sehnsucht nach der Mutter28 In der Lebenswelt der Protagonistin glänzt die Mutter durch Abwesenheit, die Erziehung wird von wechselnden Gouvernanten übernommen, die Mutter scheint für alles andere mehr Zeit zu erübrigen als für ihre Tochter. So empfängt sie Gäste, vornehmlich Herrenbesuch, widmet sich ihrem Tagebuch und ihrer Toilette und beteiligt sich an nichts, was den Lebensumständen der Tochter zugutekommen würde, wie etwa die Besorgung des Haushalts.29 Eine Spiegelung des Kindes durch die Mutter, welche unabdingbar für dessen Identitätsentwicklung ist,30 ist dadurch nicht gegeben. Das Kind sucht dennoch den Schutz und die Aufmerksamkeit der Mutter, wie etwa an jenem »langen Sonntagmorgen.«31 Was die Protagonistin in dieser Situation meint zu erfahren, ist jedoch nichts dergleichen, sondern spielt sich mehr im semantischen Feld der Vergewaltigung (»unbefriedigt«, »überfällt«, »feucht«, etc.32) ab und erinnert zudem an ein Bild kannibalischer Einverleibung.33 Die Mutter, die ein Bild einer idealtypischen, allumfassenden Mutter-Kind-Liebe34 der Tochter nicht zu vermitteln vermag, verweigert somit der Tochter auch eine Identifizierung. Gerisch spricht hier von eine[r] frühkindliche[n] Traumatisierung durch den Ausfall eines emphatischen Objektes. D. h. das Kind erlebt eine Mutter, die sich in seine infantilen Bedürfnisse und Nöte nicht einzufühlen vermag.35

Regressive Verschmelzungsängste äußern sich nicht nur im Bild der Einverleibung durch die Mutter, sondern auch in der aus Sicht der Protagonistin durchweg negativen Besetzung der Mutterfigur – so wird die Mutter als dick und 28 Vgl.: Benigna Gerisch: »›Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich‹. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa«, Ursula Keller (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben / Schreiben / Suizid. Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 69–115, (S. 73). 29 Vgl.: Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 175 und S. 186. 30 Zur frühkindlichen Entwicklung und der Bedeutung von Bezugspersonen vgl.: Bärbel Wardetzki: »Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung« 26. Aufl., München: Kösel 2015 [1991]. Hier v. a. S. 35ff. 31 Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 147. 32 Vgl.: ebd. 33 Vgl.: Benigna Gerisch: »›Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich‹. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa«, Ursula Keller (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben / Schreiben / Suizid, Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 69–115, (S. 85). 34 Vgl.: ebd., S. 98. 35 Ebd., S. 86.

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hässlich,36 eifersüchtig,37 egoistisch, faul, lieblos, oberflächlich und eitel38 beschrieben.39 Separationsversuche des Kindes von der Mutter, wie etwa durch die Sublimierung des mütterlichen Introjekts durch das Dienstmädchen Frieda Splitter,40 werden von der Mutter konsequent untergraben.

»[D]as Mißlingen der Triangulierung und die Idealisierung des psychisch nicht verfügbaren Vaters«41 Nach Gerisch ist der Vater dafür zuständig, die Tochter darin zu unterstützen, sich von der Dualbeziehung mit der Mutter zu lösen; so verschaffe er ihr durch seine Person die Möglichkeit einer von der Mutter divergenten Identität und beschwichtige somit unter anderem auch im Kind vorhandene Trennungs- und Verlustängste.42 Die Protagonistin setzt zwar den Vater vermeintlich an Mutters statt (so »zieht [sie] ihn den Frauen vor, die sie gewöhnlich umgeben«43), jedoch ist auch der Vater nicht präsent, weder psychisch noch physisch und ermöglicht somit dem Kind, ebenso wie die Mutter, weder eine Spiegelung seiner Person, noch erfüllt er dadurch die an ihn gestellten Aufgaben in der familiären Dreiecksbeziehung.44 Das Kind merkt bald nicht nur, dass der Vater abwesend ist,45

36 Vgl.: Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 175. 37 Vgl.: ebd., S. 177. 38 Vgl.: ebd., S. 186f. 39 Ein ähnlicher Verweis auf die negative Besetzung der Mutterfigur in Dunkler Frühling findet sich auch bei Morrien, Rita: »Lebendig tot und oft begraben. Zur Absenz der Mutter bei Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer und Unica Zürn«, Wolfram Mauser, Irmgard Roebling (Hrsg.): Mutter und Mütterlichkeit. Wandel und Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Literatur. Festschrift für Verena Ehrich Haefeli. Würzburg: Königshausen und Neumann 1996, S. 317–331, (S. 327ff.). Morrien erkennt in der Erzählung zwar ebenfalls »einen Mythos der klassischen Psychoanalyse« (ebd.), weiß dies aber nicht zu vereinbaren mit Zürns restlichem Werk und flüchtet sich sodann im Sinne Kristevas in eine ihrem Argumentationsmuster zuträgliche postfeministische Lesart. 40 Vgl.: Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 176f. 41 Benigna Gerisch: »›Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich‹. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa«, Ursula Keller (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben / Schreiben / Suizid. Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 69–115, (S. 73). 42 Vgl.: ebd., S. 78f. 43 Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 173. 44 Die Figur des Bruders wird hier nicht erwähnt, da sie für die Argumentation hier nicht von Belang ist, und v. a. da es sich bei der Triangulierung um eine Eltern-Kind-Beziehung unabhängig etwaiger Geschwister handelt.

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sondern auch, dass er die Abwesenheit vom Kind mehr genießt als das Zusammensein: »Er [der Vater] verläßt immer wieder unruhig das Haus und kommt nach Monaten gebräunt und friedlich zurück.«46 Die Mutter sinkt noch mehr im Ansehen der Protagonistin, da sie seine Bedürfnisse in den Augen der kindlichen Figur aufgrund ihrer Hässlichkeit im Gegensatz zu anderen »schöne[n] und elegante[n] Dame[n]«47 nicht zu befriedigen mag.48

»[D]ie Aufspaltung der weiblichen Identität«49 Ein weiteres »psychodynamisch-genetisches Charakteristikum« stellt nach Gerisch »die Aufspaltung der weiblichen Identität i. S. einer fundamentalen Identitätsdissoziation von Weiblichkeit und Männlichkeit«50 dar, im Zuge welcher sich das Mädchen/die Frau ein feststehendes Bild von spezifisch männlichen bzw. weiblichen Eigenschaften imaginiere, welche sie in ihrer Person zu vereinigen suche.51 So entwickelt die Protagonistin in Dunkler Frühling mütterliche Teilintrojekte, in Reaktion auf die Zurückweisung seitens der Mutter (das Herbeifantasieren männlicher Figuren aus Literatur und Kunst setzt nach der zu Anfang des Kapitels zitierten Szene ein), die zum Teil positiv besetzt sind (wie etwa die imaginierte Nachtwache52), das Mädchen beschützen, sowie sie zu ihrem Mittelpunkt machen, sich teils aber auch als übergriffig und bedrohlich manifestieren – die Nachtwache mutiert nach der Vergewaltigung durch den Bruder zu einer nächtlich wiederholten, imaginierten Vergewaltigungs- und Tötungsszene.53 All jene Introjekte sind männlich und lassen sich zudem in ihrer Genese als aus der Fantasie des Mädchens sowie als aus der Beziehung zur Mutter hervorgehende interpretieren, symbolisieren sie in ihrer Eigenschaft doch stets die Sehnsucht nach idealtypischer Mutterliebe und gleichermaßen Verschmelzungsängste. Inwieweit eine Orientierungslosigkeit des Mädchens bezüglich 45 Vgl.: Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 173. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 175. 48 Vgl.: ebd. 49 Benigna Gerisch: »›Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich‹. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa«, Ursula Keller (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben / Schreiben / Suizid. Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 69–115, (S. 73). 50 Ebd. 51 Vgl.: ebd. 52 Vgl.: Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 179. 53 Vgl.: ebd., S. 182f. Auch hier genießt es die Protagonistin jedoch, der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein.

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ihrer geschlechtlichen Identität besteht, zeigt auch folgendes Zitat: »Sie bedauert es, ein Mädchen zu sein. Sie möchte ein Mann sein, schon in reifen Jahren, mit einem schwarzen Bart und schwarzen Augen, die wie Flammen sind.«54 Die von der Protagonistin ersehnte Identität greift zum einen die von ihr imaginierten männlichen Figuren auf, gleichzeitig findet sich hier eine Reminiszenz an die Vaterfigur.55

»[D]ie synthetisierende Funktion des Suizids«56 Die imaginierten Männerfiguren sowie der idealisierte Vater werden nach einer Begegnung mit einem Fremden in der Badeanstalt von ebendiesem abgelöst. Auffällig ist auch hier die Wortwahl, die die erträumte Beziehung des Kindes zu jenem Mann beschreibt: Selbst wenn er ihr in Wirklichkeit nie einen einzigen Blick schenken würde, ist sie fähig geworden, sich vorzustellen, daß er sie anblickt, mit seinen Augen, aus denen eine tiefe erschütternde Liebe leuchtet. Er bleibt über sie geneigt, während sie schläft. Sie ist das Kind, das er sich wünscht und nie geschenkt bekommt.57

Anstelle einer erwünschten sexuellen Beziehung wird dem Fremden die Funktion eines Mutterersatzes zugewiesen; die Protagonistin versucht gar »ihm ähnlich zu sehen.«58 Das anschließende Verbot der Mutter, die Badeanstalt weiterhin zu besuchen, sodass ihr ein Kontakt zu diesem Mann verwehrt bleibe,59 stürzt die Protagonistin in tiefe Verzweiflung. Folgt man hier der Theorie Gerischs, so ist der anschließende von der Protagonistin vollzogene Suizid ein Syntheseakt – ein »Ausdruck der Tötung des ›falschen Selbst‹.«60 Die These findet ihre Unterstützung in der zuvor stattfindenden kannibalisch anmutenden Einverleibung der Fotografie des Mannes: »Sie steckt die Fotografie in den Mund, zerkaut sie sorgfältig und schluckt sie hinunter. Sie hat sich mit ihm 54 Ebd., S. 179. 55 Vgl.: ebd., S. 173. 56 Benigna Gerisch: »›Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich‹. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa«, Ursula Keller (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben / Schreiben / Suizid. Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 69–115, (S. 73). 57 Vgl.: Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 193. 58 Ebd. 59 Vgl.: ebd., S. 200. 60 Benigna Gerisch: »›Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich‹. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa«, Ursula Keller (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben / Schreiben / Suizid. Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 69–115, (S. 73).

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vereinigt.«61 Rekurriert dies zum einen auf das zum Eingang des Kapitels angeführten Zitats der versuchten Einverleibung durch die Mutter, vollendet sich hier zum anderen auch die Identifizierung, die Gleichmachung, mit dem mütterlichen Surrogat. Das Mädchen, sodann verschmolzen mit der Mutter und somit in seinen Individuationsbestrebungen gescheitert, tötet sich schließlich selbst. Nach Gerisch sei die Suizidhandlung nicht nur eine Tötung des »Objektes im Subjekt […], sondern zugleich auch […] Objektrettung«62 und agiere »eine genetisch noch frühere Phantasie vom Rückzug in einen harmonischen Primärzustand«.63 Durch die Selbsttötung wird der übergriffige Anteil getötet, zudem wird einem Identitätsverlust durch Objektverlust entgegengewirkt.64

Intertextualität im Werk Zürns Die zuvor genannten Themen und Motive lassen sich auch in einer Vielzahl anderer Prosatexte Zürns wiederfinden. So begegnet man der Bettszene mit der Mutter bereits im Mann im Jasmin,65 welcher vor Dunkler Frühling verfasst wurde (abgeschlossen im Jahr 1967): Von einer unerklärlichen Einsamkeit erfüllt, geht sie an diesem Morgen in das Zimmer ihrer Mutter, um – wenn es möglich wäre, in diesem Bett dahin zurückzugelangen, woher sie gekommen ist, um nichts mehr zu sehen. Da wälzt sich ein Berg von lauem Fleisch, der den unreinen Geist dieser Frau einschließt, über das entsetzte Kind, und sie flieht für immer die Mutter, die Frau, die Spinne! Sie ist tief verletzt.66

Schon hier findet sich die Mutter als pars pro toto für die Weiblichkeit, die Frau. Zudem ist der Wunsch einer frühkindlichen Vereinigung mit der Mutter, die Rückkehr in den mütterlichen Schoß, klar ausformuliert. Auch hier flieht die Protagonistin im weiteren Verlauf der Erzählung zu einer imaginierten männ-

61 Vgl.: Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 199. 62 Benigna Gerisch: »›Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich‹. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa«, Ursula Keller (Hrsg.): »Nun breche ich in Stücke…«. Leben / Schreiben / Suizid. Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 69–115, (S. 91). 63 Ebd. 64 Zur Gleichsetzung des Fremden mit einer idealisierten Mutterfigur vgl. auch: Caroline Rupprecht: »Translator’s Introduction«, Unica Zürn: Dark Spring, Cambridge MA: Exact Change 2000, S. 1–31, (S. 21f.). 65 Zürn, Unica: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985. 66 Ebd., S. 9.

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lichen Figur. Auch in Das Weiße mit dem roten Punkt67 findet sich ein Motiv aus der Erzählung Dunkler Frühling, der Selbstmord des zwölfjährigen Mädchens. So heißt es hier : »Ich bereue es jetzt nicht mehr, daß ich mich nicht schon als Zwölfjährige damals aus dem Fenster gestürzt habe.«68 Es ließen sich noch viele weitere Beispiele aufzeigen, jedoch soll anhand dieser beiden exemplarisch dargestellt werden, inwieweit Zürns Texte sich jeweils in ein von der Autorin produziertes intertextuelles Geflecht einfügen, sodass sie sich gegenseitig bedingen und ergänzen. Dunkler Frühling kann in diesem Zusammenhang als intendierte nachgereichte Deutung vorheriger Texte verstanden werden, da in ihm zuvor nur angedeutete Motive in ihrer Genese erklärt, ausgelegt und in einen weiteren Sinnzusammenhang überführt werden.

…und natürlich: Freud! Schließlich kann Dunkler Frühling auch als eine Auseinandersetzung mit Freuds Bruchstück einer Hysterie-Analyse69 gelesen werden, so finden sich hier zahlreiche Bezüge, sowohl im inhaltlichen Aufbau als auch in vermeintlich expliziten intertextuellen Verweisen. Ebenso wie Dora, Freuds Fallbeispiel einer Hysteriepatientin, eignet sich die Protagonistin in Dunkler Frühling ihr Wissen, was die Sexualität betrifft, teilweise durch ein Konversationslexikon an: »Sie entdeckt das Konversationslexikon und entdeckt die nackten Bilder, die ihr und ihrem Bruder gleichen.«70 Dies erinnert an Freuds Beschreibung: »der mußte seine Kenntnis aus […] anatomischen Lehrbüchern oder aus einem Konversationslexikon, der gewöhnlichen Zuflucht der von sexueller Neugierde verzehrten Jugend«71 gewonnen haben. Auch wird in beiden Texten die Bemühung der Mutter bzw. der Eltern geschildert, das Mädchen aus der Gesellschaft zu entfernen, damit jene ungestört ihren sexuellen Triebbefriedigungen frönen können.72 Weitere Motive, wie die immer wiederkehrende Thematik offener bzw. verschlossener Türen im Sinne eines Einbruchs in die Unversehrtheit des Mädchens (nach Freud durch Entjungferung), durchziehen beide Erzählungen. 67 Ebd., S. 129–138. 68 Ebd., S. 132. 69 Sigmund Freud: »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«, Frankfurt am Main: Fischer 1993 [1905]. 70 Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 174. 71 Sigmund Freud: »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«, Frankfurt am Main: Fischer 1993 [1905], S. 98. 72 Vgl. hierzu: Unica Zürn: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985, S. 175 sowie: Sigmund Freud: »Bruchstück einer HysterieAnalyse«, Frankfurt am Main: Fischer 1993 [1905], S. 34ff. u. a.

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Fernab von einer Freud’schen Analyse des Textes Dunkler Frühling und einer erschöpfenden Gegenüberstellung beider Texte, soll hier lediglich auf die Präsenz solcher intertextuellen Verweise hingewiesen werden. So würde demnach der Tod des Mädchens am Ende der Erzählung die Unmöglichkeit einer weiblichen Entwicklung in einem patriarchal ausgerichteten Bezugssystem anprangern. Indem die Protagonistin die vorgegebenen Rollenbilder und kulturell festgeschriebenen Normen übernimmt und auf sich überträgt, geht sie daran zugrunde.

Fazit Wenn auch in allen drei Unterpunkten nur skizzenhaft umrissen, so konnte doch aufgezeigt werden, dass Dunkler Frühling eine psychoanalytische Fundierung eingeschrieben ist, die selbst in der aus den Theorien Freuds sich entwickelten heutigen Psychoanalyse noch nachvollziehbar ist. Zeigt die Möglichkeit dieser Lesart als literarische Fallstudie sowie ihre realisierbare Aktualisierung die noch immer währende Verwurzelung unserer Gesellschaft in Strukturen, die die Bildung eines »autonomen (weiblichen) Subjekts«73, um mit Weigel zu sprechen, unmöglich machen, so versinnbildlicht dies auch, inwiefern eine literarische Umarbeitung intrapsychischer Vorgänge nicht nur diese, sondern auch die in sie eingeschriebenen gesellschaftlichen Diskurse verdeutlichen kann. Zudem lässt die aufgezeigte immanente Intertextualität in Zürns Werk darauf schließen, dass nicht nur Dunkler Frühling als Pathogenese zu lesen ist, sondern das Werk in seiner Gesamtheit als eine solche betrachtet werden kann, wobei hier die Aufspaltung in verschiedene Prosatexte sowie die verschiedene Herangehensweise und Bearbeitung der einzelnen Motivstränge eine Kritik an der gesellschaftlich konstruierten Idee eines in sich geschlossenen Subjekts untermauern würde.74 Zürns Œuvre lässt sich aufgrund seiner Vielgestaltigkeit und konsequenten Überdeterminierung aus vielerlei Richtungen erschließen; der hier gewählte Ansatz stellt nur eine dieser Möglichkeiten dar und diese auch nur in ihrer Verknappung. Insofern soll er als Anknüpfungspunkt für eine mögliche differenziertere Auseinandersetzung gelesen werden.

73 Sigrid Weigel: »›Wäre ich ein Mann, hätte ich aus diesem Zustand vielleicht ein Werk geschaffen‹: Unica Zürn«, Inge Stephan / Regula Venske / Sigrid Weigel (Hrsg.): Frauenliteratur ohne Tradition? Neun Autorinnenporträts, Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 243–277, (S. 247). 74 Vgl. hierzu auch: Helga Lutz: »Schriftbilder und Bilderschriften. Zum Verhältnis von Text, Zeichnung und Schrift bei Unica Zürn«, Stuttgart: Metzler 2003, S. 18ff.

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Literaturverzeichnis Primärliteratur Zürn, Unica: »Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling«, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein 1985.

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Lotta Zipp

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Mona Baumann

Ähnlich und doch nicht gleich. Das Unheimliche nach Sigmund Freud in Neil Gaimans Coraline und Henry Selicks gleichnamiger Verfilmung

Einleitung Das Empfinden des Unheimlichen variiert in der subjektiven Wahrnehmung jedes Menschen. Dies beeinträchtigt die Formulierung einer einheitlichen Definition. So repräsentieren, je nach individuellem Erfahrungshintergrund, einerseits Einsamkeit, Stille und Dunkelheit das Unheimliche, während andererseits Doppelgänger oder Puppen als unheimlich empfunden werden. Überwiegend wird jedoch die Wirkung des Unheimlichen als erschreckend oder angsterregend wahrgenommen. Mit seinem im Jahr 1919 erschienenen Aufsatz Das Unheimliche legt Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, eine der ersten Theorien hierzu vor und geht dort unter anderem auf das Doppelgängermotiv ein. Doppelgängerfiguren wie Schatten, Schutzgeister oder geisterhafte Begleiter, prägen schon antike Vorstellungen und Mythologien,1 doch trotz dieser weit reichenden, »literarischen Tradition des Doppelgängermotivs ist es erst Jean Pauls [Siebenkäs], das den Doppelgänger als Motiv und Terminus prägt und ihm zum entscheidenden Durchbruch verhilft.«2 Jean Paul definiert kurz und prägnant: »Doppeltgänger. So heißen Leute, die sich selber sehen.«3 Das uralte und facetteneiche Thema findet vornehmlich seinen Platz in der fantastischen Literatur und berührt Themen wie Subjektivität, Individualität, Wahrnehmung oder auch die Motivik des Spiegels, des Schattens, des Alter Egos, des Zwillings oder des Echos.4 Die Funktion von Doppelgängerfiguren in Erzählungen als innere

1 Vgl.: Sven Herget: »Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film«, Marburg: Schüren 2009, S. 21. 2 Ebd., S. 11f. 3 Paul zitiert nach Herget: ebd., S. 11. 4 Vgl.: Marion Bönninghausen: »Von Doppelgängern und Wiedergängern 1800–1900–2000. Stationen medialer Einflüsse in der Literatur«, Caroline Roeder (Hrsg.): Ich! Identität(en) in der Kinder- und Jugendliteratur, München: Kopaed 2009, S. 146–157, (S. 146).

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oder äußere Mächte erweckt häufig den Eindruck des Unheimlichen.5 Während einerseits »Doppelgängerfiguren, die einander als reale und leibhaftige Personen von ungewöhnlicher äußerer Ähnlichkeit gegenüberstehen und die Wege kreuzen«6 zum Einsatz kommen, fungieren sie andererseits auch als »selbstständige und sichtbar gewordene Abspaltung des Ichs.«7 In Neil Gaimans Coraline entdeckt ein junges Mädchen in der neuen Wohnung der Familie einen dunklen engen Korridor, der ihre Realität mit einer seltsamen und surrealen Welt verbindet, in der Doppelgänger*innen mit Knopfaugen, Geister und zum Leben erwecktes Spielzeug existieren. Als zentrale Figur dieser Welt lernt die Leserschaft die andere Mutter kennen, die Coraline zu Beginn mit Aufmerksamkeit und Köstlichkeiten verwöhnt. Doch sobald das Mädchen sich von ihr abwendet, kommt das wahre Gesicht der Antagonistin zum Vorschein. Dieser Beitrag soll belegen, dass sowohl Neil Gaiman in seinem Roman Coraline als auch Henry Selick in seiner gleichnamigen Verfilmung, Motive und Situationen, die gemäß Freuds Ausführungen als unheimlich gelten können, in ihre fiktiven Welten einbetten. Zunächst wird Freuds Theorie skizziert und anschließend die Ausprägungen des Unheimlichen, unter besonderer Berücksichtigung des Doppelgängermotivs, in Buch und Film untersucht.

Sigmund Freuds Theorie des Unheimlichen Sigmund Freud beschreibt das Unheimliche als ein von der Fachliteratur vernachlässigtes Randgebiet der Ästhetik.8 Er verortet es als Teil des »Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden«; allerdings gelte es, den Kern zu identifizieren, der das Ängstliche als Unheimliches definiere.9 Freud schließt sich der Meinung Ernst Jentschs an, dass Menschen das Unheimliche individuell unterschiedlich empfinden. Die Formulierung einer generellen Definition sei daher problematisch.10 Potenziell kämen hier zwei Lösungswege in Frage: zum einen die Analyse der Sprachentwicklung des Wortes »unheimlich« und zum anderen das Beleuchten von Situationen, die das Gefühl des Unheimlichen auslösen. 5 Vgl.: ebd., S. 146. 6 Otto Rank: »Der Doppelgänger«, Jens Malte Fischer (Hrsg.): Psychoanalytische Literaturinterpretation. Aufsätze aus Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften (1912–1937), München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1980, S. 104–187, (S. 114). 7 Ebd., S. 113. 8 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace IndependentPublishing 2017, S. 2. 9 Vgl.: ebd. 10 Vgl.: ebd., S. 3.

Das Unheimliche nach Freud in Gaimans Coraline und Selicks Verfilmung

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Beide Ansätze führen zu dem Ergebnis, »das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.«11 Zunächst widmet Freud sich der Etymologie des Begriffs und schließt aus der Gegenüberstellung des Wortes »unheimlich« mit den Begriffen »vertraut«, »heimisch« und »heimlich«, dass Neuartiges leicht als schreckhaft oder unheimlich empfunden wird.12 Da nun aber nicht alles Neuartige auch unheimlich erscheine, müsse zum Nichtvertrauten etwas hinzukommen, das es zum Unheimlichen erhebe.13 Seine Suche führt ihn zu Schelling, der Geheimnisse, die im Verborgenen bleiben sollten und hervorgetreten sind, als unheimlich definiert.14 Ferner weist Freud auf die Mehrdeutigkeit des Heimlichen hin, das neben dem Behaglichen und Vertrauten auch das Versteckte und Verborgene, bis hin zu einer Überschneidung mit seinem Gegensatz »unheimlich«15 beinhalte. Nach dieser Erkenntnis zur Sprachentwicklung untersucht er Dinge, Erlebnisse, Personen, Sinneseindrücke und Situationen, die den Menschen unheimlich erscheinen. Dabei zieht er zunächst den von Jentsch beschriebenen »Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei«16 heran. Diesem Beispiel setzt Freud E. T. A. Hoffmans Der Sandmann entgegen, in dem die unheimliche Wirkung nicht nur durch die mutmaßlich zum Leben erwachte Puppe Olimpia ausgelöst werde, sondern auch durch das Motiv des Sandmannes, der Kinder ihrer Augen beraubt.17 In Olimpia komme eher ein Kinderwunsch als eine kindliche Angst zum Ausdruck, wohingegen es sich bei der Angst vor der Beschädigung oder dem Verlust der Augen, wegen der Projektion einer gefürchteten Vaterfigur auf die Figur des Sandmanns, um einen Ersatz für die Kastrationsangst handle.18 Freud definiert das Doppelgängermotiv als »das Auftreten von Personen, die wegen ihrer gleichen Erscheinung für identisch gehalten werden müssen.«19 Das Symbol des Doppelgängers kann aus seiner Sicht für Ich-Verdopplung, IchTeilung, Ich-Vertauschung und die beständige Wiederkehr des Gleichen stehen.20 Gemäß Sven Herget sieht Freud in der Doppelgängerfigur

11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Ebd. Vgl.: ebd. Ebd. Vgl.: ebd., S. 8. Vgl.: ebd., S. 9. Ebd. S. 10. Vgl.: ebd., S. 11. Vgl.: ebd., S. 15. Ebd., S. 17. Vgl.: ebd.

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alle unterbliebenen Möglichkeiten der Geschichtsgestaltung, an denen die Phantasie noch festhalten will, und alle Ich-Strebungen, die sich infolge äußerer Ungunst nicht durchsetzen konnten, sowie alle die unterdrückten Willensentscheidungen, die die Illusion des freien Willens ergeben haben.21

Somit könne die Doppelgängerfigur sämtliche Idealvorstellungen, Wünsche und Sehnsüchte verkörpern, die das Original nicht erreichen kann.22 Das Doppelgängermotiv könne sich auf verschiedene Arten manifestieren: in geteilten oder wiederkehrenden Charakteren, Automaten oder wiedererlebten Fantasien, Visionen und Träumen23 und repräsentiere den verlorenen, verborgenen oder verleugneten Teil der Persönlichkeit.24 Als erste Doppelgängerinstanz des Leibes diene die unsterbliche Seele zwar als Schutz gegen den Untergang des Ichs im Tod,25 könne aber auch als dessen Vorbote fungieren.26 Als weiteren Auslöser des Unheimlichen führt Freud das Motiv der Wiederholung des Gleichartigen an, beispielsweise wenn »man sich […] vom Nebel überrascht, verirrt hat und nun trotz aller Bemühungen […] wiederholt zu der einen, durch eine bestimmte Formation gekennzeichneten Stelle zurückkommt.«27 Dabei kehre gerade »das Moment der unbeabsichtigten Wiederholung«28 das sonst Harmlose in das Unheimliche um, denn der im Unbewussten verankerte Wiederholungszwang führe dazu, dass das Identifizieren von Wiederholungen ein Gefühl des Unheimlichen auslöse.29 Auch das auf Reste des Animismus zurückzuführende Prinzip der »Allmacht der Gedanken«30 erscheine als unheimlich, ebenso wie die Wunscherfüllung31, die Angst vor dem »bösen Blick«32 sowie Magie und Zauberei33 und die Verwischung der Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit.34

21 Sven Herget: »Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film«, Marburg: Schüren 2009, S. 28. 22 Vgl.: ebd., S. 28. 23 Vgl.: Clifford Hallam: »The Double as Incomplete Self«, Eugene J. Crook (Hrsg.): Feraful Symmetry. Doubles and Doubling in Literature and Film, Tallahassee: University Presses of Florida 1981, S. 1–31, (S. 14). 24 Vgl.: ebd., S. 18f. 25 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace IndependentPublishing 2017, S. 17. 26 Vgl.: ebd., S. 18. 27 Ebd., S. 19. 28 Ebd., S. 20. 29 Vgl.: ebd., S. 21. 30 Ebd., S. 22. 31 Vgl.: ebd., S. 21. 32 Ebd., S. 22. 33 Vgl.: ebd., S. 23. 34 Vgl.: ebd., S. 26.

Das Unheimliche nach Freud in Gaimans Coraline und Selicks Verfilmung

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Als wesentlichen Inhalt seiner Untersuchung formuliert Freud zwei Gedanken. Wenn die Verdrängung jedes Gefühl in Angst umschlage, müsse es eine Untergruppe des Ängstlichen geben, für die nachgewiesen werden könne, dass dieses Ängstliche »etwas wiederkehrendes Verdrängtes,«35 also das Unheimliche sei. Sollte dies das wahre Wesen des Unheimlichen sein, sei plausibel, dass im Sprachgebrauch das Heimliche mit seinem Gegensatz, dem Unheimlichen verschmelze, denn das Unheimliche sei »nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Proze[ss] der Verdrängung entfremdet worden«36 sei. Darüber hinaus empfänden viele Menschen alles, was dem Tod, Leichen, Gespenstern, Geistern und der Wiederkehr der Toten zuzuordnen sei, als außerordentlich unheimlich.37 Dem lägen sowohl die Stärke der ursprünglichen Gefühlsreaktion eines Menschen als auch die Unsicherheit über die wissenschaftliche Erkenntnis zugrunde. Das Prinzip »alle Menschen müssen sterben« sei unvereinbar mit der Unvorstellbarkeit der eigenen Sterblichkeit im Unbewussten, die zudem vom religiösen Versprechen einer unsterblichen Seele genährt werde.38 Auch in Menschen, denen böse Absichten unterstellt würden, die sie mit besonderen Kräften zu verwirklichen streben39 sowie in abgetrennten Gliedern, denen »eine selbstständige Tätigkeit zugestanden wird«40 sei das Unheimliche erkennbar. Abschließend fasst Freud zusammen, dass das Unheimliche in der Realität entstehe, wenn »überwundene primitive Überzeugungen«41 an Kraft gewännen oder wenn »verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt«42 würden und grenzt davon das Unheimliche in der Fiktion ab.43 Dort gelte als gewöhnlich, was in der Realität unheimlich sei.44 Um ein unheimliches Gefühl bei der Rezeption zu erzeugen, könne sich der Dichtende vieler Freiheiten bedienen, die die Realität nicht bereit halte.45 Stelle er/sie seine/ihre Erzählung in eine Szenerie der allgemeinen Realität, so erscheine das in der Wirklichkeit Unheimliche auch in der Geschichte als solches.46 Darüber hinaus könne es nun durch rein fiktionale Geschehnisse wirkungsvoll gesteigert und vervielfältigt 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Vgl.: ebd., S. 23. Ebd. Vgl.: ebd., S. 23f. Vgl.: ebd., S. 24. Vgl.: ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 31. [Hervorhebung im Original] Ebd. [Hervorhebung im Original] Vgl.: ebd. Vgl.: ebd., S. 32. Ebd. Vgl.: ebd., S. 33.

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werden.47 Der Dichtende könne die Leserschaft über die Voraussetzungen der fiktiven Realität täuschen, Einfluss auf Stimmungen und Erwartungen nehmen und somit verschiedene Wirkungen generieren.48 Schließlich nennt Freud die Dunkelheit, Einsamkeit und Stille als Faktoren, die nie gänzlich verschwundene Kinderängste wieder auflodern ließen.49

Zur Nutzung von Freuds Motiven des Unheimlichen in Coraline Die folgende Analyse beleuchtet zunächst unheimliche Motive in der Beschreibung der anderen Welt, stellt dann die Doppelgänger*innen der Eltern den Originalen gegenüber und thematisiert dabei insbesondere die Knopfaugen. Schließlich untersucht sie die Umstände und Folgen des Widerstands der Protagonistin und geht letztendlich der Frage nach, ob die »Andere Mutter« als Coralines Doppelgängerin gedeutet werden kann.

Ähnlich und doch nicht gleich: Verwischen der Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit50 Neil Gaiman beschreibt in Coraline zunächst eine alltäglich anmutende Familiensituation, bedient sich dann jedoch gotischer Stilelemente, um die Emotionen und Konflikte der Protagonistin zu symbolisieren.51 Mit der Darstellung des Hauses erschafft der Autor bereits auf der ersten Seite eine unheimliche Atmosphäre: »Das Haus war schon sehr alt. Unter dem Dach hatte es eine Mansarde und tief unten im Boden einen Keller und es gehörte ein überwucherter Garten mit riesigen alten Bäumen dazu.«52 Mit der Fokussierung auf das Alter des Hauses und Räume, die unter anderen Räumen liegen, verweisen bereits die ersten Zeilen darauf, dass die herrschende Ordnung von alten, verborgenen Kräften bedroht zu sein scheint.53 Dieses unheimliche Gefühl wird bald durch die Beschreibung eines »wie lauter Blindheit um das Haus«54 hängenden Nebels 47 48 49 50 51

Vgl., ebd. Vgl.: ebd., S. 34. Vgl.: ebd., S. 35. Vgl.: ebd., S. 26. Vgl.: Michael Howarth: »Under the Bed, Creeping. Psychoanalyzing the Gothic in Children’s Literature«, Jefferson: McFarland 2014, S. 80. 52 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 7. 53 Vgl.: Richard Gooding: »›Something Very Old and Very Slow‹«, Coraline, Uncanniness, and Narrative Form«, in Children’s Literature Association Quarterly, 33.4, 2008, S. 390–407, (S. 398). 54 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 27.

Das Unheimliche nach Freud in Gaimans Coraline und Selicks Verfilmung

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verstärkt. Besonders der Garten des riesigen, in mehrere Wohnungen aufgeteilten Hauses erweckt den Eindruck von Vernachlässigung, Tod und Verwesung: Der Garten war groß – ganz hinten war ein alter Tennisplatz, aber niemand im Haus spielte Tennis, der Zaun um ihn herum hatte Löcher und das Netz war so verrottet, dass der größte Teil davon fehlte. Es gab einen alten Rosengarten mit kümmerlichen, verlausten Rosensträuchern; einen Steingarten, der nur aus Steinen bestand, und einen Feenring aus matschigen braunen Pilzen, die einen entsetzlichen Gestank verbreiteten, wenn man versehentlich drauftrat.55

Selicks Verfilmung gestaltet den beschriebenen Zustand visuell aus.56 Selick skizziert auch die »reale« Welt der Diegese in tristen Farben, die bei den Zuschauenden Bedrücktheit und Traurigkeit auslösen könnten.57 Der finstere, tiefe Brunnen, vor dem die Protagonistin von ihren Nachbarinnen Miss Spink und Miss Forcible gewarnt wird,58 signalisiert Gefahr. Auch der schwarze Kater als Unglücksvorbote und regelmäßiger Begleiter von Hexen, trägt zur unheimlichen Wirkung der Szenerie bei.59 Durch ihn evoziert Gaiman ein Gefühl von Angst sowie die Vorahnung des Eintritts der Protagonistin in eine bedrohliche Welt. Diese Elemente werden bereits im ersten Kapitel eingeführt, wodurch Gaiman eine durch Besorgnis und wachsendes Unbehagen geprägte Stimmung erzeugt.60 Als Coraline im Laufe der Handlung die Welt der Doppelgänger*innen betritt, verwischt die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit,61 denn die andere Wohnung erscheint ihr anfänglich sehr vertraut: Der Teppich unter ihren Füßen war derselbe Teppich, den sie in ihrer Wohnung hatten. Die Tapete war dieselbe, die sie auch hatten. Das Bild an der Wand war dasselbe, das bei ihr zu Hause im Flur hing. Sie wusste, wo sie sich befand: Sie war bei sich zu Hause. Sie hatte die Wohnung gar nicht verlassen.62

So glaubt sie zunächst, ihr eigenes Haus nie verlassen zu haben. Erst der seltsame Gesichtsausdruck des Jungen im Gemälde macht ihr die Situation bewusst.63 Auch die Verkleidung des Hauses sieht »haargenau gleich aus. Oder fast haar55 56 57 58 59 60 61 62 63

Ebd., S. 9. Vgl.: Henry Selick: »Coraline«, Universal Studios. USA 2009, TC: 00:03:30. Vgl.: ebd., TC: 00:03:30, TC: 00:02:35 sowie TC: 00:06:43. Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 9. Vgl.: Michael Howarth: »Under the Bed, Creeping. Psychoanalyzing the Gothic in Children’s Literature«, Jefferson: McFarland 2014, S. 80. Vgl.: ebd., S. 80f. Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace IndependentPublishing 2017, S. 26. Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 33. Vgl.: ebd., S. 33.

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genau gleich.«64 Wie Coraline ausdrücklich bemerkt, haftet ihr etwas sehr Vertrautes an, obwohl es nicht genau dasselbe ist.65 Ein Heim, dass vertraut, aber gleichzeitig unbekannt ist66, kann als Manifestation der Freud’schen Definition des Unheimlichen gelesen werden. Im Großen und Ganzen sind beide Wohnungen zwar identisch, jedoch unterscheiden sie sich in Details, die die Wirkung ins Unheimliche umkehren. Mit dem Nebel integriert Gaiman ein weiteres Merkmal des Unheimlichen in beide Welten. So senkt sich über Coralines »echtes« Haus weißer, dicker Nebel, vor dem Miss Forcible sie mit den Worten »Man muss schon ein Entdecker sein, um sich in diesem Nebel zurechtzufinden«67 warnt. Die andere Welt wird zu Beginn des neunten Kapitels als strukturloser, wallender Nebel ohne Formen und Schatten beschrieben.68 In der anderen, künstlich erschaffenen Welt, findet das unheimliche Motiv des Nebels seinen Höhepunkt. Als die Protagonistin im sechsten Kapitel einen Erkundungsgang macht, umrundet sie im Nebel gewissermaßen die Welt. Auf ihre Frage, wie man von etwas weggehen und trotzdem darauf zugehen könne,69 erwidert der Kater : »Das ist doch kinderleicht […] Stell dir vor, dass jemand um die Welt läuft.«70 Diese Szene erinnert an Freuds Beispiel zur Wiederholung des Gleichartigen.71 Die Protagonistin wird vom Nebel überrascht, verirrt sich und kommt trotz aller Bemühungen »wiederholt zu der einen, durch eine bestimmte Formation gekennzeichneten Stelle«72 zurück. Als die Protagonistin sich ans Ende der anderen Welt wagt, werden die Grenzen der Kopie anschaulich. Bei ihrer Erkundung stellt Coraline fest, dass die Bestandteile dieser Welt von der anderen Mutter konstruiert oder vielmehr kopiert wurden.73 Je weiter sie durch den Wald läuft, »desto unfertiger wurden die Bäume und sahen immer weniger nach Bäumen aus. Bald wirkten sie nur

64 Ebd., S. 41. 65 Vgl.: David Rudd: »An Eye for an I. Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39, 2008, S. 159–168, (S. 161). 66 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace IndependentPublishing 2017, S. 3. 67 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 20. 68 Vgl.: ebd., S. 115. 69 Ebd., S. 82. Auf die offensichtliche Nähe von Gaimans Erzählung zu Carrolls Alice im Wunder- bzw. Spiegelland geht Freya Brase in ihrem Beitrag zu kindlichen Ängsten und drohendem Ich-Verlust als Motive der beiden Erzählungen ausführlich ein. 70 Ebd., S. 82. 71 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace IndependentPublishing 2017, S. 19. 72 Ebd. 73 Vgl.: Karen Coats: »Between Horror, Humour, and Hope. Neil Gaiman and the Psychic Work of the Gothic«, Anna Jackson / Karen Coats / Roderick McGillis (Hrsg.): The Gothic in Children’s Literature. Haunting the Borders, New York: Routledge 2008, S. 77–93, (S. 87).

Das Unheimliche nach Freud in Gaimans Coraline und Selicks Verfilmung

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noch wie eine Annäherung daran, eher wie bloße Vorstellungen von Bäumen,«74 ein Motiv, das auch Selick in seiner Verfilmung textnah umsetzt.75 Der Kater definiert die andere Welt jenseits des Grundstücks als »das Draußen« und »böse[n] Ort […] [f]alls man’s überhaupt als Ort bezeichnen kann, was ich verneinen würde.«76 Diese künstliche Welt ähnelt einem fahle[n] Nichts, wie ein leeres Blatt Papier oder ein riesengroßer, leerer weißer Raum. Was um sie [Coraline] herum war, hatte keine Temperatur, keinen Geruch, keine Struktur und keinen Geschmack.77

Selick gestaltet diese unheimliche Atmosphäre in seiner Verfilmung visuell aus, als Coraline und der Kater aus einem weißen Nichts zurück auf das dunkle Haus zulaufen.78 In Gaimans Text wie auch in Selicks Verfilmung erscheint Coraline bei ihrem ersten Besuch die andere Welt als ein magischer Ort,79 der zunächst noch positiv konnotiert ist und »viel interessanter als zu Hause«80 erscheint, obwohl sie unmittelbar nach dem Übertritt in die gespiegelte Welt auf die andere Mutter als Vorbotin des Unheimlichen trifft und über die Möglichkeit der Existenz einer anderen Version ihrer selbst (also einer Doppelgängerin) reflektiert.81

Original und Fälschung: Ein Vergleich der Elternpaare Nicht nur Coralines Umgebung wurde kopiert, auch die Duplikate der Bewohner*innen tragen auf den ersten Blick vertraute Charakterzüge. Doch könnten die Elternpaare der echten und der anderen Welt, abgesehen von ihrem Aussehen, unterschiedlicher nicht sein. Coralines »echte« Eltern arbeiten konzentriert von zu Hause aus und sehen ihre Tochter als Störfaktor. Auf die Frage der Protagonistin, wie sie sich beschäftigen soll, erwidert ihre Mutter : »[m]ir ist eigentlich egal, was du machst […] solange du kein Durcheinander anrichtest.«82

Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 79f. Henry Selick: »Coraline«, Universal Studios. USA 2009, TC: 00:55:16. Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 81. Ebd., S. 80. Henry Selick: »Coraline«, Universal Studios. USA 2009, TC: 00:56:00. Ebd., TC: 00:35:27 sowie TC: 00:35:59. Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 52. Vgl.: Lisa Perdigao: »Transform, and Twist, and Change. Deconstructing Coraline«, Joseph Abbruscato / Tanya Jones (Hrsg): The Gothic Fairy Tale in Young Adult Literature. Essays on Stories from Grimm to Gaiman, Jefferson: McFarland 2014, S. 102–122, (S. 102). 82 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 11.

74 75 76 77 78 79 80 81

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Coraline fühlt sich ungeachtet der Anwesenheit ihrer Mutter allein.83 Auch ihr Vater entgegnet nur : »lass mich in Ruhe arbeiten«84 und fragt: »[w]illst du nicht zu Miss Spink und Miss Forcible gehen und ihnen auf die Nerven fallen?«85 Coralines Eltern teilen sich die Verantwortung für den Haushalt. Die distanziert als »Mrs. Jones« bezeichnete Mutter, möchte sich offensichtlich nicht mit der Kindererziehung befassen, sondern verfolgt primär ihre Karriereziele und verkörpert daher gemäß Parsons die Ideale weiblicher Entscheidungsfreiheit und Ermächtigungsstrategien.86 Coralines Vater repräsentiert hingegen die auf Zahlen fokussierte erwachsene Rationalität und Nüchternheit, da er sich dazu bekennt, Kochrezepte wie Anordnungen zu befolgen und der Protagonistin empfiehlt, sich durch Zählen, Kategorisieren und Auflisten von Objekten zu beschäftigen.87 Rückblickend erinnert sich Coraline daran, dass ihr Vater sich früher angriffslustigen Wespen in den Weg stellte und deren Stiche bewusst riskierte, um Coraline einen Vorsprung zu verschaffen.88 Im letzten Kapitel schwenkt er seine Tochter hoch in die Luft, nimmt sie auf den Arm89 und erinnert die Protagonistin damit daran, wie sehr sie diese Vertrautheit und Geborgenheit früher genossen hat.90 Coralines Erinnerungen an ihre Mutter sind dagegen deutlich negativer geprägt. So verbindet das Mädchen das durch einen Sturz aufgeschlagene Knie und die aufgeschürfte Hand mit dem Sommer, als sie die Stützräder an ihrem Fahrrad entfernte.91 Obwohl Coralines Mutter am Ende der Erzählung das verletzte Knie ihrer Tochter bemerkt, muss das Kind die Wunden ohne ihre Hilfe säubern und versorgen.92 Vor dem Hintergrund dieser Darstellung der Eltern verwundert es nicht, dass Coraline nach der Flucht aus der anderen Welt ihre Mutter »nur« umarmt, ihren Vater aber aktiv sucht, küsst und auch verbal zum Ausdruck bringt, dass er ihr gefehlt hat.93 Laut Elizabeth Parsons, Naarah Sawers und Kate 83 Vgl.: Karen Coats: »Between Horror, Humour, and Hope. Neil Gaiman and the Psychic Work of the Gothic«, Anna Jackson / Karen Coats / Roderick McGillis (Hrsg.): The Gothic in Children’s Literature. Haunting the Borders, New York: Routledge 2008, S. 77–93, (S. 87). 84 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 12. 85 Ebd., S. 23. 86 Vgl.: Elizabeth Parsons / Naarah Sawers / Kate McInally : »The Other Mother. Neil Gaiman’s Postfeminist Fairytales«, in Children’s Literature Association Quarterly, 33.4, 2008, S. 371–389, (S. 372). 87 Vgl.: ebd., S. 377. 88 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 63f. 89 Vgl.: ebd., S. 153. 90 Vgl.: Elizabeth Parsons / Naarah Sawers / Kate McInally : »The Other Mother. Neil Gaiman’s Postfeminist Fairytales«, in Children’s Literature Association Quarterly, 33.4, 2008, S. 371–389, (S. 375f.). 91 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 134. 92 Vgl.: ebd., S. 151f. 93 Vgl.: ebd., S. 152f.

Das Unheimliche nach Freud in Gaimans Coraline und Selicks Verfilmung

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McInally scheint Coralines Vater die bessere Mutter zu sein.94 Obwohl er der Protagonistin ein höheres Maß an Geborgenheit vermittelt, ist dem entgegenzuhalten, dass Mrs. Jones sie vermutlich auf dem Weg der Entscheidungsfreiheit und Selbstermächtigung besser vorantreibt. Die andere Mutter ähnelt nur optisch dem Original: Sie sah ein bisschen aus wie Coralines Mutter. Außer … Außer dass ihre Haut so weiß wie Papier war. Außer dass sie größer und dünner war. Außer dass sie zu lange Finger hatte, die ständig in Bewegung waren. Und blutrote Fingernägel, die gekrümmt waren und ganz spitz zuliefen.95

Ihre Zähne sind ein wenig zu lang,96 ihre Arme sind kalt und sie spricht mit einer Stimme, die der von Coralines Mutter zum Verwechseln ähnelt.97 Die abweichenden Merkmale rufen bei der Protagonistin und der Leserschaft eine unheimliche Wirkung hervor, bleiben erstaunlicherweise in der Verfilmung jedoch anfänglich verborgen. Die anderen Eltern wirken wie originalgetreue Kopien, die deutlich mehr Wärme und Freundlichkeit ausstrahlen als die Originale.98 Die Doppelgängerin der Mutter besitzt die unheimliche Fähigkeit, ihre rechte Hand abzutrennen, die am Ende Coraline eigenständig verfolgt. Freud vertritt die Auffassung, dass abgetrennte Glieder ungemein unheimlich wirken, »besonders wenn ihnen […] noch eine selbstständige Tätigkeit zugestanden wird.«99 Dem Aberglauben zufolge besitzen Doppelgänger*innen kein Spiegelbild,100 weshalb es einleuchtet, dass Coraline die andere Mutter nicht im Spiegel sehen kann.101 Die Antagonistin kann als alternative Version von Mrs. Jones gelesen werden. Wie diese verkörpert sie Macht, Entscheidungsfreiheit, Autorität und Autonomie.102 Im Gegensatz zu Coralines echter Mutter gibt sie dem jungen Mädchen das Gefühl, gewollt und gebraucht zu sein: »Ohne dich war’s hier nicht das 94 Vgl.: Elizabeth Parsons / Naarah Sawers / Kate McInally : »The Other Mother. Neil Gaiman’s Postfeminist Fairytales«, in Children’s Literature Association Quarterly, 33.4, 2008, S. 371–389, (S. 376). 95 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 34. 96 Vgl.: ebd., S. 68. 97 Vgl.: ebd., S. 67. 98 Henry Selick: »Coraline«, Universal Studios. USA 2009, TC: 00:08:41, TC: 00:16:517, TC: 00:09:38 sowie TC: 00:17:44. 99 Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace Independent-Publishing 2017, S. 26. 100 Vgl.: Michael Howarth: »Under the Bed, Creeping. Psychoanalyzing the Gothic in Children’s Literature«, Jefferson: McFarland 2014, S. 87. 101 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 85. 102 Vgl.: Elizabeth Parsons / Naarah Sawers / Kate McInally : »The Other Mother. Neil Gaiman’s Postfeminist Fairytales«, in Children’s Literature Association Quarterly, 33.4, 2008, S. 371–389, (S. 387).

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Wahre. Aber wir wussten ja, eines Tages würdest du kommen und dann könnten wir eine richtige Familie sein.«103 An die Stelle des schnell aufgewärmten Tiefkühlessens tritt ein von der anderen Mutter frisch zubereitetes und köstlich schmeckendes Mahl.104 Wie Tanya Jones bemerkt, stellt die Funktion des Essens als hauptsächliches Instrument der anderen Mutter, um Coraline für sich zu gewinnen, eine klare Assoziationen mit der Figur der Hexe aus Hänsel und Gretel dar.105 Der Roman verbindet die andere Mutter zudem mit den Stereotypen von Weiblichkeit und Mutterschaft.106 Die andere Mutter kocht, spielt mit ihrer Tochter, liebt und diszipliniert Coraline – vermeintlich zu ihrem eigenen Wohl.107 Dieses mütterliche weibliche Stereotyp verkörpert in Coraline das Böse, das es zu überwinden gilt, damit die Protagonistin ihre postfeministische Mutter akzeptieren und lieben lernt.108 Die Antagonistin erlaubt Coraline anfänglich, die andere Welt zu erkunden, verwöhnt sie mit ihren Lieblingsgerichten und überschüttet sie mit einzigartigen Kleidungsstücken und Geschenken. Besonders mit Hilfe des Spielzeugs, das sich selbstständig bewegt,109 überbrückt Gaiman die Kluft zwischen Unbelebtem und Belebtem, da er leblose Objekte110 beseelt erscheinen lässt, wodurch er ein weiteres Merkmal des Unheimlichen in die Geschichte einbringt. Gleichzeitig erdrückt die andere Mutter das Mädchen mit ihrer Zuneigung, als sei sie eine Trophäe, die es zu gewinnen gilt. Diese Objektivierung unterstreicht auch der Kater, als er auf Coralines Frage, warum die Antagonistin sie als Besitz betrachte, entgegnet: »Ich glaube, sie möchte etwas zum Liebhaben […] [e]twas, das nicht sie selbst ist. Vielleicht will sie auch etwas zum Essen.«111 Die Protagonistin beginnt nun zu verstehen, dass sie in der anderen Welt als Objekt und nicht als Person betrachtet wird:112 103 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 35. 104 Vgl.: ebd., S. 35. 105 Vgl.: Tanya Jones: »›Baby and I were baked in a pie‹: Cannibalism and the Consumption of Children in Young Adult Literature«, Joseph Abbruscato / Tanya Jones (Hrsg): The Gothic Fairy Tale in Young Adult Literature. Essays on Stories from Grimm to Gaiman, Jefferson: McFarland 2014, S. 30–46, (S. 33). 106 Vgl.: Elizabeth Parsons / Naarah Sawers / Kate McInally : »The Other Mother. Neil Gaiman’s Postfeminist Fairytales«, in Children’s Literature Association Quarterly, 33.4, 2008, S. 371–389, (S. 376). 107 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 53. 108 Vgl.: Elizabeth Parsons / Naarah Sawers / Kate McInally : »The Other Mother. Neil Gaiman’s Postfeminist Fairytales«, in Children’s Literature Association Quarterly, 33.4, 2008, S. 371–389, S. 376. 109 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 37. 110 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace IndependentPublishing 2017, S. 10. 111 Ebd., S. 73. 112 Vgl.: Michael Howarth: »Under the Bed, Creeping. Psychoanalyzing the Gothic in Children’s Literature«, Jefferson: McFarland 2014, S. 83.

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Die andere Mutter liebte sie. Aber sie liebte Coraline wie ein Geizhals oder ein Drache sein Gold. Coraline wusste, dass sie in den [Augen] der anderen Mutter ein Besitzstück war, nicht mehr. Ein geduldiges Haustier, dessen Verhalten nicht mehr belustigend war.113

Anders als Gaimans Antagonistin, die nur kopieren und verzerren kann,114 erschafft Selicks andere Mutter nicht nur eine Welt als aufwendige Falle, um Coraline – wie schon andere Kinder zuvor – der Essenz ihres Daseins zu berauben, sondern sie kreiert eine Puppe als Replik ihrer Beute, um sie aus der Ferne auszuspähen.115 Der Film greift hier auf das Freud’sche Muster böser Absichten, die »mit Hilfe besonderer Kräfte verwirklicht werden«116 zurück. Die Antagonistin ist die uneingeschränkte Herrscherin der anderen Welt. Sie plant, sich Coralines Seele zu bemächtigen und das Mädchen für immer in der Schwebe einer ewigen Kindheit festzuhalten.117 Der andere Vater dagegen fungiert, wie alle menschlichen oder tierischen Bewohner*innen der kopierten Welt,118 als machtlose Marionette der Antagonistin und dient als Mittel zum Zweck bei der Umsetzung ihres Plans. Es ist ihm sogar verboten, ohne Erlaubnis der anderen Mutter mit Coraline zu sprechen.119 Bei diesem Elternpaar herrscht weder Arbeitsteilung noch Gleichberechtigung, sondern vollständige Unterwerfung. Wie im Laufe der Handlung deutlich wird, besteht zudem eine Verbindung von der Antagonistin zum anderen Vater und allen Doppelgänger*innen, die es ihr erlaubt, unmittelbar Einfluss auf sie zu nehmen. Selbst ihre Gefühlslage hat auf diesem Weg Auswirkungen auf die andere Welt und ihre Bewohner*innen. Was das andere Elternpaar und die übrigen Doppelgängerfiguren als grundlegende Gemeinsamkeit teilen, sind »[g]roße, schwarze, glänzende Knöpfe,«120 anstelle ihrer Augen.

113 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 116. 114 Vgl.: ebd., S. 129. 115 Vgl.: Lindsay Myers: »Whose Fear Is It Anyway? Moral Panics and ›Stranger Danger‹ in Henry Selick’s Coraline«, in The Lion and the Unicorn, 36.3, 2012, S. 245–257, (S. 248). 116 Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace Independent-Publishing 2017, S. 25. 117 Vgl.: Elizabeth Parsons / Naarah Sawers / Kate McInally : »The Other Mother. Neil Gaiman’s Postfeminist Fairytales«, in Children’s Literature Association Quarterly, 33.4, 2008, S. 371–389, (S. 373). 118 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 83. 119 Vgl.: ebd., S. 78. 120 Ebd., S. 35.

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Knöpfe und Fäden: Symbole der Unterwerfung Die schwarzen Knopfaugen der Doppelgänger*innen legen die Assoziation mit belebten Puppen nahe und verweisen auf Freuds Betrachtungen zum Unheimlichen. Er beruft sich, wie bereits ausgeführt wurde, auf Jentschs Beispiel des »Zweifel[s] an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand [wie etwa eine kunstvolle Puppe] nicht etwa beseelt sei.«121 Selicks Verfilmung geht sogar so weit, eine CoralinePuppe einzuführen,122 die sich selbstständig durch die Wohnung zu bewegen scheint. Vor allem die hungrigen Knopfaugen des Doppelgängers ihres Nachbarn Mr. Bobo lösen bei Coraline Unbehagen aus.123 Auf die Bitte der anderen Mutter, sich Knöpfe in die Augen nähen zu lassen, reagiert Coraline mit Angst und Rückzug. Da die Augen gemeinhin als Fenster zur Seele gelten, weckt diese Vorstellung ihre Angst davor, ihre Seele zu verlieren124 – eine Mutmaßung, die von den ebenfalls mit Knopfaugen ausgestatteten Geisterkinder, auf die Coraline in der anderen Welt trifft, bestätigt wird.125 Insbesondere der potenzielle Verlust der Seele trägt zur unheimlichen Atmosphäre der Erzählung bei. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Augen in vielerlei Hinsicht als Spiegel fungieren, kann ihr Bedecken mit bzw. ihr Ersatz durch emotionslose(n) schwarze(n) Plastikscheiben als Sinnbild des Auslöschens der eigenen Identität gedeutet werden.126 Zudem transformiert der Vorgang des Annähens das schwarze Garn symbolisch in die Fäden, mit denen die Antagonistin als Puppenspielerin ihre neue Marionette dirigiert. Der Wunsch, Knöpfe auf Coralines Augen zu nähen, zeigt, dass die andere Mutter auch die Protagonistin in ihre Marionette verwandeln möchte. Die Persönlichkeit des Mädchens soll ausgelöscht, oder zumindest so geformt werden, dass sie sich zur Ausübung einer bestimmten Rolle eignet.127 Darüber hinaus lehrt gemäß Rudd die psychoanalytische Erfahrung, dass die Angst vor Verletzungen der Augen bei Kindern häufig die Kastrationsangst repräsentiert;128 ein Zusammenhang, den auch Freud in seinem Essay behandelt.129 121 Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace Independent-Publishing 2017, S. 10. 122 Henry Selick: »Coraline«, Universal Studios. USA 2009, TC: 00:02:19. 123 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 39. 124 Vgl.: David Rudd: »An Eye for an I. Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39, 2008, S. 159–168, (S. 163). 125 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 94. 126 Vgl.: Michael Howarth: »Under the Bed, Creeping. Psychoanalyzing the Gothic in Children’s Literature«, Jefferson: McFarland 2014, S. 86. 127 Vgl.: ebd., S. 86f. 128 Vgl.: David Rudd: »An Eye for an I. Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39, 2008, S. 159–168, (S. 162).

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Er stellt – wie bereits ausgeführt wurde – fest, dass das Motiv der belebt erscheinenden Puppe im Sandmann keineswegs allein für die unheimliche Stimmung verantwortlich ist, sondern dass primär »das Motiv des Sandmannes, der den Kindern die Augen ausreißt«130 für das Unheimliche der Erzählung verantwortlich sei. Als die anderen Eltern Coraline zum »Porzellanteller mit einer Rolle schwarzem Zwirn, einer langen Silbernadel und zwei großen, schwarzen Knöpfen«131 führen und ihr versichern, nur das Beste für sie zu wollen,132 wird der Protagonistin die Gefahr der anderen Welt ganz plötzlich bewusst.

Widerstand und seine Folgen: Der Zerfall der anderen Welt Sobald Coraline die Entführung ihrer Eltern entdeckt, entwickelt sich ihr Widerstand gegen die andere Mutter. Zur Strafe für ihr abweisendes Verhalten verbannt diese das Mädchen hinter einen Spiegel, wo in der Finsternis eine unheimliche aber auch hilfreiche Entdeckung auf sie wartet. Die Protagonistin begegnet den Geistern dreier Kinder, die ihre Seelen an die andere Mutter verloren haben. Freud beschreibt als »[i]m allerhöchsten Grade unheimlich […,] was mit dem Tod, […] mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern zusammenhängt.«133 Zwar verwendet Gaiman dieses Motiv, relativiert jedoch seine unheimliche Wirkung durch die Opferrolle der Gespensterkinder und ihre späteren Funktion als Verbündete der Protagonistin. Auch während Coralines Suche nach den Kinderseelen und ihren echten Eltern, bedient Gaiman sich Freud’scher Merkmale des Unheimlichen, wie Einsamkeit, Stille und Dunkelheit, die auf kindliche Ängste rekurrieren.134 So kann sie, als sie die leerstehende Wohnung in der anderen Welt aufsucht und eine Falltür zum Keller anhebt, »durch die Öffnung nichts als Dunkelheit erkennen.«135 Das Theater, das sie auf ihrer Suche nach den Kinderseelen und ihren echten Eltern betritt, ist ebenfalls mit unheimlich wirkenden Attributen ausgestattet: Das Theater lag verlassen da und war hoffnungslos heruntergekommen. Kaputte Sitze lagen auf dem Boden und die Wände waren mit alten, staubigen Spinnweben behangen. 129 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace IndependentPublishing 2017, S. 15. 130 Ebd., S. 11. 131 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 52. 132 Vgl.: ebd., S. 53. 133 Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace Independent-Publishing 2017, S. 24f. 134 Vgl.: ebd., S. 35. 135 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 119.

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Auch von dem vermoderten Holz und den verrotteten Samtvorhängen hingen Spinnweben herab.136

Auf ein Rascheln über sich reagierend, blickt die Protagonistin »in eine noch tiefere Finsternis«137 und entdeckt hundeähnliche, mit Fledermausflügeln ausgestattete Wesen, die vom Licht ihrer Taschenlampe aufgeschreckt werden, da sie sich nur in der Dunkelheit wohl fühlen.138 Coralines innere Ablehnung hat zudem unmittelbare Folgen auf die Umgebung. Die Welt, die in der Phase des Werbens um Coraline fast so lebendig wirkte, als sei sie ein eigener Charakter, beginnt jetzt an den Rändern leicht zu flimmern139 und wird immer flacher.140 Das Haus, das ebenfalls an Kontur verliert, gleicht gemäß Gaimans Beschreibung nach wie vor einem Lebewesen. Es »schien sich gedreht und irgendwie gestreckt zu haben. Es kam Coraline so vor, als kauerte es sich zusammen. Und es starrte auf sie herab.«141 Im weiteren Verlauf der Geschichte schreitet die Veränderung weiter fort, denn [n]och während sie [Coraline] die Stufen hinunterstürmte, wurde es [das Haus] undeutlicher und flacher. Es erinnerte jetzt gar nicht mehr so sehr an ein Haus, sondern eher an die Fotografie eines Hauses.142

Wenige Seiten später wirkt »es nicht mehr wie ein Foto […], sondern eher wie eine Zeichnung, eine grobe Kohleskizze von einem Haus, auf graues Papier hingekritzelt.«143 Coralines anhaltender Widerstand zeigt nachhaltige Auswirkungen, auch auf die Bewohner*innen der anderen Welt. Als die Protagonistin im Keller der leerstehenden Wohnung auf ihren anderen Vater trifft, weist dieser keine Ähnlichkeit mehr mit dem Original auf. Das Verhalten des Mädchens raubt der Antagonistin die Kraft, ihr Trugbild aufrecht zu erhalten und auch der Doppelgänger-Vater leidet unter den Folgen: Das Ding war bleich und aufgequollen wie eine Made und hatte steckendürre Arme und Füße. Das Gesicht, das wie aufgegangener Brotteig aufgebläht und geschwollen war, hatte fast keine erkennbaren Züge. […] Das Ding wandte den Kopf, bis beide schwarzen Knopfaugen direkt auf sie [Coraline] gerichtet waren. In dem mundlosen Gesicht ging ein Mund auf, dem lange Fäden einer weißen Masse von den Lippe hingen, und eine

136 137 138 139 140 141 142 143

Ebd., S. 109. Ebd., S. 108. Vgl.: ebd., S. 109. Vgl.: ebd., S. 68. Vgl.: ebd., S. 117. Ebd., S. 115. Ebd., S. 133. Ebd., S. 136.

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Stimme, die jetzt nicht ein mal mehr entfernt der Stimme ihres Vaters ähnelte, flüsterte: ›Coraline.‹144

Coraline kann nicht verstehen, »wie sie sich jemals hatte einbilden können, dass dieses Madending Ähnlichkeit mit ihrem Vater hätte.«145 Obwohl er vornehmlich als Marionette der anderen Mutter fungiert, wird durch seine Transformation deutlich, dass sie allmählich ihren Einfluss zu verlieren scheint. Der andere Vater widersetzt sich der Anweisung der Antagonistin, Coraline etwas anzutun und drängt das Mädchen, den Keller zu verlassen. Nach ihrer Flucht erkennt Coraline: Diese Wesen – selbst das Ding im Keller – waren Trugbilder, Dinge, die ihre andere Mutter als grausige Parodie der echten Menschen und der wirklichen Dinge am anderen Ende des Korridors geschaffen hatte.146

In Abweichung zu Freuds Beschreibung des Doppelgängermotivs, gemäß dem eine klare Unterscheidung von Original und Kopie nicht möglich sei,147 fungieren in Gaimans Erzählung die Knopfaugen als sicheres Identifikationsmerkmal der Doppelgängerfiguren. In der Phase des Widerstands kommen weitere Unterscheidungsmerkmale hinzu, denn die Antagonistin kann ihr Konstrukt nicht länger aufrechterhalten und verliert sogar die Kontrolle über ihr eigenes Erscheinungsbild: Die andere Mutter sah ihrer richtigen Mutter kein bisschen ähnlich. Sie [Coraline] fragte sich, wie sie sich jemals so sehr hatte täuschen lassen, dass sie sich eine Ähnlichkeit eingebildet hatte. Die andere Mutter war riesig – ihr Kopf stieß fast an die Decke – und ganz bleich, so fahl wie der Bauch einer Spinne. Die Haare wanden und schlangen sich um ihren Kopf und die Zähne waren messerscharf.148

Die Absichten der Antagonistin kommen nun auch in ihrer Gestalt zum Ausdruck. Unverändert bleiben einzig die Protagonistin und der Kater.

Ich und Es: Die andere Mutter als Coralines Doppelgängerin Gemeinsam mit diesem nimmt Coraline in der Handlung eine Sonderrolle als Individuum ohne Duplikat ein. Die in Selicks Verfilmung eingeführte CoralinePuppe könnte hingegen als Doppelgängerin der Protagonistin gelesen werden. 144 145 146 147

Ebd., S. 121. Ebd., S. 122. Ebd., S. 129. Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace IndependentPublishing 2017, S. 17. 148 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 140f.

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Da die andere Mutter diese Miniaturversion aber einzig und allein zu dem Zweck erschaffen hat, um das Mädchen in ihrem Zuhause zu beobachten, erfüllt dieser Coraline-Automat viel eher die Funktion eines unheimlichen Spions. Da im Verlauf der Handlung immer deutlicher wird, dass die Antagonistin nicht als bloße Doppelgängerin der echten Mutter fungiert, liegt unter Bezugnahme auf Ostenson der Gedanke nahe, sie könne als Spiegelbild Coralines eigener Wünsche dienen149 – Wünsche, die heranreifenden, verantwortungsbewussten Erwachsenen, die den gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu entsprechen suchen, verboten sind.150 Freud zufolge kann das Doppelgängermotiv eine Ich-Teilung bzw. Ich-Spaltung repräsentieren,151 die sämtliche Idealvorstellungen, Wünsche und Sehnsüchte, denen das Original nicht nachgibt,152 in der Doppelgängerfigur konzentriert, die somit die verdrängten, verborgenen oder verleugneten Persönlichkeitsaspekte des Originals verkörpert.153 Coralines Gefühlslage ist zu Beginn des Romans von der Angst geprägt, von ihren Eltern nicht geliebt zu werden. Die andere Mutter, auf die das Mädchen in der Welt hinter der zunächst zugemauerten Tür trifft, kann demnach als unheimliche Manifestation von Coralines psychischen Konflikten154 gedeutet werden, die Coralines Ängste ausformuliert und dementsprechend schürt: »Wenn sie [deine Eltern] dich verlassen haben, Coraline, dann deshalb, weil sie dich leid waren oder weil du ihnen langweilig geworden bist.«155 Sie kennt ihre tiefsten Wünsche und nutzt dieses Wissen geschickt für ihre eigenen Zwecke: »also, mir wirst du niemals langweilig werden und ich werde dich nie verlassen. Hier bei mir wirst du immer sicher und geborgen sein.«156 Auch Coralines Wahrnehmung ihres eigenen Schattens vor dem ersten Betreten der anderen Welt, als gewaltig, verzerrt und einer dürren Riesenfrau ähnlich,157 unterstützt diese These. In seiner Vorlesung Die Zerlegung der Psychischen Persönlichkeit fokussiert Freud die menschliche Psyche und benennt sein dreiteiliges Schema des See149 Vgl.: Jon Ostenson: »What if Dragons Can’t Be Defeated? Examining the Coming-of-Age Narrative in Neil Gaiman’s Coraline«, Mark A. Fabrizi (Hrsg): Horrow Literatur and Dark Fantasy. Challenging Genres, Leiden: Brill Sense 2018, S. 41–53, (S. 52). 150 Vgl.: ebd., S. 52f. 151 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace IndependentPublishing 2017, S. 17. 152 Vgl.: Sven Herget: »Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film«, Marburg: Schüren 2009, S. 28. 153 Vgl.: Clifford Hallam: »The Double as Incomplete Self«, Eugene J. Crook (Hrsg.): Fearful Symmetry. Doubles and Doubling in Literature and Film, Tallahassee: University Presses of Florida 1981, S. 1–31, (S. 18f.). 154 Vgl.: Lindsay Myers: »›Whose Fear Is It Anyway?‹ Moral Panics and ›Stranger Danger‹ in Henry Selick’s Coraline«, in The Lion and the Unicorn, 36.3, 2012, S. 245–257, (S. 247). 155 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 69. 156 Ebd., S. 69. 157 Vgl.: ebd., S. 16.

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lenapparats, der aus dem Es, Ich und Über-Ich besteht. Während das Ich als Handlungsträger und das Über-Ich als Kontrollinstanz fungiert, repräsentiert das Es den dunklen, unzugänglichen Teil der Persönlichkeit.158 Es kennt »keine Wertung, kein Gut und Böse, keine Moral«159 und steht gemäß Freuds Konzept für die Kraft und Energie des Pferdes, das durch einen Reiter geführt und geleitet werden muss.160 Gemäß Freuds Modell des Seelenapparats würde die andere Mutter das Es der Psyche des Mädchens repräsentieren. Sie verkörpert Selbstsucht und kindliche Gier. Wie David Rudd nachvollziehbar ausführt, entspricht ihre Position als alleinige Herrscherin der anderen Welt Coralines Wunsch danach, jederzeit im Mittelpunkt ihrer Familie zu stehen und die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu genießen.161 Doch als es der Protagonistin gelingt, die Antagonistin und damit auch symbolisch ihre eigene Selbstsucht sowie ihre Omnipotenzfantasien zu besiegen, verliert Coraline die Kontrolle über ihr eigenes Universum und begräbt auch ihre besitzergreifenden und kontrollierende Persönlichkeitsanteile, wodurch es ihr gelingt, die Welt und ihre Eltern neu zu sehen.162 In der Folge identifiziert Coraline während ihrer finalen Flucht aus der anderen Welt eine der Stimmen als die »ihrer eigenen Mutter, ihrer echten, herrlichen, nervtötenden, einen zum Wahnsinn treibenden, wunderbaren Mutter.«163 Der umkämpfte Schlüssel zur Tür in die Realität kann in diesem Zusammenhang gemäß Howarth als Symbol für die Entriegelung ihrer Wahrnehmung gelesen werden, wodurch sie einen entscheidenden Schritt auf dem Weg ihrer Individuation vollzieht.164 Die veränderte Haltung der Protagonistin wird zudem im Verhalten der Eltern gespiegelt, die plötzlich mehr Aufmerksamkeit zeigen und stärker auf die Wünsche des Mädchens eingehen. In seiner filmischen Adaption veranschaulicht Selick diese Entwicklung durch die heiß ersehnten, bunt gestreiften Handschuhe, die Mrs. Jones ihrer Tochter schließlich schenkt und die es ihr erlauben, aus dem konformistischen Zwang der Schuluniform auszubrechen und ihre Individualität zum Ausdruck zu bringen.165

158 Vgl.: Sigmund Freud: »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, Frankfurt am Main: Fischer 1932, S. 511. 159 Vgl.: ebd., S. 512. 160 Vgl.: ebd., S. 514. 161 Vgl.: David Rudd: »An Eye for an I. Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39, 2008, S. 159–168, (S. 167). 162 Vgl.: ebd. 163 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 146. 164 Vgl.: Michael Howarth: »Under the Bed, Creeping. Psychoanalyzing the Gothic in Children’s Literature«, Jefferson: McFarland 2014, S. 98. 165 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 29.

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Fazit In seinem Roman Coraline greift Neil Gaiman Situationen und Motive auf, die gemäß Freud als unheimlich gelten können. Selicks Verfilmung gestaltet diese visuell aus und erweitert sie zudem um weitere unheimliche Motive. Die andere Welt wird von Doppelgänger*innen besiedelt, böse Absichten werden mit Hilfe von besonderen Fähigkeiten verwirklicht, Knopfaugen symbolisieren die omnipräsente Gefahr von Versehrtheit, leblose Objekte erscheinen beseelt und auch an unheimlichen Wiederholungen und Geisterfiguren fehlt es nicht. Gleich zu Beginn erschafft Gaiman mit seiner Beschreibung des düsteren Anwesens eine unheimliche Atmosphäre, in der tiefe Brunnen und Keller eine Assoziation zur Unterwelt aufweisen. Da die andere Welt sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Zuhause der Protagonistin befindet, wird hier die Freud’sche Definition des Unheimlichen als etwas Vertrautes aber gleichzeitig Unbekanntes deutlich.166 Die Kopie erscheint Coraline zunächst sehr vertraut und trägt zum Verwischen der Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit167 bei. Je weiter sich die Protagonistin von der anderen Wohnung als dem Zentrum dieser Welt entfernt, »desto unfertiger [werden] die Bäume,«168 bis schließlich nur das »Nichts« verbleibt. Das Zentrum der unheimlichen Wirkung der gespiegelten Wohnung auf der anderen Seite des Tunnels bildet die andere Mutter, die ihre bösen Absichten mit übernatürlichen Kräften169 zu verwirklichen sucht. Sie kopiert nicht nur Coralines vertraute Umgebung, sondern auch deren Bewohner*innen. Im Gegensatz zu den Originalen weisen die Duplikate eine andere Dynamik auf, was insbesondere am Beispiel der Elternfiguren und ihren Doppelgänger*innen deutlich wurde. Die Analyse der anderen Mutter im Sinne der Freud’schen These, dass das Doppelgängermotiv für die Ich-Teilung stehe,170 gelangt zu dem Ergebnis, dass die Antagonistin nicht eine Doppelgängerin von Coralines Mutter darstellt, sondern vielmehr Persönlichkeitsanteile der Protagonistin repräsentiert. Auch der Kater könnte als Repräsentanz der von Coraline ungeliebten und demnach abgespaltenen Persönlichkeitsanteile gelesen werden. Er begleitet und berät sie auf ihrer Reise zwischen den beiden Welten, hat ebenfalls keinen Doppelgänger und weiß im Gegensatz zu ihr genau, wer er ist.171 Im Sinne einer tiefenpsy166 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace IndependentPublishing 2017, S. 3. 167 Vgl.: ebd., S. 26. 168 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 79. 169 Vgl.: ebd., S. 25. 170 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace IndependentPublishing 2017, S. 17. 171 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 43.

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chologischen Lektüre könnte er als Animus des Mädchens gelesen werden, den Jung als »Psychopompos, ein[en] Vermittler zwischen Bewußtsein und Unbewußtem und eine Personifikation des Unbewußten«172 beschreibt. Ungeachtet der genannten Freud’schen Motive des Unheimlichen, scheint Gaimans Text auf die kindliche Leserschaft eine große Faszination auszuüben. In einem Interview für die Website Collider erklärt der Autor : »It’s always adults that say to me that they finish reading the book at three o’clock in the morning and go around the house turning on all the lights. I never get that from the kids.«173 Dies könnte auch mit der leichteren Identifikation mit Coraline durch kindliche Lesende zusammenhängen. Coraline erkundet mutig die unheimliche Parallelwelt, rettet ihre Eltern und eignet sich eine veränderte Sichtweise an, die es ihr erleichtert, die Persönlichkeit ihrer Eltern zu akzeptieren. Dem Text könnte dementsprechend ein didaktischer Impetus attestiert werden, der sich durch Coralines folgende Bemerkung mit der Lust am Schaurigen artikuliert: »wenn man Angst vor etwas hat, es aber trotzdem tut – das ist mutig.«174

Literaturverzeichnis Primärliteratur Gaiman, Neil: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005.

Filme Henry Selick: »Coraline«, Universal Studios. USA 2009.

Sekundärliteratur Bönninghausen, Marion: »Von Doppelgängern und Wiedergängern 1800–1900–2000. Stationen medialer Einflüsse in der Literatur«, Roeder, Caroline (Hrsg.): Ich! Identität(en) in der Kinder- und Jugendliteratur, München: Kopaed 2009, S. 146–157.

172 Carl Gustav Jung: »Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst«, Ders.: Gesammelte Werke 9/2, Mannheim: Patmos 2011, S. 25. 173 Neil Gaiman: »Neil Gaiman Exclusive Interview – Coraline«, 26. Jan. 2009«, verfügbar unter : http://collider.com/neil-gaiman-exclusive-interview-coraline/ [22. 08. 2019]. 174 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, München: Heyne 2005, S. 65. [Hervorhebung im Original]

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Coats, Karen: »Between Horror, Humour, and Hope. Neil Gaiman and the Psychic Work of the Gothic«, Jackson, Anna / Coats, Karen /McGillism Roderick (Hrsg.): The Gothic in Children’s Literature. Haunting the Borders, New York: Routledge 2008, S. 77–93. Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, North Charleston: CreateSpace Independent-Publishing 2017. Freud, Sigmund: »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, Frankfurt am Main: Fischer 1932. Gooding, Richard: »›Something Very Old and Very Slow‹, Coraline, Uncanniness, and Narrative Form«, in Children’s Literature Association Quarterly, 33.4, 2008, S. 390–407. Hallam, Clifford: »The Double as Incomplete Self«, Crook, Eugene J. (Hrsg.): Feraful Symmetry. Doubles and Doubling in Literature and Film, Tallahassee: University Presses of Florida 1981, S. 1–31. Herget, Sven: »Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film«, Marburg: Schüren 2009. Howarth, Michael: »Under the Bed, Creeping. Psychoanalyzing the Gothic in Children’s Literature«, Jefferson: McFarland 2014. Jones, Tanya: »›Baby and I were baked in a pie‹: Cannibalism and the Consumption of Children in Young Adult Literature«, Abbruscato, Joseph / Jones, Tanya (Hrsg): The Gothic Fairy Tale in Young Adult Literature. Essays on Stories from Grimm to Gaiman, Jefferson: McFarland 2014, S. 30–46. Jung, Carl Gustav : »Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst«, Gesammelte Werke 9/2, Mannheim: Patmos 2011. Myers, Lindsay : »›Whose Fear Is It Anyway?‹ Moral Panics and ›Stranger Danger‹ in Henry Selick’s Coraline. In: The Lion and the Unicorn, 36.3. (2012), 245–257. Ostenson, Jon: »What if Dragons Can’t Be Defeated? Examining the Coming-of-Age Narrative in Neil Gaiman’s Coraline«, Fabrizi, Mark A. (Hrsg): Horrow Literatur and Dark Fantasy. Challenging Genres, Leiden: Brill Sense 2018, S. 41–53. Parsons, Elizabeth / Sawers, Naarah Sawers / McInally, Kate: »The Other Mother. Neil Gaiman’s Postfeminist Fairytales«, in Children’s Literature Association Quarterly, 33.4, 2008, S. 371–389. Perdigao, Lisa: »›Transform, and Twist, and Change‹. Deconstructing Coraline«, Abbruscato, Joseph / Jones, Tanya (Hrsg): The Gothic Fairy Tale in Young Adult Literature. Essays on Stories from Grimm to Gaiman, Jefferson: McFarland 2014, S. 102–122. Rank, Otto: »Der Doppelgänger«, Fischer, Jens Malte (Hrsg.): Psychoanalytische Literaturinterpretation. Aufsätze aus Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften (1912–1937), München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1980, S. 104–187. Rudd, David: »An Eye for an I. Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39, 2008, S. 159–168.

Onlinequellen Gaiman, Neil: »Neil Gaiman Exclusive Interview – Coraline. 26. Jan. 2009«, verfügbar unter : http://collider.com/neil-gaiman-exclusive-interview-coraline/ [22. 08. 2019]

Rachel Lupo

Die Darstellung psychischer Konflikte in der Kinder- und Jugendliteratur am Beispiel von Sieben Minuten nach Mitternacht und Coraline

Einleitung Die Fantastik bietet der kindlichen und jugendlichen Leserschaft nicht nur eine Möglichkeit, in fremde Welten einzutauchen, unwirklichen Gestalten zu begegnen oder das Gefühl für Raum und Zeit zu verlieren, sie bietet ihnen ebenso Zuflucht vor Dingen, die beängstigend oder erschreckend erscheinen können. Die Kinder- und Jugendliteratur nutzt die Sphäre der Imagination, um Welten zu schaffen, in denen das ausgesprochen, gezeigt oder kompensiert werden kann, was in der realen Welt unmöglich erscheint. Die Fantastik eröffnet damit ein Kapitel, in dem nicht nur positive, erheiternde Kreaturen oder Ereignisse ihren Platz haben, sie macht sich vor allem das Unheimliche zunutze, um Aspekte im Leben eines Kindes oder Jugendlichen zu beleuchten, die für die Augen eines Erwachsenen nicht immer offensichtlich sind. Der vorliegende Beitrag fokussiert die psychologischen Konflikte zweier kindlicher Figuren, deren Reise zu sich selbst von unheimlichen Gestalten und Geschehnissen begleitet wird. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit sich fantastische Elemente in der Kinder- und Jugendliteratur anbieten, um die Verarbeitung von krisenhaften Situationen literarisch auszugestalten. Das Thema der psychischen Krisenhaftigkeit sowie ihre Darstellungsformen haben eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Kinder- und insbesondere die Jugendliteratur. Analysiert werden exemplarisch zwei relativ junge Romane der Kategorie Horror- und Schauerliteratur. A Monster Calls,1 in Gedenken an Siobhan Dowd von Patrick Ness 2011 zu Ende geführt,2 wird in deutscher Übersetzung (Sieben Minuten nach Mitternacht) analysiert und vergleichend mit Neil Gaimans Coraline3 aus dem Jahr 2012 in den Blick genommen. Gaiman 1 Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017. 2 Sieben Minuten nach Mitternacht ist Siobhan Dowd gewidmet, die ihrer Krebserkrankung erlegen ist, noch bevor sie den Roman beginnen konnte. Vgl.: ebd., S. 5. 3 Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012.

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ist für die Verwendung unheimlicher Motive u. a. in seiner Comicreihe Sandman4 bekannt. Die typologische Ausgestaltung der Elemente des Unheimlichen wird ausschließlich in der englischsprachigen Originalausgabe von Coraline deutlich, weshalb hier aus dieser, im Gegensatz zur deutschen Ausgabe von Sieben Minuten nach Mitternacht zitiert wird. Zunächst wird mithilfe ausgewählter Texte von Gerhard Haas5 und Gertrud Lehnert6 eine kurze Begriffserläuterung der Kategorie Fantastik ermöglicht und im Anschluss untersucht, weshalb diese prädestiniert scheint, um psychische Konflikte auszugestalten und sich daher für psychoanalytische Analysen anbietet. Im folgenden Abschnitt wird auf Basis ausgewählter Theorien Sigmund Freuds ein Überblick darüber gegeben, in wie fern psychoanalytische Lesarten sich für die Kinder- und Jugendliteratur anbieten. Hierfür wird auf ausgewählte Theorien7 der Gesammelten Werke Sigmund Freuds verwiesen.8 Im Fokus des vierten Kapitels stehen die Erzähltextanalyse und deren Zusammenhang zur Symbolik des Unheimlichen. Besonderes Interesse wird in diesem Zusammenhang der Perspektivierung und Fokalisierung beider Romane gewidmet. Im Zuge der Analyse wird unter anderem auf Christian Bendels Die Innenweltdarstellung in der realistischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts9 sowie Mat&as Mart&nez’ und Michael Scheffels Einführung in die Erzähltheorie10 verwiesen. Darauf aufbauend wird im fünften Kapitel die Krisenhaftigkeit aufgrund der familiären Situation und das soziale Umfeld der Hauptfiguren thematisiert. Im

4 Vgl. David Rudd: »An eye for an I: Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39, 2008, S. 159–168, (S. 6). 5 Vgl.: Gerhard Haas: »Struktur und Funktion der phantastischen Literatur«, in: Wirkendes Wort, 28, 1978/5, S. 340–356. 6 Vgl.: Gertrud Lehnert: »Moderne und postmoderne Elemente in der phantastischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts«, Ewers, Hans-Heino/Lypp, Maria/ Nassen, Ulrich (Hrsg.): Kinderliteratur und Moderne. Ästhetische Herausforderungen für die Kinderliteratur im 20. Jahrhundert, Weinheim-München: Beltz Juventa 1990, S. 175–195. 7 Wie z. B.: Sigmund Freud: »Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften«, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2009. 8 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, Ders.: Werke aus den Jahren 1917–1920. Gesammelte Werke, Bd. 12, London: Imago Publishing 1947, S. 229–268, sowie Sigmund Freud: »Psychoanalyse und Libidotheorie«, Ders.: Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es. Gesammelte Werke, Bd. 13, London: Imago Publishing 1940, S. 209–233. 9 Christian Bendel: »Die Innenweltdarstellung in der realistischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts. Formen- und Funktionswandel – Eine erzähltheoretische Untersuchung zur Bestimmung und Präzisierung gattungstypischer Phänomene«, Hamburg: Kovac 2008. 10 Mat&as Mart&nez / Michael Scheffel: »Einführung in die Erzähltheorie«, 9. erweiterte und aktualisierte Aufl., München: C. H. Beck 2012.

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finalen Kapitel werden die Motive des Unheimlichen kritisch beleuchtet und erneut die Verbindung zur Psychoanalyse aufgezeigt.11

Zur Relation von Fantastik und psychoanalytischer Lesart Im einfachsten definitionskonstrukt zur bestimmung der wesensmerkmale phantastischer texte steht einer realistisch gezeichneten, empirisch alltäglich bestimmbaren welt eine welt des irrational unerklärbaren gegenüber, in der das aussergewöhnliche geschieht. Aus dem punktuellen zusammenstoss beider bereiche entstehen schrecken, angst, grauen […]. [sic!]12

Bei diesen Ausführungen Gerhard Haas’ handelt es sich um eine recht umfassende Begriffserläuterungen der Fantastik, die durchaus kürzer definiert werden kann, etwa als »[…] das Einbrechen übernatürlicher Ereignisse in eine Alltagswelt […].«13 Letztendlich kann festgehalten werden, dass die Fantastik genutzt wird, um Motive des Außergewöhnlichen, Übernatürlichen und womöglich Unheimlichen zum Ausdruck zu bringen.14 Es wird ein Raum geschaffen, der einen Eindruck des Übernatürlichen vermittelt und damit für Spannung sorgt. Neben dem Unterhaltungsfaktor der Fantastik, bietet die psychologische Fantastik, die in der Analyse hier von besonderem Interesse ist, auch Räume, um »psychische Prozesse«15 bei kindlichen und jugendlichen Figuren in Gang zu setzen. Denn die »Welt der Erwachsenen«16 ist für ebendiese »unzugänglich«17 und so nutzen sie die Welt der Fantasie, als Ventil zur Verarbeitung innerer Konflikte. 11 Basis dieser Analyse bieten unter Anderem Freuds Theorien des Unheimlichen sowie David Rudds »An eye for an I: Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39 (2008), S. 159–168. 12 In der verwendeten Ausgabe wird keine Großschrift verwendet. Gerhard Haas: »Struktur und Funktion der phantastischen Literatur«, in: Wirkendes Wort, 28, 1978/5, S. 340–356, (S. 342). 13 Gertrud Lehnert: »Moderne und postmoderne Elemente in der phantastischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts«, Ewers, Hans-Heino/Lypp, Maria/ Nassen, Ulrich (Hrsg.): Kinderliteratur und Moderne. Ästhetische Herausforderungen für die Kinderliteratur im 20. Jahrhundert, Weinheim-München: Beltz Juventa 1990, S. 175–195, (S. 175). 14 Vgl: Gerhard Haas: »Struktur und Funktion der phantastischen Literatur«, in: Wirkendes Wort, 28, 1978/5, S. 340–356. Haas fasst die Erläuterungen anderer Autor*innen zum Begriff der Fantastik anschaulich zusammen. 15 Gertrud Lehnert: »Moderne und postmoderne Elemente in der phantastischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts«, Ewers, Hans-Heino/Lypp, Maria/ Nassen, Ulrich (Hrsg.): Kinderliteratur und Moderne. Ästhetische Herausforderungen für die Kinderliteratur im 20. Jahrhundert, Weinheim-München: Beltz Juventa 1990, S. 175–195, (S. 177). 16 Ebd., S. 179. 17 Ebd.

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Seit den 1970er Jahren hat sich die Kinder- und Jugendliteratur entscheidend verändert: seit dieser Zeit findet eine »stärkere […] Psychologisierung«18 statt, infolge derer sie sich zunehmend an Themen der »realen Erfahrungswelt«19 anlehnt und »Bewältigungsstrategien der Protagonisten darstell[t].«20 Nicht nur in historischer, sondern auch in entwicklungspsychologischer Perspektive erscheint die Fantastik von besonderem Interesse. Adoleszente Lesende befinden sich in einem Spannungsfeld von Abhängigkeit und Drang danach, sich von elterlichen Autoritätsfiguren zu lösen, da ihnen eine Unselbstständigkeit immerzu vor Augen geführt wird. Vor diesem Hintergrund scheint die Faszination an fantastischen Texten, die es der jugendlichen Leserschaft ermöglichen, sich in fremde Welten zu flüchten und unheimlichen Figuren und Symbolen einen Platz darin einzuräumen, nachvollziehbar. So lassen sich Symbole wie Monster, Spiegel, Keller, dunkle Räume oder Tunnel mit psychoanalytischen Überlegungen deuten. Mithilfe der fantastischen Bildsprache eröffnen sich verschiedene Symbolebenen, die sich zur Analyse anbieten. Diese Symbolebene ist es auch, die die Fantastik zum Nährboden von Ausdrucksformen innerer Auseinandersetzungen macht; wie Haas zusammenfasst, kann »das phantastische […] hier ähnlich wie fieber eine reinigende, therapeutische funktion [haben] [sic!]«21. Mittels Parallelwelten, die durch »geburtskanalähnliche Tunnel«22 führen, wie bei Alice im Wunderland23 oder Albträumen, die unbewusste Wunscherfüllungen darstellen, bietet die psychologische Fantastik ein breites Repertoire an Möglichkeiten, Übernatürliches wie auch unbewusste Ängste mit psychischen Konflikten aus der sozialen Wirklichkeit eines Kindes oder Jugendlichen zu vereinen.

18 Christian Brendel: »Die Innenweltdarstellung in der realistischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts. Formen- und Funktionswandel – Eine erzähltheoretische Untersuchung zur Bestimmung und Präzisierung gattungstypischer Phänomene«, Hamburg: Kovac 2008, S. 8. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Gerhard Haas: »Struktur und Funktion der phantastischen Literatur«, in: Wirkendes Wort, 28, 1978/5, S. 340–356, (S. 350). 22 David Rudd: »An eye for an I: Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39 (2008), S. 159–168, (S. 13). 23 Lewis Carroll: »Alice’s Adventures in Wonderland & Through the Looking-Glass«, London: Macmillan 2016.

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Zur theoretischen Einordnung »Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.«24 Dieser Satz beschreibt prägnant, wie unergründlich die menschliche Psyche und insbesondere das Unbewusste im Sinne Freuds angelegt ist. Die Methode zur Ergründung dieser geheimnisvollen Welten – die Psychoanalyse – definiert er wie folgt: Psychoanalyse ist der Name 1. eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; 2. einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet; 3. eine Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen.25

Freuds Interesse galt insbesondere der Analyse unbewusster psychischer Vorgänge und ihren Auswirkungen auf das Bewusstsein.26 Mit der Annahme der Existenz eines Unbewussten stieß er immer wieder auf Unverständnis und Kritik.27 Seine Theorien hat er stets hinterfragt und weiterentwickelt.28 In Das Ich und das Es beschreibt er das Unbewusste wie folgt: Das Unbewußte ist eine regelmäßige und unvermeidliche Phase in den Vorgängen, die unsere psychische Tätigkeit begründen; jeder psychische Akt beginnt als unbewußter und kann entweder so bleiben oder sich weiterentwickelnd zum Bewußtsein fortschreiten, je nachdem, ob er auf Widerstand trifft oder nicht.29

Sein dreigliedriges Modell des psychischen Apparates30 überarbeitet er ebenfalls im Verlauf seines Schaffens wiederholt. Konkret beinhaltet Freuds Theorie, dass die menschliche Psyche mehrere Ebenen aufweist – das Ich ist dementsprechend 24 Novalis / Kamnitzer, E. / von Hardenberg, Friedrich: »Fragmente I. Dresden 1929«, verfügbar unter : http://gutenberg.spiegel.de/buch/fragmente-i-6618/6, [22. 05. 2018]. 25 Sigmund Freud: »Psychoanalyse und Libidotheorie«, Ders.: Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es. Gesammelte Werke, Bd. 13, London: Imago Publishing 1940, S. 209–233, (S. 211). 26 Vgl.: Alex Holder : »Einleitung«, Sigmund Freud: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2009, S. 7–28, (S. 7). 27 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften«, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2009, S. 119. 28 Etwa in Bezug auf das dualistische Denken des Lust- und Realitätsprinzips in seinen frühen Arbeiten, die in seinen späteren Arbeiten durch den Lebens- und Todestrieb ersetzt wurden. Für einen tieferen Einblick in die Materie des Lust- und Realitätsprinzips empfiehlt sich die Lektüre von: Sigmund Freud: »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens«, Ders.: Werke aus den Jahren 1909–1913. Gesammelte Werke, Bd. 8, London: Imago Publishing 1943, S. 229–238. 29 Sigmund Freud: »Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften«, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2009, S. 119, S. 46. 30 Vgl.: ebd., S. 129.

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aufgespalten.31 Die menschliche Psyche sei in drei Ebenen geschichtet: Das »Ich«, das »Über-Ich« und das »Es«.32 Das Ich übernimmt die Aufgabe, das Bewusstsein und die »Abfuhr von Erregungen in die Außenwelt«33 zu steuern. Es repräsentiert also alle psychischen Akte nach außen. Doch steht es hierbei in einem steten Widerstreit mit seinen triebhaften Anteilen – dem Es. Das Ich »ist bestrebt, das Realitätsprinzip an die Stelle des Lustprinzips zu setzen, welches im Es uneingeschränkt regiert«34, doch gelingt ihm dies nicht immer, was sich in ungewollten Handlungen zeigt.35 Eine wichtige Funktion übernimmt daher die Instanz des »Über-Ich« oder »Ichideal«.36 Diese Funktion lässt sich etwa anhand des Ödipuskomplexes erläutern, welcher die kindliche Beziehung zu den Eltern während der kindlichen Sexualphase repräsentiert. Es spiegelt, so Freud, das Bedürfnis des männlichen Kindes wider, die Stelle des Vaters zu beseitigen und diese bei »der Mutter zu ersetzen.«37 Mit der Identifizierung mit dem Vater wird die »zärtliche Objektstrebung nach der Mutter«38 bestärkt. Wird der Ödipuskomplex aufgegeben, muss die Objektbesetzung der Mutter gelöst werden.39 Die Destruktion des Ödipuskomplexes wirkt sich dann auf die Ichrepräsentanz aus. So kann man als allgemeinstes Ergebnis der vom Ödipuskomplex beherrschten Sexualphase einen Niederschlag im Ich annehmen […]. Diese Ichveränderung behält ihre Sonderstellung, sie tritt dem anderen Inhalt des Ichs als Ichideal oder Über-Ich entgegen.40

Den Wunsch nach der Verdrängung der Vaterposition wird sich im Ichideal festigen und in einer besonderen Strenge manifestieren. Denn: »je stärker der Ödipuskomplex war, je beschleunigter […] seine Verdrängung erfolgte, desto strenger wird später das Über-Ich als Gewissen […] über das Ich herrschen.«41 Das Ichideal übernimmt also die Aufgabe der moralischen Zensur.42 Freud fasst die drei Ebenen der Psyche wie folgt zusammen: »Das Es ist ganz amoralisch, das Ich ist bemüht, moralisch zu sein, das Über-Ich kann hypermoralisch und dann 31 32 33 34 35

36 37 38 39 40 41 42

Vgl.: ebd., S. 255ff. Vgl.: ebd., S. 264ff. Ebd., S. 257. Ebd., S. 264. Dem Realitätsprinzip unterworfen sind das Ich und das Über-Ich. Sie werden von ethischen und moralischen Forderungen der Gesellschaft geleitet. Mit ungewollten Handlungen sind hier Affekterscheinungen der unterdrückten Triebe gemeint, wie z. B. Wutausbrüche, Gewalt, Trauer, Angst. Vgl.: ebd. Vgl.: ebd., S. 267. Ebd., S. 271. Ebd. Vgl.: ebd. Ebd., S. 273. Ebd. Vgl.: ebd., S. 275.

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so grausam werden wie nur das Es.«43 Die drei Sphären der Psyche können in ihrem permanenten Konflikt miteinander dazu beitragen, dass das Fantasieren und Projizieren als einzig plausibler Weg der Kompensation erscheint. Nachdem das Unbewusste und die Vielschichtigkeit des Ichs eingeführt wurden, werden im weiteren Verlauf der theoretischen Rahmung für die Analyse die Verdrängung triebhaften Verhaltens und das Unheimliche fokussiert. Gemäß Freud ist es dieser Widerstand, welcher unbewusste geistige Vorgänge davon abhalten kann, ins Bewusstsein zu treten und den Körper in einem Maße zu beeinflussen, den der Mensch nicht kontrollieren kann.44 Ein solcher Kontrollverlust wirkt potenziell beängstigend und unheimlich. Um diesen zu vermeiden, entwickelt die Psyche eine Barriere, um einem ungewollten bzw. unerwünschten Gedanken zu blockieren. »Im Falle des Triebes kann die Flucht [jedoch] nichts nützen, denn das Ich kann sich nicht selbst entfliehen.«45 Deshalb entsteht ein Mechanismus, um den Affekt der »Triebregungen«46 zu blockieren. Dieser »Prozess der Verdrängung«47 kann als »Mittelding zwischen Flucht und Verurteilung«48 bezeichnet werden. Freud begründet diesen Abwehrmechanismus damit, dass die Befriedigung des triebhaften Verhaltens durchaus »lustvoll«49 wäre, jedoch nicht mit den »Ansprüchen und Vorsätzen«50 der Gesellschaft vereinbar sei.51 Daraus folgt, dass »das Unlustmotiv eine stärkere Macht gewinnt als die Befriedigungslust.«52 Doch die Verdrängung fordert ihren Preis – das Individuum hat eine enorme Belastungsprobe auszustehen, um sich gegen innere Triebe zu wehren.53 Der Widerstand, den das Bewusstsein versucht aufrechtzuerhalten, hindert die »Triebrepräsentanz [jedoch] nicht daran […], im Unbewußten fortzubestehen, […] sozusagen im Dunkeln [zu wuchern] und enorme Ausdrucksformen [zu finden].«54 Diese Ausdrucksformen sind es, die Freud in der Psychoanalyse zu ergründen sucht: »Der Trieb wird entweder ganz unterdrückt, […] oder er kommt als irgendwie qualitativ gefärbter Affekt zum Vorschein, oder er wird in Angst umgewandelt.«55

43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

Ebd., S. 291. Vgl.: ebd., S. 3. Ebd., S. 105. Ebd. Ebd., S. 119. Ebd., S. 105. Ebd., S. 106. Ebd. Vgl.: ebd. Ebd. Vgl.: ebd., S. 109. Ebd., S. 107. Ebd., S. 111.

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Die Angst ist ein mächtiges Mittel, Gedanken und Handlungen zu steuern. Sie kann sowohl Ursache verdrängter Konflikte sein als auch der Quell äußerer Erregungen. Besonders die Angst vor dem Unbekannten wird in der Kinder- und Jugendliteratur oft in Horror- und Schauergeschichten genutzt, um die Lesenden in den Bann zu ziehen. Dunkle Kellerräume, Schrecken erregende Objekte, die unbestimmt bleiben, oder das Monster unter dem Bett sind oft verwendete Motive, um die »Angstlust«56 vor dem Unbekannten anzuregen. Das junge Lesepublikum wird hierdurch inspiriert, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen und begibt sich freiwillig in eine »potentiell Angst einflößende Situation.«57 In Sigmund Freuds Theorie über das Unheimliche hingegen ist es genau das Gegenteil, nicht das Unbekannte, das Angstzustände evoziert, sondern das Vertraute, Heimelige.58 Nach einer etymologischen Untersuchung und Einführung des Wortes »heimlich« kommt er zur Erkenntnis, dass »dies Wort heimlich nicht eindeutig ist, sondern zwei Vorstellungskreisen zugehört[.] [D]em des Vertrauten, Behaglichen und dem des Versteckten, Verborgengehaltenen.«59 Angesichts der Doppeldeutigkeit des Wortes »heimlich« mahnt er, dass auch »[…] das Unheimliche […] jene Art des Schreckhaften [sei], welche auf das Altbekannte, Längsvertraute zurückgeht.«60 Freud veranschaulicht die Theorie des Unheimlichen am Beispiel von E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann.61 Die Gestalt des Sandmanns und das Motiv des Augenraubs werden zu zentralen Symbolen des Unheimlichen. Der Verlust der Augen stünde für die psychoanalytische Erfahrung […], dass es eine schreckliche Kinderangst [sei], die Augen zu beschädigen oder zu verlieren. Vielen Erwachsenen [sei] diese Ängstlichkeit verblieben und sie fürchten keine andere Organverletzung so sehr wie die des Auges.62

Folglich werde das Motiv der Blendung genutzt, um ein verdrängtes Gefühl zum Ausdruck zu bringen – nämlich das der Kastrationsangst.63 Zur Erläuterung der Kastrationssangst geht er auf den Ödipuskomplex bzw. den gleichnamigen Helden von Sophokles’ König Ödipus ein:64 »[D]ie Selbstblendung […] ist nur 56 Andrea Weinmann: »Zwischen Angst und Lust. Zur Entwicklung der deutschsprachigen Gruselliteratur für junge Leser von den 1950er Jahren bis heute«, in kjl& m, 15.4., München: Kopaed 2014, S. 19–28, (S. 21). 57 Ebd. 58 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, Ders.: Werke aus den Jahren 1917–1920. Gesammelte Werke, Bd. 12, London: Imago Publishing 1947, S. 229–268. 59 Ebd., S. 235. 60 Ebd., S. 231. 61 Vgl.: ebd., S. 238f. 62 Ebd., S. 243. 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. ebd.

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eine Ermäßigung für die Strafe der Kastration, die ihm nach der Regel der Talion […] angemessen wäre.«65 In der Kastrationsangst komme die Angst vor der Verletzung eines anderen sensiblen Organs zum Ausdruck. Die Symbolhaftigkeit des Unheimlichen bietet also einerseits die Gelegenheit, Verborgenes hervortreten zu lassen, andererseits ein Mittel, vertraute Ängste und Gefühle ins Bewusstsein zu rufen. Die Motive des Unheimlichen und dessen Symbolebenen stützen meine Argumentation, dass auch psychoanalytische Lesarten auf die Kinder- und Jugendliteratur angewandt werden können. Die für die Analyse ausgewählten Texte greifen explizit auf den symbolischen Gehalt des Unheimlichen zurück und machen sich diesen zunutze, um innere Konflikte auf narrativer Ebene aufleben zu lassen. Das Unheimliche stellt also eine Möglichkeit dar, Fantasie und Projektion als Zufluchtsort und Ausgleich zu nutzen, denn Kinder- und Jugendliche sollten dazu angeregt werden, ihre »unbewußten Motive […] zu erforschen und dabei deren Existenz [anzuerkennen].66 Nur so seien sie dazu imstande, an ihrem Individualisierungsprozess und dem Umgang mit gesellschaftlichen Normen und Pflichten zu wachsen.

Narratologischer Aufbau Sieben Minuten nach Mitternacht und Coraline Auf den zitierten Überlegungen aufbauend, wird zunächst aufgezeigt, warum die narratologische Konzeption von Sieben Minuten nach Mitternacht und Coraline zum Spiel der Verunsicherung beiträgt, die Symbolhaftigkeit des Unheimlichen fördert und eine gelungene Darstellungsmöglichkeit psychischer Konflikte bietet. Beide Romane machen sich die erzählerische Ebene zunutze, um einerseits eine starke Fokussierung auf die Hauptfigur zu fördern und andererseits ihre/seine psychischen Konflikte im Verlaufe des Individuationsprozesses deutlich zu machen. Von besonderem Interesse werden hier die Aspekte der Nähe und Distanz zum Innenleben der Figuren sein, die eindrucksvoll mit verschiedenen narratologischen Techniken dargestellt werden.

Sieben Minuten nach Mitternacht Conor ist ein dreizehnjähriger Junge, der unter einem wiederkehrenden Albtraum leidet und zudem jede Nacht um 00:07 Uhr von einem Monster in der 65 Ebd. 66 Vgl.: »Deutsche Psychoanalytische Vereinigung«, verfügbar unter : https://www.dpv-psa.de/ service/infos-fuer-patienten/was-ist-psychoanalyse/, [04. 06. 2018].

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Gestalt einer Eibe heimgesucht wird.67 Neben diesen unerwünschten nächtlichen Besuchen, plagt ihn ebenso der Gedanke an seine Mutter, die an Krebs leidet. Der Reifeprozess, den Conor durchlebt und die Frustrationstoleranz, die er erlernen muss, werden narratologisch mit verschiedenen Techniken dargestellt und sollen im Verlauf der Analyse fokussiert werden. Wie dabei das Symbol des Unheimlichen zum Tragen kommt, um ihm bei diesem Reifeprozess zu unterstützen, soll ebenfalls Teil der Analyse sein. Bereits mit den ersten Sätzen wird eine Erzählinstanz eingeführt, die die Schwelle zwischen narrativem und »dramatischem Modus«68 verschwimmen lässt, da die Erzählweise wirkt, als erfolge sie aus der unmittelbaren Wahrnehmung des Protagonisten:69 »Conor war wach, als es kam. Er hatte einen Albtraum gehabt. Na gut, nicht irgendeinen. Den Albtraum.«70 Mit einem einfachen Erzählerbericht beginnend, werden Kursivschreibung und die Iteration des Wortes »Albtraum« genutzt, um eine besondere Intensität der Situation des Jungen zu erzeugen. Kolloquiale Interjektionen wie »Na gut« bilden einen »emotionalen Übergang von etwas, was als Geschehen, Gesprochenes oder Gedachtes vorausgegangen ist«71 und gehen einem gekürzten Satz voraus, der »persönliche Gefühle […] enthalten kann.«72 Oft wird eben diese Perspektivierung genutzt, um eine Mitsicht statt einer Außensicht zu gewährleisten.73 Diese Mitsicht ist nach Mart&nez/Scheffel der »internen Fokalisierung«74 zuzuschreiben und erzeugt eine besondere Nähe zur Figur. Es wird mit einer internen Fokalisierung erzählt, die von einem »heterodiegetischen Erzähler«75 unterstützt wird. Ein heterodiegetischer Erzähler ist eine Erzählinstanz, die sich außerhalb der erzählten Geschichte befindet, sich also nicht am Geschehen beteiligt.76 Das folgende Beispiel veranschaulicht, auf welche Weise der Text mit der narrativen Form spielt:

67 Vgl.: Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, 13f. 68 Mat&as Mart&nez / Michael Scheffel: »Einführung in die Erzähltheorie«, 9. erweiterte und aktualisierte Aufl., München: C. H. Beck 2012. S. 51. 69 Vgl.: Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 13ff. 70 Ebd., S. 13. 71 »Duden Definition«, verfügbar unter : https://www.duden.de/rechtschreibung/na_Interjekti on_Partikel, [04. 06. 2018]. 72 Ebd. 73 Vgl. Mat&as Mart&nez / Michael Scheffel: »Einführung in die Erzähltheorie«, 9. erweiterte und aktualisierte Aufl., München: C. H. Beck 2012, S. 67. 74 Ebd. 75 Ebd.: S. 84f. 76 Vgl.: ebd.

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Mit einem Schrei fuhr Conor im Bett hoch. Seinem Bett. Er war wieder in seinem Bett. Natürlich war es ein Traum gewesen. Natürlich. Wieder. Er seufzte ärgerlich und rieb sich mit den Handballen die Augen. Wie sollte er sich denn jemals ausruhen, wenn seine Träume dermaßen anstrengend waren?77

Ness bedient sich hierbei verschiedener Elemente. Zum einen wird aus der Perspektive eines heterodiegetischen Erzählers berichtet; er reproduziert die Handlungen Conors. Zum anderen wird im nächsten Satz: »Natürlich war es ein Traum gewesen,« eben genau diese Distanz zwischen Erzählerinstanz und Figur marginalisiert. Nach Mart&nez und Scheffel ist dies eine Methode der »transponierten Rede.«78 Es wird also auf die indirekte Rede verzichtet und mit der Form der »erlebten Rede«79 gearbeitet, die eine »Zwischenform […] indirekter und direkter Rede«80 darstellt. Die erlebte Rede kommt ohne verba dicendi aus und gestaltet den »Übergang vom reinen Erzählerbericht […] zur Darstellung von Figurenrede nahtlos.«81 Der undurchsichtige Wechsel zwischen Erzählerbericht und Figurenrede erweckt bei den Lesenden den Eindruck einer »Unmittelbarkeit,«82 die dennoch durch den »Filter eines Erzählers präsentiert«83 wird. Es wird mit einer Kursivierung gearbeitet, um Wörtern besonderen Ausdruck zu verleihen. Weiter noch entsteht mit der rhetorischen Frage die Impression, der Junge befinde sich in einer frustrierenden Situation, die kein glückliches Ende bereithält. Interessant an diesem Zitat ist auch, dass Conor versucht, die Besuche des Eibenmonsters zu rechtfertigen, indem er sie als Traum bezeichnet. Diese Unsicherheit der Differenzierung von Wach- und Traumzustand ist ein gestalterisches Mittel, das sich durch den Verlauf der Narration zieht.84 Einen anderen Blickwinkel der Perspektivierung der Erzählinstanz ermöglicht Christian Bendel, wenn er auf die »Innenweltdarstellung« eingeht, die er wie folgt beschreibt: Es gilt die prinzipielle Annahme, dass die grammatischen Formen der direkten wie auch der indirekten Personenrede und des auktorialen Redeberichts auch unausgesprochene Bewusstseinsinhalte mitteilen können, sofern die inquit-Formel durch 77 Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 49. [Hervorhebung im Original] 78 Mat&as Mart&nez / Michael Scheffel: »Einführung in die Erzähltheorie«, 9. erweiterte und aktualisierte Aufl., München: C. H. Beck 2012, S. 54. 79 Ebd, S. 55. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Ebd., S. 56. 83 Ebd. 84 Vgl. Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 48f., S. 197, S. 201 und S. 203ff.

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Verben des Denkens, Wahrnehmens oder Fühlens (verba credendi) ersetzt wird. Es handelt sich dann um die Wiedergabe unausgesprochener Figurenrede.85

Daraus ergibt sich, dass trotz einer Erzählinstanz der Erzählerbericht derart gestaltet wird, dass die Mittelbarkeit zur Figur nicht eindeutig erscheint. Bendel stützt seine Arbeit auf das Narratologiekonzept von Dorrit Cohn, in der es möglich ist, eine Erzählinstanz aus der Er-Perspektive zu schaffen, die die Grenzen der Mittelbarkeit verschwimmen lässt.86 Eines dieser Konzepte ist [d]ie Psychonarration[, die] dadurch gekennzeichnet [ist], dass nicht die Figur selbst ihre Gedanken und Stimmungen mitteilt, sondern eine externe Erzählinstanz, mag diese erkennbar sein oder nicht, in die Figur hineinblickt und über ihr Inneres berichtet.87

Zudem wird zwischen »dissonanter und konsonanter«88 Psychonarration unterschieden. Die dissonante Psychonarration weist eine Erzählinstanz auf, die in Distanz zum Innenleben der Figur steht.89 Bei der konsonanten Psychonarration verhält es sich so, dass die »Distanz vom Erzähler zur Figur […] nicht erkennbar [ist].«90 Der Erzählbericht erzeugt wiederum Nähe zur Figur und zur intendierten Leserschaft. Im Fall von Sieben Minuten nach Mitternacht liegt eine Mischform aus dissonanter und konsonanter Psychonarration vor, da das Monster mehr über das Innenleben Conors zu wissen scheint als die Figur selbst. So ließe sich ableiten, dass der Erzähler der Rahmenerzählung die erste Erzählinstanz darstellt und das Eibenmonster als indirekte, zweite Erzählinstanz der Gefühle und Gedanken Conors gesehen werden kann, die er noch nicht bereit ist, preiszugeben.91 Deutlich wird dies etwa, wenn das Eibenmonster Conor erklärt, dass es ihm drei Geschichten erzählen wird und die vierte Geschichte von Conor erzählt werden müsse.92 Diese Geschichte müsse der Wahrheit entsprechen: Nicht irgendeine Wahrheit. Deine Wahrheit. [Hier spricht das Monster, R.L.] O-kay, sagte Conor, aber du hast doch gesagt, ich würde es noch mit der Angst zu tun bekommen, bevor dies alles vorbei ist, doch das macht mir überhaupt keine Angst. Du 85 Christian Brendel: »Die Innenweltdarstellung in der realistischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts. Formen- und Funktionswandel – Eine erzähltheoretische Untersuchung zur Bestimmung und Präzisierung gattungstypischer Phänomene«, Hamburg: Kovac 2008, S. 15. [Hervorhebung: R. L.] 86 Vgl.: ebd., S. 20. 87 Ebd. S. 21. 88 Vgl.: ebd. 89 Vgl.: ebd. 90 Ebd. 91 Vgl.: Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 48, S. 61 und S. 199. 92 Vgl.: ebd., S. 46ff.

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weißt, dass das nicht stimmt, sagte das Monster. Du weißt, dass deine Wahrheit, diejenige, die du versteckst, Conor O’Malley, genau das ist, wovor du am meisten Angst hast. Conor hielt inne. Es meinte doch nicht etwa – Unmöglich konnte es – […] Du wirst es mir erzählen, sagte das Monster. Denn deshalb hast du mich gerufen.93

Transparent wird zwar eine zweite Erzählinstanz, diese jedoch hat nicht mehr nur eine Mitsicht; sie spiegelt das Innenleben des Protagonisten wider, verbalisiert, was Conor nicht auszusprechen vermag. Bendels Theorie der Psychonarration bestätigt sich hier und wird dadurch transparent, dass das Monster Conor vor Augen führt, was ihn wirklich beschäftigt: die Angst vor dem Tod seiner Mutter. Die Figurenrede des Monsters ist stets kursiv gehalten; sie wird mit und ohne verba dicendi dargestellt.94 Das Spiel der Verunsicherung mit der Leserschaft wird wiederholt mittels verschiedener Techniken des Erzählerberichts aufrechterhalten. Einerseits erfolgt die Rede Conors direkt, andererseits, in besonderen Momenten, in denen Conor selbstreflektierend agiert, werden verba dicendi weggelassen oder durch verba credendi ersetzt. Mittels Gedankenstrichen, Kursiv- und Fettschreibung werden einzelnen Szenen zusätzlich Ausdruck verliehen. Die Intensität der zitierten Szene wird durch den inneren Monolog Conors deutlich, in dem er selbst nicht fassen kann, was das Monster ihm versucht zu vermitteln. Es handelt sich um eine der entscheidenden Textpassagen des Romans, die im späteren Verlauf der Arbeit erneut aufgegriffen wird.95 Die Spannungskurve des Romans wird stets gehalten. Sie beginnt nicht erst mit dem Erscheinen des Monsters, sondern bereits mit dem Beschreiben der Umgebung des Jungen vor der ersten Begegnung mit der Figur. Der Erzähler spannt die Leserschaft auf die Folter, indem über drei Seiten hinweg von einer unbekannten Instanz sein Name gerufen wird.96 »War es ihm gefolgt? War es irgendwie aus dem Albtraum herausgetreten und – ? Sei nicht blöd, sagte er zu sich selbst. Du bist zu alt für Monster.«97 Conor versucht diese ungewöhnlichen Ereignisse zu rationalisieren. Die »Balance zwischen Angst und Lust«98 wird also auch im inneren Monolog der Figur transparent. Das Spiel mit der »Angstlust«99 kommt in solchen spannungsreichen Sequenzen besonders zum Tragen: »Er mochte nicht nachsehen. Und zugleich wollte ein Teil von ihm nichts lieber tun 93 94 95 96 97 98

Ebd., S. 48. [Hervorhebungen im Original] Vgl.: ebd., S. 48, S. 69 und S. 75. Vgl.: ebd., S. 6 und S. 29. Vgl.: ebd., S. 14ff. Ebd., S. 14. Andrea Weinmann: »Zwischen Angst und Lust. Zur Entwicklung der deutschsprachigen Gruselliteratur für junge Leser von den 1950er Jahren bis heute«, in kjl& m, 15.4., München: Kopaed 2014, S. 19–28, (S. 22). 99 Ebd., S. 21.

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als genau das.«100 Die Szenerie vor dem Erscheinen des Monsters wird als dunkel und finster beschrieben. Der Wind weht durch das Zimmer und der Mond leuchtet hell auf. Conor schaut aus dem Fenster und blickt auf einen mächtigen Baum, der »sich in der Mitte des Friedhofs erhob.«101 Die Erzählperspektive fesselt die Lesenden ans Papier und bedient sich hierfür gekonnt der Motive des Unheimlichen: Eine Wolke schob sich vor den Mond und ließ die Landschaft in Dunkelheit versinken, und gleich darauf fegte ein Windstoß vom Hügel herunter in sein Zimmer […]. Erneut hörte Conor das Knarren und Knacken von Holz, hörte es ächzen und grummeln wie ein lebendiges Wesen, wie den knurrenden Magen der Erde, der nach etwas zu essen verlangte.102

Ness nutzt hier die Mittelbarkeit des heterodiegetischen Erzählers bewusst, um eine Distanz zum Geschehen zu schaffen. Die interne Fokalisierung, oder das Modell der Psychonarration, findet in dieser Situation keine Verwendung. Die Szene wirkt durch den reinen Erzählbericht fremd und eindringlich. Mittels onomatopoetischen Wörtern wird zusätzlich Spannung aufgebaut und das bedrohliche Geschehen eingeleitet. Häufig werden ähnliche Bilder wie das »Knarren und Knacken« von Holz genutzt, um die Stille zu brechen und als Vorbote einer unheimlichen Erscheinung zu fungieren. Die metaphorisch aufgeladene Szene bestärkt den Eindruck der »mächtigen, eindrucksvollen« Gestalt, die die Eibe repräsentiert. Nicht nur die Figur durchlebt diesen unheimlichen Moment, auch die Leserschaft wird durch die Erzählperspektive gelenkt und zum Weiterblättern animiert. Diese furchterregende Gestalt, die Conor und den Lesenden hier gegenübertritt, ist es dann jedoch, die entgegen aller Konventionen die Funktion übernimmt, Conor auf seinem Weg durch die Krise zu helfen.103 Die Eibe als neue Erzählinstanz führt narratologisch auf eine weitere Ebene – der Geschichtenebene.104 Diese zweite Erzählebene läuft parallel und ist in die Erzählung eingebunden und erscheint wie eine mehrschichtige Binnenerzählung, in der das Monster einen neuen Erzählraum schafft, der abgetrennt von der Rahmenerzählung ohne zeitliche Zuordnung erfolgt.105 Das Eibenmonster eröffnet dem Jungen sein Vorhaben, noch bevor dieser sich selbst mit den Geschehnissen auseinandergesetzt hat.106 So wie das Knarren und Knacken des Holzes als Vorbote einer furchterregenden Gestalt fungieren, wird in diesem Fall 100 Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 15. 101 Ebd. 102 Ebd., S. 16. 103 Vgl.: ebd., S. 48 und S. 183. 104 Vgl.: ebd., S. 64, S. 111, S. 158 und S. 185. 105 Vgl.: ebd. 106 Vgl.: ebd., S. 42f.

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das Verbalisieren der Wahrheit als Vorbote einer furchterregenden Zukunft gestaltet. Hier wird sich offenbaren, dass das Angsteinflößende nicht von der Figur des Eibenmonsters ausgeht, sondern im Innern – im Unbewussten – Conors schlummert.107 »Geschichten sind wilde Wesen, sagte das Monster. Wer weiß, was für Unheil sie anrichten können, wenn man sie loslässt?«108 Dieses Zitat verdeutlicht, dass die Ebene der Fantastik ein Ventil für psychische Konflikte bereithält. Indem das Monster Conor dazu auffordert, »seine Wahrheit« zu verbalisieren, wird mit der Geschichtenebene ein Raum geschaffen, der Platz für Frustrationen und Ängste gibt. Conors unterdrückten Gefühle erscheinen am Anfang des Romans unangemessen, weil die Familie und das soziale Umfeld der Figur den Fokus auf die Krebserkrankung der Mutter gelenkt hat und weniger auf den dreizehnjährigen Jungen, der diese Frustrationstoleranz erst erlernen muss. Die vier Geschichten und der damit eingeschlagene narrative Weg Patrick Ness’ führen die Lesenden Schritt für Schritt in die unbewussten Tiefen der Psyche des Protagonisten. In die wilde, unergründliche Psyche eines Jungen, der sich in seiner Welt unverstanden und isoliert fühlt.109 Mit der scheinbar furchterregenden Figur des Eibenmonsters wird für Conor ein Sprachrohr geschaffen. Er lernt mit jeder neuen Geschichte, die ihm das Monster erzählt, »dass die Wahrheit nicht immer fair und schön ist, dass es aber dennoch entscheidend ist, sich mit ihr auseinanderzusetzen.«110 So eröffnen die Geschichten einen Gegenraum, in dem sich Conor für einen Moment vergessen und den moralischen Ge- und Verboten widersetzen kann.111 Dieser Impuls endet nach der zweiten Geschichte mit der Zerstörung des Wohnzimmers seiner Großmutter und in der dritten mit der gewaltsamen Befreiung aus der Isolation.112 In der vierten und letzten Geschichte konfrontiert das Monster den Jungen mit seinem Albtraum. Dieser wird sowohl durch den Protagonisten als auch in der Narration typografisch mittels Gedankenstrichen und abgebrochenen Sätzen verdrängt.113 Indem das Monster ihm die Flucht aus der Situation verwehrt, ist Conor dazu gezwungen, sich mit der Realität und seiner Wahrheit auseinanderzusetzen und diese zu verbalisieren.114 So lässt sich schließen, dass das 107 108 109 110 111 112 113 114

Vgl.: ebd., S. 191ff. Ebd., S. 63. Vgl.: ebd., S. 37, S. 55 und S. 79. Rachel Lupo: »Das Monster in uns – Projektionsfiguren zur Angstbewältigung am Beispiel von Sieben Minuten nach Mitternacht«, Hausarbeit Goethe-Universität Frankfurt am Main 2017, S. 8f. Vgl.: Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 122f. Vgl.: ebd., uns S. 163ff. Vgl.: ebd., S. 14. Vgl.: ebd., S. 192.

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Motiv des Unheimlichen in Sieben Minuten nach Mitternacht gewählt wurde, um ambivalenten Gefühlen ein Ventil zu ermöglichen. Das Eibenmonster wirkt auf die Leserschaft anfangs wie eine mächtige, bedrohliche Instanz, doch im Verlauf des Romans wird deutlich, dass diese therapeutisch anmutenden Gespräche die intendierte Funktion des Monsters veranschaulichen. Diese fantastische Figur und die narratologische Konzeption des Romans ermöglichen einen tiefen Einblick in die Gefühlswelt des Jungen. Eine besondere Funktion nimmt zudem das Aussprechen innerer Konflikte ein. Die Verbalisierung verdrängter Ängste kann zwar im Sinne einer psychoanalytischen Redekur kathartisch wirken, ihr kommt im Spannungsbogen des Romans jedoch zunächst eine unheimliche Bedeutung zu. Dass auch Conors Mutter nicht den Mut aufbringt, ihm die Ernsthaftigkeit der Situation vor Augen zu führen, zeigt, dass ebenfalls Erwachsene Schwierigkeiten damit haben, ernste Themen in Worte zu fassen.115

Coraline In Neil Gaimans Roman Coraline wird eine andere Art der Narration verwendet, um den Text mit dem Motiv des Unheimlichen zu versehen und einen Kompensationsraum für unterdrückte Gefühle zu schaffen. Die elfjährige Coraline Jones ist mit ihren Eltern in eine Wohnung in einem sehr alten Haus gezogen.116 Die Familie teilt sich das Haus mit drei Nachbarn: Miss Spink und Miss Forcible, sowie dem »crazy old man upstairs,«117 Mr. Bobo. Coraline ist abenteuerlustig und erkundet das Haus und die Umgebung in den ersten Tagen ihrer Ankunft.118 An einem verregneten Tag, eine Weile nach dem Einzug, beschäftigt sie sich damit, das Haus zu erkunden. Dabei entdeckt sie eine »big, carved, brown wooden door,«119 die verschlossen ist. Ein sehr alter, rostiger Schlüssel öffnet die Tür, hinter der jedoch nichts als eine Wand aus roten Backsteinen zum Vorschein kommt.120 Es handelt sich hierbei nicht um irgendeine herkömmliche Tür, sondern um einen Schwellengang, der den Übergang zwischen fiktiver Realitätsebene und fantastischer Ebene ermöglicht. Narrativ wird der Schwellengang zwischen fiktiver Realität und Parallelwelt mittels eines nächtlichen Besuchs eingeleitet. Nachdem Coraline die Tür entdeckt hat, liegt sie nachts wach und kann nicht schlafen.121 Ein Geräusch weckt 115 116 117 118 119 120 121

Vgl.: ebd., S. 178f. Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 1. Ebd., S. 2. Vgl.: ebd., S. 3ff. Ebd., S. 6. Vgl.: ebd., S. 7. Vgl.: ebd., S. 8.

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sie, noch bevor sie einschläft.122 »The rain had stopped, and she was almost asleep when something went t-t-t-t-t-t. She sat up in bed. Something went kreeee… … aaaak«123 Die Narration gestaltet sich ähnlich zu Sieben Minuten nach Mitternacht: Ein heterodiegetischer Erzähler leitet die Geschichte ein. Klangbeschreibungen wie im genannten Beispiel betonen besondere Ausdrücke, oder leiten etwas Unheilvolles ein. Interessant zu bemerken ist auch, dass diese onomatopoetischen Wörter kursiv gesetzt sind und somit optisch hervorgehoben werden.124 Die das Zitat betreffende Szene bildet die Einleitung für den weiteren Verlauf der Geschichte: Coraline folgt dem Geräusch, obwohl sie glaubt, es sich einzubilden.125 It was a little more than a shadow, and it scuttled down the darkened hall fast, like a little patch of night. […] The black shape went into the drawing room[.] The room was dark.[…] Coraline was just wondering whether or not she ought to turn on the lights when she saw the black shape edge slowly out from beneath the sofa. It paused, and then dashed silently across the carpet […]. […] Coraline turned on the light.126

Die Narration ist bewusst furchteinflößend gestaltet, da die Figur mit etwas Unbekanntem konfrontiert wird. Die schattenhafte Gestalt, die sich schnell durch die Gänge bewegt, macht die Protagonistin nervös. Dass sie sich unter dem Sofa versteckt, bestärkt das Gefühl des Unbehagens. Der Spannungsbogen findet seinen Höhepunkt in den schnellen, reflexartigen Bewegungen, welche den Eindruck erwecken, als käme nun etwas auf die Figur zu. Kurz darauf wird die Spannung gelöst, indem das Licht den Raum flutet. Coraline findet sich in dem Raum mit der Tür wieder, die ein Stück geöffnet ist.127 Hinter der Tür befindet sich nur die Ziegelsteinmauer. Sie schließt die Tür und kehrt in ihr Zimmer zurück. Dieser Besuch war nur der Vorbote von dem, was Coraline auf den nächsten Seiten begegnen wird. Der Erzählerbericht stellt zwar eine gewisse Distanz zur Leserschaft her, doch kommt hier die Lust, sich freiwillig einer furchteinflößenden Situation auszusetzen, besonders deutlich zum Tragen.128 Die sichere Distanz ist es, welche die Rezipierenden zum Weiterlesen animiert. Der Traum, der Coraline nach diesem Geschehen heimsucht, macht besonders deutlich, dass Unheilvolles bevorsteht:

122 123 124 125 126 127 128

Vgl.: ebd. Ebd. [Hervorhebung im Original] Vgl.: ebd., S. 2, S. 3, S. 7, S. 8 und S. 13. Vgl.: ebd., S. 8. Ebd., S. 8. Vgl.: ebd., S. 9. Vgl.: Andrea Weinmann: »Zwischen Angst und Lust. Zur Entwicklung der deutschsprachigen Gruselliteratur für junge Leser von den 1950er Jahren bis heute«, in kjl& m, 15.4., München: Kopaed 2014, S. 19–28, (S. 21).

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She dreamed of black shapes that slid from place to place, avoiding the light, until they were all gathered together under the moon. Little black shapes with little red eyes and sharp yellow teeth.129

Gaiman baut für den Spannungsbogen nicht nur solche Zitate ein. Er bedient sich ebenfalls kurzer Gesangstrophen, die eine weitere narratologische Form erfüllen. Der Gesang der bösen Ratten kann etappenweise auf die Dynamik des Unheimlichen verweisen, welches das Leben Coralines infiltriert.130 »We are small but we are many/ We are many we are small/ We were here before you rose/ We will be here when you fall.«131 Die erste Strophe ist das Aufgebot und dient der Warnung. Narratologisch wird die Leserschaft hier bereits mit dem Plot vertraut gemacht. Die Ratten sind kleine Spione der »Anderen Mutter«132.133 Denn erst nach dem Entdecken der Tür, tauchen auch die Ratten auf. Diese führen sie wie oben beschrieben zur Tür, um Coraline neugierig zu machen, was sich dahinter verbergen mag. So gesehen sind die Ratten der Köder, um die Figur in eine Falle zu locken. Coraline kann den Gesang nicht einordnen und wird in ihrer Verunsicherung bestärkt, als Mr. Bobos Mäusezirkus eine Nachricht für sie hat: »Don’t go through the door.«134 Doch genau das wird intendiert. Coraline soll und muss durch diese Tür gehen, um den persönlichen Reifeprozess zu durchleben, der ihr durch das Erlebnis auf der anderen Seite dieses Portals ermöglicht wird. Die zweite Strophe der Ratten wird relevant, nachdem Coraline bereits die Parallelwelt entdeckt hat und auf Vorschlag ihrer Anderen Mutter mit den Ratten spielen soll.135 »We have teeth and we have tails/ We have tails we have eyes/ We were here before you fell/ You will be here when we rise.«136 Die dritte und letzte Strophe bildet den Abschluss und die letzte Drohung an Coraline: »We have eyes and we have nerveses/ We have tails we have teeth/ You’ll all get what you deserveses/ When we rise from underneath.«137 Wie bereits erwähnt, sind die Strophen etappenweise in die Erzählung eingebunden. Anfangs nur schattenhaft drängen sich die Ratten in das Delirium der schlafenden Coraline, um in der zweiten Strophe offensiv ihre Präsenz anzukündigen. Die dritte Strophe offenbart, was als nächstes geschieht: die unheimliche Erkenntnis, dass es sich bei der Version von Mr. Bobo in der Parallelwelt um eine bloße Hülle handelt; eine 129 130 131 132 133 134 135 136 137

Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 9. Vgl.: ebd., S. 10, S. 29 und S. 115. Ebd., S. 10. [Hervorhebung im Orignal] Der Ausdruck »die Andere Mutter« wird im Folgenden nicht in Anführungszeichen gesetzt und das Pronomen wird großgeschrieben, um den Kontrast zu verstärken. Vgl.: ebd., S. 73. Ebd., S. 14. Vgl.: ebd., S. 29. Ebd. Ebd., S. 115.

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Puppe, die mit den Ratten ausgestopft ist. Das Motiv des leblosen Gegenstandes, das durch kleinere, unheimliche Geschöpfe zum Leben erweckt wird, erinnert an Freuds Motiv des Automaten, welcher von fremder Hand gesteuert wird.138 Freud zitiert in seinem Text zum Unheimlichen E. Jentsch, der feststellt, dass es einer der sichersten Kunstgriffe [sei], leicht unheimliche Wirkungen durch Erzählungen hervorzurufen[.] […] [Indem] man den Leser im Ungewissen darüber läßt, ob er in einer bestimmten Figur eine Person oder etwa einen Automaten vor sich habe,[…]139

entsteht ein Gefühl der Verunsicherung. Dieses Gefühl der Verunsicherung zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Roman. In ungewohnter neuer Umgebung muss sich Coraline mit dem zufriedenstellen, was vorhanden ist. Ihre Eltern arbeiten zwar von zu Hause aus, doch schenken sie Coraline nicht genug Aufmerksamkeit.140 Gaiman bringt diese Unzufriedenheit zur Geltung, indem er die Figur auch selbst zum Papier greifen lässt.141 Coraline soll ihrer Mutter etwas Schönes malen, stattdessen wird die Textebene genutzt, um die fehlende Zugehörigkeit Coralines symbolisch auszudrücken.142 Ihre Einsamkeit nach dem Verschwinden der Eltern kompensiert sie wiederholt mit dem Niederschreiben einer Geschichte am Computer ihres Vaters.143 CORALINE’S STORY. THERE WAS A GIRL HER NAME WAS APPLE. SHE USED TO DANCE A LOT. SHE DANCED AND DANCED UNTIL HER FEET TURND[!] INTO SOSSAJES[!] THE END.144

Die »stärkere […] Psychologisierung«145 im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte auch die Gestalt der Romane im neuen Jahrtausend. »Häufiges Thematisieren des Lesens/Schreibens,«146 die »Mischung der Erzähl138 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, Ders.: Werke aus den Jahren 1917–1920. Gesammelte Werke, Bd. 12, London: Imago Publishing 1947, S. 229–268, (S. 238). 139 Ebd. 140 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 4. 141 Vgl.: ebd., S. 15 und S. 49. 142 Vgl.: David Rudd: »An eye for an I: Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39 (2008), S. 159–168, (S. 2f.). 143 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 49. 144 Ebd. [Versalschrift im Original] 145 Christian Bendel: »Die Innenweltdarstellung in der realistischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts. Formen- und Funktionswandel – Eine erzähltheoretische Untersuchung zur Bestimmung und Präzisierung gattungstypischer Phänomene«, Hamburg: Kovac 2008, S. 7. 146 Gertrud Lehnert: »Moderne und postmoderne Elemente in der phantastischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts«, Ewers, Hans-Heino/Lypp, Maria/ Nassen, Ulrich (Hrsg.): Kinderliteratur und Moderne. Ästhetische Herausforderungen für die Kinderliteratur im 20. Jahrhundert, Weinheim-München: Beltz Juventa 1990, S. 175–195, (S. 181).

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formen«147 und zuletzt: die »Intertextualität«148 sind besonders auffällige Eigenschaften, die in der Kinder- und Jugendliteratur genutzt werden. Auch in Coraline ist dies deutlich: durch die Mischung von verschiedenen narratologischen Techniken und intertextueller Verweise auf bekannte Texte, wie den Sandmann, wird der Leserschaft eine neue Erfahrung geboten.149 Diese stetige Abwechslung fordert die Leserschaft heraus, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Die Erzählinstanz bietet den Lesenden in diesem Sinne die nötige Distanz, um die Bilder und Symbole wirken zu lassen. Eindeutig festlegen lässt sich die Erzählinstanz in Coraline jedoch nicht. Wie bereits festgestellt wurde, ist auch hier ein heterodiegetischer Erzähler vertreten. Dieser nimmt wie bei Sieben Minuten nach Mitternacht eine ambivalente Position ein. Einerseits finden sich Szenen, in denen er die Außensicht beschreibt, z. B. durch reinen Erzählbericht oder direkte, zitierte Rede.150 Doch andererseits lassen Textsequenzen wie die Folgende die Mittelbarkeit des Erzählers zur Figur verschwimmen: »It is astonishing just how much of what we are can be tied to the beds we wake up in in the morning, and it is astonishing how fragile that can be.«151 Die Frage nach der Referenz erscheint hier bedeutsam: die Perspektivierung ist nicht eindeutig. Das Zitat kann einen Gedankenbericht bzw. inneren Monolog der Figur darstellen. Auf wen es tatsächlich rekurriert, ist jedoch unklar. Aktiv gelenkt wird durch diese Erzählweise die Leserschaft, die hier mit Coraline fühlt, die gerade in einem fremden Zimmer aufwacht, das ihrem zwar ähnlich ist, jedoch nicht ihr eigenes ist.152 Wie kostbar ihr alltägliches Leben plötzlich ist, bemerkt sie erst, als sie nicht in dieses zurückkehren kann.153 She could not wear her pajamas, […] she decided, even if it meant wearing the other Coraline’s clothes. (Was there an other Caroline? No, she realized, there wasn’t. There was just her.)154

Das Zitat wird mit einem Erzählbericht eingeleitet und wechselt dann die Perspektive. Der Auszug in Klammern spiegelt das Innere der Figur wider. Es handelt sich um einen spontanen Einwurf, der durch eine externe Erzählinstanz verbalisiert wird, die hier in den Hintergrund rückt, auch wenn die dritte Person 147 Ebd. 148 Ebd. 149 Das Sandmann-Motiv ist in Coraline sehr stark vertreten. Besonders das Motiv des Augenraubs durch das Entfernen der Augen und das Aufnähen von Knöpfen zum Ersatz durch die Hand der Anderen Mutter. Siehe etwa: Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 43 und S. 96. 150 Vgl.: ebd., S. 1ff. 151 Ebd., S. 65. 152 Vgl.: ebd. 153 Vgl.: ebd., S. 61, S. 65 und S. 105. 154 Ebd., S. 67.

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genutzt wird. Diese Form könnte eine Art der Psychonarration nach Christian Bendel darstellen. »[E]s werden [nämlich] die subjektiven Gedanken einer Figur unter vollständiger Anwesenheit des Erzählers […] vermittelt.«155 Die verstärkte Nutzung von Fragezeichen und das Sich-selbst-Fragen verunsichern das Verhältnis zwischen Erzähler und Figur ; aber auch das zwischen Text und Leserschaft. Der Lesende weiß das Geschriebene nicht einzuordnen bzw. an wen dieses adressiert ist. Gaiman spielt geschickt mit den narrativen Möglichkeiten, um eine unheilvolle Stimmung zu evozieren. Insbesondere das Motiv des Doppelgängers ist Auslöser für eine befremdlich und unheimlich wirkende Situation, die ihren Höhepunkt in der sukzessiven Verwandlung der Anderen Mutter findet. So wird Coraline mit jeder neuen Begegnung von der äußeren Gestalt der Anderen Mutter erschreckt und die Leserschaft durch die scheinbar ausweglose Situation in Bann gehalten.156 Als Coraline das Potenzial des Steins mit dem Loch entdeckt, wendet sich auch das Blatt innerhalb der Narration. Die Figur des jungen Mädchens, die anfangs unzufrieden in die neue Welt gestolpert ist und von einer sie liebenden Familie empfangen wurde, realisiert nach und nach, dass der Schein trügt. Je grauenhafter und grotesker das Äußere der Anderen Mutter gestaltet ist, desto stärker und selbstbewusster stellt sich Coraline ihr entgegen.157 Nachdem sie von ihr im Spiegel eingesperrt wird und Coraline dort die Seelen dreier toter Kinder entdeckt, wird in ihr ein Feuer entfacht.158 Das unsichere, nach Aufmerksamkeit ringende Mädchen, durchläuft einen schnellen Reife- und Individuationsprozess, ausgelöst durch den plötzlichen und furchteinflößenden Verlust ihrer Eltern und das trostlose Leben mit einer besitzergreifenden anderen Mutter.159 Die Schwelle zwischen Vertrautem und Fremde ist schwindend gering und wird daher gern und oft in der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur genutzt, um eine unheimliche Stimmung zu erzeugen. Heterodiegetische Erzählinstanzen mit interner Fokalisierung, die die Mittelbarkeit zwischen Erzähler und Figur verschwimmen lassen, erzeugen Nähe zu den Protagonisten und Nähe zur Leserschaft. Der Rezipient wird zum Instrument des Autors, der sich die Welt seiner Fantasie zunutze macht, um die Geschichte in ebendieser aufleben zu lassen. Besonders detailreiche Beschreibungen, grotesk gezeichnete Gestalten und dunkle, unheilbringende Szenarien transportieren das Gefühl des Un155 Christian Bendel: »Die Innenweltdarstellung in der realistischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts. Formen- und Funktionswandel – Eine erzähltheoretische Untersuchung zur Bestimmung und Präzisierung gattungstypischer Phänomene«, Hamburg: Kovac 2008, S. 21. 156 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 61, S. 76, S. 87 und S. 105. 157 Vgl.: ebd., S. 74, S. 77f., S. 87, S. 89 und S. 126. 158 Vgl.: ebd., S. 84 und S. 89. 159 Vgl.: ebd., S. 57, S. 110 und S. 116f.

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heimlichen. Das Motiv des Unheimlichen bietet sich jedoch nicht nur an, um einen Text mit Spannung aufzuladen. Es bietet sich auch an, um die psychischen Unsicherheiten einer/eines kindlichen Protagonist’in hervorzuheben und mittels fantastischer Geschöpfe oder Ebenen zum Vorschein zu bringen. Der folgende Teil dieses Beitrags wird sich mit den Auslösern beschäftigen, die für den Ausbruch unterdrückter Gefühle verantwortlich gemacht werden.

Figuren in Krisen Im Mittelpunkt dieses Abschnitts wird die Familie und das soziale Umfeld der Protagonisten stehen. Diese Aspekte tragen nämlich essentiell dazu bei, dass die kindlichen Figuren eine Identitätskrise durchlaufen. Die Krisenhaftigkeit und Unzufriedenheit Conors und Coralines führen dazu, dass sie sich selbst und ihre Ängste verleugnen.

Conor Conor wird als selbstständig beschrieben, da er mit der Krebserkrankung seiner Mutter gut alleine zurechtkommen scheint:160 Noch fünfundzwanzig Minuten, bis er losmusste. Er hatte schon seine Schuluniform an, und der Rucksack stand fertig gepackt neben der Haustür. Das kriegte er alles alleine hin.161

Sein selbstständiges Handeln und seine Hilfsbereitschaft zeigen seiner Mutter, dass er autonom, jedoch noch viel zu jung ist, um sich mit solch ernsthaften Themen auseinandersetzen zu müssen.162 ›Hast du schon gefrühstückt?‹, fragte seine Mutter[…]. ›Toast, Müsli und Saft, sagte er. Ich habe das Geschirr in die Spülmaschine gestellt. Und den Müll rausgebracht, sagte seine Mutter leise […]. Du bist ein guter Junge, sagte sie lächelnd […].‹163

Die Phase zwischen Kindheit und Adoleszenz erfährt mit der Diagnose seiner Mutter einen Umbruch. »So scheint es, als ebne ihm die Krankheit seiner Mutter

160 Vgl.: Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 23 und S. 27ff. 161 Ebd., S. 23. 162 Vgl.: ebd., S. 29. 163 Ebd., S. 27.

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den Weg in die Adoleszenz.«164 Eben weil seine Position innerhalb der Familie für seine schwache Mutter so wichtig ist, bittet sie ihre Mutter einzuziehen und entzieht dem Jungen damit die Verantwortung und entmachtet ihn in seiner Selbständigkeit.165 »Ich wünschte, du brauchtest nicht ganz so gut zu sein[,]«166 erwidert sie auf seine Bitte hin, dass der Einzug seiner Großmutter unnötig sei,167 denn hiermit wird ihm seine Abhängigkeit vor Augen geführt.168 Nachdem sich der gesundheitliche Zustand seiner Mutter weiter verschlechtert, muss Conor zu seiner Großmutter ziehen.169 Der Umzug bedeutet für ihn auch die Bewegung aus einer sicheren Umgebung und den Verlust einer weiteren Konstante. Obwohl ein Verwandtschaftsverhältnis besteht, ist seine Großmutter eine Fremde, mit einem Haus, in dem sich ein Kind nicht frei entfalten darf.170 Conors Vater hat die Familie bereits sehr früh verlassen und lebt mit seiner neuen Frau und dem Neugeborenen in den USA.171 Durch das Abwenden des Vaters, tritt Conor an dessen Stelle innerhalb der familiären Struktur. Conor entwickelt die Position eines verantwortungsbewussten Familienmitgliedes.172 Wichtig zu erwähnen ist, dass hier das Motiv der Objektbesetzung der Mutter sehr deutlich wird, welches wiederum auf den Ödipuskomplex bezogen werden kann. Die zerbrechliche Erscheinung seiner Mutter bestärkt seine »zärtliche«173 Einstellung ihr gegenüber und führt zu dem Wunsch »den Vater zu beseitigen und ihn bei der Mutter zu ersetzen.«174 Durch die Entwicklung eines BeschützerInstinkts wird deutlich, dass die »Vateridentifizierung […] nun eine feindselige Tönung an[nimmt][.]«175 Einerseits ist er nervös, aufgrund des bevorstehenden Besuchs, andererseits zeigt er sich kalt und abweisend.176 Sein ambivalentes Verhalten lädt die Situation mit Spannung auf.177 164 Rachel Lupo: »Das Monster in uns – Projektionsfiguren zur Angstbewältigung am Beispiel von Sieben Minuten nach Mitternacht«, Hausarbeit Goethe-Universität Frankfurt am Main 2017, S. 4. 165 Vgl.: ebd. 166 Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 29. 167 Vgl.: ebd., S. 27f. 168 Vgl.: ebd., S. 28. 169 Vgl.: ebd., S. 54f. 170 Vgl.: ebd., S. 92 und S. 95. 171 Vgl.: ebd., S. 39. 172 Vgl.: Rachel Lupo: »Das Monster in uns – Projektionsfiguren zur Angstbewältigung am Beispiel von Sieben Minuten nach Mitternacht«, Hausarbeit Goethe-Universität Frankfurt am Main 2017, S. 4. 173 Sigmund Freud: »Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften«, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2009, S. 272. 174 Ebd., S. 271. 175 Ebd. 176 Vgl. Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 97.

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›Wie lange bleibst du hier?, fragte [Conor]‹. […] ›Nur ein paar Tage, fürchte ich‹, [sagte der Vater]. […] ›Warum bist du dann hier?‹, fragte Conor. ›Was soll das dann überhaupt?‹178

Sein Wunsch nach Anerkennung und Zuneigung wird ihm verwehrt, so wird die Objektbesetzung der Mutter verstärkt, da diese Liebe und Verständnis zeigt. Der Besuch seines Vaters, der ihn immer nur »Champ«179 oder »Con«180 nennt, verstärkt Conors Gefühl, missachtet zu werden.181 Das Gespräch zwischen Vater und Sohn ist der erste Versuch Conors, sich einem Erwachsenen gegenüber über die Geschehnisse mit der Eibe mitzuteilen.182 Er trifft jedoch auf kein offenes Ohr, sondern auf Unverständnis.183 »Es zeigt sich, dass Conor keinen Ort hat, an dem er er selbst sein kann. Jeder erwartet von ihm, dass er sich zusammenreißen und tapfer sein muss.«184 Er fühlt sich nicht nur missachtet, sondern auch allein.185 Dieses Gefühl der Ausgrenzung erfährt er nicht nur im familiären Umfeld, sondern auch im schulischen. Die Schule wird narrativ bereits mit dem Motiv des Mobbings eingeleitet.186 Sie wird zum täglichen Albtraum, genau wie die Figur Harry, die erst auf Conor aufmerksam wird, als der Albtraum vermehrt auftritt. Eine zunächst unscheinbare Figur, die dem Protagonisten das Gefühl eines Außenseiters gibt.187 Das schulische Mobbing verstärkt sich mit jeder weiteren Geschichte, die das Monster Conor erzählt. Conor wird immer bewusster, dass er die Auseinandersetzungen herbeisehnt, um sich lebendig zu fühlen.188 Seine ehemals beste Freundin Lily war der Auslöser für seine Ausgrenzung innerhalb der Schule. Ihre Mutter führte ein Gespräch mit Conors Mutter, die ihr von ihrer Krebserkrankung erzählte. Lilys Mutter teilte ihr dieses Anliegen mit, was dazu führte, dass Lily es noch anderen Schulkamerad’innen erzählte.189 Mit der Kenntnis über seine Situation begann auch seine Isolation:

177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189

Vgl.: ebd., S. 87, S. 97, S. 99 und S. 103f. Ebd., S. 103. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Vgl.: ebd. Vgl.: ebd., S. 100. Vgl.: ebd. Rachel Lupo: »Das Monster in uns – Projektionsfiguren zur Angstbewältigung am Beispiel von Sieben Minuten nach Mitternacht«, Hausarbeit Goethe-Universität Frankfurt am Main 2017, S. 5. Vgl.: Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 104. Vgl.: ebd., S. 30. Vgl.: ebd., S. 31, S. 81, S. 138 und S. 164. Vgl.: ebd., S. 82, S. 156 und S. 169. Vgl.: ebd., S. 80.

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[A]ls hätte sich eine Zone um ihn gebildet, ein Niemandsland mit Conor in der Mitte, umgeben von Landminen, auf die keiner treten wollte. […] Also war er schließlich nicht mehr zu den anderen hingegangen, hatte nicht mehr aufgeblickt, wenn geflüstert wurde[…][.] Was niemandem weiter aufzufallen schien. Es war, als wäre er plötzlich unsichtbar geworden.190

Das Zitat macht deutlich, dass Conor zwar von vielen Menschen umgeben ist, sich dennoch alleine fühlt. Besonders das Wort »unsichtbar« ist eines der Schlüsselwörter und Auslöser im Roman für das Auftreten des Monsters. Die zunehmende Isolation fördert seinen Wunsch nach einem Zufluchtsort.191 Diese Krisenhaftigkeit und unheimlichen Motive werden auch von Neil Gaiman genutzt.

Coraline Mit dem Einzug in eine neue Wohnung verliert Coraline nicht nur den Bezug zu ihren Freund*innen, sondern auch zu ihrer gewohnten Umgebung. Eine Konstante fällt somit weg, was ihr den Einstieg in einen neuen Lebensabschnitt erschwert. Zum Zeitpunkt des Einzuges befindet sich Coraline noch in den Ferien und muss sich deshalb alleine beschäftigen. Auf ihren Erkundungstouren begegnet Coraline ihren neuen Nachbarn Miss Spink und Miss Forcible, die ehemals Schauspielerinnen am Theater waren und ununterbrochen in Erinnerungen aus ihrer Jugend schwelgen.192 Sie sind selbst eher damit beschäftigt, Coraline von ihrer erfolgreichen Vergangenheit zu berichten, als sie richtig wahrzunehmen und ihren Namen korrekt auszusprechen. »You see, Caroline, Miss Spink said, getting Coraline’s name wrong, both myself and Miss Forcible were famous actresses […].«193 Auch der Nachbar von oben mit seinem Mäusezirkus lenkt den Fokus auf sich und ignoriert ihre Bemerkung, dass ihr Name Coraline sei.194 Ihre Eltern arbeiten zwar von zu Hause aus, doch sind sie so in ihre Arbeit vertieft, dass Coraline sich missachtet fühlt.195 Ihr Vater versucht sie mit Aufgaben zu beschäftigen, doch ist er damit nicht erfolgreich.196 Ihre Versuche, die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu erlangen, werden wiederholt abgewehrt und sie 190 191 192 193 194 195 196

Ebd. Vgl.: ebd. Vgl. Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 1. Ebd. Vgl.: ebd., S. 2 und S. 14. Vgl.: ebd., S. 5. Vgl.: ebd., S. 5f.

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wird zum eigenständigen Spielen aufgefordert.197 Mit Aussagen wie den folgenden, soll ein Beispiel gegeben werden, warum sich das Gefühl der Isolation zunehmend verstärkt: ›What should I do?‹ asked Coraline. ›Read a book,‹ said her mother. […] ›Go and pester Miss Spink or Miss Forcible[…]. […] I don’t really mind what you do,‹ said Coraline’s mother, ›as long as you don’t make a mess.‹198 Coraline went to see her father. He had his back to the door as he typed. ›Go away,‹ he said cheerfully as she walked in. […] ›Why don’t you play with me?‹ she asked. ›Busy,‹ he said. ›Working,‹ he added. He still hadn’t turned around to look at her. ›Why don’t you bother Miss Spink and Miss Forcible?‹199

Wie unausgeglichen die Beziehungsstrukturen zu ihren Eltern sind, zeigt sich auch beim Einkauf der neuen Schulkleidung. Während ihre Mutter die Schulkleidung ohne Mitwirken Coralines aussucht, wandert diese im Geschäft umher und wird schnell fündig: ›But Mum, everybody at school’s got gray blouses and everything. Nobody’s got green gloves. I could be the only one.‹ Her mother ignored her ; she was talking to the shop assistant.200

Coraline möchte sich in der neuen Schule von der Masse abheben, doch diesen Wunsch ignoriert ihre Mutter. Mit dem Ausdruck »I could be the only one«201 wird vermittelt, dass sie ein Zeichen der Individualisierung setzen möchte und um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter kämpft. Die Missachtung ihrer Mutter findet ihren Höhepunkt ein paar Zeilen weiter : ›Coraline? Oh, there you are. Where on earth were you?‹ ›I was kidnapped by aliens‹, said Coraline […]. ›Yes, dear. Now, I think you could do with some more hair clips, don’t you?‹202

Die Frustration über die mangelnde Zuwendung steigert sich zunehmend. Diese kann als Auslöser für Ängste betrachtet werden, was David Rudd wie folgt ausformuliert:203 [The] fears about existence and identity [could be seen] as separate beings: our worry that we will either not be noticed (being invisible and isolated), or we will be completely consumed by another.204 197 198 199 200 201 202 203

Vgl.: ebd., S. 15f. Ebd., S. 4. Ebd., S. 15f. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd., S. 22. Vgl.: David Rudd: »An eye for an I: Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39 (2008), S. 159–168, (S. 1). 204 Ebd.

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Die von ihm angesprochenen Ängste machen sich bei Coraline deutlich bemerkbar. Sie wird nicht nur ignoriert, sondern auch ihres Mitspracherechts beraubt. So erfährt Coraline genau wie Conor ein Gefühl des Unsichtbarseins, das ihm seine Mitschüler’innen zuteil werden lassen. Bemerkbar macht sich ihr Schrei nach Hilflosigkeit auch auf Seite 15, auf der das englische Wort »Mist« optisch hervorgehoben ist.205 Hier wird die Symbol-/Textebene genutzt, um die fehlende Zugehörigkeit Coralines auszudrücken.206 Das »I« fällt aus dem Wort heraus.207 Es symbolisiert einerseits ihre Einsamkeit, andererseits das gestörte Bewusstsein der eigenen Identität.208 Den Individuationsprozess, den Coraline noch zu durchlaufen hat, macht ihr die Figur des Katers besonders deutlich: »Now, you people have names. That’s because you don’t know who you are.«209 Sie weiß nicht, wer sie ist und deshalb wird sie in der anderen Welt damit konfrontiert, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Wie im vierten Kapitel bereits festgestellt wurde, sind es die Ratten aus der Parallelwelt, die Coraline auf die Tür aufmerksam machen. Der dafür genutzte Schwellengang hinter der kleinen, alten Tür, ist als Symbol für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Inneren – den psychischen Konflikten der Figur – zu deuten. Der Schwellengang spiegelt demnach die adoleszente Reise wider, die sie antritt und die als Motiv genutzt wird. Der Weg zur Selbstfindung erweist sich für Coraline als besonders nervenaufreibend und kräftezehrend und wird im sechsten Kapitel weiter untersucht. Die in diesem Kapitel aufgezeigten Missstände, die die kindlichen Figuren kompensieren müssen, bilden die Grundlage für die ästhetische Ausgestaltung des Unheimlichen. Die Krisenhaftigkeit aufgrund der familiären Situation und das soziale Umfeld spannen den Bogen zur Analyse seelischer Vorgänge, die wiederum mit den Motiven des Unheimlichen verwoben sind.

Motive des Unheimlichen »[T]hings far closer to home […] are the more disturbing […].«210 So beschreibt David Rudd die bereits zitierte Kernaussage des Unheimlichen nach Freud. Kinder und Jugendliche »[…] not only want to but need to explore matters that 205 Vgl. Ebd., S. 2f. sowie: Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 15. 206 David Rudd: »An eye for an I: Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39 (2008), S. 159–168, (S. 2f.). 207 Ebd., S. 3. 208 Vgl.: ebd. 209 Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 35. [Hervorhebung im Original] 210 David Rudd: »An eye for an I: Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39 (2008), S. 159–168, (S. 4).

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affect their lives, albeit in their own time and fashion […].«211 Wichtig erscheint hier insbesondere der Ausdruck: »in their own time and fashion,« denn Kinder und Jugendliche setzen sich auf ihre eigene Art und Weise damit auseinander, was im Unbewussten schlummert. Ness und Gaiman zeigen uns, welche Räume, Gestalten oder Schwellengänge ihre Figuren nutzen, um ihre Krisensituation zu überwinden. Conor wird bereits am Anfang der Narration mit dem Motiv des Unheimlichen konfrontiert. Die Dunkelheit, das Mondlicht und der Friedhof direkt vor dem Schlafzimmerfenster sorgen für ein unbehagliches Gefühl.212 Die Konfrontation mit dem Monster, welches ihn anfangs nur nachts besucht, locken ihn aus seiner Komfortzone. Die »heimelig wirkende Konstante in Form eines Baumes«213 ist es, die Conor nun mit dem konfrontiert, was er in der Schule und innerhalb der Familie versucht zu verdrängen.214 Diesen Raum der Kompensation, der ihm nirgends geboten wird, schafft Conor unbewusst selbst. Er versucht mehrfach, die Geschehnisse zu rationalisieren, sie als einen Traum zu verharmlosen, doch gelingt es ihm nicht, den ungebetenen Gast abzuschütteln.215 Das Eibenmonster ignoriert ihn nicht, im Gegenteil: es fordert Conor heraus, sich der Wahrheit zu stellen, die ihn jede Nacht in einem Albtraum heimsucht. Der Albtraum, der für ihn schlimmer wirkt als sein schwieriges soziales Umfeld.216 Bereits bei der Beschreibung des Albtraums wird die Verzweiflung der Figur deutlich. Er steht inmitten einer Finsternis, umgeben von einem dunklen, undurchdringlichen Wald. Der einzige Weg ist eine Klippe, die in den Abgrund führt.217 Conor ist wie gelähmt, wodurch seine Ängste davor zum Ausdruck gebracht werden, seiner Mutter aufgrund mangelnder Kompetenz nicht helfen zu können. Das Gefühl einer Machtlosigkeit, die er in der Realität verspürt und die ihm unentwegt vor Augen geführt wird, trägt Conor mit sich selbst aus. In seiner Rolle als Vaterersatz, der sich um seine Mutter kümmert, kommt er sich unbewusst hilf- und machtlos vor. Das Auftreten des Monsters scheint in direkter Verbindungen mit der zunehmenden Ausweglosigkeit seiner Situation zu ste-

211 Ebd., S. 2. 212 Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 15. 213 Rachel Lupo: »Das Monster in uns – Projektionsfiguren zur Angstbewältigung am Beispiel von Sieben Minuten nach Mitternacht«, Hausarbeit Goethe-Universität Frankfurt am Main 2017, S. 8. 214 Eine Konstante ist die Eibe deshalb, weil sie seit Jahren auf dem Friedhof vor seinem Haus steht. Vgl.: Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 15. 215 Vgl.: ebd., S. 23 und S. 81. 216 Vgl.: ebd., S. 21 und S. 62. 217 Ebd., S. 186f.

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hen. Das Monster bestätigt dies damit, dass Conor ihn gerufen habe.218 Die Eibe ist jedoch »keine Figur der Harmonisierung […], die ein märchenhaftes Ende vorhersagt.«219 Sie dient dem Protagonisten vielmehr als therapeutischer Gesprächspartner zur Bewältigung innerer Konflikte, die ihn unbewusst (in seinen Träumen) heimsuchen. Da das Eibenmonster aufgrund eines unbewussten Wunsches erscheint, ist offensichtlich, warum es über einen besonderen Zugang zum Seelenleben der Figur aufweist und ihm »die Externalisierung seiner Gefühle ermöglicht.«220 Diese ambivalente fantastische Figur erweist sich als Repräsentanz der Schwelle zu Conners Unbewusstem. Sie hält ihm seine verdrängten Ängste vor Augen und bietet ihm die Möglichkeit, diese zu veräußern. Die therapeutische Funktion der vier Geschichten führen den Protagonisten schrittweise durch seine Identitätskrise und ermöglichen ihm die Möglichkeit, seine Frustrationen zu bewältigen, die anfangs nur auf der Traumebene zum Ausdruck gelangen. Das Eibenmonster verdeutlicht ihm auch, dass das Verbalisieren der Wahrheit ungeahnte Kräfte freisetzen kann. Die Wahrheit ist nicht immer fair oder moralisch,221 aber Menschen tragen egoistische Züge, was ebenfalls in den Geschichten des Monsters zum Vorschein kommt.222 »Weil Menschen komplizierte Geschöpfe sind, sagte das Monster.«223 So muss sich Conor selbst eingestehen, dass die Wutausbrüche, der gewaltsame Akt gegen Harry, aber auch das albtraumhafte Loslassen seiner Mutter ein sehr befreiendes Gefühl ist. Du musst die Wahrheit aussprechen, und du musst es jetzt tun, Conor O’Malley. Sprich sie aus. Du hast keine Wahl. […] Es wird dich umbringen, wenn du es nicht tust, sagte das Monster. Du musst es aussprechen. […] Ich halte es nicht aus zu wissen, dass sie gehen wird! Ich will einfach nur, dass es vorbei ist! Ich will, dass es aufhört! […] Du hast dir nur gewünscht, dass der Schmerz aufhört, sagte das Monster. Dein eigener Schmerz. Der dich so einsam gemacht hat.224

Aufhören sollen der Schmerz und das Schuldgefühl, welches Conor im Laufe der Krankheit seiner Mutter entwickelt hat. Das Gefühl der Machtlosigkeit fördert seine Isolation. Er hat sich so sehr damit abgefunden, das alleine durchstehen zu

218 Vgl.: ebd., S. 48. 219 Rachel Lupo: »Das Monster in uns – Projektionsfiguren zur Angstbewältigung am Beispiel von Sieben Minuten nach Mitternacht«, Hausarbeit Goethe-Universität Frankfurt am Main 2017, S. 8. 220 Ebd., S. 9. 221 Vgl.: ebd., S. 8. 222 Vgl.: Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 203. 223 Ebd., S. 203. [Hervorhebung im Original] 224 Ebd., S. 199ff. [Hervorhebung und Kursivschrift im Original]

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müssen, dass die unterdrückten »Erregungen«225 einen eigenen Weg gefunden haben, sich in die Außenwelt oder, gemäß Freud’scher Theorie, ins Bewusstsein des Ichs zu drängen.226 Conor war es selbst, der das Monster gerufen hat, weil er keine Möglichkeit mehr gesehen hat, aus der Schlinge der Schuld zu entkommen. Die Projektion seiner Gefühle haben ihm eine Form geboten, sich mit dem bevorstehenden Tod seiner Mutter auseinanderzusetzen und diesen akzeptieren zu lernen. Der Mangel an Frustrationstoleranz hat sich auf ungeahnte Maße ausgeweitet, wie die Dunkelheit, sobald das Licht erlischt. Doch wie es ihm das Monster prophezeit: »Wenn du die Wahrheit aussprichst, flüsterte das Monster ihm ins Ohr, wirst du allem ins Auge blicken können, egal was passiert.«227 Der Weg zur Überwindung seiner Identitätskrise zeigt sich also auf mehreren Ebenen. Um nun einen Bogen zu Freud zu schlagen, möchte ich meine These auf seine Theorie des psychischen Apparats anwenden. Die inneren Triebe, denen Conor unterliegt, könnten ein Grund für seine Persönlichkeitsstörung darstellen. Der gesellschaftliche Druck und das empfundene Schuldgefühl führen zu Wutausbrüchen und Isolation. Conor repräsentiert zunächst, gemäß der Freud’schen Theorie, das »Ich«, also den »Repräsentant[en] der Außenwelt.«228 »An diesem Ich hängt das Bewußtsein, es beherrscht die Zugänge zur Motilität, d. h.: zur Abfuhr der Erregungen in die Außenwelt.«229 Der verdrängte, innere Wunsch Conors, endlich von dieser Last befreit zu werden, wird auf der Traumebene transparent. Denn »[e]in Traum ist […] auch eine Projektion, eine Veräußerlichung eines inneren Vorgangs.«230 Freud stellt ebenfalls fest, dass das Individuum »[…] Mühe daran [verwendet], was ihm von innen her beschwerlich wird, nach außen zu versetzen, zu projizieren.«231 Das »Es«, welches die unterdrückten Gefühle und moralisch verwerflichen Wünsche offenbart, ist es, was Conor versucht zu verdrängen. Diese Ebene seiner Psyche wird von dem Monster in seinem Traum repräsentiert, welches ungezähmt und ungebändigt alles verschlingt, was ihm in den Weg kommt. Die Figur des Eibenmonsters übernimmt die Funktion des »Über-Ichs.« Das Über-Ich tritt Conor als moralischer Anwalt entgegen. Die ambivalente Figur des Baummonsters bietet genau das. Es rationalisiert die Impulse des »Es« und ermöglicht es Conor, über die Geschehnisse zu 225 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften«, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2009, S. 257. 226 Vgl.: ebd. 227 Siobhan Dowd / Patrick Ness: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017, S. 214. 228 Sigmund Freud: »Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften«, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2009, S. 274. 229 Ebd., S. 257. 230 Ebd., S. 158. 231 Ebd., S. 167. [Hervorhebung im Original]

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reflektieren. Die Wutausbrüche in der Wohnung seiner Großmutter und in der Schule, veranschaulichen das Durchbrechen innerer Triebe, die das Eibenmonster freisetzt, damit sich Conor Gehör verschaffen und auf seine inneren Konflikte aufmerksam machen, also: sichtbar werden kann. Der Kontrollverlust verängstigt den Jungen, genau wie die Wahrheit, die ihm das Eibenmonster versucht zu entlocken; die Wahrheit, die tief im Innern des Jungen vergraben ist. Conor kann mit den ihn überwältigenden Gefühlen nicht umgehen, da ein Ichideal »als Gewissen die moralische Zensur«232 ausübt. »Die Spannung zwischen den Ansprüchen des Gewissens und den Leistungen des Ichs wird als Schuldgefühl empfunden.«233 Dieses Schuldgefühl ist der Auslöser für sein Verhalten, aber auch eine Affekterscheinung des amoralischen Wunsches, seine Mutter loszulassen – sie gehen und damit sterben zu lassen, um sich aus dem Zustand der Isolation zu lösen. So kommt es, dass Conor sich in seiner Position überfordert fühlt und in die Ebene des »Es« entflieht – in eine Traumwelt, einen Kompensationsraum des unbewussten, triebhaften Anteils des Seelenapparats. Das Verbalisieren seiner Konflikte hilft ihm dabei, seine inneren Konflikte zu überwinden und ein ausgewogenes Verhältnis der Anteile seines Seelenapparats herzustellen. Dieser Kampf mit verschiedenen Anteilen seiner Persönlichkeit ist kräftezehrend, aber letztendlich lohnenswert, da sich Conor aus dem lähmenden Wartezustand seines Leidens befreit und schließlich sogar den Mut dazu findet, sich von seiner Mutter zu verabschieden. Die elfjährige Figur Coraline setzt sich ebenfalls mit ihren inneren Konflikten auseinander. Die zunehmende Isolation bestärkt ihren Wunsch nach einem Ort, an dem ihre Eltern sie umsorgen und sie im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit steht. Sie schafft dies, indem sie sich eine Tür zu einer anderen Welt öffnet. Der Einstieg in ihre dunklen Fantasien wird damit eingeleitet, dass Ratten ihr den Weg weisen. Sie repräsentieren das dunkle, unbewusste Verlangen nach einer Veränderung und die erste gespiegelte, grauenhafte Version von Mr. Bobos Mäusezirkus. Gaimans Text ist regelrecht überladen mit Motiven des Unheimlichen. Die schattenhafte Szene der Ratten, wird durch weitere Motive ergänzt. Etwas, was ebenfalls nicht greifbar erscheint, ist der Nebel. Das Nebelmotiv zieht sich durch den ganzen Roman und wird anfangs als Einstieg genutzt, um die Identitätskrise Coralines zu visualisieren.234 Als Coraline erstmals damit konfrontiert wird, befindet sie sich auf einer Entdeckungstour außerhalb des Hauses. Dort trifft sie auf Miss Spink, welche ihr erzählt, dass der Nebel etwas sei, worin man sich leicht

232 Ebd., S. 275. 233 Ebd. 234 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 15, S. 19, S. 61 und S. 71.

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verlieren kann.235 »You’d have to be an explorer to find your way around this fog.«236 Der Nebel könnte in diesem Sinne auch für etwas stehen, das das persönliche Unwohlsein Coralines zum Ausdruck bringt. Vor allem ist der Nebel eine Ursache dafür, nicht richtig sehen zu können – blind zu sein, die Umwelt nicht richtig wahrnehmen zu können: »The mist hung like blindness around the house.«237 Coralines Entdeckungstour im Nebel findet schnell ein Ende, da ihr Weg sie direkt zurück zu ihrem Startpunkt führt: »Coraline continued walking through the gardens in the gray mist. […] After about ten minutes of walking she found herself back where she had started.«238 Diese vorübergehende, natürliche Blindheit stellt auch den ihr selbst vernebelten Seelenhaushalt dar, in welchem sie sich nicht zurechtfindet. Der Umzug, die neue Schule, die bislang noch fehlende Integration in ein neues soziales Umfeld, beschäftigen Coraline mehr als sie es sich selbst eingestehen will. Diese undurchsichtige Masse findet auch später Erwähnung, als Coraline in der künstlichen Parallelwelt der Anderen Mutter mit einem Raum aus Nichts konfrontiert wird. The world she was walking through was a pale nothingness, like a blank sheet of paper or an enormous, empty white room. It had no temperature, no smell, no texture, and no taste.239

Der Ausdruck »taste« findet im Zusammenhang mit dem Unheimlichen häufig Verwendung. Besonders bei Kindern und Jugendlichen, die Frustrationstoleranz erst erlernen müssen, steht das Essensmotiv stark im Fokus. Auch bei Coraline ist das Motiv des Essens und des Einverleibens relevant. Durch den symbolischen Wiedereintritt in den Raum der Sicherheit und Geborgenheit der Gebärmutter, der wiederum durch einen »geburtskanalähnlichen Tunnel«240 hinter der geheimnisvollen Tür erfolgt, bleibt das symbolische Nähren auch weiterhin präsent. Die Andere Mutter bereitet ihr nämlich alles zu, was sie sich wünscht. Das Motiv des Essens repräsentiert gemäß Freud die Geborgenheit und Sicherheit der oralen Phase.241 Roderick McGillis untersucht das Motiv des Essens anhand verschiedener Beispiele. Ein bekanntes Beispiel ist beispielsweise Wo die

235 236 237 238 239 240

Vgl.: ebd., S.15. Ebd. Ebd., S. 19. Ebd., S. 15. Ebd., S. 71. Vgl.: David Rudd: »An eye for an I: Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39 (2008), S. 159–168, (S. 13). 241 Vgl:. Roderick McGillis: »The Nimble Reader. Literary Theory and Children’s Literature«, New York: Twayne 1996, S. 77ff.

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wilden Kerle wohnen242 von Maurice Sendak. Der kindliche Protagonist Max stürmt mit seinem Wolfskostüm durch die Wohnung, weshalb er ohne Abendessen von seiner Mutter ins Bett geschickt wird. In seiner fantasierten Traumwelt – erschaffen aus Frust, nicht alles haben zu können – wird ihm seine Einsamkeit nach kurzer Zeit bewusst und weckt den Wunsch danach, zurückzukehren. As a reward for successfully repressing his aggressions, Max’s supper is waiting for him when he returns from his fantasy journey. […] The food reminds us, and Max, that his mother still loves him.243

McGillis stellt fest, dass »[c]hildrens books generally emphasize the pleasure of eating, the pleasures associated with oral gratification.«244 Das Zubereiten und Servieren von Köstlichkeiten dienen dazu, sich ihre Liebe zu erkaufen sowie »to gratify the bodily needs.«245 Ihre Bedürfnisse zu befriedigen, liegt auch im Interesse von Coraline, weshalb die Figur der Anderen Mutter als das lesbar wird, was Coraline tief in ihrem Inneren zu verdrängen versucht. Die Figur der Anderen Mutter ließe sich mit Freud als das ungebändigte Tier verstehen, das seinen Willen durchsetzt und Besitz von Coraline ergreifen möchte. Rudd stellt in seinem Artikel deshalb fest: »To be totally all for someone, in fact, is to cease to exist, to be possessed (which is what the other mother offers).«246 Die Andere Mutter offenbart schrittweise ihre eigentlichen Absichten: mit Coraline Eins zu werden, sie zu besitzen und zu kontrollieren, wie alles andere in dieser Parallelwelt auch. Das Entfernen der Augen, um Coraline in die andere Welt aufzunehmen beschreibt, was Rudd oben bereits dargestellt hat: »the prospect of being sutured to the mother forever, of being ›buried alive‹. In short, the other mother offers to replace Coraline’s eye with her own I: an eye for an I, in fact.«247 So drängt sich das Bild des Ersetzens oder Einverleibens wieder in den Vordergrund. Die grotesk gezeichnete Gestalt der Mutter wandelt sich, sobald Coraline einen weiteren Schritt auf ihrem Reifeprozess vollzieht. Das Mutterideal und der Wunsch Coralines immer »the only one«248 zu sein, erinnern an den Narzissmus, ein Aspekt, der die psychoanalytische Lesart entsprechend erweitert: 242 Maurice Sendak: »Wo die wilden Kerle wohnen«, aus dem Amerikanischen von Claudia Schmölders, Zürich: Diogenes 2008. 243 Roderick McGillis: »The Nimble Reader. Literary Theory and Children’s Literature«, New York: Twayne 1996, S. 81. 244 Ebd., S. 80. 245 Ebd. 246 David Rudd: »An eye for an I: Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39 (2008), S. 159–168, (S. 9). [Hervorhebung im Original] 247 Ebd., S. 7. 248 Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 21.

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[A]t one time in a child’s life, the child does not differentiate between himself or herself and the mother. The formation of the ego necessitates the child learning to differentiate between himself or herself and the Other (i. e., the mother[…]).249

Coraline befindet sich also gerade in einem Stadium ihrer Pubertät, in dem sie sich mit ihrem Selbst auseinandersetzen und die unterschiedlichen Anteile ihres Seelenapparats akzeptieren muss. Durch das egoistische Verhalten, als Einzige wahrgenommen zu werden, gerät der eigentliche Fokus aus den Augen: Aus ihren Fehlern zu lernen und an ihnen zu wachsen. Der grauenhafte Wandel der Gestalt der Anderen Mutter repräsentiert gleichzeitig den Wandel Coralines von einem narzisstischen, egoistischen jungen Mädchen zu einem selbstständigen und selbstbewussten Individuum.250 Bewusst wird ihr dieser Wandel, als sie in einen Spiegel eingesperrt wird.251 Die Spiegelmotivik erfüllt in diesem Zusammenhang die Aufgabe, dass sich die Protagonistin aktiv mit ihrer Selbstwahrnehmung auseinandersetzt. Das Reflektieren des Spiegelbildes stellt in der infantilen Phase den ersten Moment dar, in dem das Kind sich einer Individualität gewahr wird.252 Lacan beschreibt das s. g. Spiegelstadium der infantilen Phase wie folgt:253 Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung. […] Die Funktion des Spiegelstadiums erweist sich uns nun als ein Spezialfall der Funktion der Imago, die darin besteht, daß sie eine Beziehung herstellt zwischen […] der Innenwelt und der Umwelt.254

So nutzt Gaiman das Spiegelmotiv, um die Identitätskrise Coralines in einer fantastischen Parallelwelt auszugestalten. Coralines Ich wird nämlich einer »Symmetrie unterworfen […], die ihre Seiten verkehrt.«255 Als sie dann noch in dem Spiegel eingesperrt wird, in dem die Andere Mutter kein Spiegelbild aufweist, muss sie schmerzlich erkennen, dass ihre eigenen Bedürfnisse nicht immer im Vordergrund stehen können. Die sich wandelnde Gestalt der Mutter spiegelt also die sich wandelnde Selbstwahrnehmung Coralines. McGillis beschreibt diese Erkenntnis davon, ein Anderes in sich selbst wahrzunehmen als

249 Roderick McGillis: »The Nimble Reader. Literary Theory and Children’s Literature«, New York: Twayne 1996, S. 82. 250 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 126. 251 Vgl.: ebd., S. 77ff. 252 Vgl.: Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint«, Ders.: Schriften I, aus dem Französischen von Rodolphe Gasch8 u. a., Berlin: Quadriga 1991, S. 61–70, (S. 64). 253 Vgl.: ebd. 254 Ebd., S. 64f. [Hervorhebung im Original] 255 Ebd., S. 64.

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die Erfahrung »of the mirrorstage, or that stage in [her] development when [she] recognizes [herself] as the Other.«256 Gleichermaßen in den Fokus rücken intertextuelle Verweise auf den Sandmann bzw. Freuds Theorie des Unheimlichen. Gaiman, der sich in seiner Comicreihe Sandman257 über Jahre hinweg mit dem Motiv befasste, nutzt dieses auch in Coraline, um ein mögliches Trauma innerhalb der Narration auszugestalten; initiiert wird das Motiv durch das Erscheinen der Ratten. Ihre zentrale Funktion innerhalb des Textes ist die Spionage, sie repräsentieren »die Augen der anderen Mutter.«258 Durch die Absicht der Anderen Mutter, Coralines Augen durch Knöpfe zu ersetzen, wandelt sich die positiv gefärbte Parallelwelt in etwas Grauenhaftes. Der Augenraub kann also für das endgültige Loslösen des Kindes aus der engen Bindung zu den Eltern stehen, oder für den Identitätsverlust, den Coraline dadurch erleiden würde.259 Das Motiv des Augenraubs wird von Rudd einerseits mit dem Aspekt des Verlusts der eigenen Seele verglichen, aber auch an der psychoanalytischen Erfahrung des Kastrationskomplexes gemessen.260 Coraline’s button replacements have the related association of giving up one’s soul, the eyes being its windows. Aside from paying the ferrymen, this was one reason the eyes were covered with coins: to keep them shut; just as mirrors were covered when someone died, in case their soul might go into the mirrored surface and haunt the living.261

Die eingesperrten Seelen der drei Kinder führen Coraline buchstäblich vor Augen, welches Schicksal sie erwartet, falls sie sich nicht gegen die Andere Mutter auflehnt. Auch Freud verweist darauf, daß es eine schreckliche Kinderangst [sei], die Augen zu beschädigen oder zu verlieren. […] [D]ie Angst um die Augen, die Angst zu erblinden, [sei] häufig genug ein Ersatz für die Kastrationsangst […].262

Die Angst vor dem Verlust der Augen ist nicht im eigentlichen Sinne mit dem Verlust eines anderen sensiblen Organs zu vergleichen, wie im dritten Kapitel konstatiert wurde:

256 Roderick McGillis: »The Nimble Reader. Literary Theory and Children’s Literature«, New York: Twayne 1996, S. 83. 257 Vgl.: David Rudd: »An eye for an I: Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39 (2008), S. 159–168, (S. 6). 258 Ebd., S. 9. 259 Vgl.: ebd., S. 7. 260 Vgl.: ebd., S. 4, S. 6 und S. 7. 261 Ebd., S. 7. 262 Sigmund Freud: »Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften«, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2009, S. 243.

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It seems more plausible to read it symbolically (as do both Lacan and Kristeva), where it is our entry into language that results in the world being chopped up into fragmentary signifiers, denying us access to that wholesome oneness we image we once experienced.263

Der Verlust der Augen ist somit gleichzeitig mit dem Auffinden der eigenen zerstückelten Sprache gleichzusetzen. Das Eins werden, also die Rückführung in den Mutterleib, tritt hiermit ebenfalls zum Vorschein und bestätigt die These, dass das triebgesteuerte Es, in diesem Fall die Andere Mutter, Besitz über das Ich, also Coraline, ergreifen möchte. Der einzig möglich erscheinende Ausweg zur Befreiung aus den »Klauen der anderen Mutter«264 ist das Motiv der Kastration: Indem Coraline der anderen Mutter die Tür vor der Nase zuschlägt, verliert diese ihre Hand. Die abgetrennte Hand der anderen Mutter ist der letzte zu überwindende Persönlichkeitsanteil Coralines. Mit ihrem Hinterhalt, die Hand in die Tiefen des Brunnens zu locken, wird erneut an die symbolische Rückkehr in den Mutterleib erinnert.265 Die Andere Mutter kann also als das kastrierte Objekt gesehen werden, welches Coraline verlieren muss, um sich aus ihrem narzisstisch, egoistischen Verhalten zu lösen und Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen. Im Kampf um die letzte Seele erlangt sie dann die Erkenntnis: »I don’t want whatever I want. Nobody does. Not really.«266 Getrieben von ihrer neu geschöpften Kraft, befreit sie sich aus ihrer Abhängigkeit und dem Schuldgefühl ihren Eltern gegenüber und wird mit einer warmen Mahlzeit im Beisammensein ihrer Eltern belohnt.267 Der Weg aus der Identitätskrise wird beiden Figuren durch ein prototypisches Angstobjekt vermittelt. Einem Objekt, das nicht unbekannt ist. Hier greift Freuds theoretischer Ansatz, dass das verdrängte Triebverhalten als Affekt zum Vorschein tritt; nämlich der Angst. Während sie bei Conor die Gestalt eines unbändigen Monsters einnimmt, das tagsüber und nachts Besitz von ihm ergreift, präsentiert es sich bei Coraline in Form einer grauenvollen Doppelgängerin ihrer Mutter. Die verdrängten Gefühle finden in beiden Romanen ein Ventil und ermöglichen es Conor und Coraline sich mit sämtlichen Ebenen ihres seelischen Apparats bzw. mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen auseinanderzusetzen. Sie haben sich einerseits dem Über-Ich und dessen Verpflichtungen, moralischen Geboten und Verboten stellen müssen, und wurden andererseits mit dem triebhaften Es konfrontiert, das in der Parallelwelt/ Traumwelt seinen Platz hat. Sie sind gezwungen, sich mit beiden Instanzen 263 David Rudd: »An eye for an I: Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39 (2008), S. 6. 264 Ebd., S. 5. 265 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012, S. 157. 266 Ebd., S. 118. [Hervorhebung im Original] 267 Vgl.: ebd., S. 139.

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(Über-Ich und Es) auseinanderzusetzen, um ein ausgewogenes Verhältnis ihres Selbst zu generieren und gestärkt aus dieser unheimlichen Erfahrung hervorzugehen. Das Unbewusste, das als Rückzugsort und Kompensationsraum der eigenen Ängste und Frustrationen dienen sollte, wendet sich auf der Logik der Narrationen gegen das Ich. Es projiziert Wut- und Rachefantasien und trägt diese von Innen nach Außen. Conors Externalisierung seiner Gefühle schlagen in Gewalt um; Coralines hingegen repräsentieren die bösen Absichten der Anderen Mutter, sie zu verdinglichen. Sowohl Conor als auch Coraline versuchen, ihr triebhaftes, inneres Monster mit sich selbst zu vereinen. Die psychoanalytische Lektüre lenkt den Fokus darauf, dass die unheimliche Konfrontation mit den fantastischen Wesen als aktive Auseinandersetzung mit den drei Instanzen des seelischen Apparats (Über-Ich, Ich und Es) lesbar wird. Erst nachdem es ihnen gelingt, diese auszubalancieren, kehren sie als gestärkte Persönlichkeiten in die fiktive Realität zurück.

Fazit Sieben Minuten nach Mitternacht und Coraline bedienen sich zwar unterschiedlicher Motive, um die Krisenhaftigkeit der beschriebenen Pubertätsphasen innerhalb der Romane zu veranschaulichen, doch gelingt es den Figuren in beiden Fällen, aus einer Identitätskrise als gestärkte Persönlichkeiten hervorzutreten. Im ersten Teil der Analyse wurde mit Fokus auf die narratologische Struktur veranschaulicht, welche Aspekte des Unheimlichen nutzbar gemacht werden, um krisenhafte Situationen auszugestalten. Festgestellt werden konnte, dass sowohl Ness als auch Gaiman mit den Formen der Sprache spielen, um Unsicherheiten zu erzeugen und die Lesenden zu lenken. Die Machtlosigkeit Conors und dessen Schuldgefühle seiner Mutter gegenüber zeigen, dass dieser das Monster imaginiert, um sich selbst von seiner verdrängten Wahrheit zu befreien. Der Kampf Coralines gegen ihr gespiegeltes Selbst in Form einer grotesk gezeichneten Parallelwelt, machen es unerlässlich, sich mit ihren verdrängten Gefühlen auseinanderzusetzen. Die in diesem Kapitel herausgearbeiteten Gründe für die Isolation und Flucht in einen Raum der Kompensation sind Teil der Persönlichkeitsentwicklung der Figuren, die den Lesenden schrittweise offenbart werden. Im sechsten Kapitel konnten verschiedene Motive des Unheimlichen in beiden Romanen nachgewiesen werden. Wichtig in diesem Abschnitt des Beitrags war des Weiteren, dass sich die Struktur des psychischen Apparates im Sinne Freuds in beiden Romanen als sinnvolles Analyseinstrument erwiesen hat. Zum

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Potenzial psychoanalytischer Literaturinterpretation für die Kinder- und Jugendliteratur ist zu resümieren, dass diese schon aus dem Grund stets in Erwägung gezogen werden sollte, da nach Freud’scher Theorie die prägendste Phase für das Individuum bereits in der Kindheit verankert zu sein scheint.268 Eine Fragestellung, die noch weiterer Untersuchung bedarf, ist die Darstellung von Text und Bild in Sieben Minuten nach Mitternacht bzw. die Funktion und Wirkungsästhetik der Illustrationen. Interessant wäre zudem ein Vergleich des Stop-Motion Animationsfilms Coraline269 mit dem Ausgangstext. Geschickt in Szene gesetzt hat Regisseur Henry Selick in der Verfilmung die Motive des Unheimlichen, die die Freud’sche Theorie noch weiter ausgestalten. Darüber hinaus wäre ein Vergleich der beiden Romane im Hinblick auf die Traumtheorie und Traumdeutung lohnenswert gewesen, was jedoch zu weit geführt hätte.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Carroll, Lewis: »Alice’s Adventures in Wonderland & Through the Looking-Glass«, London: Macmillan 2016. Dowd, Siobhan / Ness, Patrick: »Sieben Minuten nach Mitternacht«, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, München: cbj 2017. Gaiman, Neil: »Coraline«, New York: HarperCollins 2012. Sendak, Maurice: »Wo die wilden Kerle wohnen«, aus dem Amerikanischen von Claudia Schmölders, Zürich: Diogenes 2008.

Filme Henry Selick: »Coraline. Pass auf, was du dir wünschst«, Universal Pictures Germany 2011.

Sekundärliteratur Bendel, Christian: »Die Innenweltdarstellung in der realistischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts. Formen- und Funktionswandel – Eine erzähltheoretische Untersuchung zur Bestimmung und Präzisierung gattungstypischer Phänomene«, Hamburg: Kovac 2008. 268 Vgl.: Sigmund Freud: »Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften«, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2009, S. 273. 269 Henry Selick: Coraline. Pass auf, was du dir wünschst, DVD, 97 min., Universal Pictures Germany, 2011.

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Freud, Sigmund: »Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften«, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2009. Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, Ders.: Werke aus den Jahren 1917–1920. Gesammelte Werke, Bd. 12, London: Imago Publishing 1947, S. 229–268. Freud, Sigmund: »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens«, Ders.: Werke aus den Jahren 1909–1913. Gesammelte Werke, Bd. 8, London: Imago Publishing 1943, S. 229–238. Freud, Sigmund: »Psychoanalyse und Libidotheorie«, Ders.: Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es. Gesammelte Werke, Bd. 13, London: Imago Publishing 1940, S. 209–233. Haas, Gerhard: »Struktur und Funktion der phantastischen Literatur«, in: Wirkendes Wort, 28, 1978/5, S. 340–356. Holder, Alex: »Einleitung«, Freud, Sigmund: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2009, S. 7–28. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint«, Ders.: Schriften I, aus dem Französischen von Rodolphe Gasch8 u. a., Berlin: Quadriga 1991, S. 61–70. Lehnert, Gertrud: »Moderne und postmoderne Elemente in der phantastischen Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts«, Ewers, Hans-Heino/Lypp, Maria/ Nassen, Ulrich (Hrsg.): Kinderliteratur und Moderne. Ästhetische Herausforderungen für die Kinderliteratur im 20. Jahrhundert, Weinheim-München: Beltz Juventa 1990, S. 175–195. Lupo, Rachel: »Das Monster in uns – Projektionsfiguren zur Angstbewältigung am Beispiel von Sieben Minuten nach Mitternacht«, Hausarbeit Goethe-Universität Frankfurt am Main 2017. Mart&nez, Mat&as / Scheffel, Michael: »Einführung in die Erzähltheorie«, 9. erweiterte und aktualisierte Aufl., München: C. H. Beck 2012. McGillis, Roderick: »The Nimble Reader. Literary Theory and Children’s Literature«, New York: Twayne 1996. Rudd, David: »An eye for an I: Neil Gaiman’s Coraline and Questions of Identity«, in Children’s Literature in Education, 39 (2008), S. 159–168. Weinmann, Andrea: »Zwischen Angst und Lust. Zur Entwicklung der deutschsprachigen Gruselliteratur für junge Leser von den 1950er Jahren bis heute«, in kjl& m, 15.4., München: Kopaed 2014, S. 19–28.

Internetquellen Novalis / Kamnitzer, E. / von Hardenberg, Friedrich: »Fragmente I. Dresden 1929«, verfügbar unter : http://gutenberg.spiegel.de/buch/fragmente-i-6618/6, [22. 05. 2018]. »Definition Psychoanalyse aus dem Katalog der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung«, verfügbar unter : https://www.dpv-psa.de/service/infos-fuer-patienten/was-istpsychoanalyse/, [04. 06. 2018]. »Duden Definition«, verfügbar unter : https://www.duden.de/rechtschreibung/na_Inter jektion_Partikel, [04. 06. 2018].

Rieke Neupert

Zur Gruppendynamik in Janne Tellers Nichts. Was im Leben wichtig ist – Anführermotiv und Kollektivhalluzination nach Freud und Le Bon

Einleitung Der vorliegende Beitrag fokussiert die Gruppendynamik in Janne Tellers Jugendroman Nichts. Was im Leben wichtig ist.1 Diese Dynamik wird im Hinblick auf das Anführermotiv und die Kollektivhalluzination nach Freud und Le Bon analysiert. Ausgangspunkt ist die These, dass die Figur Pierre Anthon als Anführer in Form eines Aggressors (Freud) und daher als eine Kollektivhalluzination (Le Bon/Freud) der Kindergruppe in Janne Tellers Roman gelesen werden kann. Im ersten Kapitel werden in Kürze die entsprechenden massenpsychologischen Theorien Freuds und Le Bons als Grundlagen thematisiert. Daraufhin wird in der Textanalyse, die den Hauptteil des Beitrags ausmacht, argumentativ zunächst der Frage nachgegangen, inwiefern Pierre Anthon als Anführer der Kindergruppe fungiert. Diese Untersuchung folgt den Ausführungen und Definitionen von Freud und Le Bon über die Merkmale einer Gruppe oder eines Anführers und deren Verhältnis. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Frage, ob Pierre Anthon oder Jan-Johann der Anführer der Kindergruppe ist. Anschließend wird innerhalb dieser Textanalyse als eine zweite und fortführende Frage untersucht, ob der Anführer Pierre Anthon tatsächlich als eine, innerhalb der Fiktion der Diegese, reale Person zu betrachten ist, oder ob der Text nicht viel mehr auf eine Kollektivhalluzination der Kindergruppe hinweist. Pierre Anthon wäre in diesem Fall eine Einbildung der Kinder und nur in seiner Rolle als Anführer für die Gruppe existent. Die These der Entwicklung einer Kollektivhalluzination durch die beschriebene Kindergruppe wird auch durch die auffällige stilistische Textgestaltung unterstützt, die von Surrealismus und Metaphorik geprägt ist.

1 Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, 12. Aufl., aus dem Dänischen von Sigrid Engeler, München: Hanser 2017 [2000].

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Grundlagen Im Folgenden werden in Kürze die Überlegungen Freuds und Le Bons dargestellt, welche die psychoanalytische Grundlage für die Beantwortung der These bilden. Die hier skizzierten Überlegungen werden später aufgegriffen, um abzugleichen, ob es sich bei Pierre Anthon um einen Anführer im Sinne Freuds und Le Bons handelt. Zudem wird herausgearbeitet, welche Merkmale eine Masse kennzeichnen und eines dieser Merkmale: der Anführer, näher bestimmt.

Der Anführer nach Freud und Le Bon: Die Definition der Masse Eine Masse ist gemäß Freud eine Menge an Menschen, die sich zu einer gewissen Zeit und zu einem bestimmten Zweck organisiert und nach einem sozialen Trieb, einem »group mind« funktioniert.2 Sie ist impulsiv, wandelbar, reizbar, fast ausschließlich vom Unbewussten geleitet und so gebieterisch, dass die Individuen in der Masse sogar ihren Selbsterhaltungstrieb aufgeben.3 In ihrer Überschwänglichkeit geht sie sofort zum Äußersten; ein Keim von Antipathie kann zum wilden Hass werden, denn in der Masse schwinden alle Hemmungen und grausame, brutale, destruktive Instinkte werden geweckt. Beeinflussbar, leichtgläubig und unkritisch lässt sie sich von äußeren Reizen und Einflüssen steuern. Die Individuen einer Masse können diese Reize durch Aktion und Reaktion aufeinander gegenseitig steigern (Affektsteigerung).4 Als Merkmal ihrer Beeinflussbarkeit unterliegen Massen der magischen Macht von Worten; diese können besänftigen aber auch furchtbarste Stürme auslösen. Das Individuum in der Masse erfährt einen starken Persönlichkeitsschwund auf Grund der Ersetzung des Ichideals durch ein sie bestimmendes Objekt.5 Dies kann Demut, Einschränkung des Narzissmus und Selbstschädigung des Individuums zur Folge haben.6 Mit diesem Zurücktreten des Persönlichen und der Ersetzung des Ichideals jedes Einzelnen durch dasselbe Objekt, identifizieren die Individuen der Masse sich über dieses und damit miteinander.7 Alle Mitglieder haben ein gemeinsames Interesse.

2 Vgl.: Sigmund Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, 7. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2005 [1921], S. 34. 3 Vgl.: ebd., S. 40. 4 Vgl.: ebd., S. 48. 5 Vgl.: ebd., S. 75ff. 6 Vgl.: ebd., S. 75. 7 Vgl.: ebd., S. 77.

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Der Anführer als Voraussetzung der Masse Dass eine Masse nun in dieser Form besteht, wird erst möglich, wenn es einen Anführer gibt, der sie beherrscht; »sie lebt nur durch ihn«8, so Freud. Er ist es, der an die Stelle des Ichideals tritt und eine Identifizierung für alle Individuen der Masse ermöglicht.9 Diese sucht sich also instinktiv ein Oberhaupt. Einen solchen Anführer müssen jedoch auch bestimmte Merkmale kennzeichnen. So muss er gemäß Freud von einem Glauben oder einer Idee fasziniert sein, um diese Faszination auch in der Masse auszulösen und obwohl die Masse als so beeinflussbar gilt, muss der Anführer ihr mit einem besonders starken Willen entgegentreten, um diesen auf die Masse zu übertragen, damit sie ihm gehorcht.10 Wer auf die Massen einwirken will, so Freud, muss in Bildern malen, übertreiben und immer das gleiche wiederholen.11 Freud beschreibt den Anführer als unabhängig, narzisstisch und selbstständig – die Individuen der Masse fürchten ihn,12 ihm gegenüberzutreten wäre ein Wagnis.13 Der Anführer hat zudem ein gewisses Prestige, welches Le Bon als eine unwiderstehliche Macht beschreibt, die eine hypnotische Wirkung hat und die die Masse in Staunen versetzt.14 Der Anführer versucht dabei, das Interesse der Masse vollkommen auf sich und seine Vision, oder seinen Glauben zu lenken, sodass alles andere unwichtig wird.15 Freud nimmt das Konzept der Hypnose auf und spricht von zwei verschiedenen Arten der Hypnose: einer schmeichlerischen oder begütigenden und einer drohenden.16 Ein Anführer muss nach Freud allerdings nicht zwingend ein positiver sein, der die Zustimmung seiner Anhänger*innen erhält und mit Begeisterung gefeiert wird. Ein Anführer, der negativ auf seine Masse wirkt – in diesem Fall der Anführer als Aggressor einer Masse – kann ebenso beeinflussend sein. Der Hass gegen den Anführer, eine Institution oder ähnliches, ruft ähnliche Gefühlsbindungen hervor und wirkt ebenso wie die positive Anhänglichkeit.17

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Ebd., S. 90. Vgl.: ebd., S. 90. Vgl.: ebd., S. 44. Vgl.: ebd., S. 41f. Vgl.: ebd., S. 87. Vgl.: ebd., S. 89. Vgl.: ebd., S. 44. Vgl.: ebd., S. 88. Vgl.: ebd., S. 89. Vgl.: ebd., S. 63.

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Suggestion und kollektive Halluzination – Die Neigung der Massen zur Halluzination Massen zeichnen sich gemäß Le Bon durch eine übermäßige Beeinflussbarkeit aus. Sie lassen sich mit Leichtigkeit nicht nur von Worten, sondern auch von Vorstellungen beeinflussen. Gedanken und Gefühle der Masse werden so umgeformt. Le Bon bezeichnet die Masse dementsprechend als einen Spielball äußerer Reize.18 Auch Freud beschreibt die Masse als äußerst suggestiv.19 Diese Suggestion werde durch Gegenseitigkeit gesteigert.20 Nach dem Eingehen eines äußeren Reizes und als eine Reaktion auf diesen, neigt die Masse sogar dazu, fixe Ideen zu entwickeln.21 Zu der Beeinflussbarkeit als eine Reaktion auf äußere Reize kommt die Leichtgläubigkeit der Massen, die Le Bon beschreibt. Nichts erscheint der Masse als unwahrscheinlich.22 Diese Eigenschaften machen eine Einbildung – die Entwicklung einer Halluzination – sehr wahrscheinlich. Eine Masse ist zudem, wie zuvor als eines ihrer prägenden Merkmale herausgestellt wurde, durch ihren Anführer oder die führende Idee hypnotisiert, wodurch laut Le Bon das Verstandesleben lahmgelegt ist und sie Sklave ihrer unbewussten Kräfte wird.23 Das bedeutet, dass den Einzelnen innerhalb einer Masse nicht mehr zugetraut werden kann, dass sie klare Gedanken fassen, etwa in der Art, Reales und Surreales voneinander zu trennen. Le Bon formuliert dazu treffend, dass alle Mitglieder der Masse, sobald sie der Masse angehören, unfähig zur (Selbst-)Beobachtung werden.24 Diese soeben ausgeführten Eigenschaften machen die Masse äußerst empfänglich für Einbildungen und Täuschungen. So gelangt auch Freud zur Erkenntnis: Sie fordern Illusionen, auf die sie nicht verzichten können. Das Irreale hat bei ihnen stets den Vorrang vor dem Realen, das Unwirkliche beeinflusst sie fast ebenso stark wie das Wirkliche.25 18 Vgl.: Gustave Le Bon: »Psychologie der Massen«, 15. Aufl., Stuttgart: Kröner 1982 [1895], S. 15ff. 19 Vgl.: Sigmund Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, 7. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2005 [1921], S. 52. 20 Vgl.: ebd. sowie Gustave Le Bon: »Psychologie der Massen«, 15. Aufl., Stuttgart: Kröner 1982 [1895], S. 17. 21 Vgl.: Gustave Le Bon: »Psychologie der Massen«, 15. Aufl., Stuttgart: Kröner 1982 [1895], S. 22. 22 Vgl.: ebd., S. 22. 23 Vgl.: ebd., S. 16. 24 Vgl.: ebd., S. 24. 25 Sigmund Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, 7. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2005 [1921], S. 43.

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Hinzu kommt schließlich die im Kontext der Einbildung wohl prägendste Eigenschaft der Masse: ihre entstellende Fantasie. Ereignisse werden mit Zusätzen dieser entstellenden Fantasie vermengt, bis die Mitglieder der Masse in ihrem Bewusstsein die Bilder, die oft nur entfernt den Tatsachen entsprechen, für Wirklichkeit halten. Durch Übertragung innerhalb der Masse kommt es dabei zu einer gleichen Entstellung für alle; die Täuschung funktioniert kollektiv, es entsteht eine Kollektivhalluzination.26

Der eingebildete Anführer Ist es also möglich, dass sogar der Anführer einer Masse eingebildet ist? Seine Äußerungen zum Anführer einer Masse konkretisiert Freud und stellt die Überlegung an, dass ein Anführer auch ersetzt werden könnte durch eine Idee oder ein Abstraktes.27 Le Bon erwähnt ebenfalls nicht nur den personifizierten Anführer einer Masse, sondern spricht auch einer Idee eine geheimnisvolle, unwiderstehliche Macht zu, nämlich das schon erwähnte Prestige. Auch attestiert Le Bon dem Anführer eine weniger große Bedeutung als der durch ihn transportierten Idee.28 Die Möglichkeit, dass kein Anführer, sondern stattdessen nur eine Idee in derselben Weise auf die Masse wirkt, besteht also. Wie diese Idee von der Masse nun als eine anführende Person wahrgenommen werden kann, zeigt sich bei der Betrachtung des Hypnosevorgangs. Die Hypnose der Masse findet, wie bereits erwähnt, durch den Anführer statt. Diese wird eingeleitet, indem der Hypnotiseur behauptet, im Besitz einer geheimnisvollen Macht zu sein, die dem Subjekt den eigenen Willen raubt. Nun ergänzt Freud allerdings, dass es nicht unweigerlich eine Person geben muss, die diese Aussage tätigt, sondern, dass es vollkommen ausreichend, sogar dasselbe sei, wenn das Subjekt glaubt, das führende Element habe diese Macht.29 Das bedeutet, dass die Vorstellung eines Anführers, der eine solche Macht hat, allein von der Gruppe ausgehen könnte; die Gruppe sich also allein durch ihren Glauben, eine Einbildung sozusagen, einen Anführer konstruieren kann. Zudem stellen Freud und Le Bon fest, dass der suggestive Einfluss, der die Gruppe so stark bestimmt, nicht nur vom Anführer ausgeübt werden kann, 26 Vgl.: Gustave Le Bon: »Psychologie der Massen«, 15. Aufl., Stuttgart: Kröner 1982 [1895], S. 23. 27 Vgl.: Sigmund Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, 7. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2005 [1921], S. 62f. 28 Vgl.: ebd., S. 44. 29 Vgl.: ebd., S. 87.

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sondern auch von jedem Einzelnen auf jeden Einzelnen ausgeübt wird.30 Freud spricht in diesem Zusammenhang von einem Faktor gegenseitiger Suggestion.31 Auf diese Weise könnte durch eine Affektsteigerung mittels gegenseitiger Suggestion aus einer Idee eine Einbildung entstehen.

Analyse Um festzustellen, ob Freuds und Le Bons Überlegungen auf die Kindergruppe in Janne Tellers Roman anwendbar sind, soll kurz geklärt werden, dass es sich dabei eindeutig um eine wie zuvor beschriebene Masse handelt. Eine Masse bildet sich nach Freud zu einer gewissen Zeit und zu einem bestimmten Zweck.32 Das auslösende Moment der Konstitution der Kindergruppe ist jenes, in dem Pierre Anthon das Klassenzimmer verlässt; der Zweck der, auf seine Reize zu reagieren. Als reizbar und impulsiv zeigt sich die Gruppe, wenn Pierre Anthon sie mit seinen Worten so sehr provoziert, dass sie auf ihn losgeht und ihn schließlich tötet. In dem Persönlichkeitsschwund, der durch die starke Typisierung der Figuren zum Ausdruck kommt, zeigt sich, dass der Selbsterhaltungstrieb stetig zurücktritt. Die Typisierung wird besonders deutlich an der Figur Marie-Ursula, deren Name fast ausschließlich mit dem Zusatz erwähnt wird, dass sie sechs blaue Zöpfe hat. Sie wird auf diese reduziert und als diese abgeschnitten werden, kommentiert die Ich-Erzählerin, dass Marie-Ursula nun nicht mehr MarieUrsula sei.33 Die Brutalität der Gruppe und das Schwinden der Hemmungen werden an Stellen belegt, an denen es beispielsweise zur Vergewaltigung oder der Abtrennung von Körperteilen kommt.34 Die Kinder lassen sich von Pierre Anthons Aussagen leicht beeinflussen (alle ihre Taten sind Reaktionen auf ihn und seine Worte) und von ihm nicht kritisieren (Agnes zeigt ihm den Mittelfinger, als er ihr Festhalten an der Bedeutung ihrer Existenz kritisiert).35 Die durch den Persönlichkeitsschwund entstehende Selbstschädigung der Individuen lässt sich ebenfalls belegen. Die Kinder haben 30 Vgl.: ebd., S. 79 sowie Gustave Le Bon: »Psychologie der Massen«, 15. Aufl., Stuttgart: Kröner 1982 [1895], S. 17. 31 Vgl.: Sigmund Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, 7. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2005 [1921], S. 79. 32 Vgl.: ebd., S. 34. 33 Vgl.: Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, 12. Aufl., aus dem Dänischen von Sigrid Engeler, München: Hanser 2017 [2000], S. 67. 34 Vgl.: ebd., S. 74 und S. 97. 35 Vgl.: ebd., S. 24.

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Angst, dass aus ihnen nichts wird, sie und ihre Existenz also nicht von Bedeutung sind und treiben deshalb selbstschädigende Aktivitäten voran, um die verloren geglaubte Bedeutung wieder zu finden (mit dem Opfern bedeutender Dinge schaden sich die Kinder selbst). Dass die Gruppenmitglieder sich miteinander identifizieren, zeigt sich an Textstellen, an denen von einem »wir« gesprochen wird: »Mir, uns allen.«36 »Wir wollten nicht in der Welt leben, von der uns Pierre Anthon erzählte.«37

Pierre Anthon als Anführer? Da es sich, wie dargelegt, bei der Kindergruppe um eine Masse im Sinne Freuds und Le Bons handelt und eine solche durch einen Anführer bedingt ist, muss es also eine Figur geben, die diese Rolle übernimmt. Handelt es sich bei Pierre Anthon um eine solche Anführerfigur? Es lassen sich einige Merkmale benennen, die nach Freud und Le Bon einen Anführer definieren, also für eine solche Anführerrolle Pierre Anthons sprechen. Zum einen die Faszination für einen bestimmten Glauben, die sich auf die Masse überträgt. Pierre Anthon ist fasziniert von seinem Glauben an den Nihilismus »Nichts bedeutet irgendetwas.«38 Allerdings überträgt er diese Faszination nicht auf die Gruppe, sondern löst Gegenreaktionen aus: »Wir wollten nicht in der Welt leben, von der uns Pierre Anthon erzählte. Aus uns sollte etwas werden, wir wollten jemand werden.«39 Auch vertritt Pierre Anthon seine Idee, seinen Glauben also, mit starkem Willen, wie auch ein Anführer nach Freud und Le Bon. Da es sich, wie er feststellt, nicht lohnt, etwas zu tun, verlässt er konsequenterweise die Schule40 und übt sich darin, im Pflaumenbaum zu sitzen und nichts zu tun.41 Dass niemand ihn davon abhalten kann, zeigt sich, als er wenige Tage, nachdem er von einem Stein der Kinder getroffen und aus dem Baum gefallen war, wieder im Baum sitzt und zwar mit »[…] vielen neuen schlagfertigen Sprüchen […].«42 Auch in diesem Fall übernimmt die Masse jedoch nicht seine Vorstellungen und Ideale, sie lehnt sich viel mehr gegen ihn auf: »›Ach, halt doch die Klappe!‹ schrie ich, aber Pierre Anthon hörte nicht auf.«43

36 37 38 39 40 41 42 43

Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Vgl.: ebd., S. 9. Vgl.: ebd., S. 12. Ebd., S. 23. Ebd.

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Besonders deutlich ist das Motiv der Wiederholung zu erkennen, Pierre Anthon ruft der Gruppe jedes Mal, wenn sie an seinem Pflaumenbaum vorbeikommt, wieder die gleichen Leitgedanken zu: »Nichts bedeutet irgendetwas […].«44 »Alles ist egal […].«45 »Und zu sehen gibt es schon gar nichts. Und je länger man wartet, umso weniger wird zu sehen sein!«46 Die Masse lässt sich durch diese Wiederholungen jedoch nicht überzeugen, sondern erträgt sie kaum. Die Kinder laufen davon47 oder werfen mit Steinen nach Pierre Anthon.48 Die Figur Jan-Johann könnte ebenfalls für die Rolle des Anführers in Frage kommen. Denn er hat ebenfalls einen Glauben, nämlich seine Überzeugung, dass etwas gegen Pierre Anthon unternommen werden muss und erfährt darin Zustimmung. Er spricht an, dass etwas unternommen werden muss und erhält dafür, anders als Pierre Anthon, sofort die Zustimmung der Gruppe.49 Sein Wille, mit dem er diese Überzeugung umsetzt, zeigt sich darin, dass er alle auf dem Fußballplatz versammelt und eine Rede darüber hält, dass es so nicht weitergehen könne.50 Ein deutliches Wiederholungsmotiv lässt sich bei Jan-Johann nicht erkennen, doch auch er ergreift das Wort gegenüber der Masse, wenn er Reden hält oder die Gruppe kommandiert.51 Die Zustimmung, die Jan-Johann bei all dem erhält, ist ein zentraler Punkt, der Pierre Anthon fehlt und der bei Jan-Johann zudem besonders stark ausgeprägt ist. So stimmen nicht nur alle Mitglieder der Gruppe einem Treffen bedingungslos zu, wenn Jan-Johann es einberuft, es finden sich auch explizit geäußerte Bestätigungen, wie etwa von der Ich-Erzählerin Agnes, die eine Aussage Jan-Johanns wie folgt kommentiert: »Jan-Johann hatte recht: Das war nur Zeitverschwendung und würde uns nicht weiterbringen«52, oder die Zustimmung der restlichen Jungen der Gruppe, die nicken, als Jan-Johann es für eine schlechte Idee hält, sich zu prügeln.53 Pierre Anthon hingegen hat die Schulklasse, die die Gruppe bildet, verlassen und distanziert sich von ihr, indem er ihre Vorstellungen und Ideale ablehnt und ihnen seine Gedanken hinterherruft, die der Gruppe unangenehm sind: »Er hob die Stimme noch mehr und brüllte: ›In wenigen Jahren seid ihr alle tot und

44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Ebd., S. 45. Vgl.: ebd., S. 42. Vgl.: ebd., S. 22. Vgl.: ebd., S. 14. Vgl.: ebd, S. 15. Vgl.: ebd. und S. 19. Ebd., S. 17. Vgl.: ebd., S. 16.

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vergessen und nichts, also könnt ihr genauso gut sofort damit anfangen, euch darin zu üben.‹«54 Auch scheint Jan-Johann hinsichtlich der Koordination und Organisation der Gruppe eine zentrale Rolle einzunehmen. Er ruft die Gruppe zusammen55 (»Es dauerte nicht lange, da rief uns Jan-Johann wieder auf dem Fußballplatz zusammen«56) und organisiert immer wieder die Vorhaben der Gruppe. So sammelt er beispielsweise von jedem der Gruppenmitglieder einen Geldbetrag ein, um Materialien für die Gruppenaktivitäten zu kaufen, wie zum Beispiel ein Vorhängeschloss für den geheimen Treffpunkt in der Lagerhalle.57 Er ist schließlich auch derjenige, der das Schloss bedient, wenn die Gruppe sich trifft. Er bestimmt also den Zugang zu dem, was der Antrieb, der Sinn, und das Ziel der Gruppe ist: den Berg aus Bedeutung und den Treffpunkt für Gruppenbesprechungen.58 Oftmals hat er das letzte Wort oder bestimmt das Gruppenverhalten. Beispielsweise beendet er den Streit, der sich aus einer Gruppendiskussion über das Vorgehen gegen Pierre Anthon entwickelt. Jan-Johann erfüllt also ebenfalls einige Merkmale eines Anführers und erfährt dabei die Zustimmung, die Pierre Anthon fehlt. Jedoch wurde bereits erwähnt, dass nach Freud der Anführer einer Masse nicht zwingend einer im positiven Sinne sein muss. Wie verhält es sich also mit der Figur Pierre Anthon? Er übt einen hypnotischen Einfluss auf die Masse aus. Ihr Handeln besteht, wie oben aufgezeigt, aus Reaktionen auf Pierre Anthon – ihre Dynamik ist nach ihm ausgerichtet. Dies geschieht allerdings zum großen Teil durch Provokationen und negative Reize. Pierre Anthon lässt sich also als der Aggressor der Gruppe und damit als negativer Anführer verstehen. Damit erklärt sich das Phänomen der Gegenreaktion, die Pierre Anthon erfährt, wenn er seine Ideale mit starkem Willen vertritt und den Kindern wiederholt seine Gedanken zuruft. Trifft für einen klassischen Anführer im positiven Sinn zu, dass er Zustimmung erfährt und sein Wille von der Masse übernommen wird, so gilt für einen negativen Anführer, dass er Gegenreaktionen provoziert. Demnach sind diese Gegenreaktionen keine Argumente, die die Definition Pierre Anthons als Anführer widerlegen, sondern ihn vielmehr als Anführer bestätigen. Hinzu kommt, dass Jan-Johann zwar, wie eben untersucht, einige Merkmale besitzt, die einen Anführer kennzeichnen, sich diese jedoch an einigen Stellen relativieren lassen. So ist er zwar von der Idee überzeugt, etwas gegen Pierre Anthon unternehmen zu müssen und leitet die Gruppe oftmals dazu an, aller-

54 55 56 57 58

Ebd., S. 16. Vgl.: ebd., S. 24. Ebd., S. 27. Vgl.: ebd., S. 25. Vgl.: ebd., S. 35.

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dings nimmt er damit nur die Idee auf, die in der Gruppe bereits entstanden war59 und führt sie weiter bzw. koordiniert sie, wenn er beispielsweise die Gruppe versammelt. Auch die Idee, den Berg aus Bedeutung anzulegen, hatte nicht JanJohann, sondern Sophie, ein Mitglied der Gruppe.60 Er hat lediglich alle Mitglieder versammelt und das Wort ergriffen. Auch der Wille, mit dem er diese Idee verfolgte, war zwar vorhanden, aber kaum so standhaft wie der von Pierre Anthon. Als es nämlich dazu kommt, dass auch Jan-Johann Bedeutung in Form seines Zeigefingers opfern soll, den er zum Gitarrenspielen benötigt, weigert er sich und verwirft damit das Konzept des Bergs aus Bedeutung.61 Zudem gibt es einige weitere Aspekte, die Pierre Anthon nach Freud und Le Bon als Anführer ausweisen und die Jan-Johann nicht erfüllt. So ist Pierre Anthon beispielsweise außergewöhnlich unabhängig und selbstständig. Er verlässt die Schule und kommt als Kind lange Zeit über allein im Pflaumenbaum zurecht, ohne, dass es ein Anzeichen dafür gibt, dass sich ein Erwachsener um ihn kümmert. Narzisstisch ist er in dem Sinne, dass er so überzeugt von sich und seiner Idee ist, dass er sich gegen eine ganze Schulklasse damit durchsetzt und seine Überzeugungen für die einzig richtigen hält. Auch wird Pierre Anthon von der Kindergruppe gefürchtet. Damit würde das Verhältnis von Pierre Anthon zu der Kindergruppe ein ähnliches sein, wie das, welches Freud zwischen Urvater, also Anführer, und Urhorde beschreibt: Es sei ein Wagnis für Mitglieder der Urhorde, dem übermächtigen und gefährlichen Urvater gegenüber zu treten.62 Pierre Anthon gegenüber zu treten, halten die Kinder tatsächlich für ein Wagnis. Es ist beispielsweise bedenklich, Pierre Anthon zu begegnen, da er die Kinder mit Pflaumen bewirft und ihnen jene nihilistischen Aussagen zuruft, die sie fürchten. Die Kinder vermeiden es sogar zeitweise, Pierre Anthon zu begegnen und verlassen dafür ihren gewohnten Schulweg: »Elise machte manchmal einen Umweg, um mit uns anderen zur Schule zu gehen. Jedenfalls bis Pierre Anthon nicht mehr zur Schule ging.«63 Oder sie laufen schneller, wenn sie an Pierre Anthons Haus vorbeikommen: »›Ach sei doch still!‹ rief ich und fing an zu rennen.«64 Die Furcht vor dem Anführer wird besonders nach Pierre Anthons Verlassen des Klassenzimmers durch die Türmetapher deutlich:

59 60 61 62

Vgl.: ebd., S. 15 und S. 12. Vgl.: ebd., S. 24. Vgl: ebd., S. 96f. Vgl.: Sigmund Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, 7. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2005 [1921], S. 89. 63 Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, 12. Aufl., aus dem Dänischen von Sigrid Engeler, München: Hanser 2017 [2000], S. 10. 64 Ebd., S. 42.

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Die Tür lächelte. Es war das erste Mal, dass ich sie das tun sah. Mir kam die angelehnte Tür wie ein breit grinsendes Maul vor, das mich verschlingen würde, wenn ich mich dazu verlocken ließ, Pierre Anthon nach draußen zu folgen. Wem lächelte es zu? Mir, uns allen.65 […] Pierre Anthons lächelnde Tür sagte es mir. Mit dem Kopf wusste ich es immer noch nicht, aber trotzdem wusste ich es. Ich bekam Angst. Angst vor Pierre Anthon. Angst. Mehr Angst. Am meisten Angst.66

Jan-Johann mag in seiner Funktion als Klassenführer ein Organisator der Gruppe sein und wie dargestellt einige Punkte erfüllen, die nach Freud und Le Bon einen Anführer ausmachen. Allerdings nennen Freud und Le Bon als weiteres Merkmal eines Anführers einen tiefgreifenderen Einfluss auf die Masse, als er Jan-Johann nachgewiesen werden konnte, einen Einfluss hypnotischer Art. Ein Anführer mit hypnotisierender Wirkung habe eine unwiderstehliche Macht, so Le Bon.67 Eine solche Macht wird im Fall von Pierre Anthon deutlich, als Agnes die Tür lächeln sieht, durch die Pierre Anthon das Klassenzimmer verlassen hat. Sie kommt ihr vor wie ein breit grinsendes Maul, das sie verschlingen würde, wenn sie sich dazu verlocken ließe, Pierre Anthon nach draußen zu folgen.68 Diese unwiderstehliche Wirkung wird nochmals deutlich, als Agnes beschreibt: Mich packte ein unbändiger Drang, zum Taeringvej 25 zu laufen und zu Pierre Anthon in den Pflaumenbaum zu klettern und in den Himmel zu schauen, bis ich ein Teil von draußen und nichts geworden wäre und nie mehr über etwas nachdenken müsste.69

Zudem bestimmt Pierre Anthon die Handlungen der Kindergruppe (»Deshalb kamen wir darauf. Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, denn eigentlich brachte uns Pierre Anthon auf die Idee.«70) und ihre Gedanken: »kaum einer von uns hatte Zeit, darüber nachzudenken, und nun schon gar nicht, wo wir unsere ganze Zeit brauchten, um nicht über das nachzudenken, was Pierre Anthon sagte.«71). Mit seinem hypnotischen Einfluss lenkt Pierre Anthon auch die Dynamik der Gruppe und steht im Zentrum, wenn die Gruppe beispielsweise diskutiert, welches Geburtsdatum als Code für das Vorhängeschloss des Sägewerkes dienen darf; dies scheint für die Gruppe eine überaus wichtige Entscheidung zu sein. Schließlich wird Pierre Anthons Geburtsdatum ausgewählt. Diese Entscheidung zeigt, dass Pierre Anthon eine scheinbar sehr zentrale Rolle in der 65 Ebd., S. 9. 66 Ebd., S. 10. 67 Vgl.: Gustave Le Bon: »Psychologie der Massen«, 15. Aufl., Stuttgart: Kröner 1982 [1895], S. 44. 68 Vgl.: Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, 12. Aufl., aus dem Dänischen von Sigrid Engeler, München: Hanser 2017 [2000], S. 9. 69 Ebd., S. 14. 70 Ebd., S. 12. 71 Ebd., S. 13.

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Gruppe zukommt. Seine Position wird erneut bekräftigt, indem die Ich-Erzählerin Agnes beschreibt, dass alle sich das Datum so sehr einzuprägen versuchten, dass sie darüber ihre Hausaufgaben und das Zuhören im Unterricht vergaßen. Als die Kinder vom Lehrer auf ihre Abgelenktheit angesprochen werden, verstärkt der gemeinsame Gedanke an das Datum, das für Pierre Anthon steht, ihren Gruppenzusammenhalt. »Wir antworteten ihm nicht. Nicht einer. Fünf-nullzwei!«72 Wie ein Mantra wiederholen die Kinder in Gedanken die Zahlenkombination, die für Pierre Anthons Existenz steht und vergessen ihre alltäglichen Pflichten, wie die Hausaufgaben, da Pierre Anthon ihre Gedanken einnimmt. Wie an den eben zitierten Textstellen aufgezeigt wurde, lässt sich also eine hypnotisierende Wirkung Pierre Anthons auf die Kindergruppe feststellen. Da die Kinder allerdings gleichzeitig Pierre Anthons hypnotischen Einfluss fürchten73 und Pierre Anthon sie zwar zu gewissen Handlungen und Gedanken treibt bzw. verleitet, diese aber gegen ihn gerichtet sind,74 kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei Pierre Anthons hypnotischer Wirkung um eine bedrohliche Form handelt. Jan-Johann hingegen fehlt nicht nur der hypnotisierende Einfluss auf die Gruppe, er unterliegt sogar dem hypnotischen Einfluss, mit dem Pierre Anthon auf die Kindergruppe einwirkt und der selbstzerstörerischen Dynamik der Gruppe, die von Pierre Anthon ausgelöst wird. So ist Jan-Johann in die eben erwähnten Dynamiken eingebunden, zu denen Pierre Anthon die Gruppe verleitet, und als auch Jan-Johann an der Reihe ist, etwas Bedeutendes für den Berg zu opfern, bleibt er nicht verschont. Als er sich weigert, seinen Finger zu opfern, zwingt ihn die Gruppe gewaltsam dazu, getrieben von dem hypnotischen Einfluss Pierre Anthons. Indem er sich weigert, lehnt er sich gegen die von Pierre Anthon bestimmte Gruppendynamik auf und wird in diesem Moment durch die Kinder von seiner Rolle als Organisator der Gruppe und ihrer Ziele zu einem Feigling degradiert.75 Es wurde bereits erwähnt, dass nach Freud der Anführer einer Masse nicht zwingend einer im positiven Sinn sein muss. Wie verhält es sich mit der Figur Pierre Anthon? Er hat einen hypnotischen Einfluss auf die Masse, ihr Handeln besteht, wie oben aufgezeigt, aus Reaktionen auf Pierre Anthon, ihre Dynamik ist nach ihm ausgerichtet. Dies geschieht allerdings zum großen Teil durch Pro72 Ebd., S. 25f. 73 Vgl.: ebd., S. 9. 74 Die Kinder verbringen alle Zeit damit, gerade nicht an Pierre Anthon zu denken und installieren ein Vorhängeschloss, um den Berg aus Bedeutung zu sichern, den sie als Gegenargument zu Pierre Anthons Thesen aufbauen. 75 Vgl.: ebd., S. 97: »Als Jan-Johann wieder laut aufbrüllte, hob Hussein seinen Arm, der gerade aus dem Gips gekommen war, und sagte: ›Das ist nichts, wovor man sich fürchten muss. Das ist nur ein Finger.‹«

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vokationen und negative Reize, sein hypnotischer Einfluss ließ sich als einer der bedrohlichen Art bestimmen. Pierre Anthon lässt sich also als der Aggressor der Gruppe und damit als negativer Anführer verstehen. Damit klärt sich zudem das Phänomen der Gegenreaktion, die Pierre Anthon erfährt, wenn er seine Ideale mit starkem Willen vertritt und den Kindern wiederholt seine Gedanken zuruft. Trifft für einen klassischen Anführer im positiven Sinn zu, dass er Zustimmung erfährt und sein Wille von der Masse übernommen wird, so gilt für einen negativen Anführer, dass er Gegenreaktionen provoziert. Demnach sind diese Gegenreaktionen keine Argumente, die die Definition Pierre Anthons als Anführer widerlegen, sondern ihn als Anführer bestätigen, weshalb Pierre Anthon als der Anführer der Kindergruppe bezeichnet werden kann.

Handelt es sich bei der Figur Pierre Anthon um eine Kollektivhalluzination? Im Folgenden wird erörtert, ob die Gruppe Pierre Anthon als negativen Anführer lediglich imaginiert. Diese These der Imagination beruht auf der Feststellung, dass es sich bei der Kindergruppe um eine Masse handelt, die gemäß Freuds und Le Bons Definition sehr wahrscheinlich von dem Phänomen einer Kollektivhalluzination betroffen und ein Anführer ebenso gut eine Vorstellung anstelle einer Person sein kann.76 Damit Pierre Anthon in der Kollektivhalluzination entstehen kann, muss die Gruppe bereits eine Gruppendynamik entwickelt haben, bevor es zur Erscheinung Pierre Anthons als Anführer kommt, da eine Kollektivhalluzination laut Freud und Le Bon nur aus einer solchen Gruppendynamik hervorgehen kann. Einige Textstellen deuten darauf hin, dass diese Gruppendynamik bereits bestand und die Gruppe schon zuvor empfänglich für Halluzinationen ist: »Die Sonne brannte und machte uns faul und leicht reizbar […].«77 Die Reizbarkeit ist, wie bereits herausgestellt, nach Freud und Le Bon ein wesentliches Merkmal einer für Einbildungen anfälligen Gruppe. Auch der Aussage »Wir schauten weder links noch rechts«78 ist zu entnehmen, dass die Gruppe als Folge ihrer natürlichen Reaktion auf Reize äußerer Einflüsse (Freud) ihrer Dynamik folgt und sich davon nicht ablenken lässt oder hierüber reflektiert. Diese scheuklappenartig eingeschränkte Perspektive ist ein klassisches Merkmal einer Gruppendynamik. 76 Vgl.: Sigmund Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, 7. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2005 [1921], S. 87. 77 Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, 12. Aufl., aus dem Dänischen von Sigrid Engeler, München: Hanser 2017 [2000], S. 8. 78 Ebd.

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Diese Dynamik wird auch stilistisch umgesetzt in der Erzählperspektive. Die Ich-Erzählerin berichtet nicht nur aus ihrer Sicht, sondern stellenweise auch aus der Sicht der ganzen Gruppe, was an dem zitierten Textauszug und am folgenden Beispiel ersichtlich ist: »Wir anderen blieben.«79 Die Voraussetzung der Gruppendynamik für die Einbildung der Figur Pierre Anthon ist also gegeben. Die Aussage der Erzählerin: »Die Tische standen in Zweierreihen so gerade wie Krankenhausflure und wie sie es nur an ebendiesem einen Tag im Jahr tun. Klasse 7 A.«80, deutet zudem durch den Vergleich des Umfeldes der Klasse mit einem Krankenhaus auf ein pathogenes Umfeld bzw. pathogene Zustände hin. Diese Aspekte deuten einen als pathogen markierten Zustand der Kindergruppe an. Bei näherer Betrachtung des Textes und insbesondere seiner stilistischen Gestaltung lässt sich erkennen, dass eine surreale Wirkung evoziert wird. Der Text scheint zwar insgesamt durch surreale Elemente parabelhaft,81 in Bezug auf die Schilderungen, die Pierre Anthon und sein Verhältnis zur Gruppe betreffen, wird dieser Eindruck in besonderer Weise bestätigt. Der Surrealismus als literarische Strömung, rückt das Unerklärliche in den Vordergrund und beschäftigt sich mit dem Irrationalen, der Destruktion von Kausalität;82 also mit dem Nicht-Realen. Eine surreale Gestaltung Pierre Anthons und seines Verhältnisses zur Kindergruppe inszeniert Pierre Anthon demnach als nicht real und rätselhaft. Die ersten Anzeichen für eine kollektive Halluzination der Kindergruppe zeigen sich, als Pierre Anthon das Klassenzimmer verlässt. Unwahrscheinlich ist es, dass ein Kind die Schule verlässt und kein Erwachsener, kein Lehrer, niemand außer den Kindern, sich dafür interessiert oder darauf reagiert.83 Sie scheinen die Einzigen zu sein, die Pierre Anthon wahrnehmen. Stilistisch zeigt sich dies in der Türsymbolik, die ausdrückt, wie Pierre Anthon auf die Kinder wirkt: Die Tür lächelte. Es war das erste Mal, dass ich sie das tun sah. Mir kam die angelehnte Tür wie ein breit grinsendes Maul vor, dass mich verschlingen würde, wenn ich mich dazu verlocken ließ, Pierre Anthon nach draußen zu folgen. Wem lächelte es zu? Mir, uns allen. Ich sah mich in der Klasse um, und die ungemütliche Stille sagte mir, dass die anderen es auch bemerkt hatten.84

79 80 81 82

Ebd. Ebd. Vgl.: ebd., Paratext (erste Seite). Vgl.: Friederike Reents: »Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur«, Berlin: De Gruyter 2009, S. 12f. 83 Der Lehrer reagiert nicht darauf, dass Pierre Anthon die Schule verlässt. Vgl.: Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, 12. Aufl., aus dem Dänischen von Sigrid Engeler, München: Hanser 2017 [2000], S. 9. 84 Ebd.

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Die anthropomorphe Tür, die lächelt, ist ein Stilmittel, das eine surreale Wirkung aufweist. Da die Tür ein Symbol für Pierre Anthon und seine Wirkung auf die Kinder darstellt, wird dieser und sein Verhältnis zur Gruppe somit als nicht real inszeniert. Eine Kollektivhalluzination überträgt sich, wie bereits mit Freud und Le Bon zitiert, auf alle Mitglieder der Gruppe; alle erleben die Einbildung gleich, obwohl sie nicht existiert. An dieser Textstelle lässt sich genau dieser Vorgang deutlich stilistisch umgesetzt erkennen. Denn die lächelnde Tür, das breit grinsende Maul, die Bedrohung, verschlungen zu werden, wird – gemäß den Angaben der Ich-Erzählerin – von der ganzen Klasse gleich wahrgenommen, obwohl es sich um ein sehr surreales Element handelt. Die surreale Türsymbolik setzt sich im Laufe des Textes fort: »Lächelnde Tür. Mach auf. Mach zu! Ich war nicht die Einzige, die hörte, dass das Draußen rief.«85 Die erzähltechnische und stilistische Darstellung unterstützt an dieser Stelle wieder einen surrealen Effekt, der auch hier auf Pierre Anthon bezogen ist, da die Türsymbolik, wie bereits festgestellt, für Pierre Anthon steht. Die Ich-Erzählerin, Agnes, berichtet im vierten Satz, dass »das Draußen« die ersten drei Sätze ruft. Allerdings ruft nicht wirklich etwas, es scheint ein Bewusstseinsstrom vorzuliegen, der zudem nur fragmentarisch wiedergegeben wird. Doch dieser beschränkt sich nicht auf die erzählende Figur, sondern schließt die ganze Gruppe der Kinder mit ein. Es handelt sich also in den ersten drei Sätzen um einen kollektiven Bewusstseinsstrom im Sinne von Genettes Erzähltheorie.86 Die Andeutungen »eines Nichts«, das die Kinder auf dem Weg zur Schule überholt hat und zuerst in der Schule angekommen ist,87 lassen darauf schließen, dass es sich bei dem kollektiven Bewusstseinsstrom um die Imagination eines Nichts handelt, die in den Köpfen der Kinder wirkt und als führendes Element der Gruppe fungiert. Dies würde die These unterstützen, dass es sich bei Pierre Anthon um eine Kollektivhalluzination handelt. Zudem lassen sich in den vier zuvor zitierten Sätzen die Personifikation sowohl der Tür als »[l]ächelnde Tür«88 als auch eine Personifikation des Draußen »[…] das Draußen rief«89 beobachten, die ebenfalls die surreale Wirkung verstärken. Nachdem Pierre Anthon das Klassenzimmer verlassen hat, verschanzt er sich auf einem Pflaumenbaum. Dass ihn von dort niemand herunterholt, niemand 85 Ebd., S. 14. 86 Vgl.: Mat&as Mart&nez / Michael Scheffel: »Einführung in die Erzähltheorie«, 9., erweiterte und aktualisierte Aufl., München: C. H. Beck 2012 [1999], S. 64. 87 Vgl.: Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, 12. Aufl., aus dem Dänischen von Sigrid Engeler, München: Hanser 2017 [2000], S. 13. 88 Ebd., S. 14. 89 Ebd.

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sonst wahrzunehmen scheint und er sich offenbar ohne Verpflegung über einen langen Zeitraum dort aufhält, scheint unrealistisch. Zudem wirkt er auf seinem Pflaumenbaum in der stilistischen Umsetzung stark metaphorisch. Denn er ruft den Kindern von dort aus seine nihilistischen Ansichten zu und bewirft sie dabei mit Pflaumen. In der Vergangenheit – so wird rückblickend berichtet – versuchten die Kinder an die Früchte heranzukommen, nun unterlassen sie es, da Pierre Anthon im Baum sitzt.90 Er enthält den Kindern die Früchte sozusagen vor. Die Pflaumen empfinden die Kinder, wenn er sie wirft, sogar als bitter.91 Sie symbolisieren demnach die nihilistischen Ideale Pierre Anthons und das Vorenthalten der Früchte, die die Kinder sonst stets begehrten. Sie stehen zudem für das Leben, in dem alles etwas bedeutet. Pierre Anthon scheint, seit er sich auf den Baum zurückzog, nur auf diesem zu existieren. Als er nämlich mit Steinen vom Baum geschossen wird, ist er für kurze Zeit wie verschwunden, es ist still und es gibt keinen Hinweis darauf, dass Pierre Anthon die Kinder in dieser Zeit beschäftigt.92 Als er den Baum schließlich verlässt, stirbt er kurze Zeit darauf.93 Die genannten Aspekte sprechen dafür, Pierre Anthon auf seinem Pflaumenbaum als reine Metapher zu betrachten. Wie unwirklich zudem die Geschehnisse sind, die im Zusammenhang mit Pierre Anthon stehen, bringt folgende Aussage zum Ausdruck: »Es lässt sich nicht erklären, aber es war geradeso, als hätte uns Pierre Anthon dazu gebracht, es zu sehen.«94 Es geht keine Aktion von ihm aus, es wird zu jeder Zeit nur als Wahrnehmung der Gruppe beschrieben, wie er nichts tut oder sagt, dass er nichts tut.95 Er verschwindet so plötzlich wie er aufgetaucht ist, in Abhängigkeit zur Dynamik der Gruppe, denn sein Erscheinen wird offenbar nur von der Kindergruppe wahrgenommen und er verschwindet, indem er mit dem Berg von Bedeutung verbrennt.96 Dinge, die er tut, haben keine Auswirkungen auf etwas oder jemanden außer den Kindern und scheinen deshalb unwirklich. In der Aussage der Ich-Erzählerin: »[e]s hatte übrigens bisher nichts darauf hingedeutet, dass Pierre Anthon der klügste von uns war, aber plötzlich wussten wir es alle«97, wird dies bestätigt, denn es gibt keinen rationalen Grund für seine Macht über die Gruppe. Das Einzige, was ihn zum Anführer macht, ist eine Eingebung, die alle Gruppen-

90 91 92 93 94 95 96 97

Vgl.: ebd., S. 11. Vgl.: ebd., S. 13. Vgl.: ebd., S. 22f. Vgl.: ebd., S. 134f. Ebd., S. 13. Vgl.: ebd., S. 12. Vgl.: ebd., S. 135. Ebd., S. 11.

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mitglieder auf einmal aus unerklärlichen Gründen entwickeln; dies ist eindeutig ein Merkmal einer Kollektivhalluzination. Auch die Pflaumen, die Pierre Anthon nach den Kindern wirft, können ebenso gut von allein vom Baum herunterfallen, da die Kinder nur durch Zufall getroffen werden: »Manche trafen uns. Nicht, weil Pierre Anthon auf uns zielte, das sei die Mühe nicht wert, beteuerte er. Der Zufall wolle es halt so.«98 Insgesamt zeigt sich durch diese Textbeispiele die surreale Inszenierung Pierre Anthons und seinem Verhältnis zur Kindergruppe. Es kann also von einer Einbildung durch die Kindergruppe ausgegangen werden; der Gruppe lässt sich damit eine Kollektivhalluzination attestieren.

Fazit Die zu Beginn aufgestellte These, dass es sich bei Pierre Anthon um einen Anführer in Form eines Aggressors (Freud) sowie um eine Kollektivhalluzination (Le Bon/Freud) handelt, konnte bestätigt werden. Um diese These zu klären, wurde zunächst die Frage beantwortet, ob es sich bei Pierre Anthon um den Anführer der Gruppe/Masse im Sinne Freuds und Le Bons handelt. Zwar kam ebenfalls Jan-Johann als Anführer infrage, allerdings konnte gezeigt werden, dass Jan-Johann das prägendste Merkmal eines Anführers, den halluzinatorischen Einfluss auf die Mitglieder der Masse nicht nur nicht aufweist, sondern sogar der halluzinierenden Macht Pierre Anthons unterliegt. Somit konnte bestätigt werden, dass Pierre Anthon als Anführer der Kindergruppe in Form eines Aggressors zu lesen ist. Nach Klärung dieser Frage wurde untersucht, ob er in seiner Rolle als Anführer von der Kindergruppe lediglich imaginiert wird, diese damit einer Kollektivhalluzination unterliegt. Auch diese These konnte durch zahlreiche Textbeispiele belegt werden. Bei Betrachtung der stilistischen Gestaltung des Textes konnten surreale Elemente herausgearbeitet werden, die die Annahme bestätigen, dass es sich bei Pierre Anthon nicht um eine in der Diegese real existierende Figur handelt. Während der Analyse wurden immer wieder Bezüge zu den eingangs zitierten Grundlagen hergestellt, um Freuds und Le Bons Ausführungen mit dem Primärtext zu vergleichen. Auf diese Weise konnte bewiesen werden, dass Pierre Anthon für die Gruppe einen Anführer im Sinne Freuds und Le Bons darstellt, dieser jedoch nicht als real existierende Person zu begreifen ist, sondern als eine Idee, ein Abstraktum, welche/s die Kinder leitet und mittels einer Kollektivhalluzination der Kinder in deren Wahrnehmung als Pierre Anthon erscheint. 98 Ebd.

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Pierre Anthon ist dementsprechend als Imagination nihilistischer Ideale zu lesen, was für die Auffassung von Tellers Text als Parabel spricht, die die innerhalb der Gesellschaft nicht thematisierten Ängste und Unsicherheiten der aktuellen Jugendgeneration zum Ausdruck bringt.99

Literaturverzeichnis Primärliteratur Teller, Janne: »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, 12. Aufl., aus dem Dänischen von Sigrid Engeler, München: Hanser 2017 [2000].

Sekundärliteratur Freud, Sigmund: »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, 7. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2005 [1921]. Le Bon, Gustave: »Psychologie der Massen«, 15. Aufl., Stuttgart: Kröner 1982 [1895]. Reents, Friederike: »Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur«, Berlin: De Gruyter 2009. Mart&nez, Mat&as / Scheffel, Michael: »Einführung in die Erzähltheorie«, 9., erweiterte und aktualisierte Aufl., München: C. H. Beck 2012 [1999].

99 Diesen Schwerpunkt vertiefen sowohl Carolin Schreiber als auch Lena-Marie John von Zydowitz in ihren Beiträgen in diesem Band.

II. Sag- und Unsagbares im wachen und traumhaften Erleben. Linguistische, psychoanalytische und filmwissenschaftliche Perspektiven

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Zur »Erweckung« Schneewittchens über die Ästhetik des Visuellen – intermediale Spiegelmotive in Pablo Bergers Stummfilm Blancanieves. Ein Märchen aus Schwarz und Weiß

Einleitung Blancanieves. Ein Märchen aus Schwarz und Weiß (2012)1 ist eine Filmadaption, frei nach dem Märchen Schneewittchen (1812) der Brüder Grimm. Die literarische Vorlage gilt als eine der bekanntesten Geschichten mit einem der populärsten Motive: jenem des »magischen Spiegels« oder »Zauberspiegels.« Die unzähligen Schneewittchen-Filmadaptionen lassen vermuten, dass das Spiegelmotiv des Märchens deshalb so beliebt ist, weil es sich um einen rätselhaften, magischen Gegenstand handelt – tatsächlich verbergen sich hinter dem Spiegel Metaphern, die sich aus philosophischen Weltvorstellungen und antiken wissenschaftlichen Erkenntnissen herleiten lassen und die Entwicklungsgeschichte des Spiegels zusätzlich mit Bedeutungsstoff anreichern. Da es sich bei dem Spiegel um ein reflektierendes Medium handelt, spielen insbesondere die Wissenschaften der Optik eine große Rolle bei der Interpretation von Spiegelmetaphern. Mit dem Film Blancanieves präsentiert der Regisseur Pablo Berger eine höchst ungewöhnliche Schneewittchen-Variante: eine Darstellung, die nicht den gängigen, tradierten Sehgewohnheiten von Zuschauer*innen unserer Zeit entsprechen, denn der Film ist ein Stummfilm und in schwarz/weiß gedreht. Pablo Berger entführt uns nach Spanien in das Jahr 1910, in eine längst vergangene Ära, wo die Bilder gerade erst anfingen, das Laufen zu lernen und zeigt uns ein Schneewittchen-Märchen, das als Liebeserklärung an das wortlose Kino zu verstehen ist und dessen Bilder an den deutschen expressionistischen Film von Murnau oder Pabst erinnern.2 Blancanieves kommt nicht im Märchenkleid sondern im Stierkampfgewand daher und ist auch in seiner Figurenkonstellation 1 Pablo Berger : »Blancanieves. Ein Märchen aus Schwarz und Weiß«, E/F: eye see movies 2012. 2 Andreas Kilb: »Blancanieves ein Stummfilm aus Spanien. Schneewittchen in der Arena«, verfügbar unter : https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/blancanieves-ein-stummfilmaus-spanien-schneewittchen-in-der-arena-12684436.html [20. 09. 2019].

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außergewöhnlich. Nach einem magischen Spiegel, so wie es das klassische Märchen erzählt, schaut man ebenfalls vergebens, denn es gibt keinen in Blancanieves. Der Spiegel tritt stattdessen in einer veränderten – in einer intermedialen – Form auf, und ist als Fotokamera, als Spiegelung in den Augen, als Reflexion an Gegenständen, in Form von Portraits und Fotografien, oder als optisches Spielzeug zu sehen. Der Film rekurriert damit auf die Medien einer vorkinematographischen Zeit und präsentiert diese in bildgewaltiger Stummfilmästhetik. Die Schneewittchen-Adaption von Pablo Berger verweist mit dieser spezifischen Ausdrucksweise des Kinos aber noch auf weitere Themengebiete, wobei der Spiegel, respektive das Spiegelmotiv, als eine Art Schnittstelle angesehen werden kann, an der sich Theorien kreuzen, die sich aus den Medienwissenschaften3 und der psychoanalytischen Filmtheorie speisen.4 Der vorliegende Beitrag nimmt diese unterschiedlichen Aspekte des Films in den Blick und wird jene Schnittpunkte ausweisen, an denen in Blancanieves intermediale Spiegelmotive mit den Theorien der unterschiedlichen Disziplinen verwoben sind. Einleitend wird auf die Spiegelmotive in unterschiedlichen Disziplinen verwiesen, um einen theoretischen Rahmen für die Analyse zu schaffen.

Spiegelmotive im Kontext von Philosophie In der Philosophie der Antike entfaltet der Spiegel metaphorische Bedeutung in zweierlei Hinsicht: einmal nach außen in Bezug auf das Auge als Sinnesorgan (als »stofflicher Spiegel«)5 und zum anderen, durch den Blick nach innen, als Portal zum »Spiegel der Seele.«6 Platon und Demokrit charakterisieren darüber hinaus 3 Klaus Bartels: »Proto-kinematographische Effekte der Laterna magica in Literatur und Theater des achtzehnten Jahrhunderts«, Harro Segeberg (Hrsg.) Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. Mediengeschichte des Films, Bd. 1, München: Fink 1996, S. 113–147; Jonathan Crary : »Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert«, Dresden: Verlag der Kunst, 1996; Linda Williams: »Pornografische Bilder und die »körperliche Dichte des Sehens«, Christian Kravagna (Hrsg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: Edition ID-Archiv, 1997, S. 65–97. 4 Jean-Louis Baudry : »Das Dispositiv : Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseidrucks«, Lorenz Engell u. a. (Hrsg.) Kursbuch Medienkultur : die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA, 1999, S. 381–404; Siegfried Kracauer : »Theorie des Films. Die Errettung der äußerlichen Wirklichkeit«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985; Jaques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, Norbert Haas (Hrsg.) Jacques Lacan. Schriften I., aus dem Französischen von Peter Stehlin, Freiburg: Olten 1973, S. 61–70; Sigmund Freud: »Die Traumdeutung«, in Studienausgabe Sigmund Freud, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2000. 5 Eric Peez: »Die Macht der Spiegel: das Spiegelmotiv in Literatur und Ästhetik des Zeitalters von Klassik und Romantik«, Frankfurt am Main: Lang, 1990, S. 19. 6 Ebd., S. 18.

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die Seele als »lebendigen Spiegel,«7 weil dies der Spiegel sei, der die Bilder (im Gegensatz zum Auge) festhalten kann und sich seines Spiegelns auch bewusst sei.8 Das Auge weise mit seinem reflektierten Blick sowohl nach außen wie nach innen und werde zum »Spiegel der Welt.«9 Hinter dieser Vorstellung steht hauptsächlich der Versuch, eine Synthese von wissenschaftlichen Diskursen über optische Theorien10 und einem antiken Weltbild zu schaffen, das als Ergebnis die Bildung und Korrektur des Geistes anstrebt. Das Auge übernimmt nach dieser Definition eine korrektive Funktion, da es die gespeicherten Bilder der Seele reflektiert und dazu auffordert, eigene Mängel zu beseitigen. Damit wird der Spiegel in der Antike also einerseits mit einer Handlungsaufforderung verbunden und verweist andererseits auf alles sinnlich Sichtbare, mit dem Auge Erfassbare, das die Bildhaftigkeit und das Absolute des Spiegels durchdringt.11 Aus dieser optischen Perspektive heraus erweitert sich das Motiv des Spiegels bei Platon zum sogenannten »Augenspiegel«12 und zum »Motiv der Spiegelung in den Augen der oder des Geliebten.«13 Der Spiegel evoziert dadurch eine Spiegelung der Seele und den Blick auf das eigene Selbst, das sich im »PupillenSpiegelbild«14 der geliebten Person zeigt. Die Spiegelschau dient in diesem Zusammenhang auch der Selbsterkenntnis, denn: »Wie das Auge im Spiegel eines anderen Auges sich spiegelt und erkennt, soll auch die Seele der Weisheit liebend sich zuwenden und in ihr sich spiegeln.«15 Die Bedeutung des Spiegels im Mythos des orphischen Dionysos Zagreus, der als Kind von den Titanen zerrissen wird und kurz vor seinem Tode in einen Spiegel blickt, wird von Katrin Holthaus16 eingehend behandelt. Sie stützt sich in ihren Ausführungen auf eine frühere Spiegelfunktion, nämlich auf die des »Spiegels als Instrument der Selbstbegegnung und Selbstvergewisserung für die Toten.«17 Die orphische Todesvorstellung, sei für Dionysos mit der Befreiung (lysis)18 aus seiner irdischen Existenz verbunden. Der Tod stellt in dieser In-

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Ebd., S. 17. Ebd. Ebd., S. 18. Vgl.: ebd., S. 16. Ralf Konersmann: »Spiegel«, Joachim Ritter u. a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe, Onlineversion. Vgl.: Eric Peez: »Die Macht der Spiegel: das Spiegelmotiv in Literatur und Ästhetik des Zeitalters von Klassik und Romantik«, Frankfurt am Main: Lang, 1990, S. 18. Vgl.: ebd. Vgl.: ebd. Zit. nach Sokrates, in: ebd., S. 21. Katrin Holthaus: »Im Spiegel des Dionysos«, Stuttgart u. a.: Metzler 2001, S. 39–51. Vgl.: ebd., S. 40. Vgl.: ebd.

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terpretation lediglich den Übergang in ein anderes Leben dar – er symbolisiert nicht die physische Vernichtung, sondern den Aufstieg.19 Dionysos ist durch die Zerstückelung, dessen Werkzeug das Schwert war, gegangen […]. Er selbst blieb gegen die Vernichtung durch die Zerstückelung, der die völlige Selbstvergessenheit entsprechen würde, durch deren Gegensatz geschützt. Die Selbstbegegnung, die durch den Spiegel erfolgt, ist der Anfang des Gegensatzes: des Erinnerns an sich selbst. Hatte das Dionysoskind auch einen Spiegel unter seinen Spielzeugen und erblickte sich vor seiner Ermordung darin […] so gewährte dies die Rettung.20

Spiegelungen in den Augen und in den Pupillen tauchen als Metapher vermehrt in Blancanieves auf. Zum Beispiel in den Augen des Stiers oder der Stiefmutter als Ankündigung des Todes, oder zwischen der kleinen Carmencita und ihrem Vater als Merkmal der Wiedererkennung. Das Motiv der Selbsterkenntnis zeigt sich auf dramatische Weise in Blancanieves’ letztem Stierkampf, wenn sie die Erinnerung an sich selbst in den Pupillen des Stieres wiedererlangt;21 ein Motiv, das sich aus dem Narcissus-Mythos nach Ovid speist.

Ovids Mythos Narciss und Echo Bei der Geschichte von Narciss und Echo des römischen Dichters Ovid,22 handelt es sich um eine der älteren bekannten Legenden, in denen der Spiegel eine zentrale Rolle spielt.23 Fritz Gutbrodt schreibt über den Mythos, er sei »die Geschichte einer radikal verweigerten oder auch verwehrten Sozialisierung.«24 Weil Narziss die Nymphe Echo nicht lieben wollte bzw. konnte, wird er damit bestraft, sich in sein eigenes Spiegelbild zu verlieben und an seiner Selbstliebe zu vergehen. Der eigenartig anmutenden Weissagung des Sehers Teiresias zufolge, soll Narziss ein hohes Alter erreichen, allerdings nur, wenn er sich selbst fremd bleibt, wenn »er sich selbst nicht kennenlerne«25 – »si se non noverit.«26 Als sich 19 Vgl.: ebd. 20 Zit. nach Ker8nyi, in: ebd. S. 40f. 21 Im Abschnitt: »Wende niemals die Augen vom Stier ab!« – Spiegelungen in den Augen wird auf diese Szenen näher eingegangen. 22 Ovid: »Narcissus und Echo, (Metamorphosen, 3. Buch)«, Almut Barbara Renger (Hrsg.): Mythos Narziß. Texte von Ovid bis Jaques Lacan. Leipzig: Reclam 1999, S. 44–53. 23 In dieser Analyse wird die Bedeutungsgeschichte von Echo ausgespart. Der Fokus liegt lediglich auf der Figur des Narziss und an diese Figur anknüpfenden Interpretationen. 24 Fritz Gutbrodt: »Quam cernis, imaginis umbra est. Spiegel und Schatten im Mythos des Spiegels«, Zürich: Pano 2003, S. 181. 25 Ebd., S. 182. 26 Zit. nach Ovids Metamorphosen, in: Mirko Gemmel »Überlegungen zum Spiegelmotiv im Narziss-Mythos«, in Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaft. Bd. 32/ Nr. 2, 2004, S. 67.

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Narziss schließlich in der weithin bekannten Szene in sein Spiegelbild verliebt – unwissend und einer Täuschung des Blicks unterlegen – erkennt er im Prinzip lediglich die Unerfüllbarkeit seiner Liebe. Er verzehrt sich schmachtend vor seinem Ebenbild bis zum Tod und die Prophezeiung des Teiresias erfüllt sich: Er wird dazu verdammt zu lieben und das Geliebte doch niemals zu besitzen […] So ist es Narziss unmöglich, das Objekt seiner Begierde jemals zu berühren. Wenn er es versucht, löst sich das körperlose Spiegelbild in den Wellen der Quelle auf, ohne dass er sich der Identität des Bildes bewusst ist […].27

Im Mittelalter wird der Mythos des Narziss als Metapher für die Vanitas gelesen, die für Eitelkeit, Vergänglichkeit, Lüge und leeren Schein steht.28 Der Spiegel, der als »göttlicher Spiegel«29 oder als »Spiegel der Seele«30 begriffen wurde, in welchem der Mensch als das Abbild Gottes erscheint, wird dementsprechend mit einer Warnung versehen, die Meister Eckehart ganz im Sinne der christlichen Ideale seiner Epoche wie folgt formuliert: Je mehr die Seele diesen äußeren Spiegeln sich zuwendet, desto schwächer wird der innerliche Spiegel Gottes. Denn Gott ist nicht nur das Urbild, das die Weisheit erkennt, sondern auch das Vorbild, dem der Wille nachstrebt, indem er sich den ›obersten Kräften der Seele‹ zuwendet.31

Die antike sokratische Spiegelschau, die die Bildung und Korrektur des Geistes zum Ziel hat, wird hier erneut transparent, wobei diese nun mit einer christlichen Handlungsaufforderung im Sinne einer Korrektur der Seele, die Gott zum Vorbild hat, versehen wird. Als Bildmotiv von Vanitas-Allegorien haben sich im Mittelalter auch die sogenannten Toiletteszenen etabliert, die eine stolze, dem gängigen Schönheitsideal entsprechende Frau, vor dem Spiegel zeigen.32 Durch die Verknüpfung der Vanitas-Allegorie mit dem Spiegelmotiv wurde somit ein Frauenbild entworfen, in dem ein eitler Selbstbezug als schöner Schein entlarvt werden sollte. Der Frau wird in dieser moralisch verwerflichen Bildpraxis ein genuin weibliches Genießen an der Selbstdarstellung unterstellt, wodurch tradierte Vorurteile und stereotype Ressentiments gegenüber Frauen bestätigt werden.33 Aus der Spiegel-Legende des Narziss leitet sich, neben der Metapher der Vanitas, auch der Begriff des Narzissmus ab, der gemeinhin mit Selbstver27 Ebd. 28 Vgl.: Erik Peez: »Die Macht der Spiegel: das Spiegelmotiv in Literatur und Ästhetik des Zeitalters von Klassik und Romantik«, Frankfurt am Main: Lang 1990, S. 13–105, (S. 25). 29 Vgl.: ebd., S. 14ff. 30 Vgl.: ebd. 31 Vgl.: ebd., S. 14. 32 Vgl.: Ramjn Reichert: »Selfie Culture. Kollektives Bildhandeln 2.0«, in POP. Kultur und Kritik. Jg. 7/ Nr. 86–96. 33 Vgl.: ebd.

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liebtheit und Eitelkeit in Verbindung gebracht wird und der in der Theoriebildung der Psychoanalyse zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand wurde.34

Der magische Spiegel: Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Antike Eine der bekanntesten Varianten des magischen Spiegels ist der Spiegel des Pythagoras, der der Nachrichtenübermittlung über große Distanzen diente. 1646 konstruierte der Universalgelehrte Athanasius Kircher für diese Art der »Spiegelschreibkunst«35 ein Gerät, mit dem man Buchstaben und Bilder projizieren konnte.36 Mit der Erforschung des Spiegels und seiner Erkenntnisse über die projizierenden Eigenschaften der Laterna Magica37 war Kircher somit ein Wegbereiter und Vordenker proto-kinematographischer Effekte.38 Im intermedialen Sinne handelt es sich hierbei um ein Telekommunikationsmittel, das in die Nähe des Zeitungs- und Verlagswesen gerückt werden kann. In dem Film Blancanieves erscheint dieses Motiv in Form der sensationslüsternen Presse.39 Die Zeitung fungiert hier als Spiegel der Wahrheit bzw. als Spiegel der Gesellschaft, der Nachrichten über weite Distanzen hinweg übermitteln kann. Weitere Verweise auf den Spiegel als Nachrichtenübermittler finden sich in Werbeplakaten und Veranstaltungshinweisen für Blancanieves’ Auftritte in der Stierkampfarena40 oder in einer optischen Variation: in Brillen, Operngläsern und im Rückspiegel eines Wagens. 34 Vgl.: Sigmund Freud: »Zur Einführung des Narzißmus«, Mitscherlich, Alexander u. a. (Hrsg.): Sigmund Freud Studienausgabe. Psychologie des Unbewußten. Frankfurt/M.: Fischer 2000 [1914], S. 41–58. 35 Athanasius Kircher : »Ars magna lucis et umbrae ›Der großen Kunst des Lichtes und der Abbildung‹« nach Klaus Bartels: »Proto-kinematographische Effekte der Laterna magica in Literatur und Theater des achtzehnten Jahrhunderts«, in Segeberg, Harro (Hrsg.) Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. Mediengeschichte des Films, Bd. 1, München: Wilhelm Fink Verlag 1996, S. 113–147, (S. 115). 36 Ebd. 37 Vgl.: ebd., S. 129. 38 Vgl.: Christa Blümlinger : »Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor-und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst.«, in Medienwissenschaft: Rezensionen, Reviews, 1998, 15. Jg./ Nr. 2, S. 225. 39 Zum Beispiel als Antonio Villalta und Encarna das Krankenhaus verlassen und die künftige Ehefrau durch den souveränen Umgang mit den Reportern bestimmt, welche Informationen weitergegeben werden (Blancanieves (2012), TC: 00:16:00–00:16:52), oder als Encarna aus der Zeitung erfährt, dass Carmencita nicht von ihrem Liebhaber Genaro Bilbao getötet wurde und stattdessen einen großen Auftritt in der Arena von Sevilla hat (Blancanieves (2012), TC: 01:12:37). 40 Vgl.: Pablo Berger : »Blancanieves. Ein Märchen aus Schwarz und Weiß«, E/F: eye see movies 2012, TC: 01:04:08–01:04:20.

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Heron von Alexandria, Mathematiker und Ingenieur, entwickelte mit Flachspiegelprojektionen ein sogenanntes katoptrisches Theater41 und machte damit den magischen Spiegel im 17. Jahrhundert zum beliebten Bühnen-Requisit. Im Privaten rückte der Spiegel indessen in die Bereiche des Okkulten und des Parapsychologischen vor. Oft ging dies mit Geistererscheinungen und Beschwörungsritualen einher, oder auch mit neuen »Wissenschaften«, wie zum Beispiel der Lekantomantie,42 wenn das Beschworene im Wasserspiegel plötzlich sichtbar wrude. Die Faszination an der Illusion und der optischen Täuschung verlangte nach einer Befriedigung, die sich im Medium des Spiegels hervorragend erfüllen ließ. Die Verquickung von Volksglauben, ein »erwachendes Fiktionsbewußtsein«43 sowie kursierende Legenden um den antiken Zauberspiegel sorgten dafür, dass die Rezeption des Spiegels für wissenschaftliche Erkenntnisse und Reflexionen über seine mediale Bedeutung hinaus, bis heute Bestand hat; mit den Worten von Klaus Bartels: »Der Wille, in den Sehvorgang einzugreifen, ihn zu stimulieren und zu manipulieren kennzeichnet die Geschichte der Projektionskunst von Beginn an.«44

Theorie des Sehens – Die modernen Betrachter*innen Sehen ist ein grundlegender Organisationsvorgang, der mit menschlichen Sinnesaktivitäten verknüpft ist45 und sich gleichsam mit kognitiven Vorgängen, wie denen des Erinnerns, Fantasierens, und Wissens überlagert. Die visuelle Erfassung ist daher stets ein subjektiver Vorgang, der an zeitliche, räumliche und körperliche Koordinaten gebunden ist. In diesem Kapitel wird der Komplex von 41 Das katoptrische Theater basiert auf dem mechanischen Zerhacken des Sehvorgangs in Einzelbilder und beschreibt damit die Konstruktion von statischen Bildern zu einer Bewegungsillusion, wie sie der Film nach demselben Prinzip erzeugt. Vgl. Klaus Bartels: »Protokinematographische Effekte der Laterna magica in Literatur und Theater des achtzehnten Jahrhunderts«, Segeberg, Harro (Hrsg.) Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. Mediengeschichte des Films, Bdm 1. München: Wilhelm Fink 1996, S. 113–147, (S. 114). 42 Vgl.: Erik Peez: »Die Macht der Spiegel: das Spiegelmotiv in Literatur und Ästhetik des Zeitalters von Klassik und Romantik«, Frankfurt am Main: Lang 1990, S. 13–105, (S. 61). 43 Ebd. 44 Klaus Bartels: »Proto-kinematographische Effekte der Laterna magica in Literatur und Theater des achtzehnten Jahrhunderts«, Segeberg, Harro (Hrsg.) Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. Mediengeschichte des Films, Bdm 1. München: Wilhelm Fink 1996, S. 113–147, (S. 114). 45 Vgl.: Maurice Merleau-Ponty : »Phänomenologie der Wahrnehmung«, C. F. Graumann / J. Linschoten (Hrsg.): Phänomenologisch-psychologische Forschungen, Bd. 7, übersetzt aus dem Französischen und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm, Berlin: Walter de Gruyter 1966, S. 264–269.

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Sehen und Wahrnehmung im Lichte des 19. Jahrhunderts betrachtet. Die in diesem Zusammenhang vorgestellte These Jonathan Crarys (1990)46 beschäftigt sich mit der veränderten Rolle der Betrachter*innen, die mit neuen Medien und mit ungewohnten Seherfahrungen umgehen lernen mussten, also mit jenen optischen und kinematographischen Apparaten, die in einer Epoche entstanden, in welcher auch der Film Blancanieves verortet ist. Der Kunstkritiker Jonathan Crary blickt auf die Entwicklung in den Wissenschaftstheorien des Sehens und des Visuellen, als eine von Technik geleitete Geschichte. Er konstatiert, dass sich »Anfang des 19. Jahrhunderts in den verschiedensten sozialen Praktiken und Wissensgebieten ein grundlegender Wandel der Vorstellung vom Betrachter [vollzog].«47 Bis ins 18. Jahrhundert hinein stand noch die Camera Obscura48 als vorherrschendes optisches System und erkenntnistheoretisches Leitprinzip paradigmatisch für die Möglichkeiten des Sehens.49 Damit ist die Vorherrschaft der Zentralperspektive verbunden, die in der Camera Obscura die gleiche Positionierung der Zuschauer*innen konstituiert. Crarys These lautet, dass der Beginn des modernen Sehens mit der Erfindung des Stereoskops50 und anderen optischen Geräten zusammenfällt, die ab den 1820er Jahren zuhauf entwickelt und zu beliebten Mitteln des Volksvergnügungens wurden.51 Ein solches Spielzeug ist auch im Film Blancanieves präsent, als die kleine Carmencita mit einem einfachen optischen Gerät spielt, mit einem Zoetrop (einer Wundertrommel),52 das mechanisch bewegte Bilder erzeugt.53 Wie beim Daumenkino wird die stroboskopische Bewegung ausgenutzt, um die Illusion eines kontinuierlichen Bewegungsablaufes zu erzeugen. Die Funktionsweise 46 Jonathan Crary : »Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert«, Dresden: Verlag der Kunst 1996. 47 Ebd., S. 19. 48 Vgl.: Sabine Lenk: »Camera Obscura«, verfügbar unter : https://filmlexikon.uni-kiel.de/in dex.php?action= lexikon& tag=det& id=614 [letzter Zugriff 20. 09. 2019]. 49 Vgl.: Beate Söntgen: »Ich sehe was, was Du nicht siehst«, verfügbar unter : https://www.faz. net/aktuell/feuilleton/buecher/rezension-sachbuch-ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst-1129 9647-p2.html?printPagedArticle=true#pageIndex_1. [20. 09. 2019]. 50 »[Charles Wheatstone] berechnete und zeichnete Stereobildpaare und konstruierte […] einen Apparat, bei dem der Blick des Betrachters durch Spiegel auf die Halbbilder umgelenkt wurde […] Diesen Apparat nannte er Stereoskop, eine Bezeichnung, die für Doppelbildbetrachter bis heute verwendet wird.« (Hervorhebung durch V. D.) James zu Hüningen: »Stereoskop«, verfügbar unter : https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon & tag=det& id=898 [20. 09. 2019]. 51 Vgl.: Jonathan Crary : »Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert«, Dresden: Verlag der Kunst 1996, S. 103ff. 52 Vgl.: Sabine Lenk: »Zoetrope«. In: Sabine Lenk: »Camera Obscura«, verfügbar unter: https:// filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon& tag=det& id=614 [20. 09. 2019]. 53 Vgl.: Pablo Berger : »Blancanieves. Ein Märchen aus Schwarz und Weiß«, E/F: eye see movies 2012, TC: 00:39:30.

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entspricht im Prinzip der des Filmprojektors und verweist damit auf die vorkinematographische Epoche. Auf wundervolle Weise eröffnet sich in dem Bild des Spielzeugs eine Schnittstelle im Kontext von Spiegelmetaphorik, die die Theorien des Sehens und der Wahrnehmung mit dem Film verknüpfen. Gemäß Crary besteht eine besondere Herausforderung für die Beobachter*innen des 19. Jahrhunderts darin, sich mit den neuen Funktionen54 ihres Körpers und der Vermehrung indifferenter und wandelbarer Zeichen und Bilder (Codes) auseinanderzusetzen.55 Der Körper, beziehungsweise das Auge, wird zum Produzenten des Sehens und zum Entwickler seiner eigenen Wirklichkeit. Das Sehen in den Illusionen, Simulationen und Sinnestäuschungen der optischen Apparate wird physiologisch sichtbar. Nach Crary sehen sich die Beobachter*innen aber auch gleichzeitig – nun als moderner Typus des observers56 – dem Einfluss von gesellschaftlichen Mächten ausgesetzt: Sie werden zu Betrachter*innen/Konsument*innen57 und in Folge berechenbar, verwertbar und manipulierbar. Themen, die gesellschaftliche Veränderungen, beschleunigte Arbeitsverfahren durch die Industrialisierung und Ideologiekritik betreffen, schwingen hier mit, aber auch eine Betonung von Modernisierungsprozessen, die im Zusammenhang der Vormachtstellung des Visuellen im 19. Jahrhundert stehen. Die Psychoanalyse, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert als neue Wissenschaft etablierte, offeriert Erklärungsmodelle des Unbewussten, die sich in den, gleichfalls im Entstehungsprozess befindlichen Filmwissenschaften, niederschlagen und im 20. Jahrhundert in eine psychoanalytische Filmtheorie münden. Einige dieser Theorien sollen im folgenden beleuchtet werden.

Psychoanalyse – Technologien des Unbewussten Als 1899 Sigmund Freuds psychoanalytisches Werk Die Traumdeutung58 erschien, wusste er noch nicht, dass er damit die Grundlage für Theorien schuf, die sich in den 1970er Jahren zu psychoanalytischen Filmtheorien entwickeln

54 Zit. nach dem Originaltitel, Jonathan Crary : Techniques of the Observer. Cambridge/London: MIT Press 1990. 55 Vgl.: Jonathan Crary : »Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert«, Dresden: Verlag der Kunst 1996, S. 155. 56 Zit. nach dem Originaltitel, ebd. 57 Vgl.: ebd., S. 17. 58 Sigmund Freud: »Die Traumdeutung«, Ders.: Studienausgabe Sigmund Freud, Bd. 2, Frankfurt am Main: Fischer 2000 [1899].

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würden.59 Wovon er aber mit Sicherheit Kenntnis hatte, war die Funktion von Fotoapparaten und optischen Geräten, hat er doch »[a]n verschiedenen Stellen […] eine enge Korrespondenz zwischen psychischen Funktionen und technischen Medien nahegelegt.«60 Tatsächlich taucht in der psychoanalytischen Traumanalyse der Spiegel als Teil einer optischen Apparatur auf. So stellt Freud einen Vergleich zwischen dem psychischen Apparat, »[der] selbst durch ein Verhältnis von materiellen Trägern und immateriellen Effekten qualifiziert«61 ist und zu optischen Geräten her, deren Anordnung er als beispielhaft organisiert wertet.62 Er stellt sich vor, der Seelenapparat habe eine ähnliche Zusammensetzung wie ein »Mikroskop, ein[…] photographische[r] Apparat und dergleichen«63 und verortet die Psyche an der Stelle »an dem eine der Vorformen des Bildes zustande kommt.«64 Die optischen Effekte, die sich durch Linsen- und Spiegelkombinationen in dem Apparat entwickeln, werden ins Verhältnis zum Seelenapparat gesetzt und beschreiben die Leistung der Psyche als eine Herstellung des Ichs.65 Mit einer solchen Darstellung konstruierte Freud ein sogenanntes Dispositiv, das prinzipiell psychische Prozesse veranschaulichen sollte, die innerhalb einer bestimmten Anordnung stattfinden. Seine Analysen wurden dann in den psychoanalytischen Filmtheorien auf das Dispositiv des Kinos übertragen. Baudry (1975) lässt in seiner Theorie das Konzept der technischen Anordnung in eine Apparatus-Theorie einfließen, die sich an dem Höhlengleichnis Platons bzw. dem von ihm entworfenen Arrangement orientiert; Metz (1977) vergleicht das Verhältnis von Kinoleinwand und den Funktionen des Spiegels und lehnt sich dabei stark an die Theorie des Spiegelstadiums von Jaques Lacan [1949]66 an. Beide Betrachtungsweisen rücken – ähnlich wie in der Theorie Jonathan Crarys (1996) – die Betrachter*innen in den Mittelpunkt des Interesses. Sie werden als Teil der apparativen Rezeptionssituation im Kino angesehen, die die besondere Wirkungsweise auf ihre Sinne beschreibt.

59 Als die zwei Hauptvertreter der psychoanalytischen Filmtheorie gelten Christian Metz: Der imaginäre Signifikant: Psychoanalyse und Kino. Nodus Publ., 2000 [1977]; Jean-Louis Baudry 1999 [1975]. 60 Joseph Vogl: »Technologien des Unbewußten. Zur Einführung«, Lorenz Engell, u. a. (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur : die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA 1999, S. 373. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. (zit. nach Sigmund Freud). 64 Ebd. (zit. nach Sigmund Freud). 65 Vgl.: ebd. 66 Jaques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, Norbert Hass (Hrsg.): Jacques Lacan. Schriften I, aus dem Französischen von Peter Stehlin, Freiburg: Olten 1973, S. 61ff.

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Lacans Ausführungen zum Spiegelstadium67 sind als wegweisendes Konzept in den psychoanalytischen Filmtheorien aufgegriffen worden. Das Lacan’sche Spiegelstadium basiert auf der Annahme, dass das Ich (je)68 durch die erste Begegnung des Kleinkindes mit seinem Spiegelbild konstituiert wird. Im Sinne eines Aha-Erlebnisses69 löst diese Situation der Wahrnehmung eine Verwandlung im Subjekt aus, die mit »[einer] jubilatorische[n] Aufnahme«70 des eigenen, als vollkommen betrachteten Bildes, einhergeht. Das Ich, das vom Kind zuvor als fragmentiert wahrgenommen wird, weil es in dieser frühen Entwicklungsphase noch mobil eingeschränkt und von der elterlichen Fürsorge abhängig ist, bildet mithilfe seines Spiegelbildes ein imaginäres Ideal, das Ideal-Ich (moi),71 dem es sich von nun an in einem Prozess von Identifikation, von »Verkennen und Erkennen«72, anzugleichen bemüht ist, bis es sich selbst als Ich begreifen kann. Der Wahrnehmungsvorgang im Spiegelbild, ist Lacan zufolge lustvoll besetzt, aber auch angsterfüllt, da die Gefahr der Fragmentierung des neu gewonnenen Ideals jederzeit besteht und verhindert werden muss.73 Der Spiegel dient der Selbstvergewisserung und »[stellt] eine Beziehung zwischen dem Organismus und seiner Realität [her] – oder […] zwischen der Innenwelt und Umwelt.«74 Das Spiegelstadium verweist damit auf zwei Umstände: Die Konstituierung des Ichs geht mit dem Prozess der Selbsterkenntnis einher, der durch den Blick in den Spiegel hervorgerufen wird und das Fragmentierte Ich, das durch eine fantasierte, körperliche Vollständigkeit ausgeglichen wird, bedingt die Identifikation mit einem Selbstbild, das jedoch idealisiert wird. Beide Male wird durch den Anblick des eigenen Spiegelbildes ein Bild visualisiert; und in beiden Fällen liegt eine Täuschung, eine Illusion, vor. Im Kontext der psychoanalytischen Filmtheorie wird die Kinoleinwand den Funktionen des Spiegels gleichgesetzt, der einerseits den Prozess der Visualisierung beschreibt und andererseits durch die Nähe zum Traum, die Wirkungsweise von Bildern auf die Zuschauenden erklärt. Zudem verweist Lancans Spiegelstadium auf die philosophische Spiegelmetapher in seiner narzisstischen Variante, denn, so wie Narziss in das eigene Spiegelbild verliebt und unfähig ist, diese Täuschung zu erkennen, sucht das Subjekt gemäß Lacan das Imaginäre aufrechtzuerhalten. Die jeweils lustvolle 67 68 69 70 71 72

Ebd. Ebd., S. 63. Ebd. Ebd., S. 64. Ebd. Sven Herget: »Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film«, Marburg: Schüren 2009, S. 233. 73 Vgl.: Jaques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, Norbert Hass (Hrsg.): Jacques Lacan. Schriften I, aus dem Französischen von Peter Stehlin, Freiburg: Olten 1973, S. 67. 74 Ebd., S. 66.

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Besetzung in den beiden Komplexen ist das, was die Rezeptionserfahrung im Kino als befriedigendes Erleben gestaltet. Das nächste Konzept im Bereich der psychoanalytischen Filmtheorie, das hier vorgestellt werden soll, stammt von Baudry (1975) und basiert auf Platons Höhlengleichnis. Beschrieben wird eine spezifische Anordnung in einer Höhle, in der Gefangene (Zuschauer*innen) so gefesselt sind, dass sie nur auf eine (Lein-)Wand sehen können. Hinter ihnen befindet sich eine Lichtquelle (Projektor), die Schatten (Projektionen) von Gegenständen an die Höhlenwand wirft und die die Gefangenen als real wahrnehmen. Ihre Position ist immobil, daher können sie weder eine Realitätsprüfung75 von dem vornehmen, was sich ihnen als Simulacrum76 präsentiert, noch können sie ihren Blick von den Bildern abwenden. Die Gefangenen wollen es auch nicht; sie nehmen die Bilder, die sie sehen, als eine Tatsache an. Selbst nachdem sie darüber aufgeklärt wurden, dass sie lediglich einer Illusion zum Opfer gefallen sind, wollen sie den Realitätseindruck,77 den sie von den Bildern haben, nicht aufgeben. Die beschriebenen Bedingungen für den Traum, so wie sie durch Baudry als apparatives Dispositiv mithilfe von Freuds Traumstudien erklärt werden, wirken, wie auch bei Platons Höhlengleichnis, als Simulation des Realen, das zum beweglichen Bild gehört. Das kinematographische Dispositiv wiederholt diesen Traumzustand, indem es einen Regressionszustand künstlich herstellt (der dunkle Kinosaal) und die Zuschauenden ebenfalls als regressiv verortet (erzwungene Unbeweglichkeit). Zudem werden Sehnsüchte als halluzinatorische Traumerfüllung78 erfüllt und auf eine Leinwand projiziert, die eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Umwelt herstellen könnte (vgl.: Spiegelstadium), wenn sie als solche wahrgenommen würde. Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang die Kritik Linda Williams’. Sie betrachtet die Apparatustheorie als »Überbewertung eines angeblich infamen Realitätseffekts, wie sie beispielsweise bei[…] Jean Louis Baudry zu

75 Vgl.: Jean-Louis Baudry : »Das Dispositiv : Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseidrucks«, Lorenz Engell, Oliver Fahle, Britta Neitzel (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur : die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillar, Stuttgart: DVA 1999, S. 381–404, (S. 385ff.). 76 Ein Simulacrum kann ein Bild, ein Abbild oder auch ein Spiegelbild sein. Es kann als Täuschung und Illusion verstanden werden, aber auch als Vorstellung und Fantasie. Konkrete simulatorische Erscheinungen in Medienprodukten untersuchte Jean Baudrillard in den 1970er Jahren. Vgl.: Jean Baudrillard: »Agonie des Realen«, Berlin: Merve 1978. 77 Vgl.: Jean-Louis Baudry : »Das Dispositiv : Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseidrucks«, Lorenz Engell / Oliver Fahle / Britta Neitzel (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur : die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillar, Stuttgart: DVA 1999, S. 381–404, (S. 385ff.). 78 Vgl.: ebd., S. 395.

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finden ist.«79 Williams wirft Baudry die Inanspruchnahme eines aktiven weiblichen Blickes vor, der die Betrachter*innen fotografischer und vor allem filmischer Bilder nicht generell als passive Subjekte unheilvoller Ideologien bewerte. »Die psychoanalytische Apparatustheorie«, so Williams weiter, »generalisiere jedoch diese Macht [des Blicks] allzusehr.«80 Die Funktion der Leinwand als Projektionsfläche im Kino (und damit als Teil des Dispositivs) beschreibt Siegfried Kracauer mittels der Orientierung an der mythologischen Geschichte um Medusa. Kracauer betrachtet die Kinoleinwand als eine Art Schutzschild, der uns davor bewahrt, »die wirkliche[n] Greuel […] sehen und auch nicht sehen [zu] können, weil die Angst, die sie erregen, uns lähmt und auch blind macht.«81 In der Geschichte der Medusa wäre Perseus gestorben, wäre er nicht dem Rat der Athene nachgekommen, Medusa den Schild vorzuhalten, damit ihr tödlicher Blick vom Schild zurückgeworfen wird und sie an seiner Stelle versteinern lässt. Kracauer nutzt diese Analogie, um klar zu machen, dass die reproduzierten Bilder nicht von der Art jener [sind], in denen künstlerische Fantasie unsichtbares Grauen zu gestalten sucht, sondern [sie] haben den Charakter von Spiegelbildern. Unter allen existierenden Medien ist es allein das Kino, das in gewissem Sinne der Natur den Spiegel vorhält und damit die »Reflexion« von Ereignissen ermöglicht, die uns versteinern würden, träfen wir sie im wirklichen Leben an. Die Filmleinwand ist Athenes blanker Schild.82

Die Leinwand erlaubt es, auch Bilder des Grauens anzusehen und »das Grauenhafte aus seiner Unsichtbarkeit hinter den Schleiern von Panik und Fantasie [zu erlösen].«83 Der Status der Wahrnehmung im Kino wird mit dem Vergleich zum Traum bekräftigt, wenn der Effekt des Realitätseindrucks, der für den Traum charakteristisch ist, im Kino einen »[m]ehr als Realen Realitätseindruck«84 bewirkt.

79 Linda Williams: »Pornografische Bilder und die körperliche Dichte des Sehens«, Kravagna, Christian (Hrsg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S. 65–97, (S. 68). 80 Ebd. 81 Siegfried Kracauer: »Theorie des Films. Die Errettung der äußerlichen Wirklichkeit«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 395. 82 Ebd., S. 395. [Hervorhebung im Original] 83 Ebd., S. 396. 84 Jean-Louis Baudry : »Das Dispositiv : Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseidrucks«, Lorenz Engell / Oliver Fahle / Britta Neitzel (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur : die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillar, Stuttgart: DVA 1999, S. 381–404, (S. 400).

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Blancanieves. Ein Märchen von Schwarz und Weiß Im Folgenden werden anhand von ausgewählten Szenen die verschiedenen Spiegelmotive des Films untersucht. Der Fokus liegt auf den bereits vorgestellten Metaphern, die möglicherweise eine Verschränkung der beschriebenen Disziplinen in der Analyse sichtbar machen.

»Wende niemals die Augen vom Stier ab!«85 – Spiegelungen in den Augen Im Film Blancanieves schaut das Publikum gleich in einer der ersten Szenen86 dem Tod in die Augen, und zwar in die des Stieres, der den Matador Antonio Villalta fast tödlich angreift. Der berühmte Stierkämpfer wird durch das Blitzlicht einer Kamera geblendet und verpasst dadurch seinen Todesstoß. Zugleich erscheint das Bild einer Kameralinse, in deren Mitte sich der Stier im Angriff auf Villalta spiegelt. Das Spiegelbild wird mit einer weißen, kreisförmigen Aufblende innerhalb der Kameralinse überblendet und wechselt in die direkte Perspektive des Kampfgeschehens. Mit schnellen Schnitten sieht man, wie der Torero von dem Stier in der Arena attackiert und herumgeschleudert wird. Sowohl vor als auch nach dem Unfall zeigt der Film in Großaufnahmen die besorgten oder erschreckten Gesichter und Augen der Zuschauenden. Mehrere Motive fallen in der einführenden Szene auf. Deutlich erkennbar ist die Metapher der Spiegelung in den Augen des Stieres, der den Tod bringt und an den Mythos von Dionysos erinnert. Das kurze Aufblitzen eines Totenkopfes bekräftigt diese Annahme.87 Ähnlich wie Dionysos von den Titanen zerrissen wird, erfährt auch Antonio Villalta beinahe sein Ende in der Arena. Bezeichnenderweise verkörpert die Arena mit ihren Gladiatorenkämpfen sowie dem Kampf zwischen Mensch und Tier, im Diskurs der Filmtheorien die »Lust am Schauen von Greuel, Kampf und Tod.«88 Ausgelöst durch das grelle Licht des Aufnahmegerätes, erscheint die Kamera daher als Repräsentant des aggressiven und lustvollen Blickes, wenn die Spiegelung von der gewaltvollen »Zerreißung«89 85 Pablo Berger : »Blancanieves. Ein Märchen aus Schwarz und Weiß«, E/F: eye see movies 2012, TC: 00:41:10. 86 Vgl.: ebd., TC: 00:08:24–00:09:07. 87 Vgl.: ebd., TC: 00:09:01. 88 Walter Serner bemerkt in dem Aufsatz Kino und Schaulust (1913), dass dies vor allem auf die Attraktivität des jungen Mediums zurückzuführen sei. Tatsächlich machten bereits in der Frühphase des Kinos Kriminal- und Verbrechensgeschichten einen erheblichen Anteil an der Filmproduktion aus. Vgl.: Walter Serner : »Kino und Schaulust«, Anton Kaes (Hrsg.): KinoDebatte: Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929, Tübingen: 1978, S. 53–58. 89 Vgl.: Katrin Holthaus: »Im Spiegel des Dionysos«, Stuttgart u. a.: Metzler 2001, S. 39–51, (S. 40).

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des Stierkämpfers in der Linse sichtbar wird. Hierzu passt auch der verschlagen wirkende Fotograf, der sich nach dem Unfall fast verschämt mit seiner Kamera davonschleicht. Auf psychoanalytischer filmtheoretischer Ebene begegnet uns in dieser Szene Siegfried Kracauers Haupt der Medusa, deren voyeuristischer und sadistischer Blick auf das Kampfgeschehen in der Filmaufnahme für Zuschauende abgelenkt wird, indem die Bilder durch Schnitte und Blicke fragmentiert sind. Das Motiv der Selbstbegegnung und Selbstvergewisserung entwickelt sich hier im gegenseitigen Blick, gewissermaßen in der Spiegelung der Augen, oder medial ausgedrückt: in der Kameralinse. Antonio Villalta sieht im Moment des Todes in jenen platonischen Augenspiegel, der durch die Augen des Stieres symbolisiert wird. In einer anderen Szene ist es die kleine Carmencita, die das Todesmotiv erblickt.90 Bei ihren heimlichen Treffen mit dem Vater übt sie an einem ausgestopften Stier die Kunst der Matadore. Sie spiegelt sich in den Pupillen des Stieres während sie zum Todesstoß ansetzt. »Wende niemals die Augen vom Stier ab!«91 sagt ihr der Vater eindrücklich von seinem Rollstuhl aus. Die Szene endet in einer Reihe von scheinbar wild montierten Bildabfolgen. Zu sehen ist Carmencitas Spiegelung in den Pupillen des Stiers, im nächsten Bild, in derselben Kopfhaltung, die Augen des Vaters, dann sticht Carmencita zu, eine weitere Überblendung auf das Gesicht der Stiefmutter, ein Kaninchen, nochmals die Stiefmutter in der Totalen, diesmal ersichtlich, dass sie sich auf der Jagd befindet, Schnitt auf die Jagdhunde, schnelle, verwackelte Kamerafahrt aus der Perspektive der jagenden Hunde und als letztes Bild: der Vater im Rollstuhl.92 Die Jagd der Stiefmutter wird rhythmisch und visuell an die Stierkampfübungen von Carmencita und ihren Vater angeglichen. Diese spezifische Aneinanderreihung von assoziativen Einzelbildern stammt aus der filmästhetischen Werkstatt der russischen Filmemacher*innen der 1920er Jahre. Sie entwickelten dieses Verfahren der analytischen Montage und nannten dieses: konstruktive Montage93 – eine von vielen Montagetechniken, die zu den sogenannten formgebenden oder expres-

90 Vgl.: Pablo Berger : »Blancanieves. Ein Märchen aus Schwarz und Weiß«, E/F: eye see movies 2012, TC: 00:41:08–00:41:25. 91 Ebd., TC: 00:41:10. 92 Vgl.: ebd., TC: 00:41:10–00:41:47. 93 Einer ihrer bekanntesten Vertreter war Sergej Eisenstein, der in seinem Film Oktjabr (Oktober 1928) eine ganze poetische, assoziative Sequenz, die die Handlung unterbricht, verwendet und eine »intellektuelle« Montage etablierte. Vgl.: David Bordwell: »Visual Style in Cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte«, aus dem Amerikanischen von Mechthild Ciletti, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2001, S. 28ff.

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sionistischen filmästhetischen Theorien zählen und vor allem auf die Macht der Filmemacher*innen abzielt, die Realität zu modifizieren oder zu manipulieren.94

Spieglein, Spieglein an der Wand… – Selbstportraits, Weiblichkeit und der männliche Blick Im alltäglichen Leben bedeuteten die veränderten Sehgewohnheiten vor allem eins: Die Fotografie rückte in den privaten Bereich und überschwemmte ihn mit einer Flut von Bildern, die erotischer oder pornographischer Natur waren. Die Filmwissenschaftlerin Linda Williams greift in ihrem Beitrag: Pornografische Bilder und die körperliche Dichte des Sehens (1997) dieses Thema auf und analysiert die Veränderungen des Sehens vom feministischen Standpunkt aus, indem sie die Entstehung einer Vielzahl unterschiedlichster Sex-Bilder im 19. und 20. Jahrhundert untersucht. In den Filmwissenschaften, so die vorherrschende Meinung über dieses Phänomen, werden die massenproduzierten drucktechnisch vervielfältigten »schmierigen Pornobilder«95 als »das Resultat eines ungemein drastischen Realismus gedeutet, den die neuen Technologien der Bildproduktion ermöglicht hätten.«96 Diese Bewertung stützt sich auf die feministische filmtheoretische Tradition, dass die Obszönität, die dem Medium Fotographie und später dem Film anhaftete,97 eine durch den »männlichen Blick« konstatierte sei. Die Frau erhält den Status des Objektes und die »visuelle Lust«98, die das Betrachten solcher Fotos bietet, bezieht sich auf die Annahme, es gäbe ein aktives männliches Subjekt des Blicks, das seine Macht mit Hilfe der fotografischen Technologie ausübt.99 Williams kritisiert diese Ansicht als »Überbewertung einer phallischen Herrschaft über jegliche Form fotografischer Darstellungen und besonders über jene, die Frauen repräsentieren,«100 meint aber auch, dass dieses Konzept keiner anderen Form des Begehrens Raum lasse,

94 Für Rudolf Arnheim (1932), einen Vertreter der formgebenden Tendenz in der Filmtheorie, machen die technischen Begrenzungen, wie sie im Stummfilm gegeben sind, gerade ihre ästhetischen Tugenden aus. Sein Buch Film als Kunst gilt als das Standardwerk der expressionistischen Position. Vgl.: Rudolf Arnheim: »Film als Kunst«, München: Carl Hanser 1974. 95 Linda Williams: »Pornografische Bilder und die körperliche Dichte des Sehens«, Kravagna, Christian (Hrsg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S. 65–97, (S. 65). 96 Ebd. S. 65. 97 Vgl.: ebd., S. 66ff. 98 Ebd., S. 67 (zit. nach Abigail Solomon-Godeau, Abigail). 99 Vgl.: ebd. (zit. nach Abigail Solomon-Godeau, Abigail). 100 Ebd.

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als jener eines zentrierten männlichen Subjekts.101 Daher bedürfe es eines Modells des Sehens, »das alle Formen visuellen Genießens umfassen kann.«102 In Blancanieves gibt es zwei Szenen, die diesen männlich dominanten Blick aushebeln und eine Umkehrung von tradierten Geschlechts-Stereotypen in der Darstellung vornehmen. In beiden Filmeinstellungen steht der nunmehr weibliche Blick, repräsentiert durch die Stiefmutter, in einem sexuellen Zusammenhang: Einmal, wenn die Stiefmutter mit ihrem Geliebten in eindeutig sadomasochistischer Pose vor einem Spiegel steht und eine Peitsche in der Hand hält,103 und ein weiteres Mal, wenn sie sich mit einem Hund an der Leine portraitieren lässt und diesen durch den Liebhaber ersetzt, der dann auf allen Vieren vor ihr kniet.104 In beiden Szenen übernimmt Encarna die dominante Rolle in der sadomasochistischen Konstellation und bricht mit allen sexuellen Tabus ihrer Zeit. Die Schilderung solcher Praktiken kann als Reflexion auf die Entstehungszeit der Psychoanalyse gelesen und gleichzeitig als Referenz auf die »Flut von pornographischen Bildern im 19. Jahrhundert«105 angesehen werden. Die Stiefmutter verkörpert in Blancanieves eindeutig eine unabhängige, emanzipierte Frau, die sich männliche Attribute aneignet. Sie trägt Männerkleidung, geht auf die Jagd und ist die aktive, dominante Figur innerhalb ihrer sexuellen Beziehungen, die sie lustvoll im Anblick des Spiegels oder im Portrait inszeniert. Das Spiel mit heteronormativen Geschlechtszuschreibungen ist überaus auffällig in Blancanieves und zeigt sich beispielsweise in der Schneewittchen-Figur, die als weibliche Matadorin auftritt, oder in der Figur des Zwerges Jesusin, der sich lieber als Frau denn als Mann kleidet.

Fotosessions, Medaillons und Porträts Fortwährend werden in Blancanieves Portraits, Gemälde oder Medaillons gezeigt. Das Medaillon wird von Villalta vor dem Stierkampf innig geküsst und an die Madonnenstatue gehängt.106 Als Blancanieves das Portrait ihrer Mutter am Ende des Films dort findet, kehren ihre Erinnerungen langsam zurück: in einer Überblendung sehen wir die Fotografie der Mutter, dann das Gesicht Blanca101 Vgl.: ebd. 102 Ebd., S. 69. 103 Vgl.: Pablo Berger : »Blancanieves. Ein Märchen aus Schwarz und Weiß«, E/F: eye see movies 2012, TC: 00:36:38. 104 Vgl.: ebd., TC: 00:40:53. 105 Linda Williams: »Pornografische Bilder und die körperliche Dichte des Sehens«, Kravagna, Christian (Hrsg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S. 65–97, (S. 67). 106 Vgl.: Pablo Berger : »Blancanieves. Ein Märchen aus Schwarz und Weiß«, E/F: eye see movies 2012, TC: 00:03:38–00:03:54.

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nieves’ und eine sich drehende Schallplatte, die das Portrait Carmen de Trianas als die bekannte Flamencotänzerin zeigt, die sie einst war.107 Diese Einstellung verbindet die verschiedenen Medien, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einzug in die privaten Haushalte hielten und verweist gleichzeitig auf den Umbruch vom Stummfilm zum Tonfilm. Wir »sehen« Musik und Blancanieves’ Nachsinnen an die Mutter, die durch die visuelle Kombination mit dem Portrait im Medaillon erzeugt wird. Die Fotografie bringt ihre Abstammung zum Vorschein, das »was man an einem wirklichen Gesicht (oder seinem Spiegelbild) niemals wahrnimmt: einen genetischen Zug, ein Stück von sich selbst oder von einem Verwandten, das von einem Vorfahr stammt.«108 Das Antlitz ist im Film das wichtigste Ausdrucksmittel und das Gesicht auf dem Foto fungiert gemäß der Definition Roland Barthes’ als eine »Äußerung der Wahrheit und bringt das Subjekt zum Vorschein.«109 Barthes spielt damit auf die »Evidenz der Photographie«110, die eine Form von Gewissheit erzeuge: Wenn die Photographie sich nicht ergründen läßt, dann deshalb, weil ihre Evidenz so mächtig ist. Im Bild gibt sich der Gegenstand als ganzer zu erkennen, und sein Anblick ist gewiß – im Gegensatz zum Text oder anderen Wahrnehmungsformen […], alles was ich feststellen kann, ist, daß es so gewesen ist […].111

Wenn der Ausdruck (gleichbedeutend mit der Äußerung der Wahrheit)112 in der Fotografie richtig getroffen wird, kann das Abbild die Identität und den Gehalt der geliebten Person zum Vorschein bringen und fortdauern lassen. Die geliebte Person ist eins mit sich selbst.113 Die Fotoaufnahme selbst steht in Blancanieves fast immer mit dem Tod in Verbindung. So auch in einer anderen Szene.114 Nachdem Encarna ihren Mann getötet hat, wird dieser in seiner Stierkampfgarderobe auf einer Couch platziert und eine regelrechte Fotosession beginnt. Nach und nach kommen seine Frau, Bedienstete, Freunde und Verwandte und lassen sich mit dem Toten fotografieren. Diese Szene hat makabre Züge, denn der Fotograf fordert immer wieder zum Lächeln auf, wirkt aber auch ironisch, da die Personen den Verstorbenen hin und her schieben und ihn in ihre eigene Inszenierung der Fotoaufnahme wie einen Gegenstand integrieren. Am Ende, es ist schon dunkel geworden und nur 107 Vgl.: ebd., TC:01:15:16–01:15:40. 108 Roland Barthes: »Die helle Kammer, Bemerkungen zur Photographie«, 15. Aufl., aus dem Französischen von Dietrich Leube, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2014, S. 114. 109 Ebd., S. 119. 110 Ebd., S. 118. 111 Ebd., S. 117. 112 Vgl.: ebd., S. 119. 113 Vgl.: ebd., S. 121. 114 Vgl.: Pablo Berger : »Blancanieves. Ein Märchen aus Schwarz und Weiß«, E/F: eye see movies 2012, TC: 00:51:46–00:52:19.

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noch Carmen in ihrem Dienstmädchen-Kostüm lässt eine letzte Aufnahme mit ihrem Vater machen, verlässt der Fotograf das Haus. In mehreren Überblendungen folgen wir langsam der Kamera durch Türen und große Portale, wobei jede Einstellung wie ein Durchgang zu einem nächsten wird und dabei ein Element aus dem vorherigen Bild in das nächste mitgenommen wird, bis die Kamera mit einer Einstellung auf der Stiefmutter endet, die vor einem riesigen Kamin steht und in die lodernden Flammen sieht. Ihr Gesicht ist in dieser gespenstischen Situation bis ins Höchste stilisiert. Die Schatten und das Spiel mit Formen und Gesichtsausdruck rekurrieren an das expressionistische Kino und weisen den Film Blancanieves einmal mehr als Hommage an die Ära des Stummfilms aus.

Fazit Es ist interessant zu sehen, wie Pablo Berger große Teile des Grimm’schen Märchens von Schneewittchen übernimmt, andere Elemente aber gänzlich weglässt oder aber verändert. Blancanieves hat kein Happy End; im Gegenteil, der Film markiert die Umkehr vom märchenhaften zum tragischen Moment. In der letzten Szene von Blancanieves befinden wir uns auf einem Jahrmarkt und sehen ein Panoptikum unglaublicher Attraktionen,115 die sich aneinanderreihen. Blancanieves wird dort in ihrem Sarg auf einer Zirkusbühne als Attraktion ausgestellt und für etwas Kleingeld darf jeder Besucher die Verstorbene küssen, um zu sehen, ob sie erwacht. Mit einer automatischen Vorrichtung wird sie dann bewegt und das Publikum rennt schreiend davon.116 Rafita,117 der sich in Blancanieves verliebte, kann sich lediglich im Tode um sie kümmern – er kämmt ihr die Haare, schminkt sie und legt sich in ihrem gläsernen Sarg neben sie, als ihr dann im letzten Bild eine Träne aus dem Auge fließt.118 Lesbar wird hier die Faszination an der weiblichen Schönheit, die über den Tod hinaus Bestand hat; ein Motiv, das sich auch im Märchen auffindet. Die makabere Zur-Schau-Stellung der Leiche in Verbindung mit zeitgenössischen Medien, wird hier als Gesellschaftskritik lesbar. Pablo Bergers Filmadaption ist auf die Faszination des Sehens fokussiert sowie der Wahrnehmung von und dem Umgang mit neuen Medien. Das Spiegelmotiv wird intermedial in verschiedenen Variationen verwendet: in der Kamera oder in Augen, im lustvoll oder voyeuristisch besetzten Blick und in verschiedenen Medien der vorkinematographischen Ära. Gleich115 116 117 118

Vgl.: ebd., TC: 01:33:33 (insbesondere die Übersetzung). Vgl.: ebd., TC: 01:33:21 – TC: 01:33:42. Einer der »Stierkampf-Zwerge.« Vgl: ebd., TC: 01:39:56.

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zeitig rekurriert Berger auf den Stummfilm und seine Entstehungszeit, doch ist der Film in seiner Materialität glatt und sauber, es gibt keine verwackelten Bilder ; er ist nicht körnig, so wie man Stummfilme kennt. Dadurch, dass der Regisseur die ganze Palette moderner Filmtechnik bedient, reanimiert er sozusagen den längst verstorbenen Stummfilm und seine Ästhetik sowie die um 1900 präsenten Themen von Sehen und frühen Theorien der Filmwissenschaften und der Psychoanalyse. So scheint es folgerichtig, dass Blancanieves in der beschriebenen Szene ebenfalls wiederbelebt wird und niemals zu sterben scheint. Als eine der berühmtesten Untoten in der Geschichte der Märchen steht Blancanieves in dem Film deshalb auch als Metapher für den Stummfilm, der hier aufersteht und Schneewittchen in einem neuen Licht erscheinen lässt.

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Onlinequellen zu Hüningen, James: »Stereoskop« 2011, verfügbar unter : https://filmlexikon.uni-kiel.de/ index.php?action=lexikon& tag=det& id=898 [20. 09. 2019]. Kilb, Andreas: »Blancanieves ein Stummfilm aus Spanien. Schneewittchen in der Arena« 2013, verfügbar unter : https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/blancanieves-einstummfilm-aus-spanien-schneewittchen-in-der-arena-12684436.html [20. 09. 2019]. Lenk, Sabine: »Camera Obscura« 2011, verfügbar unter : https://filmlexikon.uni-kiel.de/in dex.php?action=lexikon& tag=det& id=614 [20. 09. 2019]. Reichert, Ramjn: »Selfie Culture. Kollektives Bildhandeln 2.0« 2015, verfügbar unter : https://mediarep.org/handle/doc/3790 [20. 09. 2019]. Söntgen, Beate: »Ich sehe was, was Du nicht siehst« 1996, verfügbar unter : https://www.faz. net/aktuell/feuilleton/buecher/rezension-sachbuch-ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst11299647-p2.html?printPagedArticle=true#pageIndex_1 [20. 09. 2019].

Maren Feller

Der Ausdruck des Unmöglichen – Die Sprache des Wahnsinns. Über den Nonsens in Lewis Carrolls Alice-Romanen und wie dieser in Tim Burtons filmischer Adaption umgesetzt wurde

Einleitung »Why is a raven like a writing-desk?«1 Diese Frage wird dem kleinen Mädchen namens Alice gestellt, als sie in einen Kaninchenbau fällt und sich plötzlich in einer grotesk überzeichneten Traumwelt wiederfindet. Lewis Carrolls Geschichte Alice’s Adventures Under Ground, die er Aufzeichnungen zufolge 1864 Alice Liddell als handschriftliche Fassung zum Geschenk machte, wird ein Jahr später unter dem Titel Alice’s Adventures in Wonderland2 veröffentlicht. Die Änderung des Titels impliziert eine größere Fokussierung auf die traumhaften, transzendenten Elemente, die innerhalb des Romans eine wichtige Rolle spielen. Diese Elemente werden in Carrolls Folgeroman Through the Looking-Glass, and What Alice Found There3 aus dem Jahr 1872 noch stärker sichtbar. Die Frage »Weißt du, was ein Rabe mit einem Schreibtisch gemeinsam hat?«4 ist ein Rätsel, für das es keine Lösung gibt; dieses Rätsel veranschaulicht eine Methode, die von Carroll zelebriert wurde und die den Weg ebnete für eine neue Bewertung der sogenannten Nonsens-Literatur. Das Genre der Nonsens-Literatur basiert auf einem Sprachgebrauch, bei welchem es zu einer »Verschiebung und Verdichtung«5 von Wort-Sinn-Zusammenhängen kommt und somit zu von Sprachnormen abweichenden Satz- und Wortgefügen. Diese Eigenschaften eröffnen wiederum eine Verbindung zu der

1 Lewis Carroll: »Alice’s Adventures in Wonderland«, New York: William Morrow 1992 [1866 Macmillan], S. 97. 2 Verwendete Ausgabe: Lewis Carroll: »Alice’s Adventures in Wonderland«, New York: William Morrow 1992 [1866 Macmillan]. 3 Verwendete Ausgabe: Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan]. 4 Übersetzung des Zitats aus Fußnote 1. Lewis Carroll: »Alice’s Adventures in Wonderland«, New York: William Morrow 1992 [1866 Macmillan], S. 97. [Übersetzung der Autorin] 5 Hermann Lang: »Die Sprache und das Unbewußte. Jaques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 238.

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»Sprachlogik des Unbewußten«6, die von dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan, vor allem unter Bezugnahme von sprachlich zeichenhaften Ausdrücken in Relation mit Fragen der Psychoanalyse, untersucht wurde. Diese psychoanalytischen Ansätze, insbesondere mit Hinblick auf die Freud’sche Traumdeutung, werden auch bei der Analyse der Alice-Romane relevant. Sie hängen zudem stark mit philosophischen Fragen nach Identität, Logik und Sinn zusammen. Der Philosoph Gilles Deleuze schreibt dezidiert über Carrolls Nonsens-Literatur : »Alles, was sich ereignet, ereignet sich bei Carroll in der Sprache und verläuft über die Sprache.«7 Nonsens wird an dieser Stelle nicht als Negation von Sinn gedacht, sondern als »die ursprüngliche Sprache des Unbewußten.«8 Unzählige Adaptionen haben versucht, den charakteristischen Nonsens-Charakter Carrolls umzusetzen. Besonders präsent in den letzten Jahren war die filmische Interpretation Alice in Wonderland9 (2010) von Tim Burton, die als psychedelisches 3D-Abenteuer große Erfolge feierte. Die Handlung sei dabei eine »Art Fortsetzungsgeschichte zu Carrolls Original […], die zwar Raum für viele seiner populären Figuren [biete], aber auch […] [als] eine dramaturgisch eigenständige Abenteuergeschichte«10 gesehen werden müsse. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den genannten Ansätzen und versucht Fragen des Traums, beziehungsweise des Unbewussten, in Verbindung mit der Bedeutung von Sprache zu untersuchen. Es soll nachvollzogen werden, wie sich der Wahnsinn in den Alice-Romanen als Traum-Sprache äußert und ob wir diese Sprache als Nonsens identifizieren können. Anhand einer direkten Textanalyse – vor allem im Hinblick auf das Nonsens-Gedicht Jabberwocky – wird herausgearbeitet, wie sich die literarische Welt von Lewis Carroll als eine transzendente Übergangswelt vom Traum zur Realität beschreiben lässt und wie sich diese Transzendenz sowohl im Hinblick auf ihren psychoanalytischen Zugang als auch hinsichtlich eines literarischen Ausdrucks des Nonsens-Genres äußert. In einem zweiten Schritt sollen diese Aspekte anhand von Tim Burtons filmischer Adaption nachvollzogen werden. Um eine klarere Eingrenzung zu ermöglichen, wird hierbei ebenfalls der Fokus auf sprachlich-semantische Ausdrücke des Nonsens gerichtet.

6 Ebd., S. 246. 7 Gilles Deleuze: »Logik des Sinns«, Aesthetica. Neue Folge Bd. 707, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1993, S. 41. 8 Sophie Salin: »Kryptologie des Unbewußten. Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2008 (Epistemata Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft Bd. 652–2008), S. 245. 9 Tim Burton: »Alice in Wonderland«, USA: Walt Disney Pictures 2010. 10 Christian Heger : »Mondbeglänzte Zaubernächte. Das filmische Universum von Tim Burton«, Marburg: Schüren 2010, S. 339.

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Nonsens – Semantischer Ausdruck des Wahnsinns? Semantische Anomalien Unter der Unsinnliteratur sind die Werke jener Autoren zu fassen, die, ohne die affirmative oder polemische Zugehörigkeit zu einer Kontinuität, gleichsam auf eigene Faust […] in die terra icognita der Mechanismen der Sprache einbrachen, wie Kinder mit ihnen spielend, ohne recht zu wissen, wozu das nütze war – oder vielmehr, das wußten sie ganz genau: es war ein Unsinn.11

Non-sense als Begriff verdeutlicht schon, dass es sich hierbei um eine Negation handelt. In erster Instanz muss der Begriff des Sinns, als strukturgebende, bedeutungsfestschreibende Ordnung definiert werden, um eine Differenz von dieser Norm einzuführen.12 Laut Deleuze ist »Sinn […] stets eine Wirkung, ein Effekt«13, der sich meistens als kausales System bestimmen lässt. Sinn ist also das, was wir schon als Bedeutung etabliert vorfinden, bevor wir aktiv eine Zuschreibung vornehmen. »Der Sinn ist immer vorausgesetzt, sobald ich zu reden beginne«14 – ohne dieses Paradigma würde Kommunikation nicht stattfinden können. Dabei sei »Sinn [so Deleuze, Anm.d.Verf.] niemals nur das eine von beiden Gliedern einer Dualität«15 und Un-Sinn, wenn wir diesem Gedankengang folgen, auch nie ein »frei sein von Sinn.«16 Bei der Methodik der Nonsens-Literatur handelt es sich vielmehr um distinktive und graduelle Anomalien und Neubesetzungen von Signifikanten innerhalb des bestehenden Sprachsystems.17 Mit der Tradition einer mimetischen Sprachlichkeit wird gebrochen, um eine Loslösung von der Bedeutungszuschreibung klarer linguistischer Bezüge zu erreichen: »Writers begin to free the materiality of language from meaning and reference.«18 Hier werden bestimmte sprachliche und grammatikalische Lücken innerhalb des Sprachsystems aufgedeckt und neu besetzt. Der Gebrauch von 11 Klaus Reichert: »Lewis Carroll. Studien zum literarischen Unsinn«, München: Carl Hanser 1974, S. 103. 12 Vgl.: Sanja Methner : »›We are all mad here‹. Über non-sense in Alice in Wonderland«, Helene von Bogen u. a. (Hrsg.): Literatur und Wahnsinn, Literaturwissenschaften Bd. 45, Berlin: Frank und Timme 2015, S. 73–84, (S. 73). 13 Gilles Deleuze: »Logik des Sinns«, Aesthetica. Neue Folge Bd. 707, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 97. [Hervorhebung im Original] 14 Ebd., S. 48. [Hervorhebung im Original] 15 Ebd. 16 Sanja Methner : »›We are all mad here‹. Über non-sense in Alice in Wonderland«, Helene von Bogen u. a. (Hrsg.): Literatur und Wahnsinn, Literaturwissenschaften Bd. 45, Berlin: Frank und Timme 2015, S. 73–84, (S. 73). [Hervorhebung im Original] 17 Vgl.: ebd. 18 Gabriele Schwab: »The Mirror and the Killer-Queen. Otherness in Literary Language«, Bloomington und Indianapolis: Indiana University Press 1996, S. 49.

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Nonsens führt in diesem Sinne auch dazu, dass wir etablierte Sprachsysteme in Frage stellen, da gerade in der Gegenüberstellung zu seinen Anomalien der ontologische Charakter dieser Systeme deutlich wird.19 Konkret bedeutet dies, dass in der Nonsens-Literatur kausale Wort-Sinn-Zusammenhänge gelöst und neu geknüpft werden, wobei »[w]eder syntaktische, phonetische, noch morphologische Prinzipien«20 komplett vernachlässigt werden. Nonsens entstehe daher fast ausschließlich »auf der Ebene der Semantik als Form von NichtVerstehen.«21 Es handelt sich demnach um semantische Anomalien, die aus der Ausnahme eine Regel konstruieren und daher ein alternatives Sprachsystem offenlegen. Der ›Unsinn‹ ist strukturiert und vollzieht sich mittels linguistischer Operationen, sodass es sich um ein kontrolliertes Entgleiten des üblichen Sinns durch die kontingent abweichende Verwendung eines Signifikanten handelt.22

Anders ausgedrückt: »[L]anguage no longer ›re-presents‹ but mocks it’s very foundations and speaks on its own against rhetorical conventions.«23 »Unsinn« ist demnach sehr wohl sinnstiftend, allerdings nicht unbedingt auf der Ebene eines kausalen, linguistischen Bedeutungsschemas, wie es zum Beispiel das Kommunikationssystem von Ferdinand de Saussure darstellt, das als Schema die Sprache (langue) in der Abgrenzung zum Begriff (parole)24 in der allgemeinen Sprachwissenschaft etabliert hat. Dieses konventionelle Sprachsystem erhält seine Bedeutung durch verschiedene, in einer Sprachgemeinschaft festgeschriebene Wortgefüge. Auch wenn bekannte Bedeutungszuschreibungen innerhalb des Systems des Nonsens keinen Bestand haben, scheint es doch »gerade dieses ›Un-sinnige‹, das […] sich für eine grundsätzliche Vieldeutigkeit öffnet.«25 Diese grundsätzliche Vieldeutigkeit auf der Bedeutungsebene wird allerdings einem stark verdichteten sprachlichen Ausdruck gegenübergestellt. Man könnte hier fast von einem einer Metapher ähnlichen Zustand sprechen: 19 Vgl.: Patricia Meyer Spacks: »Logic and Language in Through the Looking-Glass«, Robert Phillips (Hrsg.): Aspects of Alice. Lewis Carroll’s Dreamchild as seen through the Critics’ Looking-Glasses, Toronto: The Vanguard Press 1971, S. 267–275, (S. 269). 20 Sanja Methner : »›We are all mad here‹. Über non-sense in Alice in Wonderland«, Helene von Bogen u. a. (Hrsg.): Literatur und Wahnsinn, Literaturwissenschaften Bd. 45, Berlin: Frank und Timme 2015, S. 73–84, (S. 79). 21 Ebd. 22 Ebd., S. 73–84 (S. 73). [Hervorhebung im Original] 23 Gabriele Schwab: »The Mirror and the Killer-Queen. Otherness in Literary Language«, Bloomington und Indianapolis: Indiana University Press 1996, S. 49. [Hervorhebung im Original] 24 Zum Sprachsystem nach Ferdinand de Saussures vgl.: Hermann Lang: »Die Sprache und das Unbewußte. Jaques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 170. 25 Ebd., S. 70. [Hervorhebung im Original]

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»Die Metapher muß eine lexikalische Leerstelle ausfüllen, ohne zu einem Signifikat zu erstarren.«26 Die Festschreibung klarer sprachlicher Regeln wird als Utopie entlarvt. Der Humor, der sich in der Nonsens-Sprache entfaltet, beruht hauptsächlich darauf, dass sie mit diesen sprachlichen Grenzen spielt, ohne sie jemals komplett zu verletzten. A nonsense text […] plays with the bounds of common sense in order to remain within view of them, even if it has crossed to the other side of the frontier ; but it does not seek to limit the text’s meaning to one single interpretation.27

Nonsens muss gleichzeitig auf zwei verschiedenen Ebenen gelesen werden. Die verschiedenen Bedeutungen werden nicht getrennt, sondern zusammen gedacht:28 »In other words, nonsense deals not in symbolism but in paradox.«29 Das Prinzip des Paradoxes zeigt sich zum Beispiel in der Verwendung sogenannter »Kofferwörter.«30 Diese vereinen zwei Wörter und ihre jeweilige semantische Bedeutung in einem einzelnen Wort. Die Methodik der sprachlichen Verdichtung, zusammen mit der paradoxen Semantik dieser Begriffe, prädestinieren diese Art von Wörtern für eine Verwendung in der Nonsens-Literatur : On the one hand portmanteau-words are a linguistic scandal – they flout the principle of the linearity of signifiers, since the homophonous string is the locus for the superposition, not the concatenation, of the two words that make up the portmanteau. On the other hand, the strictly conform, with the exception of the homophonous string, to internal principles of order und linearity.31

Ein weiterer Aspekt dieser paradoxen Wort- und Sinnzusammenführungen ist die Synthese von Wort-Ding Bedeutungen. Diese werden innerhalb des Satzgefüges nahezu gleichgesetzt und ermöglichen somit eine Wortwörtlichkeit, also ein auf seine wörtliche Aussagekraft reduziertes Zeichen. Diese Maxime (»maxim of literalness«32) liegt im Kern der Nonsens-Literatur und hierin besteht ihre groteske Komik: »One of the constant comic devices of the genre is the literalisation of abstractions.«33 Es zeigt sich also, dass die potenzielle Mehrdeutigkeit der Nonsens-Literatur durch eine semantische Verschiebung und Verdichtung bedingt wird. Diese Begriffe, die bei der Untersuchung von sprachlichen Phänomenen in der Nonsens-Literatur entscheidend werden, sind 26 Sophie Salin: »Kryptologie des Unbewußten. Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2008, S. 109f. 27 Jean-Jaques Lecercle: »Philosophy of Nonsense. The Intuitions of Victorian Nonsense Literature«, London und New York: Routledge 1994, S. 20. 28 Vgl.: ebd. 29 Ebd. 30 Zur Definition des Begriffs Kofferwort (portmanteau-word), vgl.: ebd., S. 44–51. 31 Ebd., S. 59f. 32 Ebd., S. 207. [Hervorhebung im Original] 33 Ebd., S. 208.

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geprägt durch Sigmund Freuds Abhandlung Die Traumdeutung, welche dem Traumgeschehen eben jene Funktion einer verschobenen und verdichteten Wunscherfüllung durch das Unterbewusstsein attestiert.34 Freud weist außerdem auf Gemeinsamkeiten zwischen der Sprachlichkeit in Träumen und einer pathogenen Sprachlichkeit hin, also einer Sprachlichkeit, die sich innerhalb psychischer, zum Beispiel schizophrener, Krankheitsbilder zeigt. Der Traum ist unzusammenhängend, vereinigt ohne Anstoß die ärgsten Widersprüche, läßt Unmöglichkeiten zu, läßt unser bei Tag einflußreiches Wissen beiseite […]. Wer sich im Wachen so benehmen würde, wie es der Traum in seinen Situationen vorführt, den würden wir für wahnsinnig halten; wer im Wachen so spräche oder solche Dinge mitteilen wollte, wie sie im Trauminhalt vorkommen, der würde uns den Eindruck eines Verworrenen oder eines Schwachsinnigen machen.35

Auch wenn wir heute viele Ansätze von Freud kritisch betrachten müssen, ist seine Beobachtung, dass die Sprache in Träumen und der Sprachgebrauch oder -verlust in Bezug auf bestimmte psychische Krankheitsbilder Ähnlichkeiten aufweist, doch auch für die Untersuchung von Alice in Wonderland interessant; denn auch hier wird immer wieder die Frage nach Realität oder Traum, nach Logik oder Wahnsinn gestellt. Die Sprachlichkeit einer psychischen Erkrankung kann also auch mit der Sprachlichkeit der Nonsens-Literatur verglichen werden.36 Zugespitzt könne man demnach von Nonsens als semantischem Ausdruck des Wahnsinns sprechen.

Lewis Carrolls Unsinn ›It seems very pretty,‹ she said when she had finished it, ›but it’s rather hard to understand!‹ (You see she didn’t like to confess even to herself, that she couldn’t make it out at all.) ›Somehow it seems to fill my head with ideas – only I don’t exactly know what they are!‹37

So wird Alices erste Reaktion auf die Wirkung des Nonsens-Gedichts Jabberwocky in Through the Looking-Glass beschrieben. Sanja Methner schreibt: »Den Kopf mit Ideen, Assoziationen oder mehreren Bedeutungen zu füllen, das könnte

34 Vgl.: Sigmund Freud: »Die Traumdeutung«, Frankfurt am Main: Fischer 1999 [1900], S. 285–288 sowie S. 309–314. 35 Ebd., S. 70. 36 Vgl.: Jean-Jaques Lecercle: »Philosophy of Nonsense. The Intuitions of Victorian Nonsense Literature«, London und New York: Routledge 1994, S. 208. 37 Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 21. [Hervorhebung im Original]

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als Wirkungsweise von Carrolls Unsinn überhaupt verstanden werden.«38 Man hat in diesem Zusammenhang fast den Eindruck, Sprache wäre etwas, das dem Autor einfach widerfährt – und es ist kein Zufall, dass Carroll mit Humpty Dumpty ein Wesen kreiert hat, das sich als Meister des Wortes profiliert: ›When I use a word‹, Humpty Dumpty said in rather a scornful tone, ›it means just what I choose it to mean – neither more nor less.‹ / ›The question is‹, said Alice, ›whether you can make words mean so many different things.‹ / ›The question is‹, said Humpty Dumpty, ›which is to be master – that’s all.‹39

Die hier transparent gemacht Idee beinhaltet ein Sprachverständnis, in welchem Wörter alles bedeuten können und eine Bedeutungszuschreibung ganz willkürlich vorgenommen werden kann. Biografische Interpretationsansätze sollten immer nur unter gewissen Gesichtspunkten und stark eingeschränkt in Betracht gezogen werden, können aber hilfreich sein, um ein allgemeines Verständnis für das Sprachgefühl und gewisse stilistische Entscheidungen eines Autors zu erhalten. Es ist in diesem Zusammenhang nicht irrelevant zu erwähnen, dass der Name Lewis Carroll ein Pseudonym ist. Charles Lutwidge Dodgson, ein Mathematikprofessor, der an Sprachstörungen, wie stottern, litt, nutzt wiederum ein Sprachspiel, um aus seinem Namen nicht nur eine Romanfigur zu formen – einige Quellen erläutern, dass aus dem gestotterten »Do-Do-dodgson«40 des Autors die Figur des Dodos in Alice Adventures in Wonderland wird41 – sondern auch um ein Pseudonym zu formen, das aus einer Person zwei Personen macht. So werde laut Reichert, Carrolls »Verhältnis zur Umwelt […] durch die eigene Doppelperson bestimmt«42 und diese Eigenwahrnehmung sei wiederum in seinen Alice-Romanen abgebildet. Die Wandlungsfähigkeit des Ichs wird auch innerhalb seines Sprachgebrauchs deutlich. Durch verschiedenste Sprach- und Wortspiele, durch Rätsel, »durch wörtliche genommene Idiome […], durch Neologismen, das heißt das, was Carroll Portmanteau Words genannt hat«43, werden verschiedene semantische Bedeutungsebenen komprimiert und verdichtet. Methner thematisiert »Carroll[s] Sprache als System von Mehrdeutigkeiten, in welchem der geregelte Gebrauch durch Ausnahmen destabilisiert werden 38 Sanja Methner : »›We are all mad here‹. Über non-sense in Alice in Wonderland«, Helene von Bogen u. a. (Hrsg.): Literatur und Wahnsinn, Literaturwissenschaften Bd. 45, Berlin: Frank und Timme 2015, S. 73–84, (S. 80). 39 Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 111. [Hervorhebungen im Original] 40 Klaus Reichert: »Lewis Carroll. Studien zum literarischen Unsinn«, München: Carl Hanser 1974, S. 62. 41 Vgl.: ebd. 42 Ebd., S. 43. 43 Ebd., S. 69f. [Hervorhebung im Original]

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kann.«44 Wie bereits dargelegt, ist Unsinn demnach nicht ein Frei-sein von Sinn. Der Carroll’sche Nonsens folgt klar strukturierten, sprachlichen Regeln. Das heißt, wenn Humpty Dumpty Alice in Through the Looking-Glass die Bedeutung einzelner Portmanteau-Words erklärt,45 dann lässt sich durchaus eine gewisse Logik erkennen. Oft bleibt bei diesem Spiel mit der Sprache die grammatikalische Struktur erhalten und nur einzelne Wörter oder Buchstaben werden verändert oder in einen anderen Sinn-Zusammenhang gestellt. Niemals verliert die Figur bei Carroll ihr gesamtes Vermögen zu sprechen, sondern trifft in der Regel nur auf Unverständnis. Es handelt sich demnach um eine zeitlich abgegrenzte, oberflächliche Irritation der sprachlichen Integrität. Die Destabilisierung der Sprache verläuft grenzwertig, ohne jemals in das vollkommene Chaos abzugleiten: Carrolls Strategie in der Erzeugung und im Umgang mit Unsinn lässt sich insofern als oberflächliches Aufgreifen und Umkehren von bestehenden Strukturen zusammenfassen, mit dem Effekt der kurzzeitigen bedrohlichen und verunsichernden Destabilisierung und gleichzeitigem Stützen des sprachlichen Systems durch die Festlegung auf einen anderen Sinn.46

Entscheidend für die Untersuchung ist die bereits mehrfach angesprochene Verdichtung auf einen metaphorischen Sinn, der allerdings wörtlich gelesen wird. Klaus Reichert erläutert, dass [a]ll das […] zugleich Techniken des Traums [sind], der […] absurd erscheint, weil er sprachlich Komplexes oder Mehrdeutiges nur im Nacheinander der einzelnen Komponenten darstellen kann.47

Carrolls Schreibmethode kann in diesem Zusammenhang als eine »surrealistische Erfahrungen des automatischen Schreibens«48 betrachtet werden, die durch freies Assoziieren ermöglicht, »Vorbewußtes zu aktivieren […] und Verschüttetes aus dem Unbewußten an die Oberfläche zu befördern.«49 Die anormale narrative Struktur der Traumsprache ist dabei ein Hauptaspekt des literarischen 44 Sanja Methner : »›We are all mad here‹. Über non-sense in Alice in Wonderland«, Helene von Bogen u. a. (Hrsg.): Literatur und Wahnsinn, Literaturwissenschaften Bd. 45, Berlin: Frank und Timme 2015, S. 73–84, (S. 73). 45 Vgl.: Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 114. 46 Sanja Methner : »›We are all mad here‹. Über non-sense in Alice in Wonderland«, Helene von Bogen u. a. (Hrsg.): Literatur und Wahnsinn, Literaturwissenschaften Bd. 45, Berlin: Frank und Timme 2015, S. 73–84, (S. 81). 47 Klaus Reichert: »Lewis Carroll. Studien zum literarischen Unsinn«, München: Carl Hanser 1974, S. 70. 48 Ebd., S. 45. 49 Ebd.

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Unsinns.50 Betrachtet man Alice’s Adventures in Wonderland und Through the Looking-Glass, zeigt sich deutlich, wie verschiedene »odd ideas sozusagen, Einfäll[e], Paradoxa, Parodien, wörtlich genommen[e] Sprache«51 und Assoziationen aneinandergereiht wurden. Die Romane folgen keiner narrativen Klimax, sondern sind durch einzelne lose Episoden strukturiert.52 Aus dieser episodischen Erzählweise konstituiert sich der Eindruck, dass bei Carrolls Erzählung keine inhaltliche Hierarchisierung von Ereignissen aufgemacht wird.53 Diejenigen Elemente, die Carrolls Nonsens-Sprache einer Traum-Sprache ähnlich machen, werden auch von Psychoanalytikern wie Sigmund Freud als Verbindungselemente zwischen Sprache und Aspekten des Unbewussten untersucht. So erkennt Freud laut Reichert das »Unbewußte als die gemeinsame Wurzel von Traum und Witz«54 an.

»Sometimes I’ve believed as many as six impossible things before breakfast«55 – Nonsens als Schnittstelle zwischen Wachzustand und Traum in Buch und Film [W]hen we are dreaming and, so often happens, have a dim consciousness of the fact and try to wake, do we not say and do things which in waking life would be insane? May we not then sometimes define insanity as an inability to distinguish which is the waking and which is the sleeping life? We often dream without the least suspicion of unreality.56

Diese Tagebuchnotiz von Lewis Carroll aus dem Jahr 1856 unterstreicht sein Interesse am mysteriös-diffusen Übergang zwischen Wach- und Schlafzustand bzw. der Differenzierung der verschiedenen Bewusstseinszustände. In beiden Romanen markiert er die Schwelle zwischen der innerfiktional realen Welt und der traumhaften Umgebung des Wunderlands nicht als eindeutig. Im ersten Buch wird der Übergang ins Traumhafte schon vor dem Fall in den Kaninchenbau suggeriert. Alice liegt mit ihrer Schwester auf einer Wiese und kämpft gegen ihre Müdigkeit an: »[T]he hot day made her feel very sleepy.«57 In diesem Moment sieht sie ein weißes Kaninchen, das Handschuhe und eine Weste trägt 50 51 52 53 54 55

Vgl.: ebd., S. 44. Ebd., S. 69. [Hervorhebung im Original] Vgl.: ebd., S. 58. Vgl.: ebd., S. 69. Ebd., S. 46. Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 89. 56 Tagebucheintrag von Lewis Carroll (9. Februar 1856), zit. nach: ebd., S. 47. 57 Lewis Carroll: »Alice’s Adventures in Wonderland«, New York: William Morrow 1992 [1866], S. 2.

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und hektisch etwas vor sich hinspricht.58 Alice, dies wird als erzählerischer Einschub markiert, empfindet diese Situation allerdings als natürlich: »[W]hen she thought it over afterwards, it occurred to her that she ought to have wondered at this, but at the time it all seemed quite natural.«59 Durch Alices Wahrnehmung des Unmöglichen als natürlich, zeigt sich erneut eine verschobene Generierung von Sinnzusammenhängen. In Burtons filmischer Adaption wird der fließende Übergang zwischen Wachzustand und Traum ebenfalls als graduell eintretend illustriert. Die Szenerie zeigt eine viktorianische Gartenparty.60 Die Figur der hier 19-jährigen Alice wird als träumerischer Freigeist eingeführt. Bei einem Tanz mit ihrem lästigen Verehrer, Haymitch, verhält sich Alice konträr zur viktorianischen Norm, die hier durch das Setting hervorgehoben wird. Auf Haymitchs Frage: »Where is you head?«, antwortet Alice: »I was wondering what it would be like to fly.« Auch Haymitchs abschätzige Bemerkung: »Why would you spend your time thinking about such an impossible thing?«, übergeht Alice: »Why wouldn’t I? – my father said he sometimes believed in six impossible things before breakfast.«61 Diese Idee der Möglichkeit des Unmöglichen wird auch bei Carroll, nämlich in dem Gespräch zwischen der weißen Königin und Alice in Through the Looking-Glass transparent. Hier erscheint die Möglichkeit des Unmöglichen als ein Paradigma, das die Schulung der Einbildungskraft beinhaltet: ›I can’n’t believe that!‹ said Alice. ›Can’n’t you?‹ the Queen said in a pitying tone. ›Try again: draw a long breath, and shut your eyes.‹ Alice laughed. ›There’s no use trying,‹ she said: ›one ca’n’t believe impossible things.‹ / ›I daresay you haven’t had much practice,‹ said the Queen. ›When I was your age, I always did it for half-an-hour a day. Why, sometimes I’ve believed as many as six impossible things before breakfast.‹62

Der Übergang zwischen Wachzustand und Traumwelt vollzieht sich ebenfalls in einer Bewegung zwischen Bewusstsein und dem Unbewussten. Carroll illustriert dies sehr konkret, wenn er am Anfang seiner Geschichte Alice in den Kaninchenbau stürzen lässt. Sie fällt mitten hinein in ihr geträumtes Unterbewusstsein und gelangt schließlich wieder an die Oberfläche indem sie scheinbar – und sehr plötzlich – wie aus einem Traum aufschreckt. Sophie Salin beschreibt diese »doppelte Bewegung«63 eher als ein Eintauchen und Auftauchen, »von Außen 58 59 60 61 62

Vgl.: ebd. Ebd. Tim Burton: »Alice in Wonderland«, USA: Walt Disney Pictures 2010, TC: 00:04:13–00:06:23. Ebd., TC: 00:06:09–00:06:23. Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 88f. 63 Sophie Salin: »Kryptologie des Unbewußten. Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2008, S. 220.

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nach Innen und dann von Innen nach Außen.«64 Sie folgt in ihren Erläuterungen Gilles Deleuze, welcher ebenfalls an der Erzählung Carrolls darlegt, wie Elemente »des Unbewußten an die Oberfläche steigen.«65 Dieser transzendente Übergang sei außerdem, so Reichert, »eine Art Verdichtung im Freudschen Sinn.«66 Folgen wir Freud an dieser Stelle, kann der Traum als eine Art Text verstanden werden. Dieser Text wird als Sprache des Unbewussten in der Psychoanalyse untersucht: »Freud will die Rhetorik des Unbewußten anhand des Traumes erforschen. Ihm kommt der Traum wie ein Rätsel-Text oder Palimpsest vor.«67 Auf der verrückten Tee-Party wird sowohl bei Carroll als auch bei Burton das Rätsel des Raben und des Schreibtischs von dem Verrückten Hutmacher vorgetragen. Hier zeigt sich der Ausdruck des Nonsens als literarische Form, die ihre Sprachlichkeit von der Bedeutung zu trennen vermag: »[T]o produce the absent meaning, as an expression without a meaning, of which the riddle without an answer is the emblem.«68 Das Verstehen wird für den Gebrauch der Sprache nicht mehr impliziert. In Burtons Film kommt es in der ebenfalls an Carrolls Vorlage angelehnten Szene der Mad Tea Party immer wieder zu sprachlichen Ausbrüchen. Als Beispiel ist das Verhalten des Märzhasen zu nennen, der auf der Tee-Party immer wieder einzelne Dinge benennt, als müsste er sich daran erinnern, wie diese genannt werden: Zum Beispiel »cup«69 oder »spoon«70 ; oder den kaum zu verstehenden Ausspruch: »Downal wyth Bluddy Behg Hid«71, den alle Tee-PartyBesucher*innen plötzlich ausrufen, und den die Cheshire Cat für Alice mit: »Down with the Bloody Big Head«72 übersetzt. Gerade bei dieser Darstellung von sprachlichen Ausbrüchen, kommt Burtons Verfilmung sehr nahe an Carrolls literarische Vorlage, indem versucht wurde, eine »hintergründige[…] Verrücktheit«73 zu betonen, die sich sprachlich manifestiert. Es ist aufschlussreich, diese Art von sprachlichen Ausbrüchen bzw. Abweichungen von einer sprachlichen Norm, im Hinblick auf Lacans »Sprache des

64 Ebd. 65 Ebd. 66 Klaus Reichert: »Lewis Carroll. Studien zum literarischen Unsinn«, München: Carl Hanser 1974, S. 57. 67 Sophie Salin: »Kryptologie des Unbewußten. Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2008, S. 113. 68 Jean-Jaques Lecercle: »Philosophy of Nonsense. The Intuitions of Victorian Nonsense Literature«, London und New York: Routledge 1994, S. 119. 69 Tim Burton: »Alice in Wonderland«, USA: Walt Disney Pictures 2010, TC: 00:30:30. 70 Ebd., TC: 00:34:55. 71 Ebd., TC: 00:30:43–00:30:48. 72 Ebd., TC: 00:30:51. 73 Pia Weiler : »Analyse einer filmischen Adaption. Alice im Wunderland von Tim Burton im Vergleich zu den Büchern von Lewis Carroll«, o.O. 2013, verfügbar unter : https://www.grin. com/document/267075, [28. 08. 2019], S. 4.

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Unbewußten«74 einzuordnen. Lacan untersucht diese in Bezug auf die Theorien Freuds, die erläutern, wie sich das Unbewusste »in Fehlleistungen, Versprechern oder im Witz sprachlich äußert.«75 Diese Elemente lassen sich sowohl bei Carroll als auch bei Burton erkennen. Carrolls Sprache zeichnet sich durch ein besonderes Maß an Bildhaftigkeit aus, die, wie es Burton in einem Interview formuliert, »iconic images«76 generiert hat, welche wiederrum von der englischen und europäischen Kultur aufgenommen wurden.77 Die Bildhaftigkeit der Carroll’schen Sprache gelangt gerade durch ihre metaphorische Vieldeutigkeit und literarische Eindeutigkeit zur Darstellung. Die Vorstöße innerhalb der Traumdeutung, die Untersuchung von Sprachsystemen und die Ausweitung psychoanalytischer Theorien sind dabei Teil eines historischen Diskurses. Der sprachliche Ausdruck wird ein dezidierter Untersuchungsgegenstand als Bindeglied zwischen Traumgeschehen und Psychoanalyse. Bewusstsein und Unbewusstes sind in diesem Sinne durch die NonsensSprache verbunden, ebenso wie durch den traumhaften Zustand, in welchem »das unerforschbare Unbewußte auf das Bewußtsein abfärben kann.«78 Alice kann sich zuerst nicht im Wunderland zurechtfinden, da sie »daran gewöhnt [ist], die bewußte, von Regeln konstituierte Sprache zu sprechen«79, während die Sprache im Wunderland einer psychologisierten, dem Unterbewusstsein zugeordneten Misch-Sprache gleicht,80 die eine Verbindung zwischen einer Traumsprache und der gesellschaftlichen Sprachnorm aufmacht: Im Wunderland sind Wörter und Dinge austauschbar. Den Schizophrenen gleich gehen die Bewohner des Wunderlandes und des Spiegellandes von einer Übereinstimmung des Sinns mit dem Signifikanten aus […]. Sie nehmen alles wortwörtlich […]. Alices Gastgeber sprechen in der Sprache des Unbewußten, in dem sie die Wörter mit den Dingen verwechseln.81

Der Traum und insbesondere der Traum im Transit zum Wachen, werden mit einer Art pathologischen Wahnsinn in Beziehung gesetzt – »in beiden verhielte man sich, spräche man gleich verrückt«82, so Reichert. Das Verrücktsein wird im 74 Sophie Salin: »Kryptologie des Unbewußten. Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2008, S. 120. 75 Ebd. 76 Christian Heger : »Mondbeglänzte Zaubernächte. Das filmische Universum von Tim Burton«, Marburg: Schüren 2010, S. 339. 77 Vgl.: ebd. 78 Sophie Salin: »Kryptologie des Unbewußten. Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2008, S. 95. 79 Ebd., S. 245. 80 Vgl.: ebd., S. 245. 81 Ebd., S. 232. 82 Klaus Reichert: »Lewis Carroll. Studien zum literarischen Unsinn«, München: Carl Hanser 1974, S. 48.

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Wunderland nicht als außergewöhnlicher Zustand beschrieben, sondern als Allgemeingültigkeit. Als Alice die Grinsekatze nach dem Weg fragen möchte, verwickelt diese Alice wiederum in Missverständnisse und bringt schließlich mit einem Satz genau diese Bedeutungsverschiebung des verrückten Zustands auf den Punkt: »[W]e’re all mad here.«83 Also ist die Verrücktheit nur deshalb weiterhin anormal, weil Alice zuerst noch versucht an der Logik und ihr vertrauten Konventionen festzuhalten. Die Kollision logischer und verrückter Elemente erzeugt dabei den für den/die Rezipient*in wahrnehmbaren, sprachlichen Nonsens: »The collision of dream and, by extension, schizophrenia and logic, characterizes […] the fictional construction of the textual world and the devices that generate nonsense.«84 Der/die Rezepient*in erkennt, genau wie Alice, dass sich das Wunderland an der Grenze zwischen Traum und Realität befindet.

Das Alice-in-Wonderland-Syndrom in Buch und Film – Die Identitätsfrage im Spannungsfeld von Realität, Traum und Sprache Depersonalisation, Entpersönlichung, Störung des Ich-Erlebens. Verschiedene psychische Prozesse wie Wahrnehmung, Körperempfinden, Fühlen und Denken werden anhaltend oder wiederholt nicht als dem Ich zugehörig empfunden.85

Das s. g. Alice-in-Wonderland-Syndrom, als bestimmte Form einer Depersonalisations-Störung, bezeichnet in der Psychologie demnach die »Beeinträchtigung des Persönlichkeitsbewusstseins, wobei sowohl das eigene Ich wie die Umwelt traumhaft, unwirklich erscheinen.«86 Die beschriebenen Symptome lassen sich auch Alice, der Namensgeberin des genannten klinischen Zustands, attestieren: »Die Geschichte von Carrolls Alice ist eine Geschichte der Irritationen – bezogen auf das eigene Ich der Heldin wie auf die Wirklichkeit, mit der sie es zu tun bekommt.«87 Dieser Diskurs in Bezug auf das Ich als philosophische

83 Lewis Carroll: »Alice’s Adventures in Wonderland«, New York: William Morrow 1992 [1866], S. 90. [Hervorhebung im Original] 84 Gabriele Schwab: »The Mirror and the Killer-Queen. Otherness in Literary Language«, Bloomington und Indianapolis: Indiana University Press 1996, S. 54. 85 Gerd Wenninger: »Depersonalisation«, Gerd Wenninger (Hrsg.): Lexikon der Psychologie in fünf Bänden, Bd. 1, Heidelberg / Berlin: Spektrum Akademischer Verlag 2000, S. 300. [Hervorhebung im Original] 86 Bernd Six: »Depersonalisation«, Markus Antonius Wirtz (Hrsg.): Dorsch Psychologisches Wörterbuch, 16., überarbeite und aktualisierte Aufl., Bern: Huber 2013, S. 363. 87 Monika Schmitz-Emans: »Im Labyrinth der Erfahrungen und Diskurse. Alice schwindelerregende Erfahrungen mit dem Ich und der Welt«, Hans Richard Brittmacher / Rolf-Peter Janz (Hrsg.): Labyrinth und Spiel. Umdeutung eines Mythos. Göttingen: Wallstein 2007, S. 138–169, (S. 142).

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Größe, genauer »das […] Ich in der Auseinandersetzung mit sich selbst,«88 wird auch für die Traumdeutung und die bis dato junge Disziplin der Psychoanalyse entscheidend.89 Die Frage der Figuren nach der eigenen konstruierten Position sowie die Fragen nach einer grundsätzlichen Ontologie und einer möglicherweise illusionistischen Struktur ihrer Umwelt ist sowohl bei Carroll als auch bei Burton zentral.90 Bei Carroll wird dies vor allem in Through the Looking-Glass sichtbar. Tweedeldee und Tweedeldum verunsichern Alice hier mit der Aussage, sie sei nur eine Figur im Traum des schlafenden roten Königs: »Why, you’re only a sort of thing in his dream!«91 Die Frage nach Realität oder Traum, die mit dieser Aussage hervorgerufen wird, ist wiederum an den Gebrauch von Sprache geknüpft: »The question of who is real, Alice or the Red King; which is real, the everyday world or the dream-world, is given added intensity by the attitude toward language.«92 Bei Burton ist es Alice, die dem Hutmacher erzählt, er sei nur ein Geschöpf ihrer Fantasie: [Alice:] ›Wish I’d wake up.‹ [Mad Hatter :] ›Still believe this is a dream, do you?‹ [Alice:] ›Of course! This all come from my own mind.‹ [Mad Hatter :] ›Which would mean that I’m not real.‹ [Alice:] ›Afraid so. You’re just a figment of my imagination. I would dream up someone who’s half-mad.‹ [Mad Hatter :] ›Yes, Yes. But you would have to be half-mad to dream me up.‹ [Alice:] ›I must be then.‹93

Dieser Gedanke einer konstruierten Welt und eines konstruierten Selbst, der vor allem im Hinblick auf die Frage nach Traum und Realität eine Rolle spielt, kann auch auf das Sprachsystem als solches übertragen werden. Das Ich ist keine feste Größe mehr, wenn sich das Ich nicht mehr als solches bezeichnen kann: Das heißt das »multiple und fluktuierende Ich entsteht aus der Suggestion der Sprache, die allenthalben künstliche Einheiten schafft.«94 Die Auflösung bestimmter sprachlicher Regeln und Normen geht einher mit der Loslösung von 88 89 90 91

Ebd., S. 140. Vgl.: ebd. Vgl.: ebd., S. 145. Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 72. 92 Patricia Meyer Spacks: »Logic and Language in Through the Looking-Glass«, Robert Phillips (Hrsg.): Aspects of Alice. Lewis Carroll’s Dreamchild as seen through the Critics’ LookingGlasses. Toronto: The Vanguard Press 1971, S. 267–275, (S. 274). 93 Tim Burton: »Alice in Wonderland«, USA: Walt Disney Pictures 2010, TC: 00:14:35. 94 Monika Schmitz-Emans: »Im Labyrinth der Erfahrungen und Diskurse. Alice schwindelerregende Erfahrungen mit dem Ich und der Welt«, Hans Richard Brittmacher / Rolf-Peter Janz (Hrsg.): Labyrinth und Spiel. Umdeutung eines Mythos. Göttingen: Wallstein 2007, S. 138–169, (S. 141).

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einem bestimmten Ich- oder Selbstgefühl, wie es vor allem im Traum auftritt.95 Hierzu gehören auch die körperlichen Veränderungen, also das Schrumpfen und Wachsen von Alice, die sowohl bei Carroll als auch bei Burton immer wieder zu beobachten sind.96 Damit ist die »Technik des Übergangs von Wirklichkeit zum Traum und von den Körpern zum Unkörperlichen«97 bei Carroll zusammenhängend zu betrachten. Das heißt auch, dass die Frage nach Traum oder Wachzustand für die Figuren im Wunderland eine existenzielle wird.98 Die Bewohner*innen des Wunderlands artikulieren sich, wie bereits erörtert wurde, über die Sprache des Unbewussten bzw. die Sprache des Traums. Dies lässt auf eine Verbindung zwischen einer Nonsens-Sprache, einer Sprachlichkeit des Traums und einem gewissen sprachlichen Ausdruck psychischer Erkrankungen, im Sinne eines de-personalisierten und von der Sprachnorm entfremdeten Sprachgebrauchs, schließen.99 Das Ich ist in der Ordnung des Sprechens nur erstes und ausreichend, sofern es Bedeutungen umhüllt, die in der Ordnung der Sprache für sich selbst entwickelt werden müssen. Wenn diese Bedeutungen zusammenbrechen oder nicht an und für sich begründet sind, verliert sich die persönliche Identität.100

Gabriele Schwab spricht in ihrem Werk The Mirror and The Killer-Queen von einem Kulturschock, den Alice im Wunderland durchlaufen muss.101 Mit dem Verlust ihrer eigenen Kultur, geht auch der Verlust ihrer Sprache, d. h. ihrer kulturell und sprachlich konstituierten Identität einher.

95 Vgl.: ebd. 96 Vgl.: Tim Burton: »Alice in Wonderland«, USA: Walt Disney Pictures 2010, TC: 00:15:00–00:17:12/ Lewis Carroll: »Alice’s Adventures in Wonderland«, New York: William Morrow 1992 [1866], S. 11–17. 97 Gilles Deleuze: »Logik des Sinns«, Aesthetica. Neue Folge Bd. 707, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1993, S. 27. 98 Vgl.: Monika Schmitz-Emans: »Im Labyrinth der Erfahrungen und Diskurse. Alice schwindelerregende Erfahrungen mit dem Ich und der Welt«, Hans Richard Brittmacher / Rolf-Peter Janz (Hrsg.): Labyrinth und Spiel. Umdeutung eines Mythos. Göttingen: Wallstein 2007, S. 138–169, (S. 145). 99 Vgl.: Jean-Jaques Lecercle: »Philosophy of Nonsense. The Intuitions of Victorian Nonsense Literature«, London und New York: Routledge 1994, S. 204. 100 Gilles Deleuze: »Logik des Sinns«, Aesthetica. Neue Folge Bd. 707, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 36. [Hervorhebung im Original] 101 Vgl.: Gabriele Schwab: »The Mirror and the Killer-Queen. Otherness in Literary Language«, Bloomington und Indianapolis: Indiana University Press 1996, S. 52.

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Die Wandelbarkeit ihres Körpers, die sie ganz konkret räumlich erlebt, korrespondiert mit der Unzuverlässigkeit ihres Erinnerungsvermögens; beides läßt sie an ihrer eigenen Identität irre werden.102

Salin wiederum kategorisiert in Kryptologie des Unbewußten Alices körperliche Wandelbarkeit als »mehrere aufgelöste Ichs oder präindividuelle Singularitäten oder larvenhafte Subjekte.«103 Dieses Bild des larvenhaften Subjekts wird auch bei Carroll und bei Burton aufgegriffen. Das Gespräch mit der Raupe in Alice Adventures in Wonderland kann als Schlüsselszene in Bezug auf Fragen der Identität gelesen werden: ›Who are you?‹ said the Caterpillar. […] Alice replied, rather shyly, ›I – I hardly know, sir, just at present – at least I know who I was when I got up this morning, but I think I must have been changed several times since then.‹ / ›What do you mean by that?‹ said the Caterpillar sternly. ›Explain yourself!‹ / ›I can’t explain myself, I’m afraid sir,‹ said Alice, ›because I’m not myself, you see.‹104

Die auf den ersten Blick einfach Frage: »Wer bist du?«105 wird unmittelbar auf eine existenzial-philosophische Dimension bezogen.106 Auch an dieser Stelle spielt Carroll mit Paradoxen, Sprache und Symbolik. Gerade eine Raupe, als »eine Art Sinnbild des Metamorphotischen,«107 kann Alices ringen um Identität nicht nachvollziehen. Die Kommunikation scheitert schon an der Selbst-Identifizierung der Sprechenden. In den Alice-Büchern zeigt sich Nonsens oft in Form »mißglückte[r] Sprechakte,«108 welche nicht selten schon daran scheitern, dass die betreffenden Figuren zwar scheinbar die gleiche Sprache sprechen, allerdings von unterschiedlichen Bedeutungen ausgehen und ein anderes Sprach- und Selbstverständnis haben.109 102 Monika Schmitz-Emans: »Im Labyrinth der Erfahrungen und Diskurse. Alice schwindelerregende Erfahrungen mit dem Ich und der Welt«, Hans Richard Brittmacher / Rolf-Peter Janz (Hrsg.): Labyrinth und Spiel. Umdeutung eines Mythos, Göttingen: Wallstein 2007, S. 138–169, (S. 139). 103 Sophie Salin: »Kryptologie des Unbewußten. Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2008, S. 223. [Hervorhebung im Original] 104 Lewis Carroll: »Alice’s Adventures in Wonderland«, New York: William Morrow 1992 [1866], S. 60. [Hervorhebung im Original] 105 Übersetzung des Zitats aus Fußnote 104. Lewis Carroll: »Alice’s Adventures in Wonderland«, New York: William Morrow 1992 [1866], S. 60. [Übersetzung der Autorin] 106 Vgl.: Gabriele Schwab: »The Mirror and the Killer-Queen. Otherness in Literary Language«, Bloomington und Indianapolis: Indiana University Press 1996, S. 55. 107 Monika Schmitz-Emans: »Im Labyrinth der Erfahrungen und Diskurse. Alice schwindelerregende Erfahrungen mit dem Ich und der Welt«, Hans Richard Brittmacher / Rolf-Peter Janz (Hrsg.): Labyrinth und Spiel. Umdeutung eines Mythos, Göttingen: Wallstein 2007, S. 138–169, (S. 143). 108 Winfried Nöth: »Literatursemiotische Analysen. Zu Lewis Carrolls Alice-Büchern«, Eschbach, Achim u. a. (Hrsg.), Tübingen: Gunter Narr 1980, S. 48. 109 Vgl.: ebd.

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Auch im Film werden die Gespräche mit der Raupe Absolem zu einer Auseinandersetzung mit der Frage nach der Identität und wie diese mit dem linguistischen Modell der Namensgebung zusammenhängt. [Absolem:] ›Who are you?‹ [Alice:] ›Absolem?‹ [Absolem:] ›You’re not Absolem. I’m Absolem. The question is, who are you?‹ [Alice:] ›Alice.‹ [Absolem:] ›We shall see.‹ [Alice:] ›What do you mean by that. I ought to know who I am.‹110

Dass der Name als ein sprachliches Konstrukt zwangsläufig mit der eigenen Identität zusammenhängt, ist auch ein Konzept, das an mehreren Stellen in Carrolls Through the Looking-Glass zum Thema gemacht wird. Humpty Dumpty, der sich selbst als »master of words«111 profiliert, konstatiert in dem Gespräch mit Alice, dass der eigene Name immer etwas zu bedeuten haben muss. ›My name is Alice, but – ‹ / ›It’s a stupid name enough!‹ Humpty Dumpty interrupted impatiently. ›What does it mean?‹ / ›Must a name mean something?‹ Alice asked doubtfully. ›Of course, it must,‹ Humpty Dumpty said with a short laugh: ›my name means the shape I am – and a good handsome shape it is, too. With a name like yours, you might be any shape, almost.‹112

Der Meister über die Sprache, der die Bedeutung der Wörter bestimmt, bleibt auch nur ein Konstrukt, wie alles andere auch: »[T]he question of mastery is posed only to be evaded, for this is after all nothing but a dream.«113 In dieser Welt der unbewussten Nonsens-Sprache bedeutet verstehen existieren. Die Angst davor, nicht zu verstehen und nicht verstanden zu werden, hängt nahe mit der Angst zusammen, die eigene Existenz zu verlieren, die eigene Identität in Frage zu stellen. Die existenzielle Angst die eigene Identität zu verlieren, wenn das Sprachgefühl und das Gedächtnis als solches gestört sind, rührt daher, dass unsere Identität sich hauptsächlich aus Erinnerungen speist und sprachlich, repetitiv manifestiert.114 Die Orientierungslosigkeit, die mit dem Verlust ihres 110 Tim Burton: »Alice in Wonderland«, USA: Walt Disney Pictures 2010, TC: 00:19:35–00:19:53. 111 Will Brooker : »Alice’s Adventures. Lewis Carroll in Popular Culture«, London: Continuum 2005, S. 90. 112 Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 103. [Hervorhebung im Original] 113 Jean-Jacques Lecercle: »Philosophy through the Looking-Glass. Language, nonsense, desire«, London / Melbourne / Sydney : Hutchinson 1985, S. 32. 114 Vgl.: Monika Schmitz-Emans: »Im Labyrinth der Erfahrungen und Diskurse. Alice schwindelerregende Erfahrungen mit dem Ich und der Welt«, Hans Richard Brittmacher / Rolf-Peter Janz (Hrsg.): Labyrinth und Spiel. Umdeutung eines Mythos. Göttingen: Wallstein 2007, S. 138–169, (S. 144).

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gewohnten Sprachsystems einhergeht, wird sowohl bei Carroll als auch bei Burton, direkt nach Alices Eintritt ins Wunderland, dargestellt. Weil sich Alice nicht mehr an bestimmte Gedichte erinnern kann – »I’m sure those are not the right words«115 – zweifelt sie auch an ihrer Identität: »Who am I then?«116 In Burtons Film ist hingegen ständig Thema, ob es sich um die richtige Alice handelt: [Flower :] ›Doesn’t look anything like herself‹ [Dormouse:] ›That’s because she’s the wrong Alice!‹ [Tweedeldee/ Tweedeldum:] ›If she was she might be. If she isn’t, she ain’t. But if she were so, she would be. But she isn’t, nohow.‹ [Alice:] ›How can I be the wrong Alice when this is my dream?‹117

Wahnsinn als Flucht und luzide Träume als Form der Selbstbestimmung Die Verbindung zwischen einem literarischen Nonsens und Wahnsinn,118 kommt auch darin zum Ausdruck, dass es »[f]ür den Schizophrenen […] weniger darum [geht], den Sinn zurückzugewinnen, als darum, das Wort zu zerstören.«119 Der/ die Schizophrene, genau wie Alice, ist nicht mehr der/die Meister/in über seine/ ihre eigene Sprache: Meddling with language, risking d8lire and madness, means acceptation disintegration and struggling to restore the unity of the self. It means abending control of and mastery over language. The logophilist no longer speaks through language, he is spoken by it. […]. [A]n experience of madness in language.120

Auch Deleuze schreibt über ein schizophrenes Krankheitsbild, bei welchem der/ die Erkrankte keine Unterscheidung zwischen Objekt und Bezeichnung mehr

115 Lewis Carroll: »Alice’s Adventures in Wonderland«, New York: William Morrow 1992 [1866], S. 21. 116 Ebd. 117 Tim Burton: »Alice in Wonderland«, USA: Walt Disney Pictures 2010, TC: 00:18:08–00:18:38. 118 »Wahnsinn« wird hier als verallgemeinernder, umgangssprachlicher Begriff für Schizophrenie und andere psychische Erkrankungen benutzt, ist aber nicht abwertend gegenüber spezifischen psychischen Krankheiten und psychisch Erkrankter gemeint, sondern nutzt eine Begrifflichkeit, die in der Literatur und im Film von zentraler Rolle ist. 119 Gilles Deleuze: »Logik des Sinns«, Aesthetica. Neue Folge Bd. 707, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 117. 120 Jean-Jacques Lecercle: »Philosophy through the Looking-Glass. Language, nonsense, desire«, London / Melbourne / Sydney : Hutchinson 1985, S. 16.

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treffen kann, genauso wenig wie zwischen Fiktion und Wirklichkeit.121 Alice kann die Identität der Wörter nicht mehr bestimmen, was zur Folge habe, dass »die hergesagten Wörter falsch heraus[kommen],«122 im Grunde »verbalen Halluzinationen«123 gleich. Die Sprache gewinnt Oberhand und wird unbedingte Doktrin.124 Der/die Sprechende, so könnte man argumentieren, wird selbst zum/ zur Bezeichneten. Diese Machtübernahme der Sprache beinhaltet dabei auch etwas Produktives.125 Wunder- und Spiegelland, als Welten des Nonsens, bilden eine alternative Realität ab, in der das Unbewusste an der Oberfläche liegt. Die Nonsens-Sprache bietet demnach verschiedene »Zugangswege zu einer bis dahin verschlossenen Welt […]: den Traum, die Fehlleistung, den Witz, das Symptom.«126 Ganz in der Tradition der Psychoanalyse und der Philosophie – gemäß Freud und Nietzsche – haben »Träume eine ausgleichende Funktion. Sie sind nichts anderes als die Verkleidung von Wünschen.«127 Die subjektive, unbewusste Sprache, die den Nonsens bildet, realisiert diese Wünsche bereits in einem ihr innewohnenden, literarischen Ausdruck: »[L]inguistic formations that […] integrate the wishes directly into their medium.«128 Alices Traum- oder Unterbewusstsein verarbeitet ihre Wünsche in der Nonsens-Sprache und eröffnet in diesem Sinne eine neue Realität; eine andere Form der Existenz.129 Nach dieser Auffassung konstituiert sich das Wunderland nach Alices Wünschen. Ihre unbewußten Gedanken werden realisiert […] [und zwar im sprachlichen Ausdruck, Anm.d.Verf.]. Alles, was sprachlich sagbar ist, kann sich sofort im Wunder- und Spiegelland verwirklichen. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen beiden Ebenen des Unbewußten und der Sprache der Ereignisse.130

Eine andere Version von Alice, in einer anderen Version ihrer Welt, übernimmt die Kontrolle über Situationen, die sie in der realen Welt nicht kontrollieren 121 Vgl.: Gilles Deleuze: »Logik des Sinns«, Aesthetica. Neue Folge Bd. 707, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1993, S. 115. 122 Ebd., S. 43. 123 Ebd. 124 Vgl.: ebd., S. 48. 125 Vgl.: Jean-Jaques Lecercle: »Philosophy of Nonsense. The Intuitions of Victorian Nonsense Literature«, London und New York: Routledge 1994, S. 6. 126 Hermann Lang: »Die Sprache und das Unbewußte. Jaques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 112. 127 Sophie Salin: »Kryptologie des Unbewußten. Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2008, S. 97. 128 Will Brooker : »Alice’s Adventures. Lewis Carroll in Popular Culture«, London: Continuum 2005, S. 87. 129 Vgl.: ebd., S. 84. 130 Sophie Salin: »Kryptologie des Unbewußten. Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2008, S. 228.

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kann: »The text of nonsense is a verbal asylum, in which madmen speak, but within the limits and constraints of the text.«131 Nonsens, so Jean-Jaques Lecercle, zeigt sich als sprachlicher Ausdruck des Wahnsinns, und bietet hier einen Ausweg aus ausweglosen Situationen. Das, was wir Sinn nennen, legitimiert alle unsere Handlungen. Methner beschreibt aus diesem Grund gerade die Zuschreibung von Sinn als wichtigstes Instrument, um uns selbst zu ermächtigen: »Die Deutungshoheit über Sinn und Unsinn einer Aussage ist folglich ein Instrument zur Kontrolle der Situation und zur Strukturierung der eigenen Umwelt und Erfahrungen.«132 In Burtons Verfilmung übernimmt Alice die Führung ihres Traumes. Burtons Version des Wunderlands erinnert daher mehr an ein luzides Träumen, das zwischen Schlaf und dem Vorgang des Aufwachens eine einzigartige Möglichkeit schafft, in der die Träumende die Traumereignisse lenken und nach ihren Wünschen bewusst erschaffen kann: [Bayard:] ›The Frabjous Day is almost upon us. You must prepare to see the Jabberwocky.‹ [Alice:] ›From the Moment I fell down that that rabbit hole, I’ve been told what I must do and who I must be. I’ve been shrunk, stretched, scratched and stuffed into a teapot. I’ve been accused of being Alice and of not being Alice, but this is my dream. I’ll decide where it goes from here.‹133

Sowohl bei Carroll als auch bei Burton ist »Verrücktes […] zeitlich und räumlich begrenzt und ist für Alice in letzter Konsequenz ein harmloses Spiel mit Bedeutungen.«134 In diesem Sinne bietet der Nonsens eine sprachliche Flucht in Situationen, die nicht durch das reguläre Sprachgefüge ausgedrückt werden können.

131 Jean-Jaques Lecercle: »Philosophy of Nonsense. The Intuitions of Victorian Nonsense Literature«, London und New York: Routledge 1994, S. 208. 132 Sanja Methner : »›We are all mad here‹. Über non-sense in Alice in Wonderland«, Helene von Bogen u. a. (Hrsg.): Literatur und Wahnsinn, Literaturwissenschaften Bd. 45, Berlin: Frank und Timme 2015, S. 73–84, (S. 74). 133 Tim Burton: »Alice in Wonderland«, USA: Walt Disney Pictures 2010, TC: 00:41:43–00:42:00. 134 Sanja Methner : »›We are all mad here‹. Über non-sense in Alice in Wonderland«, Helene von Bogen u. a. (Hrsg.): Literatur und Wahnsinn, Literaturwissenschaften Bd. 45, Berlin: Frank und Timme 2015, S. 73–84, (S. 81).

Über den Nonsens in Carrolls Alice-Romanen und Burtons filmischer Adaption

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Das Jabberwocky-Gedicht in Buch und Film – Ein verrücktes Gedicht The first is that nonsense as a genre believes in the centrality of language. The words of Wonderland is not mainly about little girls and Jabberwocks, it is about little girls as apprentice speakers and Jabberwocks as coinages, that is, as words.135

Das Gedicht Jabberwocky gilt nicht nur innerhalb von Carrolls Alice-Romanen als Paradebeispiel für den Gebrauch von literarischem Nonsens: »Jabberwocky bezeichnet in der empirischen Sprachwissenschaft eine Sprache, die zwar syntaktische korrekt ist, inhaltlich jedoch keinen Sinn ergibt.«136 Das Gedicht taucht zum ersten Mal ganz am Anfang von Through the Looking-Glass auf. Es besteht aus sieben Strophen, die jeweils aus vier Versen zusammengesetzt sind. Es weist ein fast durchgängiges Kreuzreim-Schema auf und ist größtenteils im Metrum eines alternierenden Versmaßes mit Auftakt geschrieben. Alice liest den Text in einem Buch, direkt nachdem sie das Spiegelland betritt und erkennt schnell, dass das Gedicht in Spiegelschrift geschrieben ist: »Why, it’s a Looking-glass book, of course!«137 Schon hier zeigt sich das Verständnis von Nonsens-Sprache als Umkehr- bzw. Spiegeleffekt bestehender Sprachregeln und Normen. Die erste und letzte Strophe des Gedichts sind identisch und in besonderem Maße von den übrigen Strophen abzuheben: Twas brillig, and the slithy toves Did gyre and gimble in the wabe; All mimsy were the borogoves, And the mome raths outgrabe.138

Hier wird der Nonsens auf die Spitze getrieben. Da fast nur noch Neologismen verwendet werden, lässt sich keine semantische Bedeutungszuschreibung vornehmen: »We understand grammatical words like articles, propositions and auxiliary verbs, but the normally meaningful words, nouns, adjective and verbs, are meaningless.«139 Die Konzentration auf den formalen Aufbau und auf den Klang einzelner Wörter ermöglicht es, dass typische Merkmale überspitzt und 135 Jean-Jaques Lecercle: »Philosophy of Nonsense. The Intuitions of Victorian Nonsense Literature«, London und New York: Routledge 1994, S. 68. 136 Pia Weiler : »Analyse einer filmischen Adaption. Alice im Wunderland von Tim Burton im Vergleich zu den Büchern von Lewis Carroll«, verfügbar unter : https://www.grin.com/docu ment/267075, [28. 08. 2019], S. 12. 137 Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 19. 138 Ebd. 139 Jean-Jaques Lecercle: »Philosophy of Nonsense. The Intuitions of Victorian Nonsense Literature«, London und New York: Routledge 1994, S. 22.

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humoristisch dargestellt werden können.140 Dies wird unter anderem durch die Untergrabung bestimmter normativer Zusammenhänge und paradoxer, d. h. »gegensätzliche[r] Motivierung von Form und Inhalt«141 erreicht. Die restlichen Strophen sind nicht in diesem Maße verschlüsselt, weisen allerdings weiterhin eine besonders hohe Anzahl an Neologismen bzw. Kofferworte142 auf. In der zweiten und dritten Strophe kann allerdings, obwohl einzelne Wörter aus dem Schema herausfallen, ein Sinnzusammenhang nach Saussure herausgearbeitet werden: ›Beware the Jabberwock, my son! The jaws that bite, the claws that catch! Beware the Jubjub bird, and shun The frumious Bandersnatch!‹ He took his vorpal sword in hand: Long time the manxome foe he sought – So rested he by the Tumtum tree, And stood awhile in thought.143

Wie Alices erste Bemerkung nachdem sie das Gedicht gelesen hat suggeriert,144 zeichnet sich das Gedicht durch seine visuelle, klanghafte Sprache aus. Es erzeugt Bilder, ohne explizit zu werden. Was ist der Jabberwocky? Er lässt sich als »ein phantastisches Tier, doch auch [als] das Objekt der außergewöhnlichen Aktion oder des großen Mordes,«145 verstehen. Zumindest Tenniell, der die AliceBücher ursprünglich illustriert hat, scheint sich ein Bild von dem kuriosen Wesen gemacht zu haben.146 Er hat, wie später weiter ausgeführt wird, das Bild eines drachenähnlichen Monsters geprägt. In erster Linie ist der Jabberwocky allerdings, genauso wie der Jubjub Vogel und der Bandersnatch, ein Wort: »Es ist ein Wort, das exakt das bezeichnet, was es ausdrückt, und das ausdrückt, was es bezeichnet. […]: Es sagt seinen eigenen

140 Vgl Sanja Methner : »›We are all mad here‹. Über non-sense in Alice in Wonderland«, Helene von Bogen u. a. (Hrsg.): Literatur und Wahnsinn, Literaturwissenschaften Bd. 45, Berlin: Frank und Timme 2015, S. 73–84, (S. 79). 141 Ebd. 142 Vgl.: Jean-Jaques Lecercle: »Philosophy of Nonsense. The Intuitions of Victorian Nonsense Literature«, London und New York: Routledge 1994, S. 44–47. 143 Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 19. 144 Vgl.: ebd., S. 21. 145 Gilles Deleuze: »Logik des Sinns«, hrsg.v. Karls Heinz Bohrer, übers.v. Bernhard Dieckmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 93. 146 Vgl.: Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 20.

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Sinn aus. Deshalb ist es vollkommen anormal.«147 Und deshalb kann auch mit Deleuze konstatiert werden, dass die Bedrohung des Wunderlands nicht von dem Jabberwocky als »mächtige[s] Monstrum«148 ausgeht, sondern von »einem gestalt- und grundlosen Unsinn,«149 der sich in dem Wort Jabberwocky und in dem Gedicht als solchem spiegelt. Schließlich ist es ausgerechnet Humpty Dumpty, der Alice die Bedeutung des Gedichts bzw. einzelner Wörter zu erklären versucht. Dabei sind einige Wortbedeutungen, darunter hauptsächlich Kofferwörter, durchaus als Kontradiktionen logisch nachzuvollziehen. ›Brillig means four o’clock it the afternoon – the time when you begin broiling things for dinner.‹ / ›That’ll do very well,‹ said Alice: ›and slithy?‹ / ›Well, slithy means lithe and slimy. Lithe is the same as active. You see it’s like a portmanteau – there are two meaning packed up into one word.‹150

Andere Erklärungen Humpty Dumptys in Bezug auf ein logisches Sprachsystem erscheinen hingegen vollkommen unlogisch und vor allem hinsichtlich ihrer Bedeutung geradezu sinnfrei:151 ›I see it now,‹ Alice remarked thoughtfully : ›and what are toves?‹ / ›Well, toves are something like badgers – they’re something like lizards – and they’re something like corkscrews.‹ / ›They must be very curious creatures.‹ / ›They are that,‹ said Humpty Dumpty : ›also they make their nests under sun-dials – also they live on cheese.‹152

Lecercle bezeichnet das Jabberwocky-Gedicht aus diesem Grund als Emblem für die gesamte Nonsens-Literatur : »[W]e can take Jabberwocky as an emblem of nonsense as a genre […], given free to our linguistic imagination, but also imposing the constraints of a regular language on us«.153 Nonsens-Literatur spielt demnach mit der literarischen Vorstellungskraft der Lesenden im Rahmen dessen, was diese als sprachliche Norm wiedererkennen. Es handelt sich daher um eine bildliche Sprache, ohne konkret symbolisch zu sein.

147 Gilles Deleuze: »Logik des Sinns«, Aesthetica. Neue Folge Bd. 707, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1993, S. 93. 148 Ebd., S. 110. 149 Ebd. 150 Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 114. [Hervorhebung im Original] 151 Die Begriffe: »Logik« und: »Sinn« sind hier ihrer Bedeutung nach an einem stoischen System orientiert. 152 Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 114. [Hervorhebung im Original] 153 Jean-Jaques Lecercle: »Philosophy of Nonsense. The Intuitions of Victorian Nonsense Literature«, London und New York: Routledge 1994, S. 24. [Hervorhebung im Original]

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Zur Umsetzung von Carrolls Nonsens-Gedicht im Burton-Film Die visuelle und narratorische Umsetzung des Jabberwocky-Gedichts in Tim Burtons Verfilmung zeigt, wie Nonsens als Sprache filmisch funktionieren bzw. inszeniert werden kann. Zum einen ist hier das Orakulum um den Frabjous-Day zu nennen. Dieses wird als Schriftrolle bei Alices erstem Gespräch mit der Raupe Absolem eingeführt. Es zeigt unter anderem eine Illustration,154 die stark an Tenniels Zeichnung des Jabberwockys erinnert.155 Dem Gedicht zu Folge wird der Jabberwocky von einem Jungen erschlagen, doch auf der Zeichnung erinnert die Gestalt des Jungen durchaus an die Alice-Figur, die ebenfalls durch die Zeichnungen von Tenniel geprägt ist. Diese Zeichnung, die die Tötung des Jabberwocky-Monsters zeigt, wird bei Burton zum Plot des gesamten Films ausgeweitet. Demnach ist es Alices Bestimmung, den Jabberwocky zu erschlagen und damit die Schreckensherrschaft der roten Königin zu beenden: [Absolem:] ›Unroll the Oraculum.[…] Show her the Frabjous Day.‹ [Tweedeldee:] ›Yeah, Frabjous being the day you slay the Jabberwocky.‹ [Alice:] ›Sorry? Slay a what?‹ [Tweedeldum:] ›Oh yeah, That being you, there, with the Vorpal sword. […] No other swords can kill the Jabberwocky, nohow.‹156

Ganz im Stile der Produktionsfirma Disney wird der Inhalt aus dem NonsensGedicht genutzt, um einzelne Elemente narrativ und visuell für einen actionreichen Spannungsaufbau zu verwenden.157 Der Erfolg Disneys steht in dieser Tradition und ist größtenteils der Erfüllung und Lenkung von Erwartungen geschuldet: »The studio offers people a kind of generic new religion built around consumerism and media, with hopes oft he ›happily ever after‹ and a place where dreams come true.«158 Dabei wird nicht nur der Jabberwocky dem Gedicht entliehen, sondern auch der Jubjub-Vogel, der von der roten Königin als persönlicher Vollstrecker verwendet wird.159 Der Bandersnatch, ebenfalls im Gedicht nur kurz erwähnt, wird bei Burton sogar in dem Maße in die Handlung eingeflochten, dass dieser einen Wandel vom Bösen zum Guten durchläuft und 154 Vgl.: Tim Burton: »Alice in Wonderland«, USA: Walt Disney Pictures 2010, TC: 00:20:40. 155 Vgl.: Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan], S. 20. 156 Tim Burton: »Alice in Wonderland«, USA: Walt Disney Pictures 2010, TC: 00:19:55–00:20:50. 157 Vgl.: Robert Blanchet: »Blockbuster. Ästhetik, Ökonomie und Geschichte des postklassischen Hollywood-Kinos«, Marburg: Schüren 2003, S. 77. 158 John Wills: »Disney Culture »Disney Culture. Quick Takes. Movies and Popular Culture«, Foster Gwendolyn / Dixon, Wheeler Dixon (Hrsg.), New Brunswick u. a.: Rutgers University Press 2017, S. 113. 159 Vgl.: Tim Burton: »Alice in Wonderland«, USA: Walt Disney Pictures 2010, TC: 01:11:40– 01:12:11.

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schließlich Alice bei ihrer Flucht vor der roten Königin und bei der finalen Schlacht zur Seite steht.160 Das Gedicht selbst wird vom Verrückten Hutmacher in Teilen vorgetragen. Dabei wird allerdings die Reihenfolge verändert. So fängt der Hutmacher zwar mit der ersten Strophe an, rezitiert dann jedoch verschiedene Verse durcheinander : [Mad Hatter :] ›Twas brillig, and the slithy toves Did gyre and gimble in the wabe; All mimsy were the borogoves, And the mome raths outgrabe.‹ [Alice:] ›Sorry what was that?‹ [Mad Hatter :] ›What was what?‹ [Mad Hatter :] ›The Jabberwock, with eyes of flame. The jaws that bite, the claws that catch! Beware the Jabberwock, my son! The frumious Bandersnatch! [Mad Hatter :] He took his vorpal sword in hand. The vorpal blade went snicker-snack! He left it dead, and with its head He went galumphing home.‹ [Mad Hatter :] ›It’s all about you, you know.‹161

Der Hutmacher läuft mit Alice, die geschrumpft ist und auf seinem Hut sitzt, durch eine Allee. Die Bäume sind blätterlos und ein mysteriöses gelbliches Licht scheint durch sie hindurch. Kontinuierlich fallen braune, verwelkte Blätter von den Bäumen, was akustisch durch einen steten Geräuschpegel das Bild eines unheilvollen Rauschens heraufbeschwört. Diese Geräusche werden von einer düsteren, schweren Musikbegleitung noch hervorgehoben. Der erste Shot der Szene beginnt bei einem low-angel-frame in die Baumkronen, dann fährt die Kamera nach hinten, synchron mit der Laufrichtung des Hutmachers, während die Einstellung gleichzeitig herauszoomt und leicht nach unten schwenkt, bis der Hutmacher in einem medium-shot, aus einem low-angel ins Bild gerückt wird.162 Der Winkel von Unten verstärkt die unheilvolle Atmosphäre. Die Fixierung auf den Hutmacher, der starr nach vorne blickt, läuft und das Gedicht vor sich hinspricht, verstärkt den Eindruck, dass die Worte eine gewisse Macht über den Hutmacher entfalten. Für den letzten rezitierten Vers bzw. die letzten vier zusammengesetzten Strophen, wird der Hutmacher in einem long shot gezeigt – dieses Mal von hinten mit einem high angel. Diese Einstellung erzeugt die 160 Vgl.: ebd., TC: 00:21:42 sowie TC: 01:00:06. 161 Ebd., TC: 00:35:21–00:36:46. 162 Vgl.: ebd., TC: 00:35:21–00:35:30.

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Wirkung, als würde etwas den Hutmacher beobachten. Dieser wiederum wirkt in der schier endlosen Allee vollkommen verloren. Die Lichtverhältnisse und die fallenden Blätter erzeugen zudem ein Zwielicht, das die Vortragsweise des Gedichts weiter unterstützt. Auch wenn Carrolls Gedicht hier tatsächlich nur rezitiert wird und viele Teile davon komplett aus der literarischen Grundlage übernommen wurden, wird das Gedicht doch geschickt genutzt, um inhaltliche Spannung zu erzeugen. Die Auflösung bzw. Brechung von Bedeutung, die Carrolls Nonsens-Literatur für sich beansprucht, wird hier nicht eingehalten. Burton entnimmt im Laufe seines Films einzelne Elemente dem Gedicht, wie den Jubjub-Vogel, den Bandersnatch und den Jabberwocky und ästhetisiert diese visuell, um dem Medium Film gerecht zu werden. Der Film wird daher als »hochbudgetiertes Effektspektakel«163 beschrieben, welches »Carrolls weltbekannte Schauplätze, Dialoge und Figuren […] eher als erzählerischer Motiv-Steinbruch«164 nutzt. Die filmische Interpretation ist dabei auf inhaltlicher Eben häufig sehr weit entfernt von der Carrolls literarischer Vorlage. Dass man dieser Verwendung des Gedichts eine bestimmte Funktion, nämlich die eines Orakels zusprechen muss, scheint dabei der Nonsens-Literatur im Stile Carrolls zu widersprechen. Es zeigt sich allerdings, dass auch im Film sprachliche Element des Nonsens genutzt werden können, um einen gewissen traumhaften Wahnsinn visuell auszugestalten. Die analysierte Szene veranschaulicht exemplarisch das hohe Maß an Unheimlichkeit, die von einem nicht-einzuordnenden, sprachlichen Ausdruck ausgehen kann.

Fazit Gefragt wurde danach, inwieweit sich anhand von Lewis Carrolls Alice-Romanen und deren filmischen Adaption durch Tim Burtons Alice in Wonderland das Element des Nonsens als sprachlich-semantischer Ausdruck von Wahnsinn zeigt. Wie ganz am Anfang der Analyse erläutert wurde, ist Nonsens kein bloßes Frei-sein von Sinn. Sinn konstituiert sich hier allerdings abweichend – in der Nonsens-Literatur wird zudem deutlich, dass sich Sinn überhaupt nur ontologisch konstituiert. Diese Aspekte betreffen auch die Psycho- bzw. Traumanalyse, wobei man hier erst nach dem Erwachen in einen Diskurs über den Traum treten kann, während sich Nonsens-Sprache durch Gleichzeitigkeit auszeichnet. In diesem Zusammenhang wurden Analogien zum klinischen Wahnsinn transparent, da hier die unbewusste Sprache des Traums in einen quasi-bewussten 163 Christian Heger : »Mondbeglänzte Zaubernächte. Das filmische Universum von Tim Burton«, Marburg: Schüren 2010, S. 340. 164 Ebd.

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Zustand gerückt wird.165 Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass sich Nonsens aktiv gestaltet, als temporärer Versuch, wenn man so will, während sich psychisch erkrankten Personen mit diesen Symptomen eine in erster Linie permanente Illusion aufdrängt. In diesem Sinne ist Nonsens immer nur ein Ausdruck des Wahnsinns. Carrolls Alice beschreibt das Gefühl, das sie hat, nachdem sie das Jabberwocky-Gedicht zum ersten Mal gelesen hat, durch Ideen und Bilder, die in ihren Kopf projiziert werden – und fasst damit anschaulich zusammen, was Nonsens bewirkt. Aus der Analyse ergibt sich, dass sprachliche Mittel des Carroll’schen Nonsens auch in der Tim Burton-Verfilmung noch eine wichtige Rolle spielen und dass diese auch hier den Eindruck einer Traumsprache beziehungsweise einer Sprache des Unbewussten, beibehalten. Allerdings werden Elemente der Traumdeutung und des Wahnsinns bei Burton nicht nur semantisch verschlüsselt durch sprachlichen Nonsens dargestellt, sondern sind vor allem auf eine visuelle und narrative Weise in die Handlung des Films integriert. Einzelne Elemente des Jabberwocky-Gedichts werden beispielsweise der literarischen Form entliehen und durch ihre visuelle Darstellung und Einbindung in die Handlung zur Erzeugung eines Spannungsbogens verwendet, wohingegen bei Carroll einzelne Episoden ohne nachvollziehbaren Zusammenhang aneinandergereiht werden: »Even the syntactic chain of narratice episodes is without rhyme or reason.«166 Die Inszenierung des Nonsens als eine natürliche, unbewusste Ausdrucksweise167 – als Traumsprache oder Sprache des Wahnsinns –, kann als zentraler Aspekt des Carroll’schen Nonsens gesehen werden. 165 Tatsächlich wird in Burtons Fortsetzung der Alice-Bücher : Alice – Behind the Mirror eben jene Verbindung zwischen einer klinischen Psychose, der Traumwelt und der NonsensLiteratur Carrolls deutlicher hervorgehoben, indem sie Teil der Handlung wird und eine freie Fantasie gegen die Diagnostik der Psychoanalyse stellt. Alice wird hier in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen und gegen ihren Willen festgehalten. Der behandelnde Arzt braucht nicht lange für seine Diagnose: »Textbook case of female hysteria«, Alice – Behind the Mirror. Tim Burton. USA: Walt Disney Pictures 2016, TC: 01:07:38. Burton nutzt diese Szene als Seitenhieb auf die Psychoanalyse und um seine Heldin als starke, fantasievolle und unabhängige Frau weiter auszubauen. Er erkennt damit aber auch eine Verbindung an, die schon in Carrolls Romanen angelegt war – Nonsens-Sprache, Traum und Verrücktheit (im weitesten Sinne) gehören zusammen. Daher sind alle gleich verrückt: »›[W]e’re all mad here‹«, Lewis Carroll: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan Children’s Books 2015 [1872 Macmillan & Co.], S. 90. Es ist aus diesem Grund kein Zufall, dass Burton mit seinen Adaptionen ebenfalls auf diese starke Verbindung, ganz explizit und sogar auf narrativer Ebene hinweist, vgl.: Alice – Behind the Mirror. Tim Burton. USA: Walt Disney Pictures 2016, TC: 01:06:42–01:09:00. 166 Alwin L. Baum: »Carroll’s Alices. The Semiotics of Paradox«, Harold Bloom (Hrsg.): Lewis Carroll. Modern Critical Views, New York und Philadelphia: Chelsea House Publishers 1987, S. 65–82, (S. 72). 167 Vgl.: Sophie Salin: »Kryptologie des Unbewußten. Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland«, Würzburg: Königshausen und Neumann 2008, S. 245.

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Auch bei Burton ist diese Verbindung noch deutlich sichtbar. Burtons Protagonistin sagt sich immer wieder, dass sie sich nur in einem Traum befindet, während sich Alice in Carrolls erstem Roman erst ganz am Ende gegen die Unmöglichkeiten des Traums sträubt und so ihr Aufwachen herbeiführt. Daher kann Burtons Interpretation als luzide Traumreise interpretiert werden. In Burtons Verfilmung erhält der Traum zudem eine therapeutische Funktion. Erst stürzt sich Alice in den Traum – flüchtet sozusagen in den Wahnsinn –, um der scheinbar ausweglosen Situation einer arrangierten Ehe zu entkommen. Dann entscheidet sie sich dafür, ihr Schicksal – und sei es nur im Traum –, selbst anzunehmen, wird zur Jabberwocky-erschlagenden Heldin und erlangt so schließlich die Selbstbestimmung über ihr reales, waches (Er-)Leben. Der psychoanalytische Ansatz der talking cure, der von Joseph Breuer in den mit Freud herausgegebenen Studien über Hysterie (1895) erstmals vorgestellt wurde, lässt sich auch bei Carroll beobachten.168 Dabei geht es um das Aussprechen von Erinnerungen und um das »Ausagieren von Halluzinationen«169 und traumatischen Erlebnissen. Auch Burton greift diese Idee des Therapierens durch Sprechen bzw. Aberzählens psychischer Konflikte auf. Dies wird vor allem bei der verrückten Teegesellschaft und bei der Rezension des Jabberwocky-Gedichts durch den verrückten Hutmacher deutlich. Dabei wird der Gebrauch von Nonsens-Sprache als Form der Therapie aber auch nur dann genutzt, wenn es dem visuellen und narrativen Spektakelwert dient, welcher im klassischen Hollywood-Kino und vor allem in großen Blockbuster-Produktionen von zentraler Bedeutung ist.170 Aus der Analyse und in Anlehnung an die Kategorisierungen von Wolfgang Gast, lässt sich schließen, dass es sich bei Burtons Interpretation um eine ästhetisierende, psychologische und, wie zuletzt gezeigt wurde, ebenso populari-

168 Beachtung fand dabei vor allem das Fallbeispiel der Anna O., welche als hysterisch diagnostiziert wurde und durch das Aussprechen von Erinnerungen und traumatischen Erlebnissen angeblich geheilt werden konnte, vgl.: Joseph Breuer / Sigmund Freud: »Studien über Hysterie«, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2000 [1895 Franz Deuticke], S. 49–55. Aus heutiger Sicht ist klar, dass dies kein klinischer Fallbericht ist, sondern dass die Geschichte der Anna O. eher als Mythos behandelt werden muss. Vgl.: Mikkel Borch-Jacobsen: »Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung«, München: Wilhelm Fink Verlag 1997, S. 13–24. Allerdings hatte die Geschichte großen Einfluss auf die Psychoanalyse und Therapieansätze, die bis heute Bestand haben. Dieser Einfluss lässt sich auch bei Carroll erkennen. 169 Mikkel Borch-Jacobsen: »Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung«, München: Fink 1997, S. 59. 170 Vgl.: Geoff King: »Spectacular Narratives. Hollywood in the age of the Blockbuster«, New York: Tauris 2000, S. 5–10.

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sierende Adaption171 handelt, die als »interpretierende[…] Transformation«172 bestimmte Aspekte des Originals in einen anderen Kontext überführt. Der Carroll’sche Nonsens-Charakter wird in vielen Bereichen des Burton-Films, vor allem auch durch sprachliche Mittel, integriert, geht aber durch die Fokussierung auf filmische Präferenzen und eine populistische Wirkung häufig verloren.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Carroll, Lewis: »Alice’s Adventures in Wonderland«, New York: Macmillan 1992. [1866] Carroll, Lewis: »Through the Looking-Glass, and What Alice Found There«, London: Macmillan 2015. [1872]

Filme Burton, Tim: »Alice in Wonderland«, Amazon Prime Video, 104 Min., USA: Disney 2010. Burton, Tim: »Alice – Behind the Mirror«, Amazon Prime Video, 108 Min., USA: Disney 2016.

Sekundärliteratur Baum, Alwin L.: »Carroll’s Alices. The Semiotics of Paradox«, Bloom, Harold (Hrsg.): Lewis Carroll. Modern Critical Views. New York / Philadelphia: Chelsea House Publishers 1987. Blanchet, Robert: »Blockbuster. Ästhetik, Ökonomie und Geschichte des postklassischen Hollywood-Kinos«, Marburg: Schnüren 2003. Borch-Jacobsen, Mikkel: »Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung«, München: Wilhelm Fink Verlag 1997. Breuer, Joseph / Freud, Sigmund: »Studien über Hysterie«, Frankfurt am Main: Fischer 2000 [1895 Franz Deuticke]. Brooker, Will: »Alice’s Adventures. Lewis Carroll in Popular Culture«, London: Continuum 2005.

171 Vgl.: Wolfgang Gast: »Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse«, Ders. (Hrsg.): Film und Literatur. Analysen, Materialien, Unterrichtsvorschläge, Frankfurt am Main: Moritz Diesterweg 1993, S. 51. 172 Ebd., S. 48. [Hervorhebung im Original]

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Deleuze, Gille: »Logik des Sinns«, Aesthetica. Neue Folge Bd. 707, aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Freud, Sigmund: »Die Traumdeutung«, Frankfurt am Main: Fischer 1999. Gast, Wolfgang: »Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse«, Gast, Wolfgang (Hrsg.): Film und Literatur. Analysen, Materialien, Unterrichtsvorschläge, Frankfurt am Main: Moritz Diesterweg 1993. Heger, Christian: »Mondbeglänzte Zaubernächte. Das filmische Universum von Tim Burton«, Marburg: Schüren 2010. King, Geoff: »Spectacular Narratives. Hollywood in the age of the Blockbuster«, New York: Tauris 2000. Lang, Hermann: »Die Sprache und das Unbewußte. Jaques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. Lecercle, Jean-Jaques: »Philosophy of Nonsense. The Intuitions of Victorian Nonsense Literature«, London und New York: Routledge 1994. Lecercle, Jean-Jaques: »Philosophy Through the Looking-Glass. Language, Nonsense, Desire«, London / Melbourne / Sydney : Hutchinson 1985. Methner, Sanja: »›We are all mad here‹. Über non-sense in Alice in Wonderland«, von Bogen, Helene u. a. (Hrsg.): Literatur und Wahnsinn, Literaturwissenschaften Bd. 45, Berlin: Frank und Timme 2015, S. 73–84. Meyer Spacks, Patricia: »Logic and Language in Through the Looking-Glass«, Phillips, Robert (Hrsg.): Aspects of Alice. Lewis Carroll’s Dreamchild as seen through the Critics’ Looking-Glasses, Toronto: The Vanguard Press 1971, S. 267–275. Nöth, Winfried: »Literatursemiotische Analysen. Zu Lewis Carrolls Alice-Büchern«, Eschbach, Achim u. a. (Hrsg.), Tübingen: Gunter Narr 1980. Reichert, Klaus: »Lewis Carroll. Studien zum literarischen Unsinn«, Bd. 165, München: Carl Hanser 1974. Salin, Sophie: »Kryptologie des Unbewußten. Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland«, Epistemata Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft Bd. 652, Würzburg: Königshausen und Neumann 2008. Schmitz-Emans, Monika: »Im Labyrinth der Erfahrungen und Diskurse. Alice schwindelerregende Erfahrungen mit dem Ich und der Welt«, Brittmacher, Hans Richard / Janz, Rolf-Peter (Hrsg.): Labyrinth und Spiel. Umdeutung eines Mythos, Göttingen: Wallstein 2007, S. 138–169. Schwab, Gabriele: »The Mirror and the Killer-Queen. Otherness in Literary Language«, Bloomington und Indianapolis: Indiana University Press 1996. Six, Bernd: »Depersonalisation«, Wirtz, Markus Antonius (Hrsg.): Dorsch Psychologisches Wörterbuch, 16., überarbeite und aktualisierte Aufl., Bern: Huber 2013. Wenninger, Gerd: »Depersonalisation«, Wenninger, Gerd (Hg.): Lexikon der Psychologie in fünf Bänden, Bd. 1, Heidelberg/ Berlin: Spektrum Akademischer Verlag 2000. Wills, John: »Disney Culture. Quick Takes. Movies and Popular Culture«, Foster Gwendolyn / Dixon, Wheeler Dixon (Hrsg.), New Brunswick u. a.: Rutgers University Press 2017.

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Onlinequellen Weiler, Pia: »Analyse einer filmischen Adaption. Alice im Wunderland von Tim Burton im Vergleich zu den Büchern von Lewis Carroll«, verfügbar unter : https://www.grin.com/ document/267075, [28. 08. 2019]

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Traummetaphorik und Traumdeutung in Lou Andreas-Salomés Novelle Wolga

Einleitung Offensichtlich gehört der Traum zu den anthropologischen Grundphänomenen, die – wie Liebe, Sexualität oder Tod – die Menschen aller Zeiten seit je beschäftigen. Der Grund für dieses Interesse liegt wohl auf der Hand: der Traum irritiert und fasziniert, weil er uns mit einer Erlebniswelt und einer Erlebnisweise konfrontiert, die auf ebenso eindeutige wie auch rätselhafte Weise anders sind als die unseres wachen Lebens.1

schreibt Manfred Engel in Der Traum zwischen Psychologie und Literatur. Der vorliegende Beitrag ist den Eigenheiten des Traumdiskurses in der Novelle Wolga von Lou Andreas-Salom8 gewidmet.2 Fokussieren werde ich die Träume der jugendlichen Protagonistin, die ich mit Blick auf die Traummetaphorik und Traumdeutung gemäß der Traumtheorie von Carl Gustav Jung analysieren werde. Zur besseren Verständlichkeit wird zunächst der Inhalt der Novelle skizziert.

Zum Inhalt der Novelle Ljubow Wassiliewna, eine sechzehnjährige Deutschrussin mit einer »schönen, großen, weichen Gestalt«3 und »rundem Kindergesicht«4 fährt mit dem Schiff Zcar [sic!] Saltan von Sankt-Petersburg nach Astrachan zu ihrem Vater. Das Mädchen befindet sich hierbei in der Obhut des Kapitäns und hat daher das Recht, sich aufzuhalten, wo sie will. Ljubow genießt diese Freiheit, denn außer 1 Manfred Engel: »Der Traum zwischen Psychologie und Literatur«, in Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, 2000/80, S. 26–29, (S. 26). 2 Lou Andreas-Salom8: »Wolga«, Benert, Britta (Hrsg.): Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen, Taching am See: MedienEdition Welsch 2013, S. 276–341, (S. 276ff.). 3 Ebd., S. 280. 4 Ebd.

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der Petersburger Pension und dem Landhäuschen der Tante in Peterhof kennt sie noch nichts in dieser Welt. Sie gleicht einer Blume, die im Treibhaus aufgewachsen ist. Alles in ihrer Umgebung, die Passagiere, die Natur, scheinen ihr wunderschön zu sein. Sie hat das Gefühl, als ob »die ganze Welt ihr gehöre.«5 Während ihrer Reise trifft Ljubow einen außergewöhnlichen Passagier, Doktor Valdevenen. Der Mann ist nicht nur ein Arzt, sondern auch ein Polyglott. Er spricht Deutsch, Russisch, Finnisch und Tatarisch: »Ein Gelehrter«6 also. Der Kapitän ist von der Persönlichkeit des Doktors überaus beeindruckt, aber auf die Protagonistin scheint Valdevenen bei ihrer ersten Begegnung bedrohlich zu wirken. »Haar und Bart«7 sind in ihren Augen sehr dick. Sie lassen es nicht zu, Emotionen auf seinem Gesicht zu beobachten. Der erste Eindruck, den Ljubow von ihm bekommt, ist »von etwas Energischem, fast von etwas Aggressivem«8 beprägt. Der Witwer Valdevenen ist hingegen von Ljubow fasziniert, denn in diesem Mädchen seien Jugend, Schönheit und Gesundheit so harmonisch beisammen.9 Ihr Anblick »tröstet ordentlich für all das Missratene, Kranke, Elende,«10 womit sich der Doktor täglich befassen muss. Valdevenen bedauert sogar, dass es unmöglich ist, »ihre Lieblichkeit nicht einfach gewaltsam unter eine[r] Glasglocke«11 zu konservieren. Einerseits behandelt er Ljubow wie ein jüngeres Mädchen, das seine Tochter sein könnte, andererseits wie eine Frau, die er gerne heiraten möchte. Diese Dualität beeinflusst die Protagonistin und wirkt wie ein Katalysator auf ihre Emotionen, Gefühle und Triebe. Ljubow verliebt sich schließlich in den Doktor. Am Ende der Erzählung bleibt nach einem Kuss zum Abschied der Ausgang dieser Liebesgeschichte zwischen Ljubow und Valdevenen jedoch offen.

Traumdiskurs und Erzählrealität Die Träume der Protagonistin spielen in der Novelle eine wesentliche Rolle. Ljubows Gefühle und Eindrücke – insbesondere ihre Ängste – werden primär in ihren Träumen transparent. Traumdiskurs und Wirklichkeit sind klar voneinander differenziert, sodass es nicht zu Verwechselungen kommen kann. Eine Verbindung der beiden Ebenen zeigt sich allerdings darin, dass das tagsüber 5 6 7 8 9 10 11

Ebd., S. 283. Ebd., S. 296. Ebd. Ebd. Vgl.: ebd., S. 295. Ebd. Ebd., S. 298.

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Erlebte die Figur so sehr beeinflusst, dass es zuweilen in ihren Träumen auftaucht. Zum Zeitpunkt der Reise befindet sich die Protagonistin in einer Übergangsphase: Sie ist kein kleines Mädchen mehr, allerdings auch noch keine erwachsene Frau. Sie wird als naiv und zutraulich beschrieben und erzählt Valdevenen, dass es sich um ihre erste Reise handelt und dies das Schönste sei, was sie je gesehen habe.12 Bisher hatte Ljubow nur Frauen und Mädchen in ihrer Umgebung. Ihr Treffen mit Valdevenen ist ihre erste Erfahrung mit einem ihr fremden Mann. Das beeinflusst sie sehr und verändert ihre bewusste Einstellung. Nach dem Treffen mit Valdevenen ist Ljubow nicht mehr sie selbst. Als jungem Mädchen aus guter Familie und in der beschriebenen patriarchalen Gesellschaft wurde ihr vermittelt, alle »Voraussetzungen von Treue, Ethik, Ehe und ähnlichem«13 in der Gesellschaft zu erfüllen, »um sich nicht zu schämen, schon in einem etwas zwiespältigen Gutmachen wollen ihres eigenes Trieblebens,«14 weshalb sie »über sich selbst schon etwas zu niedrig denken«15 und folglich ihre sexuellen Wünsche sanktionieren und unterdrücken musste. Sie solle einen Mann und Kinderchen bekommen;16 dies sind die primären Aufgaben der Frau im ausgehenden 19. Jahrhundert. Zwar akzeptiert Ljubow diese passive Geschlechtsdeutung, doch weckt Valdevenen einige tief in ihrem Inneren schlummernde Instinkte. Er regt sie zu erotischen Fantasien an, die sich in einem Traum manifestieren. Ohne Beschönigung erzählt er ihr im Gespräch von ihrer Zukunft, aber auch von ihren weiblichen Pflichten, die »nicht zu ändern«17 seien: Es wird jemand kommen, der stellt sich plötzlich vor die ganze Welt und redet so: ›Komm, ich werfe dich in ein enges, dunkles Gefängnis, wo du von all dem nichts mehr siehst. Alles, was du gesehen hast, sollst du vergessen und nur vorlieb nehmen, mit deinem ergebensten Gefängniswärter.‹18

Unzweifelhaft ist die Liebe für Valdevenen Ausdruck eines Geschlechterkampfes, in welchem das Weib erst recht Weib (passiv), der Mann erst recht Mann (aktiv) zu werden scheint.19 Den gesellschaftlichen Konventionen entsprechend besteht das Ende dieses Kampfes im »Besiegen des Einen durch den Andern [, denn eine 12 Vgl.: ebd., S. 297. 13 Lou Andreas-Salom8: »In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/1913«, Frankfurt am Main u. a.: Ullstein 1983, S. 76. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Vgl.: Lou Andreas-Salom8: »Wolga«, Benert, Britta (Hrsg.): Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen, Taching am See: MedienEdition Welsch 2013, S. 276–341, (S. 298). 17 Ebd., S. 310. 18 Ebd. 19 Vgl.: Lou Andreas-Salom8: »In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/1913«, Frankfurt am Main u. a.: Ullstein 1983, S. 49.

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Frau dieser Zeit hat keine andere Wahl, als sich ihrem Mann unterzuordnen und ihm] […] blind und taub und lahm, wie im tiefsten Schlaf«20 zu folgen. Möglicherweise könnten diese Äußerungen des Doktors auf eine erwachsene und erfahrene Frauenfigur bedrohlich wirken, aber nicht auf Ljubow. Für sie ist das alles neu. Offenbar hat bisher niemand mit ihr über die Beziehung zwischen Mann und Frau gesprochen. Da zudem noch kein Mann mit ihr wie mit einer erwachsenen Frau geredet hat, klingen die Wörter des Doktors für die Protagonistin abenteuerlich: »Eigentlich wäre es interessant gewesen, näheres darüber zu erfahren«21, – so ihre Reaktion auf die Rede Valdevenens über das weibliche Schicksal. Ljubow ist von diesem Mann begeistert. Seine Energie, die an Aggressivität und potenzielle Gewaltbereitschaft grenzt, seine Erfahrung und seine Kenntnis des Lebens, verzaubern die Protagonistin und erwecken ihre als noch im Schlaf befindlich beschriebene weibliche Natur. Dem Dornröschen-Prinzip entsprechend, küsst er sie wach – sie wird zur Frau und verliebt sich in ihn. Daraus ergibt sich jedoch ein innerer Konflikt, da die bisher bekannte Welt Ljubows nun zerrissen erscheint. Die erwachte Sexualität, ihr Verlangen nach Valdevenen und bisher nicht bekannte Impulse ihres Körpers, bedrohen die friedliche Existenz »des selbstständigen Ichlebens«22 der Protagonistin. So werden die Träume der jungen Frauenfigur als »eine unbewusste Reaktion auf eine bewusste Situation«23 lesbar.

Traummetaphorik und Traumdeutung Gemäß Jung ist der Traum ein natürliches Phänomen, das nicht einer bestimmten Absicht entspring. Eine Deutung sei daher in erster Linie kausal motiviert.24 In diesem Abschnitt werden sowohl die Metaphorik als auch die Deutung der Träume Ljubows fokussiert. Die Traumanalyse hat eine lange Tradition. Zur Entstehungszeit von AndreasSalom8s Novelle sind Sigmund Freuds Ausführungen zum Traum als Wunscherfüllung dominant.25 Eine Freud’sche Traumanalyse würde Ljubows Träume auf 20 Lou Andreas-Salom8: »Wolga«, Benert, Britta (Hrsg.): Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen, Taching am See: MedienEdition Welsch 2013, S. 276–341, (S. 310). 21 Ebd., S. 309. 22 Lou Andreas-Salom8: »In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/1913«, Frankfurt am Main u. a.: Ullstein 1983, S. 100. 23 Carl Gustav Jung: »Kinderträume«, Olten u. a.: Walter 1987, S. 19. 24 Vgl.: ebd., S. 17. 25 Vgl.: ebd., S. 35.

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die hier sichtbar werdenden sexuellen Triebe reduzieren. Eine an Carl Gustav Jungs Traumdeutung orientierte Traumanalyse würde weitere Aspekte zutage fördern. Jung verwendet bei der Traumanalyse Freuds Technik der freien Assoziation und macht dabei die folgende Erfahrung: Wenn Sie einem Menschen eine Aufgabe stellen, frei zu assoziieren, entdecken Sie zwar einige Komplexe, aber Sie wissen nicht, ob diese Komplexe auch im Ausgangspunkt, im Traum erhalten waren.26

Ljubow träumt von einer Prinzessin aus einem fiktiven Kindermärchen und identifiziert sich mit ihr. Die Prinzessin wird von einem Prinzen bewundert, der die Aufgabe hat, sie in den Brunnen zu werfen, um sie in sein Reich zu führen – sie symbolisch zu ertränken. Da er die Frist hierfür verstreichen lässt, verwandelt sich die schöne Prinzessin in einen Frosch und hüpft davon – soweit das Szenario des fiktiven Märchens. Der Traum zeichnet sich durch eine ganze Reihe bedeutsamer Elemente27 und Symbole aus: Prinzessin, Ritter bzw. Prinz, Brunnen, Wasser, Fröschlein, das am Grund des Brunnens angepriesene »Schloss mit diamantenen Zinnen im Brunnen«28 etc. Laut Jung ist die Traumsymbolik bedeutsam, da sie »die menschliche Natur ans Licht – ihre Instinkte und eigenartigen Denkweisen«29 offenkundig macht. Jung differenziert zwei Arten von Symbolen: natürliche und kulturelle. Die natürlichen Symbole leiten sich von den unbewussten Inhalten der Psyche ab und repräsentieren die wesentlichen archetypischen Bilder. […] Die kulturellen Symbole anderseits sind solche, die man bewusst verwendet hat um ewige Wahrheiten auszudrücken: sie werden immer noch in vielen Religionen gebraucht.30

In Ljubows Träumen sind sowohl individuelle als auch kulturelle Symbole, wie etwa das »schlanke aufsteigende Minarett«31 präsent. Natürliche Symbole seien Archetypen32 – die Bestandteile des Lebens selbst: Bilder, die mit dem lebendigen Menschen durch eine Brücke der Emotionen verbunden seien.33 Jung zufolge ist es unmöglich, einem Archetyp eine willkürliche oder allgemeingültige Deutung 26 Ebd., S. 37. 27 Vgl.: ebd., S.37. 28 Lou Andreas-Salom8: »Wolga«, Benert, Britta (Hrsg.): Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen, Taching am See: MedienEdition Welsch 2013, S. 276–341, (S. 315). 29 Carl Gustav Jung: »Der Mensch und seine Symbole«, Olten u. a.: Walter 1988, S. 95. 30 Ebd., S. 93. 31 Lou Andreas-Salom8: »Wolga«, Benert, Britta (Hrsg.): Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen, Taching am See: MedienEdition Welsch 2013, S. 276–341, (S. 312). 32 Carl Gustav Jung: »Der Mensch und seine Symbole«, Olten u. a.: Walter 1988, S. 96. 33 Vgl.: ebd.

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zu geben; man muss ihn stets im Abgleich mit der individuellen Lebenssituation des/der Träumenden deuten.34 Die Deutung der Symbole erfordert eine nähere Betrachtung der sprachlichen Mittel, durch die sich die Novelle auszeichnet. Es finden sich intertextuelle Verweise, etwa der Name des Schiffes, der auf das berühmte russische Märchen Zar Saltan (1831) von Alexander Puschkin rekurriert. Das Schiff versinnbildlicht demnach – ebenso wie der genannte Traum – ein Märchen, aber auch einen Ort des Übergangs, der die Protagonistin von der Kindheit ins Erwachsenenleben überführt. Der Name der Figur ist ebenfalls bedeutsam: auf Russisch bedeutet er »Liebe«, was auf die zentrale Motivik der Novelle verweist. In ihren Träumen sind ebenfalls zahlreiche sprachliche Mittel transparent, wie etwa Symbole (der Brunnen, eine Birke, eine Prinzessin, Wasser), Metaphern (»Goldschloss mit Diamantenzinnen«35), Periphrase und Zeitmetaphorik (»Mondlicht«36, »Frührot«37), Identifikationen der Protagonistin mit der Prinzessin, mit dem Fröschlein und mit einer Birke, Hyperbeln (»unermesslich schmerzlich fern«38), Tautologien (»unerhörte Totenstille«39), Anaphern (»Schicksal arg. Schicksal bös«40), Ellipsen (»Nein, – die Birken da!«41). Näher betrachtet werden im Folgenden die beiden Träume der Figur. Zunächst der erste Traum, in dem sie sich als Prinzessin in ein ihr bekanntes Kindermärchen imaginiert. Eine wichtige symbolische Bedeutung kommt hier dem Brunnen mit dem glitzernden Wasser zu, der »in einem fremdartigen«42 gemauerten Hofraum steht. Er könnte als ein Symbol ihrer sexuellen Unschuld/ Jungfräulichkeit gelesen werden. Der Ritter zaudert ob seiner Aufgabe und wirft zunächst einen Stein ins Wasser. Er hebt die Prinzessin in die Höhe, bewundert sie und zaudert erneut. Die diesem Akt zugrundeliegende Vorstellung von einer zwar Glück verheißenden, aber gleichzeitig einem Mord ähnelnden symbolischen Vereinigung von Mann und Frau, beleuchtet die psychischen Konflikte, die diese Traumbilder auslösen. Transparent werden zudem diejenigen Erinnerungen (Tagesreste) Ljubows, die besonders starke Emotionen und innere Proteste verursachen, wie etwa die Weissagungen der Zigeunerin über ihr Schicksal und 34 Vgl.: ebd. 35 Lou Andreas-Salom8: »Wolga«, Benert, Britta (Hrsg.): Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen, Taching am See: MedienEdition Welsch 2013, S. 276–341, (S. 315). 36 Ebd., S. 312. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 331. 39 Ebd., S. 312. 40 Ebd., S. 314. 41 Ebd., S. 331. 42 Ebd., S. 312.

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die Äußerungen des Doktors über die Beziehung zwischen Mann und Frau. So zeigt sich auf mehreren Ebenen, dass dieser Traum eine Konfliktsituation zwischen bewusstem Erleben und unbewussten Wünschen und Ängsten der Figur zum Ausdruck bringt. Ganz im Sinne Jungs kann er als unbewusste Reaktion auf eine bewusste Situation, in diesem Fall auf Valdevenens Konzept von der Beziehung zwischen den Geschlechtern, gelesen werden. Sein Einfluss auf diesen Traum wird auch daraus ersichtlich, dass er in einem diffusen Zwischenzustand von Wach- oder Halbschlaf und Schlaf erscheint. Angedeutet wird eine sexuelle Vereinigung, die unter Umständen noch im Traum und nicht im wachen Erleben der Figur stattfindet. Dieser Traum und die womöglich tatsächlich erlebte Vereinigung mit Valdevenen beeinflussen Ljubow, die sich plötzlich davor fürchtet, Valdevenen wieder zu sehen: Sie hatte hinuntergeblickt in das schwarze Wasser, in dem ein Schiffslicht aus dem Zwischendeck unten einen kleinen hellen Umkreis beschrieb: da glitzerte es dunkel und seltsam wie in der Tiefe eines Brunnens. Und mit einem Male war ihr gewesen, als würde Valdevenen sie da ins Wasser werfen.43

Der Traum trägt dementsprechend zu einer Desillusionierung bei. Im hellen Licht des Tages verbindet sie Valdevenen mit einer Gefahr, da er ihre kindlichen Träume ertränken könnte. Ob sich am Grund des Brunnens tatsächlich das märchenhafte Königreich befindet, oder ob die Unterwerfung unter den Prinzen/Doktor schlichtweg zum Tode durch Ertrinken führt, wird sie nur herausfinden, wenn sie ihre kindlich naive, passenderweise als traumhaft beschriebene Weltsicht ablegt.44 In ihrem zweiten Traum träumt Ljubow von der Natur. Sie genießt die Schönheit der Birken, die so nah und gleichzeitig so »unermesslich, schmerzlich fern«45 von ihr, dem »armen Menschenkind«46 stehen. In diesem Zusammenhang ist zu ergänzen, dass eine Birke in der russischen Kultur eine junge Frau symbolisiert.47 Dieser Traum bringt daher Ljubows Einsamkeit und Entwurzelung zum Ausdruck. Die Protagonistin scheint nicht mehr Herrin ihrer Seele zu sein, da sie als unfähig beschrieben wird, ihre »Stimmungen und Emotionen zu beherrschen.«48 Durch diesen zweiten Traum beeinflusst und in innerem Konflikt verhaftet, ist sie überfordert von der erneuten Begegnung mit Valdevenen. Sie 43 Ebd., S. 323. 44 Vgl.: ebd., S. 326f. Auf den hier sichtbar werdenden autobiografischen Gehalt der Novelle geht Britta Benert in ihrem Nachwort zum Novellenzyklus Im Zwischenland ein. Vgl.: »Nachwort« in: ebd. 45 Ebd., S. 331. 46 Ebd. 47 Vgl.: AQbcV^Yp Y ]Ye. 2VaVXQ, verfügbar unter : http://myfhology.info/planta/birch.html [01. 10. 2016]. 48 Carl Gustav Jung: »Der Mensch und seine Symbole«, Olten u. a.: Walter 1988, S. 83.

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reagiert mit hysterischen, jedoch kathartisch anmutenden Schreien, denn plötzlich erscheinen die Ängste des ersten Traumes in neuem Licht und sie verliert ihre Furcht vor Valdevenen: Und mit einem Male brach über sie ein wilder, sehnender Schmerz herein. Alles was in ihr war, schien darin aufzustehen, sich aufzubäumen in dieser Sehnsucht, als habe es nie – nein, nie, etwas anderem sich entgegengesehnt, wie nur diesem einen, dem einen, was sie jetzt eben hatte erleben sollen. Alle brachliegende Kraft, alle Ungeduld, alle Erwartungen und Übertreibungen, alle Träume von Seligkeiten und Gefahren, sie alle schienen nur auf diesen Augenblick zu gelebt zu haben und fassungslos zu erstarren, weil er an ihnen vorüberging.49

Nun stellt sie sich die Stadt Samara »wie die goldene Stadt des Lebens und wie die dunkle Stadt des Todes«50 vor, weil sie sich von dem Doktor verabschieden soll. Der zweite und letzte beschriebene Traum der Protagonistin enthält Erinnerungen an das Leben in der Sankt-Petersburger Pension mit ihren Freundinnen. Doch sieht sie die Schulkameradinnen »von fern, nur noch blass, als sei sie schon aus dem Reigen ausgetreten, als blickten alle schon fast fremd nach ihr.«51 Langsam verschwinden die Mädchen und vor den Augen der träumenden Protagonistin stehen schließlich nur noch Birken. In diesem Traum wird demnach der symbolische Abschied von der Kindheit zum Ausdruck gebracht. Folgerichtig ist Ljubow am nächsten Tag, früh morgens dazu bereit, sich von Valdevenen mit Küssen zu verabschieden. Durch die geschilderte Erweckung durch einen Mann, die wiederum an ein Märchen erinnert (Dornröschen), beginnt eine neue Phase im Leben der Figur. Sie ist nicht mehr nur ein Mädchen mit weiblicher Gestalt und »rundem Kindergesicht,«52 sondern eine junge Frau, die Leid, Schmerz und Freude der ersten Liebe erfährt.

Fazit Die Träume bilden den »unbewusste[n] Hintergrund«53 des wachen Bewusstseins der Protagonistin ab. Ljubows wache Eindrücke, Emotionen und Erinnerungen beeinflussen ihre Träume und werden mit unbewussten Sehnsüchten und Ängsten angereichert. Die hier transparente enge Verbindung bzw. Wechselwirkung zwischen wachem Bewusstsein und Unbewusstem rechtfertigt eine 49 Lou Andreas-Salom8: »Wolga«, Benert, Britta (Hrsg.): Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen, Taching am See: MedienEdition Welsch 2013, S. 276–341, (S. 333). 50 Ebd. 51 Ebd., S. 335. 52 Ebd. 53 Carl Gustav Jung: »Der Mensch und seine Symbole«, Olten u. a.: Walter 1988, S. 25.

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tiefenpsychologische Traumanalyse. Generell ist anzumerken, dass literarische Traumdarstellungen vielfältige Funktionen erfüllen, sie dienen etwa der Textstrukturierung, der Figurenzeichnung, dem Aufbau einer Schicksalssemantik, oder der Entfaltung einer textprägenden Bild- und Symbolschicht, weshalb sie in ihrer Semantik meist klarer als reale Träume erscheinen.54 In ihrer Novelle Wolga verwendet Andreas-Salom8 Träume, um die psychischen Konflikte der Hauptfigur zum Ausdruck zu bringen. Darüber hinaus gelingt es ihr hierdurch, die Komplexität der psychischen Herausforderungen weiblicher Adoleszenz um 1900 zu veranschaulichen.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Andreas-Salom8 Lou: »Wolga«, Benert, Britta (Hrsg.): Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen, Taching am See: MedienEdition Welsch 2013, S. 276–341.

Sekundärliteratur Andreas-Salom8, Lou: »In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/1913«, Frankfurt am Main u. a.: Ullstein 1983. Benert, Britta: »Nachwort«, in: Andreas-Salom8 Lou: »Wolga«, Benert, Britta (Hrsg.): Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen, Taching am See: MedienEdition Welsch 2013. Engel, Manfred: »Der Traum zwischen Psychologie und Literatur«, in Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, 2000/80, S. 26–29. Jung, Carl Gustav : »Der Mensch und seine Symbole«, Olten u. a.: Walter 1988. Jung, Carl Gustav : »Kinderträume«, Olten u. a.: Walter 1987.

Onlinequellen AQbcV^Yp Y ]Ye. 2VaVXQ, verfügbar unter : http://myfhology.info/planta/birch.html. [01. 10.

2016].

54 Vgl.: Manfred Engel: »Der Traum zwischen Psychologie und Literatur«, in Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, 2000/80, S. 26–29, (S. 29).

Lisa Winter

Das wahre Leben? Traumdarstellungen in ausgewählten Kinder- und Jugendromanen zum Holocaust

Einleitung Night, night without end. No dawn comes / My eyes are poisoned from sleep.1

Das Motiv der ewigen Nacht, das in Tadeusz Borowskis Gedicht Night over Birkenau zum Ausdruck gebracht wird, repräsentiert das Leiden des lyrischen Erzählers im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und verbindet dieses mit dem Motiv des Schlafs. Nicht nur Borowski, sondern auch weitere Opfer und Überlebende des Holocaust wie Elie Wiesel, David Vogel und Primo Levi widmeten dem Motiv der Nacht in ihrer Holocaust Poetry größere Aufmerksamkeit.2 So beschreibt Vogels How can I see you, Love die Transformation der Welt in eine Nacht.3 Auch Levis lyrischer Erzähler in The Survivor beschreibt the »[…] heavy burden of their dreams.«4 Der Schlaf und das Träumen stellen wie das Leid eine essentielle Komponente im Leben von Verfolgten dar, denn auch wenn sie aufgrund des nationalsozialistischen Regimes ihrer Rechte entraubt wurden, konnte ihnen das Recht zu träumen nicht verwehrt werden. Das wird anhand von Ro-

1 Tadeusz Borowski: »Night over Birkenau«, Hilda Schilff (Hrsg.): Holocaust Poetry, London: Fount Paperbacks 1995, S. 55, V. 14–16. 2 Vgl.: Elie Wiesel: »Never shall I forget«, Hilda Schilf (Hrsg.): Holocaust Poetry. London: Fount Paperbacks 1995, S. 42, V. 1–4; vgl.: David Vogel: »How can I see you Love?«, Hilda Schilff (Hrsg.): Holocaust Poetry. London: Fount Paperbacks 1995, S. 114, V. 4–8; vgl.: Primo Levi: »Reveille«, Hilda Schilf (Hrsg.): Holocaust Poetry. London: Fount Paperbacks 1995, S. 117, V. 1–4. 3 Vgl.: David Vogel: »How can I see you Love?«, Hilda Schilff (Hrsg.): Holocaust Poetry. London: Fount Paperbacks 1995, S. 114, V. 4–8. 4 Primo Levi: »The Survivor«, Hilda Schilff (Hrsg.): Holocaust Poetry, London: Fount Paperbacks 1995, S. 118, V. 6–7.

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manen und Autobiografien wie Was dir bleibt, ist dein Traum oder Memories. Dreams. Nightmares deutlich, deren Paratexte diesen Eindruck verstärken.5 Aharon Appelfelds Roman Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen zeigt dies ebenfalls paratextuell.6 Der 16-jährige Protagonist Erwin alias Aharon bewegt sich in »Traum(a)landschaften« und kehrt auf diese Art zu seiner Familie zurück.7 Neben diesem Roman fungieren Gudrun Pausewangs Roman Reise im August mit seiner Protagonistin Alice sowie Reinhard Kleists Graphic Novel Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft8 und deren gleichnamiger Hauptcharakter als grundlegende Forschungsgegenstände für diesen Beitrag, der sich der Darstellung von Träumen in ausgewählten Kinder- und Jugendromanen zum Holocaust widmet. Der Traum verbindet die Schicksale der drei Protagonisten, indem er für sie eine Reise in die Vergangenheit und eine Flucht vor der Gegenwart darstellt. In diesem Kontext stellen sich folgende Fragen: Wie werden die Träume der Figuren inhaltlich und narratologisch dargestellt? Welche Symbole, Bilder und vor allem Erinnerungen sind hier von Bedeutung? Wie interagieren der Schlaf und die Träume mit der Adoleszenz der Protagonisten? Intertextuelle Bezüge und das Medium Graphic Novel werden in diesem Zusammenhang ebenfalls näher betrachtet. Neben historischen Erinnerungskulturen trägt die Kinder- und Jugendliteratur seit Jahrzehnten dazu bei, die Schicksale von adoleszenten, teils fiktiven, aber auch der Realität nachempfunden Figuren im Holocaust darzustellen. Gabriele von Glasenapp unterstreicht die ab den 1960er Jahren verstärkte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Kinder- und Jugendbuch. Die Darstellung des Holocaust sei vor allem durch die zunehmende Übersetzung ausländischer Romane gefördert worden.9 Der hierfür ebenfalls relevante psychologische Kinderroman mit kindlichen Protagonist*innen und Erzählin5 Vgl.: Jack Weiss: »Memories. Dreams. Nightmares, Memoirs of a Holocaust Survivor«, Calgary : University of Calgary Press 2005; vgl.: Susy Zail: »Was dir bleibt, ist dein Traum. Die Geschichte eines Überlebens«, aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis, München: cbj. 2008. 6 Vgl.: Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012. 7 Vgl.: Marianne Windsperger: »Lebenswege in Traum(a)landschaften. Die Bukowina als Erinnerungslandschaft in ausgewählten Werken Aharon Appelfelds«, Frankfurt am Main u. a.: Lang 2011. Der Begriff der Traum(a)landschaft wird im Lauf des Beitrags aufgegriffen und erläutert. 8 Vgl.: Gudrun Pausewang: »Reise im August«, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1997; vgl.: Reinhard Kleist: »Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft«, Hamburg: Carlsen 2012. Die Wahl des Begriffs Holocaust beinhaltet keine inhaltliche Wertung. 9 Vgl.: Gabriele von Glasenapp: »Historische und zeitgeschichtliche Literatur«, Reiner Wild (Hrsg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart: Metzler 2008. Ausschnitte, S. 354–359, (S. 355f.).

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stanzen hat Carsten Gansel zufolge seit den 1990er Jahren an Bedeutung gewonnen.10 Der Beginn der Erforschung von Träumen geht auf Aristoteles zurück und hat psychoanalytisch wie auch literaturgeschichtlich eine lange Tradition.11 In der Philosophie findet der Traum zudem als Metapher für die Nichtigkeit des Lebens Verwendung. In der Traumforschung dominieren seit Sigmund Freud psychoanalytische und experimentelle oder neuro-kognitionspsychologische Modelle die Analyse von Träumen.12 Zum besseren Verständnis soll eine Darstellung des Traums in den literarischen Epochen sowie in der Psychoanalyse beitragen. Schwerpunkte sind hierbei die Träume von Kindern und Jugendlichen, TraumNarrative und der sogenannte »Magic Realism« (Jenni Adams), der psychoanalytische Aspekte in der Holocaust-Literatur berücksichtigt.13

Der Traum als literarisches Motiv und Gegenstand der Psychoanalyse – Traumdarstellungen im intertextuellen Vergleich Bereits in der Antike wurden Träume und deren Deutung erörtert. Petra Gehring betont das »potenzielle Konkurrenzverhältnis von Traum- und Wachbewusstsein in antiken Darstellungen«.14 Auch in der mittelhochdeutschen Lyrik ist das Traummotiv präsent. Kriemhilds Falkentraum in der Sage Die Nibelungen verdeutlicht, dass Träume Reflexionsgegenstand der mittelalterlichen Wirklichkeit waren.15 In diesem Zusammenhang wird ersichtlich, wie unterschiedlich die Betrachtung von Traum-Motiven ausfällt. So geht Guntram Haag auf verschiedene Perspektiven ein, die Falken als Traumsymbole für Reichtum, die Geburt

10 Vgl.: Carsten Gansel: »Rhetorik der Erinnerung. Zur narrativen Inszenierung von Erinnerungen in der Kinder- und Jugendliteratur und der Allgemeinliteratur«, Carsten Gansel / Hermann Korte (Hrsg.): Kinder – und Jugendliteratur und Narratologie, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht Unipress 2009, S. 11–38, (S. 20). 11 Vgl.: R. Grötker / P. Probst / F. J. Wetz: »Traum«, Joachim Ritter / Karlfried Günther (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel: Schwabe, Sp. 1462–1473, (Sp. 1462 und Sp. 1471). 12 Vgl.: P. Muckel: »Traum«, Joachim Ritter / Karlfried Günther (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel: Schwabe & Co. o. J. Sp. 1465–1471, (Sp. 1466). 13 Vgl.: Jenni Adams: »Magic Realism in Holocaust Literature. Troping the Traumatic Real«, Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan 2011. 14 Petra Gehring: »Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung«, Frankfurt am Main: Campus-Verlag 2008, S. 18. 15 Vgl.: »Die Nibelungen«, Deutsche Heldensagen, bearbeitet von Thomas Trent, Göttingen: Fischer-Verlag o. J., S. 195–278, (S. 195f.).

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eines Sohnes, oder auch im Nibelungenlied als Motiv der Liebesbeziehung inszenieren.16 Dass Traumdarstellungen eine lange literarische Tradition aufweisen, ist offensichtlich. Aber in welcher literarischen Tradition stehen sie in der Kinderund Jugendliteratur? Dies soll im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele etwas näher beleuchtet werden. Hans-Heino Ewers beschreibt das Kindheitsbild der Romantik unter anderem in Bezug auf Novalis und Johann Gottfried Herder. Interessant ist hierbei der Paradigmenwechsel von der Aufklärung zur Romantik, der sich bereits in Herders Kindheitsbegriff zeigt: Der romantischen Kindheitsauffassung hat Johann Gottfried Herder auf bedeutsame Weise vorgearbeitet […] [,] da[ß] sie Kindheit als ein Stadium faßt, das nicht mehr ein bloßes Weniger an Vernunft darstellt, sondern von aller Rationalität prinzipiell geschieden ist.17

Außerdem weist Ewers Herders Kindheitsbegriff die »[…] Neigung zum Wunderbaren, Phantastischen und Zauberhaften […] [als Wesensmerkmale der] supranationale[n] Wesen […]« zu.18 In Anbetracht dieser Kindheitsauffassung erscheint zunächst die Betrachtung des Bezugs zum Traummotiv in der Romantik einleuchtend. Hier werden sowohl Schlaf- als auch Wachzustände mit Träumen assoziiert. Oftmals dient der Traum als Projektionsfläche von Wunschvorstellungen. So thematisiert Heinrich Klatkes Gedicht Der Traum kindliche Wünsche, die zunächst im Traum, aber auch in der Realität verwirklicht werden sollen: »Und wenn du folgst und artig bist / Dann ist erfüllt dein Traum / Dann bringt der heil’ge Christ / Den schönsten Weihnachtsbaum.«19 Traum-Akteure sind in diesem Zusammenhang häufig der Sandmann sowie Engel, aber auch der Mond und die Sterne. Dies wird in einem späteren Klassiker der Kinderliteratur, Peterchens Mondfahrt deutlich, in welchem diese und weitere Traumfiguren Anneliese und Peterchen pädagogische Werte und moralische Ansprüche vermitteln.20

16 Vgl.: Guntram Haag: »Traum- und Traumdeutung in mittelhochdeutscher Literatur. Theoretische Grundlagen und Fallstudien«, Stuttgart: Hirzel 2003, S. 90ff. 17 Hans-Heino Ewers (Hrsg.): »Kinder- und Jugendliteratur der Romantik. Eine Textsammlung«, Stuttgart: Reclam 1980, S. 8. 18 Ebd., S. 9. 19 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: »Der Traum«, Hans-Heino Ewers (Hrsg.): Kinder-und Jugendliteratur der Romantik. Eine Textsammlung, Stuttgart: Reclam 1980, S. 140f., V. 25–28. 20 Vgl.: Gerdt von Bassewitz: »Peterchens Mondfahrt«, Frankfurt am Main: Baumhaus-Verlag 2008 [1915].

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Eine ausschließlich positive Konnotation von Trauminhalten lässt sich aber auch anhand der Figur des Sandmanns dekonstruieren. E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann unterscheidet sich in Form und Inhalt von der romantisierten Figur des Sandmanns, da der gleichnamige Charakter hier eine Gefahr darstellt und Träume nicht nur Projektionsfläche für Wunschvorstellungen sind, sondern auch pathologische Züge aufweisen.21 Hoffmanns Protagonist Nathanael kann die Grenzen zwischen Bewusstsein und Unbewusstem im Laufe des Romans immer schwerer differenzieren. Er wird lange Episoden schlafend dargestellt, verfällt immer mehr seinen Wahnvorstellungen und nimmt sich am Ende des Romans das Leben. Auch Märchen verarbeiten den Schlaf und das Träumen als literarische Motive. Forschungen zu den Märchen Dornröschen und Die kluge Else ergeben unterschiedliche Ansätze, in denen Schlaf sowohl mit Faulheit als auch mit Phasen der Adoleszenz assoziiert wird.22 Letztgenannter Aspekt ist mit Blick auf den Hauptteil dieses Beitrags, in dem das Verhältnis von Traum und Adoleszenz bei den Figuren Alice und Erwin erörtert wird, ein besonders interessanter Ansatz. Festzuhalten ist bereits hier : Ob in Wo die wilden Kerle wohnen oder Peterchens Mondfahrt,23 Traumdarstellungen prägen die Kinder- und Jugendliteratur nicht nur in der Romantik, sondern werden auch in zeitgenössischen Romanen häufig thematisiert, wobei vielfältige Akzentuierungen bemerkbar sind. Das Motiv des wiederkehrenden Traums ist etwa in Pier Mario Fasanottis Kinderbuch Der Dieb der Träume eine zentrale Komponente.24 Miguel träumt jede Nacht von einem Kapitän, den er auf einem weißen Boot besucht. Er assoziiert diesen mit seinem Vater, der ebenfalls auf Schiffen arbeitet und von Miguel schmerzlich vermisst wird. Als dieser Traum und auch die Träume seiner Freunde von dem Albtraum Jacob gestohlen werden, wird den Kindern die Relevanz des Träumens bewusst.25 Miguel hinterfragt, »[…] ob es nicht vielleicht ein Lagerhaus für Träume gab […]«26, und im Roman wird über das Wesen von Träumen reflektiert. Diese sind personifiziert und bilden eine Gesellschaft der Träume. Als Miguel seinen Traum trifft, hält er diesen für seinen Vater. Der personifizierte Traum korrigiert ihn:

21 Vgl.: E. T. A. Hoffmann: »Der Sandmann«, Stuttgart u. a.: Klett 2008 [1816]. 22 Vgl.: Bruno Bettelheim: »Kinder brauchen Märchen«, 31. Aufl. München: Dtv 2012, S. 262. 23 Vgl.: Maurice Sendak: »Wo die wilden Kerle wohnen«, Zürich: Diogenes 1967; vgl.: Gerdt von Bassewitz: »Peterchens Mondfahrt«, Frankfurt am Main: Baumhaus-Verlag 2008 [1915]. 24 Vgl.: Pier Mario Fasanotti: »Der Dieb der Träume. Mit Bildern von Don-Oliver Matthies«, Frankfurt am Main: Fischer 1996. 25 Vgl.: ebd., S. 16f. 26 Ebd., S. 17.

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Ich bin der Traum, den du von deinem Vater träumst. Ich bin ein Schatten, der atmet und spricht, aber doch ein Schatten. Ein Schatten voller Farben. Aber du kannst mich nicht berühren, du kannst mich nicht umarmen, auch wenn du es gerne tun würdest.27

Das Zitat offenbart die diffusen Grenzen von Traum und Wirklichkeit und zeigt, dass Träume oftmals Wünsche, Sehnsüchte und Ängste widerspiegeln. Dies wird auch in der Traumforschung deutlich, deren Verbindung zur Literatur im Folgenden untersucht wird. Hier werden – verkürzt – psychoanalytische Ansätze dargestellt, die für die nachfolgende Betrachtung der ausgewählten Werke von Bedeutung sind.

Der Traum in der Psychoanalyse Sigmund Freuds Fallstudien über Träume weisen selbst einen literarischen Charakter auf, da sie nach Abschluss der Analyse schriftlich fixiert wurden. Freud zufolge werden Träume zum Beispiel durch äußere Sinnesreize, die Schlafsituation sowie durch Tagesreste (kürzlich erlebte Ereignisse), innere Sinnesreize und organische Reize beeinflusst. Auch psychische Reizquellen bezieht er in die Analyse der Sprache des Unterbewussten ein.28 Der Psychoanalytiker unterteilt Träume in verschiedene Kategorien. Übergreifend sei der Wunschtraum, der in jedem Traum zu finden sei. Nach Freud stellen Träume zunächst eine Traumfassade dar. Für seine Forschung ist die sogenannte Traumarbeit essentiell, die das Verhältnis von manifesten Trauminhalten und latenten Traumgedanken untersucht.29 Bei der Klassifikation von Träumen führt Freud neben Wunschträumen unter anderem Angst- und Prüfungsträume an. Eine untergeordnete Rolle spielen in Freuds Analysen aber Kinder und Jugendliche: »Die Träume der kleinen Kinder sind häufig simple Wunscherfüllungen und dann im Gegensatz zu den Träumen Erwachsener gar nicht interessant.«30 Da kindliche und jugendliche Figuren im Zentrum dieses Beitrags stehen, ist es wichtig, die Forschungen weiterer Psychoanalytiker zu betrachten, die sich explizit den Träumen von Kindern und Jugendlichen widmen. Hierzu zählt Carl Gustav Jung, der Kinderträume in den 1930er Jahren untersuchte. Der Begründer der Tiefenpsychologie sah sich in seiner Analyse mit dem Problem konfrontiert, dass Kinder oftmals erst als Erwachsene retrospektive Träume wiedergeben.31 27 Ebd., S. 49f. 28 Vgl.: Sigmund Freud: »Die Traumdeutung«, Alexander Mitscherlich / Angela Richards / James Strachey (Hrsg.), Bd. 2, 2. korr. Aufl. Frankfurt am Main: S. Fischer 1972, S. 48. 29 Vgl.: ebd., S. 248f. 30 Ebd., S. 145. 31 Vgl.: Carl Gustav Jung: »Kinderträume«, Lorenz Jung (Hrsg.), Olten u. a.: Walter 1986, S. 15.

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Dennoch erachtete er die Untersuchung von Kinderträumen als wichtig und agierte hier methodisch anders als Freud. Für Jung gestalten sich Träume nicht zwangsläufig als Wunschträume, sondern auch kompensatorisch.32 Der Psychotherapeut Hans Hopf konstatiert mit Blick auf Jung, dass er den Traum mit der Persönlichkeit der Träumenden verknüpfte. So repräsentierten Figuren im Traum stets Charakterzüge des Träumenden.33 Auch in der heutigen Zeit widmen sich Forschende der Bedeutung von Kinderträumen. Hopf stellt in Bezug auf Kinder und Jugendliche fest, dass Träume »[…] die Fortführung der psychischen Prozesse repräsentieren und, dass hierbei wahrscheinlich auch eine Umschichtung von Erinnerungen […]«34 stattfinde. Im Anschluss an die Betrachtung grundlegender psychoanalytischer Ansätze, stellt sich die Frage, wie diese literarisch dargestellt werden können. Heidi Gidion unterscheidet zwischen literarischen und psychologischen Traumtexten. So sei für die/den Künstler/in die Form das Manifeste, wobei sie/er gleichzeitig zu Gestaltenden des Manifesten werden. Sie verweist zudem auf die »[…] nicht erst seit der Romantik verbreitete Annahme einer gemeinsamen Wurzel von Traumerleben und kreativer poetischer Tätigkeit«.35 Gidion rekurriert in diesem Zusammenhang auf Immanuel Kant und Jean Paul: »Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst.«36 Manfred Engel konstatiert bei der Traumarbeit der Dichter : Literarische Träume sind durch ihre vielfältige Funktionalisierung – etwa zur Charakterstrukturierung, zur Figurencharakteristik, zum Aufbau einer Schicksalssemantik, zur Entfaltung einer textprägenden Text- und Symbolschicht usw. deutlich strukturierter und in ihrer Semantik meist klarer festgelegt als reale Träume; über (eine durchaus ausformulierbare) Poetik der Traumtypen und Traumdichtungsstile werden sie gar zu verfügbaren Ausdrucksmitteln.37

Engel führt aus, dass dies dem Traum die Fremdheit nehme, aber zugleich dessen Andersartigkeit in den Tag transportiere – ein weiterer Beleg für die diffusen Grenzen von Traum und Wirklichkeit.38 32 Vgl.: Bettina Gruber : »Romantische Psychoanalyse? Freud, Jung und die Traumtheorie der Romantik«, Peter-Andr8 Alt (Hrsg.): Traum-Diskurse der Romantik, Berlin u. a.: De Gruyter 2005, S. 334–358, (S. 354f.). 33 Vgl.: Hans Hopf: »Kinderträume verstehen«, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Mabuse 2016, S. 176. 34 Ebd., S. 178. 35 Heidi Gidion: »Phantastische Nächte. Traumerfahrungen in Poesie und Prosa«, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2006, S. 16. 36 Ebd., S. 16 (zitiert nach Kant und Jean Paul). 37 Manfred Engel: »Der Traum zwischen Psychologie und Literatur«, in Schweizer Monatshefte 2000/8, 9, S. 26–29, (S. 29). 38 Vgl.: ebd., S. 29.

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Einen interessanten Ansatz zum Verhältnis von Traum und Wirklichkeit in der Holocaust-Literatur bietet Jenni Adams Forschung zu Magic Realism in Holocaust Literature: In Holocaust literature, magic realism often works to qualify the authority and completeness of existing narratives about the past be they historical, cultural or postmemorial.39

Die Verbindung von fantastischen Elementen und realen Beschreibungen des Holocaust, die nicht nur, aber auch Träume thematisieren, beschreibt Adams anhand verschiedener Kontexte. Der erste Kontext behandelt literarische Darstellungen des »postmemory«.40 Adams führt aus, dass der Vater des Protagonisten in Bruno Schulz’ Erzählungen vermehrt Metamorphosen durchläuft, die eine Suche nach der Persönlichkeit repräsentieren: Jacob’s series of metamorphoses into a bird, a cockroach, a fly and a crab concretize an imaginative search for a suitable form through which to know and represent an unfathomable personality.41

Einen weiteren Kontext stellen Hasidic Tales of the Holocaust dar. Hier wird der Holocaust in traditionelle Erzählgattungen eingebettet »by which historical trauma is rehabilitated through its incorporation into traditional structures of interpretation.«42 Adams stellt verschiedene Schreibweisen in Holocaust-Erzählungen vor, die dem Ziel dienen, traumatische Erlebnisse literarisch zu bewältigen. Der Begriff des Traumas, der in der Betrachtung des Holocaust große Bedeutung hat, wird im Laufe dieses Beitrags in der Analyse der Fallbeispiele explizit ausgeführt und angewendet. Hierfür erweist sich Adams Betrachtung einer Traumsequenz als interessant. Sie verweist auf eine Traumdarstellung Primo Levis in The Truce, in der Levi zwischen Frieden und Angst wechselnde Traumszenarien wiedergibt: Now this inner dream, this dream of peace, is over and in the outer dream, which continues, gelid, a well-known voice resounds […]. It is the dawn Command of Auschwitz, a foreign word, feared and expected: get up, Wstaw/ch.43

Adams verweist auf die verschiedenen diegetischen Ebenen in Levis Traum, in denen das Lager sowohl die Gegenwart als auch Vergangenheit repräsentiere.44 39 Jenni Adams: »Magic Realism in Holocaust Literature. Troping the Traumatic Real«, Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan 2011, S. 14. 40 Vgl.: ebd., S. 13. 41 Ebd., S. 15f. 42 Ebd., S. 17. 43 Zitiert n. Jenni Adams: »Magic Realism in Holocaust Literature. Troping the Traumatic Real«, Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan 2011, S. 116f.: Primo Levi: »If this is a Man / The Truce«, London: Abacus 1987, S. 379–80. [Hervorhebung im Original] 44 Vgl.: ebd., S. 117.

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Dass Träume in der Zeit des Holocaust auch positiv konnotiert sein können, unterstreicht der Essay …and the dream took on a face…, in dem der Traum in Vergessenheit geratene Opfer repräsentiert und ihnen ein Gesicht verleiht.45 Auch Gudrun Pausewangs Protagonistin Alice kommentiert einen ihrer Träume mit den Worten: »Was für eine friedliche Welt«.46 Im Folgenden werden die Traumdarstellungen in dem Roman Reise im August analysiert.

Gudrun Pausewang: Reise im August – Schlaf und Adoleszenz Susan Tebutt argumentiert, dass Pausewangs Roman zwei Reisen enthalte: The novel revolves two types of journey : The physical journey of the central character Alice Dubsky in a goods waggon to an unknown destination, and her mental voyage to self-discovery.47

Im Blickpunkt dieser Arbeit steht Alices mentale Reise, die mit der physischen oft korreliert. Diese wird von einer hetero-extradiegetischen, also außerhalb der erzählten Welt positionierten Erzählinstanz beschrieben. Durch die interne Fokalisierung des Romans wird Alices Innensicht detailliert dargestellt. Auf engem Raum zusammengedrängt erlebt Alice in einem Güterwaggon nach Auschwitz zum ersten Mal bewusst die katastrophalen Ausmaße des nationalsozialistischen Regimes. Zuvor wurde Alice vor der Wahrheit geschützt. Einen Raum der Intimität und die Möglichkeit zur Selbstreflexion bieten Alice zahlreiche narrative Anachronismen, vor allem Analepsen, die ihre Vergangenheit thematisieren und insbesondere die für diesen Beitrag bedeutsamen Träume, die als intradiegetische Elemente die Entwicklungsgeschichte der Protagonistin unter Bezugnahme auf ihre Vergangenheit widerspiegeln. Zunächst ist es erforderlich, auf die physische Situation im Waggon einzugehen, da äußere Reize Freud zufolge Träume ebenfalls beeinflussen, wie etwa die Einschlafsituationen, die daher auch berücksichtigt werden. Ähnlich wie in der Lyrik zum Holocaust ist das Motiv der Dunkelheit auch in Reise im August von Bedeutung:

45 Vgl.: Anthony W. Riley : »›…and the dream took on a face…‹. Cornelia Edvardsons Vorstudie zu ihrem Roman Gebranntes Kind sucht das Feuer«, Walter Schmitz (Hrsg.): Erinnerte Shoah. Die Literatur der Überlebenden, Dresden: Thelem bei w.e.b. 2003, S. 153–164, (S. 156). 46 Gudrun Pausewang: »Reise im August«, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1997, S. 131. 47 Susan Tebutt: »Journey to an unknown destination. Gudrun Pausewangs Transgressive teenage Novel Reise im August«, Schmitz, Helmut (Hrsg.): German culture and the uncomfortable past. Representations of national socialism in contemporary Germanic literature, Aldershot u. a.: Ashgate 2001, S. 165–182, (S. 165).

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Mit dem Knall war es im Waggon schlagartig finster geworden […] Nur Sterne schimmerten im Dunkeln: sechszackige, auf Mäntel und Jacken genähte Sterne.48

Dunkelheit und die künstlichen Sterne erzeugen den Eindruck einer Nacht. Zu Beginn des Beitrags wurde die Häufigkeit sogenannter Traum-Figuren wie Sandmann und Himmelskörper in Kinder- und Jugendbüchern bereits angesprochen. In Reise im August fungieren (Juden)Sterne wie auch die im Sterntalermärchen herabfallenden Sterne, die Dunkelheit und der Mond, den Alice zum ersten Mal seit langer Zeit wieder durch ein Loch im Waggon sieht, als kontrastive Beispiele, die den Ausnahmezustand einer Kindheit im Holocaust dokumentieren.49 Als der Großvater der Protagonistin Alice zum ersten Mal im Waggon fragt, ob sie schlafen wolle, fällt dies der Elfjährigen schwer. Sie konzentriert sich auf das Rattern des Zuges: »Rat-tat-tat, rat-tat-tat. Alice schloss die Augen. Früher waren sie manchmal im Zug zu Tante Irene und Onkel Ludwig gefahren.«50 Alice erinnert sich an ihre Vergangenheit. Obwohl sie noch nicht wirklich träumt, ist dies die erste potenzielle Einschlafsituation, die von äußeren, physischen Reizen begleitet wird und eine mentale Reise darstellt. Die Relevanz der Einschlafsituation wird auch dahingehend deutlich, dass Alice zu Beginn des Romans Ekel empfindet und sich des Ernstes der Situation nicht bewusst ist. So erinnert sie sich an eine Nacht in der Lagerhalle: »Die hellen Deckenlampen hatten Alice sehr gestört. Und es war so ungewohnt für sie, im Mantel zu schlafen.«51 Dies unterstreicht Alices bisheriges Geborgenheitsgefühl sowie ihre kindliche Wahrnehmung. Dass Alice im Roman zunächst als Kind betrachtet wird, zeigt sich in dem Verhalten ihres Großvaters. Laut Dagmar Grenz repräsentiert er Verlässlichkeit, Geborgenheit und Fürsorge, aber auch eine Schonraumpädagogik.52 Als die Insassen des Waggons begreifen, dass im Nachbarwaggon Misshandlungen stattfinden, fordert Alices Großvater : »Schlaf ein bisschen […] Schlaf, Mäusschen.«53 Er möchte seine Enkelin durch den Schlaf vor der Realität bewahren. Auch bei der Deportation im Haus der Familie hatte Alice fest geschlafen. Als Alices Großvater stirbt, kümmert sich Rebekka Maibaum um die Elfjährige. 48 49 50 51 52

Gudrun Pausewang: »Reise im August«, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1997, S. 7. Vgl.: ebd., S. 99ff. Hier wird das Sterntalermärchen in Auszügen wiedergegeben. Ebd., S. 10. Ebd., S. 29. Vgl.: Dagmar Grenz: »Kinder- und Jugendliteratur, die den Holocaust interpretiert am Beispiel von Gudrun Pausewangs Reise im August«, Henner, Bartel (Hrsg.): Aus »Wundertüte« und »Zauberkasten«. Über die Kunst des Umgangs mit Kinder- und Jugendliteratur. Festschrift zum 65. Geburtstag von Heinz-Jürgen Kliewer, Frankfurt am Main: Lang 2000, S. 319–330, (S. 319f.). 53 Gudrun Pausewang: »Reise im August«, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1997, S. 28.

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Dabei fällt auf, dass auch Rebekka Alice vor Leid bewahren möchte und sie bittet, zu schlafen.54 Das Motiv des Einschlafens fungiert diesbezüglich jedoch nicht nur als Stilmittel zur Darstellung von Geborgenheit, sondern auch dazu, die Unwissenheit der Protagonistin zu vermitteln. Im Waggon verändern sich Alices Wahrnehmung und ihr Schlafverhalten: »Aber Alice konnte nicht schlafen. Sie wollte wissen, was draußen geschah.«55 Wichtig ist hier auch Alices Verhalten, wenn ihr Großvater schläft. Sie beobachtet eine Mutter beim Stillen ihres Kindes und reflektiert über Liebe und Schwangerschaft. Als die anderen durch ein Astloch die Landschaft betrachten, überprüft Alice, ob ihr Großvater schläft. Der Schlaf des Großvaters, der als moralische Instanz fungiert, initiiert eine Verhaltensänderung der Elfjährigen hin zu einer adoleszenten Protagonistin, die das Geschehen verstehen möchte. Das Motiv des Schlafs kann somit mit dem Prozess der Adoleszenz verglichen werden. Je länger die Fahrt dauert, desto weniger stört sich Alice an den äußeren Umständen ihres Schlafs. Ihre Erschöpfung zwingt sie zu Schlafphasen, eröffnet ihr damit aber gleichzeitig auch die Flucht in Traumwelten.

Der Traum als Reise in die Vergangenheit und zu einer neuen Identität Alices erster Traum enthält Tagesreste. Das bereits beschriebene Geräusch des Zugs »[…] drang bis in Alices Träume. Sie öffnete gerade ein großes Fenster, lehnte sich hinaus und sah nichts als endloses Meer«.56 In Alices Traum befindet sie sich an einem fremden Ort, der aber auch mit ihrer gegenwärtigen Situation verbunden ist: »Sie hörte jemanden sagen: ›Wahrscheinlich keine Einfahrt‹. Das Meer löste sich auf, das Licht zerrann, der Raum schrumpfte.«57 Das Meer ist ein wichtiger Bestandteil von Alices Träumen und repräsentiert laut Holger Flöttmann einen emotionalen Raum. Das Traumsymbol des Fensters stelle emotionale Offenheit und einen Blick ins Leben dar.58 Dies unterstreicht die Emotionalität der Protagonistin, die durch ihre Adoleszenz einen Wandel erfährt und die in Alices zweitem, kurzem Traum noch deutlicher wird: »Gerade als ihr wieder die Augen zufielen und eine Mondsichel kühl und milchig vor ihr wuchs

54 55 56 57 58

Vgl.: ebd., S. 92. Ebd., S. 28f. Ebd., S. 23f. Ebd. Vgl.: Holger Bertrand Flöttmann: »Träume zeigen neue Wege, Systematik der Traumsymbole«, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1998, S. 208.

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und wuchs, hörte sie ein Stöhnen.«59 Der Mond wird von Flöttmann als »Symbol für Weiblichkeit, Fruchtbarkeit« bezeichnet, er repräsentiere mit seinen Phasen eine emotionale Entwicklung.60 In Alices Traum stellt der Mond eine Sichel dar, die durch ihre Unvollständigkeit mit dem Entwicklungsstadium der Adoleszenz verglichen werden kann. Alice wird durch das Stöhnen einer schwangeren Mitinsassin geweckt. Somit ist eine Verbindung von Traum und literarischer Wirklichkeit deutlich, da die Geburt des Kindes bei Alice zu Reflexionen über Themen wie Liebe und Schwangerschaft führt. In Alices umfangreichstem Traum ist das Meer wiederum ein zentrales Motiv. Ein zweites Mal wird beschrieben, dass sie sich aus einem Fenster lehnt. Das Fenster ist in der Halle, in der Alice auf ihre Deportation wartete. In ihrem Traum fliegt Alice als Möwe hinaus. Sie befindet sich in der Vogelperspektive, »[…] kreist über dem Strand, lässt sich von den Aufwinden heben, sinkt, wenn die Winde erschlaffen – wunderbar laue, duftende, zärtliche Sommerwinde.«61 Alices Traum beinhaltet eine Urlaubssituation in Nizza, an der sowohl Menschen aus ihrer Vergangenheit als auch aus dem Waggon beteiligt sind: Aus dem Meer watet die ganze Familie Maibaum in einer langen Reihe, Hand in Hand, die jüngsten in der Mitte. Und die drei Silbermannmädchen stehen am Kiosk und schlecken Eis. In den Wellen dümpelt ein Boot, in dem Aaron und Samuel sitzen und angeln […]. Was für eine friedliche Welt.62

Interessant ist Alices Vogelperspektive, die mit jener einer auktorialen Erzählinstanz vergleichbar ist. Die Verwandlung der Elfjährigen stellt ein weiteres bedeutsames Element des Traumes dar. In Anbetracht der Interpretation Adams, in der Metamorphosen eine Suche nach der Persönlichkeit repräsentieren, kann das Element dahingehend interpretiert werden, dass es Teil von Alices Entwicklungsgeschichte ist. Es symbolisiert aber auch die Freiheit, die Alice im Traum als Kontrast zu ihrer Situation im Waggon empfindet. Diese Perspektive beinhaltet jedoch auch eine Distanz zu den Figuren in Alices Traum, die durch den zweiten Teil des Traums aufgelöst wird. Alice entdeckt ihre Eltern und Großeltern in einem Caf8 und fliegt zu ihnen: Und dort, unter Palmen, zwischen Hibiskusblüten, am runden, weiß verschnörkelten Tischchen eines Straßencaf8s, da sitzen Mami und Papi und halten sich an den Händen. Und ihnen gegenüber sitzen die Großeltern und winken Alice zu.63

59 Gudrun Pausewang: »Reise im August«, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1997, S. 46. 60 Holger Bertrand Flöttmann: »Träume zeigen neue Wege, Systematik der Traumsymbole«, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1998, S. 218. 61 Gudrun Pausewang: »Reise im August«, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1997, S. 130. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 131.

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Das Wiedersehen mit ihrer Familie betont Alices Bedürfnis nach Zuneigung. So ist die Protagonistin »ganz von Liebe und Zärtlichkeit umgeben.«64 Sie wird von ihren Verwandten liebkost und genießt deren Aufmerksamkeit. Dies impliziert zunächst den Wunsch der Protagonistin, ein Kind zu bleiben. Traumsymbole wie Boote, die oft beschrieben werden, gelten in der Traumforschung als Repräsentanten für Mütterlichkeit.65 Doch es gibt auch in dieser Traumdarstellung Symbole, die auf eine Entwicklung hinweisen. In der beschriebenen Situation im Caf8 zeigt Alices Großvater ihr einen Schmetterling, der auf einer Blüte »schaukelt«.66 Schmetterlinge sind nicht nur auf Traum-Ebene ein Symbol für Entwicklung, da sie eine Transformation erleben. Die Formulierung »schaukeln« suggeriert jedoch auch kindliches Verhalten. Der Schmetterling kann somit als Metapher für die Adoleszenz betrachtet werden, die einen Zustand zwischen Kindheit und Erwachsenenalter markiert. Dies korreliert mit Flöttmanns Interpretation des Schmetterlings als Traumsymbol, das Fruchtbarkeit, aber auch das Harmlose und Niedlichkeit repräsentiere.67 Außerdem weisen serpentinenartige Treppen im Traum auf einen Weg hin, der auch auf Alices Persönlichkeit bezogen werden kann. Alices Traum von einer Idylle wird an dem Ausgangsort, dem Fenster in der Halle, durch die Worte einer Angestellten ihrer Großeltern, die den Kaffeegeruch im Haus der Dubskys anspricht, beendet. Neben dem Aspekt der Entwicklung sollen hier die dem Traum vorausgehende Einschlafsituation sowie ihre Bedeutung für die Interpretation des Romans untersucht werden. Alice hat zuvor mit den Maibaums über deren Vorstellung von einem friedlichen Land gesprochen.68 Der Traum der Maibaums findet nicht im Schlaf statt, bildet aber die Grundlage für Alices Traum von einer friedlichen Welt. Er kann als Tagesrest betrachtet und die Traumdarstellung als Meta-Erzählung des Tag- bzw. Wunschtraums der Maibaums interpretiert werden. Die Erinnerung in dem Traum selbst spielt für die Darstellung innerer und äußerer Handlungsprozesse eine tragende Rolle. Alices in der Vergangenheit erlebter Urlaub in Nizza steht im Vordergrund ihrer Träume, aber sie träumt auch von negativ konnotierten Orten wie der Deportationshalle und dem Kellerversteck. Der Titel Reise im August impliziert zunächst eine euphemistische 64 Ebd. 65 Vgl.: Holger Bertrand Flöttmann: »Träume zeigen neue Wege, Systematik der Traumsymbole«, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1998, S. 222. 66 Vgl.: Gudrun Pausewang: »Reise im August«, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1997, S. 131. 67 Vgl.: Holger Bertrand Flöttmann: »Träume zeigen neue Wege, Systematik der Traumsymbole«, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1998, S. 223. 68 Vgl.: Gudrun Pausewang: »Reise im August«, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1997, S. 129.

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Formulierung einer Deportation. Alices Traum stellt eine Parallelerzählung dar, da der Ausgangspunkt der Deportation hier der Beginn einer Urlaubsreise ist. Flöttmann konstatiert in Bezug auf die Bedeutung der geträumten Vergangenheit: Besonders Menschen, die sich schwertun, die Gegenwart zu bewältigen, träumen von vergangenen, besseren und harmonischen Zeiten.69

Im Traum ist es Alice möglich, Zeit mit ihren Eltern zu verbringen, von denen sie in der erzählten Realität zu diesem Zeitpunkt aufgrund des nationalsozialistischen Regimes schon lange getrennt lebt. Träume spiegeln hiermit Alices Adoleszenz wider, bieten der Protagonistin aber auch eine Zuflucht und Raum zur Erinnerung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Alices Erinnerungen im Traum modifiziert werden. Ihre Träume können somit nicht als Erinnerungsberichte gedeutet werden, dennoch zeugen sie von vergangenen Ereignissen, die im Freud’schen Sinne in verdichteter und verschobener Weise zum Ausdruck gelangen. Auch in der folgenden Traumdarstellung ist eine Erinnerung Grundlage des Traumgeschehens. Zunächst ist hier jedoch im Gegensatz zu den anderen Träumen nicht klar markiert, wann die Einschlafphase beginnt. Alice schließt die Augen und erinnert sich an eine Szene aus ihrer frühen Kindheit. Als Kleinkind entzündete sie ein Feuer, das nur von ihrem Großvater und der Köchin gelöscht werden konnte. Die Erinnerung endet mit dem Satz: »Alice erwachte von einem Schrei.«70 Dies verdeutlicht, dass die Protagonistin eingeschlafen ist. Das Traumsymbol Feuer wird in der Traumforschung unterschiedlich gedeutet. So bedeutet es nach Flöttmann einen emotionalen Wandel, bei Hanns Kurth jedoch situationsbedingt Zerstörung, oder ein beruhigendes Element.71 Alice ist auf das Feuer in ihrem Traum zunächst »maßlos stolz«, kurz darauf hat sie aber Angst und ist auf Hilfe angewiesen.72 Der Traum unterstreicht einmal mehr Alices emotionale Unsicherheit, die sich in dem Wunsch nach Unabhängigkeit und Geborgenheit zugleich ausdrückt. In der letzten Traumdarstellung des Romans wird Alices persönliche Entwicklung besonders deutlich dokumentiert. Die Protagonistin schläft in einer

69 Holger Bertrand Flöttmann: »Träume zeigen neue Wege, Systematik der Traumsymbole«, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1998, S. 107. 70 Gudrun Pausewang: »Reise im August«, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1997, S. 156. 71 Vgl.: Holger Bertrand Flöttmann: »Träume zeigen neue Wege, Systematik der Traumsymbole«, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1998, S. 208; vgl.: Hanns Kurth: »Lexikon der Traumsymbole. 2300 Begriffe, 6250 Symboldeutungen«, Genf: Ariston 1976, S. 143. 72 Vgl.: Gudrun Pausewang: »Reise im August«, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1997, S. 155f.

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Tasche, die sie mit einem Boot vergleicht.73 Im Traum wird »mehr ein Zustand als ein Ereignis« beschrieben, Alice ist […] im warmen Wasser, eng angeschmiegt an irgendjemanden, vielleicht an Papi, vielleicht aber auch an Mami. Dann wurde sie aus der Wärme herausgehoben […] Sie wehrte sich und schrie. Im warmen Wasser war es so schön gewesen. Und ihre Sehnsucht, zurückzukehren in die Wärme, in die vertraute Nähe eines geliebten Menschen, wurde jetzt riesengroß. So groß, dass Alice sich in einen tiefen, traumlosen Schlaf hinforttreiben ließ, der sie in warmes Rot einhüllte.74

Auch wenn es unmöglich ist, dass Alice sich daran erinnert, wirkt der Zustand wie eine Geburt. Er kann metaphorisch als »Geburt« einer jungen Frau gelesen werden. Die Metaphorik korreliert mit dem Schluss der Traumerzählung. Alice ist eingehüllt in »warmes Rot«. Kurze Zeit später setzt ihre Periode ein. Alices physische Anzeichen der Adoleszenz äußern sich somit auf der manifesten Erzählebene, während sich die psychischen Dimensionen dieser Entwicklungsphase auf der latenten Traumebene zeigen. Als sie in Auschwitz ankommt, fragt ein Gefangener sie nach ihrem Namen und vergleicht die Elfjährige mit Alice75 im Wunderland.76 Der Kinderbuchklassiker von Lewis Carroll erinnert schwerlich an einen Holocaust-Roman. Rüdiger Steinlein vergleicht Reise im August mit einem Backfisch- bzw. Mädchenroman und betont den Charakter einer Entwicklungsgeschichte.77 Auch Carrolls Alice durchläuft eine Entwicklung. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit, finden sich explizite intertextuelle Verweise, die im Kontext der Traumanalyse von Pausewangs Roman betrachtet werden sollen.

Intertextualität: Alice im Spiegel von Lewis Carrolls Kindererzählung Alice in Wonderland und weiteren Werken Intertextuelle Bezüge sind in Reise im August häufig vorhanden. Auch sie implizieren die Vorstellung einer Reise, da die Insassen des Waggons sich zwischen Texten bewegen und auf diese Art gedanklich den Waggon verlassen. 73 74 75 76

Vgl.: ebd., S. 156. Ebd. Lewis Carrolls Alice ist zwecks einer besseren Übersicht kursiv gesetzt. Vgl.: Gudrun Pausewang: »Reise im August«, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1997, S. 163. 77 Vgl.: Rüdiger Steinlein: »Auschwitz und die Problematik narrativ-fiktionaler Darstellung der Judenverfolgung als Herausforderung der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur. Gudrun Pausewangs Holocaust-Erzählung Reise im August«, Petra Josting / Jan Wirrer (Hrsg.): Bücher haben ihre Geschichte. Kinder- und Jugendliteratur. Literatur und Nationalsozialismus. Deutschdidaktik. Hildesheim u. a.: Georg Olms 1996, S. 177–191, (S. 183).

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Carrolls Kindererzählung Alice in Wonderland ist in Bezug auf die namensgleiche Alice Dubsky interessant. Alice ist zu Beginn der Erzählung verzweifelt, da sie missverstanden und nicht ernst genommen wird. Dies zeigt sich in Kommunikationsproblemen mit den Bewohnern des Wonderlands. Auch Alice Dubsky wird zunächst aufgrund ihres Unwissens nicht ernst genommen. Die anderen Insassen des Waggons betrachten sie als naiv. Beide Alices reifen im Lauf der Erzählung und gewinnen an Selbstvertrauen. Interessant ist hierbei, dass Carrolls Erzählung einen Traum als Handlungsrahmen aufweist. Somit kann Alices Traum als eine Entwicklungsgeschichte betrachtet werden und verdeutlicht das Verhältnis von Traum und Entwicklung. In Carrolls Erzählung stellt zudem das Meer einen wichtigen bildhaften Aspekt dar. Alice weint in ihrem Kummer ein Meer aus Tränen.78 Metaphorisch betrachtet repräsentiert das Meer sowohl einen Neubeginn als auch die Gefahr des Ertrinkens, da Alices Tränen einen Teil ihrer Identität darstellen, den sie ablegt. Das Meer fungiert, wie bereits beschrieben, auch in Alices Dubskys Träumen als wichtiges Symbol, das einen emotionalen Wandel andeutet. Dennoch ist festzuhalten, dass Alices Träume nur intradiegetische Elemente der Geschichte sind und Pausewangs Protagonistin im Gegensatz zu Carrolls Alice nicht in der Lage ist, in die ehemals bekannte Realität zurückzukehren. So wirkt der Vergleich von Alice in Auschwitz mit Alice in Wonderland wie ein Paradoxon. Während Alice sich in ihrem Traum gegen eine tyrannische Königin wehren kann, ist Alice Dubsky dem brutalen Regime der Nationalsozialisten hilflos ausgeliefert.79 Alice Dubksys Realität findet in einem dunklen Waggon statt. Neben Träumen bieten hierbei Märchen und Puppenspiele eine Möglichkeit, dieser Realität zu entfliehen. Das Motiv der Nacht als Lebensraum wird beispielsweise in einer Referenz auf Die Nachtigall und die Rose deutlich.80 In Anbetracht ihrer Situation tragen die Figuren im Waggon hauptsächlich Märchen vor, die das Schicksal von leidenden Figuren thematisieren. Dazu zählt das Sterntalermärchen, in dem Sterne entgegen ihrer meist positiven Metaphorik fatalistisch dargestellt werden. In Anlehnung an Adams Kontext der Hasidic Tales of the Holocaust wirken Märchen wie ein schützender Rahmen, der dem schwer ertragbaren Leben im Waggon eine Struktur verleiht. Im Mittelpunkt steht hier auch die Bewahrung der jüdischen Identität. Dies wird durch Gebete verdeutlicht. Alice zitiert ein Kindergebet im Winter : 78 Vgl.: Lewis Carroll: »Alice in Wonderland«, New York: Books of Wonder, 1992 [1865], S. 17. 79 In »Alice in Wonderland« regiert eine tyrannische Königin, die eine Enthauptung fordert, wenn ihre Untertanen ihr nicht gehorchen. Alice gelingt es, die Autorität der Königin zu relativieren. 80 Vgl.: Gudrun Pausewang: »Reise im August«, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1997, S. 77.

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›Alle, die im Dunkeln träumen, schütze sanft mit deinem Schnee.‹ Unpassenderes konnte ihr nicht einfallen, jetzt im August. Aber es tat gut, sich Schnee vorzustellen. Eine endlose Fläche von Ruhe und Kälte. Eine Landschaft aus Kristallen von wunderbarer Reinheit.81

Das Zitat verdeutlicht die Wichtigkeit der Träume und der Fantasie im Waggon, dessen Enge durch die Vorstellung von Weite erträglicher für Alice wird. Es betont den Zwiespalt von Hoffnung und Verzweiflung durch die Formulierung »im Dunkeln träumen.«82 Ein weiterer intertextueller Bezug verweist auf die Bedeutung des Schlafens und Träumens für Alice. Als die Protagonistin sich an ihr Zuhause erinnert, beschreibt sie eine Spieluhr, die das Lied Guten Abend, gute Nacht spielt. Das Lied gehört zu den bekanntesten Einschlafliedern und handelt vor allem von Geborgenheit. Bei genauer Betrachtung des Textes fällt ein Vers auf: »Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.«83 Dieser Vers impliziert die Nähe von Schlaf und Tod. In Alices Situation ist dies ein wichtiger intertextueller Verweis, da sie sich permanent in Lebensgefahr befindet.84 Alice schläft im Waggon bei dem Gedanken an die Einrichtung ihres Hauses ein. Es ist nicht ersichtlich, ob die Erinnerung einen Teil des Traums oder der Einschlafphase ausmacht. Dennoch wird hier eine Einschlafsituation dargestellt, die auf ihre glückliche Kindheit verweist. Die Spieluhr als musisches Symbol der Kindheit betont einen Kontrast zu dem mechanischen Rattern des Zuges, das Alice im Waggon in den Schlaf begleitet. Auch in Aharon Appelfelds Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen repräsentiert der Schlaf ein wichtiges Darstellungselement und wird als Identitätsmerkmal des Protagonisten lesbar.

Aharon Appelfeld: Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen – Der Schlaf als Identitätsmerkmal Der Paratext Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, suggeriert zunächst das Bild eines Erwachsenen. Auch der englische Titel The Man who Never Stopped Sleeping bestärkt diesen Eindruck. Der französische Paratext stellt eine Ausnahme dar. Le GarÅon qui voulait dormir verweist auf einen Jungen, der explizit 81 Ebd., S. 158. 82 Ebd. 83 »Guten Abend, gute Nacht«, Zimmermann, Dana (Hrsg.): Die große Kinderliedersammlung. 100 Texte von ›A Alle Vögel sind schon da bis Z Zeigt her eure Füße‹ und einem Vorwort der Autorin. U. O.: Ebozon Verlag 2016, S. 42, V. 5–6. 84 Im weiteren Verlauf dieses Beitrags wird auch anhand der Figur Hertzko Haft deutlich werden, dass der Schlaf für Gefangene eines Konzentrationslagers gefährlich sein kann.

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schlafen will. Die Paratexte und ihre unterschiedlichen Sichtweisen verdeutlichen die Komplexität von Erwins Schlafverhalten. In Appelfelds Roman geht es zunächst tatsächlich um den jungen Erwin, der von anderen als »[d]er schlafende Junge«85 bezeichnet wird. Der 16-jährige Erwin unterscheidet sich nicht nur durch seine fortgeschrittene Adoleszenz, sondern auch narratologisch von Pausewangs Alice Dubsky. So ist er ein autodiegetischer Erzähler, der ebenfalls intern fokalisiert ist. Das heißt, Erwin ist Teil der erzählten Welt und erzählt aus einer Ich-Perspektive. Interessant ist hier ebenfalls, dass Appelfelds Werk auf seiner Biografie beruht. Dies ändert aber nichts an der literaturwissenschaftlichen Perspektive, aus der Erwin86 betrachtet wird. Der Paratext impliziert des Weiteren ein pathologisches Schlafverhalten. Erwin schläft anfangs tatsächlich nahezu immer. Sein Schlaf entspricht aber nicht körperlichen Krankheitssymptomen. Er benötigt ihn »wie die Luft zum Atmen«.87 Denn Erwin hat seelische Wunden, die er in Traum(a)landschaften offenbart. Windspergers Ansatz thematisiert diese in Appelfelds Romanen, berücksichtigt dabei jedoch nicht Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen.88 Dennoch bieten sowohl ihre Darstellung der Erinnerungslandschaften in Träumen als auch des Traumabegriffs interessante Ansätze für die Analyse von Erwins Schlafverhalten und seinen Träumen. Rina Dudai bezeichnet Erwins Schlaf als »deep Amnesia«.89 Sie betrachtet Erwins Entwicklung vor dem Hintergrund des Erlebens und der Verarbeitung eines Traumas. Den Begriff des Traumas definiert Dudai wie folgt: Trauma is defined as an event that generates an exceptionally negative emotional experience that the subject has no way of weaving into the story of his/her life.90

Im Verlauf dieses und der beiden folgenden Kapitel werden Aspekte des Romans auch auf ihre Darstellungen von Traumata hin untersucht, da diese mit Erwins Schlaf und Träumen korrelieren. Zunächst stellt sich aber die Frage, wie der Schlaf zum literarischen Identitätsmerkmal werden kann. Erwin flüchtet nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel. Auf dem Weg dorthin schläft er fast per85 Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012, S. 15. 86 Zur besseren Übersichtlichkeit wird bei der Analyse meist der Name »Erwin« verwendet. 87 Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012, S. 11. 88 Vgl.: Marianne Windsperger : »Lebenswege in Traum(a)landschaften. Die Bukowina als Erinnerungslandschaft in ausgewählten Werken Aharon Appelfelds«, Frankfurt am Main u. a.: Lang 2011. 89 Rina Dudai: »From Excess to Origin. Traversing Time Zones as an act of redemption in The Man Who Never Stopped Sleeping by Aharon Appelfeld«, Itzaki, Misha (Hrsg.): Aharon Appelfeld, cinquante ans d’8criture, Yod, Revue des Etudes Hebraiques et Juives, 19, Paris: Publications langu’o 2014, S. 249–256, (S. 252). 90 Ebd., S. 251.

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manent: »Seit der Krieg vorbei war, lebte ich in einer nicht enden wollenden Müdigkeit.«91 Seine Kameraden helfen ihm, tragen ihn trotz ihrer schwindenden Kräfte. Er bittet seine Mitmenschen oft, schlafen zu dürfen, und verbringt Tage in diesem Zustand. Durch seine Schlafphasen entwickelt Erwin teils eine externe Fokalisierung. Das heißt, Erwin weiß weniger als die Menschen in seinem Umfeld. So betont er : »Was in jenen Tagen des Schlafs genau geschah, werde ich vermutlich nie erfahren.«92 Auch hier kann in Bezug auf Dudais Thesen ein Trauma als auslösendes Moment vermutet werden: Trauma is considered to be an illness of time: it destroys the continuity of time and eradicates the distinctions between present and past, between the self and the other, between the body and the world, and between interior and exterior.93

Durch sein ungewöhnliches Verhalten fällt Erwin auf und ist isoliert von den anderen. Teils wird er bewundert, aber sein Verhalten führt auch zu Aggressionen bei Geflüchteten. Eine Figur, die Erwin erkennt, sagt zu ihm: Manche Leute haben gedacht, der Schlaf wäre dein Untergang, aber die Vernünftigen haben gesagt, lasst den Jungen schlafen, er ist mit dem Schlaf verbunden, man darf ihn nicht von ihm trennen.94

Die Verbindung Erwins mit seinem Schlaf wird an mehreren Stellen von ihm selbst beschrieben: Ich wusste nicht, wie ich ihnen klarmachen sollte, dass ich in einem tiefen Schlaf gefangen war. Manchmal versuchte ich, ihm zu entfliehen, aber die Müdigkeit war jedes Mal stärker als ich.95

Die Formulierung »gefangen« vermittelt zunächst den Eindruck, dass der Schlaf eine negative Erfahrung für Erwin bereithält. So wird dieser von ihm auch mit Stricken beschrieben, aus denen er sich löst.96 Außerdem wird Schlaf mit Dunkelheit assoziiert. Das erinnert an das Motiv der Nacht, das in Darstellungen des Holocaust besonders wichtig ist. Erwin vergleicht seinen Schlaf mit »Wellen der Dunkelheit«; er schließt die Augen und hofft, dass »[…] die Nacht mich um91 Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012, S. 7. 92 Ebd., S. 7. 93 Rina Dudai: »From Excess to Origin. Traversing Time Zones as an act of redemption in The Man Who Never Stopped Sleeping by Aharon Appelfeld«, Misha Itzaki (Hrsg.): Aharon Appelfeld, cinquante ans d’8criture, Yod, Revue des Etudes Hebraiques et Juives, 19, Paris: Publications langu’o 2014, S. 249–256, (S. 251). 94 Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012, S. 16. 95 Ebd., S. 9. 96 Vgl.: ebd., S. 11.

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fangen und in den Tiefen des Schlafs versenken würde.«97 Auffällig ist die Anthropomorphisierung des Schlafs. Die Dunkelheit trägt Erwin und er trägt die Dunkelheit: »[…] die dunklen Hüllen, die mich schützten, fielen von mir ab. Bald würde ich nackt sein.«98 Das Zitat unterstreicht den Schlaf als schützende Instanz und Aura, die ihn umgibt. Das korreliert mit Dudais Vergleich mit einer Plazenta, die der Schlaf für Erwin darstelle.99 Es erinnert ebenfalls an Alices Traum von einer Geburt ähnlichen Situation. Erwin beschreibt den Schlaf wie einen Vertrauten: »Jedes Mal, wenn mich etwas bedrückte, kam er mir zu Hilfe und tröstete mich.«100 Die Dunkelheitsmetapher verdeutlicht aber auch die Erfahrungen Erwins, die er in der Zeit des Nationalsozialismus erlitten hat. Erwins bewusste Isolation, seine Schlafphasen und seine Sehnsucht nach Dunkelheit erinnern zunächst an eine Depression. Er hat keine Energie und reagiert verständnislos auf die Aussage, dass sein Leben vor ihm liege.101 Der Protagonist bezeichnet seinen Schlaf als »[…] geeignete[n] Zustand […] Manchmal stieg ein Traum in mir auf und bedrohte mich.«102 Anfangs bezeichnet er ihn als traumlos, in obengenanntem Zitat erwähnt er vereinzelte Träume. Im Roman treten diese immer häufiger auf und haben eine besondere Bedeutung für seine Entwicklung. Er stellt fest: Zu meiner Verwunderung drängten sich in meinem Schlaf Träume, die mir Bilder aus vergangenen Tagen zeigten, keine dagegen aus dem Krieg.103

Wie Alice reist Erwin in seinen Träumen in die Vergangenheit. Auch hier wird in Anlehnung an Flöttmann in schweren Zeiten vor allem Positives erinnert. Im Traum lebt Erwin mit seinen Eltern in seiner Heimat. Das Aufwachen empfindet er als »verletzende, schmerzhafte Helligkeit«104, denn […] Im Schlaf war ich eng mit meinen Eltern verbunden, mit dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, führte mein Leben und ihr Leben fort.105

97 Ebd., S. 9 und S. 12. 98 Ebd., S. 21. 99 Vgl.: Rina Dudai: »From Excess to Origin. Traversing Time Zones as an act of redemption in The Man Who Never Stopped Sleeping by Aharon Appelfeld«, Itzaki, Misha (Hrsg.): Aharon Appelfeld, cinquante ans d’8criture, Yod, Revue des Etudes Hebraiques et Juives, 19, Paris: Publications langu’o 2014, S. 249–256, (S. 252). 100 Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012, S. 29f. 101 Vgl.: ebd., S. 16f. 102 Ebd., S. 11. 103 Ebd., S. 12f. 104 Ebd., S. 18. 105 Ebd.

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Erwin befindet sich in zwei Welten. Er möchte im Gegensatz zu den anderen Geflüchteten zurück in seine Heimat und fühlt sich seinen Mitmenschen nicht zugehörig. Diese erwarten von ihm, aufzuwachen und ein neues Leben zu beginnen. Das Erwachen stellt nicht nur den Vorgang des Aufwachens dar, sondern eine neue Identität, die sich in der Namensänderung zu Aharon und durch einen veränderten Lebenswandel bemerkbar macht. Ähnlich wie in Gehrings Forschung zu Träumen in der Antike, befindet sich Erwin in einem Konkurrenzverhältnis zwischen Realität und Traum. Interessant ist hier die Bemerkung einer Figur, die Erwins Schlafverhalten beschreibt: »Mir ist es so vorgekommen, als würdest du das richtige Leben leben, nicht wir.«106 Dies wirkt zunächst wie ein Paradoxon, ist aber ein sehr wichtiger Interpretationsansatz bezüglich der Figuren Alice, Erwin und Hertzko. Alice ist es in Träumen möglich, das Leid des Waggons kurzzeitig zu verlassen. In Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen bietet der Traum Erwin die Möglichkeit, der Realität zu großen Teilen zu entfliehen und vermeintlich in sein altes Leben zurückzukehren.

Das wahre Leben: Traumwelten Bereits in der Darstellung von Erwins erstem Traum kehrt der Protagonist nach Hause zurück. Auffällig ist dabei, wie auch in seinen anderen Träumen, der dramatische Modus: Dialoge stellen die Grundlage der Traumhandlungen dar. Durch diese besondere Situation entsteht – im Gegensatz zu Alices Träumen, deren Inhalte narrativ wiedergegeben werden – der Eindruck einer realen Gesprächssituation. Die Vielzahl an Traumdarstellungen macht es erforderlich, in diesem Kapitel nur ausgewählte Träume in den Blick zu nehmen. Windsperger nennt Protagonisten in Appelfelds Werken »Gefangene des Erinnerns und Vergessens«107, der Schlaf habe eine heilsame Funktion des Vergessens.108 Darüber hinaus bezieht sich Windsperger auf Aleida Assmann und folgert: Schlafen wird Metapher für das Vergessen und das plötzliche Erwachen Metapher für das Erinnern. Ein weiteres Bildfeld der Erinnerung kreist um die scheinbare Wiederbelebung von Totem und Vergangenem. Aber wie lässt sich die vergangene Zeit wiederbeleben? Es bedarf einer Kraft, eines symbolischen Funkens.109 106 Ebd., S. 16. 107 Marianne Windsperger : »Lebenswege in Traum(a)landschaften. Die Bukowina als Erinnerungslandschaft in ausgewählten Werken Aharon Appelfelds«, Frankfurt am Main u. a.: Lang 2011, S. 28f. 108 Vgl.: ebd. 109 Ebd., S. 29.

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Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen ist wie bereits erwähnt nicht Teil der Analyse Windspergers. Ihr angeführter Aspekt der Wiederbelebung des Vergangenen ist aber auch für den Protagonisten Erwin elementar. Erwin kommuniziert in seinem ersten Traum mit seinen Eltern über seine Suche nach ihnen: […] Ich war sicher, dass ich mich nur genug anstrengen müsste, dann würde ich früher oder später zu euch kommen. Ich weigerte mich, den Leuten zu glauben, die behaupteten, wer mit der Eisenbahn weggefahren sei, der kehre nicht zurück.110

Im Traum findet Erwin seine Eltern wieder. Dass diese für Erwin lebendig werden, ist in weiteren Träumen sichtbar. Oft träumt der Protagonist von alltäglichen Situationen. Er beobachtet seine Mutter und seinen Vater zum Beispiel beim Servieren des Essens. Beide führen eine Unterhaltung über die Gemüsesuppe, die Erwins Mutter gekocht hat. Die Konversation ist inhaltlich nicht aufschlussreich, aber sie löst bei Erwin eine emotionale Reaktion aus: »Dieses kleine Gespräch, das mir bis ins Innerste vertraut war, trieb mir Tränen in die Augen.«111 Das Zitat erweckt den Anschein, dass die Erinnerung Erwin rührt, aber sie löst weit mehr als das aus: »Sie hatten sich daran gewöhnt, ohne mich zu leben.«112 Diese Aussage verdeutlicht, dass seine Eltern in Erwins Vorstellung leben, obwohl dem Protagonisten bewusst ist, dass er träumt. So sagt er im Traum: »Mutter […], gleich wird der Wecker klingeln […] Ich verspreche dir, so bald wie möglich wiederzukommen.«113 Doch nicht nur Erwin träumt von seiner Familie. Andere Jungen wie Jechiel erzählen Erwin, dass auch sie in ihren Träumen mit ihrer Familie leben.114 Marek spricht davon, Menschen in sich zu tragen. Erwins Zimmergenosse redet selten und als ein Junge ihn fragt: »Du bist nicht hier. Wo bist du nur?«115, beginnt Marek unvermittelt damit, ihn zu schlagen. Marek symbolisiert wie Erwin und Jechiel einen entwurzelten Jugendlichen, der die Erinnerung an den Holocaust in sich trägt. Im Gegensatz zu Erwin und Jechiel schläft er nachts nicht. Somit kann er nicht im Schlaf in seine Heimat zurückkehren. Marek begeht nach einiger Zeit Suizid. Auch wenn er keinen Abschiedsbrief hinterlässt, verdeutlicht Marek mit seiner Melancholie, Introvertiertheit und Sprachlosigkeit das Trauma einer Jugend im Holocaust.116 110 Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012, S. 13. 111 Ebd., S. 20. 112 Ebd. 113 Ebd., S. 59. 114 Vgl.: ebd., S. 76. 115 Ebd., S. 29. 116 Der Aspekt der Sprachlosigkeit wird im folgenden Kapitel mit Bezug auf die Hauptfigur Erwin untersucht.

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Die Rückkehr in die Heimat ist im Traum jedoch nicht immer positiv besetzt. Die Furcht, verstoßen zu sein, zeigt sich in Angstträumen, in denen der Protagonist zurechtgewiesen wird, sich als unpassend empfindet oder vertrieben wird. Auch hier kehrt Erwin einmal in das Elternhaus zurück, stellt jedoch fest, dass dieses von anderen Menschen bewohnt ist. Das Dienstmädchen Viktoria fordert Erwin auf, zu gehen und ruft einen Wachmann zur Hilfe. Die Vertreibung aus seinem Elternhaus stellt für Erwin eine Entwurzelung dar. Der Protagonist erwidert: »[…] dieses Haus können Sie mir nicht wegnehmen, es liegt tief in meinem Inneren.«117 Im Traum erstarrt er bei diesen Worten und kann nicht weitersprechen. Der Traum offenbart Erwins größte Angst: den Verlust der Heimat, Erinnerung und Zugehörigkeit, die er nicht nur in seinen Träumen, sondern auch in der Armee und der jüdischen Religion sucht. Im Traum fragt Erwins Vater ihn einmal, wo er gewesen sei und sagt zu seinem Sohn: »Wir waren doch immer zusammen, nicht wahr?«118 Erwin antwortet auf diese Frage: »Seit wir getrennt wurden, nicht mehr, […] [doch er korrigiert sich umgehend: ich] wusste sofort, dass das nicht stimmte.«119 Der Zweifel an der Zugehörigkeit ist ein zentrales Motiv. So bemerkt Michael: Du irrst dich, mein Lieber. Wir waren zusammen, wir waren immer zusammen, auch wenn wir uns für einen Moment trennten. Die Lager kamen und gingen, doch wir sind zusammengeblieben.120

Auch Erwins Mutter erläutert, dass der Sohn ihr nicht von seiner Flucht erzählen müsse, da sie bereits alles über sein Leben wisse. Hier wird die Grenze zwischen Traum und Realität gleichermaßen diffus.121 Ebenfalls wenn Erwins Vater die Konzentrationslager erwähnt. Die Rückkehr in die Vergangenheit ist also nicht ausschließlich idyllisch. Die Wiederkehr in das menschenleere Caf8 C8zanne in der Bukowina ist mit Glück und Schmerz verbunden. Auffällig ist die Bemerkung, dass die Familie »für einen Moment« getrennt gewesen sei; im Traum ist das Verhältnis von erzählender und erzählter Zeit gerafft, die Trennung wird also verkürzt dargestellt.122 In der erzählten Realität gibt es auch Zeiten, in denen Erwin weniger von seiner Heimat träumt. Als Soldat umgibt ihn eine neue Müdigkeit, die seine Träume vertreibt. Erstmals möchte Erwin die Müdigkeit gezielt überwinden:

117 118 119 120 121 122

Ebd., S. 92. Ebd., S. 65. Ebd. Ebd., S. 67. Vgl.: ebd., S. 118. Vgl.: ebd., S. 66.

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Ich hatte das Gefühl, dass der Weg zu körperlicher Stärke noch weit war und ich mich sehr anstrengen musste, um so zu werden, wie Efrajim versprochen hatte […] und um die Müdigkeit aus mir herauszureißen und die Reste der Schläfrigkeit, die noch an mir hafteten, abzuschälen.123

Die Formulierung »die Müdigkeit aus mir herausreißen«124 zeigt, wie Erwin vom Schlafbedürfnis beherrscht wird. Er ist verärgert über seine Müdigkeit: »[…] mir schien, als wollte sie mich hochheben und auf ihren Wellen an einen anderen Ort tragen.«125 Zu Beginn des Romans wollte Erwin noch schlafen, in dieser Phase will der Protagonist sich seinen Kameraden zugehörig fühlen. Dies führt zu einem Konflikt: Dass ich so schnell Wurzeln geschlagen hatte, machte mir Sorgen. Ich hatte das Gefühl mich von Tag zu Tag weiter vom Haus meiner Eltern zu entfernen, meine Erfahrungen im Krieg allmählich zu vergessen und mich in einem inneren Schutzraum einzumauern. Meine Mutter wies mich nicht zurecht, aber mein Vater schärfte seinen Ton und nannte mich einen ›neuen Juden‹.126

Die Handlung ist zwischen der realen und der geträumten Welt angesiedelt. Erwins Wunsch zu erwachen, impliziert eine sukzessive Ablösung von der Vergangenheit und den Beginn einer neuen Identität, was die Änderung seines Namens zu Aharon belegt. Die Entwicklung der Hauptfigur kann demzufolge mit einer Adoleszenz verglichen werden. Es gelingt Aharon jedoch nicht, sich vollständig von Erwin zu lösen. Er betrachtet eine Verletzung, die er in einem Einsatz als Soldat erleidet, als Ende seiner Jugend.127 Dass diese Entwicklung jedoch nicht abgeschlossen ist, zeigt sich an anderen Stellen. Beispielsweise kritisieren ihn nicht nur seine Eltern in seinen Träumen, sondern auch andere Verwandte für seinen Lebenswandel. In einem Traum konfrontiert ihn sein Onkel Arthur damit, dass er sich auf einem falschen Weg befinde.128 Doch der Traum zeigt Erwins Onkel auch bei der Festnahme durch einen als riesig beschriebenen, behaarten Mann, der ihn stets als Kommunist bezeichnet und dabei in Gelächter ausbricht.129 Der Traum ist eine Ausnahme, da er eine Erinnerung an den Nationalsozialismus darstellt; in Anlehnung an Jung kann der »behaarte Mann« aber auch ein Traumsymbol der Männlichkeit und des Erwachsenwerdens repräsentieren.130 123 124 125 126 127 128 129 130

Ebd., S. 22. Ebd. Ebd. Ebd., S. 68. [Hervorhebung im Original] Vgl: ebd., S. 180. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd. Vgl.: Carl Gustav Jung: »Kinderträume«, Lorenz Jung (Hrsg.), Olten u. a.: Walter 1986, S. 112.

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Als Erwin verletzt wird und sich in einem Krankenhaus befindet, ändert sich sein Schlafbedürfnis: »Durch das Liegen nahmen meine Phantasien zu. Ich spürte, wie die Tage mich auf dem Rücken davontrugen.«131 In seinen Träumen ist die Reise ein zentrales Motiv : Manchmal fuhr ich mit einem Zug, dann wieder auf einem Militärlastwagen. Eines Nachts träumte ich, ich schwämme mit meiner Mutter auf einem Floß, mit dem Bretter transportiert wurden.132

Auf dem Weg in seine Heimat wird Erwin vor Abgründe gestellt. Die Träume enthalten Symbole wie Züge, Brücken und Bahnhöfe. Diese vermitteln den Eindruck der Reise, die Brücke repräsentiert aber auch ein Bindeglied zu Erwins Vergangenheit, der Bukowina: Obwohl er sich ihr oft nähert, erreicht er sie meist nicht. In einer Darstellung gelingt ihm die Rückkehr zu seinen Großeltern, die in den Karpaten wohnen. Interessant ist Erwins Bemerkung, dass er sich im Traum besser an die Vergangenheit erinnere als zuvor.133 Die Bukowina fungiert als Erinnerungslandschaft. In Windspergers Darstellung konstituiert sie diese als: »[…] Schlachtfeld zwischen Erinnern und Vergessen, zwischen Traum und Trauma, zwischen Untergehen und Überleben.«134 Windsperger führt aus, dass die Erinnerungen wegen ihres vagen Charakters »[…] umso lebendigere Bilder von Menschen, Häusern, Landschaften, Geräuschen, Gerüchen und Bräuchen […]«135 zeichneten. Auch aus Erwins Darstellung wird ersichtlich, dass er im Traum Erinnerungen teils bewusster erlebt. Die bunte Erinnerung an seine Kindheit ist ein Gegensatz zur tristen Realität der Hauptfigur. Erwin befindet sich in einem Krankheitszustand. In seinen Träumen entflieht er zwar der körperlich und psychisch belastenden Situation, aber er kann die Realität nicht vollständig ausblenden. So sind Tagesreste in Träumen erkennbar, beispielsweise dass er sich unbrauchbar und schuldig gegenüber seinen Kameraden in der Armee fühlt. In einer Traumdarstellung zerren sie an dem Protagonisten, der sich wehrt und antwortet, dass er an den jetzigen Ort gehöre.136 Seine Mutter unterstützt ihn und begleitet ihn teilweise auf seiner Reise. Trotzdem ist er nicht sicher, es zu schaffen.

131 Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012, S. 164. 132 Ebd., S. 164. 133 Vgl.: ebd., S. 132. 134 Marianne Windsperger : »Lebenswege in Traum(a)landschaften. Die Bukowina als Erinnerungslandschaft in ausgewählten Werken Aharon Appelfelds«, Frankfurt am Main u. a.: Lang 2011, S. 49. 135 Ebd. 136 Vgl.: Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012, S. 228.

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Erwin sucht im Traum auch Rat bei seinem Vater. Es fällt ihm jedoch schwer, mit Michael zu kommunizieren. Dieser ist Schriftsteller, kann aber Erwins Mutter zufolge sein Leid nach den Erlebnissen des Konzentrationslagers nicht in Worte fassen.137 Sprache ist ein elementarer Teil von Erwins Träumen. Besonders der zunehmende Verlust der Muttersprache beängstigt Erwins Mutter. Das folgende Kapitel widmet sich dem Verhältnis von Sprache und Traum.

Traumsprache Erwins Leben im Vorbereitungslager ist mit dem Erlernen der Sprache Hebräisch verbunden. Zunehmend spricht der Protagonist die Sprache seiner Kameraden und verlernt dabei seine Muttersprache. Dies führt dazu, dass seine Eltern im Traum erschwert mit ihm kommunizieren können. So sagt seine Mutter : »Du benutzt völlig unverständliche Wörter […] Vermutlich sprichst du eine Geheimsprache.«138 Erwin will seine Mutter besänftigen, »[…] aber die Wörter waren in meinem Mund verschlossen, sie klebten zusammen, und ich war außerstande, sie voneinander zu lösen.«139 Dies ist nicht die einzige Situation, in der er von seinen Eltern kritisiert wird. Sein Vater versucht in Erwins Traum zu schreiben, aber es gelingt ihm nicht. Er bittet seinen Sohn, weiterzuschreiben. Doch Erwin sagt: »Ich kann nicht schreiben, Vater. Meine Sprache ist mir verloren gegangen, und in der neuen Sprache werde ich nicht schreiben können.«140 Erwins Vater reagiert mit Unverständnis: »Wie sollen unsere Seelen fortbestehen? […] Wenn du es ebenfalls nicht schaffst, was hat unser Leben dann für eine Bedeutung?«141 Dieses Zitat betont die enorme Verantwortung, die Erwin gegenüber der Vergangenheit empfindet. Ähnlich wie Marek sagt er : […] Ihr seid in mir eingepflanzt […] Und was die Sprache betrifft: Auch wenn ich alle Wörter vergesse, die uns verbunden haben, werdet ihr immer mit mir sein, und immer werden wir miteinander sprechen, wie wir es früher getan haben.142

Erwin trägt mehrere Arten der Verantwortung. In ihm lebt seine Familie weiter. Sein Vater möchte, dass Erwin Schriftsteller wird. Der schlafende Junge wird auch durch die Anforderungen seiner Eltern zum Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Erwins Vater begreife, »[…] die Wirklichkeit, in welche ich geraten

137 138 139 140 141 142

Vgl.: ebd., S. 218. Ebd., S. 59. Ebd. Ebd., S. 98f. Ebd. Ebd., S. 99f.

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war«.143 Die Formulierung unterstreicht Erwins komplexes Verhältnis zu seinem Leben in der Gegenwart, das dem Leben in der Vergangenheit nicht gerecht wird. Dennoch hofft er, dass die neue Sprache in ihm Wurzeln schlägt. Die in diesem Zusammenhang häufige Metapher des Baums enthält eine religiöse Konnotation und symbolisiert den Beginn eines neuen Lebens. Erwins Ent- und Neuverwurzelung der Sprache wird von seinen Eltern mit Besorgnis betrachtet, da sie eine Ablösung von seiner Familie darstellt. Dies kann auch damit begründet werden, dass die (Mutter-)Sprache die erste Sozialisierung repräsentiert. Hebräisch ist Teil der neuen Identität des Protagonisten. Erwin reflektiert über den Verlust der Muttersprache und fühlt sich schuldig. Er empfindet diesen als Verrat an anderen Geflüchteten und vor allen Dingen an seinen Eltern, weshalb er die Träume von der Vergangenheit genießt, […] doch es kam eine Zeit, da verfinsterten sie mir die Tage, als wollten sie sagen: Wir sind dein wirkliches Leben. All deine Beschäftigungen sind nur eine Illusion, um nicht zu sagen ein Irrtum. Du gehörst zu deinem Vater und deiner Mutter, es gibt keinen Ort ohne sie.144

Sprache fungiert als Metapher im Roman, da sie auf das Erinnern und das Vergessen rekurriert. Auch Erwins Sprache enthält viele metaphorische Elemente; so bezeichnet er im Traum dargestellte Erinnerungen als Bilder : »Sie erschienen in schneller Abfolge, eines nach dem anderen, Nacht für Nacht.«145 Seine Beschreibung erinnert an cineastisches Erzählen. Das stellt eine Parallele zu einer Traumsequenz von Alice dar, die das Geschehen zu Beginn aus der Vogelperspektive beschreibt. Die Metapher des Bildes unterstreicht aber ebenfalls, dass Erwin sich als Außenstehender betrachtet, obwohl er in seinen Träumen aktiv handelt. Die Distanz zu den Ereignissen der Vergangenheit kann auch als Ursache des Sprachverlusts betrachtet werden. Windsperger beschreibt, dass der Körper von Appelfelds Figuren oftmals eine Metapher darstelle: Traumatische Erinnerungen sind tiefe Erinnerungen, sie sind keine Kopferinnerungen, sondern Körpererinnerungen. Im Körper bewohnen sie die tiefen Regionen, der Bauch wird zum Keller.146

Darüber hinaus schlussfolgert sie:

143 144 145 146

Ebd., S. 100. Ebd., S. 64f. Ebd., S. 64. Marianne Windsperger : »Lebenswege in Traum(a)landschaften. Die Bukowina als Erinnerungslandschaft in ausgewählten Werken Aharon Appelfelds«, Frankfurt am Main u. a.: Lang 2011, S. 51.

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Auch die Sprache wird im Krieg weggesperrt, angesichts des Grauens hat sie keine Bedeutung mehr, nach dem Krieg muss die Sprache aus den Kellern des Körpers erst ihren Weg zurückfinden […]147

Das Zitat passt zu Erwins Situation, da er die Kriegszeit in einem Kellerversteck verbracht hat, von diesem aber nie träumt. Erwins Sprachlosigkeit korreliert des Weiteren mit seiner neuen Sprache, die er als Sprache des Schweigens beschreibt.148 Auch in anderen Kontexten des Holocausts ist Sprachlosigkeit semantisch aufgeladen. Marcel Beyer erörtert zwei Formen der Sprachlosigkeit: das »[…] Schweigen angesichts dessen, was erlebt worden ist [und das] […] Schweigen angesichts dessen, was getan worden ist.«149 Dass Erwins Muttersprache dennoch eine besondere Bedeutung hat, zeigt sich in einem Gespräch mit Marek in einer Traumdarstellung. Beide kommunizieren in Erwins Muttersprache. Marek hat zu diesem Zeitpunkt schon Suizid begangen. Die Begegnung beruhigt den Protagonisten, da er weiß, dass Marek immer noch existiert. Die Muttersprache fungiert in dieser Situation als Belebung des Vergangenen.150 Eine weitere Belebung der Vergangenheit stellt Erwins Berufsweg dar. Er arbeitet als Schriftsteller und erfüllt den Wunsch seines Vaters, dessen Tradition fortzuführen. Interessant ist hier der intertextuelle Bezug zu Franz Kafkas Erzählung Ein Landarzt.151 Erwin schreibt den Anfang der Geschichte ab und wundert sich über Kafkas Stil: »Eine Geschichte in diesem Rhythmus hatte ich noch nie gehört, die Tatsachen verdrängten sich gegenseitig, die Satzzeichen, die zunehmende Spannung.«152 Auch Kafkas Dichtung enthält Traumelemente. Die Grenzen zwischen Realität und Unbewusstem sind diffus. Sowohl Michael als auch Erwin orientieren sich an der Erzählung, die im Roman als Metapher der Identifikation Erwins mit seinem Vater und als Sprache des Unbewussten analysiert werden kann. Als der Protagonist zufällig erfährt, dass sein Vater Rabbi werden wollte, wundert ihn dies.153 Die Eltern kritisieren ihn in seinen Träumen für seine Auslegung des Judentums. In der Vergangenheit haben sie ihre Religion nicht 147 Ebd., S. 51. 148 Vgl.: Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012, S. 99. 149 Marcel Beyer : »Kommentar. Holocaust: Sprechen«, in Literatur und Holocaust. Edition Text und Kritik, 144, München 1999, S. 18–25, (S. 19). 150 Vgl.: Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012, S. 139. 151 Vgl.: ebd., S. 222. 152 Ebd. 153 Vgl.: ebd., S. 42f.

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nach Erwins Vorstellung gelebt. Er verbindet das Schreiben mit den Lehren seiner Religion, indem er biblische Passagen abschreibt. Mehr und mehr gelingt es ihm, in der neuen Sprache zu schreiben. Das Schreiben trägt selbstreflexive Züge und leistet einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Hauptfigur. Obwohl Erwin in einer neuen Sprache schreibt, führt er die Tradition seines Vaters fort. Auch in der Graphic Novel Der Boxer wird ein bedeutsames Vater-SohnVerhältnis thematisiert. Die Geschichte von Hertzko Haft wird zu Beginn durch seinen Sohn Alan in dem Comic-Roman wiedergegeben. Zunächst soll aber die Gattung der Graphic Novel und ihre Relevanz für die literarische Erinnerungskultur erklärt werden.

Reinhard Kleist: Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft – Die Graphic Novel als Medium historischer Darstellung Die Graphic Novel erlangt zunehmende Bedeutung als Medium historischer und autobiografischer Erzählungen. Als Comic für Erwachsene genießt die Graphic Novel Klaus Schikowski zufolge literaturwissenschaftlich ein höheres Ansehen als der oftmals belächelte Comic.154 Besonders – aber nicht allein – Art Spiegelmans Maus erregte viel Aufmerksamkeit, da Comics und die Darstellung von Auschwitz zuvor als unvereinbar galten.155 Oliver Näpel analysiert den Gegensatz des Unbeschreibbaren und der bildlichen Darstellung und rekurriert auf die Ursprünge des Mediums Comic, das anfangs in amerikanischen Tageszeitungen seiner Etymologie entsprechend komische Geschichten darstellte.156 Auch Graphic Novels gerieten Marco Behringer zufolge zum Teil in den Fokus der Kritik, weil ihre Ausdrucksweise eingeschränkt und Bilder nicht genau übertragbar seien.157 Dass der Holocaust auf visueller Ebene gezeigt werden kann, verdeutlichen nicht nur Ausstellungen, Spielfilme und Dokumentationen, sondern auch Bilderbücher wie Roberto Innocentis Rosa Weiß, das eindringlich die Geschichte einer Kindheit in einem von den Nationalsozialisten besetzten Dorf dokumen-

154 Vgl.: Klaus Schikowski: »Graphic Novel. Die Globalisierung des Comics«, in Comic-Report 2011, S. 50–58, (S. 50). 155 Vgl.: Art Spiegelmann: »Maus. Die Geschichte eines Überlebenden«, Frankfurt am Main: Fischer 2008. 156 Vgl.: Oliver Näpel: »Auschwitz im Comic. Die Abbildung unvorstellbarer Zeitgeschichte«, Münster : Lit 1998, S. 1 und S. 8. 157 Vgl.: Marco Behringer: »Der Holocaust in Sprechblasen. Erinnerung im Comic«, Marburg: Tectrum 2009, S. 19f.

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tiert, und eben Graphic Novels.158 Laut Behringer bieten sie als neue Darstellungsform mit unterschiedlichen Darstellungsebenen die Möglichkeit, Authentizität zu generieren.159 Seit den 1980er Jahren nahm die Darstellung zeitgeschichtlicher Ereignisse Näpel zufolge in grafischen Romanen zu.160 Er unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass vorherige Comic-Romane in ihrem Verhältnis von Bild und Schrift sowie Authentizität und Fiktion noch nicht vollständig diesen Anspruch erfüllten. So sei die visuelle der textuellen Ebene teilweise untergeordnet oder der Inhalt zu fiktiv gewesen, um Authentizität zu vermitteln.161 Neben literaturwissenschaftlichen Bestandteilen ist die grafische Ebene bei der Analyse von Graphic Novels essentiell. Panels, die gestalterischen Elemente von Comic-Sequenzen, weisen eine unterschiedliche Beschaffenheit auf und korrelieren oft mit dem Inhalt des Comic-Romans. Hiatus und Habitus als Rahmenlinien und Zwischenraum geben außerdem Aufschluss über Veränderungen auf formaler und inhaltlicher Ebene. Besonders interessant ist zudem die Farbsymbolik in Graphic Novels zum Holocaust. Oftmals werden Panels von den Farben Weiß und Schwarz dominiert. Sie repräsentieren Unschuld aber auch Trauer und Traurigkeit und erwecken den Eindruck, die Thematik angemessen darzustellen. Außerdem vermitteln Weiß und Schwarz laut Mat&as Mart&nez den Eindruck von Authentizität, da sie an eine Dokumentation erinnern.162 Auch Bernd Dolle-Weinkauff verweist unter Bezugnahme auf die Comic-Erzählung Ohne Peilung auf die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit, die durch eine Schwarz-Weißtechnik kreiert werde.163 Es stellt sich die Frage, ob Träume in Comics und Graphic Novels als optische Kontraste zur erzählten Realität fungieren. Ein berühmtes Beispiel für Traumdarstellungen im Comic ist Winsor McCays Little Nemo, der Anfang des 20. Jahrhunderts wöchentlich in New Yorker Zeitungen erschien. Die Comic Strips beginnen und enden stets im Kinderzimmer des jungen Nemo, der in 158 Vgl.: Roberto Innocenti: »Rosa Weiß«, Düsseldorf: Sauerländer 2006. 159 Vgl.: Marco Behringer: »Der Holocaust in Sprechblasen. Erinnerung im Comic«, Marburg: Tectrum 2009, S. 21. 160 Vgl.: Oliver Näpel: »Auschwitz im Comic. Die Abbildung unvorstellbarer Zeitgeschichte«, Münster : Lit 1998, S. 37ff. 161 Vgl.: ebd., S. 37ff. 162 Vgl.: Mat&as Mart&nez: »Zur Einführung: Authentizität und Medialität in künstlerischen Darstellungen des Holocaust«, Mat&as Mart&nez (Hrsg.): Der Holocaust und die Künste. Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik, Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 7–21, (S. 15). 163 Vgl.: Bernd Dolle-Weinkauff: »Danach, das Ende und der Anfang. Aktuelle ComicSchlaglichter auf die Zeit der NS-Herrschaft und des II. Weltkrieges«, Petra Josting / Jan Wirrer (Hrsg.): Bücher haben ihre Geschichte. Kinder- und Jugendliteratur. Literatur und Nationalsozialismus. Deutschdidaktik, Hildesheim u. a.: Georg Olms 1996, S. 161–176, (S. 163).

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seinen Träumen Abenteuer erlebt. Auffällig sind zum einen die Panels am Anfang und Ende der Strips, die den Einschlaf- und Aufwachprozess des Charakters darstellen, und zum anderen die variierende Größe der Panels.164 Traum-Panels kontrastieren die Realität des Protagonisten Nemo, indem sie durch ihre Größe die Bedrohlichkeit von Monstern darstellen, oder sich in ihrer Form der Hauptfigur des Bilds anpassen. So ist der Mond beispielsweise im Zentrum eines runden Panels platziert, anstatt innerhalb der üblichen eckigen Umrandung. Grelle Farben markieren eine surreale Traumwelt.165 Interessant ist zudem die Erkenntnis von Edward A. Shannon, dass der Comic aus heutiger Sicht nach Freud’schen Kriterien betrachtet werden kann. Er erwähnt Freuds intertextuelle Bezugnahme auf den Comic A French Nurse’s Dream und bezeichnet diesen als Prototyp von Little Nemo.166 McCay sei zwar kein Freudianer gewesen, dennoch weise sein Werk Parallelen zu Freuds Arbeit auf. Shannon betont, dass »[…] the porous border between the wakening and dream world [sowohl im Comic als auch in Nemos Traumwelt] […] a place of security becomes often a place of danger and mystery.«167 Traumsymbole wie das Fallen des Protagonisten in einen leeren Raum und Tagesreste in Nemos Träumen bestätigen den psychoanalytischen Gehalt in McCays Traumdarstellungen. Neben Träumen untersucht Shannon ebenfalls sogenannte Traum-Konzepte wie den American Dream und dessen Pendant, den American Nightmare, in Robert Crombs Underground-Comix.168 Auch Traumata werden in Graphic Novels dargestellt. Kalinka Kupczynskas Forschung trägt den Titel Vom Leben gezeichnet und kann als Metapher verstanden werden, da Zeichner*innen und Autor*innen häufig Biografisches darstellen.169 In Der Boxer wird Hertzko Hafts Lebensgeschichte zunächst aus der Perspektive seines Sohnes Alan Scott Haft wiedergegeben. Anna Stemmann konstatiert in Bezug auf das Vater-Sohn-Verhältnis in Der Boxer in erinnerungskultureller Perspektive: Die Rahmenhandlung spannt so nicht nur einen geschickten erzählerischen Bogen, sondern reflektiert gleichzeitig den Prozess der Weitergabe von Erlebtem und zeigt dabei die Nachwirkungen der Verfolgungserfahrungen, die die Kinder der traumati164 Vgl.: Winsor McCay : »Little Nemo, 15. 10. 1905«, Barcelona: Laertes Comic 1984, S. 5. 165 Vgl.: ebd., S. 7 und S. 12. 166 Vgl.: Edward A. Shannon: »Something black in the American Psyche. Formal Innovation and Freudian Imagery in the Comics of Winsor McCay and Robert Crumb«, Canadian Review of American Studies, 2010/40/ 2, S. 187–211, (S. 192). 167 Ebd., S. 194. 168 Vgl.: ebd., S. 203. 169 Vgl.: Kalina Kupczynska: »Vom Leben gezeichnet. Trauma und seine Repräsentation in der Graphic Novel«, Arnulf Knafel (Hrsg.): Traum und Trauma. Kulturelle Figurationen in der österreichischen Literatur. Beiträge zur Jahrestagung der Franz-Werfel-StipendiatInnen am 15. und 16. April in Wien, Wien: Praesens 2012, S. 191–204.

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sierten Eltern betreffen: Der Holocaust wird zum generationenübergreifenden Thema.170

Hertzko Haft überlebt das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, aber die Erfahrungen des Holocaust belasten ihn in seinen Träumen, die im Folgenden analysiert werden.

Die Rückkehr nach Auschwitz: Albtraumdarstellungen bei Hertzko Haft Hertzko Hafts Biografie wurde zunächst von seinem Sohn dokumentiert. Sie fungierte wiederum als Vorlage für die Graphic Novel des Zeichners Reinhard Kleist. Interessant ist die Aufteilung von Hafts Biografie, die zwei Kapitel mit den Titeln »Albträume« und »Träume« enthält.171 Die Tatsache, dass Hertzko Haft und dessen Sohn Hertzkos Leben in diese Kategorien aufteilen, untermauert die Bedeutung des Träumens im Leben eines Verfolgten. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie diese ästhetisch ausgestaltet werden. Zur Beantwortung dieser Frage ist es erforderlich, einige grundlegende Gestaltungsprinzipien der Graphic Novel zu erläutern. Der Comic-Roman ist in Weiß und Schwarz gehalten. Die Farbgebung verstärkt den Eindruck von Authentizität und repräsentiert den tristen Alltag des Protagonisten in den Konzentrationslagern. Die Panels variieren in Größe und Form. Anna Stemmann betont »die enge Verschränkung von Text, Bild und Bildrahmen in der Graphic Novel.«172 In dem grafischen Roman gibt es einen intradiegetischen, intern fokalisierten Erzähler : Alan Scott Haft. Dieser fungiert als Vermittler zwischen Gegenwart und Vergangenheit, da er unter der strengen Erziehung seines Vaters leidet und dieser sich ihm erst spät anvertraut. Der Haupterzähler ist jedoch Hertzko, der ana170 Anna Stemmann: »(Bio-)grafisches Erzählen von Gewalt im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Erinnerungskulturelle Perspektiven auf Comics der 2000er-Jahre«, Johanna Gehrmacher / Klara Löffler (Hrsg.): Storylines and Blackboxes. Autobiografie und Zeugenschaft in der Nachgeschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, Beiträge des VWI zur Holocaustforschung, Bd. 4, Wien: nap 2016, S. 197–222, (S. 204). In diesem Kontext möchte ich Anna Stemmann meinen Dank für ihre hilfreiche Unterstützung aussprechen, da sie mir einen Einblick in ihren (damals) noch nicht veröffentlichten Aufsatz gewährt hat. 171 Vgl.: Alan Scott Haft: »Eines Tages werde ich alles erzählen. Die Überlebensgeschichte des jüdischen Boxers Hertzko Haft«, übersetzt v. Patrick Bartsch, Göttingen: die Werkstatt 2009. 172 Anna Stemmann: »(Bio-)grafisches Erzählen von Gewalt im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Erinnerungskulturelle Perspektiven auf Comics der 2000er-Jahre«, Johanna Gehrmacher / Klara Löffler (Hrsg.): Storylines and Blackboxes. Autobiografie und Zeugenschaft in der Nachgeschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, Beiträge des VWI zur Holocaustforschung, Bd. 4, Wien: nap, 2016, S. 197–222, (S. 207).

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leptisch und im »Spannungsfeld von diegetischer […] und extradiegetischer […] Ebene«173 sowie wechselnder Fokalisierungen sein Leben darstellt. Die Graphic Novel umfasst somit mehrere diegetische Ebenen. Das erinnernde Ich von Hertzko Haft und dessen Sohn Alan in Form der Blockkästen korreliert Stemmann zufolge mit dem grafisch realisierten erinnerten Ich. Hier überlagerten sich Erinnerungen und Erlebnisse der Gegenwart.174 Dies zeigt sich auch in der Gestaltung der Panels. In seinen Boxkämpfen erinnert sich der Protagonist an seine Kämpfe in Auschwitz. Diese Erinnerungen sind im Gegensatz zu den umrahmten Panels ohne formgebende Umrahmung gehalten. Dieses Stilmittel impliziert einen Mangel an Kontrolle über die Flashbacks. Die Überlagerung von Erinnerungen und Erlebnissen der Gegenwart erinnert an Dudais Darstellung der »illness of time«, die mit Traumata einhergehe.175 In Der Boxer finden sich iterative Sequenzen: Die Erzählung beginnt und endet mit dem Versprechen Hertzkos, Alan eines Tages alles zu erzählen.176 Neben der zeitlichen Dimension treten noch weitere Symptome eines Traumas beim Protagonisten zutage. Zum einen stellt das Erzählen der Lebensgeschichte eine Verarbeitung des Traumas dar. Wie Erwin leidet Hertzko mit zunehmender Zeit in den Konzentrationslagern an Sprachlosigkeit, die bis in die Gegenwart reicht. So vertraut er sich Alan erst 58 Jahre nach dem Holocaust an. Zum anderen entspricht das Empfinden Hertzkos mit seinen Flashbacks, Wutausbrüchen und Schlafstörungen einem »KZ-Syndrom.«177 Besonders die Arbeit an den Verbrennungsöfen, die von den Nationalsozialisten als Teil ihres Mordinstrumentariums verwendet wurden, belastet Hertzko. Stemmann konstatiert:

173 Ebd., S. 205f. Natürlich muss hier zwischen einer narrativen Instanz in einem Roman und einem Comic-Roman unterschieden werden. Dennoch bietet sich in Blockkästen eine Erzähltextanalyse an. 174 Vgl.: Anna Stemmann: »(Bio-)grafisches Erzählen von Gewalt im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Erinnerungskulturelle Perspektiven auf Comics der 2000er-Jahre«, Johanna Gehrmacher / Klara Löffler (Hrsg.): Storylines and Blackboxes. Autobiografie und Zeugenschaft in der Nachgeschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, Beiträge des VWI zur Holocaustforschung, Bd. 4, Wien: nap 2016, S. 197–222, (S. 204ff.). 175 Vgl.: Rina Dudai: »From Excess to Origin. Traversing Time Zones as an act of redemption in The Man Who Never Stopped Sleeping by Aharon Appelfeld«, Misha Itzaki (Hrsg.): Aharon Appelfeld, cinquante ans d’8criture, Yod, Revue des Etudes Hebraiques et Juives, 19, Paris: Publications langu’o 2014, S. 249–256, (S. 252). 176 Vgl.: Reinhard Kleist: »Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft«, Hamburg: Carlsen 2012, S. 7, 182. 177 Vgl.: Ruth Leys: »Die ›Überlebensschuld‹ im psychoanalytischen Diskurs«, Jos8 Brunner, / Nathalie Zajde (Hrsg.): Holocaust und Trauma. Kritische Perspektiven zur Entstehung eines Paradigmas, aus dem Englischen von David Achjenrand, Göttingen: Wallstein 2011, S. 86–116, (S. 94).

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Die Erfahrungen an den Verbrennungsöfen brechen von nun an immer wieder in Hertzkos erzählte Gegenwart ein: als Träume, als Halluzinationen oder als Flashbacks, die unfreiwillig und zwanghaft reproduziert werden und die Gegenwart überlagern.178

Im Zentrum dieses Abschnitts stehen Hertzkos Träume und Schlafsituationen in der Graphic Novel. Um diese besser zu verstehen, ist es erforderlich, die Sequenz der Verbrennungsöfen näher zu betrachten. Innerhalb der Sequenz gibt es drei narrative Blockkästen: Man führte uns zu dem Haus, dessen Schornstein den Himmel verdunkelte. […] Ich bereute es, am Leben zu sein. […] Und mit jedem Tag wurde das Grauen unerträglicher.179

Schon auf narrativer Ebene wird ein Eindruck der Dunkelheit vermittelt, der offenbar repräsentativ für Holocaust-Romane ist. Die Panels korrelieren mit Hertzkos Wahrnehmung. Rauch umgibt den Protagonisten und verdeckt einen Teil seines Gesichts. Unzählige dunkel abgebildete Opfer werden an den Verbrennungsofen gebracht, in dem Flammen lodern. Im Lauf der Sequenz nimmt Hertzkos Gesicht die Farbe der Opfer an. Kurz danach bricht die Hauptfigur zusammen. Als ein SS-Offizier Hertzko erschießen will, nimmt er die Umgebung nur schemenhaft wahr. Panels verlieren in der Sequenz ihre Form; der zuvor angesetzte Hiatus wird aufgehoben. Ein Close-up zeigt Hertzkos Gesicht, das schmerzverzerrt ist.180 Die Panels und die fehlenden Blockkommentare verdeutlichen die Belastung der Erinnerung für den Hauptcharakter. Stilistisch erinnert die Darstellungsweise an expressionistische und surrealistische Zeichnungen und wird im Verlauf der Erzählung zunehmend zum Albtraumszenario. Nicht nur Albträume, sondern auch der Schlaf selbst erweisen sich im grafischen Roman als gefährlich. Hertzko und ein weiterer Gefangener beobachten die Ermordung eines schlafenden Mannes durch zwei Häftlinge in der Baracke des Konzentrationslagers. Im Gegensatz zum Großteil der zuvor behandelten Traumdarstellungen fungiert der Schlaf hier nicht als eskapistischer Ort der Intimität und Geborgenheit.181 Nachdem Hertzko die Flucht aus einem Waggon gelingt, zwingt ihn seine Erschöpfung zu einer Schlafphase. Dieser gehen Panels voraus, die Hertzko im Wald zeigen. In Blockkästen wird seine Einsamkeit be178 Anna Stemmann: »(Bio-)grafisches Erzählen von Gewalt im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Erinnerungskulturelle Perspektiven auf Comics der 2000er-Jahre«, Johanna Gehrmacher / Karla Löffler (Hrsg.): Storylines and Blackboxes. Autobiografie und Zeugenschaft in der Nachgeschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, Beiträge des VWI zur Holocaustforschung, Bd. 4, Wien: nap, 2016, S. 197–222, (S. 209). 179 Reinhard Kleist: »Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft«, Hamburg: Carlsen 2012, S. 50. 180 Vgl.: ebd., S. 52. 181 Vgl.: ebd., S. 81.

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schrieben. Als er sich an einen Baum setzt, wird die Einschlafphase »moment-tomoment«182 dargestellt. Das entspricht einem verlangsamten Erzähltempo. Close-ups zeigen Hertzkos Gesicht. Der scheinbare Eindruck der Entspannung wird mit der folgenden Traumsequenz kontrastiert. Der Albtraum der Hauptfigur beinhaltet ein Panel, in dem Hertzkos Gesicht einen großen Teil des Raums einnimmt. Sein Gesicht ist schwarz dargestellt und im Hintergrund befindet sich einer der Verbrennungsöfen aus dem Konzentrationslager, in dem eine Leiche liegt. Die schwarze Farbe seines Gesichts erinnert an die Opfer in den Verbrennungsöfen und kann als Identifikationsmerkmal mit diesen gelesen werden. Ruth Leys verweist in Bezug auf William G. Niederland auf eine empfundene Überlebensschuld, da in Extremfällen Überlebende sich wie »lebendige Leichname« fühlten.183 Das korreliert mit den Erfahrungen des Boxers, der sein Überleben zeitweise bereut.184 Hertzko erwacht aus dem Traum und schreit. Seine Schreie werden in weiteren Panels durch Onomaotopöien dargestellt, die die Belastung des Protagonisten betonen. Die Belastung wird auch auf anderer Ebene grafisch ersichtlich, da das Panel aus dem Grid herausgerückt ist. Julia Abel und Christian Klein unterstreichen unter Bezugnahme auf Maus, dass ein Panel schief und mit einem kontrastiven Rahmen dargestellt wird. Dies repräsentiere die Depression der Figur.185 In Hertzkos Fall kann die veränderte Position des Panels als Stilmittel zur Darstellung eines Traumas betrachtet werden. Das Bild wird von der Farbe Schwarz dominiert. Abel und Klein erläutern, dass ein dunkler Hintergrund auf die Melancholie eines Protagonisten verweisen und verzerrte Perspektiven Wahnsinn darstellen könnten.186 Die überproportionale Darstellung von Hertzkos Kopf symbolisiert bereits Träume oder auch Gedanken. Der Angsttraum verdeutlicht die Verknüpfung von Traum und Erinnerung.

182 Vgl.: ebd., S. 88f. 183 Vgl.: Ruth Leys: »Die ›Überlebensschuld‹ im psychoanalytischen Diskurs«, Jos8 Brunner / Nathalie Zajde (Hrsg.): Holocaust und Trauma. Kritische Perspektiven zur Entstehung eines Paradigmas, aus dem Englischen von David Achjenrand. Göttingen: Wallstein 2011, S. 86–116, (S. 93). Leys bezieht sich auf: William G. Niederland: »The Problem of the Survivor.Part 1. Some Remarks on the Psychiatric Evaluation of Emotional Disorders in Survivors of Nazi Persecution«, in Journal of the Hillsdale Hospital 1961/10, S. 233–247, (S. 237). 184 Vgl.: Ruth Leys: »Die ›Überlebensschuld‹ im psychoanalytischen Diskurs«, Jos8 Brunner / Nathalie Zajde (Hrsg.): Holocaust und Trauma. Kritische Perspektiven zur Entstehung eines Paradigmas, aus dem Englischen von David Achjenrand. Göttingen: Wallstein 2011, S. 86–116, (S. 93f.); vgl. auch: Rudolf Freiburg / Gerd Bayer: »Literatur und Holocaust«, Würzburg: Könighausen und Neumann 2009, S. 16. 185 Vgl.: Julia Abel / Christian Klein: »Graphic Novels und Comics. Eine Einführung«, Berlin: Springer 2016, S. 103. 186 Vgl.: ebd., S. 104.

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In einer weiteren längeren Traumsequenz verfolgt Hertzko die Erinnerung der Öfen an Deck eines Schiffs, das nach New York fährt. Wieder wird die Einschlafphase moment-to-moment und mit einem Close-up von Hertzko visuell ausgestaltet. Die Close-ups fungieren als Einblick in Hertzkos Innensicht. Auffällig ist die Größe des Traum-Panels, das die Hälfte der Seite einnimmt. Außerdem verändert sich die Umrandung. Im ersten Panel gibt es keinen Rand, eine Menschenmenge kommt aus einer dunklen, nicht bestimmten Masse. Die Gesichter der Menschen sind teils erkennbar. Gemein ist allen Figuren eine traurige Mimik und gesenkte Kopfhaltung. Auffällig ist die Kleidung der Menschen, die keine Lagerkleidung, sondern ihre eigene Alltagskleidung ist. Die Menge erinnert somit an eine Situation der Deportation.187 Das Panel erzeugt durch seine Ballung und verdichteten Linien im Gegensatz zur Einschlafphase Hertzkos einen Eindruck der Dynamik. Das korreliert mit dem fehlenden Rahmen. Es entsteht der Eindruck, dass die Menschenmenge das Panel überschreitet.188 Im nächsten Bild nimmt der Hintergrund eine schwarze Farbe an. Auch das erinnert an die von Abel und Klein angeführte Darstellung der Seelenlandschaft. Ein gewellter Rahmen entspricht mit seiner Linienführung Abel und Klein zufolge der Darstellungsart eines Traums.189 Auffällig ist zudem der Perspektiven-Wechsel der Panels. Im ersten Bild werden die Menschen frontal dargestellt. Hertzko steht entsetzt abseits der Menge. Auch im zweiten Panel ist er nicht Teil der Menschenmenge. Diese wird nun jedoch aus der Vogelperspektive dargestellt. Die Menge ist in drei Reihen aufgeteilt, die parallel in die drei Verbrennungsöfen laufen und dort getötet werden. Die Vogelperspektive kann als Hilflosigkeit Hertzkos interpretiert werden, da er die Shoah190 nicht verhindern kann. Die Darstellung des Mords entspricht nicht genau der Erinnerung Hertzkos, da die Menschen bereits vor den Öfen getötet wurden. Die Ebene des Traums und das Medium der Graphic Novel ermöglichen es aber, in zwei Panels das Schicksal unzähliger Juden und anderer Verfolgter in geraffter Zeit – beginnend mit der Deportation und endend mit den Verbrennungsöfen – darzustellen. Hertzko erwacht ein zweites Mal innerhalb des grafischen Romans schreiend. Er nimmt den Brandgeruch wahr und sagt: »Da verbrennen Menschen.«191 Die Grenzen zwischen Traum und Realität sind diffus. In einem weiteren Panel wird 187 Vgl.: Reinhard Kleist: »Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft«, Hamburg: Carlsen 2012, S. 117. 188 Vgl.: ebd., S. 117f. 189 Vgl. Julia Abel / Christian Klein: »Graphic Novels und Comics. Eine Einführung«, Berlin: Springer 2016, S. 103 und S. 91. 190 Bewusst gewählte Formulierung gemäß der Bedeutung des Begriffs: Katastrophe. 191 Reinhard Kleist: »Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft«, Hamburg: Carlsen 2012, S. 118.

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der Rauch des Schiffs dargestellt. Dieser enthält viele Gesichter von Angehörigen Hertzkos, im Vordergrund seine Verlobte Leah. Stemmann betont in diesem Zusammenhang das gehäufte Vorkommen des Rauchs in der Graphic Novel.192 Das Panel verdeutlicht die Überzeugung Hertzkos, dass seine Angehörigen wie die Menge im Traum getötet wurden. Es repräsentiert aber auch die Vergangenheit, die Hertzko in sein neues Leben in den Vereinigten Staaten begleitet. In diesem neuen Leben spielt ebenfalls ein Traum eine wichtige Rolle: das Konzept des American Dream. Es wird während der Schifffahrt durch ein Panel eingeleitet, in dem New York funkelnd und glänzend dargestellt wird. Der soziale Aufstieg wird Hertzko hier durch seine Karriere als Boxer ermöglicht. Er nennt sich fortan Herrschel alias »Harry«.193 Die Änderung seines Namens repräsentiert die Annahme einer neuen Identität und die Distanzierung von seiner Vergangenheit.194 Trotz seines neuen Lebens holt den Protagonisten aber, wie bereits zuvor beschrieben, die Vergangenheit in seinen Kämpfen ein. Die Darstellung ausgemergelter Boxer im Konzentrationslager zeigt, dass der American Dream sich schnell in einen American Nightmare verwandeln kann. Zudem symbolisieren die Flashbacks Hertzkos Schuldgefühle, da er im Konzentrationslager gegen andere Juden um sein Überleben gekämpft hat. Diese Interpretation korreliert mit Hertzkos Erleichterung, als ihm gesagt wird, dass es in den Vereinigten Staaten jüdische Gangster gebe.195 Hertzkos American Dream stellt ein fragiles Gebilde dar. Die auf der Text- und Bildebene ausgestalteten Angstträume erscheinen als Zeugnis der Erinnerung, des Traumas und der Schuld.

Fazit Die Analyse demonstriert am Beispiel der drei Figuren Alice, Erwin und Hertzko die Bedeutung des Träumens in der Holocaust-Literatur. Der Traum fungiert als ein Raum der Reise, der Flucht, aber auch der Entwicklung. Der Aspekt der Reise 192 Vgl.: Anna Stemmann: »(Bio-)grafisches Erzählen von Gewalt im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Erinnerungskulturelle Perspektiven auf Comics der 2000er-Jahre«, Johanna Gehrmacher / Klara Löffler (Hrsg.): Storylines and Blackboxes. Autobiografie und Zeugenschaft in der Nachgeschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, Beiträge des VWI zur Holocaustforschung, Bd. 4, Wien: nap, 2016, S. 197–222, (S. 207). 193 Vgl.: Reinhard Kleist: »Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft«, Hamburg: Carlsen 2012, S. 90 und S. 124. 194 Der Umzug in ein neues Land spielt wie im Fall Erwins eine wichtige Rolle. Viele Jüdinnen und Juden emigrierten nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA. Dies spiegelt sich auch in der Lyrik von Holocaust-Überlebenden wider. 195 Vgl.: Reinhard Kleist: »Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft«, Hamburg: Carlsen 2012, S. 125.

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ist bei allen Figuren elementar. Er äußert sich mental als Adoleszenzprozess, physisch durch die Deportationen und Emigrationen, temporal als Bezug zur Vergangenheit der Figuren und intertextuell durch die Reflexion über Literatur. Besonders Alice und Erwin generieren bedeutsame Traumwelten. So erscheinen Traumsituationen oftmals positiv und erzeugen den Eindruck von Geborgenheit. Erwin wird von einer Frau auf das »richtige Leben« angesprochen und auch er hinterfragt, ob nicht sein Traumleben das wahre sei.196 Diese Reflexionen haben den Titel dieses Beitrags beeinflusst. Gefragt wurde danach, ob die Träume für die Figuren das wahre Leben darstellen. Erwin lebt in seinen Träumen wieder mit seiner Familie zusammen. Er interagiert bewusst mit seinem Schlaf. Dennoch erweisen sich seine Träume auch als schwierig, da er in ihnen mit Vorwürfen und Ängsten konfrontiert wird, die sein Ich-Ideal auf seine Eltern projiziert und Schuldgefühle bei dem Träumenden hervorruft. Durch den dramatischen Modus in Erwins Träumen entsteht der Eindruck eines parallelen Lebens. In den Gesprächssituationen reift der Protagonist. Des Weiteren reflektiert er mit seinen Eltern über den Verlust seiner Muttersprache. Sprache fungiert, neben dem Schlafverhalten der Figur, als Identitätsmerkmal. Ein Handlungsstrang des Romans widmet sich zudem der Ablösung von der Vergangenheit, die aber keine emotionale Trennung von Erwins Eltern bedeutet. Seine Reise zu einer neuen Identität wird durch die Reflexion über seine Sprache, und Traumsymbole wie Züge, Brücken oder das Meer betont. In Reise im August ist der Modus der Träume narrativ. Das schmälert jedoch nicht die Authentizität von Alices Träumen. Die Protagonistin reist an Orte ihrer Vergangenheit und erlebt das Gefühl einer Kindheit und Jugend, das ihr in der erzählten Wirklichkeit verwehrt wird. Alice befindet sich am Anfang ihrer Adoleszenz. Auch wenn sie in ihren Träumen nicht kommuniziert, vermitteln diese durch Traumsymbole ihre Entwicklung. Im Fall von Alice und Erwin stellt der Traum ein Konkurrenzverhältnis zur Wirklichkeit dar. Sie suchen auch aufgrund ihrer seelischen und physischen Erschöpfung den Schlaf. Hertzko ist eine Kontrastfigur. Er meidet den Schlaf, da er in diesem mit den traumatischen Erlebnissen im Konzentrationslager konfrontiert wird. Der Boxer repräsentiert nicht nur durch Angstträume einen Kontrast zu Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen und Reise im August. Das Medium der Graphic Novel eröffnet eine neue Perspektive auf die Zeit des Holocaust. Angstträume verdeutlichen durch ihre Farbgebung und die grafische Darstellung der Panels die belastenden Erinnerungen der Figur. Auffällig ist in allen drei Werken die narratologische Verknüpfung mit Analepsen, die als Erinnerungen und Flashbacks Ausdruck seelischer Prozesse sind. 196 Vgl.: Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012, S. 16.

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Die Verbindung von Träumen mit einem Trauma wurde in diesem Zusammenhang vereinzelt angesprochen, eine ausführliche Betrachtung der Auswirkung von Traumata bei adoleszenten Figuren bietet Raum für weitere Analysen. Zu Beginn des Beitrags wurde die Bedeutung des Träumens in der Kinderund Jugendliteratur anhand einzelner Werke aufgezeigt. Träume sind alltägliche, menschliche Erfahrungen und in ihrem semantischen Inhalt doch keineswegs banal. Ob bei Freud, Jung, oder Aristoteles, das Potenzial des Traums als Sprache des Unbewussten wurde früh erkannt und interpretiert. In Romanen zum Holocaust verkörpern Träume eines der letzten alltäglichen Elemente, das die Figuren mit ihrem ehemaligen Leben verbindet. Sie bieten Platz für weitere Forschungen. Zum einen ist die ebenfalls angesprochene s. g. Holocaust Poetry interessant, da in ihr oftmals über Träume reflektiert wird. Das schließt auch Lyrik der nachfolgenden Generationen ein.197 Zum anderen bietet sich eine genderspezifische Analyse der hier geschilderten literarischen Träume an: Wie träumen weibliche und männliche Figuren? Wie wird ihre weibliche und männliche Adoleszenz dargestellt? Diese und weitere Fragen gilt es zu beantworten.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Appelfeld, Aharon: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012. Bassewitz, Gerdt von: »Peterchens Mondfahrt«, Frankfurt am Main: Baumhaus-Verlag 2008. [1915] Borowski, Tadeusz: »Night over Birkenau«, Schilff, Hilda (Hrsg.): Holocaust Poetry, London: Fount Paperbacks 1995. Carroll, Lewis: »Alice in Wonderland«, New York: Books of Wonder 1992. [1865] »Die Nibelungen«, in Deutsche Heldensagen, bearbeitet von Thomas Trent, Göttingen: Fischer o. J., S. 195–278. Fasanotti, Pier-Mario: »Der Dieb der Träume«, mit Bildern von Don-Oliver Matthies, Frankfurt am Main: Fischer 1996. »Guten Abend, gute Nacht«, Zimmermann, Dana: (Hrsg.): Die große Kinderliedersammlung. 100 Texte von ›A Alle Vögel sind schon da bis Z Zeigt her eure Füße‹ und einem Vorwort der Autorin. o. O.: Ebozon 2016. Hoffmann, E. T. A: »Der Sandmann«, Stuttgart u. a.: Klett 2008. [1816] Kleist, Reinhard: »Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft«, Hamburg: Carlsen 2012. 197 Vgl.: Charles Ad8s Fishman (Hrsg.): »Blood to remember. American Poets on the Holocaust«, 2. Aufl., St. Louis: Time Being Books 2007.

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Carolin Schreiber

»Halt den Mund. Schweig still. Sag kein ________.« Sprache und Sprachlosigkeit: Die Darstellung tabuisierter Themen im aktuellen Jugendroman am Beispiel von Janne Tellers Nichts und Tobias Elsäßers Für niemand

Einleitung: Der aktuelle Jugendroman – ein Genre ohne Tabus? Die Zeiten, in denen Kinder- und Jugendliteratur hauptsächlich anhand ihrer didaktischen Funktion beurteilt wurde, sind weitestgehend vorbei. Seit den 1970er Jahren orientierte sich die spezifische Jugendliteratur nämlich bereits am Vorbild erwachsenenliterarischer Texte, wie Hans-Heino Ewers bemerkt: »Der […] moderne Jugendroman nimmt [nun] Teil an der Exploration der Schwierigkeiten einer Identitätsfindung […], statt seinen Lesern Ablenkung und Evasion anzubieten, wie es die traditionelle Jugendliteratur zu einem Großteil getan hatte.«1 Das bedeutet zugleich, dass die Kinder und Jugendlichen in den an sie adressierten Romanen ab 1970 bis in die Gegenwart hinein nicht nur mit ihren Problemen ernst genommen werden, sie werden den Erwachsenen fortan außerdem als gleichberechtigte, ebenbürtige Figuren gegenübergestellt. Die Autorin Ursula Wölfel beschreibt diesen Paradigmenwechsel folgendermaßen: »Wir lassen unsere Kinder […] nicht nur auf sonnigen Spielplätzen und in hellen Klassenzimmern fröhlich sein. Sie leben mit den Erwachsenen in einer Welt voller Konflikte und Disharmonien.«2 Dementsprechend finden sich inzwischen auf dem aktuellen Jugendbuchmarkt nahezu alle Themenbereiche, die auch auf dem erwachsenenliterarischen Markt anzutreffen sind – nachdenkliche, erschütternd radikale und provokante Themen mit eingeschlossen. Tabuisierte Themen scheint es angesichts dessen, so die weitläufige Meinung, in der aktuellen Jugendliteratur kaum noch zu geben, schließlich dominieren sogar auf den »Bestenlisten […] und in den [Büchern], die mit renommierten Preisen wie […] dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet werden, […] klassische

1 Hans-Heino Ewers: »Paradigmenwechsel der Kinder- und Jugendliteratur«, verfügbar unter : http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/literatur/104-mediageschichte/literatur geschichte/659-paradigmenwechsel-der-kinder-und-jugendliteratur-um-1970 [15. 03. 2018]. 2 Zititert nach Hans-Heino Ewers: ebd.

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Problemthemen wie Krankheit, Tod, Drogen, Alkohol, Sex, Gewalt, Familienund Immigrationskonflikte.«3 Dies hat, wie Isa Schikorsky weiterhin betont, im letzten Jahrzehnt eine Debatte darüber ausgelöst, ob »die alten Grundsätze der Kinder- und Jugendliteratur […] in einer desillusionierten Gesellschaft […] [überhaupt] noch ihre Berechtigung haben.«4 Dürfen kindliche und vor allem jugendliche Leser*innen auf eine Art und Weise mit bestimmten Themen konfrontiert werden, die keine eindeutigen Lösungsansätze aufzeigt? Wie viel drastische Realität kann bzw. darf den Jugendlichen heute zugemutet werden? Die Tatsache, dass beispielsweise Werke von »Autoren, die sich konsequent einer wie auch immer gearteten Sinnkonstruktion verweigern,«5 stark polarisieren und noch immer »teilweise heftige Kontroversen«6 auslösen, zeigt, dass es bis heute in der Kinder- und Jugendliteratur Themen gibt, über die nicht gesprochen bzw. geschrieben werden darf – zumindest nicht, ohne auf Ablehnung von Seiten der erwachsenen Vermittler*innen zu stoßen. So mag es stimmen, dass sich bereits Kinder »[i]n einer technologisierten Welt […] durch Fernsehen und Internet ständig mit Erwachsenenthemen konfrontiert«7 sehen, das muss jedoch nicht zwangsläufig bedeuten – wie Mechthild Hesse behauptet –, dass es »auch in der Jugendliteratur keine Tabuthemen mehr geben [kann].«8 Anhand der beiden Romane Nichts von Janne Teller und Für niemand von Tobias Elsäßer, die beinahe gleichzeitig auf dem deutschen Jugendbuchmarkt erschienen sind, lässt sich dies wunderbar illustrieren: Während das 2010 erstmals auf Deutsch veröffentlichte Werk der dänischen Autorin für kontroverse Diskussionen sorgte, wurde Tobias Elsäßers nur ein Jahr später veröffentlichter Roman von den Medien weitgehend ignoriert. Dabei widmen sich beide Autor*innen einer ganz ähnlichen Thematik und erzählen, schonungslos und stark gesellschaftskritisch, von der Problematik des Erwachsenwerdens. Identitätskrisen, Selbstmordgedanken und die Angst vor der Bedeutungslosigkeit des eigenen Daseins werden hierbei nicht ausgespart, sondern – im Gegenteil – explizit aus der Sicht der desillusionierten Jugendlichen geschildert. Dass gerade der völlige Verzicht auf eine wertende, erwachsene Erzählinstanz sowie der Einsatz von Sprache und Sprachlosigkeit, der den Romanen eigen ist, das ei3 Isa Schikorsky : »Grenzüberschreitungen: Trends und Tendenzen in der deutschen Kinderund Jugendliteratur zu Beginn des 21. Jahrtausends«, verfügbar unter : http://www.kinderund jugendmedien.de/index.php/kinder-und-jugendliteratur/104-mediageschichte/literaturge schichte/663-schikorsky-grenzueberschreitungen-kjl-21-jahrhundert [15. 03. 2018]. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Mechthild Hesse: »Jugendliteratur als Schreiblehre. Untersuchungen zum Verhältnis von Lesen und Schreiben im Englischunterricht der Sekundarstufe I«, Tübingen: Narr 2002, S. 22. 8 Ebd.

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gentlich Tabuisierte und Skandalöse dieser jugendliterarischen Werke darstellen, soll im Folgenden gezeigt werden.

Sprache und Sprachlosigkeit: Wenn die Worte fehlen… Die Bedeutung der Sprache für die jugendliche Identitäts- und Sinnsuche am Beispiel von Janne Tellers Nichts und Tobias Elsäßers Für niemand Das, was diese beiden Jugendbücher zunächst einmal verbindet, ist, dass sich Janne Teller und Tobias Elsäßer in ihren Werken mit den Schwierigkeiten und Problemen junger Heranwachsender auf dem Weg zum Erwachsenwerden beschäftigen: In Tellers Nichts wie auch in Elsäßers Für niemand finden sich ausschließlich jugendliche Figuren, die sich in einer Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter befinden; Erwachsene kommen in beiden Romanen kaum vor. Typisch für das Genre des Adoleszenzromans, dem in abgewandelter Form beide Werke zugerechnet werden können, befinden sich die jeweiligen Protagonist*innen zugleich »in einer existentiellen Erschütterung und tiefgreifenden Identitätskrise.«9 Die beständigen Ausrufe eines Mitschülers, dass nichts im Leben irgendetwas bedeutet, lassen die weibliche Hauptfigur und ihre Klassenkamerad*innen in Nichts bald selbst an der Bedeutung der eigenen Existenz zweifeln. In Für niemand überwiegen hingegen die Ängste vor der Ablehnung der eigenen Identität durch Andere. In beiden Werken nehmen die Auseinandersetzungen der Jugendlichen mit ihrer Identität und dem, was die Gesellschaft – repräsentiert durch die Erwachsenen – von ihnen erwartet, schließlich selbstzerstörerische Züge an. Interessant ist dabei vor allem, auf welche Art und Weise die mitunter verzweifelte Identitätssuche der Jugendlichen in den Romanen sprachlich dargestellt wird: »Identitäten müssen in Kommunikations- und Interaktionsprozessen, ohne die Möglichkeit eines Rückgriffs auf eindeutige Scripts, ausgehandelt werden,«10 so Heinz Hengst. Doch wie beschreibt eine Jugendgeneration sich selbst, die nicht imstande ist, ihre Gedanken und Gefühle verbal auszudrücken, die keine eigene Sprache besitzt und von den

9 Carsten Gansel: »Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung – Adoleszenz und Literatur«, Carsten Gansel / Pawel Zimniak (Hrsg.): Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, S. 15–48, (S. 40). [Hervorhebung im Original] 10 Heinz Hengst: »Was für Zeitgenossen. Über Kinder und kollektive Identität«, Heinz Hengst / Helga Kelle (Hrsg.): Kinder – Körper – Identitäten. Theoretische und empirische Annäherungen an kulturelle Praxis und sozialen Wandel. Weinheim: Juventa 2003, S. 333–346, (S. 334).

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Erwachsenen nicht gehört wird? Wie funktioniert Identitätsbildung über die Sprache? In Janne Tellers Roman wird das Geschehen, rückblickend, aus der Sicht der damals etwa dreizehnjährigen Agnes erzählt. Auffällig ist dabei bereits zu Beginn, dass sie ihren Mitschüler Pierre Anthon explizit von der Gruppe der anderen Schüler*innen abhebt. Immer wieder stellt sie diesem, das heißt dem Außenseiter und Anderen, die Schülergruppe gegenüber, mit der sie sich identifiziert. Dementsprechend beginnt sie ihren Bericht damit, zu erzählen, dass Pierre Anthon die Schule verlassen hat. Direkt im nächsten Satz folgt die Gegenüberstellung »Wir anderen blieben«11; dies klingt beinahe wehmütig. Auch im weiteren Verlauf des Buches finden sich derartige Gegenüberstellungen, die verdeutlichen, dass Agnes sich hauptsächlich über ihre Zugehörigkeit zur Gruppe definiert. Häufig ist von »wir« und »uns« die Rede, kaum jedoch thematisiert Agnes ihre eigenen Eindrücke und Gefühle. So heißt es denn auch an späterer Stelle nicht »Ich«, sondern »Wir lebten in Taering«12 und bei der darauffolgenden Beschreibung ihres Wohnortes lässt sich ebenfalls eine derartige Abgrenzung der eigenen Gruppe zu »den anderen« beobachten. So beginnt Agnes mit der Beschreibung »[o]rdentlich gemauerte[r], gelb verputzte[r] Häuschen und rote[r] Eigenheime mit Gärten ringsum,«13 beschreibt weiterhin die »neue[n] graubraune[n] Reihenhäuser mit Vorgärten«14 und erwähnt im Anschluss kurz und fast beiläufig »die Wohnungen, wo die wohnten, mit denen wir nicht spielten«15 – ohne diese jedoch näher zu beschreiben. Auch die »einige[n] wenige[n] weiße[n] Villen, wo die wohnten, die noch mehr ziemlich vornehm waren als wir anderen«16 lässt sie nicht unerwähnt. Anhand dieser kurzen Beschreibung der Wohnhäuser wird an dieser Stelle nicht nur die finanzielle Situation von Agnes und ihren Spielkamerad*innen ersichtlich, sondern eben auch die strikte Gruppierung der Spielgefährt*innen nach dem elterlichen Einkommen bzw. deren sozialem Milieu. Auf diese Weise gelingt es Agnes, ein (Tabu-)Thema offenzulegen – ohne dieses direkt anzusprechen, das zwar allgegenwärtig ist, worüber aber weder laut noch leise gesprochen wird: das Tabuthema Geld. Des Weiteren grenzt sie auch an dieser Stelle Pierre Anthon, der mit »seinem Vater und der Kommune«17 in einem ehemaligen Bauernhof wohnt, in ihrer Beschreibung deutlich von sich selbst und den Anderen ab. Ohne die genaue Bedeutung zu kennen, wiederholt sie lediglich die verinnerlichten Worte 11 12 13 14 15 16 17

Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, München: dtv 2010, S. 8. Ebd., S. 10 [Hervorhebung: C. S.] Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

Die Darstellung tabuisierter Themen in Tellers Nichts und Elsäßers Für niemand

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der Eltern, dass Pierre Anthon mitsamt seinem Vater und der Kommune wohl »in den Achtundsechzigern stecken geblieben«18 sei: »Das sagten unsere Eltern, und auch wenn wir nicht richtig wussten, was das bedeutete, sagten wir das auch.«19 Eine derartige Passivität – also das bedeutungslose Aufsagen leerer Worte, die von den Eltern und Erwachsenen im Allgemeinen vorgegeben werden – ist der Schülergruppe um Agnes speziell am Anfang des Romans eigen. Im Gegensatz zu Pierre Anthon, der sich bewusst und vehement gegen die Sinnvorgaben der Erwachsenengesellschaft stellt, ist es geradezu bezeichnend für das Verhalten der anderen Schüler*innen, dass sie zu Beginn des neuen Schuljahres still die ihnen zugewiesenen Plätze einnehmen, »ohne [sich] über die vorgegebene Ordnung aufzuregen.«20 Auf den immer gleichen Witz ihres Lehrers reagieren sie beinahe mechanisch mit einem Lachen, jedoch – wie Agnes feststellt – »[n]icht, weil wir das witzig fanden, sondern weil er es sagte.«21 Erst Pierre Anthons plötzliches Verlassen der Schule in ebendiesem Moment scheint seine Mitschüler*innen erstmals dazu zu bringen, ihre Position innerhalb der Gesellschaft infrage zu stellen. Sie finden jedoch keine Worte für ihre Zweifel, denn über die Zukunftsängste Heranwachsender und dergleichen wird schlichtweg nicht gesprochen. So meinen die Schüler*innen zwar zu wissen, dass aus ihnen einmal etwas werden sollte, genau definieren können sie dieses etwas allerdings nicht, wie an Agnes’ Wortwahl im folgenden Abschnitt deutlich wird: Aus uns sollte etwas werden. Etwas werden bedeutete jemand werden, aber das wurde nicht laut gesagt. Es wurde auch nicht leise gesagt. Das lag einfach in der Luft oder in der Zeit oder im Zaun rings um die Schule oder in unseren Kopfkissen oder in den Kuscheltieren, die, nachdem sie ausgedient hatten, ungerechterweise irgendwo auf Dachböden oder in Kellern gelandet waren, wo sie Staub ansammelten. Ich wusste es nicht.22

Diese Worte wiederholt Agnes im Laufe des Romans immer wieder wie eine Art Mantra, um ihre Angst vor der Bedeutungslosigkeit des eigenen Daseins zu verdrängen. Interessant ist hierbei, wie Agnes den Prozess des Erlangens von Bedeutung mit dem Prozess des Heranwachsens bzw. Erwachsenwerdens gleichsetzt: In ihrem Gedankengang findet nicht nur ein Wechsel vom kollektiven »uns« zum individuellen »Ich« und vom objektiven »etwas« zum subjektiven »jemand« statt, in ihrer Aufzählung geht sie zudem von nicht greifbaren Dingen wie »Luft« und »Zeit« zu greifbaren Gegenständen wie den »Kopfkissen«

18 19 20 21 22

Ebd. Ebd. Ebd. [Hervorhebung: C. S.] Ebd., S. 9. Ebd.

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und ausgedienten »Kuscheltieren« über.23 Dieser Abschnitt liest sich daher, als würde Agnes beschreiben, wie aus einer Gruppe von Kindern im Laufe eines Prozesses, der hauptsächlich durch einen Verlust (der sinnbildlichen Kuscheltiere) markiert ist, schließlich ein erwachsenes Individuum werden, und suggeriert damit zugleich, dass es sich bei Kindern noch nicht um Individuen in diesem Sinne handelt. So bezeichnet auch Heinz Hengst das Kindheitskonzept der Moderne als eines, das Kindern lediglich eine »Identität in Entwicklung, im Grunde [also eine] Nicht-Identität«24 zuschreibt, mit der bloßen Gemeinsamkeit, »(noch) keine Erwachsenen, sondern adults in the making«25 zu sein. Dieses zeitgenössische Kindheitskonzept sieht auch Annette Wannamaker in Janne Tellers Roman dargestellt und sie verweist dabei zugleich auf Tellers Verwendung von Allegorien: Its direct address to the child reader, its depictions of child agency, its child narrator, and its subject matter […] all challenge us to think about the status of the child, […] [and] the ways in which children are ignored or viewed as less-than-human or not human.26

Die Tatsache, dass die Jugendlichen ihre eigene Bedeutung mit dem Anhäufen von Gegenständen darzustellen versuchen, verdeutliche dabei nur deren eigenen Objektstatus, so Wannamaker ; denn eigentlich wären die Dinge in Nichts »far more memorable and significant to the narrative than its characters.«27 Tatsächlich erhalten die Figuren in Tellers parabelartigem Roman »kaum individuelle Prägungen,«28 wie Melanie Beiner bemerkt, sondern werden vor allem typisiert dargestellt. Auch untereinander nehmen sich die Schüler*innen nur sehr oberflächlich wahr und scheinen damit wiederum die Werte der Erwachsenen verinnerlicht zu haben:

23 Auffällig ist auch, dass sie nicht auf die »Köpfe«, sondern lediglich die »Kopfkissen« verweist. 24 Heinz Hengst: »Was für Zeitgenossen. Über Kinder und kollektive Identität«, Heinz Hengst / Helga Kelle (Hrsg.): Kinder – Körper – Identitäten. Theoretische und empirische Annäherungen an kulturelle Praxis und sozialen Wandel. Weinheim: Juventa 2003, S. 333–346, (S. 335). 25 Ebd. 26 Annette Wannamaker : »A ›Heap of Meaning‹: Objects, Aesthetics and the Posthuman Child in Janne Teller’s Y. A. Novel Nothing«, in The Lion and the Unicorn, 2015/39, S. 82–99, (S. 85), verfügbar unter : https://muse-jhu-edu.proxy.ub.uni-frankfurt.de/article/585814/pdf [15. 03. 2018]. 27 Ebd. 28 Melanie Beiner : »Nichts – Was im Leben wichtig ist. Interpretation und Unterrichtsideen für die Sek I«, verfügbar unter : http://www.rpi-loccum.de/material/ru-in-der-sekundarstufe-1/ sek1_beiner2, [15. 03. 2018].

Die Darstellung tabuisierter Themen in Tellers Nichts und Elsäßers Für niemand

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[W]ir wussten natürlich längst, dass sich alles mehr darum drehte, wie etwas aussah, als wie es tatsächlich war. Unter allen Umständen war am wichtigsten, dass aus einem etwas wurde, das nach etwas aussah.29

Dementsprechend bezeichnet Agnes viele ihrer Mitschüler*innen auch anhand von Epitheta, die lediglich eine schmückende, typisierende Funktion haben und nicht auf den Charakter der einzelnen Figuren schließen lassen; wie etwa »die hübsche Rosa«30 oder der »fromme[…] Kai.«31 Auch ihre beste Freundin MarieUrsula ist für Agnes hauptsächlich deshalb »etwas Besonderes,«32 weil sie blaue Haare hat (und schwarze Kleidung trägt): Ohne diese, überlegt Agnes später, könnte Marie-Ursula »überhaupt nicht mehr Marie-Ursula […] und etwas Besonderes und ganz sie selbst«33 sein. Die Figuren in Tobias Elsäßers Für niemand werden zwar etwas individualisierter dargestellt, ihre Ängste, Sorgen und Probleme ähneln denen von Agnes und ihren Mitschüler*innen jedoch stark – wenngleich der Unterschied gerade darin besteht, dass sich Sammy, Nidal und Marie eben nicht als Teil einer Gruppe und damit als Teil einer kollektiven Identität sehen, sondern sich, im Gegenteil, von dieser ausgeschlossen und alleingelassen fühlen. So stehen der Gruppenidentität in Nichts hier drei Einzelidentitäten gegenüber, die eine ähnliche Außenseiterposition innerhalb der jugendlichen Gesellschaft einnehmen wie Pierre Anthon. Während Agnes sich ausschließlich über ihre Zugehörigkeit zur Schüler*innengruppe identifiziert (»Wir anderen […]«34), nehmen sich Sammy, Nidal und Marie allesamt als »anders« wahr und als »[m]ittendrin und doch nie dabei.«35 Nidal etwa beschreibt dieses Gefühl folgendermaßen: »[I]ch fühl mich nirgendwo zu Hause. Immer irgendwie als Gast. Ein Statist, den man dort hinstellt, wo man ihn braucht.«36 Aber auch die Nebenfiguren in Elsäßers Roman setzen sich selbst gedanklich immer wieder einem fortwährenden Vergleich mit den Anderen aus. Gedanken wie »Warum soll sie anderen helfen? Ihr hilft doch auch keiner«37 oder »Er muss endlich abnehmen. Andere schaffen das doch auch«38 verdeutlichen den Gruppenzwang, dem sich die Jugendlichen gleichermaßen ausgesetzt fühlen, sowie die Angst vor der Ablehnung der eigenen Identität durch Andere. All diese Ängste finden jedoch ausschließlich in den 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, München: dtv 2010, S. 15. Ebd. Ebd., S. 34. Ebd., S. 31. Ebd., S. 67. Ebd., S. 69. Tobias Elsäßer: »Für niemand«, Frankfurt am Main: Sauerländer 2011, S. 15. Ebd., S. 62. Ebd., S. 18. Ebd., S. 149.

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Gedanken der Heranwachsenden Ausdruck; wie bereits Janne Teller in Nichts, schildert auch Tobias Elsäßer in seinem Roman eine weitestgehend sprachlose Jugendgeneration im Zeitalter der Kommunikation. Sammys folgende gesellschaftskritische Äußerung ist somit symptomatisch für das Geschehen beider Romane: […] da ist keiner, der ihr eine Frage stellt. Überhaupt […] gibt es zu wenige Menschen, die Fragen stellen. Echte Fragen, die nach echten Antworten verlangen. Fragen, die nicht nur dazu dienen, über all den Müll zu reden, der gerade in der Glotze läuft; über Models, Aussehen, Geld, Jungs, Saufen und Partys. […] Niemand stellt Fragen. Wichtige Fragen.39

Auffällig ist hierbei allerdings, dass die Jugendlichen beider Romane sich allesamt letztlich derart »[w]ichtige Fragen«40 stellen, die ihre eigene Identität, ihre Position innerhalb der Gesellschaft sowie das menschliche Leben generell betreffen. Im Gegensatz zu Pierre Anthon trauen sie sich nur nicht, ihre Ängste, Sorgen und Zweifel auch zu kommunizieren. So bemerkt Agnes beispielsweise, dass sie sich nicht traut, ihre Überlegungen »laut zu sagen. Auch nicht leise«41 und, obwohl Nidal, »den Drang [verspürt], […] nach dem Sinn zu fragen,«42 tut er es dennoch nicht – zu groß ist die Überzeugung davon, dass es ja doch »niemanden gibt, der einen versteht.«43 Denn anders zu sein bedeutet zugleich einzigartig zu sein, aber eben auch, nicht dazuzugehören oder gar verstanden zu werden, so die Schlussfolgerung der desillusionierten Jugendlichen. Sammy, Marie und Nidal stellen sich letztlich genau dieselben Fragen wie Pierre Anthon, auch wenn ihre Fragestellungen dabei unterschiedlich motiviert sind – und sie sind, genau wie Agnes und ihre Mitschüler*innen, nicht in der Lage, die Bedeutung der eigenen Existenz bzw. sich selbst als etwas Besonderes wahrzunehmen. So versucht sich Nidal seine Homosexualität zum Beispiel damit zu erklären, dass man ihn »als Kind zu sehr verwöhnt«44 habe und ruft sich die Worte seines Vaters »Schwächlinge braucht die Welt nicht«45 in Erinnerung. Er kann sein Anderssein in dieser Hinsicht so wenig akzeptieren, dass er sich sogar wünscht, stattdessen lieber vom Vater geschlagen oder »[i]n den Bauch [ge]treten,«46 ja ausgepeitscht worden zu sein, »bis das Blut spritzt« (ebd.). Es ist daher vor allem die Angst vor der Reaktion der Eltern, aber auch die eigene Nicht-Akzeptanz seiner Identität, die ihn dazu bringt, sich umzubringen: »[Die 39 40 41 42 43 44 45 46

Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, München: dtv 2010, S. 15. Ebd. Ebd., S. 67. Tobias Elsäßer: »Für niemand«, Frankfurt am Main: Sauerländer 2011, S. 143. Ebd., S. 109. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd.

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Eltern] können nichts dafür, dass er geworden ist, wie er ist. Es ist allein seine Schuld.«47 Auch Marie, die durch eine Vergewaltigung ungewollt schwanger geworden ist und das Kind weggegeben hat, hat mit derartigen Schuldgefühlen zu kämpfen. So sehnt sie sich zwar nach Rache, gibt jedoch nicht ihrem Vergewaltiger die Hauptschuld, sondern vor allem sich selbst: »Es war alleine ihre Schuld.«48 Über ihren sexuellen Missbrauch kann sie weder im »echten« Leben, noch in dem von Nidal gegründeten privaten Chatroom sprechen; ihr fehlen schlichtweg die Worte für das, was ihr angetan wurde – obwohl sie sich im Grunde danach sehnt, sich mitzuteilen. Sie weiß zwar, dass es »[m]anchmal reicht […], etwas aufzuschreiben, um sich besser zu fühlen,«49 die einst heilsame Wirkung der Worte empfindet sie jedoch inzwischen als bloßen »Kinderquatsch,«50 und fühlt sich selbst in der Anonymität des Netzes nicht sicher genug, um ihre Vergewaltigung zu thematisieren: Hier kann sie alles sagen, alles so meinen. Oder auch nicht. Keiner wird vorbeikommen und nachgucken, was tatsächlich in ihrem Leben passiert. Aber manchmal ist das auch schade. Manchmal wünscht sie sich, dass jemand vorbeikommt.51

So greift sie schließlich auch zum Telefon, um sich der kirchlichen Seelsorge anzuvertrauen, erreicht dort aber nur ein etwa gleichaltriges Mädchen, das selbst gemobbt und ausgegrenzt wird und Maries Absicht, sich das Leben zu nehmen, aufgrund ihrer eigenen Sorgen nicht ernst nimmt. Marie zieht daraus den Schluss, dass »keiner da ist, wenn man Hilfe braucht«52 und sieht keinen Ausweg mehr als den Selbstmord, dessen Gründe sie ihren Eltern aus Scham und Angst noch über ihren Tod hinaus verschweigen möchte. Zu einer ähnlichen Auffassung kommt Sammy, die – wie die Schüler*innen in Nichts – an der vermeintlichen Bedeutungslosigkeit des eigenen Daseins in der Welt verzweifelt. Für sie gleichen sich die Tage »wie die Häuser und die Vorgärten und die Geräusche in der Straße, in der sie lebt,«53 in der alles perfekt wirkt, aber nichts »echt« ist und in der niemand etwas fragt. Das ganze Leben erscheint ihr wie »ein einziges, beschissenes D8j/-vu,«54 ihre Worte und Liedtexte wie »[e]in

47 48 49 50 51 52 53

Ebd., S. 151. Ebd., S. 91. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd., S. 86. Ebd., S. 13. Auch hier ist eine Parallele zu Agnes’ Beschreibung ihres Wohnortes in Nichts zu erkennen. 54 Ebd., S. 83.

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Remix aus Erinnerungen, der vorgibt, etwas Besonderes […] zu sein, aber nur Kopie ist.«55 Gedanken wie diese ziehen sich durch Tobias Elsäßers gesamten Roman und verdeutlichen damit, wie wichtig es gerade für junge Heranwachsende ist, sich einem Gegenüber anzuvertrauen, Ängste und Gedanken mitteilen zu können und die Möglichkeit zu haben, Fragen zu stellen – auch wenn es auf diese nicht immer eindeutige Antworten geben mag. Gerade darin weist dieser Roman eine starke Ähnlichkeit zu Janne Tellers kontrovers diskutiertem Roman Nichts auf, denn beide verdeutlichen die Problematik einer Gesellschaft – gerade für Jugendliche –, in der über die wirklich wichtigen Dinge, die bedeutsamen Dinge, schlichtweg nicht gesprochen wird: Die Leute kommen mit Gerüchten besser klar als mit lauter Fragezeichen. […] [Sie bevorzugen] [e]ine banale Erklärung, damit sie nicht selber ins Zweifeln kommen,56

stellt Sammy fest. Anders als in zahlreichen anderen Werken der aktuellen Jugendliteratur, in denen »Kommunikation […] für viele Protagonisten am Ende ein möglicher Ausweg aus einer bisweilen ausweglos erscheinenden Situation«57 ist, werden hier keine Lösungsansätze angeboten. Das ernüchternde Fazit beider Romane lautet: Wenn »die Worte fehlen [, …] bringt [es] nichts, darüber zu reden.« (ebd. 163). Interessanterweise handelt es sich hierbei jedoch nicht um das Fazit der jugendlichen Figuren, sondern um jenes des Lokführers, der Nidals und Maries kollektiven Selbstmord miterleben musste.

»Angst. Mehr Angst. Am meisten Angst«58 – Zur Metaphorik von Angst, Gewalt und dem Unsagbaren Worte können trösten oder tief verletzen, manche hängen einem tage- oder gar jahrelang nach. […] [Sie] können als Heuristiken dienen, mit deren Hilfe wir Informationen schnell einordnen können. Ihre Kraft liegt in den Assoziationen, die sie wecken. Das gilt vor allem für Metaphern.59

55 Ebd. 56 Ebd., S. 87. 57 Mechthild Hesse: »Jugendliteratur als Schreiblehre. Untersuchungen zum Verhältnis von Lesen und Schreiben im Englischunterricht der Sekundarstufe I«, Tübingen: Narr 2002, S. 23. 58 Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, München: dtv 2010, S. 10. 59 Stefanie Kara/Claudia Wüstenhagen: »Die Macht der Worte«, verfügbar unter : http://www. zeit.de/zeit-wissen/2012/06/Sprache-Worte-Wahrnehmung/komplettansicht, [15. 03. 2018].

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So beschreiben Stefanie Kara und Claudia Wüstenhagen die Wirkung und Bedeutung der Sprache in ihrem sprachpsychologischen Zeit-Artikel über die Macht der Worte und verweisen zugleich auf aktuelle Forschungsergebnisse. Sie bemerken, dass selbst »[d]as Aussprechen von Tabuwörtern […] körperliche Stresssymptome aus[löse, wohingegen] Euphemismen, die das Gleiche bedeuten, […] diese Wirkung nicht«60 hätten. Eine ähnliche bedeutsame Wirkung der Worte lässt sich auch in den Jugendromanen Nichts und Für niemand beobachten, in welchen die Jugendlichen ihre Ängste und Gefühle bzw. das, worüber innerhalb der Gesellschaft nicht gesprochen werden darf oder kann, konsequent mithilfe von Metaphern, Euphemismen und Symbolen auszudrücken versuchen. Die eigentlichen Tabuthemen dieser Romane, wie die Angst vor der Bedeutungslosigkeit des eigenen Daseins, Homophobie, Selbstmord und sexueller Missbrauch mit anschließender Schwangerschaft, werden auf diese Weise niemals direkt angesprochen, sondern stets nur umschrieben und angedeutet – selbst in den Gedanken der Jugendlichen bleiben diese Themen tabuisiert; das »Unsagbare« kann auch hier nicht in Worte gefasst werden, sondern findet sich nur versteckt in vermeintlichen (Objekt-)Beschreibungen oder wiederkehrenden »Steigerungsformen.« Sprache fungiert in diesem Falle hauptsächlich als eine Art Flucht und eine Möglichkeit, das auszudrücken, was anders nicht gesagt werden kann oder darf: Metaphorische Formulierungen ersetzen so unter anderem die Sprachlosigkeit der Jugendlichen in den beiden Romanen. So finden sich in Janne Tellers Nichts auffällig viele Anthropomorphismen, Metaphern und Vergleiche, die verdeutlichen, wie Agnes sich wirklich fühlt, während sie sich bemüht, »nicht über das nachzudenken, was Pierre Anthon sagte.«61 Dass seine Worte sie und ihre Mitschüler*innen aufgewühlt und beunruhigt zurücklassen, wird schon daran ersichtlich, dass sie erwähnt, dass die Lehrer nach Pierre Anthons demonstrativem Verlassen der Schule sich nicht nur »im Klassenzimmer«, sondern auch »in unseren Köpfen«62 rasch aufzuräumen bemühten. Noch deutlicher wird dies an Agnes’ Beschreibung bzw. Anthropomorphismus der Tür, die Pierre Anthon – nicht ohne Grund – nicht schließt, sondern offenlässt, denn »[d]ie Tür lächelte«63 : Es war das erste Mal, dass ich sie das tun sah. Mir kam die angelehnte Tür wie ein breit grinsendes Maul vor, das mich verschlingen würde, wenn ich mich dazu verlocken ließ, Pierre Anthon nach draußen zu folgen. Wem lächelte es zu? Mir, uns allen.64

60 61 62 63 64

Ebd. Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, München: dtv 2010, S. 13. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Ebd.

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Auf diese Weise beschreibt Agnes demnach, ohne dies klar zu formulieren, die Auswirkungen von Pierre Anthons Worten auf sich selbst und ihre Mitschüler*innen. Auch ist diese vermenschlichte Darstellung der Tür bei Weitem nicht der einzige Anthropomorphisms des Romans, wie Annette Wannamaker betont: This smiling door is the first of many objects in the novel that is depicted as having agency, […] as some thing that is imbued with meaning, speaking to them, and requiring them to act.65

Auf diese Weise scheint es ihr leichter zu fallen, ihr Bedürfnis zu unterdrücken, sich Pierre Anthon anzuschließen, schließlich ist es nicht sie selbst, die einen derartigen Gedanken hegt, sondern die Tür, die sie dazu auffordert, ihrem Mitschüler nach draußen zu folgen. Dennoch bleibt Agnes sitzen, denn »[a]us uns sollte [wohl im Gegensatz zu Pierre Anthon] etwas werden,«66 auch wenn dies bedeutet, weiterhin der als extrem ungemütlich geschilderten Atmosphäre der Schule ausgesetzt zu sein. Diese ist nämlich gekennzeichnet von dem Geruch »nach Reinigungsmitteln und langem Leerstehen.«67 Die Klassenräume weisen Tische »in Zweierreihen« (ebd.) auf, deren Ausrichtung an Krankenhausflure erinnert: »Die Schule von Taering war groß und rechteckig und betongrau und […] an sich sehr hässlich,«68 stellt Agnes bereits zu Beginn fest, aber erst Pierre Anthons Worte bringen die Schüler*innen dazu, diese enorme Hässlichkeit der Schule auch aktiv wahrzunehmen, sie wirklich »zu sehen.«69 Denn mit einem Mal erscheint es ihnen, »als träfe [sie] die Hässlichkeit der Schule wie eine Handvoll der bitteren Pflaumen Pierre Anthons auf einmal,«70 die er ihnen täglich vom Pflaumenbaum entgegenwirft. Auch wird die Schule in diesem Prozess, der durch Pierre Anthons Worte ausgelöst wird, im Empfinden der Schüler*innen zu einer Metapher für das Leben, für die Bedeutung der eigenen Existenz, die nach und nach zu verschwinden droht – denn den Schüler*innen erscheint es, »als wäre die Schule das Leben, und so sollte das Leben doch nicht aussehen, aber das tat es trotzdem.«71 Analog zu den desillusionierten Jugendlichen in Elsäßers Für niemand sehen sich auch Agnes und ihre Mitschüler*innen plötzlich gefangen in einem Leben, 65 Annette Wannamaker : »A ›Heap of Meaning‹: Objects, Aesthetics and the Posthuman Child in Janne Teller’s Y. A. Novel Nothing«, in The Lion and the Unicorn, 2015/39, S. 82–99, (S. 85), verfügbar unter : https://muse-jhu-edu.proxy.ub.uni-frankfurt.de/article/585814/pdf [15. 03. 2018]. [Hervorhebung im Original] 66 Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, München: dtv 2010, S. 9. Ebd., S. 8. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 13. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Ebd.

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das ihnen sinnlos erscheint; nur klammert sich insbesondere Agnes – ganz im Gegensatz zu Sammy, Nidal und Marie – an den Gedanken, dass aus ihr doch einmal »etwas und jemand«72 werden sollte. Die »lächelnde Tür [nach] Draußen«73 ist in ihrem Fall (anfangs) nur angelehnt, während zumindest Nidal und Marie zuletzt die Entscheidung treffen, die Schule und das Leben endgültig hinter sich zu lassen. Die Jugendlichen von Taering verbringen im weiteren Verlauf der Handlung ihre Freizeit in einem ehemaligen, nun aber leerstehenden Sägewerk – das, ähnlich wie die Schule, ebenfalls als eine Metapher für das Leben gelesen werden kann: für das Leben der jeweiligen Jugendlichen, das sie versuchen mit Bedeutung auszustatten. So findet Agnes zu Beginn des Romans noch recht positive Worte für den auserkorenen Treffpunkt: Zwar war das Sägewerk verfallen, die Fenster eingeschlagen, und in der Decke klafften große Löcher, aber es stand noch, und war genau das, was wir brauchten.74

Erst als auch Agnes ein Opfer – in Form ihrer geliebten grünen Sandalen – erbringen muss und sie Gerda dazu nötigt, ihren Hamster abzugeben, wandelt sich ihre Wahrnehmung deutlich: Nun bemerkt sie erst wirklich, wie groß und leer das Sägewerk war, wie voller Ritzen und Risse der Zementboden, […] wie viele Löcher das Dach hatte und wie wenige Scheiben noch heil waren.75

Kurz vor Weihnachten dann, nach »knapp vier Monaten in dem stillgelegten Sägewerk,«76 überwiegen Chaos und Unordnung: Überall finden sich Sägespäne und Abfall, »in allen Ecken und Winkeln hingen Spinnweben. Die Fenster – also die, die noch heil waren – wirkten, falls das möglich war, noch schmutziger.«77 Es gelingt den Jugendlichen letztendlich nicht, Pierre Anthon zu beweisen, dass es im Leben doch so etwas wie eine Bedeutung gibt; sie scheitern allerdings nicht daran – wie Melanie Beiner betont –, »ihre eigenen Dinge als bedeutsam zu erleben, wohl aber daran, sie einem anderen zu vermitteln.«78 Ausgedrückt wird dies am Ende des Romans vor allem an der deutlichen Dominanz der Stille: So ist es beispielsweise »totenstill,«79 kurz bevor sich die Jugendlichen auf Pierre Anton stürzen, weil sie erkennen, dass er gewonnen und 72 73 74 75 76 77 78

Ebd. Ebd. Ebd., S. 25 [Hervorhebung: C. S.] Ebd., S. 35. Ebd., S. 91. Ebd. Melanie Beiner : »Nichts – Was im Leben wichtig ist. Interpretation und Unterrichtsideen für die Sek I«, verfügbar unter : http://www.rpi-loccum.de/material/ru-in-der-sekundarstufe-1/ sek1_beiner2, [15. 03. 2018]. 79 Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, München: dtv 2010, S. 130.

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sie seinetwegen endgültig »die Lust am Leben und an der Zukunft verloren«80 haben. Es ist »still«81 als sie das Sägewerk verlassen und sie verabschieden sich weder voneinander noch von Pierre Anthon. Als sie bei dessen Beerdigung wieder aufeinandertreffen, grüßen sie sich nicht, reden nicht miteinander und fragen erneut nicht nach Pierre Anthon: »Keiner sagte etwas.«82 Vom »stillgelegten«83 Sägewerk, wie auch von den Träumen und Hoffnungen der Jugendlichen selbst, ist zu diesem Zeitpunkt lediglich »eine rauchende Brandstelle«84 übrig; das zunächst sowieso schon heruntergekommene Sägewerk ist zusammen mit Pierre Anthon und der Bedeutung »bis auf die Grundmauern ab[gebrannt].«85 Dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit einer ganzen Jugendgeneration zieht sich in derartigen Metaphern durch den gesamten Roman, denn immer wieder wird auf diese Weise von der jugendlichen Erzählerin darzustellen versucht, wie ihre Träume und Hoffnungen, »etwas […] [und] jemand«86 zu werden, allmählich einem Gefühl der Bedeutungslosigkeit weichen. So lockte der Pflaumenbaum die Jugendlichen einst mit seinen »bereift-staubigen Victoria-Pflaumen,«87 die zwar für sie unerreichbar waren, was sie aber »[i]n vergangenen Jahren«88 nicht davon abgehalten hatte, hochzuspringen und zu versuchen, welche zu erwischen. Doch, so heißt es, »[d]amit hörten [sie] auf.«89 Stattdessen sitzt dort nun Pierre Anthon, der sie mit »unreifen Pflaumen«90 sowie, metaphorisch ausgedrückt, mit seinen Erkenntnissen bewirft, dass nichts im Leben eine Bedeutung habe und dass das Leben sowieso »nichts weiter als ein Spiel [sei], das nur darauf hinausläuft, so zu tun als ob.«91 Von den Pflaumen und derartigen Ansichten wollen die Jugendlichen auf ihrem »Reifeprozess« auf dem Weg zum Erwachsenwerden allerdings verschont bleiben, denn »all die Erkenntnisse vor sich herzutragen […] raubt jedem den Mut, der noch nicht erwachsen ist und selbst etwas herausfinden will,«92 darin sind sich die Jugendlichen einig.

80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92

Ebd., S. 134. Ebd. Ebd., 136. Ebd. [Hervorhebung: C. S.] Ebd. Ebd., S. 135. Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, München: dtv 2010, S. 9. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 74.

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Bei ihrem Versuch, Pierre Anthon doch noch davon zu überzeugen, die Bedeutsamkeit der menschlichen Existenz anzuerkennen und den Pflaumenbaum zu verlassen, merken sie allerdings recht schnell, wie auch sie allmählich von den Pflaumen und seinen Worten getroffen und zum Nachdenken angeregt werden: Sie werden sich, erneut metaphorisch ausgedrückt, nicht gegen all die Pflaumen, die Pierre Anthon auf sie hinabwirft, wehren können, denn, so drückt Agnes es aus: »Ein Pflaumenbaum hat viele Äste. Viele lange Äste. Viel zu viele, viel zu lange Äste.«93 Derartige Steigerungen sind ebenfalls typisch für Janne Tellers Roman. Sie finden sich immer dann, wenn Agnes ihre Gefühle, Zweifel und Ängste nicht anders auszudrücken vermag; immer dann, wenn die Bedeutung von etwas nicht anders in Worte gefasst werden kann – diese Steigerungsformen sind oftmals viel wirkungsvoller als konkret ausformulierte Gedanken. Die Bedeutung wird hierbei auf einige wenige Sätze heruntergebrochen, die aber nur in ihrer Kombination, als Dreierkonstruktion, eine bestimmte Wirkung erzeugen. Wie der Berg der Bedeutung, so entfaltet sich auch die Bedeutung der Sätze erst angehäuft, d. h. in einer Steigerungsform, zu einem großen Ganzen. Annette Wannamaker weist ebenfalls daraufhin, dass der Roman selbst »[t]he last and most significant object added to the heap of meaning«94 ist, und Janne Tellers Nichts auf diese Weise selbst zu einem Berg der Bedeutung anwachse. Die Worte des Romans selbst werden, noch mehr als die unterschiedlichen Gegenstände, mit einer jeweils eigenen Bedeutung ausgestattet, explizit hervorgehoben und mit bestimmten Assoziationen verbunden. So ist die Rose beispielsweise, die auf dem ersten, für die Jugendlichen zunächst noch unbedeutenden Berg der Bedeutung landet, nicht einfach nur eine Blume, sondern das Symbol ewiger Liebe. Ihr wird allerdings diese Bedeutung abgesprochen, als Laura, »die sie eingesammelt hatte,«95 auf die Scheidung der Dame, von der sie stammt, zu sprechen kommt: der »Traum [der Mädchen], eine weiße Braut zu sein, die einen schönen Brautstrauß in der Hand«96 hält, zerplatzt daraufhin. Die Bedeutung des Berges wird zu »[n]ichts. Gar nichts. Überhaupt nichts.«97 Auch dem Frühling, der üblicherweise einen Neuanfang, das Heranwachsen und sprichwörtliche Aufblühen symbolisiert, wird auf diese Weise seine Bedeutung von den Jugendlichen abgesprochen: 93 Ebd., S. 13. 94 Annette Wannamaker : »A ›Heap of Meaning‹: Objects, Aesthetics and the Posthuman Child in Janne Teller’s Y. A. Novel Nothing«, in The Lion and the Unicorn, 2015/39, S. 82–99, (S. 85), verfügbar unter : https://muse-jhu-edu.proxy.ub.uni-frankfurt.de/article/585814/ pdf, [15. 03. 2018]. [Hervorhebung im Original] 95 Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, München: dtv 2010, S. 27. 96 Ebd. 97 Ebd.

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Es war Frühling, aber in diesem Jahr drang der Frühling nicht zu uns vor. […] Wir in der 7 A sahen weder Neuanfang noch Frühling. Was hatte der Frühling zu bedeuten, wenn es schon bald wieder Herbst und alles verwelkt sein würde, was jetzt keimte? […] Das Frühjahr war zu nichts anderem mehr gut, als uns daran zu erinnern, dass auch wir bald verschwunden waren. […] Nichts war zum Aushalten. […] Alles, nichts, gar nichts.98

Dieser Bedeutungsverlust wird auf eine ganz ähnliche Art und Weise in Tobias Elsäßers Für niemand sprachlich dargestellt – mit dem Unterschied, dass die Jugendlichen ihre daraus resultierende Gewaltbereitschaft hier nicht gegen Andere, sondern ausschließlich gegen sich selbst richten. Wie bereits in Janne Tellers Nichts, so ist eine Dreierkonstruktion kurzer Sätze mit darin enthaltenen Steigerungsformen auch für Elsäßers Roman typisch. Auf diese Weise wird deutlich, dass der Entschluss zum Selbstmord keineswegs, wie oftmals dargestellt, eine Kurzschlussreaktion ist, sondern diesem vielmehr ein monate- oder gar jahrelanger Prozess vorausgeht, ähnlich wie der, der in Tellers Nichts beschrieben wird: die Bedeutung des eigenen Lebens verschwindet nicht über Nacht, sondern erst ganz allmählich, und vor allem leise – in den Gedanken der Jugendlichen. Außerdem sorgt eine derartige Darstellungsweise dafür, dass die Selbstmordgedanken der Jugendlichen authentisch geschildert und vor allem ernst genommen werden; sie werden nicht – wie es in zahlreichen anderen Jugendromanen der Fall ist – durch eine erwachsene Erzählinstanz in irgendeiner Form (negativ) bewertet oder gar verurteilt, sondern aus jugendlicher Perspektive, unvoreingenommen und mit all ihren Ängsten und Zweifeln abgebildet. So hat auch Nidal nicht von Anfang an die Absicht, sich umzubringen, sondern sucht zunächst noch nach einem Ausweg, nach einer Erklärung: »Für sich. Für sein Leben. Für alles.«99 Er kommt sich vor wie in einem »Gefängnis,«100 in welchem er es sogar seinen Gedanken verbietet […], zu entfliehen. Er fängt sie ein, bevor sie zu mächtig werden und die Kontrolle übernehmen. Über ihn. Über die Welt. Über alles.101

Nidal bringt seine Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben nicht einfach wortwörtlich zum Ausdruck, sondern beschreibt sein Leben, ähnlich wie Agnes und ihre Mitschüler*innen die Schule und ihr eintöniges, ja langweiliges Leben in Taering, als ein Gefängnis, aus dem er ausbrechen möchte: schließlich habe man ihn völlig grundlos und ungerechterweise, »[o]hne Prozess, ohne Anwalt, ohne Zeugen«102 zu diesem Leben verurteilt. Seine Sehnsucht, auszubrechen und all 98 99 100 101 102

Ebd., S. 122f. [Hervorhebung: C. S.] Tobias Elsäßer : »Für niemand«, Frankfurt am Main: Sauerländer 2011, S. 12. Ebd. Ebd., S. 12f. [Hervorhebung: C. S.] Ebd., S. 13.

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das, was ihn einengt und beschränkt, zurückzulassen, weist dabei eine enorme Ähnlichkeit zu Agnes’ Sehnsucht auf, das Klassenzimmer und die Schule, ihr ganzes bisheriges Leben, durch ebendiese Tür zu verlassen, die Pierre Anthon offengelassen hat. Denn, ähnlich wie Agnes, drückt auch Nidal seinen Wunsch zu gehen hauptsächlich metaphorisch aus: »Er will fliegen. Auf und davon. Ein Vogel mit großen Schwingen. Dächer, Wolken, Wälder, Flüsse und Seen. Aus der Ferne nur Farbkleckse.«103 Analog hierzu fragt sich Marie, »warum Fantasie nicht Wirklichkeit werden kann«104 und sehnt sich nach einem »Tor, das sich öffnet, […] das sie hinüberführt auf diese andere Seite.«105 Lediglich in Bezug auf Sammy findet die Erzählinstanz zunächst deutlichere Worte für ihren geplanten Selbstmord: Der Tag, an dem Sammy beschließt, sich umzubringen, ist ein Freitag. Es könnte auch ein Sonntag (rumhängen mit Jessy) oder ein Dienstag (begrapscht werden von Paul) sein. Das spielt keine Rolle […].106

Es wird allerdings schnell klar, dass ihr diese Worte, selbst wenn sie sie nicht einmal ausspricht, nur als Fassade dienen, »ein[] lässige[r] Spruch, der sich wie ein Schutzschild vor ihre Gedanken stellt.«107 Auch hieran wird ersichtlich, welche Macht Worte haben können: So können sie, wie bei Sammy, als »Schutzschild« dienen und eine Art Fluchtmöglichkeit darstellen. Mithilfe von Worten lassen sich Dinge, Zustände und Gedanken beschönigen und vergleichsweise harmlos darstellen. Gerade was jedoch das Thema Suizid betrifft (»Nachrichten von Selbstmorden Jugendlicher tendieren [zudem] dazu, einen viel tieferen Eindruck auf die Bevölkerung zu machen«108), überwiegen in der Gesellschaft vor allem »Sprachlosigkeit und verdruckste Beschreibungen«109, »die zeigen, wie ambivalent bis heute das Bild vom Menschen ist, der sich selbst tötet.«110 Daher ist

103 104 105 106 107 108

Ebd. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 13. Ebd., S. 15. Joachim Noob: »Der Schülerselbstmord in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende«, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 1998, S. 71. 109 Dorothea Brummerloh: »Tabuthema Suizid. Wie kann ein offener Umgang mit dem Thema gelingen?«, verfügbar unter : http://www.deutschlandfunkkultur.de/tabuthema-suizid-wiekann-ein-offener-umgang-mit-dem-thema.976.de. html?dram:article_id=379462, [15. 03. 2018]. 110 Ebd.

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[v]on einem Personenunfall […] die Rede, wenn sich jemand vor den Zug geworfen hat. […] Unter Journalisten hat sich in Deutschland [gar] ein Pressekodex etabliert, zurückhaltend über Schienensuizide und Suizide im Allgemeinen zu berichten.111

Der Suizid ist demnach, entgegen Inger Lisons Behauptung, er stelle »längst kein Tabuthema mehr dar[…],«112 alleine schon deshalb heutzutage als Gesprächsthema noch immer weitestgehend tabuisiert. Martin Ahrends weist daher zu Recht darauf hin, dass [a]lle anderen menschlichen Bedürfnisse […] längst im Licht der aufgeklärten Öffentlichkeit [stehen] und institutionell geregelt [sind]. Nicht aber das Sterben wollen. Man darf nicht sterben wollen.113

Wohingegen man sehr wohl »sein Kind nicht austragen wollen, [es] nach der Geburt zur Adoption freigeben oder in eine Babyklappe legen«114 wollen dürfe: lediglich die individuelle Entscheidung, sein Leben selbst vorzeitig zu beenden, finde noch immer keine Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft: »wer sterben will, muss seinen Todeswunsch verbergen, denn es gibt niemanden, der ernsthaft darüber reden will«115, so Ahrends. Dies zeigt sich in zweierlei Hinsicht auch in Tobias Elsäßers Roman über den kollektiven Selbstmord dreier Jugendlicher, der aufgrund seiner Adressierung an Erwachsene und Jugendliche sowie der Thematik des Jugendselbstmords ein Tabuthema in doppelter Hinsicht darstellt. Die Tabuisierung des Suizids kommt etwa darin zum Ausdruck, dass die Jugendlichen selbst ihre Selbstmordabsichten mit einer Vielzahl von Metaphern umschreiben und auf diese Weise beschönigt und stark verharmlost darstellen. Das Leben ist, Sammy zufolge, lediglich ein Spiel, »ein Quiz [wie] […] Wer wird Millionär«116, bei dem die einzelnen Spieler*innen jederzeit wieder aussteigen können. Marie empfindet das Leben als »eine Täuschung«, »ein Spiel«, »ein großes Theaterstück.«117 Ihren geplanten Selbstmord umschreibt sie damit, dass es nun »an der Zeit [sei], für die letzte Rolle vorzusprechen.«118 Ganz ähnliche 111 Martin Ahrends: »Tabuthema Suizid. Man darf nicht sterben wollen«, verfügbar unter : http://www.deutschlandfunkkultur.de/tabuthema-suizid-man-darf-nicht-sterben-wollen. 1005.de.html?dram:article_id=312355 [15. 03. 2018]. 112 Inger Lison: »›Morgen werde ich nicht mehr da sein‹. Selbsttötung – ein sensibles Thema«, in BiblioTheke. 2014/01, S. 21–26 (S. 25). (verfügbar unter : http://www.borromaeusverein. de/fileadmin/user_upload/Publikationen/BiblioTheke/Bibliotheke_1_14_web.pdf [15. 03. 2018]. 113 Martin Ahrends: »Tabuthema Suizid. Man darf nicht sterben wollen«, verfügbar unter : http://www.deutschlandfunkkultur.de/tabuthema-suizid-man-darf-nicht-sterben-wollen. 1005.de.html?dram:article_id=312355 [15. 03. 2018]. 114 Ebd. 115 Ebd. 116 Tobias Elsäßer : »Für niemand«, Frankfurt am Main: Sauerländer 2011, S. 15. 117 Ebd., S. 41. 118 Ebd.

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Worte wählt Nidal, der sich entschließt, nicht mehr weiter »eine Rolle spielen«119 zu wollen; er möchte nicht, [w]ie die Äste eines großen Baums [enden], der immer am selben Ort bleiben musste […], kein knorriger alter Baum werden […], über dem sich ein Dach aus Blättern schließt,120

denn: »Was bringt der Schutz vor Regen, wenn man dafür nie Sonne sehen kann?«121

Die Angst vor der »Ansteckungsgefahr« – Die sprachliche Gestaltung der Romane als eigentlicher, gesellschaftlicher Tabubruch Die bis heute anhaltende gesellschaftliche Tabuisierung des Suizids kommt auch in der Art und Weise zum Ausdruck, wie Tobias Elsäßers Roman im von erwachsenen Vermittler*innen beherrschten Literaturbetrieb aufgenommen wurde: Er wurde schlichtweg totgeschwiegen und mit Nicht-Achtung gestraft. Für niemand wurde weder mit Preisen ausgezeichnet, noch finden sich überhaupt Besprechungen zu diesem Tabus brechenden Jugendroman. Selbst die Forschung hat sich Elsäßers Werk bislang überraschenderweise kaum gewidmet. Dies mag zunächst etwas verwundern, denn allgemein gilt die Kinder- und Jugendliteratur inzwischen, wie etwa Birgit Dankert 2016 in ihrem Zeit-Artikel zum Deutschen Jugendliteraturpreis schreibt, als eine »Literaturgattung, die kaum noch Tabus kennt.«122 Auch das Thema des Jugendselbstmords dürfte spätestens seit Jay Ashers Roman Tote Mädchen lügen nicht, der 2009 erstmals auf Deutsch erschienen ist, keinen Tabubruch innerhalb jugendliterarischer Werke mehr darstellen, wurde der Roman doch kürzlich sogar als erfolgreiche Netflix-Serie adaptiert. Das eigentliche Tabu an Elsäßers Roman könnte demnach nicht primär der Suizid unter Jugendlichen sein, sondern vielmehr die sprachliche Darstellung dieses sensiblen und schwierigen Themas. So bemerkt auch Isa Schikorsky, dass sich im jugendliterarischen Diskurs vor allem dann Kontroversen ergeben, »wenn Autoren sich weigern, mit einfachen UrsacheWirkung-Modellen zu erklären, wie Gewalttaten motiviert sind und sich ver-

119 120 121 122

Ebd., S. 110. Ebd., S. 143f. Ebd., 144. Birgit Dankert: »Deutscher Jugendliteraturpreis. Vielfalt gewinnt«, verfügbar unter : http:// www.zeit.de/2016/43/deutscher-jugendliteraturpreis-60-jahre-sammelband, [15. 03.2018].

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hindern lassen.«123 Genau dies macht Tobias Elsäßer in seinem Jugendroman, denn er beschränkt sich allein auf die Darstellung der Gedanken der selbstmordgefährdeten Jugendlichen, ohne Lösungsansätze jedweder Art aufzuzeigen.124 Abgesehen davon distanziert Elsäßer sich in seiner Darstellung deutlich von Schuldzuweisungen, wie sie beispielsweise in Ashers Roman zu finden sind. Sammy, Nidal und Marie geben sich ausnahmslos selbst die Schuld daran, nicht mehr leben zu wollen. Ihre Sehnsucht danach, sich gemeinschaftlich umzubringen, rührt nicht daher, dass sie etwa als psychisch labil oder krank dargestellt werden, sondern sie empfinden das Leben an sich – ähnlich wie die Figuren in Janne Tellers Nichts – als bedeutungslos. Tobias Elsäßer stellt in seinem gesellschaftskritischen Roman ganz bewusst nicht die Frage danach, wie Selbstmorde unter Jugendlichen verhindert werden können, sondern vielmehr die viel provokantere, nicht ausschließlich Jugendliche betreffende Frage, ob »das Leben unter allen Umständen erhalten werden«125 muss. Er lässt seine jugendlichen Figuren klar Stellung beziehen und sie ganz deutlich das Recht auf den eigenen, selbstbestimmten Tod einfordern, was insbesondere an Sammys wiederholten Ausführungen im Chatroom deutlich wird. So schreibt sie dort etwa: Ich will nur zeigen, dass man nicht durchhalten muss. Dass es einen Ausweg gibt, wenn man keinen Bock mehr auf dieses Spiel hat. Auch wenn die Leute das nicht zugeben. Der Tod ist ein Ausweg. Jeden Tag bringen sich Leute um, auch wenn darüber nichts in den Nachrichten gebracht wird, weil sie sonst gar nicht mehr nachkommen würden mit Beerdigungen.126

Der Wunsch, sein Leben zu beenden, ja der Tod allgemein, wird bei Elsäßer nicht abgewertet, sondern tatsächlich als eine Möglichkeit geschildert, die Traurigkeit und das Unglück des Lebens hinter sich zu lassen. Außerdem macht er deutlich, dass es sich dabei um eine freie Entscheidung der Betroffenen handelt, denn, wie es Sammy treffend beschreibt, »[w]enn man traurig ist, […] ist [da] nichts, das 123 Isa Schikorsky : »Grenzüberschreitungen: Trends und Tendenzen in der deutschen Kinderund Jugendliteratur zu Beginn des 21. Jahrtausends«, verfügbar unter : http://www.kinde rundjugendmedien.de/index.php/kinder-und-jugendliteratur/104-mediageschichte/litera turgeschichte/663-schikorsky-grenzueberschreitungen-kjl-21-jahrhundert, [15. 03. 2018]. 124 Auch Maries Versuch, sich an eine kirchliche Beratungsstelle zu wenden, scheitert letztendlich am Widerwillen bzw. der Verweigerung der gleichaltrigen Beratenden. Die jugendlichen Protagonist*innen könnten sich sehr wohl gegenseitig unterstützen, oder Andere um Hilfe bitten (hier ist insbesondere an das enge Verhältnis zwischen Marie und ihrer Mutter zu denken), sie entscheiden sich allerdings bewusst gegen diese Option. Ihr gesamtes Leben erscheint ihnen bereits zu ausweg- und hoffnungslos. 125 Joachim Noob: »Der Schülerselbstmord in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende«, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 1998, S. 70. 126 Tobias Elsäßer : »Für niemand«, Frankfurt am Main: Sauerländer 2011, S. 61.

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einen hält.«127 Für einen unter dem Leben leidenden Menschen kann der Tod durchaus Freiheit und Erlösung bedeuten und das Recht, »das Ende selber bestimmen«128 zu dürfen, sollte selbst Jugendlichen nicht vorenthalten werden. All diese Thesen lassen sich in Elsäßers Für niemand erkennen und könnten erklären, warum der Roman mit seinen derart radikalen Aussagen und Fragestellungen bis heute keinerlei Anklang und Anerkennung im kinder- und jugendliterarischen Diskurs gefunden hat: »Man befürchtet[…] wohl, dass Kinder, die sich in einer ähnlich ausweglosen Situation befinden, dieses Verhalten als Lösung ansehen und nachahmen würden (Werther-Effekt).«129 Dies ist auch der Grund dafür, warum Janne Tellers Roman zunächst bereits »in Skandinavien eine hitzige Debatte entfacht«130 hat und von behördlicher Seite immer wieder versucht wurde, »das Buch aus dem Schulunterricht herauszuhalten.«131 Schließlich verzichtet auch Teller in ihrem Roman auf eine »ordnende[…] Instanz«132, wie Tobias Hübner bemerkt: am Ende wird – im Unterschied zu vielen anderen Jugendromanen – die Ordnung durch die Erwachsenen eben gerade nicht wieder hergestellt. Auf den »berühmt-berüchtige[n] moralischen Zeigefinger«133 verzichtet die Autorin komplett, stattdessen schildert sie, so Melanie Beiner, auch abgebrühtes Verhalten von Jugendlichen, kühle Konkurrenzgedanken, schonungslosen Gruppendruck [und] [d]ies alles in einer unemotionalen Weise, die Jugendliche weder auf ein Podest noch in den Abgrund der schlimmen Jugend stellt.134

Denn auch hier besteht das eigentlich Skandalöse dieses Romans nicht in erster Linie darin, was passiert, sondern vielmehr darin, wie es geschildert wird. Tilman Spreckelsen zufolge genüge nämlich »schon ein flüchtiger Blick in aktuelle Jugendbücher oder -filme[, um] ein Vielfaches an breit ausgemalter Grausamkeit zutage [zu] fördern.«135 Der Skandal bzw. das Unerhörte dieses Buches sei in der 127 Ebd., S. 62. 128 Ebd., S. 64. 129 Inger Lison: »›Morgen werde ich nicht mehr da sein‹. Selbsttötung – ein sensibles Thema«, in BiblioTheke. 2014/01, S. 21–26 (S. 22). (verfügbar unter : http://www.borromaeusverein. de/fileadmin/user_upload/Publikationen/BiblioTheke/Bibliotheke_1_14_web.pdf, [15. 03. 2018]. 130 Tobias Hübner : »Nichts – Was im Leben wichtig ist. Themenheft«, in Creative Commons Unterrichtsmaterialien. 2012/03, S. 2, verfügbar unter : http://www.medienistik.de/Themen heft_Nichts.pdf, [15. 03. 2018]. 131 Ebd. 132 Ebd. 133 Ebd. [Hervorhebung im Original] 134 Melanie Beiner : »Nichts – Was im Leben wichtig ist. Interpretation und Unterrichtsideen für die Sek I«, verfügbar unter : http://www.rpi-loccum.de/material/ru-in-der-sekundarstufe1/sek1_beiner2, [15. 03. 2018]. [Hervorhebung im Original] 135 Tilman Spreckelsen: »Janne Tellers verstörender Bestseller. Wie man zum Fanatiker wird«, verfügbar unter : http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/themen/janne-tellers-verstoeren

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Sprache begründet; etwa wenn Agnes, scheinbar ungerührt beobachtet, wie Sofie ihrem Klassenkameraden Jan-Johan den Finger abschneidet. Statt auf die Grausamkeit dieser Handlung zu verweisen, legt Agnes den Schwerpunkt ihrer Beschreibung auf Jan-Johans »jämmerlich[es]«136 Verhalten, wodurch er sich selbst zum »plärrende[n] Säugling […] [und einem] Klumpen«137 degradiere, nach dem sie gerne treten würde. Außerdem betont sie, dass es sich hierbei um »ein notwendiges Opfer in [ihrem] Kampf um die Bedeutung«138 handele und es ja »[s]o schlimm […] doch wohl nicht«139 wäre, dass ihm der Finger »guillotiniert werden sollte.«140 Sie findet es sogar »interessant zu sehen, wie der Finger zu Fetzen und Knochensplittern«141 wird, und es gelingt ihr nicht, Mitgefühl für ihren Klassenkameraden aufzubringen, der in ihrer Beschreibung »lustig von dannen«142 rumpelt.143 Insbesondere das hier geschilderte fehlende Mitgefühl, die nicht vorhandene Emotionalität einer ganzen Jugendgeneration, muss als das eigentlich Schockierende dieses Romans gesehen werden, – denn in die breite Masse an kinderund jugendliterarischen Werken, in denen Heranwachsende zwar inzwischen mit ihren Problemen und Ängsten ernst genommen werden, jedoch selten bis zum Ende hoffnungslos desillusioniert bleiben, lässt sich dieser Roman nicht einordnen. Er zeigt ein Jugendbild, das eben nicht mehr an Hoffnung geknüpft ist und zugleich, wie wichtig es ist, Kinder und Jugendliche nicht vor den existenziellen Fragen des Lebens beschützen zu wollen, sondern sie als gleichberechtigte Gesprächspartner*innen wahrzunehmen. Beide Romane verdeutlichen auf diese Weise ein Paradoxon, das es in der Kinder- und Jugendliteratur auch heute noch zu geben scheint: Es darf über nahezu alle Tabuthemen geschrieben werden, aber eben nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise, die keinen aktiven Rezipierenden voraussetzt.

136 137 138 139 140 141 142 143

der-bestseller-wie-man-zum-fanatiker-wird-1611170.html?printPagedArticle=true#page Index_0, [15. 03. 2018]. Janne Teller : »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, München: dtv 2010, S. 95. Ebd. Ebd., S. 97. Ebd. Ebd., S. 95. [Hervorhebung im Original] Ebd., S. 97. Ebd., S. 98 [Hervorhebung: C. S.]. Ein Adjektiv, das hier aufgrund der Umstände – die Schüler*innen haben ihrem Klassenkameraden Jan-Johan kurz zuvor den Finger abgeschnitten und fahren ihn nun im Zeitungswagen davon – völlig deplatziert ist.

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Fazit: »›Es bringt nichts, darüber zu reden.‹«144 – Oder doch? Janne Tellers Nichts und Tobias Elsäßers Für niemand schildern gleichermaßen, welche Probleme und Ängste Heranwachsende auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden zu bewältigen haben. Dabei beschränken sie sich keineswegs auf typische Probleme, wie die Pubertät im Allgemeinen, die erste große Liebe oder Konflikte mit den erwachsenen Autoritätspersonen, sondern widmen sich ernsten und teilweise noch immer tabuisierten Themenbereichen. Die im Zuge der Adoleszenz aufkommende, existenzial-philosophische Frage nach dem Sinn des Lebens spielt in beiden jugendliterarischen Werken eine zentrale Rolle und wird sowohl in Nichts als auch in Für niemand nicht eindeutig beantwortet. Die jugendlichen Figuren scheitern allesamt daran, die Bedeutung ihrer eigenen Existenz zu erkennen bzw. sie einem Gegenüber zu vermitteln. Ihnen fehlen schlichtweg die Worte für das, was sie bewegt, was unter anderem an der Verwendung von Anthropomorphismen, Metaphern und Euphemismen, die sich durch beide Jugendromane ziehen, ersichtlich wird. Abgesehen davon kommen erwachsene Bezugspersonen in beiden Romanen eigentlich nicht vor ; sie kommen im Fokus der jugendlichen Erzählperspektive gar nicht erst zu Wort. Darum erscheint es umso erstaunlicher, welche Debatten und Diskussionen insbesondere Janne Tellers Nichts unter den erwachsenen Vermittler*innen ausgelöst hat. Nichts polarisiert gerade aufgrund seines nüchternen Schreibstils, seiner Sprache, war in vielen Schulen in Skandinavien zeitweise verboten, wurde erst zehn Jahre später schließlich ins Deutsche übersetzt, aber dennoch mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.145 Inzwischen gehört er in Deutschland sogar zum Oberstufen-Lektüre-Kanon. Für niemand hingegen hat keine solchen kontroversen Debatten ausgelöst, sondern wurde seit seiner Veröffentlichung kaum besprochen oder gar wissenschaftlich untersucht. So selten die Erwachsenen in den hier untersuchten Romanen das Wort ergreifen, so oft tun sie dies in der außerliterarischen Realität in Debatten darüber, was kind- und jugendgemäß ist und was man kindlichen und jugendlichen Lesenden, aus welchen Gründen, besser vorenthalten sollte. In diesen Fällen werden die Jugendlichen meist von den Debatten ausgeschlossen, sie werden – wie auch die jugendlichen Figuren in den Romanen feststellen müssen – nicht gefragt oder in die Kommunikation mit einbezogen. Ironischerweise zeigen diese beiden jugendliterarischen Werke doch nur zu deutlich, wie wichtig es ist, mit Jugendlichen zu sprechen, sie mit einzubeziehen und ganz existenzielle Ängste und Sorgen zu thematisieren. Die Tatsache, dass ein solcher 144 Tobias Elsäßer : »Für niemand«, Frankfurt am Main 2011, S. 163. 145 Vgl.: Susanne Gaschke: »›Lehrer sagten, dieses Buch ist schädlich‹«, verfügbar unter : https://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-08/janne-teller/komplettansicht [15. 03. 2018].

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Roman wie Nichts selbst im 21. Jahrhundert noch eine Debatte darüber ausgelöst hat, was Kindern und Jugendlichen in der Literatur zugemutet werden kann, zeigt nur zu deutlich, dass die heutige Gesellschaft keineswegs so aufgeklärt ist wie zunächst vermutet werden könnte. Vermeintliche Tabuthemen können nur enttabuisiert werden, indem in öffentlichen Debatten über sie gesprochen wird – auch Jugendliche sollten von diesen Debatten nicht ausgeschlossen werden, wie die untersuchten Romane eindrücklich demonstrieren. Denn Sprachlosigkeit ist oftmals eben auch ein Ausdruck von Machtlosigkeit.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Elsäßer, Tobias: »Für niemand«, Frankfurt am Main: Sauerländer 2011. Teller, Janne: »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, München: dtv 2010.

Sekundärliteratur Gansel, Carsten: »Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung – Adoleszenz und Literatur«, in: Gansel, Carsten/Zimniak, Paweł (Hg.): Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, S. 15–48. Hengst, Heinz: »Was für Zeitgenossen. Über Kinder und kollektive Identität«, in: Hengst, Heinz/Kelle, Helga (Hg.): Kinder – Körper – Identitäten. Theoretische und empirische Annäherungen an kulturelle Praxis und sozialen Wandel, Weinheim: Juventa 2003, S. 333–346. Hesse, Mechthild: »Jugendliteratur als Schreiblehre. Untersuchungen zum Verhältnis von Lesen und Schreiben im Englischunterricht der Sekundarstufe I«, Tübingen: Narr 2002. Noob, Joachim: »Der Schülerselbstmord in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende«, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 1998.

Onlinequellen Ahrends, Martin: »Tabuthema Suizid. Man darf nicht sterben wollen«, verfügbar unter : http://www.deutschlandfunkkultur.de/tabuthema-suizid-man-darf-nicht-sterben-wol len.1005.de.html?dram:article_id=312355 [15. 03. 2018]. Beiner, Melanie: »Nichts – Was im Leben wichtig ist. Interpretation und Unterrichtsideen für die Sek I.«, verfügbar unter : http://www.rpi-loccum.de/material/ru-in-der-sekun darstufe-1/sek1_beiner2 [15. 03. 2018].

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Brummerloh, Dorothea: »Tabuthema Suizid. Wie kann ein offener Umgang mit dem Thema gelingen?«, verfügbar unter : http://www.deutschlandfunkkultur.de/tabuthe ma-suizid-wie-kann-ein-offener-umgang-mit-dem-thema.976.de.html?dram:article_ id=379462 [15. 03. 2018]. Dankert, Birgit: »Deutscher Jugendliteraturpreis. Vielfalt gewinnt«, verfügbar unter : http://www.zeit.de/2016/43/deutscher-jugendliteraturpreis-60-jahre-sammelband [15. 03.2018]. Ewers, Hans-Heino: »Paradigmenwechsel der Kinder- und Jugendliteratur«, verfügbar unter : http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/literatur/104-mediageschich te/literaturgeschichte/659-paradigmenwechsel-der-kinder-und-jugendliteratur-um1970 [15. 03. 2018]. Gaschke, Susanne: »›Lehrer sagten, dieses Buch ist schädlich‹«, verfügbar unter : https:// www.zeit.de/kultur/literatur/2010-08/janne-teller/komplettansicht [15. 03. 2018]. Hübner, Tobias: »Nichts – Was im Leben wichtig ist. Themenheft«, in Creative Commons Unterrichtsmaterialien. 2012/03, S. 2, verfügbar unter : http://www.medienistik.de/The menheft_Nichts.pdf [15. 03. 2018]. Kara, Stefanie/Wüstenhagen, Claudia: »Die Macht der Worte«, verfügbar unter : http:// www.zeit.de/zeit-wissen/2012/06/Sprache-Worte-Wahrnehmung/komplettansicht [15. 03. 2018]. Lison, Inger : »›Morgen werde ich nicht mehr da sein‹. Selbsttötung – ein sensibles Thema«, in BiblioTheke. 2014/01, S. 21–26 (S. 25). (verfügbar unter : http://www.borromaeusver ein.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/BiblioTheke/Bibliotheke_1_14_web.pdf [15. 03. 2018]. Schikorsky, Isa: »Grenzüberschreitungen: Trends und Tendenzen in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur zu Beginn des 21. Jahrtausends« 2013, verfügbar unter : http:// www.kinderundjugendmedien.de/index.php/kinder-und-jugendliteratur/104-media geschichte/literaturgeschichte/663-schikorsky-grenzueberschreitungen-kjl-21-jahr hundert [15. 03. 2018]. Spreckelsen, Tilman: »Janne Tellers verstörender Bestseller. Wie man zum Fanatiker wird«, verfügbar unter : http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/themen/janne-tellers-ver stoerender-bestseller-wie-man-zum-fanatiker-wird-1611170.html?printPagedArticle= true#pageIndex_0 [15. 03. 2018]. Wannamaker, Annette: »A ›Heap of Meaning‹: Objects, Aesthetics and the Posthuman Child in Janne Teller’s Y. A. Novel Nothing«, in The Lion and the Unicorn. 2015/39 39, S. 82–99, verfügbar unter : https://muse-jhu-edu.proxy.ub.uni-frankfurt.de/article/ 585814/pdf [15. 03. 2018].

III. Historische und vergleichende Analysen psychischer Dynamiken und ihrer Effekte aus transdisziplinärer Perspektive

Laura Haas

Eine transdisziplinäre Analyse der Figur des bösen Kindes in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur

Einleitung Kinder sind von Natur aus rein und gut.1 Trotzdem hat man »mit Jungen […] nichts als Ärger«2, während es ein Glück ist eine Tochter zu haben.3 Diese Auffassung scheint gesellschaftlich noch immer präsent zu sein und soll im folgenden anhand eines Vergleichs von Die unterirdische Sonne (2014) von Friedrich Ani und Finn-Ole Heinrichs Machst du bitte mit, Henning (2009) kritisch reflektiert werden. Die Protagonist*innen aus Die unterirdische Sonne und Machst du bitte mit, Henning sind Kinder4 und handeln dennoch böse, indem sie morden und bzw. oder quälen. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang danach, ab wann man von »bösen Kindern« spricht und ob damit wirklich öfter Jungen als Mädchen gemeint sind. Fokussieren werde ich die Figur Sophia aus Die unterirdische Sonne und Henning aus der nach ihm benannten Kurzgeschichte.5 In den beiden Erzählungen verhalten sich sowohl das Mädchen als auch der Junge böse. Dennoch werden die Figuren und ihre Taten unterschiedlich bewertet. Verbunden werden in der Analyse die Themenkreise des Bösen und kindliche Verhaltensweisen mit der in den Texten transportierten Geschlechterspezifik. Aus diesem Grund bietet sich eine Vielzahl an theoretischen Per1 Vgl.: International Institute for Children’s Literature and Reading Research: »Von denen, die auszogen und das Fürchten lernten. Zum Bösen und Häßlichen in der Kinder- und Jugendliteratur ; Ergebnisse der 30. Tagung des Internationalen Instituts für Jugendliteratur und Leseforschung; Söchau (Stmk.), 14.–19. August 1994«, Wien: Internationales Institut für Jugendliteratur und Leseforschung 1995, S. 24. 2 Christian Büttner und Marianne Dittmann: »Vorwort«, Christian Büttner / Marianne Dittmann (Hrsg.): Brave Mädchen – böse Buben? Erziehung zur Geschlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule. Weinheim und Basel: Beltz 1992, S. 7–10, (S. 7). 3 Vgl.: ebd. 4 Zwar sind die Kinder aus Die unterirdische Sonne vom Alter her eher größtenteils jugendlich statt kindlich, ich werde der Einfachheithalber die Bezeichnung jedoch beibehalten. 5 Die Entfürerin aus Die unterirdische Sonne stimmt in ihrer Art und in ihrem Verhalten in vielen Punkten mit Henning überein, weshalb ich des Öfteren die Frau als Parallele zu Hennings Tat und Verhalten anführen werde.

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spektiven an, weshalb ein transdisziplinärer Zugang naheliegt. Nach einer lexikalischen Analyse des Begriffs des Bösen, werden literaturhistorische Aspekte des bösen Kindes in den Blick genommen, um diese Beobachtungen auf die gewählten Primärtexte zu übertragen. In diesem Zusammenhang werde ich darlegen, auf welche Weise durch ästhetische und narrative Strategien die Leserschaft in ihrer Meinung und Bewertung der kindlichen Verhaltensweisen beeinflusst wird. Aus diesem Grund folgt ein Abschnitt, der sich Mittel der Ästhetik bedient. Mit Blick auf das destruktive Verhalten der Kinder werden hingegen Methoden aus der Erziehungswissenschaft herangezogen. Die Erziehungswissenschaft bietet – analog zur Psychoanalyse – aufschlussreiche Erkenntnisse zur Auswirkung von traumatischen Erfahrungen in der frühen Kindheit und ihres Einflusses auf Verhaltensauffälligkeiten oder -störungen. Im Zusammenhang mit der Analyse des Verhaltens der Figur Henning wird dieser Zugang durch psychoanalytische und kriminologische Perspektiven erweitert. Mithilfe dieser beiden Disziplinen wird auch das Verhalten der über weite Strecken hinweg namenlosen Frau6 aus Die unterirdische Sonne, ihre Interaktionen mit den entführten Kindern und die mit ihr verbundene Lesendenlenkung analysiert. Beabsichtigt wird, einen Überblick über das weibliche Böse und darauf, wie auf es reagiert wird zu ermöglichen. Enden wird die Analyse mit einem Vergleich der Ergebnisse und der Beantwortung der Frage danach, wodurch sich »böse« weibliche und männliche Kinder in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur auszeichnen.

Lexikalische Einordnung des »Bösen« Der etymologische Ursprung des Begriffs »böse« ist verschiedenen Quellen zufolge nicht vollständig geklärt. Laut dem Wahrig Herkunftswörterbuch geht der Begriff auf den vordeutschen Ausdruck »bausja« zurück, was für »gering oder schlecht«7 steht. Einer anderen Deutung zufolge, bezieht sich der Begriff auf die indogermanische Lautgebärde »bhel«, welche »anschwellen oder aufblasen«8 bedeutet. Die Wortherkunft, die der Duden nennt, deckt sich in diesem Punkt mit dem Wahrig Herkunftswörterbuch. Der Duden bezieht sich jedoch auf den 6 Ich werde im weiteren Verlauf stets von »der Frau« oder »der Entführerin« sprechen, auch wenn am Ende des Romans offenbart wird, dass ihr Name Inge Wells lautet. Durch ihre Namenslosigkeit erhält diese Figur ein unheimliches Potenzial, das sie den größten Teil der Romanhandlung innehat. Des Weiteren bietet sich diese Bezeichnung aufgrund der Forschungsfrage nach dem weiblichen und männlichen Bösen an. 7 Wissen.de: »Wahrig Herkunftswörterbuch. Böse«, verfügbar unter : https://www.wissen.de/ wortherkunft/boese [23. 12. 2018]. 8 Ebd.

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althochdeutschen Begriff »bo¯si« für »böse, schlimm, gering, wertlos«9, beziehungsweise eigentlich »aufgeblasen, geschwollen.«10 Die ursprüngliche Bedeutung rekurriert demnach auf einen körperlichen Zustand, während heute verschiedene Bedeutungszuschreibungen transparent sind. Für die Analyse erscheint insbesondere die folgende Definition des Wahrig Lexikons bedeutsam: Kategorie der Philosophie und der Theologie, die im weitesten Sinne alles Negative wie Leid, Krankheit, Tod, Verderben, Schuld, Krieg, Gottferne usw. umfasst, besonders aber die moralisch verwerfliche Gesinnung und Handlung. Das Böse steht im Gegensatz zum Guten und ist ein universelles, zerstörerisches und Unheil bringendes Prinzip. Fast alle Völker kennen mythische Erzählungen, in denen es um Ursprung und Überwindung des Bösen in der Welt geht. […] F. Nietzsche definiert das Böse als Konstruktion der im Lebenskampf Schwachen und Unterlegenen, die mit diesem Begriff aufgrund von Ressentiments das Handeln der Starken zu verurteilen und einzuschränken versuchen. S. Freud erklärt das Böse aus der angeborenen Aggressionslust, dem Liebesbedürfnis und dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen und sieht allein in einer auf Vernunft und Wissenschaft gegründeten Gesellschaft eine Möglichkeit, die destruktiven Instinkte des Menschen wirkungsvoll zu regulieren. […]11

Auffällig ist insbesondere die Betonung von unmoralischem Verhalten sowie der Zusammenhang mit der menschlichen Psyche, die im Zuge der Analyse fokussiert werden. Auch verwandte beziehungsweise entgegengesetzte Begriffe scheinen relevant, um den Begriff in seinem Bedeutungszusammenhang besser einzuschätzen. Als untergeordneter Begriff wird beispielsweise »gewalttätig«12 genannt. Dies verweist auf einen engen Zusammenhang zwischen bösem und gewalttätigem Verhalten. Als Gegensatz wird unter anderem »menschlich«13 angeführt. Dieses Antonym rückt ebenfalls die Begriffe: »gut« und »menschlich« in einen Sinnzusammenhang. Das Ideal des guten Menschen scheint jedoch (ganz im Gegensatz zum romantischen Ideal des guten und reinen Kindes) überholt zu sein, was der Blick auf die Literaturgeschichte offenbart.

9 Duden: »böse«, verfügbar unter : https://www.duden.de/rechtschreibung/boese [23. 12. 2018]. 10 Ebd. [Hervorhebung L. H.] 11 Wissen.de: »Lexikon. Böse«, verfügbar unter : https://www.wissen.de/lexikon/boese [23. 12. 2018]. 12 Wortbedeutung.info: »böse«, verfügbar unter : https://www.wortbedeutung.info/böse/ [23. 12. 2018]. 13 Ebd.

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Böse Kinder in der Literatur Gemäß dem Ideal der Romantik wurde die Kindheit lange Zeit als eine Lebensphase der Unschuld und Harmonie aufgefasst.14 Die Kinderliteratur zeichnete über lange Zeit ein Idealbild von Kindheit, das alle tabuisierten oder problematischen Themenbereiche (Sexualität, Gewalt, Tod) ausschloss. Seit den späten 1960er und frühen 1970er Jahren vermittelt die Kinderliteratur ein zeitgemäßeres Kindheitkonzept. Auch innerhalb der Gesellschaft werden Kinder und Erwachsene zunehmend gleichgestellt und es wird den kindlichen Lesenden mehr zugetraut und zugemutet.15 Kinder werden mit dem Bösen konfrontiert und handeln teils sogar selbst böse. Die Literatur kennt also böse Kinder, jedoch weisen sie geschlechtsspezifische und qualitative Unterschiede in der Ausprägung ihrer Bosheit auf. Renate Möhrmann spricht in diesem Zusammenhang von einer »strikte[n] geschlechtsspezifische[n] Asymmetrie des Bösen, die das männliche und weibliche Fehlverhalten unterschiedlicher Bewertung aussetzt, festschreibt und zu polarisieren versucht.«16 Ab wann eine kindliche Figur als »böse« gilt, hängt untrennbar mit den jeweiligen gesellschaftlichen Moral- und Anstandsvorstellungen zusammen.17 Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden Mädchen insbesondere durch literarische Vorbilder »auf ihre Rolle in der Gesellschaft vorbereite[t], auf ihren künftigen Status als Ehefrau und Mutter.«18 Dementsprechend werden Mädchen bereits als »böse« stigmatisiert, wenn sie sich diesen gesellschaftlichen Erwartungen aktiv widersetzen, oder dem Frauenbild dieser Zeit widersprechen. Als sich die Bad Boy Novels während dem sogenannten Gilded Age19 etablieren und sich großer Beliebtheit erfreuen, finden sich keine weiblichen Pendants zu den umjubelten Bad Boy-Figuren. Die literarischen Mädchenfiguren sollten

14 Bettina Kümmerling-Meibauer: »Bad good girls in der internationalen Kinderliteratur. Vom Bilderbuch bis zur Young Adult Novel«, Möhrmann, Renate (Hrsg.): Rebellisch verzweifelt infam. Das böse Mädchen als ästhetische Figur. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 45–67, (S. 50). 15 Vgl.: Stefanie Lehne: »Jugendliteratur der Extreme. Tabubrüche und Grenzüberschreitungen«, Magisterarbeit 2010, S. 5f. 16 Renate Möhrmann: »Einleitung«, Möhrmann, Renate (Hrsg.): Rebellisch verzweifelt infam. Das böse Mädchen als ästhetische Figur. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 11–23, (S. 17). 17 Vgl.: Inge Wild: »Das ganz andere Mädchen. Überlegungen zu Astrid Lindgrens Kinderbuchklassiker Pippi Langstrumpf«, Möhrmann, Renate (Hrsg.): Rebellisch verzweifelt infam. Das böse Mädchen als ästhetische Figur. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 23–45, (S. 27). 18 Renate Möhrmann: »Einleitung«, Möhrmann, Renate (Hrsg.): Rebellisch verzweifelt infam. Das böse Mädchen als ästhetische Figur. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 11–23, (S. 12). 19 Mark Twain bezeichnete die Zeit zwischen dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs und dem Anfang des Ersten Weltkrieges spöttisch als Gilded Age. Vgl.: Renate Möhrmann: »Einleitung«, Möhrmann, Renate (Hrsg.): Rebellisch verzweifelt infam. Das böse Mädchen als ästhetische Figur. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 11–23, (S. 15).

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anscheinend noch immer nicht »ausreißen«20, nicht »davonlaufen«21 und auch kein »fremdes Terrain erobern.«22 Es zeigt sich, dass die Bandbreite an bösen Mädchen, aufgrund der ihnen innerhalb der außerliterarischen Realität auferlegten gesellschaftlichen Anforderungen, wesentlich kleiner als jene der bösen Jungs ausfällt. Erst im Zuge der zweiten Frauenbewegung der späten 1960er Jahre durften die Mädchenfiguren aktiver werden. Dadurch fand gleichzeitig eine Umbewertung des bösen Mädchen-Charakters statt.23 Möhrmann verweist in diesem Zusammenhang auf die Arbeit Ute Ehrhardts: Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin. Warum brav sein uns nicht weiterbringt.24 Der Titel bzw. Möhrmanns Ausführungen stützen die These eines »neuen weiblichen« Bosheitsbegriffes. Das böse Mädchen bzw. sein Charakter lässt sich keineswegs als »im weitesten Sinne alles Negative wie Leid, Krankheit, Tod, Verderben, Schuld, Krieg, Gottferne usw. [beschreiben], […] [betont werden jedoch] die moralisch verwerfliche Gesinnung und Handlung«25 der Figuren. Es ist viel eher so, dass das angeblich »böse« Verhalten der literarischen Mädchenfiguren im Vergleich zu ihren männlichen Pendants höchstens eine Lappalie darstellt. PeterAndr8 Alt spricht ebenfalls von einem neuen Bosheitsbegriff, den er wie folgt beschreibt: Das Böse wird diffuser, zerfasert an seinen Rändern, führt zu Um- und Neudeutungen seiner ursprünglichen Eindeutigkeit. Die Genealogie des Bösen wird zum Gegenstand zunehmender moralischer Differenzierungen.26

Die bösen Mädchenfiguren sind vielleicht »aufmüpfig und rotzfrech, richtig böse sind sie allerdings nicht, […].«27 Auch Bettina Kümmerling-Meibauer stellt in Frage, ob Mädchen in der Kinder- und Jugendliteratur überhaupt je wirklich böse sein dürfen, oder ob sich ihre Bosheit nicht viel eher auf ebenjenes unangepasste und bzw. oder freche Verhalten beschränke. Böse im Sinne von »moralisch fragwürdig«28 oder charakterlich abstoßend29, dürften in der (älteren) Kinderliteratur lediglich Nebencharaktere sein. Und auch hier diente die böse Nebenfigur allein dazu, die (allerhöchstens) unangepasste oder freche Haupt20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl.: ebd., S. 17. Ebd., S. 14. Wissen.de: »Lexikon. Böse«, verfügbar unter : https://www.wissen.de/lexikon/boese [23. 12. 2018]. Peter-Andr8 Alt: »Ästhetik des Bösen«, München: C. H. Beck 2010, S. 24f. Bettina Kümmerling-Meibauer: »Bad good girls in der internationalen Kinderliteratur. Vom Bilderbuch bis zur Young Adult Novel«, Möhrmann, Renate (Hrsg.): Rebellisch verzweifelt infam. Das böse Mädchen als ästhetische Figur. Bielefeld: Aisthesis 2012, 45–67, (S. 46). Ebd., S. 59. Vgl.: ebd.

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figur in ein besseres Licht zu rücken. Erst in der Nachkriegsliteratur finden sich weibliche Figuren, die eine kriminelle Veranlagung aufweisen und somit das Attribut »böse« verdient hätten.30 Kümmerling-Meibauer führt weiter aus, dass ganz gleich welche Schandtaten die Mädchen begingen, ihre Taten immer legitimiert würden, um für den oder die Lesende/n nachvollziehbar zu sein: Die entsprechenden Werke geben zwar einen Einblick in den Abgrund menschlicher Verhaltensweisen, aber vor einer Darstellung es abgrundtief Bösen ohne Erklärung oder Vorgeschichte schrecken sie dennoch zurück. […] [E]s ist […] literarisch durchaus reizvoller, über die Ambivalenz der moralischen Kategorien gut versus böse zu reflektieren und der Leserschaft die Aufgabe zu überlassen, sich selbst ein Urteil über die frechen, rebellischen und bösen Mädchen zu bilden.31

Das Kindheitsbild der Romantik scheint also noch immer einen gewissen Einfluss zu haben. Kinder dürfen heute in der Literatur vielleicht böse sein, aber insbesondere Mädchen dürfen nicht grundlos böse sein. Dieses Mädchenbild vermittelt Friedrich Ani mithilfe von narrativen Strategien in seinem Roman Die unterirdische Sonne, insbesondere durch die Figur der 14-jährigen Sophia.

Ästhetik: Die Vermittlung des Bösen durch narrative Strategien am Beispiel von Sophia aus Die unterirdische Sonne Die Narratologie beeinflusst die Weise, in der Handlungen der Figuren von der Leserschaft wahrgenommen und bewertet werden. Sofern eine Figur ein hohes Identifikationspotenzial aufweist und ihr Verhalten mittels konkreter Beweggründe erläutert wird, ist die Leserschaft in der Regel eher geneigt, dieser Figur eine schändliche Tat zu verzeihen. Friedrich Ani macht sich dieses Prinzip in seinem Roman zunutze. Die gläubige und mütterlich agierende Sophia wird nach ihrer Flucht zu einer rachsüchtigen Mörderin. Sie überzeugt ihre Leidensgenoss*innen davon, noch einmal umzukehren32, um ihre Peiniger*innen zu bestrafen und zu töten.33 Dass diese Figur dennoch Sympathie erzeugt, hängt mit den narratologischen Strategien zusammen, die Ani verwenet. Der Roman beginnt mit einer Diskussion zwischen mehreren, zunächst unbekannten Personen.34 Diese Situation wird aufgelöst, sobald der Erzähler das Wort ergreift und 30 Ich möchte hier nochmals auf die Definition des Wahrig Wörterbuchs verweisen, welches böse Verhalten mit unmoralischem Verhalten sowie psychischen Dispositionen verbindet. 31 Bettina Kümmerling-Meibauer: »Bad good girls in der internationalen Kinderliteratur. Vom Bilderbuch bis zur Young Adult Novel«, Möhrmann, Renate (Hrsg.): Rebellisch verzweifelt infam. Das böse Mädchen als ästhetische Figur. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 45–67, (S. 65). 32 Obwohl sie bereits frei und in Sicherheit sind. 33 Vgl.: Friedrich Ani: »Die unterirdische Sonne«, München: cbt 2014, S. 321f. 34 Vgl.: ebd., S. 7f.

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Hintergrundinformationen zu den Kindern offenbart. Die Erzählinstanz ist im Laufe der Handlung größtenteils ein personaler Erzähler.35 Dieser tritt während der Handlung gewissermaßen hinter die Kinder und beschreibt das Geschehen aus ihrer Perspektive. Die perspektivischen Wechsel zwischen den Kindern gehen fließend ineinander über. Innerhalb eines Abschnittes, der aus Sicht eines der Kinder erzählt wird, erhält der oder die Lesende eine detaillierte Innensicht. Die Lesenden erhalten somit auch Einsicht in die Gefühls- und Gedankenwelt Sophias, womit eine emotionale Bindung aufgebaut und ihr Verhalten nachvollziehbar wird. Die Peiniger*innen, die schließlich den Feuertod finden, entsprechen hingegen Kümmerling-Meibauers Definition der bösen Nebenfiguren in der älteren Kinderliteratur. Sie erhalten weder eine Vergangenheit noch werden ihre Beweggründe offengelegt; sie dienen somit lediglich dem Zweck, Sophias Rache zu legitimieren. Ganz anders verhält es sich mit dem männlichen Protagonisten Henning aus Machst du bitte mit, Henning. Alts Beboachtung: Das Böse wird diffuser, zerfasert an seinen Rändern, führt zu Um- und Neudeutungen seiner ursprünglichen Eindeutigkeit. Die Genealogie des Bösen wird zum Gegenstand zunehmender moralischer Differenzierungen36

bewahrheitet sich somit lediglich im Falle von Sophia; bei der Figur Henning finden hingegen keine »Um- und Neudeutungen«37 und auch keine »moralische[n] Differenzierungen«38 statt.

Die Vermittlung des Bösen durch narrative Strategien am Beispiel von Henning aus Machst du bitte mit, Henning Finn-Ole Heinrich nutzt eine auktoriale Erzählinstanz, sodass die Erzählung durchgängig aus der Perspektive des Protagonisten geschildert wird. Die Lesenden haben somit einen begrenzten Einblick in das Geschehen, da ausschließlich die teilweise fragmentarischen Gedankengänge und Aussagen der Figur verfolgt werden können. Überraschend ist in diesem Zusammenhang, dass trotz dieser Erzählweise keine emotionale Bindung zur Figur aufgebaut oder Identifikationspotential geschaffen wird. Vielmehr tritt ein gegenteiliger Effekt ein. Die Figur erzählt ohne wirklich zu erzählen. Seine Äußerungen und Ge35 Zu Beginn eines neuen Akts wechselt die Erzählinstanz jedoch bisweilen zu einem auktorialen Erzähler, der die gegenwärtige Lage im Keller umreißt, bevor er wieder »hinter« einem der Kinder verschwindet. 36 Peter-Andr8 Alt: »Ästhetik des Bösen«, München: C. H. Beck 2010, S. 24f. 37 Ebd. 38 Ebd.

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dankengänge sind achronologisch aufgebaut. Die Erzählung beginnt mit der Erinnerung der Figur an Manuel, den er scheinbar zufällig trifft und dennoch bewusst den Entschluss fasst, ihn zu quälen.39 Seine Beschreibung der Situation bleibt kryptisch und für die Lesenden zu diesem Zeitpunkt noch unverständlich. Zudem wird diese Erinnerung lediglich in einem fünfzeiligen Absatz beschrieben, bevor Hennings Gedanken schon wieder weiterwandern.40 Es folgen Einblicke in den Anstaltsalltag mit dem Personal und anderen Patient*innen der Kinder-Psychiartrie, die immer wieder von kurzen Erinnerungsfragmenten an die Tat unterbrochen sind. Erst durch mehrmaliges Lesen wird offensichtlich, was Henning getan hat und wie sein Verhalten, seine Wortwahl und Beschreibungen zu bewerten sind. Seine Empathielosigkeit, die fehlende Reue und seine gleichzeitig vorherrschende Arroganz schaffen es nicht, Sympathie bei der Leserschaft zu wecken, sondern verstärken nur das bereits vorherrschende Unverständnis und die Abneigung gegenüber dieser Figur. Auf diese Weise ähnelt er der namenlosen Frau aus Die unterirdische Sonne. Beide haben keine Vorgeschichte und keinen offensichtlichen Beweggrund für ihre Taten. Außerdem zeichnet beide Charaktere ein kryptischer Sprachstil aus, der zur Verwirrung und zu einem unbefriedigenden Leseerlebnis beiträgt. Deutlich wird dies etwa, wenn die Frau wie folgt über bzw. zu den Kindern spricht:41 Sie [die Kinder] haben gelernt zu gehorchen und brav zu sein zu jeder Stunde. […] Ihr seid widerspenstig, arrogant, kaltschnäuzig. Ihr klammert euch an etwas, das euch nicht gehört. Die Zeit. Die Kindheit. Die Jugend. […] Hier [in diesem Haus] nehmt ihr niemandem die Zeit weg oder könnt so tun, als wärt ihr der Mittelpunkt des Universums. Ihr seid nichts. Weil ihr das immer noch nicht verstehen wollt, müssen wir euch so behandeln, wie wir euch behandeln. […] Erst wenn ihr keinen Widerstand mehr leistet gegen uns, die einzig wahren Lehrmeister […] erst dann werden wir euch erlauben, noch einmal das Tageslicht zu sehen, damit ihr euch in Würde verabschieden könnt. Ihr widert mich an. […]42 Wer bist du? […] Meinst du, du bist jemand? […] Warum bist du hier? Was meinst du, Kind? […] Was bist du, mein Kind? […] Du täuschst dich, du bist niemand. […] Ich wollte dich retten, zu einem besseren Menschen machen.43

39 Vgl: Finn-Ole Heinrich: »Machst du bitte mit, Henning«, Ders.: Gestern war auch schon ein Tag. Erzählungen, Hamburg: mairisch 2009, S. 29–38, (S. 29). 40 Vgl.: ebd. 41 Bei den folgenden Ausführungen beziehe ich mich auf Ergebnisse meiner Hausarbeti: »Das Böse und das (böse) Kind. Der literarische Umgang mit dem Bösen in Friedrich Anis Roman Die unterirdische Sonne« aus dem Jahr 2018. 42 Friedrich Ani: »Die unterirdische Sonne«, München: cbt 2014, S. 134f. 43 Ebd., S. 275f.

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Die Sprache der Frau ist willkürlich und rätselhaft. Sie wechselt die Pronomen,44 nutzt elliptische, dann wieder lange, ausführliche Sätze,45 sie hat Stimmungswechsel46 und spricht zusammenhangslos.47 Dadurch bleiben ihre Beweggründe, ebenso wie ihre künftigen Absichten, undurchsichtig. Diese Willkür und Rätselhaftigkeit bieten Spielraum für die Imagination der Lesenden und verleihen der Frau etwas Übernatürliches bzw. Unbegreifliches. Das nicht Artikulierte wird damit zur eigentlichen Quelle ihrer Macht, während das Gesagte ebenjene bestätigt.48 Deutlich wird, dass Sprache und Kommunikation in einem direkten Zusammenhang mit der Definition und Ausübung von Macht stehen.49 Dies zeigt sich auch am Beispiel der Figur Henning aus Heinrichs Kurzgeschichte. Seine Omnipotenzfantasien artikulieren sich ebenfalls in einem Spiel mit der Sprache, sodass sowohl der Leserschaft als auch den Betreuenden in der beschriebenen Einrichtung Informationen vorenthalten werden. Auch in seiner Vorliebe dafür, nichtssagende Antworten auf konkrete Fragen zu geben, wird dies deutlich: Das ist kein großes Geheimnis, man nimmt ein Wort, […], zum Beispiel liebt, und dann nimmt man noch das genaue Gegenteil, hasst, und tut sie in einen Satz zusammen, und man hat eine Antwort, die immer passt. Man liebt so lange, bis man hasst. Das […] stimmt fast immer […] und das ist gar nicht schlecht, wenn man mal nicht weiß, was man sagen soll oder um einen verrückt zu machen. […] Man kann Frau Heinsohn damit verrückt machen, wenn man es lange genug spielt.50

In der Gedankenrede wechseln sich fragmentarische Beschreibungen des Tathergangs und alltägliche Beschreibungen scheinbar51 übergangslos ab: »Und der kleine Junge hat seinen Finger in die Hundescheiße gesteckt und geleckt und 44 Von »wir« zu »ich«. Vgl.: Friedrich Ani: »Die unterirdische Sonne«, München: cbt Verlag 2014, S. 135. 45 »Ihr klammert euch an etwas, das euch nicht gehört. Die Zeit. Die Kindheit. Die Jugend.« Friedrich Ani: »Die unterirdische Sonne«, München: cbt 2014, S. 134. 46 »Sie [die Kinder] haben gelernt zu gehorchen und brav zu sein zu jeder Stunde. […] Ihr seid widerspenstig, arrogant, kaltschnäuzig.« Friedrich Ani: »Die unterirdische Sonne«, München: cbt 2014, S. 134. 47 »[E]rst dann werden wir euch erlauben, noch einmal das Tageslicht zu sehen, damit ihr euch in Würde verabschieden könnt. Ihr widert mich an.« Friedrich Ani: »Die unterirdische Sonne«, München: cbt 2014, S. 135. Oder : »Wer bist du? […] Meinst du, du bist jemand? […] Warum bist du hier? Was meinst du, Kind? […] Was bist du, mein Kind? […] Du täuschst dich, du bist niemand. […] Ich wollte dich retten, zu einem besseren Menschen machen.« Friedrich Ani: »Die unterirdische Sonne«, München: cbt 2014, S. 275f. 48 Vgl.: Laura Haas: »Das Böse und das (böse) Kind. Der literarische Umgang mit dem Bösen in Friedrich Anis Roman Die unterirdische Sonne«, Hausarbeit 2018, S. 9f. 49 Vgl.: Susanne Kern: »Das Unsagbare erzählen. J. M. Coetzees ästhetische Strategien zur Darstellung von Gewalt«, Frankfurt am Main u. a.: Lang 2010, S. 190. 50 Finn-Ole Heinrich: »Machst du bitte mit, Henning«, Ders.: Gestern war auch schon ein Tag. Erzählungen, Hamburg: mairisch 2009, S. 29–38, (S. 35). [Hervorhebung im Original] 51 Der inhaltliche Wechsel wird lediglich formal durch einen Absatz angedeutet.

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geweint. Ich baue einen Panzer heute und kein Lebkuchenhaus, logischerweise.«52 Sein Sprachstil ist demnach wie jener der namenlosen Frau elliptisch: »Frau Heinsohn, Sie schreien, logischerweise, Sie haben die Situation nicht unter Kontrolle. Stoppsatz, Frau Heinsohn, aus der Situation aussteigen.«53 An anderen Stellen beschreibt er wiederum überaus ausführlich und ausschweifend: Und der kleine Junge kam mit einem Feuerzeug wieder raus und wir sind in das Gebüsch hinter dem Parkplatz, da war keiner,54 und dann habe ich den kleinen Jungen versucht anzuzünden an verschiedenen Stellen, im Gesicht und an der Hose, seine Jacke hat gekokelt, die war aus Plastik, das stinkt und brennt in der Nase, der kleine Junge hat nicht richtig gebrannt, nur die Haare, da hat der kleine Junge noch mal geschrien und so mit den Armen gerudert, und ich habe seinen Kopf gegen den Baum geknallt, weil ich hatte ja gesagt, dass ich ihm die Zunge abmache, aber ich hatte gar kein Messer, und der kleine Junge hat geblutet, so richtig, an der Stirn.55

Es ist auffällig, dass die Tatbeschreibungen hier mitunter detailliert ausfallen. In diesem Punkt unterscheidet sich Machst du bitte mit, Henning von Die unterirdische Sonne. Wie es zunehmend den aktuellen Standards entspricht, verzichtet Heinrich in seiner Erzählung auf jegliche Tabus bezüglich Gewaltschilderungen. Edwin Kratschmer führt passend zu diesem Aspekt aus: Spätestens seit de Sade ist selbst die grausamste Sünde literarisch salonfähig geworden. Im zwanzigsten Jahrhundert hat sich die Ästhetik als philosophische Lehre jedoch zu einer Phänomenologie aller nur möglichen Lüste und Gelüste und eines hemmungslosen Genießens entwickelt, […] Der orgiastische Genuß hat sich als nahezu unendlich steigerbar erwiesen. […] Der Künstler ist Schöpfer ohne Scham und Schranke. Abject is in, ethic is out. Anything goes. Die Uralt-Forderung der Ästhetik nach Harmonie geht im lauten Schrei der Ekstase unter. Exzeß und Terror können ungebremst wüten.56

Friedrich Ani lässt die Imagination der Lesenden für sich arbeiten,57 indem er Gewalthandlungen lediglich andeutet. Die kindlichen Figuren geben nur Hin52 Ebd., S. 34. Die während des gesamten Textes wiederkehrende Phrase »logischerweise«, unterstreicht Hennings arroganten bis narzisstischen Charakter. Sein Verhalten erscheint ihm in seinen Augen nur logisch. Er ist nicht in der Lage oder gewillt, eine andere Position einzunehmen, um so sein Verhalten oder seine Formulierungen zu perspektivieren. 53 Ebd., S. 35. 54 Indem Henning betont, dass er einen ungestörten Platz für seine Tat suchte, wird deutlich, dass er sich bewusst war, dass er eine Straftat begeht. 55 Finn-Ole Heinrich: »Machst du bitte mit, Henning«, Ders.: Gestern war auch schon ein Tag. Erzählungen, Hamburg: mairisch 2009, S. 29–38, (S. 36). 56 Vgl.: Edwin Kratschmer : »Das ästhetische Monster Mensch«, Frankfurt am Main: Peter Lang GmbH 2002, S. 94f. 57 Susanne Kern spricht in ihrer Untersuchung zu Werken des Autors J. M. Coetzees, vom »Schweigen im Wort […] welches die Imagination des Lesers anregt, ihn in die Verantwortung nimmt und auffordert, über das Erzählte hinaus zu denken.« Susanne Kern: »Das Unsagbare erzählen. J. M. Coetzees ästhetische Strategien zur Darstellung von Gewalt«, Frankfurt am Main u. a.: Lang 2010, S. 13.

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weise, offenbaren jedoch nie vollständig, was »oben« passiert. Letztlich wird in beiden Fällen der »orgiastische Genuß«58 des oder der Lesenden befriedigt. Im Fall von Die unterirdische Sonne durch die Imagination des oder der Lesenden, im Fall von Machst du bitte mit, Henning durch ausführliche Gewalt- und Missbrauchsbeschreibungen an und von kindlichen Akteuren.

Beide bösen Kinder im narrativ-ästhetischen Vergleich Die verschiedenen Erzählperspektiven und narratologischen Strategien führen zu einer unterschiedlichen Bewertung der beiden Charaktere. Der Leserschaft ist es möglich, Sophias Beweggründe zu verstehen, da ihr seelischer Zerfall aufgrund des Missbrauchs nachvollzogen werden kann. In ihrem Fall personifiziert sich das Böse – sofern es mit gewalttätigem Handeln verbunden wird – in den Figuren der drei Entführer*innen und geht erst am Ende auf Sophia und die anderen Kinder über. So bewahrheitet sich am Beispiel der Figur Sophia die These Kümmerling-Meibauers, wonach es keine Darstellung des »abgrundtief Bösen ohne Erklärung oder Vorgeschichte«59 gäbe, da es literarisch reizvoller [sei] über die Ambivalenz der moralischen Kategorien gut versus böse zu reflektieren und [es der] Leserschaft [selbst] zu überlassen […] die frechen, rebellischen und bösen Mädchen [zu beurteilen].60

Die Konzeption der Figur Henning widerspricht hingegen dieser Prämisse, da Heinrich seinem Protagonisten keine »Erklärung oder Vorgeschichte«61 zugesteht. Hennings Beweggründe bleiben ungewiss. Darüber hinaus richtet sich sein Vergehen gegen einen kleineren und schwächeren Jungen, der ihm augenscheinlich nichts getan hat und einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war. Damit verliert er jegliches Sympathiepotenzial. Ihn der Kategorie der Bad Boys zuzuordnen wäre unpassend, da er vielmehr pathologisch denn rebellisch wirkt. Es scheint offensichtlich, dass nicht nur im Fall von weiblichen Figuren, sondern generell bei kindlichen Figuren unterschiedliche Facetten und Abstufungen von »bösem« Verhalten zu beobachten sind. An den Beispielen Henning und Sophia wird insbesondere die geschlechtsspezifische Differenz in der Qualität des Bösen deutlich. Nur der männlichen Figur ist es gestattet, in ihrer Bosheit ästhetisch 58 Vgl.: Edwin Kratschmer : »Das ästhetische Monster Mensch«, Frankfurt am Main: Peter Lang 2002, S. 94f. 59 Bettina Kümmerling-Meibauer: »Bad good girls in der internationalen Kinderliteratur. Vom Bilderbuch bis zur Young Adult Novel«, Möhrmann, Renate (Hrsg.): Rebellisch verzweifelt infam. Das böse Mädchen als ästhetische Figur. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 45–67, (S. 65). 60 Ebd. 61 Ebd.

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aufzugehen. Er quält grundlos, ist beleidigend und arrogant. Heinrich schöpft das ästhetische Potential der Bosheit einer kindlichen Figur voll aus und erschafft damit eine Figur, vor der sich der oder die Lesende in Abscheu abwendet. Zu klären ist, ob mit diesen unterschiedlichen Darstellungsweisen auf erziehungswissenschaftliche Diskurse rekurriert wird.

Erziehungswissenschaftliche Perspektiven – Rebellierende Jungen, sich anpassende Mädchen? Ob Verhaltensweise angeboren, oder im Laufe der Sozialisation erlernt werden, ist einer der zentralen Streitpunkte der Disziplin.62 Einigkeit besteht hingegen darin, dass es gewisse Verhaltensweisen und -muster gibt, welche (mutmaßlich) typisch männlich und typisch weiblich sind.63 Gemäß Dittmann bauen Jungen Türme, fechten mit Schwertern und schießen mit Pistolen – worin eine gewisse Zentrierung auf Phallussymbole zum Ausdruck kommt. Mädchen hingegen möblierten Ecken und Höhlen mit Puppengeschirr und spielen Familie. Während Jungen gegen ihr Umfeld rebellieren, neigen Mädchen dazu, sich an ihr Umfeld anzupassen.64 Dittmann führt dieses Verhalten zum Teil auf eine Verunsicherung von Jungen zurück. Jungen fühlen sich in den frühen Entwicklungsstufen von ihrem Umfeld, das in früher Kindheit meist überwiegend aus weiblichen Personen (Mutter, Erzieherinnen, Pflegerinnen usw.) besteht, bedroht. Das heißt sie fühlen sich von Weiblichkeit generell bedroht, bewaffnen sich, um sich selbst zu verteidigen und werten Weiblichkeit späterhin aus einem Schutzmechanismus heraus ab. Erwachsene Frauen wiederum sähen es als ihre Aufgabe an, ebenjene Jungen zu entwaffnen, um ihre eigene Weiblichkeit zu schützen.65 Dittmann spricht hier vom »Kriegsschauplatz der Geschlechter«66, der sich überall manifestiere, wo Männlichkeit und Weiblichkeit miteinander interagieren. Diese typisch männlichen und weiblichen Verhaltensweisen (vordringen/rebellieren vs. aufnehmen/anpassen) fänden sich bereits in der Samen62 Vgl.: Marianne Dittmann: »Das mit den Mädchen und den Jungs. Ein Versuch querzudenken«, Büttner, Christian und Marianne Dittmann (Hrsg.): Brave Mädchen – böse Buben? Erziehung zur Geschlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule. Weinheim und Basel: Beltz 1992, S. 10–20, (S. 10). Dennoch bietet es sich im Hinblick auf meine Forschungsfrage an, die Argumente beider Konzepte auszuführen und zu vergleichen, da Sophia und Henning gewissermaßen jeweils eines der beiden Konzepte repräsentieren. Sophias Bosheit wird ihr durch ihre Entführer anerzogen, Hennings Verhalten ist dagegen nicht auf ein bestimmtes Ereignis zurückzuführen. 63 Vgl.: ebd., S. 10f. 64 Vgl.: ebd. 65 Vgl.: ebd., S. 18. 66 Ebd., S. 12.

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und Eizelle, was er unter Bezugnahme auf Lou Andreas-Salom8s Aufsatz Der Mensch als Weib, in dem sie den Geschlechtszellen ebenjene geschlechtsspezifischen Eigenschaften von Mann und Frau zuschreibt, ausführt. Dass dieser Aufsatz aus dem Jahr 1899 durchaus kontrovers diskutiert wurde und wird, nimmt Dittmann ebenfalls zur Kenntnis. Als Beispiel für die langjährige und hartnäckige Verankerung von »wissenschaftlichen« Abhandlungen zum Ursprung geschlechtsspezifischer Unterschiede, erscheint der Verweis auf diesen Aufsatz jedoch durchaus interessant. Ein zeitgemäßerer Ansatz besteht hingegen in der Annahme, dass geschlechtsspezifisches Verhalten in der Interaktion mit dem anderen beziehungsweise dem eigenen Geschlecht erlernt wird. Auch Christian Büttner fokussiert die Auswirkungen, die eine überwiegend weiblich geprägte Umgebung auf die Entwicklung eines Mädchens haben könne und konstatiert: »Der Wunsch der Mädchen nach Autonomie und Selbstfindung verdichtet sich in der Schwierigkeit, eine von der Mutter unterschiedene Selbstrepräsentanz zu entwickeln.«67 Thomas Hüller geht in diesem Zusammenhang auf die fehlenden Möglichkeiten der Mädchen ein, das andere Geschlecht zu bearbeiten, es zu umgarnen und sich davon abzugrenzen. […] Ihre experimentelle Lust an Grenzüberschreitungen findet zu wenig Anregung. […] Ihnen bleibt vor allem deshalb [lediglich] die Möglichkeit der Nachahmung beobachteten weiblichen Verhaltens.68

Er bezieht sich hierbei auf eigene Erfahrungen als Erzieher in einer Kindertagesstätte. In diesem Umfeld sei er als Mann eine Rarität, unter überwiegend weiblichen Kolleginnen. Diese sähen in den Jungen entweder den »kleine[n] galante[n] Casanova«69 oder den »bauklotzwerfende[n] oder pistoletragende[n] Cowboy.«70 Dadurch erregten die Jungen die überwiegende Aufmerksamkeit der Erzieherinnen, egal ob positive oder negative, und würden entsprechend öfter Gegenstand von Fallbesprechungen werden. Diese Überhöhung der Jungen geschehe unterbewusst und sei eine Herausforderung für die Erzieherinnen, ebenso wie es für Hüller eine Herausforderung sei, wenn er »rollende[n] Lo-

67 Christian Büttner : »Die Entwicklung geschlechtsspezifischer Identität. Theoretische Grundlagen«, Büttner, Christian und Marianne Dittmann (Hrsg.): Brave Mädchen – böse Buben? Erziehung zur Geschlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule. Weinheim und Basel: Beltz 1992, S. 20–34, (S. 23). 68 Thomas Hüller : »Zum Umgang mit Geschlechtsidentifikationen in der Kindertagesstätte«, Büttner, Christian und Marianne Dittmann (Hrsg.): Brave Mädchen – böse Buben? Erziehung zur Geschlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule. Weinheim und Basel: Beltz 1992, S. 44–56, (S. 51). [Hervorhebung im Original] 69 Ebd. 70 Ebd.

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litaaugen gegenüberstehe.«71 Es wäre also durchaus interessant zu erforschen, ob – und wenn ja welche – Veränderung im Verhalten von Mädchen feststellbar wäre, wenn sie in frühen Entwicklungsstufen mit mehr Männern konfrontiert würden.

(Rollen-)Spiel gegen das Böse? Christian Büttner betont in seinem Aufsatz Barbie und He-Man – Spielfiguren für Träume und Albträume das Konfliktpotenzial zwischen Wünschen und Verboten, das jedem Kind (und Erwachsenem) inhärent sei. Es sei normal, dass Kinder Aggressionen und realitätsunangemessene, verpönte Wünsche und Fantasien haben und diese ausleben wollen.72 Hier findet sich eine erste Parallele zur Figur Henning. Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, inwieweit Aggressionen, Wünsche und Fantasien von Kindern ausgelebt werden. In gesundem Maße geschieht dies nämlich im (Rollen-)Spiel.73 Einem Kind ist es hier möglich, ebenjenes verpönte Verhalten auszuleben, ohne sich selbst oder anderen zu schaden. Im kindlichen Spiel könne das Kind eine Pistole ziehen und wild herumballern, auf dem Küchentisch eine blutige Operation an einem Freund oder einer Freundin vornehmen, oder eben mit He-Man und Barbie spielen und darüber seine inneren Bedürfnisse und Befindlichkeiten kommunizieren.74 In diesem Kontext scheint bei Henning der geschützte Raum des Spielens Risse bekommen zu haben, oder er hat möglicherweise nie existiert. Sein Verhalten weist Ähnlichkeiten zu einem Kind auf, welchem die oben genannten verpönten, bösen Fantasien und Spielweisen verboten wurden, mit dem Ziel, damit das Böse per se von dem Kind fernzuhalten. Die Wirksamkeit eines solchen Vorgehens ist durchaus zweifelhaft. Büttner bezeichnet den Versuch sogar als naiv, denn [d]ie pädagogische Unterdrückung von ›bösen‹, ›unästhetischen‹, und ›unangemessenen‹ Wünschen und Phantasien führt regelhaft zu erheblichen Schuldgefühlen, die sich dann als Symptome und/oder als Aggressionen gegen Fremde oder die eigene Person äußern können.75

71 Ebd. 72 Vgl.: Christian Büttner und Urte Finger-Trescher : »Barbie und He-Man. Spielfiguren für Träume und Albträume«, Büttner, Christian und Marianne Dittmann (Hrsg.): Brave Mädchen – böse Buben? Erziehung zur Geschlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule. Weinheim und Basel: Beltz 1992, S. 157–164, (S. 162). 73 Vgl.: ebd., S. 161. 74 Vgl.: ebd. 75 Ebd., S. 162. [Hervorhebung im Original]

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Das Verbot eines verpönten Verhaltens oder unangemessener Wünsche bewirkt also keinesfalls, dass das Verhalten oder die zugrundeliegenden Wünsche eingestellt werden oder einfach verschwinden. Vielmehr bewirkt das Verbot eine gegenteilige Wirkung und äußert sich in pervertierten Versionen des ehemals verpönten, unangemessenen Verhaltens.76 Analog hierzu findet sich in Die unterirdische Sonne das Verbot, über die Misshandlungen durch die Entführer*innen zu sprechen. Dieses Verbot entfremdet die Kinder voneinander und führt zu gruppeninternen Spannungen und Aggressionen. Diese werden zumindest zum Teil aufgelöst, wenn die Kinder dazu übergehen, sich Märchen zu erzählen, in die Metaphern und Symbole eingebunden werden, um ein Ventil für das Erlebte zu generieren. Auch hier zeigt sich: das Verbot bewirkt nicht die Aufgabe der Wünsche und Gefühle, sondern diese äußern sich lediglich in einer anderen Form. Zu erwähnen ist jedoch, dass das Sprechverbot hier nicht dazu dient »›bösen‹, ›unästhetischen‹, und ›unangemessenen‹ Wünschen und Phantasien«77 Einhalt zu gebieten, sondern dazu, die Macht der Entführer*innen gegenüber den Kindern aufrecht zu erhalten. Überdies lassen sich die »Symptome und/oder [die] Aggressionen gegen Fremde oder die eigene Person«78 der Kinder überwiegend auf den Missbrauch zurückführen, und nicht auf das Sprechverbot. Im Fall der Figur Henning ist eine »Aggression gegen Fremde«79 offensichtlich. Diese äußert sich in Gewalthandlungen gegenüber dem kleinen Jungen und zusätzlich in verbalen, abfälligen Äußerungen über seinen Vater und die Erzieher*innen. Pathologisch erscheint dieses Verhalten, da er keine Schuldgefühle zeigt, die gemäß Büttner durch die, dem Verbot zuwiderlaufende Handlung oder bereits Wunschvorstellung, ausgelöst werden müssten. Die erziehungswissenschaftliche Perspektive gilt es demnach um eine psychologische bzw. psychoanalytische Perspektive zu ergänzen, um die Facetten dieser Figur zu analysieren.

76 Ich möchte in diesem Kontext auf das Drama Frühlings Erwachen – Eine Kindertragödie (1891) von Frank Wedekind verweisen. Wedekind stellt anschaulich dar, wie das Verbot von – in diesem Fall sexueller Neugier und Entfaltung – zu »pervertierenden« Verhaltensweisen und psychischen Störungen beiträgt. So führt in seinem Stück die fehlende sexuelle Aufklärung zu einer ungewollten Schwangerschaft, wobei die 14jährige Figur bei dem von der Mutter initiierten Abtreibungsversuch ums Leben kommt. Der jugendliche Protagonist, der sie geschwängert hat, verzweifelt hierüber und (ver)zweifelt an seiner Existenz. 77 Christian Büttner und Urte Finger-Trescher : »Barbie und He-Man. Spielfiguren für Träume und Albträume«, Christian Büttner / Marianne Dittmann (Hrsg.): Brave Mädchen – böse Buben? Erziehung zur Geschlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule. Weinheim und Basel: Beltz 1992, S. 157–164, (S. 161). 78 Ebd. 79 Ebd.

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Henning als Narzisst – Psychoanalyse: Integrierter, kindlicher und desintegrierter Narzissmus Hennings Gedanken- und Gefühlswelt weisen Charakteristiken auf, wie etwa fehlendes Empathievermögen, Arroganz und Hass auf sein Umfeld. In diesem Zusammenhang möchte ich das Konzept des Narzissten aus der Psychoanalyse vorstellen. Wilfried Gottschalch unterscheidet hier zwischen drei Formen des Narzissmus: Kindlicher, integrierter und desintegrierter Narzissmus.80 Der Integrierte Narzissmus ist jene Art, welche in jedem Menschen in gesundem Maße vorherrschend sei. Solange dieser im Seelenleben gut integriert sei, sich im dynamischen Gleichgewicht mit anderen psychischen Kräften befinde, sei auch das Individuum nicht als narzisstisch im pathologischen Sinne zu bezeichnen. Der s.g. kindliche Narzissmus äußere sich durch Schwankungen zwischen »Allmachtsphantasien und Ohnmachtsgefühlen, [zwischen] Fabulierlust und rücksichtslose[r] Selbstbezogenheit.«81 Auch der kindliche Narzissmus sei üblicherweise nicht als pathologisch einzustufen, da Eltern, Erzieher*innen und das übrige Umfeld eines Kindes, es vor negativen Folgen seines kindlichen Narzissmus schützten. Der desintegrierte Narzissmus habe seinen Ursprung in einem Gefühl des Nicht-geliebt-werdens und führe zu Selbsthass. Damit dieser Selbsthass nicht zu Selbstschädigung führt, müsse er nach außen gewandt, d. h. gegen Andere gerichtet werden. Dieses Verhalten führe wiederum zu einem gespiegelten Hass oder Abneigung des Umfeldes, sodass eine Spirale entsünde.82 Im Fall der Figur Henning überschneiden sich die Merkmale des kindlichen und des desintegrierten Narzissmus. Aufgrund der Leerstellen hinsichtlich der kindlichen Entwicklung der Figur, kann allenfalls darüber spekuliert werden, ob fehlende Liebe und Aufmerksamkeit von Seiten der Eltern zu seinem Verhalten beigetragen haben könnten. Offensichtlich ist jedoch, dass er durch die Misshandlung des kleinen Jungen Omnipotenzfantasien befriedigt, die er im Haus Hirte Heim nicht mehr ausleben kann, weshalb sich das hiermit verbundene Ohnmachtsgefühl in ablehnendem Verhalten gegenüber den Autoritätspersonen in seinem Umfeld äußert. Auch im Kontext der kriminologischen Psychologie wird die narzisstische Persönlichkeitsstörung thematisiert.

80 Vgl.: Wilfried Gottschalch: »Männlichkeit und Gewalt. Eine psychoanalytisch und historisch soziologische Reise in die Abgründe der Männlichkeit«, Weinheim und München: Juventa 1997, S. 43. 81 Ebd. 82 Ebd.

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Zum kriminologischen Profil der Figur Henning Lydia Benecke bezieht sich bei ihrer Definition der narzisstischen Persönlichkeitsstörung auf das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen – DSM-5. Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung sei »durch ein tiefgreifendes Muster von Großartigkeit (in Fantasie oder Verhalten), Bedürfnis nach Bewunderung und Mangel an Empathie«83 gekennzeichnet. Genannt werden neun Merkmale, von denen fünf über einen längeren Zeitraum zu beobachten sein müssten, um einer Person eine narzisstische Persönlichkeitsstörung zu attestieren. Auf die Figur Henning lassen sich fünf dieser Merkmale anwenden, sodass die Figur aus einer modernen psychologischen Perspektive als Narzisst bezeichnet werden kann.84 Diese Merkmale überschneiden sich. So zeigen seine inneren Monologe Überheblichkeit und Arroganz, wenn er sich beispielsweise fragt: »[…] wem ist das schon aufgefallen, außer mir eigentlich? Alle benutzen immer die gleichen Sätze, manchmal, und Bewegungen auch, hej.«85 Diese Arroganz zeigt sich auch im Dialog mit seinem Vater : »›Das Prinzip, das erkläre ich dir, wenn du groß bist‹, sagt Papa immer und ich schnaufe, damit er schnallt, dass ichs geschnallt hab, sein oberkluges Prinzip.«86 Es wird deutlich, dass er eine hohe Meinung von sich selbst und seinem Intellekt hat. Er glaubt »das Prinzip« und System des Heims (als einziger) durchschaut zu haben: »So funktioniert das, Frau Heinsohn und Herr Kornberger wollen in die Gedanken gucken und in Haus Hirte Heim für gestörte Kinder muss man seine Gedanken verstecken, so geht das hier«87 und äußert sich gedanklich durchweg abfällig über sein Umfeld, insbesondere die Institution un die Betreuer*innen. Als er einen Witz macht und die anderen Jungen nicht angemessen reagieren, sondern im Gegenteil gewalttätig werden, tut er ihr Verhalten als Neid ab und diffamiert sie: »Aber die beiden sind sowieso dumm im Kopf, die gehen auf die

83 Lydia Benecke: »Psychopathinnen. Die Psychologie des weiblichen Bösen«, Köln: Lübbe 2018, S. 219. 84 Hierbei handelt es sich um die folgenden Merkmale: »Glaubt von sich, besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder angesehenen Personen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder nur mit diesen verkehren zu können. Verlangt nach übermäßiger Bewunderung. Zeigt einen Mangel an Empathie: Ist nicht willens, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren. Ist häufig neidisch auf andere oder glaubt, andere seien neidisch auf ihn/sie. Zeigt arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen.« DWM-5 zitiert nach: Lydia Benecke, ebd. 85 Finn-Ole Heinrich: »Machst du bitte mit, Henning«, Ders.: Gestern war auch schon ein Tag. Erzählungen, Hamburg: mairisch 2009, S. 29–38, (S. 32). 86 Ebd., S. 31. 87 Ebd.

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Sonderschule88 mit den Behinderten, echt, kein Wunder, dass die keinen Humor haben, hej.«89 Das Merkmal, das am stärksten auf die Figur zutrifft, ist jenes der Empathielosigkeit. Die Beschreibung des Missbrauchs an dem kleinen Jungen ist völlig unvermittelt in die Gedankengänge der Figur integriert und zeugt von seiner Empathielosigkeit: Dann wollte er nicht weiter, am Ende der Straße, aber ich hab gesagt ›Dann hau ich dir so lange ins Gesicht, bis du aus beiden Augen rausblutest.‹ Dann ist der kleine Junge mitgekommen. Wir waren eigentlich ganz freundlich miteinander.90

Auffällig scheint hier die Bezeichnung Manuels als »kleiner Junge.«91 Es wird deutlich, dass sich die Figur darüber im Klaren ist, dass es sich bei seinem Opfer um ein ihm unterlegenes Kind handelt. Dies betont er sogar durch die Beobachtung: »Ich war viel stärker als der kleine Junge.«92 Gleichzeitig wird eine gewisse Distanzierung deutlich, wenn er den Jungen mit Tieren vergleicht. Der kleine Junge »zwitschert mit seiner kleinen Stimme, […] wie […] ein Vogel. Und er hat feuchte Lippen, […] wie ein Hund, […].«93 Fehlendes Empathievermögen gepaart mit Arroganz und Omnipotenzfantasien führen zur Abwertung des kleinen Jungen und machen die psychopathischen Tendenzen der Figur deutlich. Die Figur verkörpert auf geradezu erschreckend anschauliche Art das Böse, welches durch psychopathische Verhaltensmuster Gestalt annimmt.

Böse Frauen = Böse Mütter? – Das weibliche Böse aus psychoanalytischer Perspektive Während Sophia aufgrund der Lesendenlenkung aus der Verantwortung für ihre Taten entlassen wird, weist die namenlose Entführerin einige Ähnlichkeiten mit der Figur Henning aus Heinrichs Kurzgeschichte auf. Sie steht zudem stellvertretend für eine Mutterfigur, wobei es sich bei ihr um die interessante Form einer wirklich bösen Mutter handelt, wie sie beispielsweise in Form der bösen Stiefmutter in Volksmärchen erscheint. 88 Diese Aussage könnte auch so interpretiert werden, dass Henning ein anderes Schulsystem besuchen darf beziehungsweise durfte. Demnach könnte er durchaus über intellektuelle Fähigkeiten verfügen, auch wenn diese in der Geschichte nicht wirklich hervorgehoben werden. 89 Finn-Ole Heinrich: »Machst du bitte mit, Henning«, Ders.: Gestern war auch schon ein Tag. Erzählungen, Hamburg: mairisch 2009, S. 29–38, (S. 33). 90 Ebd., S. 30. 91 Vgl.: ebd. 92 Ebd., S. 37. 93 Ebd., S. 32.

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Gemäß Gotschalch kränke die Frau als Mutter den angeborenen Narzissmus, da sie verdeutliche, dass wir geboren werden und sterben müssen wie jedes andere Säugetier auch.94 So werde im Mythos die Mutter stets mit Leben und Tod assoziiert: da die Mutter mit der Mutter Erde, also der Natur, im Zusammenhang steht, würde eine Rückkehr in den Mutterschoß eine Rückkehr in die Erde, in die Natur bedeuten.95 Die Symbiose mit der Mutter werde von beiden Geschlechtern sowohl ersehnt als auch gefürchtet.96 Diese Furcht vor einer Symbiose mit der Mutter kann auf das Verhalten der Charaktere aus Die unterirdische Sonne übertragen werden. Die Entführerin aus Die unterirdische Sonne verkörpert die der Mutter in diesem Sinne zugeschriebene »ertränkende, einsaugende, überwältigende«97, »verschlingende, festhaltende, irreleitende«98 Art und kann dementsprechend als eine angsteinflößende Mutterimago gelesen werden, aus deren Einflussbereich es sich zu lösen gilt. Dieser Befreiungsakt wird durch die Flucht der Kinder und den Mord an der Frau vollzogen. Die Entführerin weist allerdings nicht die typische Ambivalenz von Furcht und Sehnsucht auf; dieses Spannungsverhältnis wird vielmehr durch die Verteilung mütterlicher Attribute auf verschiedene weibliche Figuren transparent,99 was insbesondere in der Perspektive der Figur des 12-jährigen Leons deutlich wird. Vor der Entführerin fürchtet er sich, während er in Gedanken oft an seine 94 Wilfried Gottschalch: »Männlichkeit und Gewalt. Eine psychoanalytisch und historisch soziologische Reise in die Abgründe der Männlichkeit«, Weinheim und München: Juventa 1997, S. 93. 95 Ich möchte hier auf den Satz der Entführerin aus Die unterirdische Sonne verweisen: »Zurück unter die Erde! Zurück!« (Friedrich Ani: »Die unterirdische Sonne«, München: cbt 2014, S. 276). In diesem Kontext bietet es sich an, diesen Aufruf als Vorausschau auf das für die Kinder vorgesehene Schicksal zu deuten. Die Figur verkörpert damit ebenjene angstmachende Frauenfigur, welche mit ihrer »Mütterlichkeit« droht zu »ertränken, einzuziehen und zu überwältigen.« Wilfried Gottschalch: »Männlichkeit und Gewalt. Eine psychoanalytisch und historisch soziologische Reise in die Abgründe der Männlichkeit«, Weinheim und München: Juventa 1997, S. 93. bzw. zu »verschlingen[n], fest[zu]halten, irre[zu]leiten«. Ernst Beer: »Vernichtungs- und Rettungsphantasien in der Kinder- und Jugendliteratur«, Zwettler-Otte, Sylvia (Hrsg.): Von Robinson bis Harry Potter. Kinderbuch-Klassiker psychoanalytisch. München und Basel: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2002, S. 46. 96 Vgl.: Wilfried Gottschalch: »Männlichkeit und Gewalt. Eine psychoanalytisch und historisch soziologische Reise in die Abgründe der Männlichkeit«, Weinheim und München: Juventa 1997, S. 168. 97 Ebd., S. 93. 98 Ernst Beer: »Vernichtungs- und Rettungsphantasien in der Kinder- und Jugendliteratur«, Zwettler-Otte, Sylvia (Hrsg.): Von Robinson bis Harry Potter. Kinderbuch-Klassiker psychoanalytisch. München und Basel: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2002, S. 46. 99 Ernst Beer betont in seinem Beitrag den Aspekt einer »rettende[n], liebevolle[n] Weiblichkeit, welche dem Bösen nebenan gestellt wird«. Ernst Beer: »Vernichtungs- und Rettungsphantasien in der Kinder- und Jugendliteratur«, Zwettler-Otte, Sylvia (Hrsg.): Von Robinson bis Harry Potter. Kinderbuch-Klassiker psychoanalytisch. München und Basel: Deutscher Taschenbuch 2002, S. 46.

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Mutter denkt und sich nach ihr sehnt. Diese positiven Gefühle überträgt er auf Sophia, welche für ihn einen Mutterersatz darstellt. Interessant ist, dass Leon scheinbar gegenüber beiden entführten Mädchen starke Gefühle, bis hin zur Lust empfindet. Seine Wahl trifft schließlich nicht auf die zunächst mütterlich agierende Sophia, sondern auf Maren. Dies könnte dahingehend interpretiert werden, dass es ihm gelingt, sich in mehrfacher Hinsicht aus der Symbiose mit der Mutter zu lösen (durch die Flucht vor der Entführerin und durch die Wahl Marens als Liebesobjekt). Die unterirdische Sonne thematisiert demnach auch die menschliche Furcht vor dem Mütterlichen und damit die Furcht vor dem Weiblichen.100

Fazit Mit Blick auf die Literaturgeschichte wird deutlich, dass Mädchenfiguren nicht so »böse« handeln durften (und teilweise dürfen) wie Jungenfiguren. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass sich böses Verhalten zunächst auf unangepasstes und rebellisches Verhalten beschränkte101 und bis heute ein Umdenken mit dem Ziel der Emanzipation kindlicher Figuren stattgefunden hat. Dennoch dürfen auch heute noch insbesondere Mädchen zumindest nicht grundlos böse sein. Dieses Mädchenbild vermittelt auch Friedrich Ani durch Sophia. Insbesondere im Vergleich zu Finn-Ole Heinrichs Henning fällt auf, dass Sophia nicht für ihre Tat verantwortlich gemacht werden kann. Die psychoanalytische Perspektive macht die psychopathischen Tendenzen der Figur Henning aus Heinrichs Kurzgeschichte sowie der bösen Mutterimago aus Die unterirdische Sonne deutlich. Die Entführerin verkörpert stärker als Sophia das weibliche Böse, da sie aufgrund ihrer destruktiven (Mutter-)Rolle nicht aus der Verantwortung für ihr Handeln entlassen wird. Die Entführerin und die Figur Henning gleichen sich hinsichtlich der narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die beiden Figuren attestiert werden kann. Beide wenden sich gegen Kinder/Jugendlich und quälen bzw. misshandeln diese. In diesem Zusammenhang ist es auffällig, dass gewalttätige Väter anders bewertet werden als gewalttätige Mutterfiguren. Denn eine Mutter, die ihr oder ein Kind misshandelt, erscheint dämonischer als eine gewalttätige Vaterfigur ; und

100 Ich setze hier Weiblichkeit und Mütterlichkeit in einen engen Zusammenhang, da Gebärfähigkeit und Mutterschaft in jeder Kultur als »weiblich« angesehen werden. Ich möchte damit jedoch nicht eine subjektive Meinung zum Ausdruck bringen, wonach sich Weiblichkeit ausschließlich durch Mutterschaft äußert. 101 Da die Bezeichnung »böse«, entsprechend der zitierten lexikalischen Definition hier unpassend erscheint.

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eine Mutter, die ihr eigenes Kind tötet, ist das personifizierte Böse schlechthin.102 Damit eröffnet sich eine neue Dimension im Hinblick auf die Genderspezifik des Bösen. Anhand der beiden Beispiele wird deutlich, dass Jungenfiguren tatsächlich häufiger abgrundtief böse und unmoralisch handeln (dürfen) als weibliche Figuren.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Ani, Friedrich: »Die unterirdische Sonne«, München: cbt 2014. Heinrich, Finn-Ole: »Machst du bitte mit, Henning«, Ders.: Gestern war auch schon ein Tag. Erzählungen, Hamburg: mairisch 2009, S. 29–38. Wedekind, Frank: »Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie«, 6. Aufl., München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2008.

Sekundärliteratur Alt, Peter-Andr8: »Ästhetik des Bösen«, München: C. H. Beck 2010. Beer, Ernst: »Vernichtungs- und Rettungsphantasien in der Kinder- und Jugendliteratur«, Zwettler-Otte, Sylvia (Hrsg.): Von Robinson bis Harry Potter. Kinderbuch-Klassiker psychoanalytisch. München und Basel: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2002, S. 41–62. Benecke, Lydia: »Psychopathinnen. Die Psychologie des weiblichen Bösen«, Köln: Lübbe 2018. Büttner, Christian: »Die Entwicklung geschlechtsspezifischer Identität. Theoretische Grundlagen«, Ders. / Dittmann, Marianne (Hrsg.): Brave Mädchen – böse Buben? Erziehung zur Geschlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule, Weinheim und Basel: Beltz 1992, S. 20–34. Büttner, Christian / Dittmann, Marianne: »Vorwort«, Dies. (Hrsg.): Brave Mädchen – böse Buben? Erziehung zur Geschlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule, Weinheim und Basel: Beltz 1992, S. 7–10. Büttner, Christian und Urte Finger-Trescher : »Barbie und He-Man. Spielfiguren für Träume und Albträume«, Büttner, Christian und Marianne Dittmann (Hrsg.): Brave Mädchen – böse Buben? Erziehung zur Geschlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule, Weinheim und Basel: Beltz 1992, S. 157–164. Dittmann, Marianne: »Das mit den Mädchen und den Jungs. Ein Versuch querzudenken«, Ders. / Büttner, Christian (Hrsg.): Brave Mädchen – böse Buben? Erziehung zur Ge102 Vgl.: Wilfried Gottschalch: »Männlichkeit und Gewalt. Eine psychoanalytisch und historisch soziologische Reise in die Abgründe der Männlichkeit«, Weinheim und München: Juventa 1997, S. 21.

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schlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule. Weinheim und Basel: Beltz 1992, S. 10–20. Gottschalch, Wilfried: »Männlichkeit und Gewalt. Eine psychoanalytisch und historisch soziologische Reise in die Abgründe der Männlichkeit«, Weinheim und München: Juventa 1997. Haas, Laura: »Das Böse und das (böse) Kind. Der literarische Umgang mit dem Bösen in Friedrich Anis Roman Die unterirdische Sonne«, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Hausarbeit 2018. Hüller, Thomas: »Zum Umgang mit Geschlechtsidentifikationen in der Kindertagesstätte«, Büttner, Christian / Dittmann, Marianne (Hrsg.): Brave Mädchen – böse Buben? Erziehung zur Geschlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule, Weinheim und Basel: Beltz 1992, S. 44–56. International Institute for Children’s Literature and Reading Research: »Von denen, die auszogen und das Fürchten lernten. Zum Bösen und Häßlichen in der Kinder- und Jugendliteratur ; Ergebnisse der 30. Tagung des Internationalen Instituts für Jugendliteratur und Leseforschung; Söchau (Stmk.), 14.–19. August 1994«, Wien: Internationales Institut für Jugendliteratur und Leseforschung 1995. Kern, Susanne: »Das Unsagbare erzählen. J. M. Coetzees ästhetische Strategien zur Darstellung von Gewalt«, Frankfurt am Main u. a.: Lang, 2010. Kratschmer, Edwin: »Das ästhetische Monster Mensch«, Frankfurt am Main: Peter Lang 2002. Kümmerling-Meibauer, Bettina: »Bad good girls in der internationalen Kinderliteratur. Vom Bilderbuch bis zur Young Adult Novel«, Möhrmann, Renate (Hrsg.): Rebellisch verzweifelt infam. Das böse Mädchen als ästhetische Figur, Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 45–67. Lehne, Stefanie: »Jugendliteratur der Extreme. Tabubrüche und Grenzüberschreitungen«, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Magisterarbeit 2010. Möhrmann, Renate: »Einleitung«, Ders. (Hrsg.): Rebellisch verzweifelt infam. Das böse Mädchen als ästhetische Figur. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 11–23. Ohlmeier, Dieter : »Psychoanalytische Bemerkungen zu Daniel Defoes Robinson Crusoe und zur Erstellung klassischer Literatur als Jugendliteratur«, Zwttler-Otte, Sylvia (Hrsg.): Von Robinson bis Harry Potter. Kinderbuch-Klassiker psychoanalytisch, München und Basel: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2002, S. 115–133. Wild, Inge: »Das ganz andere Mädchen. Überlegungen zu Astrid Lindgrens Kinderbuchklassiker Pippi Langstrumpf«, Möhrmann, Renate (Hrsg.): Rebellisch verzweifelt infam. Das böse Mädchen als ästhetische Figur. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 23–45.

Onlinequellen Duden: »böse«, verfügbar unter : https://www.duden.de/rechtschreibung/boese [23. 12. 2018]. Duden: »kindlich«, verfügbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/kindlich [23. 12. 2018].

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Wissen.de: »Lexikon. Böse«, verfügbar unter: https://www.wissen.de/lexikon/boese [23. 12. 2018]. Wissen.de: »Wahrig Herkunftswörterbuch. Böse«, verfügbar unter : https://www.wissen. de/wortherkunft/boese [23. 12. 2018]. Wortbedeutung.info: »böse«, verfügbar unter : https://www.wortbedeutung.info/böse/ [23. 12. 2018].

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Das Haus als Abbild der Seele: Pathogene Behausungen und die Gefängnismetaphorik der Anorexie in Lara Schützsacks Und auch so bitterkalt

Einleitung Was geschieht, wenn eine Erkrankung den eigenen Körper zum Gefängnis werden lässt? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Ärztin und Psychoanalytikerin Hilde Bruch, indem sie in ihrer Monographie1 die Metapher des Käfigs auf den Ausbruch des Krankheitsbildes der Anorexie bezieht. Auch die jugendliche Erzählerin Malina aus Lara Schützsacks Roman Und auch so bitter kalt (2016) bezeichnet den Körper ihrer magersüchtigen Schwester als »ein[en] zerbrechliche[n] Käfig.«2 Kann der Körper demnach als Behausung verstanden werden, zu der Erkrankte den gesunden Zugang verloren haben und der sie so zu Insass*innen ihrer Selbst werden lässt? Symbolisiert dieser Umstand einen gescheiterten Kampf um Selbstbestimmung und Autonomie und stellt so den bewusst gewollten Zerfall der/des Einzelnen dar? Um dies zu beantworten, wird zu Beginn der folgenden Analyse eine Definition der Magersucht vorgestellt und im Anschluss der Einfluss der weiblichen Adoleszenz untersucht sowie der familiäre Umgang mit der Krankheit thematisiert. Ergänzend wird das Verhältnis zwischen der Protagonistin und ihren Eltern fokussiert und somit aufgezeigt, dass Lucindas Erkrankung einen äußeren Kampf um Autonomie miteinschließt. Anschließend wird die Institution des Gefängnisses sowie die Metapher des Käfigs mit Lucindas Anorexie und ihrem inneren Machtkampf verglichen, um die Verbindung zwischen Krankheit und Behausung zu veranschaulichen. Zudem wird die Signifikanz der Ich-Grenzen erläutert und untersucht, wie sich Störungen dieser in der Magersucht manifestieren. Im Weiteren wird mithilfe verschiedener wissenschaftlicher Texte erschlossen, welche Bedeutung dem Wohnraum des Hauses zukommt und inwiefern dieser als Abbild von Lucindas 1 Hilde Bruch: »Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht«, 19. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 2010. 2 Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016. [Hervorhebung: A. A.]

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Krankheit sowie ihrer Wünsche, Sehnsüchte und Ängste verstanden werden kann und ob er daher als pathogene Behausung gilt. Der Fokus wird dabei auf den Keller, die Küche, die vor allem die Mutter-Tochter Beziehung widerspiegelt, und letztlich auf die Besonderheiten des Kinderzimmers gerichtet, das für Lucinda einen bedeutsamen Mittelpunkt innerhalb ihrer Umwelt darstellt. Im Hinblick auf den Ausgang des Romans wird abschließend der Zusammenhang zwischen Krankheit und Raum bewertet und folglich bewiesen, dass sich das Haus und Lucindas psychischer Zustand aus der Sicht der kindlichen Erzählperspektive Malinas wechselseitig beeinflussen.

Die Magersucht – Wenn der Körper zum Erzfeind wird »Es sieht aus, als könne sie [Lucinda] jeden Moment zerbrechen.«3 So beschreibt die homodiegetische Erzählerin Malina ihre an Anorexie erkrankte Schwester Lucinda in Lara Schützsacks Roman Und auch so bitter kalt. Dieser Vergleich verdeutlicht die drastischen Einwirkungen, die der Körper der meist adoleszenten Mädchen erleidet. Wenn nach möglichen Auslösern für die Magersucht gefragt wird, kann die Wissenschaft keine expliziten Antworten geben. Nichtsdestoweniger gibt es derweil zahlreiche Studien, die sich mit der Erkrankung und ihrem historischen Wandel sowie ihren Symptomen und Ursachen beschäftigen. Die Nahrungsverweigerung bzw. das disziplinarische Hungern spielen für viele Betroffene eine Rolle. Wie lässt sich dieses deviante Verhalten innerhalb einer von Wohlstand geprägten und genussorientierten modernen Welt erklären? Um dies zu beantworten, wird die Anorexie im Folgenden mithilfe einer wissenschaftlichen Studie Tilmann Habermas’4 definiert.

Zur Definition des Krankheitsbildes Habermas stellt zunächst den Begriff der Anorexia nervosa vor, der synonym mit der Magersucht verwendet wird und wörtlich mit »eine[m] psychisch bedingten Appetitverlust«5 übersetzt werden kann. Im Weiteren erklärt er jedoch, dass diese Definition falsch sei, da das Hungern zwar zeitweise zu einem Verlust des Appetits führe, das auftretende Hungergefühl allerdings aktiv von der Patientin bekämpft würde. Nahrung werde dementsprechend zu einem ständigen, immer 3 Ebd., S. 62. 4 Tilmann Habermas: »Zur Geschichte der Magersucht. Eine medizinpsychologische Rekonstruktion«, Frankfurt am Main: Fischer 1994. 5 Ebd., S. 17.

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wichtiger werdenden Begleiter der Magersüchtigen.6 Darüber hinaus führt er den Aspekt der Verleugnung aus, der bei zahlreichen Erkrankten zu beobachten ist. Sie leiden – äußerlich und zu Beginn der Krankheit – nicht unter der Abmagerung, sondern fühlen sich durch diese befriedigt und gut.7 Habermas deutet die Magersucht in diesem Zusammenhang als »Versuch der intrapsychischen wie interpersonellen Selbstbehauptung,«8 der sich als Kampf um Autonomie, Identität und Selbstkontrolle äußere. Es gehe dabei um den »Versuch einer Art Selbstreform«9 am eigenen Körper, der den Fokus auf das Essen und das Körpergewicht lege, um so die von den Betroffenen geäußerte Hoffnung zu erfüllen, selbstbestimmt über ihren Körper entscheiden zu können. Dieses Gefühl der Selbstbestimmung gehe auf die disziplinarische Verweigerung und Bezwingung des Hungergefühls zurück, aus der sie jegliches Selbstwertgefühl schöpfe.10 Demzufolge erlebe die Erkrankte eine Gewichtszunahme »als den letzten Schritt zur völligen Selbstaufgabe.«11 Abschließend geht Habermas auf die Behauptung ein, Magersucht resultiere – ähnlich wie die Bulimie – aus dem Glauben, einem utopischen Schönheitsideal gerecht werden zu müssen. Er negiert diese Aussage und erläutert, dass sich Magersüchtige gegen ebendiese Erwartung aufzulehnen und zu behaupten suchen. Daher gehe der als Ideal wahrgenommene Zustand einer Erkrankten nicht auf das Bild einer (sexuell) attraktiven Frau, sondern auf die Geschlechtslosigkeit zurück.12 Grundlegende Veränderungen bezüglich des Verhältnisses zur Sexualität lassen sich vorrangig in der Adoleszenz beobachten. Welche Besonderheiten kommen dieser kritischen Phase im Zusammenhang mit der Anorexie zu und wie gehen betroffene Familien damit um? Kann die Adoleszenz als Abbild der Krankheit gedeutet werden? Diesen Fragen widmet sich der folgende Abschnitt.

6 Vgl.: ebd., S. 18. 7 Vgl.: ebd. 8 Habermas geht ebenfalls auf die Magersucht als Folge einer außer Kontrolle geratenen Diät sowie auf die Magersucht als Form der Abwehr sexueller Wünsche ein. Da die Anorexie im Weiteren in den Kontext des zu behandelnden Romans gesetzt wird, erscheint die oben genannte Erklärung am zutreffendsten und wird daher eingehender behandelt. Ebd., S. 21. 9 Ebd. 10 Vgl.: ebd. 11 Ebd., S. 22. 12 Vgl.: ebd., S. 27.

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Die Anorexie – Ein Abbild der Adoleszenz? Die Wissenschaft ist sich einig, dass die Magersucht ein Gefühl der eigenen Minderwertigkeit miteinschließt.13 Daraus resultiert eine verzweifelte Suche nach Identität und Selbstwertgefühl, die ebenfalls in der Phase der Adoleszenz zu beobachten ist. Wird diese als lebenslanger Prozess verstanden, so kann sie mit einer chronischen Krankheit wie der Magersucht verglichen werden.14 Auch der Ablösung von den Eltern kommt sowohl in der Pubertät als auch im Krankheitsbild der Magersucht große Bedeutung zu. Beide Umstände können daher »als Schonraum abseits des (gesunden bzw. erwachsenen) gesellschaftlichen Lebens betrachtet werden.«15 Die Selbstzweifel, die sich vor allem bei Mädchen während der Pubertät einstellen, manifestieren sich auf drastische Weise im Krankheitsbild der Anorexie. Der Körper der Erkrankten wird damit zu einem Ausdrucksmittel, um die Konflikte, welche sich in der kritischen Phase der Adoleszenz einstellen, »nach außen hin sichtbar zu machen.«16 Habermas argumentiert weiterhin, dass die Adoleszenz »das bislang durch die Kindrolle gestützte schwache Ich der […] Magersüchtigen [überfordert]«17 und folglich depressive Verstimmungen und ein Rückzug aus der Gruppe der Gleichaltrigen zu beobachten sind. Die zunehmende Isolation führe anschließend dazu, dass sich Magersüchtige nicht mehr mit anderen Jugendlichen identifizieren können oder wollen, sodass es nach Bruch zu »rigiden Urteilen«18 komme. Sie würden nicht nach dem »Perfektionsideal«19 der an Magersucht Leidenden leben und seien demzufolge (aus der Sicht der Betroffenen) kein geeigneter Umgang.20 13 »Der magersüchtigen Patientin geht es nicht ums Geliebtwerden, sondern sie fühlt sich zu Unrecht geliebt.« So beschreiben Psychoanalytikerinnen Annelise Heigl-Evers und Brigitte Boothe das gestörte Selbstbild einer Anorektikerin. Annelise-Heigl Evers und Brigitte Boothe: »Der Körper als Bedeutungslandschaft. Die unbewußte Organisation der weiblichen Geschlechtsidentität«, 2. Aufl., Bern: Hogrefe 1997, S. 120. 14 Vgl.: Iris Schäfer : »Von der Hysterie zur Magersucht. Adoleszenz und Krankheit in Romanen und Erzählungen der Jahrhundert- und der Jahrtausendwende«, Frankfurt am Main: Lang 2016, S. 249. 15 Ebd., S. 31. 16 Ebd., S. 60. 17 Tilmann Habermas: »Zur Geschichte der Magersucht. Eine medizinpsychologische Rekonstruktion«, Frankfurt am Main: Fischer 1994, S. 21. Habermas sowie Bruch spezifizieren die Anorexie primär als Frauenkrankheit. Daher wird in dieser Arbeit hauptsächlich von weiblichen Patientinnen gesprochen. 18 Hilde Bruch: »Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht«, 19. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 2010, S. 71. 19 Ebd., S. 71. 20 In Und auch so bitter kalt zeigt sich dieser Umstand als Malina die Abwehrhaltung ihrer Schwester Lucinda folgendermaßen beschreibt: »Sie wird von allen gesehen, gehört aber keiner Gruppe an. Sie findet die anderen lächerlich.« Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016, S. 19.

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Eine weitere Gemeinsamkeit, die sich zwischen dieser von Veränderung geprägten Lebensphase und der Anorexie feststellen lässt, ist der ständige Kampf um Autonomie. Das unbedingte Bedürfnis nach Selbstbestimmung zeichnet sich in der Magersucht auffällig stark ab. Es geht den Betroffenen nicht nur um ihre eigene Unabhängigkeit, sondern auch um eine radikale Abgrenzung von den Eltern, die eine Überhöhung des eigenen Ichs zur Folge hat. Diese Einstellung beeinflusst vor allem das Miteinander innerhalb der Familie. Bruch betont, dass in betroffenen Familien keine Harmonie herrsche. Es breche regelmäßig Streit aus, es komme zu Wutausbrüchen der Patientin und gegenseitigen Schuldzuweisungen der Familienmitglieder. Vor allem das gemeinschaftliche Essen gibt Anlass zu solchen Auseinandersetzungen. Bruch stellt fest: Ein charakteristischer Machtkampf entspinnt sich; die Eltern versuchen, das Kind zum Essen zu zwingen, und das antwortet darauf mit wütender Ablehnung oder Täuschungsmanövern wie vorgebliches Essen [oder] Wegschaffen von Speisen.21

Es sei demzufolge von einem »Machtungleichgewicht zwischen Kind und Erwachsenen«22 auszugehen, da die Eltern »aus der fordernden in die beschützende Rolle gegenüber dem Kind zurückgeworfen werden, das seinerseits zum ersten Mal erlebt, daß es über Macht verfügt.«23 Dieses Verhalten lässt sich auch bei Lucinda erkennen und wird an späterer Stelle hinsichtlich der Bedeutung der Küche als Austragungsort der Konflikte näher untersucht. Anhand der verschiedenen Deutungen bezüglich der Ursachen und Auslöser der Anorexie wurde deutlich, dass die Krankheit vorrangig von einem gestörten Selbstbild der an Magersucht Leidenden geprägt ist, das vor allem in der Adoleszenz häufig auftritt. Außerdem ist die Erkrankung von einem Machtkampf um Selbstbestimmung über den eigenen Körper gekennzeichnet, der sich mit den Konflikten zwischen Jugendlichen und Erwachsenen vergleichen lässt. Dieser Machtkampf manifestiert sich in der Anorexie jedoch nicht nur in den Auseinandersetzungen zwischen der Patientin und ihren Eltern, sondern ebenso im inneren Kampf mit sich selbst. Inwiefern dieser Kampf mit einem Gefühl der Überwachung, Bestrafung und des Eingeschlossen-Seins einhergeht, soll im Folgenden untersucht werden.

21 Hilde Bruch: »Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht«, 19. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 2010, S. 56. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 111.

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Das eigene Gefängnis – Die Insassin Lucinda Der innere Kampf, den Magersüchtige führen, zeigt sich vorrangig im Essverhalten. Die Erkrankte zwingt sich tagtäglich, das unablässige Hungergefühl disziplinarisch zu unterdrücken und zu ignorieren. Bruch hält in ihrer Studie fest, dass viele Anorektikerinnen das Gefühl haben, eine Stimme im Kopf zu tragen, einen »innere[n] Diktator,«24 der ihr Leben »unerbittlich kontrolliert.«25 Einige Erkrankte sprechen von der Abspaltung zwischen Körper und Geist, ähnlich wie Malina berichtet, dass ihre Schwester manchmal »ganz plötzlich aus ihren Augen verschwinde[t]. Dann ist sie an einem fernen Ort, den niemand kennt, außer ihr selbst.«26 Verliert die Magersüchtige also den gesunden Zugang zu ihrem Körper? Kann die Krankheit als Gefängnis gedeutet werden, aus dem die Patientin nicht ausbrechen kann? Im Folgenden wird mithilfe von Michel Foucaults Überwachen und Strafen27 sowie mit einzelnen Passagen aus Bruchs Studie versucht, eine Verbindung zwischen der Institution des Gefängnisses einschließlich des Aspekts der Strafe, und dem selbstzerstörerischen Verhalten einer Anorektikerin herzustellen. Ergänzend wird die Metapher des Käfigs betrachtet, um den Aspekt des Eingeschlossen-Seins zu verdeutlichen. Diese Erkenntnisse werden stets auf die erkrankte Protagonistin Lucinda bezogen und interpretiert. Foucault stell die Rolle des Körpers innerhalb eines Gefängnisses dar, indem er festhält, dass dieser »in ein System von Zwang und Beraubung, von Verpflichtungen und Verboten gesteckt«28 wird. Die Strafmaßnahmen definiert er als solche, die »einschränken, verhindern, ausschließen [und] unterdrücken.«29 Diese Merkmale zeigen sich ebenfalls in der Anorexie und spiegeln sich damit in Lucindas innerem Konflikt wider. Die Krankheit zwingt ihr eine asketische Lebensweise auf, die mit einem Essensverbot einhergeht. Aufgrund dieser kontinuierlichen Selbstkontrolle wird Lucinda in ihrem sozialen Leben eingeschränkt, sie zieht sich zunehmend zurück und unterdrückt ihren natürlichen Erhaltungstrieb. Die Anorexie wird zu einem machtvollen Instrument, ähnlich wie die Maßnahmen, die in einem Gefängnis greifen. Foucault stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Machtverhältnisse den Körper »umkleiden […], mar-

24 Ebd., S. 28. 25 Ebd., S. 29. Lucinda spricht von einem »Tier« und vergleicht die Krankheit mit »Walen unter dem Eis. Es ist immer da. Groß und dunkel.« Ebd., S. 171. 26 Ebd., S. 28. 27 Michel Foucault: »Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses«, 20. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017. 28 Ebd., S. 18. 29 Ebd., S. 35.

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kieren […], dressieren […], [und] martern […].«30 Die Krankheit nimmt Lucindas gesamtes Leben ein und verändert ihren Körper, drängt ihm Verhaltensmuster auf und quält ihn bis zur völligen Erschöpfung, was vergleichbar mit dem Gefängnis ist, das Foucault als »erschöpfende[n] Disziplinarapparat [bezeichnet, der] […] sämtliche Aspekte des Individuums erfassen [muss].«31 Weiterhin stellt er dar, dass das Gefängnis weder ein Außen noch Lücken besitze. Ein Stillstand werde erst dann erreicht, wenn »seine Aufgabe zur Gänze erledigt ist; sein Einwirken auf das Individuum duldet keine Unterbrechungen: unaufhörliche Disziplin.«32 Bruch argumentiert, dass die Magersucht eine Gewohnheitshaltung sei, »die nicht durchbrochen werden kann, im Gegenteil, ihre Aufrechterhaltung erfordert Leiden und unermüdliche Arbeit.«33 Die Anorexie beherrscht Lucinda gänzlich und fordert von ihr fortwährende Selbstdisziplin. Das Hungern darf nicht beendet oder pausiert werden und ein Stillstand der Erkrankung ist erst dann erreicht, als sie am Ende des Romans an den Folgen dieses Verhaltens stirbt.34 In diesem Zusammenhang wird außerdem die Verleugnung der Anorexie deutlich. Foucault behauptet, dass das Gefängnis gefährlich, vielleicht sogar nutzlos sei; eine Alternative jedoch nicht erkannt werde.35 Wie die von Habermas geschilderten Anorektikerinnen ignoriert auch Lucinda die Gefahren, welche die Erkrankung birgt und sie erkennt nicht, dass eine gesunde Lebensweise möglich ist. Diese Verleugnung wird besonders in den Diskussionen mit Mutter Isa sichtbar36 und zeigt sich in dem tragischen Ende ihres jungen Lebens. Bezüglich des Aspekts der Schuld und der folgenden Bestrafung äußert sich Bruch ebenso wie Foucault. Der selbstzerstörerische Umgang mit dem eigenen Körper gründet gemäß Bruch auf dem kindlichen Denkstil einer Magersüchtigen. Sie sei davon überzeugt, dass ihr Körper Schuld an allem Unbehagen habe. Rückschließend »geben sie [die Magersüchtigen] sich selbst die Schuld für ihre

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Ebd., S. 37. Ebd., S. 301. Ebd., S. 302. Hilde Bruch: »Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht«, 19. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 2010, S. 95. 34 Vgl.: Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016, S. 174. 35 Vgl.: Michel Foucault: »Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses«, 20. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017, S. 296. 36 Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016, S. 38. Die Mutter Isa versucht vorsichtig, ein Gespräch über die weibliche Veränderung des jugendlichen Körpers zu beginnen und fragt verständnisvoll: »Willst du lieber mit jemand anderem darüber reden?« Lucinda erwidert: »Spinnst du? […] wovon redest du eigentlich?« Ebenso S. 69: Isa zwingt Lucinda zu einer Therapie, woraufhin Lucinda entgegnet: »Der wird nur sagen, dass du spinnst!« [Hervorhebung im Original]

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wirklichen oder eingebildeten Mängel.«37 Die asketische Lebensweise bewertet die Psychoanalytikerin daher »ohne Frage [als] ein Element der Selbstbestrafung.«38 Den Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe sieht Foucault ebenfalls in der Institution des Gefängnisses, da die Insassen eingesperrt werden, um eine Schuld zu begleichen. In der Anorexie ist diese Schuld jedoch keine realexistente, sondern eine Imagination, die aus dem gestörten Selbstwertgefühl der Erkrankten resultiert. Eine weitere, mit dem Gefängnis eng verwandte Metapher, die sowohl im Roman als auch in der Forschung von Bruch verwendet wird, ist die des goldenen Käfigs, welche die Anorexie versinnbildlicht. Bruch stellt in ihrer gleichnamigen Monographie die Aussagen einer magersüchtigen Patientin vor, die ihr privilegiertes Leben mit diesem bildhaften Ausdruck beschreibt. Sie vergleicht sich mit einem Spatz, dem die Freiheit nach Selbstbestimmung genommen wurde und der aufgrund seines unbedingten Tatendrangs »nicht für einen Käfig geschaffen ist.«39 Dieser Wunsch nach Befreiung kann als das bereits erwähnte Autonomiebestreben einer magersüchtigen Patientin verstanden werden, die sich mithilfe des Hungerns von den Eltern und dem Familienleben abgrenzen möchte. Die Paradoxie dieses Umstandes zeigt sich jedoch, wenn die Anorexie näher betrachtet wird. Der Psychoanalytiker Helm Stierlin charakterisiert im Vorwort zu Bruchs Monographie die Magersüchtige als »Gefangene [ihrer] bekämpften Bedürfnisse.«40 Sie bleibe davon besessen, immer weiter abzunehmen und daher »in einem nie endenden Kampf um innere und äußere Unabhängigkeit befangen.«41 Die Patientin möchte demzufolge mittels der Erkrankung aus ihrem Käfig ausbrechen, erreicht jedoch einen gegenteiligen Zustand, was dazu führt, dass die Krankheit selbst zum Käfig wird. Diese Umkehrung zeigt sich auch in Und auch so bitter kalt. Nachdem sich Lucinda vor ihrer Schwester Malina entblößt hat, beschreibt die Erzählerin den Rücken ihrer Schwester : Ihre »Schulterblätter sehen aus wie Flügel, aber zum Fliegen sind sie zu klein. Man kann jede einzelne Rippe sehen. Ein zerbrechlicher Käfig.«42 Wird diese Beobachtung mit Bruchs Patientin vergleichen, kann festgestellt werden, dass Lucinda ebenfalls mit der Metapher des im Käfig gefangenen Spatzen beschrieben werden kann. Lucindas Flügel sind aufgrund der Krankheit zu schwach geworden, um zu fliegen und sich damit aus dem scheinbar endlosen Kreislauf der Anorexie zu befreien. Diese Interpretation wird bekräftigt, als Lucinda äußert, dass sie sich verwandeln 37 Hilde Bruch: »Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht«, 19. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 2010, S. 90. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 42. 40 Ebd., S. 10. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 131.

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möchte, »[w]eil [sie] in diesem Körper nicht mehr leben kann.«43 Sie will zu einer Libelle, einem Vogel, einem Baum oder aber zu Wasser werden.44 Beide Tiere können fliegen und lassen sich so auf den Freiheitsdrang, den die Protagonistin verspürt, beziehen. Das Bild des Vogels weist ebenfalls eine Parallele zu dem Spatzen in Bruchs Beispiel auf. Der Baum kann als Sehnsucht nach Verwurzelung und Beständigkeit gedeutet werden. Lucinda hat diese Elemente der sozialen und emotionalen Sicherheit durch die Isolation von ihrer Familie und ihrer eigenen Gefühlswelt verloren. Habermas definiert diese Desorientierung in seiner Studie Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung als den »festen Grund«45, der Jugendlichen in der Adoleszenz, aber eben auch Magersüchtigen innerhalb ihrer Krankheit zu fehlen scheint. Das Wasser kann für Reinheit und Erlösung stehen, die sich Lucinda wünscht und die sie nur erreichen kann, indem sie die Krankheit besiegt oder – und davon spricht sie häufig46 – aus dem Leben scheidet. Erwähnenswert scheint hier vor allem ein Gespräch zwischen den zwei Schwestern, in dem Lucinda über ihre Beerdigung spricht. Sie möchte, dass sich die Gäste schick anziehen, tanzen und die Band Arcade Fire spielt.47 Schützsack erwähnt im Epilog, der wie eine Wiedergabeliste aufgebaut ist, das Lied »My Body Is A Cage«48 von der genannten Musikgruppe. Demnach wird auch hier deutlich, dass sich Lucinda in ihrem Körper gefangen fühlt und diesen als Käfig betrachtet, aus dem sie ausbrechen möchte, wenngleich dies unmöglich erscheint.49 Es gilt somit festzuhalten, dass die Krankheit die Funktion einer Strafanstalt übernimmt: Sie verleiht »eine fast totale Macht über die Häftlinge; [sie] hat [ihre] inneren Unterdrückungs- und Züchtigungsmaßnahmen.«50 Wie die In43 Ebd. 44 Ebd. 45 Tilmann Habermas: »Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 164. 46 Vgl.: Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016, S. 131 nach Jarvis Tod: »[I]ch muss auch bald gehen. Verstehst du?«; sowie S. 151: die Mutter Isa fragt Lucinda: »Was hat keinen Sinn? Sag es mir.« Und Lucinda antwortet: »Alles.« 47 Vgl.: ebd., S. 39f. 48 Ebd., S. 174. 49 Dies wird durch den Inhalt des Liedes widergespiegelt. Es beginnt mit den Worten: »My body is a cage that keeps me [f]rom dancing with the one I love [b]ut my mind holds the key«, 2019 Genius Media Group Inc.: »My Body Is a Cage. Arcade Fire.«, verfügbar unter : https://genius. com/Arcade-fire-my-body-is-a-cage-lyrics, [23.03.19]. Diese Symbolik bestätigt die bereits erwähnte Vermutung, Lucinda habe den Zugang zu ihrem Körper aufgrund der Krankheit verloren. Die Anorexie beeinflusst ihre Gedanken, die nicht imstande sind, dem jungen Mädchen Auswirkungen und Ausgang der Erkrankung zu verdeutlichen und sie so vor dem Tod zu bewahren. 50 Michel Foucault: »Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses«, 20. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017, S. 302.

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sassen eines Gefängnisses ist Lucinda »Gegenstand einer kontrollierten Transformation,«51 wenngleich sich diese hinsichtlich eines Sträflings im Idealfall auf das Ziel der Besserung, bei Lucinda jedoch auf den Zerfall ihres Körpers bezieht. Vergleichbar mit einem Häftling ist auch sie in ihrer persönlichen Zelle eingeschlossen und wird von ihr verändert und negativ beeinflusst. Ihr gesunder Menschenverstand, ihre Gefühlswelt und das Wissen, durch die Anorexie sterben zu können, werden von ebendieser umschlossen und bilden somit einen metaphorischen Käfig. Lucinda, die sich nach Freiheit sehnt, bleibt aufgrund der Krankheit in sich gefangen. Letztere macht das junge Mädchen zur Insassin ihrer selbst.

Die ewige Heimat – Das Verständnis der Ich-Grenze Es wurde bereits ersichtlich, dass Lucinda ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper hat. Dieser Umstand lässt sich gemäß dem Psychoanalytiker Dieter Funke mithilfe einer gestörten Ich-Grenze, also dem eigenen »Erleben der Grenzen des Selbstgefühls«52 erklären. Er spricht von einem Seelenraum im Inneren, der im gesunden Zustand resistent gegen jegliche negativen Einflüsse von außen sei. Dieser Raum biete »einen jederzeit zugänglichen, sicheren Ort, der auch in Zeiten höchster Gefährdung durch Verlust und Schmerz bereitsteht. Er ist tatsächlich eine ewige Heimat, die unzerstörbar ist.«53 Die Anorexie entzieht Lucinda diese innere Sicherheit. Ihr Eigenraum ist nicht bewohnt und steht ihr daher nicht mehr grenzenlos zur Verfügung, weshalb sich die Beziehungen zu ihren Mitmenschen stark verändern. Das Schließen und Öffnen ihrer eigenen Grenze ist aus dem Gleichgewicht geraten, was dazu führt, dass keine gesunde Balance zwischen einem kommunikativen Familienleben und dem persönlichen Rückzug besteht.54 Die Erkrankte lebt gegen Ende des Romans in beinahe gänzlicher Isolation, was vor allem durch ihre geschlossene Zimmertür deutlich und später detaillierter untersucht werden wird. Darüber hinaus erläutert Funke, dass das »gesunde« Öffnen und Schließen der Ich-Grenze nur dann möglich sein könne, wenn letztere stabil sei. Die eigene 51 52 53 54

Ebd., S. 314. Dieter Funke: »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006, S. 127. Ebd., S. 134. [Hervorhebung im Original] Funke erklärt, dass die gestörten Ich-Funktionen des Sich-Öffnen- und Sich-SchließenWollens zu psychischen Erkrankungen führen. Demnach deute eine stark geöffnete IchGrenze auf eine Psychose, eine rigide geschlossene Ich-Grenze auf eine Neurose hin. Vgl.: ebd., S. 126. Bei Lucinda ist eine Veränderung innerhalb der Handlung zu beobachten, da sie sich zu Beginn häufig im Freien aufhält und auch in der Schule sehr präsent wirkt, jedoch im Verlauf der Erzählung zunehmend verschlossener wird, bis sie am Ende, vor allem aufgrund des Todes ihres Freundes, Jarvis, in totaler Isolation lebt und schließlich stirbt.

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Grenze könne folglich nur entstehen, wenn die Mutter das Kind als eigenständige Person ansehe und ihm nicht die eigenen Bedürfnisse aufzwänge. Nur so sei ein »Differenzierungs- und Ablösungsprozess«55 möglich. Bei Magersüchtigen gebe es demzufolge »Defizite im Grenzerleben,«56 die sich vor allem darauf begründen, dass eine »Grenzenlosigkeit« zwischen Eltern und Kind bestehe. Die Anorexie könne daher als »Ersatz für die bisher nicht erlebte Grenze«57 gedeutet werden und weiterhin einen Versuch darstellen, sich auf diese selbstzerstörerische Weise von der Mutter abzugrenzen, um so eine mögliche Imitation dieser gänzlich zu verweigern. Eine solch rigide, bereits bezüglich der Magersucht untersuchte Abgrenzung von den Eltern spiegele sich nicht nur im Umgang mit dem Körper, sondern, so stellt Funke fest, auch symbolisch in Wänden, Türen und Schlössern eines Hauses wider.58 Inwieweit sich diese Annahme im Elternhaus der Protagonistin bestätigt, soll im Weiteren anhand ausgewählter Räumlichkeiten veranschaulicht werden.

Wohnen, leben, sterben – Lucinda und ihr Elternhaus Funke bezeichnet das Haus in seiner Monographie Die dritte Haut als »Abbild der seelischen Struktur«59 und zeigt damit die enge Verbindung zwischen einem Individuum und seiner Behausung auf. Indem sich Menschen Wohnstätten schaffen, so kommentiert der Psychoanalytiker, bauen sie gleichzeitig ihr eigenes Seelenhaus.60 In diesem Kontext stellt Funke einen Zusammenhang zwischen dem Freud’schen Modell des Seelenapparats und der Aufteilung eines Wohnhauses her. So steht bei Freud das Es für die Triebe und Wünsche eines Menschen, die aufgrund der Norm- und Wertvorstellung des Über-Ichs unterdrückt werden. Das Ich übernimmt dabei die Aufgabe des bewussten Denkens, Handelns und Erlebens, welche zwischen den beiden gegensätzlichen Instanzen vermitteln soll. Diese hierarchische Struktur überträgt Funke auf das Wohnhaus, indem er den Stockwerken und Räumen bestimmte Eigenschaften und Funktionen zuschreibt. So gelte der Keller als Ort der Triebe und Wünsche, des Unerledigten und Verdrängten und könne so als das Es gelten. Das Dach symbolisiere »Werte, Normen und Tabus,«61 nehme daher eine entgegengesetzte Rolle zum Keller ein und entspreche dem Über-Ich. Die Räume, welche sich 55 56 57 58 59 60 61

Ebd., S. 128. Ebd., S. 129. Ebd. Vgl.: ebd., S. 129. Ebd., S. 87. Vgl.: ebd., S. 87. Ebd., S. 101.

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zwischen diesen Polen befinden, könnten letztlich als Ich verstanden werden. Sie teilen sich ein in das Schlafzimmer, das für den persönlichen Rückzug, Intimität und Sexualität stehe, in das Bad als Symbol der Selbstsorge, in das Wohnzimmer, das Privates und Öffentliches vereine sowie in die Küche, der die Eigenschaft der Versorgung zugeschrieben werde. Funke betont dennoch, dass »Freuds Strukturen [keine] räumlichen Orte in der Persönlichkeit [bilden],«62 sondern in Bezug auf die Wohnstätte lediglich symbolischen Charakter tragen. Der Vergleich zwischen der seelischen Struktur eines Menschen und seiner Behausung kann nichtsdestoweniger als möglicher Analyseschlüssel verwendet werden, um die Ängste, Wünsche, Sehnsüchte und Emotionen Lucindas zu erschließen und letztlich besser zu verstehen. Im Folgenden werden der Kellerraum, die Küche sowie das Schlafzimmer der magersüchtigen Protagonistin mithilfe verschiedener wissenschaftlicher Studien analysiert und interpretiert, sodass die These, das Wohnhaus könne als Abbild der Seelenstruktur Lucindas und somit als pathogene Behausung gelten, bestätigt wird.

Der Keller – Zwischen Trieb und Verdrängung In Und auch so bitter kalt spielt die Räumlichkeit des Kellers eine signifikante Rolle, da sich Lucinda oft in diesem Bereich des Hauses aufhält. Die Beschreibungen der Erzählerin Malina lassen darauf schließen, dass ihre Schwester dort vor allem ihren Sexualtrieb auslebt,63 weil sie den Raum vorrangig mit gleichaltrigen Jungs betritt, die jedoch anschließend nicht mehr wiederkommen dürfen.64 Wenngleich Funke die Sexualität vorrangig dem Schlafzimmer zuordnet, in dem sich Jugendliche innerhalb eines persönlichen Raumes selbst erfahren können, weist der Psychoanalytiker dennoch auf die Triebe im Allgemeinen hin, die sich im Keller ansiedeln und damit den »triebhaft-animalischen Untergrund«65 des Lebens und die Wünsche eines Individuums symbolisieren. Der Keller bietet Lucinda eine Möglichkeit, ihr sexuelles Erleben zu erweitern und kann als »Reservoir an Energien«66 gesehen werden, das ihre Erlebnisfä62 Ebd., S. 100. [Hervorhebung im Original] 63 Ersichtlich wird dies in Schützsacks Und auch so bitter kalt auf S. 22: »Lucinda kommt aus dem Keller. Sie zupft ihr T-Shirt gerade, schüttelt die langen schwarzen Haare zurecht.« Sowie auf S. 79, als Malina Schreie aus dem Keller hört und anschließend zwei Katzen während des sexuellen Aktes entdeckt. Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016. 64 Vgl.: ebd., S. 24: »Wer einmal mit Lucinda im Keller war, kehrt nicht wieder.« Eine Ausnahme ist jedoch der Nachbarjunge Jarvis: »Er ist der Erste, der es gewagt hat, wiederzukommen. Der Einzige, der geblieben ist.« Ebd., S. 101. 65 Dieter Funke: »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006, S. 88. 66 Ebd., S. 102.

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higkeit intensiviert. Diese Räumlichkeit kann demzufolge als ein Versuch Lucindas gelten, sich selbst zu spüren, aber auch das Begehren des anderen Geschlechts zu genießen, da sich die Protagonistin selbst ausschließlich negativ sieht und mithilfe der Aufmerksamkeit eines Gegenübers womöglich ihr gestörtes Selbstbild zu kompensieren versucht. Die Annahme, Anorexie könne als Ausdruck für die Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung, die in diesem Kontext körperlicher Natur ist, verstanden werden, wird damit bestätigt.67 Zudem bietet der Keller einen privaten Raum, der Lucinda die Möglichkeit gibt, Fantasien im Verborgenen auszuleben.68 Ihre Familie ahnt zwar, was im Keller geschieht, jedoch kann vor allem Malina nur Vermutungen darüber anstellen.69 Dennoch scheint auch Malina zu spüren, dass der Keller ein besonderer Ort ist.70 Sie stellt sich vor, wie sie auf der Matratze liegt, »einsam, vielleicht auch glücklich, wer weiß das schon.«71 Diese Mutmaßung gibt Hinweise auf eine gestörte Kommunikation zwischen den Schwestern. Da Lucinda ihre Emotionen aufgrund der Magersucht nur schwer in Worte fassen kann, fehlt Malina ein verständnisvoller Zugang zur Gefühlswelt ihrer Schwester.72 Sie weiß nicht, ob Lucinda im Keller glücklich oder einsam ist, was dem Raum einen ambivalenten Charakter verleiht.

67 Nichtsdestotrotz erscheint Lucindas Ausleben ihrer Sexualität hinsichtlich ihrer Erkrankung verwunderlich. Wie bereits erwähnt, attestiert Habermas einer Magersüchtigen den Wunsch nach Geschlechtslosigkeit und betont, dass viele Anorektikerinnen ihre Sexualität und das Verkehren mit einem Partner abstoßen. Hier entspricht Schützsacks Beschreibung dementsprechend nicht dem medizinischen Krankheitsbild. 68 Bruch berichtet ebenfalls von einer Patientin, die aufgrund ihrer Einsamkeit viele Stunden in den Kellerräumen ihres Hauses zugebracht hatte »und dort lebhafte Phantasien und Geschichten ausagierte.« Hilde Bruch: »Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht«, 19. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 2010, S. 70. Damit schaffte sie sich einen Raum, in den niemand eindringen konnte und der somit Ausdruck für ihre Wünsche und Träume war. Vgl.: ebd. 69 Sie weiß, »dass die Dinge, die im Keller passieren, [sie] nichts angehen. Sie trennen [ihre] Schwester und [sie] voneinander […].« Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016, S. 24. 70 Vgl.: ebd., S. 80: Als sie sich auf die Matratze legt, ergreift sie ein »Gefühl, das kein Ende und keinen Anfang hat und schön und traurig zugleich ist. […] [E]s […] lässt [sie] allein zurück.« Diese Empfindung wiederholt sich, wenn sie davon spricht, »Spuren [zu] suchen, die [ihr] verraten, was hier geschieht.« Ebd., S. 101. 71 Ebd., S. 80. 72 Diese Beobachtung lässt einen Vergleich zwischen dem Keller und dem Körper Lucindas zu, der auch von Schäfer beobachtet wird. Sie führt aus, dass Lucinda nach außen den »schöne[n] Schein der Fassade [aufrechterhält] […], wohingegen die unbewussten (Trieb-)Regungen unter der Oberfläche, im Kellergeschoss, angesiedelt werden und damit für Außenstehende verborgen bleiben.« Iris Schäfer : »Formvollendetes Leiden an ästhetisierten Krankheiten im aktuellen Jugend- bzw. All-Age-Roman«, Mat&as Mart&nez / Michael Scheffel u. a. (Hrsg.): Diegesis 6: Krankheit erzählen I, Heft 2, Wuppertal 2017, S. 123–137, (S. 127).

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Diese Vermutung zeigt sich auch in einer negativen Konnotation des Kellers bestätigt, die sich ebenfalls auf Lucinda und ihre Krankheit projizieren lässt. Funke beschreibt den Kontrast zwischen dem Oben, das mit Wohlgefühlen assoziiert werde, und dem Unten, das »auf eine niedergedrückte Stimmung«73 hindeute. Lucinda verliert durch ihre Anorexie nicht nur ihre körperliche Energie, sondern auch ihre Lebensfreude. Funke verbildlicht diesen Zustand, indem er festhält: »Wenn es abwärts geht, könnte jemand in den Abgrund stürzen und den Halt im Leben verlieren.«74 Lucindas Magersucht ist Sinnbild dieser metaphorischen Abwärtsspirale. Sie findet keinen Halt, da sie sich gänzlich von ihrer Familie distanziert und somit keine körperliche oder emotionale Nähe zulässt, wodurch sie in den Abgrund der Einsamkeit gerät. Die Sehnsucht nach einem »festen Grund« lässt sich auch, wie bereits analysiert wurde, auf Lucindas Vorstellung, ein Baum zu werden, beziehen. Funke bestätigt diese Aussage, indem er den Keller mit einem »Gefühl des Geerdet- und Getragenseins«75 sowie mit der »Verwurzlung im Erdreich«76 vergleicht. Neben den Wünschen und Sehnsüchten, ordnet er dem Keller auch »Unerledigtes und Verdrängtes«77 zu, was mit dem Krankheitsbild der Anorexie korrespondiert. Die Verleugnung der Symptome und der verheerenden Auswirkungen ist, wie ersichtlich wurde, ein Spezifikum der Krankheit. In anderen Räumlichkeiten des Hauses verdrängt Lucinda ihre Probleme. Der Gang in den Keller kann jedoch als »Begegnung mit den dunklen Seiten der Persönlichkeit«78 verstanden werden, der, so stellt Funke fest, häufig mit »Angst oder Scham besetzt [sein kann].«79 Lucinda erlaubt im Keller einem anderen Menschen, den Zugang zu ihrem von der Krankheit gezeichnetem Körper. Damit macht sie sich verwundbar. Der Untergrund des Hauses kann daher als Raum gelten, der mit einem Schamgefühl besetzt ist, aber auch Lucindas Ängste beherbergt. Es kann sich dabei um die Furcht vor Zurückweisung, das Gefühl, nicht geliebt zu werden, aber auch um die Angst, nichts Besonderes zu sein, handeln. Diese Zweifel sind Teil ihres gestörten Selbstbildes und lassen vermuten, dass der Keller einerseits ein Ort der körperlichen Erkundung und positiven sexuellen Erfahrungen darstellt, andererseits jedoch die dunklen Seiten der Krankheit widerspiegelt, mit denen Lucinda tagtäglich zu kämpfen hat und die sie demzufolge mithilfe eines Sexualpartners für eine kurze Zeit zu verdrängen versucht. Der Triebaspekt lässt sich jedoch

73 74 75 76 77 78 79

Dieter Funke: »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006, S. 87. Ebd., S. 87. [Hervorhebung im Original] Ebd., S. 101. Ebd., S. 102. Ebd., S. 101. Ebd., S. 102. Ebd.

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nicht nur auf den Keller beziehen, sondern manifestiert sich auch in einer anderen Räumlichkeit: der Küche.

Die Küche – Das Zentrum des Scheiterns Funke betont die Gemeinsamkeit zwischen Keller und Küche indem er erklärt, dass beide Räume Orte des Triebes seien. Die Küche, das »wichtigst[e] Epizentrum des Hauses,«80 sei dem Nahrungstriebe zuzuordnen und symbolisiere daher die »orale Befriedigung«81 eines Individuums. Funke beschreibt die Küche ergänzend mithilfe der Metapher des Mutterleibes. Sie kann »als Bauch des Hauses«82 verstanden werden und stelle demzufolge das »basale mütterlicheorale Versorgtwerden«83 dar. Zudem sei die Küche ein »Raum der […] sozialen Wärme,«84 in dem Menschen zusammenkommen, um gemeinsam zu kochen und kreativ zu werden. Diese Aufgabe trage nicht nur zu dem Gefühl bei, mit Essen versorgt zu werden, sondern auch »Zuwendung, Beziehung[en], Anerkennung, Wertschätzung und Befriedigung in jeder Hinsicht«85 zu erfahren. Funke betont abschließend den Aspekt der Selbstsorge, dem innerhalb der Küche ebenso große Bedeutung zukommt wie dem gemeinschaftlichen Miteinander.86 In Und auch so bitter kalt spiegeln sich in der Küche vorrangig das gestörte Essverhalten Lucindas sowie die problematische Beziehung zwischen ihr und Mutter Isa wider. Im Gegensatz zu der positiven Beschreibung Funkes, wird der Raum im Roman zum Austragungsort der Konflikte, die aufgrund der Anorexie innerhalb der Familie entstehen. Dieser Umstand zeigt einen Kontrast zu der äußerlichen Gestaltung des Raumes, die Wärme, Schönheit und Liebe zum Detail miteinschließt.87 Malinas Beschreibung dieses Raumes endet mit der Feststellung: »Isa mag es, wenn die Küche und überhaupt das Haus nett aussehen.«88 Die anschließende Bemerkung, Lucinda verachte »alles, was nett ist«89, bekräftigt die zuvor beschriebene radikale Abgrenzung, die Magersüchtige von ihren Eltern 80 81 82 83 84 85 86 87

Ebd., S. 103. Ebd. Ebd., S 104. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl.: ebd., S. 105. Vgl.: Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016, S. 26: »Wir haben eine große Wohnküche. Es gibt eine Tür zur Terrasse, einen Esstisch aus Holz, die Wände sind mit kleinen grünen Kacheln gefliest, die meine Eltern aus Mexiko mitgebracht haben. Überall stehen Blumentöpfe mit frischen Kräutern, auf dem Tisch Gartenblumen und Kerzen.« 88 Ebd., S. 26. [Hervorhebung im Original] 89 Ebd., S. 27. [Hervorhebung im Original]

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vollziehen möchten und die meist von einer rebellischen, ablehnenden Haltung der Erkrankten gekennzeichnet ist.90 Das gemeinschaftliche Essen, das im Allgemeinen eine positive Erfahrung für alle Familienmitglieder darstellt, wird für Magersüchtige zu einem unüberwindbarem Zwang, der sich im Roman als immer wiederkehrende, aussichtlose Situation manifestiert, welche zum Ausbruch des von Bruch festgestellten Machtkampfes zwischen Eltern und Kind beiträgt. So beschreibt die Psychoanalytikerin, dass die Erkrankte [i]n ihrer blindwütigen Suche nach Identitäts- und Selbstgefühl [alles ablehnt], was ihre Eltern oder ihre Umwelt [ihr] anzubieten ha[ben]; sie [würde] lieber verhungern, als weiterhin ein Leben zu führen, das auf Anpassung begründet ist.91

Zu Beginn kann Lucinda die Auseinandersetzungen mit ihren Eltern umgehen, indem sie die von Bruch als charakteristisch beschriebenen Täuschungsmanöver anwendet.92 Im Verlauf der Handlung wird das Essen jedoch zunehmend zu einer Konfliktquelle. Aus Angst beginnt Isa, Ratgeber für Eltern magersüchtiger Kinder zu studieren und auch das Essverhalten ihrer gesunden Tochter Malina zu verändern, indem sie ihr bestimmte Nahrung aufzwingt.93 Dieser Umstand kann auf die Theorie Funkes, die Küche symbolisiere den Mutterleib,94 übertragen werden. So kann Isas Verhalten darauf hindeuten, dass sie das Gefühl befällt, als nährende Mutter bei der Versorgung ihrer Tochter Lucinda versagt zu 90 Ergänzend ist eine mögliche Ursache der Anorexie zu erwähnen, die sich in der Beziehung zwischen der erkrankten Tochter und ihrer Mutter begründet. Es wird angenommen, dass Kinder/Jugendliche mit den mütterlichen Erwartungen und Anforderungen nicht zurechtkommen und diese Zweifel in einer Magersucht zum Tragen kommen kann. Vgl.: Hilde Bruch: »Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht«, 19. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 2010, S. 44. In Und auch so bitter kalt könnte eine Äußerung Malinas diese Annahme bestätigen: »[Isas] Augen sind keine Augen, sondern blaue Lasterstrahlen, die immer auf der Suche nach dem Fehler sind.« Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016, S.17; Sowie die Aussage, Isa lege großen Wert auf die Erziehung der Mädchen. Im gesamten Handlungsverlauf ist eine generelle Anspannung zwischen Isa und Lucinda zu beobachten, die sich nie gänzlich löst. Die Distanz zwischen Mutter und Tochter wird zudem in der Erzählweise Malinas deutlich, da sie ihre Eltern nie als Mama und Papa vorstellt, sondern die Vornamen der beiden verwendet. 91 Hilde Bruch: »Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht«, 19. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 2010, S. 16. 92 So »hält [sie] sich – wenn Isa nicht hinsieht – [eine Serviette] vor den Mund, spuckt das durchgekaute Essen hinein, so lange, bis die Serviette voll ist.« Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016, S. 48. 93 Vgl.: ebd., S. 42f.: Isa liest in der Küche einen Ratgeber, der den zutreffenden Titel Hunger nach Anerkennung trägt, als Malina den Raum betritt und ein Brot mit Margarine essen möchte. Die Mutter verbietet ihr dies und zwingt sie dazu, Butter zu verwenden. Hier kommt die mütterliche Verzweiflung zum Ausdruck, nicht auch noch ihr zweites Kind an die Anorexie zu verlieren. 94 Vgl.: Dieter Funke: »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006, S. 104.

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haben und sie nun versucht, wenigstens Malina vor der Anorexie zu beschützen. Die Krankheit und die mit ihr verbundene Räumlichkeit der Küche, die den Versorgungscharakter innehat, sind für Isa demzufolge Abbilder ihres empfundenen Scheiterns. Die Verzweiflung und Ängste Isas führen schließlich so weit, dass sie ihre magersüchtige Tochter zum Essen zwingt. Erwähnenswert ist hierbei, dass die Mutter darauf besteht, mit Lucinda alleine zu sein und schließlich die Küchentür abschließt.95 Für Lucinda entsteht erneut ein Gefühl der Gefangenschaft, das jedoch nicht mehr in ihrem inneren Konflikt fundiert ist, sondern von einer äußeren Einwirkung der Mutter verursacht wird. Die von Funke angeführten Aspekte der Anerkennung, Zuwendung und Wertschätzung finden hier keinen Raum. Aufgrund des destruktiven Verhaltens ihrer Tochter sieht Isa keinen anderen Ausweg, als Lucinda zu nötigen. Diese Maßnahme kann demnach als Folge einer massiven Überforderung gedeutet werden, welche die Beziehung zwischen Mutter und Tochter jedoch nicht optimiert, sondern zusätzlich verschlechtert. Indem Isa ihre Tochter zum Essen zwingt, übernimmt sie die Kontrolle über Lucindas Körper und verdeutlicht drastisch, dass ihr Kind nicht zur Selbstsorge fähig ist. Die magersüchtige Protagonistin reagiert nicht nur mit einem verzweifelten Hilferuf an ihre Schwester,96 sondern auch mit einer im Verlauf der Handlung noch radikaleren Nahrungsverweigerung. Dies hat zur Folge, dass Isa in einem weiteren Moment der völligen Überforderung die Hand gegenüber Lucinda erhebt und ihr eine Ohrfeige gibt, welche Malina jedoch als »[e]ine Trophäe des Widerstandes«97 beschreibt. Diese Deutung weist ebenfalls auf den Machtkampf zwischen Lucinda und Isa hin, der allerdings nie gänzlich ausgefochten und gelöst wird. Da die Auseinandersetzungen vorrangig in der Küche stattfinden, kann diese weiterhin als Symbol all der verdrängten, unausgesprochenen Konflikte und Emotionen, die zwischen Mutter und Tochter »im Raum« stehen, verstanden werden.98 Es findet keine verbale Kommunika-

95 Vgl.: Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016, S. 136f. 96 Vgl.: ebd., S. 137: »[H]ilf mir. Bitte. Es sind Würmer, die durcheinander, übereinander-, ineinanderkriechen. Durch die Gabel über meinen Mund in meinen Bauch, wo sie Krieg führen und nie zur Ruhe kommen.« 97 Ebd., S. 144. 98 In diesem Zusammenhang erweist sich eine Erinnerung Lucindas an ihre Kindheit als erwähnenswert. Sie erklärt Malina, dass »Isa [die Schwestern] [vielleicht] manchmal ins Badezimmer eingesperrt [hat], weil sie es nicht mehr ausgehalten hat, dass [sie] so schreien, oder sie hat versucht, [Lucinda] loszuwerden, und hat [sie] an einer Tankstelle stehenlassen.« Ebd., S. 69. Falls diese Aussagen der fiktionalen Wahrheit entsprechen, könnten sie unter anderem als Auslöser für Lucindas Magersucht gedeutet werden. Sie fühlt sich in dieser Situation von ihrer Mutter zurückgestoßen, nicht geliebt und nicht gewollt. Zudem wird sie auch hier zu einer Gefangenen, die jegliche Kontrolle verloren hat. Dieses Gefühl manifestiert sich später in Lucindas Anorexie. Ihre Aussage: »Die wirklich schlimmen Dinge vergisst man

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tion statt, welche die innerfamiliären Anspannungen lösen könnte, sodass die Magersucht fälschlicherweise zum Ursprung aller Probleme erklärt wird. Das Ziel der Mutter besteht darin, die Anorexie zu bekämpfen, nicht aber deren Ursachen, weshalb der Kreislauf der Krankheit auch niemals durchbrochen wird, sondern diese im Gegenteil Auswirkungen auf die Selbstversorgung der Mutter hat.99 Ihre Ängste und das Gefühl, versagt zu haben, finden im Ende des Romans ihren tragischen Höhepunkt. Als Lucinda bereits dem Sterbeprozess unterlegen ist, sitzt Isa am Küchentisch und verweigert weinend einen Notruf.100 Sie will nicht wahrhaben, dass sie, die versorgende, nährende Mutter, es nicht geschafft haben soll, ihre Tochter zu retten. Die Küche wird erneut zum Zentrum ihres Scheiterns.

Das Kinderzimmer – Rückzug aus der Welt Der letzte und für Lucinda bedeutungsvollste Raum, der analysiert werden soll, ist ihr eigenes Schlafzimmer. Es wird von Malina als das größte und unordentlichste Zimmer des gesamten Hauses beschrieben und erweckt den Eindruck eines chaotischen, kreativen Bewohners.101 Die Unordnung, die in Lucindas Zimmer herrscht, kann einerseits auf ihre innere Unruhe hindeuten, anderseits aber ein Ausdruck für ihre Individualität sein. Die »Pop-Zitate und Gedichte«102 weisen auf ein musisches Interesse hin und zeigen, dass sie sich in der Musik103 und Lyrik verstanden fühlt. Passend hierzu bezeichnet Funke das eigene Zimmer als »Chiffre für […] Identität und Kreativität.«104 Des Weiteren spielt Lucindas Bett eine essentielle Rolle. Habermas stellt fest, dass Objekte gleichzeitig persönliche Orte definieren. Er beschreibt das Bett als den »Kern […] des eigenen Zimmers, […] [der] je nach Lebensstil möglicherweise sogar das Zentrum des Lebensraums«105 darstelle. Diese Annahme bestätigt sich im Roman. Das Bett wird von Malina nicht als solches definiert, sondern als »Höhlenboot« be-

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einfach. Aber irgendwo in unserem Körper, da sitzen sie noch immer und warten auf ihren großen Auftritt« (ebd., S. 69), bestätigt diese These. Vgl.: ebd., S. 163: »Ab und zu verlässt Isa ohne ein Wort den Tisch. Manchmal kommt sie gar nicht. Oder sie sitzt am Tisch und isst nichts.« Vgl.: ebd., S. 173. Vgl.: ebd., S. 25: »Eine wilde Ansammlung von Gegenständen, die so aussehen, als ergäben sie zusammen eine lange Geschichte. An den Wänden hängen Pop-Zitate und Gedichte. Am Boden türmen sich Kleider, Stiefel und Hüte.« Ebd., S. 25. Musik spielt in Schützsacks Roman eine große Rolle, was durch Einschübe verschiedener Songzeilen sowie durch den Epilog deutlich wird. Dieter Funke: »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006, S. 133. Tilmann Habermas: »Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 163.

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zeichnet, das die Schwestern »durch die Nacht bringt.«106 Es ist mit allerlei Dingen beladen und beinhaltet Geheimnisse, die Malina lüften möchte. Das Bett wird somit zu einem fantastischen und rätselhaften Ort überhöht, in dem sich Lucinda zwischen all den »Schätze[n]«107 verlieren und somit dem realen Schmerz ihrer Krankheit entfliehen kann.108 Außerdem wird es mit einem Thron verglichen, auf dem die Königin Lucinda »umgeben von Kissen und Decken«109 sitzt und herrscht. Vater Frieder nennt seine Tochter ebenfalls »seine Königin. Weil sie keinen Widerspruch duldet.«110 Hier wird erneut das Verhältnis zwischen Eltern und Kind ersichtlich, das in betroffenen Familien häufig verkehrt wird,111 wodurch sich die Anorektikerin (vor allem im Anfangsstadium der Krankheit) deutlich gegen ihre Eltern behaupten kann. Der Aspekt der Selbstbestimmung wird ebenfalls von Habermas aufgegriffen, indem er das Jugendzimmer als Symbol »des wachsenden Autonomiebedürfnisses«112 charakterisiert. So werden an diesem Ort die in der Adoleszenz signifikanten »Trennungs- und Schwellenriten«113 vollzogen, welche sich im Schlafzimmer als Raum der Privatheit und des Alleinseins abbilden und weiterhin zum Identitätsfindungsprozess beitragen. Wie bereits erwähnt, ordnet auch Funke dem Schlafzimmer die Schlagworte des Rückzugs und der Intimität zu. Das Verschließen von Türen trage, so argumentiert Habermas, hierbei symbolischen Charakter.114 Heidi Lexe hält bezüglich der adoleszenten Identitätsfindung zudem fest, dass diese »immer an Bewegung im Raum gebunden [sei].«115 Jedoch könne ein/e Jugendliche/r erst außerhalb der eigenen Wohnstätte gänzlich unabhängig werden. Lucinda verbringt viel Zeit in ihrem eigenen Zimmer, schließt häufig ihre Tür ab und schafft sich damit ihren eigenen Rückzugsort. Ihr Wunsch nach Auto106 107 108 109 110 111

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Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016, S. 15. Ebd. Vgl.: ebd. Ebd., S. 58. Ebd., S. 146. [Hervorhebung im Original] Bruch beschreibt diesen Zustand als Machtungleichgewicht zwischen Kind und Erwachsenen. Vgl.: Hilde Bruch: »Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht«, 19. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 2010, S. 56. Sie stellt fest: »Die Eltern werden aus der fordernden in die beschützende Rolle gegenüber dem Kind zurückgeworfen, das seinerseits zum ersten Mal erlebt, daß es über Macht verfügt.« Ebd. S. 111. Tilmann Habermas: »Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 169. Ebd., S. 167. Vgl.: ebd., S. 169. Heidi Lexe: »Türe zu. Fenster auf. Das Kinderzimmer als kinder- und jugendliterarischer Raum«, Roeder, Caroline (Hrsg.): Topographien der Kindheit. Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen. Bielefeld: Transcript 2014, S. 153–166, (S. 163).

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nomie manifestiert sich jedoch vor allem im Ausbruch ihrer Magersucht, wenngleich diese Annahme hinsichtlich des Krankheitsverlaufes paradox erscheint. Indem sie sich zunehmend von der Außenwelt distanziert und damit droht, weiter abzunehmen, »zwingt sie die Familie dazu, sich intensiver als je zuvor um sie zu kümmern.«116 Der von Lexe und Habermas erwähnte Identitätsfindungsprozess kann daher nicht stattfinden, denn Lucinda löst sich nicht von ihren Eltern, sondern macht sich durch das Hungern stark von ihnen abhängig. Ihr Körper, der für Habermas auch einen Raum darstellt,117 ist für sie zunächst der einzige Raum, den sie selbst gestalten kann. Habermas stellt ergänzend fest, dass das Kinderzimmer hinsichtlich des Körpers einer/eines Jugendlichen eine besondere Bedeutung aufweist. Die Heranwachsenden verfügen nun selbst über ihren Leib und können selbstgerichtet handeln.118 Bei Lucinda endet dies jedoch in einem pathogenen Transformationsprozess, der sie schließlich das Leben kostet. Diese Entwicklung spiegelt sich räumlich in ihrem Zimmer und ihrem Bett wider. Wo sie zu Beginn eine verträumte Jugendliche ist, die sich inmitten ihres selbst gestalteten Ortes zurückziehen kann, wird vor allem ihr Bett im Verlauf der Handlung zum Ort der Trauer und Verzweiflung. In ihrer vollständigen Isolation distanziert sie sich von ihren Familienmitgliedern, die Funke auch als »innere Objekte«119 versteht. Das eigene Zimmer stelle dabei eine »Abgrenzung und [Öffnung] des Eigenraums«120 dar, der jedoch bei Lucinda, wie bereits festgestellt wurde, nicht bewohnt ist, da sie an einer gestörten Ich-Grenze leidet. Das Gefängnis, in dem sie sich aufgrund der Anorexie befindet, verräumlicht sich gegen Ende des Romans im Kinderzimmer. Den zuvor positiv konnotierten Ort kann die Protagonistin nun nicht mehr verlassen.121 Ihre gescheiterte Suche nach Identität, Liebe und Zuwendung mündet am Ende des Romans in die absolute Erschöpfung und den Tod der erkrankten Protagonistin. In diesem Zusammenhang bietet sich Funkes Metapher des Bettes als Grab an. Er spricht über den Schlaf als Rückfall in die »früheste Zeit unseres

116 Tilman Habermas: Zur Geschichte der Magersucht. Eine medizinpsychologische Rekonstruktion. Frankfurt am Main 1994, S. 22. 117 Vgl.: Tilmann Habermas: »Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 162. 118 Vgl.: ebd., S. 170. 119 Dieter Funke: »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006, S. 122. 120 Ebd. 121 Malina beschreibt den Weg aus diesem Gefängnis auf S. 170: »Ich will, dass sie [Lucinda] aufsteht. Ich will, dass sie zu mir kommt, meine Hand nimmt, mich aus diesem Zimmer führt, aus dem Haus, die Straße hinunter bis dorthin, wo alles zu Ende ist.« Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016. Das Ende kann hier entweder als Malinas Wunsch nach Heilung der Anorexie, oder aber als Erlösung Lucindas durch den Tod verstanden werden. In beiden Fällen möchte die Erzählerin, dass ihre Schwester Frieden findet und aus ihrer Gefangenschaft entkommen kann.

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Lebens,«122 die durch die embryonale Haltung ausgedrückt werde. Schlafen bedeute einerseits Entspannung sowie »Geburt und Wiedergeburt,«123 anderseits setzte es jedoch das Loslassen voraus, was auch mit dem »Loslassen vom Ich«124 und damit dem »letzte[n] Loslassen, [dem] Sterben«125 verbunden werden könne. Der Schlaf symbolisiere demzufolge »Sicherheit und Gefährdung zugleich«126 und trage daher einen ambivalenten Charakter. Auch Lucindas Bett, das einen Schutzraum und einen Ort der Selbstverwirklichung darstellte, ist am Ende negativ besetzt. Die Protagonistin »liegt zwischen schweren Decken, dünn und blass […]. [Die Sterne, welche an ihrer Zimmerdecke befestigt waren], liegen verstreut auf dem Fußboden.«127 Dieses Bild kann als Metapher für den Zerfall des Körpers und der Seele Lucindas verstanden werden. Sie wird von Malina als leuchtender Stern betrachtet, als Königin, die »ohne Angst dorthin geht, wo es wehtut.«128 Als sie nach dem abgesetzten Notruf ihrer Eltern in Lucindas Zimmer stürmt, ist »das Bett leer. Keine Lucinda. Kein Koffer. Nur ein offenes Fenster.«129 Draußen glaubt sie ihre Schwester zu erkennen, die das Gartentor, das hier als Grenze und Schwelle in den Tod verstanden werden kann, schließt und danach im Nebel verblasst. Bevor Malina das Fenster zumacht, weht ein warmer Wind, der Lucinda selbst symbolisieren kann, in den Raum. Das Öffnen und Schließen des Fensters werden hier ebenfalls als Grenzüberschreitung zwischen dem Innen, das von der Anorexie und gleichzeitig von den Eltern bestimmt wurde, und dem Außen, also dem Tod und der dazugehörigen Erlösung, inszeniert. Der Roman endet mit einer Aussage Malinas, die ihre Schwester erneut mit einem fallenden Stern engführt, der den Tod finden musste »[d]amit die anderen nicht geblendet werden.«130 Diese Äußerung bestätigt Schäfers Vermutung, »dass der Tod der Schwester [aus Malinas kindlichem Blick] als glückliches Ende, als vorhersehbare Folge ihrer [Lucindas] krankheitsbedingten

122 Dieter Funke: »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006, S. 106. 123 Wenn das Bett nun als Gefängnis oder als Grab fungiert, bietet sich erneut ein Vergleich mit einer Gefängniszelle an. Foucault schreibt in diesem Zusammenhang: »In dieser geschlossenen Zelle, im vorübergehenden Grab, werden die Mythen der Auferstehung wieder lebendig. Nach Nacht und Schweigen neues Leben.« »Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses«, 20. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017, S. 306. Lucinda gelingt diese Wiedergeburt jedoch nicht; sie schläft in ihrem Bett – ihrem Grab – für immer ein. 124 Dieter Funke: »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006, S. 107. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 108. 127 Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016, S. 169. 128 Ebd., S. 146. 129 Ebd., S. 174. 130 Ebd.

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Metamorphose erscheint.«131 Lucinda hat ihre lang ersehnte Freiheit gefunden. Sie ist auf tragische Weise aus ihrem persönlichen Gefängnis ausgebrochen.

Fazit Es wurde bewiesen, dass die Anorexie durchaus mit der Institution eines Gefängnisses nach Foucault vergleichbar ist, da das Überwachen, die Bestrafung, die Disziplin und die gänzliche Isolation sowohl in einer Strafanstalt als auch in der Anorexie eine große Rolle spielen. Lucindas asketische Lebensweise, die gleichzeitig den Hunger nach Anerkennung und Zuwendung symbolisiert, wird zu ihrem persönlichen Gefängnis, zu einem Käfig, der sie umschließt und kontrolliert. Die erkrankte Protagonistin hat aufgrund der Magersucht, die in ihrer gestörten Ich-Grenze fundiert ist, den Zugang zu ihrem gesunden Ich und damit zu ihrem Eigenraum, der ewigen, unzerstörbaren Heimat, verloren. Der unbedingte Wunsch nach Autonomie, den sie sich durch die Erkrankung erfüllen möchte, führt sie in einen endlosen Kreislauf, der von Unterdrückung und Verzicht geprägt ist. Sie führt nicht nur einen Kampf mit ihrem inneren Diktator, sondern auch mit ihrem Umfeld, das jedoch überfordert und machtlos erscheint. Dieser Umstand zeigt sich vor allem im Wohnraum der Küche, der die ungelösten Konflikte zwischen Mutter Isa und Tochter Lucinda veranschaulicht. Sie wird zum Zentrum des mütterlichen Scheiterns, da sich Isas Überforderung, Ängste und ihr gestörtes Verhältnis zu Lucinda in diesem Raum spiegeln. Es bleibt ungewiss, inwieweit die Erziehung und das Verhalten der Eltern Einfluss auf den Ausbruch und den Verlauf der Anorexie genommen haben. Nichtsdestotrotz zeigt sich, dass Lucindas Ablösungsprozess nicht stattfindet und durch die Magersucht zusätzlich verhindert wird. Die Ängste und Sehnsüchte, die die jugendliche Figur in sich trägt, werden in der Struktur des Hauses sichtbar. Die Deutung Funkes, Wohnstätten seien Abbilder der Seele und können somit mit dem Freud’schen Modell der Psyche erklärt werden, lässt sich zweifellos auf das Elternhaus im Roman beziehen. Die verschiedenen Räume stehen exemplarisch für die komplexe Struktur der menschlichen Psyche, aber auch für die unterschiedlichen, überwiegend tragischen Facetten der Anorexie. Lucinda findet im Keller einen Ort, in dem sie einerseits ihre Sexualität ausleben kann, andererseits aber auch mit den verdrängten und dunklen Emotionen, die mit ihrer Krankheit einhergehen, konfrontiert wird. 131 Iris Schäfer : »Formvollendetes Leiden an ästhetisierten Krankheiten im aktuellen Jugendbzw. All-Age-Roman«, Mat&as Mart&nez / Michael Scheffel u. a. (Hrsg.): Diegesis 6: Krankheit erzählen I, Heft 2, Wuppertal 2017, S. 123–137, (S. 129).

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Lucindas Schlafzimmer und ihr Bett bilden zwar einen zunächst positiv konnotierten, kreativen und intimen Rückzugsort, jedoch vollzieht auch dieser Raum im Verlauf der Handlung einen negativen Wandel. Lucinda kann ihn aufgrund ihrer starken körperlichen Erschöpfung nicht mehr verlassen und das Bett wird zu ihrem Grab. Ihr Tod, der mithilfe des offenen Fensters und dem Schließen des Gartentors verbildlicht wird, suggeriert aufgrund der Beschreibung Malinas das glückliche Ende ihres Leidensprozesses, das Lucinda ihre ersehnte Erlösung und Freiheit geben konnte. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass Lara Schützsack mit ihrem Roman Und auch so bitter kalt eine Geschichte konzipiert, welche die Ursachen, Symptome und Auswirkungen der Anorexie aufzeigt und literarästhetisch ausgestaltet. Indem sie eine kindliche, unsichere Erzählinstanz einführt, wird der körperliche und seelische Zerfall Lucindas auf besondere Weise ästhetisiert. Die Erkrankung, die als »kommunikatives nonverbales Verhalten«132 gedeutet werden kann, wird zum Ausdrucksmittel von Schmerz und Verzweiflung. Die symbolischen und metaphorischen Beschreibungen Malinas stellen einen Versuch dar, »das Unerklärliche des Leidens«133 abzubilden. Das Haus fungiert als Abbild der Emotionen und der körperlichen Zustandes Lucindas und kann daher als pathogene Behausung bezeichnet werden.134 Der Körper der Protagonistin wird als eigenständiger Raum inszeniert und kann ebenfalls als pathogene Behausung gelesen werden, die allerdings aufgrund der Anorexie unbewohnt ist dem Mädchen daher unzugänglich bleibt. Lucinda bleibt Insassin ihrer selbst, bis ihr metaphorischer Käfig endgültig zerbricht und sie durch das offene Fenster in den Tod entschwinden kann.

132 Bettina Blank: »Magersucht in der Literatur. Zur Problematik weiblicher Identitätsfindung«, Frankfurt am Main: Fischer 1984. S. 100. 133 Iris Schäfer : »Formvollendetes Leiden an ästhetisierten Krankheiten im aktuellen Jugendbzw. All-Age-Roman«, Mat&as Mart&nez / Michael Scheffel u. a. (Hrsg.): Diegesis 6: Krankheit erzählen I, Heft 2, Wuppertal 2017, S. 123–137, (S. 128). 134 Zudem besteht eine Analogie zwischen Körper und Haus, da letzterem organische Eigenschaften zugesprochen werden. So ist es »von Efeu befallen wie von einer unheilbaren Krankheit« (Lara Schützsack: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016. S. 20) und bildet damit eine Parallele zu Lucinda. Wenn die Protagonistin weint, »weint das Haus mit […]« (ebd. S. 26). Auch die Hilflosigkeit der Familienmitglieder wird sichtbar : »Armes altes Haus, denke ich [Malina], so krank, und wir dürfen dir nicht helfen. Keinen Ton gibst du von dir. Ob du irgendwann einfach stirbst? Sagst du uns vorher Bescheid?« (Ebd. S.23). Schäfer stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das Haus sowie Lucinda eine »schöne ›Fassade‹ und eine ›beschädigte‹ Substanz auf[weisen].« Beide »[können] bewundert aber nicht kuriert werden.« Iris Schäfer : »Formvollendetes Leiden an ästhetisierten Krankheiten im aktuellen Jugend- bzw. All-Age-Roman«, Mat&as Mart&nez / Michael Scheffel u. a. (Hrsg.): Diegesis 6: Krankheit erzählen I, Heft 2, Wuppertal 2017, S. 123–137, (S. 125).

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Literaturverzeichnis Primärliteratur Schützsack, Lara: »Und auch so bitter kalt«, Frankfurt am Main: Fischer 2016.

Sekundärliteratur Blanck, Bettina: »Magersucht in der Literatur. Zur Problematik weiblicher Identitätsfindung«, Frankfurt am Main: Fischer 1984. Bruch, Hilde: »Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht«, 19. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2010. Foucault, Michel: »Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses«, 20. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017. Funke, Dieter : »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006. Habermas, Tilman: »Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. Habermas, Tilman: »Zur Geschichte der Magersucht. Eine medizinpsychologische Rekonstruktion«, Frankfurt am Main: Fischer 1994. Heigl-Evers, Annelise / Boothe, Brigitte: »Der Körper als Bedeutungslandschaft. Die unbewußte Organisation der weiblichen Geschlechtsidentität«, 2. überarb. Aufl., Bern: Hogrefe 1997. Lexe, Heidi: »Türe zu. Fenster auf. Das Kinderzimmer als kinder- und jugendliterarischer Raum«, Roeder, Caroline (Hrsg.): Topographien der Kindheit. Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen, Bielefeld: Transcript 2014, S. 153–166. Schäfer, Iris: »Formvollendetes Leiden an ästhetisierten Krankheiten im aktuellen Jugendbzw. All-Age-Roman«, Mart&nez, Mat&as / Scheffel, Michael u. a. (Hrsg.): Diegesis 6: Krankheit erzählen I, Heft 2, Wuppertal 2017, S. 123–137. Schäfer, Iris: »Von der Hysterie zur Magersucht. Adoleszenz und Krankheit in Romanen und Erzählungen der Jahrhundert- und der Jahrtausendwende«, Frankfurt am Main: Lang 2016.

Onlinequellen Genius Media Group Inc.: »My Body Is a Cage. Arcade Fire«, verfügbar unter : https://geni us.com/Arcade-fire-my-body-is-a-cage-lyrics [23. 03. 2019].

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Verlust der Außenwelt in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann

Einleitung Diesem Beitrag liegt die These zugrunde, dass der Verlust der Erkenntnis der Außenwelt ein zentrales Motiv in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann1 ist. Durch die Analyse soll im Folgenden herausgearbeitet werden, dass Hoffmann durch den Protagonisten Nathanael die Entwicklung eines Individuums darstellt, das zunehmend in einer inneren Traumwirklichkeit versinkt, die immer weniger mit der Außenwelt kompatibel ist, wodurch die Figur den Bezug zur äußeren Wirklichkeit verliert.

Zum Inhalt Die 1816 veröffentlichte Erzählung Der Sandmann spielt an zwei Orten, der Heimatstadt des Protagonisten Nathanael sowie dessen Studienort. Die Erzählung lässt sich in zwei Teile gliedern, der erste besteht aus drei Briefen zwischen Nathanael, seinem Freund Lothar und dessen Schwester, seiner Verlobten Klara. Durch einen Ich-Erzähler, der sich als Freund Nathanaels vorstellt, wird der zweite Teil der Erzählung eingeleitet. Ausgangspunkt der Handlung ist ein Kindheitserlebnis Nathanaels: Abends kommt stets ein Mann zu Besuch, vor dessen Ankunft die Kinder auf Weisung der Mutter ins Bett gehen müssen, weil, so die Begründung, der Sandmann kommt. Nathanael identifiziert daher den Besucher mit dem Sandmann und versteckt sich, um diesen zu erblicken, eines Tages im Zimmer seines Vaters. Dabei stellt er fest, dass es sich bei dem Besucher um den Advokaten Coppelius handelt, der mit seinem Vater alchemistische Experimente durchführt. Als Nathanael entdeckt wird, misshandelt Coppelius ihn körperlich. Ein Jahr darauf stirbt sein Vater bei einem Besuch Coppelius’ 1 E. T. A. Hoffmann: »Der Sandmann. Das öde Haus. Nachtstücke«, Husum: Hamburger Lesehefte 2010.

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durch eine Explosion. Diese Kindheitserfahrung kommt Nathanael erneut zu Bewusstsein als er Coppelius in Gestalt eines Wetterglashändlers namens Coppola wiedererkennt, was in ihm große Unruhe auslöst. Lothar und Klara werten diese Sorgen als Einbildung, die durch die kindliche Identifikation Coppelius’ mit dem Sandmann verursacht sei. Nathanael nimmt dies zwar an, seine Ängste bleiben jedoch. Als Coppola ihm ein Perspektiv verkauft, wandelt sich die Erzählung entscheidend: Nathanael beobachtet durch dieses Olimpia, die Tochter seines Physikprofessors Spalanzani, in ihrem Zimmer. Die in diesem Moment entstehende Faszination schlägt in Verliebtheit um, die sich so weit entwickelt, dass er sich von Klara entfernt und Olimpia heiraten möchte. Schließlich stellt sich jedoch heraus, dass es sich bei Olimpia nicht um einen Menschen, sondern um eine von Spalanzani und Coppola erbaute Holzpuppe handelt. Nathanael versöhnt sich mit Klara. Doch als die beiden bei einem Spaziergang durch die Stadt auf einen Turm steigen, verfällt Nathanael in einen wahnhaften Zustand und versucht, Klara hinunter zu stoßen, was durch Lothar verhindert wird. In der Menschenmenge vor dem Turm glaubt Nathanael Coppelius zu entdecken und springt schließlich selbst in den Tod.2 In der Erzählung verschwimmen also stets die Grenzen von Wirklichkeit und Fiktion.

Der Kindheits-Angsttraum: Vom Traum zum Wahn Die Erzählung wird getragen von Träumen beziehungsweise Traumzuständen des Protagonisten. Dabei lässt sich eine Entwicklung vom Traum zum Wahn nachvollziehen: Der einzige Traum, der klar als solcher identifizierbar ist, weil er sich im Schlaf vollzieht, ist der Kindheits-Angsttraum, in dem Nathanael, wie es von Klara in der Erzählung selbst erkannt wird3, Coppelius mit dem Sandmann identifiziert. In der Schilderung der Situation, in der Nathanael seinen Vater und Coppelius aus einem Versteck im Schrank heraus beobachtete, lässt sich ein Umschwung von wirklich Erlebtem in kindliche Fantasie feststellen: »Mir war es, als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen – scheußliche, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer.«4 Dass dies Teil eines Traums ist, wird anhand des am Anfang stehenden »Mir war es« deutlich, das sich als eine

2 Vgl.: ebd., S. 5–35. 3 So heißt es im ersten Teil der Erzählung im Brief von Klara an Nathanael: »Geradeheraus will ich es dir nun gestehen, dass, wie ich meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon du sprichst, nur in deinem Innern vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte.« Ebd., S. 13. 4 Ebd., S. 9f.

Verlust der Außenwelt in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann

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»als-ob-Konstruktion«5 lesen lässt, die die Verfremdung der Wirklichkeit andeutet. Auf diesen Satz folgt die Schilderung der Misshandlung durch Coppelius. Das Verständnis dieses Teils der Schilderung als Traum wird durch den am Ende stehenden Satz »[e]in sanfter warmer Hauch glitt über mein Gesicht, ich erwachte wie aus dem Todesschlaf, die Mutter hatte sich über mich hingebeugt«6 bestätigt, indem das Erwachen und somit auch der Schlafzustand klar markiert werden.7 Dieser Traum lässt sich, nach Sigmund Freud, psychoanalytisch als die Verarbeitung von so genannten Tagesresten deuten: Am Tag real Erlebtes (hier das Verstecken zum Beobachten und die Entdeckung) wird im Traum verarbeitet und – in diesem Fall – mit Ängsten verbunden.8 An dieser Stelle verbinden sich also im Traum die innere und die äußere Wirklichkeit der kindlichen Figur. Diese traumatische Kindheitserfahrung bestimmt, wie der weitere Handlungsverlauf zeigt, Nathanaels Wahrnehmung und die Vermengung der Wirklichkeiten. Alle weiteren Traumsituationen in der Erzählung sind nicht als Schlafzustände gekennzeichnet, weshalb sich darauf schließen lässt, dass es sich dabei um wahnhafte Tagträume handelt.

Das Augenmotiv: Kollision mit der Außenwelt Bestimmend für Nathanaels schwindende Ratio ist das Motiv der Augen, das sich als Leitmotiv der Erzählung darstellen lässt.9 Für die Fähigkeit der Erkenntnis einer äußeren Wirklichkeit sind die Augen als Medium sinnlicher Erfahrung von zentraler Bedeutung. Die Augen vermitteln darüber hinaus zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit, gelten nicht zuletzt als Fenster zur Seele. Schon zu Beginn der Handlung wird das Augenmotiv in der Erzählung der Mutter, nachts käme der Sandmann und streue den Kindern Sand in die Augen, angelegt.10 Zum zweiten Mal taucht das Augenmotiv in der Misshandlungsszene 5 Inge Stegmann: »Deutung und Funktion des Traumes bei E. T. A. Hoffmann«, Diss. Bonn: 1973, S. 234. [Hervorhebung im Original] 6 E. T. A. Hoffmann: »Der Sandmann. Das öde Haus. Nachtstücke«, Husum: Hamburger Lesehefte 2010, S. 10. 7 Der Traum beinhaltet darüber hinaus eine Vorwegnahme der weiteren Handlung, da Nathanael von der Zerstörung seiner Existenz durch Coppelius träumt, vgl.: Inge Stegmann: »Deutung und Funktion des Traumes bei E. T. A. Hoffmann«, Diss. Bonn: 1973, S. 236. 8 Vgl.: Sigmund Freud: »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 11, Frankfurt am Main: Fischer 1940, S. 79–135. 9 Vgl.: Inge Stegmann: »Deutung und Funktion des Traumes bei E. T. A. Hoffmann«, Diss. Bonn: 1973, S. 236. 10 Obwohl die Mutter Nathanael auf dessen Nachfragen hin erläutert, dass es den Sandmann nicht wirklich gebe, lässt ihn diese Vorstellung nicht los: »Der Mutter Antwort befriedigte mich nicht, ja in meinem kindischen Gemüt entfaltete sich deutlich der Gedanke, dass die Mutter den Sandmann nur verleugne, damit wir uns vor ihm nicht fürchten sollten, ich hörte

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auf. Die Aussage Coppelius: »Augen her, Augen her!«11 verrät Nathanaels Versteck, denn er reagiert auf diesen Satz mit einem Schrei.12 Daraufhin wird Nathanael von Coppelius gepackt: [Er] warf mich auf den Herd, dass die Flamme mein Haar zu sengen begann: ›Nun haben wir Augen – Augen – ein schönes Paar Kinderaugen.‹ So flüsterte Coppelius, und griff mit den Fäusten glutrote Körner aus der Flamme, die er mir in die Augen streuen wollte.13

In dieser Szene verhindert Nathanaels Vater den Augenverlust. Deutlich werden hier auch das Motiv des Sandmanns, der den Kindern Sand in die Augen streut sowie die Identifikation Coppelius’ mit dem Sandmann.14 Diese Kindheitserfahrung Nathanaels und der damit zusammenhängende Traum stellen den Ausgangspunkt für eine Zuspitzung in der Erzählung dar : Der Traum hat einen prophetischen Charakter, in welchem sich die Angst um den Verlust der Augen manifestiert und der eigene Tod vorweggenommen wird. Die Angst um den Verlust der Augen lässt sich gleichsam als Angst vor dem Verlust der eigenen Wahrnehmung verstehen, der sich im Laufe der Handlung vollzieht. Als der Wetterglashändler Coppola Nathanael einen Besuch abstattet, entgegnet er der Weigerung Nathanaels, ein Wetterglas zu kaufen, damit, dass er auch »sköne Oke«15 – schöne Augen – habe und schließlich unzählige Brillen auf den Tisch legt, die wiederum als Augen beschrieben werden: »Tausend Augen blickten und zuckten krampfhaft und starrten auf zum Nathanael; aber er konnte nicht wegschauen.«16 Nachdem die Brillen weggepackt sind, beruhigt Nathanael sich, kauft Coppola ein Taschenperspektiv ab und stellt beim Blick

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ihn ja immer die Treppe heraufkommen.« E. T. A. Hoffmann: »Der Sandmann. Das öde Haus. Nachtstücke«, Husum: Hamburger Lesehefte 2010, S. 6. Schon hier wird deutlich, dass Nathanael sich nur schwer von seiner Imagination lösen kann, was im Erwachsenenalter erhalten bleibt. Ebd., S. 10. Stegmann verweist darauf, dass diese Aussage Coppelius’ ein Stück Erz meinen könnte, für das Auge oder auch Erzäuglein als mineralogische Fachausdrücke gelten, womit der Satz rational erklärbar und in den Kontext alchemistischer Experimente einzuordnen wäre. Vgl.: Inge Stegmann: »Deutung und Funktion des Traumes bei E. T. A. Hoffmann«, Diss. Bonn: 1973, S. 235. Dennoch tragen die Erzählstrategie und die hysterische Angst der Hauptfigur dazu bei, die Leser*innen über die Differenzierung von Wirklichkeit und Fiktion bewusst im Unklaren zu lassen. E. T. A. Hoffmann: »Der Sandmann. Das öde Haus. Nachtstücke«, Husum: Hamburger Lesehefte 2010, S. 10. In der Erstveröffentlichung der Erzählung erblindet Nathanaels kleine Schwester durch Coppelius, in der Endfassung wurde dies jedoch von Hoffmann gestrichen. Vgl.: Inge Stegmann: »Deutung und Funktion des Traumes bei E. T. A. Hoffmann«, Diss. Bonn: 1973, S. 235. E. T. A. Hoffmann: »Der Sandmann. Das öde Haus. Nachtstücke«, Husum: Hamburger Lesehefte 2010, S. 23. Ebd., S. 24.

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durch dieses fest: »Noch im Leben war ihm kein Glas vorgekommen, das die Gegenstände so rein, so scharf und deutlich dicht vor die Augen rückte.«17 Von Bedeutung ist an dieser Stelle, dass Nathanael durch das Perspektiv hinaussieht und Olimpia im gegenüberliegenden Fenster erblickt, deren Augen ihm nun nicht mehr, wie durch seinen Blick ohne Perspektiv, als »etwas Starres«18 erscheinen. Je schärfer er sie durch das Glas betrachtete, desto mehr ist es ihm, als gingen in Olimpias Augen »feuchte Mondstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke.«19 Das Perspektiv selbst lässt sich ebenso dem Augenmotiv zuordnen; es dient der Erweiterung der Sehkraft, ermöglicht, Dinge in der Ferne aus der Nähe zu betrachten. Bei Nathanael hat es jedoch eine gegenteilige Wirkung: Nach dem Erwecken ihrer toten Augen durch seinen eigenen Blick, verliebt sich Nathanael in Olimpia.20 Er sieht sie dabei vor allem durch das Perspektiv an21 und hält sie – den Automaten – für real; will sie schließlich heiraten.22 Je näher Nathanael Olimpia im Blick (zumeist durch das Perspektiv) ist, desto stärker verfremdet sich seine Wahrnehmung. Sein Blick ist nun der des Perspektivs, ein reduzierter, um genauer zu sein: ein einäugiger.23 Dies geht einher mit dem Verlust von Selbsterkenntnis, denn Nathanael kann auch sich selbst nicht mehr klar sehen; erkennt nicht, dass er nicht mehr erkennt. Weil seine innere Wirklichkeit die Übereinstimmung mit der Außenwelt einbüßt, gerät er zunehmend in Kollision mit der Außenwelt, was sich anhand seines Verhältnisses zu Klara nachvollziehen lässt. Je näher Nathanael Olimpia kommt, desto mehr distanziert er sich von Klara. Sie repräsentiert die Außenwelt, die er nicht mehr als eine gemeinsame erkennt. Nicht zuletzt der Name Klara, der an Klarheit erinnert, verdeutlich ihre Rolle: Sie erkennt Nathanaels Wandlung, ihr Verweisen darauf stört seine veränderte Wahrnehmung. Dass Klara in der Erzählung als Metapher für den hellen 17 18 19 20

Ebd. Ebd., S. 16. Ebd., S. 24. Nathanael verbringt nach Coppolas Besuch viel Zeit damit, Olimpia zu beobachten: »Jetzt setzte er sich hin, um den Brief an Klara zu enden, aber ein Blick durchs Fenster überzeugte ihn, dass Olimpia noch dasäße, und im Augenblick, wie von unwiderstehlicher Gewalt getrieben, sprang er auf, ergriff Coppolas Perspektiv und konnte nicht los von Olimpias verführerischem Anblick.« Ebd., S. 25. 21 So beispielsweise bei der Feier in Professor Spalanzanis Haus: Er »konnte im blendenden Kerzenlicht Olimpias Züge nicht ganz erkennen. Ganz unvermerkt nahm er deshalb Coppolas Glas hervor und schaute hin nach der schönen Olimpia. Ach! – da wurde er gewahr, wie sie voll Sehnsucht nach im herübersah.« Ebd., S. 26. 22 Vgl.: ebd., S. 30. 23 Vgl.: Nikolai Vogel: »E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann als Interpretation der Interpretation«, in Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland, Bd. 28, Frankfurt am Main: Peter Lang 1998, S. 47.

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Blick und klaren Verstand beschrieben wird, bestärkt diese Deutung. Ihre Augen kontrastieren Olimpias Starrheit, sie spiegeln das, was der/die Betrachtende in ihnen sieht.24 Olimpia hingegen ist ein »leerer Spiegel,«25 in den Nathanael sein Fühlen und Denken, sein Ich projiziert. Nathanaels Wahrnehmung ist seitenverkehrt: Olimpias Blick scheint ihm belebt, Klaras leblos. Als er zum Ende der Erzählung mit Klara auf dem Ratsturm steht und »mechanisch«26 in die Seitentasche nach dem Perspektiv greift, betrachtet er Klara durch selbiges, verfällt daraufhin in eine wahnhafte Aggression und will sie vom Turm stoßen. Dass er beim Blick durch das Perspektiv von »Holzpüppchen«27 spricht, legt den Schluss nahe, dass er damit Klara meint – hierin zeigt sich die Umkehrung seiner Wahrnehmung: Das Tote – Olimpia – wird lebend, das Lebende – Klara – tot.28 Nathanaels Liebe zu Olimpia kommt außerdem einer Selbstaufgabe gleich; Nathanael braucht kein wirkliches Gegenüber mehr ; einziger Bezugspunkt ist seine innere Wirklichkeit, die ohne weitere Subjekte auskommt. Nathanael braucht nur noch ein Objekt zur Selbstspiegelung: Olimpia. Sein Blick wird einseitig und hat keine Resonanz mehr, denn Olimpia schaut ihn nicht an, ihr Blick ist sein Blick: »Nathanaels Ich beseelt fortan eine Puppe.«29 Diese Selbstaufgabe bestätigt sich im »Todesseufzer,«30 der durch das Zimmer hallt als Nathanael Olimpia zum ersten Mal durch das Perspektiv erblickt; der Todesseufzer ist sein eigener. Dass der Blick durch das Perspektiv Nathanaels Traumzustände, bei denen unklar ist, ob es sich um Tagträume oder Wahnzustände handelt, befördert, zeigt sich auch in der Szene, in der er Olimpias Automatendasein erkennt und nach der er »wie aus schwerem, fürchterlichem Traum«31 erwacht. Auch hier spielt das Augenmotiv eine zentrale Rolle. Als Coppola nach dem handgreiflichen Streit mit Spalanzani mit der malträtierten Olimpia verschwindet, erkennt Nathanael: »Olimpias toderbleichtes Wachsgesicht hatte keine Augen, statt ihrer schwarze 24 Vgl.: E. T. A. Hoffmann: »Der Sandmann. Das öde Haus. Nachtstücke«, Husum: Hamburger Lesehefte 2010, S. 18. 25 Nikolai Vogel: »E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann als Interpretation der Interpretation«, in Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland, Bd. 28, Frankfurt am Main: Lang 1998, S. 48. 26 E. T. A. Hoffmann: »Der Sandmann. Das öde Haus. Nachtstücke«, Husum: Hamburger Lesehefte 2010, S. 34. 27 Ebd. 28 Vgl.: Nikolai Vogel: »E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann als Interpretation der Interpretation«, in Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland, Bd. 28, Frankfurt am Main: Lang 1998, S. 48. 29 Inge Stegmann: »Deutung und Funktion des Traumes bei E. T. A. Hoffmann«, Diss. Bonn: 1973, S. 237. 30 E. T. A. Hoffmann: »Der Sandmann. Das öde Haus. Nachtstücke«, Husum: Hamburger Lesehefte 2010, S. 25. 31 Ebd., S. 33.

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Höhlen; sie war eine leblose Puppe.«32 Spalanzani spricht daraufhin davon, Coppola habe Nathanael seine Augen genommen – »mein – die Augen – die Augen dir gestohlen«33 – und verweist auf den Boden, »da hast du die Augen!«34, von dem aus Nathanael ein Augenpaar anstarrt. Dass Spalanzani nicht von Olimpias, sondern von Nathanaels Augen spricht, verdeutlicht die hiermit verbundene Symbolik: Durch das von Coppola gekaufte Perspektiv ist Nathanael sein eigener Blick förmlich abhandengekommen.35 Schließlich löst das Perspektiv Nathanaels Tod aus. Nachdem er auf dem Turm durch das Perspektiv in der untenstehenden Menge Coppelius zu erblicken meint, stürzt er sich, »Ha! Sköne Oke – Sköne Oke«36 schreiend, hinab. Dass seine letzten Worte »Sköne Oke« – schöne Augen – lauten, womit er Coppola zitiert, unterstreicht noch einmal die Bedeutsamkeit des Augenmotivs für die Erzählung. Das Perspektiv entscheidet in der gesamten Handlung gewissermaßen über Leben und Tod. Nicht zuletzt manifestiert es sich schon in den Namen Coppelius und Coppola, denn beide enthalten das italienische Wort coppo: Augenhöhle.37

Fazit Zusammenfassend lassen sich zwei mit der Frage von der Erkenntnis zusammenhängende Motive in Der Sandmann ausmachen. Erstens ist die Handlung von einer ständigen Infragestellung einer Außenwelt geprägt, die über das Subjekt als verallgemeinerbare Perspektive existiert, also eine den Subjekten gemeinsame ist. Die Erzählweise lässt die Leser*innen bis zum Schluss im Unklaren darüber, ob das Geschehen nur aus Nathanaels Perspektive dargestellt 32 33 34 35

Ebd., S. 31. Ebd. Ebd. In Nathanaels Kindheitstraum, der die eigene Zerstörung bereits vorwegnimmt, lässt sich auch eine Vorwegnahme der Zerstörung Olimpias erkennen: Die Misshandlung durch Coppelius – das Auseinanderreißen – geschieht auch mit Olimpia. Dies ließe sich als Analogie verstehen, in der Nathanael selbst zur Puppe wird. Vgl.: Nikolai Vogel: »E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann als Interpretation der Interpretation«, in Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland, Bd. 28, Frankfurt am Main: Lang 1998, S. 47. 36 E. T. A. Hoffmann: »Der Sandmann. Das öde Haus. Nachtstücke«, Husum: Hamburger Lesehefte 2010, S. 35. 37 Vgl.: Inge Stegmann: »Deutung und Funktion des Traumes bei E. T. A. Hoffmann«, Diss. Bonn: 1973, S. 235. Sigmund Freud beschreibt die Angst um den Verlust der Augen als Kastrationsangst, da diese mit dem Tod des Vaters zusammenhänge und der Sandmann als »Störer« der Liebe auftrete. Um Freuds Auseinandersetzung mit Hoffmanns Erzählung nachzuvollziehen, vgl.: Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 12, Frankfurt am Main: Fischer 2006. Ausführlich eingegangen wird auf das Unheimliche im Sinne Freuds in den Beiträgen von Mona Baumann und Eva Neubauer in diesem Band.

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wird. Es bleibt unklar, ob für Nathanael überhaupt eine Außenwelt besteht oder ob es sich beim Geschilderten insgesamt um einen Traum handelt. Der Traum dient in der Erzählung zum einen der Vorwegnahme der Handlung (Kindheitstraum) und führt zum anderen im Laufe der Handlung zum Verlust der Ratio. Der Traum ist in der Erzählung so eingesetzt, dass er eine endgültige Trennung von Wirklichkeit und Fiktion für die Leser*innen unmöglich macht. Auch der Leserschaft ist demnach keine klare Erkenntnis möglich. Setzt man voraus, dass es sich nicht um einen Traum handelt, sondern dass eine Außenwelt besteht, so lässt sich Nathanaels Geschichte als eine der ständigen Kollisionen mit dieser Außenwelt lesen. Er findet sich im sensus communis, dass es eine den Subjekten gemeinsame Außenwelt gibt, nicht zurecht. In diesem Sinne ließe sich die Erzählung so verstehen, dass Hoffmann für eine Perspektivierung argumentiert: Es gibt keine für alle ähnlich erkennbare Außenwelt, sondern nur individuelle Wirklichkeiten.38 Nathanael wäre dann der Vertreter dieser Diversität von Wirklichkeit, der letztlich nicht durch sich selbst, sondern durch das mangelnde Verständnis, die in diesem Sinne mangelnde Erkenntnisfähigkeit der anderen Personen in den Tod getrieben wird.39

Literaturverzeichnis Primärliteratur Hoffmann, E. T. A.: »Der Sandmann. Das öde Haus. Nachtstücke.«, Husum: Hamburger Lesehefte 2010. (Hamburger Leseheft Nr. 174, Heftbearbeitung: Elke und Uwe Lehmann).

38 Hoffmann greift also nicht nur psychologische Diskurse seiner Zeit auf, sondern auch philosophische. Die Betonung des Subjekts und einer individuellen Wirklichkeit verweisen zudem auf die Erkenntnistheorie Schopenhauers. Vgl.: Arthur Schopenhauer : »Die Welt als Wille und Vorstellung«, Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2 u. 3, Mannheim: Brockhaus 1988. 39 Nicht zuletzt lassen sich in der Erzählung Elemente einer Gegenüberstellung von Romantik (Olimpia) und Aufklärung (Klara) finden, die wiederum eng mit dem Augenmotiv verbunden ist. In der Aufklärung erkennt das Auge etwas vor sich, in der Romantik gibt es hinter sich etwas zu erkennen. Der aufklärerische Blick betont also das Objektive – die gemeinsame Außenwelt –, der romantische das Subjektive. Siehe auch: Nikolai Vogel: »E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann als Interpretation der Interpretation«, in Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland, Bd. 28, Frankfurt am Main: Lang 1998, S. 50f.

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Sekundärliteratur Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 12, Frankfurt am Main: Fischer 2006. Freud, Sigmund: »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 11, Frankfurt am Main: Fischer 1940. Schopenhauer, Arthur : »Die Welt als Wille und Vorstellung«, Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2 u. 3, Mannheim: Brockhaus 1988. Stegmann, Inge: »Deutung und Funktion des Traumes bei E. T. A. Hoffmann«, Diss. Bonn 1973. Vogel, Nikolai: »E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann als Interpretation der Interpretation«, in Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland, Bd. 28, Frankfurt am Main: Lang 1998.

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Kindliche Ängste und drohender Ich-Verlust als Motive von Neil Gaimans Coraline und Lewis Carrolls Alice im Wunderland

Einleitung Die namensgebenden Protagonistinnen in Neil Gaimans Coraline (2002) und Lewis Carrolls Alice-Büchern Alice im Wunderland (1864) und Alice hinter den Spiegeln (1872) erleben Fantastisches: Sie gelangen in andere Welten, werden auf die Probe gestellt und müssen ihre Ängste bewältigen. Einige zentrale Motive, wie der Spiegel, die bedeutsame Raumdarstellung, das Spiel(en), Faktoren des Ich-Verlusts sowie Figuren wie die andere Mutter, Puppen und Katzen weisen erstaunliche Ähnlichkeiten in beiden Erzählungen auf und werden im Folgenden aus psychoanalytischer Perspektive vergleichend in den Blick genommen. Die in beiden Erzählungen thematisierten Widersprüchlichkeiten, das Spielerische, Absurde scheinen bis heute Ängste, Träume und Wünsche der Leserschaft anzusprechen und eine Identifikationsmöglichkeit darzustellen. Wegweisend ist Alice auch als weibliche Figur, die sich ihren Ängsten stellt und mit ihren Begegnungen im Traum die Sonderbarkeiten der Viktorianischen Gesellschaft aufzeigt. Coraline von Neil Gaiman aus dem Jahr 2002 widmet sich ebenfalls der Überwindung von Ängsten; auch hier muss das Mädchen diese alleine bewältigen. Gemäß Andrea Weinmann gewann die Gruselliteratur ab den 1950er Jahren langsam an Akzeptanz und Verbreitung. Bis in die 1970er hinein war die Ansicht vorherrschend, man dürfe Kinder nicht mit Ängsten konfrontieren, sodass typische Figuren der Gruselliteratur wie Gespenster und Hexen für das junge Publikum verharmlost dargestellt wurden. Ein Beispiel hierfür ist Ottfried Preußlers Das kleine Gespenst.1 Mit wachsender Einsicht, dass die in der Literatur behandelten Ängste schon im kindlichen Lesenden vorhanden sind und die Lektüre der Gruselliteratur bei der Angstbewältigung hilfreich sein kann, wurde

1 Vgl.: Andrea Weinmann: »Zwischen Angst und Lust. Zur Entwicklung der deutschsprachigen Gruselliteratur für junge Leser von den 1950er Jahren bis heute«, in kjl& m 4, 2015, S. 23.

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das literarische Angebot facettenreicher.2 Coraline erschien 2002, und entspricht gemäß Weinmanns Chronologie den Nachfolgeerscheinungen der in den 1990er Jahren so beliebten Gruselserien. Coraline beschreibt Coralines Individuation, die von der Auseinandersetzung mit verschiedenen Ängsten begleitet wird.3 Die zentrale Angst der namensgebenden Protagonistin ist der Ich-Verlust.

Neil Gaimans Coraline Coraline wird in dreizehn Kapiteln erzählt. Die Dreizehn gilt im westlichen Raum als Unglückszahl; als Zahl des Bösen,4 sodass bereits die Struktur der Erzählung auf (abergläubische) Ängste verweist. Neben zahlreichen Anspielungen auf verschiedene Mythen und Märchen, greift Gaiman in Coraline auch Motive aus der Gothic Novel des 18. Jahrhunderts auf. Die rezipierten Motive und Symbole reichen vom Haunted House, alten Türen und Spiegeln, Nebel, bis hin zum Fokus auf das familiäre Zusammenleben. In der Gothic Novel repräsentiert die Familie häufig eine verdorbene Gesellschaft. Sichtbar werden in diesen Erzählungen sowohl die Sehnsucht nach als auch die Kritik an häuslicher Normalität.5 Leo Braudy erklärt in diesem Zusammenhang, dass der Begriff Gothic im 18. Jahrhundert mit den Attributen: »grausam« und »anormal« verbunden wurde.6 Coraline langweilt sich im familiären Umfeld und strebt danach, ihre Individualität auszuleben. Dies kommt etwa darin zum Ausdruck, dass sie sich zu ihrer Schuluniform grüne Handschuhe wünscht, ein klares Herausstellungsmerkmal, das sie von der einheitlichen Masse abhebt.7 Das Haus, in dem Coralines Familie eine Wohnung bezieht, erinnert an das klassische Haunted House, weil es alt und groß ist, umgeben von wild bewachsener Gartenfläche. Stephan Berg beschreibt die Semantik eins solchen Gebäudes wie folgt: »Auffällig ist bei allen Beispielen stets die Parallelführung von innerer psychischer Befindlichkeit der Protagonisten und des bedrohlichen Zustands der Bauwerke.«8 Dass die individuelle Wahrnehmung des Hauses eine enge Verbindung zur psychischen Befindlichkeit der sie erkundenden Figur 2 Vgl.: ebd., S. 23ff. 3 Vgl.: ebd., S. 26ff. 4 Vgl.: Felix von Bonin: »Kleines Handlexikon der Märchensymbolik«, Stuttgart: Kreuz 2001, S. 31. 5 Vgl.: Leo Braudy : »Horror«, Hans-Otto Hügel (Hrsg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart: Metzler 2003, S. 250. 6 Vgl.: ebd., S. 249. 7 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 29. 8 Stephan Berg: »Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts«, Stuttgart: Metzler 1991, S. 43.

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aufweist, kommt etwa darin zum Ausdruck, dass die fantastische Welt sich Analog zur Erkenntnis der Wahren Natur der »anderen Mutter« verändert.9

Lewis Carrolls Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln Die Geschichte von Carrolls Alice ist eine Geschichte der Irritationen – bezogen auf das eigene Ich der Heldin wie auf die Wirklichkeit, mit der sie es zu tun bekommt. Ihre intensive Rezeptionsgeschichte erklärt sich nicht zuletzt damit, daß es um Modellgeschichten zum Thema Desorientierung geht.10

Lewis Carroll verfasste zwei Bücher über die siebenjährige Alice. In jeweils zwölf11 Kapiteln durchlebt Alice ihre sonderbaren Abenteuer in Alice im Wunderland (1865) und Alice hinter den Spiegeln (1872). Die Verunsicherung entsteht in beiden Texten dadurch, dass Zeit und Raum – für traumhaftes Erleben typisch – unbeständig sind. Nicht nur die Umgebung verändert sich, auch Alice wechselt Form und Größe und ist somit Irritationen ausgesetzt, die die Gewissheit über die eigene Persönlichkeit und Existenz in Frage stellen. Die Angst des Ich-Verlusts ist demnach dominant. Alices Traumreisen sind verknüpft mit einer spielerischen und labyrinthischen Bewegung durch die wundersamen Welten. Das Element des Spiels zeigt sich im Wunderland etwa in Gestalt der Spielkarten-Soldaten oder der Einladung zur Croquetpartie bei der Herzkönigin. Das Land hinter den Spiegeln ist schachbrettartig strukturiert. Auch Alices Bewegung durch diesen Raum ist an Züge in einem Schachspiel gebunden.

Auffällige Parallelen Neil Gaiman’s Coraline (2002) is in every respect a dialogical response to Alice in Wonderland […]. In this novel, we meet, similarly to Alice, doors and keys, mirrors, pretty gardens, murky passages, and bizarre creatures. While Alice may be considered

9 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 115. 10 Monika Schmitz-Emans: »Im Labyrinth der Erfahrungen und Diskurse. Alices schwindelerregende Erfahrungen mit dem Ich und der Welt«, Hans Richard Brittnacher / Rolf-Peter Janz (Hrsg.): Labyrinth und Spiel. Umdeutungen eines Mythos, Göttingen: Wallstein 2007, S. 143. 11 Vgl.: Felix von Bonin: »Kleines Handlexikon der Märchensymbolik«, Stuttgart: Kreuz 2001, S. 136.

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dark, Coraline is darker, and while Alice comfortably wakes up from her nightmare, nightmare pursues Coraline into her reality.12

In beiden Fällen wird die Identitäts-verunsichernde Traumreise als Alptraum lesbar. Alice gelangt zunächst durch einen Sturz in einen Kaninchenbau in das Wunderland. Aber dort sieht sie sich mit vielen weiteren Übergängen konfrontiert. Sie muss dabei Spiegel und Türen jeglicher Art, Bäche, Wälder und vieles Weitere durchqueren und überwinden. Coraline betritt die andere Welt durch eine alte, zunächst zugemauerte Tür im Salon ihres neuen Zuhauses. Die Gefahr versteckt sich für Coraline demnach im Häuslichen. Obwohl sie gerade erst mit ihren Eltern in die neue Umgebung gezogen ist, ist ihr diese durch ihre Entdeckungstouren schon sehr vertraut.13 Hinter der Tür lauert Gefahr, aber hinter dem Spiegel in der anderen Welt, in dem sie gefangengehalten wird, erfährt sie Hilfe und erlangt wichtige Erkenntnisse. Die andere Mutter ist im Spiegel nicht zu sehen,14 was an Vampirgestalten aus der Gothic Novel erinnert. Die drei Geisterkinder, auf die Coraline hinter dem Spiegel trifft, geben ihr wichtige Anhaltspunkte für die Rettung ihrer Eltern und der Kinderseelen und ebnen somit ihren Weg Nachhause. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in den vierbeinigen Begleitern, insbesondere der Edamer Mieze in Alice im Wunderland und dem schwarzen Kater bei Coraline. Beide Kater spielen damit, der jeweiligen Protagonistin überlegen zu sein und verstecken ihre Ratschläge in Rätseln.15 Sie fungieren als Wegweiser und Reisebegleiter in den unbekannten Welten. Zentrale Szenen beider Erzählungen stellen zudem die Teeparties dar. Bei Alice, gemeinsam mit dem Verrückten Hutmacher, dem Schnapphasen und der Haselmaus; Bei Coraline in Gesellschaft ihrer Nachbarinnen Miss Spink und Miss Forcible, oder im Kreise ihrer Puppen am Brunnen. Letzteres als Vorwandt, um die rechte Hand der anderen Mutter unwiderruflich in die andere Welt zu schicken. Schließlich haben beide Figuren eine ähnliche Motivation für ihre fantastischen Reisen. Beide sind von der Welt, die sie umgibt, gelangweilt und fühlen sich im Alltag missverstanden. Das Wunder- und Spiegelland sowie die andere Wohnung/Welt erscheinen zunächst als reizvolle Zufluchtsorte, die jedoch Alice 12 Maria Nikolajeva: »Devils, Demons, Familiars, Friends: Toward a Semiotics of Literary Cats«, in Marvels and Tales, 23, 2/2009, S. 259. 13 Vgl.: Sabine Kyora: »How to Make a Monster. Zur Konstruktion des Monströsen. Einführende Überlegungen«, Ders.: How to Make a Monster. Konstruktionen des Monströsen, Würzburg: Königshausen und Neumann 2011, S. 10. 14 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 85. 15 Vgl.: Maria Nikolajeva: »Devils, Demons, Familiars, Friends: Toward a Semiotics of Literary Cats«, in Marvels and Tales, 23, 2/2009, S. 258.

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und Coraline zur gleichen Zeit auch vor Aufgaben stellen, die sie erwachsener werden lassen. Auf diese Weise lernen sie ihre (wache) Welt besser kennen bzw. zu akzeptieren.

Vergleich gemeinsamer Motive Betrachtet man die Ausbildung von zwei oder mehreren innerfiktiven Welten bzw. Erfahrungsdimensionen, wie sie für die literarische Phantastik typisch ist, genauer, so wird deutlich, dass es sich dabei nicht um klar abgegrenzte, säuberlich voneinander getrennte Bereiche handelt, sondern um Erlebnishorizonte, die ineinander übergehen und sich oft unvermutet wechselseitig durchdringen bzw. miteinander verschmelzen, wie die plötzlichen Begegnungen mit unheimlichen Wesen illustrieren.16

Die Erfahrungen in den anderen Welten prägen sowohl Alice als auch Coraline. Die Grenzüberschreitungen und Begegnungen finden unter anderem durch den Spiegel als Schwelle statt.

Spiegel »Der Spiegel reflektiert die Welt nicht an sich, sondern vermittelt sie immer schon gebrochen, als Reflex, aus der ganz privaten Sicht eines Betrachters.«17 Darüber hinaus sind Spiegelbild und Spiegelgegenstand immer aufeinander bezogen, denn das Spiegelbild ist synchrone Doppelung des Sichtbaren; es weist immer auf das Tatsächliche, das Gespiegelte hin und ist davon abhängig. Die Wiedergabe eines Szenarios auf einem Bild hingegen ist einmalig und an den Augenblick der Wiedergabe gebunden, nicht aber an das Wiedergegebene.18 Spiegelkabinette arbeiten nicht an der Hinführung zum Ziel oder Ausgang, sondern an der ständigen perspektivischen Verschiebung und Irrealisierung des Ortes, an dem sich der Betrachter befindet; sie dekomponieren das vertraute Raum-Zeit-Gefüge.19

Als beispielhaft für die Zweifel am Aussagewert des Spiegelbildes kann die Äußerung von G. E. Lessing verstanden werden, der Spiegel könne keine vollständige Wiedergabe seines Selbst darstellen. Der Spiegel kann nur zeigen, was Licht 16 Anette Simonis: »Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres«, Heidelberg: Winter 2005, S. 48. 17 Horst Lederer: »Phantastik und Wahnsinn. Geschichte und Struktur einer Symbiose«, Köln: SH 1986, S. 303f. 18 Vgl.: Ralf Konersmann: »Spiegel«, Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9., Basel: Schwabe 1995, 1379–1383, (Sp. 1379). 19 Matthias Hennig: »Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume in der Literatur des 20. Jahrhunderts«, Paderborn: Fink 2015, S. 79f.

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auf seine Fläche wirft. Gleichzeitig wird der Spiegel als Instrument der Selbstund der sozialen Kontrolle entdeckt.20 Letzteres wird bspw. in Virginia Woolfs The Lady in the Looking-Glass beschrieben. Hier wird der Spiegel als Überwachungselement entlarvt, weshalb man ihn verhängen, als sich in ihm betrachten sollte.21 In der Fantastik spielen Spiegel-Szenarien vornehmlich als Instrument der Verunsicherung und Destabilisierung eine Rolle.22 Die Irritation des Spiegels kann dadurch entstehen, dass das Gezeigte, nicht der herkömmlichen Logik eines Spiegelbildes folgt. In Coralines Welt, sowohl der bekannten Alltagswelt als auch der künstlich erschaffenen Anderswelt, offenbart der Spiegel Hinweise für Coraline. Als ihre Eltern verschwunden sind und der Kater sie weckt, zeigt der Spiegel im Korridor, der einmal zu einer Schranktür gehört hatte, ihre hilflosen Eltern.23 Der Spiegel zeigt Coraline, dass sie Gefangene der anderen Welt sind und noch ein anderes wichtiges Detail wird durch den Spiegel im Flur ihrer Wohnung offenbart: Überrascht sah Coraline auf ihre Hand hinunter. Es war einfach nur ein Kieselstein mit einem Loch darin, ein x-beliebiger brauner Kiesel. Dann schaute sie wieder in den Spiegel, in dem der Stein wie ein Smaragd funkelte.24

Im Spiegel wird Coraline ersichtlich, dass der Stein, den sie von ihren Nachbarinnen erhalten hat, ihr bei der Suche nach den Seelen helfen kann. So kommt sie auf die Idee, ihn als Instrument zu benutzen und durch die Öffnung des Steines zu schauen. Der Spiegel lässt sich daher als positive Irritation bezeichnen, da Coralines Blick in und ihre Zeit hinter dem Spiegel ihr bei der Überwindung der anderen Mutter helfen. Wie bereits erwähnt, ist diese im Spiegel nicht zu sehen.25 Somit weist das Spiegelbild auch Leerstellen auf, die auf Gefahr verweisen. Coraline merkt jedoch allmählich, dass die andere Welt nur aus Trugbildern und nicht aus wirklichen Gefahren besteht, weshalb sie an die Irritation erinnert, die von Laybrinthen oder Spiegelkabinetten ausgeht.26 Labyrinthen und Spiegelkabinetten ist gemeinsam, dass sie innerhalb einer umgrenzten räumlichen Konfiguration einen tendenziell unbegrenzten und unendlichen Raum erzeugen: sie verschachteln den Raum, falten ihn strukturell nach innen ein und 20 Vgl.: Ralf Konersmann: »Spiegel«, Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9., Basel: Schwabe 1995, 1379–1383, (Sp. 1379). 21 Vgl.: Virginia Woolf: »The Lady in the Looking-Glass«, Milton Keynes: Brit Books 2011, S. 1–10. 22 Vgl.: Ralf Konersmann: »Spiegel«, Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9., Basel: Schwabe 1995, 1379–1383, (Sp. 1381). 23 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 59. 24 Ebd., S. 104. 25 Vgl.: ebd., S. 84f. 26 Vgl.: ebd., S. 103 und S. 129.

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separieren ihn dabei von der Außenwelt. […] Der Raum wird zu einem Störfaktor, einem scheinbar unabhängigen Agens, das das Ich auf sich selbst zurückweist.27

Für Alice ist ab 1872 der Spiegel der Ausgangspunkt ihrer Reise in eine neue Traumwelt. Nachdem sie durch den Spiegel, der über dem Kamin im Wohnzimmer hängt, in das gespiegelte Haus gelangt ist, erkundet sie die Spiegelwelt, die zunächst logische Muster aufzuweisen scheint. So erkennt sie schnell, dass hier alles spiegelverkehrt erscheint. Wenn der Kamin im Wohnzimmer qualmt, dann wird der Rauch auch im Spiegel sichtbar. Die Einrichtung gleicht der ihr vertrauten Einrichtung.28 Irritiert ist sie zunächst, da sie die Schrift in einem Buch, das sie zur Hand nimmt, nicht lesen kann. Bald erkennt sie jedoch, dass die Schrift gespiegelt ist.29 Verwirrend ist es auch, dass im Raum hinter dem Spiegel alles, was sie aus ihrem Wohnzimmer aus nicht erkennen konnte, völlig anders erscheint und dass zahlreiche Gegenstände und Bilder lebendig sind. Der Spiegel und der Raum hinter dem Spiegel geben Aufschluss über Alices Fantasie und Abenteuerlust: Der Blick in den Spiegel ist vor allem Selbstspiegelung und hält die Möglichkeit von Irrealität, Täuschung und Wahnsinn stets gegenwärtig. Auf ihm ruht der fragende Blick des Menschen, dem der Status seiner Wirklichkeit und die Identität seiner Person rätselhaft bleiben.30

So wie Alice die lebendigen Schachfiguren auf der anderen Seite des Spiegels nicht sehen konnte, wird sie von diesen im Spiegelzimmer nicht wahrgenommen.31

Raumdarstellungen Dieter Funke etabliert den Wohnraum als Teil der menschlichen Existenz. Die Gebäude und Zimmer unserer Gesellschaften dienen nicht allein als reiner Schutzraum vor Umwelteinflüssen, als künstlich vom Menschen geschaffen, sind sie darüber hinaus Ausdruck und Spiegel des Gemütszustands.

27 Matthias Hennig: »Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume in der Literatur des 20. Jahrhunderts«, Paderborn: Fink 2015, S. 77. 28 Vgl.: Lewis Carroll: »Alice hinter den Spiegeln«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 21. Aufl., Berlin: Insel 2015, S. 20f. 29 Vgl.: ebd., S. 20. 30 Horst Lederer: »Phantastik und Wahnsinn. Geschichte und Struktur einer Symbiose«, Köln: SH 1986, S. 305. 31 Vgl.: Lewis Carroll: »Alice hinter den Spiegeln«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 21. Aufl., Berlin: Insel 2015, S. 22ff.

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Die Metapher von der dritten Haut als Bezeichnung für die uns umgebenden Wände weist auf ein körpernahes Verständnis des Wohnens und Bauens hin. Die erste Haut als Teil unseres Körpers erweitert sich als zweite Haut in der Gestalt von textilen Umhüllungen und als dritte Haut in Form von Wänden, Decken und Böden in den Raum der Kultur. Die dritte Haut ist somit Teil unseres Körpers und unseres Ichs und gleichzeitig Teil der Außenwelt.32

Das Zuhause ist ein persönlicher Ort. Man hinterlässt dort Spuren und Gegenstände, die den Alltag bestimmen oder mit denen man sich selbst definiert. Dabei sind Ort und Gestaltung wandelbar und genauso wie die Kleidung äußeren und inneren Umständen anpassbar. »Wohnhäuser und öffentliche Gebäude spiegeln die nach außen gewandte und in seine materielle Form gebrachte Erfahrung des Ichs wider.«33 Wohnräume sind ständigen Veränderungen ausgesetzt. Fotos und Bilder werden aufgehängt, Regale gefüllt, Chaos entsteht, Ordnung wird geschaffen. Laut Funke erlaubt nicht nur die Raumgestaltung einen Rückschluss auf das Gemüt der Bewohner*innen, auch die Verortung des Raumes deutet auf die psychologische Bedeutung desselbigen hin: Die Rechts-Links-Koordinaten des Hauses entsprechen auch der Vorstellung der Psyche als horizontales Nebeneinander von Inhalten, Wünschen und Fantasien. […] In unserem Kulturkreis wird durch die Bewertung von rechts gleich positiv und links gleich negativ eine Spaltungstendenz begünstigt. Das Nebeneinander von Räumen in einem Haus oder einer Wohnung, die unterschiedliche Stimmungen und Empfindungen auslösen, ermöglicht dem Bewohner ein breites Erlebnisspektrum seiner inneren Welt.34

Daher wird im Folgenden auf die Darstellung von Räumen in Coraline und Alice eingegangen, um zu analysieren, inwieweit die Schilderung der Räumlichkeiten auf die psychischen Befindlichkeiten der Protagonistinnen bezogen werden kann. Coraline zieht mit ihren Eltern in eine Wohnung in der ersten Etage in einem Mehrparteienhaus. Die Wohnung ist Teil eines großen Hauses, so wie Coraline Teil ihrer Familie ist.35 Zu diesem Haus gehört außerdem ein großer, verwilderter Garten, welchen Coraline direkt nach dem Einzug erkundet.36 Durch starken Regen ist sie bald gezwungen, in der Wohnung zu bleiben, wo sie ihre Erkundungen fortsetzt. Dabei erhält sie von ihren Eltern auch die Erlaubnis, die gute Stube zu betreten, die eigentlich nur besonderen Anlässen vorbehalten ist. Dieser Dieter Funke: »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006, S. 13. Ebd., S. 87. Ebd., S. 89f. Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 7. 36 Vgl.: ebd., S. 9.

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Ort gefällt Coraline nicht, sie verbindet ihn mit Langeweile und Stillstannd, denn der Raum ist mit unbequemen Möbeln der Großmutter ausgestattet und Coraline darf dort keine Unordnung hinterlassen. Es gab nichts »was das Zimmer behaglich oder bewohnt gemacht hätte.«37 Dennoch verheißt dieser Raum auch auf Wunderbares, da sie hier die Tür entdeckt, die sie in die andere Welt führen wird.38 Die andere Wohnung ist fast identisch mit der ihr vertrauten Wohnung. Teppich, Tapete und die Aufteilung sind gleich, aber die Bilder an den Wänden unterscheiden sich, lösen Unbehagen aus.39 Der größte Bruch betrifft Coralines Zimmer. Hier sind die Wände »in einem abscheulichen Grünton und einem sonderbaren Pink gestrichen.«40 Das Spielzeug klappert und bewegt sich und ist ihr gänzlich fremd. Coraline empfindet dieses Zimmer zwar als interessanter als ihr eigenes, dennoch fühlt sie sich hier nicht zuhause. Dies äußert sich darin, dass sie dort nicht schlafen möchte.41 Genau wie der Rest der anderen Welt, ist dieser Raum bei ihrem ersten Besuch vor allem aufregend und unkonventionell. Doch auch wenn zunächst ihre Neugier geweckt wird, so wirken die Bewohner*innen und Einrichtungsgegenstände verstörend auf sie, da sie etwas Bedrohliches ausstrahlen. Deutlich wird dies etwa in der Beschreibung der Räume,42 die staubig und dämmerig bis dunkel sind. Das Morbide wird kontrastiert von beseelten leblosen Gegenständen, wie etwa dem Spielzeug, das zudem ständig klappert, was zusätzlich zu einer unruhigen, bedrohlichen Stimmung beiträgt. Auch das Haus und seine Umgebung scheinen lebendig: Coraline blieb gerade genug Zeit, um festzustellen, dass auch das Haus sich immer weiter veränderte. Noch während sie die Stufen hinunterstürmte, wurde es undeutlicher und flacher. Es erinnerte jetzt gar nicht mehr so sehr an ein Haus, sondern eher an die Fotografie eines Hauses.43

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Ebd., S. 32. Ebd., S. 13f. und S. 33. Vgl.: ebd., S. 33ff. Ebd., S. 36. Vgl.: ebd., S. 36f. »Die Kammer hinter dem Spiegel, in die Coraline von der anderen Mutter gesperrt wird, ist dunkel und beengt. Sie bietet keinen Platz sich hinzulegen, nur gerade genug Raum um zu sitzen oder stehen.« Ebd., S. 89. Oder : »Die Welt draußen war inzwischen zu einem strukturlosen, wallenden Nebel geworden, in dem es keine Formen und Schatten gab, und das Haus schien sich gedreht und irgendwie gestreckt zu haben. Es kam Coraline so vor, als kauerte es sich zusammen. Und es starrte auf sie herab, als wäre es gar kein Haus, sondern nur die Idee eines Hauses – und sie war überzeugt davon, dass der Mensch, der diese Idee gehabt hatte, kein guter Mensch war. […] Die grauen Fenster des Hauses waren schief und krumm.« Ebd., S. 115. 43 Ebd., S. 133.

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Je erfolgreicher Coraline gegen die andere Mutter kämpft, d. h. je mehr Seelen sie findet und Fallen überwindet, desto weiter verformt sich die andere Welt. Als Coraline die dritte Seele findet, gleicht das Haus nicht einmal mehr einer Fotografie, eher einer Kohleskizze.44 Die Bedrohung, die Coraline durch die andere Mutter spürt, zeigt sich auch darin, dass die Veränderung des sie umgebenden Raumes auf die verrinnende Zeit bezogen werden kann. Je flacher der Raum wird, desto weniger Zeit bleibt ihr, die Seelen und ihre Eltern und einen Weg zurück zu finden. Auch die Stimmung der anderen Mutter kann an der Veränderung des Raumes abgelesen werden. Sie ist verunsichert und wütend darüber, dass Coraline sich gegen sie richtet dabei erfolgreich ist, weshalb sie damit beginnt, die von ihr geschaffene Welt aufzulösen. Alice kommt nach ihrem Sturz durch den Kaninchenbau in einem düsteren Gang an und folgt dem Weißen Kaninchen, bis sie sich in einem Saal mit niedrigen Decken, Hängelampen und verschiedenen, verschlossenen Türen befindet. Der Schlüssel, den sie findet, passt zwar in das Schloß einer Tür, durch die Alice einen wunderschönen Garten sehen kann. Doch Alice ist viel zu groß, um durch die winzige Tür hinaus ins Freie zu gelangen.45 Auf den ersten Blick bietet das Wunderland viele Möglichkeiten und Wege, doch diese sind bei genauerer Betrachtung versperrt. Alice muss ihren Platz in dieser Welt demnach noch finden und ist für Manches zu groß und für Anderes viel zu klein.46 In ihrem Verhältnis zum Raum wird der zentrale Konflikt der Figur zum Ausdruck gebracht: ihre Identitätsunsicherheiten, die auf eine adoleszente Krisensituation verweisen. Zum Ende der Traumhandlung ist ihre Raumwahrnehmung ebenfalls an ihre Stimmung angepasst. Deutlich wird das in der finalen Gerichtsszene, als Alice bemerkt, dass der Prozess nicht ihren Vorstellungen entsprechend verläuft. Je mehr sie das durchschaut, desto größer wird sie. Als sie in den Zeugenstand gerufen wird, überragt sie alle. Sie stößt versehentlich die Schöffen von der Bank und verursacht auf diese Weise Chaos. Gleichzeitig behält sie als Einzige den Überblick über den Prozess, was wiederum auf ihre Größe bezogen werden kann. Als sie schließlich das Kartenspiel beleidigt und sich dieses auf sie stürzt, erwacht Alice.47 Die Ähnlichkeiten zwischen der Beschreibung der fantastischen Welten betreffen auch den Außenraum. Sowohl Coraline als auch Alice treibt die Neugier hinaus in den Garten. Die Natur und mögliche Abenteuer dort werden dem Hausinneren vorgezogen, welches von ihnen mit schlechtem Wetter und Lan-

44 Ebd., S. 136. 45 Vgl.: Lewis Carroll: »Alice im Wunderland«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 29. Aufl., Berlin: Insel 2017, S. 12 und S. 14f. 46 Vgl.: ebd., S. 15ff. 47 Vgl.: ebd., S. 110ff.

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geweile in Verbindung gebracht wird.48 Beide suchen in der fremden Welt einen Weg, der vom Haus weg führt und steuern doch wieder darauf zu.49 Alice kommt wieder zurück zum Haus, da sie sich erst den Regeln der Spiegelwelt anpassen muss. Erst nachdem sie von der Rose im Garten den Hinweis bekommen hat, dass sie in entgegengesetzter Richtung zu ihrem Ziel laufen muss, gelingt es Alice, sich vom Haus zu entfernen.50 Daraufhin folgt sie der Schwarzen Königin auf den Hügel, den sie selbst schon zuvor hatte emporsteigen wollen. Dahinter erstreckt sich ein riesiges Schachbrett, durch Bäche und Hecken aufgeteilt. Alice wird als Weißer Bauer von der Schwarzen Königin in die Partie eingewiesen; der Gewinn ist die Krönung Alices zur Königin.51

Das Spiel Alice nimmt im Wunderland an mehreren Spielen teil. »Carroll hat seine AliceBücher selbst in eine mehrfache Beziehung zur Kultur der Spiele gesetzt; die Labyrinth-Welten der Alice-Bücher bestehen zugleich aus Spielfeldern.«52 Im Gegensatz zur wachen Welt, sind die Spielregeln hier allerdings oft willkürlich. Beim Proporz-Wettlauf erscheint zudem der Zeitpunkt des Spieles merkwürdig. Alice und die zahlreichen Tiere, die in Alices Tränenmeer um ihr Leben schwammen, suchen nach einer geeigneten Methode, um schnell wieder trocknen zu können. Die Teilnehmenden des Proporz-Wettlaufs können frei und unabhängig durcheinanderlaufen. Es wird keine Strecke festgesetzt und keine Zeit gemessen. Das Ende des Wettlaufs ruft der Brachvogel aus, der anschließend alle Teilnehmenden zu Siegern erklärt. Die Preise sollen von Alice gestellt und verteilt werden, auch der eigene Preis.53 Das nächste willkürlich anmutende Spiel, dem Alice beiwohnt, ist die königliche Croquetpartie. Die Regeln basieren auf denen einer gewöhnlichen Croquetpartie, die Schwierigkeit entsteht durch die lebendige Spielausrüstung und dadurch, dass die Herzkönigin die Enthauptung all derer verlangt, die gegen 48 Vgl.: ebd., S. 28. 49 Vgl.: ebd., S. 30f. Sowie: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 82. 50 Vgl.: Lewis Carroll: »Alice hinter den Spiegeln«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 21. Aufl., Berlin: Insel 2015, S. 35. 51 Vgl.: ebd., S. 37f. 52 Monika Schmitz-Emans: »Im Labyrinth der Erfahrungen und Diskurse. Alices schwindelerregende Erfahrungen mit dem Ich und der Welt«, Hans Richard Brittnacher / Rolf-Peter Janz (Hrsg.): Labyrinth und Spiel. Umdeutungen eines Mythos, Göttingen: Wallstein 2007, S. 165. 53 Vgl.: Lewis Carroll: »Alice im Wunderland«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 29. Aufl., Berlin: Insel 2017, S. 30f.

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sie gewinnen könnten. Dass am Ende die Herzkönig gewinnt, erscheint nicht verwunderlich.54 Alices Abenteuer hinter dem Spiegel folgt der Struktur einer Schachpartie. Auch hier sind die Spielfiguren lebendig, wobei nicht sämtliche Figuren, denen sie auf ihrem Weg über das Schachbrett begegnet, Schachfiguren sind. Um Verwirrungen vorzubeugen, ist dem Text eine Erläuterung vorangestellt, die in das Szenario einführt.55 Die beschriebene Schachpartie führt nicht zu einem schnellen oder eindeutigen Sieg einer der Spielfarben, scheint jedoch aus psychoanalytischer Perspektive durchaus interessant.56 »Spiele korrespondieren dem Bedürfnis des Menschen nach Orientierung, stehen aber gleichzeitig oft in Beziehung zur Lust an desorientierenden Erfahrungen.«57 Genau diese Ambivalenz zeichnet Alices Traumreise aus. Der willkürliche Charakter dieser auf den ersten Blick geordnet anmutenden Spielsituation, kommt etwa darin zum Ausdruck, dass Alice zufällig als Weißer Bauer eingesetzt wird. Auch der Umstand, dass Alice am Ende der Partie zu einer dritten, farblosen Königin ernannt wird, veranschaulicht den willkürlichen Charakter dieser Partie. Die hier erwähnten Spiele führen zu einem Kontrollverlust im kontrollierten Ausmaß. Die Spiele in den Alice-Erzählungen geben ihren Reisen eine Struktur und weisen dezidiert auf die Besonderheiten von Alices Traumwelten hin. Wer gewinnt und wer verliert, ist eigentlich unerheblich; zentral ist das Spielerische der kindlichen Fantasie. Für Coraline hingegen ist es wichtig, gegen die andere Mutter zu gewinnen. Ihr geht es um Leben und Tod, denn sie muss das gefährliche Spiel mit der anderen Mutter aufnehmen, um ihre Eltern und die Seelen der Kinder zu befreien und schließlich einen Weg zurück Nachhause zu finden. Die Anregung hierzu erhält sie vom Kater : »Fordere sie heraus. Du hast keine Garantie, dass sie fair

54 Vgl.: ebd., S. 80, S. 85ff. und S. 94. 55 »Da die oben angegebene Schachpartie unter einigen meiner Leser Verwirrung gestiftet hat, ist der Hinweis vielleicht angebracht, daß die Bewegungsart der einzelnen Figuren durchaus den Regeln folgt; die Vorschrift freilich, daß Weiß und Schwarz abwechselnd ziehen, hätte möglicherweise etwas strenger befolgt werden können; immerhin steht das Schach im 6. Zug, das Schlagen des Schwarzen Ritters im 7. und schließlich auch das Schachmatt des Schwarzen Königs in vollem Einklang mit den Spielregeln, wovon sich ein jeder, der die Mühe nicht scheut, durch das Nachspielen der angegebenen Züge selbst überzeugen kann.« Lewis Carroll: »Alice hinter den Spiegeln«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 21. Aufl., Berlin: Insel 2015, S. 13. [Hervorhebung im Original] 56 Vgl.: Monika Schmitz-Emans: »Im Labyrinth der Erfahrungen und Diskurse. Alices schwindelerregende Erfahrungen mit dem Ich und der Welt«, Hans Richard Brittnacher / Rolf-Peter Janz (Hrsg.): Labyrinth und Spiel. Umdeutungen eines Mythos, Göttingen: Wallstein 2007, S. 166. 57 Ebd.

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spielt und sich an die Spielregeln hält, aber Wesen wie sie lieben Spiele und Herausforderungen.«58

Katzen und Namen Die Katze weist eine gewisse symbolische Nähe zur Weiblichkeit und zum Spiel auf: Die Katze ist dank der Grausamkeit, mit der sie mit Mäusen und Vögeln umgeht, ein besonders treffendes Symbol für primitives weibliches Wesen. Vielleicht verkörpert sie aber auch einen gewissen gesunden Egoismus.59

Das Tier entscheidet selbst, ob es Zuwendung möchte und in welchem Maße, da es von überaus eigensinniger Natur ist. Katzen können sich frei für einen eigenen Weg entscheiden, sie kümmern sich nicht um Hierarchien und nehmen die Welt aus einer eigenen Perspektive wahr.60 In Erzählungen werden Katzen häufig mit menschlichen Eigenschaften und Fertigkeiten ausgestattet. Insbesondere die Sprache und Intelligenz lassen sie halb animalisch, halb göttlich erscheinen, weshalb sie den menschlichen Figuren häufig überlegen erscheinen.61 Dies trifft auf beide Erzählungen zu. Dinah is Alice’s playmate, upon whom the girl bestows intelligence and the ability to walk upright. In Alice’s imagination Dinah is a liminal figure, both cat and human, and a most tangible link between the strange Wonderland and secure home. Incidentally, in the sequel, Through the Looking Glass (1872), one of Dinah’s kittens is transformed into a chess queen in the looking-glass world.62

Zu ihren Hauskatzen hat Alice ein enges Verhältnis, allerdings ist sie ihnen in dem Sinne überlegen, dass sie sie für schlechtes Benehmen ermahnt. Der Katze im Wunderland und ihren spöttischen Weisheiten, ist sie hingegen vollkommen ausgesetzt.63 Sie ist in der Argumentation stets unterlegen. Trotz des Spotts übernehmen die Edamer Mieze und der schwarze Kater die Rolle des Helfers und Begleiters in den anderen Welten. Sie sind die einzigen Figuren, die den Titel58 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 73. 59 Sybille Birkhäuser-Oeri: »Die Mutter im Märchen. Deutung der Problematik des Mütterlichen und des Mutterkomplexes am Beispiel bekannter Märchen«, Stuttgart: Stiftung für Jungsche Psychologie 1982, S. 32. 60 Vgl.: Maria Nikolajeva: »Devils, Demons, Familiars, Friends: Toward a Semiotics of Literary Cats«, in Marvels and Tales, 23, 2/2009, S. 251. 61 Vgl.: ebd., S. 252. 62 Ebd., S. 257. 63 Vgl.: Lewis Carroll: »Alice im Wunderland«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 29. Aufl., Berlin: Insel 2017, S. 65ff.

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heldinnen eine Art Leitfaden durch die anderen Welten ermöglichen. Sie versuchen sich in einer groben Erklärung der Spielregeln bzw. des Fehlens der selbigen.64 Ein wiederkehrendes Motiv in Mythen und Folklore ist, dass durch das Herausfinden des wahren Namens eines Menschen, Macht über diesen, erlangt werden kann. Teil vieler Erzählungen ist die Fähigkeit von Katzen, ihren wahren Namen geheim zu halten und sich so zu schützen.65 »›Katzen haben keine Namen‹, sagte er. […] ›Also ihr Menschen habt Namen. Das kommt daher, weil ihr nicht wisst, wer ihr seid. Wir wissen, wer wir sind, deshalb brauchen wir keine Namen.‹«66 heißt es in Coraline. Der schwarze Kater begegnet Coraline süffisant, als sie in der anderen Welt auf einander treffen. Seine Aussage kann entweder als allgemeines Prinzip angenommen werden, oder als Stichelei Coraline gegenüber. Diese legt viel Wert auf ihren besonderen Namen und muss zu Beginn der Geschichte widerwillig hinnehmen, von den neuen Nachbar*innen Caroline genannt zu werden. Für sie ist dies ein Zeichen dafür, von den Erwachsenen nicht ernst genommen zu werden. Ihr Name ist Teil ihrer Identität und der falsche Name bringt zum Ausdruck, dass ihr nicht die gewünschte Aufmerksamkeit zuteilwird. Weder wollen ihre Eltern mit ihr spielen, noch interessieren sich die Nachbarn für sie. Erst nachdem sie die andere Mutter erfolgreich besiegt hat und wieder zurück in ihrer vertrauten Umgebung ist, wird sie von den Nachbar*innen mit ihrem richtigen Namen angesprochen. Gleichzeitig erfährt sie auch erst jetzt den Namen des Nachbarn aus der Wohnung über ihr.67 Dies spricht dafür, dass Coraline erwachsener geworden ist und jetzt in der Lage ist, sich auf ihre Umgebung einzustellen, auch wenn sie nicht die gewünschte Aufmerksamkeit bekommt. Die Aussage der Katze kann demnach auch als Kritik verstanden werden, dass die Menschen zu viel Wert auf ihren Namen als Identitätsmerkmal legen. Diesen Aspekt äußert auch einer der Geister in der Spiegelkammer. ›Namen, Namen, Namen‹, sagte eine dritte Stimme, die ganz verloren klang und von weit her. ›Die Namen verschwinden als Erstes, nachdem der Atem vergangen ist und der Herzschlag. Wir behalten unsere Erinnerungen länger als unsere Namen.‹68

64 Vgl.: Maria Nikolajeva: »Devils, Demons, Familiars, Friends: Toward a Semiotics of Literary Cats«, in Marvels and Tales, 23, 2/2009, S. 258. 65 Vgl.: ebd., S. 248. 66 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 43. 67 Vgl.: ebd., S. 168. 68 Ebd., S. 90.

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Auch in Carrolls Werken spielen Namen eine besondere Rolle. Alice legt, genau wie Coraline, Wert auf ihren Vornamen und sieht ihn als Teil ihrer Identität. ›Das muß der Wald sein, in dem nichts einen Namen hat,‹ sagte sie sich nachdenklich. ›Was wohl aus meinem Namen wird, wenn ich hineingehe? Verlieren möchte ich ihn gar nicht gern – denn dann müßten sie mir einen anderen geben, und der wäre aller Wahrscheinlichkeit nach häßlich.‹69

Im Land hinter dem Spiegel findet sich Alice nach der Durchquerung des ersten Schachfeldes in einem Zugabteil wieder. Hier kommt sie kaum zu Wort, denn jeder der anderen Reisegäste hat einen Ratschlag für sie, oder drängt ihr seine/ ihre Meinung auf: »›Ein Kind von so zartem Alter‹, sagte der Herr gegenüber […], ›sollte doch wissen wohin es will, selbst wenn es seinen eigenen Namen noch nicht weiß!‹«70 Für den Herrn im weißen Papieranzug haben Namen keine größere Bedeutung. Für ihn steht fest, dass man zunächst seinen Lebens- und Reiseplan kennen sollte und erst mit wachsendem Alter seinen Namen kennenlernt. Im Gespräch mit der Schnake kommt es zu einem kleinen Missverständnis. Wenn Alice sagt, sie möchte der Schnake die Namen der heimischen Insekten aufzählen, so spricht Alice von Gattungsnamen und Bezeichnungen, wohingegen die Schnake von Rufnamen spricht. Die Namen der von der Schnake beschriebenen Schaukelpferdfliege, Weihnachtsfalter und Schmausfliege, bleiben allerdings auch unbekannt. Stattdessen wird deutlich, dass es sich um sehr eindeutig beschreibende Gemein-Namen handelt.71 Noch weitere Male kommt es im Land hinter dem Spiegel zur Verwirrung bezüglich Eigennamen. Als der Weiße König von »Niemand« als Eigenname

69 Lewis Carroll: »Alice hinter den Spiegeln«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 21. Aufl., Berlin: Insel 2015, S. 50. [Hervorhebung im Original] 70 Ebd., S. 44. 71 Vgl.: Lewis Carroll: »Alice hinter den Spiegeln«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 21. Aufl., Berlin: Insel 2015, S. 47f. Siehe auch: Thomas Zimmermann: »Name«, Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel: Schwabe 1984, Sp. 364–389, (Sp. 385): Insbesondere John Stuart Mill hat sich ausführlich mit der Kategorisierung von Namen beschäftigt. Neben den Unterteilungen der Namen in konkrete (z. B. Mensch) und abstrakte Begriffe (z. B. Farbe) sowie in Eigen- und Gemein-Namen führt er auch eine Unterscheidung von konnotativen und nicht-konnotativen Namen ein. Erstere bezeichnen Gegenstände und schreiben ihnen gleichzeitig Eigenschaften zu; letztere implizieren keine Eigenschaften der bezeichneten Gegenstände. Nach Mill sind alle konkreten Gemein-Namen konnotativ. So bezeichnet: »Mensch« alle Menschen und schreibt ihnen die Eigenschaft, Mensch zu sein, zu. Eigennamen wiederum sind gemäß Mill stets nicht-konnotativ. »Dartmouth« z. B. ist der Name einer Stadt, die zwar an der Mündung des Flusses Dart liegt, die aber immer noch durch diesen Namen bezeichnet werden könnte, wenn etwa der Fluß seinen Lauf änderte. Insbesondere ergibt sich bei Mill also eine differenzierte Analyse von Eigen-Namen und Kennzeichnungen.

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ausgeht und diesen für einen Läufer hält, der die Straße entlangkommt72 und als Humpty Dumpty Kritik an Alices Namen übt: ›Muß denn ein Name etwas bedeuten?‹ fragte Alice zweifelnd. ›Das ist doch klar‹, sagte Goggelmoggel, kurz auflachend; ›mein Name zum Beispiel bedeutet meine Leibesform – eine sehr ansehnliche Form übrigens. Mit einem Namen, wie du ihn hast, könntest du jede x-beliebige Form haben, beinahe.‹73

Er schlägt ihr jedoch keinen anderen Namen vor, was ein Beispiel für die zahlreichen Situationen ist, in welchen Alice hinsichtlich ihrer Identität verunsichert ist bzw. verunsichert wird.

Faktoren des Ich-Verlusts ›Also wie steht es damit – war ich heute morgen beim Aufstehen noch dieselbe? Mir ist es doch fast, als wäre ich mir da ein wenig anders vorgekommen. Aber wenn ich nicht mehr dieselbe bin, muß ich mich doch fragen: Wer in aller Welt bin ich denn dann?‹74

Als junge Mädchen sind Alice und Coraline noch nicht gefestigt in ihrer Wahrnehmung der Welt, insbesondere aber ihrer eigenen Identität. Sie definieren sich in Abgrenzung zu ihrer Umwelt. Beispielsweise würde Coraline sich gerne durch außergewöhnliche Kleidung an ihrer neuen Schule herausstellen.75 Alice vergleicht ihr Äußeres und ihren Wissensstand mit dem ihrer Schulfreundinnen, um sicher zu gehen, dass sie noch sie selbst ist.76 Für Alice ist auch ihr äußeres Erscheinungsbild ein verlässlicher, unveränderlicher Faktor ihrer Identität. Wenn sie heute glatte Haare hat, dann wird sich ihr Haar den Rest ihres Lebens nicht kringeln, genauso bleibt das kleine Einmaleins stets so, wie man es zu Beginn der Schullaufbahn erlernt. Verunsicherung erfährt Alice durch die stetigen Fragen zu ihrer Person: »›Es ist doch schrecklich‹; murmelte sie vor sich hin, ›wie einem die Wesen hier das Wort im Munde herumdrehen. Man kann ja verrückt dabei werden!‹«77 Denn Alice definiert sich auch durch ihren sozialen Status und ihre Etikette. Die Bewohner*innen des Wunderlands verblüffen sie 72 Vgl.: Lewis Carroll: »Alice hinter den Spiegeln«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 21. Aufl., Berlin: Insel 2015, S. 96 und S. 99. 73 Ebd., S. 83. [Hervorhebung im Original] 74 Lewis Carroll: »Alice im Wunderland«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 29. Aufl., Berlin: Insel 2017, S. 22. 75 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 29. 76 Vgl.: Lewis Carroll: »Alice im Wunderland«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 29. Aufl., Berlin: Insel 2017, S. 22. 77 Ebd., S. 60.

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damit, dass sie die gesellschaftlichen Regeln nicht zu kennen scheinen. Für Alice sind diese Regeln statisch. Abgesehen von den unerwarteten Gesprächsverläufen, wird sie durch ständige Größenwechsel in ihrer Identität irritiert.78 Alice kannte bis zu ihrer Reise ins Wunderland nur die Perspektive des kleinen Mädchens. Bereits als sie im Saal mit den vielen Türen ankommt, muss sie erfahren, wie es ist, zu groß für etwas zu sein.79 Alices Größe verändert sich in verschiedenen Geschwindigkeiten, Ausmaßen und in entgegengesetzte Richtungen. Ihr wird nicht erklärt, wie viel sie vom Trank zu sich nehmen sollte, wie viel Kuchen sie essen sollte, oder welche Seite des Pilzes welches Ergebnis bringt. Sie findet sich in einer fremden Umgebung, mit alterierender Größe und ohne ein tatsächliches Ziel. »›Ich – ich bin ein kleines Mädchen‹, sagte Alice etwas zögernd, ›weil sie daran denken mußte, wie oft sie sich heute schon verändert hatte.‹«80 Allmählich ist sie sich nicht mehr sicher, ob ihre Körpergröße einen Einfluss auf ihren Status als kleines Mädchen hat. ›[…] ich bin gar nicht ich, sehen Sie. […] Leider kann ich es nicht besser ausdrücken‹, antwortete Alice sehr höflich, ›denn erstens begreife ich es selbst nicht; und außerdem ist es sehr verwirrend, an einem Tag so viele verschiedene Größen zu haben.‹81

Alice ist resigniert während des Gesprächs mit der Raupe. Doch mithilfe der Pilzstücke, die ihr die Raupe empfiehlt, schafft sie es, ihre Ausgangsgröße wieder zu erreichen. Diese kommt ihr zunächst ungewohnt vor, doch legt sich das Gefühl bald, sodass sie sich ihrer Identität wieder sicherer wird.82 Ihr finales Wachstum im Gerichtssaal führt Alice schließlich aus ihrem Traum und dem Wunderland in die ihr vertraute Welt.83 Ihr Wachstum an Erfahrung und SelbstBewusstsein lässt sie mental und körperlich wachsen. Sie überragt die Figuren des Wunderlandes und kann sie zurücklassen, um im Schoß ihrer Schwester aufzuwachen. Im Land hinter dem Spiegel wird Alice mit einer anderen Frage nach ihrer Identität konfrontiert:

78 Vgl.: Dieter Funke: »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006, S. 121: »Für erwachsene Menschen hilft der räumlich ausgedehnte Körper mit seiner äußeren Hautgrenze zu unterscheiden zwischen eigenem und fremdem Körper. Mit unserem Ich erfassen wir auch, wo unser körperliches und seelisches Ich aufhört und ein anderes Ich anfängt.« 79 Vgl.: Lewis Carroll: »Alice im Wunderland«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 29. Aufl., Berlin: Insel 2017, S. 15. 80 Ebd., S. 56. 81 Ebd., S. 47. 82 Vgl.: ebd., S. 57. 83 Vgl.: ebd., S. 125.

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›Das ist nur der Schwarze König‹, sagte Zwiddeldei. ›Er schnarcht.‹ […] ›Er träumt‹, sagte Zwiddeldei; ›und was, glaubst du wohl, träumt er?‹ […] ›Nun, dich träumt er!‹ rief Zwiddeldei und klatschte triumphierend in die Hände. ›Und wenn er aufhört, von dir zu träumen, was meinst du, wo du dann wärst?‹ […] ›Gar nirgends wärst du. Du bist doch nur so etwas, was in seinem Traum vorkommt!‹ […] ›Gar nicht!‹ rief Alice empört. […] ›Doch bin ich wirklich!‹ sagte Alice und begann zu weinen.84

Zwiddeldei und Zwiddeldum, die Zwillinge im Wald, erzählen Alice, dass ihre Existenz vom Schlaf des Schwarzen Königs abhängig ist. Diese Vorstellung behagt ihr nicht, da sie selbstbestimmt handeln möchte. ›Also war es doch nicht nur ein Traum‹, sagte sie sich, ›das heißt – wenn wir nicht allesamt in ein und demselben Traum vorkommen. Nur ist es dann hoffentlich wenigstens mein Traum und nicht der des Schwarzen Königs! Ich möchte doch nicht einfach von jemand anderem geträumt werden!‹85

Diese existenzialphilosophische Frage verfolgt Alice auch noch nach dem Aufwachen, als sie im Dialog mit ihren Katzen nach einer Antwort hierauf sucht.86 Coraline wird in ihrer Selbst-Wahrnehmung gestört, weil ihr die Erwachsenen nicht die gewünschte Aufmerksamkeit entgegenbringen. Die andere Welt verursacht Unsicherheiten, da Coraline mehreren Doppelgängerfiguren begegnet und sie für einen Augenblick vermutet, es könnte auch eine andere Coraline existieren. »Gab es eine andere Coraline? Ihr wurde klar, dass es keine andere gab. Nur sie.«87 Ihr wird schnell bewusst, dass sie, wie die Katze, die Welten wechseln kann und sie keiner anderen Coraline begegnen wird. Jedoch bereitet ihr die Abgrenzung des Selbst zum Anderen Schwierigkeiten, insbesondere in einer Umgebung in der Coraline mit unheimlich wirkenden Doppelgänger*innen der ihr (scheinbar) vertrauten Menschen (und Gegenständen) konfrontiert wird. Ständig besteht die Möglichkeit, zu Halluzinieren, oder dem Wahn zu verfallen.88 Die Konfrontation mit der anderen Mutter zeugt von einer inneren Zerrissenheit und einer Unsicherheit hinsichtlich des Eltern-Kind-Verhältnisses. Auch sie scheint mit der Option konfrontiert zu sein, entweder in der wachen (wenn auch mitunter langweiligen) bekannten Welt zu leben, oder in der künstlich geschaffenen Welt (einem traumhaft anmutenden Szenario) der anderen Mutter. Ob sie hier jedoch tatsächlich um ihrer selbst Willen geliebt werden 84 Lewis Carroll: »Alice hinter den Spiegeln«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 21. Aufl., Berlin: Insel 2015, S. 62–64. 85 Ebd., S. 107. [Hervorhebung im Original] 86 Vgl.: ebd., S. 145. 87 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 76. 88 Vgl.: Horst Lederer: »Phantastik und Wahnsinn. Geschichte und Struktur einer Symbiose«, Köln: SH 1986, S. 282.

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würde, oder ob sie gefressen, oder wie die drei Geisterkinder vergessen werden würde, ist unklar.

Die andere Mutter Sigmund Freud vergleicht in Das Unheimliche die Angst vor dem Verlust der Augen mit der Kastrationsangst. Am Beispiel von E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann veranschaulicht er seine Theorie. Er kommt zu dem Schluss, dass in Hoffmanns Erzählung Nathanaels Angst vor dem Verlust der Augen, stellvertretend für den Verlust des Vaters zu lesen ist. Coppelius bzw. Coppola hat zum einen Nathanaels Augen geraubt, zum anderen auch den Vater und damit den Platz als böse Vaterfigur eingenommen.89 In Coraline ist diese Deutung auch für die weibliche Paarung Tochter und Mutter zu erkennen. Als Coraline ein letztes Mal durch den Übergang zwischen ihrer Wohnung und der anderen Welt läuft, fällt ihr auf, dass die Wand jetzt warm ist und nachgibt und »sich anfühlte, als wäre sie mit einem zarten Daunenpelz überzogen.«90 Coraline durchquert ein zweites Mal einen Geburtskanal und bezwingt damit die andere Mutter : Sie hat sich von ihr gelöst. Das Urbild der Mutter bezieht sich also auf das, was wir in der weniger bildhaften psychologischen Sprache das Unbewußte nennen und zwar dieses speziell in seinem mütterlich passiven, mit dem Körper und ganz allgemein mit dem Geheimnis der Materie verbundenen Aspekt. Das Wort Materie ist ja mit dem Wort Mater (Mutter) stammverwandt. Das Mutterbild symbolisiert somit nicht nur die psychische, sondern auch die körperliche Grundlage der menschlichen Existenz, u. a. auch den Körper als ein Seele enthaltendes Gefäß.91

Insbesondere die Beziehung zwischen Kind und Mutter bietet Raum für psychoanalytische Deutungen. Die Mutter als Symbol für den Ursprung der menschlichen Existenz, verweist auch auf ihre relevante Rolle in der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Im Allgemeinen führt nämlich der Weg des jungen Menschen zuerst eher vom [mütterlichen] Unbewussten fort. […] Wenn es ihn, wie die Hexe Hänsel und Gretel, gefangennehmen und töten will, so überwältigt er es mit List und Gewalt. Er muß sich dem mütterlichen Unbewussten gegenüber oftmals unbarmherzig hart erweisen. […] Der 89 Eine ausführliche Erläuterung des Freud’schen Unheimlichen und seine Anwendung auf Coraline nimmt Mona Baumann in ihrem Beitrag in diesem Band vor. 90 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 147. 91 Sybille Birkhäuser-Oeri: »Die Mutter im Märchen. Deutung der Problematik des Mütterlichen und des Mutterkomplexes am Beispiel bekannter Märchen«, Stuttgart: Stiftung für Jungsche Psychologie 1982, S. 18.

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junge Mensch darf sich nicht von ihm zurückziehen lassen in einen scheinbar glücklichen Zustand des ungeteilten Einsseins mit sich selber, da er noch als Kind im Schutze einer Mutter lebte, sondern muß sich davon lösen.92

Das Ziel liegt also darin, sich von der Mutter zu lösen und seinen eigenen Weg in der Welt zu finden. Dazu müssen die Erinnerungen an eine harmonische Kindheit überwunden werden. In der anderen Welt lehnt Coraline die Aufmerksamkeit und angebliche Liebe der anderen Mutter ab; sie lässt sich keine Knopfaugen aufnähen und kehrt in ihre Welt zurück. Die Befreiung aus den Fängen der anderen Mutter (im Sinne des mütterlichen Unbewussten), bedingt auch die Distanzierung von der tatsächlichen Mutter. Ab diesem Zeitpunkt kann sie mit Zurückweisungen umgehen und sich neuen Aufgaben stellen. Aus psychoanalytischer Sicht hat Bruno Bettelheim ausgeführt, dass Kinder die verschiedenen Verhaltensweisen von Eltern – einmal liebevoll und wohlwollend, ein anderes Mal mahnend oder gar zornig – als widersprüchlich empfinden. Um dies verarbeiten zu können, müssten die Kinder das Bild der Eltern in Güte und Bedrohlichkeit zerlegen.93 […] Es gibt also eigentlich zwei verschiedene Seiten des Mütterlichen: eine, welche das Bewußtsein und Existenz schaffen will und keine Mühe scheut, dieses Ziel mit allen Mitteln zu erreichen, und eine andere, die nach Unbewußtheit und Nichtsein strebt, d. h. nach Vernichtung und Auflösung.94

Die Funktion der anderen Mutter lässt sich auf diese Weise deuten. Unklar bleibt, was passieren würde, ließe sich Coraline von der anderen Mutter Knopfaugen aufnähen. Doch unabhängig davon, ob Coraline zur Mahlzeit oder zum Spielzeug würde, würde sie ihre Persönlichkeit und ihre bisherige sowie zukünftige Existenz verlieren. Coralines Projektion der elterlichen Zurückweisung lässt sie die andere Welt mitsamt der anderen Eltern entdecken. In der anderen Welt finden alle Charaktere, mit Ausnahme von Coraline selbst und dem Kater einen Doppelgänger mit Knopfaugen. Dort erinnern sich die anderen Nachbarn an ihren richtigen Namen, sie erhält Aufmerksamkeit und ihr Lieblings-Essen wird zubereitet. Dennoch erkennt Coraline, dass es ihr keine Freude machen würde, wenn ihre Wünsche stets erfüllt würden.95 92 Ebd., S. 40. 93 Vgl.: Sieglinde Grimm: »Erwachsenwerden zwischen Horror und Phantasie. Henry Selicks Kinderfilm Coraline. Mit einem didaktischen Vorschlag«, Christian Exner / Bettina Kümmerling-Meibauer (Hrsg.): Von wilden Kerlen und wilden Hühnern. Perspektiven des modernen Kinder- und Jugendfilms, Marburg: Schüren 2012, S. 270–292, (S. 282). 94 Sybille Birkhäuser-Oeri: »Die Mutter im Märchen. Deutung der Problematik des Mütterlichen und des Mutterkomplexes am Beispiel bekannter Märchen«, Stuttgart: Stiftung für Jungsche Psychologie 1982, S. 36f. 95 Vgl.: Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 131.

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Indem sie die Knopfaugen der anderen Mutter ablehnt und sich gegen die andere Welt auflehnt, behält sie ihre Identität. Sie überwindet die Zurückweisung durch ihre Eltern und vollzieht einen Schritt auf ihrer Individuatio.96 Im Wunderland und im Land hinter dem Spiegel trifft Alice auf zahlreiche Figuren; auch auf einige weibliche Figuren. Die Herzkönigin sowie die rote und schwarze Königin können als Mutterfiguren gelesen werden; ihr Einfluss auf Alice bleibt allerdings gering. Zusätzlich bleibt ihre Beziehung zur eigenen Mutter in der realen Welt unbekannt. Alice encounters her symbolic evil (step)mothers, The Queen of Hearts, and the chess Queen, but how these might reflect on her real mother-daughter conflict remains to guess and is perhaps of little significance.97

Aus diesem Grund wird an dieser Stelle nicht näher auf die Mutterfiguren in Carrolls Alice-Büchern eingegangen.

Puppen Durch die Knopfaugen erinnern die Figuren der anderen Welt an Puppen. Lebendige Puppen sind auch außerhalb des Schauergenres in Kinder- und Jugendliteratur und -medien bekannt, etwa bei Pinocchio und Toy Story. In den Toy Story-Filmen werden nicht nur die Puppen lebendig, sondern sämtliches Kinderspielzeug. Auch in Hoffmanns Der Sandmann kommt eine Puppe vor, Olimpia, die nur in Nathanaels Augen lebendig ist. Laut Brittnacher erfüllen Puppen eine besondere Funktion des Doubles.98 Bei Coraline sind die Motive der belebten Puppe(n) und Doppelgänger*innen verknüpft. Puppen als Objekt und gleichzeitig als Ebenbild des Menschen zeugen davon, dass sich der Mensch seiner bewusst ist.99 Es entsteht eine Unsicherheit beim Betrachter einer Puppe, dadurch dass sie aussieht, als sei sie menschlich, zugleich aber unmenschlich bzw. unbeseelt ist.100 Im Laufe der Zeit erfüllten 96 Vgl.: Sieglinde Grimm: »Erwachsenwerden zwischen Horror und Phantasie. Henry Selicks Kinderfilm Coraline. Mit einem didaktischen Vorschlag«, Christian Exner / Bettina Kümmerling-Meibauer (Hrsg.): Von wilden Kerlen und wilden Hühnern. Perspektiven des modernen Kinder- und Jugendfilms, Marburg: Schüren 2012, S. 270–292, (S. 283f.). 97 Maria Nikolajeva: »Devils, Demons, Familiars, Friends: Toward a Semiotics of Literary Cats«, in Marvels and Tales, 23, 2/2009, S. 259. 98 Vgl.: Hans Richard Brittnacher : »Puppe«, Ders.: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2013, S. 45. 99 Vgl.: Gundel Mattenklott: »Heimlich-unheimliche Puppe. Ein Kapitel zur Beseelung der Dinge«, Insa Fooken / Jana Mikota (Hrsg.): Puppen. Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2014, S. 29. 100 Vgl.: ebd.

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Puppen verschiedene Funktionen, vom Kinderspielzeug bis zur Rachepuppe.101 Doch immer schwingt die Ahnung des Göttlichen, bzw. die Nachahmung des Göttlichen durch den Menschen mit. Der Mensch beweist handwerkliches Geschick durch den Bau einer Puppe, während jedoch in den Geschichten aller Kulturkreise nur jemand mit göttlichen Kräften diese zu Leben erwecken kann.102 Der Mensch probiert sich als Erzähler von Puppengeschichten, wobei die Akteure Marionetten, Handpuppen oder andere Figuren sein können. Die Geschichten können im Schattentheater, oder im Puppenhaus erzählt werden.103 Der Schein des Lebens lässt Puppen zu Spielgefährt*innen werden, durch den Schein des Todes werden sie allerdings zu Träger*innen des Unheimlichen.104 »[…] ihre Maskenhafte Leblosigkeit, verbürgt nicht die Resonanz der Liebe, sondern die Ahnung des Todes.«105 Würde Coraline die Knopfaugen der anderen Mutter annehmen, würde sie selbst zur Puppe werden. Sie würde ihre Lebendigkeit aufgeben und vielleicht, wie die Geisterkinder sterben und vergessen werden. Diese Wesen […] waren Trugbilder, Dinge die ihre andere Mutter als grausige Parodie der echten Menschen und der wirklichen Dinge am anderen Ende des Korridors geschaffen hatte. Coraline kam zu dem Ergebnis, dass die andere Mutter gar nicht wirklich etwas erschaffen konnte. Sie konnte nur Dinge nachahmen und verdrehen und verzerren, die bereits existierten.106

Die andere Mutter ist gleichzeitig Puppe und Puppenspielerin. Sie verfügt über die andere Welt, verändert das »Puppenhaus« und ihre Puppen, um Coraline einzufangen. Das Motiv des/der Doppelgängers/Doppelgängerin ist schon im Zusammenhang mit dem Spiegel angeklungen: Der phantastische Held trifft niemals auf sich selbst, sondern immer auf einen anderen, den er in sich trägt, einen intimen und zugleich fremden Zwilling, mit dem er sich einzurichten gezwungen ist. Dieses andere Ich zielt jedoch nicht auf eine friedliche Koexistenz, sondern auf die Verunsicherung oder Zerstörung des Ich ab.107

101 102 103 104 105

Vgl.: ebd., S. 31f. Vgl.: ebd., S. 32f. Vgl.: ebd., S. 34. Vgl.: ebd., S. 36. Hans Richard Brittnacher : »Puppe«, Ders.: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2013, S. 461. 106 Neil Gaiman: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005, S. 129. 107 Horst Lederer : »Phantastik und Wahnsinn. Geschichte und Struktur einer Symbiose«, Köln: SH 1986, S. 326.

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Konfrontiert wird Coraline daher nicht mit einer Doppelgängerfigur, sondern mit Doppelgänger*innen der ihr vertrauten Personen, die jedoch ihre persönlichen Ängste und Wünsche zum Ausdruck bringen.

Fazit In Neil Gaimans Coraline und Lewis Carrolls Alice-Werken kommt es zu desorientierenden Momenten sowohl für die namensgebenden Protagonistinnen als auch die Leserschaft. Wie deutlich wurde, entsteht die Irritation vornehmlich durch die Wahl der Motive. Er [Louis Vax] und andere Phantastiktheoretiker haben ein Motivrepertoire zusammengestellt, in dem sich all die Gestalten aufgelistet finden, die besonders favorisiert werden: Vom Körper losgelöste Teile, Spiegelbilder, Doppelgänger, Automate, Vampire und lebende Tote sind die am häufigsten vorkommenden.108

Diese Motive führen zu Verunsicherungen, da sie bekannte und alltägliche Phänomene verschieben. So kommt es zunächst zu Zweifeln an der geschilderten Welt und dann an der eigenen Wahrnehmung. Wenn die Phänomene im Verlauf der Erzählung nicht aufgeklärt und überwunden werden können, wird die Figur in den Wahn getrieben. Für sie/ihn besteht keine Sicherheit mehr, was wirklich geschieht und was halluziniert ist. Alice und Coraline werden durch ihre fantastischen Reisen nicht wahnsinnig. Für sie beginnen ihre Abenteuer mit Resignation und Langeweile im Alltag, sowie Zweifel an der eigenen Identität. Ihre Begegnungen mit Spiegelbildern und Doppelgängerfiguren lösen ihre Zweifel allmählich auf.109 Coraline kann die Seelen der Geisterkinder, ihre Eltern, den Kater und sich selbst aus der düsteren Welt der anderen Mutter retten. Dies gelingt ihr, weil sie sich ihren Ängsten stellt. Sie erinnert sich an Momente, in denen ihr von anderen geholfen wurde und schöpft daraus Mut. Die andere Mutter möchte sich Coralines Ängste zunutze machen, doch Coraline hat erkannt, dass sie sich diesen Stellen muss und sie damit, mit der anderen Mutter abschließen kann.110 108 Ebd., S. 279. 109 Vgl.: Sybille Birkhäuser-Oeri: »Die Mutter im Märchen. Deutung der Problematik des Mütterlichen und des Mutterkomplexes am Beispiel bekannter Märchen«, Stuttgart: Stiftung für Jungsche Psychologie 1982, S. 35: »Aber leider ist es ja so, daß wir das Dunkle, das uns von außen bedroht, erst dann richtig wahrnehmen und einschätzen können, wenn wir vorher der entsprechenden Dunkelheit in uns selber begegnet sind und ihr standgehalten haben.« 110 Vgl.: Anette Simonis: »Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres«, Heidelberg: Winter 2005, S. 180f: »Die unsichere Schwellenphase erweist sich als beides zugleich, als Krise und als Chance,

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Durch den endgültigen Übergang von der anderen Welt zurück in ihre eigene, kann Coraline sich auf das Leben im neuen Haus und das kommende Schuljahr in der neuen Schule einlassen. Im Unterschied zu Coraline, träumt Alice vom Wunder- und Spiegelland und behält die desorientierenden Erfahrungen in Erinnerung und berichtet ihrer Schwester davon. Die spielerischen Elemente sind in Carrolls Erzählungen zahlreicher als in Coraline. Alices Abenteuer haben dadurch eine harmlosere Wirkung. Doch auch Alice durchlebt Momente der Angst und des Kummers. Beide Protagonistinnen schaffen es, durch Neugierde und Offenheit durch die fremden Welten zu navigieren. Sie beweisen, dass selbst die Angst vor einem IchVerlust bewältigt werden kann: Bei den phantastischen Kinderbüchern lässt sich mit besonderer Prägnanz ersehen, dass es bei der narrativen Darstellung solcher innerfiktiven Raumkomponenten nicht einfach um die spannende Schilderung einer anschaulich-konkreten Lokalität variierender Schauplätze geht. […] Die Überschreitung räumlicher Grenzen markiert somit zugleich die Übergänge zwischen verschiedenen Entwicklungsstufen oder Reifegraden des jugendlichen Helden.111

Die beiden Erzählungen entsprechen dem Prinzip der fantastischen Kinderliterur, dass die jugendlichen Figuren im Laufe des Geschehens mit Problemen und Ängsten konfrontiert werden. Die Überwindung der gestellten Aufgaben bzw. die Lösung der Aufgaben, ermöglicht die Übertragung diverser Bewältigungsstrategien auf bestehende Alltagsprobleme.112 Der Wechsel zwischen den Welten, wie er bei Alice und Coraline beschrieben wird, kann den Blick aus neuen Perspektiven schulen und somit zu einem höheren Reifegrad beitragen.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Carroll, Lewis: »Alice im Wunderland«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 29. Aufl., Berlin: Insel 2017. Carroll, Lewis: »Alice hinter den Spiegeln«, aus dem Englischen von Christian Enzensberger, 21. Aufl., Berlin: Insel 2015.

denn die äußerste Gefahr und symbolisch durchlebte Todesnähe koindizieren mit einem teils euphorisch erfahrenen Erlebnis des Fremdartigen und Neuen.« Die visuelle Inszenierung von adoleszenten Grenzüberschreitungen nimmt Lara Busch in ihrem Beitrag am Beispiel der filmischen Adaption von Nils Mohls Es war einmal Indianerland in den Blick. 111 Ebd., S. 58. 112 Vgl.: ebd., S. 58.

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Gaiman, Neil: »Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel«, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold, Würzburg: Arena 2005. Hoffmann, E. T. A.: »Der Sandmann«, Stuttgart: Reclam 2018. Woolf, Virginia: »The Lady in the Looking-Glass«, Milton Keynes: Brit Books 2011.

Sekundärliteratur Berg, Stephan: »Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts«, Stuttgart: Metzler 1991. Birkhäuser-Oeri, Sybille: »Die Mutter im Märchen. Deutung der Problematik des Mütterlichen und des Mutterkomplexes am Beispiel bekannter Märchen«, Stuttgart: Stiftung für Jungsche Psychologie 1982. Braudy, Leo: »Horror«, Hügel, Hans-Otto (Hrsg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart: Metzler 2003, S. 248–255. Brittnacher, Hans Richard: »Puppe«, Ders.: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2013, S. 457–463. Brittnacher, Hans Richard: »Schauerroman«, Ders.: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2013, S. 305–318. Burstyn, Franziska: »Alice and Mowgli Revisited. Neil Gaiman’s Coraline and The Graveyard Book«, Petzold, Dieter (Hrsg.): Inklings. Jahrbuch für Literatur und Ästhetik, 30, 2012, S. 72–86. Dettmar, Ute: »Angst. Lust und Schrecken in der Kinder- und Jugendliteratur«, in kids+media 3, 1, 2013, S. 51–63. Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, Ders.: Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1917–1920, Bd. 12, London: Imago Publishing 1947, S. 229–268. Funke, Dieter : »Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens«, Gießen: Imago 2006. Grimm, Sieglinde: »Erwachsenwerden zwischen Horror und Phantasie. Henry Selicks Kinderfilm Coraline. Mit einem didaktischen Vorschlag«, Exner, Christian / Kümmerling-Meibauer, Bettina (Hrsg.): Von wilden Kerlen und wilden Hühnern. Perspektiven des modernen Kinder- und Jugendfilms, Marburg: Schüren 2012, S. 270–292. Grimm, Sieglinde: »Romantische Motive aus E. T. A. Hoffmanns Erzählungen in Neil Gaimans Coraline«, in Der Deutschunterricht, 4, 2012, S. 73–77. Hennig, Matthias: »Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume in der Literatur des 20. Jahrhunderts«, Paderborn: Fink 2015. Konersmann, Ralf: »Spiegel«, Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9., Basel: Schwabe 1995, Sp. 1379–1383. Kyora, Sabine: »How to Make a Monster. Zur Konstruktion des Monströsen. Einführende Überlegungen«, Ders. (Hrsg.): How to Make a Monster. Konstruktionen des Monströsen, Film-Medium-Diskurs, Bd. 37, Würzburg: Königshausen und Neumann 2011, S. 7–15. Lederer, Horst: »Phantastik und Wahnsinn. Geschichte und Struktur einer Symbiose«, Köln: SH 1986. Mattenklott, Gundel: »Heimlich-unheimliche Puppe. Ein Kapitel zur Beseelung der Dinge«, Fooken, Insa / Mikota, Jana (Hrsg.): Puppen. Menschenbegleiter in Kinder-

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welten und imaginären Räumen, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2014, S. 29–42. Perdigao, Lisa K.: »Transform, and twist, and change. Deconstructing Coraline«, Abbruscato, Joseph / Jones, Tanya (Hrsg.): The Gothic Fairy Tale in Young Adult Literature. Essays on Stories from Grimm to Gaiman, Jefferson: McFarland 2014, S. 102–122. Simonis, Anette: »Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres«, Heidelberg: Winter 2005. von Bonin, Felix: »Kleines Handlexikon der Märchensymbolik«, Stuttgart: Kreuz 2001. Weinmann, Andrea: »Die Angst vor der Puppe. Puppen in der Gruselliteratur für junge Leser«, Fooken, Insa / Mikota, Jana (Hrsg.): Puppen. Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2014, S. 123–134. Weinmann, Andrea: »Zwischen Angst und Lust. Zur Entwicklung der deutschsprachigen Gruselliteratur für junge Leser von den 1950er Jahren bis heute«, in kjl& m, 4,2015, S. 19–28. Zimmermann, Thomas: »Name«, Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel: Schwabe 1984, Sp. 364–389.

Onlinequellen Nikolajeva, Maria: »Devils, Demons, Familiars, Friends: Toward a Semiotic of Literary Cats«, in Marvels and Tales, 23, 2, 2009, S. 248–267. Verfügbar unter : http://www.jstor. org/stable/41388926, [09. 08. 2017].

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»Du wirst frei sein.«1 – Suizid Jugendlicher zwischen literarischer Umsetzung und zeitgenössischen Suiziddiskursen am Beispiel von Emil Strauß’ Freund Hein und Tobias Elsäßers Für niemand

Einleitung Suizid – ein freiwilliger und absichtlicher Akt der Selbstschädigung mit Ziel der Selbstvernichtung2 – ist seit jeher ein Thema, das zwar einerseits mit Tabus belegt wird, andererseits aber Faszination ausübt. In vielen westlichen Ländern ist der Suizid unter 15 bis 40-Jährigen in den letzten Jahren – auch durch den Rückgang anderer Ursachen – zur häufigsten Todesursache geworden.3 Ein öffentliches Interesse scheint alleine durch diesen Umstand naheliegend. Die Gründe für die Tabuisierung haben sich im Laufe der Zeit und je nach Position geändert, sie können religiös, moralisch, philosophisch und nicht zuletzt durch die Sorge über Nachahmung motiviert sein. In diesem Beitrag sollen beispielhaft zwei Werke, die sich literarisch mit dem Thema Suizid beschäftigen, näher betrachtet werden. Der erste Text, Emil Strauß’ Freund Hein (1902), ist ein Beispiel für eine Schülersuizidgeschichte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, ein Genre, das sich um die Jahrhundertwende entwickelte und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zog.4 Als zweiter Beispieltext dient ein aktueller Jugendroman, der ebenfalls den Suizid Jugendlicher behandelt, Tobias Elsäßers Für niemand (2011). Ausgehend von der Annahme, dass literarische Texte in Anlehnung an Foucault als Teil aktueller Suiziddiskurse bzw. als Bündel von Aussagen, die in einer Gesellschaft das hegemoniale Wissen zu einem Thema bilden,5 zugleich aber auch als mögliche Gegenströmung gelesen werden können, wird die Frage zu 1 Tobias Elsäßer : »Für niemand«, Frankfurt am Main: Fischer Kinder- und Jugendbuch Taschenbuch 2014, S. 64. 2 Vgl.: Dagmar Fenner : »Suizid – Krankheitssymptom oder Signatur der Freiheit? Eine medizinisch-ethische Untersuchung«, Freiburg: Alber 2008, S. 11ff. 3 Vgl.: ebd., S. 7. 4 Vgl.: Arno Herberth: »Der Jugendsuizid in der Moderne. Wissenschaftliche Vermessung und literarischer Diskurs«, Diss., Wien 2014, S. 9. 5 Vgl.: Stephan Habscheid: »Text und Diskurs«, Stuttgart: UTB 2010, S. 75f.

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beantworten sein, welche literarische Funktion der Suizid in Emil Strauß’ Freund Hein und Tobias Elsäßers Für niemand hat und welche Unterschiede in der erzählerischen Umsetzung sich hieraus ergeben. Ebenfalls wird danach zu fragen sein, in welcher Weise sich die jeweiligen Erzählstrategien in zeitgenössische Diskurse zum Thema Suizid unter Jugendlichen einfügen oder diesen wiedersprechen. Zunächst wird ein Überblick über die zeitgenössischen Suizid-Diskurse der Entstehungszeit beider Texte dazu dienen, sich in der anschließenden Analyse der verwendeten Erzählstrategien hierauf zu beziehen. Im Fall von Für niemand liegt hierbei der Fokus auf Diskursen um Jugendliteratur, die sich mit dem Thema Suizid befassen. Da ein solcher Diskurs um 1900 noch nicht existiert, wird der Fokus auf dem allgemeinen Suiziddiskurs liegen. Die Texte werden in chronologischer Reihenfolge behandelt, wobei in der Analyse von Für niemand auch, soweit sinnvoll, ein Vergleich mit Freund Hein erfolgen soll.

Suizideinschätzung im Umbruch – neue Deutungsmöglichkeiten ab 1900 Emil Strauß’ Freund Hein ist im Jahr 1902 erschienen, als einer der ersten deutschen Romane, die den Schülersuizid thematisierten.6 Der Suizid-Diskurs befand sich zu dieser Zeit in einem Wandel. Die Stigmatisierung durch die Kirche war weniger stark als noch einige Jahre zuvor, zugleich erfolgt eine umfassende wissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik erst einige Jahre später, nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Der Suizid ist also zwar im Alltagsdiskurs weniger stigmatisiert als noch kurze Zeit zuvor, aber auch noch kaum pathologisiert.7 Vielmehr war der Suizid in der Bevölkerung als ein mögliches Mittel, um Krisen zu bewältigen, oder ihnen zu entkommen, anerkannt.8 Diese Deutung ermöglicht es, den Suizident*innen eine freie Entscheidung für den eigenen Tod zuzugestehen. Von der Jahrhundertwende an bis zu einem Höhepunkt in der Weimarer Republik lässt sich eine vermehrte Faszination am Thema Suizid feststellen, die sich unter anderem in einer ausgiebigen Berichterstattung nicht nur in auf Sensationen ausgerichteten Zeitungen feststellen lässt, in welchen das Nennen der Namen der Verstorbenen üblich war und auch häufig Bezug auf die aktuellen 6 Vgl.: Jan Ehlenberger : »Adoleszenz und Suizid in Schulromanen von Emil Strauss, Hermann Hesse, Bruno Wille und Friedrich Torberg«, Frankfurt am Main: Lang 2006, S. 44f. 7 Vgl.: Susanne Hoffmann: »Suizidalität im Alltagsdiskurs: Populare Deutungen des ›Selbstmords‹ im 20. Jahrhundert«, in Historical Social Research / Historische Sozialforschung 34/4, S. 188–203, (S. 201). 8 Vgl.: ebd., S. 201f.

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Umstände genommen wurde. Diese wurden häufig als Ursache für Suizide aufgeführt und somit gesellschafts- und zeitkritisch gedeutet.9 Dieses Deutungsmuster wurde zunehmend auch in Abschiedsbriefen aufgegriffen.10 Freund Hein kann zeitlich in die Anfangsphase dieser Entwicklungen eingeordnet werden. Obwohl der Freitod sowohl Männern als auch Frauen zugestanden wurde, überwogen (noch stärker als heute11) erfolgreiche Suizidversuche von Männern, was möglicherweise aber auch mit der Wahl des Mittels zusammenhing – Frauen verwendeten meist Methoden wie vergiften und ertrinken, die einfacher als Unfälle deklariert werden können. Dies ist mit von Männern häufiger gewählten Methoden wie erschießen oder erhängen seltener der Fall.12

»Ist Gottes Wille im Ziegel und im Typhus – warum nicht auch in mir?«13 – Darstellung des Suizids in Freund Hein In Freund Hein wird der Suizid des Protagonisten schon mit dem Titel vorausgedeutet: »Freund Hein« ist ein euphemistischer Ausdruck für den Tod und verweist zugleich auf den Namen des Protagonisten Heinrich.14 Dies ermöglicht es, durch die gesamte Lebensgeschichte Heinrich »Heiner« Lindners von seiner Geburt bis zum Tod den Suizid mitzulesen. Seine Lebensgeschichte wirkt so als teleologisch auf den Suizid ausgerichtete Reihe von Ereignissen und Umständen, die sich aus dem Leben eines jungen Mannes in einer Gesellschaft, wie Heinrich sie vorfindet, nahezu unabänderlich ergeben muss. Heinrich ist schon als Kind durch Eigenschaften geprägt, die für das, was sein Vater von ihm erwartet, problematisch sind: Er lebt für die Musik,15 soll aber Staatsanwalt werden.16 Er ist fleißig, aber die Schule bereitet ihm zunehmend Probleme, besonders in Mathematik. Sein eigenes Verständnis von der Welt ist

9 Vgl.: Heidi Sack: »›Wir werden lächelnd aus dem Leben scheiden‹ – Faszination Selbstmord in der Steglitzer Schülertragödie und in Diskursen der Weimarer Zeit«, in Historical Social Research / Historische Sozialforschung 34/4, S. 259–272, (S. 264ff.). 10 Vgl.: ebd., S. 266. 11 Vgl.: Susanne Hoffmann: »Suizidalität im Alltagsdiskurs: Populare Deutungen des ›Selbstmords‹ im 20. Jahrhundert«, in Historical Social Research / Historische Sozialforschung 34/4, S. 188–203, (S. 189f.). 12 Vgl.: ebd., S. 199. 13 Vgl.: Emil Strauß: »Freund Hein. Eine Lebensgeschichte«, Kirchheim / Teck: Schweier 1982 [1902], S. 202. 14 Vgl.: Jan Ehlenberger : »Adoleszenz und Suizid in Schulromanen von Emil Strauss, Hermann Hesse, Bruno Wille und Friedrich Torberg«, Frankfurt am Main: Lang 2006, S. 48f. 15 Vgl.: Emil Strauß: »Freund Hein. Eine Lebensgeschichte«, Kirchheim / Teck: Schweier 1982 [1902], S. 154. 16 Vgl.: ebd., S. 7.

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nicht mit den schulischen Anforderungen kompatibel,17 der Schulstoff »ein widerspenstiger und quälender Fremdstoff in seinem Hirn.«18 Durch seine stetigen Bemühungen, den gestellten Anforderungen gerecht zu werden, wird wiederholt betont, dass er alles, was ihm möglich ist, versucht. Das Erreichen der vom Vater gesetzten Ziele wird somit für Heiner als unter den gegebenen Umständen nahezu unmöglich dargestellt. Das erkennt sein Vater jedoch nicht: Sein Leben ist schon vor seinen schulischen Schwierigkeiten geprägt von der Forderung, bestimmte (künstliche) Ziele zu erreichen, bevor er tun kann, was seine Leidenschaft ist. Er muss eine Oktave greifen können, bevor er Klavier spielen darf19 und das Abitur machen, bevor er Musiker werden darf.20 Während das Greifen der Oktave eine durch Zeit überwindbare Hürde darstellt, ist das Abitur für Heiner nur unter erheblichen Anstrengungen zu erreichen. Wegen seines ausgeprägten Sinnes für Gerechtigkeit, der vom Vater als deutliches Zeichen für seine Bestimmung zum Staatsanwalt gedeutet wird,21 betrügt Heiner niemals in der Schule. Er rebelliert nicht und verweigert niemals die Forderungen des Vaters, wenn er ihn nicht umstimmen kann. Als sein Schulfreund Notwang ihm anbietet, ihm in der Schule Lösungen vorzusagen, lehnt Heiner mit folgender Begründung ab: Ja, deine Hand will ich dir drücken für deine gute Absicht, aber annehmen kann ich nicht, es ist mir unmöglich. […D]adurch, daß ich überhaupt im Gymnasium bin, hab’ ich mich ihren Ansprüchen und ihrem Urteil unterworfen. Wer in der Eisenbahn sitzt, muß mitfahren, auch wenn er in den falschen Zug geraten ist.22

Heinrich erkennt demnach, dass er »im falschen Zug sitzt«: er möchte die Schule, die ihm nicht weiterhilft, verlassen. Er erhält jedoch nicht die Erlaubnis »umzusteigen«, also sein Leben so zu leben, wie es ihm besser anstehen würde. In Freund Hein wird so eine Sackgasse für den Protagonisten aufgebaut, die er, ohne seine Prinzipien zu verletzen, nur durch den Suizid verlassen kann.23 Der Suizid ist Heiners Weg, sich einem Regelsystem zu entziehen, dem er nicht nachkommen kann.24 Sein Tod wird besonders durch Notwang, der den Vater anklagt, Heiner keinen Ausweg gelassen zu haben, als einzige Möglichkeit Heiners dargestellt. Während Heiner selbst auf das Regelsystem und seine Ausweglosigkeit 17 18 19 20 21 22 23

Vgl.: ebd., S. 144f. Ebd., S. 125. Vgl.: ebd., S. 21. Vgl.: ebd., S. 168. Vgl.: ebd., S. 8. Ebd., S. 141f. Vgl.: Jan Ehlenberger : »Adoleszenz und Suizid in Schulromanen von Emil Strauss, Hermann Hesse, Bruno Wille und Friedrich Torberg«, Frankfurt am Main: Lang 2006, S. 91. 24 Vgl.: Emil Strauß: »Freund Hein. Eine Lebensgeschichte«, Kirchheim / Teck: Schweier 1982 [1902], S. 80.

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nicht mit Wut, sondern zunehmender Resignation reagiert, übernimmt Notwang nach seinem Verschwinden die Anklage an den Vater : Was wollten Sie denn da mit Zucht? Er hat sie ja von Natur. […] Müssen Sie nicht wissen, seit er lebt, daß sein Charakter von feinstem, klarsten, sprödesten Kristall ist! Wenn Heiner sagt: ›Ich kann nicht!‹ so hat er schon mehr getan, als zu verantworten ist! […] Der Teufel hole euch alle mit eurem besten Wissen und Gewissen, wenn ihr nicht einen Funken von Gefühl habt für die Unantastbarkeit der reinen Natur!25

Diese Textpassage ist auch ein Beispiel dafür, wie Heiners Inkompatibilität mit den Ansprüchen der Gesellschaft (und damit Kultur) auf seine eigene »Natur« zurückgeführt wird. Auch sein musikalisches Talent wird der Natur zugeordnet. In Freund Hein wird so ein dialektisches Gegenüber von Kultur und Natur dargestellt, indem die Kultur die Natur (Heiners) nach und nach erstickt. Hierbei bildet die Musik, Heiners natürliche Begabung, eine Verbindung zur Natur, während die Mathematik, die ihm verschlossen bleibt, auf die Kultur verweist. »Nicht einmal meine Adern sind mathematisch angelegt!«,26 stellt Heiner beim Blutsschwur mit Notwang fest. Dabei wird die Natur Heiners als unveränderlich begriffen und der kulturelle Zwang als unnachgiebig. Dieser Zwang ist es, den Notwang anklagt. Der Suizid Heiners wird zwar einerseits als Tragödie dargestellt27 und von den Hinterbliebenen beklagt, ist aber auch positiv besetzt. Schon der Titel des Romans, Freund Hein positioniert den Tod als Verbündeten. Die Tragödie bezieht sich nicht auf den Tod des Protagonisten, sondern darauf, dass der Tod ihm ein besserer Freund war, als das Leben. Der Tod ist es, der es Heiner ermöglicht, sich selbst – seiner Natur – treu zu bleiben. Dies zeigt sich auch in Heiners ruhiger, fast freudiger Erwartung des eigenen Todes.28 Er hat endlich einen Weg gefunden, den »falschen Zug« zu verlassen, ohne seiner Natur zu versagen. Freund Hein fügt sich somit in die zeitgenössische Tendenz ein, den Freitod gesellschafts- und zeitkritisch zu deuten. Die Entscheidung für den eigenen Tod wird Heiner zugestanden, auch wenn sein Tod natürlich trotzdem Trauer und Fassungslosigkeit bei denen, die ihm nahestanden, auslöst. Kritik wird hauptsächlich an Schule und Vater geübt, die Heiners als natürlich und unabänderlich beschriebenes Wesen nicht verstehen und somit auch nicht auf ihn eingehen. Die Kritik ist differenziert, so wird beispielsweise dem Vater zugestanden, seine Beweggründe Notwang gegenüber zu äußern, ohne durch die heterodiegetische Erzählstimme in Frage gestellt zu werden. Auch seine Liebe und Führsorge für 25 26 27 28

Ebd., S. 208f. Ebd., S. 146. Vgl.: ebd., S. 212. Vgl.: ebd., S. 210f.

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seinen Sohn, den er auf die gesellschaftlichen Ansprüche vorzubereiten sucht, werden adressiert. Er ist ein fehlbarer, aber nicht bösartiger Charakter.29 Der Suizid selbst wird ästhetisiert und mit Bedeutung aufgeladen, begonnen mit Heiners lang auserzählten Wanderung durch die Natur, seinem langen, seltsamen Traum von seiner Freundin Helene und nicht zuletzt dem Moment seines Todes: [Er] steckte rasch das Instrument ein, zog den Revolver und setzte ihn an die Stirn. ›Nein!‹, hauchte er, sich schüttelnd, ›das ist scheußlich!‹ Er schoß sich ins Herz und sank vornüber.30

Heiner scheint seinen Tod nicht als scheußlich anzusehen und legt Wert darauf, dass sein Leichnam das auch nicht ist. Er fällt nach vorne, nicht nach hinten, wodurch noch einmal verdeutlicht ist, dass er im Tod einen Schritt geht, eine Entwicklung durchmacht, im Gegensatz zu seinem Festsitzen in der Schule und im Leben, wodurch ihm eine Entwicklung versagt wird. Der Realismus tritt in den Hintergrund – woher Heiner plötzlich einen Revolver hat, bleibt völlig offen. Eine mögliche Erklärung ist, dass die Schilderung einer realistischen Planung des Suizids für Strauß nicht relevant war – sobald Heiner entscheidet, in den Tod zu gehen, hat er wie selbstverständlich auch die Möglichkeit dazu. Auch der Wandel in der religiös motivierten Verurteilung des Suizids wird in Ansätzen angesprochen. Die Marktfrauen, die den toten Heiner finden, sprechen noch von einer Sünde.31 Heiner selbst fragt jedoch, ob nicht auch sein Tod der Wille Gottes sein kann.32

Literatur als Suizidprävention – aktuelle Diskurse zur Suizidthematik in der Jugendliteratur Der Suizid wird nach dem zweiten Weltkrieg zunehmend pathologisiert. Dabei wird er häufig als Symptom einer (unerkannten) psychischen Erkrankung,

29 Jan Ehlenberger interpretiert die Darstellung des Vaters weniger positiv. Seiner Einschätzung des Vaters als Patriarchen, der sein Kind als sein Eigentum betrachtet, steht jedoch entgegen, dass vielfach auch seine Sorge um Heiner und sein Wunsch, ihn bestmöglich auf die Zukunft vorzubereiten thematisiert werden. Vgl.: Jan Ehlenberger : »Adoleszenz und Suizid in Schulromanen von Emil Strauss, Hermann Hesse, Bruno Wille und Friedrich Torberg«, Frankfurt am Main: Lang 2006, S. 52f. 30 Emil Strauß: »Freund Hein. Eine Lebensgeschichte«, Kirchheim / Teck: Schweier 1982 [1902], S. 211. 31 Vgl.: ebd., S. 212. 32 Vgl.: ebd., S. 202.

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häufig Depressionen, angesehen.33 Diese Deutung entlastet zum einen die Suizident*innen, denen somit nur noch bedingt ein Vorwurf gemacht werden kann – etwa, die Hinterbliebenen im Stich gelassen zu haben, oder feige zu sein – und vereinfacht es außerdem, Hilfe zu erhalten. Andererseits wird einem Menschen, der Suizid begeht, so auch abgesprochen, eine durchdachte Entscheidung getroffen zu haben.34 Das Unbehagen, das ein Freitod auslöst, wird damit abgeschwächt: Wenn der Suizid lediglich eine von vielen Arten ist, an einer Krankheit zu sterben und so rein pathologisch betrachtet wird, ist es auch nicht nötig, über die spezifischen Implikationen zu Moral, Philosophie und freien Willen zu reflektieren, die der Suizid mit sich bringt.35 Suizid ist somit etwas, das verhindert werden soll und kann, wenn nur rechtzeitig eine Behandlung erfolgt, oder Hilfe gesucht wird. Selbst wenn der Suizid nicht als Symptom einer psychischen Erkrankung betrachtet wird, wird er meist als eine Fehleinschätzung der Person, die ihn durchführt, gewertet und nicht als rationaler Akt.36 Aus diesen Gründen wurde in den vergangenen Jahrzehnten auch immer wieder Kritik an der Annahme, dass Ärzt*innen und Psycholog*innen zur Suizidverhütung berechtigt oder verpflichtet sind, geübt.37 Tendenziell wird ein gut begründeter Suizid eher Todkranken zugesprochen als Adoleszenten. Seit die Thematisierung von Suizid in originärer Jugendliteratur38 nicht mehr prinzipiell tabuisiert ist, wird in der Literatur immer wieder die Forderung an sie gestellt, präventiv zu wirken. Die Hauptfunktion, die ihr in der Fachliteratur zugesprochen wird, ist didaktisch, wie der folgende Blick auf verschiedene Artikel zum Thema nahelegt. Andere Kriterien wie Ästhetik oder Innovation rücken eher in den Hintergrund. Literarischer Anspruch und Komplexität werden insofern als wünschenswert postuliert, als sie helfen können, Jugendlichen das Thema Suizid besser und differenzierter nahe zu bringen. Dementsprechend werden besonders realistische Darstellungen hervorgehoben.39 Eine andere Einschätzung vertritt Elke Liebs, die darauf hinweist, dass sich das Recht auf den Suizid in der Jugendliteratur oft mit dem Recht auf eigene Entscheidungen und Persönlichkeitsentwicklung deckt 33 Vgl.: Dagmar Fenner : »Suizid – Krankheitssymptom oder Signatur der Freiheit? Eine medizinisch-ethische Untersuchung«, Freiburg: Alber 2008, S. 13. 34 Vgl.: ebd., S. 14f. 35 Vgl.: ebd. 36 Vgl.: Dagmar Fenner : »Theoretische und praktische Rationalität. Eine Anwendung auf die aktuelle Suiziddebatte«, in Zeitschrift für philosophische Forschung 61/1, S. 51–76. 37 Vgl.: Thomas Haenel: »Die Bewertung des Suizides im Laufe der Geschichte. Eine Übersicht«, in Medizinhistorisches Journal 18/3, S. 213–226, (S. 213). 38 Vgl.: Hans-Heino Ewers: »Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung«, Paderborn: Fink 2012, S. 13f. 39 Vgl.: Renate Grubert: »Suizid. zunehmend ein Thema in der Jugendliteratur«, in Beiträge Jugendliteratur und Medien 53/1, S. 23–30, (S. 27f.).

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und somit in der literarischen Verarbeitung nicht nur für sich selbst stehen muss.40 Diese Themen sind zudem gerade für Jugendliche, die sich in einer Phase der Selbstfindung und Ablösung befinden, relevant. Das Lesen von angemessener Literatur über Suizid wird in jüngerer Zeit, für gewöhnlich in Verbindung mit einer Behandlung des entsprechenden Textes in der Schule, als wichtiges Mittel, um über Suizid ins Gespräch zu kommen und zur Prävention erkannt. Die Situation an deutschen Schulen könnte anders ausgesehen haben, aber 1990 beschreibt Georgia Hanshew-Swing für die englischsprachige Welt noch, dass Lehrer*innen Bedenken äußern, Literatur über Suizid im Unterricht zu besprechen und versucht, die Ängste zu widerlegen, indem sie den Nutzen solcher Literatur hervorhebt.41 Einige Jahre früher bespricht Paula S. Berger einige Jugendromane, die sich mit dem Thema beschäftigen, und schreibt ihnen enorme präventive Wirkkraft zu und geht fast so weit, die Autor*innen als Held*innen zu feiern: Eduactors, parents and adolescents should applaud the authors who have braved crossing the barriers of this recently taboo subject. It may well be that as a result of their courage, lives may be saved, families not torn asunder, and society benefited by actualization of the potential of some of its more sensitive young adults.42

Ganz so uneingeschränkt positiv eingeschätzt wird Jugendliteratur, die Suizid zum Gegenstand hat, in aktuellen Artikeln nicht mehr. So wird beispielsweise auf den s. g. Werther-Effekt hingewiesen und daraus die Forderung einer bestimmten Art der Umsetzung der Thematik abgeleitet.43 Um als »angemessen« zu gelten, soll die Literatur also bestimmten Anforderungen genügen. Wenn es im Roman tatsächlich zum Suizid kommt, ist beispielsweise das Aufzeigen alternativer Handlungsmöglichkeiten erwünscht.44 Der Suizid soll augenscheinlich am Ende nicht als »gute«, rationale Entscheidung dastehen. Um dies zu erreichen, wird häufig ein Perspektivwechsel gefordert, um die Gedanken und Gefühle der/des suizidalen Jugendlichen nicht als »Wahrheit« stehen zu lassen. Einblicke in die Wahrnehmung von Freund*innen, Eltern, Lehrer*innen wird daher, folgt man der Sekundärliteratur, positiv bewertet.45 40 Vgl.: Elke Liebs: »Die Sehnsucht zum Tode. Selbstmord in der Jugendliteratur«, in Der Deutschunterricht 54/1, S. 60–71, (S. 61f.). 41 Vgl.: Georgia H. Swing: »Choosing Life. Adolescent Suicide in Literature«, in The English Journal 79/5, S. 78. 42 Paula S. Berger : »Suicide in Young Adult Literature«, in The High School Journal 70/1, S. 14–19, (S. 18). 43 Vgl.: Katrin Manz: »›Ich weiß nicht, ob ich sterben will. Ich möchte glücklich sein.‹ Vom Suchen nach dem Sinn des Lebens – Suizid(gedanken) in der aktuellen Jugendliteratur«, in kjl& m 66/4, S. 42–48, (S. 42f.). 44 Vgl.: ebd., S. 43. 45 Vgl.: ebd., S. 44.

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Diese Bewertungen führen zu der Einschätzung, dass zwar die Thematisierung des Suizids in der Jugendliteratur prinzipiell kaum mehr tabuisiert ist, sehr wohl jedoch die Gedankenwelt einer/eines Suizident*in, der sich nicht, ohne sie infrage zu stellen, literarisch angenähert werden soll. Die Jugendliteratur hat dementsprechend eine Gratwanderung zu leisten, indem einerseits gefährdete Jugendliche angesprochen werden sollen, die sich somit verstanden und weniger alleine in ihrer Situation fühlen, andererseits darf dieses Verständnis auch nicht zu weit gehen und muss im Text kritisch hinterfragt werden, um Nachahmungstaten, oder gar eine Romantisierung des Suizids auszuschließen. Ein Roman, wie der zuvor besprochene Freund Hein, der den Suizid auch positiv darstellt, erscheint unter diesen Anforderungen undenkbar. Abgesehen von Suizident*innen, sollen aber auch Außen- und Nahestehende für den Suizid sensibilisiert werden. Dabei kann es um Trauerarbeit gehen,46 häufig wird aber auch Mobbing als Auslöser für Suizide angesprochen.47 Neu hinzugekommen ist die Thematisierung des Internets, zum einen in Verbindung mit Cyber-Mobbing, zum anderen mit Phänomenen wie Suizid-Foren, die es Betroffenen ermöglichen, sich auszutauschen. Die vielfältigen Möglichkeiten dieser Entwicklung können literarisch durchgespielt werden.48 Insgesamt ist im aktuellen Suiziddiskurs ein geringerer Fokus auf Gesellschafts- und Zeitkritik gesetzt als um die Jahrhundertwende. Kritisch hinterfragt wird eher das Verhalten Einzelner, z. B. im Fall von Mobbing oder dem nicht Erkennen einer Selbstmordabsicht.

»Niemand stellt Fragen.«49 – Suiziddarstellung in Für niemand Tobias Elsäßers Roman Für niemand (erstmals erschienen 2011) folgt drei Jugendlichen: Marie, Sammy und Nidal, die sich in einem geheimen Chat zum gemeinsamen Suizid verabreden, den sie alleine nicht in der Lage sind durchzuführen. Der etwa gleichaltrige Yoshua hat ein Programm geschrieben, mit dem er teilweise auf diesen Chat zugreifen kann. Im Roman wird abwechselnd in kurzen Abschnitten aus dem Alltag der Protagonist*innen erzählt, außerdem 46 Vgl.: Renate Grubert: »Suizid. zunehmend ein Thema in der Jugendliteratur«, in Beiträge Jugendliteratur und Medien 53/1, S. 23–30, (S. 24ff.). 47 Vgl.: Tanja Lindauer : »›Das Spiel ist aus. Die Maus ist tot. Die Katze hat gewonnen.‹ Mobbizid und (Cyber-)Mobbing in aktuellen Jugendmedien«, in kjl& m 66/4, S. 49–56. 48 Vgl.: Romy Brüggemann: »Selbstmord als Thema im Literatur- und (Praktischen) Philosophieunterricht. Probleme und Chancen unterrichtlicher Auseinandersetzung«, in kjl& m 66/4, S. 24–32, (S. 24). 49 Tobias Elsäßer : »Für niemand«, Frankfurt am Main: Fischer Kinder- und Jugendbuch Taschenbuch 2014, S. 15.

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sind die Ausschnitte aus dem Chatverlauf zu lesen, auf die Yoshua Zugriff hat. Dabei ist zunächst unklar, welche Figur sich hinter welchem Nickname verbirgt. In Für niemand wird zunächst Abstand von den suizidalen Jugendlichen geschaffen. Dies geschieht schon durch den dem ersten Kapitel vorangestellten Text: LIEBER BESUCHER, DU BIST DABEI EINEN GESCHÜTZTEN BEREICH ZU BETRETEN. BEANTWORTE DIE FOLGENDEN FRAGEN INNERHALB DER VORGEGEBEN ZEIT. SOLLTE DICH DER ADMINISTRATOR FÜR WÜRDIG HALTEN, WIRD DIR INNERHALB VON 24 STUNDEN EIN NEUER NICKNAME ZUGEWIESEN UND EIN PASSWORT. […] BEI MISSBRAUCH ODER FEHLVERHALTEN WIRD DER PRIVATE CHATRAUM UMGEHEND GESCHLOSSEN.50

Lesende werden hier als Besucher adressiert. Der Verweis auf einen geschützten Bereich erzeugt die Erwartung, im folgenden Text Zugriff auf Informationen zu erhalten, die privat sind und besonderen Schutzes bedürfen. Man könnte argumentieren, dass der vorangestellte Text auch die Möglichkeit eröffnet, in den Kreis der Chattenden durch die Beantwortung der Fragen aufgenommen zu werden. Diese sind als die zwölf Kapitelüberschriften gestellt und können so auch von Lesenden für sich beantwortet werden. Dem wiederspricht wiederum, dass im ersten Kapitel zuerst aus Joshuas Sicht erzählt wird, der mithilfe eines selbstgeschriebenen Programms, dem Chatverlauf der drei suizidalen Jugendlichen folgen kann. Folgerichtig wird offengelassen, wer im Chat welchen Namen benutzt – schließlich hat auch Yoshua diese Information nicht. Hierdurch wird Yoshuas Funktion als Identifikationsfigur gefestigt. Für diese Funktion spricht auch, dass er kaum tatsächlich in die Handlung eingreift, sondern die Position eines Beobachters einnimmt. Yoshua wird in diesem ersten Textabschnitt als potenzieller Held vorgestellt: Yoshua könnte ein Held sein. Ein Retter. Er weiß es noch nicht. Das Schicksal, Gott, der Zufall, wer auch immer, hat ihn auserwählt. Ohne Casting. Für diese Rolle musste er nicht vorsprechen.51

Die Heldentat, die er vollbringen soll, scheint darin zu bestehen, den Suizid der Drei zu verhindern. Damit wird zunächst postuliert, dass ein Suizid, oder zumindest einer der geplanten Suizide, etwas ist, das verhindert werden sollte und jemand, dem dies gelingt, ein Held und Retter. Diese Darstellung passt zunächst sehr gut zum aktuellen Fokus auf eine präventive Funktion der Jugendliteratur. Zugleich wird Spannung aufgebaut, weil noch nicht klar ist, ob Joshua diese Heldentat gelingen wird. »Joshua könnte ein Held sein«52 lautet der erste Satz des 50 Ebd., S. 8. [Versalschrift im Original] 51 Ebd., S. 9. 52 Ebd. [Hervorhebung, L.-M. J. v. Z.]

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Romans. Joshua wird so zur Identifikationsfigur für Personen, die selbst nicht suizidal sind, sondern einen Suizid verhindern möchten – dafür spricht auch seine Beschreibung als gewöhnlicher Junge, der noch nichts von seiner großen Aufgabe ahnt. Dieser erste Absatz ist auch einer der einzigen, in denen eine Einschätzung des heterodiegetischen Erzählers gegeben wird, die nicht den Charakteren selbst zugeordnet werden kann. Neben Yoshua und einigen Nebencharakteren wird auch aus Sicht aller drei suizidalen Jugendlichen erzählt, dabei wird jedoch stets ein Teil der Information zurückgehalten. Die Fokalisierung ist teilweise intern, wobei Gedanken und Gefühle nicht weiter von der Erzählstimme gedeutet werden, meistens jedoch extern fokalisiert53 – das Wissen und Empfinden der Figuren wird so nur unvollständig mitgeteilt. So werden Marie und ihr Zimmer folgendermaßen beschrieben, als sie zum ersten Mal auftritt: Sie liegt ausgestreckt auf ihrem Sofa. Sie badet in einem Meer aus glänzenden Kissen. Die Sonne streift ihre nackten Füße. Der Rest liegt im Schatten. Die Augen des Betrachters müssen sich an den Helligkeitsunterschied gewöhnen. Es vergehen Sekunden. Der Nebel lichtet sich. Ein Ellenbogen ist aufgestützt, die Hand klemmt unterm Kinn. Ein Mädchen mit langen braunen Haaren, bronzener Haut und pausbäckigem Gesicht kommt zum Vorschein. Marie schaut sorgenvoll auf ein Blatt Papier. Die Buchstaben neigen sich nach Westen. Dorthin, wo sie jetzt gerne wäre. Luftlinie nur zehn Kilometer, aber in Wirklichkeit unerreichbar.54

Dieser Abschnitt ist ein Beispiel dafür, wie Elsäßer erzählerisch vorgeht. Die teilweise filmische Erzählweise, in der ein Eindruck von Charakteren und Schauplätzen geschaffen wird, stellt den Fokus auf »die Fassade« geradezu zur Schau. Diese nüchternen Beschreibungen von Szenen und Schauplätzen werden von einzelnen Gedanken der Charaktere durchbrochen, die jedoch kein klares Bild ihrer Situation ermöglichen. Man erfährt nicht, warum Marie gerne zehn Kilometer weiter westlich wäre und warum sie den Ort, an den sie sich sehnt, für unerreichbar hält. Zugleich lässt sich an dieser Szene festmachen, dass die Fokalisierung intern ist, wenn Gedanken und Gefühle beschrieben werden. Die Einschätzung, dass es keine Möglichkeit gibt, ihre Tochter zu sehen, entspricht Maries individueller Perspektive, dass Emma ihr Neugeborenes ist, das sie in einer Babyklappe abgegeben hat, erfährt die Leserschaft erst viel später im Roman. Faktisch könnte sie mit ihren Eltern sprechen und vor Ablauf der achtwöchigen Frist ihr Kind wieder abholen – warum sie diese Möglichkeiten ablehnt, bleibt offen. 53 Vgl.: Mat&as Mart&nez/Michael Scheffel: »Einführung in die Erzähltheorie«, München: C. H. Beck 2016, S. 68. 54 Tobias Elsäßer : »Für niemand«, Frankfurt am Main: Fischer Kinder- und Jugendbuch Taschenbuch 2014, S. 11.

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Die Gedanken- und Gefühlswelt und damit auch die Gründe für den geplanten Suizid bleiben – besonders im Fall von Marie und Nidal – zunächst im Verborgenen, um erst später überraschend enthüllt zu werden. Diese Strategie erzeugt zum einen Spannung, weil Lesende dazu angeregt werden, das Rätsel zu lösen, andererseits wird illustriert, dass Gründe für einen Freitod vielschichtig sein können und keineswegs den gängigen Erwartungen entsprechen müssen. Damit geht allerdings einher, dass die jeweiligen Probleme der Jugendlichen kaum näher behandelt werden, da sie erst gegen Ende des Romans überhaupt offen thematisiert werden können, weil das Rätseln – auch darüber, hinter welchem Nickname sich welche Figur verbirgt – möglichst lange aufrechterhalten wird. Diese Techniken, den suizidalen Figuren nicht zu nahe zu kommen, passen zur verbreiteten Ansicht, dass ein Suizid »ansteckend« sein könnte und dass die Gedankenwelt einer/eines Selbstmörder*in bis zu einem gewissen Grad für Außenstehende unmöglich zu verstehen ist. Die Suizidpläne werden in Für niemand allerdings nicht durch die Erzählinstanz oder die Figuren kritisch hinterfragt. Stattdessen werden Lesende strategisch mit Informationen versorgt, die es ermöglichen, die Situation der Jugendlichen einzuschätzen. So hat Sammy zwar eine schwierige Beziehung zu ihren Eltern;55 sie fühlt sich als sei die Liebe ihrer Eltern an eine bestimmte Außenwirkung gebunden. Als an ihrer Schule jedoch eine Bombendrohung eingeht, ruft ihre Mutter sofort besorgt an.56 Sammy selbst denkt über den Anruf kaum nach, aber er ist ein Hinweis dafür, dass Sammys Mutter Angst davor hat, ihre Tochter zu verlieren. Auch Nidal glaubt, die Liebe seiner Eltern sei daran gebunden, bestimmte Erwartungen zu erfüllen.57 Er ist sich sicher, dass seine Homosexualität, wäre sie den Eltern bekannt, dazu führen würde, dass sie ihn nicht länger bedingungslos lieben würden. Den Lesenden wird zu dieser Einschätzung kein weiterer Anlass gegeben. Maries Mutter erscheint als liebevoll und an ihrer Tochter interessiert, auch wenn sie meist auf oberflächlicher Ebene miteinander agieren – die Mutter ist überzeugt, dass Maries Probleme sich auf »Gewichtsschwankungen« und Liebeskummer beschränken.58 Dennoch ist Marie zu dem Schluss gekommen, dass es für sie unmöglich ist, sich der Mutter anzuvertrauen.59 Die Suizidpläne der Jugendlichen werden in allen drei Fällen auf verschiedene Weise auf gesellschaftliche Probleme zurückgeführt. Nidal leidet nicht nur unter seiner Homosexualität, sondern auch unter den gemischten Signalen, die er erhält: »›Schwächlinge braucht die Welt nicht‹ hat sein Vater immer gesagt und 55 56 57 58 59

Vgl.: ebd., S. 29f. Vgl.: ebd., S. 60. Vgl.: ebd., S. 77. Vgl.: ebd., S. 38. Vgl.: ebd., S. 37.

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ihn fest an sich gedrückt.«60 Er hat das Gefühl, dass er, um die Liebe seines Vaters zu erhalten, seinen Worten gerecht werden muss. Das widersprüchliche Männlichkeitsbild, das Nidal vermittelt wird, macht es ihm unmöglich, diesen Ansprüchen zu folgen. Seine primäre Bezugsgruppe gleichaltriger Freunde drückt ihre Homophobie selbstverständlich und regelmäßig aus. Nidals bester Freund Patty will zwar sein Freund bleiben, nachdem er beobachtet hat, dass Nidal seinen Kollegen küsst,61 diese Zusage kommt jedoch zu spät, oder scheint nicht auszureichen, um Nidal von seinem Suizidvorhaben abzubringen. Sammy kritisiert vor allem, dass ihr Umfeld oberflächlich sei und kaum jemand sich authentisch verhalte. Dazu kommt ein andauerndes Gefühl der Traurigkeit.62 Sie lehnt Kommerz ab, sehnt sich jedoch danach, eine bleibende Spur zu hinterlassen und so Aufmerksamkeit zu erhalten.63 Sie fühlt sich unverstanden und in ihrem Alltag gefangen, der ihr immer gleich zu sein erscheint.64 Der Suizid ist für sie primär ein Mittel, den größtmöglichen Eindruck zu hinterlassen, es allen zu zeigen.65 Scheinbar leben die drei in einer Welt, die ihnen eine Vielzahl von Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten eröffnet. Dennoch haben sie das Gefühl, sich unausgesprochenen Zwängen unterordnen zu müssen. Während Anforderungen in Freund Hein offen und begründet an Heiner gestellt werden, leiden besonders Sammy und Nidal unter fehlender offener Ansprache von Themen, die ihnen wichtig erscheinen. Die Jugendlichen werden dennoch keineswegs auf eine Opferrolle reduziert. Besonders Nidal und Sammy werden nicht idealisiert, sondern auch kritisch gezeichnet. So nimmt Nidal am Hass seiner Freunde gegenüber Homosexuellen Teil66 und kritisiert auch ihren Plan, Mädchen mithilfe von K.O.-Tropfen zu vergewaltigen, nicht offen. Er verhindert zwar schließlich ihren Plan, spricht aber danach nicht einmal mit Patty über den Vorfall und mögliche Folgen. Hier wird deutlich, dass sich eine klare Trennung zwischen Opfern und Tätern nicht ziehen lässt, schließlich wird durch Maries Schicksal deutlich gemacht, dass genau diese Tat schwere Folgen für Betroffene haben kann. Die Einschätzung eines der Jungen: »Und weil sie sich an nix mehr erinnern können, ist es auch nicht schlimm für die Psyche und so,«67 wird so indirekt widerlegt.

60 61 62 63 64 65 66 67

Ebd., S. 12. Vgl.: ebd., S. 148f. Ebd., S. 82. Vgl.: ebd., S. 63. Vgl.: ebd., S. 13f. Vgl.: ebd., S. 14f. Vgl.: ebd., S. 43ff. Ebd., S. 48.

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Sammy fantasiert darüber, wie ihr Tod nahestehende Menschen ins Unglück stürzen würde und erfreut sich an dieser Vorstellung. Sie kritisiert einerseits, dass man eine bestimmte, oberflächliche Rolle spielen müsse und kaum jemand echte Fragen stelle, gesteht aber Anderen nicht die gleiche komplexe Gefühlsund Gedankenwelt wie sich selbst zu. Ihr bereitet es Freude, Andere für ihre vermeintliche Oberflächlichkeit zu bestrafen, beispielsweise ihre Bandkollegin Carla, die sich bemüht, Sammy eine Freundin zu sein, für die Sammy aber nur Abfälligkeiten übrig hat. Über ihren sechsjährigen Bruder sagt sie in seiner Anwesenheit: »Weil er sonst eventuell noch fetter wird.«68 und wiederspricht auch hier ihrem eigenen Anspruch, nicht oberflächlich zu sein und sich den gesellschaftlichen Ansprüchen zu entziehen, indem sie genau diesen Druck auf ein Kind ausübt. Das Weitergeben von Grausamkeiten ist ein wiederkehrendes Motiv in Für niemand. Auch die grausame Reaktion der vermeintlichen Telefonseelsorgerin auf Maries Anruf, wird direkt mit einer gemeinen Nachricht, in der das Mädchen als »fett« diffamiert wird, kausal in Verbindung gebracht.69 Auch hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu Freund Hein, wird Heiner doch in seiner gerechten und integren Art eher idealisiert. Die im zeitgenössischen Diskurs recht stark verbreitete Pathologisierung des Suizids fehlt in Für niemand geradezu auffällig. Die Möglichkeit psychischer Störungen der drei Protagonist*innen bleibt unerwähnt, auch wenn mindestens im Falle Maries nach einer Vergewaltigung, verheimlichten Schwangerschaft und Geburt sowie dem anschließenden Verlust des Neugeborenen, ein starkes Trauma naheliegend wäre. Am nächsten kommt dem ein Anruf bei einer kirchlich organisierten Telefonseelsorge, der von einer überforderten, ebenfalls suizidalen Person ohne entsprechende Ausbildung beantwortet wird. Dem pädagogisch motivierten Anspruch, in an Jugendliche gerichtete Literatur zum Thema Suizid unbedingt Alternativen aufzuzeigen, wird in dieser Hinsicht nicht entsprochen. Eine wiederkehrende Forderung besteht auch darin, jugendlichen Leser*innen einen Perspektivwechsel anzubieten. Dieser soll zum einen alternative Sichtweisen der eigenen Situation ermöglichen, und zum anderen die Folgen des Suizids für Familie und Freund*innen möglichst eindrucksvoll vermitteln. In Für niemand wird dies hauptsächlich durch kurze Abschnitte erfüllt, die aus der Sicht einer Psychologin die Verzweiflung eines Lockführers schildern, der nicht darüber hinwegkommt, am Tod der beiden Jugendlichen – unabsichtlich – beteiligt gewesen zu sein. Die psychologische Therapie erscheint in Für niemand also nur für Hinterbliebene und (unfreiwillig) Beteiligte eine Handlungsmög68 Ebd., S. 52. [Hervorhebung im Original] 69 Vgl.: ebd., S. 17ff.

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lichkeit darzustellen. Diese wird jedoch als sinnlos und nicht hilfreich inszeniert. Das therapeutische Gespräch deutet keine Besserung der Situation des Lockführers an; er verweigert die Behandlung: ›Können Sie mir helfen? Das glaube ich nicht. Niemand kann mir helfen. Niemand wird verstehen, wie es ist, wenn man zwei Menschen getötet hat, ohne es zu wollen.‹ ›Sie haben sie nicht getötet‹ ›Es bringt nichts, darüber zu reden‹70

Für niemand kommt somit nur eingeschränkt der Forderung an Jugendliteratur über Suizid nach, möglicherweise Betroffenen alternative Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Auch Sammys Überleben ist nicht ihre eigene Entscheidung, sondern Nidals, der beschließt, sie aufgrund ihres musikalischen Talents vom gemeinsamen Selbstmord auszuschließen, weil sie seiner Einschätzung nach noch eine Zukunft vor sich hat. Im Text wird so am Ende der Selbstmord mit freiem Willen verknüpft, während (Über-)Leben fremdbestimmt bleibt. Die Frage danach, ob Nidals »Ausschluss« Sammys vom gemeinsamen Plan, positiv zu werten ist, und ob Yoshua wirklich zum »Helden« geworden ist, muss von den Lesenden beantwortet werden. Der Suizid von Marie und Nidal wird indessen nicht direkt dargestellt. Die Thematisierung erfolgt indirekt über Sammys Erkenntnis, dass die beiden sie ausgeschlossen haben und die Aussage des Zugfahrers, der berichtet, die beiden hätten sich an den Händen gehalten. Für niemand kommt so dem Suizid selbst nicht zu nahe; die Gedanken und Gefühle der beiden Jugendlichen kurz vor ihrem Tod bleiben im Dunkeln. Wenn man dies mit der langen, ausschweifenden Beschreibung von Heiners letzten Stunden und seines anschließenden Suizids in Freund Hein vergleicht, fällt auf, dass dieses Vorgehen erneut mehr Distanz zu den suizidalen Jugendlichen schafft. Ein wiederkehrendes Thema in Für niemand ist jenes der Kommunikation. Wie bereits ausgeführt, kritisieren die Jugendlichen, über bestimmte Dinge mit niemandem reden zu können. Der von Nidal eingerichtete Chat erscheint zunächst als Gegenraum, indem das Schweigen gebrochen und über alles geredet werden kann. Allerdings erweist sich diese Hoffnung zunehmend als Irrtum. Auch im Chat gibt es bestimmte Kommunikationsregeln, die nicht gebrochen werden – so ist nicht möglich, über Zweifel am Suizid zu sprechen, denn um geduldet zu werden, muss man es ernst meinen.71 Außerdem zeigen sich die Nachteile schriftlicher Kommunikation. Die Jugendlichen versuchen zwar, über ihre Probleme zu reden (insbesondere Sammy stößt immer wieder Gespräche an), Vieles bleibt jedoch ungesagt. Hinweise, die Lesende gleich verstehen 70 Ebd., S. 163. 71 Vgl.: ebd., S. 46.

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können, weil sie in einigen Situationen mehr über die Charaktere wissen, bleiben von Sammy unbemerkt, weil ihr der direkte Kontakt (Mimik und Körpersprache) fehlt. Sie kann nicht wissen, warum Marie auf das Thema Sex mit sofortiger Blockade reagiert, oder warum Nidal jedes Mal ihre Angebote, vor dem gemeinschaftlichen Suizid noch einmal miteinander zu schlafen, ausschlägt. Der scheinbare Vorteil der Anonymität, verkehrt sich so ins Gegenteil. In der Gegenüberstellung dieser beiden Kommunikationsräume wird deutlich, dass den Jugendlichen ein Ort fehlt, an dem sie wirklich offen reden und in direkten Kontakt miteinander treten können. Durch die fehlende Bewertung der Gespräche über Suizid, bei denen den Lesenden zwar zusätzliche Information gegeben werden, um zu einer eigenen Einschätzung zu gelangen, wird Für niemand dem geforderten didaktischen Anspruch möglicherweise nicht gerecht, womit sich die schwache Resonanz auf den Roman erklären ließe. In den unzufriedenen Äußerungen der Jugendlichen und in der Darstellung fehlender Anschlussmöglichkeiten wird außerdem ein stärkerer gesellschaftskritischer Ansatz erkennbar, worauf im aktuellen Diskurs weniger Wert gelegt wird. Der stark vertretene Ansatz, Suizid zu pathologisieren, fehlt in Für niemand dagegen völlig. Den Jugendlichen wird die eigene Entscheidungsfähigkeit – ein eigener freier Wille – nicht abgesprochen.

Fazit In der durchgeführten Untersuchung der beiden Texte lassen sich in beiden Fällen sowohl Elemente aufzeigen, die im zeitgenössischen Suiziddiskurs hegemonial sind, als auch solche, die sich eher als Gegenpositionen verstehen lassen. Im Fall von Freund Hein ist die gesellschaftskritische Darstellung des Suizids eines künstlerisch begabten jungen Mannes ein Beispiel für einen zu dieser Zeit noch emergenten Diskurs, der einige Jahre später in den zwanziger Jahren auch im Alltagsdiskurs wirkmächtig geworden ist und die Deutungen von Suiziden in der Öffentlichkeit beeinflusst.72 Auch die sich im Umbruch befindliche Einschätzung zur religiösen Implikation des Suizids werden aufgegriffen, indem Heiner fragt, ob nicht auch seine Selbsttötung Teil eines göttlichen Plans sein kann. Eine religiöse Komponente bleibt in Für niemand aus. Die religiöse Betrachtung des Suizids zeigt sich auch in aktuellen Diskursen zum Suizid in der Jugendliteratur kaum.

72 Vgl.: Heidi Sack: »›Wir werden lächelnd aus dem Leben scheiden‹ – Faszination Selbstmord in der Steglitzer Schülertragödie und in Diskursen der Weimarer Zeit«, in Historical Social Research / Historische Sozialforschung 34/4, S. 259–272, (S. 264).

Suizid Jugendlicher in Strauß’ Freund Hein und Elsäßers Für niemand

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Auch Für niemand greift einerseits aktuelle Suiziddiskurse auf und kommt einzelnen an Jugendliteratur, die Suizid zum Gegenstand hat, gestellten Forderungen nach, beispielsweise dem Perspektivwechsel, der die Folgen des Suizids für Hinterbliebene verdeutlichen soll. Gemein ist den behandelten Werken, dass sie mithilfe des Suizids Gesellschaftskritik üben. Diese wird in Freund Hein jedoch offener geübt, beispielsweise mit Hilfe von Erzählerkommentaren. Während in Freund Hein der Suizid als zwar tragisch, aber auch positiv und nahezu romantisiert dargestellt wird, bleibt die Wertung in Für niemand aus. Die Einschätzung wird den Lesenden überlassen und die Motive und Auswirkungen des Freitods mit Hilfe von Perspektivwechseln auf Nebenfiguren facettenreich ausgestaltet. Auch in der Figurenkonzeption lässt sich ein bedeutsamer Unterschied nachweisen: während Heiner geradezu idealisiert wird, sind Nidal, Sammy und Marie fehlbare Figuren, die keineswegs nur Opfer eines Systems bzw. einer Gesellschaft sind. In beiden Fällen lässt sich erkennen, wie Literatur aktuelle Debatten aufgreifen und bei der Verarbeitung erweitern und modifizieren kann. Einzelne Aspekte können problematisiert oder in den Vordergrund gerückt werden, wie es zum Beispiel Für niemand durch die Darstellung der begrenzten Möglichkeiten therapeutischer Hilfe tut. Mithilfe des Einbezugs zeitgenössischer relevanter Diskurse ließ sich nachweisen, wie in beiden Werken der hegemoniale Diskurs zwar wiederzuerkennen ist, jedoch zugleich auch Gegenpositionen eingenommen werden.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Elsäßer, Tobias: »Für niemand«, Frankfurt am Main: Fischer 2014. Strauß, Emil: »Freund Hein. Eine Lebensgeschichte«, Kirchheim / Teck: Schweier 1982 [1902].

Sekundärliteratur Berger, Paula S.: »Suicide in Young Adult Literature«, in The High School Journal 70 1986 70/1, S. 14–19. Brüggemann, Romy : »Selbstmord als Thema im Literatur- und (Praktischen) Philosophieunterricht. Probleme und Chancen unterrichtlicher Auseinandersetzung«, in kjl& m 2014 66/4, S. 24–32. Ehlenberger, Jan: »Adoleszenz und Suizid in Schulromanen von Emil Strauss, Hermann Hesse, Bruno Wille und Friedrich Torberg«, Frankfurt am Main: Lang 2006.

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Lena-Marie John von Zydowitz

Ewers, Hans-Heino: »Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung«, Paderborn: Fink 2012. Fenner, Dagmar : »Suizid – Krankheitssymptom oder Signatur der Freiheit? Eine medizinisch-ethische Untersuchung«, Freiburg: Alber 2008. Fenner, Dagmar : »Theoretische und praktische Rationalität. Eine Anwendung auf die aktuelle Suiziddebatte«, in Zeitschrift für philosophische Forschung 2007 61/1, S. 51–76. Grubert, Renate: »Suizid. zunehmend ein Thema in der Jugendliteratur«, in Beiträge Jugendliteratur und Medien 2001 53/1, S. 23–30. Habscheid, Stephan: »Text und Diskurs«, Stuttgart: UTB 2010. Haenel, Thomas: »Die Bewertung des Suizides im Laufe der Geschichte. Eine Übersicht«, in Medizinhistorisches Journal 1983 18/3, S. 213–226. Herberth, Arno: »Der Jugendsuizid in der Moderne. Wissenschaftliche Vermessung und literarischer Diskurs«, Diss. Wien 2014. Hoffmann, Susanne: »Suizidalität im Alltagsdiskurs: Populare Deutungen des ›Selbstmords‹ im 20. Jahrhundert«, in Historical Social Research / Historische Sozialforschung 2009 34/4, 130, S. 188–203. Liebs, Elke: »Die Sehnsucht zum Tode. Selbstmord in der Jugendliteratur«, in Der Deutschunterricht 2002 54/1, S. 60–71. Lindauer, Tanja: »›Das Spiel ist aus. Die Maus ist tot. Die Katze hat gewonnen.‹ Mobbizid und (Cyber-)Mobbing in aktuellen Jugendmedien«, in kjl& m 2014 66/4, S. 49–56. Manz, Katrin: »›Ich weiß nicht, ob ich sterben will. Ich möchte glücklich sein.‹ Vom Suchen nach dem Sinn des Lebens – Suizid(gedanken) in der aktuellen Jugendliteratur«, in kjl& m 2014 66/4, S. 42–48. Mart&nez, Mat&as / Scheffel, Michael: »Einführung in die Erzähltheorie«, München: Beck 2016. Sack, Heidi: »›Wir werden lächelnd aus dem Leben scheiden‹ – Faszination Selbstmord in der Steglitzer Schülertragödie und in Diskursen der Weimarer Zeit«, in Historical Social Research / Historische Sozialforschung 2009 34/4, S. 259–272. Swing, Georgia H.: »Choosing Life. Adolescent Suicide in Literature«, in The English Journal 1990 79/5, S. 78.

IV. Von Spiegelungen und Doppelgängerfiguren und ihrer Bedeutung für die Individuation. Psychoanalytische, tiefenpsychologische und entwicklungspsychologische Analysen

Meggan Noack

Der Spiegel und die Psyche. Spiegelmetaphorik und jugendliche Reifungsprozesse psychologisch erläutert am Beispiel von Hans Christian Andersens Schneekönigin

Einleitung Das Kunstmärchen Die Schneekönigin1 ist eines der bekanntesten Werke des dänischen Dichters Hans Christian Andersen. Davon zeugen zahlreiche Illustrationen und Adaptionen des Märchens. Die Schneekönigin fasziniert jedoch nicht nur Liebhaber*innen der Märchenwelten, sondern auch die Literaturwissenschaften. Doch weshalb ist gerade die Forschung an diesem Text interessiert? Grund dafür ist nicht allein die herausragende Bedeutung des Spiegels als Leitmotiv, sondern die metaphorisch zum Ausdruck gebrachten Reifungsprozesse der Hauptfiguren. Das symbolreiche Werk lädt unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen ein, die zahlreichen Implikationen zu entschlüsseln. Aus diesem Grund bietet sich das Werk für neue Verfahren in der Märchenanalyse an. Das Spiegelmotiv steht im Zentrum dieser Untersuchung; es entwickelte sich zu einem zentralen Motiv in der Literatur und im Laufe der Jahrhunderte zum Symbol von Subjektivität.2 Mit der Thematisierung des eigenen Ichs gewinnt das Spiegelsymbol eine signifikante Bedeutung. Im Mittelpunkt stehen hierbei Selbstbegegnung und Selbsterkenntnis.3 Diese Thematik spielt gerade in der Kinder- und Jugendbuchforschung eine wichtige Rolle, wobei sich hier Interessen der Literaturwissenschaft und der Psychologie überschneiden. In diesem Beitrag wird das Kunstmärchen Die Schneekönigin auf die hier verwendete Spiegelmetaphorik untersucht. Die Forschungsfrage, inwiefern das Spiegelmotiv in Hans Christian Andersens Schneekönigin für eine bestimmte Metaphorik steht und welche jugendlichen Reifungsprozesse metaphorisch thematisiert werden, wird in mehreren Abschnitten erörtert. Darüber hinaus werden psy1 Hans Christian Andersen: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012. 2 Ausführlich nachgezeichnet wird die Entwicklung des Motivs im Beitrag von Vaiana Dyballa in diesem Band. 3 Vgl.: Thomas Krumm: »Der Spiegel der Unterscheidung. Spiegelmetapher und konstruktivistische Erkenntnistheorie«, Paul Michel (Hrsg.): Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels, Zürich: Pano 2003, S. 141–157, (S. 144f.).

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chosoziale Phänomene untersucht, die diesen Prozess begleiten. Die mit der Analyse verbundene Absicht besteht darin, die Symbole und Implikationen zu entschlüsseln und einen Zusammenhang von Spiegelmetaphorik und Psychologie zu belegen. Letztlich soll bewiesen werden, dass psychoanalytische und tiefenpsychologische Analyseverfahren in der Kinder- und Jugendliteratur zu einer Berechtigung beitragen.

Zur narrativen Struktur Es handelt sich bei dem aus sieben Geschichten bestehenden Kunstmärchen Die Schneekönigin um eine extradiegetisch-heterodiegetische Erzählung, da ein Erzähler erster Stufe eine Geschichte erzählt, in der er selbst nicht vorkommt. Die erzählte Zeit umfasst mehrere Jahreszeitenwechsel, wobei die ersten Monate bis zum Verschwinden des männlichen Protagonisten Kay stark gerafft werden und der Fokus auf dem Abschnitt unmittelbar nach seinem Verschwinden und Gerdas Suche nach ihm liegt. Es wird vorrangig singulativ und chronologisch erzählt, da die Suchabschnitte in jeweils einer eigenen Geschichte zusammengefasst wurden. Die Kommentare und teils distanzierten Schilderungen des Erzählers bestätigen die Verwendung eines narrativen Modus. Eine variable Fokalisierung lässt sich daran erkennen, dass das Geschehen vor allem zu Beginn des Kunstmärchens bevorzugt nullfokalisiert widergegeben wird; es gibt jedoch auch Passagen, in denen die Emotionen der Hauptfiguren im Vordergrund stehen. Dennoch wird in dem Werk die Differenz zwischen »dem momentanen Hier des Vortrags und dem fernen Dort des vorgetragenen Wundergeschehens«4 durch den Erzähler vermittelt. Das Kunstmärchen ruft zeitweise den Eindruck von spontan gegenwärtigem und vergegenwärtigendem Erzählen hervor. Andersen versucht in seinen Kunstmärchen einen lebhaften Kontakt zwischen der Leserschaft und den erzählten Begebenheiten zu ermöglichen.5 Diese Besonderheit äußert sich direkt zu Beginn: »Seht, nun fangen wir an. Wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr als jetzt.«6 Dieser Erzählstart des Kunstmärchens ist: völlig konträr zum Volksmärchen. Dessen gängige Formel »Es war einmal« entrückt den Hörern das kommende Geschehen in ferne Zeiten und Räume. […] Nicht so beim

4 Volker Klotz: »Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne«, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl., München: Fink 2002, S. 246. 5 Vgl.: ebd., S. 248. 6 Hans Christian Andersen: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012, S. 5.

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Schreiber Andersen […] Denn er pocht darauf, daß jedes seiner Märchen ein ganz besonderes sei; und daß es quasi nur einmal, nämlich diesmal sich ereignet.7

Dieses Vorgehen ermöglicht laut Volker Klotz, dass die unsichtbare Erzählstimme entschiedener auf die lesende Person einspricht »als mache sie mit ihm hier und jetzt gemeinsame Sache.«8 Neben der besonderen Art des Erzählens, sind es aber vor allem die metaphorischen Implikationen, die das Kunstmärchen kennzeichnen. Aus diesem Grund wird nun ein Blick auf die Tradition des Spiegelmotivs geworfen, da dieses in Andersens Die Schneekönigin als Leitmotiv fungiert.

Spiegelmotive im Überblick Das eigene Antlitz, das sich auf einer klaren Wasseroberfläche abzeichnet, und damit die Begegnung mit dem Spiegelbild ermöglicht, ist eine tief verwurzelte Naturerfahrung, deren Anfänge nicht genau zu datieren sind.9

Diese Aussage tätigt Sven Herget, welcher in seinem Forschungstext die Faszination an Spiegelmotiven beschreibt und den Zusammenhang zum Motiv des Doppelgängers erläutert. Das Spiegelmotiv hat sich im Laufe der Zeit gewandelt, weshalb es sinnvoll erscheint, einen Blick auf dessen Entwicklung zu werfen. Da diese komplex und umfangreich ist, wird der Gegenstandsbereich für die Beantwortung des ersten Teils der Forschungsfrage, auf einzelne, wichtige Entwicklungsstadien begrenzt. Einen guten Überblick zur Charakteristik des Spiegelmotivs ermöglicht der Forschungstext von Erik Peez, mit dem im Folgenden gearbeitet wird. In christlicher Perspektive wird das Spiegelbild als ein Bild aufgefasst, welches die Präsenz Gottes im eigenen Abbild vergegenwärtigt und als Aufforderung zu Demut gegenüber der Macht Gottes zu verstehen ist. Das Spiegelbild sei in diesem Sinne abhängig vom sich spiegelnden Urbild und markiert dadurch den Wesensunterschied zwischen Mensch und Gott. Im christlichen Mittelalter dominiert zudem das Motiv der Seele als Spiegel Gottes.10 Wenn sich die Seele des Menschen den äußeren Spiegeln zuwendet, wird der innerliche Spiegel Gottes schwächer. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass sich der betrachtende, religiöse Mensch seiner Unvollkommenheit und gleichzeitig der Gegenwart Gottes 7 Volker Klotz: »Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne«, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl., München: Fink 2002, S. 247. 8 Ebd., S. 247. 9 Sven Herget: »Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film«, Marburg: Schüren 2009, S. 72. 10 Vgl.: Erik Peez: »Die Macht der Spiegel. Das Spiegelmotiv in Literatur und Ästhetik des Zeitalters von Klassik bis Romantik«, Frankfurt am Main: Lang 1990, S. 24.

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im inneren Spiegel bewusst werden muss. Der Spiegel stellt somit den göttlichen Geist dar, »indem der Mensch in ihm seine Unvollkommenheit zugleich mit seiner göttlichen Abkunft erkennt.«11 Die christliche Perspektive verbindet das Spiegelmotiv mit der Selbstoptimierung. Der Unterschied zwischen einem Spiegel, der der bloßen Abbildung dient und einem, der zur Korrektur des Selbst genutzt wird, ist für die Geschichte des Motivs des Gottesspiegels entscheidend. Die Betrachtung im Spiegel kann als Korrektiv verstanden werden. Durch das Streben nach Vervollkommnung kann die menschliche Seele gottähnlich, aber nicht gottgleich werden.12 Im philosophischen Diskurs hingegen, liegt das Auge im Fokus der Betrachtung: Das Auge wird zum Spiegel, weil es – im Gegensatz zur Seele – wie der Spiegel die Bilder nicht festhalten kann. […] Das Auge wird zum Spiegel, in dem und durch den die Seele die Welt erblickt. Die Seele wird zum Spiegel, in dem nicht nur das Momentane, sondern auch das Ewige und Göttliche sich einbildet.13

Das Auge steht in der Antike als Wahrnehmungsinstrument an höchster Stelle und soll die absolute Wahrheit offenbaren. Während im christlichen Kontext die Funktion der Spiegelschau auf der Bildung der Seele liegt, erhält sie im Bereich der Philosophie die Funktion der Entfaltung des Geistes. Sokrates’ Schüler »sollten sich immer wieder im Spiegel betrachten, um, wenn sie schön wären, sich dessen würdig zu machen, wenn aber häßlich, diesen Mangel durch gute Bildung auszugleichen und zu verdecken.«14 Die Spiegelschau wird in der Philosophie und im christlichen Mittelalter mit der Handlungsaufforderung verbunden, Geist und Seele zu optimieren. »Während die in der Antike und im Mittelalter gebräuchlichen Metallspiegel durch die Eintrübung des Metalls gefährdet waren, sind die Glasspiegel der Gefahr des Zerbrechens ausgesetzt.«15 Das Motiv des trüben Spiegels repräsentiert den Mangel an moralischer Integrität, während der zerbrechende Spiegel meist den Tod ankündigt.16 Zu diesem Spiegelmotiv haben sich im Laufe der Zeit zwei Varianten gebildet. Die erste thematisiert den zerbrochenen Spiegel und die zweite geht vom Erhalt des Bildes in den einzelnen Spiegelsplittern aus. Die Vorstellung, dass der zerbrochene Spiegel den Tod ankündigt, geht auf die Annahme zurück, dass das Spiegelbild die Seele repräsentiert. Im Zeitalter von Klassik und Romantik hängt das Motiv des zerbrochenen oder zerschlagenen 11 12 13 14 15 16

Ebd., S. 15. Vgl.: ebd., S. 21. Ebd., S. 17. Ebd., S. 19. Ebd., S. 56. Vgl.: ebd., S. 56.

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Spiegels mit der Zerstörung des Doppelgängers zusammen. Es wird versucht, dem/der Doppelgänger/in zu entfliehen, welche/r die Seele quält.17 Der Versuch, das Abgespaltene zu vernichten, führt zu einer Vervielfältigung, so dass auch in den Splittern das Bild erhalten bleibt.18 Ab dem 18. Jahrhundert wird das Spiegelmotiv zur Metapher für die menschliche Individuation. Die Spiegelschau dient nun verstärkt der Selbsterkenntnis, und nicht mehr der Vergegenwärtigung des Verhältnisses des Individuums zu Gott, oder der Optimierung des Geistes.19 Die Thematik der Selbstbegegnung spielt gerade in der Kinder- und Jugendbuchforschung eine wichtige Rolle und berührt gleichermaßen die Psychologie. »Eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben des Kleinkindes ist es, ein Ich zu werden. […] Wir kommen jedenfalls nicht als Ich zur Welt, müssen es aber dennoch werden.«20 Sobald ein Kind im geistigen Reifungsprozess die Fähigkeit der visuellen Selbsterkenntnis erlangt, also sich in einem Spiegel erkennt, ist es auch fähig zur Empathie, »d. h. es kann sich in die emotionale Verfassung einer anderen Person hineinversetzen […] Erst diese Fähigkeit macht den Menschen zu einem sozialen Wesen.«21 Der Spiegel ermöglicht die Konfrontation mit dem eigenen Abbild und hilft dabei, die eigene Identität herzustellen. Auf diesen psychologischen Aspekt wird im späteren Verlauf der Arbeit näher eingegangen. Im Laufe der Zeit haben sich weitere Perspektivierungen des Spiegelmotivs entwickelt; schon in der christlichen oder philosophischen Perspektive wird der Facettenreichtum des Spiegelmotivs deutlich. Andersens Schneekönigin besteht aus sieben Geschichten. Die folgende Analyse der ersten Geschichte basiert auf den vorgestellten Varianten des Spiegelmotivs.

Vom Spiegel und den Scherben – Zwischen Religion und sozialer Wahrnehmung In der Vorgeschichte zu Die Schneeköniging, die mit: Vom Spiegel und den Scherben betitelt ist, erschafft der Teufel einen Spiegel, der alles Schöne in der

17 Vgl.: ebd., S. 57. 18 Vgl.: ebd., S. 58. 19 Vgl.: Thomas Krumm: »Der Spiegel der Unterscheidung. Spiegelmetapher und konstruktivistische Erkenntnistheorie«, Paul Michel (Hrsg.): Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels, Zürich: Pano 2003, S. 141–157, (S. 142). 20 Wolfgang Marx: »Spiegelbild und Ich-Konzept oder Der Blick des Anderen«, Paul Michel (Hrsg.): Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels, Zürich: Pano 2003, S. 109–120, (S. 109). 21 Ebd., S. 110.

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Welt verschwinden und alles Böse und Hässliche hervortreten lässt.22 Die Kobolde des Teufels »liefen mit dem Spiegel umher und zuletzt gab es kein Land oder keinen Menschen mehr, welcher nicht verdreht darin erschienen wäre.«23 In diesem Kapitel steht die christliche Spiegelmetaphorik im Zentrum. Der Teufel, als Widersacher Gottes, tritt in Erscheinung. Er erschafft einen Spiegel, der die Wahrnehmung der Menschen täuscht und ihre Gedanken manipuliert. Mit dem Versuch, den Spiegel in das Reich Gottes zu transportieren, wird der Höhepunkt der ersten Geschichte erreicht. Dieses Vorhaben dient dem Zweck: […] sich über die Engel und den lieben Gott lustig zu machen. Je höher sie mit dem Spiegel flogen, umso hämischer grinste dieser. […] Sie flogen höher und höher, Gott und den Engeln näher. Da erzitterte der Spiegel so fürchterlich in seinem Grinsen, dass er ihren Händen entglitt und zur Erde stürzte, wo er in hundert Millionen und noch mehr Stücke zersprang.24

Der herabstürzende Spiegel erinnert an den Sturz des einst göttlichen Teufels aus dem Himmel und verdeutlicht, dass er nicht die Macht besitzt, wieder in das Reich Gottes zu gelangen.25 Das vorläufige Scheitern des teuflischen Plans erfüllt die Funktion der Vergegenwärtigung der Präsenz Gottes. Der Spiegel selbst gibt wider, was sich vor ihm befindet, aber in einer verfälschten Weise, weshalb er als Symbol für Lug und Trug verstanden werden kann. Die Seele der Menschen wendet sich aufgrund der Täuschung den äußeren Spiegeln zu und der innere Gottesspiegel wird geschwächt.26 Durch die Zersplitterung wird eine fatale Ereigniskette in Gang gesetzt, die auf das vorgestellte Motiv des zerbrechenden Spiegels bezogen werden kann. Obwohl der Spiegel in seiner Vollständigkeit nicht mehr existiert, bringt er nun größeres Unglück als zuvor. »Denn jede kleine Spiegelscherbe hatte dieselben Kräfte behalten, die der ganze Spiegel besaß.«27 Die Wirkung des Spiegels bleibt trotz des Bruchs disponibel: Die Splitter des geborstenen Spiegels erzeugen eine unüberschaubare Perspektivenvielfalt […] Die Spiegelungen der Splitter in den Splittern machen es unmöglich zu unterscheiden, was Original und was Kopie, was Realität und was Fiktion ist.28 Vgl.: Hans-Christian Andersen: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012, S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 6. Vgl.: Christiane Lemke: »Phantasmen des Infantilen aus Skandinavien. Unheimliche Spiegelungen, Masken und Metamorphosen in Märchen und Schauerphantastik«, Stuttgart: ibidem 2011, S. 26. 26 Vgl.: Erik Peez: »Die Macht der Spiegel. Das Spiegelmotiv in Literatur und Ästhetik des Zeitalters von Klassik bis Romantik«, Frankfurt am Main: Lang 1990, S. 14f. 27 Hans-Christian Andersen: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012, S. 6. 28 Thomas Krumm: »Der Spiegel der Unterscheidung. Spiegelmetapher und konstruktivistische Erkenntnistheorie«, Paul Michel (Hrsg.): Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels, Zürich: Pano 2003, S. 141–157, (S. 145).

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Das Böse wurde nicht zerstört, stattdessen wird dessen Wirkung vervielfältigt. Die Splitter geraten den Menschen in die Augen und verfälschen deren soziale Wahrnehmung. Gelangt eine Scherbe in das Herz, verwandelt sich dieses in einen Klumpen Eis.29 Es gelingt dem Teufel mithilfe seines Zauberspiegels, ein negatives Weltbild zu verbreiten. »Weltbilder sind das kumulierte Ergebnis, der Erfahrungen eines Menschen mit der Welt, seine Glaubenssätze im Hinblick auf alles, was existiert und nicht existiert, was gut und schlecht ist.«30 Das Weltbild der Menschen wird durch die Splitter des Spiegels verzerrt, sie laufen durch eine Welt, in der alles negativ zu sein scheint.31 Die Geschichte Vom Spiegel und den Scherben behandelt die christliche Spiegelmetaphorik, in deren Vorstellung der Spiegel den göttlichen Geist darstellt und die Seele in ihm ihre Mängel erkennt. Hier sorgt das Bild allerdings nicht für ein Korrektiv der menschlichen Perspektive, sondern für eine Regression. Gemäß Christiane Lemke suggeriere der Spiegel, dass der Teufel und seine Kobolde als Spiegelbilder oder Doppelgängerfiguren der besten Menschen wahrgenommen werden könnten.32 In diesem Szenario lassen sich erste psychosoziale Phänomene erkennen. Der Angriff auf den göttlichen Vater und der Spiegel als Zerstückelungsphantasma führen zu einer Umkehrung des Spiegelstadiums.33 In Lemkes interdisziplinärer Studie zur Schauerfantastik-Forschung personifiziert der Teufel den Sohn, der sich dem allmächtigen Vater widersetzen will. Dies würde die Zwiespältigkeit zwischen der Überzeugung der kindlich, angeborenen Unschuld und der Erkenntnis der sadistischen Tendenzen, die in der Natur des Menschen liegen, widerspiegeln.34 Die Frage, die sich aus Lemkes Ausführungen ergibt, lautet, wie sich die durch den Spiegel ausgelöste, verzerrte Wahrnehmung auf das Verhalten und die Entwicklung der Hauptfiguren auswirkt. Während zunächst die Komplexität des Spiegelmotivs aufgezeigt wurde, wird im Folgenden die Funktion des Märchens als Wertevermittler im Reifungsprozess und die Faszination an einer psychologischen Deutung der Märchen untersucht, um im späteren Verlauf den Zusammenhang von Spiegelmetaphorik und Psychologie aufdecken zu können. 29 Vgl.: Hans-Christian Andersen: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012, S. 6. 30 Sophie Drozdzewski / Katharina Sagstetter : »Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen (1844)«, Dieter Frey (Hrsg.): Psychologie der Märchen: 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können, Berlin: Springer 2017, S. 243–250, (S. 248). 31 Vgl.: ebd., S. 249. 32 Vgl.: Christiane Lemke: »Phantasmen des Infantilen aus Skandinavien. Unheimliche Spiegelungen, Masken und Metamorphosen in Märchen und Schauerphantastik«, Stuttgart: ibidem 2011, S. 24. 33 Vgl.: ebd., S. 23. 34 Vgl.: ebd., S. 28.

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Faszination an psychologischer Märchendeutung: Das Märchen als Wertevermittler im jugendlichen Reifungsprozess? Die Aussage: »Das eigentliche Leben des Märchens vollzieht sich heute in der Kinderstube«35, stammt von Max Lüthi, dem renommierten Märchenforscher, der die Verbindung von Psychologie und Pädagogik im Märchen aufzeigt und mit diesem Satz die Brücke zur Kinder- und Jugendliteratur schlägt. Märchen verbinden erwachsene Realität und kindliche Fantasie miteinander. Es handelt sich meist um Gefühle oder Situationen, die vielen Menschen vertraut sind.36 Märchen bestechen vor allem durch ihre Klarheit und ihre schlichte, strukturierte Erzählweise. Einfache Gegensätze wie Gut und Böse, Arm und Reich, Schön und Hässlich prägen die Geschichten. Das ist sowohl für Kinder wie auch Erwachsene deshalb faszinierend, weil es besonders einfach und damit nachvollziehbar ist.37

Diese Aussage bezieht sich allerdings auf das Volksmärchen. Kunstmärchen sind gemäß Klotz individuelle Variationen, der unbestimmten, anonymen Volksmärchen, durch bekannte Autoren.38 Der Zusatz: »Kunst« kann darauf bezogen werden, dass dem Kunstmärchen die Qualität des Echten fehle, während anderseits das Volksmärchen nicht als Kunst aufgefasst werden könne, da es ihm an Poesie mangele.39 Der einfachen Sprache des Volksmärchens steht demnach die konstruierte Sprache des Kunstmärchens gegenüber. In Bezug auf die Welt- und Menschenbilder des Volksmärchens formuliert Lüthi: »Figuren und Handlungen sind ohne Tiefenstaffelung, statt des Ineinander und Miteinander herrscht das Nebeneinander oder Nacheinander.«40 Dies bedeutet, dass die Figuren des Volksmärchens keine psychologische Tiefe aufweisen, da sie keine Zukunft entwerfen und in völliger Gegenwart leben.41 Diese eindimensionalen Charaktere würden zudem eine Psychologisierung der Figuren erschweren. Anders verhält es sich mit dem Kunstmärchen, das auf vielfache Weise ausgelegt werden kann.42 Trotz stilistischer Unterschiede baut das Kunstmärchen auf dem Volksmärchen 35 Max Lüthi: »Märchen«, 10. aktualisierte Aufl., Stuttgart: Metzler 2004, S. 105. 36 Vgl.: Verena Kast: »Märchen als Therapie«, Düsseldorf: Patmos 2002, S. 8f. 37 Dieter Frey / Paula Münster : »Einführung: Worin liegt die Faszination der Märchen und Psychologie?«, Dieter Frey (Hrsg.): Psychologie der Märchen: 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können, Berlin: Springer 2017, S. 5–11, (S. 6). 38 Vgl.: Volker Klotz: »Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne«, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl., München: Fink 2002, S. 4. 39 Vgl.: ebd., S. 7f. 40 Max Lüthi: »Märchen«, 10. aktualisierte Aufl., Stuttgart: Metzler 2004, S. 30. 41 Vgl.: Volker Klotz: »Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne«, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl., München: Fink 2002, S. 12. 42 Vgl.: ebd., S. 24.

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auf und ist mit ihm verwandt. Aus diesem Grund wird im Folgenden nur mit dem allgemeinen Begriff des Märchens gearbeitet; zudem bezieht sich die Analyse auf gemeinsame Elemente der Werte- und Persönlichkeitsentwicklung. Märchen helfen dabei, jungen Menschen ein Moralverständnis zu vermitteln. Der Held oder die Heldin handelt werteorientiert und übernimmt meist eine Vorbildfunktion. Durch Märchen können Kinder und Jugendliche lernen, dass sich Herzlichkeit und Gutmütigkeit lohnen und es nicht auf Äußerlichkeiten ankommt.43 Märchen stellen zudem eine Verbindung zwischen Welt- und Wunscherfahrung her. Sie geben den Wünschen oder den Ängsten eine Bedeutung und sie fördern die emotionale Intelligenz.44 Gemäß Brigitte Boothe hilft das Märchen dem Kind, Zuversicht zu gewinnen, Selbstvertrauen herzustellen, um die Welt zu entdecken, aber auch, dass es gelegentlich in Ordnung ist, allein zu sein.45 Märchen können als Mittel der Wertevermittlung und Persönlichkeitsentwicklung gesehen werden, was auf einen didaktischen Impetus dieser Textsorte verweist. Wertevermittlung heißt, Orientierungsmaßstäbe zu geben, die dem Menschen zu Verhaltens- und Urteilssicherheit verhelfen. Wir richten unser Verhalten an Werten oder moralischen Prinzipien aus, müssen uns an Werten und Normen orientieren und die Perspektive anderer Menschen mit in unsere Entscheidungen einbeziehen.46

Diese Wertevermittlung ist gerade für die Individuation entscheidend. Oft geht es in Märchen um Lebensabschnitte oder Übergangsphasen in der menschlichen Entwicklung, beispielsweise vom Kind- zum Erwachsensein.47 Nach Lüthi seien im Märchen Entwicklungsvorgänge und Reifungsprozesse vorgebildet, die der jugendlichen Leserschaft dabei helfen würden, eigene Entwicklungsschwierigkeiten zu bewältigen.48 Märchen stellen dar, wie sich die Figuren aus einer Verbindung lösen und sich während dieses Prozesses mit Entwicklungs- und Ablösungsängsten sowie Übergangsschwierigkeiten auseinandersetzen.49

43 Vgl.: Dieter Frey / Paula Münster : »Einführung: Worin liegt die Faszination der Märchen und Psychologie?«, Dieter Frey (Hrsg.): Psychologie der Märchen: 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können, Berlin: Springer 2017, S. 5–11, (S. 7). 44 Vgl.: Brigitte Boothe: »Glück des Lesens: Das Märchen als intelligentes Wunschvergnügen«, Ortwin Beisbart / Bärbel Kerkhoff-Hader (Hrsg.): Märchen: Geschichte – Psychologie – Medien, Baltmannsweiler : Schneider 2008, S. 90–106, (S. 92). 45 Vgl.: ebd., S. 93. 46 Dieter Frey / Paula Münster : »Einführung: Worin liegt die Faszination der Märchen und Psychologie?«, Dieter Frey (Hrsg.): Psychologie der Märchen: 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können, Berlin: Springer 2017, S. 5–11, (S. 8). 47 Vgl.: ebd., S. 6. 48 Vgl.: Max Lüthi: »Märchen«, 10. aktualisierte Aufl., Stuttgart: Metzler 2004, S. 106. 49 Vgl.: ebd., S. 106.

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Als sprachliche Mittel finden häufig Symbole Anwendung, die in wichtige Prozesse eingegliedert sind.50 »Im Symbol verdichten sich Erfahrungen, psychische Inhalte, vor allem Emotionen, die nicht anders darzustellen sind.«51 In der Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang von Moralentwicklung; Kinder lernen meist von moralischen Vorbildern und diese können von Märchenfiguren symbolisiert werden. Die Kompetenz, Mitzudenken, Mitzufühlen und Mitzuhandeln wird in solchen Geschichten gefordert und vermittelt. Wie Lüthi erläutert, habe die wissenschaftliche Disziplin der Psychologie das Ziel, menschliches Erleben und Verhalten zu erklären und Veränderungspotenziale aufzuzeigen. Psycholog*innen betrachteten das Märchen primär als Erziehungshilfe bei der Bewältigung pubertärer Schwierigkeiten.52 Gleichzeitig erwähnt Lüthi, dass volkskundliche Märchenforschende die psychoanalytischen Deutungsversuche wegen deren Einseitigkeit und gewagten Äußerungen ablehnen würden.53 Kritische Äußerungen zur Psychoanalyse haben ihre Berechtigung und dürfen nicht außer Acht gelassen werden, da gerade im Volksmärchen eine psychologische Deutung der Figuren, aufgrund ihrer Oberflächlichkeit, erschwert ist. Dennoch soll in dieser Ausarbeitung bewiesen werden, dass die Psychoanalyse einen wichtigen Beitrag zur Interpretation von Märchen leisten kann. Durch die Erweiterung einer psychoanalytischen Perspektive um tiefenpsychologische Analyseinstrumente können Märchen zudem auf jugendliche Reifungsprozesse bezogen werden. Anhand der zweiten und der siebten Geschichte von Die Schneekönigin wird im Folgenden untersucht, inwiefern jugendliche Reifungsprozesse und psychosoziale Phänomene im Jugendalter hier metaphorisch ausgestaltet werden.

Die zweite Geschichte – Kindheitsidyll vs. Aufbruch Der von Andersen gewählte Einstieg in die zweite Geschichte wirkt durch die Vorstellung der Nachbarkinder Gerda und Kay sehr harmonisch. Die zwei Kinder spielen »als kindliche, engelsgleiche Ausgabe von Adam und Eva in ihrem Dachgarten, umrankt von ihren beiden, blühenden Rosenstöcken.«54 Der Aufenthalt der Kinder in ihrem heimischen Umfeld umrahmt das unschuldige

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Vgl.: Verena Kast: »Märchen als Therapie«, Düsseldorf: Patmos 2002, S. 9. Ebd., S. 10. Vgl.: Max Lüthi: »Märchen«, 10. aktualisierte Aufl., Stuttgart: Metzler 2004, S. 110. Vgl.: ebd., S. 107. Christiane Lemke: »Phantasmen des Infantilen aus Skandinavien. Unheimliche Spiegelungen, Masken und Metamorphosen in Märchen und Schauerphantastik«, Stuttgart: ibidem 2011, S. 30.

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Kinderidyll und der hier angestellte Vergleich erinnert stark an die im ersten Kapitel präsente christliche Symbolik. Während Gerda und Kay im Sommer in ihrem Dachgarten spielen, erzählt ihnen die Großmutter im Winter Geschichten von der Schneekönigin. An einem Winterabend schaut Kay durch das Fenster und vor seinen Augen verwirklicht sich die Geschichte der Großmutter, indem sich die größte Schneeflocke in eine Frau verwandelt.55 Diese »war so schön und fein wie von Eis […]. Doch war sie lebendig, die Augen blitzen wie zwei klare Sterne, aber es war keine Ruhe oder Rast in ihnen.«56 Das Bild des Jungen, der durch das vereiste Fenster eine Frau erblickt, suggeriert nach Lemke, dass es sich bei der Erscheinung der Schneekönigin um eine Fantasmagorie handele, welche als ein Trugbild, oder eine fantasmatische Spiegelung gedeutet werden könne.57 Ihre Erscheinung scheint zudem auf die bevorstehende Abspaltung des Jungen hinzuweisen. Kay repräsentiert demnach ein adoleszentes Kind, welches sich von seiner Familie ablösen wird, auf der Suche nach neuen Identifikationsobjekten. Kays Blick durch das Fenster impliziert also vorwegnehmend, dass er seine Umgebung bald genauso wahrnehmen wird wie die Menschen, die in den Spiegel des Teufels geblickt haben.58 Nach der Begegnung mit der Schneekönigin erfolgt ein Jahreszeitenwechsel. Der Winter ist vorüber und das heimische Idyll wird im Frühjahr beschrieben.59 Doch das kindliche Paradies wird gestört, als Kay von zwei umherfliegenden Spiegelscherben schmerzhaft getroffen wird. Nach dieser kurzen Sequenz haben die Scherben des Spiegels denselben Effekt wie der Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis, wodurch erneut der Zusammenhang mit der christlichen Religionsgeschichte hergestellt wird. Kay wird sich, ähnlich wie Adam und Eva, der Fehlerhaftigkeit der Welt und der Menschen bewusst.60 Die verzerrte Wahrnehmung trägt zu einer Verhaltensänderung bei, welche die folgende Aussage verdeutlicht: »Die Rose dort hat einen Wurmstich! Und sieh, diese ist ja ganz schief! Im Grunde sind es hässliche Rosen!«61 Die darauffolgende Zerstörung der Blumen kann im übertragenen Sinne als die Zerstörung der mütterlichen und

55 Vgl.: Hans-Christian Andersen: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012, S. 13. 56 Ebd., S. 13. 57 Vgl.: Christiane Lemke: »Phantasmen des Infantilen aus Skandinavien. Unheimliche Spiegelungen, Masken und Metamorphosen in Märchen und Schauerphantastik«, Stuttgart: ibidem 2011, S. 31. 58 Vgl.: ebd., S. 32. 59 Vgl.: Hans-Christian Andersen: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012, S. 13. 60 Vgl.: Christiane Lemke: »Phantasmen des Infantilen aus Skandinavien. Unheimliche Spiegelungen, Masken und Metamorphosen in Märchen und Schauerphantastik«, Stuttgart: ibidem 2011, S. 32. 61 Hans-Christian Andersen: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012, S. 14.

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heimischen Idylle gedeutet werden.62 Ab diesem Tag verändert er sein Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen. Lemke bezieht sich in ihren Ausführungen auf Anna Freud. Diese erklärt das Verhalten wie folgt: Der Jugendliche wird unter den Bedingungen des Pubertätsschubes triebhafter. […] Die Erklärung dafür ergibt sich aus dem Kampf zwischen Ich und Es, der sich in ihm abspielt. Aber er wird auch gescheiter, steigert alle seine intellektuellen Bedürfnisse.63

Diese Interessensverschiebung lässt sich auch an Kay beobachten und kann als Indiz für einen geistigen Reifungsprozess gelesen werden. Er interessiert sich nun für die Wissenschaft, da ihn die kindgerechten Erklärungen der Großmutter nicht mehr zufrieden stellen. Die Schneeflocken verkörpern keine magischen Wesen mehr, sondern werden von ihm unter dem Brennglas betrachtet, das wiederum auf den Glassplitter in seinem Auge bezogen werden könnte. Er ist auf der Suche nach dem Anorganischen und dem Künstlichen und vertritt hiermit die männlich konnotierte Gesinnung der Rationalität und Empirie dieser Zeit.64 So bricht Kay aus dem behüteten Kindheitsidyll aus; Seine Abschottungsversuche gegenüber Gerda und der Großmutter entsprechen indessen typischen Verhaltensmustern des jugendlichen Reifungsprozesses: Das Misstrauen des Ichs und seine asketische Haltung richtet sich vor allem gegen die Liebesbindung an alle Objekte der Kindheit. Dadurch vereinsamt der Jugendliche […], er bringt es zustande, von da an unter seiner Familie zu leben, als wären es Fremde.65

Kays Versuche, sich von seiner Familie zu distanzieren und in seinem Identifikationsprozess fortzuschreiten, kommt in der folgenden Szene zum Ausdruck: »Auf dem Platz banden die kecksten Knaben oft ihre Schlitten an die Wagen der Landleute fest und dann fuhren sie ein gutes Stück Wegs mit.«66 Kay folgt diesem Beispiel und bindet seinen Schlitten unbewusst an jenem der Schneekönigin fest. Sie entführt und küsst ihn. Ihr Kuss ist: […] kälter als Eis. Das ging ihm gerade bis ins Herz, welches ja zur Hälfte schon ein Eisklumpen war. Es war, als sollte er sterben, aber nur einen Augenblick. […] Die Schneekönigin küsste Kay nochmals und da hatte er die kleine Gerda, die Großmutter und alle daheim vergessen.67 62 Vgl.: Christiane Lemke: »Phantasmen des Infantilen aus Skandinavien. Unheimliche Spiegelungen, Masken und Metamorphosen in Märchen und Schauerphantastik«, Stuttgart: ibidem 2011, S. 33. 63 Anna Freud: »Das Ich und die Abwehrmechanismen«, München: Kindler 1975, S. 164. 64 Vgl.: Irmgard Nickel-Bacon: »Herzenswärme und eiskalte Herrlichkeit. Naturmetaphorik und Frauenbild in Andersens Schneekönigin«, verfügbar unter : https://www.germanistik. uni-wuppertal.de/fileadmin/germanistik/Teilf%C3%A4cher/Didaktik/Personal/Nickel-Ba con/Nr._3_Herzenswaerme.pdf [10. 08. 2019]. 65 Anna Freud: »Das Ich und die Abwehrmechanismen«, München: Kindler 1975, S. 173. 66 Hans-Christian Andersen: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012, S. 17. 67 Ebd., S. 18.

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Kays Zustand der Erstarrung lässt sich mit aus Volksmärchen bekannten Verletzungen vergleichen, aufgrund derer adoleszente Märchenfiguren wie Dornröschen oder Schneewittchen in einem lethargischen Zustand verharren. Lemke ist der Auffassung, dass solche traumatischen Erlebnisse den körperlichen Reifungsprozess und damit den Eintritt des/der Jugendlichen in den Kreislauf von Sexualität, Fortpflanzung und Tod markieren.68 Aus tiefenpsychologischer Sicht spricht Lemke in diesem Zusammenhang von einer Loslösung des Jungen aus seiner vertrauten Heimat und einem geistigen sowie körperlichen Reifungsprozess zum Erwachsenen. Metaphorisch werden die Reifungsprozesse durch das Erscheinen der Schneekönigin und durch die Spiegelsplitter dargestellt. Der Kuss des Vergessens steht für die Loslösung und den Aufbruch des Kindes, weg von seiner Heimat und der Familie. Aufgrund der Komplexität des Kunstmärchens, wird im Folgenden der Blick exemplarisch auf die finale Geschichte gerichtet. Auch hier liegt der Fokus weiterhin auf dem geistigen, emotionalen und körperlichen Reifungsprozess und psychosozialen Phänomenen, die im Jugendalter auftreten können.

Die siebte Geschichte – Selbstbestimmung vs. Fremdbestimmung Gerda hat in den vorherigen Geschichten (Kapiteln) nach ihrem verschwundenen Freund gesucht und sich trotz vieler Hindernisse nicht von diesem Vorhaben abbringen lassen. Dies ist als Beweis für ihre Solidarität zu deuten und verweist zudem auf ihre ausgeprägte Selbstbestimmtheit. Sophie Drozdzewski und Katharina Sagstetter nennen drei zentrale Bedingungen, aus denen sich Selbstbestimmtheit zusammensetzt: Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit. Unter Autonomie verstehen sie das Gefühl der Freiwilligkeit. Gerdas Motivation, sich auf die Suche nach ihrem Freund zu machen, ist durch Autonomie gekennzeichnet. Niemand erwartet von dem Mädchen, den entführten Freund zu suchen. Gerdas Kompetenz zeigt sich im sozialen Kontakt zu anderen Figuren. Gleichzeitig wird sie von verschiedenen Personen unterstützt und erfährt dadurch soziale Eingebundenheit.69 So gelingt es Gerda insbesondere aufgrund ihrer Selbstbestimmtheit, das Schloss der Schneekönigin zu erreichen, welches Lemke folgendermaßen beschreibt: 68 Vgl.: Christiane Lemke: »Phantasmen des Infantilen aus Skandinavien. Unheimliche Spiegelungen, Masken und Metamorphosen in Märchen und Schauerphantastik«, Stuttgart: ibidem 2011, S. 38. 69 Vgl.: Sophie Drozdzewski / Katharina Sagstetter : »Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen (1844)«, Dieter Frey (Hrsg.): Psychologie der Märchen: 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können, Berlin: Springer 2017, S. 243–250, (S. 247f.).

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Der beim Nordpol gelegene und vom Nordlicht erhellte Eispalast mit seinen endlosen Sälen, […] wirkt wie das Tor ins Universum, doch auch dort ist die Ewigkeit nicht zu finden. Denn auch der unendliche Weltraum ist eine dunkle Höhle voller zersplitterter Trugbilder.70

Die zersplitterten Trugbilder stellen eine Verbindung zum Teufelsspiegel her, da die Schneekönigin mitten in einem zerbrochenen Spiegelsee sitzt. Sie selbst sagt, »dass sie im Spiegel des Verstandes säße und dass dieser der einzige und der beste in der Welt sei.«71 Das Märchen übt hier Rationalitätskritik, denn es rekurriert auf die Ausweglosigkeit eines vernunftbasierten Weltbildes, das die Schneekönigin verkörpert.72 Kays Erstarrung in einem anorganischen, kalten Raum und seine Fixierung auf die Eisstücke, lassen sich aus psychoanalytischer Perspektive mit den krisenhaften Zuständen von Jugendlichen im emotionalen Reifungsprozess vergleichen.73 Er scheint antriebslos und ohne Hoffnung zu sein. Der entführte und gefangenommene Junge ist fremdbestimmt und wirkt dadurch depressiv, was metaphorisch durch den Eisklumpen in seinem Herzen zum Ausdruck gebracht wird. Zu den Kennzeichen einer Depression gehören vermindertes Interesse an Aktivitäten, das Gefühl von Wertlosigkeit bis hin zu Suizidgedanken; Depressionen verursachen seelischen Schmerz und beeinträchtigen das soziale Leben.74 Das Gefühl von Wertlosigkeit und fehlender Integrität lässt sich an Kays Versuch, aus zerstückelten Eisscherben das Wort »Ewigkeit« zu legen, um so seine Freiheit wieder zu erlangen, ablesen. Sein fremdbestimmtes Handeln entspricht dem Streben nach der Wiederherstellung der im Reifeprozess verlorenen Einheit seines Selbst. Als Gerda das Schloss der Schneekönigin betritt, ist Kay im Zustand einer Depression nahezu steifgefroren.75 Es ist ihm nicht möglich, diese Depression alleine zu überwinden. »Da weinte die kleine Gerda heiße Tränen, die fielen auf 70 Christiane Lemke: »Phantasmen des Infantilen aus Skandinavien. Unheimliche Spiegelungen, Masken und Metamorphosen in Märchen und Schauerphantastik«, Stuttgart: ibidem 2011, S. 63. 71 Hans-Christian Andersen: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012, S. 58. 72 Vgl.: Irmgard Nickel-Bacon: »Herzenswärme und eiskalte Herrlichkeit. Naturmetaphorik und Frauenbild in Andersens Schneekönigin«, verfügbar unter : https://www.germanistik. uni-wuppertal.de/fileadmin/germanistik/Teilf%C3%A4cher/Didaktik/Personal/Nickel-Ba con/Nr._3_Herzenswaerme.pdf [10. 08. 2019]. 73 Vgl.: Christiane Lemke: »Phantasmen des Infantilen aus Skandinavien. Unheimliche Spiegelungen, Masken und Metamorphosen in Märchen und Schauerphantastik«, Stuttgart: ibidem 2011, S. 63. 74 Vgl.: Sophie Drozdzewski / Katharina Sagstetter : »Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen (1844)«, Dieter Frey (Hrsg.): Psychologie der Märchen: 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können, Berlin: Springer 2017, S. 243–250, (S. 248). 75 Vgl.: Hans-Christian Andersen: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012, S. 58.

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seine Brust. Sie drangen in sein Herz, tauten den Eisklumpen auf und verzehrten das kleine Spiegelstück darin.«76 Erst durch Gerdas Hilfe kann er der Depression entkommen und seinen emotionalen Reifeprozess abschließen. Den letzten Schritt vollzieht er jedoch selbst: »Da brach auch Kay in Tränen aus. Er weinte so, dass das Spiegelsplitterchen aus dem Auge schwamm, und nun erkannte er Gerda […].«77 Kays Versuch, sich von der Kindheit abzulösen, führt wieder an den Anfang des Märchens zurück. Gerda verkörpert das Idealbild eines unschuldigen Kindes, welches Kay mit seinen Tränen rettet. Zusammen mit den Spiegelscherben wird das Teuflische aus Kay herausgespült. Gerdas Tränen führen den Jungen in das Kindheitsidyll zurück, aus dem er entflohen ist. Hier kann nun kritisch hinterfragt werden, ob der Reifungsprozess nivelliert wird. Dies scheint nicht der Fall zu sein, da sie als Erwachsene heimkehren, die im Herzen Kinder geblieben sind.78 Mit diesem Ende betont Andersen eine naturverbundene Haltung, die in allen Erscheinungen das Göttliche offenbart. Diese Haltung bildet den Kontrast zur kühlen Rationalität der Schneekönigin und vereint Individualität mit dem christlichen Glauben. Eine Verbindung, die insbesondere in dem freudigen Lied: »Wenn die Rosen verblüh’n und verweh’n. Werden wir bald das Christkindlein seh’n!«79 deutlich wird. Das Lied bildet den Anfang- und den Endpunkt der Individuation der beiden Figuren. Gerda bringt Kay zum Ausgangspunkt ihrer Freundschaft zurück, in eine christlich konnotierte Kindheitsidylle.80 Wenn man die beiden Figuren als Repräsentanten einer Persönlichkeit auffasst, lässt sich festhalten, dass Kay den Teil des kindlichen Selbst repräsentiert, der erwachsen werden will und nach neuen Identifikationsobjekten strebt. Gerda repräsentiert hingegen den Teil des Selbst, der kindlich und unschuldig bleiben will und sich durch Selbstbestimmtheit auszeichnet.81 Depressionen, Selbstbestimmung, fehlende Integrität und das Gefühl von Unvollkommenheit sind weitere psychosoziale Phänomene, die während des jugendlichen Reifungsprozesses auftreten können und hier ausgestaltet werden.

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Ebd., S. 60. Ebd., S. 61. Vgl.: ebd., S. 64. Ebd., S. 64. Vgl.: Irmgard Nickel-Bacon: »Herzenswärme und eiskalte Herrlichkeit. Naturmetaphorik und Frauenbild in Andersens Schneekönigin«, verfügbar unter : https://www.germanistik. uni-wuppertal.de/fileadmin/germanistik/Teilf%C3%A4cher/Didaktik/Personal/Nickel-Ba con/Nr._3_Herzenswaerme.pdf [10. 08. 2019]. 81 Vgl.: Christiane Lemke: »Phantasmen des Infantilen aus Skandinavien. Unheimliche Spiegelungen, Masken und Metamorphosen in Märchen und Schauerphantastik«, Stuttgart: ibidem 2011, S. 51.

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Zusammenhang: Der Spiegel und die Psyche Das Märchen beginnt mit der Erschaffung des teuflischen Zauberspiegels, welcher die schönsten Landschaften, Menschen und Gedanken in ihr Gegenteil verkehrt. Die Bedeutung des Spiegels kann nicht nur auf die christliche Spiegelmetaphorik bezogen werden, sondern es lässt sich auch eine Verbindung zur menschlichen Psyche ausmachen. Wie bereits angedeutet wurde, spielen der Spiegel als Leitmotiv sowie die genannten entwicklungspsychologischen Aspekte eine wichtige Rolle in Andersens Schneekönigin. Wie zu Beginn unter Bezugnahme auf Wolfgang Marx bzw. Lacan bereits erwähnt wurde, lässt sich die kindliche Selbsterkenntnis als Identifikation des Kindes, das sich nun als vollständig wahrnimmt, deuten. Erst durch das im Spiegel erblickte Selbstbild entwickelt das Kind ein Bewusstsein von seiner eigenen Person.82Ab diesem Zeitpunkt kann auch von einer emotionalen und geistigen Entwicklung im Reifungsprozess gesprochen werden. Nun stellt sich die Frage, was passiert, wenn der Spiegel ein falsches, negatives Bild vermittelt, wie es in Andersens Schneekönigin der Fall ist. Welche Auswirkungen könnte so ein Spiegel auf die Psyche der Betrachtenden haben? Verena Kast nutzt die Arbeit mit Märchen als Therapieform und ist der Auffassung, dass sich das verletzte Ich, selbst durch einen verzerrenden Spiegel, der einen nur das Hässliche sehen lässt, ansehen kann.83 Zudem seien Heranwachsende besonders anfällig für das Sich-selbst-negativ-Sehen, wodurch eine spezielle Dynamik im Zusammenhang mit der sozialen Wahrnehmung durch die Mitmenschen erzeugt wird. Entwertet das Subjekt sich selbst, müssten die Mitmenschen dieses entweder sehr aufwerten oder das soziale Umfeld fühle sich durch die ausgestrahlte Negativität selbst abgewertet und distanziere sich von dem adoleszenten Individuum.84 Hier bietet sich ein Vergleich zu Kay an, welcher durch die Spiegelsplitter immer nur das Unvollkommene und das Fehlerhafte wahrzunehmen imstande ist. Wer sich und seine Mitmenschen kontinuierlich abwertet, wird mit der Zeit, ähnlich wie Kay, vereinsamen. So kann in jedem Menschen dieser Teufelsspiegel wirksam sein. Durch ihn wird die Chance auf Glück, Freundschaft und Liebe vermindert. Auch die Konstruktion der Schneekönigin aus »Millionen sternartiger Flocken«85 ermöglicht den Vergleich zum Bild des zerbrochenen Spiegels.86 Als

82 Vgl.: Wolfgang Marx: »Spiegelbild und Ich-Konzept oder Der Blick des Anderen«, Paul Michel (Hrsg.): Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels, Zürich: Pano 2003, S. 109–120, (S. 109f.). 83 Vgl.: Verena Kast: »Märchen als Therapie«, Düsseldorf: Patmos 2002, S. 91f. 84 Vgl.: ebd., S. 92. 85 Hans-Christian Andersen: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012, S. 13.

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zusammengesetztes Ganzes repräsentiert sie aus psychoanalytischer bzw. tiefenpsychologischer Perspektive die Rekonstruktion des imaginären SpiegelIchs. Laut Lemke steht das Bild der Schneekönigin und deren Spiegel des Verstandes im Zusammenhang mit jugendlichen Angstsituationen.87 Der zersprungene Spiegelsee repräsentiere demnach den Wunsch nach Ganzheit und Wiederherstellung des eigenen Selbst. Gleichzeitig werden zwei unterschiedliche Aspekte vermittelt: Der Spiegelsee der Schneekönigin repräsentiert nicht nur die Angst vor Unvollständigkeit, sondern auch rationale, erwachsene Verstandeskälte.88 Kay verkörpert den Anteil der Rationalität im Individuationsprozess. Der zweite Aspekt besteht in der Zuwendung zu der kindlichen, naturverbundenen und christlichen Weltansicht, die durch Gerda verkörpert wird. Der teuflische Zauberspiegel erfüllt eine doppelte Funktion: er ist mit einer Handlungsanweisung verbunden, die sowohl die handelnden Figuren innerhalb der Diegese als auch die Lesenden die Macht Gottes vergegenwärtigen soll, womit der Bogen zu den einführenden Ausführungen zur philosophischen und christlichen Spiegelmetaphorik geschlossen wird.

Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Spiegel und die Psyche auf verschiedenen Ebenen miteinander verknüpft sind. Die psychoanalytische und tiefenpsychologische Perspektive gewähren die Analyse der geschilderten Reifungsprozesse der Figuren. In Andersens Text steht das christliche Spiegelmotiv im Zentrum. Der Spiegel dient hierbei dem Zweck, die christlichen Schöpfungen stets weiter zu vervollkommnen. Die teuflische Verzerrung der Wirklichkeit im Spiegelbild muss überwunden werden, um so in die heile Natur- und Gottesnähe zurück zu gelangen. Aus psychologischer Perspektive ist der Spiegel mit Selbsterkenntnis und Vervollständigung verbunden. Der zerbrochene Spiegel führt hier zu einer Umkehrung der Spiegelschau: das Selbst ist nicht mehr in der Lage, sich als Ganzes wahrzunehmen. Der teuflische Spiegel ist nicht nur innerhalb der Diegese wirksam, sondern kann auch in der Leserschaft Selbstzweifel hervorrufen und die Selbstwahrnehmung beeinflussen. Thematisiert wird zudem die Adoleszenz. So bewegt eine Verhaltensänderung die adoleszente Figur dazu, sich von seiner Heimat zu distanzieren. Kay befindet 86 Vgl.: Christiane Lemke: »Phantasmen des Infantilen aus Skandinavien. Unheimliche Spiegelungen, Masken und Metamorphosen in Märchen und Schauerphantastik«, Stuttgart: ibidem 2011, S. 32. 87 Vgl.: ebd., S. 65. 88 Vgl.: Verena Kast: »Märchen als Therapie«, Düsseldorf: Patmos 2002, S. 83.

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sich in einem Ablösungskonflikt, während Gerda keine Entwicklung vollzieht, sondern als naturverbundenes Kind ein romantisches Ideal verkörpert, das keiner Entwicklung bedarf. In diesem Sinne offenbart sich eine gewisse Nähe zum didaktischen Impetus der Kategorie des Volksmärchens, das ebenfalls thematisiert, dass Herausforderungen, Misserfolge, Selbstzweifel und auch das Vom-Weg-Abkommen zum Erwachsenwerden dazugehören, was Dzozdzewski und Sagstetter wie folgt, mit Blick auf Andersens Märchen recht verklärt zum Ausdruck bringen: Andersen lehrt uns, im Herzen immer ein Kind zu bleiben. Kinder sehen die Welt mit ungetrübtem Blick: Ihre positive Lebenseinstellung, ihr immerwährender Glaube an das Gute im Menschen und ihr Vertrauen in die Welt sollen uns ein Vorbild sein.89

Eine psychoanalytische und tiefenpsychologische Lektüre des Märchens offenbart, dass psychosoziale Phänomene wie Depression und fehlende Integrität metaphorisch in der Geschichte lesbar werden. Obwohl die christliche Spiegelmetaphorik bereits komplexe, seelische und psychische Aspekte offenbart, kann die hier geschilderte jugendliche Entwicklung und der geistige und insbesondere emotionale Reifungsprozess der Figuren nicht allein über das christliche Spiegelmotiv entschlüsselt werden; die psychoanalytische Lektüre ermöglicht ein tieferes Verständnis für die Figuren.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Andersen, Hans Christian: »Die Schneekönigin«, Bindlach: gondolino 2012.

Sekundärliteratur Boothe, Brigitte: »Glück des Lesens: Das Märchen als intelligentes Wunschvergnügen«, Beisbart, Ortwin / Kerkhoff-Hader, Bärbel (Hrsg.): Märchen: Geschichte – Psychologie – Medien. Baltmannsweiler : Schneider 2008, S. 90–106. Drozdzewski, Sophie / Sagstetter, Katharina: »Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen (1844)«, Frey, Dieter (Hrsg.): Psychologie der Märchen: 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können. Berlin: Springer 2017, S. 243–250. 89 Sophie Drozdzewski / Katharina Sagstetter : »Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen (1844)«, Dieter Frey (Hrsg.): Psychologie der Märchen: 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können, Berlin: Springer 2017, S. 243–250, (S. 249).

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Freud, Anna: »Das Ich und die Abwehrmechanismen«, München: Kindler 1975. Frey, Dieter / Münster, Paula: »Einführung: Worin liegt die Faszination der Märchen und Psychologie?«, Frey, Dieter (Hrsg.): Psychologie der Märchen: 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können, Berlin: Springer 2017, S. 5–11. Herget, Sven: »Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film«, Marburg: Schüren 2009. Kast, Verena: »Märchen als Therapie«, Düsseldorf: Patmos 2002. Klotz, Volker : »Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne«, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl., München: Fink 2002. Krumm, Thomas: »Der Spiegel der Unterscheidung. Spiegelmetapher und konstruktivistische Erkenntnistheorie«, Michel, Paul (Hrsg.): Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels, Zürich: Pano 2003, S. 141–157. Lemke, Christiane: »Phantasmen des Infantilen aus Skandinavien. Unheimliche Spiegelungen, Masken und Metamorphosen in Märchen und Schauerphantastik«, Stuttgart: ibidem 2011. Lüthi, Max: »Märchen«, 10., aktualisierte Aufl., Stuttgart: Metzler 2004. Marx, Wolfgang: »Spiegelbild und Ich-Konzept oder Der Blick des Anderen«, Michel, Paul (Hrsg.): Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels, Zürich: Pano 2003, S. 109–120. Peez, Erik: »Die Macht der Spiegel. Das Spiegelmotiv in Literatur und Ästhetik des Zeitalters von Klassik bis Romantik«, Frankfurt am Main: Lang 1990.

Internetquellen Nickel-Bacon, Irmgard: »Herzenswärme und eiskalte Herrlichkeit. Naturmetaphorik und Frauenbild in Andersens Schneekönigin«, verfügbar unter : https://www.germanistik. uni-wuppertal.de/fileadmin/germanistik/Teilf%C3%A4cher/Didaktik/Personal/NickelBacon/Nr._3_Herzenswaerme.pdf [10. 08. 2019]

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Verfilmte Initiation. Es war einmal Indianerland

Einleitung Initiation ist ein Begriff aus der Soziologie und Ethnologie und meint in seiner ursprünglichen Wortbedeutung so viel wie »Einführung.«1 Im Wörterbuch der Soziologie wird unter Initiation »de[r] […] rituell ausgeprägte[ ] Prozeß des Übergangs eines jugendlichen Mitgliedes einer Gesellschaft in die Gemeinschaft der vollwertigen Erwachsenen«2 verstanden. Dieser Übergang wird auch als Phase der Adoleszenz aufgefasst, die mit psychischen, physischen und sozialen Übergängen der adoleszenten Jugendlichen verbunden ist. In archaischen Kulturen wurden solche Übergänge von Ritualen begleitet, die oftmals mit schweren Prüfungen und körperlicher Marter verbunden waren.3 Bereits 1909 hat Arnold van Gennep ein dreigliedriges Schema solcher Übergangs- bzw. Initiationsriten (»rites de passage«) entworfen und dessen Allgemeingültigkeit für jeden Initiationsritus festgestellt. Auch wenn schmerzvolle Initiationsriten in unserer modernen Gesellschaft keine verbindliche Gültigkeit mehr besitzen, taucht das Initiationsmuster nach wie vor in zeitgenössischer Literatur und Filmen als Strukturprinzip auf,4 so auch in Ilker C ¸ ataks Jugendfilm Es war einmal India5 nerland. Der adoleszente Protagonist Mauser muss sich mit vielen Problemen auseinandersetzen. Er hat nicht nur eine Entscheidung zwischen zwei Frauen zu

1 Vgl.: Karl-Heinz Hillmann: »Initiation«, Ders. (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart: Kröner 1994, S. 371. 2 Ebd. [Hervorhebung im Original] 3 Vgl.: Matthias Hurst: »Tod und Wiedergeburt. Literarische Formen der Initiation und der Individuation«, in Wirkendes Wort, 2002/52, S. 257–275, (S. 259). 4 Vgl.: ebd., S. 261. 5 Ilker C ¸ atak: »Es war einmal Indianerland«, Deutschland: Indigo 2017. Der Film basiert auf der gleichnamigen Romanvorlage von Nils Mohl, der mit Max Reinhold gemeinsam das Drehbuch verfasste. Ich werde mich bei meiner Analyse auf den Film beschränken, obwohl sich van Genneps Schema der Übergangsriten auch für die Analyse des Romans fruchtbar machen lässt.

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treffen, sondern ist zudem auf der Suche nach sich selbst und seinem Platz im Leben. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Verlauf von Mausers Ich-Findungsprozess van Genneps Dreiphasenmodell der Übergangsriten entspricht. Dafür werden zunächst raumtheoretische Überlegungen angestellt, die mit van Genneps dreigliedrigem Schema der »rites de passage« einhergehen. Im Anschluss daran werden van Genneps Übergangsriten erläutert und um den damit verbundenen Aspekt der Tod- und Wiedergeburtssymbolik nach Matthias Hurst erweitert, bevor schließlich die Anwendung der zwei Theorien am Film erfolgt.

Theorierahmen – Zum Verhältnis von Raum, Literatur und Film Der Raum ist neben der Zeit, der Handlung und den Figuren ein konstitutiver Bestandteil der erzählten Welt (Diegese). Wenn wir eine Erzählung lesen, ordnen wir den Ereignissen bestimmte Schauplätze zu,6

halten Mat&as Mart&nez und Michael Scheffel in ihrer Einführung in die Erzähltheorie fest. Räume fungieren jedoch nicht nur als Schauplätze innerhalb der erzählten Welt, ihnen kommt darüber hinaus auch eine »Erzählfunktion«7 zu. Gerhard Hoffmann hat dafür den Begriff des »gestimmten Raumes« eingeführt. Er stellt den gestimmten Raum als eine mögliche Dimension des Raumes heraus, in dem sich die wahrgenommene Atmosphäre des Raumes sowie die subjektive Mitsicht der handelnden Figuren spiegeln.8 Die Analyse der bedeutungstragenden Funktion literarischer Räume wurde maßgeblich von Jurij Lotman geprägt. Er hat ein semantisches Raummodell für die Literatur entwickelt, in welchem die Raumstruktur »zum organisierenden Element wird, um das herum auch die nichträumlichen Charakteristika aufgebaut werden«9 und spricht von der Raumordnung als »Sprache, die die anderen, nichträumlichen Relationen des Textes ausdrückt.«10 Zu solchen nichträumlichen Relationen gehören beispielsweise soziale Hierarchien und gesellschaftliche Strukturen. Lotman unterteilt die erzählte Welt als semantisches Feld in zwei 6 Mat&as Mart&nez / Michael Scheffel: »Einführung in die Erzähltheorie«, München: Beck 2012, S. 151. 7 Zit. nach Ansgar Nünning: »Raum / Raumdarstellung, literarische(r)«, Ders. (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart: Metzler 2016, S. 604–607, (S. 606). 8 Vgl.: Gerhard Hoffmann: »Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman«, Stuttgart: Metzler 1978, S. 55ff. 9 Jurij M. Lotman: »Die Struktur künstlerischer Texte«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 332. 10 Ebd., S. 347.

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Teilräume, die mit oppositionellen Merkmalen ausgestattet sind. So ergeben sich Oppositionsbeziehungen zwischen den Teilräumen auf drei Ebenen: topologisch, semantisch und topographisch. Eine topographische Ordnung wie etwa die klassische Opposition der Teilräume Stadt und Land kann so durch die Zuordnung nichträumlicher Merkmale wie etwa reich und arm zum semantisierten Raum werden.11 Dem Erzählmedium Film stehen im Gegensatz zur Literatur bei der Raumgestaltung mehr Darstellungskanäle zur Verfügung. So gelingt es dem Film als audiovisuellem Zeichenträger, ein komplexeres Raummodell als die Literatur zu generieren, was laut Klaus Maiwald aus der »Konkretheit des Visuellen im Gegensatz zur Abstraktion des verbalsprachlichen Zeichens«12 herrührt. Während sich der Film auditiven Elementen wie etwa Geräuschen, Dialogen und Musik sowie visuellen Elementen wie Einstellung, Perspektive und Schnitt bedient, stehen der Literatur nur sprachliche Zeichen zur Verfügung, die von den Rezipient*innen die Fähigkeit zur Abstraktion verlangen. Diese müssen die Beschreibungen des Raumes sowie der Figuren erst zu einem Bild zusammenfügen.13 Trotz dieser medialen Differenzen zwischen literarischer und filmischer Narration wird der Raum im Film genau wie in der Literatur zum bedeutungstragenden Element, weshalb sich die Überlegungen zur Semantisierung des Raums auch für die Untersuchung der filmischen Raumgestaltung fruchtbar machen lassen. Im Folgenden werden daher die medienspezifischen Unterschiede zwischen Literatur und Film außer Acht gelassen und der Film als Narrativ betrachtet, das sich mit den Kategorien der Literaturanalyse erfassen lässt.

Passagen und Adoleszenz Die ausgeführten Überlegungen zur Semantisierung des Raumes lassen sich auf die Darstellung adoleszenter Entwicklungsschritte anwenden. Adoleszenz lässt sich als das Entwicklungsstadium zwischen Kindheit und Erwachsensein definieren. Heinrich Kaulen beschreibt die Phase der Adoleszenz als »Prozess einer 11 Vgl.: ebd., S. 329f. und S. 360f. 12 Klaus Maiwald: »Vom Film zur Literatur. Moderne Klassiker der Literaturverfilmung im Medienvergleich«, Stuttgart: Reclam 2015, S. 18. 13 Zu medienspezifischen Unterschieden zwischen Literatur und Film siehe auch: Anne Bohnenkamp: »Literaturverfilmungen als intermediale Herausforderungen«, Ders. (Hrsg.): Interpretationen. Literaturverfilmungen. Stuttgart: Reclam 2005, S. 9–35. Zu den Möglichkeiten und Grenzen von Transformationsanalyen zu Literaturverfilmungen siehe insbes. Michaela Mundt: »Transformationsanalyse. Methodologische Probleme der Literaturverfilmung«, Tübingen: Niemeyer 1994.

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prekären Identitäts- und Sinnsuche […], [die] ihre Binnenstrukturierung in einer Reihe prägender Krisenerfahrungen oder Initiationserlebnisse [findet].«14 Dieser Prozess des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsensein geht laut Anna Stemmann mit physischen, psychischen und sozialen Übergängen einher, die sich im räumlichen Setting und in der Bewegung der adoleszenten Jugendlichen durch den Raum spiegeln.15 Die Darstellung bestimmter Außenräume lassen also immer auch Rückschlüsse auf die innere Verfassung der Jugendlichen zu. Andrea Kromoser spricht zudem von einer »in und durch den Raum verdeutlichte[n] Entwicklung.«16 Dass Schwellenübertritte nicht einfach so passieren und mit dem Betreten neuer Räume innere Prozesse der Figuren einhergehen, stellt auch Hartmut Böhme fest. Für ihn ist der Raum »diejenige Größe außer uns, durch die sich oder anderes bewegen Mühe und Arbeit bedeutet.«17 Die Bewegungen und Grenzüberschreitungen der adoleszenten Protagonist*innen als Metaphern für Veränderungsprozesse hängen unmittelbar mit dem Begriff der (räumlichen) Passage zusammen. 1909 hat der französische Ethnologe Arnold van Gennep dafür ein dreiphasiges Konzept der »rites de passage« (Übergangsriten) entwickelt, die er als anthropologische Grundkonstanten in der Entwicklung des Menschen versteht.18 Bei einem Übergangsritus handelt es sich ihm zufolge um den »Übergang von einem Zustand in einen anderen […].«19 Damit kann beispielsweise der Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein oder von Ledig sein zum Verheiratet sein gemeint sein. Dieser Übergang erfolgt laut van Gennep in einer immer gleichen dreischrittigen Abfolgestruktur aus Trennungsriten, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten20 und Angliederungsriten, die jeweils kennzeichnend für eine bestimmte Phase sind: Die Trennungsriten kennzeichnen die Ablösungsphase, in der die Loslösung des 14 Heinrich Kaulen: »Jugend- und Adoleszenzromane zwischen Moderne und Postmoderne«, in 1000 und 1 Buch, 1999/1, S. 4–7, (S. 7). [Hervorhebung: L. B.] 15 Vgl.: Anna Stemmann: »›Ich bin deshalb nicht schizo. Nur erwachsener, wenn es darauf ankommt.‹ Aspekte gestörter Adoleszenz in Nils Mohls’ Es war einmal Indianerland«, Nina Holst, Iris Schäfer und Anika Ullmann (Hrsg.): Narrating disease and deviance in media for children and young adults / Krankheits- und Abweichungsnarrative in kinder- und jugendliterarischen Medien, Frankfurt am Main: Lang 2016, S. 53–71, (S. 54). 16 Andrea Kromoser : »Erste Schritte gehen. Über Initiationsräume und Inititionsriten«, in 1000 und 1 Buch, 2012/4, S. 7–10, (S. 10). 17 Hartmut Böhme: »Einleitung. Raum – Bewegung – Topographie«, Ders. (Hrsg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart: Metzler 2005, S. IX–XXIII, (S. XVI). [Hervorhebung im Original] 18 Vgl.: Arnold van Gennep: »Übergangsriten (Les rites de passage)«, Frankfurt am Main: Campus 1986, S. 15f. 19 Ebd., S. 21. 20 An dieser Stelle erscheint die Anmerkung der Übersetzer*innen, Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff, interessant, die auf die Differenzierung zwischen Schwellenriten und Umwandlungsriten hinweisen. Während Schwellenriten sich auf den Raumwechsel beziehen, sei mit Umwandlungsriten ein Zustandswechsel gemeint. Vgl.: ebd.

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Individuums aus einem alten Zustand bzw. Status erfolgt. Die Schwellen- bzw. Umwandlungsriten sind kennzeichnend für die Zwischenphase, in der das Individuum seinen neuen Zustand bzw. Status annimmt. Die Angliederungsriten wiederum markieren die Integrationsphase, in der sich die Angliederung des Individuums an den neuen Zustand bzw. Status in der Gesellschaft vollzieht.21

Tod- und Wiedergeburtssymbolik Matthias Hurst verweist auf die Symbolik von Tod und Wiedergeburt, die zahlreichen Übergangsriten immanent sei.22 Er untersucht in seinem Artikel Tod und Wiedergeburt. Literarische Formen der Initiation und Individuation Phänomene der Adoleszenz und die damit verbundene Vorstellung von Initiation sowohl in narrativen Strukturen als auch aus kulturanthropologischer Perspektive. Ihm zufolge versinnbildlichen Tod und Wiedergeburt als »existenzielle Symbole der Wandlung«23 die Radikalität und die Ambivalenz des Übergangs von Kindheit zum Erwachsensein. Denn wie er überspitzt formuliert: »Das Kind muss sterben, um als Erwachsener wiedergeboren zu werden.«24 Daraus ergibt sich eine Korrespondenz mit van Genneps dreigliedrigem Schema der Übergangsriten, die Hurst wie folgt darstellt: Bezogen auf die Tod- und Wiedergeburtssymbolik sowie die Adoleszenz symbolisiere die Ablösungsphase den Tod durch die Trennung der elterlichen Bindung, die Schwellen- bzw. Übergangsphase den Wechsel von einer Existenz zur anderen und die Integrationsphase als Eingliederung in die Welt der Erwachsenen die Wiedergeburt.25 In archaischen Völkern gehe der Initiationsritus als symbolische Erfahrung des Todes meist mit körperlicher Qual einher, die uns aus heutiger Sicht unvorstellbar erscheint.26 Peter Freese fasst in seiner Definition von Initiation die inneren Vorgänge während des Initiationsritus treffend zusammen und erweitert Hursts Überlegungen um den Aspekt des Mentors: Die Initiation ist ein in den drei Phasen von Ausgang, Übergang und Eingang ablaufender menschlicher Wandlungs- und Entwicklungsvorgang, der im innermenschlichen Bereich als Individuationsprozeß […] abläuft und dessen Ergebnis eine so umfassende und grundlegende existenzielle Änderung ist, daß er als ein Tod des alten und

21 Vgl.: ebd. 22 Vgl.: Matthias Hurst: »Tod und Wiedergeburt. Literarische Formen der Initiation und der Individuation«, in Wirkendes Wort, 2002/52, S. 257–275, (S. 259f.). 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Vgl.: ebd. 26 Vgl.: ebd.

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eine Wiedergeburt eines neuen Menschen symbolisiert wird. […] Dem Initianden […] steht nahezu immer ein Mentor oder Tutor helfend und beratend zur Seite.27

Die Vorstellung von Tod und Wiedergeburt als Symbole des stetigen Wandels sei verbunden mit dem zyklischen Weltbild des archaischen Menschen, demzufolge die Schöpfung nicht zielgerichtet ist, sondern andauernd fortläuft.28 In unserer modernen Gesellschaft existieren weder ein zyklisches Weltbild noch qualvolle Initiationsrituale mit gesellschaftlicher Verbindlichkeit. Die Phase der Adoleszenz wird vielmehr als kulturelle Konstruktion verstanden. Die Sozialisation als ein individueller Lernprozess ohne mythologische Konnotation hat die kollektiven Initiationsriten archaischer Völker abgelöst und so zur Entritualisierung der Initiation beigetragen.29 Allerdings scheinen rituelle Handlungen und Vorstellungen tief im kollektiven Unbewussten des Menschen verwurzelt zu sein,30 weshalb sie sich immer noch als grundlegendes Strukturprinzip in zeitgenössischer Literatur und Film wiederfinden lassen, so auch in Ilker C ¸ ataks Jugendfilm Es war einmal Indianerland. Im Folgenden soll daher gezeigt werden, wie van Genneps dreiphasiges Konzept der Übergangsriten und die damit verbundene Symbolik von Tod und Wiedergeburt für die Analyse des Jugendfilms fruchtbar gemacht werden können.

Übergangsriten in Es war einmal Indianerland – Trennungsriten: Aufbruch zum Powwow Die für den Protagonisten Mauser impulsgebende Krisenerfahrung ist das angespannte Verhältnis zu seinem Vater Zöllner, mit dem und dessen zweiter Ehefrau er in einem Wohnblock in einer Hochhaussiedlung am Stadtrand wohnt. Um an Heinrich Kaulens Definition von Adoleszenz anzuschließen, kann dieser Krisenzustand als Binnenstruktur von Mausers Adoleszenz eingestuft werden.31 Als ambitionierter Boxer versucht er im täglichen Training seinem Vater nachzueifern, der eine erfolgreiche Karriere als Leistungsschwimmer vorweisen kann. Zöllner erwartet von seinem Sohn volle Konzentration auf den Kampfsport. Er ermahnt ihn immer wieder, sich nicht durch Kondor, Mausers ehe27 Peter Freese: »Die Initiationsreise. Studien zum jugendlichen Helden im modernen amerikanischen Roman«, Neumünster : Wachholtz 1971, S. 155f. 28 Vgl.: Matthias Hurst: »Tod und Wiedergeburt. Literarische Formen der Initiation und der Individuation«, in Wirkendes Wort, 2002/52, S. 257–275, (S. 260). 29 Vgl.: ebd. 30 Vgl.: ebd., S. 262. 31 Vgl.: Heinrich Kaulen: »Jugend- und Adoleszenzromane zwischen Moderne und Postmoderne«, in 1000 und 1 Buch, 1999/1, S. 4–7, (S. 7).

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maligen Trainingspartner und kampfbereiten Kleinkriminellen, vom Boxtraining ablenken zu lassen.32 Mauser scheint durch das Boxtraining die Anerkennung seines Vaters zu suchen, selbst jedoch seine Leidenschaft in dem Sport noch nicht gefunden zu haben. Über ein Lob von Zöllner während des Trainings freut er sich zwar, aber als dieser ihn auf die Wunde an seiner Hand anspricht und auf die Folgen einer Entzündung seiner Führhand hinweist, antwortet er nur provokant: »Und dann? Amputation?«33 Dass Zöllner hohe Erwartungen an seinen Sohn hat und auf ihn gewissermaßen seinen Wunsch nach Erfolg projiziert, zeigt sich in der Szene, in der er Mausers Schulter tapen möchte und auf Mausers Ablehnen mit folgenden Worten reagiert: »Ist nicht für dich, ist für mich.«34 Die Situation spitzt sich nach dem Mord an Mausers Stiefmutter durch Zöllner zu: Dieser verschwindet und Mauser vermutet ihn auf dem Powwow, einem angesagten Musikfestival an der Grenze. Als wäre der Konflikt mit dem Vater allein nicht genug, treten nahezu zeitgleich zwei Mädchen in Mausers Leben. Bei einem nächtlichen Schwimmbadbesuch lernt er Jackie kennen, ein hübsches Mädchen aus reichem Hause, von der sich Mauser vom ersten Moment an angezogen fühlt.35 Jackie präsentiert sich freizügig im Bikini und spielt mit ihren Reizen. Schon nach den ersten Minuten des Kennenlernens spricht sie eine Warnung an Mauser aus, nachdem er sie nach ihrer Handynummer gefragt hat: »Ich bin eitel, zickig und unkeusch, verlieb dich nicht.«36 Jackie scheint die Ernsthaftigkeit hinter Mausers Worten nicht zu erkennen und lässt ihn am geplanten Treffpunkt im Schwimmbad sprichwörtlich im Regen stehen. Außerdem trifft er auf Edda aus der Kleingartenkolonie am anderen Ende der Brücke. Edda, ein unkonventioneller Freigeist, spielt keine Spielchen mit Mauser. Sie ist es, die die Initiative ergreift und Mauser durch Nachrichten auf Postkarten immer wieder zu einem Treffen auffordert. 32 »und halt’dich von Kondor fern!« Es war einmal Indianerland. Ilker C ¸ atak: »Es war einmal Indianerland«, Deutschland: Indigo 2017, TC: 00:21:15. 33 Ebd., TC: 00:12:30. 34 Ebd., TC: 00:12:32. In einem imaginierten Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn auf der Polizeiwache erfahren wir an späterer Stelle, dass Zöllner nach einer Verletzung seine Karriere als Leistungsschwimmer aufgeben musste und noch einige Jahre Wasserball gespielt hat, bevor er mit seiner ersten Frau eine Familie gründete und Vater wurde. Nach dem Tod seiner ersten Frau, Mausers Mutter, wurde er alkoholkrank und Mauser musste einige Jahre bei seinen Großeltern leben. Zöllner hat das Abitur an einer Abendschule nachgeholt und ist danach in die Berufswelt eingestiegen; hat sich aber nie endgültig von dem Verlust erholt. Zwar beteuert Zöllner, sich stets darum bemüht zu haben, Mauser ein guter Vater zu sein, aber Mauser entgegnet, sie seien nie eine richtige Familie gewesen und er, Mauser, habe sogar aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen müssen. Vgl.: ebd., TC: 00:42:17. 35 In einer späteren Einstellung sieht man Jackies Gesicht, projiziert auf ein Hochhaus in Mausers Hochhaussiedlung, was den nachhaltigen Eindruck, den Jackie bei Mauser hinterlassen hat, verbildlicht. Vgl.: ebd., TC: 00:31:32. 36 Ebd., TC: 00:10:09.

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Mauser findet Edda nicht unbedingt attraktiv, scheint aber ausschließlich mit ihr über seine familiären Probleme sprechen zu wollen bzw. zu können. Nachdem er von Zöllners Straftat erfahren hat, bietet ihm Edda ihre Hilfe bei der Suche nach seinem Vater an, die er jedoch zunächst ablehnt. Am Abend besucht Mauser Edda schließlich doch, allerdings unter dem Vorwand, sich von ihr eine Bohrmaschine ausleihen zu wollen, die er zum Festschrauben seines neuen Punchingballs benötigt.37 Erst nach einem Kuss zwischen den beiden, traut sich Mauser, den wahren Grund seines Besuchs anzusprechen: »Du hattest mich doch gefragt, ob du was für mich tun kannst. Du hast doch ein Auto.«38 Ohne eine Antwort von Edda abzuwarten, rennt er mit dem roten Bohrmaschinenkoffer davon. Hin- und hergerissen zwischen Unverständnis und Liebe für den Vater, bricht Mauser schließlich, mit der Situation überfordert, auf der Mitte der Autobahnbrücke zusammen. Die Brücke ist an dieser Stelle kein zufällig gewählter Handlungsort, sondern wird symbolisch aufgeladen: Neben ihrer Funktion als topographischer Trennlinie zwischen Stadtrand und dem Rest der Stadt, erfüllt die Brücke als ein Symbol des Übergangs hier die Funktion der Schwelle zwischen dem vertrauten Stadtraum und dem unbekannten Grenzraum des Musikfestivals. Dass Edda Mauser genau auf der Mitte der Brücke mit dem Auto abholt und mit ihm gemeinsam den Stadtraum verlässt, verweist auf Eddas Funktion als Entwicklungshelferin. Ohne sie und ihr Auto hätte Mauser nie den Mikrokosmos des Stadtrands verlassen und Richtung Powwow aufbrechen können. Sie ermöglicht Mauser den Zugang zu seinen Gefühlen und begleitet ihn als eine Art Mentor auf den ersten Schritten seiner Suche nach seinem Vater und – wie sich später herausstellen wird – nach sich selbst.39 Kurz vor Eddas Ankunft auf der Brücke, fährt ein Indianer auf einem Motorrad an Mauser vorbei, der ihn den Großteil des Films als eine Art Leitfigur begleitet. Als offensichtlich von seiner Persönlichkeit abgespaltener Anteil, erfüllt der Indianer eine Funktion der Kompensation. Gemäß Carl Gustav Jung bringt diese Abspaltung Mausers noch nicht abgeschlossene Individuation zum 37 Als Trainingsgerät für den Boxsport, in dem Mauser die Anerkennung seines Vaters sucht, wird der Punchingball zur symbolischen Verbindung zum Vater. Unmittelbar nach dem Verhör auf der Polizeiwache denkt Mauser nur an das Zusammenschrauben des Punchingballs, was sein Streben nach Anerkennung von Seiten des Vaters verdeutlicht. Vgl.: TC: 00:45:44 38 Ebd., TC: 00:50:33. 39 Bereits in der Anfangssequenz des Films wird Eddas unkonventioneller Freigeist mit Hut und wallendem Mantel inszeniert, der an einen Cowboymantel erinnert. Nicht zufällig steht sie dabei auf einer Brücke, die als Symbol des Übergangs schon an dieser Stelle Eddas Hilfe bei Mausers Selbstsuche andeutet. Sie wird dabei in Untersicht gezeigt, was ein Gefühl des Aufschauens erzeugt. Auch das elektrische Zittern des Hochhauses nimmt vorweg, dass Edda Mausers Leben gehörig auf den Kopf stellen wird. Vgl.: ebd., TC: 00:01:21.

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Ausdruck.40 In Krisensituationen taucht der Indianer immer wieder als erfahrenes, weises Ich auf, das Mauser Halt und Sicherheit gibt. Mausers innerer Zwiespalt drückt sich insbesondere durch seine Worte im voiceover aus, die die Begegnung mit dem Indianer untermalen: »Das bist du und das bin ich.«41 Ines Galling führt diesen Gedanken noch weiter, indem sie sagt: Der weise Häuptling […] weiß als Inkarnation des ›edlen Wilden‹ intuitiv, was richtig und was falsch ist. Der Häuptling ist autonom, unverdorben und eins mit sich: Anders [als der Protagonist], der [in] Ich und Mauser zerfällt – und der genau deshalb danach strebt, eins zu werden.42

Ein klarer, traditioneller Trennungsritus, wie er etwa bei Bestattungsritualen durch den Abtransport des Leichnams zu finden ist,43 lässt sich in Es war einmal Indianerland nicht ausfindig machen. Dennoch kann der gewaltsame Tod seiner Stiefmutter als ein Trennungsritus beschrieben werden. Auch wenn Mauser kein gutes Verhältnis zu ihr hatte, symbolisiert ihr gewaltsamer Tod das endgültige Ende einer Person in seinem näheren Umfeld. Die Brückenszene markiert folglich als Ablösungsphase einen Wendepunkt in der Entwicklung des Protagonisten: Der symbolhafte Moment des Aufbruchs als ritualisierte Loslösung vom vertrauten Raum, vom »alten Ich« wird dabei durch Mausers körperlichen Zusammenbruch auf der Brücke sichtbar. Zöllners Mord an seiner Frau, seine Flucht sowie die damit verschwundenen Sicherheiten werden für Mauser zum 40 Vgl. bspw. Carl Gustav Jung: »Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten«, Marianne Niehus-Jung / Len Hurwitz-Eisner / Frank Riklin (Hrsg.): Gesammelte Werke 9/1, Olten u. a.: Walter 1989, S. 11–51. Leonie Zilch geht in ihrem Beitrag ausführlich auf das Individuationsmodell nach Jung ein und veranschaulicht, wie dieses als Lektüreschlüssel für die filmische Adaption eines kinderliterarischen Klassikers fruchtbar gemacht werden kann. 41 Ilker C ¸ atak: »Es war einmal Indianerland«, Deutschland: Indigo 2017, TC: 00:51:00. Der Film verweist schon in der Anfangssequenz auf Mausers Persönlichkeitsstörung. Die Erzählstimme aus dem Off, die offensichtlich Mauser zuzuordnen ist, spricht ihn mit »Du« an, wodurch eine Distanz zwischen Mauser und einer zweiten, inneren Stimme geschaffen wird. Unterstützt wird dieser Eindruck weiterhin dadurch, dass neben dem Namen »Mauser« für etwa eine Sekunde auch der Name »Grünhorn« in der anfänglichen Vorstellung der Figuren eingeblendet wird. Vgl.: ebd., TC: 00:02:42. Die Romanvorlage rückt die Persönlichkeitsspaltung des Protagonisten stärker in den Vordergrund als der Film. Dies gelingt dem Roman insbesondere durch die Erzählform des unzuverlässigen Erzählens. Für eine umfassende Übersicht über die Modellierung der Erzählinstanz und die Funktion des unzuverlässigen Erzählens in der Romanvorlage siehe: Hadassah Stichnothe: »Zeit, Raum und narrative Struktur in Nils Mohls Es war einmal Indianerland«, in Literatur im Unterricht. Texte der Gegenwartsliteratur für die Schule, 2016/3, S. 245–254, (S. 246ff.) sowie Heidi Lexe: »Literarische Täuschungsmanöver. Aspekte unzuverlässigen Erzählens in der Jugendliteratur«, in kids+media, 2017/2, S. 2–23, (S. 19ff.). 42 Ines Galling: »Indianer in der Pampa. Wann ist ein Mann ein Mann?«, in kids+media, 2014/2, S. 2–21, (S. 12). [Hervorhebung im Original] 43 Vgl.: Arnold van Gennep: »Übergangsriten (Les rites de passage)«, Frankfurt am Main: Campus 1986, S. 142–159.

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unmittelbaren Anlass, von zu Hause wegzugehen. Mit dem Verlassen des vertrauten Stadtraumes wagt er mithilfe von Edda schließlich einen ersten Schritt in Richtung der Ablösung vom Vater.

Umwandlungsriten – Auf dem Powwow Das Powwow wird zum Schwellenraum, der eine wichtige Funktion für die Entwicklung des Protagonisten einnimmt und diese spiegelt. Bereits der Name Mauser – der auf den Begriff »sich mausern« zurückgeht, worunter man in der Jägersprache das Wechseln des Federkleides bei jungen Vögeln versteht,– verweist auf den Schwellenzustand des Protagonisten. Genau wie die Jungvögel befindet sich auch Mauser in einem Übergangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsensein.44 Zusätzlich deutet der Name des Festivals die zunehmende Auseinandersetzung mit dem Selbst während des Festivalbesuches an. Das Powwow ist ein Treffen von nordamerikanischen Indianern, auf dem getanzt und die indianische Kultur gepflegt wird. Deutet man den Indianer als einen abgespaltenen Anteil seiner Persönlichkeit, ist es wenig verwunderlich, dass Mauser sich auf einem Indianerfestival bei ständiger Begegnung mit Indianern zwingend mit »seinem« Indianer, mit sich selbst auseinandersetzen muss. Im Film wird das Powwow als ein chaotischer Ort präsentiert, an dem die Anwesenden tanzen, trinken, rauchen und Drogen nehmen. Die Regeln des Alltags scheinen hier außer Kraft gesetzt zu sein. Hadassah Stichnothe spricht in diesem Zusammenhang von einem »Zustand gesellschaftlicher Anti-Struktur,«45 in dem die Initianden im Ritual für gewöhnlich eine Reihe von Prüfungen bestehen müssen, bevor sie in den Status des Erwachsenseins erlangen, so auch Mauser. Auch er betritt den Raum des Powwows »in einem Zustand der Ambi-

44 Darüber hinaus verweist das Vogelmotiv noch einmal auf das Genre des Westerns, das den Protagonisten den gesamten Film über begleitet und den erzählten Raum färbt. 45 Hadassah Stichnothe: »Zeit, Raum und narrative Struktur in Nils Mohls Es war einmal Indianerland«, in Literatur im Unterricht. Texte der Gegenwartsliteratur für die Schule, 2016/ 3, S. 245–254, (S. 253). [Hervorhebung im Original] Den Begriff der »Anti-Struktur« hat Victor Turner geprägt, der van Genneps Schema der Übergangsriten um den Aspekt der »Liminaltät« erweitert. Die »Liminalität« bezeichnet die Schwellenphase der Übergangsriten und ist dadurch gekennzeichnet, dass die alltäglichen Regeln und Normen außer Kraft treten. Nur in dieser speziellen Zwischenphase der »Anti-Struktur« könnten die sich im Übergang befindlichen »liminalen Subjekte« ihren vorherigen Status ablegen und Veränderungen und Übergänge bewältigen. Vgl.: Victor Turner : »The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual«, Ithaka: Cornell University Press 2014, S. 93–110. [Hervorhebung im Original] Zu einer Übersicht über Turners Konzept der Liminalität siehe auch: Ruprecht Mattig: »Rock und Pop als Ritual. Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft«, Bielefeld: transcript 2009, insbes. S. 45–54.

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valenz«46 und muss sich einigen Prüfungen während der Zwischenphase der Adoleszenz stellen, angefangen mit einem Drogenrausch. Als Mauser allein auf dem Powwow ankommt,47 trifft er auf Ponyhof, einen Freund Jackies, der Mauser seit der ersten Begegnung zu überreden versuchte, ihn und Jackie auf das Musikfestival zu begleiten. Er übernimmt kurzerhand die Rolle des Mentors und packt ein kleines Fläschchen aus seiner Tasche: »Ich als dein Mentor sage dir, du brauchst einen Kick,«48 und zwar in Form der Droge Chief. Bevor Mauser tatsächlich die Droge einnimmt, wendet er sich mit fragendem Blick dem Indianer auf dem Wohnwagen zu, der ihm auf dem Festival immer häufiger begegnet und ihm nickend mit seinem Bier zuprostet. Mauser scheint die Bestätigung seines weisen und erfahrenen Ichs für den Drogenkonsum zu brauchen, welcher somit zur Hilfe im Selbstfindungsprozess wird. Was darauf folgt ist, neben rauschartigen Wahrnehmungsstörungen, eine »Reise ins Ich,« eine erste, intensive Auseinandersetzung mit sich selbst. Unterlegt von einem blau-roten Schleier49 stellt Mausers zweites Ich in einem Zwiegespräch die entscheidende Frage »Wen suchst du, wen suchst du denn wirklich?«50 und regt Mauser zum Nachdenken über den wahren Grund seiner Reise zum Powwow an, der – wie sich an späterer Stelle herausstellen wird – nicht nur die Suche nach seinem Vater, sondern vielmehr seine Selbstfindung ist. Bedroht durch die Großaufnahmen vom Indianerhäuptling, Edda, Kondor und Zöllner in hoher Schnittfrequenz, flieht Mauser weinend in den Wald, wo Jackie ihn nur mühsam mit einer Flasche Wasser beruhigen kann. Die Flasche entpuppt sich jedoch als ein fiktives Produkt seines Drogenrauschs. Immer wenn er die Flasche öffnet, ertönt eine Melodie, die leitmotivisch im Film auch nach Mausers und Eddas erstem Kuss zu hören ist. Die Anwesenheit von Edda im Zustand des Rauschs verweist erneut auf die tragende Rolle, die Edda für Mausers Auseinandersetzung mit sich und seinen Gefühlen einnimmt. Als Mauser Jackie während der anschließenden wilden Knutscherei zu würgen anfängt, beginnt dieser – erschrocken über die Ähnlichkeit zu Zöllners 46 Hadassah Stichnothe: »Zeit, Raum und narrative Struktur in Nils Mohls Es war einmal Indianerland«, in Literatur im Unterricht. Texte der Gegenwartsliteratur für die Schule, 2016/ 3, S. 245–254, (S. 253). 47 Edda hatte Mauser samt Bohrmaschine nach einem Streit kurz vor dem Festival aus dem Auto gelassen, jedoch Mausers Mütze behalten. Dass sie mit quietschenden Reifen vor zwei Trampern, die ihr ein Pappschild mit »Powwow« entgegenhalten, stehen bleibt, deutet auf ihre Absicht, zum Festival zurückzukehren hin. Vgl.: Ilker C ¸ atak: »Es war einmal Indianerland«, Deutschland: Indigo 2017, TC: 00:57:45. 48 Ebd., TC: 01:06:00. 49 Die Blau-Rot-Färbung auf dem Powwow legt vor dem Hintergrund des sich durch den gesamten Film ziehenden Westernmotives die Vermutung nahe, dass sie symbolisch für die Flagge der USA steht, mit der wiederum Freiheit und Grenzenlosigkeit verbunden ist, was am Ende des Kapitels noch zu zeigen sein wird. 50 Ebd., TC: 01:12:27.

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gewalttätigem Verhalten – sich selbst zu schlagen und verlässt mit der Bohrmaschine fluchtartig das Zelt. Die Droge dient als Katalysator für Denkprozesse und die Konfrontation mit dem Selbst, die Mauser als ein Umwandlungsritus den Weg in Richtung Selbstfindung ebnen. Nach Mausers Flucht aus dem Zelt kommt es schließlich zum finalen Showdown: Nach einem Kampf mit Kondor wird Mauser von der selbsternannten Festivalpolizei, den Sombreros, »wegen Aggression und allgemeiner Unentspanntheit«51 zur Strafe an einen Baum gefesselt. Wie ein Gefangener am Marterpfahl verbringt Mauser bei tosendem Unwetter die Nacht im Wald. Der Handlungsort Wald ist an dieser Stelle nicht zufällig gewählt, sondern verweist auf die inneren Entwicklungsprozesse des Protagonisten. Denn wie Stemmann herausstellt: »Der Wald ist ein tradiertes literarisches Symbol und Motiv für die Bewährung und insbesondere im Märchen häufig als Entwicklungsraum besetzt.«52 Genauso erfüllt die Wetterdarstellung hier eine metaphorische Funktion und spiegelt die inneren Vorgänge des Protagonisten.53 Auch in Mausers Inneren herrscht ein sturmartiges Chaos, das er mit den panischen Ausrufen »Erdbeermilch« und »Punchingball« zu artikulieren versucht. Die Erdbeermilch als Proteinlieferant nach dem Boxen und der Punchingball als Trainingsgerät stellen eine Verbindung zum Boxsport und damit zum Vater her, über die sich Mauser noch klar werden muss. Darüber hinaus symbolisiert das beliebte Kindergetränk die Kindheit und somit den noch nicht vollzogenen Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein. Die Nacht im Wald kann als rituell gekennzeichnete Umwandlung gesehen werden, in der Mauser unter körperlichen Schmerzen wie ein Gefangener am Marterpfahl einen symbolischen Initiationstod stirbt. Erst nach diesem Initiationstod findet bei Mauser eine Verarbeitung des Mordes seines Vaters an seiner Stiefmutter statt. In einem anschließenden Gespräch mit Zöllner im Wald lenkt der Vater wieder das Thema auf den Boxsport und hält Mauser dazu an, trotz der traumatischen Ereignisse am Boxkampf festzuhalten. In diesem Moment wird Mauser bewusst, dass er, wie Stichnothe schreibt, »seinem Vater zuliebe eine fremde Rolle gespielt hat und sein Boxer-Ich vor allen Dingen auch die Ver-

51 Ebd., TC: 01:18:00. 52 Anna Stemmann: »›Ich bin deshalb nicht schizo. Nur erwachsener, wenn es darauf ankommt.‹ Aspekte gestörter Adoleszenz in Nils Mohls’ Es war einmal Indianerland«, Nina Holst, Iris Schäfer und Anika Ullmann (Hrsg.): Narrating disease and deviance in media for children and young adults / Krankheits- und Abweichungsnarrative in kinder- und jugendliterarischen Medien, Frankfurt am Main: Lang 2016, S. 53–71, (S. 64). 53 Edda hatte Mauser bereits während der Fahrt zum Powwow auf die Unwetterwarnung im Radio aufmerksam gemacht und somit den Höhepunkt in der Auseinandersetzung mit seinem Ich metaphorisch vorausgesagt. Vgl.: Ilker C ¸ atak: »Es war einmal Indianerland«, Deutschland: Indigo 2017, TC: 00:53:34.

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wirklichung der Träume seines Vaters war.«54 Er äußert sich abfällig über den Boxsport und spricht davon, dass Zöllner ihm »den ganzen Kram [das Boxen]«55 eingebrockt habe. Trotz der Gemeinsamkeiten zwischen den beiden56 weist Mauser ein anderes Verhalten als sein Vater auf. Anstatt ihn zu schlagen, so wie es Zöllner im Streit mit seiner Frau Laura stets getan hat, boxt Mauser in den Baum neben sich, um seinem Ärger und seiner Wut Luft zu machen. Nach dem symbolischen Initiationstod gelingt es ihm, seine Wut und Aggression zu kanalisieren und kontrolliert mit ihnen umzugehen. Mit diesem Verhalten distanziert sich Mauser von seinem aggressiven Vater und scheint sich langsam als unabhängige Persönlichkeit definieren zu können. Das Grenzland Powwow wird folglich zum entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung des Protagonisten. Der Festivalbesuch bringt ihn schließlich dazu, seine eigenen Grenzen zu überschreiten: psychisch durch die Einnahme der Droge Chief und physisch durch die körperliche Marter als Gefangener im Wald. Die Grenzüberschreitungen sind hierbei als Umwandlungsriten zu verstehen, durch die Mauser einen rituellen Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein vollzieht – gekennzeichnet durch Mausers symbolischen Tod am Marterpfahl.57

Angliederungsriten – Rückkehr – Seebestattung Als Mauser das Waldstück samt Bohrmaschine verlässt, wartet Edda bereits mit dem Auto auf ihn, um ihm seine Mütze wiederzugeben. Auf der anschließenden Rückfahrt mit dem Auto fährt Edda einen Eber an, der noch am Unfallort stirbt. 54 Hadassah Stichnothe: »Der Initiationsroman in der deutsch- und englischsprachigen Kinderliteratur«, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2017, S. 126. Passend zu dieser Erkenntnis verweist auch der Filmtitel: »Es war einmal Indianerland« auf das kindliche Indianerspiel, welches durch Verkleidungen mit dem Wechsel und der Einnahme von unterschiedlichen Rollen verbunden ist. Durch die Verwendung des Präteritums deutet der Titel zusätzlich das Ende dieses Zustands voraus. Das Powwow-Motto »It’s all theater,« das als leuchtender, bunter Schriftzug das Festivalgelände schmückt, greift als Marker im Bildraum den Gedanken des Rollenspiels auf. 55 Ilker C ¸ atak: »Es war einmal Indianerland«, Deutschland: Indigo 2017, TC: 01:21:00. [Hervorhebung: L. B.] 56 »Ich höre mich schon an wie du.« Ebd., TC: 01:21:10. 57 Das Motiv der Grenze bzw. Grenzüberschreitung zeigt sich zusätzlich im Namen von Mausers Vater Zöllner. Zöllner kontrollieren für gewöhnlich als Grenzaufsicht die Einreise von Personen und Gütern an den Landesgrenzen. Auch Mausers Vater fungiert als eine Art Zollbeamter, der Mausers Übertritt über die Grenze in die Welt der Erwachsenen verhindert. Erst durch die Ablösung vom Vater, nach der direkten Auseinandersetzung mit ihm im Wald, kann Mauser im Sinne der Sequenzierung von Übergangsritualen in den Zustand des Erwachsenseins übertreten.

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Gemeinsam beschließen sie, ihn mittels einer Art Seebestattung zu beerdigen, der die Struktur eines Bestattungsrituals unterlegt ist. Sie legen den Eber in ein Kanu, in das Mauser zuvor Löcher mit der Bohrmaschine gebohrt hat, und beobachten gemeinsam dessen Versinken. Mauser wirft dem Kanu noch seine Mütze hinterher, die zu Mausers Verwunderung von einem Indianer aufgefangen wird, der sich, auf dem Kanu sitzend, mit der aufgefangenen Mütze in der Hand von Mauser verabschiedet. Das Kanu setzt das Geschehen nicht nur in Bezug zur Westernmetapher, die sich leitmotivisch durch den gesamten Film zieht, sondern weist als christliches Sinnbild für das Todesgeschehen auf einen neuen Anfang hin. Auch das Wasser wird zum Symbol für Tod und Wiedergeburt. Daniela Gretz schreibt in diesem Zusammenhang: »Im Rahmen des christlichen Taufsakraments erscheint das Wasser […] als lebensspendendes Element der Reinigung und Wiedergeburt.«58 Dass Mauser bei der Zeremonie im Wasser steht und nach dem Sinken des Kanus mit Edda küssend ins Wasser fällt, lässt sich demnach als Mausers symbolische Wiedergeburt und damit als Integration in die Erwachsenenwelt deuten. Der Abschied von Mausers weisem Begleiter, dem Indianer, versinnbildlicht den Abschied von seinem alten, unsicheren Ich, das nicht weiter auf die Unterstützung von einem archaischen, traditionelle Männerideale repräsentierenden Ich-Ideal angewiesen ist. Das Schwinden von Mausers Unsicherheiten hängt unmittelbar mit dem Ablegen der Mütze zusammen, die Mauser nach seinem ersten Boxkampf von seinem Vater geschenkt bekommen hat. Das Ablegen der Mütze versinnbildlicht das endgültige Loslösen von den sportlichen Karriereträumen – und damit den elterlichen Projektionen – des Vaters, die ihn in seiner Individuation bremsen; was ihm auch in der Nachricht (»Lass los«)59 in seinem Postfach auf dem Powwow bereits geraten wurde. Bei der Seebestattung macht Mauser zum ersten Mal von der Bohrmaschine Gebrauch, die er den gesamten Film über mit sich herumgetragen hat. Der rote Koffer lässt sich als seelischer Ballast deuten, der ihn durch den eigentlichen Grund für das Herumtragen, das Festschrauben des Punchingballs, an seinen Vater erinnert. Mit dem ersten Einsatz der Bohrmaschine verliert diese den Charakter des Ankers der Erinnerung an sein altes Leben und wird zum Symbol des vollendeten Übergangs zum Erwachsensein und zur endgültigen Ablösung von den väterlichen Projektionen.60

58 Daniela Gretz: »Wasser«, Günter Butzer / Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart: Metzler 2012, S. 475f. 59 Ilker C ¸ atak: »Es war einmal Indianerland«, Deutschland: Indigo 2017, TC: 01:02:30. 60 Interessant ist an dieser Stelle auch folgende Überlegung zur Farbsymbolik: Die Mütze und der Bohrmaschinenkoffer sind beide rot, eine Farbe, die genau wie Mausers Verhältnis zu seinem Vater, sowohl auf die Liebe als auch auf die Wut bezogen werden kann. Der Koffer und

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Die Bestattung leitet nicht nur Mausers Wiedereingliederung in ein selbstbestimmtes Dasein ein, sondern ist auch eine Entscheidung gegen Jackie und für Edda, in deren Gegenwart er über sein Gefühlsleben sprechen kann; so berichtet er ihr beispielsweise auf der Rückfahrt vom Powwow von seinen Indianer-Halluzinationen.61 Mit ihr macht Mauser zudem seine ersten sexuellen Erfahrungen, was eine andere Facette des Übergangs in die Erwachsenenwelt markiert. Edda ist es auch, die Mauser mit ihrer Absage an das beliebte Kindheitsgetränk Erdbeermilch62 das Ende seiner Kindheit vor Augen führt. Es lässt sich festhalten, dass die Seebestattung das Ende von Mausers Adoleszenz, die Loslösung von seinem Vater und den endgültigen Übergang von Kindheit zum Erwachsensein rituell ausgestaltet. Die Seebestattung kann also nicht nur als Bestattung des angefahrenen Ebers, sondern vielmehr als Bestattung von Mausers altem Ich aufgefasst werden. Mausers Boxkampf am Ende des Films wird analog hierzu als spirituelle Wiedergeburt inszeniert. Eine Großaufnahme zeigt Mausers Gesicht, das immer weiter herangezoomt wird, bis der Anschein erweckt wird, dass die Kamera scheinbar in Mausers Inneres hineinfliegt. Begleitet wird diese Einstellung von Mausers Erzählstimme aus dem off, die folgenden letzten Satz äußert: So könnte es sein. Du lässt los. Ich lasse los. Ich löse mich auf in Moleküle und Atome, nur um am Ende von unsichtbarer Macht gleich wieder zusammengesetzt zu werden, absolut identisch und doch ganz anders.63

Mit diesem Satz beschreibt Mauser den Zustand am Ende seiner Adoleszenz. Die Neuzusammensetzung der Moleküle symbolisiert die grundlegende existenzielle Änderung seines Selbst: den symbolischen Tod des alten und die Geburt des neuen Ichs. Die umherschwebenden Moleküle stehen stellvertretend für seine Reise auf der Suche nach sich selbst und die identische, aber doch andere Zusammensetzung für die innere Reife, die er am Ende seiner Reise erlangt hat. Zu dieser inneren Reife gehören beispielsweise die Emanzipation vom Vater und der Abschied von seinem imaginierten, archaische Männlichkeitsideale transportierenden Indianer-Ich. Ines Galling formuliert die adoleszente Reise und die damit verbundene Veränderung treffend wie folgt: »[E]in Aufbruch bedeutet immer Veränderung. Geht man los, passiert etwas. Die Dinge geraten in Bewegung und man selbst auch.«64 Dass Mauser an dieser Stelle zum ersten Mal im Film von sich aus der

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die Mütze, beides Erinnerungsstücke an den Vater, weisen also auch als Marker im Bildraum auf Mausers ambivalentes Verhältnis zu seinem Vater hin. Vgl.: ebd., TC: 01:26:15. »Niemand mag Erdbeermilch.« Ebd., TC: 01:29:45. Ebd., TC: 01:32:15. Ines Galling: »Auf geht’s! Über das Weggehen«, in Buch und Maus, 2016/2, S. 2–5, (S. 5).

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Ich-Perspektive spricht, verdeutlicht noch einmal, dass der Zustand der inneren Zerrissenheit am Ende des Films durch den rituell vollzogenen Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein überwunden scheint. Auf der Zuschauertribüne sitzt Edda, die beim finalen Boxkampf nicht fehlen darf. Denn wie Galling herausstellt: »Der 17-Jährige erlebt durch sie seine zweite Geburt […].«65 Sie hat Mauser als Mentorin auf seinem Selbstfindungsprozess begleitet und steht ihm auch weiterhin während seiner Angliederung in die Erwachsenenwelt beratend zur Seite. Sie hat kurzerhand die Rolle des Indianers übernommen und ermutigt Mauser, nachdem er sich hilfesuchend zu ihr dreht, von der Zuschauertribüne aus durch eine Kriegsbemalungsgeste und zustimmendes Nicken zum Kampf,66 genauso wie es der Indianer nach Mausers Zusammenbruch auf der Brücke getan hat.67 Zurück im Ausgangsraum, dem Stadtraum, erfolgt schließlich Mausers Angliederung in die Erwachsenenwelt. Immer noch begleitet von Edda, gelingt ihm der Eintritt in ein selbstbestimmtes Leben, in dem er sich von den Projektionen seines Vaters emanzipiert und sich als unabhängige Persönlichkeit definiert. Die Verwendung des Konjunktiv II »So könnte es sein« legt die Vermutung nahe, dass es sich bei Mausers Reise zum Powwow nur um eine Imagination handelt, die sich bereits in seiner Frage an Edda nach der Seebestattung »Und wer sagt mir, dass das alles kein Traum ist?«68 andeutet. Kurz bevor sich Mauser diese Frage stellt, blickt er erstaunt auf Eddas Nacken, auf dem ein Tattoo mit media control-Zeichen zu sehen ist.69 Der Film arbeitet bereits in der Anfangssequenz mit den Symbolen für Play, Stop, Rewind und Fast Forward, um das Vorund Zurückspulen in der Handlung auch im Bildraum zu kennzeichnen. Das Tattoo kann in diesem Zusammenhang als Produkt von Mausers Fantasie gedeutet werden, das ihn an der Wahrhaftigkeit der Ereignisse auf dem Powwow zweifeln lässt. Dass sich die Erlebnisse auf dem Festival als eine mögliche Vorausdeutung interpretieren lassen, lässt sich mit dem Verweis auf die spiegelbildliche Anordnung von Figuren und Handlungselementen begründen. Dabei wird die Brückenszene nicht nur zum zentralen Wendepunkt sowohl auf der Handlungsebene als auch in der Entwicklung des Protagonisten, sondern vielmehr zur Spiegelachse der Ereignisse: Der Schauspieler Bjarne Mädel taucht im ersten Teil als Taxifahrer und im zweiten Teil als Verkäufer an einer Tankstelle auf. Ebenso haben die Mexikaner zwei Auftritte: einmal als Schwimmbadangestellte und 65 Ines Galling: »Indianer in der Pampa. Wann ist ein Mann ein Mann?«, in kids+media, 2014/2, S. 2–21, (S. 18). 66 Vgl.: Ilker C ¸ atak: »Es war einmal Indianerland«, Deutschland: Indigo 2017, TC: 01:32:00. 67 Vgl.: ebd., TC: 00:51:00. 68 Ebd., TC: 01:30:05. 69 Vgl.: ebd., TC: 01:29:50.

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einmal als Festivalbesucher. Auch die Polizisten, die Mauser auf der Polizeiwache ins Verhör nehmen, sind ein zweites Mal im Film zu sehen – und zwar als Festivalpolizei auf dem Powwow. Das Verhör auf der Polizeiwache, in dem Mauser ein Zwiegespräch mit seinem Vater imaginiert,70 wird gespiegelt und taucht auf dem Powwow in Form eines Gesprächs am Marterpfahl auf. Auch die surreale Darstellung der Rezeption der Festivals im Wald, der Smiley auf der Willkommensbotschaft auf dem Festival, der zufällig zu Mausers T-Shirt passt, sowie die doppelten Stauschilder tragen zum utopisch-irrealen Charakter des Festivalbesuches bei. Zudem wird der Ausgang des Films schon vor der Reise zum Powwow angedeutet: Die Entscheidung für Edda und gegen Jackie kündigt sich dadurch an, dass er die unzuverlässige und gefühlskalte Jackie versetzt, während Edda ihn auf ihren Postkarten immer wieder zu einem Treffen auffordert und ihm nach dem Mord an Laura durch Zöllner, ihre Hilfe bei der Suche nach seinem Vater anbietet. Darüber, ob Mauser die Reise zum Musikfestival nun fantasiert hat oder nicht, lässt sich nur spekulieren. Der Film trifft dazu keine eindeutige Aussage. Nichtsdestotrotz scheint Mauser am Ende deutlich gereift. Seine Identitätssuche ist an ein Ende gelangt und er kann sich als unabhängige Persönlichkeit in der Erwachsenenwelt definieren – oder wie Galling es treffend formuliert: Die Auseinandersetzung mit dem Vater […] [scheint] nun nicht mehr notwendig zu sein, ebenso wenig, wie das Spiel mit dem Rollenmuster / la Westernheld und tougher Boxer. Sie markieren Stationen auf dem Weg, doch sie werden überwunden: Es war einmal Indianerland.71

Fazit Im Verlauf der Analyse wurde gezeigt, dass sich das grundlegende Schema der Übergangsriten in Ilker C ¸ ataks Jugendfilm Es war einmal Indianerland nachzeichnen lässt. Hin- und hergerissen zwischen Liebe und Unverständnis für den Vater, begibt sich Mauser auf die Suche nach ihm auf dem Powwow und durchläuft dabei einen Initiationsprozess. Die Brückenszene markiert als Ablösungsphase den Wendepunkt in der Entwicklung des Protagonisten und wird zum symbolhaften Moment des Aufbruchs als ritualisierte Loslösung vom alten Selbst. Mit dem Verlassen des vertrauten Stadtraumes wagt er mithilfe von Edda einen ersten Schritt in Richtung der Emanzipation von den väterlichen Projek70 Bei diesem imaginierten Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn auf der Polizeiwache findet Mausers erste Auseinandersetzung mit seinem Vater statt, die den Ablösungsprozess vom Vater andeutet. 71 Ines Galling: »Indianer in der Pampa. Wann ist ein Mann ein Mann?«, in kids+media, 2014/2, S. 2–21, (S. 18). [Hervorhebung im Original]

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tionen. Das Powwow wird zum Schwellenraum und zum entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung des Protagonisten. Die Droge Chief dient als Katalysator für Denkprozesse und die Konfrontation mit dem Selbst, die Mauser als ein Umwandlungsritus den Weg in Richtung Individuation ebnen. Während der anschließenden Nacht am Marterpfahl, in der Mauser den symbolischen Initiationstod stirbt, vollzieht er eine rituell gekennzeichnete Umwandlung, nach der eine Auseinandersetzung mit seinem Vater stattfinden kann. Die Angliederung in die Erwachsenenwelt erfolgt durch die Seebestattung, die nicht nur das Ende von Mausers Adoleszenz, sondern vielmehr die Ablösung von seinem Vater und den endgültigen Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein rituell nachzeichnet. Mausers Boxkampf am Ende des Films wird als spirituelle Wiedergeburt inszeniert, durch die sich seine Integration in die Welt der Erwachsenen vollzieht: als unabhängige Persönlichkeit, emanzipiert von den Projektionen des Vaters. Eine interessante Anschlussfrage wäre sicherlich, warum dem Film das dreigliedrige Schema der van Gennep’schen Übergangsriten unterlegt ist, wenn kollektive Initiationsriten in unserer heutigen Gesellschaft keine allgemeine Gültigkeit mehr besitzen.72 Die Adoleszenz wird heute vielmehr als kulturelle Konstruktion verstanden, die eng mit dem Begriff der Sozialisation, also einem individuellen Lernprozess, ohne mythologische Konnotation, zusammenhängt.73 Dass das Initiationsmuster Es war einmal Indianerland als Strukturprinzip immanent ist, lässt sich möglicherweise vor dem Hintergrund von Mausers brüchiger bzw. dysfunktionaler familiärer Situation und seiner damit verbundenen Sehnsucht nach Halt und Struktur erklären. Interessant wäre daher eine vertiefende Analyse des Zusammenhangs von den geschilderten Initiationsmustern und der psychischen Verfassung der adoleszenten Figuren. Darauf aufbauend könnte die dynamische Familienstruktur bzw. ihr Einfluss auf die Darstellung von Adoleszenz analysiert werden. In Hinblick auf die ästhetische Ausgestaltung von Mausers ritueller Initiation erscheint die Fokussierung der filmischen Inszenierung und nicht die des sprachlich-abstrakten Zeichenträgers Roman sinnvoll: Dem visuellen Medium Film gelingt es, über den Einsatz von bildästhetischen Strategien die narrativen Besonderheiten des Prätextes wie etwa die unterlegte Struktur der »rites de passage« für den/die Rezipient*in deutlich zu markieren und so das Initiationsmuster als Strukturprinzip in zeitgenössischer Jugendliteratur bzw. -filmen nachzuweisen.

72 Vgl.: Matthias Hurst: »Tod und Wiedergeburt. Literarische Formen der Initiation und der Individuation«, in Wirkendes Wort, 2002/52, S. 257–275, (S. 261). 73 Vgl.: ebd., S. 260.

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Von Peter Banning zu Pan zu Peter – Der Weg der Individuation nach Carl Gustav Jung in Spielbergs Hook

Einleitung Es ist bekannt, dass sich viele von Hollywoods Filmemacher*innen an Joseph Campbells Theorie der Heldenfahrt orientieren.1 Neben Stanley Kubrick und George Lucas bekennt auch Steven Spielberg den Einfluss, den Campbell auf ihn ausübte.2 In einer groß angelegten Vergleichsstudie zahlreicher Mythen, Volkssagen und Erzählungen der Weltkulturen arbeitet Campbell ein Schema heraus, das allen diesen Geschichten zugrunde liegt. Stets handeln sie von einer/ einem Held*in, die/der durch höhere Kräfte veranlasst wird, seine Heimat zu verlassen, um eine scheinbar unlösbare Aufgabe zu bewältigen (Besiegung des Bösen, Bergung eines Artefakts etc.). Auf diesem Weg muss sie/er Prüfungen bestehen und über sich hinauswachsen, um letztlich als gereifte Persönlichkeit zurückzukehren. Leicht lässt sich diese Struktur der Heldenfahrt auch in Spielbergs Hook ausfindig machen: Peter Pan ist erwachsen geworden, muss jedoch ins Neverland zurückkehren und seine Kinder befreien, um – gestärkt durch viele Herausforderungen – ein guter Familienvater zu werden. Campbell stützt sich in seinen Untersuchungen maßgeblich auf Carl Gustav Jungs Tiefenpsychologie, insbesondere Jungs Theorie der Archetypen und Individuation.3 Ich möchte in meinem Beitrag aufzeigen, dass die Figur Peter Bannings alias Peter Pan im Laufe des Films eine Entwicklung vollzieht, die einem Individuationsprozess entspricht, wie ihn Jung beschrieben hat. Dabei 1 Vgl.: Joseph Campbell: »Der Heros in tausend Gestalten«, Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch 2007. 2 Vgl. u. a.: Kevin Jackson: »Arts: The man who was Yoda. How did an obscure scholar called Joseph Campbell inspire so much of our mass culture?«, verfügbar unter : https://www.inde pendent.co.uk/arts-entertainment/arts-the-man-who-was-yoda-1115705.html [28. 08. 2019] sowie Will Linn: »Joseph Campbell is the Hidden Link Between 2001, Star Wars, and Mad Max: Fury Road«, verfügbar unter : https://www.indiewire.com/2018/03/joseph-campbell-herosjourney-2001-star-wars-1201937470/ [28. 08. 2019]. 3 Vgl.: Joseph Campbell: »Der Heros in tausend Gestalten«, Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch 2007, S. 14, S. 26 und S. 247ff.

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funktionieren vor allem drei Figuren des Films als diejenigen Archetypen, denen das Individuum begegnen muss, um eine erfolgreiche Individuation zu vollziehen und damit zum Selbst zu werden: dem Schatten, der Anima und dem alten Weisen. Bei dem Schatten handelt es sich um die »dunklen Aspekte der Persönlichkeit,«4 die meiner Analyse zufolge im Film durch die Figur Rufio verkörpert werden. Während Peters Kampf mit Rufio seiner Auseinandersetzung mit den Werten der Gesellschaft (der Persona) dem persönlichen Unbewussten entspricht, findet der Kampf mit Hook (dem alten Weisen) in einem Bereich statt, den Jung als kollektives Unbewusstes bezeichnet. Die Anima ist Symbol der Beziehung zum Unbewussten, die, solange sie unbewusst ist, auf andere Figuren oder Personen projiziert und als ein Fremdes erfahren wird.5 Diese Rolle kommt, wie ich zeigen möchte, in Hook u. a. den Personen Moira, Wendy und der Fee Tinker Bell zu. Mein Beitrag wird sich in drei Teile gliedern: Zunächst werde ich kurz die für meine Fragestellung relevanten Aspekte der analytischen Psychologie Jungs skizzieren, um daraufhin den Film Hook unter Berücksichtigung der Archetypen- und Individuationslehre zu analysieren. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse wird – mit einem kurzen Ausblick auf die Unterschiede zur Peter PanFigur Barries in Hinsicht auf deren Entwicklungsaspekt – den Beitrag abschließen.

Die Theorie der Individuation nach Carl Gustav Jung – Das Unbewusste Während Sigmund Freud davon ausgeht, dass das Unbewusste durch Erziehung Unterdrücktes und daher Verdrängtes beinhaltet, das potenziell durch die Analyse zurück ins Bewusstsein gerufen werden kann,6 geht Jung von einem erweiterten Begriff des Unbewussten aus. Er führt aus, dass es neben Persönlichem auch Anteile im Unbewussten gibt, die »über das Persönliche hinausreichen«7 und entsprechend nicht erinnert werden können, sondern durch das Individuum angeeignet werden müssen. Diese nicht-erinnerbaren Anteile des Unbewussten enthalten, so Jung, »Unpersönliches, Kollektives in Form vererbter

4 Carl Gustav Jung: »Gesammelte Werke: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst«, Bd. 9, Zweiter Halbband, Olten und Freiburg: Walter 1989, S. 17. 5 Vgl.: Carl Gustav Jung: »Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten«, Ders.: Gesammelte Werke Bd. 7: Zwei Schriften über analytische Psychologie, Olten und Freiburg im Breisgau: Walter 1989, S. 197–219. 6 Vgl.: ebd., S. 135f. 7 Ebd., S. 136.

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Kategorien oder Archetypen.«8 Entsprechend unterscheidet Jung zwischen dem »persönlichen Unbewußte[n]«, dessen Materialien insofern persönlicher Natur seien, »als sie einesteils als Erwerbungen der individuellen Existenz, anderenteils als psychologische Faktoren, die ebenso gut bewußt sein könnten, charakterisiert sind«9 und dem »kollektive[n] Unbewußte[n]«, das Jung zufolge »nicht individueller, sondern allgemeiner Natur ist.«10 Folglich sei das kollektive Unbewusste bei allen Menschen gleich und bilde »eine in jedermann vorhandene, allgemeine seelische Grundlage überpersönlicher Natur.«11 Inhalt desselben seien die sogenannten Archetypen, die Jung als »Urbilder,«12 »urtümliche Typen« oder »seit alters vorhandene allgemeine Bilder«13 beschreibt. Jung hat sich in seinen Studien mit einigen Archetypen ausführlich auseinandergesetzt. So könne der Mutterarchetyp in Träumen z. B. durch folgende Bilder in Erscheinung treten, die das »Mütterliche« im weitesten Sinne des Wortes umfassen: [D]ie persönliche Mutter und Großmutter ; die Stief- und Schwiegermutter; irgendeine Frau, zu der man in Beziehung steht, auch die Amme oder Kinderfrau, die Ahnfrau und die Weiße Frau, in höherem, übertragenem Sinne die Göttin, speziell die Mutter Gottes, die Jungfrau […]; in weiterem Sinne die Kirche, die Universität, die Stadt, das Land, der Himmel, die Erde, der Wald, […] in engerem Sinne als Geburts- oder Zeugungsstätte der Acker, der Garten, der Fels, die Höhle, der Baum […]; im engsten Sinne die Gebärmutter, jede Hohlform […]. Ein ambivalenter Aspekt ist […] der Drache (jedes verschlingende und umschlingende Tier, wie großer Fisch und Schlange); das Grab, der Sarkophag, die Wassertiefe, der Tod, der Nachtmahr und der Kinderschreck […].14

Anhand dieser Aufzählung lassen sich sehr gut die gegensätzlichen Eigenschaften des Archetyps beobachten. Dieses Spannungsverhältnis hat Jung im Fall der Mutter als »die liebende und die schreckliche Mutter«15 beschrieben. In Auseinandersetzung mit dem Film Hook werden vor allem die Archetypen des Schattens und der Anima von Bedeutung sein.

8 Ebd., S. 146. [Hervorhebung im Original] 9 Ebd., S. 143. 10 Carl Gustav Jung: »Gesammelte Werke: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst«, Bd. 9, Zweiter Halbband, Olten und Freiburg: Walter 1989, S. 13. 11 Ebd., S. 14. 12 Carl Gustav Jung: »Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten«, Ders.: Gesammelte Werke Bd. 7: Zwei Schriften über analytische Psychologie, Olten und Freiburg im Breisgau: Walter 1989, S. 197–219, (S. 145). 13 Carl Gustav Jung: »Gesammelte Werke: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst«, Bd. 9, Zweiter Halbband, Olten und Freiburg: Walter 1989, S. 14. 14 Ebd., S. 96. 15 Ebd., S. 97.

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Das Selbst und der Individuationsprozess Es sind die Archetypen des Schattens und der Anima, die Jung zufolge »am häufigsten und intensivsten das Ich beeinflussen respektive stören.«16 Sein Modell darüber, wie diese Störung möglich ist und wie sie behoben werden kann, lässt sich wie folgt skizzieren: Sowohl das Ich als auch Schatten und Anima sind laut Jung »abgesprengte Teilpsychen,«17 deren Gesamtheit das »Selbst«18 ausmacht. Jung nimmt an, dass jede dieser Teilpsychen autonom ist und nicht in eine andere aufgenommen oder überführt werden kann. Sie haben Einfluss auf das Ich, doch ihre Kräfte stehen ihm (zunächst) nicht zur Verfügung. Nur wenn das Ich, als der bewusste, vermittelnde Teil eines Menschen, von der Autonomie dieser Teilpsychen weiß und sie als autonom anerkennen, sich also von ihnen unterscheiden kann, steht es in einem ausgeglichenen Verhältnis zu ihnen. Den Prozess der zunehmenden Bewusstwerdung seiner selbst durch Differenzierung bezeichnet Jung als Individuation: Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte »Individuation« darum auch als »Verselbstung« oder als »Selbstverwirklichung« übersetzen.19

Wichtig ist Jung die Unterscheidung zwischen Individuation und Individualismus, die häufig verwechselt oder in eins geschoben würden. Individualismus sei ein »absichtliches Hervorheben und Betonen der vermeintlichen Eigenart im Gegensatz zu kollektiven Rücksichten und Verpflichtungen.«20 Individuation dagegen bedeute: eine bessere und völligere Erfüllung der kollektiven Bestimmungen des Menschen, indem eine genügende Berücksichtigung der Eigenart des Individuums eine bessere soziale Leistung erhoffen läßt, als wenn die Eigenart vernachlässigt oder gar unterdrückt wird.21

Doch wie wird man zum Einzelwesen? Wie verwirklicht man sich selbst? Jung erklärt, dass sich das Selbst »aus den falschen Hüllen der Persona […] [und der] 16 Ebd., S. 17. 17 Carl Gustav Jung: »Gesammelte Werke. Die Dynamik des Unbewußten«, Bd. 8., Olten und Freiburg: Walter 1971, S. 113. [Hervorhebung im Original] 18 Vgl.: Carl Gustav Jung: »Gesammelte Werke: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst«, Bd. 9, Zweiter Halbband, Olten und Freiburg: Walter 1989, S. 12. 19 Carl Gustav Jung: »Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten«, Ders.: Gesammelte Werke Bd. 7: Zwei Schriften über analytische Psychologie, Olten und Freiburg im Breisgau: Walter 1989, S. 197–219, S. 183. [Hervorhebung im Original] 20 Ebd. 21 Ebd.

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Suggestivgewalt unbewußter Bilder,«22 d. h. von Schatten, Anima bzw. Animus, befreien müsse. Dies geschehe durch ein »[f]ortlaufendes Bewußtmachen der sonst unbewußten Phantasien mit aktiver Anteilnahme am Phantasiegeschehen,«23 welches mithilfe der Psychoanalyse und der Fähigkeit und dem Willen zu Selbstkritik und -reflexion erreicht werden könne. Wenn dies gelinge, werde das Bewusstsein erweitert, indem unbewusste Inhalte bewusst gemacht und so der dominante Einfluss des Unbewussten nach und nach abgebaut werde, sodass eine Persönlichkeitsveränderung stattfinden könne.24 Das Ziel sei »die Erreichung des Mittelpunktes der Persönlichkeit«25, der sich zwischen Bewusstsein und Unbewusstem befinde und nicht mehr mit dem Ich zusammenfalle.26 Dies sei der »Punkt des neuen Gleichgewichtes,«27 den Jung mit dem bereits erwähnten Begriff des Selbst beschreibt,28 dem somit (neben seiner Bestimmung als Gesamtpsyche) auch eine zweite, diesmal teleologische Bedeutung zukommt.

Schatten, Anima/Animus und Persona Der Schatten besteht laut Jung vor allem aus den Inhalten des persönlichen Unbewussten und enthält die »dunkeln Aspekte der Persönlichkeit.«29 Nur wenn ein Mensch zur Selbstkritik in der Lage und dazu bereit sei, diese »dunklen Charakterzüge«30 anzuerkennen, so könne er sich seines Schattens bewusst werden. Es gebe jedoch bei fast jedem Menschen gewisse Züge, die der »moralischen Kontrolle«31 Widerstand leisten. Diese seien, wie Jung erläutert, häufig mit Projektionen verknüpft, die vom Subjekt selbst nur sehr schwer als solche enttarnt werden könnten, bedeute deren Erkenntnis doch meistens das Eingeständnis, eine rein illusionäre Beziehung zu einem Objekt gehabt zu haben.32 Jung spricht daher davon, dass die Projektionen die Umwelt

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Ebd., S. 184. Ebd., S. 227. Vgl.: ebd. Ebd., S. 229. [Hervorhebung im Original] Vgl.: ebd. Ebd. Vgl.: Jolan Jacobi: »Die Psychologie von C. G. Jung«, Zürich: Rascher 1949, S. 216. Carl Gustav Jung: »Gesammelte Werke: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst«, Bd. 9, Zweiter Halbband, Olten und Freiburg: Walter 1989, S. 17. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 18. 32 Vgl.: ebd.

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in das eigene, aber unbekannte Gesicht […] [verwandeln und somit zu einem] autoerotischen oder autistischen Zustand […] [führen,] in dem man eine Welt träumt, deren Wirklichkeit aber unerreichbar bleibt.33

Die Projektionen, die in den Bereich des Schattens fallen, ließen sich jedoch in der Regel durch Selbsterkenntnis und Therapie auflösen. Allerdings gebe es auch Projektionen, die sich fast unmöglich als solche entlarven ließen.34 Diese seien nicht mehr Teil des »gleichgeschlechtige[n] Schatten[s],«35 da sie sich auf das Gegengeschlecht bezögen. Jung spricht hier von dem Animus der Frau und der Anima des Mannes, die er als »zwei einander entsprechende Archetypen, deren Autonomie und Unbewußtheit die Hartnäckigkeit ihrer Projektionen erklären,«36 beschreibt. Anima und Animus personifizieren Jung zufolge Inhalte des kollektiven Unbewussten. Diese Inhalte könnten teilweise (z. B. mithilfe einer Therapie) als Projektionen erkannt und die »Wirkungen von Animus und Anima […] bewußtgemacht werden.«37 Allerdings nur teilweise, da sich Anima und Animus selbst als Archetypen der Anschauung entziehen würden. Sie selbst blieben autonom, auch wenn ihre Inhalte integriert werden könnten. Des Weiteren könnten uns Anima und Animus ebenso gut in unseren Träumen in vielerlei Gestalt (vgl. z. B. die Vielgestaltigkeit des Mutterarchetyps weiter oben) begegnen.38 Sich der eigenen Beziehung zum Unbewussten, zu Anima und Animus, bewusst zu werden, um sich von ihnen zu unterscheiden, ist Jung zufolge für eine erfolgreiche Individuation unerlässlich.39 Dem müsse jedoch notwendig die »Integration des Schattens, das heißt die Bewußtmachung des persönlichen Unbewußten«40 vorausgehen. Während der Schatten verhältnismäßig einfach »durch die Beziehung zu einem Gegenüber«41 realisiert werden könne, könnten Anima und Animus nur durch die »Beziehung zum Gegengeschlecht«42 ins Bewusstsein gerufen werden. Die »erste Trägerin des Seelenbildes«43 der Anima ist 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Ebd. Vgl.: ebd., S. 18f. Ebd., S. 19. Ebd. Ebd., S. 29. Vgl.: ebd., S. 28f. Vgl.: Carl Gustav Jung: »Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten«, Ders.: Gesammelte Werke Bd. 7: Zwei Schriften über analytische Psychologie, Olten und Freiburg im Breisgau: Walter 1989, S. 197–219, (S. 204). Carl Gustav Jung: »Gesammelte Werke: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst«, Bd. 9, Zweiter Halbband, Olten und Freiburg: Walter 1989, S. 31. Ebd. Ebd. Carl Gustav Jung: »Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten«, Ders.: Gesammelte Werke Bd. 7: Zwei Schriften über analytische Psychologie, Olten und Freiburg im Breisgau: Walter 1989, S. 197–219, (S. 206).

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(im Falle des Mannes) laut Jung die Mutter. Später seien es diejenigen Frauen, »welche das Gefühl des Mannes erregen, gleichgültig, ob in positivem oder in negativem Sinn.«44 Während die Mutter dem Sohn ein »Schutz gegen die Gefahren, die aus dem dunkeln [die] Seele bedrohen«45 sei, so werde der Vater zum »Schutz gegen die Gefahren der Außenwelt […] und auf diese Weise […] zum Musterbild der Persona.«46 Die Persona kann bei Jung als soziale Rolle verstanden werden. Sie steht zwischen dem Individuum und der Gesellschaft und funktioniert als eine Art Maske, die einerseits versucht, »einen bestimmten Eindruck auf die anderen zu machen, andererseits, die wahre Natur des Individuums zu verdecken.«47 Die »Konstruktion einer kollektiv passenden Persona,«48 also die erfolgreiche Verkörperung einer sozialen Rolle, erfordert vom Individuum laut Jung ein wahres Selbstopfer, welches das Ich geradewegs in eine Identifikation mit der Persona hineinzwingt, so daß es wirklich Leute gibt, die glauben, sie seien das, was sie darstellen.49

Genauso, wie die Außenwelt das Individuum zur Identifikation mit der Persona herausfordere, so versuche von innen die Anima das Ich zu unterdrücken.50 Für die Persona gilt im Hinblick auf die Individuation das gleiche wie für den Schatten und die Anima: Wie es nun für den Zweck der Individuation, der Selbstverwirklichung unerläßlich ist, daß sich einer davon zu unterscheiden weiß, als was er sich und anderen erscheint [als Persona], so ist es zu demselben Zweck auch nötig, daß er sich seines unsichtbaren Beziehungssystems zum Unbewußten, nämlich der Anima, bewußt wird, um sich von ihr unterscheiden zu können. […] In der Frage der Persona ist es natürlich leicht, jemandem klarzumachen, daß er und sein Amt zwei verschiedene Dinge sind. Von der Anima dagegen kann man sich nur schwer unterscheiden, und zwar darum so schwer, weil sie unsichtbar ist.51

Fassen wir also zusammen: Um den Weg der Individuation erfolgreich abzuschließen, muss sich das Individuum einerseits darüber bewusst werden, was es 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd. Jung betont aufgrund dieser Konstellation die Bedeutung einer erfolgreichen Trennung des Kindes von den Eltern. Misslingt diese – wie es Jung zufolge häufig der Fall beim »moderne[n] Kulturmensch« ist – finden problematische Übertragungen auf die einem am nächsten stehenden Personen statt, die nur schwer wieder aufzulösen seien (vgl.: ebd.). 47 Ebd., S. 201. 48 Ebd., S. 202. 49 Ebd. 50 Vgl.: Carl Gustav Jung: »Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten«, Ders.: Gesammelte Werke Bd. 7: Zwei Schriften über analytische Psychologie, Olten und Freiburg im Breisgau: Walter 1989, S. 197–219, (S. 203). 51 Ebd., S. 204.

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in der Gesellschaft für eine Rolle einnimmt und sich von dieser Rolle, seiner Persona, unterscheiden lernen, andererseits seine unbewussten, negativen Projektionen auf die Umwelt, seinen Schatten, erkennen und integrieren. Erst, wenn das Individuum um seine dunklen Charakterzüge, um sein persönliches Unbewusstes, seinen Schatten, weiß, kann es sich über seine Beziehung zum kollektiven Unbewussten, zu Anima und Animus, klar werden. Sich von diesen zu unterscheiden lernen, ist der vorerst letzte Schritt auf dem Weg zur Selbstwerdung. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildet laut Jung die Vereinigung mit dem Archetyp des alten Weisen, auf den ich im Zuge meiner Filmanalyse näher eingehen werde. Im Folgenden wird der Weg der Individuation der Figur Peter Banning alias Peter Pan (gespielt von Robin Williams) im Film Hook nachgezeichnet. Meine These lautet, dass andere Figuren des Films als unbewusste Teilpsychen Peter Bannings aufgefasst werden können, durch deren Integration er zunächst zu Peter Pan und letztendlich zum Vater wird.

Filmanalyse: Peters Individuation in Spielbergs Hook Zu berücksichtigen ist, dass die folgende Analyse den Film Hook einer rein tiefenpsychoanalytischen Lesart, und zwar der Tiefenpsychologie nach Jung, unterzieht. Eine solche Form der Analyse ist natürlich sehr einseitig und erhebt keineswegs den Anspruch, der Komplexität des Films gerecht zu werden. Sie ist lediglich eine Lesart unter vielen – jedoch eine sehr fruchtbare und gewinnbringende, wie zu zeigen sein wird.

Peter Banning – die Persona Analysiert man die Figur des Peter Bannings zu Beginn des Films, so müsste man mit Jung die Diagnose stellen, dass Peter Banning wirklich glaubt, das zu sein, was er darstellt,52 mit anderen Worten: Persona und Ich erscheinen identisch. Er gibt sich vollkommen seiner Rolle als Anwalt hin, vernachlässigt sein Privatleben und hält seine Versprechen gegenüber seinem Sohn zugunsten beruflicher Erfolge nicht ein. Von einem guten Anwalt erwartet die Gesellschaft, dass er allzeit erreichbar ist, und das ist Peter Banning, egal ob während des Theaterstücks seiner Tochter oder dem Besuch bei Wendy. Im Zweifelsfall sind es die Kinder, die

52 Vgl.: ebd., S. 202.

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stören, nicht das Telefon.53 In dieser Szene ist es seine Frau, Moira, welche die Funktion der Anima einnimmt und ihn an seine Rolle als Vater erinnert.54 Jung zufolge sind es immer die einem am nächsten stehenden Frauen, denen diese Rolle zufällt.55 So überrascht es nicht, dass zuvor Wendy, Peter Bannings Großmutter, Mutter und Geliebte in einem, diejenige ist, die auf Jacks Ausführungen, welchen Job sein Vater ausübt, feststellt: »So Peter, you’ve become a pirate!«56 Die Bedeutung dieser Aussage wird durch die dramatischer werdende Musik, den entsetzten Blick Wendys und die langsame Kamerafahrt auf Wendys Gesicht zusätzlich verstärkt. Es sind die gleichen Klänge von Blechbläsern, die uns im Film noch öfter motivisch die Piraten ankündigen werden. Dass Wendy und Moira eher eine Gegenposition zu den gesellschaftlichen Werten einnehmen, entspricht der Beziehung von Persona und Anima, die Jung als »kompensatorisch«57 charakterisiert. Wendy ist es auch, die Peter Banning nach der Entführung seiner Kinder daran erinnert, wer er (eigentlich) ist. Ironischerweise nimmt er die gleiche Position wie Peter Pan auf dem Bild ein, das Wendy ihm zeigt58 – und glaubt ihr nicht. Er hat keine Erinnerungen daran, was vor seinem 13. Lebensjahr geschehen ist. In der folgenden Einstellung sehen wir in der Nahaufnahme seine Hände ein Glas Schnaps einschenken und daraufhin mittels seines Schattenbildes an der Wand, wie er dieses Glas trinkt.59 Lesen wir hier den Schatten im Jung’schen Sinne als Form des Archetyps des Schattens, also als die »dunkeln Aspekte der Persönlichkeit,«60 so steht Alkoholkonsum in diesem Fall für Kontrollverlust (Peter wankt kurz darauf unsicheren Schritts, eindeutig betrunken, zum Fenster) und Betäubung der Erinnerung, was – typisch für den Schatten – in klarem Gegensatz zu der Persona Peter Bannings steht. Es folgt die Szene, in der Tinker Bell in das Kinderzimmer fliegt, um Peter abzuholen.61 Dieser – ganz Persona – glaubt nicht an Feen, und vermutet gleich einen »nervous breakdown« und eine Nahtoderfahrung, als Tinker Bell versucht, ihn am Kragen zum Fenster zu ziehen. Auf ihre Frage, wer sie ist, antwortet er : 53 Vgl.: Steven Spielberg: »Hook«, DVD, 136 min., Sony Pictures Home Entertainment, Collector’s Edition 2002 [USA 1992]. TC: 00:12:25. 54 Vgl.: ebd., TC: 00:13:44. 55 Siehe oben und vgl.: Carl Gustav Jung: »Gesammelte Werke: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst«, Bd. 9, Zweiter Halbband, Olten und Freiburg: Walter 1989, S. 206. 56 Steven Spielberg: »Hook«, USA 1992. TC: 00:11:29. 57 Carl Gustav Jung: »Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten«, S. 201. 58 Vgl.: Steven Spielberg: »Hook«, USA 1992. TC: 00:26:08. 59 Vgl.: ebd., TC: 00:26:41. 60 Carl Gustav Jung: »Gesammelte Werke: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst«, Bd. 9, Zweiter Halbband, Olten und Freiburg: Walter 1989, S. 17. 61 Vgl.: Steven Spielberg: »Hook«, USA 1992. TC: 00:27:20ff.

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You are a complex Freudian hallucination having something to do with my mother and I don’t know why you have wings, but you have very lovely legs. And you are a very nice tiny person and what I am saying? I don’t know who my mother was. I’m an orphan.62

Dieser etwas wirr und komisch (im belustigenden Sinn) anmutende Wortschwall (die Sprechgeschwindigkeit ist beeindruckend hoch) birgt ein paar interessante Details: Zum einen greift Peter Banning erneut auf rationale Erklärungen – in diesem Fall die Psychoanalyse – zurück, um Tinker Bells Existenz zu erklären, verfällt dabei jedoch in eine Art freie Assoziation, die tatsächlich eine Methode in der psychoanalytischen Therapie darstellt. Er assoziiert Tinker Bell sowohl mit seiner Mutter als auch mit einer potenziell begehrenswerten Frau, während er sich selbst die Rolle eines Säuglings zuspricht – und wie ein solcher wird er anschließend von Tinker Bell, eingewickelt in ein Tuch (er selbst ist nicht bei Bewusstsein), ins Neverland geflogen. Patricia Pace arbeitet diese Wiedergeburtsmetaphorik sehr treffend in ihrem Essay Robert Bly Does Peter Pan: The Inner Child as Father to the Man in Steven Spielberg’s Hook63 heraus. Sie schreibt: Spielberg’s film is replete with images indicating Banning’s imminent rebirth. When Tinkerbell returns him to Neverland, he is transported in a child’s blanket like a swaddled babe. His entry into a boy’s wonderland is filmically rendered as a veil or membrane opening. Shamefully banished from Hook’s ship, Banning is submerged in the ocean, tended by mermaids, then hauled out of the water in a womb-like basket, into the honey nest of Tink and the lost boys.64

Als Banning im Neverland unter dem Tuch erwacht,65 steckt er den Finger durch ein Loch in der Decke, murmelt »What a nightmare!« und ruft nach »Moira!« – wie ein Kind, das nach einem Albtraum nach seiner Mutter ruft. Doch Moira ist nicht seine Mutter und kann ihn nicht retten. Ebenso wenig kann er im Anschluss seine Kinder aus den Fängen Hooks retten, obwohl er tatsächlich ihr Vater ist, und nicht bloß eine Projektion. Er scheitert u. a. deshalb, weil er ganz und gar Persona bleibt. Peter Banning versucht mit seinem Ausweis, seine »wahre« Identität zu beweisen und zückt als Waffe sein Scheckbuch, während die Piraten mit Messern, Säbeln und Pistolen bewaffnet sind. Er verlässt sich auf die in seiner Welt geltenden Handelsverträge, was Hook zu dem Urteil veranlasst: »You’re not even a shadow of Peter Pan«66 – und damit liegt er richtig. Peters Schatten oder Archetyp, wie Pace formuliert, »is, of course, Pan, the horned god, his forgotten child-self, a modern revision of the primitive ancestor who offers 62 Ebd., TC: 00:30:20. 63 Patricia Pace: »Robert Bly Does Peter Pan: The Inner Child as Father to the Man in Steven Spielberg’s Hook«, in The Lion and the Unicorn, 20/1 1996, S. 113–120. 64 Ebd., S. 115. 65 Vgl.: Steven Spielberg: »Hook«, USA 1992. TC: 00:31:47. 66 Ebd., TC: 00:41:50.

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wisdom and guidance.«67 Sich seines Schattens zu erinnern, wieder Peter Pan zu werden, ist die Aufgabe, die nun vor Peter Banning liegt.

Pan, der Schatten Nachdem Peter Banning seine Kinder nicht aus dem in der Luft baumelnden Netz befreien konnte, weil er Höhenangst hat, ist es Tinker Bell, die Hook überredet, Banning und seine Kinder nicht umzubringen, sondern ihr eine Woche Zeit zu geben, um aus Peter Banning wieder Peter Pan zu machen. Letztendlich einigen sie sich auf drei Tage. Bei den verlorenen Jungs angekommen, fällen diese das gleiche Urteil wie Hook: »That ain’t Peter Pan.«68 Es folgt der Auftritt Rufios,69 der neben Hook der Gegenspieler von Peter sein wird. Rufio ist alles, was Peter Banning nicht ist: Er ist mutig, kampflustig, frech und unverschämt. Er verkörpert den ungezogenen Jugendlichen schlechthin, oder das »punk kid,« wie Banning ihn nennt. Auf Bannings Wunsch, mit einem Erwachsenen zu sprechen, entgegnet er : »All grownups are pirates! We kill pirates.« Peter Banning versichert zwar, dass er kein Pirat, sondern Anwalt sei, was Rufio allerdings nur zu der Kampfansage »Kill the lawyer!« veranlasst. Wieder ist es Tinker Bell, welche die verlorenen Jungs davon überzeugen kann, ihr zu helfen, Peter Banning wieder zu Peter Pan werden zu lassen.70 Seine Ausbildung umfasst Fitnessübungen, Schwertkampf und Flugübungen, die für Peter Banning in einem See aus Farben enden. Erst beim anschließenden Abendessen geht er als Gewinner aus einem Schimpfwortduell mit Rufio hervor und erlangt seine Fantasie zurück. Bezeichnenderweise feuern ihn die verlorenen Jungs während des Duells mit »Banning! Banning!« an und als er Rufio mit Essen bewirft, das eigentlich unsichtbar ist und erst durch die Kraft der Fantasie real wird, sprechen sie ihn als »Peter« an. Den Kampf gegen Rufio gewinnt er endgültig, als dieser ihn unfairerweise mit einer Kokosnuss während der Essensschlacht bewerfen will:71 Peter Banning pariert mit dem Schwert, das – so haben wir zuvor im Film erfahren – Peter Pans Schwert war. Im Hintergrund ertönt der berühmte Kikeriki-Laut Peter Pans, doch noch ist der Einfluss der Persona groß und Banning lässt, von sich selbst erschrocken, das Schwert wieder fallen. 67 Patricia Pace: »Robert Bly Does Peter Pan: The Inner Child as Father to the Man in Steven Spielberg’s Hook«, in The Lion and the Unicorn, 20/1 1996, S. 113–120, (S. 115). [Hervorhebung im Original] 68 Steven Spielberg: »Hook«, USA 1992. TC: 00:51:15. 69 Vgl.: ebd., TC: 00:51:51. 70 Vgl.: ebd., TC: 00:56:50. 71 Vgl.: ebd., TC: 01:17:20.

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Die endgültige Verwandlung in Peter Pan findet erst statt, nachdem er bei einem von den Piraten veranstalteten Baseball-Spiel Zeuge geworden ist, wie Hook für seinen Sohn Jack erfolgreich die Vaterrolle einnimmt, die er nicht zu erfüllen in der Lage war. Frustriert und verzweifelt versucht er – zurück im Baumhaus der verlorenen Jungs – zu fliegen.72 Er scheitert erneut und wird schließlich von dem Baseball getroffen, den Jack im vorigen Spiel zu weit geschlagen hatte. Peter Banning verliert das Bewusstsein und der Ball rollt in einen Teich. Als er sich über diesen beugt, um den Ball herauszufischen, erblickt er eine junge Version seines Spiegelbildes – das Bildnis Peter Pans.73 Verwundert holt er den Ball heraus, wirft ihn und sein Schatten im Hintergrund auf der Felswand wirft ihn noch einmal und führt ihn daraufhin in die alte Behausung, in der Tootles, Wendy, John, Michael und er selbst einst gewohnt haben. Er erinnert sich an seine Zeit im Nimmerland, an seine Mutter und seine Angst, erwachsen zu werden und irgendwann zu sterben; an seine Flucht von und Rückkehr zu seiner Mutter, bei der er feststellen musste, dass er ersetzt wurde. Er erinnert sich daran, wie er Wendy kennenlernte, wie sie älter wurde und er schließlich ihrer Enkelin Moira begegnete und ein »real kiss« ihn zum Bleiben veranlasste, denn er wollte Vater werden und diese Vaterschaft ist es, die nun zu seinem »happy thought« wird: Er kann wieder fliegen. »You are the Pan,«74 sagt Rufio, als er Peter Pan sein Schwert überreicht – Rufio, das »punk kid,« der Gegensatz zu Peter Banning, der Persona, und damit die Verkörperung dessen Schattens, unterwirft sich dem Pan. Dieser stößt nun endlich seinen Kikeriki-Laut aus und hat nicht nur Peter Banning, sondern auch seine Frau und Kinder vergessen. Die Integration des Schattens ist misslungen, denn Peter Pan ist nur noch Pan (altgriechisch: »alles«75), der Schatten Peter Pans. Nun bekommt Tinker Bell ihre Chance: Als sie feststellt, dass sich der Pan an nichts mehr erinnert und gemeinsam mit ihr Abenteuer erleben will,76 erfüllt sie sich einen Wunsch. Sie wird groß, gibt Pan einen »real kiss« und gesteht ihm ihre Liebe. Die Anima versucht Pan zu verführen, doch dieser erinnert sich an seine Frau, die nicht nur zufällig »Moira« heißt, was auf Altgriechisch das den »Göttern und Menschen zugeteilte Schicksal«77 bedeutet, und weist die Identifikation mit der Anima zurück: Damit wird er von Pan zu Peter Pan, der ins Neverland zurückgekommen ist, um seine Kinder zu befreien und der seine Frau, seine »Schicksalsgöttin«78 liebt. Wie wir durch Jung wissen, muss das Individuum sich 72 73 74 75 76 77 78

Vgl.: ebd., TC: 01:29:53. Vgl.: ebd., TC: 01:30:35. Ebd., TC: 01:39:28. »Pan« in Duden: Das Fremdwörterbuch, Mannheim: Dudenverlag 2010, S. 760. Vgl.: Steven Spielberg: »Hook«, USA 1992, TC: 01:40:55. »Moira« in Duden: Das Fremdwörterbuch, Mannheim: Dudenverlag 2010, S. 681. Ebd.

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von seiner Anima unterscheiden, sie als außer sich erkennen, um den nächsten Entwicklungsschritt zu vollziehen.79 Dieser besteht nun darin, seinen Mittelpunkt, sein Selbst zu finden. Bevor wir zur Auseinandersetzung mit der Figur Hook kommen, möchte ich kurz die bisherigen Ergebnisse zusammen: Zu Beginn des Films war Peter durch und durch Persona, er nahm in Perfektion die Rolle des Anwalts ein, der für seine Arbeit seine Familie vernachlässigt. Seine ursprüngliche Identität als Peter Pan hatte er erfolgreich verdrängt und keinerlei Erinnerungen mehr an sie. Sogar im Angesicht seiner ängstlichen Kinder auf dem Piratenschiff, hält er an den Konventionen fest und versucht, seine Kinder mit seinem Scheckbuch, statt mit einem Kampf zu befreien. Rufio tritt als diametrale Gegengestalt zu den Werten Peter Bannings auf und verkörpert insofern seinen Schatten, als er radikal mit Bannings Wert- und Normvorstellungen bricht. Nach und nach gelingt es Peter, seine Fantasie wiederzuerlangen, sich zu erinnern und zu fliegen – doch er wird nicht zu Peter Pan, sondern zu Pan. Wenn Rufio bloß die Verkörperung des Schattens war, so ist Peter zum Schatten in seiner maximalen Ausprägung geworden. Nun hat er seine Familie vergessen und denkt nur noch an Abenteuer, Spiel und Spaß – er ist durch und durch Triebwesen. Entsprechend hat sich auch die Gestalt der Anima verändert: Traten für den Anwalt Peter Banning noch Wendy und Moira als mahnende Anima in Erscheinung, so ist es nun Tinker Bell, die Peter verführt, sich seinem Unbewussten und der Welt des Neverlands hinzugeben. Dieser Verführung kann er widerstehen. Es gelingt ihm, seinen Schatten zu integrieren und seine Anima als Projektion zu erkennen. Pan ist zu Peter Pan geworden und sieht sich nun mit einem neuen Gegner konfrontiert: James Hook.

Der Kampf mit Hook und Peters Selbstwerdung Wenn dem Individuum die Integration des Schattens gelungen ist und es seine Anima erkannt hat, so entsteht Jung zufolge beim Mann eine Triade aus »männliche[m] Subjekt, [dem] gegenüberstehende[n] weibliche[n] Subjekt und [der] transzendente[n] Anima.«80 Doch bei Jung steht nicht die Triade für Vollkommenheit, sondern es ist das »zur Ganzheit fehlende Vierte,«81 das aus dem Individuum ein Selbst macht. Im Fall des Mannes ist es der Archetyp des 79 Vgl.: Carl Gustav Jung: »Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten«, Ders.: Gesammelte Werke Bd. 7: Zwei Schriften über analytische Psychologie, Olten und Freiburg im Breisgau: Walter 1989, S. 197–219, (S. 204). 80 Carl Gustav Jung: »Gesammelte Werke: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst«, Bd. 9, zweiter Halbband, Olten und Freiburg: Walter 1989, S. 31. 81 Ebd.

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alten Weisen mit dem das triadische Individuum eine Heiratsquaternio eingehen muss.82 Die Jung-Schülerin Jolan Jacobi beschreibt diesen Vorgang wie folgt: Denn es gilt nun, hineinzuleuchten in die geheimsten Falten des eigenen Wesens, in das, was das ureigenst Männliche […] ist […]. Es gilt, sich auseinanderzusetzen und wissend zu werden diesmal nicht im andersgeschlechtlichen Anteil der Psyche – wie bei Animus und Anima –, sondern gleichsam in dem, was das eigene Wesen ausmacht, das, was in einem der […] Nur-männliche Urgrund ist, bis zurück zu jenem Urbild, nach welchem es geformt wurde. […] Und es gilt die ganze Skala der Möglichkeiten bewußt zu machen, die man in sich trägt und in sich entfalten kann, vom primitivsten Urwesen in sich bis zu dessen höchstem, vielfältigstem und vollkommenstem Sinnbild.83

Wie wir aus der Archetypenlehre Jungs wissen, ist ein Archetyp stets ambivalent, er hat negative und positive Ausprägungen. Wenn Hook den alten Weisen verkörpert, wie es Ann Yeoman in ihrer gelungenen Studie Now or Neverland. Peter Pan and the Myth of Eternal Youth. A Psychological Perspective on a Cultural Icon84 zu Barries Roman vorschlägt, so haben wir es bei der Figur Hook eindeutig mit einem Negativbild des alten Weisen zu tun. Yeoman charakterisiert die Romanfigur Peter Pan mit Jungs Worten als »puer aeternus,« den ewigen Jüngling oder auch »Kindgott.«85 Yeoman analysiert: The puer, by definition, must resist the senex. Paradoxically, however, as much as puer and senex must define themselves in opposition to each other, they need to realize themselves through each other. […] For the puer to realize heroic qualities of consciousness, ›Hook or me‹ must alternate with ›Hook and me.‹ There is a need for creative tension within the puer-et-senex configuration rather than denial of each pole by the other.86

Was der Romanfigur Peter Pan nicht gelingt, indem sie nicht über den Gegensatz »Hook oder ich«87 hinauskommt, bringt die Filmfigur Peter Pan zustande: Nicht nur auf der rein wörtlichen Ebene, auf der Peter Pan zu den verlorenen Jungen sagt: »It’s Hook and me this time«88 – das »und« wird auch auf der Handlungsebene durch Peters Verzicht, Hook zu töten, symbolisiert. Peter Pan be82 Ebd. 83 Jolan Jacobi: »Die Psychologie von C. G. Jung«, 3. erweiterte und neu bearbeitete Aufl., Zürich: Rascher 1949, S. 213. [Hervorhebungen im Original] 84 Ann Yeoman: »Now or Neverland. Peter Pan and the Myth of Eternal Youth. A Psychological Perspective on a Cultural Icon«, Toronto: Inner City Books 1998. 85 Vgl.: Carl Gustav Jung: »Gesammelte Werke: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste«, Bd. 9, erster Halbband, Olten und Freiburg: Walter 1989, S. 172. 86 Ann Yeoman: »Now or Neverland. Peter Pan and the Myth of Eternal Youth. A Psychological Perspective on a Cultural Icon«, Toronto: Inner City Books 1998, S. 141. [Hervorhebung im Original] 87 James Matthew Barrie: »Peter Pan«, aus dem Englischen von Angelika Eisold-Viebig, 11. Aufl., Würzburg: Arena: 2008, S. 193. [Hervorhebung: L. Z.] 88 Steven Spielberg: »Hook«, USA 1992. TC: 01:56:45. [Hervorhebung: L. Z.]

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findet sich gleich zwei Mal in der Situation, Gnade walten zu lassen bzw. auf einen Kampf zu verzichten.89 Hook dagegen besteht auf deren Ausschließlichkeit (das »oder«) und greift Peter selbst dann noch rücklings an, nachdem er durch ihn Gnade erfahren hat – und wird von dem Krokodil, der alles umschlingenden Mutter,90 verschluckt.91 Doch abgesehen von Peters Bereitschaft, Gnade walten zu lassen, sind es seine Kinder, die ihn in beiden Szenen bitten, sie nach Hause zu bringen und Hook und das Neverland hinter sich zu lassen. Man könnte sagen, sie sind Repräsentationen des Realen, das wie schon in der Szene, als Tinker Bell Pan verführen will und er sich in diesem Moment an Moira erinnert, seine Geltung beansprucht. Schließlich entstammen alle Figuren außer Jack, Maggie und Moira dem Neverland, einer Fantasiewelt. Es folgt erneut eine Art Wiedergeburtsszene: Peter erwacht auf eben jenem Platz, auf dem ihn Tinker Bell einst gefunden und ins Neverland gebracht hat.92 Er kehrt zu seiner Familie zurück, weder als Peter Banning, noch als Peter Pan, sondern als Familienvater und Ehemann, als Selbst, das um seinen Schatten und seine Anima weiß, sie anzuerkennen und zu integrieren gelernt hat und bereit ist, seinen Platz in der Wirklichkeit einzunehmen, ohne Aspekte derselben zu verdrängen. Und so lauten Peters letzte Worte und zugleich der finale Satz des Films: »To live would be an awfully big adventure.«93

Fazit Peter hat seine Kinder wohlbehalten nach Hause gebracht. Es ist ihm gelungen, Peter Banning, Peter Pan und seine Vaterschaft zu vereinen, oder, mit Jung gesprochen: ein »Selbst« zu werden. Seine Individuation ist vorerst abgeschlossen – doch ganz anders sieht dies bei Barries Romanfigur aus. Dort bleibt Peter Pan bei der Option »Hook oder ich« stehen – man könnte sagen, Pan akzeptiert keine anderen Götter neben sich – und so kommt es, dass Peter Pan am Ende des Romans der neue Kapitän auf dem Piratenschiff wird, nachdem er Hook besiegt hat. Wendy muss ihm einen Anzug aus Hooks Kleidern nähen und es geht das Gerücht um, dass Peter am ersten Abend, als er diesen Anzug trug, lange mit Hooks Zigarrenhalter in der Kajüte saß und eine Hand zur Faust geballt

89 Vgl.: ebd., TC: 01:54:40 und TC: 01:59:38. 90 Vgl.: Carl Gustav Jung: »Gesammelte Werke: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste«, Bd. 9, erster Halbband, Olten und Freiburg: Walter 1989, S. 96f. 91 Vgl.: Steven Spielberg: »Hook«, USA 1992. TC: 02:01:03. 92 Vgl.: ebd., TC: 02:06:35. 93 Ebd., TC: 02:10:54.

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hatte – bis auf den Zeigefinger, den er krümmte und drohend in die Luft hielt wie einen Haken.94 Peter »ist« Hook oder wie Ann Yeoman treffend herausarbeitet: Jung says of the shadow of the puer that it ›becomes fatal when there is too little vitality or too little consciousness in the hero for him to complete his heroic task.‹ In Peter Pan there is plenty of vitality, but too little consciousness. This is symbolized in Peter Pan’s reaction to the loss of his shadow which is snapped off when Nana closes the window in an attempt to catch him. Although we might argue that Peter Pan should be glad to be free of his shadow, this would presuppose his awareness of its content. However, in psychological terms, Peter’s physical attachment to his shadow (his request that Wendy sew it back on) describes an unconscious identification of ego and shadow. Such an identification explains his lack of self-reflective, objective distance, without which there may develop neither self-knowledge nor the desire to change.95

Es ist die Bereitschaft zur Aufopferung, die Yeomans Analyse zufolge die Voraussetzung für »transformation and spiritual growth«96 darstellt – und dieses Opfer ist es, das die Filmfigur Peter Banning/Peter Pan letztlich bereit ist, zu bringen. Er ist nun, um mit Joseph Campbells Worten zu schließen, »Herr der zwei Welten«97 und hat die »Freiheit zum Leben«98 erlangt. Seine Heldenfahrt ist – erfolgreich – beendet.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Barrie, James Matthew: »Peter Pan«, aus dem Englischen von Angelika Eisold-Viebig, 11. Aufl., Würzburg: Arena 2008.

Filme Spielberg, Steven: »Hook«, DVD, 136 min., Sony Pictures Home Entertainment, Collector’s Edition 2002 (USA 1992).

94 James Matthew Barrie: »Peter Pan«, aus dem Englischen von Angelika Eisold-Viebig, 11. Aufl., Würzburg: Arena: 2008, S. 223. 95 Ann Yeoman: »Now or Neverland. Peter Pan and the Myth of Eternal Youth. A Psychological Perspective on a Cultural Icon«, Toronto: Inner City Books 1998, S. 142. 96 Ebd. 97 Joseph Campbell: »Der Heros in tausend Gestalten«, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch 2007, S. 221ff. 98 Ebd., S. 229ff.

Der Weg der Individuation nach Carl Gustav Jung in Spielbergs Hook

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Sekundärliteratur Campbell, Joseph: »Der Heros in tausend Gestalten«, 4. Aufl., Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch 2007. Duden: »Das Fremdwörterbuch« Bd. 5, 10. aktualisierte Aufl., Mannheim: Dudenverlag 2010. Jacobi, Jolan: »Die Psychologie von C. G. Jung«, 3. erweiterte und neu bearbeitete Aufl., Zürich: Rascher 1949. Jung, Carl Gustav : »Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst«, Ders: Gesammelte Werke, Bd. 9, zweiter Halbband: 7. Aufl., Olten und Freiburg: Walter 1989. Jung, Carl Gustav : »Der Kampf mit dem Schatten«, Ders: Gesammelte Werke. Zivilisation im Übergang, Bd. 10, 3. Aufl., Olten und Freiburg: Walter 1986, S. 245–254. Jung, Carl Gustav : »Die Archetypen und das kollektive Unbewusste«, Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, erster Halbband, 7. Aufl., Olten und Freiburg: Walter 1989. Jung, Carl Gustav : »Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten«, Ders.: Gesammelte Werke. Zwei Schriften über analytische Psychologie, Bd. 7, 4. vollständig revidierte Aufl., Olten und Freiburg: Walter 1989, S. 127–234. Jung, Carl Gustav : »Die Dynamik des Unbewußten«, Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8., Olten und Freiburg: Walter 1971. Jung, Carl Gustav : »Gut und Böse in der analytischen Psychologie. Zivilisation im Übergang«, Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10, 3. Aufl., Olten und Freiburg: Walter 1986, S. 497–510. Pace, Patricia: »Robert Bly Does Peter Pan. The Inner Child as Father to the Man in Steven Spielberg’s Hook«, in The Lion and the Unicorn, 1996 20/1, S. 113–120. Yeoman, Ann: »Now or Neverland: Peter Pan and the Myth of Eternal Youth. A Psychological Perspective on a Cultural Icon«, Toronto: Inner City Books 1998.

Internetquellen Jackson, Kevin: »Arts: The man who was Yoda. How did an obscure scholar called Joseph Campbell inspire so much of our mass culture?«, verfügbar unter: https://www.indepen dent.co.uk/arts-entertainment/arts-the-man-who-was-yoda-1115705.html [28. 08. 2019]. Linn, Will: »Joseph Campbell is the Hidden Link Between 2001, Star Wars, and Mad Max: Fury Road«, verfügbar unter : https://www.indiewire.com/2018/03/joseph-campbellheros-journey-2001-star-wars-1201937470/ [28. 08. 2019].

Lisa Winter

Egoman(n)?: James Matthew Barries Peter Pan im Spiegel der Narzissmusforschung

Einleitung James Matthew Barries Figur Peter Pan ist ungeachtet ihrer ewigen Jugend mehr als hundert Jahre alt. Zu Beginn seiner Entwicklung als »Betwixt-and-Between«1 deklariert, verkörpert Barries fiktionaler Protagonist ein Mischwesen und bewegt sich zwischen real nachempfundenen Plätzen und fantastischen Welten. Ob in der 1902 erstmalig erschienenen und an Erwachsene adressierten Erzählung The Little White Bird oder besonders in Barries 1911 publiziertem Roman Peter and Wendy, der Mythos des »ewigen Jünglings« (auch Puer aeternus) und seiner Abenteuer in den Kensington Gardens und Neverland fasziniert und polarisiert seine Leser*innen bis heute gleichermaßen. Auch wenn die Disney-Verfilmung des Klassikers in den 1950er Jahren ein romantisiertes Bild der Figur Peter Pan kreierte, gab und gibt es zunehmend auch kritische Rezeptionen und Adaptionen des Protagonisten und seiner Geschichte. Hierzu gehören unter anderem Jacqueline Roses The Case of Peter Pan bzw. ihre Darstellung politischer und sozialer Konflikte in den 1980er Jahren sowie der 2012 erschienene Kurzfilm East of Kensington. The Dark Side of Peter Pan, der Peters Flucht mit den DarlingKindern als Kindesentführung inszeniert und deren traumatische Konsequenzen für die Darlings demonstriert.2 Ann Yeoman zufolge ist der Puer aeternus »never quite in life. He hovers above it all in the realm of fantasy, feeling, that life owes him a living, because he is special.«3 Die Vorstellung des ewigen Jünglings, die Yeoman in ihrer Monografie 1 Vgl.: James Matthew Barrie: »The Little White Bird«, London: Hodder and Stouton 1913 [1902], S. 149. 2 Vgl.: Jacqueline Rose: »The Case of Peter Pan or : The Impossibility of Children’s Fiction«, Philadelphia: University of Philadelphia Press 1984 sowie Kellen Moore: »East of Kensington«, Orange: Chapman University 2012. 3 Ann Yeoman: »Now or Neverland. Peter Pan and the Myth of Eternal Youth. A Psychological Perspective on a Cultural Icon«, Studies in Jungian Psychology by Jungian Analysts, 82, Toronto: University Press, 1998, S. 19. [Hervorhebung im Original]

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Now or Neverland anspricht, rekurriert auf die Theorie der Archetypen von Carl Gustav Jung und verdeutlicht, dass Barries Figur eine Projektionsfläche für psychologische Analysen bietet. Auch das von Dan Kiley diagnostizierte Peter-Pan-Syndrom thematisiert den (männlichen) Wunsch nach ewiger Jugend und Verantwortungslosigkeit. Zu den Symptomen gehöre ebenfalls Narzissmus.4 Narzissmus, der Sigmund Freud zufolge sowohl primär (gesund) als auch sekundär (pathologisch) auftritt, basiert auf Ovids gleichnamigem Mythos. Dieser stellt die Geschichte eines Jünglings dar, der sich in sein Spiegelbild verliebt.5 Selbstverliebtheit, aber auch die Unfähigkeit zu sozialer Integration, gelten als charakteristisch für Narzissten – und Barries Figur Peter Pan, deren mythologische Tradition sich unter anderem hier widerspiegelt. Im Folgenden wird thematisiert, wie Peters Inszenierung in Peter and Wendy dem Bild eines literarischen Narzissten entspricht und welchen Anteil seine Verbannung aus seinem Elternhaus in dem in diesem Kontext oft weniger beachteten Text The Little White Bird daran hat. Interessant ist hierbei Peters Verhältnis zu der literarischen Realität und Fiktion, das topografisch, aber auch sozial bedingt ist. So fungieren die Kensington Gardens zum einen und Neverland zum anderen sowohl als Orte der Imagination als auch Abkehr von der Realität und schaffen ein Spannungsfeld zwischen einer selbst kreierten Wirklichkeit und einem genuinen fantastischen Kontext. Untersucht wird der Zusammenhang der Werke Barries besonders daraufhin, ob Peter schon als Säugling in den Kensington Gardens narzisstische Züge aufweist, oder ob eine Entwicklungsgeschichte hin zum Helden des Mikrokosmos Neverland stattfindet. Hierbei muss natürlich beachtet werden, dass eine rein psychologische Untersuchung der Figur die Gefahr beinhaltet, etwaige Autorenintensionen bzw. zu große externe Einflüsse zu berücksichtigen und Figuren zu stereotypisieren.6 Daher soll die textimmanente Analyse inhaltlicher Aspekte und der Sprache der Figur sowie des Erzählers aus literaturwissenschaftlicher Perspektive dazu beitragen, Peters Entwicklung nachzuvollziehen. Des Weiteren werden weibliche Figuren in Gestalt der Mädchen Maimie und Wendy sowie die Fee Tinker Bell hinsichtlich ihrer Beziehung zu Peter beleuchtet. Zunächst sollen jedoch Ovids Mythos und ausgewählte Adaptionen dargestellt werden, die eine Grundlage für die Narzissmusforschung bilden. 4 Vgl.: Dan Kiley : »Das Peter-Pan-Syndrom. Männer, die nie erwachsen werden«, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Hamburg: Kabel 1987, S. 33 und S. 38. 5 Vgl.: Peter Zima: »Narzissmus und Ich-Ideal. Psyche. Gesellschaft. Kultur«, Tübingen: Franke 2009, S. 23ff. 6 Siehe auch: Ann Yeoman: »Now or Neverland. Peter Pan and the Myth of Eternal Youth. A Psychological Perspective on a Cultural Icon«, Studies in Jungian Psychology by Jungian Analysts, 82, Toronto: University Press, 1998, S. 16.

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Narzissmus als intertextuelles Motiv und mythologische Tradition Mit Blick auf Peter Pan stellen mythologische Betrachtungen ein interessantes Element dar. Ob paratextuell in Monique Chassagnols Peter Pan. Figure mythique oder Paula Bergers Peter Pan: A mythical figure, Barries Figur verweist bereits durch ihren Nachnamen auf die griechische Mythologie und den Hirtengott Pan.7 Monika Pelz unterstreicht die Beliebtheit Pans, die allerdings von einer Figur nicht geteilt worden sei: der Nymphe Echo. Ihre Liebe galt ausschließlich dem Jüngling Narcissus.8 […] Der Sohn des Cephisus war schon sechzehn Jahre alt geworden und konnte noch als Knabe und schon als junger Mann gelten. Viele Männer, viele Mädchen begehrten ihn. Aber solch Hochmut wohnte in der zarten Gestalt! Kein Mann, kein Mädchen konnte ihn rühren.9

Das vorliegende Zitat entstammt Ovids Mythos um Narcissus und Echo (8 n. Chr.). Deutlich wird in Narcissus’ Umgang mit der verliebten Nymphe Echo die Ursache für seine Abweisung: Er möchte niemandem gehören. Hingerissen von seinem eigenen Spiegelbild, verliert der Jüngling sich in Bewunderung und Einsamkeit, da er den Geliebten nicht erreicht. Dass dieser nur »eine Welle« ist, begreift er nicht und vergeht vor Sehnsucht.10 Übrig bleibt im Mythos eine weißgelbe Narzisse; auch in der Literatur und der bildenden Kunst hinterlässt Narcissus Spuren. So beschreibt Heinrich von Morungen in Mir ist geschehen als einem kindel%ne (um 1190) die Begegnung eines Kindes mit einem Spiegel und das kindliche Verlangen, nach dem Spiegelbild zu greifen: Mir ist geschehen als einem kindel%ne / daz s%on schoenez bilde in einem glase gesach / unde greif dar s%n selbes sch%ne / si vil, biz daz ez den spiegel gar zerbrach.11

Hochmut kommt besonders in Paul Val8rys Cantate du Narcisse. Libretto (1943) zum Vorschein, in dem Le Narcisse auf die Ausrufe der Nymphe Echo wie folgt antwortet: 7 Vgl.: Monique Chassagnol (Hrsg.): »Peter Pan. Figure mythique«, Paris: Chassagnol, 2010. Sowie : Paula S. Berger: »Peter Pan as a mythical figure«, Diss. Chicago: University of Chicago 1994. 8 Vgl.: Monika Pelz: »Gay, innocent and heartless. Der ewige Junge Peter Pan«, Wien: Studienund Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur 2004, S. 11. 9 Ovid: »Metamorphosen«, übersetzt und herausgegeben von Michael Albrecht, Stuttgart: Reclam 1994 [8 n. Chr.], V. 351–355. 10 Vgl.: ebd., V. 418. 11 Heinrich von Morungen: »Mir ist geschehen als einem kindel%ne« [1190], Ursula Orlowski / Rebekka Orlowski (Hrsg.): Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse. Vom Mythos zur leeren Selbstinszenierung, München: Fink, 1992, S. 127, V. 1–3.

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Que me veulent ces voix? […] Tout parle de Narcisse… / Les Roches et les bois / Tous parlent / la fois / Tout parle de Narcisse…12

Le Narciss spricht in der dritten Person von sich und argumentiert wie in Ovids Mythos: »Ma beaut8 n’est qu’/ moi…«13 The Disciple (1894) von Oscar Wilde eröffnet neue Dimensionen in der Betrachtung Narcissus’. Die Adaption ist ein Epilog, in dem der anthropomorphisierte Teich von Oreaden gefragt wird, ob Narcissus schön sei. Sie argumentieren, dass der Teich es nur wissen könne, weil Narcissus niemandem außer ihm Beachtung geschenkt habe.14 Der Teich beantwortet die Frage folgendermaßen: But I loved Narcissus because, as he lay on my banks and looked down at me, in the mirror of his eyes I saw ever my own beauty mirrored.15

Die Aussage impliziert eine Meta-Erzählung, in der auch der Teich narzisstische Züge aufweist. Dass dieser nicht nur eine Projektionsfläche darstellt, ist unter Berücksichtigung von Peter Zimas Beschreibung des Teichs als mütterlichem Spiegel interessant.16 Familiäre Verhältnisse sind ein wichtiger Bestandteil psychoanalytischer Betrachtungen des Narzissmus als Verhaltensstörung, die im Folgenden dargestellt werden.

Narzissmus und Dan Kileys Peter-Pan-Syndrom Um die psychoanalytische Perspektive besser nachvollziehen zu können, ist es erforderlich, grundlegende Gedanken zum Narzissmus als Verhaltensstörung zusammenzufassen. Freud unterteilt den Narzissmus in den primären und sekundären Narzissmus. Zima zufolge hatte Freud die Vorstellung von einem Normalzustand, dem primären Narzissmus, in dem die Ich-Libido in Objektlibido umgewandelt werden könne. Das bedeutet, dass der »natürliche Narzissmus«, den Freud mit dem Schlaf und dem Zustand des Intrauterindaseins vergleicht, in Gefühle zu anderen Menschen kulminieren kann. Nach einer »schweren Enttäuschung« könne diese jedoch zu einem sekundären Narzissmus führen. Hier werde die Ich-Libido in das Subjekt zurückgeführt.17 12 13 14 15 16

Paul Val8ry : «Cantate du Narcisse. Libretto» [1943], zitiert nach: ebd., S. 275. Ebd., S. 275. Vgl.: Oscar Wilde: »The Disciple« [1894], zitiert nach: ebd., S. 323f. Ebd., S. 323. Vgl.: Peter Zima: »Narzissmus und Ich–Ideal. Psyche. Gesellschaft. Kultur«, Tübingen: Franke 2009, S. 3. 17 Vgl.: ebd., S. 27.

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Ein Grundelement der Narzissmusforschung ist die ödipale Liebe zur Mutter. Zima führt im Kontext der Figur Narcissus aus, dass diese begreife, dass ihre Liebe keinem Objekt, sondern »ursprünglich der durch das Inzesttabu verbotenen und unzugänglichen Mutter galt.«18 Auch Thomas Ziehe zufolge ist die omnipotente Mutterrepräsentanz Grundlage einer narzisstischen Entwicklung. Die Homöostase (Bindung an die Mutter) repräsentiere die Idealvorstellung von Narzissten, die im Fall einer Kränkung als gefährdet betrachtet wird. Hieraus entstehe die Unfähigkeit zu intensiver Objektbeziehung und narzisstisches Ausweichverhalten vor Kränkungen.19 Für Kiley gehören Probleme mit der Mutter zu dem psychologischen Profil eines Mannes, der unter dem Peter-Pan-Syndrom leidet. Das von ihm diagnostizierte Syndrom umfasst neben Abneigung gegen Verantwortung, Angst, Einsamkeit und einem sexuellen Rollenkonflikt, Narzissmus und Chauvinismus.20 Kiley vergleicht den Narzissmus mit einem inneren Gefängnis. Betroffene litten unter Selbstzweifeln, die sie durch einen Drang nach Perfektion zu kompensieren suchen. In Bezug auf die Figur Peter Pan sei der Wunsch nach Perfektion als Schutzmaßnahme vor Angst und Einsamkeit zu verstehen.21 Yeoman integriert in ihre Untersuchung zu Peter Pan Jeffrey Satinovers Definition des Begriffes »selfhood« und paraphrasiert diese als eine »capacity for healthy introversion«, deren Fehlen zu einer Labilität im Umgang mit negativen Erfahrungen führe.22 Sowohl Kileys Ausführungen zu narzisstischen Verhaltensweisen als auch Satinovers Untersuchung des Puer aeternus beinhalten unter anderem Ausbeutung, Wut, Schuldlosigkeit, Rücksichtslosigkeit, Drogenmissbrauch und sexuelle Promiskuität als Charakterzüge.23 Dies trage maßgeblich zu einer »illusion of selfhood« bei.24 18 Ebd., S. 2. 19 Vgl.: Thomas Ziehe: »Pubertät und Narzißmus. Sind Jugendliche entpolitisiert?«, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1984, S. 127f. 20 Vgl.: Dan Kiley : »Das Peter-Pan-Syndrom. Männer, die nie erwachsen werden«, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Hamburg: Kabel 1987, S. 19 und S. 33. 21 Vgl.: ebd., S. 120. 22 Ann Yeoman: »Now or Neverland. Peter Pan and the Myth of Eternal Youth. A Psychological Perspective on a Cultural Icon«, Studies in Jungian Psychology by Jungian Analysts, 82, Toronto: University Press, 1998, S. 24. 23 Vgl.: Dan Kiley : »Das Peter-Pan-Syndrom. Männer, die nie erwachsen werden«, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Hamburg: Kabel 1987, S. 120ff. Sowie: Ann Yeoman: »Now or Neverland. Peter Pan and the Myth of Eternal Youth. A Psychological Perspective on a Cultural Icon«, Studies in Jungian Psychology by Jungian Analysts, 82, Toronto: University Press, 1998, S. 24. 24 Vgl.: Ann Yeoman: »Now or Neverland. Peter Pan and the Myth of Eternal Youth. A Psychological Perspective on a Cultural Icon«, Studies in Jungian Psychology by Jungian Analysts, 82, Toronto: University Press, 1998, S. 24.

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Auch Kiley differenziert die Wirklichkeit eines Narzissten deutlich von der Realität.25 Diese Theorie erscheint besonders im Kontext der Fantastik interessant, da bei Peter eine doppelte Abkehr von der Realität zu beobachten ist. Zum einen äußert sich diese in der Erschaffung einer eigenen, inneren Welt, die sich wiederum andererseits im fantastischen Mikrokosmos des Neverlands – einer Parallelwelt – widerspiegelt. Inwiefern Barries Protagonist tatsächlich den Kriterien eines Narzissten entspricht, wird die Analyse offenbaren.

The Little White Bird: Peters (narzisstischer) Ursprung in den Kensington Gardens? James Matthew Barries The Little White Bird stellt Peter Pans Ursprung dar, da Barries Figur im Alter von einer Woche ihr Elternhaus verlässt und fortan in den Kensington Gardens lebt. In der medialen Öffentlichkeit ist Peter vor allem aus Peter and Wendy bekannt. Forschungen zu Peter Pan beziehen sich in erster Linie auf die Abenteuer der Figur in Neverland. Holly Blackford beschreibt Peter Pan als »fundamentally narcisstic«26, wobei sich die Frage stellt, ob Peters »omnipotent narcissism« schon im Säuglingsalter, d. h. in der ersten Version der Figur, erkennbar ist.27 Der sieben Tage alte Peter ist zu Beginn der in The Little White Bird enthaltenen und mit: »Peter Pan« benannten Episode ein Außenseiter. Als ein Wesen, das weder Mensch noch Vogel ist, wird er auf der Insel der Vögel, auf die er nach seiner Flucht zurückkehrt, belächelt. Der Topos der Insel korreliert hierbei mit dem Eindruck der Einsamkeit des Protagonisten. Salomon, das Oberhaupt der Vögel, weist ihn darauf hin, dass er ein Nachthemd trägt und keine Flügel habe. Peter antwortet schüchtern: »I think, I shall go back to Mother.«28 Als er die Insel verlassen will, bemerkt er, dass er nicht mehr fliegen kann. »You see he had lost faith,«29 kommentiert der Erzähler. Bereits auf der Insel der Vögel wird ersichtlich, wie Peters Magie, d. h. seine Fähigkeit zu fliegen und seine Wirkung auf andere von seiner inneren Selbstwahrnehmung abhängig sind. Selbstliebe sowie das Ziel, in die Kensington Gardens zu gelangen, scheinen in diesem Moment 25 Vgl.: Dan Kiley : »Das Peter-Pan-Syndrom. Männer, die nie erwachsen werden«, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Hamburg: Kabel 1987, S. 123. 26 Vgl.: Holly Blackford: »Childhood and Greek Love, Dorian Gray and Peter Pan«, in Children’s Literature Association Quaterly, 2013/38/2, S. 177–198, (S. 180). 27 Vgl.: Adrian Smith: »Wendy’s story. Analytic perspectives on J. M. Barries Peter and Wendy«, in Journal of Analytical Psychology, 2012/57, S. 517–534, (S. 529). 28 James Matthew Barrie: »The Little White Bird«, London: Hodder and Stouton 1913 [1902], S. 158. 29 Ebd.

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unmöglich. Im Umgang mit den Bewohnern der Insel zeigt Peter kein narzisstisches Verhalten. Er gibt den Vögeln sein Nachthemd, damit diese Nester bauen können und bezahlt wiederum andere Vögel dafür, ihm ein Boot zu bauen. Als Peter es schafft, von der Insel aufs Festland der Kensington Gardens zu segeln, ändert sich sein sozialer Status. Der Protagonist ist begehrt, insbesondere da er für die Feen musiziert. Dennoch ist er an den Verhaltensweisen anderer Jungen interessiert und möchte wie ein normaler Junge spielen. Dies zeigt Peters Empathiefähigkeit und seinen Wunsch nach einer Zugehörigkeit zu anderen Kindern: Long before the time for the opening of the gates comes he steals back to the island, for people must not see him (he is not so human as all that), but this gives him hours for play, and he plays exactly as real children play.30

Der Wunsch, zugehörig zu sein, äußert sich auch in seinem Verhalten gegenüber seiner Mutter. Die Rückkehr zu ihr gestaltet sich für das Kleinkind als schwierig. »In two minds«31 kann Peter sich nicht entscheiden, ob er bei seiner Mutter bleiben oder Abenteuer in den Kensington Gardens erleben will. Auch hier muss sich der Protagonist zwischen einer gewöhnlichen Entwicklung im Elternhaus und einem Leben in einer Fantasiewelt wie den Kensington Gardens nach Torschluss entscheiden. Es fällt auf, dass Peter dem Äußeren seiner Mutter besondere Aufmerksamkeit widmet: »He was very glad she was such a pretty mother.«32 Außerdem ist er sich seiner Wirkung auf sie wohl bewusst: »In returning to his mother he never doubted he was giving her the greatest treat a woman can have.«33 Als seine Mutter im Schlaf Peters Namen flüstert, ist dies »as if it was the most wonderful word in language.«34 Die Verbindung scheint symbiotisch: Um sie zu trösten, spielt er ein Lied in der Melodie ihrer Intonation. Doch der Trost ist auch mit Selbstverliebtheit verbunden: »He thought this so clever of him that he could scarcely resist wakening her to hear her say : ›Oh, Peter, how exquisitely you play.‹«35 Peter entscheidet sich zunächst für ein Leben in den Kensington Gardens, obwohl er weiß, wie sehr seine Mutter darunter leidet. Der Protagonist verspricht ihr aber, endgültig zurückzukehren. Bei seiner zweiten Rückkehr erfährt Peter schmerzlich, dass seine Mutter das Fenster geschlossen hat und einen anderen Sohn in ihren Armen hält. »What a

30 31 32 33 34 35

Ebd., S. 165f. Ebd., S. 182. Ebd., S. 181f. Ebd., S. 182. Ebd., S. 183. Ebd., S. 184.

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glorious boy he had meant to be to her.«36 Peter erfährt die erste Enttäuschung seines Lebens. Sein Anspruch, der Einzige zu sein, zeigt sich ebenfalls in dem Umgang der Figur mit Maimie, einem Mädchen, das verbotenerweise nach dem Schließen des Parks in den Kensington Gardens geblieben ist. Die phonetische Parallele zwischen Maimie und Mummy, auf die Monika Pelz verweist, ist auch semantisch bedeutsam, da das Mädchen ihn bewundert und eine Projektionsfläche für ihn darstellt.37 Maimie erzählt Peter von seiner Reputation unter den Kindern und fungiert somit als anthropomorphisierter Spiegel. You can’t think how pleased Peter was to learn that all the people outside the gates knew about him […] he found that people knew a great deal about him, but not everything not that he had gone back to his mother and been barred out, for instance, and he said nothing of this to Maimie, for it still humiliated him.38

Peter kreiert zunehmend seine eigene Wirklichkeit. Sein Drang nach Perfektion äußert sich in seinem Wunsch, der Beste zu sein und negative Seiten zu verdrängen. Als Maimie ihn als »bravest boy« bezeichnet, schreit Peter vor Freude. Im Überschwang fragt er Maimie, ob sie ihn heiraten möchte.39 Bewunderung und Anerkennung sind für Peter essentiell und lösen bei ihm eine Form von Verliebtheit aus. Diese erscheint in Anbetracht seiner späteren Teilnahmslosigkeit nach Maimies Rückkehr fraglich. Maimie, auf deren Rolle an späterer Stelle noch einmal eingegangen wird, fungiert in gewisser Weise als Ersatzmutter für Peter. In Peter and Wendy nimmt eine andere diese Rolle in Perfektion ein.

Peter Pans Selbstinszenierung in Peter and Wendy Der Paratext Peter and Wendy inszeniert Peter Pan als Hauptfigur. Auffällig ist, dass Wendy an zweiter Stelle erscheint. Während Peter Pan in The Little White Bird narzisstische Züge trägt, kann er in Barries 1911 erschienenem Roman als Narzisst bezeichnet werden. Die Erzählung beginnt mit Peters verlorenem Schatten, der ein Spiegelbild der Figur darstellt und dessen Verlust Peter verärgert.40 Er findet ihn in dem Haus der Darlings, deren Kinder Wendy, Michael und John Peter für seine Abenteuer 36 Ebd., S. 187. 37 Vgl.: Monika Pelz: »Gay, innocent and heartless. Der ewige Junge Peter Pan«, Wien: Studienund Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur 2004, S. 5. 38 James Matthew Barrie: »The Little White Bird«, London: Hodder and Stouton 1913 [1902], S. 213f. 39 Vgl.: ebd., S. 216. 40 Vgl.: James Matthew Barrie: »Peter and Wendy«, hrsg. von Jack Zipes, London: Penguin, 2004 [1911], S. 24.

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bewundern. Als er den Schatten gefunden und Wendy ihn angenäht hat, will Peter die Darlings verlassen. Die Aussicht, dass Wendy als Ersatzmutter agieren und ihm und den Lost Boys Geschichten in Neverland erzählen könnte, mündet schließlich in Peters Vorschlag, die Darlings mit nach Neverland zu nehmen. Peter weiß Wendy zu überzeugen: »Wendy, one girl is more use than twenty boys.«41 In erster Linie denkt er aber nicht an Wendy. Sprachlich fällt im Roman auf, dass Peter nicht an Eigenlob spart. So denkt er, dass er den Schatten angenäht habe: »How clever I am, he crowed raptourously, oh, the cleverness of me!«42 Außerdem sagt er in diesem Kontext: »I can’t help crowing, Wendy, when I am pleased with myself.«43 Sprachlich fallen Repetitionen nach Komplimenten auf. So kommentiert er seine Fähigkeit zu fliegen mit: »Yes, I am sweet, oh I am sweet!«44 Dies spricht für eine Unsicherheit, die er mit Komplimenten und Eigenlob kompensiert und unterstützt Kileys Forschung bezüglich mangelnden Selbstbewusstseins bei der Figur. Dass Peter der Beste und Angesehenste sein möchte, zeigt sich an seiner Stellung in Neverland. Er bestimmt über das Aussehen der Lost Boys und sorgt für den Eindruck, intelligenter und gebildeter als sie zu sein. Die Jungen sind für Peter Gesellschaft und Projektionsfläche zugleich. Sie bieten ihm Sicherheit und sind ihm ergeben. Gute Ideen seitens der Jungen macht Peter sich zu eigen: »Peter, seeing this to be a good idea, at once pretended that it was his own.«45 Neverland zentralisiert Peter Pan. Meerjungfrauen reden nur mit Peter, der Never Bird »screamed her admiration of him […], alas, Peter crowed his agreement with her.«46 Tinker Bell verachtet Wendy, da sie eine Sonderstellung genießt, Tiger Lily und ihr Stamm bezeichnen Peter Pan zu seiner Freude als »Great White father«.47 Der Ausdruck »make-believe« ist charakteristisch für den Protagonisten und seinen Narzissmus.48 Denn auch wenn Peter selbstverliebt wirkt und rücksichtslos agiert, offenbart er auch verletzliche Seiten. Zu Beginn von Peter and Wendy erläutert Peter das Verlassen seines Elternhauses damit, dass er immer Kind bleiben und nicht von seinen Eltern in eine von ihnen vorbestimmte Zukunft gezwängt werden wollte.49 Als Wendy und die Darlings Neverland verlassen, erzählt Peter seine wahre Geschichte. Peter wird zum zweiten Mal von einer Mutterfigur verlassen. Er versucht, seine Gefühle zu 41 42 43 44 45 46 47 48 49

Ebd., S. 26. Ebd. Ebd. Ebd., S. 33. Ebd., S. 63. Ebd., S. 87. Ebd., S. 88. Vgl.: ebd., S. 61. Ebd., S. 27.

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verbergen: »To show that her departure would leave him unmoved, he skipped up and down the room, playing gaily on his heartless pipes.«50 Peter vermittelt den Eindruck, unberührbar zu sein. Das Zeigen von Gefühlen würde seine Fassade der Perfektion beschädigen. Dies stellt in Anlehnung an Ziehe ein Ausweichverhalten vor Kränkungen und eine Unfähigkeit zur Objektbeziehung dar. Der Protagonist verachtet seine Mutter einerseits, kann sich andererseits aber nicht aus der Homöostase lösen. Er versucht, die Darlings und die Lost Boys zu überzeugen, dass Mütter schlecht sind.51 Als Wendy Peter vorschlägt, dass er nach seiner Mutter suchen solle, erwidert er : »Perhaps she would say I was old and I just want always to be a little boy and to have fun.«52 Peters Antwort zeigt, dass er noch immer darüber nachdenkt, was seine Mutter von ihm halten könnte. Sie impliziert, dass Peter Jugend mit Liebe verbindet und diese als essentiell für die Beziehung eines Kindes zu seiner Mutter betrachtet. Seine Unfähigkeit zu einer Objektbeziehung wird in Peters Interaktion mit Wendy deutlich, da er sich als ihren »devoted son«53 bezeichnet. Wendys (Wunsch-)Vorstellung, dass er die Vaterrolle und somit eine Art Ehemann von Wendy und Vater für die Lost Boys repräsentiere, verängstigt Peter zutiefst. Sein Verhalten unterstreicht eine deutliche Ablehnung realer Beziehungsmuster. Die Enttäuschung über die Ablehnung durch seine Mutter scheint bei ihm zu einer Subjekt-Libido im Freud’schen Sinne geführt zu haben, die seine Gefühle gegenüber anderen Menschen einschränkt. Die Ausprägung des sekundären Narzissmus ist jedoch nicht statisch. Vor der Rückkehr der Darlings gibt es Szenen, die zeigen, dass Peter nicht immer egoman ist. So zögert er mehrfach nicht, Wendy zu retten. Peter beherbergt zudem die Lost Boys und sucht auch für sie eine Mutter. Insgesamt überwiegt jedoch der Eindruck, dass die Figur durch Egoismus geprägt ist. Das liegt unter anderem daran, dass die narrative Instanz in The Little White Bird und Peter and Wendy durch ihre Kommentare zu diesem Eindruck beiträgt.

A cocky boy – Peter Pan im Spiegel des Erzählers In Barries erstem Roman mit Peters Beteiligung, The Little White Bird, ist die Erzählinstanz homodiegetisch, also Teil der erzählten Welt. Meist liegt eine interne Fokalisierung vor, die allerdings nicht auf eine Figur fixiert ist. Prägnant sind die Wertungen des Erzählers über Peter Pan.

50 51 52 53

Ebd., S. 101. Vgl.: ebd., S. 92. Ebd., S. 101. Ebd., S. 92.

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In The Little White Bird liegt eine besondere Erzählsituation vor, da der Erzähler mit der fiktiven Figur des jungen David kommuniziert und diese nach seiner Einschätzung befragt. Hiermit kreiert der Erzähler eine authentische Gesprächssituation.54 Der Erzähler adressiert gezielt die Lesenden und beurteilt Peter zunächst als »very good natured«.55 Er beschreibt seinen Wunsch, wie ein normaler Junge zu spielen, als »pathetic«: After that they laughed at Peter for being so fond of the kite, he loved it so much that he even slept with one hand on it, and I think this was pathetic and pretty for the reason he loved it was because it had belonged to a real boy.56

Peters vermeintliche Einsamkeit wird von der Erzählinstanz bewusst in Frage gestellt: »Do you pity Peter Pan for these mistakes? If so, I think it is rather silly from you.«57 Ein Wendepunkt in der Darstellung und der Erzählung ist Peters Rückkehr zu seiner Mutter. Der Erzähler trägt mit seinem Kommentar »I quite shrink from the truth that Peter sat there in two minds«58 zu dem Eindruck bei, dass Peter erwägt, egoistisch zu handeln. Die Tatsache, dass der Erzähler in der ersten Person Singular spricht, unterstreicht seine Dominanz. Er agiert wie eine väterliche Figur. In Peter and Wendy urteilt der nun heterodiegetische Erzähler über Peter Pan wie folgt: »To put it with brutal frankness, there never was a cockier boy.«59 Als Peter sich als »sweet« bezeichnet, kommentiert der Erzähler, Peter habe erneut »his manners« vergessen.60 Er fungiert hier als moralische Instanz. Durch das Betonen von Peters eingebildetem Verhalten wird der Eindruck, Peter sei ein Narzisst, verstärkt: The truth is that there was a something about Peter which goaded the pirate captain to frenzy. It was not his courage, it was not his engaging appearance, it was not — . There is no beating about the bush, for we know quite well what it was, and have got to tell. It was Peter’s cockiness.61

54 Vgl.: James Matthew Barrie: »The Little White Bird«, London: Hodder and Stouton 1913 [1902], S. 143. 55 Ebd., S. 150. 56 Ebd., S. 153. 57 Ebd., S. 168. 58 Ebd., S. 182. 59 James Matthew Barrie: »Peter and Wendy«, hrsg. von Jack Zipes, London: Penguin, 2004 [1911], S. 26. 60 Ebd., S. 33. 61 Ebd., S. 106.

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In den häufigen Beschreibungen von Peters eingebildetem Habitus fällt ein ironischer Unterton des Erzählers auf, der seine Kommentare inszeniert. Beispielsweise bei der Beschreibung der Reise ins Neverland: Feeling that Peter was on his way back to Neverland, the Neverland had again woke into life. We ought to use the pluperfect and say wakened, but woke is better and was always used by Peter.62

Wie die Lost Boys fügt sich auch der Erzähler in dieser Erzählsituation Peter sprachlich und ordnet sich unter. Dieser klingt allerdings belustigt und verhöhnt den Protagonisten. Hierbei muss aber konstatiert werden, dass er Peter bisweilen auch in Schutz nimmt. Etwa, wenn der Erzähler um Sympathie für den Protagonisten wirbt, in dem er Hooks Verhalten teils verurteilt. Außerdem bemitleidet er die Lost Boys und bezeichnet sie als »goats«, da diese am Ende bei Wendy einziehen und dem Leben in der Parallelwelt Neverland ein gewöhnliches Dasein vorziehen.63 Hiermit evoziert der Erzähler den Eindruck, dass Neverland der bessere Ort für die Jungen sei.

Wendy Darling – ein viktorianisches Stereotyp? Wendy Moira Angela Darling ist die weibliche Hauptfigur des Romans Peter and Wendy. Sowohl paratextuell als auch inhaltlich steht sie an zweiter Stelle. In Neverland unterscheidet sie sich von den anderen weiblichen Figuren. Adrian Smith bezeichnet diese als »exotic« und kontrastiv zu Wendy.64 Doch wäre es falsch, Wendy nur aus einer Perspektive zu betrachten. Das ebenfalls von Dan Kiley diagnostizierte Wendy-Dilemma thematisiert Frauen, deren Liebe Bemutterung gleicht. Das Dilemma zwischen traditionellem Frauenbild und Freiheit sei mit Angst vor eigener Verantwortung und Minderwertigkeitsgefühlen verbunden und schade einer Beziehung.65 Chris Routh charakterisiert Wendy als »little mother«, die zum viktorianischen Zeitgeist passe, in dem Mädchen oftmals erwachsen agierten und auf ein häusliches Umfeld beschränkt blieben.66

62 Ebd., S. 47. 63 Vgl.: ebd., S. 145. 64 Vgl.: Adrian Smith: »Wendy’s story. Analytic perspectives on J. M. Barries Peter and Wendy«, in Journal of Analytical Psychology, 2012/57, S. 517–534, (S. 526). 65 Vgl.: Dan Kiley : »Die Angst der Frauen, sie selbst zu sein. Das Wendy-Dilemma«, aus dem Englischen von Walter Brumm, Hamburg: Kabel, 1988, S. 7f. 66 Vgl.: Chris Routh, »Man for the sword, and for the Needle She. Illustrations of Wendy’s Role in J. M. Barrie’s Peter and Wendy«, in Children’s Literature in Education, 2001/32/1, S. 57–75, (S. 59f.).

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Shelly Rakover beschreibt Wendys Entwicklung hingegen als Emanzipation.67 Smith assoziiert sie zum Teil mit einem pubertären Narzissmus. Dies wirkt in Anbetracht der mütterlichen Wendy zunächst irritierend. Wendys narzisstisches Verhalten äußert sich Smith zufolge in der Omnipotenz und Identifikation mit ihrer Mutter. Smith stellt aber auch eine Entwicklungsgeschichte der Figur fest. Zunächst sei Wendy Darling ein »domesticated, overly adaptive and prim girl.«68 Tatsächlich hinterfragt Wendy zu Beginn ihre eigenen Bedürfnisse nicht. Susan Kissel verweist auf ihr Mitgefühl für Peter, als er sagt, dass er keine Mutter habe und ihre Unterstützung, indem sie ihn bei den Lost Boys als Vater bezeichnet und Respekt für ihn einfordert.69 Dennoch agiert Wendy nicht nur unterwürfig. Als Peter sich selbst lobt, obwohl sie seinen Schatten angenäht hat, erwidert sie sarkastisch: »You conceit […] of course I did nothing!«70 Auch im weiteren Verlauf des Romans reagiert Wendy auf Peters narzisstisches Verhalten ablehnend. Als Peter sich als »wonderful boy« bezeichnen lässt, geschieht das zu »Wendy’s pain«.71 Wendy fungiert, ähnlich wie der Erzähler, als eine moralische Instanz und bewirkt aufgrund ihrer Erziehung und ihres hieraus resultierenden rollenkonformen Verhaltens eine Konfrontation mit der viktorianischen Realität in der Parallelwelt des Neverlands. Peter und die Lost Boys stilisieren sie als »the Wendy«.72 Der Artikel »the« zeigt, dass Wendy auf einen Objektstatus reduziert wird, auf den wiederum ein Mutter-Ideal projiziert wird. Als sie Neverland verlassen möchte, überlegen die Lost Boys, sie gefangen zu nehmen, was ebenfalls zeigt, dass diese sie nicht als Subjekt anerkennen. Wendy möchte für Peter aber mehr als »the Wendy« sein. Der Aspekt der Pubertät, den Smith bei Wendy erkennt, zeigt sich bereits zu Beginn des Romans, als sie Peter küsst und an späterer Stelle in Neverland fragt: »Peter, what are your exact feelings for me?«73 Wendy ist enttäuscht von Peters unerwiderten Gefühlen, spricht aber – den zeitlichen Konventionen entsprechend – nicht offen über ihre. Dennoch ist bei der sonst höflichen Protagonistin sprachlich ein Wandel erkennbar. Sie bezeichnet Tinker Bell als »abandoned 67 Vgl.: Shelly Rakover »Why Wendy does not Want to be a Darling: A New Interpretation of Peter Pan«, verfügbar unter : http://www.psyartjournal.com/article/show/rakover-why_ wendy_does_not_want_to_be_a_darling, [28. 03. 2016]. 68 Vgl.: Adrian Smith: »Wendy’s story. Analytic perspectives on J. M. Barries Peter and Wendy«, in Journal of Analytical Psychology, 2012/57, S. 517–534, (S. 517, S. 519, S. 520 und S. 526). 69 Vgl.: Susan Kissel: »But when at last she really came, I shot her : Peter Pan and the Drama of Gender«, in Children’s Literature in Education, 1988/19.1, S. 32–41, (S. 34). 70 James Matthew Barrie: »Peter and Wendy«, hrsg. von Jack Zipes, London: Penguin, 2004 [1911], S. 26. 71 Ebd., S. 80. 72 Ebd., S. 59. 73 Ebd., S. 92.

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little creature«74 und reagiert sarkastisch auf Peters Vermutung, dass Tinker Bell seine Mutter sein wolle. Rakover geht zudem auf den Aspekt der Realitätsabkehr ein, die der Aufenthalt in Neverland für Wendy bedeutet. Sie definiert ihre Emanzipation als Rückkehr in die normale Welt.75 Einerseits agiert Wendy altruistisch, da sie sich um Peter und die Lost Boys kümmert, andererseits tut sie dies im Bewusstsein, bewundert zu werden. Doch auch wenn Wendys narzisstische Züge mitunter deutlich werden, lobt sie sich im Gegensatz zu Peter nicht selbst und agiert empathischer als er. Insgesamt überwiegt das Bild der schwärmenden Protagonistin. Auch als Erwachsene ist sie noch immer mit Peter verbunden. Dieser wird jedoch nicht nur von einem weiblichen Wesen begehrt.

Kontrastfiguren: Tinker Bell, Maimie und ihr Verhältnis zu Peter Pan76 Tinker Bell stellt eine Kontrastfigur zu Wendy dar. Mit ihrer vulgären Sprache und ihrer offensichtlichen Eifersucht, die sie zu Gewalttaten verleitet, unterscheidet sie sich diametral von der höflichen Wendy. Tinker Bell beantwortet fast alle Fragen mit einem Satz: »You silly ass!«77 Dieser Satz wirkt zunächst banal, offenbart aber einiges über Tinker Bell. Peter versteht weder in Bezug auf Tinker Bell noch auf Wendy, welche Gefühle sie für ihn hegen. Obwohl Tinker Bell sie tätlich angreift, behandelt Wendy die Fee nachsichtig. Die weiblichen Figuren repräsentieren Pro- und Antagonistinnen, teilen aber ein ähnliches Schicksal: unerfüllte Liebe. Tinker Bell ist im Gegensatz zu Wendy abhängig von Peter, der ihre Sprache spricht und Feen sowie ihr Wesen aus seiner Zeit aus den Kensington Gardens kennt. Mehrmals im Text wird deutlich, dass Peter von den Feen beeinflusst wurde: »Peter could be exceedingly polite also, having learned the grand manner at fairy ceremonies, and he rose and bowed to her beautifully.«78 Auch der für

74 Ebd., S. 92f. 75 Vgl.: Shelly Rakover: »Why Wendy does not Want to be a Darling: A New Interpretation of Peter Pan«, verfügbar unter : http://www.psyartjournal.com/article/show/rakover-why_ wendy_does_not_want_to_be_a_darling, [28. 03. 2016]. 76 Tiger Lily wird hier nicht untersucht, da sie aufgrund der diskriminierenden Darstellung ihrer Kultur in einem ausführlicheren Kontext, aus postkolonialistischer Perspektive, betrachtet werden müsste. 77 James Matthew Barrie: »Peter and Wendy«, hrsg. von Jack Zipes, London: Penguin, 2004 [1911], S. 92. 78 Ebd., S. 24.

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Peter charakteristische Ausdruck »make-believe« entstammt den Feen.79 Hier wird deutlich, dass die Episode aus The Little White Bird tatsächlich als Vorgeschichte der Figur zu lesen ist. Die impulsive Tinker Bell erscheint als Begleiterin Peters zunächst unpassend, da sie ihn nicht offen bewundert. Nach Tinker Bells Attentat auf Wendy sagt Peter : »Listen, Tinker Bell, I am your friend no more. Begone from me for ever.«80 Interessanterweise bezeichnet Kiley Tinker Bell aber als ein Vorbild für Frauen, die am Wendy-Dilemma leiden. Sie sei dynamisch und ein Freigeist.81 Obwohl Tinker Bell keine Projektionsfläche für Peters Narzissmus darstellt und er einen rauen Umgangston ihr gegenüber pflegt, ist sie ihm wichtig. Als Tinker Bell sich für ihn opfert und die vergiftete Medizin trinkt, fordert Peter sofort alle auf, ihr zu helfen. Tinker Bell stellt für ihn eine Konstante dar. Durch ihren Status als Fee verleiht sie ihm zudem Glanz und symbolisiert seinen Aufstieg, da Peter in den Kensington Gardens zu einer Berühmtheit wurde. Die Tatsache, dass Peter Tinker Bell als Freundin und mit einem Kosenamen (Tink) bezeichnet, unterstreicht dies. Aber auch bei ihr ist er sich nicht darüber bewusst, welche Gefühle Tinker Bell für ihn empfindet. »Suddenly he had an idea […] Perhaps Tink wants to be my mother?«82 Tinker Bells Eifersucht unterstreicht ihren Wunsch, an Peters Seite zu leben. Bezeichnend ist, dass Peter auch sie vergisst. Peter assoziiert Zuneigung mit mütterlichen Gefühlen. Sein Verhältnis zu Maimie wirkt jedoch anfangs wie eine Liebesbeziehung. Kiley konstatiert, dass Sprünge im Spiegel eines Narzissten wichtig sind, da durch sie die Betroffenen mit der Realität konfrontiert würden.83 Maimie kann metaphorisch als ein solcher Sprung aufgefasst werden. Durch ihren Aufenthalt in den Kensington Gardens nach Torschluss, befindet sie sich in einer Welt, die anderen Menschen unbekannt ist. Maimie ist Peters Realitätsbezug, der sein wenig narzisstisches Verhalten ihr gegenüber betont. Im Vergleich zu Wendy, die Peter nicht von einer Rückkehr in die menschliche Welt überzeugen kann, ist Peter zu Beginn seiner Entwicklung noch offen für derartige Einflüsse.

79 James Matthew Barrie: »The Little White Bird«, London: Hodder and Stouton 1913 [1902], S. 174. 80 James Matthew Barrie: »Peter and Wendy«, hrsg. von Jack Zipes, London: Penguin, 2004 [1911], S. 59. 81 Dan Kiley : »Die Angst der Frauen, sie selbst zu sein. Das Wendy-Dilemma«, aus dem Englischen von Walter Brumm, Hamburg: Kabel, 1988, S. 14. 82 James Matthew Barrie: »Peter and Wendy«, hrsg. von Jack Zipes, London: Penguin, 2004 [1911], S. 93. 83 Vgl.: Dan Kiley : »Das Peter-Pan-Syndrom. Männer, die nie erwachsen werden«, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Hamburg: Kabel 1987, S. 122f.

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Maimie ist jedoch, anders als Wendy, nicht angepasst und höflich. Sie wird als merkwürdig beschrieben, da sie ihren Bruder Tony nachts erschreckt.84 In den Kensington Gardens kann Peter sie nur knapp vor dem Erfrieren retten. Als Maimie und Peter sich kennenlernen, ist dies mit »thimbles« und »kisses« verknüpft. Peter fragt Maimie sogar, ob sie ihn heiraten möchte. Dies impliziert echte Gefühle der Figur. Eine Bemerkung Peters schwächt diesen Eindruck aber ab. So sagt der Protagonist: »Oh, Maimie, […] do you know why I love you? It is because you are like a beautiful nest!«85 Die Nest-Metapher in The Little White Bird symbolisiert ein Zuhause und Geborgenheit. Als Peter seine Mutter wiedersieht, wird sie ebenfalls mit der Nest-Metapher versehen: »She lay with her head on her hand, and the hollow in the pillow was like a nest lined with her brown wavy hair.«86 Es stellt sich die Frage, ob Maimie wie Wendy eine Ersatzmutter ist. Peter ist sowohl »fond of« Wendy als auch Maimie.87 Aber nur zu Maimie sagt er, dass er sie liebt. Dies erscheint in Anbetracht des ErzählerKommentars nachvollziehbar : »He was so fond of her, he felt he could not live without her.«88 Maimie entscheidet sich, ungeachtet Peters Zuneigung, gegen ein Leben in den Kensington Gardens, da Peter in Bezug auf die Unmöglichkeit einer Rückkehr zu Maimies Familie aufrichtig zu ihr ist.89 Er agiert dementsprechend selbstlos. Im Gegensatz zu Wendy verlässt Maimie Peter endgültig. In der Zeit nach Maimie, die Peter zum Abschied eine Ziege schenkt, wartet er zunächst auf das Mädchen. Er ist aber nicht unglücklich, sondern freut sich über sein Geschenk. Es bleibt zu hinterfragen, ob die Beziehung zu Maimie als »make-believe« oder als eine Form echter Liebe zu lesen ist. Ebenfalls bedeutsam ist Maimies junges Alter : Sie ist erst vier Jahre alt.90 Trotz sehnlichst erwünschter, jedoch ausbleibender Liebesbekundungen von Peters Seite, wird Wendy stets auf ihn warten. Maimie hat ein scheinbar romantischeres Verhältnis zu Peter, entscheidet sich aber freiwillig für eine endgültige Rückkehr in die Realität und ist somit in gewisser Hinsicht eine Kontrastfigur zu Wendy, die sich nur schwer von Peter und der Erinnerung an die Fantasiewelt Neverland lösen kann.

84 James Matthew Barrie: »The Little White Bird«, London: Hodder and Stouton 1913 [1902], S. 190. 85 Ebd., S. 218. 86 Ebd., S. 181. 87 Ebd., S. 139. 88 Ebd., S. 219. 89 Ebd., S. 89. 90 Die »Liebe« zwischen derart jungen kindlichen Figuren würde ein neues Forschungsfeld eröffnen und wird in diesem Kontext nicht weiter behandelt.

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Fazit Kileys Narzissmus-These hinsichtlich der Figur Peter Pan ist nachvollziehbar. Der ewig junge Protagonist wirkt in vielen Situationen selbstverliebt, rücksichtslos und egoman. Interessant ist die Frage nach dem Ursprung seiner Verhaltensstörung. Peters Narzissmus wird als Entwicklungsgeschichte inszeniert. Der Protagonist wird früh enttäuscht und projiziert den Wunsch nach einer Mutterfigur auf weibliche Figuren in seiner Umgebung. In The Little White Bird entwickelt Peter Gefühle für Maimie und ist zu Beginn des Romans als Mischwesen ein Außenseiter. Dennoch ebnen die Kensington Gardens den Weg zu einer narzisstischen Entwicklung. Peter wird hier berühmt, da die Feen ihn für seine Musikalität bewundern. In Neverland ist Peters Narzissmus stärker ausgeprägt; dieser Mikrokosmos dreht sich um ihn. Einzig Hook und seine Gefolgschaft stellen einerseits eine Gefahr, andererseits aber auch die Möglichkeit zur Erweiterung des Peter-PanKults dar. Durch den Kampf mit Hook demonstriert Peter Macht und stärkt sein Ego. Sprachlich kommt Peters Narzissmus ebenfalls zur Geltung. Er wiederholt Komplimente und lobt sich selbst. Die narrative Instanz trägt mit ihren Wertungen zu dem Eindruck bei, dass es sich bei Peter um einen narzisstischen Charakter handelt. Es wäre dennoch einseitig, Peter nur als narzisstisch zu betrachten. Zwar kann er nicht konventionell lieben, zeigt aber Zuneigung für Charaktere wie Wendy und Maimie. Für diese und seine Lost Boys kämpft er mit allen Mitteln. Bezeichnend ist aber, dass diese eine Rückkehr in die Realität bevorzugen und sich nur temporär zwischen den Welten bewegen wollen. Gemein ist ihnen, dass Peter sie vergisst. Sein Narzissmus fungiert hier in erster Linie als Schutz vor Verletzungen. So lässt sich resümieren, dass der Narzissmus, der lediglich eine Facette der Figur ausmacht, aufgrund ihrer Vorgeschichte rationalisiert wird. Auf diese Weise wird es der Leserschaft ermöglicht, sich in die Gefühlswelt der Figur hineinzuversetzen und mit diesem Egoman mit zu fühlen.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Barrie, James Matthew: »The Little White Bird«, London u. a. Hodder and Stouton 1913. [1902] Barrie, James Matthew: »Peter and Wendy«, hrsg. von Jack Zipes. London: Penguin 2004. [1911]

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Morungen, Heinrich von: »Mir ist geschehen als einem kindel%ne« [um 1190], in: Orlowski, Ursula / Orlowski, Rebekka: Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse. Vom Mythos zur leeren Selbstinszenierung, München: Fink, 1992, S. 127f. Ovid: »Metamorphosen«, übersetzt und herausgegeben von Michael Albrecht, Stuttgart: Reclam 1994. [8 n. Chr.] Val8ry, Paul: »Cantate du Narcisse. Libretto« [1943], in: Orlowski, Ursula/Orlowski, Rebekka: Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse. Vom Mythos zur leeren Selbstinszenierung. München: Fink, 1992, S. 275. Wilde, Oscar : »The Disciple« [1894], in: Orlowski, Ursula/Orlowski, Rebekka: Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse. Vom Mythos zur leeren Selbstinszenierung. München: Fink, 1992, S. 323f.

Filme Kellen Moore: »East of Kensington«, Orange: Chapman University 2012, 20 Min.

Sekundärliteratur Berger, Paula: »Peter Pan as a mythical figure«, Diss. Chicago: University of Chicago 1994. Blackford, Holly : »Childhood and Greek Love, Dorian Gray and Peter Pan«, in Children’s Literature Association Quaterly, 2013/38/2, S. 177–198. Chassagnol, Monique (Hrsg.): »Peter Pan. Figure mythique«, Paris: Chassagnol 2010. Kiley, Dan: »Das Peter-Pan-Syndrom. Männer, die nie erwachsen werden«, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Hamburg: Kabel 1987. Kiley, Dan: »Die Angst der Frauen, sie selbst zu sein. Das Wendy-Dilemma«, aus dem Englischen von Walter Brumm, Hamburg: Kabel 1988. Kissel, Susan: »But when at last she really came, I shot her : Peter Pan and The Drama of Gender«, in: Children’s Literature in Education, 19.1/1988, S. 32–41. Orlowski, Ursula / Orlowski, Rebekka (Hrsg.): »Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse. Vom Mythos zur leeren Selbstinszenierung«, München: Fink 1992. Pelz, Monika: »Gay, innocent and heartless. Der ewige Junge Peter Pan«, Wien: Studienund Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur 2004. Routh, Chris: »Man for the sword, and for the Needle She. Illustrations of Wendy’s Role in J. M. Barrie’s Peter and Wendy«, in Children’s Literature in Education 2001/32/1, S. 57–75. Rose, Jacqueline: »The Case of Peter Pan or : The Impossibility of Children’s Fiction«, Philadelphia: University of Philadelphia Press 1984. Smith, Adrian: »Wendy’s story. Analytic perspectives on J. M. Barries Peter and Wendy«, in: Journal of Analytical Psychology, 2012/57, S. 517–534.

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Eva Neubauer

Die Schattenseite Peter Pans – Untersuchung zum Unheimlichen und der Figur des Dritten am Beispiel des Schattens in Peter Pan

Einleitung Peter Pan – nicht nur die Geschichten um den Jungen, der nicht erwachsen werden will, sondern auch der Charakter selbst ist bekannt bei Menschen jeden Alters. Eva Valentova betitelt Peter Pan als ikonischen Charakter, nicht nur der Kinderliteratur, sondern auch britischer Kultur im Allgemeinen.1 Gerade weil die Entstehung der Figur und der Abenteuer um ihn schon Jahrzehnte zurückliegen, ist seine Geschichte Generationen von Lesenden geläufig und hat sich neben zahlreichen Adaptionen2 auch in der Popkultur niederschlagen.3 Besonders die Disney-Version von 1953 kann als großer Faktor für die Verbreitung von Peter Pans Bekanntheit gesehen werden. J. M. Barrie verfasste 1902 The Little White Bird, worin Peter als Kleinkind seinen Auftritt hat, gefolgt von dem Theaterstück The Boy Who Wouldn’t Grow Up im Jahr 1904, aus dem sich 1911 der Roman

1 »Peter Pan, the rebellious boy who refuses to grow up, has become an iconic character of not only children’s literature but British culture in general«. Eva Valentova: »The Betwixt-andBetween: Peter Pan as a Trickster Figure. J Pop Cult«, verfügbar unter : https://onlinelibrarywiley-com.proxy.ub.uni-frankfurt.de/doi/full/10.1111/jpcu.12679 ?sid=EBSCO%3Aedb, [19. 09. 2019], S. 735. Valentova fährt damit fort, Peter als eine archetypische »trickster figure« zu untersuchen, ein Archetyp, der auch von einigen ambivalenten Zügen geprägt sei. Diese Ambivalenz soll im Zuge der Analyse im Fokus stehen. 2 Beispiele dafür wären etwa der Film »Pan« (2015) oder seine Darstellung in der TV-Serie »Once Upon A Time«, die auch deswegen sehr interessant ist, da Peter dort eher als »böser« Charakter dargestellt wird, ebenso auch in »Lost Boy« (2017) von Christina Henry. Das Cover prägt zudem das folgende Zitat aus The Guardian: »You’ll never look at Peter Pan in the same way again«, welches ebenfalls die in dieser Analyse fokussierte Ambivalenz um diese Figur unterstreicht. 3 So lassen sich zahlreiche Peter Pan-Figuren oder »Fanartikel« finden, die auf die Hauptfigur bezogen sind, aber auch solche, die Nebenfiguren wie etwa Gypsy betreffen, die unter dem Namen: »Tinkerbell« sogar ihre eigene Filmserie bekam.

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Peter and Wendy entwickelte.4 Schließlich wurde der Titel auf Peter Pan reduziert.5 Dieser Beitrag fokussiert die Romanversion.6 Maggie Tonkin7 merkt an, dass Barries Peter Pan lange Zeit von Seiten der Literaturwissenschaft wenig Aufmerksamkeit erhalten habe, was sich insbesondere in letzter Zeit deutlich gewandelt habe.8 Während viele Studien sich jedoch mit dem Autor der Geschichte, J. M. Barrie, und den Kontroversen um seine Person beschäftigen,9 oder der Fokus auf Peter und das mythische Motiv des ewigen Kindes gerichtet wurde, gibt es bisher keine eingehenden Analysen, welche die Figur in Verbindung mit dem literarischen Motiv des Schattens bringen, obwohl dieser ein bezeichnendes Merkmal der Figur ist. Nicht nur das scheinbare Eigenleben des Schattens, auch das Ereignis des Verlustes des Schattens scheint in der Geschichte ein wichtiges Element darzustellen. Das Motiv des verlorenen Schattens10 sei gemäß Gero von Wilpert ein Motiv, das zwar nicht zu den »ganz großen Themen der Weltliteratur« gezählt werden könne, da es nur mit verhältnismäßig wenigen literarischen Werken in Verbindung gebracht werden könne, allerdings sieht er das »Motiv der Schattenlosigkeit [als] äußerst fruchtbar […] [und dazu] in der Lage, aus sich heraus ganze Motivtraditionen zu entfalten.«11 Im Folgenden soll der Verlust des Schattens in Peter 4 Vgl.: Eyal Amiran: »The Shadow of the Object in Peter Pan«, ESC: English Studies in Canada 38,3, Association of Canadian College and University Teachers of English, 2012, S. 161–188. Verfügbar unter : https://journals.library.ualberta.ca/esc/index.php/ESC/article/view/2487 2/18327, [14. 09. 2019], S. 161. 5 Vgl.: ebd. 6 Für diesen Beitrag wird die deutsche Fassung, die 2015 im Insel-Verlag erschien, genutzt. Es ist anzumerken, dass die vorherigen Versionen, die wieder ganz eigene Geschichten darstellen, sicherlich sehr interessant für eine Untersuchung unter den in diesem Beitrag betrachteten Aspekten sein könnten. Aus Platzgründen wird hier allerdings nur auf Peter Pan Bezug genommen. Lisa Winter geht in ihrem Beitrag auch auf die erste Version (The Little White Bird) ein. 7 In ihrer Ausarbeitung beschäftigt sie sich hauptsächlich mit James Matthew Barrie und der Mythologie bzw. Kontroverse, die mit ihm verbunden sind. So spricht sie von einer »disjunction between his highly successful public career and his unusual persona life.« Maggie Tonkin: »From Peter Panic to Proto-Modernism: The Case of J. M. Barrie«, Changing the Victorian Subject, University of Adelaide Press, South Australia, 2014, S. 259–281. Verfügbar unter : www.jstor.org/stable/10.20851/j.ctt1t305b6.16, [19. 09. 2019], S. 259. 8 Vgl.: ebd. 9 Ein Paradebeispiel dafür wäre etwa Jaqueline Rose mit ihrer Analyse: »The Case of Peter Pan. Or : The Impossibility of Children’s Literature« aus dem Jahr 1984. Diese hat(te) innerhalb der (Kinder- und Jugend-)Literaturwissenschaft zu kontroversen Diskussionen beigetragen. Vgl.: Jacqueline Rose: »The Case of Peter Pan. Or : The Impossibility of Children’s Fiction«, Philadelphia: University of Philadelphia Press 1984. 10 Diesem Terminus schreibt Gero von Wilpert »jede Art des nicht vorhandenen, abhandengekommenen, verkauften, eingetauschten usw. Schattens, also die […] Schattenlosigkeit schlechthin« zu. Gero von Wilpert: »Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs«, Stuttgart: Kröner 1978, S. 1. 11 Ebd.

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Pan näher beleuchtet werden. Das Motiv soll zudem mit dem Begriff des Unheimlichen im Sinne Freuds und der literarischen Figur des Dritten verknüpft werden. Das Erkenntnisinteresse besteht darin, zu untersuchen, inwiefern Peter als Charakter, aber eben auch sein Schatten zur Erzeugung eines unheimlichen Gefühls oder Assoziationen dessen beitragen könnten. Im Zuge der Recherche hat sich herausgestellt, dass es zu Peters Schatten nur wenig Sekundärliteratur gibt. Wie Wilpert bereits anmerkt, wurde zum Schatten als Motiv in der Literatur und gerade zum Verlust des Schattens bisher kaum geforscht. Während Peter Pan etwa von Ann Yeoman intensiv erforscht wurde12 und sich Jaqueline Rose ausführlich mit dem Autor und dessen Darstellung der Figur und ihrer mythologischen Einbettung widmet,13 ist Peters Schatten wie auch die Verbindung zu Freuds Definition des Unheimlichen kaum erforscht. Mit diesem Beitrag wird beabsichtigt, diese Forschungslücke zu schließen.

Der Schatten als literarisches Motiv – Schatten und Spiegelbild In der Literatur wird der Schatten, wie auch das Spiegelbild, oft als »andere« Form eines Selbsts oder Teil dessen metaphorisiert. Fritz Gutbrodt geht davon aus, dass man »den Schatten auch als eine Metapher des Spiegels lesen«14 kann. So erschienen »Schatten und Spiegelbild […] als miteinander verwandte und verbundene, gleichzeitig jedoch auch als voneinander getrennte Formen der Repräsentation.«15 Gutbrodt, der in seinen Erläuterungen den Mythos des Narzissus untersucht, beschreibt die Analogie von Spiegelbild und den Phänomen des Schattens als »Übergang von der erstaunten Stummheit des Narziss [zum] […] Dialog, [den dieser daraufhin mit] […] seinem Spiegelbild und sich selbst«16 führe. Gutbrodt zitiert Stoichita, der den Begriff des »Schattenstadiums« in Relation zu Lacans »Spiegelstadium (stade du mirror)« bringt und diesen wiederum auf das Schicksal Narzissus bezieht. Demnach würde erst im s. g. Schattenstadium »Narziss vom imaginären Bezug zum Selbst zu einem symbolischen Verständnis des Ich als Anderen«17 gelangen. Nach Stoichita repräsentiere »[d]er

12 Vgl.: Ann Yeoman: »Now or Neverland. Peter Pan and the Myth of Eternal Youth. A Psychological Perspective on a Cultural Icon«, Toronto: Inner City Books 1998. 13 Vgl.: Jacqueline Rose: »The Case of Peter Pan. Or : The Impossibility of Children’s Fiction«, Philadelphia: University of Philadelphia Press 1984. 14 Fritz Gutbrodt: »Quam cernis, imaginis umbra est. Spiegel und Schatten im Mythos des Narziss«, Paul Michel (Hrsg.): Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels, Zürich: Pano 2003, S. 191. 15 Ebd., S. 186. 16 Ebd., S. 190. 17 Ebd., S. 191.

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Schatten das Stadium des Anderen, der Spiegel das des Selbst.«18 So steht dem Spiegelstadium, in dem der Prozess der Identifikation im Mittelpunkt steht19 und durch welches »eine Beziehung […] zwischen dem Organismus und seiner Realität […], zwischen der Innenwelt und der Umwelt« hergestellt werde,20 das Stadium des Schattens gegenüber. Auch Gerald Bär verweist auf die gemäß seinen Ausführungen schon lange bestehende Verbindung von Spiegelung und Schatten, wobei er sich auf Philosophen der Antike wie Platon bezieht, für den die »Schatten (›skias‹, ›phantasmata‹) vor den Spiegelbildern (›eidola‹)« stünden und dementsprechend über eine längere Tradition verfügten, wobei die verwendete Terminologie jedoch nicht ganz eindeutig sei.21 Die beiden Phänomene würden je nach Text auch synonym Verwendung finden.22 Überdies wird eine Differenz hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs der »Abbildung« in den Ausführungen Plinius und Platon deutlich: während gemäß Plinius das Abbild ein »anderes des Gleichen« sei, so sei es nach Platon dasselbe in einem Stadium des Kopierten, des Doppelten.23 Gehen wir von dem Verständnis des Kopierten oder Doppelten nach Platon aus, wird die Verbindung zum Begriff des Doppelgängers deutlich. Auch Freud behandelt in seiner Schrift zum Unheimlichen, auf die im weiteren Verlauf noch näher eingegangen wird, diesen Topos.24

Zum Schattenstadium in Peter Pan Das bereits angesprochene Schattenstadium läßt sich mit Peter Pans Charakter verbinden. Zum einen spielt sein Schatten eine prominente Rolle und fungiert als individuelle Figur in Barries Geschichte; Zum anderen erweist es sich als 18 Ebd. 19 Vgl.: Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, Norbert Haas (Hrsg.): Jaques Lacan. Schriften I, aus dem Französischen von Peter Stehlin. Freiburg: Olten 1973, S. 64. 20 Vgl.: ebd., S. 66. 21 Vgl.: Gerald Bär : »Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm«, erw. Fassung, Diss., Universität Lissabon 2005, S. 457. 22 Vgl.: ebd. [Hervorhebung im Original] 23 Bär fährt unter Bezugnahme auf Stoichita wie folgt fort: »If, in the Plinian tradition, the image (shadow, painting, statue) is the other of the same, then in Plato the image (shadow, reflection, painting, statue) is the same in a copy state, the same in a state of a double. And if, in the Plinian tradition, die image captures the model by reduplicating it (such is the magic function of the shadow), in Plato it returns its likeness to it (such is the mimetic function of the mirror) by representing it.« Ebd., S. 457. [Hervorhebung im Original] 24 In diesem Beitrag soll der Begriff des Doppelgängers nicht weiter untersucht werden, ebenso wie die Motivtradition des Schattens in der Literatur, etwa Schatten im Totenreich, in antiken Schriften und dergleichen, deren Betrachtung jedoch sicherlich auch sehr fruchtbar sein kann. Das Doppelgängermotiv wird in Mona Baumanns Beitrag zu Neil Gaimans Coraline ausführlich erläutert.

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überaus fruchtbar, das Schattenstadium Lacans Spiegelstadium gegenüberzustellen. Das Spiegelstadium, bei dem es darum geht, dass das Individuum sich selbst erkennt und die Verbindung zur Umwelt herstellt, hat den Eintritt in die Gesellschaft als Ziel, beziehungsweise zur Folge und kann daher als wichtiger Schritt zum Erwachsenwerden betrachtet werden. Peter Pan verweigert ebendiesen Entwicklungsprozess.25 Er möchte unter keinen Umständen erwachsen werden und verweigert damit nicht nur das In-Verbindung-Treten mit seiner Umwelt, sondern zugleich die Anforderung, Mitglied der (Erwachsenen-)Gesellschaft zu werden. Er artikuliert »stark erregt [den Wunsch, dass er] […] nie erwachsen werden [und] […] immer ein kleiner Junge bleiben und Spaß haben«26 will. Es wird beschrieben, dass diese Aussagen mit einem »Gefühlsausbruch« verbunden sind, womit unterstrichen wird, dass er mit absoluter Entschiedenheit und erheblicher Emotionalität eine adoleszente Entwicklung verweigert. Dass er es infolge dessen ablehnt, aktiv mit seiner Umwelt in Verbindung zu treten, wird durch seine Ich-Bezogenheit transparent. So »vergisst« er etwa die Existenz der Darling-Kinder, als sie sich gemeinsam auf der Reise ins Nimmerland befinden. So heißt es etwa, dass »er sich manchmal bei seiner Rückkehr nicht an die Kinder oder nur ganz vage [an sie erinnere, sodass Wendy ihm] […] sogar ihre Namen nennen«27 muss. Dass das Spiegelbild im Gegensatz zum Schatten keine Rolle in der Erzählung spielt, unterstützt die These, die Figur vornehmlich mit dem »Schattenstadium« in Verbindung zu bringen.

Der Schatten als literarisches Motiv in Barries Text Eyal Amiran schreibt in The Shadow of the Object in Peter Pan, dass der Schatten als literarisches Thema eine zentrale Rolle in Barries Schreiben spiele.28 Er verdeutlicht die Eigenschaft des Schattens, sowohl ein »physisches Objekt« als auch eine »negative Reflektion« darzustellen.29 Er beschreibt ihn als »zweites Selbst, das doch nicht Teil des Selbsts«30 sei31 und fährt damit fort, die Be-

25 Auf welche Weise dieser Aspekt in medialen Adaptionen ausgestaltet wird, macht Leonie Zilch in ihrem Beitrag zur filmischen Adaption Spielbergs (Hook) deutlich. 26 James Matthew Barrie: »Peter Pan«, vollst. Ausgabe, 1. Aufl., Berlin: Insel 2015, S. 42. 27 Ebd., S. 57f. 28 Vgl.: Eyal Amiran: »The Shadow of the Object in Peter Pan«, ESC: English Studies in Canada 38,3, Association of Canadian College and University Teachers of English, 2012, S. 161–188. Verfügbar unter : https://journals.library.ualberta.ca/esc/index.php/ESC/article/view/2487 2/18327, [14. 09. 2019], S. 165. 29 Vgl.: ebd. Im Original heißt es: »The shadow is both a physical object and a kind of negative reflection.« 30 Ebd.: »a second self that is yet not part of the self.«

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schäftigung Barries mit dem Motiv des Schattens durch biografische Bezüge auf Barries Leben zu erklären. Ein Aspekt, der in diesem Zusammenhang erwähnenswert erscheint, ist die Verbindung zum Tod, da Barrie sich als jemand betrachtet habe, der sich durch den Tod mit Menschen und einer Welt, die »vom Grab her schreiben«32 könne, verbunden fühle. Daher liegt die Assoziation des Schattens mit einer Anderwelt – der Welt des Todes und der Toten – nah. Gutbrodt bemerkt in diesem Zusammenhang, dass der »Spiegel in der Geschichte der philosophischen Reflexion über die Erkenntnis sowie Darstellung der Welt und des Menschen zu einer Schlüsselmetapher geworden« sei, während der Schatten »ideengeschichtlich vor allem mit den Begriffen des Todes oder auch des Bösen verbunden« sei.33 Auch seine Ausführungen zum Schatten als »die Nachtseite der Spiegelung«34 verdeutlichen den morbiden Charakter, der diesem Motiv anhaftet bzw. ihm innerhalb von literarischen Darstellungen oft zugeschrieben wird. Der Schatten sei »jene andere Präsenz ohne Substanz die sich als Bild – fast unbemerkt – im Rücken des Betrachters verschwindend noch zeigt.«35 Deutlich wird, dass dem Schatten eine gewisse Andersartigkeit zugeschrieben wird, die mit etwas, das einen »fast unbemerkt« verfolgt in Verbindung gebracht wird. Nicht nur die »Ungreifbarkeit« der Textur des Schattens, die »Substanzlosigkeit« wirkt dabei bedrohlich, auch die Tatsache, dass er sich »im Rücken des Betrachters«36 befindet, assoziieren ihn mit den Begriffen des Düsteren und Unheimlichen. Diese Verbindung soll im weiteren Verlauf weiter untersucht werden.

Der Aspekt des Unheimlichen Zunächst soll der Begriff des Unheimlichen näher beleuchtet werden. Insbesondere den Ausführungen Sigmund Freuds und Ernst Jentschs wird hierbei Beachtung geschenkt. Peter Giese zitiert den Duden, um zu veranschaulichen, dass das Unheimliche als »ein unbestimmtes Gefühl der Angst, des Grauens

31 Dem Schatten wird somit eine Ambivalenz zugesprochen, die sowohl mit den Komplexen des Unheimlichen als auch der Trope der Figur des Dritten in Relation gebracht werden kann, was im Folgenden näher ausgeführt werden wird. 32 Im Original heißt es: »he sees himself connected through death to people and to a world that can write from the grave.« Ebd., S. 166. 33 Fritz Gutbrodt: »Quam cernis, imaginis umbra est. Spiegel und Schatten im Mythos des Narziss«, Paul Michel (Hrsg.): Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels, Zürich: Pano 2003, S. 184f. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 185. 36 Ebd.

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hervorrufend«37 mit einem »äußerst unbehaglichem Gefühl«38 synonym gesetzt werde. Schon Freud bestätigt diese Konnotation, wenn er ausführt, dass das Unheimliche »zum Schrecklichen, Angst- und Grauenerregenden«39 gehöre. Freud untersucht in Das Unheimliche aus dem Jahr 1919 zunächst die multiplen Bedeutungsdimensionen, die der Terminus aufweist. Dabei führt er unter anderem die scheinbare Gegenteiligkeit zu den Begriffen »heimlich, heimisch, vertraut« durch die Präfixanbindung »un-«40 aus und verweist auf Unsicherheiten hinsichtlich der Definition, da es nicht ausreichend sei, »unheimlich« mit »nicht vertraut« gleichzusetzen. Am Beispiel der Etymologie des Begriffs geht er unter anderem auf die Analogie des Begriffs »unheimlich« mit »fremd« bzw. »fremdartig« sowie mit etwas, das im Verborgenen gehalten werde, oder geschehe bzw. mit einem »Geheimnis, [das] im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist«41 ein. Er folgert, dass das Unheimliche »jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute«42 zurückgehe, beschreibt. In Zur Psychologie des Unheimlichen stellt Jentsch das »Althergebrachte, Gewohnte, Angestammte, […] [das dem Menschen] lieb und vertraut […] [sei, und das] Neue, Aussergewöhnliche«43, welchem der Mensch mit Misstrauen, selbst Feindseligkeit begegne, gegenüber. Im Folgenden wird analysiert, auf welche Weise diese unterschiedlichen Akzentuierungen des Unheimlichen in Barries Erzählung präsent sind.

Facetten des Unheimlichen in Barries Peter Pan Geht man davon aus, dass das Unheimliche als etwas Vertrautes, das plötzlich entfremdet wurde, zu betrachten ist, lassen sich sowohl hinsichtlich der Figurenzeichnung Peter Pans als auch mit Blick auf die verwendeten Motive Verbindungen zu diesem Topos aufzeigen. Peters Charakter ist überaus ambivalent. Das Streben danach, den idealisierten Status des Kindes aufrecht zu erhalten, rekurriert auf romantische Kindheitskonzepte, während die Empathielosigkeit 37 Peter Christian Giese: »Lektürehilfen E. T. A. Hoffmann Der Sandmann«, 11. Aufl., Stuttgart: Klett 2003, S. 24. 38 Ebd. 39 Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, Mitscherlich, Alexander / Richards, Angela / Strachey, James / Grubrich-Simitis, Ilse / Freud, Sigmund (Hrsg.): Psychologische Schriften, 11 Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2012. [1919], S. 243. 40 Ebd., S. 244. 41 Ebd., S. 245ff. 42 Ebd., S. 244. 43 Ernst Anton Jentsch »Zur Psychologie des Unheimlichen«, in Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift, 22–23, 1906, S. 196.

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der Figur eine geradezu pathologische Note verleiht. Das wird etwa deutlich darin, dass Peter sich nicht darum kümmert, dass einige der Verlorenen Jungs verletzt oder getötet werden; er dies sogar selbst vorantreibt, denn »wenn sie erwachsen zu werden drohen, was gegen die Regel verstößt, dezimiert Peter ihre Zahl.«44 Auch in der Beschreibung seiner äußeren Erscheinung spielen unheimliche Elemente eine bedeutende Rolle. Auf dem Flug ins Nimmerland wird besondere Aufmerksamkeit auf Peters Augen gerichtet. Im einen Moment lauscht er »angespannt mit der Hand am Ohr, dann wieder starrte er mit feurigen Augen hinunter, und es schien, als brennten sie zwei Löcher bis zur Erde.«45 Die Beschreibung der »feurigen Augen« weckt Assoziationen mit etwas monströsem bzw. höllischem; ein Eindruck, der durch den Zusatz: »als brennten sie zwei Löcher in die Erde« verstärkt wird. Das »Feurige« wird zum »Brennenden« und schließlich zum Zerstörenden. Nicht nur äußere Aspekte, auch seine Charakterzüge werden mitunter als unheimlich oder bedrohlich beschrieben. »Seine Kühnheit wirkte fast erschreckend«46 heißt es etwa, und auch seine Begeisterung für das Kämpfen und besonders das Töten steht im Kontrast zum Bild der kindlichen Unschuld, das mit dem puer aeternus verbunden werden könnte. Ein anderer Faktor des Unheimlichen ist die Insel des Nimmerlandes selbst. Als die Darling-Kinder die Insel erstmals erblicken, ist es Nacht, die Tageszeit, zu der sich »die Insel […] verdüsterte.«47 Nicht nur der Aspekt des Dunklen, Düsteren wird somit mit der Insel in Verbindung gebracht, sie wird auch personifiziert und erscheint durch die Geschichte hinweg wie ein lebendes Wesen. So beginnt das fünfte Kapitel: Die Insel wird Wirklichkeit mit folgender Beschreibung: »Als Nimmerland merkte, dass Peter auf dem Heimweg war, erwachte es zu neuem Leben.«48 Hier ist nicht nur der Aspekt der unheimlichen Beseelung eines üblicherweise leblosen Objekts von Bedeutung, der ebenfalls auf Freuds Ausführungen zum Unheimlichen bezogen werden kann, sondern auch der Umstand, dass die Insel anscheinend die Fähigkeit aufweist, zu fühlen und reflexiv zu handeln. Die enge Verbindung der Insel zu Peter Pan und die Tatsache, dass seine Anwesenheit es bewirkt, dass »die ganze Insel vor Leben brodelt«49 bestärkt die Unheimlichkeit, die Peter und sein Zuhause umgibt.

44 James Matthew Barrie: »Peter Pan«, vollst. Ausgabe, 1. Aufl., Berlin: Insel 2015, S. 67. Beispiele dieser Art finden sich zahlreich im gesamten Text. 45 Ebd., S. 61. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 60. 48 Ebd., S. 66. 49 Ebd., S. 67.

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Die Figur des Dritten Ein weiterer Aspekt, der zur unheimlichen Wirkung Peters beiträgt, ist die NonBinarität dieser Figur. Er ist eine Art Zwischenentität, nicht klar dem einen, noch dem anderem zuzuordnen. Auch das literarische Motiv der Figur des Dritten lässt sich daher auf Peter Pan beziehen. Albrecht Koschorke definiert die Figur des Dritten in Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften als »Größe, die neben den beiden Termen dualistischer Semantiken vom Typ wahr/falsch, Geist/ Materie, Gott/Welt, gut/böse, Kultur/Natur, innen/außen, eigen/fremd bestehen [bleibe].«50 So würden die »Effekte des Dritten […] [dann aufscheinen, wenn] die Unterscheidung als solche zum Gegenstand und Problem [werde, wenn also etwas sich nicht mehr zu einer definiten Seite zuordnen lässt].51 Das »Dritte« würde die »beiden Seiten der Unterscheidung ins Verhältnis […] [setzen, indem es sie] zugleich verbindet und trennt.«52 Deswegen sei es ebendieses Dritte, das »binäre Codierungen allererst möglich mach[e], während es selbst als konstituierender Mechanismus gewöhnlich im Verborgenen [bleibe].«53 Die Thematisierung der Figur des Dritten als Phänomen und Motiv betrachtet er als etwas, das »in der Moderne besonders vordinglich geworden«54 sei, woraus man folgern könnte, dass es bei der Untersuchung von literarischen Texten durchaus sinnvoll und gewinnbringend sein kann, hierauf zu verweisen. Die Figur des Peter Pan lässt sich ebenfalls unter Berücksichtigung des Motivs des Dritten analysieren. In Valentovas Untersuchungen zu Peter als Tricksterfigur wird der Figur ein »liminal character«55 attestiert, da Peter weder »moral and gender ambiguity«56 aufweise und darüber hinaus Züge eines kreativen »bricoleurs« trage.57 Peter altert nicht, versteht die Sprache der Elfen58, scheint eine Art Verbindung zu der Insel selbst zu haben – doch auch in seinem Verhalten und Charakter ist er sehr ambivalent. Auch die schon angesprochene 50 Albrecht Koschorke: »Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften«, Eva Eßlinger / Tobias Schlechtriemen / Doris Schweitzer / Alexander Zons (Hrsg.): »Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma«, 1. Aufl., Berlin: Suhrkamp 2010, S. 9. 51 Vgl.: ebd., S. 11. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Eva Valentova: »The Betwixt-and-Between: Peter Pan as a Trickster Figure. J Pop Cult«, verfügbar unter : https://onlinelibrary-wiley-com.proxy.ub.uni-frankfurt.de/doi/full/10. 1111/jpcu.12679?sid=EBSCO%3Aedb, [19. 09. 2019], S. 735. 56 Ebd. 57 Vgl.: ebd. 58 Peter kann etwa verstehen, was Gypsy sagt, während die Darling-Kinder das nicht können. »Was sie in ihrem lieblichen Geklingel sagte, konnte Wendy natürlich nicht verstehen.« James Matthew Barrie: »Peter Pan«, vollst. Ausgabe, 1. Aufl., Berlin: Insel 2015, S. 66. Dies wird damit erklärt, dass er »lange bei den Elfen« lebte. Ebd. S. 42.

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Spanne zwischen Wirklichkeit und Realität trägt hierzu bei. Nicht nur bezogen auf die Insel59 und all die übernatürlichen Kreaturen und das Zusammenfallen von Fantasie und Wirklichkeit60, auch bezogen auf das Denken und Verhalten der Figuren. Deutlich wird dies auch in der Beschreibung der Mahlzeiten bzw. Scheinmahlzeiten, die die Verlorenen Jungs und Peter, später auch die DarlingKinder zu sich nehmen. Für Peter spielt es keine Rolle, ob er echtes Essen zu sich nimmt oder nicht, »[z]u tun, als ob er äße, war für Peter Wirklichkeit, so dass man sehen konnte, wie er während einer Mahlzeit rundlicher wurde.«61 Er scheint sogar keinerlei Unterschied zwischen beiden Möglichkeiten wahrzunehmen: »Der Unterschied zwischen ihm und den anderen Jungen in so einem Fall war, dass sie wussten, es war nur Schein, wohingegen für ihn Schein und Wirklichkeit dasselbe waren.«62 Derartige Beispiele, in welchen Wirklichkeit und Fantasie bzw. kindliches Spiel, Realität und Schein verschwimmen, lassen sich durchweg auffinden und bestärken die Ungewissheit und Unsicherheit die die Insel, aber besonders auch Peter Pan umgibt. Diese Unsicherheit verdeutlicht die Unmöglichkeit, die Figur zu definieren und lässt sich zudem mit der Definition des Unheimlichen nach Jentsch verbinden, gemäß der insbesondere die Ungewissheit, der »Mangel an Orientirung« Auslöser für ein »Gefühl des Grauens« oder eben des Unheimlichen ist.63 Auch der Schatten, beziehungsweise der Verlust des Schattens trägt hierzu bei. Nicht nur scheint dieser beseelt, da er ein Eigenleben führt, auch der Umstand, dass der Verlust des Schattens überhaupt möglich ist, hebt Peter von herkömmlichen Figuren ab. Nun gilt es, den Schatten unter dem Aspekt der Unheimlichen zu betrachten.

59 Bezogen auf die Insel lassen sich noch viele weitere Szenen ausmachen, in welchen diese mit »düsteren« Aspekten oder Beschreibungen versehen wird. Wie z. B.: »Unerforschte Flecken tauchten dann auf und verbreiteten sich, finstere Schatten bewegten sich darin.« Ebd. S. 60. Die »unerforschte[n] Flecken«, betonen den Aspekt der Ungewissheit, während durch die »finstere[n] Schatten« das Motiv des Schattens aufgegriffen wird. 60 Diese Spanne wird in folgender Szene explizit: »Derart deutlich mussten die zu Tode erschrockenen drei den Unterschied kennenlernen zwischen einer Insel in der Phantasie und derselben Insel in der Wirklichkeit.« Ebd., S. 65. 61 Ebd., S. 96. 62 Ebd., S. 88. 63 Vgl.: Jentsch, Ernst Anton Jentsch: »Zur Psychologie des Unheimlichen«, in Psychiatrischneurologische Wochenschrift, 22–23, 1906, S. 198 (Nr. 22): »Solange nun der Zweifel an der Beschaffenheit der wahrgenommenen Bewegung und damit die Unklarheit über ihre Ursache anhält, besteht bei dem Betroffenen ein Gefühl des Grauens.« Zudem führt er aus, »dass mit dem Eindruck der Unheimlichkeit eines Dinges oder Vorkommnisses ein Mangel an Orientirung verknüpft [sei].« Ebd., S. 195.

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Peters Schatten – eine (weitere) Ursache für die unheimliche Wirkung des Texts? Etwas, das einem vertraut ist, aber unvertraut wird – was könnte einem vertrauter sein als sein eigenes (Ab-)Bild? Am naheliegendsten wäre wahrscheinlich das Spiegelbild, doch dieses spielt in Peter Pan keine Rolle.64 Stattdessen tritt der Schatten als eigenständige Figur auf. Im Gegensatz zum Spiegelbild ist er nicht immer sichtbar, aber wenn, dann kann man ihm nicht entkommen, sich – anders als Peter – nicht von ihm lösen. Der Schatten ist ein Teil eines jeden Menschen und ist nur in der Dunkelheit verborgen. Gemäß Gutbrodt repräsentiert der Schatten »das Bild eines Körpers als dunkles Profil, während das Bild im Spiegel in der Helligkeit des Lichtes [erscheint].«65 Obwohl es naheliegend wäre, den Schatten als prominenten Faktor für die Erzeugung eines unheimlichen Gefühls oder Atmosphäre zu betrachten,66 ist weder er noch sein Verlust für die Figuren unheimlich oder gar sonderbar.

Zur Darstellung des Schattens in Peter Pan Dem Schatten ist in Barries Text ein eigenes Kapitel gewidmet. In der deutschen Ausgabe trägt es den Titel: Der Schatten und steht als zweites Kapitel nah am Anfang der Geschichte, sodass die Figur des Schattens schon zu Beginn der Handlung eingeführt wird. Obwohl anzumerken ist, dass Peters Schatten im weiteren Verlauf keine große Rolle mehr spielt, soll untersucht werden, welche Funktion dieses Motiv für die Geschichte und für Peter als Charakter einnimmt. Der erste Auftritt des Schattens erfolgt, nachdem Mrs. Darling Peter zum ersten Mal im Kinderzimmer erblickt. Als dieser aus dem Fenster hinausfliegt,

64 So ist im Verlauf der Erzählung nie davon die Rede, dass Peter sich im Spiegel betrachtet oder dergleichen. 65 Fritz Gutbrodt: »Quam cernis, imaginis umbra est. Spiegel und Schatten im Mythos des Narziss«, Michel, Paul (Hrsg.): Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels, Zürich: Pano 2003, S. 181–197, (S. 191). 66 Dies könnte man etwa durch die Zuschreibung von eher »düsteren« Eigenschaften und Wesenszügen, die der Schatten als Phänomen oft erfährt, begründen. Auch Gutbrodt verweist in seinen Erläuterungen auf die Beziehung zwischen Schatten und dem Totenreich. Zudem ließe sich auf den alltagssprachlichen Gebrauch Bezug nehmen, da etwa die »Schattenseite« auf negative Aspekte hinweist. Die Erläuterung, die sich auf der Internetseite des Dudens auffinden lässt, definiert die: »Schattenseite« jedoch zweitrangig als »negative[n] Aspekt bei einer sonst positiven Sache; Nachteil; Kehrseite.« Siehe: »Schattenseite« unter : Duden Definition, verfügbar unter : https://www.duden.de/rechtschreibung/na_Interjekti on_Partikel, [19. 09. 2019].

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schlägt die Hündin, die auch als Kindermädchen fungiert, das Fenster zu und »reißt« den Schatten von Peter ab. So heißt es: Als der zu seinem Sprung ansetzte, hatte Nana das Fenster zugeschlagen, allerdings zu spät, um den Eindringling zu fangen, aber sein Schatten hatte nicht die Zeit gehabt, zu entwischen; ›peng‹, machte das Fenster und riss den Schatten ab.67

Was bei diesem Zitat auffällt, ist die Formulierung »sein Schatten hatte nicht die Zeit gehabt«. Diese erweckt den Eindruck, dass es sich bei dem Schatten um ein eigenständiges Individuum handelt, das von Peter unabhängig agieren kann. Gerade dieser Eigenständigkeit des Schattens soll besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, da durch diese Eigenschaft die Verbindung zu den Themenkomplexen des Unheimlichen und des Fremden aufgezeigt werden kann. Was allerdings anzumerken ist, ist, dass es in der von Barrie geschaffenen fiktiven Welt selbst in der scheinbar realitätsnäheren, in der die Darlings leben, einige fantastischen Elemente gibt. So ist es für Mrs. Darling etwa gar nichts Verwunderliches oder Sonderbares, dass Peters Schatten von ihm abgetrennt wird. Es heißt sogar, dass sie ihn untersuche und als »ganz gewöhnliche[n] Schatten [beurteilt].«68 Auch wie sie im Weiteren mit ihm umgeht, erweckt den Eindruck, dass der Schatten an sich von den fiktiven Figuren in Barries Geschichte eher nicht als unheimlich oder mystisch oder dergleichen angesehen wird. Sie verfährt mit ihm wie mit einer Art Kleidungsstück. Zuerst hängt sie ihn »draußen am Fensterrahmen auf«69, dann rollt sie ihn zusammen und verstaut ihn in einer Schublade.70 Dort vergisst sie dessen Existenz gar und der Schatten tritt erst wieder auf, als Mr. Darling ihn für eine Krawatte hält und sich über diesen erzürnt, weil er sich nicht binden lässt.71 Erläutert wird, dass Mr. Darling »mit der zerknitterten biestigen Krawatte«72 ins Zimmer komme. Das Adjektiv »biestig« erscheint als interessante Wahl, da dadurch eine Assoziation mit dem Monströsen bzw. Animalischen nahegelegt wird und dem Wesen des Schattens somit eine Andersartigkeit und Fremdheit attestiert wird. Als Mr. Darling den Schatten näher untersucht, meint er, dass dieser »wie von einem Schuft [aussehe].«73 Auf diese Weise wird Peter durch seinen abgetrennten Schatten charakterisiert. Der Schatten wird als Teil von ihm verstanden und es wird angenommen, dass sich durch diesen Rückschlüsse auf seinen Besitzer ziehen lassen. Nennenswert ist sicherlich auch, dass Peter zwar zurückkommt, um seinen Schatten zu holen, 67 68 69 70 71 72 73

James Matthew Barrie: »Peter Pan«, vollst. Ausgabe, 1. Aufl., Berlin: Insel 2015, S. 23. Ebd. Ebd., S. 24. Vgl.: ebd. Vgl.: ebd., S. 27. Ebd. Ebd. S. 29.

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allerdings durchaus auch ohne ihn existieren kann. Es scheint jedoch nicht oft vorzukommen, dass er ihn verliert, da Peter nicht weiß, wie man den Schatten wieder anbringt. So fängt er an zu weinen74 als sein Schatten weder von selbst durch Berührung, noch durch »Anpappen« mit Seife wieder mit ihm vereinigt75 werden kann.76 Interessanterweise ist es Wendy, die»[z]um Glück […] gleich [wusste], was zu tun war.«77 Sie näht den Schatten an Peters Fuß an und »bald schon verhielt sich sein Schatten schattengemäß, auch wenn er noch leicht zerknittert war.«78 Daraufhin merkt Wendy an, dass sie ihn vorher hätte »bügeln« sollen.79 Dies lässt wiederum die Assoziationen des Schattens mit einem (leblosen) Kleidungsstück zu. Dieser Vergleich kommt auch darin zum Ausdruck, dass Mrs. Darling ihn auf der Wäscheleine aufhängen will und Mr. Darling ihn mit einer Krawatte verwechselt. Auch die Adjektive, mit denen er beschrieben wird, etwa »verknittert«, erinnern an eine Art Kleidungsstück. Bestärkt wird dies auch durch den Umstand, dass Wendy ihn an Peter annäht. Der Schatten erscheint in dieser ganzen Episode wie ein Kleidungsstück, das man nach Belieben an- und ausziehen kann, und das leicht wieder angenäht werden kann, falls es einmal »reißt«. Der Schatten erfährt dadurch eine Art Normalisierung und verliert etwas von seiner Substanzlosigkeit, jedoch bleibt immer noch eine gewisse Eigenständigkeit bestehen. Nach dieser Szene spielt Peters Schatten keine Rolle mehr, wobei das Wort »Schatten« noch des Öfteren auftaucht. So sind etwa Schatten das letzte, was Mrs. und Mr. Darling von ihren Kindern sehen, als diese ins Nimmerland aufbrechen. Dieser Anblick wird zugleich mit dem Gefühl von »Beklommenheit« verbunden: »[…] am beklemmendsten für die Eltern war, dass sie auf dem Vorhang schattenhaft drei kleine Gestalten in Nachthemden sehen konnten,«80 wodurch der Schatten wiederum mit dem Motiv des Unheimlichen in Verbindung gebrach wird.

74 Wobei nicht deutlich ist, ob er aus Trauer weint, oder eher aus Frust, weil etwas nicht so funktioniert wie er es sich vorgestellt hat. Es ist also nicht klar auszumachen, ob er eine emotionale Bindung zu seinem Schatten aufweist, oder nicht. 75 In der deutschsprachigen Übersetzung wird der Begriff: »vereinigen« verwendet: »[er glaubte] dass, wenn er und sein Schatten sich berührten, sie sich wie Wassertropfen vereinigen würden.« Ebd., S. 37. 76 Vgl.: ebd., S. 37. 77 Ebd. S. 39. 78 Ebd. 79 Vgl.: ebd. 80 Ebd., S. 53. Aus diesem Grund scheint die Interpretation, dass die drei Kinder verstorben sind und sich auf dem Weg ins Totenreich befindet, plausibel. Das Nimmerland würde demnach als Euphemismus für das Totenreich lesbar.

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Fazit Zunächst scheint der Schatten auf die Figuren keineswegs unheimlich zu wirken. Doch für die Lesenden könnte der Schatten und sein Verlust durchaus ein unheimliches Gefühl auslösen, insbesondere wenn man diese mit Peter und der Unsicherheit um dessen Charakter, Wesen und Intentionen verbindet. So ließe sich der Verlust des Schattens als Verdeutlichung von Peters Non-Binarität, seiner Zwischenwesenartigkeit lesen. Allerdings könnte man diesen Verlust auch ganz anders interpretieren. Für Eyal Amiran steht fest, dass der Schatten nicht so sehr ein anderes Selbst repräsentiere, mit dem Peter verbunden sei, oder mit dem er sich identifiziere, sondern als ein Teil von dem Selbst, von dem man beides möchte (Zugehörigkeit und Unabhängigkeit), fungiere.81 Amiran ist der Ansicht, dass der Schatten für Barrie der Teil eines toten Doppelten darstellt, der sowohl getrennt von einem selbst sei als auch nicht.82 Auf diese Weise wird die Verbindung der Figur des Schattens mit der Welt der Toten, dem Tod generell, hergestellt. Auch das Unheimliche lässt sich mit Amirans Ausführungen in dieser Konstellation integrieren. Nicht nur der Aspekt des Todes, des Düsteren, sondern vor allem auch der eines »anderen Selbsts« sticht in diesem Zusammenhang heraus. Hier ließe sich das Motiv des Doppelgängers integrieren, dem Freud in seiner Schrift zum Unheimlichen auch einen prominenten Platz einräumt. Der Schatten ist ein Element, das einerseits mit Peter verbunden ist, aber andererseits getrennt von ihm existieren kann. Für die fiktiven Figuren dient er als Indiz, um Aussagen über Peter und seinen Charakter zu treffen, den Rezipierenden dient er dazu, die Ambivalenz der Figur verstärkt wahrzunehmen. Peter ist keineswegs nur ein harmloser Junge, der immer Spaß haben möchte und nicht erwachsen werden will. Er ist auch ein Wesen, das sich von anderen Menschen unterscheidet, von dem man nicht weiß, wie alt er ist und was die Beweggründe für sein Verhalten sind. Sein Wesen ist unberechenbar und es fällt schwer, ihn in Kategorien (»gut« oder »böse«) einzuteilen. Während er in der Disneyversion geradezu harmlos wirkt, gibt es in der Romanvorlage zahlreiche Stellen, die auf eine »böse« Natur83 der Figur verweisen. Diese Facette der Figur wird in zahlreichen Adaptionen der Geschichte aufgegriffen. In der Serie Once Uupon ATime 81 Nach Amirans These repräsentiere der Schatten »not so much another self to which Peter is connected or with which he identifies but as a part of the self from which one both wants and does not want to be apart.« Eyal Amiran: »The Shadow of the Object in Peter Pan«, ESC: English Studies in Canada 38,3, Association of Canadian College and University Teachers of English, 2012, S. 161–188. Verfügbar unter : https://journals.library.ualberta.ca/esc/index. php/ESC/article/view/24872/18327, [14. 09. 2019], S. 167. Angesprochen werden hier und an anderer Stelle die psychologische Tiefe der Figur, die den Text für eine psychoanalytische Lesart prädestinieren. 82 Vgl.: ebd., S. 167. 83 Die Wendung: »böse Natur« ist natürlich recht allgemein und vage gehalten.

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etwa übernimmt Peter ganz eindeutig die Rolle eines Bösewichts84 und auch im Roman Lost Boy (2017) von Christina Henry wird dieser Aspekt seines Charakters betont. Resümieren lässt sich, dass die Figur polarisiert; Peters Ambivalenz, die nicht nur seinen Charakter und sein Verhalten, sondern sein ganzes Wesen betrifft, bis zur Unsicherheit, ob man es mit einer »guten« oder »bösen« Figur zu tun hat, lässt sich mit dem Motiv des Schattens verbinden. Dieses kann zum einem mit der Welt des Todes, des Düsteren und des Unheimlichen verbunden werden – Peter demnach einer Welt des Fremden, Non-Binären zuordnen – und zum anderen auf die Verweigerung Peters, erwachsen zu werden, bezogen werden. Trotz seines verhältnismäßig kurzen Auftritts, kann der Schatten in Peter Pan folglich auf zahlreiche Facetten der Figur bezogen werden und ihre Ambivalenz durch neue Perspektiven zum Ausdruck bringen.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Barrie, James Matthew: »Peter Pan«, vollst. Ausgabe, 1. Aufl., Berlin: Insel 2015.

Sekundärliteratur Bär, Gerald: »Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm«, erw. Fassung, Diss. Universität Lissabon, 2005. Eßlinger, Eva / Schlechtriemen, Tobias /Schweitzer, Doris / Zons, Alexander (Hrsg.): »Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma«, 1. Aufl., Berlin: Suhrkamp 2010. Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, Mitscherlich, Alexander / Richards, Angela / Strachey, James / Grubrich-Simitis, Ilse / Freud, Sigmund (Hrsg.): Psychologische Schriften, 11 Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2012. [1919] Giese, Peter Christian: »Lektürehilfen E. T. A. Hoffmann Der Sandmann«, 11. Aufl., Stuttgart: Klett 2003. Gutbrodt, Fritz: »Quam cernis, imaginis umbra est. Spiegel und Schatten im Mythos des Narziss«, Michel, Paul (Hrsg.): Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels, Zürich: Pano 2003, S. 181–197. Jentsch, Ernst Anton: »Zur Psychologie des Unheimlichen«, in Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift, 22–23, 1906. 84 Vgl.: Katherine Frazier : »The Peter Pan Paradox: A Discussion of the Light and Dark in J.M. Barrie’s Shadow Child«, Chancellor’s Honors Program Projects 2014. Verfügbar unter : https://trace.tennessee.edu/utk_chanhonoproj/1706, [09. 09. 2019], S. 2.

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Eva Neubauer

Lacan, Jaques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, Haas, Norbert (Hrsg.): Jaques Lacan. Schriften I, aus dem Französischen von Peter Stehlin, Freiburg: Olten 1973, S. 61–70. Rose, Jacqueline: »The Case of Peter Pan. Or : The Impossibility of Children’s Fiction«, Philadelphia: University of Philadelphia Press 1984. von Wilpert, Gero: »Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs«, Stuttgart: Kröner 1978.

Onlinequellen Amiran, Eyal: »The Shadow of the Object in Peter Pan«, ESC: English Studies in Canada 38,3, Association of Canadian College and University Teachers of English, 2012, S. 161–188. Verfügbar unter : https://journals.library.ualberta.ca/esc/index.php/ESC/ article/view/24872/18327, [14. 09. 2019]. Frazier, Katherine E.: »The Peter Pan Paradox: A Discussion of the Light and Dark in J.M. Barrie’s Shadow Child«, Chancellor’s Honors Program Projects 2014. Verfügbar unter : https://trace.tennessee.edu/utk_chanhonoproj/1706, [09. 09. 2019]. »Schattenseite« unter : Duden Definition, verfügbar unter : https://www.duden.de/recht schreibung/na_Interjektion_Partikel, [19. 09. 2019]. Tonkin, Maggie / u. a. (Hrsg.): »From Peter Panic to Proto-Modernism: The Case of J. M. Barrie«, Changing the Victorian Subject, University of Adelaide Press, South Australia, 2014, S. 259–281. Verfügbar unter : www.jstor.org/stable/10.20851/j.ctt1t305b6.16, [19. 09. 2019]. Valentova, Eva: »The Betwixt-and-Between: Peter Pan as a Trickster Figure. J Pop Cult«, verfügbar unter : https://onlinelibrary-wiley-com.proxy.ub.uni-frankfurt.de/doi/full/ 10.1111/jpcu. 12679?sid=EBSCO%3Aedb, [19. 09. 2019].

Kurz-Biografien der Beiträgerinnen

Adriana Acquaviti studierte Germanistik und American Studies an der Goethe Universität in Frankfurt am Main. Im Rahmen ihres Studiums hat sie ein besonderes Interesse an psychoanalytischen und existenzialphilosophischen Forschungszugängen zu kinder- und jugendliterarischen Medien entwickelt. Vor allem die Ästhetisierung und Darstellung verschiedener psychischer Krankheiten standen dabei im Vordergrund. Aktuell studiert sie im Master Ästhetik an der Goethe Universität in Frankfurt am Main. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, welche sie im Rahmen des Seminars »Belebte Behausungen als Handlungsorte und Handlungsträger kinder- und jugendliterarischer Medien« verfasst hat. Anna Adler studiert deutschsprachige Literatur an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Rahmen ihres Studiums befasst sie sich mit narrativen Figurationen psychischer Dispositionen in der Allgemein-, insbesondere aber der Jugendliteratur. Im Blick ihrer Untersuchungen liegt auch die therapeutische Funktion dieser literarischen Phänomene. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Psychoanalytische und tiefenpsychologische Zugänge zur Kinder- und Jugendliteratur« verfasst hat. Mona Jasmin Baumann studiert Anglistik und Germanistik an der Goethe Universität in Frankfurt am Main. Im Rahmen ihres Studiums hat sie ein besonderes Interesse am Aufspüren von Geschlechterstereotypen in deutsch- und englischsprachiger Literatur sowie an psychoanalytischen Lesarten kinder- und jugendliterarischer Texte entwickelt. Aktuell arbeitet sie als studentische Hilfskraft und Tutorin am Institut für England- und Amerikastudien der Goethe Universität in Frankfurt am Main. Nach dem Abschluss ihres Bachelor of Arts plant sie, den Master of Arts in Anglophone Literatures, Cultures and Media zu erwerben und parallel hierzu ein Gymnasiallehramtsstudium zu absolvieren. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Doppelgängerund Spiegelmotive in kinder- und jugendliterarischen Medien« verfasst hat.

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Kurz-Biografien der Beiträgerinnen

Freya Brasse absolvierte ihr Bachelorstudium der Germanistik und Kunstgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Aktuell befindet sie sich im Masterstudium der Komparatistik und Kunstgeschichte an der Martin Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Während ihres Studiums hat sie ein besonderes Interesse an interdisziplinären Themen und der Umsetzung psychoanalytischer Motive in Bild und Text entwickelt. Ihr Beitrag basiert auf ihrer Bachelorthesis, zu der sie im Seminar »Horror und Schauer in Kinder- und Jugendliteratur und -medien« angeregt wurde. Lara Busch studierte Germanistik und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Aktuell studiert sie den Kooperationsmasterstudiengang Kinder- und Jugendliteratur-/Buchwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und an der Gutenberg-Universität in Mainz. Im Rahmen ihres Studiums hat sie ein besonderes Interesse an raumtheoretischen Zugängen zur Kinder- und Jugendliteratur entwickelt. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Road Trips, Großstadtdschungel, Pampa – Aktuelle Jugendromane filmisch ins Bild gesetzt« verfasst hat. Vaiana Dyballa studierte zwischen 1998 und 2005 Psychoanalyse und von 1996 bis 2005 sowie von 2017 bis 2020 Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Verlauf ihres Studiums hat sie ein besonderes Interesse an den Themen psychoanalytische Filmtheorien mit dem Fokus auf den Science-Fiction-Film entwickelt. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Spiegel- und Doppelgängermotive in der Kinder- und Jugendliteratur« verfasst hat. Maren Feller studierte zwischen Oktober 2014 und September 2019 Theater-, Film- und Medienwissenschaft mit dem Nebenfach Germanistik im Bachelor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und verbrachte dabei zusätzlich im Rahmen des Erasmus-Programms ein Semester an der Universit/ di Bologna. Seit Juli 2017 ist sie als studentische Hilfskraft innerhalb des Graduiertenkollegs Konfigurationen des Films an der Goethe-Universität tätig. Seit Oktober 2019 studiert sie im Master den Studiengang Curatorial Studies an der Goethe-Universität und der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule. Im Rahmen ihres Studiums hat sie ein besonderes Interesse für das Kuratieren von Filmen und Medieninstallationen, das Groteske in Performance und Tanz, feministischen Filmen und medialen Darstellungs- und Wahrnehmungsformen in Ausstellungsräumen entwickelt. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Alices Nachfahren – Adaptionen, Bearbeitungen und Medienwechsel« verfasst hat.

Kurz-Biografien der Beiträgerinnen

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Io Josefine Geib hat an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main ihren Bachelor in Germanistik und Geschichte erlangt und sich dabei insbesondere mit psychoanalytischer Literaturanalyse befasst. Ihr inhaltlicher Schwerpunkt liegt auf der Holocaust- und Antisemitismusforschung. Aktuell studiert sie im Master Geschichte an der Pcole des Hautes Ptudes en Sciences Sociales in Paris und befasst sich mit der Entwicklung des modernen Antisemitismus im Deutschland und Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Der Schlaf und das Träumen in der Kinder- und Jugendliteratur« verfasst hat. Laura Haas studierte Germanistik und Ethnologie an der Goethe Universität in Frankfurt am Main. Die inhaltlichen Schwerpunkte ihres Studiums waren ab dem dritten Semester die Neuere Deutsche Literatur, die Kinder- und Jugendliteratur und die Sprachwissenschaft. Im Rahmen ihres Studiums hat sie ein besonderes Interesse an den Themen der Kinder- und Jugendliteratur und insbesondere der ästhetischen Darstellungen von Gewalt und des Bösen entwickelt. Aktuell studiert sie Ethnologie im Master an der Goethe Universität. Ihr Beitrag basiert auf ihrer Bachelorarbeit, die sie – inspiriert durch das Seminar »Historische und ästhetische Charakteristiken tabuisierter Themen in der Kinder- und Jugendliteratur« – am Institut für Jugendbuchforschung verfasst hat. Iana Hosch studierte und absolvierte zwischen 2007 und 2010 Englische Sprache und Literatur, Übersetzungswissenschaft und -praxis (B.A.) an der Staatlichen Universität von Sankt Petersburg, (Russland). Zwischen 2014 und 2019 studierte und absolvierte sie Germanistik, Geschichte und Philosophie der Wissenschaften (B.A.) an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Rahmen Ihres Studiums hat sie besonderes Interesse an den Themen Traummetaphorik, Traumdeutung und -Symbolik in der Kinder- und Jugendliteratur entwickelt, sowie an der Schreibdidaktik, Schreibpädagogik und Beratung von Schüler*innen im Fach Deutsch als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache. Aktuell arbeitet sie nebenberuflich selbstständig als Grundschullehrerin an einer Schule in Frankfurt am Main, als Nachhilfelehrerin und Schreibberaterin und studiert Germanistik (M.A.) an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Der Schlaf und das Träumen in der Kinder- und Jugendliteratur« verfasst hat. Lena-Marie John von Zydowitz studiert Germanistik und Gender Studies an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Rahmen ihres Studiums hat sie sich besonders mit Adoleszenzliteratur beschäftigt. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Historische und ästhetische Charakteristiken tabuisierter Themen in der Kinder- und Jugendliteratur« verfasst hat.

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Kurz-Biografien der Beiträgerinnen

Rachel Lupo studierte Germanistik und Romanistik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Rahmen ihres Studiums hat sie ein besonderes Interesse an den Themen der Psychoanalyse in der Kinder- und Jugendliteratur entwickelt. Aktuell ist sie Soldatin bei der Bundeswehr. Ihr Beitrag basiert auf ihrer Bachelorarbeit, zu der sie im Rahmen des Seminars »Horror und Schauer in Kinder- und Jugendliteratur und -medien« inspiriert wurde. Eva Neubauer studiert Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Japanologie und Germanistik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Verlauf ihres Studiums hat sie ein besonderes Interesse an psychoanalytischer Literaturinterpretation entwickelt, jedoch auch an Ästhetik, Ecocriticism sowie kulturwissenschaftlichen Ansätzen. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Doppelgänger- und Spiegelmotive in kinderund jugendliterarischen Medien« verfasst hat. Rieke Neupert studiert Germanistik und Erziehungswissenschaft an der GoetheUniversität in Frankfurt am Main. Innerhalb ihrer Studienschwerpunkte Kinderund Jugendliteratur, Neuere Deutsche Literatur und Sprachwissenschaft gilt ihr besonderes Interesse psychoanalytischen Zugängen zu Literatur und Film sowie der Beschäftigung mit gegenwartsliterarischen Phänomenen. Neben ihrem Studium arbeitet sie an der Goethe-Universität im Bereich PR und Kommunikation und beschäftigt sich außerdem im Rahmen des Universitätsprojekts »Start ins Deutsche« mit der Lernunterstützung von Kindern. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Psychoanalytische und tiefenpsychologische Zugänge zur Kinder- und Jugendliteratur« verfasst hat. Meggan Noack studiert Germanistik sowie Vor- und Frühgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Rahmen ihres Studiums hat sie ein besonderes Interesse an psychoanalytischen Lesarten von Kunst- und Volksmärchen entwickelt. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Doppelgänger- und Spiegelmotive in kinder- und jugendliterarischen Medien« verfasst hat. Carolin Schreiber studierte Germanistik und English Studies an der GoetheUniversität in Frankfurt am Main. Im Rahmen ihres Studiums hat sie ein besonderes Interesse für die Kinder- und Jugendliteratur entwickelt. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Historische und ästhetische Charakteristiken tabuisierter Themen in der Kinder- und Jugendliteratur« verfasst hat.

Kurz-Biografien der Beiträgerinnen

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Lisa Winter studierte Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Rahmen ihres Studiums der Kinder- und Jugendliteratur hat sie ein besonderes Interesse an der narrativen Darstellung psychologischer Phänomene sowie deren sozialen und historischen Kontexten entwickelt. Aktuell arbeitet sie als wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Ihre Beiträge basieren auf Arbeiten, die sie im Rahmen der Seminare »Klassiker der englischen Kinderliteratur« sowie »Der Schlaf und das Träumen in der Kinder- und Jugendliteratur« verfasst hat. Leonie Zilch studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Zurzeit ist sie Doktorandin im DFG-Graduiertenkolleg »Das Dokumentarische. Exzess und Entzug« an der Ruhr-Universität Bochum. In ihrer Dissertation fragt sie nach dem komplexen Spannungsverhältnis zwischen der dokumentarischen Geste zeitgenössischer Pornografie auf der einen Seite und dem ungebrochenen Interesse der Dokumentation an der Darstellung menschlicher Sexualität auf der anderen Seite. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Klassiker der englischen Kinderliteratur« verfasst hat. Lotta Zipp studiert Germanistik und Anglistik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und hat ein besonderes Interesse an der soziokulturellen Einbettung literarischer Diskurse mit Schwerpunkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie u. A. deren Kontextualisierung in (zeitgeschichtlichen) kinder- und jugendliterarischen Medien. Aktuell arbeitet sie neben dem Studium als studentische Hilfskraft im Universitätsarchiv Frankfurt am Main. Ihr Beitrag basiert auf einer Arbeit, die sie im Rahmen des Seminars »Historische und ästhetische Charakteristiken tabuisierter Themen in der Kinder- und Jugendliteratur« angefertigt hat.

Zur Umschlagabbildung

Die linke Seite der von Anna Stemmann bearbeiteten Collage basiert auf einer Fotografie, die Jean-Martin Charcot zu Studienzwecken von Paul R8nard, dem Klinikfotografen der Pariser SalpÞtriHre anfertigen ließ. Charcot publizierte diese fotografischen Studien zur Hysterie zwischen den Jahren 1876 und 1880 in drei Sammelbänden (vgl.: Georges Didi-Huberman: »Erfindung der Hysterie: Die Photographische Klinik von Jean-Martin Charcot«, 1997). Zu sehen ist Augustine, die am häufigsten fotografierte Hysterikerin, in einer hysterischen Kontraktion (der s. g. Katalepsie). Gegenübergestellt ist dieser hysterischen muskulären Kontraktion das ebenfalls auf einer Fotografie basierende Bild einer Ballerina, die eine ganz ähnliche Position einnimmt. Die erstaunliche Nähe der Inszenierung weiblicher psychischer Krankheit im ausgehenden 19. Jahrhundert zur zeitgenössischen Visualisierung des Ausdruckstanzes, veranschaulicht die gemeinsame Schnittmenge von Krankheit und Ästhetik. (Siehe hierzu auch: Iris Schäfer : »Zur Ästhetik der Krankheit: kinder- und jugendliterarische Krankheitsnarrative zwischen Aufklärung und Ästhetisierung. Ein Überblick«, in: Interjuli – Internationale Kinder- und Jugendliteraturforschung, 01/2017: »Disability and Illness in Children’s Literature«, hrsg. von Marion Rana, S. 6–25 sowie: Iris Schäfer : »Formvollendetes Leiden an ästhetisierten Krankheiten im aktuellen All-Age-Roman«, in: Diegesis, 2017/ 2, »Krankheit erzählen I«, hrsg. von Mat&as Mart&nez, Michael Scheffel u. a., Universität Wuppertal, S. 123–137.)