Zur Kritik der regressiven Vernunft: Beiträge zur "Dialektik der Aufklärung" [1. Aufl.] 978-3-658-22410-3;978-3-658-22411-0

Der Sammelband enthält neue Interpretationen der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, eine

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German Pages XII, 308 [308] Year 2019

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Zur Kritik der regressiven Vernunft: Beiträge zur "Dialektik der Aufklärung" [1. Aufl.]
 978-3-658-22410-3;978-3-658-22411-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
70 Jahre Dialektik der Aufklärung (Gunzelin Schmid Noerr, Eva-Maria Ziege)....Pages 1-20
Front Matter ....Pages 21-21
Zum Begriff der Aufklärung in der Dialektik der Aufklärung (Gunzelin Schmid Noerr)....Pages 23-38
Die Dialektik der Aufklärung als konservatives Palimpsest? (Manfred Lauermann)....Pages 39-63
Nominalismuskritik und „negative Metaphysik“. Philosophiegeschichtliche Überlegungen zum Begriff der Natur in der Dialektik der Aufklärung (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 65-89
Das Dialektik-Projekt und die Psychoanalyse (Wolfgang Bock)....Pages 91-110
Front Matter ....Pages 111-111
Zur Rechtskritik der Dialektik der Aufklärung (Robert Fine)....Pages 113-121
Das „jüdische Problem“ und die Dialektik der Aufklärung (Eva-Maria Ziege)....Pages 123-148
Die Bedeutung der „Elemente des Antisemitismus“ für die Dialektik der Aufklärung (Helmut König)....Pages 149-161
Wer aber von der Geschichte des Subjekts nicht reden will, sollte auch vom Kapitalismus schweigen. Zur Radikalität der Dialektik der Aufklärung (Marcel Stoetzler)....Pages 163-180
Front Matter ....Pages 181-181
Dialektik der Aufklärung in Bayreuth? Wagners Ring im Lichte der Dialektik der Aufklärung (Helge Høibraaten)....Pages 183-207
Die Verführung der Sirenen. Adorno, Blanchot und die Literatur (Vivian Liska)....Pages 209-223
Der Wahrheitsgehalt der Kulturindustrie – Zur Aktualität der Diagnose Horkheimer und Adornos (Hauke Brunkhorst)....Pages 225-242
Front Matter ....Pages 243-243
Die Dialektik der Aufklärung in den Niederlanden (Frederik van Gelder)....Pages 245-269
Zur Rezeption der Dialektik der Aufklärung in den USA und Großbritannien (Lars Fischer)....Pages 271-308

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Gunzelin Schmid Noerr Eva-Maria Ziege Hrsg.

Zur Kritik der regressiven Vernunft Beiträge zur „Dialektik der Aufklärung“

Zur Kritik der regressiven Vernunft

Gunzelin Schmid Noerr · Eva-Maria Ziege (Hrsg.)

Zur Kritik der regressiven Vernunft Beiträge zur „Dialektik der Aufklärung“

Hrsg. Gunzelin Schmid Noerr ehem. Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach, Fachbereich Sozialwesen Frankfurt, Deutschland

Eva-Maria Ziege Kulturwissenschaftliche Fakultät, Fachgruppe Soziologie Universität Bayreuth Bayreuth, Deutschland

ISBN 978-3-658-22410-3 ISBN 978-3-658-22411-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

70 Jahre Dialektik der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Gunzelin Schmid Noerr und Eva-Maria Ziege Teil I  Ideengeschichtliche Hintergründe Zum Begriff der Aufklärung in der Dialektik der Aufklärung. . . . . . . . . . . 23 Gunzelin Schmid Noerr Die Dialektik der Aufklärung als konservatives Palimpsest? . . . . . . . . . . . . 39 Manfred Lauermann Nominalismuskritik und „negative Metaphysik“. Philosophiegeschichtliche Überlegungen zum Begriff der Natur in der Dialektik der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Gerhard Schweppenhäuser Das Dialektik-Projekt und die Psychoanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Wolfgang Bock Teil II  Judentum und Antisemitismus Zur Rechtskritik der Dialektik der Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Robert Fine Das „jüdische Problem“ und die Dialektik der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . 123 Eva-Maria Ziege Die Bedeutung der „Elemente des Antisemitismus“ für die Dialektik der Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Helmut König VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

Wer aber von der Geschichte des Subjekts nicht reden will, sollte auch vom Kapitalismus schweigen. Zur Radikalität der Dialektik der Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Marcel Stoetzler Teil III  Kultur und Kulturindustrie Dialektik der Aufklärung in Bayreuth? Wagners Ring im Lichte der Dialektik der Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Helge Høibraaten Die Verführung der Sirenen. Adorno, Blanchot und die Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Vivian Liska Der Wahrheitsgehalt der Kulturindustrie – Zur Aktualität der Diagnose Horkheimer und Adornos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Hauke Brunkhorst Teil IV  Zur internationalen Rezeption Die Dialektik der Aufklärung in den Niederlanden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Frederik van Gelder Zur Rezeption der Dialektik der Aufklärung in den USA und Großbritannien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Lars Fischer

Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber Gunzelin Schmid Noerr,  bis 2015 Professor für Sozialphilosophie, Ethik und Anthropologie am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach. 1978 baute er an der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. das Max-Horkheimer-Archiv auf und leitete es bis 1995. Zusammen mit Alfred Schmidt edierte er die Gesammelten Schriften und Briefe Max Horkheimers in 19 Bänden (Frankfurt a. M. 1985–1996). Weitere Buchpublikationen: Sinnlichkeit und Herrschaft. Zur Konzeptualisierung der inneren Natur bei Hegel und Freud, 1980; Gesten aus Begriffen. Konstellationen der Kritischen Theorie, 1990; Geschichte der Ethik, 2006; Ethik in der Sozialen Arbeit, 2012, 2. Aufl. 2018; Geflüchtete Menschen. Ankommen in der Kommune. Theoretische Beiträge und Berichte aus der Praxis, hrsg. mit Waltraud Meints-Stender, 2017. Eva-Maria Ziege, Soziologin, Professur für Politische Soziologie an der Universität Bayreuth seit 2012, Visiting Fellow am Centre for the Study of Jewish-Christian Relations, Cambridge, UK 2010 und 2011, DAAD-Professorin an der University of Washington 2006–2010; Gastprofessuren an der Université Paris VII Denis Diderot 2004, 2006, 2007, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin 2001–2006. Publ. u. a.: Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus, 2002; Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil, 2009; Hrsg. (mit Richard Faber), Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften nach 1945, 2008; Hrsg. (mit Richard Faber), Das Feld der Frankfurter Kulturund Sozialwissenschaften vor 1945, 2007; Hrsg. (mit Christina von Braun) „Das ‚bewegliche‘ Vorurteil“. Aspekte des internationalen Antisemitismus, 2004. IX

X

Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis Wolfgang Bock,  Kulturwissenschaftler, Professor für deutsche Literatur, Rio de Janeiro, Brasilien. Langjähriger Mitherausgeber der Zeitschrift für Kritische Theorie (Lüneburg), Publ. u. a.: Astrologie und Aufklärung. Über modernen Aberglauben, 2000; Die Erwartung der Kunstwerke: Ästhetische Modelle bei Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Georges Bataille, 2013; Dialektische Psychologie. Adornos Rezeption der Psychoanalyse und das Göring-Institut, 2017. Hauke Brunkhorst, Soziologe, Seniorprofessor an der Europa-Universität Flensburg, Gastprofessuren in den USA. Publ. u. a.: Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, 2002; Legitimationskrisen: Verfassungsprobleme der Weltgesellschaft, 2012; Das doppelte Gesicht Europas. Zwischen Kapitalismus und Demokratie, 2014; Critical theory of legal revolutions – evolutionary perspectives, 2014. Robert Fine, Soziologe, Professor em. an der University of Warwick (UK). Publ. u. a.: mit Philipp Spencer, Antisemitism and the Left, 2017; Cosmopolitanism, 2007; Political Investigations: Hegel, Marx and Arendt, 2001; Hg. (mit Charles Turner), Social Theory after the Holocaust 2000. Lars Fischer, Historiker, Honorary Research Associate des Department of Hebrew and Jewish Studies, University College London. Publ. u. a.: The Socialist Response to Antisemitism in Imperial Germany, 2007; „A difference in the texture of prejudice“. Historisch-konzeptionelle Überlegungen zum Verhältnis von Antisemitismus, Rassismus und Gemeinschaft, 2016; Beiträge zur Kritischen Theorie u. a. in SAGE Handbook of Frankfurt School Critical Theory, 2018. Helge Høibraaten, Philosoph, Professor em. an der NTNU Norwegian University of Science and Technology (Trondheim, Norwegen), 2004–2009 ­ Henrik-Steffens-Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1990–2001 ­ in der Leitung des Ethikprogramms der norwegischen Forschungsgemeinschaft; Übersetzung und Einleitung von: Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, ins Norwegische u. d. T.: Borgerlig offentlighet, 1971; deutsche Publ. u. a.: Hg. (mit Richard Faber), Henrik Ibsen „Kaiser und Galiläer“, 2011; Hg. (mit Jochen Hille), Northern Europe and the Future of the EU: Nordeuropa und die Zukunft der EU, 2011.

Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

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Helmut König, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der RWTH Aachen, Emeritierung 2017. Letzte Buchpublikationen: Politik und Gedächtnis, 2008; Elemente des Antisemitismus. Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, 2016; Herausgeber (mit Winfried Brömmel/Manfred Sicking), Populismus und Extremismus in Europa. Gesellschaftswissenschaftliche und sozialpsychologische Perspektiven, 2017. Manfred Lauermann,  Soziologe, lehrte an der Universität Dresden, Gastprofessor in Brasilien, Publ. u. a.: Hrsg. (mit Steffen Dietzsch), Hugo Fischer, Lenin der Machiavell des Ostens, [1933] 2018; Nachwort zu: Crane Brinton, Anatomie der Revolution, 2017; Hg. (mit Felicitas Englisch), Randfiguren. Spinoza-Inspirationen, 2005; Empire und Multitude. Wer oder was ist multitudo, 2004. Vivian Liska,  Professorin für deutsche Literatur und Direktorin des Instituts für jüdische Studien an der Universität Antwerpen, Belgien. Seit 2013 Distin­guished Visiting Professor an der Hebrew University, Jerusalem. Forschungsschwerpunkt Neuere Deutsche Literatur, Literaturtheorie, Deutsch-jüdische Denker und Autoren. Publ. u. a.: Als (Mit-)Herausgeberin: Contemporary Jewish Writing in Europe, 2007; What does the Veil Know? 2009; als Autorin: Giorgio Agambens leerer Messianismus, 2008; When Kafka says We. Uncommon Communities in German-Jewish Literature, 2009; Fremde Gemeinschaft. Deutsch-jüdische Literatur der Moderne, 2011; German- Jewish Thought and its Afterlife: A Tenuous Legacy, 2017. Gerhard Schweppenhäuser, Professor für Design- und Medientheorie an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg, Privatdozent für Philosophie an der Universität Kassel und Mitherausgeber der Zeitschrift für kritische Theorie. Vertretungs- und Gastprofessor an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden und an der Duke University in Durham, North Carolina, sowie Professor für Ästhetik an der Freien Universität Bozen. Publ. u. a.: Revisionen des Realismus. Zwischen Sozialporträt und Profilbild, 2018; Design, Philosophie und Medien. Perspektiven einer kritischen Entwurfs- und Gestaltungstheorie, 2018; Designtheorie, 2016; Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, 22016.

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Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

Marcel Stoetzler,  lehrt Soziologie an der Universität Bangor (UK). Buchveröffentlichungen: Beginning Classical Social Theory, 2017; Antisemitism and the Constitution of Sociology, 2014; The State, the Nation and the Jews. Liberalism and the Antisemitism Dispute in Bismarck’s Germany, 2008. Neben Beiträgen zur Geschichte der Gesellschaftstheorie Artikel zu Aspekten feministischer Theorie. Mitglied im Redaktionsbeirat des SAGE Handbook of Frankfurt School Critical Theory und der Zeitschrift Patterns of Prejudice. Frederik van Gelder,  wissenschaftlicher Publizist. War wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung. Register zu Max Horkheimer (Band 19, Gesammelte Schriften, zusammen mit Rainer Clodius). 2007 International Visiting Scholar University of Melbourne. Forschungsschwerpunkte: Kritische Theorie und Psychoanalyse, Trauma und Kriegsfolgen. Publikationen: http://www. amsterdam-adorno.net/.

70 Jahre Dialektik der Aufklärung Gunzelin Schmid Noerr und Eva-Maria Ziege

Die Dialektik der Aufklärung, während des Zweiten Weltkriegs im US-Exil von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno geschrieben und 1947 in Amsterdam publiziert,1 gehört unter den sozialphilosophischen Werken, die auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts reagieren, zu den bedeutendsten. Der heute legendäre Klassiker verbindet begriffliche Analysen und Anwendungen auf Texte der griechischen Antike und der Aufklärung mit gesellschaftskritischen Vertiefungen zu Kulturindustrie und Antisemitismus. Das Buch unterläuft szientifische Leseerwartungen. Es überschreitet die fachlichen Grenzen der philosophischen, historischen, soziologischen, ökonomischen und psychologischen Spezialdiskurse. Sein übergreifendes Thema ist der Selbstzerstörungsprozess der abendländischen Rationalität, des wissenschaftlich geprägten Weltbildes; was es heißt, dass Aufklärung in Mythologie zurückschlägt, in eine Mythologie der affirmativen Selbstvernichtung der Kultur.

1Zur

Werkgeschichte vgl. detaillierter Schmid Noerr 1987 und 2018.

G. Schmid Noerr (*)  ehem. Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach, Fachbereich Sozialwesen, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] E.-M. Ziege  Kulturwissenschaftliche Fakultät, Fachgruppe Soziologie, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_1

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2

G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege

1 Zum werk- und zeitgeschichtlichen Kontext „Aus dem, was da zustande kommt, soll rückwirkend der Sinn unserer früheren Arbeit, ja unserer Existenz erst deutlich werden.“ Dieser Satz, der sich in einem Brief Horkheimers an Leo Löwenthal vom 29.11.1941 findet (Horkheimer 1996a, 224), bezeichnet emphatisch den ‚systematischen‘ Anspruch, der mit dem damals im Entstehen begriffenen Buch verbunden war. Freilich geht er noch von einer Kontinuität zwischen den Arbeiten der 1930er und 1940er Jahre aus, die sich dann so nicht immer einlösen ließ. Die theoretischen und praktischen Verschiebungen der Kritischen Theorie dieser Zeit sind im Rückblick vielleicht deutlicher erkennbar als damals für die Autoren selbst. Schon vor 1933 hatten sie die in den 20er Jahren noch marxistisch inspirierte Hoffnung aufgegeben, dass die Arbeiterbewegung den Nationalsozialismus in Deutschland verhindern würde. Dazu hatten die empirischen Forschungen des Instituts für Sozialforschung zu den Einstellungen deutscher Arbeiter und Angestellter beigetragen. Weitere Institutsprojekte waren seither der Erforschung des autoritären Denkens in verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Erscheinungsformen gewidmet. Die Dialektik der Aufklärung knüpft zwar vielfach an diese Forschungen sowie an die Aufsätze an, die von 1932 bis 1941 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen waren, weist aber ihnen gegenüber, bedingt durch die zivilisatorische Katastrophe des Völkermords an den Juden und des Zweiten Weltkriegs, auch erhebliche Brüche auf. Philosophisch ging es nicht mehr nur darum, Grundbegriffe des abendländischen Denkens in ihren geschichtlich-­ gesellschaftlichen Bezügen zu rekonstruieren, vielmehr sollte die „neue Art von Barbarei“ (Horkheimer/Adorno [1947] 1987, 16) in einem darüber weit hinausreichenden anthropologischen und universalgeschichtlichen Horizont situiert werden. In der Nachkriegszeit, als das Buch publiziert wurde, veränderte sich die politische Lage noch einmal grundsätzlich. Aus den gemeinsamen Siegern über den Faschismus (so die zeitgenössische Diktion) wurden schon bald feindliche Blöcke, die sich im Kalten Krieg gegenüberstanden. Als das Institut für Sozialforschung aus dem US-Exil zurückkehrte und an der Frankfurter Universität unter Horkheimers Direktorat neu gegründet wurde, sahen Horkheimer und Adorno sich – auch institutionell – mit völlig neuen Aufgaben konfrontiert. Im Nachkriegsdeutschland ging es vorwiegend nicht mehr nur um Forschung in der Absicht, Vorurteilsstrukturen zu erkennen und abzubauen, sondern um die Mitwirkung am Aufbau demokratischer Bildungsinstitutionen. In der Vorbemerkung zur Neuausgabe der Dialektik der Aufklärung 1969 erklärten die Autoren, wie sich ihre Diagnose eines faschistischen Rückfalls in die Barbarei der vierziger Jahre zu ihrer seitherigen institutionellen Praxis in der Bundesrepublik Deutschland verhielt:

70 Jahre Dialektik der Aufklärung

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„Die in dem Buch erkannte Entwicklung zur totalen Integration ist unterbrochen, nicht abgebrochen; sie droht, über Diktaturen und Kriege sich zu vollziehen.“ Heute komme es darauf an, „Freiheit zu bewahren, sie auszubreiten und zu entfalten, anstatt, wie immer mittelbar, den Lauf zur verwalteten Welt zu beschleunigen […]“ (Horkheimer/Adorno [1969] 1987, 14). Die „Entwicklung zur totalen Integration“ wäre demnach, wenn diese Diagnose tatsächlich zuträfe, doch keine prinzipiell unumkehrbare. Wäre sie wenigstens partiell aufzuhalten, dann möglicherweise auch aufgrund der Einsicht in ihre gefährliche Dynamik. Das Buch trägt den Untertitel Philosophische Fragmente. Das Unfertige, Offene ist ihm in allen seinen Teilen anzusehen. Ob das letztlich ein Mangel oder ein Vorteil ist, darüber gehen die Einschätzungen auseinander. Die locker zusammengestellten Teile stehen (worauf in der Vorrede zur ersten, bloß als Typoskript vervielfältigten Fassung von 1944 hingewiesen wird) in Beziehung zu anderen, damals im Institut für Sozialforschung in New York und Los Angeles durchgeführten Studien, insbesondere zu den unter dem Sammeltitel Studies in Prejudice 1949/50 erschienenen, deren berühmtester Teil die von Adorno mitverfasste Authoritarian Personality ist. Die Notiz „fortzusetzen“, die sich am Ende des Fragments über Kulturindustrie findet, die aber seit der Ausgabe von 1969 gestrichen wurde, ist einerseits buchstäblich zu nehmen – die weggelassene Fortsetzung des Kapitels wurde erst aus Adornos Nachlass publiziert (Adorno [1942] 1984) –, andererseits aber auch symbolisch, insofern die Autoren sich der unerfüllten Desiderate, insbesondere des Mangels an ökonomischer Fundierung ihrer Gesellschaftskritik, durchaus bewusst waren. Ungedrucktes findet sich auch in den Nachgelassenen Schriften Horkheimers (Horkheimer 1985b). Noch längere Zeit hofften sie, die systematischen Lücken durch einen zweiten Band auszufüllen und weitere Themenbereiche im Sinne ihrer Vernunftkritik zu erschließen. Welche Ideen sie zu dieser Fortsetzung hatten, aber auch, weshalb diese nicht zustande kam, kann man wenigstens teilweise ihren nachgelassenen Materialien, Diskussionsprotokollen und Briefen entnehmen. Diese sind inzwischen in den Editionen der Schriften und Briefwechsel Horkheimers und Adornos dokumentiert.

2 Wirkungsgeschichte Die Wirkungsgeschichte der Dialektik der Aufklärung verlief eigenartig. Lange Zeit wurde sie kaum wahrgenommen und schleppend rezipiert. Der Querido-Verlag, bei dem sie 1947 nach den Jahren des amerikanischen Exils in deutscher Sprache in den Niederlanden erschien, hatte von 1933 bis 1940 wichtige

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deutschsprachige Exilliteratur veröffentlicht und war, nachdem Emanuel Querido 1943 von den Nazis ermordet worden war, nach dem Krieg wiedereröffnet worden. Doch war der Verlagsort für die deutsche Öffentlichkeit der Nachkriegszeit nun abgelegen. Immerhin erschienen Teildrucke aus dem Buch in Zeitschriften und Zeitungen, etwa Sinn und Form oder der Süddeutschen Zeitung. So wurde das Buch während der 50er und 60er Jahre langsam bekannt, bis es dann seit den Raubdrucken der Studentenbewegung einen einzigartigen Einfluss auf die intellektuelle Entwicklung Westdeutschlands gewann.2 Erst danach folgte 1969 die Neuauflage. Horkheimer, der seit 1961 im Tessin lebte, hatte eine besondere Beziehung zu Italien, und schon 1966, noch vor der deutschen Neuausgabe der Dialektik der Aufklärung, erschien eine erste Übersetzung in italienischer Sprache. Während Adorno eine deutsche Neuausgabe befürwortete, zögerte Horkheimer längere Zeit und stimmte ihr erst nach detaillierten Überarbeitungsvorschlägen Friedrich Pollocks zu. Die Neuausgabe erschien 1969 im Frankfurter S. Fischer Verlag; die Taschenbuchausgabe folgte 1971. In Kreisen der Studentenbewegung wurden die textlichen Änderungen damals empört als Verleugnung des marxistischen Hintergrundes des Buches registriert.3 Zugleich wurde es, bis dahin ein Geheimtipp für Eingeweihte, zu einem Buch, das man las und auf das sich viele bezogen. Da die Autoren prominent und als Linke hochkontrovers waren, folgte nun eine proliferierende Rezeption und eine lange Reihe von Rezensionen erschien (Görzen 1987). Auch kamen in den folgenden Jahren zahlreiche Übersetzungen heraus, so 1969 auf Argentinisch, 1972 auf Englisch und Dänisch, 1974 auf Französisch und noch einmal Italienisch, 1981 auf Schwedisch, 1985 auf Portugiesisch, 1987 auf Niederländisch, 1995 auf Polnisch und Spanisch, 2002 nochmals auf ­Englisch. Der Text der Dialektik der Aufklärung, mit dem der Leser heute in der Regel umgeht, entspricht der zuletzt autorisierten Ausgabe von 1969. In der in Band 5 der Gesammelten Schriften Horkheimers 1987 erschienenen textkritischen Ausgabe sind die Abweichungen gegenüber der mimeografierten Fassung von 1944 und dem Erstdruck von 1947 verzeichnet (Schmid Noerr 1987; van Reijen/Bransen 1987).

2Die

Autorengruppe um Friedrich H. Tenbruck spricht von der Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule als der „intellektuellen Gründung der Bundesrepublik“ (Albrecht u. a. 1999). 3Van Reijen, Willem/Bransen, Jan (1987, 453–457).

70 Jahre Dialektik der Aufklärung

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Die Dialektik der Aufklärung lieferte insbesondere Anregungen zur Gesellschaftskritik von Kunst und Unterhaltung,4 von Autoritarismus und Nationalismus. Es geht um Macht als Prinzip aller Beziehungen. Die Herrschaftskritik drückt sich insbesondere in dem idealtypischen Begriffspaar der Figur des „Rebellen“ im Unterschied zu der des „Revolutionärs“ aus. Der Rebell ist der Mensch im Spätkapitalismus, der sein Streben nach Freiheit durch den „Schein von Freiheit“ paradox befriedigt und sich damit der Unterdrückung nicht nur freiwillig unterwirft, sondern sie verstärkt.5 In der späteren Rezeption rückten auch andere Aspekte des Buches in den Fokus der Aufmerksamkeit, etwa wirkte es in die epochalen Auseinandersetzungen um Fragen der Geschlechterbeziehungen, der ökonomischen Formierung des Sozialen oder der Umweltzerstörung hinein. Wiederholt haben sich Theorien eines alternativen, nicht bloß instrumentell-technischen und ökonomisch-gewinnorientierten Naturverhältnisses auf die Dialektik der Aufklärung bezogen.6 Das Buch liefert nachhaltig Anregungspotenzial, auch im Kontext der gegenwärtigen nachfordistischen Epoche des Kapitalismus. Fortentwicklungen der digitalen Technik (von der die Autoren noch nichts ahnen konnten), nicht zuletzt im Zusammenhang mit neuen autoritären Staatsformen, scheinen Stück für Stück die hellsichtigen Prognosen der Dialektik der Aufklärung vom Ende des Individuums zu verwirklichen.7

3 „Intérieur“ und „extérieur“ Wie bei den prononcierten Thesen der Dialektik der Aufklärung nicht anders zu erwarten, blieben diese nicht unwidersprochen. Manches, was die Autoren vor mehr als 70 Jahren begrifflich zu erfassen suchten, kann historisiert werden oder lässt sich heute präziser beschreiben. Andererseits war und ist das Buch Fehldeutungen und Missverständnissen ausgesetzt. Deren wichtigster Grund liegt wohl in der Besonderheit des dialektischen Denkens, in der Verflüssigung der Begriffe. Wer damit nicht umzugehen versteht, wird schnell dazu verleitet, partielle Thesen der Dialektik der Aufklärung als Allgemeinsätze zu hypostasieren beziehungsweise

4Vgl.

Høibraaten und Brunkhorst in diesem Band. Høibraaten in diesem Band. 6Schweppenhäuser geht im Beitrag in diesem Band auf die philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen eines nicht instrumentellen Naturbegriffs ein. 7Vgl. die Beiträge von Brunkhorst und Bock in diesem Band. 5Vgl.

6

G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege

als angebliche Fehlurteile zurückzuweisen. Es ist wahrlich nicht immer leicht nachzuvollziehen, wie sich die Deutungen in paradoxen Zuspitzungen oft wechselseitig unterlaufen; wie sich überkreuzende Spuren bilden, die widersprüchliche Leseweisen der Dialektik der Aufklärung zulassen; wie solche Widersprüche selbst innerhalb eines der Fragmente unentscheidbar bleiben können. Wenn auch die studentische Empörung der 60er und 70er Jahre über die – vermeintliche oder tatsächliche – Abkehr der Autoren vom Marxismus einem gewissen Dogmatismus entsprang, mit dem man die älteren Schriften der Kritischen Theorie für eigene Zwecke politisch-gegenwärtig zu instrumentalisieren hoffte, so hatte sie doch einen wahren Kern getroffen. Denn Horkheimer und Adorno fürchteten zeitlebens, gerade aufgrund des Marx’schen Paradigmas ihrer Sozialphilosophie, parteipolitisch, sei es von Anhängern, sei es von Gegnern, vereinnahmt zu werden. Dagegen wollten sie durch die Form ihres Schreibens und durch ihre Publikationspolitik Vorkehrungen treffen. Sowohl unter den unterschiedlichen Bedingungen des amerikanischen Exils als auch der Nachkriegszeit sahen sie sich veranlasst, zwischen intern und extern Sagbarem zu unterscheiden. Damit knüpften sie an eine Unterscheidung zwischen „intérieur“ und „extérieur“, zwischen philosophischem Interesse und Gestaltung der Außenwelt, zwischen Marx’schem „Reich der Freiheit“ und „Reich der Notwendigkeit“ an, die Horkheimer schon mit seinem Jugendfreund Pollock pflegte. In der Tradition Gotthold Ephraim Lessings, eines sich der Ambivalenzen der Aufklärung bewussten Aufklärers, lässt sich diese Differenz auch als eine von „esoterisch“ und „exoterisch“ bezeichnen.8 Für das Schreiben im 20. Jahrhundert hat besonders Leo Strauss plausibel gemacht, dass die Techniken der Lessingzeit erneut in Gebrauch kommen mussten, wollte man die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse ausdrücken. Horkheimer beherrschte mit einer manchmal täuschend einfachen Schreibweise – deren Tiefenstruktur und „‚esoteric‘ significance“ kaum zu entschlüsseln waren – perfekt beides. (Horkheimer [1942] 1996, 366) Adornos Schreibweise, die alles andere als einfach war, versteckte den Sinn, ja die Sinne in immer neuen dialektischen Wendungen.9 Die Sekundärliteratur zur Dialektik der Aufklärung hat, nach dem schleppenden Beginn in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten, einen beträchtlichen Umfang erreicht. Die Autoren der Dialektik der Aufklärung sprachen von einem „Zeitkern der Wahrheit“ (Horkheimer/Adorno [1969] 1987, 13). Das heißt, erst

8Vgl. 9Vgl.

Lauermann in diesem Band. Ziege in diesem Band.

70 Jahre Dialektik der Aufklärung

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in der Beziehung zur Zeit ihrer Entstehung wie auch zu der ihrer Rezeption entfaltet sie ihre Sinne. So erweist sich die Wahrheit der Darstellung daran, ob die Explikation der im Text enthaltenen geschichtlichen Erfahrungen Mittel an die Hand gibt, die eigene Seinsweise besser zu verstehen.

4 Frankfurter Schule Wie verhält sich die Dialektik der Aufklärung zu der seit den fünfziger, sechziger Jahren sogenannten „Frankfurter Schule“? Es ist umstritten, ob es sich bei der Frankfurter Schule überhaupt um eine „Schule“ handelt, ja der Begriff der wissenschaftlichen Schule selbst ist nicht ganz unproblematisch – und Horkheimer, Adorno und Weggefährten hätten sich selbst nur schwerlich so bezeichnet (Vgl. Ziege 2009, 34 ff.). Dennoch ist es nützlich, den Arbeitszusammenhang mithilfe dieses wissenssoziologischen Begriffs zu reflektieren. Zu den idealtypischen Eigenschaften einer Schule gehört, dass sie ein Schulhaupt und eine soziale Gruppe hat, eine autonome Vereinigung, die in Opposition zu der sie umgebenden größeren scientific community existiert. Dazu zählt auch die Existenz eines Instituts, das, in welcher Form auch immer, an eine Universität angebunden ist, typischerweise an eine Universität mit hoher Reputation. Insbesondere aber muss das Paradigma einer Schule klar erkennbar sein und sich deutlich von anderen Ansätzen unterscheiden. Daraus folgt, dass auch der wissenschaftliche Streit in zyklischen Abständen eine spezifische Funktion erfüllt – die der Abgrenzung der eigenen Schule von anderen Schulen und der Reprofilierung des eigenen, verblassenden Paradigmas. Im Fall der Frankfurter Schule waren dies etwa der „Revisionismusstreit“ und der „Positivismusstreit“.10 Horkheimer als Gründer und Haupt der Schule hatte in seiner Antrittsvorlesung 1931 als Direktor des Instituts für Sozialforschung ein Forschungsprogramm entworfen, das sich in seinen theoretischen und methodologischen Komponenten deutlich von den Ansätzen anderer Schulen unterschied. Dieses Gründungsdokument aktualisierte und verstärkte er 1937 – insgeheim aus Anlass von 70 Jahren Marx’sches Kapital – mit dem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ in der institutseigenen Zeitschrift für Sozialforschung, mit einem gemeinsamen Zusatz mit Marcuse.

10Vgl.

Bock in diesem Band.

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Nachdem Adorno Horkheimer 1938 in die USA gefolgt war, bewegte er sich schnell von der Peripherie ins Zentrum der Schule – nur dass diese erst einmal zerfiel. Unterschiede zwischen den ehemaligen Institutsangehörigen brachen auf, die zuvor verdeckt geblieben waren. Die Finanzierung des Instituts war zunehmend gefährdet. Horkheimer wünschte sich eine Pause vom „Betrieb“. Er, und dann auch Adorno, siedelten von New York nach Los Angeles um, während der Arbeitszusammenhang des größeren Kreises fast erlosch. So verließ Erich Fromm, seit 1930 der wichtigste psychoanalytische Mitarbeiter, 1939 nach verschiedenen Konflikten das Institut. Herbert Marcuse trat aus ökonomischen Gründen 1942 in den Dienst des kriegswichtigen Office of Strategic Services in Washington D.C., wie auch Franz L. Neumann und Otto Kirchheimer (Vgl. Müller 2010; Laudani 2016). Henryk Grossmann blieb zwar formell noch bis 1948 Institutsmitarbeiter, hatte sich aber schon seit Jahren mit dem inneren Kreis aus politischen und theoretischen Gründen im Dissens befunden. In innerer Verbundenheit hielt nur noch Leo Löwenthal in New York und an der dortigen Columbia-Universität die Stellung. Horkheimer und Adorno schrieben die Dialektik der Aufklärung im Wesentlichen von 1941 bis 1944 in splendid isolation an der Westküste. Dies war die Zeit der engsten literarischen Zusammenarbeit. Aber auch in der Nachkriegszeit, im in Frankfurt wiedererrichteten Institut, blieb ihre oft nur im Hintergrund wirksame Kooperation für beide maßgeblich. Horkheimer sorgte mit strategischem Denken und Handeln für die institutionelle Verankerung und bildungspolitische Einflussnahme der Schule und ließ sich viele Manuskripte zu seinen Reden von Adorno entwerfen oder korrigieren. Ihre gemeinsamen Seminarveranstaltungen waren für eine ganze Studentengeneration prägend. In einem Offenen Brief zum 70. Geburtstag Horkheimers schrieb Adorno 1965 über die „gemeinsame Existenz“ beider in mehr als 40 Jahren Freundschaft. Deren geheimen Sinn sah er im „Widerstand […] gegen die totale Gewalt des Bestehenden“ (Adorno [1965] 1986, 155). Schon hier begann Adorno in der Außenwahrnehmung der Kritischen Theorie zu dominieren. Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Schulzusammenhang der Kritischen Theorie ist die spätere und bis heute andauernde Kontroverse darüber, inwieweit die Dialektik der Aufklärung einen Bruch zu den Aufsätzen in der Zeitschrift für Sozialforschung darstellt, weit mehr als von bloß antiquarischem Interesse. Sie ist mit der Frage verbunden, wie weit oder ob sich die Kritische Theorie seit den vierziger Jahren von Marx löste und eine Wendung zu einer negativistischen Geschichtsphilosophie vollzog. So argumentierte etwa Jürgen Habermas,

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prominentester Nachfolger,11 in einer Auseinandersetzung mit Horkheimers Werk (Habermas 1985, 165). Schon die Angehörigen der Schule selbst, etwa Marcuse oder Kirchheimer, waren (ganz in Habermas’ Sinn) 1947 von dem ersten gemeinsamen Arbeitsprodukt Horkheimers und Adornos eher enttäuscht, das ihnen eine Absage an Marx zu sein schien.12 Dass der Marx’sche Gehalt hingegen gerade der paradigmatische Kern der Kritischen Theorie von der Dialektik der Aufklärung bis hin zu The Authoritarian Personality und in Kontinuität zur Zeitschrift für Sozialforschung war, bekräftigte Adorno selbst (Adorno 1948, 81)13. In diesem Sinne interpretierte es auch Alfred Schmidt, ein prominenter Schüler Horkheimers. Mit kontroversen Deutungen wie denen von Habermas oder Schmidt begann die Explikation der Kritischen Theorie als Schule. Der minimale Zyklus, in dem die Existenz einer Schule fixiert werden kann, umfasst nach Mirskij (1977, 188 f.) drei (sich teilweise überlappende) Generationen: Lehrer, Schüler des Lehrers und Schüler der Schüler. An diesem Zyklus kann man sich im folgenden Blick auf die Rezeptionsgeschichte orientieren. Im Fall der Frankfurter Schule ist nach der ersten Generation der Gründer die zweite Generation der unmittelbaren Schüler schon in den 30er Jahren anzusetzen, die in den 50er Jahren selbstständig arbeiteten (z. B. Heinz Maus). Die dritte Generation besteht aus den Schülern und Mitarbeitern der 50er und 60er Jahre (wie z. B. Alfred Schmidt, Oskar Negt, Albrecht Wellmer), in der sich Philosophie und Soziologie wieder ausdifferenzierten. Mit den Nachlass-Archiven, den herausgegebenen Schriften, Briefen und Materialien Horkheimers und Adornos, aber auch anderer wie Friedrich ­Pollock, Siegfried Kracauer, Karl Landauer, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal verfügen wir heute über sehr viel eingehendere Wissensgrundlagen als in den 50er Jahren, als die „Frankfurter“ in der Bundesrepublik ihre Wirkung als Schule entfalteten. Den Materialien ist zu entnehmen, dass die erste Generation des Schulgründers und seiner Mitarbeiter und Schüler, auch mit Blick auf das Exil, eine umsichtige Publikationspolitik betrieb, sich strategisch darstellte, selbst

11Habermas

war, bei aller theoretischen Nähe zu einigen Positionen der Kritischen Theorie, nie „Schüler“ ihrer Protagonisten. Er trat 1956 von außen, zunächst geprägt durch konservative Kulturkritik, als Assistent Adornos, der schon früh seine eigenständige Produktivität anerkannte, ins Institut ein. Nach Konflikten mit Horkheimer, der, auch in der Annahme, das Institut nach außen schützen zu müssen, zunehmend politisch konservativ auftrat, verließ er das Institut einige Jahre später wieder und habilitierte in Marburg. 12Vgl. Lauermann in diesem Band. 13Vgl. etwa die Beiträge von Brunkhorst, Lauermann oder Stoetzler in diesem Band.

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kommentierte und die Rezeption ihrer Publikationen möglichst zu steuern bemüht war. Walter Benjamin erreichte so eine internationale Berühmtheit, die mit der Kritischen Theorie verbunden ist, aber sie inzwischen weit überstrahlt – genau umgekehrt zu seiner Unbekanntheit zu Lebzeiten. Was Texte aus dem engeren Kreis anging, so sollten manche aus bestimmten Gründen nicht republiziert werden, weil der Marx’sche Gehalt exoterisch zu problematisch schien,14 weil die jüdische Selbstkritik zu offen war,15 weil das kritische Verhältnis zur Psychoanalyse Wasser auf die falschen Mühlen hätte leiten können …16 So verhielt es sich, wie oben dargestellt, auch mit der Dialektik der Aufklärung. Als die Erstauflage Anfang der sechziger Jahre vergriffen war und sich die Frage einer Neuauflage stellte, schrieb Friedrich Pollock an Horkheimer über seine frische Lektüreerfahrung im Januar 1961: „Wie viele bedeutende Gedanken darin stehen […] – und wie wenig oder besser viel weniger als vor fünfzehn Jahren man heute sagen kann […]. Die Gründe meiner grünen Anstreichungen sind selfevident; streng genommen hätte ich noch viel mehr anstreichen müssen. Meine Fragezeichen und Kreuzchen bedeuten vorwiegend Bedenken gegen eine allzu offene Sprache. […] Im ganzen komme ich zu dem sehr betrüblichen Schluß, daß sich der Inhalt der ‚Dialektik‘ zur Massenverbreitung nicht eignet.“17 Ganz im Gegensatz dazu die Reaktion Marcuses: „ein ungeheures Buch […] Also: NEUAUFLAGE!“18 Die diametral entgegengesetzte Conclusio der beiden kann ebenfalls auf „intérieur“ und „extérieur“, auf die Unterscheidung esoterisch/ exoterisch zurückgeführt werden. Das, was Pollock nicht offenlegen wollte, legte Marcuse – jedenfalls für Adorno – zu offen.

5 Umstrittene Deutung des Schulparadigmas Adorno starb 1969, Horkheimer 1973. Schon zuvor hatten Weggefährten, Mitarbeiter, Schüler die Staffeln übernommen. Der Deutungsprozess und der Kampf um Deutungen war, wie sich an vielen Orten nachlesen lässt, von den politischen Kämpfen in der Zeit des Kalten Kriegs nicht zu trennen. So wurden in der entstehenden

14Vgl.

Lauermann in diesem Band. Ziege in diesem Band. 16Vgl. den Beitrag von Bock in diesem Band. 17Brief Pollocks an Horkheimer: (Pollock [1961], in: Horkheimer 1996b, 502). 18Brief Marcuses an Horkheimer und Adorno: (Marcuse [1962], in: Horkheimer 1996b, 533). 15Vgl.

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Sekundärliteratur verschiedene Hypothesen erprobt, den Abschied Horkheimers oder Adornos vom marxistischen Schulkern zeitlich zu bestimmen. Galten die großen ­Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung noch als marxistisch, so konnte ein erster Bruch für manche mit der Umbenennung der Zeitschrift für Sozialforschung 1939 in Studies in Philosophy and Social Science ausgemacht werden. Andere datierten diesen Bruch mit der Dialektik der Aufklärung, wieder andere mit The Authoritarian Personality. Ob überhaupt noch und inwiefern marxistische Kernelemente in der Neukonstituierung des IfS nach 1950 nachweisbar waren, wurde ebenso kontrovers diskutiert. Eine These könnte lauten, dass der marxistische Kern sich zuweilen als philosophisches Traktat, zuweilen auch als soziologische Tatsachenanalyse ausdrücken konnte, dass er esoterisch bleiben oder exoterisch werden konnte. Das vergrößerte die Zahl möglicher Rezipienten im wissenschaftlichen Feld und öffnete den Weg für eine breite Rezeption. Damit kam es immer wieder auch zu Fehldeutungen und Schismen, mochten sie manchmal auch wissenschaftlich produktiv sein. Habermas nannte die Dialektik der Aufklärung das „schwärzeste Buch“ der Kritischen Theorie (Habermas 1985, 130). Das könnte zumindest in einem deskriptiven Sinn zutreffen. Aber ist sie auch ein fatalistisches Buch, das einer positiven Aufklärung jegliche praktische Perspektive nimmt? Dagegen spricht zunächst einmal die Konzeption der Darstellungsform des Buches, wie Horkheimer sie in einem Brief vom 19.12.1942 Herbert Marcuse mitteilte: „[…] it sounds somewhat negativistic and I am now trying to overcome this. We should not appear as those who just deplore the effects of pragmatism. I am reluctant, however, to simply add a more positive paragraph with the melody: ‚But after all rationalism and pragmatism are not so bad.‘ The intransigent analysis as accomplished in the first chapter seems in itself to be a better assertion of the positive function of rational intelligence than anything one could say in order to play down the attack on traditional logics and the philosophies which are connected with it.“ (Horkheimer [1942] 1996a, 391) Eine „Rettung“ der als selbstzerstörerisch dargestellten Aufklärung sollte in erster Linie mittels deren radikaler (Selbst-)Kritik erfolgen. So hat auch Alfred Schmidt wiederholt (z. B. 1976) darauf hingewiesen, dass der Negativismus der ­Kritischen Theorie nicht ontologisch, sondern methodologisch zu verstehen ist. Auch die gesamte institutionelle und theoretische Praxis (Demirovic 1999)19 der Autoren

19In seiner umfangreichen Untersuchung zur Entwicklung der Kritischen Theorie schlägt Demirovic vor, die Dialektik der Aufklärung „als ein praktisches Buch“ zu lesen (Demirovic 1999, 44).

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sowie deren intensive bildungspolitische Aktivitäten in der jungen Bundesrepublik der Nachkriegszeit20 sprechen gegen eine Absage an Aufklärung. Man denke nur an Horkheimers langen Brief an den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, vom Januar 1964, in dem er konstruktiv zu den damaligen bildungspolitischen Leitsätzen der SPD Stellung nimmt. Und in der Tat, warum hätte man Antisemitismusforschung in den USA betreiben sollen, wenn man nicht annähme, man könne die Judenfeindschaft in Teilen bekämpfen? Noch diejenigen, die sich im Gefolge der antiautoritären Bewegungen seit den 60er Jahren auf die Dialektik der Aufklärung beriefen, folgten, ohne sich bewusst auf den späten Horkheimer zu beziehen, dessen Maxime, „das Schlimme erwarten und doch das Gute versuchen“ (Horkheimer [1972] 1985a). Theoretischer Pessimismus und praktisch-politischer Optimismus/Pragmatismus liefen auf unterschiedlichen Reflexionsebenen nebeneinander her. In den Vorlesungsstichworten Adornos vom November 1964 heißt es: „Nach Auschwitz, der bereits vollzogenen, nicht nur spenglerisch erwarteten Regression, wirkt nicht nur jede positive Fortschrittslehre, sondern jede Behauptung eines Sinnes der Geschichte problematisch und affirmativ.“ (Adorno [1964] 2006, 9 f.) Schon in den 70er Jahren begann die Zeit der historisierenden Gesamtdarstellungen, noch von Protagonisten der ersten Schulgeneration begleitet, besonders von Leo Löwenthal, der 1993 starb, und der gewissermaßen ein Interpretationsmonopol gewann. Löwenthal war für die erste Monografie über die Frankfurter Schule des Amerikaners Martin Jay (1973, deutsch 1976) eine wichtige Quelle; Horkheimer selbst steuerte für die deutsche Ausgabe noch ein Vorwort bei. 1978 erschien eine schmale, aber kenntnisreiche Studie von Helmut Dubiel, 1986 das bis heute nicht überholte, große Standardwerk von Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. In der Dekade der achtziger Jahre begann die bis heute andauernde Reihe der Tagungen von scheinbar nicht nachlassender Frequenz (etwa dokumentiert in Schmidt/Altwicker 1986, v. Friedeburg/Habermas 1983). Auch wenn es etwas vereinfacht ist, kann man für die Bundesrepublik von vier Rezeptionsschüben sprechen: Ende der achtziger Jahre, Ende der neunziger Jahre, Ende der ersten Dekade der 2000er Jahre und dem aktuellen Schub 2016 bis 2018. Die im Folgenden aufgeführten Publikationen werden beispielhaft, nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, genannt.

20Vgl.

Schmid Noerr 2018.

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1) 1987 erschien der Band Vierzig Jahre Flaschenpost: „Dialektik der Aufklärung“ 1947–1987, herausgegeben von Gunzelin Schmid Noerr und Willem van Reijen. 1989 folgte Die Aktualität der „Dialektik der Aufklärung“, herausgegeben von Harry Kunnemann und Hent de Vries. 2) Etwa zehn Jahre später folgte ein weiterer Schub mit Jenseits instrumenteller Vernunft. Kritische Studien zur Dialektik der Aufklärung, herausgegeben von Manfred Gangl und Gérard Raulet (1998). Die Herausgeber waren nun Schüler und Rezipienten der dritten Generation. 1999 erschienen zwei Gesamtdarstellungen der Schule, die diese indes entschieden gegensätzlich bewerteten: Clemens Albrecht et al. und Alex Demirovic; außerdem ein wichtiger, von Detlev Claussen, Oskar Negt und Michael Werz herausgegebener Band über die Bedeutung der USA für die Kritische Theorie. 3) Der nächste Schub der Publikationen ab 2003 brachte eine veränderte Zugangsweise mit sich. Nun begann eine Generation mit der Auseinandersetzung, die teilweise nicht einmal mehr zu den Schülern der Schüler der Schüler gehörte und, da sie zu jener Zeit noch nicht geboren oder sehr jung war, eine nüchterne Distanz zu den politischen Kämpfen der 1960er und 1970er und den in sie involvierten Kohorten einnehmen konnte. 2003, zu Adornos 100. Geburtstag, erschienen gleich drei umfangreiche Biografien (Claussen, Müller-Doohm, Jäger). 2007 und 2008 erschienen zwei Sammelbände, die die Frankfurter Schule im Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften vor und nach 1945 verorteten (Faber/Ziege 2007; Faber/Ziege 2008). Die Bedeutung der USA wurde in zwei Arbeiten, einmal aus deutscher, einmal aus amerikanischer Sicht, 2009 herausgearbeitet (Wheatland 2009; Ziege 2009). 2011 erschien mit dem Adorno-Handbuch, herausgegeben von Richard Klein, Johann Kreuzer und Stefan Müller-Doohm, ein historisch abgeklärter Rundumblick auf den herausragenden Theoretiker (2. Aufl. 2019). 4) Der vierte Schub der Neuerscheinungen ab 2016 vermag vielleicht mehr als die bisherige Rezeption der Schüler zu zeigen, ob die Dialektik der Aufklärung wirklich zum Klassiker wird. Ein mehrbändiges Handbuch über Kritische Theorie insgesamt ist im Entstehen und wird sukzessive auch digital veröffentlicht (Bittlingmayer u. a. 2016). 2017 erschien in der Reihe „Klassiker auslegen“ bei de Gruyter eine Sammlung von Kommentaren zu den einzelnen Teilen der Dialektik der Aufklärung (Hindrichs 2017). Wenn die Dialektik der Aufklärung tatsächlich ein Klassiker ist, dann bislang jedenfalls ein deutscher Klassiker. Die Geschichte ihrer englischsprachigen Rezeption ist, trotz der Bedeutung der USA für ihre Entstehung, überwiegend

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eine Geschichte ihrer Nichtrezeption.21 Im Fall der Niederlande gibt es sachliche Bezüge, die bis weit in die frühe Moderne zurückreichen, aber auch hier sind Rezeptionsprobleme vorhanden, die mit denen der Übersetzung und Übersetzbarkeit deutscher Philosophie von Hegel bis Nietzsche und der verdichteten Sprache des Buches zu tun haben.22 Auch erschienen vermehrt Studien in anderen Ländern, um nur einige zu nennen: 1996 Jean-Marie Paul in Frankreich,23 1999 Giovanni Battista Clemente in Italien, 2000 in New German Critique. Entsprechend multiplizierten sich die konkurrierenden Leseweisen, noch kompliziert dadurch, dass die esoterischen und exoterischen Möglichkeiten des Textes nicht immer mitbedacht und unterschiedlich bewertet wurden. Bei den viel diskutierten Fragen um Kontinuität oder Bruch in der Theorieentwicklung ging es zugleich immer auch, explizit oder implizit, um die Aktualität der Dialektik der Aufklärung. So wurde von der Studentenbewegung der ’68er der esoterische Marx’sche Gehalt in politischer Absicht exoterisch gemacht. Dreißig Jahre später wurde eine weitere Ebene entschlüsselt, die der konservativen Elemente in der Dialektik der Aufklärung.24 Das hing mit der damaligen Auseinandersetzung um die sogenannte „Konservative Revolution“, aber auch mit einem vielfach gewandelten Verständnis von Aufklärung zusammen. ­Horkheimer und Adorno knüpften an die „dunklen“ (Machiavelli, Hobbes) respektive „schwarzen“ Schriftsteller des Bürgertums (de Sade, Nietzsche) an, um den Selbstzerstörungsprozess der Aufklärung exemplarisch aufzuzeigen. Mussten sie dabei Nietzsche noch mühsam aus dem Kontext der nationalsozialistischen Nietzscherezeption herauslösen, so war die Diskussionslage Ende des 20. Jahrhunderts ganz anders gelagert. Jetzt galt er weiten Kreisen nicht mehr als Gegenaufklärer, sondern als exemplarischer Aufklärer, inzwischen schon Vater der Postmoderne. Auch die sogenannten Schriftsteller der Gegenaufklärung wie de Maistre oder de Sade gelten mittlerweile als genuiner Teil der Aufklärung – als ihre andere Seite zwar, aber eine Seite, die ohne die raffinierten Techniken der Aufklärungsrhetorik nicht vorstellbar ist.25 Umgekehrt ist die Auseinandersetzung mit Freud und der Psychoanalyse gelagert. Einerseits gelang es Freud nie, im deutschen Sprachraum

21Vgl.

Fischer in diesem Band. van Gelder in diesem Band. 23Zur Rezeption in Frankreich siehe Lauermann in diesem Band; zur Einheit in Problemen mit dem französischen Schriftsteller Maurice Blanchot siehe Liska in diesem Band. 24Vgl. Lauermann in diesem Band. 25Vgl. Schmid Noerr 2017. 22Vgl.

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eine Akzeptanz zu erlangen, die der in den USA vergleichbar gewesen wäre.26 Andererseits hat sich die Einschätzung mit der feministischen Diskussion und der Patriarchatskritik heute in einer allzu vereinfachten Theoriegestalt so grundlegend geändert, dass Freud inzwischen (wie Kant) wegen des Vorwurfs von Sexismus und Rassismus aus Lehrplänen US-amerikanischer Universitäten gestrichen wird. Die Dialektik der Aufklärung kann heute auch ganz aktuell gelesen werden, etwa angesichts der prekären Lage rechtlicher und politischer Institutionen, deren Legitimität und Stabilität plötzlich weit weniger gesichert wirkt, als es nach dem Zweiten Weltkrieg lange schien.27 Technische Neuerungen wie das I-Phone, Überwachungstechniken und Selbstüberwachungstechniken und die Organisation von „Freizeit“ können als Normierungen interpretiert werden.28

6  Antisemitismus als Kernproblem der Dialektik der Aufklärung Schließlich stellt sich die Frage: Was liest man wann? Von Anfang an war der Text über „Kulturindustrie“ einer der meistrezipierten. Ja, gerade in der angelsächsischen Rezeption ist eine Tendenz zur Verkürzung auf diesen Teil so offenkundig wie dann später die reduzierte Wahrnehmung Adornos auf den Gegenstand der Ästhetik. Vielleicht waren die USA schon lange derart tief greifend durch die Kulturindustrie geprägt, dass sie seine (durchaus fragwürdige) Ablehnung des Jazz mit besonderer Verständnisverweigerung quittierten. Ähnlich ging es Adorno in der Bundesrepublik später mit seinem Diktum über die Unmöglichkeit, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Wie im Fall von Hannah Arendts Buch über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totale Herrschaft (engl. 1951), von dem je nach Zeitkontexten nur Teile gelesen und andere nicht einmal zur Kenntnis genommen wurden, lasen die deutschen und amerikanischen Studenten während der Studentenbewegung der 60er und 70er Jahre kaum die „Elemente des Antisemitismus“. Heute weiß man, dass die Autoren die Juden und die Verfolgung der Juden 1941 bewusst zum „Kristallisationspunkt“ des Buches machten.29 Für die westdeutsche Auseinandersetzung mit der Vernichtung der Juden kam die

26Vgl.

Bock in diesem Band. Fine in diesem Band. 28Vgl. Brunkhorst in diesem Band. 29Vgl. in diesem Band: Fine, Stoetzler, Ziege. 27Vgl.

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­ eupublikation der Dialektik der Aufklärung 1969 jedoch gewissermaßen zu N früh. Erst in den achtziger Jahren wurde endlich breiter diskutiert, was man auch schon zu Horkheimers und Adornos Zeiten in Westdeutschland unzulänglich „Vergangenheitsbewältigung“ nannte: die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen. Das hatte auch mit dem Kohortenwandel, nicht zuletzt in den Eliten, zu tun. Erst in diesem Jahrzehnt fasste die von Horkheimer und Adorno maßgeblich mitbegründete Antisemitismusforschung in Deutschland an den Universitäten überhaupt Fuß, konkret zunächst nur in Berlin. Werner Bergmann und Rainer Erb etwa arbeiteten im Konzept der Kommunikationslatenz produktiv mit Ansätzen der Kritischen Theorie (Bergmann/Erb 1986). Doch entwickelte sich eine paradoxe Situation. Für die Antisemitismusforschung stellen die „Elemente des Antisemitismus“ in der Dialektik der Aufklärung und The Authoritarian Personality bis heute die theoretisch wichtigsten Texte dar.30 Trotz vieler Studien zum Antisemitismus, der seit den 80er Jahren sehr schnell zu einem der besterforschten, ja fast überforschten Gebiete geworden ist, hat kein anderer Ansatz in vergleichbarer Weise „Schule“ gemacht. Theoretisch gab es nichts Vergleichbares (Rürup 2004, 120). Mit dem theoriegeleiteten, spekulativen, manchmal geradezu tollkühn essayistischen Verfahren gingen, ja gehen Horkheimer und Adorno heute noch produktiv über die gegenwärtige Einzelforschung hinaus – weshalb letztere auch immer wieder aufs Neue bestrebt ist, diesen Ansatz empirisch einzuholen. Aber kann sie ihn anschlussfähig machen? Der gesellschaftstheoretische Kern ist ja der einer an Marx und Freud orientierten kritischen Theorie. Das wird in der Antisemitismusforschung allerdings oft ignoriert. So hat man es mit dem Paradox zu tun, dass die Analysen Horkheimers und Adornos in der Antisemitismusforschung leitend sind, obwohl diese weder von Marx noch von Freud geleitet wird. Dass Horkheimer und Adorno anschlussfähig gemacht werden können, ist mit der Unterscheidung des Esoterischen vom Exoterischen zu erklären. Oft genug wird das, was esoterisch war, die Marx’sche Grundierung und damit die Kritische Theorie selbst, ausgeblendet. Dies geschieht auf Kosten einer konsequenten Gesellschaftskritik, die den Antisemitismus nicht nur als idiosynkratische Aberration, sondern als den sozialen Strukturen inhärent begreift.31 Umgekehrt ist die Beschäftigung mit dem Antisemitismus für die, die sich mit Kritischer Theorie befassen, weitgehend ein Sonderthema geblieben, das scheinbar vernachlässigt werden kann.32

30Vgl.

König in diesem Band. Stoetzler in diesem Band. 32Man vgl. nur die Bibliografie im Anhang: Hindrichs (2017, 199–208), in der nicht einmal eine Rubrik zu „Elemente des Antisemitismus“ existiert. 31Vgl.

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Die Antisemitismusforschung, universitär verankert in Forschung und Lehre, entstand in der Bundesrepublik Deutschland in den 80er Jahren, die Jüdischen Studien entstanden erst in den 90er Jahren. Bis heute ist auch das Jüdische für die Betrachtung der Frankfurter Schule marginal geblieben. Der auf das Engste mit der deutschen Geschichte und dem Antisemitismus zusammenhängende Umstand, dass die Juden in Deutschland bis auf wenige Überlebende ermordet worden waren, sodass das Jüdische von jüngeren Deutschen nur als Ahnung wahrgenommen oder schlicht ausgeblendet wurde, ohne verstanden oder gesehen zu werden, drückt sich etwa in Habermas‘ späten Reflexionen über den „doppelten Boden“ der Zeit aus (Habermas 2003). Zwar wurde der Antisemitismus als Thema gesehen, selten aber das „jüdische Problem“.33 Dass die Dialektik der Aufklärung auch ein Beitrag zu einer innerjüdischen Auseinandersetzung mit der Moderne und der dialektischen Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft war, verschwand aus dem Blick. Das aber berührt ein bis heute so historisches wie aktuelles Kernproblem dieser Dialektik: die Liquidierung der naturrechtlich verstandenen Rechte des Menschen34 und die Kritik der Eigenlogik der Gewalt in jeder Form der politischen Herrschaft35. * Der vorliegende Band geht auf die Tagung „70 Jahre Dialektik der Aufklärung“ an der Universität Bayreuth im Dezember 2016 zurück. Wir danken für die großzügige Unterstützung durch die Universität Bayreuth, durch die Bayreuther Fachgruppe Soziologie und insbesondere danken wir Barbara Mayer und den studentischen Hilfskräften. Wir bedanken uns bei Lars Fischer und Ulrich Nanko für ihre unermüdliche Unterstützung.

Literatur Adorno, Theodor W. [1942] 1984. Das Schema der Massenkultur. In: Gesammelte Schriften Bd. 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 299–335. Adorno, Theodor W. 1948. Remarks on „The Authoritarian Personality“ by Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson, Sanford. Horkheimer-Pollock Archiv Frankfurt a. M. VI 1 D. 71–100. Im Erscheinen: Adorno, Theodor W. 2019. Bemerkungen zu „The Authoritarian Personality“ und andere Texte. Hrsg. und kommentiert von Eva-Maria Ziege. ­Berlin: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. [1955] 1986. Offener Brief an Max Horkheimer. In: Gesammelte Schriften Bd. 20.1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 155–163. 33Vgl.

Ziege in diesem Band. Fine in diesem Band. 35Vgl. Høibraaten in diesem Band. 34Vgl.

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Adorno, Theodor W. [1964] 2006. Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit. (1964/65). Hrsg. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 2019. Bemerkungen zu „The Authoritarian Personality“ und andere Texte. Hrsg. und kommentiert von Eva-Maria Ziege. Berlin: Suhrkamp. Albrecht, Clemens/Behrmann, Günter C./Bock, Michael/Homann, Harald/Tenbruck, Friedrich H. 1999. Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt a. M. New York: Campus. Altwicker, Norbert/Schmidt, Alfred. Hrsg. 1986. Max Horkheimer heute: Werk und Wirkung. Frankfurt a. M.: Fischer. Bergmann, Werner/Erb, Rainer. 1986. Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38, 223–246. Bittlingmayer, Uwe/ Demirovic, Alex/Freytag, Tatjana. Hrsg. 2016 ff. Handbuch Kritische Theorie. Springer, Wiesbaden. u. a. Online-Ausgabe: https://link.springer.com Claussen, Detlev. 2003. Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag. Claussen, Detlev/Negt, Oskar/Werz, Michael. Hrsg. 1999. Hannoversche Schriften 1: Keine Kritische Theorie ohne Amerika. Frankfurt a. M. 1999. Clemente, Giovanni Battista. 1999. La Scuola di Francoforte in Italia (1954–1999). In: La Création sociale. 1999. Demirovic, Alex. 1999. Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dubiel, Helmut. 1978. Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung: Studien zur frühen Kritischen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Görzen, René. 1987. Dialektik der Aufklärung. Eine Literaturübersicht. In: Vierzig Jahre Flaschenpost. ‚Dialektik der Aufklärung‘ 1947–1987, 242–252. Hrsg. Willen van Reijen/Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt a. M.: Fischer. Faber, Richard/Ziege, Eva-Maria. Hrsg. 2007. Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften vor 1945. Würzburg: Königshausen & Neumann. Faber, Richard/Ziege, Eva-Maria. Hrsg. 2008. Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften nach 1945. Würzburg: Königshausen & Neumann. Friedeburg, Ludwig von/Habermas, Jürgen. Hrsg. 1983. Adorno-Konferenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen. 1985. Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen. 2003. Die Zeit hatte einen doppelten Boden. In: Die Zeit. 4. September 2003. Hindrichs, Gunnar. Hrsg. 2017. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. I. d. R. Klassiker auslegen. Berlin Boston: de Gruyter. Horkheimer, Max. [1972] 1985a. Das Schlimme erwarten und doch das Gute versuchen. Gespräch mit Gerhard Rein. In: Gesammelte Schriften Bd. 7. Hrsg. Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt a. M.: Fischer, 442–479. Horkheimer, Max. 1985b. Gesammelte Schriften Bd. 12: Nachgelassene Schriften 1931– 1949. Hrsg. Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt a. M.: Fischer. Horkheimer, Max. 1996a. Briefwechsel 1941–1948. Gesammelte Schriften Bd. 17. Hrsg. Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt a. M.: Fischer.

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Teil I Ideengeschichtliche Hintergründe

Zum Begriff der Aufklärung in der Dialektik der Aufklärung Gunzelin Schmid Noerr

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verfassten die Dialektik der Aufklärung zwischen 1939 und 1944 im amerikanischen Exil. Die Entstehungsdaten des Buches verweisen unmittelbar auf die dunkelste Epoche des 20. Jahrhunderts. Sie decken sich annähernd mit denen des von Deutschland angezettelten Weltkriegs mit seinen vielen Millionen von Opfern. Was sich ereignete, war nicht weniger als ein überdimensionaler Zusammenbruch von Kultur und Zivilisation. Darauf bezog sich auch die leitende Fragestellung des Buches. Zu ergründen war, „warum die Menschheit“, wie es in der Vorrede heißt, „anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ ­(Horkheimer/Adorno [1947] 1987, 16; im Folgenden zitiert als DdA). Neben Deutschland hatten sich auch in vielen anderen Staaten faschistische1 Regime durchgesetzt oder waren entsprechende politische Bewegungen aktiv. Angesichts der stalinistischen Schauprozesse (1936–38) hatte sich der Parteimarxismus diskreditiert. „Die Situation des Proletariats“, hatte Horkheimer deshalb in Traditionelle und kritische Theorie (1937) geschrieben, „bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis“, diese entwickele sich

1Im

Marxismus der 1920er bis 70er Jahre wurde „Faschismus“ üblicherweise als Gattungsbezeichnung für extrem nationalistische, autoritäre Ideologien und Herrschaftssysteme verwendet. Demgegenüber wurde später in der damaligen BRD in historiografischer Perspektive zumeist zwischen „Faschismus“ und „Nationalsozialismus“ als Bezeichnungen für die von Mussolini und Hitler angeführten Bewegungen unterschieden.

G. Schmid Noerr (*)  ehem. Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach, Fachbereich Sozialwesen, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_2

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allenfalls bei einzelnen „Subjekten des kritischen Verhaltens“ (Horkheimer 1988, 181). Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 demonstrierte den finalen Triumph des autoritären Raubstaates über die Arbeiterbewegung in der Sowjetunion, dem bis dahin anscheinend sichersten Bollwerk gegen den Faschismus. Hatten auch unorthodoxe Marxisten diesen als letzte Abwehr des Kapitalismus gegen den geschichtlich gebotenen Übergang zum Sozialismus erklärt, so schien es nun, als wären dessen Ursachen wesentlich tiefer zu situieren. War nicht die Vernunft selbst, und waren nicht mit ihr Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit, von einer Art Krankheit befallen, die in den nationalsozialistischen Todeslagern nur kulminierte? Wie weit war hier in der Geschichte der Menschheit zurückzugehen? Der Rahmen der Beantwortung dieser Fragen wurde in der Dialektik der Aufklärung mit den ersten beiden Worten ihres Textes, „seit je“, abgesteckt: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ (DdA, 25) Aufklärung auf diese Weise als universelles Phänomen der Zivilisation und ihrer Geschichte zu erklären, erlaubte es, weit übergreifende Verbindungslinien zu ziehen und zahlreiche überraschende Perspektiven zu eröffnen, und die Autoren machten davon auch reichhaltigen Gebrauch: „Aufklärung ist totalitär.“ (DdA, 28) – „Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Russell.“ (DdA, 30) – „Begriffe sind vor der Aufklärung wie Rentner vor den industriellen Trusts: keiner darf sich sicher fühlen.“ (DdA, 45) – Der an den Mast gefesselte Odysseus „wohnt einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher“ (DdA, 57) – „Kant hat intuitiv vorweggenommen, was erst Hollywood bewußt verwirklichte.“ (DdA, 107) u. a. m. Aber das „Seit je“ hatte auch seinen Preis, glitt dabei doch der Blick über zahlreiche geschichtliche Abgründe hinweg. So scheint die Frage berechtigt, ob nicht die Plausibilität mancher Annahmen durch eine allzu große historische Unschärfe erkauft wurde. Dies war nicht zuletzt der Verwendungsweise der beiden Leitbegriffe des Buches, Aufklärung und Mythos, geschuldet. Die Autoren bezogen sie in zwei Kernthesen aufeinander: „schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (DdA, 21). Die damit verbundene Schwierigkeit besteht offenbar in der Gefahr, dass schlichtweg alles geschichtlich Neue im Rückblick aufklärend oder mythisch-verdunkelnd, fortschrittlich und rückschrittlich zugleich erscheint und sich diese Qualifizierungen in einem ununterscheidbaren Grau in Grau verlieren. So könnte man die Dialektik der Aufklärung einer neuen Mythologie der Aufklärung bezichtigen, ist sie doch selbst, was sie vom Mythos behauptet, nämlich „immer dunkel und einleuchtend zugleich“ (DdA, 20).

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Der Nachteil einer solchen kritischen Verabschiedung bestünde allerdings darin, entscheidende Erfahrungsgehalte des Textes zu verfehlen. Um diese zu bewahren, sind die zugespitzten Thesen – „nur die Übertreibung ist wahr“ (DdA, 142) – gleichsam wieder zu verflüssigen und zu rekontextualisieren. Sie sind auf ihre theoretische Herkunft, ihr konkretes Umfeld und die daraus sich ergebenden (damaligen und möglicherweise heutigen) Problemstellungen zu beziehen. Zum Zweck einer solchen Interpretation soll im Folgenden der grundlegende Begriff der Aufklärung in der Dialektik der Aufklärung hinsichtlich seiner ideengeschichtlichen Herkunft und Anwendung, seines Begriffsinhalts (Intension) und Begriffsumfangs (Extension) näher betrachtet werden.

1 Aufklärung Die Pläne zur Dialektik der Aufklärung reichen bis in die Frankfurter Zeit vor der Emigration zurück; sie werden in den erhaltenen Briefen und Materialien der 1930er Jahre wiederholt als Projektidee einer „Dialektischen Logik“ erwähnt. Die Ideen zu den inhaltlichen Schwerpunkten des geplanten Buches änderten sich im Vorfeld mehrfach. Als das Institut für Sozialforschung Anfang der 1940er Jahre ein großes, interdisziplinäres Forschungsprojekt zum Antisemitismus, gefördert durch das American Jewish Committee, in Angriff nehmen konnte, lag es nahe, diese Thematik nicht nur mit einzubeziehen, sondern sogar als eine Art Schlüssel zum Verständnis des Verfalls der abendländischen Vernunft zu gebrauchen, insofern die Analyse der „Krankheit“ der Vernunft ihre latenten destruktiven Potenziale zu enthüllen versprach. Die Wut der rassistischen Verfolgung und Ausgrenzung hat, so die These der Dialektik der Aufklärung – eine tiefe Wurzel in der Vernunft selbst, und zwar in ihrer projektiven Grundstruktur. „Das System der Dinge, das feste Universum, von dem die Wissenschaft bloß den abstrakten Ausdruck bildet, ist, wenn man die kantische Erkenntniskritik anthropologisch wendet, das bewußtlos zustandegekommene Erzeugnis des tierischen Werkzeugs im Lebenskampf, jener selbsttätigen Projektion.“ (DdA, 218) In der Bildung von Begriffen macht der Mensch das jeweils Andere – und in der Folge davon auch sich selbst – zum Gegenstand, um über ihn zu verfügen. Projektion in diesem Sinn ist ursprünglich notwendig, aber nicht unbedingt endgültig. Sie kann auch reflexiv zurückgenommen werden. Demgegenüber beruht „der Antisemitismus […] auf falscher Projektion“ (DdA, 217). Die Vernunft ist nicht das erste und ursprüngliche Instrumentarium des menschlichen Naturverhältnisses, vielmehr entwickelt sie sich aus dem mimetischen Umgang mit Natur. Dieses

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b­ ildhafte, ganzheitliche, analogische Naturverhältnis kulminiert auf der zivilisatorisch schon entwickelten Stufe der archaischen Gesellschaften im Mythos. Vernunft und Mythos bleiben in ihren Widersprüchen aneinander gebunden, insofern sie ihr Anderes immer schon in sich enthalten oder aus sich entäußern. Wie kann man den kritisch dekonstruierten Aufklärungsbegriff in Zusammenhang mit der Bestimmung Kants bringen, Aufklärung sei „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“? Diese klassische Formel wird in der Dialektik der Aufklärung erst relativ spät, zu Beginn des zweiten „Exkurses“ zitiert und sogleich ideologiekritisch analysiert, indem das von Kant geforderte, ohne die Unterwerfung unter andere Autoritäten erfolgende Selbst-­ Denken als Verfahren von Subsumtion und Formalismus und als Erzeugung von Einstimmigkeit und System, kurz: als antidialektisches Denken charakterisiert wird. Wenn nun die Vernünftigkeit sich nur noch an der formalen Stimmigkeit messen lässt, werden inhaltliche Ziele der praktischen Vernunft entweder logisch erschlichen oder gleich ganz – so in einigen späteren Spielarten des Positivismus – aus dem Bereich des Begründbaren ausgeschlossen. Deshalb transzendierten Horkheimer und Adorno die Grenzen des Kantischen Aufklärungs-Begriffs. Wenn wir nach den dabei wirksamen theoriegeschichtlichen Hintergründen fragen, dann sind vor allem Max Weber, Vico und (bezüglich des Mythos-Begriffs) Marx zu nennen. Weber hatte in seiner Schrift Wissenschaft als Beruf (1919) den wissenschaftlichen Fortschritt als „ein[en] Bruchteil, und zwar de[n] wichtigste[n] Bruchteil, jenes Intellektualisierungsprozesses“ bezeichnet, „dem wir seit Jahrtausenden unterliegen“ (Weber 1982, 593). Näher charakterisierte er diesen Prozess folgendermaßen: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet […] nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnung beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“ (Ebd., 594) Für Weber bestand die wichtigste Konsequenz dieses Entzauberungsprozesses im Rückzug der Wissenschaften von den Fragen des Lebenssinns. Dadurch wird, so Weber, die Antwort auf die Frage, wie wir leben wollen, allein den privaten Vorlieben und Intuitionen überlassen: „Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen […] Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander.“ (Ebd., 612)

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Horkheimer und Adorno schließen mit ihren Überlegungen an diesen Begriff der Entzauberung an, den sie mit dem der Aufklärung gleichsetzen. Für sie ist Aufklärung zunächst die vernunftgemäße Entzauberung der im Mythos erscheinenden, geheimnisvoll unberechenbaren Mächte. Damit wird deutlich, • dass hier von „Aufklärung“ nicht im engeren Sinn eines kulturgeschichtlichen Epochenbegriffs, sondern in einem strukturellen Sinn die Rede ist;2 • dass die Struktur der Entzauberung/Aufklärung den „jahrtausendealten“ Prozess der Zivilisation insgesamt charakterisiert; • dass diese Struktur in erster Linie eine kognitive ist (Weber: „Intellektualisierung“, „Rationalisierung“, Horkheimer/Adorno: „fortschreitendes Denken“); • dass diese Erkenntnisweise durch die materielle, gesellschaftlich organisierte Naturbeherrschung insgesamt bedingt ist, und • dass aufklärerisches Denken damit auf „instrumentelle Vernunft“ regrediert, die zur universell einsetzbaren Verfügungsmacht über äußere Natur, Gesellschaft und innere Natur wird. Nun aber bleiben Horkheimer und Adorno nicht bei Webers heroisch-resignativer Feststellung der Verflüchtigung der normativen Vernunft stehen, sondern interpretieren diese als Widerstreit der Vernunft mit sich selbst, als „Krankheit der Vernunft“. Daraus resultieren die zwei weiteren Thesen, mit denen die Autoren selbst ihren Text zusammenfassen: • „Schon der Mythos ist Aufklärung“ (DdA, 21): Aufklärung als Aspekt der Naturbeherrschung ist auch schon in den archaischen Weltbildern, im Mythos mit enthalten; • „Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (DdA, 21): Fortschreitende Aufklärung entmächtigt die normative, metaphysisch legitimierte Sinngebung (Horkheimer: „objektive Vernunft“) und schafft Platz für einen Irrationalismus in rationalem Gewand.

2In

diesem Sinn unterscheidet Horkheimer zu Beginn seiner Vorlesung über Die Aufklärung (Wintersemester 1959/60) zwischen der philosophiehistorischen Bedeutung des Ausdrucks und einer zweiten, „entscheidenderen Bedeutung“, wonach „unter Aufklärung das gesamte philosophische Denken [zu verstehen ist], das, im Gegensatz zur Mythologie, seit den Griechen den Kampf darum führt, Klarheit in die eigenen Vorstellungen zu bekommen in dem Sinne, daß die Begriffe und Urteile für jeden einsichtig sein sollen“ (Horkheimer 1989, 571). Der strukturelle Aufklärungsbegriff fällt mit dem historischen nicht zusammen, bleibt aber mit diesem eng verbunden, insofern letzterer eine paradigmatische Funktion erfüllt.

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In der Dialektik der Aufklärung wird demnach ein struktureller, historisch tendenziell unbegrenzter Begriff der Aufklärung vorausgesetzt – Aufklärung hat sich immer wieder ereignet und kann das auch weiterhin. Eine Schwäche dieses Aufklärungsbegriffs liegt sicherlich in der historischen Entdifferenzierung. Zwar fanden Intellektualisierung, Rationalisierung und Entzauberung der Welt über die verschiedensten Epochen der Zivilisationsgeschichte hinweg statt, aber doch mit tief greifenden Unterschieden in den Mitteln, Zielen und Folgen.3 Es scheint so, als konstruierten Horkheimer und Adorno einen neuen Mythos über die (fast) unvermeidliche Selbstzerstörung der Aufklärung – was ein (fast) hoffnungslos paradoxes Unternehmen wäre. Selbstwidersprüchlich wäre es vor allem in der Hinsicht, dass die eigene Aufklärung zweiter Ordnung über die negative Dialektik der Aufklärung nach der von den Autoren unterstellten Logik selbst dem Rückschlag in den Mythos nicht entginge, wobei immerhin ein Trost darin bestünde, dass auch in diesem neuen Mythos wiederum schon Aufklärung steckte … Um eine solche begriffliche Selbstdestruktion zu vermeiden, wäre es notwendig, den strukturellen Begriff der Aufklärung von der pauschalisierenden, quasi mythischen Erzählung des gesamtzivilisatorischen Verfallsprozesses abzulösen. Im Begriff der Aufklärung sind, wie Jochen Schmidt (1989, 3) resümiert, zwei unterschiedliche, aber aufeinander bezogene Haupttendenzen enthalten, die negative der Kritik an überkommenen Autoritäten, Traditionen und Wertungen und die positive der Forderung von religiöser Toleranz, rechtlicher Gleichheit, persönlicher Freiheit und humaner Sozialität. Ein solcher an der Philosophie des 18. Jahrhunderts abgelesener Aufklärungsbegriff lässt sich analogisch auch auf andere Kontexte anwenden, in denen Betroffene an der Wahrnehmung ihrer Selbstbestimmung durch äußere oder innere Instanzen gehindert werden. Solche Instanzen waren in der abendländischen Geschichte häufig religiöser Art, während in der Moderne aus den gesellschaftlich dominanten Funktionen von Wirtschaft und Technik neue Bedrohungen und Unsicherheiten erwachsen, denen die Menschen mit vielfach illusionären Vorstellungen zu begegnen suchen. So gehen Entzauberung und Verzauberung Hand in Hand. Hier ist nach wie vor Aufklärung als intersubjektiver Prozess von Erfahrung und Kritik erforderlich und möglich. Dabei ist Aufklärung von Selbstaufklärung nicht sinnvoll zu trennen.

3–

was Horkheimer und Adorno gelegentlich auch selbst einräumen, wenn sie der neueren Aufklärung eine spezifische, sonst nicht erreichte Radikalität zuschreiben (vgl. DdA, 115).

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2 Mythos Der in der Dialektik der Aufklärung verwendete Mythosbegriff – und hier kommen Vico und Marx ins Spiel – lässt sich offenbar dem Typus einer kritisch-reduktionistischen Mythos-Auffassung zuordnen, die im Gegensatz zur affirmativen steht. Vertreter der ersteren, nach der der Mythos aus psychischen und sozialen Bedürfnissen abzuleiten ist, sind schon Xenophanes (nach Wilhelm Capelle der „Sturmvogel der [vorsokratischen] Aufklärung“), oder Ludwig Feuerbach, Vertreter der zweiten, die dem Mythos und der Religion eine originäre, nicht heterogen ableitbare Wirklichkeit zusprechen (was hier nur zur Abgrenzung dienen soll), sind z. B. Rudolf Otto oder Mircea Eliade. Die früheste Auseinandersetzung Horkheimers mit dem Mythosbegriff findet sich in Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930). Das darin enthaltene Kapitel über Vico setzt mit der von Weber her bekannten Problematik des szientistisch bedingten Sinnverlustes ein, wobei Horkheimer die bürgerliche Geschichtsphilosophie insgesamt als fragwürdige Kompensation dieser Leerstelle deutet. Jedoch schätzt er an Vico dessen Methodologie der Geschichtserklärung aus dem Notwendigen und Nützlichen. Auskunft über diesen Zusammenhang am Beginn der Zivilisation ist nach Vico über eine Analyse der Mythen zu erlangen, die von Furcht vor den Naturmächten und Projektion der eigenen Bedürfnisse auf die als beseelt erlebte Natur bestimmt sind. Vico hat, so Horkheimer, entdeckt, „daß die mythologischen Anschauungen nicht freie Schöpfungen des Geistes sind, sondern die gesellschaftliche Realität, wenn auch in verzerrter Weise widerspiegeln“ ­(Horkheimer [1930] 1987, 262). Im Unterschied zu späteren materialistischen Aufklärern, die die Religion auf Priestertrug reduzieren wollten, geht Vico, so Horkheimer (ebd., 261), auf die zivilisatorische Bedeutung der Religion ein, z. B. auf ihre Funktion als Entschädigung für den sozial notwendigen Triebverzicht oder auch als prälogische Erkenntnisform. Als zeitgenössische Bestätigung dafür nennt Horkheimer die Forschungen Lévi-Bruhls, der in den 1920er Jahren die strukturellen Unterschiede zwischen schriftlosen und modernen westlichen Kulturen herausstellte. Ein früher Rekurs Adornos auf den Begriff des Mythos, der gegenüber Horkheimer noch einen anderen Akzent setzt, findet sich im Text seines Vortrags Die Idee der Naturgeschichte (1932), in dem er sich unter anderem mit Martin Heideggers Ontologie der Geschichtlichkeit auseinandersetzt. Dabei assoziiert er „das Mythische“ mit einer zur schicksalhaften „zweiten Natur“ stillgestellten Geschichte. Auch ihm geht es nicht zuletzt um eine Deutung der sinnentleerten Welt der Moderne, deren Problematik er aber nicht, mit Weber, aus der Dynamik des wissenschaftlichen Denkens, sondern, mit Georg Lukács, aus der Dominanz

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der Warenwirtschaft und, mit Walter Benjamin, aus dem ästhetischen Bewusstsein der Vergänglichkeit ableitet. In dieser Perspektive erscheint Geschichte einerseits als ein ursprünglich Daseiendes, andererseits als ein jeweils neu Werdendes. Das erstere nennt er den „mythisch-archaischen Stoff der Geschichte“ (Adorno [1932] 1973, 362), wobei nun mittels der dialektischen „Naturgeschichte“ auch zu zeigen ist, „daß das zugrundeliegende Mythisch-Archaische, dies angeblich substanzielle beharrende Mythische gar nicht in einer solchen Weise statisch zugrunde liegt, sondern dass in allen großen Mythen, wohl auch in allen mythischen Bildern, die unser Bewußtsein noch hat, das Moment der geschichtlichen Dynamik bereits angelegt ist […]. Das Moment der Dialektik liegt darin, daß die tragischen Mythen in sich mit der Verfallenheit in Schuld und Natur zugleich das Moment der Versöhnung, das prinzipielle Hinausgehen über den Naturzustand enthalten“ (ebd., 363). Damit schreibt er dem zweiten Moment von Geschichte wiederum einen mythischen Charakter zu, wodurch der Mythos, gegenüber der Vico-Marxschen Traditionslinie, eine überraschend affirmative Bewertung erhält. Unverkennbar scheint hier bereits eine frühe Version der späteren Ausgangsthese der D ­ ialektik der Aufklärung auf, aber mit einer Verwandtschaft zu Nietzsches These, der Mythos sei „die notwendige Konsequenz, ja […] Absicht der Wissenschaft“ (Nietzsche [1872] 1969, 85), insofern er eine unendliche Wellenbewegung des Willens zum Wissen initiiere. Am Ende seines Vortrags bezeichnet Adorno seine sublimen Überlegungen unvermittelt als „Auslegung von gewissen Grundelementen der materialistischen Dialektik“ (ebd., 365). In der Tat bildet dann auch die Marx’sche Theorie, wie Alfred Schmidt gezeigt hat, „den geheimen Hintergrund der historischen Dialektik von Aufklärung und Mythos“ (Schmidt, A. 1986, 203), wobei archaischer und moderner Mythos, Mythos und Ideologie, kaum voneinander unterschieden wurden.4 Bereits Marx, nicht erst Weber, verstand die Entmythologisierung als gesamt-zivilisatorischen Prozess, von dem die neuzeitliche Wissenschaftlichkeit nur das letzte Resultat darstellte, indem sie zur unmittelbaren Produktivkraft wurde. Marx versteht den Mythos als imaginäre Form der Naturbeherrschung, die mit den Fortschritten der realen immer mehr verschwindet und nur noch ihre ästhetische Seite übrig behält. Demgegenüber gibt es auch schon bei Marx den

4Darin

ähnelt ihr Mythos-Begriff dem von Roland Barthes (1957), der den Mythos ebenfalls als Bild einer zur Pseudonatur erstarrten Geschichte bestimmte. Vgl. Schmid Noerr 1993, 320 f.

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in der Moderne künstlich wiederbelebten Mythos, die zur „Natur“ verdinglichten gesellschaftlichen Formen. Auch Vernunft und Freiheit, die obersten Ideen der Aufklärung, können in Marx’scher Sicht – man denke an seine Kritik der humanitären Parolen der Französischen Revolution – vom Mythos affiziert und ideologisiert werden, wenn sie zugrunde liegende Interessen bloß verschleiern. „Was […] die Autoren der Dialektik bei allem historischen Abstand mit Marx und Engels verbindet“, so resümiert Schmidt, „ist die Einsicht in die – mythische Züge offenbarende – Verstricktheit des Menschengeschlechts in bloße ‚Naturgeschichte‘“ (Schmidt, A., 1986, 212). Diese aber waltet, wie Horkheimer am Ende seines Vico-Kapitels schreibt (allerdings ohne auf die zugrunde liegenden politisch-ökonomischen Fragen einzugehen), solange „die Gesellschaft es nicht vermag, ihre Angelegenheiten in ihrem eigenen Interesse selbstbewußt zu regeln“ (Horkheimer [1930] 1987, 268). Die Anwendung der Marx’schen Warenanalyse auf Bewusstsein und Kultur war seit Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) ein wesentlicher Teil des „westlichen Marxismus“. So handelt schon Das Ornament der Masse (1927) von Siegfried Kracauer, der ein Jugendfreund Adornos war, von der Verschränkung von Vernunft und Mythos. Kracauer bezieht sich beiläufig (Kracauer [1927] 1977, 56), und ohne Max Weber explizit zu nennen, auf den Begriff der „Entzauberung“ und stößt von daher zumindest bruchstückhaft auf die Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Er untersucht bestimmte Formationen von Menschenmassen (z. B. bei Tanzgruppen-Revuen, aber auch in Büros und Fabriken) und interpretiert sie als Wiederkehr mythischer Mächte in rational geordneter Form. Das körperkulturelle „Massenornament“ „erweist sich als ein Rückschlag in die Mythologie, wie er größer kaum gedacht werden kann – als ein Rückschlag, der seinerseits wieder die Abgesperrtheit der kapitalistischen Ratio gegen Vernunft verrät“ (ebd., 61).5 Kracauer versteht die Rationalität der kapitalistischen Moderne als eine „getrübte Vernunft“. Der Kapitalismus, wendet Kracauer gegen den damaligen Historismus und völkischen Kulturalismus ein, „rationalisiert nicht zu viel, sondern zu wenig“ (ebd., 57).6

5Kracauer

verweist auch auf die Rationalität des Mythischen, insofern die französische Aufklärung des 18. Jahrhunderts z. B. die Märchen aus Tausendundeiner Nacht „als ihresgleichen erkannte“ (Kracauer [1927] 1977, 55). 6Im Rückblick wird auch klar, dass diese Form der Körperformation dann bei der Ästhetisierung des Politischen im Nationalsozialismus eine signifikante Rolle spielen sollte. Man denke dabei an die Inszenierung des Reichsparteitages von 1934 und ihre filmische Wiedergabe in Leni Riefenstahls Triumph des Willens (1935).

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3 Aufklärung und/oder Faschismus In der Dialektik der Aufklärung sollte dargelegt werden, dass, wie Gerhard Schweppenhäuser zusammenfassend formuliert, „der nationalsozialistische Faschismus sowohl eklatanter, schreiender Gegensatz zur aufgeklärten Rationalität ist als auch zugleich deren eigenes Produkt“ (Schweppenhäuser 2000, 201). Um den spezifischen Sinn und die provokative Radikalität dieser bewusst paradoxen These zu ermessen, ist ein Vergleich mit zwei anderen Geschichtsdeutungen nützlich, die ebenfalls die Genealogie des Faschismus thematisieren. Die eine findet sich in dem Buch Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, das 1935 in Zürich erschien. Es stammte von dem von den Nazis vertriebenen Helmuth Plessner und wurde damals kaum rezipiert.7 Erst ein Vierteljahrhundert später wurde es unter dem neuen Titel Die verspätete Nation bekannt; seine Argumente gingen, wie auch die von Isaiah Berlin, in die politiktheoretischen Debatten um den „deutschen Sonderweg“ ein. Während England und Frankreich – so Plessners Grundthese – ihre modernen Staatsformen im Zeichen der humanistischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts errichtet hatten, war der „verspätet“ entstandene deutsche Nationalstaat eine „Großmacht ohne Staatsidee“ (Plessner 1969, 39), ein Staat ohne eine über sein bloßes Bestehen hinausweisende Verheißung. Nach dem Ersten Weltkrieg verstärkte sich in Deutschland die Auflehnung gegen den politischen Humanismus des Westens. Stattdessen griff man nun zunehmend auf die vorstaatliche Idee des Volkstums zurück. Der Nationalsozialismus verkündete schließlich dessen politische Durchsetzung. So fungierte der völkische Nationalismus für Plessner als partikularistischer Antipode zur universalistischen Aufklärung. Detaillierter als dies Plessner Anfang der 1930er Jahre möglich war, bezieht sich in der Gegenwart beispielsweise der israelische Politologe Zeev S ­ ternhell in seinem Buch The Anti-Enlightenment Tradition (2009) auf den Gegensatz von Aufklärung und Faschismus, den er in eine besondere Tradition der Antiaufklärung einreiht. Sternhell betont, dass der europäische Faschismus nicht erst mit jenen von Mussolini, Hitler und anderen geführten autoritären Bewegungen gleichzusetzen ist, sondern dass diese die politische Umsetzung und Vulgarisierung einer

7Marcuse

(1937, 185) besprach es knapp in der Zeitschrift für Sozialforschung. Dabei warf er Plessner „Standpunktlosigkeit“ vor. Dieser verteidigte sich in der Neuausgabe durch den Hinweis der bewusst eingenommenen Unparteilichkeit, „um das Verführerische an einer Situation in der Gegensätzlichkeit ihrer Aspekte sichtbar zu machen“ (Plessner 1969, 169).

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viel breiteren kulturellen Strömung darstellten.8 „Aufklärung“ stand in Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts für die Flachheit und Verkommenheit der westlichen Zivilisation, „Gegenaufklärung“9 für die Tiefe und Reinheit der deutschen Kultur. Diese Ideologie baute auf dem Historismus des 19. Jahrhunderts auf, der wiederum auf Vico und Herder zurückging. Er betonte die Besonderheit und das Eigenrecht der voneinander unabhängigen Kulturen, die wie Kugeln in sich abgeschlossen sind und allenfalls gelegentlich aneinanderprallen. Damit richtete er sich gegen universalistische Ideen der Aufklärung, auch gegen Egalitarismus, Menschenrechte, Demokratie. „Der Historismus war […] ein globaler Angriff auf den Rationalismus, den Universalismus und die Fortschrittsidee der Französischen Revolution. […] Als die Revolte gegen das Erbe der Aufklärung auf die Straße hinabstieg, wurde sie in den Händen von Sorel, Le Bon, Drumont und Maurras, von Langbehn und Lagarde, später von Spengler und Moeller van den Bruck, von Marinetti, Corradini, d’Annunzio oder von Hulme und vielen anderen zu einer außerordentlich wirksamen Kriegswaffe.“ (Sternhell 2002, 66 und 72) Viele dieser Autoren propagierten eine hierarchische Gliederung der Gesellschaft, das Gefühl der völkischen Gemeinschaft, den Vitalismus (gegen den Intellekt als das angeblich Lebensfeindliche), den Antisemitismus (denn in ihrer Sicht verkörperten die Juden den Antinationalismus) – Elemente, die in der faschistischen Weltanschauung vereinfacht, politisiert und brutalisiert wurden.

8Davon

waren übrigens auch die Vertreter der Frankfurter Schule überzeugt. Der Faschismus als historische Bewegung war selbstverständlich nicht allein durch die „seit je“ ­wirksame „Krankheit der Vernunft“ erklärbar, sondern bedurfte auch der genaueren kultur- und sozialgeschichtlichen Analyse. In diesem Sinne entwarf man ein Projekt über Cultural Aspects of National Socialism, das 1941 bei der Rockefeller Foundation mit der (dann abschlägig beschiedenen) Bitte um finanzielle Förderung eingereicht wurde (vgl. Wiggershaus 1986, 307 ff.). In der Folgezeit war ein Teil der Studies in Prejudice (1949/50) den kulturellen Voraussetzungen und der politischen Vorgeschichte des NS-Antisemitismus im deutschen Kaiserreich zwischen 1871 und 1914 gewidmet: Paul Massing: Rehearsal for Destruction. A Study of Political Anti-Semitism in Imperial Germany (Massing 1959). Das Buch sollte eigentlich die Zeit 1871–1945 bearbeiten, doch der wichtigste Teil zum nationalsozialistischen Antisemitismus wurde nie geschrieben. 9Der Begriff „Gegenaufklärung“ stammt, Sternhell (2009, 3) zufolge, vermutlich von Nietzsche, der damit in seinen nachgelassenen Fragmenten das Denken Schopenhauers und Richard Wagners charakterisierte.

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Sternhell geht in seiner voluminösen Geschichte der Gegenaufklärung nur marginal auf die Dialektik der Aufklärung ein. Er wirft deren Autoren vor, die Aufklärung zu wenig differenziert gefasst zu haben, sodass sie ihr verhängnisvolle Folgen zuschreiben konnten, für die aber nicht die Aufklärung – als Protagonisten nennt er Rousseau und Kant –, sondern die Gegenaufklärung verantwortlich zu machen sei: „Published in 1944, the work of the two philosophers of the Frankfurt school was written under the immediate impact of the disaster that had overtaken Europe. The only explanation they could find at that time was that the whole of European culture bore the responsibility, and since Europe was the Enlightenment, the origin of the evil was necessarily to be found in the Aufklärung. The idea that it was precisely the Anti-Enlightenment tradition that was the cause never occurred to them.“ (Sternhell 2009, 446) Die gegenaufklärerische Traditionslinie seit dem 18. Jahrhundert hat unterschiedliche Facetten, von klerikalen und politischen Pamphleten über konservative und reaktionäre Staatstheorien bis hin zu den romantischen Ideen des Volkstums (vgl. Schmidt, J. 1989, Albrecht 1997, Jung 2012). Der Gegensatz zur Aufklärung ist fast ebenso alt wie deren Selbstbezeichnung. Gegen die „philosophes“ formierten sich die „anti-philosophes“. Schon bald okkupierten die Gegenaufklärer der katholischen wie protestantischen Orthodoxie den Begriff der Aufklärung selbst, indem sie die eigenen Bestrebungen als die wahre Aufklärung deklarierten. Sie schmähten, verleumdeten, verdammten und kriminalisierten die Aufklärung, insbesondere mithilfe von Verschwörungstheorien, in der Absicht, die Autoritäten von Thron und Altar als Grundfesten des gesellschaftlichen Gefüges vor der (vermeintlichen) Zersetzung durch die Aufklärer zu bewahren. Deshalb richteten sie sich mit ihrem Diskurs weniger an die Aufklärer selbst als an die Obrigkeiten, um diese zum Einschreiten zu bewegen. Zunehmend bedienten sie sich des publikumsbezogenen literarischen Stils der Aufklärer und trugen auf diese Weise ihrerseits ungewollt zur Modernisierung bei. Auch sie hatten das Gefühl, in einer Epoche der Aufklärung zu leben, die sie aber anders bewerteten als deren Protagonisten. Seit den 1770er Jahren war eine solche Gegenaufklärung als klerikale Publizistik tätig, bis sie seit Mitte der 1780er Jahre und in der Restaurationsepoche nach 1815 zur herrschenden Politik wurde. Auch der Konservatismus, der die Restaurationspolitik unterstützte, bediente sich immer wieder der Mittel der Verleumdung und der Verschwörungstheorien. Staatspolitisch argumentierend, verteidigte man die traditionelle Ständegesellschaft mit ihren durch Herkommen und Alter geheiligten Institutionen. Daran schlossen sich dann die romantischen Gesellschafts- und Kulturtheorien im Zeichen der Mittelalterverehrung an.

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Hält man sich das Spektrum der Gegenaufklärung vor Augen, dann wird deutlich, dass die Stoßrichtung der Dialektik der Aufklärung in eine andere Richtung zielt, nämlich weniger auf eine Schwächung der rationalen Aufklärung durch dem Irrationalismus huldigende Gegner als vielmehr auf die Selbstzerstörung der Aufklärung durch die Depotenzierung ihrer emanzipatorischen und ethischen Ideale. Während Plessner und Sternhell das Verhältnis von Aufklärung und Faschismus dichotomisch konzipieren, gehen Horkheimer und Adorno dialektisch vor. Bei jenen kämpft die Aufklärung mit einem mächtigen reaktionären Gegner, dem sie zeitweise unterliegt, bei diesen ist sie gleichsam von einer Krankheit befallen und kämpft mit sich selbst. Von Autoren, die der Strömung der konservativ-reaktionären Aufklärungskritik zuzuordnen sind, werden in der Dialektik der Aufklärung gelegentlich der Traditionalist Joseph de Maistre und der Nietzsche der „Herrenmoral“ und des „Übermenschen“ (im Unterschied zum aufklärerischen Nietzsche der „Hinterwelt“-Kritik) genannt. Der Grundgedanke der Dialektik der Aufklärung ist aber, dass derartige Ansichten nur deshalb erfolgreich bis hin zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sein konnten, weil der Siegeszug der instrumentellen Vernunft den Weg für die Durchsetzung der inhumansten Ziele freigemacht hat. So beginnt der Juliette-Exkurs der Dialektik der Aufklärung mit einer materialistischen Dechiffrierung des Kantischen Vernunftbegriffs als Ausdruck der Selbsterhaltung, während die ethische Seite der „formalen Vernunft“ zu einer von mehreren „hoffnungslosen“ und „ephemeren“ (DdA, 108) Morallehren des Bürgertums herabgestuft wird. Hier ist aber zu fragen, ob nicht in der Dialektik der Aufklärung selbst allzu bereitwillig die romantisch-gegenaufklärerische Verengung des Aufklärungsbegriffs übernommen wird, nach der die formale und kalkulierende Zweckrationalität das Wesen der Aufklärung bestimme, nicht aber die praktischen Ziele von Emanzipation, individueller Freiheit und rechtlicher Gleichheit. Während Plessner und Sternhell Aufklärung als Inbegriff jener Ideen des 18. Jahrhunderts verstehen, die sie von den späteren Relativierungen des Vernunftbegriffs, insbesondere dem Historismus, absetzen, gehen Horkheimer und Adorno von vornherein von einem umfassenden, strukturellen Aufklärungsbegriff aus, den sie mit dem „fortschreitenden Denken“ überhaupt gleichsetzen. Mit diesem Aufklärungsbegriff schlagen sie einen anderen Weg ein als die heutige Aufklärungsforschung, die sich, auch um gefährlichen Verallgemeinerungen zu entgehen, einen derart umfassenden Ansatz nicht mehr zutraut. Sie wagt allenfalls „die Behauptung einer, wenn auch graduell abgehobenen, so doch strukturell erkennbaren Analogie zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts, sofern man von Aufklärung im Hinblick auf andere Epochen spricht“ (Schmidt, J. 1989, 2).

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Ansonsten beschränkt sie sich auf einen historisch eng begrenzten Aufklärungsbegriff. Dabei geht sie stärker in die Details hinein, indem sie zum Beispiel die semantischen und sprachpragmatischen Dimensionen von Texten der Aufklärer und ihrer Gegner diskursanalytisch auslotet (vgl. Jung 2012, 96). Einer solchen Detailforschung kommt aber, in anderer Hinsicht als der des epochal entgrenzten Aufklärungsbegriffs, der Ansatz von Horkheimer und Adorno wiederum dadurch entgegen, dass er den Gegensatz von Aufklärung und Gegenaufklärung relativiert. Der dichotomische Schematismus bleibt nämlich inzwischen, wie Jung (2012, 99) urteilt, „hinter dem Stand der historischen Aufklärungsforschung weit zurück“. Die Entgegensetzung von Aufklärung und Gegenaufklärung ist „weniger als unvoreingenommene Beschreibung der historischen Situation denn als Funktion polemischer Deutungskämpfe zu verstehen“ (Jung 2012, 87). Beide konstituierten sich seit dem 18. Jahrhundert vor allem durch Selbst- und Fremdzuschreibungen. Dadurch waren sie, oft ohne es zu wollen und zu erkennen, in ihrem Inneren auf ihr Außen bezogen. Solche Einschätzungen entsprechen mehr einer dialektischen als einer dichotomischen Perspektive, wie sie von Plessner oder Sternhell eingenommen wird. Im Einzelnen sind aber auch schon Plessner wie Sternhell dazu genötigt, die Dichotomie aufzulösen und durch Überhänge zu ersetzen. So charakterisiert Plessner die Geburtsstunde des Bismarck’schen Deutschen Reiches, die doch den Ideen der englischen und französischen Aufklärer so feindlich war, contre coeur als „eine zu aufgeklärte [!], […] eine schon nicht mehr an die innerweltlichen Autoritäten der Vernunft und der Weltgeschichte glaubende Zeit“ (Plessner 1969, 37). Und Sternhell bestreitet ausdrücklich „eine direkte Beziehung von Ursache und Wirkung zwischen Historismus und Faschismus“ (Sternhell 2002, 65). Er präferiert stattdessen den Begriff der Kontinuität: „Kontinuität ist ein dynamischer Prozess, der sich in Krisenzeiten beschleunigt. Es gibt keine Kontinuität ohne Veränderung“ (ebd., 84). Demgegenüber werden bei Horkheimer und Adorno die notwendigen Differenzierungen in der historischen Entwicklung von Bacon bis Hitler der Dialektik der Aufklärung aufgebürdet. Die Autoren stehen diesbezüglich in der schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts lebendigen Tradition der Selbstaufklärung der Aufklärung. Ihre Kritik zielt auf eine instrumentell und formalistisch verkürzte Form der Aufklärung, die ihre ethisch-emanzipatorischen Wurzeln abgräbt und sich zuletzt in der destruktiven Organisation des autoritären Staates, wie Ernst Bloch gesagt hätte, bis zur Kenntlichkeit verändert.

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Literatur Adorno, Theodor W. [1942] 1973. Die Idee der Naturgeschichte. In: Gesammelte Schriften Bd. 1, Hrsg. Rolf Tiedemann, 345–365. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Albrecht, Wolfgang. 1997. Was war Gegenaufklärung? In: Weiblichkeitsentwürfe und Frauen im Werk Lessings. Aufklärung und Gegenaufklärung bis 1800, Hrsg. Dieter Fratzke/Wolfgang Albrecht, 195–229. Kamenz: Lessing-Museum. Barthes, Roland. 1957. Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. DdA: s. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. 1987. Horkheimer, Max. [1930] 1987. Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. In: Gesammelte Schriften Bd. 2, Hrsg. Gunzelin Schmid Noerr, 177–268. Frankfurt a. M.: Fischer. Horkheimer, Max. [1937] 1988. Traditionelle und kritische Theorie. In: Gesammelte Schriften Bd. 4, Hrsg. Alfred Schmidt, 162–216. Frankfurt a. M.: Fischer. Horkheimer, Max. [1959/60] 1989. Die Aufklärung. Vorlesungsnachschrift von Hilmar Tillack (Wintersemester 1959/60). In: Gesammelte Schriften Bd. 13, Hrsg. Gunzelin Schmid Noerr, 570–645. Frankfurt a. M.: Fischer. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. [1947] 1987. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften Bd. 5, Hrsg. Gunzelin Schmid Noerr, 11–290. Frankfurt a. M.: Fischer. (Abk.: DdA) Jung, Theo. 2012. Gegenaufklärung. Ein Begriff zwischen Aufklärung und Gegenwart, In: Perspektiven der Aufklärung. Zwischen Mythos und Realität, Hrsg. Dietmar J. Wetzel, 87–100. München: Fink. Kracauer, Siegfried. [1927] 1977. Das Ornament der Masse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marcuse, Herbert. 1937. Besprechung von Helmuth Plessner: Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche. In: Zeitschrift für Sozialforschung VI, 184–185. Massing, Paul W. [1949] 1959. Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Frankfurt a. M.: Europäische Verlags-Anstalt. Nietzsche, Friedrich. [1872] 1969. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Werke I, 7–134. München: Hanser. Plessner, Helmuth. [1935] 1969. Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche. Neuausgaben seit 1959 u. d. T.: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart: Kohlhammer. Schmid Noerr, Gunzelin. 1993. „Risse in das System des Sinns schlagen“. Roland Barthes als Ideologiekritiker. In: Zeitschrift für politische Psychologie, H. 3/4, 319–341. Leverkusen: Leske und Budrich. Schmidt, Alfred. 1986. Aufklärung und Mythos im Werk Max Horkheimers. In: Max Horkheimer heute: Werk und Wirkung, Hrsg. Alfred Schmidt/Norbert Altwicker, 180–243. Frankfurt a. M.: Fischer. Schmidt, Jochen. 1989. Einleitung – Aufklärung, Gegenaufklärung, Dialektik der Aufklärung. In: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Hrsg. Jochen Schmidt, 1–31. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

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Die Dialektik der Aufklärung als konservatives Palimpsest? Manfred Lauermann

Nachdem Horkheimer und Adorno die Erstfassung der Dialektik der Aufklärung von 1944 innerhalb ihres Kreises verschickt hatten, war die Reaktion mehr als zurückhaltend, ganz im Unterschied zu der zustimmenden Begeisterung, die die Arbeiten von Horkheimer im Kreis der Kritischen Theorie vorher gefunden hatten: Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer konnten wenig mit den Philosophischen Fragmenten anfangen (Wiggershaus 2013, 156). Wo waren die mar­ xistischen Wege des Denkens, die ihnen vertraut waren, wohin steuerte die Dialektik der Aufklärung? Mit konservativen Diskursen kannten sich beide aus: Kirchheimer war Schüler von Carl Schmitt, Marcuse von Martin Heidegger. Und irritierend war die programmatische Widmung an Pollock, dessen „Staatskapitalismus“-Thesen seit 1932 die Grundfesten der Marxschen Theorie zum Einsturz zu bringen drohten (Pollock 1975; Gangl 1998, 170 ff.). Erst heute können wir entspannter reagieren, weil wir wissen, dass eine interessante Gleichzeitigkeit ­ von amerikanischem New Deal, faschistischer Volksgemeinschaft und sowjetischer Planwirtschaft entstand, die allesamt mit Pollocks neuem Begriff zu fassen waren (Schivelbusch 2005). Alle drei Systeme wurden vielversprechende Kandidaten für einen der aktuellen „Kapitalismen“, die sich nach 1945 entwickelten und deren Evolution bis zur Gegenwart andauert. „Die Ausbeutung reproduziert sich nicht mehr planlos über den Markt, sondern in der bewussten Ausübung von Herrschaft“ (Horkheimer 1939, 122). Von einem endogenen Ende des Kapitalismus konnte damals kaum mehr ausgegangen werden, das durch eine vereinfachte Marx-Interpretation – und sei es in kompliziertester Theoriesprache wie

M. Lauermann (*)  Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_3

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in Grossmanns Zusammenbruchstheorie – prognostiziert worden war: Vielmehr wurden die Konstitutionsbedingungen eines Nachkriegskapitalismus in der Dialektik der Aufklärung hellsichtig antizipiert: in Adornos Abschnitt über „Kulturindustrie“.1 „Die Konsumenten sind die Arbeiter und Angestellten, die Farmer und Kleinbürger. Die kapitalistische Produktion hält sie mit Leib und Seele so eingeschlossen, daß sie dem, was ihnen geboten wird, widerstandlos verfallen“ (DdA, 159). Der Proletarier wird Konsument. Und die Intellektuellen, die sich dem bloßen Konsumenten überlegen fühlen? „Realitätsgerechte Empörung wird zur Warenmarke dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat“ (DdA, 157). Alle Menschen „sind so sehr bloßes Material, daß das Monopol einen in ihren Himmel aufnehmen und wieder fortwerfen kann: mit seinem Recht und seiner Arbeit kann er vertrocknen. Das Monopol ist an den Menschen bloß als an ihren Kunden und Angestellten interessiert und hat in der Tat die Menschheit als ganze wie jedes ihrer Elemente auf diese erschöpfende Formel gebracht. Je nachdem, welcher Aspekt gerade maßgebend ist, wird in der Ideologie Plan oder Zufall, Technik oder Leben, Zivilisation oder Natur betont. Als Angestellte werden sie an die rationale Organisation erinnert und dazu angehalten, ihr mit gesundem Menschenverstand sich einzufügen. Als Kunden wird ihnen Freiheit der Wahl, der Anreiz des Unerfaßten, an menschlich-privaten Ereignissen sei’s auf der Leinwand sei’s in der Presse demonstriert. Objekte bleiben sie in jedem Fall.“ (DdA 1944, 173) Halten wir als These fest, die Dialektik der Aufklärung entwickelt antizipierend ein Modell, das wir heute in seiner Wirkung bestimmen können: die Aufhebung der Klassengegensätze im Konsumismus (Baudrillard 2015), die ökonomische Reproduktion des Kapitalverhältnisses durch einen Konsum-Keynesianismus (Crouch 2011), der den klassischen Staats-Keynesianismus des Steuerstaats wenn nicht ersetzt, so ergänzt (Hirsch 2005). Schließlich die neueste Entwicklungsstufe, die Weltgesellschaft als Universalisierung. Anders als viele Interpretationen annehmen, brechen Horkheimer und Adorno nicht mit dem marxistischen Basisdiskurs, obwohl sie in der Dialektik der Aufklärung antimarxistische Diskursteile einbauen, um Anschlussmöglichkeiten zu steigern. In diesem Text haben wir es mit Heteroglossie (Bachtin) zu tun: die semantisch bestimmende Theorietradition bleibt der marxistische Diskurs. Von ihm indirekt gesteuert, erhalten konservative Theoriestücke einen leeren Ort zugewiesen, den die Lektüre genauer anfüllen muss (Bachtin 1986, 90 ff.)

1In

marxistischer Lesart weiterentwickelt bei Steinert (2008) und als Forschungsprogramm (Steinert 2007).

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Wir sprechen von „einem elastischen, oftmals schwer zu durchdringenden Milieu der anderen, der fremden Wörter, die denselben Gegenstand, dasselbe Thema betreffen“ (Bachtin 1986, 96). Die Kritische Theorie, wie die Frankfurter Schule ihr Paradigma selbst nannte, war, wie Scholem gern spottete, gewöhnlicher Marxismus, der sich aber zierte, das der Umwelt gegenüber einzugestehen. Eine der wichtigen Nach-Marx'schen Denkschulen, die sich in der Weimarer Zeit formierte, mit anderen konkurrierend und kooperierend, so mit der Moskauer Herausgabe der ersten MEGA (durch Pollock), material sichtbar durch die Mitarbeit vieler Kommunisten und Sympathisanten der KPD wie Grossmann, Wittfogel, Massing, um nur die bekanntesten zu nennen. Eine der nützlicheren Arbeiten im Marx-Jahr ist die vorzügliche Einbettung der Marx'schen Denkschule von Christina Morina (2017) – Marx und Engels als Klassiker im Kopfe – in die internationalen Diskurse der Bernstein und Kautsky, Struve und Lenin, Guesde und Jaurès: jeder ein Marxist, jeder kein Marxist – in den Augen des je anderen, der, siehe allein die besonders urteilsfeste Rosa Luxemburg, je anderen GenossIn. Und man bemüht bis heute das verkürzte Marx-Wort: „Ich bin kein Marxist“2, um den zum Originalgenie abgefeierten Marx qua Autorenfiktion direkt an sich zu koppeln, um ihn anderen Positionen zu entziehen. Wie Morina am historischen Material zeigen kann, entsteht Marx als Autor unablässig in der Rezeption; dann wird er durch Rückkopplung zum Subjekt des Marxismus, gleichwohl als Eigenname zwangsidentifiziert.3 Wieviel gelassener war das Vorgehen in der Zeitschrift der Sozialforschung 1932–1941, in der man zuweilen von den beiden deutschen Aufklärern des 19. Jahrhunderts sprach, oder auch einfach nur von „den beiden Autoren“ (DdA, 266), womit Marx und Engels gemeint waren. In der Restaurationszeit der Bundesrepublik der 50er Jahre war diese Art von „Bilderverbot“ konzeptionell gemeint: Wie kann eine Theorie wertfrei erörtert werden, wo andere Ausdrucksformen ab 1956 in Gestalt des KPD-Verbots exkludiert worden sind?

2Die

Logik des Arguments lautet: Wenn x Marxist sein will, sein soll, dann bin ich keiner, wenn z hingegen einer ist, bin ich es auch. Setzen wir für x Paul Lafargue, den Marx wie jeden denkbaren Schwiegersohn ablehnte, für z aber seinen Freund Engels. Viel besser trifft eine andere Festellung eines Historikers zu: „Marx kannte in der Politik nur Freunde oder Feinde. Wer nicht für ihn war, war ein Gegner“ (Schieder 1991, 147). 3Zumindest Friedrich Engels gilt als „Erfinder des Marxismus“, diskriminierend als ‚Engelsismus‘ bezeichnet. Morina stülpt das vom Kopf auf die Füße: alle ihre genannten Autorinnen realisieren Möglichkeiten als ideelle geistige Gesamtarbeiter des Schreibsubjekts Marx. Es ist bis heute eine Evolution mit kontingentem Auflösungs- und Rekombinationsvermögen.

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Die Dialektik der Aufklärung von 1947 ist ein Dokument, das die Funktion eines rite de passage haben wird. Wie im klassischen Marxismus nach dem Anti-Dühring, den Engels mit Unterstützung von Marx geschrieben hat, kommt es zu einer typischen Dialektik in der Bildung wissenschaftlicher Schulen (Ziege 2009, 43 ff.). Es trennte sich die äußere Theoriegestalt der Kritischen Theorie von einer verborgenen inneren Tiefenstruktur. Mit einer traditionell vertrauten Terminologie (seit Jacobi/Lessing etwa und Hegel/Marx) kann ein esoterischer Kern von einer exoterischen Sprachhülle unterschieden werden. Es entsteht die Formstruktur einer Dialogizität (Bachtin 1986, 124 ff.). Den sozialen Zwang zu dieser Operation enthüllt Leo Strauss – absichtsvoll verdeckend – in seinem Schlüsselwerk Persecution and the Art of Writing (Strauss 1952), dessen Verstehen die Kenntnis von Spinozas Diskursstrategien voraussetzt, welche bekanntlich systematisch von drei differenten Arten der Erkenntnis ausgingen.4 Nach 1968 konnte von solcher Feinheit keine Rede mehr sein, Horkheimer und Adorno wurden von ihrer Verpuppung der Zeit nach der Dialektik der Aufklärung befreit, welche allerdings überaus erfolgreich gewesen war (Albrecht et al. 1999). Sie wurden auf das Denk- und Sprachvermögen der 68er Aktivisten reduziert, mit Spinoza gesprochen: „nach der Fassungskraft der Menge“ zu gewöhnlichen Marxisten umformatiert. Die verschwiegene Marx-Orthodoxie wurde ans Licht gezerrt, vor allem gegen Horkheimers nachhaltige Absicht.5 Die gelungenste Umschreibung jedoch gelang dieser 68er-Intellekuellengeneration mit Sigmund Freud, dessen konservative Semantik (vgl. Alt 2016, mit viel Ironie) geradezu tollkühn solange bearbeitet wurde, bis Freud quasi zum Wilhelm Reich-Schüler mutierte, bis eine neue Generation das Gegengift entdeckte, und sei es als Gerücht: Lacan und die Diskursmacht des späten Foucault.

4Man

kann ohne solchen Aufwand sich den Sinn dieses Operierens vorstellen, wenn man Foucaults Begriff der Diskursmacht durchdenkt: die Verknappung, die Erweiterungen, das Verbot, die Ver- und Entstellung von Diskursen, nicht zuletzt der Kommentar und die Fiktion eines Autor-Subjektes (Foucault 1974, 39 ff.). 5Der Sachverhalt der Horkheimerschen großen Weigerung wird präzis dargestellt bei Schmid Noerr (1985). Für Nichtspezialisten hat Wiggershaus (2013) alles Nötige gesagt, unter dem wunderschönen Titel: Max Horkheimer. Unternehmer in Sachen „Kritische Theorie“ (2013)!

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1 Konservatives vor der Dialektik der Aufklärung Es mag ein Soziologentag in den 80er Jahren gewesen sein, in einer ad hoc Gruppe beim Soziologentag: Jemand seinerzeit noch nicht Prominentes ­(Honneth? Joas?6) stellte zur Diskussion, ob in der Dialektik der Aufklärung nicht konservative Elemente zu finden seien, ja vielleicht sogar für die Argumentation wesentliche? Ob Benjamins Benutzung des Begriffs der Aura nicht gar zu sehr dem ähnelte, der bei Ludwig Klages vorlag? Damit brachen die Dämme. Nach Nennung von Klages (ultrakurz in der Dialektik der Aufklärung erwähnt) wurden sofort wild assoziiert „alle revolutionären Transformationen von der Cromwell-Revolution bis zum Pol-Pot Horror“ (vgl. Cochetti 1985, 196).7 Zum historischen Diskurs-Ort der Dialektik der Aufklärung lohnt sich ein Blick auf die Revolutionstheorie. Der Harvardprofessor Crane Brinton hatte schon 1938 ein in den akademischen Kreisen im Exilland der Kritischen Theorie8 diskutiertes Buch, The Anatomy of Revolution (Neuauflage Brinton 2017) veröffentlicht, in dem er vergleichend vier Revolutionen untersuchte: die englische, amerikanische, französische und russische. (Ich behaupte in meinem Nachwort zur Neuauflage, dass nur noch eine originäre Revolution den Zyklus abschließt: die chinesische von 1949). Die für meine Interpretation der Dialektik der Aufklärung entscheidenden Abschnitte in Brinton sind „Die Herrschaft des Schreckens und die Tugend“ (199 ff.), sowie „Thermidor“ (228 ff). Es ist nachvollziehbar, dass die beiden letztgenannten Stationen des Weltgeistes von Frankreich lernten, frühzeitig den Thermidor zu erkennen und nachhaltig zu verhindern. Für Marx und seinen Schüler Lenin bedeutete das Bürgerkrieg und zuerst die Freisetzung der Volksmassen (multitudo) und später ihre konservative Rückbindung unter das Gewaltmonopol des Staates. Agamben (2015) bestimmt diese Bürgerkriegslogik von anarchistischem zu konservierendem Verhalten mit dem Mythos von Behemoth und Leviathan. Ideengeschichtlich kann der Vorgang ebensosehr in Begriffen von Aufklärung wie Gegenaufklärung behandelt werden. Auf die politische Soziologie von Vilfredo Pareto weist Kirchheimer als ein stupendes Erklärungsmuster hin, was das konservative Revolutionsbild des späten Horkheimer tief prägen sollte.

6Wohl

eher Honneth. Vgl. den Hinweis auf ihn in Merlio (1998, 120, Anm. 24). Titel und Autor nach Cochetti zitiert. Zu Cochetti siehe Schmidt 1986. 8Es wurde sogleich von Otto Kirchheimer (1939, 254) in der Zeitschrift für Sozialforschung rezensiert. 7Klages:

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Die Marxsche Revolutionstheorie ist Erbe der Aufklärung. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wären – so der Marxismus – ein bloßes Versprechen geblieben, welches nur einer Klasse, der Bourgeoisie, Nutzen gebracht hat, sodass es universalisiert werden muss. Der messianische Deckname dafür lautet: „Proletariat“. Durch das Scheitern der Revolutionen sehen sich Horkheimer und Adorno gezwungen, erneut die Kritiken der konservativen Gegenaufklärung zu begreifen, jene Attacken der Burke und de Maistre, die adäquat den „dunklen Schriftstellern der bürgerlichen Frühzeit Machiavelli, Hobbes, Mandeville“ (DdA, 110) folgen. Denn aus einem Gedankenstück genuiner Aufklärung entsteht ein Mythos „Marx/Revolution“, der der Aufklärung ausgesetzt werden muss, mit einer Leitfrage: Wenn Brinton zufolge Revolution empirisch Gewalt impliziert, man aber an einer Totalveränderung der Verhältnisse aus geschichtslogischen Gründen festhalten will, muss man dann nicht zum innermarxschen Reformismus der Adler und Bernstein zurückkehren? Und braucht man dafür einen solchen theoretischen Überbau, den als Surplus die Kritische Theorie beinhaltet? Revolutionstheoretisch gelesen mobilisiert Adorno im ersten Exkurs über „Odysseus und Aufklärung“ sein Wissen über die abgelegenen Denkversuche von Rudolf Borchardt zu Homer, der Einlinigkeit von Nestles Vom Mythos zum Logos misstrauend.9 „Die Transformation des Opfers in Subjektivität findet im Zeichen jener List statt, die am Opfer stets schon Anteil hatte.“ (DdA, 72) Genau das will die Vernunftabsicht von Revolution erreichen, genau das verfehlt sie ums Ganze. Im Verlauf der Revolution wird Vernunft als höheres Wesen verehrt, vervielfachen sich die Opfer, zu denen die Subjekte regrediert werden. Im zweiten Exkurs der Dialektik der Aufklärung verbindet Horkheimer Aufklärungskenntnisse aus seinen Vorlesungen der Zeit vor 1933 mit seiner Aneignung der Psychoanalyse. Schon bei de Sade war ausbuchstabiert, was man später nach Freuds „Aus Es soll Ich werden“ revolutionsromantisch als Befreiung hinterfragen sollte. Durch die extrem konservative Kulturtheorie der Zukunft einer Illusion (Freud 1927) schlägt die Gewichtung der Dialektik der Aufklärung um: Was im Marxschen Diskurs, der ja in der Urfassung der Dialektik der Aufklärung von 1944 noch manifest war, gerät nun in die Latenz. Konservative, mit Bachtin gesprochen: „fremde Worte“, verändern als Hybride den Text. Erinnern

9Dornseiff

(1959); Adorno (1998) – mit ausführlichem Borchardtmaterial. Sommer (2017a, 28 f.). Ostentativ werden just 1968 Borchardts Gedichte bei Suhrkamp herausgebracht, mit einem emphatischen Vorwort von Adorno (wie er auch der sonst durchgängig konservativen, eben gegründeteten Rudolf-Borchardt Gesellschaft beitrat. Siehe Borchardt 1968).

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wir an zwei Leitmotive der Autoren in anderen, zeitlich weit auseinander liegenden Texten: 1. „Spengler gehört zu jenen Theoretikern der extremen Reaktion, deren Kritik des Liberalismus der progressiven sich in vielen Stücken überlegen zeigte“ (Adorno [1941] 2003, 63). 2. „ja, [..] daß der wahre Konservative dem wahren Revolutionär verwandter sei als dem Faschisten, so wie der wahre Revolutionär dem wahren Konservativen verwandter ist als dem sogenannten Kommunisten [2014 = Linken; M.L.] heute“ (Horkheimer 1970, 82). Sowohl Horkheimer als auch Adorno waren keine berufsmäßigen Marxphilologen. Aber ich möchte spekulieren, beide ahnten, dass in Marx und Engels bemerkenswerte Anteile konservativen Denkens virulent waren. Die Arbeit der intellektuellen Zuspitzung lag beiden Revolutionären. „Kein großer Charakter, der nicht zu irgendeiner Übertreibung neigte.“10 Konservatives Denken finden wir bei Marx und Engels zu Hauf. (vgl. Nolte 1977) Ich nenne das ihre „Bruno Bauer-Erbschaft“. Engels’ Festlegung von „geschichtslosen Völkern“ beispielsweise war eine rationale Bearbeitung von Hegels Geschichtsphilosophie. Eine gezielte Suche in Horkheimers großen Aufsätzen, Höhepunkten seines marxistischen Schaffens, wie Egoismus und Freiheitsbewegung (1936) und Montaigne und die Funktion der Skepsis (1938), würde zweifellos ähnlich realistische Parallelargumente zum konservativen Denken zu Tage fördern: 1) Die Gewalt der Massen war für die Französische Revolution so unausweichlich wie für jede Revolution. Sie kann aus der Logik der Klassenkämpfe erklärt werden, aber sie stiftet keine eigene Geschichte von Opfern (vgl. auch Metz 2010 für die spätere russische und chinesische Revolution, der, obwohl zu einer Opfergeschichte neigend, sich als Cromwellkenner zu einer Hegelschen Geschichtsphilosophie emporarbeitet). 2) Zur Dauerreflexion der Intellektuellen und ihrer Neigung zum skeptischen Denken gilt die Annahme, eine proletarische Partei ließe sich nicht zum Gegen­ stand kontemplativer Kritik machen, denn jeder ihrer Fehler sei ein Produkt des

10Das

Zitat stammt von Cioran (1980, 13). Ähnlich Horkheimer/Adorno: „Aber nur die Übertreibung ist wahr.“ (DdA, 142). Vgl. Brink (1997).

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Umstands, dass sie nicht durch wirksame Teilnahme besserer Kräfte davor bewahrt worden ist. (Regius, d. i. Horkheimer 1934, 72). Skepsis ist ehren­­ haft, mit Sicherheit ist man nach Oakeshott klüger, aber streicht die elfte Feuer­ bachthese durch! In ihrem Geiste formulierte 1848 Marx schon so schön: „Vollständiger Sieg der Kontrerevolution oder neue siegreiche Revolution. Vielleicht ist der Sieg der Revolution erst möglich nach dem Sieg der Kontre­ revolution.“ (Zit. nach Nippel 2018, 55) Um aber den Sieg der Konterrevolution überhaupt begrifflich fassen zu können, ist zumindest das Wissen um konservatives Denken gefragt, welches Bauer Marx in seiner umfangreichen 1848er Kritik zu seinem heftigen Mißfallen vorführt. Wenn sich die Konterrevolution aber gewaltsam durchgesetzt hat, sollte das Denken der Reaktion als das Stärkere zur Erklärung der Niederlage zu Hilfe genommen werden. ­Vergleichbares gilt für die Niederlage der Pariser Kommune 1871.11 „Der Reaktionäre, d­ ieser Konservative, der die Maske abgenommen hat“ (Cioran 1980, 36 f.). Die Konstellation von „Revolution und Kontre-revolution“ – so eine Aufsatzsammlung von Marx, die aber eigentlich Engels geschrieben hatte,12 benennt eine ideologische Grundkonstellation. Solange Klassenkämpfe die Dynamik erzeugen, Revolutionen gewaltsam zu unterdrücken, ist für Marxisten der Zwang gegeben, sich konservatives Denken anzueignen. Für Machiavellis Fürsten bestand der Denkzwang darin, das Volk, also von unten, zu denken; die Marxisten wie Lenin13 mußten von oben, vom Staat her, denken. Darin folgen Adorno und Horkheimer der revolutionären Erfahrung von Revolution und Kontre-revolution, nicht wenig Walter Benjamin vertrauend, der ein spezifisches Organ für Konservatives entwickelt hatte.14 In der Weimarer Republik beginnen sich die Diskurse von Links und Rechts zu vertauschen (Faye spricht von symmetrischer Vertauschung). Der Konservativismus, werden wir durch das Standardwerk von Kondylis (1986) belehrt, mobilisierte

11Siehe

von Münchhausen (2017). Die Fehler der Volksmassen und der Kommuneführer in der „ersten Diktatur des Proletariats“ sollte Lenin vermeiden, zudem mit der Aufarbeitung der Niederlage in Russland 1905: der Konterrevolution wird gewaltsam der Boden entzogen. 12Daher gab Kautsky sie gleich zweimal heraus, einmal mit dem Autorennamen Engels (1896), das andere Mal mit Marx (1913). 13Althusser (1987). Hugo Fischer ([1933] 2018) dachte schon 1933 Machiavelli und Lenin zusammen! 14Benjamin

[1930]: eine Hermeneutik des Konservativen. Jetzt hat Matz (2011) eine subtile Fallstudie zu Benjamin und Borchardt vorgestellt. Sie würde den Beitrag von Ziege in diesem Band sehr gut ergänzen.

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die gegen die Liberalen der überzeugungsfesten Metternich-Periode vormodernen Kräfte des Großgrundbesitzes, verteidigte die althergebrachte Ständeordnung gegen den modernen Nationalstaat und verachtete romantisch die Verbindung von Geld und Geist. Jetzt, im 20. Jahrhundert, nach der Abdankung des Kaisers, wechselten die Konservativen die politische Richtung: Staat und Nation wurden von Gegenbegriffen zu ihrem ureigensten Feld. Die Massen, denen sie eher gleichmütig, ihrer eigenen Dominanz gewiss, gegenübergestanden hatten, wurden zunehmend Objekte ihrer Aktionen. Linke Leute von Rechts, wie Schüddekopf später schrieb (1960), vernebelten die Klassenkämpfe. Kluge Konservative hatten Paradoxien wie „Preußentum und Sozialismus“ formuliert (Spengler 1919). Adorno nannte namentlich Spengler und andere extreme Reaktionäre wie Klages, Moeller van den Bruck (1923), Jünger und Steding, deren Liberalismuskritik in mancher ­Hinsicht der der Linken überlegen gewesen seien. (Adorno 1941, 318)15 Moeller (gest. 1925), der Dostojewski-Herausgeber, war der geniale Stichwortgeber des Zeitgeistes. Er verwirrte geschickt und systematisch die Semantik von ‚Revolution‘, ‚Sozialismus‘, ‚Demokratie‘. 1923 erschien Das dritte Reich, 1919 war schon Das Recht der jungen Völker erschienen. 1931 folgte Jedes Volk hat seinen eigenen Sozialismus. Vor allem jedoch stammt von ihm der Satz: „An Liberalismus w ­ erden die Völker zugrunde gehen!“16 In Weimar werden mit Sorel (Gangl 1994) zwei Mythen unterschieden: der der Nation und der des Klassenkampfes. Schmitt (1926, 77 ff.) wettete auf den stärkeren Mythos, worin ihm die „nationale Revolution“ von 1933 Recht geben wird. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fällt der Konservativismus einem Rückenmarkschwund zum Opfer: er wird liberal und als Massenpartei in der CDU/CSU sozialdemokratisch. Würde der Konservative heute die Maske absetzen, käme nicht Ciorans Reaktionär heraus, sondern ein Dutzendliberaler! Rückblickend wurde die Pendelbewegung ‚rechts-links‘ in Weimar Gegenstand einer großen Diskussion über die Konservative Revolution.17 Eine weitere

15Von

den Genannten war Steding nach 1933 der einzige „echte“ Nationalsozialist. Ob Adorno wahrgenommen hat, dass Steding in seinem nachgelassenem Werk von 1938 Nietzsche als Reichsfeind aus der Gemeinschaft der wahren Deutschen exkludierte? Vgl. Steding 1942.

16Schlüter

(2010, 330) und Goeldel (2007). Handbuch zur Konservativen Revolution (Mohler 1994) war ursprünglich eine Dissertation bei Jaspers in Basel 1949. Die von Hofmannsthal (1926, 41) in einer öffentlichen Rede stammende Wortschöpfung „konservative Revolution“ ist m. E. fruchtbar. Sie arbeitet mit der Kontrastfolie der französischen Kultur seit der Aufklärung und negiert die Möglichkeit einer realen „nationalen Volksrevolution“ wie der von 1933. Erneut blamiert sich die Idee an der Wirklichkeit.

17Mohlers

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Verwirrung lag in der zunehmenden Verschwommenheit der Begriffe. Liberalismus deckte das Besitzbürgertum ab, Konservatismus erinnerte an Adel und verachtete (nunmehr als Konservativismus zur Parole gewendet) das unpolitische Bürgertum, Sozialismus schließlich galt als Ausdruck der niedrigen Schichten, positiviert als Arbeiterklasse.18 Inzwischen scheint der Neoliberalismus die Sub­ stanz sowohl des Konserativismus wie des Sozialismus nachhaltig transformiert zu haben: Was übrigzubleiben scheint, ist der Populismus, verachtet von der Davos-Elite (Huntington 1997, 12).

2 Konservatives Fremd-Material bei Horkheimer und Adorno Ich schlage eine Arbeitsdefinition vor. Konservativismus ist reaktiv. Je nach den Vorhaben der anderen Seite – Sozialismus, Liberalismus – versucht der Konservativismus, diese Politiken zu unterlaufen oder direkt zu verhindern. Diese Gegenschwingungen bilden das Lebenselixier des Konservativen, halten ihn offen für seine Herkunft aus der Reaktion. Seit dem Fordismus der 50er Jahre sind diese Anstöße mittels seiner politischen Feinde zum Erliegen gekommen. Durch den, um mit Luhmann zu sprechen, politischen „Code“ fortschrittlich/ konservativ und die Logik von Regierung und Opposition vertauschen sich Zeit- und Sachdimension. Regierung denkt sich schon als künftige Opposition, Opposition als künftige Regierung: Große Koalitionen verringern jedes Risiko. In der historischen Sequenz der Dialektik der Aufklärung 1947 aber sind wir von dieser Dominanz neoliberaler Hegemonie noch weit entfernt, noch haben die Parteien Weltanschauungscharakter, noch ist eine mächtige Gegenkraft (die Sowjetunion bis 1953, dann China) Feind des „freien Westens“, noch hat es die Kritische Theorie mit gleichrangigen Feinden, also konservativem Denken von Rang zu tun. Ein Stichwort mag das verdeutlichen: Weltbürgerkrieg (Kesting 1959). Es genügt, an den wichtigsten Ideologen des antiliberalen Bürgertums zu erinnern: Carl Schmitt, dessen internationale Wirkung bis heute unvermindert anhält. Schmitt, der seine geistigen Waffen sein Leben lang am kommunistischen Denken maß, in einer für Rechte ungewöhnlichen Intensität (Nolte 2005, 2013), gehörte der Weimarer Konstellation an. In den 50er Jahren änderte sich diese ideologische Konstellation. Mit der Chiffre einer „sozialen Marktwirtschaft“,

18Schoeps

et al. (1981); mit interessanten Dokumenten der Selbstbeschreibungen.

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die Hayek für blanken Sozialismus und den direkten Weg in den Totalitarismus hielt, und einem im Dritten Reich eingeübten Antikommunismus, der die höheren Wachstumsraten im für den Massenkonsumenten wichtigsten Teilsystem, der Wirtschaft, auf seiner Seite hatte, lösten sich messianische Träume von der ­Realität ab. Für Horkheimer in der Bundesrepublik Deutschland nach seiner Rückkehr aus der Emigration galt, wie Boll schreibt: „Was die linken Kritiker jedoch übersahen oder auch nicht sehen wollten, war, dass es sich bei Horkheimers zahlreichen Plädoyers für die bürgerliche Demokratie und ihre liberalen lnstitutionen gar nicht um eine anpasslerische Rhetorik handelte, sondern tatsächlich um eine Veränderung im eigenen Denken. Mit seiner Distanzierung von der hegelschen und marxististischen Geschichtsphilosophie hatte sich Horkheimer zugleich von der klassischen linken Liberalismuskritik entfernt, welche im liberalen Staat nichts anderes sah als einen kalkulierten Betrug, der auf dem Weg einer formalen Gleichheit abstrakter Rechtssubjekte die ökonomische Ungleichheit der Klassengesellschaft organisierte. So wie bei Marx der Staat den Staatsbürger immer vom wirklichen Menschen entfremdete und daher konequenterweise am Ende als überkommene Institution einfach absterben sollte, so standen der Staat, seine Verfassung und die Institutionen des Rechts bei linken Theoretikern lange unter dem Verdacht der Verdinglichung und einer Komplizenschaft mit dem Faschismus“ (Boll 2013, 354). Dagegen kann man wie Rath (1987, 2016, 16 f.) die Tatsache ins Feld führen, Horkheimer hätte in nächtlichen Notizen die öffentlichen Bekenntnisse dementiert und heimlich eingeklammert. Es ist in der Tat ein Desiderat, die Beiträge Horkheimers in den Gesprächen, Diskussionsrunden, Tagungen aus ihrer musealen Aufbewahrung in den Gesammelten Schriften zu befreien, indem man sie wirklich liest und Kontexte wieder herstellt.19

19Als

Beispiel eine Tagung von 1958: Neben Horkheimer sprachen Hannah Arendt, der Germanist Walter Muschg, der Jesuit von Nell-Breuning und Ludwig Marcuse, bei letzterem wie 1942 mit Differenzen (Horkheimer 1959, 160 f.). Aber wie wurde die Komplexität von Horkheimers sehr langer Rede in der Diskussion reduziert! Die Dialektik seiner Zuspitzungen wurde nicht verstanden: „Heute wird der Übergang in den früheren Kolonialländern rasch nachgeholt, rücksichtslos radikal. Dort muten sich heute die Eingeborenen unter ihren Diktatoren nicht weniger zu als was ihnen von den Imperialisten des 19. Jahrhunderts schon zugemutet worden war. Langsamkeit, mangelnde Anpassung gilt dort heute nicht mehr als Faulheit, sondern als Verrat an der Volksgemeinschaft. Schon Hitler und Stalin wollten das durch keine Residuen gehemmte Funktionieren der Industrie der fortgeschrittensten Länder mit Hochdruck nachholen. Der Nationalsozialismus und der

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Die konservativen Charakterzüge beider Verfasser der Dialektik der Aufklärung werden an diesem Material plastisch. Adorno sollte zu Arnold Gehlen weit über gemeinsame Medienauftritte hinaus eine achtungsvolle Freundschaft pflegen.20 Horkheimer sollte spätestens in seinen Affekten gegen die 68er Bewegung und ihre Kritik an den USA kaum unterscheidbar von einem Konservativen werden.21 Der diskutable Versuch von Grimminger (1997), die Sozialtheorien von Horkheimer mit denen von Hans Freyer zu synthetisieren, als „Selbstaufhebung der progressiven und der konservativen Denksysteme“, überzieht die allerdings richtige Intuition. Dennoch verdient dies mehr Beachtung als die weitgehende Ignoranz der Frankfurter Schüler.22 Der Konservatismus behält einen einzigen stabilen Kern, nachdem anderes durch den Faschismus außer Kurs geriet: die These der Ungleichheit der Menschen.23 Burke nannte die Beschwörungsformel, die die Ungleichheits-Evidenz der geheiligten Ständeordnung zerstören kann: „Philosophie, Erleuchtung, Liberalität, Rechte des Menschen.“ (Burke [1793] 1991, 227) Gegenbegriffe

Kommunismus suchten die letzten Spuren nicht straff ausgerichteter Daseinsweisen auszumerzen, und der übersteigerte Nationalismus der zurückgebliebenen Länder heute entspricht demselben Trieb zur rasenden Industrialisierung, zur Herstellung der Konsumgüter fürs Volk und der Luxusartikel des Prestiges, Rüstung, des umspannenden Polizei- und Propagandapparates für die Herrschaft. Die Trägheit, die Schwäche der Individuen, wird ausgerottet. Jeder muß die gewaltsame Disziplinierung an sich selbst vollbringen, oder, wenn er es nicht vermag, zugrundegehen.“ (Horkheimer (1959, 15 f.) 20Die Gespräche von Gehlen und Adorno sind dokumentiert in Grenz (1975). Die enge freundschaftliche Verbindung mit Kenntnis des Briefwechsels belegt Thies (1997). Ich konnte den vollständigen Briefwechsel einsehen: Thies hätte noch offensiver argumentieren können. 21Horkheimers Konservativismus bleibt seltsam, 1969 dauernd von der Studentenbewegung irritiert, der gegenüber er in Italien freundlicher auftritt als in Frankfurt. „Und ich möchte zum Ausdruck bringen, daß es schwierig ist, zumindest ein wenig den Schaden auszugleichen, der durch den Gang des Fortschritts geübt wird“ Horkheimer ([1969] 1990, 107). 22In den Biografien von Claussen (2008) und Wiggershaus (2013) fehlen jegliche Einträge oder Hinweise zu konservativen Autoren. 23Darauf macht Breuer (2000) aufmerksam. Mit heutigen Theoriemitteln ist dieses Gleichheits-Dogma nicht widerlegbar. Die üblichen politischen Mittel sind wirkungslos wie in Weimar die Regression auf Ständestaat und Adelsgesellschaft und die Scheinalternative, die Progression, die Verkündung eines ästhetischen und/oder nationalreligiösen Fundamentalismus.

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lassen sich leicht bilden: politische Theologie, common sense, Konservatismus, Ungleichheit der Menschen. Hominem non sapiunt (Burke [1793] 1991, 320).24 Und Burke, darin ein früher Wissenssoziologe, nennt die Trägerschichten der Aufklärung: „Frankreich wird, wenn nämlich dieses Ungeheuer [die ‚Chimäre‘; M.L.] Konstitution Dauer haben kann, von niemand anders regiert werden als von einigen städtischen Clubs, von den Verwaltern der Assignate und der Kirchengüter, von Advokaten, Agenten, Maklern, Agiotanten, Wucherern und Abenteurern – einer niedrigen Bande, die sich auf den Trümmern des Throns, der Kirche, des Adels und des Volks erhob. Hier enden nun alle die betrügerischen Träume und Schattenbilder von Menschengleichheit und Menschenrechten. In dem grundlosen Morast dieser verworfnen Oligarchie sind sie alle verschlungen, untergesunken und verloren auf immer“ (Burke [1793] 1991, 336 f.).

3 Nietzsche oder: das Konservative drängt sich auf An der Dialektik der Aufklärung lässt sich zeigen, wie wenig Herrschaft die Autoren über ihren Text haben. Willem van Reijen las das Buch als Allegorie. Diese sei eine Pendelbewegung zwischen konträren Lesarten, die dem Text selbst inhärent sind. Fortdauernde Verweise des einen auf das andere und des anderen auf das eine bestimmen ihm zufolge das repetitive Moment. Dadurch wird der Leser gezwungen, durch die Oberfläche zu einer anderen Bedeutungsschicht durchzudringen (Vgl. Reijen 1987, 203). Die Dialektik der Aufklärung berichtet von einer kapitalistischen Welt und ihrer Geschichte, in der die sozialen Herrschaftsbeziehungen naturalisiert sind, die wie Schicksale einer zweiten Natur wirken. „Die Verfemung des Aberglaubens hat stets mit dem Fortschritt der Herrschaft zugleich deren Bloßstellung bedeutet. Aufklärung ist mehr als Aufklärung, Natur, die in ihrer Entfremdung vernehmbar wird.“ (DdA, 54)

24„Die

Menschen nehmen sie nicht zur Kenntnis.“ (Martial) Das hätte ein Motto für Luhmanns Soziologische Aufklärung sein können.

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Dieses Vernehmen wird in konservative Termini übersetzt. Was wir als Ontologisierung und Naturalisierung kritisch registrieren, ist die authentische Sprache von oben, Herrschaft als naturgegebene Üblichkeit. Der Aberglaube, politisch bestimmt als Populismus, weiß darum, und wird zugleich der Aufklärung unterzogen. Hier ist die Stärke einer Aufklärung der Aufklärung, die Enthüllungsleidenschaft, die Nietzsche antreibt: „Nietzsche ist unter den unentwegten Enthüllungstheoretikern derjenige, der die Gegenaufklärung radikalisiert.“ (Habermas 1983, 219) Und das Schlimmste: Nietzsche ist ein Verräter am Allgemeinen der Vernunft und der sozialen Trägerschicht von Intellektuellen.25 Kaum zufällig kamen in den neunziger Jahren Autoren aus Paris diesem Element in der Dialektik der Aufklärung auf die Spur, bemerkten ihren heterogenen Diskurs, Autoren, die sich mit der Weimarer Republik und der Konservativen Revolution beschäftigt hatten: Gérard Raulet, Gilbert Merlio, Manfred Gangl, oft mit Willem van Reijen.26 Anders als Deutschland gehörte Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg zu den Siegern. So sah die Rechte sich als Sieger der Geschichte, stand nicht wie die Konservativen Weimars als Verlierer vor der unangenehmen Situation, Opposition gegen den (Weimarer) Staat – und sei das Staat in Form einer Demokratie – sein zu müssen. Symbolisch mag dafür die Gewaltapologie von Sorel stehen, der unbefangen schwankte, ob er Mussolini oder Lenin den Vorzug geben sollte. (Gangl 1994) Diese großen Arbeiten zu Diskursüberschneidungen der Linken und der Rechten wurden im deutschen Sprachraum teilweise unzureichend oder überhaupt nicht übersetzt und somit kaum wahrgenommen.27

25Nietzsche

„denunziert […] den Allgemeinheitsanspruch des Philosophen als strategische Selbstlegitimierung einer Kaste von Wissenden, die ihre eigenen spezifischen Kompetenzen und ihre eigene Lebensform [… zur M.L.] absoluten Norm machen. Jedes Wissen steht im Kontext von Praxis und Selbstbehauptung, und auch das philosophische Wissen ist positioniert und sozial situiert. Damit wird aber auch dieses Wissen, wie jedes andere, zu einer Frage der Macht und der Durchsetzung; und die Selbststilisierung der Philosophie als eines ‚friedlichen’ Bereichs der reinen und von allen sozialen Bezügen befreiten Erkenntnisse ist eine Verschleierung der Tatsache, dass Wissen und Erkennen, wie alle menschlichen Vollzüge, Ausdruck eines Willens zur Macht sind“ (Saar 2017, 154 f.). 26Gemeint ist die Groupe de recherche sur la culture de Weimar. (Maison des Sciences de l’homme, Paris) In der Festschrift für Gérard Raulet findet sich ein Schriftenverzeichnis der Groupe in verschiedenen Verlagen. Vgl. Agard (2015). 27Vgl.

Sternhell (1986), Faye (1972), Dupeux (1979). Nicht unwichtig zu wissen: Horkheimer stand der Totalitarismusthese, nicht unähnlich diesen Autoren, mit großer Skepsis gegenüber (Lauermann 2000).

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Die Verdoppelung der politischen Semantik in rechte und linke Diskurse war für die „Groupe“ selbstverständlich. So konnten sie in der Dialektik der Aufklärung unschwer einen Text erkennen, unter dessen Oberfläche eine weitere Bedeutungsschicht zu finden war. Die marxistische Sprache stottert gewissermaßen, wenn Herrschaft sich in einer positiven Konfiguration äußert. „Denn Mythologie hatte in ihren Gestalten die Essenz des Bestehenden: Kreislauf, Schicksal, Herrschaft der Welt als die Wahrheit zurückgespiegelt und der Hoffnung entsagt.“ (DdA, 40) Das ist die „Verschlingung von Mythos, Herrschaft und Arbeit“ (DdA, 46). 1985 wurde in Frankfurt zu Ehren von Horkheimers neunzigstem Geburtstag ein prominent besetzter Kongress veranstaltet. Raulet (1986) stellte das Forschungsprogramm der Pariser Gruppe dar: „Kritik der Vernunft und kritischer Gebrauch des Pessimismus“. Er rekonstruierte die frühen Schatten von Schopenhauer, den Horkheimer vor Marx las, im Frühwerk (Stichwort Schopenhauers „ruchloser Optimismus“28). Raulets Resümee lautete: „Die in Geschichtspessimismus mündende Kritik der Vernunft gebietet wider allen Erwartens der Versuchung einer maßlosen Disqualifizierung der Vernunft Einhalt. Wie Horkheimer am Ende von Eclipse of Reason gesagt hatte, ‚ist die Denunziation dessen, was gegenwärtig Vernunft heißt, der größte Dienst, den die Vernunft leisten kann.‘“ (Raulet 1986, 48). Auffälligerweise war bei dieser Tagung der andere, der marxistische Diskurs, durch den Schüler Horkheimers, Alfred Schmidt, vertreten, der in einem Abschnitt „Zu Horkheimers Bestimmung des Mythos in der Dialektik der Aufklärung“ das Thema behandelt (Schmidt 1986, 196 ff.). In der Dialektik der Aufklärung überkreuzten sich der rechte und der linke Diskurs, was an sich ein Modellfall für Derridas Dekonstruktivismus wäre, der aber seltsamerweise heutzutage schon wieder ganz verdrängt worden zu sein scheint. Die Einübung in die Postmoderne in einer anderen Textsammlung zur Dialektik der Aufklärung (Kunnemann/de Vries 1989) blieb weitgehend isoliert. Der textuellen Wiederholung des Aufklärungsdiskurses wurden Elemente der Gegenaufklärung beigemischt: „Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen.“ (DdA, 19) Damit das Subjekt seiner

28Doch

welchen Optimismus musste Heinz Maus (1940) gehabt haben, der 1940 mit einer Arbeit in Kiel promoviert wurde, in die er offensiv Arbeiten von Horkheimer – mit dem er korrespondierte – eingebaut hatte, die nicht leugnete, von Adornos Kierkegaard gelernt zu haben?

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selbst mächtig werden kann, muß nach Maßgabe der Kritik der politischen Ökonomie jene vorerst begriffen werden – so das Marx-Programm, um dann durch radikale Veränderung den Subjekten einen Willen zur Macht zu überantworten. Schnädelbach definiert das trocken als „Sozialmythos“, strukturell verwandt dem Naturmythos. „Der Sozialmythos als die große Hintergrunderzählung ist keine Utopie der Erkenntnis, sondern eine selbsterzeugte Illusion; er ist Gegenaufklärung und sei er auch in bester aufklärerischer Absicht erzeugt worden“ (Schnädelbach 1989, 29). Man mag beruhigt beipflichten oder im Namen der Moral protestieren, die Dialektik der Aufklärung legt nicht zufällig vor die Aufklärung, der wir den Sozialmythos verdanken, die antiken Mythen, welche die Dimension des Opfers29 wachhalten, deren Rationalisierung die Mythen sind. Es ist die Leistung konservativer Theorien, diese Essenz zu normalisieren. Man kann mit Hirschman (1992, 21) drei Argumentationsfiguren der konservativ-reaktionären Rhetorik unterscheiden: 1) die Sinnverkehrungsthese, 2) die Vergeblichkeitssthese und 3) die Gefährdungsthese. Würde man die Quellen ernst nehmen (Burke, de Maistre, Nietzsche) – die Hirschman nicht wirklich vertraut sind –, hätte es einen Sinn, bei ihm aber wird nichts in den Thesen sichtbar, das sich als reaktionär bezeichnen ließe: Sie sind heute aus den technokratischen Herrschaftsweisen aller modernen Parteien vertraut, Modi der verwalteten Welt. Ich möchte diese Thesen für eine Lektüre der Dialektik der Aufklärung konkretisieren. Die Sinnverkehrungsthese meint das marxistische Revolutionsprogramm, statt Vereinigungen freier Menschen stalinistische Bürokratie. Horkheimer konstatiert diesen Verlauf in der Französischen Revolution, dann als Kopie in den internationalen Studentenbewegungen bis hin zum Sturz des Schahs in Persien, dessen Erfolg einen schlimmeren Diktator befördern sollte – eine Verbeugung vor Pareto. (1990, 23, 43) Die Vergeblichkeitsthese ist die technokratische Utopie des Sachzwanges eines gemässigten Konservativismus der 60er Jahre und der EU-Bürokratie von heute. Immer garniert mit dem Fürsten bei Lampedusa: „Wir müssen alles ändern, damit sich nichts ändert.“ Eine ähnliche Interpretation jener Reflexionsfiguren finden wir in einem anderen Aufsatz von van Reijen: „Wir müssen uns jetzt fragen: ‚Ist die Dialektik der Aufklärung ein konservativer Text?‘ Die Antwort auf diese Frage, so scheint es, lautet ‚ja‘, sofern konservative Argumentationsfiguren in der Dialektik der Aufklärung angetroffen werden.

29Das

sieht einseitig, doch entstellt richtig, Cochetti in seiner reichhaltigen Materialsammlung zu Opfer und Ratio. Imponierend ist seine abgelegene Literatur.

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Sie lautet ‚nein‘, insofern es Horkheimer und Adorno, anders als reaktionären Autoren und Politikern, offenkundig nicht um die Wiederherstellung eines ‚status quo ante‘ geht“ (Reijen 1998, 204). Direkter geht Merlio das Thema an: „Sind Horkheimer und Adorno dunkle Schriftsteller des Bürgertums?“ (Merlio 1998). Mit leichter Ironie übernimmt er die politische Farbenlehre von dunklen, schwarzen und hellbraunen Schriftstellern der Aufklärung (vgl. Habermas 1983, 405) und sortiert einige ihrer Nachfolger im 20. Jahrhundert wie Spengler, Klages, Schubart und [Ernst] Jünger (Merlio 1998, 112 ff.). Wie Habermas konzentriert er sich auf Nietzsches Intervention (119). An Schopenhauer wird mit militärischer Knappheit erinnert: „Optimismus ist Feigheit“.30 Horkheimer war sich nie darüber in Zweifel, dass, sollte es jemals so etwas geben wie eine klassenlose Gesellschaft, die Probleme, die Schopenhauer umtrieben, keinesfalls erledigt sein würden. Merlios Erklärung der „strukturellen Ähnlichkeiten“ ist konventionell: „In mehr als einer Hinsicht können unsere Autoren als konservative Nos­ talgiker gelten, die die Demokratisierung bzw. die Vermassung der Kultur beklagen, sich nach dem Individualismus und der gegenseitigen Achtung, welche im liberalen Zeitalter, zur Zeit des Konkurrenzkapitalismus noch existierten, zurücksehnen, und die noch allgemeiner, stets zum ‚Eingedenken‘ der ‚Natur‘ und der ‚Spontaneität‘ des Menschen mahnen“ (Merlio 1998, 123). Die Dialektik der Aufklärung wird von Schopenhauers31 Impuls und Nietzsches Interventionen derart strukturiert, dass sie neben den beiden anderen Aufklärern des 19. Jahrhunderts als Maßeinheit funktionieren, die in der Semantik den Wörtern ihren Platz anweisen als rechte oder linke, als Motoren der Designation. Jede weiß: „‚Rechte‘ und ‚Linke‘ sind bloße Annäherungen, ohne die man leider nicht auskommen kann. Nicht auf sie zurückgreifen, hieße auf Parteinahme zu verzichten, sein Urteil im politischen Bereich in der Schwebe halten, sich von den Zwängen der Zeit freimachen […]“ (Cioran 62 f.). Wir wiederholen die Beobachtung, dass die Autoren zur Zeit der Dialektik der Aufklärung der strukturellen Ähnlichkeiten halber gleichzeitig an einem alternativen Vokabular des Marxismus arbeiten, wovon bekanntlich Spuren der

30Spengler,

zit. nach Merlio (1998, 111). Zu Spengler aus der Groupe neuerdings Merlio/ Meyer 2014. 31Die Bedeutung Schopenhauers für Horkheimer, „der von ihm eingenommen war“ (Habermas), wird ausführlich von Raulet (1986) in dem für die Groupe programmatischen Aufsatz abgehandelt (s. o.).

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Urfassung von 1944 zeugen. Auf der Frankfurter Tagung 1985 wurde politisch am deutlichsten Iring Fetscher (1986, 311 ff.) – in Kontrast zu Raulet. Damit gelangen wir, ein wenig umständlich, zu der Frage: Nietzsche und die Klassengesellschaft, wie sie Georg Lukács beantwortete: „In der blendenden Kritik der kapitalistischen Kulturlosigkeit seiner Zeit ist Nietzsche ein Schüler des romantischen Antikapitalismus. Er sieht außerordentlich klar, wie stark der Kapitalismus seiner Zeit die Kultur verwüstet und zerstört, er läßt sich in dieser Hinsicht weder von seinen ökonomischen noch von seinen technischen Errungenschaften blenden. […] Einerseits ist der gegenwärtige Kapitalismus in seinen Augen schlecht, weil er zu kapitalistisch ist, weil er nicht die Einfachheit und Klarheit der scharfen Ständeschichtungen und ihrer aristokratischen Kultur besitzt […]. Andererseits ist der gegenwärtige Kapitalismus darum kulturlos, weil er noch nicht genügend kapitalistisch, weil er noch kein Imperialismus ist. Die demokratischen Strömungen seiner Zeit erscheinen ihm als die Übel einer Übergangszeit, aus welcher nur der Sieg des Aristokratismus, die Entstehung einer neuen, höheren Herrenschicht den Ausweg zu zeigen imstande ist“ (Lukács [1942] 1989, 306 f.).32 Dieser Text entstand 1942. Mit heutigen Kommunikationsmitteln hätte er von Taschkent nach Los Angeles geschickt werden können, wo am 14. Juli 1942 eine große Nietzsche-Tagung stattfand. Rath hat darüber informiert und sorgsam die Positionen der Schule ausdifferenziert (Rath 2016). Ludwig Marcuse sah in Nietzsche einen verwandten Geist, während sein Namensvetter Herbert sich mit Sicherheit Lukács angeschlossen hätte, eher mit dem Einwand, Lukács sei noch zu positiv. Horkheimer hat mehrfach in seinem Leben seine Nietzsche-Auffassung geändert, selbst in der Dialektik der Aufklärung blieb er ambivalent, anders als Adorno, der gewissermaßen einen Nietzsche-Marxismus ohne jede Rücksicht ins Feld führt.33

32Das

Wort Adornos, Lukács’ Buch, Die Zerstörung der Vernunft (1952) zeige allein die Zerstörung seiner eigenen Vernunft, mag witzig sein, verfehlt aber den Sinn. Vgl. Rosenberg (2000); Lauermann (1993); Erhart/Jaumann 2000. 33Vgl. Rath (2000). Wohl unbekannt war den Frankfurtern, nicht aber Lukács, die frühe Marx-Arbeit von Hugo Fischer: „Die Kategorie Kapital ist eine Spezifikation der übergreifenden kulturphilosophisch-metaphysischen und soziologischen Kategorie Dekadenz. Das Kapital ist die Form der Dekadenz des Wirtschaftslebens. Der Grundfehler, den eher der Marxismus als Marx selbst begeht, besteht darin, die Dekadenz als eine Form des Kapitalismus, statt den Kapitalismus als eine Form der Dekadenz zu betrachten“ (Fischer 1932, 31).

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Ergänzen wir Rath mit einer kleinen Erinnerung an die Rezeptionsgeschichte. Was mochte das Nietzschebild von Horkheimer und Adorno mitgeprägt haben? Vergessen wir nicht die oft dargestellte problematische Geschichte der Werkausgaben. (Sommer 2017, 98 ff.) 1913 gelang es dem jüdischen Germanisten Meyer, der unter Mühen selbst glücklich dem Bann der Schwester Nietzsches entronnen war, der trotz großer wissenschaftlicher Anerkennung keinen Ruf an eine Universität erhalten hatte, eine Verortung Nietzsches in der Aufklärung. Allein die von Nietzsche bevorzugte Tradition wird von den großen Aufklärern illuminiert: Machiavelli und Mandeville, Goethe, Lichtenberg, Heine, Montaigne und Voltaire, Shakespeare, Swift, Sterne. Doch entscheidender wertet Meyer, der eine maßgebliche Stilkunde verfasst hat, Nietzsches spezifischen Stil als Zeichen eines modernen Denkens, dazu die Identifikation mit der Moderne eines Baudelaire, eines ­Flaubert.34 Nach dem Ersten Weltkrieg und – für die Deutschen – nach dem Untergang des Abendlandes ändert sich die Interpretationsrichtung Nietzsches als Aufklärer zu einer Interpretation, die Nietzsche zum Mythos und Mythologen macht!35 Was jedoch Gemeingut der Nietzsche-Kenntnis wie der Nietzsche-Verachtung um die Jahrhundertwende war, berichtete der Soziologe Georg Simmel dem Publikum. Damit sollte man den Rucksack der Weimarer Zeit füllen:36 „Nur die gerade jetzt herrschende Moral verneint er. Denn in deren ­demokratisch-christlichen Idealen, Selbstlosigkeit, Demut, Entsagung, Sich-hingeben an die Zukurzgekommenen, die Elenden und Schwachen – sieht er die furchtbarste Gefahr für die Entwicklung unserer Gattung. […] Christentum und Demokratie zielen darauf ab, die Schwachen und Unbegabten, die Kranken und Mitleidswürdigen zu konservieren, den Gesundungsprozess der Menschheit, der auf Ausstoßung und Vernichtung dieser drängt, aufzuhalten und rückläufig zu

34Meyer

1913 und Meyer 2012. Bei meiner Lektüre von Meyers Lebens- und Werkgeschichte von Nietzsche fiel mir als objektive Konstellation eine frappierende Ähnlichkeit zu Marx auf, ein weiteres Nachdenken würde sich lohnen. 35Bertram (1918). 36Heute haben wir das Wissen, dass es in der Zeit der Kaiser-Dämmerung Anfang des 20. Jahrhunderts auch eine Nietzsche-Rezeption von links gab. Aschheim (1996) wird in der deutschen Jugendbewegung und speziell bei russischen Intellektuellen fündig. Ob nicht das völlig vergessene Nietzsche-Buch von Hugo Fischer (1931) eher zu dieser Gruppe gehört? Einzig Breuer (2000, 283) kennt es: Fischer, „[…] der die transnationale, tellurische Perspektive Nietzsches herausstellte und eine auf Technik und Wissenschaft gegründete Weltherrschaft des Europäertums propagierte“.

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machen. Dies erscheint ihm als das eigentliche Symptom der Décadence, dass der Instinkt für das, was die Gattung nach oben entwickelt, verloren gegangen ist.“ (Simmel 1902) * Adorno sah in den Nietzschetexten eine Spiegelschrift, Horkheimer ein Palimpsest. Horkheimer analysierte wie Lukács die Klassenposition: Nietzsche hätte den Nebel der bürgerlichen Ideologie durchdrungen. Ohne Stilgefühl kann schwerlich erkannt werden, dass in Nietzsches Genealogie der Moral, einem von den Autoren der Dialektik der Aufklärung favorisierten Meisterstück, die Elendsgeschichte der Moral als Komödie der Verwechslung eher plausibel ist als in Jenseits von Gut und Böse, welches „ganz schwarz, eher Tintenfisch, was mir aus der Seele geflossen ist.“37

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37Brief

von Nietzsche an Köselitz vom 21. April 1886, zit. nach Sommer (2017, 64). Witzig sein Brief an Gast von 20. Dezember 1887: „Die Leidenschaft der letzten Schrift hat etwas Erschreckendes: ich habe sie gestern mit tiefem Erstaunen und wie etwas Neues gelesen.“ (Chronik zu Nietzsches Leben 1988, 167).

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Nominalismuskritik und „negative Metaphysik“. Philosophiegeschichtliche Überlegungen zum Begriff der Natur in der Dialektik der Aufklärung Gerhard Schweppenhäuser Das erste Kapitel der Dialektik der Aufklärung beginnt mit einem langen BaconZitat. Bacon plädiert darin für eine adäquate Beziehung zwischen den Erkenntnissen des Verstandes und „der Natur der Dinge“. Horkheimer und Adorno kritisieren seine Vorstellung von der Gestaltung des Lebensprozesses durch wissenschaftlichtechnische Auseinandersetzung mit der Naturbasis menschlicher Reproduktion. Die Lehre aus Bacons Naturkonzept sei folgende: „Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen.“ (DdA, 14) Naturbeherrschung und Selbsterhaltung führten zu wechselseitiger Entqualifizierung durch Formalisierung und statistische Erfassung: „Die disqualifizierte Natur wird zum chaotischen Stoff bloßer Einteilung und das allgewaltige Selbst zum bloßen Haben, zur abstrakten Identität.“ (20) „Einheit der Natur“ gebe es nur noch als quantitatives und statistisches Konzept, auch die „Identität des Geistes“ (ebd.) werde nur noch so verstanden. Jeder Fortschritt der Naturbeherrschung, der aus Naturverfallenheit herausführen soll, führe daher umso tiefer hinein, denn er setze Selbstbeherrschung voraus, also verinnerlichte Gewalt. So könne aber der Bann des Naturzwangs nicht gebrochen werden. Das sind starke Pathosformeln – pointiert auf Kosten begriffsgeschichtlicher Genauigkeit. Immer wieder ist das moniert worden; aber es wurde auch bemerkt, dass dem Narrativ des Buches ein Gedankengang zugrunde liegt, der trotz Überpointierungen und Ungereimtheiten alles andere als unschlüssig ist. Ich möchte

G. Schweppenhäuser (*)  Fachhochschule Wüzburg-Schweinfurt, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_4

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auf eine immanent kritische Lesart aufmerksam machen, die, soweit ich sehe, bisher nur wenig beachtet worden ist. Sie hat den Gedankengang der Dialektik der Aufklärung aufgenommen, sich aber von seiner Ausführung in diesem Buch distanziert. Dazu werde ich mich auf die Dialektik der Aufklärung sowie auf einen Text aus deren Umfeld beziehen, nämlich auf Horkheimers Aufsatz „Vernunft und Selbsterhaltung“ von 1942, und vor allem auf philosophiehistorische Forschungen von zwei Frankfurter Schülern der Autoren der Dialektik der Aufklärung. Ich werde zunächst auf das ambivalente Konzept der Natur in der Dialektik der Aufklärung eingehen (1). Dann werde ich darlegen, wie die Suche nach einem nicht-instrumentellen Naturbegriff zum Rekurs auf nominalistische und realistische Theoreme führte. Daraus ergab sich eine bedenkenswerte, meiner Ansicht nach noch nicht genügend beachtete Modifikation des vernunftkritischen Paradigmas (2). Den letzten Teil dieses Beitrags bilden Hinweise auf mögliche Anknüpfungspunkte für weiterführende Untersuchungen (3).

1 Ambivalenzen im Begriff der Natur Gunzelin Schmid Noerr (1990, IX) hat zu Recht von einer „fundamentale[n] Zweideutigkeit des Naturbegriffs“ gesprochen. Natur erscheint in der Dialektik der Aufklärung als schopenhauerischer Gewaltzusammenhang, als Töten und Verschlingen. Das setzt sich in die Gesellschaft hinein fort, die in dieser Hinsicht ein Stück Naturgeschichte bleibt: ein Krieg aller gegen alle wie bei Hobbes. Natur erscheint aber auch als Ort lebendigen Daseins; ihre objektive Intention ist, im rousseauschen Sinne, Leidfreiheit und physisches Glück. Wunschbilder gewaltloser Synthesis sind Ausdruck dieser Intention. Das „Eingedenken der Natur im Subjekt“ ist einerseits ihr künstlerischer Ausdruck und andererseits ihre philosophische Reflexion. Beide könnten helfen, „Herrschaft bis ins Denken hinein als unversöhnte Natur zu erkennen“ (DdA, 55)1. Es scheint, als würden hier die

1An

anderem Ort spricht Horkheimer von der „Versöhnung der beiden Pole [sc. Natur und Vernunft], von der Philosophie stets geträumt hat“ (Horkheimer 1947, 131). Damit spielt er auf die Idee der Humanisierung der Natur durch Naturalisierung des Menschen aus den frühen Schriften von Marx an. Horkheimer hielt dies für mehr als nur eine romantische Reminiszenz an vormoderne oder anti-moderne Naturphilosophie: Er sah darin Potenzial für sein eigenes Programm einer „dialektische[n] Anthropologie“ (DdA, 12). Die Autoren der Dialektik der Aufklärung haben das Konzept des Eingedenkens von Walter Benjamin übernommen, der es 1937 in einer Auseinandersetzung mit Horkheimer zur Geltung gebracht hat. Im Aufsatz über den ‚Sammler und den Historiker‘ Eduard

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Koordinaten des christlichen Naturbilds mit umgekehrten Vorzeichen versehen. Dort soll physische Natur durch Erlösung von der Sünde geistig und ethisch transzendiert werden, während in der Dialektik der Aufklärung innerweltliche Versöhnung der inneren Natur das normative Ziel vernünftiger Praxis ist, die äußere Natur nicht mehr entwerten und instrumentalisieren würde. Im geschichtlichen Verlauf des „Prozesses, der Natur zu Stoff und Materie machte“ (279) – so formuliert Horkheimer unter dem Titel „Interesse am Körper“ –, wird die Physis sozialer Herrschaft unterworfen. Mit Nietzsche und Freud beschreibt Horkheimer die Geschichte von Zivilisation und Kultur als Prozess, in dem „der ausgebeutete Körper“ (277)2 unter eine zunehmend verinnerlichte

Fuchs hatte Benjamin (1937, 477) geschrieben, dass „das Werk der Vergangenheit“ einem materialistischen Kulturhistoriker nicht als etwas Abgeschlossenes gelten dürfe, denn andernfalls würde er ein verdinglichtes, ja sogar fetischhaftes Konzept der Kultur verwenden. Horkheimer hatte gegen Benjamins Gedanken, dass eine kritisch-materialistische Vorstellung der Geschichte diese als unabgeschlossene zu begreifen habe, eingewendet, dies ließe sich ideologisch missbrauchen, um davon abzulenken, dass vergangenes Unrecht unwiderruflich geschehen und die Erschlagenen unwiderruflich tot sein. Darauf entgegnete Benjamin, „daß die Geschichte nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft ‚festgestellt‘ hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch begreifen, sowenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.“ (Benjamin 1982, 598) 2Der

Hintergrund, vor dem die Autoren der Dialektik der Aufklärung ihre Herrschaftskritik, aber auch ihre Überlegungen zum Naturbegriff formulierten, war der nationalsozialistische Antisemitismus: „Die Natur- und Schicksalsliebe der totalitären Propaganda ist bloß die dünne Reaktionsbildung auf das dem Körper Verhaftetsein, auf die nicht gelungene Zivilisation. […] In der teuflischen Demütigung des Häftlings im Konzentrationslager, die der moderne Henker ohne rationalen Sinn zum Martertod hinzufügt, kommt die unsublimierte und doch verdrängte Rebellion der verpönten Natur herauf.“ (DdA, 280 f.) Antisemitismus äußert sich als – latent oder manifest gewalttätiges – Ressentiment gegen potenziell vernünftige Tauschverhältnisse und deren verschwiegenen Gewaltkern. Dieses provoziert latente oder manifeste, irrationale Gegengewalt. In den Fantasien von Antisemiten erscheinen Juden als symbolische Verkörperungen bürgerlicher Tauschverhältnisse. Sie werden Zielscheibe für Aversionen gegen die zivilisierenden Errungenschaften der bürgerlich-kapitalistischen Tauschrationalität in der liberalen Demokratie. Horkheimer bezeichnete jene gewalttätige Aversion gegen die kapitalistische Zivilisation als „Revolte der Natur“, die von faschistischer Herrschaft inszeniert wird. In der Kritik der instrumentellen Vernunft erwog er, man könne „den Faschismus als […] satanische Synthese von Vernunft und Natur beschreiben“ (Horkheimer 1947, 131).

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„Kontrolle“ gebracht wird. Das liest sich streckenweise wie eine Antizipation von Foucaults Konzept der „Disziplinarmacht“ oder wie eine Vorahnung von Deleuzes Vision der „Kontrollgesellschaft“. Deleuze (1993, 261) meinte, Herrschaft als internalisierter Zwang werde nicht mehr nur durch Institutionen abgesichert (Fabriken, Gefängnisse, Kasernen, Schulen und Irrenhäuser), sondern durch allgegenwärtige „sozio-technische […] Kontrollmechanismen“. Dabei würden die Mittel der Mikroelektronik eingesetzt, um alle sozialen Bereiche, nach ökonomischen Erfordernissen, neu zu formatieren. Deleuze und Foucault haben nicht an Horkheimer angeknüpft, sondern an Heidegger. Dessen Kritik der Naturphilosophie wiederum ist für meine Lektüre der Dialektik der Aufklärung von Interesse. Heidegger (1935, 13) hat die „Verengung der ϕύσις in der Richtung des ‚Physischen‘“ beklagt. Der verwissenschaftlichte Ungeist der akademischen Philosophie habe aus den spekulativen Anfängen der griechischen Metaphysik eine materialistische „Naturphilosophie“ gemacht. Die misslungene Übertragung des ϕύσις-Begriffs in das römisch-christliche natura-Konzept habe zu der „Vorstellung“ geführt, dass ‚alle Dinge‘ „eigentlich stofflicher Natur sind“ (12). Dabei sei das Wissen darum verlorengegangen, dass die Rede von der Physis im letzten Grunde etwas anderes besage, nämlich „das aufgehende Walten und das von ihm durchwaltete Währen […]. Φύσις ist das Ent-stehen, aus dem Verborgenen sich heraus- und dieses so erst in den Stand bringen.“ (11 f.) Heidegger betont: „Das Seiende als solches im Ganzen ist ϕύσις“ (13). Die „Verengung der ϕύσις“ führt er auf ihre konzeptionelle Entgegensetzung zur τέχνη zurück. Unter τέχνη versteht er „das wissende Verfügen“, das „Erzeugen, Erbauen, als wissendes Hervor-bringen“ (ebd.). Durch die „Verengung der ϕύσις“ sei das ontologische Wissen um das „Seiende als solches im Ganzen“ (ebd.) verspielt worden. Heidegger war überzeugt, dass nur aus so geartetem Wissen heraus sich wieder urtümlich philosophieren lasse, nämlich als „denkerische Eröffnung der Bahnen und Sichtweiten des maß- und rangsetzenden Wissens, in dem und aus dem ein Volk sein Dasein in der geschichtlichen Welt begreift und zum Vollzug bringt“ (8). Heideggers völkischer Philosophie liegt kein Naturalismus zugrunde, sondern das Dogma einer Unterwerfung der Einzelnen unter das abstrakt Allgemeine des Seins.3

3Heute

macht sich das Projekt einer neuen Naturphilosophie im aufgeklärten und zugleich nicht szientistisch verkürzten Sinne genau diese Entfaltung „der Dialektik der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit des Menschen zur Natur“ (Böhme 1992, 37) zur Aufgabe. Der unbefangene Gebrauch des Namens „Naturphilosophie“ mag anzeigen, dass die heideggerische Herrengeste überwunden ist.

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Davon abgesehen, trifft Heideggers Blick durchaus etwas am materialistischen Ansatz der Naturphilosophie, den er u. a. deshalb ablehnte, weil er ihn missverstand oder verkürzt darstellte. Eine materialistische Ursprungsphilosophie der Natur, welche diese nicht als Moment in einem dialektisch begriffenen Zusammenhang mit Geschichte und Gesellschaft begreift, ist unzureichend. „Erzeugen“ als „wissendes Verfügen“: das ist die Geste der Naturwissenschaft. „Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann“, schreibt Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung: „Dadurch wird ihr An sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, als Substrat von Herrschaft. Diese Identität konstituiert die Einheit der Natur“ (DdA, 20). Die philosophische Frage – nicht nur an den „Mann der Wissenschaft“, sondern auch an den Autor der Dialektik der Aufklärung – ist aber: Muss das so sein? Oder lässt sich darlegen, dass der Natur eine Wesensbestimmung zukommt, die darüber hinausweist, Natur zum Substrat wissenschaftlich-technischer Ausbeutbarkeit zu erklären? Die Verschränkung gegensätzlicher Motive wird in der Dialektik der Aufklärung als unausweichliches Resultat geschildert. Das ist seit jeher der strittige Punkt in der Rezeption des Buches gewesen.4 In diesem Licht erscheint sein Naturkonzept nicht nur ambivalent, sondern aporetisch. Wenn es stimmt, dass Wissenschaft „das Wesen der Dinge“ stets nur als „Substrat von Herrschaft“ bestimmt und aus solcher „Identität“ „die Einheit der Natur“ konstituiert, dann könnte eine Wesensbestimmung von Natur, die Natur nicht zum Substrat von Herrschaft degradiert, nicht als wissenschaftliche Erkenntnis gelten. Wissenschaft wäre identisch mit Herrschaftsrationalität, und als Gegenmodell dazu stünde nur der Irrationalismus zur Verfügung. Das wäre jedoch der Intention der Dialektik der Aufklärung entgegengesetzt. So hat Günther Mensching (1984, 27) argumentiert, ein Schüler von Adorno, Horkheimer und Karl-Heinz Haag, welcher wiederum Mitarbeiter von Horkheimer und Adorno war. Später mehr dazu; zuvor möchte ich die Aporie von Natur und Wissenschaft in der Dialektik der Aufklärung genauer betrachten. Dort heißt es, wenn auch mit ironischem Gestus: „Aufklärung ist totalitär“ (DdA, 16). Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass sich die Naturwissenschaften ihrer philosophischen Grundlagen entledigt hätten. Diese sollten einst – zunächst als begriffliche Universalien und später als Menschenrechte – Ordnungen

4Christoph Türcke und Gerhard Bolte (1994, 61 f.) haben das am Konzept der Notwendigkeit aufgezeigt.

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des Seins und der Werte begründen. Der „Wahrheitsgehalt der Universalien“ sei jedoch als Mythologie abgetan worden, weil er sich nicht „dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit“ (ebd.) unterwerfen lasse. Als Aufklärung habe sich die Philosophie in den Zusammenhang der Einzelwissenschaften eingeordnet und sich dem naturwissenschaftlichen Methodenparadigma unterworfen. Die Entsubstanzialisierung des Naturbegriffs wird in der Dialektik der Aufklärung aber nicht auf die Seinsvergessenheit des modernen Denkens zurückgeführt, wie in Heideggers (1935, 13) Kritik an „der Verengung der ϕύσις“. Horkheimer und Adorno führen sie sozialphilosophisch auf die gesellschaftlichen Konditionen zurück, zu denen sich wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung aus ihren metaphysischen Schranken befreit. Diese Konditionen schaffen eine „universale Vermittlung des Zusammenlebens durch die Ware“ (Horkheimer 1942, 339). Es gelte, die Logik des Warentauschs – also die „Ratio des Kapitals“ (DdA, 112) – als Logik von Herrschaft zu entziffern.5 Aber auch, wenn man diesem Gedankengang folgt, muss man doch – im Geist von Horkheimer und Adorno und gegen manche Formulierung in ihrem Buch – betonen: Ja, der Verallgemeinerungszwang naturwissenschaftlicher Methoden eignet sich für ein Bündnis mit der Produktions- und Verwaltungsrationalität; aber er führt nicht notwendig dazu. Er kann ein Teil von ihr werden, aber er produziert sie nicht zwangsläufig. Die folgerichtige Anwendung von naturwissenschaftlichen Methoden zur Isolierung und zur kontrollierten Reproduktion natürlicher Kausalprozesse sowie ihre Darstellung in Gestalt von Naturgesetzen führen nicht per se zur Entsubstanzialisierung des Begriffs der Natur. Wissenschaft beschreibt und erklärt Erscheinungen in Natur und Gesellschaft, um diese zu kontrollieren und jene zu verbessern. Grundlage von Naturbeherrschung aber ist Naturerkenntnis.

5In

den historisch wirkmächtigen Gestalten der Rationalität der kapitalistischen Produktionsweise spüren Adorno und Horkheimer die Weber’sche „Entzauberung der Welt“ auf, aber eben auch ihre Wiederverzauberung. Seit Descartes habe Philosophie versucht, „als Wissenschaft sich in den Dienst der herrschenden Produktionsweise zu stellen“ (Horkheimer 1942, 339). Dass eine naturwissenschaftsfixierte Vernunft auf diese Weise zur Geschäftspartnerin der „Ratio des Kapitals“ wird, hat sich, aus Sicht kritischer Theorie, über Comte und den Wissenschaftsmethodologen Poincaré bis hin zum Positivismus des 20. Jahrhunderts fortgesetzt (siehe dazu Ritsert 1996, 69–146).

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2 Dialektik des Nominalismus Noch einmal zurück zu Francis Bacon. Er stand an der Schwelle zwischen „protowissenschaftlicher“ Naturphilosophie und der „Normalwissenschaft“ der Moderne (im Sinne von Thomas Kuhn). „Die Materie lacht in poetisch-­ sinnlichem Glanze den ganzen Menschen an“, schrieben Marx und Engels (1846, 135) über seine materialistische Naturwissenschaft. Bacon fragte, wie aus Beobachtungen der Natur Wissen über sie wird. Wie bringt man die Natur dazu, ihre Geheimnisse zu verraten, damit das soziale Leben verbessert werden kann? In der Dialektik der Aufklärung wird Bacons philosophische Bestimmung dessen, was Natur für uns ist, verkürzt wiedergegeben. Sein Postulat, dass Wissenschaft „die Macht und Herrschaft des Menschengeschlechts über die Natur zu erneuern“ habe, hat zweifellos zu einer verschärften „Trennung von Menschheit und Natur“ (Krohn 1992, XXXIX) geführt. Das lief Bacons Absichten keineswegs zuwider. Aber darüber darf nicht vergessen werden: Wissenschaft hatte bei ihm den Anspruch, wie es im Novum Organum wörtlich heißt, die Urteilskraft „zu den Dingen selbst und deren Verknüpfungen“ (Bacon 1620, 29) hinzuführen. Bacon suchte allgemeine Begriffe und Lehrsätze, um Einzelerscheinungen bestimmen zu können. Er hatte noch den Anspruch, das Allgemeine nicht bloß als Bestimmung des Denkens zu setzen. Das Allgemeine sei zugleich als Bestimmung dessen zu verstehen, worauf Denken sich bezieht. „Dieses Allgemeinste“, postulierte Bacon, „ist dann kein leerer Begriff, sondern wohl bestimmt und so, wie es die Natur als ihr zugehörig anerkennen würde und wie es im Innersten der Dinge steckt.“ (45) Damit steht Bacon auf produktive Art und Weise zwischen dem philosophischen Universalienrealismus, dessen Erkenntnisintention er partiell noch teilt, und dem Nominalismus, dessen Methodologie er gegen den Realismus in Stellung bringt. In der Eclipse of Reason hat Horkheimer die Veränderungen des philosophischen Leitbegriffs der Vernunft untersucht. In großen Bögen skizziert er, wie idealistische Konzepte von Platon bis Hegel Allgemeinbegriffe zu Prinzipien natürlichen Seins erhoben hätten. Weil einzelne Lebewesen und Naturdinge vergänglich und Vernunftbegriffe unvergänglich sind, habe man fälschlich gefolgert, die Einzeldinge würden ihr Dasein den Begriffen verdanken. In der Neuzeit hat der Nominalismus (siehe Mensching 1992, 93 ff.) Kritik am überhöhten Vernunftkonzept der begriffsrealistischen Position formuliert, die Horkheimer „objektive Vernunft“ nennt. Aus nominalistischer Perspektive habe sich der Fehler „der Ontologie“ erkennen lassen: Er besteht laut Horkheimer darin, dass sie meint, „sich über die Geschichte zu erheben und aus sich selbst die wahre Ordnung zu

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erschauen“ (Horkheimer 1942, 349). Die berechtigte Kritik an den „hypostasierten Allgemeinbegriffen“6 sei jedoch über das Ziel hinausgeschossen (Horkheimer 1947, 27 ff.). Der Fortschritt zu einem nachmetaphysischen Verständnis von Vernunft sei ein zweischneidiges Schwert, das nicht nur die alten Zöpfe der Metaphysik beschneidet, sondern auch ihr selbstreflexives, kritisches Potenzial. Die nachmetaphysische Entsubstanzialisierung des Naturbegriffs im Positivismus degradiere Natur zum Substrat instrumentell-rationaler Herrschaft. Gleichwohl führe kein Weg zurück zu den ontologischen Modellen „objektiver Vernunft“; das wendet Horkheimer gegen neuthomistische Restaurationsversuche im 20. Jahrhundert ein.7 Mit negativem Hegelianismus konstruiert er die Aporie einer gleichsam halbierten Vernunft als normativ falsche Gestalt des objektiven Geistes der entfalteten Moderne. In der zweiten Generation der kritischen Theorie Frankfurter Provenienz ist die Frage gestellt worden, ob Rekonstruktionen jenes unabgegoltenen Gehalts denkbar sind, der auf dem Marsch in die Moderne am Wegesrand zurückgelassen wurde. Wenn man bei der Suche nach einem nicht-instrumentellen Naturbegriff der Argumentation von Haag und Mensching folgt, dann kann von einer Dialektik der Aufklärung aber nicht schon in der Antike die Rede sein, wie Horkheimer und Adorno meinten, sondern erst im Universalienstreit des ausgehenden Mittelalters. Haag und Mensching haben in philosophiegeschichtlichen Quellenstudien untersucht, wie sich die Entsubstanzialisierung des Naturbegriffs im Detail zugetragen hat und zur Formalisierung des Vernunftbegriffs führte. Horkheimers „Vernunft und Selbsterhaltung“ wird dort zwar nicht genannt, der Aufsatz gehört aber auch hier zum direkten Kontext. Diese Modifikation des Frankfurter Paradigmas ist bis heute kaum rezipiert worden – weder in der Sekundärliteratur über die Kritische Theorie noch im Diskurs der mittlerweile vierten Generation der Schule selbst. Dabei stellt sie auch eine bemerkenswerte Alternative zu Habermas’ postmetaphysischer Fortschreibung der Kritischen Theorie als Kommunikationstheorie dar. – Haag und Mensching haben sich in ihren Büchern

6Diese

Formulierung stammt aus Adorno 1965, 28. zweiten Kapitel der Eclipse of Reason bezeugt Horkheimer (1947, 102 f.) zwar seine Sympathie dafür, dass „katholische Denker“ in der Tradition immer wieder, gegen „jede Art von Empirismus und Skeptizismus“, mit humaner Gesinnung „für eine Lehre von Mensch und Natur eingetreten sind“, die den Versöhnungsgedanken der Religion ernst nimmt. Aber auch Thomas von Aquin und die katholische Tradition hätten letztlich die Menschen der bestehenden Wirklichkeit unterworfen, und darin besteht ihre Gemeinsamkeit mit dem Positivismus. 7Im

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nicht auf die Dialektik der Aufklärung oder die Kritik der instrumentellen Vernunft bezogen. Vielleicht ist ihr Ansatz ja deshalb kaum beachtet worden. Wie dem auch sei: Ich versuche ein kurzes Resümee. Seit Parmenides und Platon galt in der metaphysischen Tradition, dass nur das allgemeine Sein, nicht aber seiende Einzelwesen Substanz haben. Die Teilhabe am Allgemeinen verhelfe vergänglichen Individuen zu Dasein und Identität, und das Allgemeine ist begrifflich. Für den ontologischen Realismus galt: „Die hierarchisch höheren Bestimmungen verschaffen den kontingenten Einzeldingen überhaupt erst Sein.“ (Mensching 1995, 50) Wenn deren akzidentelles Dasein endet, haben sie nicht mehr an der Substanz teil.8 Im Universalienstreit argumentierten die nominalistischen Kritiker gegen die Annahme, dass die begriffliche Ordnung der Dinge auch ihre seinsmäßige Ordnung ist. Das Allgemeine sei lediglich eine gedankliche Konstruktion, hieß es nun. „Die Universalien sind nur im subjektiven Denken allgemein.“ (ebd., 51) Sie haben kein objektives fundamentum in re und werden den Bestimmungen der Einzeldinge nur additiv beigefügt. Daher komme der Konstruktion selbst, einem bloßen Gedankengebilde, kein Sein zu. Dies könne man nur empirischen Einzeldingen zusprechen, aber die wiederum könnten nicht als schlechthin seiend bestimmt werden, weil sie ja entstehen und vergehen. Dennoch wären sie das einzige, dem überhaupt Realität zukommt. Einzeldinge würden allein aufgrund von Ähnlichkeiten zu Gattungen und Arten zusammengefasst. Der Verstand konstruiere ein „rein Allgemeine[s]“ (ebd.), das als solches nicht existiere. Wenn es als Sein, als Universalie verstanden wird, werde ein bloßes Wort hypostasiert, dem keine Substanz entspricht. Bacons späteres Postulat, durch Erforschung der Natur ein Allgemeines aufzusuchen, „wie es im Innersten der Dinge steckt“ und „wie es die Natur als ihr zugehörig anerkennen würde“, war also aus der Sicht von Nominalisten wie Abaelard und Roscelin bereits zu Beginn des 12. Jahrhunderts überholt. Der Nominalismus wandte sich von der Kontemplation der Schöpfung ab und entwickelte eine produktivistische Auffassung. Ziel von Wissenschaft könne nicht sein, die Gesamtheit der Natur in ihrem Ansichsein zu erkennen. Es komme vielmehr darauf an, Merkmale der Erscheinungen in der Natur zu bezeichnen, die es erlauben, sie im Sinne menschlicher Zwecke zu verändern und zu bearbeiten. Das war die Voraussetzung der modernen, auf Produktion ausgerichteten Technik. Die Trennung von Logik und Ontologie (ebd., 48 ff.) war eine epochale geistige Emanzipation. Der praktischen Emanzipation der wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte musste

8Dieses

geben.

Einzelne, das bestimmte Individuum, kehrt niemals wieder, aber es wird weitere

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eine theoretische vorausgehen. Nun erst konnten die Einzeldinge zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung werden.9 Nominalistisches Denken, resümiert Mensching, befreit sich in theoretischen Modellen von der statischen Ordnung einer Natur, die nicht bloß faktisch, sondern auch an sich und konzeptionell als unveränderlich gedacht wird. So wird die Selbstbestimmung vorweggenommen, die die industrielle Produktionsweise später auch praktisch herstellt. „Die Liquidierung der den Dingen immanenten intelligiblen Struktur durch den fortschreitenden Nominalismus war die Auflösung einer Natur, über welche sich die realistische Metaphysik inhaltlich falsche Vorstellungen gemacht hatte. Aber indem der Nominalismus die formae substantialis überhaupt bestritt, beförderte er die Vorstellung, alle Dinge seien machbar. Dadurch wurde die Freiheit des einzelnen überhaupt erst eine politische und gesellschaftliche Perspektive.“ (Mensching 1984, 44) Vertreter des Universalienrealismus beharrten dagegen darauf, dass Universalien adäquate Bezeichnungen der essentiae rerum sind. Die gedanklich-begriffliche Ordnung der erkennbaren Natur in Individuen, Arten und Gattungen sollten nicht bloß Projektionen des Subjekts sein, sondern den natürlichen Gegenständen entsprechen. Dahinter steht die Frage, ob es möglich, notwendig oder verzichtbar ist, Sein als solches gedanklich zu bestimmen. Oder, wie Horkheimer (1942, 322) schreibt: ob die Vernunft „in den Ordnungen des Seins sich wiedererkennen“ kann. Die Trennung von Logik und Ontologie führt im radikalen Nominalismus dazu, dass Ähnlichkeiten der Dinge und Aussagen über ihre Eigenschaften zu Projektionen erklärt werden, von denen nicht ausgemacht werden kann, ob ihnen im Bereich der Objekte überhaupt irgendetwas entspricht. Dann ist keine substanzielle Bestimmung der Einzeldinge mehr möglich, nur noch Beobachtung, Beschreibung, Messung und Aufzählung. Aber wir wissen nicht, ob sie den Gegenständen adäquat sind.

9Die

systematische Abtrennung der Logik von der Ontologie ist die Folge der Einsicht, dass „die Begriffe, Urteile und Schlüsse […] nicht […] dieselbe Seinsweise wie Dinge“ haben, und sie ist eine unerlässliche theoretische Voraussetzung für „die produktive Aneignung der Dinge.“ (Mensching 1995, 55) „Diese epochale Veränderung des geistigen Interesses entspricht einer […] radikalen Umorientierung der Zivilisation. Das Individuelle, sowohl der einzelne Mensch und seine Dispositionen als auch die scheinbar akzidentellen Einzelheiten der außermenschlichen Natur, werden wichtig. Mit dem Aufschwung der Städte tritt das individuelle Handeln weit mehr in den Vordergrund als in der vormaligen Feudalität.“ (Mensching 1995, 53 f.)

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Dass dies theoretisch ungereimt wäre, ist auch in der neueren Nominalismusdiskussion gesehen worden. Bertrand Russell hat es im Zusammenhang seiner Theorie der Bedeutung, anhand des Konzepts der Ähnlichkeit, angesprochen. Russell war überzeugt, referiert Friedrike Schick (1993, 609), dass „wir den Strukturen unserer Sprache Wissen über die Strukturen des Außersprachlichen, der Welt, abgewinnen“ können. Wenn das zutrifft, lasse sich die Annahme eines gemäßigten Nominalismus nicht von der der Hand weisen, dass „die Zugehörigkeit eines Einzelnen zu einer Art […] auf die Ähnlichkeit von Einzeldingen mit bestimmten […] Mustereinzeldingen“ (ebd.) zurückgeführt werden könne. Und damit wäre „sowohl der Gedanke unbestimmter Verschiedenheit und Selbständigkeit des Einzelnen bewahrt als auch der Gedanke einer in den Einzeldingen selbst gelegenen Basis unserer begrifflichen Operationen“ (ebd.). Das Ergebnis von Russells Überlegungen hat Schick treffend zusammengefasst: „Ohne die Annahme der Existenz von realen Abstrakta kommen wir nicht aus“ (ebd.). Neben der logischen Unstimmigkeit ist es auch praktisch nicht konsistent, wenn man mit Bestimmungen arbeitet, die begrifflich rekonstruierbare Einheit voraussetzen, aber nicht „auf Wirkliches gegründet“ (ebd.) sein sollen. Denn die Erfolge bei der Bearbeitung der Natur durch wissenschaftlich geleitete Technik sind Indikatoren dafür, dass Einzeldinge für begriffsgeleitete Einordnung empfänglich sind. Für die neuzeitliche Wissenschaft schien diese Ungereimtheit aber nicht relevant. Sie ist den Weg des Nominalismus bis ans Ende gegangen. Das Konzept eines Ansichseins der Dinge ist ihr entbehrlich; „der Aspekt der universalen Fungibilität von Dingen und Menschen ist in der nominalistischen Orientierung […] angelegt.“ (Mensching 1984, 44)10 Die Entsubstanzialisierung der Empirie wurde in späteren Lesarten von Bacons Formel „Wissen ist Macht“ auf die Spitze getrieben.

10Christoph

Türcke hat die mentalitätsgeschichtliche Grundlage herausgearbeitet, die die Position des Nominalismus im Universalienstreit der Hoch- und Spätscholastik als Reflexionsgestalt eines epochalen gesellschaftlichen Umbruchs lesbar macht: „Die Einsicht, daß die Individuen in produktiver Tätigkeit selbst die Begriffe hervorbringen und sie zu Urteilen und Schlüssen verknüpfen, erscheint […] in einem neuen Licht, wenn ihr der Boden entzogen wird, auf dem sie bei Thomas von Aquin noch stand: die Gewißheit, daß die Strukturen des Denkens bei aller Selbstständigkeit letztlich doch in denen des Seins ihr sicheres Fundament haben. Geht diese Gewißheit verloren, weil die Gesellschaft, auf die sie sich gründet, zerfällt, so werden die Menschen in einer zuvor nicht gekannten Weise auf sich zurückgeworfen.“ (Türcke 1983, 22. – Siehe auch Haag 1967 u. Mensching 1992.)

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Erkenntnis heißt dann nicht mehr, Wesensmerkmale der (Natur-) Dinge auf den Begriff zu bringen, um Natur beherrschen zu können, sondern nur noch, dass sie zu beherrschen sind. Wesenserkenntnis des Beherrschten ist nicht mehr vorausgesetzt. Darin sind sich Wilhelm von Ockham und Karl Popper einig.11 In dem Maße, wie das Naturverhältnis nicht mehr durch Kontemplation, sondern durch praktische Umgestaltung geprägt war, rückte die Reflexion naturbeherrschender Arbeit ins Zentrum der philosophischen Aufmerksamkeit. Die Vorstellung einer statischen Naturordnung erschien unplausibel. Das Gleiche galt für eine im Prinzip unveränderliche soziale Ordnung, deren Grundlage das Lehenswesen sein sollte. In dieser Herrschaftsform waren die Individuen tatsächlich abhängig von einem Allgemeinen, welches sich fortschreitender Aufklärung als Menschenwerk erwies; die Legitimität jenes Allgemeinen war begründungsbedürftig, wenn verhindert werden sollte, dass es im historischen Verlauf zerfällt. Die Dialektik der Aufklärung entstand in der Epoche des Nominalismus, weil die Emanzipation des Subjekts vom ontologischen Konzept der Ordnung der Dinge mit dem metaphysikkritischen Bade zugleich das Kind ausschüttete: nämlich den Anspruch, die Realität als Vermittlung von Subjektivität und Objektivität zu begreifen. Objektivität wurde gleichsam gegenstandslos. Dadurch wurden die Einzeldinge, die aufgewertet werden sollten, dem abstrakt Allgemeinen jedoch nur umso härter ausgeliefert. Die philosophische Emanzipation des autonom denkenden Subjekts steht infrage, wenn es nicht mehr in produktiver Spannung zu seinem Anderen gedacht und dem Anderen des Subjekts keine Substanz mehr zugestanden wird. Um es im Gegensinn der Formel aus Hegels Phänomenologie des Geistes zu sagen: Auch das Subjekt wird substanzlos. Richtig ist daran, dass Substanzialität sich nicht aus reinem Denken heraus setzen lässt. Richtig ist aber auch, dass sie sich durch Denken bestimmen ließe. Wenn das nicht mehr möglich ist, wird auch das Subjekt zur Verfügungsmasse von Herrschaft. In Horkheimers Terminologie: Es wird der eigenen instrumentellen Vernunft unterworfen. Deren Subjekte sind emanzipiert, sie unterwerfen natürliche und soziokulturelle Entitäten ihrem Willen. Aber sie sind selbst nur austauschbare, dem sozialen Allgemeinen ausgelieferte Exemplare.12 11Ähnlich die politische These von Thomas Hobbes: Es gibt keine Wesenheit in den Indi­ viduen, von deren Erkenntnis aus sich Gesetze und Herrschaft zu legitimieren hätten; der Staat kann autoritär über die Einzelnen verfügen. Siehe dazu Haag 2005. 12Herbert Marcuse hat diesen Sachverhalt zuerst in seinem Aufsatz „Zum Begriff des Wesens“ (1936) untersucht. Die dialektische Rekonstruktion des Universalienstreits aus der Perspektive einer historisch-materialistischen Aneignung für die Gegenwart des

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Die Erkenntnisintention metaphysischen Denkens ist auf die innere, konstituierende Form des empirischen Dings gerichtet: auf „die gestaltende Form seines Werdens“ (Haag 1983, 9). Gesucht wird das formierende Prinzip, in dem die Entstehung konkreter Einzeldinge gründet (ebd., 32). Affirmative Metaphysik kann es aber nicht finden, argumentiert Haag, denn sie reduziert Natur auf das, was an ihr begrifflich fassbar ist. Das Wesen des Einzeldings ist dasjenige, was nach Abzug seiner veränderlichen, akzidentellen Eigenschaften übrig bleibt. Dabei wird von der Stofflichkeit und der unwiederholbaren Singularität des Einzeldings abstrahiert. Die Merkmale, die übrig bleiben, sind jene allgemeinen, die das Einzelding mit allen anderen seiner Art (und seiner Gattung) gemeinsam hat. Das Allgemeine ist das Identische in den individuellen Erscheinungen, Besonderheit wird damit reduziert auf das Allgemeine am besonderen Einzelding. Die begriffliche Imitation der Einzeldinge stellt Identität her, indem sie von deren konkreten Eigenschaften abstrahiert, und das Resultat wird mit dem Wesen der Einzeldinge verwechselt (ebd., 37). Das Allgemeine wird als U ­ niversalie hypostasiert, aus der logischen Subsumtion wird die Behauptung einer ontologischen Konstitution. Der Nominalismus durchschaut diesen Fehler. Er bestimmt das Wesen als begrifflich benanntes Ergebnis aus dem Vergleich von identischen und differenten Merkmalen empirischer Einzeldinge. Damit befreit er die „Einzeldinge von ihrem Scheinwesen“, sagt Haag (ebd., 44). Aber der „extreme Nominalismus“ (ebd.) sehe nicht, dass seine Antwort auf die Frage nach der konstituierenden inneren Form, die das Werden der besonderen Einzeldinge ermöglicht, den Fehler des Realismus nur spiegelt. Er übersehe, dass es in den Dingen selbst etwas geben muss, das Vergleiche erlaubt: etwas, von dem abstrahiert wird, damit besondere Merkmale unter allgemeine Begriffe zusammengefasst werden können (ebd., 43).13 Bei Thomas von Aquin findet Haag Ansätze für die Überwindung des Widerspruchs in einer Konzeption der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderen im Begriff (Haag 1960, 12 ff.). Für Thomas galt: „Das Allgemeine

(Spät-) Kapitalismus ist seit den Anfängen im Institut für Sozialforschung ein Thema der kritischen Theorie. Hans-Ernst Schiller hat die Problemstellung mit Blick auf Marcuse so formuliert: Wie ist „die Kritik an irrationalen Universalia in der Gesellschaft (Wert, Geld, Kapital, Norm, Standard, Klasse)“ begrifflich zu verbinden „mit einer Verteidigung von Universalien, die wir in dieser Kritik eben auch brauchen“? Siehe dazu Schiller 1993. 13„Das

Besondere, das sich als reine Singularität den alten Formen und Wesenheiten gegenübersetzt, bleibt so abstrakt wie diese es waren.“ (Haag 1960, 14)

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existiert real nur im Einzelnen und vereinzelt, nicht in seiner widerspruchsfreien allgemeinen Form.“ (ebd., 15) Damit wird das aristotelische Konzept der Form als Wesensbestimmung des Individuums wieder aufgenommen. Es geht darum, dass „das Allgemeine und das Besondere sich zum konkreten Wesen der res verbinden“ (ebd.). Daraus folgt, so Haag im Geiste hegelscher Dialektik, „daß es weder reine Universalien noch reine Singularitäten geben kann, daß vielmehr alles Allgemeine, indem es sich in re setzt, zugleich singulär und umgekehrt alles Singuläre zugleich allgemein ist“ (ebd., 15). Kant habe diesem Sachverhalt Rechnung getragen: Er verwirft die Annahme eines Ansichseins erscheinender natürlicher Einzeldinge nicht wie Hume, verzichtet aber mit Bedacht darauf, ihr „Ansichsein“ konkret begrifflich zu bestimmen, denn damit würde er es auf begriffliche Identität reduzieren. Haag (1983, 79) zufolge ist Kants „Ding-ansich“-Bestimmung sozusagen ein Platzhalter für die Individualform des Einzeldings, das ontologisch singulär ist, aber logisch nur allgemein gefasst werden kann. Die Quintessenz dieser Überlegungen ist eine Dialektik des Nominalismus: Er hat den Weg frei gemacht für die Anerkennung des Individuell-Besonderen; doch er verleugnet, dass dieses durch Allgemeines vermittelt ist, und dadurch liefert er es seiner Herrschaft aus. Natur wird als an sich selbst bestimmungslos vorgestellt. Sie wird zur Projektionsfläche wissenschaftlich-technischer Eingriffe, zum Substrat von Naturbeherrschung. Nur die Relationen der empirischen Einzeldinge in ihr können noch bestimmt werden. Diese sind aber bloß instrumentell gerechtfertigt, sie haben keinen Halt mehr an den Qualitäten der Dinge. Die „gestaltende Form stofflicher Dinge“ (ebd., 15) kann kein sinnvoller Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sein. Daraus zog Horkheimer (1942, 321) den Schluss: „Indem die Vernunft die Begriffsfetische zerstört, kassiert sie schließlich den Begriff ihrer selbst.“ Haag hat das zwar nicht so pointiert formuliert, aber ähnlich argumentiert. Die Emanzipation des Nominalismus von der kontemplativen Ontologie führe in eine Aporie: Wenn die entsubstanzialisierte Natur nur eine „chaotische Mannigfaltigkeit wesenloser Singularitäten“ (Haag 1983, 14) ist, werden die Merkmale der physikalischen Beschreibung Merkmale von Nichts. In den Naturwissenschaften geht man zwar davon aus, dass ihr Gegenstand einerseits nichts anderes ist als solch eine ‚Mannigfaltigkeit wesenloser Singularitäten‘. Andererseits soll ihr Gegenstand, die Natur, aber doch in sich gesetzmäßig strukturiert sein. Das verstößt gegen das Prinzip vom zu vermeidenden Widerspruch. Deshalb müsse man zugestehen, dass die Annahme „eines intelligiblen Ansichseins der erscheinenden Natur“ (ebd.) zumindest denknotwendig ist. Auch dann, wenn das nicht mehr durch den Rekurs auf affirmative Metaphysik abgestützt werden kann.

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In diesem Sinne hat Haag das Konzept einer negativen Metaphysik entfaltet, die er bei Kant vorgeprägt und bei Marx und Adorno ausgearbeitet sieht. „Die einzige Quelle, durch die“ – der Kritik der reinen Vernunft zufolge – „die wahre Dignität der Naturgesetze sich hätte erkennen lassen, war das ‚innere durchgängig zureichende Prinzip‘ jener Natur, in der ihnen reale Gültigkeit zukam.“ (Haag 1983, 75) Für David Hume, auf den Kant sich kritisch bezog, existieren bekanntlich nur matters of fact, die im Bewusstsein durch relations of ideas zusammengebracht werden, wobei die Kausalitätsregel eine kontingente, nicht weiter herzuleitende Übereinstimmung im Denken der Subjekte bilde. Hume kenne keinen Begriff der Natur mehr, nur noch „eine Mannigfaltigkeit unverbundener ‚Ereignisse‘“ (ebd.): Haag nennt das „Humes extreme[n] Nominalismus“ (ebd.). Es würde zu weit führen, diese Hume-Lesart hier zu prüfen, aber ich denke, Haag hat Recht, wenn er betont, dass Kant gegen Hume davon ausgegangen sei, dass es „einen objektiven Zusammenhang der Natur“ (ebd.) gibt. Als Beleg sei nur daran erinnert, dass Kant (1786, 11) einen materialen Begriff der Natur und einen formalen hat. Letzterer steht für „die Natur der Dinge“ und „die Natur des Menschen“ (Drieschner 1991, 2). Der materiale Begriff der Natur hingegen steht für das Ganze „der Sinnenwelt“ (Kant 1786, 11), also für den Gegenstand der Naturwissenschaften. „Naturwissenschaft“, sagt Kant, „setzt […] Metaphysik der Natur voraus“, denn Metaphysik ist „[r]eine Vernunfterkenntnis aus […] Begriffen“ (Kant 1786, 13).14 Der „formale“ Begriff der Natur steht bei Kant für das, was Bacon „die Natur der Dinge“ genannt hatte. Diese ist bei Kant, anders im emanzipierten Nominalismus, überhaupt nur metaphysischer Erkenntnis zugänglich, wenn auch nicht in Gänze.15 Die „metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ sind für Kant also keineswegs, wie Auguste Comte sich das vorstellte, ein mythologischer Nebel, kein Abgrund, aus dem die ­Naturwissenschaft sich herausarbeiten müsste. Im Gegenteil: Ohne eine solide

14Im

Gegensatz zur Mathematik: Deren Erkenntnis werde in der „Konstruktion der Begriffe“ durch „Darstellung des Gegenstands“ in apriorischer „Anschauung“ gegründet (Kant 1786, 13). 15Metaphysik als Voraussetzung für empirische Naturerkenntnis heißt bei Kant, dass „die Tätigkeit des menschlichen Geistes die Tätigkeit eines transzendentalen Subjekts“ voraussetzt, welches „den gesetzmäßigen Zusammenhang erscheinender Dinge“ gewährleistet, „der in den physikalischen Wissenschaften dargestellt wird“ (Haag 1983, 151). Das Transzendentalsubjekt ist demnach nicht nur erkenntnistheoretische Voraussetzung für „die Synthesis aller Vorstellungen des menschlichen Bewußtseins“, sondern auch die ontologische Voraussetzung für „den Zusammenhang aller Phänomene der Außenwelt“ (ebd.).

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metaphysische Grundlage braucht man mit der Naturwissenschaft gar nicht erst anzufangen. Haag referiert Kants Gedankengang wie folgt: „Von jeder ‚Wirkung‘ sollte sich sagen lassen: sie ‚ist mit der Ursache‘ durch Gesetze der Kausalität ‚im Objekte‘ notwendig ‚verbunden‘. Aber die ‚intelligiblen Gründe‘ dessen, was unter gewissen Bedingungen nach bestimmten Gesetzen wirkt, waren für Kant ebensowenig bekannt wie für Hume.“ (Haag 1983, 75 f.) Doch Kant löst die intelligiblen Gründe nicht in Nichts auf, er nimmt an, dass es Gründe geben muss. Negative Metaphysik heißt: Man setzt voraus, dass es so etwas wie ein Ansich der Natur und der Objekte in ihr geben muss; aber man weiß, dass es sich nicht affirmativ bestimmen lässt. Es ist eine denknotwendige Grundlage für die Erkenntnis der Natur und ihre praktische Veränderung durch Anwendung der Naturgesetze. Kant habe es dann letztlich nicht bei der „Widerlegung des extremen Nominalismus in Hume“ durch ‚negative Metaphysik‘ belassen: Er habe über die transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe ableiten wollen, „daß Natur ein System sei“ (ebd., 76). Das ließ Kant wieder hinter die negativ-metaphysische Wesensbestimmung von Natur zurückfallen. Hingegen habe Marx – etwa in den einschlägigen Reflexionen der Grundrisse auf die „‚immanente Form‘ stofflicher Entitäten“ – einen Begriff vom „‚immanenten[n] Gesetz‘ der Genesis von Naturstoffen“ (ebd., 103) gehabt. Auf deren positive Bestimmung habe er mit gutem Grund verzichtet. Dadurch habe Marx den idealistischen Fehler der „Ernennung von ‚Abstraktionen von Naturbestimmungen‘ zu metaphysischen Wesenheiten“ (ebd.) vermieden und sich zugleich von einem mechanischen Materialismus abgesetzt. Wenn Naturerkenntnis aber nur noch physikalische Erkenntnis heißt, erscheint die Frage nach dem Grund des natürlich Seienden irrational. Mit dieser Formulierung verwende ich die Konzepte physis und natura genau entgegengesetzt zu Heidegger, komme jedoch zum gleichen Ergebnis: Natur wird durch Quantifizierung und Formalisierung zugerichtet, aber nicht erschlossen.16 Haag spricht weder von einer „Dialektik der Aufklärung“ noch von einer „Kritik der instrumentellen Vernunft“. Er formuliert es so: „Die nominalistische Kritik am Realismus hatte die Formen der objektiven Ordnung aus den Dingen entfernt und sie dem Subjekt zugeschrieben, ohne auf das Moment zu reflektieren, das sie in den Sachen selbst besitzen müssen, damit überhaupt vom je Einzelnen abstrahiert werden kann.“ (Haag 1960, 14)

16Folgt

man Haag, dann ist empiristische Wissenschaftstheorie die Kehrseite der Identitätsphilosophie des Idealismus. Auch diese wollte nicht das Sein der Einzeldinge erkennen, sondern sie unter ihren abstrakten Begriff subsumieren.

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Dieses Argument ist auch in der immanenten Aristoteles-Kritik von Adorno zentral, der in seiner Frankfurter Metaphysik-Vorlesung 1965 darlegte, dass Form und Stoff bei Aristoteles noch nicht im hegelschen Sinne miteinander vermittelt, sondern polar aufeinander bezogen werden. Die an sich selbst bestimmungslose Materie ist bloße Möglichkeit; zur Wirklichkeit kommt sie erst durch die energeti­ sche Bestimmung der Form. Zwar soll in jedem seienden Einzelding die Form sich immer schon im Stoff realisiert und nicht den Status eines abstrakten Dritten haben wie die platonische Idee. Aber damit sei lediglich „die bloße Fähigkeit des Stoffes, ein anderes, als er ist, zu werden“, statuiert; „er ist nicht selbst zugleich immer auch Form, nicht in sich selbst durch Form vermittelt“ (Adorno 1965, 101). Dieses Manko in der Metaphysik des Aristoteles ist für Adorno aber der Ort ihres Wahrheitsgehalts. Denn wenn Form Form sei und Stoff Stoff, hänge die Form eben in weit höherem Maße davon ab, dass es Stoff gebe, und die Form hänge sogar auf eine Weise von der Beschaffenheit des Stoffes ab, die im entwickelten philosophischen Idealismus verloren gegangen sei. Die „kategoriale Form“ verlange geradezu ein „Moment am Stoff“, das ihr korrespondiert (Adorno 1965, 104). Bezogen auf die Erkenntnis der Natur heißt das: Es ist nicht die begriffliche Synthesis durch das Subjekt, die eine Totalität des Naturzusammenhangs konstituiert und den einzelnen Naturdingen, die an sich selbst entsubstanzialisiert sind, von dort aus Funktionsbestimmungen zuweist, welche an die Stelle der metaphysischen Wesensbestimmungen treten. Bei Aristoteles gibt es einen „Realgrund oder, mittelalterlich gesprochen“, ein „fundamentun in re einer jeden Synthesis“; Erkenntnisse, verstanden als „Synthesen, also die Zusammenfassungen von Gegebenheiten in Begriffen, Urteilen und in Schlüssen“, sind „nicht reine Veranstaltungen des erkennenden Subjekts“ – sie sind „nur möglich […], wenn in dem, woran sie ergehen, also in der Materie, irgend etwas ihnen auch entspricht“ (ebd.).

3 Diskursverzweigungen im 20. Jahrhundert Zum Abschluss möchte ich noch einige Hinweise auf mögliche Anschlüsse auf den Gebieten Naturphilosophie, Metaphysik und Realismus geben.

3.1 Natur, Philosophie und Wissenschaft Heidegger erinnerte an die Unverfügbarkeit der Physis. Horkheimer beobachtete, wie das Konzept der Vernunft verarmt, weil Natur entsubstanzialisiert wird. Beide legten Einspruch gegen die Reduktion von „Natur“ auf „Stoff und Materie“ ein.

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Von da aus kann eine Linie zu Helmuth Plessners dialektischer Anthropologie gezogen werden. Auf dem damaligen Stand biologischer Erkenntnisse bestimmte Plessner (1928) den Menschen philosophisch als Entwicklungsgestalt organischer Natur. Er ging von ontologischen Bereichen der Natur mit je eigenen Beschaffenheiten aus, die sich auseinander herausbilden.17 Weitere Linien führen zu Gernot Böhme und Lothar Schäfer. Böhme (1992) schloss in seiner phänomenologischen Naturphilosophie an Heideggers Konzept der Physis als „Ent-stehen“ an und warf einen goetheschen Blick auf die Naturwissenschaft. Er betont, „dass die Beziehung zur äußeren Natur im Kern eine Beziehung des Menschen zu sich selbst ist“ (Böhme 2008, 120). Schäfers Technikphilosophie im Bacon-Projekt bezieht sich zwar nicht auf Horkheimer und Adorno, sondern auf Günther Anders, aber auch Schäfer zeigte Punkte in Geschichte und Gegenwart, an denen Kulti­ vierung der Natur zur Unterwerfung wird. Nämlich immer dann, wenn „Natur insgesamt als Material für menschliche Zwecke betrachtet“ (Schäfer 1993, 248) wird, und wenn technologische Perfektionierung und Effizienz der moralphilosophischen Reflexion und Kontrolle der Instrumentalisierung von Naturprozessen im Wege stehen. Solche Überlegungen gehen in der einen oder anderen Weise auf die grundlegende Kritik des späten Edmund Husserl (1936, 3) an der „positivistische[n] Reduktion der Idee der Wissenschaft auf bloße Tatsachenwissenschaft“ zurück. Diese darf in ihrer Bedeutung für Horkheimer und Adorno nicht unterschätzt werden. „Tatsachenwissenschaft“ reduziere Natur auf statistische Vermessung unter der Regie der Mathematik und der „Methode positiver Wissenschaftlichkeit“ (ebd., 264). Dadurch werde zugleich die menschliche Lebenswelt deren

17Elemente

von Plessners Anthropologie sind sowohl empirische, naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse als auch Annahmen über die vor-empirische, ontologische Verfasstheit des Daseins. Plessner (1928, 73) spricht vom „apriorischen Charakter der natürlichen Umwelt hinsichtlich ihrer materialen Modi“. Menschen bringen Welt hervor. Das ist eine „Leistung reflektierender Synthesis“ (Holz 2003, 75). Die Konstitution von Welt wird aber nicht vorgängig durch die „Formbestimmtheiten der Verstandestätigkeit“ geleistet; sie liegt für Plessner vielmehr in den „Formbestimmtheiten der Sache selbst“ (ebd.), der Naturgegenstände. Er verbindet Ontologie und Erkenntnistheorie in seiner Version von Transzendentalphilosophie: „Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung“ sind, sagt Plessner, nicht notwendigerweise „Erkenntnisbedingungen“. „Es kann auch um die Möglichkeit von Gegenständen und Substraten, an denen die Erfahrung ansetzt, gestritten werden“ (Plessner 1928, 121). Hans Heinz Holz (2003, 119) spricht von dem Gedanken, „dass in der Natur qualitativ verschiedene Seinsbereiche bestehen, die auseinander hervorgehen und zwischen denen es auch Übergangsformen gibt“.

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(problematischem) Ideal unterworfen und so letztlich die Idee „einer allumspannenden menschheitlichen Autonomie“ (ebd., 273) durch das Konzept moderner Naturwissenschaft selbst, ohne das derartige Autonomie kaum denkbar wäre, unterwandert. Heute hat philosophisch-kritische Theorie der Natur die Aufgabe, die Wachstums-Ideologie zu kritisieren. Dass die kapitalistische Produktionsweise nicht anders kann, als die natürlichen Grundlagen des sozialen Lebensprozesses zu ruinieren, hat Alfred Schmidt (1971, 210 f.) bereits zu einer Zeit betont, da die Ökologiebewegung noch gar nicht in Fahrt gekommen war. Inzwischen scheint es, als griffen große Teile der gegenwärtig populären Post-Wachstums-Bewegung analytisch zu kurz, wenn sie das Konzept vertreten, die kapitalistische Produktionsweise sei beizubehalten, aber vom Wachstumszwang zu befreien. Denn dieser ist ja kein akzidentelles Merkmal jener Produktionsweise, er gehört zu ihrer inneren Wesensbestimmung. Zu diesem Argument aus der Kritik der politischen Ökonomie muss heute der Ansatz zu einer Kritik der politischen Ökologie hinzukommen. In der Praxis ist politische Ökologie zwar noch kein hegemoniales Paradigma, eher eine halbherzige Forderung. Aber in der Theorie ist sie auf dem Vormarsch. Wenn es um das „Anthropozän“ geht, besetzen postmoderne Soziologen wie Bruno Latour und philosophische Obskurantisten wie Peter Sloterdijk das Diskursgelände, die mit autoritären Denkern wie Heidegger, Voegelin oder Sieferle sympathisieren. Eine negativistische Naturideologie trägt dazu bei, Errungenschaften der Aufklärung zurückzunehmen; nicht, indem sie Unterwerfung unter die Natur predigt, sondern indem sie die Totalität einer All-Natur fantasiert, in der es keine Subjekte und keine Objekte mehr gibt. Das ist das Ende der Kritik.

3.2 Kritische Theorie und Metaphysik Die Überlegungen zum Rekurs der Autoren der Dialektik der Aufklärung auf realistische und nominalistische Motive können auch herangezogen werden, um das Verhältnis der Kritischen Theorie zur Metaphysik besser zu verstehen. „Der Begriff einer kapitalistischen Gesellschaft ist kein flatus vocis“, betonte Adorno (1966, 59) nominalismuskritisch in der Negativen Dialektik. Sein solidarisches Verhältnis zur Metaphysik, das er im Schlussteil dieses Buches ausführlich elaboriert, war möglich und nötig geworden, gerade weil die Metaphysik als Leitmedium der Theorie, das heißt: als herrschaftliche Denkform, unwiderruflich diskreditiert worden ist. Es gibt kein Zurück zur Metaphysik im alten Sinne. Während Karl Popper affirmative Metaphysik gegen den Sinnlosigkeitsvorwurf des radikalen Positivismus v­ erteidigte, indem er sie zur weltanschaulichen Privatsache herabstufte, sah

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Adorno (1966, 354 ff.) ein objektives Wahrheitsmoment negativer Metaphysik darin, dass sie ein geschichtlich inauguriertes Zeichen für den Umschlag von Sinnstiftung in die unwiderrufliche Absenz von Sinn ist. Negative metaphysische Erfahrung ist bei Adorno Einsicht in die Unmöglichkeit, metaphysischen Sinn anzunehmen, nachdem Menschen in den Vernichtungslagern noch das Fremdeste enteignet wird, das ihnen auf der Welt zustoßen kann, nämlich ihr Tod. Popper wies die Bemühung des klassischen Positivismus, metaphysisches Denken aufgrund seiner vermeintlichen Sinnlosigkeit zu eliminieren oder zu überwinden, zurück, weil Erfahrungswissenschaft und Metaphysik friedlich koexistieren könnten, wenn diese sich um Fragen der Religion oder des Sinns handelt. Mehr noch: Keine „wissenschaftliche Forschung“ ohne unwissenschaftliche Einstellungen des Wissenschaftlers, ohne einen „‚metaphysischen‘ Glauben rein an spekulative und manchmal höchst unklare Ideen“ (Popper 1935, 15). Jürgen Habermas (1969, 171) hat seinerzeit gegen den „Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen“ bei Popper eine dialektische Hermeneutik in Stellung gebracht, welche „die Abhängigkeit der Einzelerscheinungen von der Totalität“ (163 f.) rekonstruieren will. Wer nicht hinter den Stand der Diskussion zurückfallen wolle, schrieb Habermas dann aber keine 20 Jahre später, müsse ‚nachmetaphysisch‘ denken. In der negativen Metaphysik des späten Adorno sah Habermas nun eine Rückzugsposition. Adorno habe die Zeichen der Zeit, den Verwissenschaftlichungsdruck verkannt, der zu prozeduraler Rationalität nötige.18 Damit wird die These, dass ‚der Begriff einer kapitalistischen Gesellschaft kein

18Adornos

„negative Metaphysik“ würde, um ihre „Exklusivität“ zu bewahren, „jene Außenseiterperspektive“ benutzen, „aus der sich der Wahnsinnige, der existenziell Vereinzelte, der ästhetisch Entzückte ekstatisch von […] der Lebenswelt […], distanzieren. Für die Botschaft dessen, was sie erblicken, haben die Außenseiter keine […] begründende Rede mehr. Ihr Verstummen findet Worte nur noch in der leeren Negation alles dessen, was die Metaphysik einmal mit dem Begriff des All-Einen affirmiert hat“ (Habermas 1988, 185). Dass Habermas Adorno als Außenseiter bezeichnet, ist unfreundlich, aber nachvollziehbar, weil es anscheinend sein eigenes Lebensziel ist, mit Leib und Seele Teil des Wissenschaftsbetriebs zu sein. Aber was versteht er im Zusammenhang mit Adorno unter „Verstummen“? Nun, er meint, Adorno suche Zuflucht in „paradoxen Aussagen“ wie der, „daß das Ganze das Unwahre ist“ (ebd.). Adorno habe auf „begründende Rede“ verzichtet und sich der Legitimation durch Verfahren verweigert. Damit habe seine Philosophie eine „Wendung ins Irrationale“ (ebd., 45) vollzogen. Adorno habe den Gestus seines Denkens „in einer ästhetisch gewordenen Theorie als das farblose Negativ trostspendender Religionen“ (ebd.) inszeniert. Ich denke, als Programmatik einer Ersatzreligion, die rationale Argumentation verweigert und verstummt, kann man Adornos Spätwerk wohl nur lesen, wenn man die immanente Kritik der Metaphysik (sowohl im genitivus objectivus als auch im genitivus subjectivus) missversteht; siehe dazu: Schweppenhäuser 2018.

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flatus vocis‘ ist, implizit zurückgenommen, und das hat bekanntlich Folgen für Habermas‘ spätere Versionen kritischer Theorie gehabt.

3.3 Essenzialismus und Konstruktivismus Aus heutiger Sicht mag sich an dieser Stelle die Frage anmelden, ob ein anti-­ konstruktivistischer Naturbegriff das Tor für essenzialistische Unterscheidungen von Menschenarten öffnen und Rassisten unterstützen könnte, die sich auf ein vermeintliches Natursubstrat berufen. Sollte man angesichts dessen nicht besser Abstand von einem antikonstruktivistischen Konzept der Natur nehmen? Nein, umgekehrt wird ein Schuh daraus, würde ich sagen. Die Entleerung des Naturbegriffs kann zum Einfallstor für einen Subjektivismus der Bestimmungen werden. Wenn erweisbar ist, dass ein intelligibles Ansich von Natur denknotwendig ist, steht die Ordnung der Dinge nicht im Belieben der Subjekte. Dann können rationale Argumente dagegen formuliert werden, dass Menschen in Viehwaggons transportiert, wie Tiere ausgenutzt und getötet werden.19 Ein moralischer Impuls muss nicht auf einen antikonstruktivistischen Naturbegriff rekurrieren. Aber argumentativer Einspruch kann nur im Namen einer Vernunft erhoben werden, die sich, wie es bei Horkheimer (1942, 349) heißt, als „Vermögen“ begreift, „die Wesen und Dinge beim Namen zu nennen“. Bei einem Namen wohlbemerkt, der mehr ist als nur ein flatus vocis. Also ein „Name“, der dem nähersteht, was in der Philosophie des Realismus als Begriff bezeichnet worden ist.20

3.4 Externalismus und Realismus Eine weitere Linie könnte zum semantischen Externalismus führen, den Georg W. Bertram (2007, 34) mit Adornos Ästhetik ins Gespräch gebracht hat: eine Position, in der man davon ausgeht, dass uns die Dinge der Welt immer schon als geformte und strukturierte begegnen und „einen Beitrag zur Konstitution sprachlicher Bedeutung“ leisten.

19Horkheimer

vermutet bekanntlich im zweiten Exkurs der Dialektik der Aufklärung, auf der Basis eines kantianisch-aufklärerischen Vernunftbegriffs sei es nicht möglich, „ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen“ (DdA, 142). 20Das unterscheidet kritische Theorie von der analytischen Philosophie, in der die Ansicht herrscht, dass Begriffe „nichts anderes [sind] als Verwendungsweisen von Worten“ (Tugendhat 1992, 106).

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In der aktuellen Realismus-Debatte der analytischen Philosophie bezieht sich zwar niemand auf Adorno. Aber der Sache nach wird ein Ansatz wie der seine „als ‚Feigenblattrealismus […]‘ verspottet“ (Frank 1993/94 u. 2009/10, 19)21. Er gilt, „wie Kants transzendentaler Idealismus, eher als antirealistisch“ (ebd.). Manfred Frank hat das folgendermaßen referiert: „Danach existiert ein uns unbekanntes Etwas, das ‚Ding an sich‘ – aber, alles, was wir von ihm wissen, rührt aus unserer Subjektivität.“ (Ebd.) Doch so einfach ist es weder bei Kant noch bei Adorno. Nicht alles, was man vom Nichtidentischen oder vom nur negativ bestimmbaren Ansich wissen kann, ist auf die Subjektivität zurückzuführen, sondern diese ist immer auch ein Medium für ihr Anderes. Ich halte Haags These für produktiv, dass Adorno mit dem Konzept des „Nichtidentischen“ dafür eintritt, dass es „ein intelligibles Ansichsein erscheinender Dinge“ (Haag 1983, 161) geben muss. Die Frage ist allerdings, ob Adornos Nichtidentisches dasselbe ist wie Haags lediglich negativ bestimmbares Ansich.22 Ich lese die These so, dass Haag das „Nichtidentische“ bei Adorno als Platzhalter für dasjenige am Einzelding auffasst, was man (paradox formuliert) als seine Individualform bezeichnen könnte; dasjenige, das ontologisch singulär ist, aber logisch nur allgemein gefasst werden kann. Adorno schließe mit seiner ontologischen Verwendung von Hegels logischem Begriff des Nichtidentischen nahtlos daran an. Sein „Nichtidentisches“ stehe für „die präsubjektive Ordnung, in der jedes Seiende die objektive Grundlage seiner Erkennbarkeit hat.“ (Ebd.) Ontologische Vermittlung und epistemologische Bestimmung sind demzufolge nicht gleichen Ranges. Wenn ein Subjekt ein Objekt bestimmt, dann setzt es voraus, dass es etwas gibt, das von ihm verschieden ist. Ohne die Idee eines Anderen würde die ‚subjektive Bestimmung‘ eines Gegenstandes „ins Leere“ gehen; „sie wäre ein Denken ohne Inhalt“ (ebd., 162). Aber diese Relation ist nicht umkehrbar. Denn „das gegebene Etwas“ kann sehr gut ohne die subjektive Bestimmung auskommen, es braucht sie nicht zu seiner Existenz: „nötig ist sie einzig für seine Erkenntnis – nicht für sein objektives Sein.“ (Ebd.)23

21Frank 22Ich

zitiert an dieser Stelle aus Michael Devitts Realism and Truth (1984), 22. danke Christoph Türcke dafür, dass er mich auf dieses Problem aufmerksam gemacht

hat. 23Der

von Haag ignorierte Schelling hat, als Kritiker Hegels, darauf insistiert, dass es philosophischer Reflexion um mehr gehen muss als um reines Denken, das bei sich bleibt: „Wollen wir irgend etwas außer dem Denken Seyendes, so müssen wir von einem Seyn ausgehen, das absolut unabhängig von allem Denken, dass allem Denken zuvorkommend ist.“ (Schelling 1842/43, 766) Rosalvo Schütz (2016) hat kürzlich auf die Nähe dieses philosophischen Ansatzes zur Negativen Dialektik Adornos hingewiesen.

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Das Konzept des Nichtidentischen antwortet philosophiehistorisch auf die Aporie des modernen Naturbegriffs, die erst am Ausgang des Mittelalters entsteht (und nicht in der Antike oder, universalhistorisch, am Beginn jeglicher Zivilisation). Es bleibt zu diskutieren, ob es eine Korrektur der Vernunftkritik aus der Dialektik der Aufklärung ist (und eine plausiblere Alternative, wie Hauke Brunkhorst vor 30 Jahren argumentiert hat), oder ob es sich bei den entsprechenden Überlegungen der Negativen Dialektik um einen „ausgeführten Exkurs“ zur Dialektik der Aufklärung handelt, also um eine Spezifizierung von deren Ansatz. Der gemeinsame Fluchtpunkt aller Anknüpfungspunkte, die ich hier angeführt habe, ist die Dialektik des Nominalismus. In diesem Konzept sehe ich ein starkes Potenzial der scheinbar vergessenen Debatte innerhalb der Kritischen Theorie, die ich rekapitulieren wollte. Es ist immer noch ein sehr anspruchsvolles Unterfangen, wenn man anstatt von einer universalgeschichtlichen Dialektik der Aufklärung, in kleinerer Münze, von einer philosophiegeschichtlichen Dialektik des Nominalismus spricht, die sich in der Neuzeit artikuliert hat und bis heute nachwirkt. Aber die Wissenschaftskritik der Dialektik der Aufklärung kann damit allemal auf eine philosophiegeschichtlich solidere Grundlage gestellt werden.

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Das Dialektik-Projekt und die Psychoanalyse Wolfgang Bock

Die Bedeutung der Psychoanalyse in der Dialektik der Aufklärung und der ­Frankfurter Schule insgesamt ist seit dem Erscheinen des Buches im Jahre 1947 oft erörtert worden (vgl. u. a. Lorenzer 1986; Rantis 2001; Schneider 2000, 2011). In jüngster Zeit erlauben neue Forschungsergebnisse die Revision älterer Ansichten (vgl. Kauders 2014; Bloch 2017; Bock 2018). Diese betreffen zunächst Details zur Geschichte der Psychoanalyse im Dritten Reich als „Neuer deutscher Seelenheilkunde“ während der Nazizeit im Göring-Institut. An diesem Programm beteiligten sich Psychotherapeuten wie Carl Gustav Jung, Felix Boehm, Carl Müller-Braunschweig, Werner Kemper oder Harald Schultz-Hencke aktiv. Viele ihrer jüdischen Kollegen emigrierten oder wurden wie Horkheimers Analytiker Karl Landauer im KZ umgebracht. Auf diese Theorie und Praxis der Psychoanalyse in Deutschland reagierte auch die Frankfurter Schule in Amerika. Was ebenfalls bislang kaum gewürdigt wurde: Max Horkheimer hatte 1926–1931 eine Lehranalyse bei Karl Landauer in Frankfurt absolviert; die Rolle des Analytikers für seine Person und seine Produktion muss als bedeutender eingeschätzt werden als diejenige von Erich Fromm. Für Adorno stellt sich heraus, dass seine erste, zurückgezogene Habilitationsschrift zum Unbewussten bei Kant und Freud seine Rezeption der Psychoanalyse bis in die Sechzigerjahre stärker bestimmte, als bisher angenommen wurde. Auch seine bekannte scharfe Kritik an den von Horkheimer so genannten Revisionisten wie Karen Horney stammte nicht von ihm allein, sondern wurde zuerst von Karl Landauer formuliert. Sie zielte auf Tendenzen der Psychoanalyse in Amerika, die gewollt oder ungewollt der

W. Bock (*)  Rio de Janeiro, Brasilien E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_5

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vom Göring-Institut vertretenen Neoanalyse nahekamen. Diese und andere Verschiebungen in der Beurteilung der Geschichte der Psychoanalyse betreffen ihre Rezeption bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Im Zentrum dieses Beitrags aber steht die Psychoanalyse-Kritik in der Dialektik der Aufklärung.

1 Ambivalente Tendenzen der Psychoanalyse Die Psychoanalyse nimmt ihren Anfang als eine therapeutische Methode für den Einzelnen, wobei sich Sigmund Freud rasch in einem Akt der Selbstaufklärung den kulturellen Momenten der Lebensnot zuwendet, die das Subjekt auszutragen habe: „Ich sagte Ihnen, die Psychoanalyse begann als eine Therapie, aber nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern wegen ihres Wahrheitsgehalts, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen, und wegen der Zusammenhänge, die sie zwischen den verschiedensten seiner Betätigungen aufdeckt.“ (Freud [1933] 1974, 584 f.) Für Horkheimer und Adorno trägt die Psychoanalyse zugleich zur Anpassung der Arbeitsfähigkeit an die antagonistisch und ungerecht organisierte Klassengesellschaft bei. Neben den emanzipatorischen sind bei Freud auch affirmative Motive angelegt.

1.1 Der historische Hintergrund: Die „Überwindung Freuds“ in Nazideutschland und in der Nachkriegszeit Diese Ambivalenz der Psychoanalyse fand sich nicht allein in den USA, auf deren Entwicklung Horkheimer und Adorno offiziell ihren Akzent setzten, sondern auch vor und nach der faschistischen „Machtergreifung“ 1933 in Deutschland und dem „Anschluss“ 1938 in Österreich, wo die Analyse als psychotherapeutische Methode in ihrer Frühzeit am weitesten verbreitet war. Während der Nazizeit spitzte sich dieses Moment der Anpassung gravierend zu. Denn die Analyse wurde in diesem Sinne adaptiert und in die NS-Gesundheitspolitik eingegliedert. Dieser Vorgang bildet eine kaum bekannte Phase in ihrer Geschichte, die ihren langen Schatten bis in die heutige Zeit wirft. Daher soll diese Entwicklung der Psychoanalyse in der NS-Zeit in Deutschland kurz skizziert werden, die auch den Hintergrund für ihre Beurteilung in der Dialektik der Aufklärung abgibt.

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Der sich im Dritten Reich institutionalisierende Antisemitismus zwang nach der Reichstagswahl im Januar 1933 zunächst die Hälfte der jüdischen Mitglieder der 1910 gegründeten Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) zur Emigration. Die anderen wurden von ihren „arischen“ Kollegen genötigt, bis 1935 das Land zu verlassen (Schröter 2009). Verschiedene Freud-Dissidenten unter den Psychotherapeuten hatten sich bereits ab 1926 neben der DPG zum Teil mit Doppelmitgliedschaften in der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP) organisiert. Im April 1933 wurde die AÄGP ebenfalls im Sinne der Nürnberger Gesetze „entjudet“, nach dem „Führerprinzip“ neu organisiert und anschließend in einen internationalen und einen nationalen Zweig aufgeteilt. Die neue Internationale Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie (IÄGP) geriet unter den Vorsitz des Schweizers Carl Gustav Jung, der programmatisch das „jüdische Unbewusste“ der Psychoanalyse durch ein „frisches deutsches“ ersetzen wollte (vgl. Jung 1934). Den nationalen Teil der Gesellschaft (DÄGP) leitete nun der Psychiater Matthias Heinrich Göring, ein Vetter des Reichsmarschalls, der in Wuppertal eine psychiatrische Praxis betrieb. Jung und Göring gaben zusammen das Zentralblatt für Psychotherapie heraus. 1936 übernahm der ausgewiesene Antisemit Göring widerwillig die vormaligen psychoanalytischen Einrichtungen der Poliklinik und des Instituts, die ihm die verbliebenen Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft angetragen hatten. Diese sprachen sich mit Ernest Jones, dem Vorsitzenden der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IVP oder IPA) ab, der glaubte, durch diesen Schritt die verbliebenen Reste der Psychoanalyse in Deutschland retten zu können. Unter der Führung von Göring wurden in Berlin eine reformierte „Neue deutsche Seelenheilkunde“ und eine „Neo-“ oder „Desmolyse“ (von gr. Desmos = Fessel) als Form der nützlichen Enthemmung des Unbewussten installiert; deren Vertreter machten sich zu Erfüllungsgehilfen der Auslese- und Vernichtungsmaschinerie der NS-Biopolitik. 1936–39 wurde das Institut über die Gesellschaft und Görings Privatvermögen finanziert. Mit Kriegsbeginn erfolgte die Kostenübernahme durch die Deutsche Arbeitsfront und ab 1942 durch den Reichsforschungsrat – es wurde zu einem kriegswichtigen Institut, das 1945 einen Stab von über 500 festangestellten und weiteren freien Psychologen beschäftigte (vgl. Cocks 1997; Marcuse 1980). Mit Jung, Adler und anderen sollten die vermeintlichen „freudschen Fehlentwicklungen“ wie die Ausrichtung auf eine sexuelle Triebenergie und die Akzentuierung auf Kindheitserinnerungen zugunsten einer verkürzten und aktualisierenden Therapie überwunden werden, die die Arbeitsfähigkeit der „Volksgenossen“, der Industriearbeiter und der Soldaten ins Zentrum stellte. Es ging dabei nicht zuletzt um eine Funktionalisierung des Unbewussten und die Qualifizierung von Fachkräften und Soldaten einerseits und um die Aussonderung von sogenannten

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arbeitsunfähigen Neurotikern und Simulanten andererseits. Diese Reformversuche und die vorgebliche Emanzipation von der „jüdisch dominierten“ Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft bestimmte auch noch lange Zeit nach dem Krieg die Organisationsform und die daraus folgende Theorie und Praxis der Psychoanalyse in Deutschland, wenn auch in abgeschwächter Form.

1.2 Das Institut für Sozialforschung in den USA und erneut in Deutschland Horkheimer und Adorno, die selbst viele Vorbehalte gegenüber der Psychoanalyse besaßen, arbeiteten zur selben Zeit in den USA eng mit zur Emigration gezwungenen freudianischen Psychoanalytikern wie Otto Fenichel, Siegfried Bernfeld oder Ernst Simmel zusammen. Diese kannten die Gründungsgeschichte des Göring-Instituts und der Selbstgleichschaltung der verbliebenen Therapeuten aus erster Hand. Die Frankfurter verteidigten Freud dagegen. Auch als Heimkehrer aus Amerika beharrten sie in Deutschland in den Fünfziger- und Sechzigerjahren auf der „strengen freudschen Gestalt“ der Psychoanalyse. In Frankfurt arbeiteten sie ab 1950 mit amerikanischen Pässen und der amerikanischen Besatzungsmacht im Rücken. Als Förderer der freudianischen Psychoanalyse befanden sie sich in der Minderheit zwischen den vielen von der freudkritischen Ausrichtung der NS-Zeit noch immer beseelten Therapeuten, Industrie- und Universitätspsychologen. Die Psychoanalyse konnte nach dem Krieg an den Universitäten bis auf wenige Ausnahmen nur in den Kulturwissenschaften wieder Fuß fassen; in der Fachpsychologie spielt sie bis heute in Deutschland nur eine marginale Rolle. Die stärksten Auflagen unter den psychologischen Autoren erreichte in Deutschland nicht Freud, sondern Johannes Heinrich Schultz, der Erfinder des „Autogenen Trainings“, dessen Spezialgebiet die „Heilung“ Homosexueller war. Er war im Dritten Reich stellvertretender Direktor des Göring-Instituts und praktizierte, wie alle Psychologen, die dort gearbeitet und den Krieg überlebt hatten, nach 1945 weitgehend ungestört weiter (Geuter 1984; Kauders 2014, 161–202).

1.3 Die Psychoanalyse als Struktur in der ‚Dialektik der Aufklärung‘ Neben der „arischen Kritik“ an Freud gab es auch eine kritische Lesart der Psychoanalyse seitens der Frankfurter Theorie. Wie Gunzelin Schmid Noerr (1985, 435) angibt, erwogen die Autoren zeitweise, den geplanten Text an einer Kritik der

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Psychoanalyse zu orientieren. Diese sollte das wichtigste Feld abgeben, in welchem sich exemplarisch die Umwandlung der befreienden Impulse der Kulturentwicklung in einen perfiden Totalitarismus abspielte. Ähnlich wie in der Analyse der Kulturindustrie zielen Horkheimer und Adorno auch in ihrer Kritik der Theorie und Praxis der Psychoanalyse in der Dialektik der Aufklärung auf vier Bereiche ab: 1) auf die Tendenzen zur Anpassung in der freudianischen Psychoanalyse; 2) auf die Gleichschaltung der Psychotherapie im faschistischen Deutschland; 3) auf die Umformung der Psychoanalyse zu einer unkritischen Sozialpädagogik in Amerika durch Neofreudianer wie Karen Horney und 4) auf die Verdinglichung der Psychotherapie in den an Pawlow und einem rigiden Materialismus ausgerichteten psychiatrischen Institutionen in der Sowjetunion. Die Motive zwei und vier finden allerdings im Buch kaum eine Erwähnung (vgl. Institut für Sozialforschung 1956; König 2016; Dahmer 2019; Bock 2018). Für Horkheimer und Adorno ist die Psychoanalyse, obwohl sie kritische und emanzipatorische Potenziale enthält, bereits in der Freud’schen Fassung Teil des Disziplinierungsapparats im modernen Kapitalismus. In der Darstellung der Dialektik der Aufklärung liegen die Akzente deutlich auf diesem Aspekt. Gezeigt wird, dass sich in der Aufklärung Scheinalternativen auftun, die nach dem Durchgang durch diverse Diskurse am Ende im Sinne des Bestehenden geschlossen werden. Obwohl die Autoren Motive und Methoden der Psychoanalyse in ihren eigenen Untersuchungen kritisch anwenden, dominiert in den Diskussionen zur Dialektik der Aufklärung eine instrumentelle Gestalt der Psychoanalyse (Horkheimer/Adorno [1939] 1985, 441 ff.). In der realisierten Fassung steht dann die Psychoanalyse allerdings nicht mehr im Mittelpunkt. Sie tritt, nicht anders als die Kritik der politischen Ökonomie, in den Hintergrund. Es geht nun vielmehr um das Verhältnis von Positivismus, Mythos, Ethnografie, Faschismus, Moral, Kunst und Kultur. Die Motive Kapitalismus und Psychoanalyse aber bleiben virulent und sind unterschwellig weiterhin an prominenter Stelle anwesend.

2 Neue Anthropologie als Entwicklungsform der Psychoanalyse 2.1  Hinter den Kulissen: Psychoanalyse in der Dialektik der Aufklärung als Neue Anthropologie In der Dialektik der Aufklärung kommt die Psychoanalyse vor allem in den Kapiteln über Kulturindustrie und Antisemitismus zum Tragen. Sie bleibt dabei so in eine gesellschaftlich ausgerichtete Analyse objektiver Interessenlagen eingebunden, wie das bei dem aus der Kunstgeschichte stammenden Dispositiv

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„Figur und Grund“ der Fall ist. Eine frühe Fassung findet sich in Adornos „Notizen zur neuen Anthropologie“ (Adorno [1941] 2004) als Anhang an einen Brief an Horkheimer. Adorno appliziert die ökonomische Grundfigur der Abschaffung der kleinen und mittleren Kapitale hin zur Monopolbildung unter Ausfall der Vermittlung durch die Familie auf den Charaktertypus. Diese direkte Verbindung soll eine zuvor eigenständig gedachte Psychologie auf falsche Weise aufheben: „Es muss im einzelnen dargestellt werden, wie die Menschen die Produktionsweise auf ihr Leben übertragen und wie schließlich die Produktionsverhältnisse anstelle der Psychologie treten. Dazu etwa die psychologisch gar nicht verständliche Tatsache, dass die Menschen, wo sie dem mechanistischen Produktionsprozess auszuweichen trachten, in ihrer Freizeit, ihn nur reproduzieren. Ihr Genuss besteht in Stoß und Wiederholung wie die Tätigkeit der Maschine.“ (Adorno [1941] 2004, 459) Die Innerlichkeit des Individuums der Epoche beruhte danach zunächst auf dem erstarkenden Liberalismus und seinen mit der entwickelnden Ökonomie sich auch in diesem Feld eröffnenden Möglichkeiten. Das Ich reagiere wie eine kleine Firma mit der Außenwelt als Gegenpol. Das Modell werde dann im Zeitalter der ökonomischen Monopole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie von Max Weber beschrieben, grundlegenden Veränderungen unterworfen. Die Erfahrungskontinuität der Individuen sei damit ebenso dahin wie die eigenständig verlaufenden Triebprozesse, die nun nach Art eines Äquivalententauschs organisiert würden. Die psychoanalytischen Kategorien wie Verdrängung, Unbewusstes und Zensur wären in der Identifikation mit der Masse, oder wie es in Freuds Totem und Tabu heißt: der Bruderhorde, zugunsten von Trotz und universeller Feindschaft untereinander aufgehoben. In dem historischen Moment, in dem Freud die Theorie formulierte, habe die Wirklichkeit sie allerdings bereits überholt. Diese Entwicklung greife daher auch weitere psychoanalytische Denkformen an: „Der Begriff des analen Charakters gilt nicht mehr. Der Warenfetischist neuen Stils wünscht weit eher, den Waren zu gleichen als sie für die Dauer zu besitzen. Die Beziehungslosigkeit betrifft die Objekte ebenso wie die Subjekte. Kaufgier und Wegwerfen sind Äquivalente. Der Haß gegen alles, was nicht up to date ist, ist das Gegenteil des Analen. Die Art, in der der neue Typus das eigene Glück substituiert durch die Teilnahme an kollektiven Veranstaltungen, durch das ab­ strakte Dasein, ist im Grunde schon genau dasselbe wie die Opfer faschistischer Flieger und Unterseebootkapitäne. Auch der Begriff des ‚Egoismus‘ ist wegen Mangels an ego auf den neuen Typ nicht anzuwenden.“ (Adorno [1941] 2004, 455)

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Adorno reflektiert dies hier im Rahmen der anthropologischen Beziehungen, die er selbst bereits 1934 angesprochen und die Horkheimer 1936 in seinem „Egoismus-Aufsatz“ weiter ausgeführt hatte (Adorno [1934] 2003; Horkheimer 1936). Diese weitgehenden Formulierungen zum ökonomischen Rahmen der bürgerlichen Psychologie, der die Auflösung dieser Kategorien antizipiert, bilden das Rückgrat der Analysekritik in der Dialektik der Aufklärung. Die Briefnotizen besitzen bereits auch den radikalen Charakter der entsprechenden Stücke aus der zur selben Zeit geschriebenen Minima Moralia und der Typenbildung im Autoritären Charakter (Ziege 2009).

2.2 Das Ich als Kommandoform Die Texte der Dialektik der Aufklärung bilden mit ihrem parataktischen Stil eine Mischung aus traditionellen Abhandlungen und essayistischen kleinen Formen. Das deutet der Titel der ersten mimeografierten Ausgabe als Philosophische Fragmente noch deutlicher an. Die Grundlagen stellen die von Gretel Adorno mitstenografierten Diskussionen zwischen ihr, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno dar. Der angeschlagene Ton entspricht zunächst dem Stil von Horkheimers 1932 unter dem Pseudonym Hermann Regius erschienenen Essay-Buch Dämmerung, bald wird aber auch Adornos radikalere Deutung erkennbar. Spürbar sind zumindest bei Adorno auch formale Einflüsse von Walter Benjamins Einbahnstraße (1928). Allerdings gibt es auch große Unterschiede: die „wahre Sprache“ ist bei Horkheimer und Adorno anders gefasst als bei Benjamin (vgl. Schmid Noerr 1985, 1986). Adorno verfasst seine Vorarbeiten zur Dialektik der Aufklärung noch in New York. Er nimmt den Ausgang seiner Überlegungen von seinen Texten über die Rezeption der Neuen Musik und überträgt seine Erkenntnisse auf die Gesellschaft. Daraus entwickelt sich der Abschnitt zur Kulturindustrie, später wird daraus ebenfalls das erste Kapitel seines Buches Philosophie der neuen Musik über Schönberg und den Fortschritt hervorgehen (vgl. Adorno [1949] 1975). Horkheimers Interesse geht stärker vom Verlust der Revolution auf den Verlust der Zivilisation insgesamt über. Er verfolgt den Freud’schen Gedanken einer materialistischen Dialektik von Kultur und Barbarei weiter. Dabei bezieht er sich neben Massenpsychologie und Ich-Analyse, Totem und Tabu auch deutlich zustimmend auf Freuds 1939 erschienene Abhandlung Der Mann Moses und die monotheistische Religion und dessen kulturpessimistische Ansicht über die Barbarei der Epoche, die von den neuen Massenkollektiven ausgeht. Anknüpfend an seine eigenen anthropologischen Überlegungen zu Freuds pessimistischer­

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Kulturtheorie reflektiert er nicht allein die veränderte Bedeutung der Massen und die Entfremdung von ihren Bedürfnissen und Interessen („massenfeindliche Massenbewegungen“), sondern auch die Entwicklung der spätbürgerlichen Philosophie zum Positivismus: dem Ich komme innerhalb seiner Autonomiebestrebungen zugleich eine instrumentelle Rolle im Umgang mit der Macht zu (Horkheimer [1934] 1985, [1937a] 1985, [1937b] 1985). Es eliminiere sich auf diese Weise mit seinen Voraussetzungen selbst. An der Figur des Odysseus wird eine geradlinige Evolutionslinie vom Mythos zur Aufklärung infrage gestellt und gezeigt, dass die Autonomie des Ichs stattdessen untrennbar mit einer Selbstbeherrschung und der Beherrschung der Natur einhergeht. Die Beherrschung der äußeren und der inneren Natur gehören untrennbar zusammen. In die Elemente des Antisemitismus gehen die theoretischen Vorarbeiten und ersten Ergebnisse der ab 1943 begonnenen empirischen Projekte ein. Auch darin spielt die Kulturkritik der Psychoanalyse eine besondere Rolle (Horkheimer/­ Adorno [1947] 1987, 22–23). Freud hatte im Mann Moses ausgeführt, dass die durch Judenhass auffallenden Völker „schlecht getauft“ seien und dass das Christentum und seine sogenannten Werte nur eine dünne Rationalisierung für ambivalente und destruktive Impulse böten (Freud 1939, 539). Das nehmen Horkheimer und Adorno auf: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, dass Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart.“ (Horkheimer/Adorno [1947] 1987, 56) Ausgehend von Friedrich Pollocks Staatskapitalismus-These, neige sich die Periode des Nutzens der Juden für den Kapitalismus im ausgehenden 19. Jahrhundert ihrem Ende zu. Mit der Eliminierung der Zirkulationssphäre würden die Juden als Agenten des Kapitals – als Viehjuden, Kaufleute, Anwälte und Bankiers – tendenziell überflüssig. Was spezifisch jüdisch sei, gehe in der Periode des Faschismus in eine allgemeine Machtkonstellation über, die, einmal etabliert, niemanden ausnehme und die Rollen von Täter und Opfer tendenziell austauschbar mache: „Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz. Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken, kann jedes von ihnen anstelle der Mörder treten, in derselben blinden Lust des Totschlags, sobald es als die Norm sich mächtig fühlt.“ (Horkheimer/Adorno [1947] 1987, 200) In dieser Perspektive radikalisiert Horkheimer vor allem die schwarze und sadistische Seite der Psychoanalyse, wie er sie in stetiger Diskussion mit Karl

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Landauer entwickelt hatte. Landauer hatte in seinem Kommentar zu ­Horkheimers Aufsatz „Egoismus und Freiheitsbewegung“, der bereits den autoritären Charak­ ter skizziert, und einer brieflichen Kritik an Horney auch über die körperlichen Steigerungen des muskulären Selbstgefühls geschrieben (Landauer 1937; Horkheimer 1936).

2.3 Historisierung der Psychoanalyse In These VII der Elemente des Antisemitismus, die in der Ausgabe der Dialektik der Aufklärung von 1947 neu hinzugekommen war, findet sich im dritten Absatz eine Passage, die die Psychoanalyse so in den Macht- und Ökonomiediskurs einreiht, wie es Adorno 1941 in den „Notizen zur neuen Anthropologie“ entworfen hatte. Die Eingangssätze der These lauten: „Aber es gibt keine Antisemiten mehr. Sie waren zuletzt Liberale, die ihre antiliberale Meinung sagen wollten.“ (Horkheimer/Adorno [1947] 1987, 230; vgl. König 2016, 14–19) Der Antisemitismus der früheren Stufen gehe in der neuesten Tendenz der Ökonomie auf, die nach Max Weber der rationalisierte Kapitalismus in der neuen Phase angenommen habe und die den Liberalismus des 19. Jahrhunderts beende. Die Errungenschaften, die die ökonomische Freiheit im Bürgertum gebracht hätte, gingen tendenziell wieder verloren. Diesem Prozess wird die Entstehung der Psychoanalyse und ihrer Begrifflichkeit zugeordnet: „Dem psychologischen Kleinbetrieb, dem Individuum ergeht es nicht anders [als Mühle, Schmiede, die zur Fabrik wurden und den Spezialgeschäften, die im Warenhaus aufgingen, W. B.]. Es war entstanden als Kraftzelle ökonomischer Aktivität. Von der Bevormundung auf früheren Wirtschaftsstufen emanzipiert, sorgte es für sich allein: als Proletarier durch Verdingung über den Arbeitsmarkt und fortwährende Anpassung an neue technische Bedingungen, als Unternehmer durch unermüdliche Verwirklichung des Idealtyps homo oeconomicus. Die Psychoanalyse hat den inneren Kleinbetrieb, der so zustande kam, als komplizierte Dynamik von Unbewußtem und Bewußtem, von Es, Ich und Über-Ich dargestellt. In Auseinandersetzung mit dem Über-Ich, der gesellschaftlichen Kontrollinstanz im Individuum, hält das Ich die Triebe in den Grenzen der Selbsterhaltung. Die Reibungsflächen sind groß und die Neurosen, die faux frais solcher Triebökonomie, unvermeidlich. Dennoch hat die umständliche seelische Apparatur das einigermaßen freie Zusammenspiel der Subjekte ermöglicht, in dem die Marktwirtschaft bestand. In der Ära der großen Konzerne und Weltkriege aber erweist sich die Vermittlung des Gesellschaftsprozesses durch die zahllosen Monaden hindurch als rückständig. Die Subjekte der Triebökonomie

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werden psychologisch expropriiert und diese rationeller von der Gesellschaft selbst betrieben. Was der Einzelne jeweils tun soll, braucht er sich nicht erst mehr in einer schmerzhaften inneren Dialektik von Gewissen, Selbsterhaltung und Trieben abzuringen. Für den Menschen als Erwerbstätigen wird durch die Hierarchie der Verbände bis hinauf zur nationalen Verwaltung entschieden, in der Privatsphäre durchs Schema der Massenkultur, das noch die letzten inwendigen Regungen ihrer Zwangskonsumenten in Beschlag nimmt. Als Ich und Über-Ich fungieren die Gremien und Stars, und die Massen, selbst des Scheins der Persönlichkeit entäußert, formen sich viel reibungsloser nach den Losungen und Modellen, als je die Instinkte nach der inneren Zensur.“ (Horkheimer/Adorno [1947] 1987, 233 f.) Was hier als ökonomisch bedingter anthropologischer Verlust des Individuums und dessen entfalteter Innenwelt zugunsten von Anpassung gebietenden Kollektiven beschrieben wird, folgt explizit der Generallogik des Positivismus, der im arbeitsteiligen Feld der philosophischen und soziologischen Wissenschaften ebenfalls die Subjekte aufgibt. Wie der erste Teil des Buches, so steht auch der letzte mit Horkheimers Analysen in seinen Aufsätzen der dreißiger Jahre in Zusammenhang (Horkheimer [1934] 1985, [1937a] 1985, [1937b] 1985). Die Neue Anthropologie entsteht durch den massenpsychologischen Umbau von der Vater- zum Sohnesimago, der wiederum der Trustbildung des rationalisierten Kapitalismus folge. Horkheimer und Adorno nehmen diese Engführung an der libidinösen Ökonomie des Einzelnen in der Masse, der Einzelkapitale gegenüber der Monopolisierung auch in der Kulturindustrie und ebenso in der Geschichte des bürgerlichen Denkens vor. Im Hintergrund dieser Analyse, die an dieser Stelle zwar ausführlicher als in Adornos Notizen von 1940, aber immer noch verkürzt ausfällt, stehen die kulturtheoretischen Annahmen Freuds, mit deren Hilfe sie dessen Theorie weiterdenken.

3 Zusammenziehungen 3.1 Genealogie des Kommando-Ichs: Zwei mögliche Wege Die Ersetzung eines sich aufklärenden Ichs durch eines, das an der Adaption der Macht ausgerichtet ist, ist das stärkste Merkmal der These des Buches von der sich selbst aufgebenden Aufklärung. Im Feld der Psychoanalyse wird sie besonders deutlich. Das wichtigste Stilmittel bleibt der Ausfall eines Vermittlungsmomentes in der Argumentation. Als Antwort auf die Frage, woher

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s­ olche Zusammenziehung stammt, kann man prinzipiell zwei Möglichkeiten aus der Rezeption der Psychoanalyse in Erwägung ziehen: 1) Der eine Weg führt über die Traumdeutung und folgt der Ersetzung des latenten durch den manifesten Traumgedanken, weil in der therapeutisch ausgerichteten Lesart an ein undialektisches oder verdinglichtes Realitätsprinzip angeknüpft wird. Anschließend wird die synthetisierende Instanz, die die verschiedenen Strebungen des Ichs zusammenfasst, durch ein Kontroll-Ich ersetzt (vgl. Freud [1916–17] 1974, 128–138). 2) Die zweite Möglichkeit folgt Walter Benjamin, der im Schock die Ersetzung von Erfahrung durch Erlebnis beschreibt: die unwillkürliche Erfahrung verschwindet und wird danach durch eine Verdinglichung aus einer rationalisierenden Verstandesleistung ersetzt (vgl. Benjamin 1939; Adorno [1946] 2018, 627; Bock 2013). Adorno verwendet diese Denkfigur in einer früheren Fassung der „Revidierten Psychoanalyse“ (Adorno [1946] 2018). Bereits Benjamin verwechselt aber aus psychoanalytischer Sicht in seiner Konstruktion im Schock die Verdrängungsleistung von äußeren und inneren Impulsen mit der synthetisierenden Funktion des Ichs in Freuds Triebapparat. Beide möglichen Wege missverstehen auch die Psychoanalyse und ziehen die Anpassung an das Realitätsprinzip dort mit einer Kontrolle zusammen, wo bei Freud ein „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ der entsprechenden Motive erfolgen soll (Freud [1914] 1974). Doch haben die Autoren bei der Betrachtung der Realität der Psychoanalyse auch Recht gegenüber den feinsinnigeren Interpretationen.

3.2 Das Kommando-Ich in der Praxis: NS-Psychotherapie Diese Motive der Anpassung und des Umbiegens der zur Freiheit drängenden Momente der Psychoanalyse sind insbesondere für Adorno bei Freud tendenziell vorgebildet. Kritiker wie Erich Fromm oder wie Karen Horney, die sich in Amerika als neoanalytische Schülerin von Harald Schultz-Hencke versteht, der zeitgleich im Göring-Institut groß herauskommt, verzerren diese ambivalenten Motive der freudschen Lehre dann noch zusätzlich ins Groteske (Horney [1937] 2018, Schultz-Hencke [1934] 2018). In seinem erwähnten Vortrag zur Kritik der Soziologie dieser Neofreudianer von 1946, aus dem dann 1952 der Artikel über die „Revidierte Psychoanalyse“ hervorgehen wird, befasst sich Adorno genauer

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mit der Version der neofreudianischen Psychoanalyse, die Karen Horney in Amerika vertritt (Adorno [1946] 2018, [1952] 1986). Seine Kritik, die auf ein frühes Urteil von Karl Landauer über Fromms und Horneys Abweichungen von Freud zurückgeht, wäre angemessener der deutlich aggressiveren Version einer faschistisch interpretierten „Tüchtigkeit“ und Auslese dieser Neoanalyse gegenüber (vgl. Landauer [1936, 1937] 1985 und Schultz-Hencke [1934] 2018). Horkheimer und Adorno wollen sich dagegen kritisch auf eine dialektisch und materialistisch verstandene Wirklichkeit beziehen, die auch in der Psychoanalyse gegenüber einem dort vorherrschenden einseitigen „Realitätsprinzip“ zu ihrem Recht kommen soll.

4 Monadologie und Stilfragen Lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf den Darstellungsstil der Dialektik der Aufklärung. Auf formalem Niveau finden wir eine bestimmte Art des knappen und andeutenden Ausdrucks, die sich an der internen Selbstverständigung der Autoren orientiert und der Teile einer externen Explikation verloren gehen lässt. Der Text stammt in seiner Grundstruktur aus der Gesprächssituation und ein Teil der intimen Atmosphäre bleibt auch in der weiteren Überarbeitung erhalten. Zeugnisse dieses apokryphen Stils finden sich deutlich in den Briefen. Die Autoren wenden sich, auch wenn sie allein arbeiten, weiterhin an das jeweilige Gegenüber. Bereits Adornos Programm einer dialektischen Psychologie in seinem Brief aus Oxford, den er am 24. November 1934 an Max Horkheimer nach New York schickt, besteht fast nur aus solchen intimen Kürzeln (vgl. Adorno [1934] 2003). Der Briefstil ist monadisch in dem Sinne, dass die Gedanken in der persönlichen Relation ganz zusammengezogen sind und sich in jedem kleinen Teil das Ganze und seine Verhältnisse in den Verschränkungen von Bild und Begriff wiederholen. Das hat etwas von Leibniz’ Monadologie und einem „Teich mit Fischen“ in jedem Element (Leibniz [1714] 1986). Zugleich zeigt sich hier die Produktionseinheit von Horkheimer und Adorno. Es werden private Bindungen hergestellt, zwischen die andere kaum zu treten vermögen. Daher muss man davon ausgehen, dass bestimmte theoretische Motive nur knapp angedeutet werden, um den Gesamtzusammenhang weiterführen zu können. So kommt es zu Verkürzungen, die im Text gleichsam als eine Art readymade oder als ein symbolisches Zeichen für einen dahinterstehenden theoretischen Komplex vorhanden sind.

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4.1 Lesen als Arbeit am Begriff Nun ist dieser Briefstil insgesamt nochmals anders als die doch auch explizit angelegten Texte der Dialektik der Aufklärung. Aber selbst hier fallen noch oft genug entsprechende Bindeglieder in der Argumentationskette aus, da beide Autoren andeutend auf ihre zuvor veröffentlichten Schriften Bezug nehmen und diese nicht weiter erläutern. Das sind bei Horkheimer insbesondere seine großen Aufsätze zur Kritik des Positivismus aus der Zeitschrift für Sozialforschung und bei Adorno die Anknüpfung an seine Musikstudien ebenso wie an die Kritik an Kierkegaard, die Rettung der Kunst und beider Kritik an Hegel, die vorausgesetzt werden. Auf diese Weise entsteht ein Text, der an der Oberfläche schlüssig erscheint, aber demjenigen Leser, der die Zusammenhänge kennt, ein unendlich reicheres Leseerlebnis beschert als dem, der den zusammenfassenden Sätzen nun alles zu diesem Thema entnehmen muss. Dieser Text ist in dem Sinne vollständig, so wie auch die Monade vollständig das Ganze wiedergibt, aber auch unscharf, weil er selbst nicht bis ins Detail vermittelt ist. Hier muss man eine erschließende Arbeit des Lesers voraussetzen. Und in der Tat besteht einer der größten Reize dieser Texte darin, dass sie sich entsprechend interpretieren lassen. Sie geben zwar an Objektivität dieser gegenüber nichts nach, aber sie verlohnen eine weitere Auslegung, weil sie von sich aus mit dieser notwendig rechnen. In gewisser Weise gilt das für alle Texte, aber diese sind noch stärker als andere auf eine solche Lesart angewiesen. Kurz, sie erklären sich weniger einem Leser, als dass die Binnenrelationen ihrer Begriffe, in die bereits die äußere Wahrheit eingegangen ist, gleichsam sich selbst darstellen (vgl. König 2016, 14). Das verstehen zu wollen, bedeutet auch für den Leser eine kontinuierliche Arbeit am Begriff. Diese Ausdrucksform folgt keinem didaktischen Kalkül. Das Resultat ist, dass sich diese Texte gerade daher als ein Lehrmaterial eigenen, was schließlich auch ihre „außerordentliche Erfolgsgeschichte“ ausmacht (Müller-Doohm 2003, 835; Bock 2005). Sie sind zwar weniger enigmatisch als beispielsweise Benjamins Positionen; sie teilen mit ihnen aber die Idee einer inneren Verschränkung, die wieder zu einer äußeren werden kann, wenn der Leser hinzutritt, der selbst an der Interpretation mitarbeitet und diese zu seinen eigenen macht (vgl. Benjamin [1923] 1991). Die Texte sind also nicht nur auf äußerliche Mitteilung angelegt, sondern zugleich auf ein auslegendes Verständnis des Lesens. Diese Lektüre wird durch die enigmatische und poröse Struktur immer wieder neu entzündet und gefördert. Eine entsprechende Lesart muss sich nicht allein die einzelnen Fakten zu eigen machen, sondern sich unter Einsatz der eigenen Subjektivität immer auch darum bemühen, die Methode zu finden, nach welcher diese konstruiert sind. Eine Folge dieses Darstellungsstils ist daher eine dialektisch aufeinander

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bezogene Unabgeschlossenheit des Textes wie der Sachen die er behandelt. Die Autoren bewegen sich beständig zwischen implicatio und explicatio wie die Engel auf der Jakobsleiter. Diese Denkfigur im Nachvollzug kritisch aufzunehmen, wird für den Leser unweigerlich zur Notwendigkeit einer Aktualisierung des Textes. Was bei Benjamin „Nachreife auch der festgelegten Worte“ heißt, wird hier zu einem Prinzip einer Hermeneutik oder einer nicht technisch verstandenen Interaktivität, mit der der Leser in den bestehenden Diskurs beständig mit eingreift (Benjamin [1923] 1991, 12).

4.2 Ausblick: Kommandoform und Digitalisierung Heute finden wir fast überall die Konfrontation des gegenwärtigen Positivismus mit dem Mythos der Ware. Für die technischen Möglichkeiten, in denen sich eine bestimmte positivistische Denkform kristallisiert, ist das iPhone beispielhaft. Dessen Produktion treibt die Rationalisierung im Max-Weber’schen Sinn ebenso voran wie auch das Produkt selbst immer geschlossener und sabotageresistenter wird. Es erscheint stärker als das Subjekt, während die Menschen, die es bedienen, kybernetische und maschinenhafte Züge annehmen. Eine solche die Wirklichkeit strukturierende Vorgabe verlangt umgekehrt eine Identifikation des menschlichen Subjektes mit einer scheinbar alternativlosen Herrschafts- und Wirtschaftsform der Warenstruktur. Die Apparatetechnik und die Techniken der sozialen Kontrolle bilden einen gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang, der die Dinge entsprechend präformiert, bevor sie in den Kategorien der Wissenschaft gefasst werden. Wenn Horkheimer und Adorno in den Thesen 1947 vom Wegfall des Über-Ichs und seiner Ersetzung durch die Filmstars der Kulturindustrie sprechen, so können wir diesen Vorgang heute in einem ganz anderen Maße einem „kybernetischen Sozialcharakter“ zuordnen, der sich affirmativ auf alle technischen Produkte bezieht (Fromm 1976, Bock 2017). Die aufklärende Wahrheit darüber konnte auf früheren gesellschaftlichen Entwicklungsstufen gegen die Unwahrheit ihres Systems und des Glaubens in Stellung gebracht werden. Bereits die französischen Frühaufklärer unterschieden dabei nicht mehr zwischen intentionalem und objektivem Priesterbetrug (Voltaire [1761] 1969). Deren gegen den Aberglauben gerichteter Kampfruf „Écrasez l’infâme!“ bildet damals wie heute das Projekt der Aufklärung. Aber die Vorhaltung einer demgegenüber kritisch gefassten fällt in einer digital aufgeladenen Wirklichkeit unendlich viel schwerer als in früheren historischen Phasen. Denn der Positivismus, der auch noch den Zweck des Denkens den formelhaften mathematischen Begriffen opfern will, ist bereits a priori in die Dingwelt eingegangen. Das b­ ildet den Hintergrund der Kritik an der mit der ökonomischen Struktur verbundenen

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Lebenswelt, der wir heute ausgesetzt sind. Es handelt sich dabei um genau die Kommandostruktur, deren Evidenz die Autoren 1947 ansprechen und an die sich die Subjekte auch in der Psychoanalyse bereits vorauseilend anpassen wollen. Was die heutige Psychoanalyse Neue Symptome nennt, hängt damit unmittelbar zusammen. Diese Entwicklung, die Horkheimer in seinen Aufsätzen der dreißiger Jahre beschrieb und die im Kapitel zur Kulturindustrie aktualisiert wurde, zitieren die Autoren mithilfe eines solchen Theorie-readymade. Ebenso vorausgesetzt werden muss die Kritik beider Autoren an Marx und Engels und dem Sowjetsozialismus als Kommandoform, die von einer falschen Aufteilung in Basis und Überbau und einer falschen Dialektik der Natur als Ressourcen ausgehen. Dennoch bleibt auch für Horkheimer und Adorno die Notwendigkeit einer Aufklärung über den ideologischen Zusammenhang der Gesellschaft weiter erhalten und wird in ihrem Buch nicht aufgegeben. Für den Bezug auf den Positivismus, der heute handgreiflich nun unter anderem in der Digitalisierung und ihrer Zweideutigkeit erscheint, heißt das: Er erscheint, trotz gewisser emanzipatorischer Ansätze, letztlich nicht wirklich als „Möglichkeit“ oder „Chance“, auch wenn er unter solchen Namen daherkommt, sondern als weiterer Verblendungszusammenhang. Ähnlich wie nach Friedrich Nietzsches Kritik „die Wahrheit“ zu einer rhetorischen Kategorie verkommt, so ist auch „die Möglichkeit“ in dieser Deutung eine attraktive Protoform, die in absehbarer Zeit notwendig in ihr repressives Stadium übergeht (Nietzsche [1873] 1988). Die Feststellung und die Kritik dieser Bewegung machen den Kern der Dialektik der Auf­klärung aus. Dazu passt es, dass die fragmentierte Form der Texte mit ihrer Kritik an Nietzsches Genealogie der Moral anknüpft. Freilich ist die Nähe zu Nietzsche nicht die einzige Beziehung; die zentrale Rolle, die hier auch der „bestimmten Negation“ zukommt, verweist ebenfalls auf Hegels Bedeutung für das Buch (König 2016, 244–249; Horkheimer/Adorno [1947] 1987, 46). Ein Resultat solcher Verhältnisse auf der makropolitischen Ebene sehen wir einerseits im Zusammenhang mit der Aufklärung mithilfe Neuer Medien beispielsweise im sogenannten Arabischen Frühling, andererseits im Einsatz des Internets in China oder im Iran, die die früheren Machtkonstruktionen durch Formen ersetzt haben, die nicht nur die Aufklärung, sondern auch die Herrschaftsformen in eine neue Spirale treiben.

4.3 Neue Kontrollmächte Das Buch von Horkheimer und Adorno teilt die Kritik an der Verschlimmbesserung im Zuge der fortschreitenden gesellschaftlichen Rationalisierung, die Adorno auch an Fromms und Horneys Version der Psychoanalyse exerziert. Das gilt nicht allein für die Felder der Psychologie oder der Religion, wo nach der

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luziden IV. These der „Elemente“ das Christentum mit seinem „Gott mit uns“ das ältere Judentum zu ersetzen trachtete und einen Antisemitismus ausbrütete, der schlimmer ist als der antike, der mittelalterliche und der früh-neuzeitliche zusammen. Einem solchen Vorgang einer Reformierung wohnen wir heute auch bei der Digitalisierung als gesellschaftlicher Formation bei, in der scheinbar flache Hierarchien die frühere hierarchisch organisierte Macht ersetzen sollen. Das Resultat ist jeweils fatal und die scheinbar größere Offenheit der neuen Formen enthält eine Tendenz zur Kontrolle, die historisch ihresgleichen sucht (Deleuze 1990; Bock 2006, 76–107; 2017). Hier besitzen die Autoren eine große Nähe zu einem anderen Kritiker der Reform, zu Michel Foucault. Das gilt nicht nur für die Wissenssysteme oder Formen der Bestrafung und „Resozialisierung“, sondern auch für die Analyse der liberalen Wirtschaftsmacht, nach der das gesamte Gesellschaftssystem weiterhin ausgerichtet ist. Die vermeintlich geschlossene Form der Kritik, die wir in der Dialektik der Aufklärung finden und die zum Vorwurf eines „Negativismus“ geführt hat, beschreibt in diesem Zusammenhang durchaus präzise die scheinbar alternativlose Entwicklung der gesellschaftlichen Systeme (vgl. Boch/Kremer/Zimmermann 1997). Immerhin heißt es auch in Foucaults Buch über die Geschichte der Gouvernementalität, das ohne eine Reflexion auf eine Dialektik auskommen will: „Der Liberalismus in dem Sinne, in dem ich ihn verstehe, dieser Liberalismus, den man als neue Regierungskunst charakterisieren kann, die sich im 18. Jahrhundert gebildet hat, enthält in seinem Zentrum ein Verhältnis der Herstellung/Zerstörung gegenüber der Freiheit […], ein Verhältnis […] des Vollzugs/der Aufhebung der ­Freiheit. Mit einer Hand muß die Freiheit hergestellt werden, aber dieselbe Handlung impliziert, daß man mit der anderen Einschränkungen, Kontrollen, Zwänge, auf ­Drohungen gestützte Verpflichtungen usw. einführt.“ (Foucault [1987] 2004, vgl. Bock 2009) Das sind, obwohl Foucault von einer Dialektik offiziell nichts wissen will, durchaus Sätze im Sinne der Dialektik der Aufklärung.

5 Die Generallinie Horkheimer und Adorno waren trotz der scharfen Kritik an der Psychoanalyse dennoch nicht gewillt, auf deren aufgeklärte Seiten zu verzichten. Das wird an der prominenten Rolle deutlich, die diese sowohl in den empirischen Arbeiten in Amerika als auch nach der Reemigration in Deutschland einnahm. Zu den wichtigsten forschungspolitischen Leistungen zählte die Organisation des Psychoanalyse-Kongresses zum 100. Geburtstag Freuds in Heidelberg und Frankfurt, während damals in der BRD

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nur Einrichtungen nach dem bewährten Freud-kritischen, an der Oberfläche leicht retuschierten Muster des Göring-Instituts zu finden waren. Ähnlich verhielt es sich schon früher mit der öffentlichen Position des Instituts für Sozialforschung zur Psychoanalyse insgesamt. Horkheimer schrieb am 11. Oktober 1942, also als die Arbeit an der Dialektik der Aufklärung sich auf einem Höhepunkt befand, in diesem Sinne einen Brief an Leo Löwenthal, der die Stellung des Instituts an der ColumbiaUniversität in New York hielt: „Bestimmt wissen Sie ebenso gut wie ich, was Sie über unser Verhältnis zur Psychoanalyse sagen müssen. Getreu unserer Politik sollten Sie sich einfach positiv äußern. Wir sind Freud und seinen ersten Mitarbeitern wirklich tief verpflichtet. Sein Denken gehört zu jenen Bildungsmächten, ohne die unsere Philosophie nicht wäre, was sie ist.“ (Horkheimer [1942] 1996, 373) Horkheimer gab hier die Generallinie des Instituts für Sozialforschung gegenüber der Psychoanalyse aus, die auch für die Zeit nach der Veröffentlichung der Dialektik der Aufklärung weiterhin galt. Was er deutlich an Löwenthal schrieb, erscheint allerdings nur undeutlich in der Dialektik der Aufklärung und bildete eine verdeckt bleibende Voraussetzung der Kritik.

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Teil II Judentum und Antisemitismus

Zur Rechtskritik der Dialektik der Aufklärung Robert Fine

Eine der Paradoxien der Aufklärung, wegen der Horkheimer und Adorno die Dialektik der Aufklärung schrieben, besteht darin, dass sie die Emanzipation befürwortete und gleichzeitig alte Formen der Herrschaft wiederherstellte und neue schuf. Nichts veranschaulicht diese Dialektik nachdrücklicher als die Emanzipation der Juden. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war sie in den meisten europäischen Ländern erfolgt, doch wurde sie vom Aufstieg antisemitischer Ideologien und Bewegungen begleitet, die die Emanzipation wieder rückgängig machten, die die Juden verfolgten und in letzter Konsequenz töteten. Statt aus dieser Erfahrung antiaufklärerische Folgerungen zu ziehen, erkannten Hork­heimer und Adorno in ihr eine Dialektik der Aufklärung, die sie in der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung spekulativ so formulierten: „Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“ (Horkheimer/Adorno [1947] 1985, 21) In diesem Beitrag befasse ich mich mit einem Aspekt der Dialektik der Aufklärung, auf den in den „Elementen des Antisemitismus“, wenn auch eher am Rande, verwiesen wird: Die Tatsache, dass der blinde Hass auf „die Juden“ mit einem ebenso blinden Hass auf Rechte, auf das Gesetz und auf den rationalen Staat einherging. All die üblichen „rationalen, ökonomischen und politischen Erklärungen“ (Horkheimer/Adorno [1947] 1985, 200) spielten im modernen Antisemitismus keine Rolle, so Horkheimer und Adorno. Ökonomisch nutzlos, diene er ausschließlich der Befriedigung einer blinden Zerstörungslust, seine

Übersetzt von Lars Fischer

R. Fine (*)  University of Warwick, Coventry, Großbritannien © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_6

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Zwecklosigkeit trage einer blinden Gier nach Blut Rechnung. Es sollte sich in uns etwas dagegen sträuben, dass nachträglich „aus ihrem [der Opfer] Schicksal ein sei’s noch so ausgelaugter Sinn gepreßt wird“, bemerkte Adorno später in „Nach Auschwitz“ (Adorno [1966] 1998, 354). Die destruktive Unternehmung des genozidalen Antisemitismus mag unter Zuhilfenahme verschiedener Vorwände rationalisiert worden sein, doch in Wirklichkeit sei sie „autonomer Selbstzweck“ gewesen (Horkheimer/Adorno [1947] 1987, 200). In der Dialektik der Aufklärung führen Horkheimer und Adorno diese Zerstörungswut, diese Gier nach Blut auf die Widersprüche zurück, die den Menschen- und Bürgerrechten innewohnen: „Es war der Sinn der Menschenrechte, Glück auch dort zu versprechen, wo keine Macht ist. Weil die betrogenen Massen ahnen, daß dies Versprechen, als allgemeines, Lüge bleibt, solange es Klassen gibt, erregt es ihre Wut; sie fühlen sich verhöhnt. Noch als Möglichkeit, als Idee müssen sie den Gedanken an jenes Glück immer aufs neue verdrängen […] Wo immer er inmitten der prinzipiellen Versagung als verwirklicht erscheint [wie im Falle der Juden], müssen sie die Unterdrückung wiederholen, die der eigenen Sehnsucht galt.“ (Horkheimer/ Adorno [1947] 1987, 201) Hier scheinen meines Erachtens Nietzsche und Marx aufeinanderzutreffen. Wie Marx bemerkte, ist das gleiche Recht ein Recht der Ungleichheit. (Marx [1875/1891] 1962, 20 f.) Horkheimer und Adorno widmeten sich der Schattenseite dieses Widerspruchs: dem Drang nach Gleichheit, der nicht nur, weil deren gleiche Rechte ihnen unverdientes Glück zu gewähren scheinen, „die Juden“ angreift, sondern auch das Prinzip gleicher Rechte als solches. Es geht also meines Erachtens darum, dass die Erfahrung der Kluft zwischen gleichen Rechten einerseits und Klassenunterschieden andererseits zwar durchaus zum Streben nach einer umfassenderen, über die rein politische hinausgehenden menschlichen Emanzipation führen kann. Andererseits kann sie aber auch, wie im Falle des Antisemitismus, ins Ressentiment münden – gegen gleiche Rechte, gegen die Juden, die sie genießen, und gegen die politischen Kräfte, die sie ihnen gewährt haben. Ein geistloser Radikalismus, der dem Prinzip gleicher Rechte insgesamt feindselig gegenüberstand, beflügelte wütende Meuten und die antisemitischen Eliten. Er fand auch in den Marxismus Eingang. Vor diesem Hintergrund bestand eine der schwierigen Aufgaben, die Horkheimer und Adorno der Kritischen Theorie aufgaben, darin, sich mit der Indifferenz oder Feindseligkeit auseinanderzusetzen, die am virulentesten in dem Ressentiment zum Ausdruck kam, die Juden hätten gleiche Rechte erhalten, ohne diese „verdient“ zu haben. Angesichts der Verachtung, die beide Enden des politischen Spektrums den Menschen- und Bürgerrechten entgegenbrachten, wandten Horkheimer und

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Adorno sich dem Naturrecht im Allgemeinen und der modernen Naturrechtstheorie der Aufklärung im Besonderen zu. Die Aufklärung hatte traditionelle Naturrechtsvorstellungen nicht aufgehoben, sondern modernisiert und rationalisiert. Am ausführlichsten legte Kant seine Naturrechtsphilosophie in seinem Werk Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797) dar. Dort definierte er das Naturrecht auf der Grundlage von „unwandelbaren Principien“ (Kant 1797, xxxi), die jeder positiven Gesetzgebung zugrunde lägen. Dem widersprachen Horkheimer und Adorno. Kant habe historisch spezifische Rechtsmaßstäbe wie das Privateigentum, das die moderne kapitalistische Gesellschaft ihren Angehörigen ohne Rücksicht auf deren Willen oder Wohlbefinden aufgezwungen habe, naturalisiert. Doch zugleich riefen sie in vielen ihrer Schriften immer wieder dazu auf, das Recht als wichtigen Faktor ernst zu nehmen. Weil er auf der „allgemeine[n] Rechtsnorm“ beharre, so Adorno in der Negativen Dialektik, lebe im Kant’schen Formalismus, „trotz und wegen seiner Abstraktheit selbst ein Inhaltliches“ fort, nämlich „die Idee der Egalität“ (Adorno [1966] 1998, 235). Entgegen der Behauptung der Faschisten, deren Praxis das Prinzip der Universalität von Rechtsansprüchen beiseiteschob und es stattdessen von „blindem Schein, der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer designierten Rasse, abhängig machte, wer umgebracht werden sollte“ (Adorno [1966] 1998, 235), seien rechtliche Abstraktionen keineswegs nur trügerisch. In Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (Adorno [1964/65] 2001) betonte Adorno den Unterschied zwischen einem Rechtsstaat, der auf Gewaltenteilung beruhe, und einem Regime, das sich mit Mitteln des Terrors durchsetze. Er erklärte, „daß frei ein Zustand ist, in dem ich nicht, wenn es um halb sieben Uhr morgens schellt, vermuten muß, daß entweder die Gestapo oder die GPU oder eine andere ähnliche Institution mich abführen kann, ohne daß ich das Recht des Habeas corpus dagegen geltend machen könnte.“ (Adorno [1964/65] 2001, 197 f.) Die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative, die im Mittelpunkt von Kants Staatstheorie in Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre steht, sei, so Adorno in „Kritische Modelle 3“, ein entscheidendes Merkmal der Demokratie. Deren „Lebensnerv“ wiederum sei die Kritik, da „das system of checks and balances“ darauf beruhe, „daß jeweils die eine dieser Gewalten an der anderen Kritik übt und dadurch die Willkür einschränkt“ (Adorno [1969] 1998, 785). Zwar argumentierten Horkheimer und Adorno gegen eine naturalistische Konzeption des Rechts, der zufolge dieses unmittelbar auf der Natur oder der Vernunft beruhe. Dennoch war es ihnen meines Erachtens wichtig, Geschichte und Naturrecht nicht als Gegensatzpaar erscheinen zu lassen. Die Freiheit sei eine „durch und durch geschichtliche Kategorie“, so Adorno in Zur Lehre von der

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Geschichte und von der Freiheit: „Der Begriff der Freiheit ist selber historisch entsprungen und wandelt sich mit der Geschichte.“ (Adorno [1964/65] 2001, 248) Zwar sei das „Potential der Freiheit“ inzwischen ungleich größer als in früheren Zeiten, weil „der Stand der Produktivkräfte heute es erlauben würde, den Mangel in der Welt prinzipiell zu beseitigen“ (Adorno [1964/65] 2001, 251). Er warnte aber dennoch davor, sich die Annahme voreilig zu eigen zu machen, „der Spartakus-Aufstand im alten Rom […] oder der Aufstand des Babeuf“ sei „halt nicht gegangen […], weil die geschichtlichen Bedingungen noch nicht so weit waren“ (Adorno [1964/65] 2001, 250). Letztlich sei es „eigentlich immer […] in jedem Augenblick möglich gewesen“, Freiheit zu verwirklichen (Adorno [1964/65] 2001, 249). Seine Maßgabe, es sei die Aufgabe der Geschichtsphilosophie, „das sich Durchhaltende“ von Vorstellungen wie jener der Freiheit „gerade in ihrer Veränderung zu bewahren, und nicht dieser Veränderung isoliert als ein abstrakt sich Durchhaltendes gegenüberzustellen“ (Adorno [1964/65] 2001, 249), betonte die Vereinbarkeit von Naturrecht und Geschichte. Adorno scheint sich auch der generativen Wirkung des Naturrechts bewusst gewesen zu sein. Er konzentrierte sich nicht nur auf die Einschränkungen, die das Recht menschlichem Handeln auferlegt, sondern auch auf seine Fähigkeit, Widerstand zu stimulieren. Das Naturrecht erkläre uns nicht nur, was wir nicht tun sollen, sondern auch, was wir selbst dann tun sollen, wenn es an einer positiven Rechtsgrundlage für das richtige Verhalten fehlt. Ähnlich wie Hannah Arendt lobte Adorno jene Einzelnen, denen es auch im Angesicht des Terrors und ohne jede moralische oder rechtliche Unterstützung noch gelungen sei, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. So erwähnte Adorno beispielsweise den Richter Fabian von Schlabrendorff, der zu den Verschwörern des 20. Juli gehörte. Schlabrendorff habe ihm erklärt: „Ja, ich hab’s einfach so, wie’s gewesen ist, nicht länger aushalten können“. Diese Art des Widerstands nannte Adorno „das Urphänomen eines moralischen Verhaltens im Sinn eben jenes Impulsmomentes, das dann mit dem Bewußtseinsmoment in dem spontanen Akt in eine so eigentümliche Konstellation tritt“ (Adorno [1964/65] 2001, 333). Zu dieser Argumentationslinie wäre einiges zu sagen, auf jeden Fall aber macht sie ohne die Annahme eines Naturrechts wenig Sinn, das auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen gilt, in denen es keinen positiven Niederschlag gefunden hat. Meines Erachtens hat Adorno missverstanden, worum es Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts ging. Auch das Wesen von Hegels Kritik an Kants Rechtphilosophie hat er falsch aufgefasst. Doch ist es instruktiv, wie kritisch er sich einer Philosophie gegenüber äußerte, die „das Menschenrecht als Narzißmus anschwärzt“ (Adorno [1966] 1998, 323). Adorno spielte gedanklich

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relativ oft mit der Vorstellung einer umfassenden Revolutionierung des bürgerlichen Rechtssystems, einer Scheidung der Freiheit vom Recht, einer Preisgabe der rechtlichen Form der freien und gleichberechtigen Individualität usw. Doch jedes Mal, wenn er über die Konsequenzen derart radikaler Vorstellungen nachdachte, argumentierte er, die Überwindung des Rechtssystems würde mit schlimmeren Verzerrungen einhergehen als jenen, die damit überwunden werden sollen. Denen gegenüber, die, wie etwa Marcuse in Reason and Revolution, das bestehende Rechtssystem im Namen seiner immanenten Ideale überwinden, also neue Formen der Individualität jenseits des abstrakten Rechts, neue Formen der Assoziation jenseits der Zivilgesellschaft, neue Formen der politischen Vergemeinschaftung jenseits des Staats entwickeln wollten, war Adornos Haltung stets eindeutig. Alle derartigen Versuche einer radikalen Scheidung, so Adorno gut hegelianisch, würden nur das entwerten, was wirklich ist, und das abstrahieren, was vernünftig ist. Stets ging es Adorno darum, die Vorstellung individueller Rechte zurückzugewinnen, die er bei Hegel nicht mehr finden konnte. So beharrte er beispielsweise darauf, dass „die gesellschaftliche Analyse […] auch der individuellen Erfahrung unvergleichlich mehr zu entnehmen“ vermöge, „als Hegel konzedierte“ – als habe Hegel die Sphäre des Individuellen nicht berücksichtigt. Dort, so Adorno weiter, wo man „die Ausmerzung der Differenz unmittelbar als Sinn ausschreit, mag temporär etwas sogar von der befreienden gesellschaftlichen Kraft in die Sphäre des Individuellen sich zusammengezogen haben“ (Adorno [1951] 1998, 16). Kurzum, in der Negativen Dialektik, aber auch in anderen Texten verteidigte Adorno Kants auf dem Naturrecht beruhende Rechtsphilosophie gegen das, was er irrtümlich für Hegels historische Staats- und Rechtsphilosophie hielt. Das Verhältnis von Horkheimer und Adorno zu Marx scheint mir ähnlich instruktiv zu sein. Marx wird oft mit der Entwertung von Rechten assoziiert. Sie verkörperten den Egoismus, dienten als Instrumente der Klassenherrschaft und böten den bloßen Schein von Freiheit und Gleichheit. Eine wohlwollendere Interpretation lautet, Marx habe Rechte zu schätzen gewusst, aber nur als Übergangsmaßnahme, bis der Sozialismus und die umfassende menschliche Emanzipation erreicht würden. Für Marxisten bestand die Versuchung, nicht nur die Vorstellung des Naturrechts zu denaturalisieren und als spezifischen Ausdruck der modernen Gesellschaft bloßzustellen, sondern das Recht überhaupt zu entwerten. Diese Art der Interpretation vernachlässigt meines Erachtens die Anleihen, die Marx selbst bei der Naturrechtsphilosophie machte. So wird das Kind (die moderne Rechtsidee) mit dem Bade (einer naturalistischen oder rationalistischen Auffassung dieser Idee) ausgeschüttet.

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In diesem Zusammenhang sollte man nicht vergessen, wie intensiv Marx sich für die in seiner Umgebung geführten Kämpfe um Rechte einsetzte: Für die Pressefreiheit, für die politische Emanzipation der Juden, für den Zugang der ländlichen Armen zu den Allmenden, für den Achtstundentag, für das allgemeine Wahlrecht. So wie Hegel den Hass auf Rechte zurückwies, den er in dem radikalen antisemitischen Populismus eines Jakob Fries entdeckte, so wies auch Marx jenen im antisemitischen Sozialismus Bruno Bauers zurück. Gegen Bauer verteidigte Marx nicht nur den Anspruch auf bürgerliche und politische Rechte, sondern auch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, auf der die Emanzipation der Juden beruhte. Marxens Kritik der kapitalistischen Gesellschaft als Ganzes beruht auf der Annahme, dass nicht nur ihre „materiellen“ Formen (Tauschwert, Preis, Geld, Kapital, Zinsen, Renten usw.) entscheidend, sondern ihre „ideellen“ Formen (Rechte, Moral, Vertrag, Gesetze, Familie, Zivilgesellschaft, der Staat, die internationale Gesellschaft usw.) ebenso real seien wie die materiellen. Für Marx war die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte „allerdings ein großer Fortschritt“ (Marx [1844] 1956, 356). In der Kritik derjenigen, die, wie Bauer, sie verwarfen, konnte er nichts Tiefsinniges erkennen. Zugegeben, es gibt Passagen im Kapital, in denen Marx das Recht zum bloßen Schein erklärte. Diese Passagen haben die Annahme genährt, die sich auch etliche Angehörige der Frankfurter Schule zu eigen machten, dass gleiche Rechte zwar in der Ära der begrenzten Warenproduktion und des von Konkurrenz gekennzeichneten Kapitalismus von Bedeutung gewesen seien, im Spätkapitalismus aber jegliche Substanz verloren hätten. Doch beginnt die Dialektik der Aufklärung, diesen mechanistischen Zug des orthodoxen Marxismus infrage zu stellen. Wenn Marx das Recht im Kontext der Kapitalakkumulation als „bloßen Schein“ bezeichnete, ging es ihm nicht darum, die Bedeutung bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte für den Widerstand gegen die Herrschaft des Kapitals über die Gesellschaft infrage zu stellen. Vielmehr wollte er den Missbrauch der Rede vom Recht durch Vertreter des Kapitals bloßstellen, die in Wirklichkeit darauf erpicht waren, Arbeiter rücksichtslos als bloße Arbeitsinstrumente zu behandeln. Marxens Kritik der Fetischisierung des Subjekts als vermeintlichem „Nullpunkt“ des von allen gesellschaftlichen Beziehungen unabhängigen freien Willens sollte nicht mit der Negierung jener Formen des Rechts verwechselt werden, die den Widerstand gegen die sich selbst vermehrende Machtfülle des Kapitals und des Staats ermöglichen. Ich würde also mit Blick auf das Verhältnis der Kritischen Theorie zum Naturrecht argumentieren, dass die Vorstellung eines von der Natur gesetzten, menschliche Entscheidungen übersteigenden Rechts, das unabhängig von

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den gesellschaftlich-historischen Umständen immer und überall gültig sei, vor einem kritischen Bewusstsein, das mit der Geschichte von Normen, der Vielfalt der Kulturen, der Relativität von Werten und dem menschlichen Ursprung des Rechts vertraut ist, in der Tat nicht zu bestehen vermag. Doch scheint mir hinter dem Konzept der Dialektik der Aufklärung die Hypothese zu stehen, dass eine kategorische Ablehnung der Naturrechtsidee den Widerstand gegen das totalitäre Potenzial der Moderne schwächt. Die Betonung der Historizität, Vergänglichkeit und Relativität des Rechts ist nicht falsch. Verabsolutiert man sie aber, ebnet man dem Rechtsnihilismus den Weg. Die Überzeugung, alle Gesetze würden lediglich positives Recht darstellen, allein von Menschenhand geschaffen, droht jegliche Beschränkung dessen, was Menschen postulieren können, zu beseitigen. Ich würde mich Hegels Hinweis in den Grundlinien der Philosophie des Rechts anschließen, dass historistische Rechtslehren Gefahr laufen, die Prinzipien, die den Massenmord rechtfertigen, mit jenen, die ihn unter Strafe stellen, gleichzusetzen (Hegel 1820, 141 ff., § 140d). Viele von uns sind mit Adornos Kritik des Positivismus vertraut. Der Positivismus sei „der Medusenspiegel einer zugleich atomisierten und nach abstrakten Klassifikationsbegriffen […] eingerichteten Gesellschaft“ (Adorno [1957] 1998, 203). Die Erforschung einer Gesellschaft, „die Menschen mehr stets zu Objekten herabsetzt“, müsse mehr leisten, als sie bloß nachzuäffen (Adorno [1957] 1998, 202). Doch das Naturrecht liegt jenseits der gegen den Historismus und den Positivismus gerichteten Kritik. Es gewährleistet, dass gesellschaftliche Kräfte moralische und rechtliche Imperative nicht einfach beseitigen können. Ich erkenne in der Dialektik der Aufklärung also einen Subtext, der besagt, dass uns, wenn wir das Naturrecht aus den Augen verlieren, ein Teil unserer kritischen Fähigkeiten abhandenkommt. Dies scheint mir unbestreitbar zu sein, auch wenn wir diese Einsicht erst noch in den Haupttext hineintragen müssen. Adorno hatte zwar unrecht, als er Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts als einen Rückschritt hinter Kant bewertete, doch lagen Horkheimer und Adorno richtig, als sie die kognitiven und normativen Ressourcen anerkannten, die die Naturrechtsphilosophie der Kritischen Theorie zu bieten hat. Gillian Rose argumentierte in The Melancholy Science (1978), der Adorno der Negativen Dialektik sei unfähig gewesen, die Konkretheit von Hegels Erforschung der für die Neuzeit charakteristischen gesellschaftlichen Rechtsformen zu erkennen, weil ihm selbst Abstraktionen noch zu wichtig gewesen seien. Mit ihrem Adorno widersprechenden Beharren auf Hegels spekulativer Einheit von Wirklichkeit und Vernunft hatte sie meines Erachtens recht. Für ihre

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Behauptung, das Kant’sche Naturrecht sei lediglich eine Übung in Abstraktionen gewesen und Adorno habe ihm zu viel zugetraut, gilt dies dagegen nicht.1 Der Leitsatz der Naturrechtsphilosophie lautet nicht, dass das Naturrecht als oberstes Prinzip das positive Recht ersetzt. Es geht ihr darum, dass dem Naturrecht als universalem Recht eine eindeutige positive Form gegeben werden und positives Recht mit dem Naturrecht übereinstimmen müsse, um Gültigkeit zu beanspruchen. Die Einheit von natürlichem und positivem Recht läuft darauf hinaus, dass das universell Wahre und das historisch Determinierte letztlich nicht voneinander zu trennen sind. Das Konzept der Dialektik der Aufklärung nimmt es zugleich mit jenem liberalen Ethos, das das Naturrecht positivistisch auffasst und zur Bestätigung des Status quo einsetzt, und mit jenem totalitären Ethos auf, das das positive Recht den sogenannten Gesetzen der Natur und der Geschichte unterwerfen will. In beiden Fällen wird die Verbindung von Naturrecht und positivem Recht durchtrennt. Um diesen beiden Doktrinen etwas entgegenzusetzen, wendet das Konzept von der Dialektik der Aufklärung sich der Naturrechtsphilosophie wieder zu und widmet sich der gleichzeitigen Denaturalisierung und Regeneration des Rechtsbegriffs. Mir scheint die Dialektik der Aufklärung nicht zuletzt deshalb so aktuell zu sein, weil wir noch immer mit der Prekarität rechtlicher und politischer Institutionen konfrontiert sind, deren Legitimität und Stabilität alles andere als gesichert sind. Seit dem Zweiten Weltkrieg hatten wir uns daran gewöhnt, in einer Welt zu leben, in der, allen Rückschlägen zum Trotz, die Bürger- und Menschenrechte, verschiedene politische und soziale Rechte und neue Rechtsinstitute zu deren Durchsetzung auf dem Vormarsch sind. Doch scheint nun eine Zeit angebrochen zu sein, in der diese Entwicklung rückläufig und der Fragmentierung und Liquidation ausgesetzt sind. Zugleich neigen radikale Kräfte eher dazu, Rechte zu verwerfen, als sie zu kritisieren, zu verteidigen und zu rekonstruieren. Während das Verwerfen von Rechten auf deren Entwertung abzielt, geht es der Kritik um ihre Neubewertung. Dies jedenfalls ist eine der Schlussfolgerungen, die ich aus diesem großartig schwierigen Buch ziehe.

Literatur Adorno, Theodor W. [1951] 1998. Minima Moralia. In: Adorno, Theodor W. Gesammelte Schriften Bd. 4, Hrsg. Rolf Tiedemann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

1Eine

knappe Zusammenfassung ihrer Position findet sich in Rose (1981, 32 f.).

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Adorno, Theodor W. [1957] 1998. Soziologie und empirische Forschung. In: Adorno, Theodor W. Gesammelte Schriften Bd. 8, Hrsg. Rolf Tiedemann, 196–216. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Adorno, Theodor W. [1964/65] 2001. Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit. In: Adorno, Theodor W. Nachgelassene Schriften Abt. IV: Vorlesungen Bd. 13, Hrsg. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. [1966] 1998. Negative Dialektik. In: Adorno, Theodor W. Gesammelte Schriften Bd. 6, Hrsg. Rolf Tiedemann, 7–412. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Adorno, Theodor W. [1969] 1998. Stichworte. In: Adorno, Theodor W. Gesammelte Schriften Bd. 10.2, Hrsg. Rolf Tiedemann, 595–799. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Hegel, Georg W. F. 1820. Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin: Nicolaische Buchhandlung. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. [1947] 1987. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften Bd. 5, Hrsg. Gunzelin Schmid Noerr, 11–290. Frankfurt a. M.: Fischer. Kant, Immanuel. 1797. Die Metaphysik der Sitten. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtlehre. Königsberg: Friedrich Nicolovius. Marx, Karl. [1844] 1956. Zur Judenfrage. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke Bd. 1, Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 347–377. Berlin/DDR: Dietz. Marx, Karl. [1875/1891] 1962. Kritik des Gothaer Programms. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke Bd. 19, Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 11–32. Berlin/DDR: Dietz. Rose, Gillian. 1978. The Melancholy Science. An Introduction to the Thought of Theodor W. Adorno. London: Macmillan. Rose, Gillian. 1981. Hegel Contra Sociology. London: Athlone Press.

Das „jüdische Problem“ und die Dialektik der Aufklärung Eva-Maria Ziege

1 Antisemitismus als „Kristallisationspunkt“ In der Dialektik der Aufklärung gibt es weder eine allgemeine Grundlegung noch ein Narrativ, vielmehr nur eine Sammlung scheinbar verstreuter Textfragmente, die, wie es in einem anderen Text Theodor W. Adornos heißt, „zur Erkenntnis des Ganzen zusammenschießen“ sollen (Adorno 1964). Das gemeinsame Schreiben Max Horkheimers und Adornos folgte einer Verschiebung des Diskurses über den Fortschritt. Die Grundthese von Marx und Engels im Manifest der kommunistischen Partei 1848 lautete, dass die menschliche Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist und dass sie im 19. Jahrhundert ihre historisch spezifische Konstellation im Antagonismus von Bourgeoisie und Proletariat erreicht hatte, die sich dialektisch zugunsten des Fortschritts, für die Befreiung der Beherrschten und Ausgebeuteten, für das Proletariat entscheiden musste. Die Dialektik der Aufklärung könnte man so zusammenfassen, dass diese These ad acta zu legen war.1 Mit der

1Die

Dialektik der Aufklärung erschien nach der Urfassung von 1944, um einen Abschnitt erweitert und im Hinblick auf marxistische Begriffe leicht bereinigt, 1947 im Querido Verlag Amsterdam und als bearbeitete Ausgabe letzter Hand 1969 im Fischer Verlag. Eine textkritische Ausgabe, die die Unterschiede der Fassungen von 1944, 1947 und 1969 kenntlich macht, erschien 1987: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. [1947] 1987. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Max Horkheimer. Gesammelte Schriften Bd. 5, Hrsg. Gunzelin Schmid Noerr, 11–290. Frankfurt a. M.: Fischer (Abk.: DdA). Nach dieser Ausgabe wird zitiert.

E.-M. Ziege (*)  Kulturwissenschaftliche Fakultät, Fachgruppe Soziologie, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_7

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Aushebelung der Dynamik des Klassenantagonismus sei der Kapitalismus in ein statisches Stadium eingetreten, in dem er sich trotz zyklischer Krisen endlos neu in Gestalt eines Staatskapitalismus ohne freie Marktwirtschaft reproduzieren könne (Pollock 1941). Die Geschichte mündete nicht in die Revolution, die Befreiung von der Herrschaft des Kapitals, sondern in die Selbstunterwerfung unter eine totale Gewaltherrschaft, in die „rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung“ (DdA, 16). Horkheimer und Adorno reformulierten mit dem Zerstörerischen des Fortschritts ein klassisches kulturpessimistisches Motiv der Gegenaufklärung. Die „Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts“ aber sollte gegen die Gegenaufklärung und nicht gegen die Idee des Fortschritts zur Freiheit gedeutet werden (DdA, 19): „Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.“ (DdA, 18 f.) Was war das Innovative der Dialektik der Aufklärung? Nicht die Schlüsselthese von der Aporie der Selbstzerstörung der Aufklärung. Der Diskurs über den Fortschritt hatte sich schon früher verschoben, etwa in für Horkheimer und Adorno grundlegenden Texten wie Freuds Das Unbehagen in der Kultur (1930) oder Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft (1882). Das gegen den Fortschritt gewandte Denken der Gegenaufklärung fand sich viel früher, bald nach der Französischen Revolution etwa in den Soirées de Saint-Pétersbourg Joseph de Maistres (1821), die in der Dialektik der Aufklärung zitiert werden. Es lag auch nicht in der Homologie von philosophischer und empirischer Arbeit – auch wenn es ungewöhnlich ist, dass sozialwissenschaftliche Projekte philosophische Anstrengungen in der Form ergänzen, in der diese für das Programm der kritischen Theorie „‚esoteric‘ significance“ gewannen.2 Eine große Innovation jedenfalls lag darin, den Antisemitismus zum geschichtsphilosophischen Kristallisationspunkt zu machen. Heute wissen wir aus den Quellen – Briefen, Protokollen, internen Kommunikationen –, wann diese Entscheidung fiel: Nach Jahren des Nachdenkens wurde etwa seit Juni 1942

2Horkheimer

in Brief an Leo Löwenthal, 1942 (Horkheimer 1996a, 366).

Das „jüdische Problem“ und die Dialektik der Aufklärung

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am „wirklichen Text gearbeitet“.3 Ende November 1941 hatten die konkreten Schreibvorbereitungen begonnen, und schon Anfang Oktober hatte Adorno vorgeschlagen, das Buch sollte sich um den Antisemitismus „kristallisieren“: „Das würde die Konkretisierung und Einschränkung bedeuten, nach der wir gesucht haben!“4

2 Vom „jüdischen Problem“5 Horkheimer schrieb den größeren Teil der Dialektik der Aufklärung: den Titelessay „Begriff der Aufklärung“, den zweiten Exkurs über „Juliette oder Aufklärung und Moral“, die „Vorrede“, die „Aufzeichnungen und Entwürfe“ (mit einigen kleinen Zusätzen Adornos). Adorno schrieb den ersten Exkurs über „Odysseus oder Mythos und Aufklärung“ und „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“. Und die „Elemente des Antisemitismus“? Hierfür schrieb Horkheimer die Erstfassung, die von Adorno extensiv überarbeitet wurde. (Schmid Noerr 1987, 430) Wenn das Thema des Antisemitismus auch die erste Konkretisierung war – das Antisemitismusfragment wurde als letztes geschrieben und als einziges nach 1945 aktualisiert. Mitte 1943 hatte die Arbeit an den „Elementen des Antisemitismus“ begonnen, etwa gleichzeitig zu den Vorbereitungen für ein Kooperationsprojekt mit der im Jewish Labor Committee organisierten jüdischen Gewerkschaftsbewegung über die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in der USamerikanischen Arbeiterklasse (Ziege 2009, 180 ff.). Die Urfassung des Buches vom Mai 1944 enthielt sechs Thesen zum Antisemitismus. Zu diesem Zeitpunkt begann die Datenerhebung in kriegswichtigen US-Industrien. Die Drucklegung der Dialektik der Aufklärung folgte erst drei Jahre später. Dem Buch wurde ein neues Textstück von 1946 als These VII hinzugefügt, nach weitgehendem Abschluss der empirischen Arbeiten für die nächste Studie, The Authoritarian Personality. Diese war mit dem American Jewish Committee durchgeführt worden, einem einflussreichen Interessenverband jüdischer Unternehmer und Politiker, der sich davon Erkenntnisse zur praktischen Bekämpfung des Antisemitismus

3Horkheimer

in Brief an Paul Tillich, 12.8.1942 (Horkheimer 1996a, 313). Adorno in Briefen an Horkheimer, 10.11.1941 (Adorno/Horkheimer 2004, 286) und 2.10.1941 (ebd., 255). 5Brief von Gershom Scholem an Walter Benjamin, Februar 1940, (Benjamin/Scholem 1980, 319). 4So

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in den USA versprach. Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung der Nachkriegszeit dachte Adorno bald schon über weitere Zusätze nach (Adorno 1946). Wie Rolf Wiggershaus sagt: das Buch war unfertig, offen, von einer heute nur noch schwer vorstellbaren Beweglichkeit, Ergebnis einer Auswahl aus Textstücken, ein ständiges work in progress (Wiggershaus 1986, 360). Was schrieben Horkheimer und Adorno zum jüdischen Thema, bevor sie am gemeinsamen Buch zu arbeiten begannen? Abgesehen von Entwürfen zu empirischen Projekten existieren dazu zwei Texte. Beide wurden 1939 im ersten Doppelheft der Zeitschrift für Sozialforschung/Studies in Philosophy and Social Science publiziert und im Wesentlichen 1937 bis 1938 geschrieben: „Fragmente über Wagner“ von Adorno und „Die Juden und Europa“ von Horkheimer. (Adorno 1939; Horkheimer 1939) Horkheimer verband die Frage der Verfolgung der Juden in der Nazidiktatur mit der Kritik der ökonomischen Gesellschaftsformation im postliberalen Spätkapitalismus, Adorno wollte an Wagner den Ursprung der faschistischen Gewaltherrschaft aufdecken. Der Versuch, diese Aufsätze hier näher mit Blick auf das Jüdische zu betrachten, verfolgt keine antiquarische Absicht. Wenn man den heute manchmal fast kanonisch fixierten Text der Dialektik der Aufklärung zum „Werk“ hypostasiert, verschwindet seine Kontingenz, seine Offenheit. (Barthes 1985, 11) Beide Texte entfalteten Elemente des Antisemitismus aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, die in der Dialektik der Aufklärung zusammengebracht und erweitert wurden. Hier geht es um eine Suche nach dem esoterischen „jüdischen Problem“ in der Kritischen Theorie, einem der blind spots. Horkheimers Text über „Die Juden und Europa“ war verschlüsselt, esoterisch und exoterisch zugleich. Marx wird nicht namentlich genannt. Horkheimer aber, der sonst Marx fast immer esoterisch behandelte – man denke nur an seine Antrittsvorlesung als junger Direktor des IfS 1931 – machte die politische Ökonomie hier zur offenen Voraussetzung im Denken. Implizit bezog er sich auf „Zur Judenfrage“ des jungen Marx. (Marx [1843]) Nur Eingeweihten verständlich war der Bezug zu einer anderen, 1939 weit schwierigeren Ebene, die einen „besonders wunden Punkt“ unter jüdischen Intellektuellen berührte (Scholem 1978, 275). Horkheimer übernahm den Titel eines Aufsatzes von 1913, „Die Juden und Europa“, von einem der umstrittensten Protagonisten in den Debatten über die Rolle der Juden in der bürgerlich-liberalen Gesellschaft: Moritz Goldstein. Goldstein, ein jüdischer Journalist, war 1912 mit dem Aufsatz „Deutsch-jüdischer Parnass“ schlagartig bekannt geworden. Er hatte eine der schärfsten Kontroversen um die Stellung der jüdischen Minderheit in der deutschen Gesellschaft mit der These ausgelöst, die Juden seien zu den eigentlichen Trägern der deutschen Kultur geworden. In „Die Juden und Europa“ pointierte er dies noch in einer nietzscheanischen Apotheose des Judentums.

Das „jüdische Problem“ und die Dialektik der Aufklärung

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Es überrascht, dass Horkheimers Aufsatz „Die Juden und Europa“ von 1939 bis heute nie mit „Die Juden und Europa“ von 1913 in Verbindung gebracht wurde. Der Text war gespickt mit Anspielungen auf die berühmt-berüchtigte Debatte. Weggefährten im engeren wie weiteren Sinne wie die Kommunistin Olga Lang, der Antikommunist Gershom Scholem6 oder Walter Benjamin, den man vielleicht als Salonbolschewisten bezeichnen kann, erkannten dies genau. Der junge Benjamin hatte schon 1912 an Goldsteins Interventionen seine Position zum Judentum geschärft. Für ihn war denn auch Horkheimers Aufsatz von 1939 ein regelrechter „Glockenschlag“, der wie von einem „Gipfel“7 Klarheit gab. Lang sah deutlich, dass die kühne Polemik Horkheimers „nicht nur gegen die Juden sondern gegen den ganzen Flügel der Emigration geht, der auf dem Boden des Kapitalismus steht und auf [die] Rückkehr des Liberalismus hofft.“8 Im Gegensatz dazu hielt Scholem Horkheimers Aufsatz für ein „gänzlich nichtsnutziges Produkt […]. Der Autor hat weder einen Begriff vom jüdischen Problem noch ein Interesse dafür.“9 Später blieb von dem Aufsatz nur noch die Staatskapitalismusthese und Horkheimers vielzitierter, aber halbverstandener Satz: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ (Horkheimer 1939, 115) Der Satz bedeutete ja nicht nur, dass eine Faschismusanalyse ohne Kapitalismusanalyse nicht möglich sei, wie ihn die 68er in der Studentenbewegung deuteten.10 Er bedeutete auch, dass die in Deutschland und Europa verfolgten Juden nicht über den Faschismus reden sollten, ohne vom Kapitalismus zu sprechen, weil er die Basis ihrer Emanzipation gewesen war. Die Juden waren die Adressaten und der Sprecher selbst war Jude. Wer die Adressaten Adornos waren, ist ebenso offen wie die Position des Sprechers. Adorno ging es, wie er mit einer gewissen Ironie schrieb, um die „Urlandschaft“ des Faschismus. Der Wagner-Bezug der Dialektik der Aufklärung

6Besser

wäre wohl zu sagen, Gershom Scholem war gegen jede Praxisform des Kommunismus. Mit dem Zusammenhang von marxistischer Theorie und kommunistischer Praxis sah er sich im Schicksal seines Bruders Werner konfrontiert. Dieser war seit 1938 im KZ Buchenwald inhaftiert und wurde dort im Juli 1940 erschossen. Zu Benjamin vgl. Smith (1991, 326 ff.). 7Der Gipfel ist eine Anspielung auf den Parnass. Siehe den Brief Benjamins an Horkheimer, 15.12.1939. (Horkheimer 1995, 680), ins Deutsche übersetzt. 8Brief von Olga Lang an Max Horkheimer, 15.04.1940 (Horkheimer 1995, 711). 9Brief von Scholem, Februar 1940 (Benjamin/Scholem 1980, 319). 10Man vergleiche nur die Fehlinterpretation in Jay (1979, 441)!

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ist mit Blick auf andere Teile des Buches zweifellos wesentlicher.11 Aber auch für die „Elemente des Antisemitismus“ ist er wichtig, denn an Wagners Person und seinem Werk wollte Adorno einen Sozialcharakter offenlegen, den des Rebellen, und die Idiosynkrasie im Antisemitismus. Noch 1964 glaubte Adorno in der Wochenzeitschrift Die Zeit sein 25 Jahre altes Wagnerbuch verteidigen zu müssen, „das so viele Diskussionen entfesselte“, weil er ohne Respekt vor heiligen deutschen Kulturgütern – Wagner und Wagners Werken – nach der Vorgeschichte der Naziideologie gefragt habe (Adorno 1964). Adorno und Horkheimer entwickelten 1939 je unterschiedliche Elemente des Antisemitismus: 1) die These der Komplizität des Beherrschten mit den Herrschenden in der für die kritische Theorie charakteristischen Herrschaftstheorie des Rebellen im Unterschied zur Figur des Revolutionärs,12 2) die Beschreibung des Antisemitismus als Idiosynkrasie des Nichtleidenkönnens, 3) Lachen, Hohn und Lustgewinn zur Vergemeinschaftung im antisemitischen Kollektiv und die Suspension des Rechts, 4) die des Zusammenhangs von Verschwörungstheorie und Rassenwahn, 5) die des Zusammenhangs von Antisemitismus und bürgerlicher Produktionsweise. und 6) die Kritik der Arbeiterbewegung. In der Dialektik der Aufklärung (1944) wurden sie aufgegriffen, erweitert und in Adornos Beiträgen zu The Authoritarian Personality (1950) am empirischen Material exemplifiziert: Betrachtet man beide Aufsätze, den Horkheimers und den Adornos, ist leicht zu sehen, welche Elemente in der Dialektik der Aufklärung hinzukamen und wie sie auf den vorhandenen Elementen aufbauten: Neu waren Ausarbeitungen zu Projektion und Destruktivität, Paranoia und Allmachtsfantasie in den Thesen V und VI, in denen aber alle der oben genannten Elemente verarbeitet waren, zum Teil wörtlich. Großenteils neu war These IV zur Religion.13 Einen neuen Ansatz enthielt die erst 1946 geschriebene These VII als Theorie des Neo-Antisemitismus mit dem amerikanischen Begriff „Ticket“. Er war von Paul Massing in Antisemitism among American Labor zur Charakterisierung einer Form des stereotypen Denkens eingeführt worden, um sie vom Pogrom- und

11Siehe

in diesem Buch den Beitrag von Helge Høibraaten. Theorie beruht auf Erich Fromms Beitrag zu den Studien über Autorität und Familie (Fromm 1936, 130 f.) und Horkheimers Aufsatz über „Egoismus und Freiheitsbewegung“ (Horkheimer 1936). 13Vgl. die Rekonstruktion der Thesen I-VII Ziege (2017); vgl. Adorno, Theodor W., Frenkel-Brunswik, Else, Levinson, Daniel J., Sanford, R. Nevitt (1950, 663 ff.). Siehe König und Stoetzler mit kontroversen Interpretationen der Thesen in diesem Band. 12Diese

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Vernichtungsantisemitismus Europas zu unterscheiden (Massing 1945, 859 ff.). 14 Während in der Urfassung der Dialektik der Aufklärung 1944 der geschichtsphilosophische Kristallisationspunkt im Antisemitismus lag, historisierten Horkheimer und Adorno dies nach 1945 für die Buchpublikation in einer neuen These (DdA, 230–238). Der Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg hatte seine Spezifik verloren. Erstmals in der Geschichte mit der Charta der neu gegründeten Vereinten Nationen im Juni 1945 völkerrechtlich geächtet, musste er neu reflektiert werden. Nun, in die „vorentschiedenen Reflexe der subjektlosen Exponenten“ der Tickets eingegangen, wurde der Hass auf Juden ein Teil eines allgemeineren Vorurteilssyndroms (DdA, 231). Hier lag die esoterische Verbindung zur Staatskapitalismusthese: Ein für diese Phase des totalitären Kapitalismus spezifischer, neuer anthropologischer Typus, der sogenannte autoritäre Charakter, war demnach der Sozialcharakter des Staatskapitalismus.15 Doch ein besonderes Merkmal des Antisemitismus im Vergleich zu anderen Vorurteilen und Rassismen blieb: die Verbindung zwischen Antisemitismus und der Ablehnung der Demokratie. (Adorno 1950a, 653) In der Ticketmentalität erhalten blieb die „Wut auf die Differenz, die ihr teleologisch innewohnt“ (DdA 1947, 238).

14Vgl.

zum Ticketdenken Ziege (2012, 123 f.). Massing sprach von „‚straight-ticket approach‘“ (Massing 1945, 859 ff.). Im amerikanischen Wahlsystem ist ein ‚Ticket’ eine Einheitsliste mit mehreren Kandidaten. Man wählt ein ‚Ticket‘, nicht spezifische Kandidaten mit bestimmten Programmen oder konkreten Forderungen. Entsprechend hoch ist die Integrationskraft einer solchen Plattform: „To some of our interviewees antisemitism and philosemitism have become fixtures, necessary attributes of belonging to certain religious denominations, foreign nationality groups, social classes, but above all political parties. If a worker is ‚progressive‘, he feels obliged to endorse a string of values and notions that go with the label. […] If he is ‚conservative‘, he is apt to attack the New Deal as too friendly to the Jews. If he is an isolationist, his opposition to the war makes him vulnerable to antisemitic propaganda about the ‚Jewish war‘. […] This tendency to subscribe to the whole ‚ticket‘ has gone far with prejudiced workers as well as with unprejudiced ones. It obscures the real issues. Like all stereotypes it comfortably frees from independent, critical thinking.“ Adorno schloss daraus, der Antisemitismus nach 1945 verliere seine Spezifik; ein allgemeines Vorurteilssyndrom werde die Nachkriegsgesellschaft prägen. Das eigentliche Neue war der Begriff des „positiven Tickets“: das progressive Ticket nicht weniger stereotyp als sein Gegenteil. 15Vgl. Horkheimer im Preface zu The Authoritarian Personality (1950, ix): „The central theme of the book is a relatively new concept – the rise of an ‚anthropological‘ species we call the authoritarian type of man.“

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1939 schrieb Adorno über den Antisemiten als Typus, Horkheimer für Juden und über Juden. Über die spätere Zusammenarbeit sagte Horkheimer retrospektiv: „Ich bin überzeugt, daß jeder von uns beiden eine andere Entwicklung genommen hätte, wenn wir nicht zusammen gewesen wären. Vielleicht ist als Symbol die Dialektik der Aufklärung zu nennen. Wir haben geschrieben, sind dann zusammengekommen, haben das Geschriebene gemeinsam durchgesehen und korrigiert.“ (Horkheimer 1969, 286) Dass beide 1941 bis 1944 in ihrer groß angelegten Zeitdiagnose das Jüdische an die zentrale Stelle rückten, war neu. Im Massenmord an den Juden schlug die Dialektik der Aufklärung auf sich selbst zurück – von der Emanzipation der Juden zu Staatsbürgern im Deutschen Reich 1871 zu ihrer Deklassierung als Staatsbürger zweiter Klasse mit dem Reichsbürgergesetz 1935 bis hin zur Vernichtung seit 1941: „der Antisemitismus [bezeichnet] heute wirklich den Schwerpunkt des Unrechts, und unsere Art Physiognomik muss sich der Welt dort zukehren, wo sie ihr grauenvollstes Gesicht zeigt.“16 Die Dialektik der Aufklärung war der erste philosophische Text, in dem der neue Antisemitismus eine zentrale Stellung erhielt. Es ist, mit Luhmann gesprochen, ein Fall der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen, dass es einen zweiten gab. Jean-Paul Sartre schrieb gleichzeitig im gerade von der Naziokkupation befreiten Frankreich im Herbst 1944 die Réflexions sur la Question Juive. 1946 in der linken Zeitschrift Partisan Review in den USA veröffentlicht, beherrschten die Réflexions schlagartig die sich in dieser Dekade von Grund auf transformierende Diskussion. (Sartre [1944] 1946) Allerdings publizierte Sartre in Frankreich und den USA zunächst nur den ersten Teil über den Antisemiten, während die anderen Teile, besonders der über den sogenannten authentischen Juden, fehlten. Adorno kommentierte die Ähnlichkeit zur eigenen Analyse postwendend: geradezu „amazing“, stellenweise bis ins konkrete empirische Detail – ohne dass Sartre je empirisch gearbeitet hätte! (Adorno 1948, 91) Sartre analysierte den Antisemitismus im Frankreich der Dritten Republik (Lanzmann 1987, 74), Horkheimer und Adorno den Nazideutschlands und – zunehmend im Laufe der vierziger Jahre – den der USA. Umso bemerkenswerter die Übereinstimmungen: „Though his terminology is completely different from our own, the nucleus of insight is almost the same.“ (Adorno 1948, 92) Der entscheidende Unterschied lag im Prinzipiellen, in der Frage der Handlungsfreiheit. In Sartres Existentialismus hat der Antisemitismus keine systematische

16Adorno

in Brief an Horkheimer, 02.10.1941 (Adorno/Horkheimer 2004, 255).

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Bedeutung für die Gesamtphilosophie. Der Mensch ist frei. Seine Freiheit stellt ihn immer vor eine Wahl. Diese Bestimmung der conditio humana gilt auch für die Anwendung seiner Philosophie auf die Judenfrage; der Antisemit wählt den Antisemitismus. Sartre interpretiert, wie Adorno sagte, den Antisemitismus in Termini der Individualität. „While the emphasis on the over-all structure of the anti-semitic individuality is most productive, it is nevertheless impossible to isolate this individuality, to treat it as an absolute, and to blind oneself to its functioning as an agency of social repression. However, closer scrutiny of Sartre’s apparently individualistic concept of the anti-semite shows that even the Kierkegaardian assertion of the ‚self-chosen‘ attitude of the anti-semite contains an element of truth.“ (Adorno 1948, 93) Für die Kritische Theorie hat der Antisemitismus systematische Bedeutung. Sie behandelt ihn soziologisch, aus den objektiven Bedingungen der Sozialstruktur. Sozialpsychologisch gesehen spiegeln sich die Antagonismen der Klassengesellschaft im sogenannten „Sozialcharakter“ der Einzelnen, in deren Selbstunterwerfung unter die Unfreiheit, ja Flucht vor der Freiheit. „In our categories, the element of choice, stressed so heavily by Sartre, would be interpreted as implying that the paranoid system to which the anti-semites stick desperately and collectively, actually serves the purpose of constructing a pseudoreality which, being a ‚closed system‘ of delusions, cannot be refuted and thus offers a considerable degree of intellectual security. […] Finally, the main characteristic of the fascist character, the ambivalence between authoritarian submissiveness and destructive rebelliousness, is traced by Sartre“ (Adorno 1948, 94). Der moderne Mensch ist der Kritischen Theorie zufolge unfrei, im Marx’schen wie Freud’schen Sinn. Ihre eigentliche Differenz zu Sartres Denken dieser Zeit liegt dennoch weder in der Frage der Individuen noch der der Strukturen: Auch das Engagement in der Selbstwahl ist immer ein Prozeß kollektiven Handelns. Aber bei Sartre können Strukturen prinzipiell durch die Subjektivität aufgelöst werden. Selbst wenn der Fall unwahrscheinlich ist – würden alle sich gegen den Antisemitismus entscheiden, ließe sich seine Objektivität auflösen. Das wäre der Kritischen Theorie zufolge nicht möglich. In Anspielung auf Marx’ Judenfrage heißt es in der Dialektik der Aufklärung: „In der Befreiung des Gedankens von der Herrschaft, in der Abschaffung der Gewalt, könnte sich erst die Idee verwirklichen, die bislang [1944: im Liberalismus] unwahr blieb, daß der Jude ein Mensch sei. Es wäre der Schritt aus der antisemitischen Gesellschaft, die den Juden wie die andern in die Krankheit treibt, zur menschlichen.“ (DdA, 230)

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3 Die Juden und Europa 1913 Der Parnass ist ein Gebirgsgipfel in Griechenland, an dessen Fuß Delphi liegt, der Mittelpunkt der antiken Welt und heiliger Ort des Orakels. Er ist Sitz des Apoll, des Gottes der Künste und Musik, des Beschützers der Musen. Goldsteins „Deutsch-Jüdischer Parnass“ von 1912 ist eine bitterböse, sarkastische, hochpolemische Intervention mit einem echten Mehrwert an Pathos. Auf dem deutschen Parnass sitzen die Juden: „[A]uf allen Posten, von denen man sie nicht gewaltsam fernhält, stehen plötzlich Juden; die Aufgaben der Deutschen haben die Juden zu ihrer eignen Aufgabe gemacht; immer mehr gewinnt es den Anschein, als sollte das deutsche Kulturleben in jüdische Hände übergehen. Das aber hatten die Christen, als sie den Parias in ihrer Mitte einen Anteil an der europäischen Kultur gewährten, nicht erwartet und nicht gewollt. Sie begannen sich zu wehren, sie begannen wieder uns fremd zu nennen, sie begannen, uns im Tempel ihrer Kultur als eine Gefahr zu betrachten. Und so stehen wir denn jetzt vor dem Problem: Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht.“ (Goldstein 1912, 283) Es verschärfte die Provokation, dass ausgerechnet in der Zeitschrift Der Kunstwart ein öffentlicher Streit über das jüdische Problem ausgetragen wurde (hätte man sie verschärfen können). Im Umfeld der Lebensreformbewegung angesiedelt, hatte die Kulturzeitschrift – vor dem Ersten Weltkrieg mit einer Auflage von gut über 20.000 Exemplaren – ein schillerndes, in Teilen völkisches Profil. Begründet für ein bildungsbürgerliches Publikum, war ihr Schriftleiter Wilhelm Stapel, promovierter Kunsthistoriker und Publizist; 1919 wurde er Chefredakteur der Antisemiten-Zeitschrift Deutsches Volkstum. Dass Goldstein hier seinen Artikel veröffentlichte, war nicht ganz freiwillig. Erst nach längerem Suchen fand er im Kunstwart überhaupt ein Blatt jenseits jüdischer Zeitungen, welches sich bereit fand, so etwas zu drucken. Der Kreis der Adressaten war damit offen: die Antisemiten und die Juden. Für Goldstein war es ein Kampf mit zwei Fronten: die Antisemiten auf der einen und die Juden auf der anderen Seite als „unsre schlimmeren Feinde, die Juden, die nichts merken, die unentwegt deutsche Kultur machen, die so tun, als ob, und sich einreden, man erkenne sie nicht“ (Goldstein 1912, 294). Der Artikel war ein Appell an die Juden zur Besinnung auf den eigenen Wert, statt sich der Illusion einer Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft hinzugeben und damit selbst zu verleugnen: Denn auch wenn die Juden sich ganz deutsch fühlten, „die andern fühlen uns ganz undeutsch“ (ebd., 286). Wie heikel eine solche Selbstkritik war, war Goldstein bewusst: „Von gewissen Dingen zu reden,

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verbietet das Schamgefühl. Ein höheres Interesse aber kann uns zwingen, […] offen von einer Sache zu reden“ (281). In der Redaktion des Kunstwart gingen in kurzer Zeit so viele Zuschriften und Manuskripte ein, dass sie im selben Jahr in zwei weiteren Heften in Auswahl gedruckt wurden.17 Auch in anderen Zeitschriften wurde die sogenannte Kunstwart-Debatte geführt. Von Goldstein ironisch als regelrechter „Kulturkampf“ beschrieben, war sie die große Kontroverse über Selbst- und Fremdbeschreibungen der deutschen Juden vor dem Ersten Weltkrieg. Ihr Kern taucht in immer neuen Folgedebatten wieder auf, selbst Scholems Protest gegen die Behauptung, es habe ein „deutsch-jüdisches ‚Gespräch‘“ gegeben – wenn überhaupt, dann habe es nur als einseitige Wunschvorstellung deutscher Juden existiert. (Scholem [1964] 1970) Das sagte auch Goldstein im Parnass. 1913 schlug Goldstein in der liberalen Zeitschrift Die Grenzboten mit „Die Juden und Europa“ einen eigenen Weg ein in der Frage, wohin die Dissimilation gehen sollte. Mit Theodor Herzls Satz „wir sind ein Volk, ein Volk“ definierte er die Juden zwar auch nicht mehr als Religion oder gar mosaische Konfession, sondern als Nation: „Wenn alle Welt unreligiös – im bisherigen Sinne des Wortes – und, mit Nietzsche zu sprechen, amoralistisch werden will, warum sollen wir Juden, wir ehrgeizigen Europäer, beim lieben Gott […] verharren?“ (Goldstein 1913, 546) Wie der Titel schon sagte, bezog sich „Die Juden und Europa“ aber nicht nur auf die Juden, sondern auch auf Europa: „Die Juden und Europa sind für Nietzsche ein Thema.“ (Stegmaier 2000, 67). In den Juden sah er die Hoffnung auf ein gutes Europa. Als guter Schüler Nietzsches machte Goldstein sich Die fröhliche Wissenschaft zu eigen. Gott war tot, die Juden waren Nietzsches „Heimatlose“ par excellence, die guten Europäer. (Vgl. Nietzsche [1882, 1887], 377) Herzls politischen Zionismus und die Idee der Gründung eines jüdischen Staats hielt Goldstein für eine naive, ja gefährliche Assimilation an Europa. Die Juden waren eine Nation, aber keine Nation wie die anderen und das sollten sie auch nicht werden. Sie sollten „hypereuropäisch“ werden. „Seltsamer Kreislauf! Nachdem wir einen und vielleicht den stärksten Anstoß zur Bildung des geistigen Europa gegeben haben, nachdem wir lange Jahrhunderte nur unterirdisch im Strom der europäischen Entwicklung mitgeführt wurden, nachdem wir endlich zum modernen Europäismus erwacht sind und aus ihm die Kraft zu nationaler Wiedergeburt gezogen haben: stellen wir uns nun, als letzte Konsequenz europäischer Lehren, entschlossen außerhalb Europas. Wir werden hypereuropäisch, und zum zweiten Male im Laufe der Weltbegebenheiten geht von Judäa das Heil aus.“ (Goldstein 1913, 554)

17In Teilen

dokumentiert und kommentiert in: Schoeps et al. (2002); vgl. insbes. Voigts (ebd.).

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Goldstein intervenierte als nietzscheanischer Jude, im Stil und in der Sache, doch war er, wie Kenner wie Kurt Blumenfeld angemerkt haben, kein Zionist (Blumenfeld 1962, 58). Der Zionismus war antieuropäisch – nicht nur der politische Zionismus Herzls, auch der Kulturzionismus. Goldstein war ein guter Europäer. Er hielt es für absurd, dass ausgerechnet die Juden in Palästina einen neuen Nationalismus in Gang setzen wollten, nachdem die klassischen Nationalstaaten sich in ein postnationalistisches Europa aufzulösen schienen: schlechte Assimilation durch falsche Dissimilation. Der politische Zionismus Herzls, 1912 nicht mehr als ein publizistischer Appell, schien ihm vor dem Hintergrund Nietzsches anachronistisch. Die Juden seien ein Volk, aber nicht irgendeines wie jedes andere, sondern durch ihre 2000jährige Geschichte das Volk der Idee. Nicht irgendeiner Idee, sondern einer spezifischen Idee, der des Monotheismus, des Glaubens an den einen Gott, der Idee der Gerechtigkeit. Auch säkular konnten die Juden als das auserwählte Volk gedacht werden, das Volk, das den europäischen Nihilismus überwinden konnte (Stegmaier/Krochmalnik 1997, 27). Aber man würde Goldstein nicht gerecht, wenn man es beim Pathos beließe und die Ironie vergäße: „Die Juden haben die Idee von Gottes Gerechtigkeit hoch gehalten, trotzdem sie ihre nationale Selbständigkeit sinken sahen […], das Volk in alle Winde zerstreut wurde und durch das Martyrium der tiefsten Demütigung hindurchmußte. Es war eher bereit, sich selbst die schwersten Sünden zuzuschreiben, als sein Schicksal für unverdient und Gott für ungerecht zu halten. Ja, es hat nicht aufgehört zu glauben, daß es ein besonderer Liebling des Himmels sei. Der Einfall, dieses kleine, verachtete und getretene Völklein, diese Handvoll entrechteter Menschen sei das auserwählte Volk Gottes und leide, um sich seiner herrlichen Zukunft würdig zu machen, dieser närrische, aller Wirklichkeit Hohn sprechende Einfall, erschütternd in seiner grandiosen Tragikomik, zeigt wie kaum ein anderes Beispiel, was der Geist über den Leib vermag; es verrrät auch, daß die eigentliche Kraft der Juden in der Idee liegt. Denn die Donquixoterie, sich als auserwähltes Volk zu fühlen, hat die Juden jahrtausendelang beherrscht und buchstäblich erhalten“ (Goldstein 1913, 549). Die Gründung eines jüdischen Staats in Palästina konnte Goldstein zufolge bestenfalls für die noch ungeborenen Generationen der Zukunft eine Hoffnung sein.18

18Moritz

Goldstein (1880–1977) wurde nach dem Ersten Weltkrieg einer der berühmtesten Gerichtsreporter der Weimarer Republik. Durch die Nazis seines Berufs beraubt und vertrieben, ging er nach Italien und auf Umwegen 1947 in die USA, wo er, der der deutschen Sprache so verhaftet war, nie wirklich Fuß fasste. Israel nach der Staatsgründung 1948 war für ihn kein Weg. Er starb mit 97 Jahren in New York. 1977 notierte er: „‚Ich habe meinen Aufsatz ‚Deutsch-jüdischer Parnass‘, erschienen 1912, wiedergelesen, zum Teil mit lebhafter Zustimmung‘.“ Goldstein zitiert nach Albanis (2002, 203).

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Nietzsche hatte mit soziologischem Feingefühl erkannt, dass die Juden zu einer führenden Trägerschicht für den Kosmopolitismus geworden waren. Diese Einsicht kehrt als implizites und explizites Nietzsche-Zitat in Goldsteins Texten wieder; das antisemitische Stereotyp des kosmopolitischen Juden kehrt sich in sein Gegenteil um. Die Schonungslosigkeit Goldsteins war der Tabubruch, so Scholem, und eine erhellende Tat, so Blumenfeld. Die Empirie konnte niemand leugnen: Eine Minderheit – man vergleiche nur die Daten von Veblen, Scholem oder Volkov – bestimmte in wichtigen Bereichen die deutsche Kulturlandschaft (Veblen 1919, Scholem 1978, Volkov 1990). Von Hannah Arendt stammt die wissenssoziologische Beobachtung, dass das, was Scholem das „jüdische Problem“ und sie „die jüdische Frage“ nannte, eine Frage war, wie sie in dieser Form nur unter den gebildeten deutschsprachigen Juden Westeuropas seit den 1870er Jahren diskutiert wurde, bis sie von der Katastrophe regelrecht weggewischt wurde: Die jüdische Religion war für große Teile der in assimilierten oder zum Christentum konvertierten Familien aufgewachsenen deutsch-jüdischen Intelligenz faktisch bedeutungslos geworden und dennoch beherrschte ihre jüdische Herkunft ihr gesamtes soziales Dasein. Wie unbedeutend dieses jüdische Problem auch später, im Licht des ­Völkermords, scheinen mag: weder Benjamin, Kafka, Kraus noch viele andere könnten verstanden werden, ohne es zu begreifen. Goldsteins „Parnass“ beschrieb dieses Problem und wurde endlos diskutiert (Arendt 1968, 29 f.). Selbstbeschreibungen und Fremdbeschreibungen des Jüdischseins klafften nicht nur zwischen Juden und Antisemiten, sondern auch unter Juden auseinander. Das Modell der Assimilation an die christliche Mehrheitsgesellschaft zur Zeit der Aufklärung und Moses Mendelssohns, des humanistischen Ideals einer allgemeinen Menschheit, wurde seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend kritisch als Verlust von Tradition und Besonderheit diskutiert. Gegenläufige Bestrebungen einer Dissimilation, die Besinnung auf die Jüdischkeit, ob in Gestalt einer jüdischen Renaissance wie beim jungen Martin Buber mit der Idealisierung des Ostjudentums, des politischen Zionismus Herzls oder des Kulturzionismus’ von Achad Ha’am (Ascher Ginsberg) wurden breit reflektiert. Die sogenannte Ostjudenfrage gewann für diesen innerjüdischen Diskurs ebenso große Bedeutung wie für den Antisemitismus im Deutschen Reich: Die Zuwanderung von Ostjuden, so Volkov, hielt für die assimilierten Juden das negative jüdische Bild lebendig, da die Ostjuden alles darstellten, was sie nicht sein wollten: Kaftanjuden (Volkov 1990, 171 f.). Umgekehrt war gerade die Idealisierung der Ostjuden, wie sie sich auch in der Dissertation des jungen Erich Fromm findet, Inbegriff der jüdischen Renaissance der Dissimilationisten (Fromm 1922).

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Der jüdische Nietzscheanismus bot eine Alternative zu Orthodoxie und Zionismus (Niewöhner 1997, 25). Wenn Assimilation einen Prozess bedeute, in dessen Verlauf eine Gruppe einer anderen ähnlicher werde, so Volkov, könne man fast sagen, die deutsch-jüdische Entwicklung kehrte sich um (1990, 145). Goldstein brachte den Dissimilationsprozess mit dem wachsenden Individualismus der modernen Gesellschaft in Verbindung, der sich im (jüdischen) Nationalismus ausdrücke. Arendts wissenssoziologische Beobachtung findet sich durch die Sozialgeschichte empirisch bestätigt. Der jüdische Nietzscheanismus mag angesichts der nationalsozialistischen Nietzsche-Rezeption überraschen – doch abgesehen davon, dass das ein Anachronismus ist, vernachlässigt es, welch widersprüchliches Spektrum endloser Lesweisen Nietzsche (jenseits seiner unbestreitbaren Ambivalenz gegenüber den Juden) selbst bewusst erzeugte und damit als wirklicher Denker der Moderne reflektierte. (Vgl. Sommer, 191 ff.) Selbst in einem so engen Kreis wie dem der Kritischen Theorie waren die verschiedensten Lesweisen (manchmal durch denselben Leser!) möglich.19

4 Die Juden und Europa 1939 1939 erschienen Bubers Notiz über „Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose“ und Horkheimers Aufsatz über „Die Juden und Europa“ (Buber [1939], Horkheimer 1939). Es überrascht, dass Horkheimers Beitrag bis heute nicht in diesem Kontext gesehen wurde. Horkheimer selbst war sich der Provokation von Text und Kontext bewusst; er nannte ihn die „Judenglosse“. Eine Glosse ist das Gegenstück zur sachlichen Information; sie ist subjektiv und meinungsbildend. Immer wieder verschob er die Publikation. Horkheimer war voller Zweifel. In einem vertraulichen Brief an eine Freundin schrieb er, er sei nicht sicher, „ob diese Glosse in der Zeitschrift noch tragbar ist. Einerseits meine ich, wir müßten […] endlich einmal ein klares Wort über den Gegenstand bringen. Auf der andern Seite will ich jedoch die Grenze dessen, was in einem wissenschaftlichen Organ noch tragbar ist, nicht überschreiten. Da ich mich nicht entscheiden konnte, habe ich die Glosse schon das letzte Mal zurückgestellt. […] Der Text ist an einzelnen Stellen etwas verklausuliert. Du wirst sie leicht erkennen. […] Die Glosse soll nicht an erster Stelle stehen. […] Mein faux pas wird dadurch vielleicht kompensiert.“ (Brief an Katharina von Hirsch, Horkheimer 1939, 614 f.)

19Man vergleiche nur Adorno und Horkheimer: Adorno et al. (1950b). Vgl. Rath (2016); Saar (2017).

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Goldstein und Horkheimer hatten eine gemeinsame Frage: Woher kam die Hartnäckigkeit der Illusion der Assimilation oder, wie Scholem es nannte, des Selbstbetrugs vieler Juden? In Die Juden und Europa schrieb Horkheimer: „Die praktische Anpassung mag für das Individuum unausweichlich sein, die Verschleierung der Gegensätze zwischen dem Begriff des Menschen und der kapitalistischen Wirklichkeit bringt das Denken um jede Wahrheit. Wenn die Juden die Vorgeschichte des totalitären Staats, Monopolkapitalismus und Weimarer Republik, in verständlichem Heimweh verklären, so behalten die Faschisten gegen sie recht. […] Die Milde gegenüber den Schäden der bürgerlichen Demokratie, das Liebäugeln mit den Mächten der Reaktion, soweit sie nur nicht zu offen antisemitisch war, das Einrichten im Bestehenden ist schon damals die Schuld der heutigen Refugiés gewesen.“ (Horkheimer 1939, 135) Auch für Horkheimer war Palästina keine Option.20 Von Goldsteins Pathos einer hypereuropäischen Apotheose des Judentums war er jedoch ebenso weit entfernt. Ende der dreißiger Jahre, seit 1933 aus Deutschland vertrieben, sah er sich im New Yorker Exil nicht nur mit Europa, sondern auch den USA konfrontiert – und den Juden der USA. Dort existierte ein komplexes Spektrum orthodoxer und heterodoxer Positionen amerikanischer Juden, das in seinen Widersprüchen den für das Deutsche Reich so bezeichnenden Widerspruch von Assimilationisten und Dissimilationisten geradezu idealtypisch im Gegensatz von zwei Verbänden, dem American Jewish Committee und dem Jewish Labor Committee, widerspiegelte – bis hin zum Konflikt zwischen Ost- und Westjuden, worin sich auch eine Sozialstruktur abbildete. Es war Zufall, dass es in den vierziger Jahren diese beiden sein sollten, mit denen Horkheimer in den Antisemitismusprojekten kooperieren und zwischen deren entgegengesetzten Positionen er mehr recht als schlecht jonglieren sollte (Ziege 2009, 81 f.). In „Die Juden und Europa“ war die amerikanische Konstellation schon entschlüsselt worden.21 „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ (Horkheimer 1939, 115) Deshalb beginnt die „Judenglosse“ mit einer ebenso wilden wie manchmal fast schon poetischen, hyperbolischen Polemik, die auf langen Seiten eine historisch-materialistische Interpretation der

20Vgl.

zu Horkheimers Haltung zum Zionismus Boll (2013, 362 ff.), Jacobs (2015, 132 ff). erste Forschungsbericht für das AJC diskutiert die Abwehrstrategie des ‚Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘, um Strategien für Nordamerika zu entwickeln: Vgl.: The Defense Policy of the Central-Verein Deutscher Staatsbuerger juedischen Glaubens, in: Studies in Antisemitism, MHA IX 121a, 128–134. Ein Manuskript ging 1944 an das AJC: Some Proposed Technical Projects for Combating Antisemitism. 21Der

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Staatskapitalismusthese ausbuchstabiert (Gangl 1998, 159). Ein Zusammenhang von Liberalismus und Faschismus wird entfaltet, bevor – erst am Ende – überhaupt die Juden angesprochen werden. Horkheimer wollte zeigen, dass die Juden überflüssig wurden, nachdem die Gesellschaft in eine andere Funktionsweise des Kapitalismus übergegangen war, in einen postliberalen Zustand. Hier ist die Zirkulationssphäre des freien Markts liberaler Wirtschaftsordnungen durch eine staatlich gesteuerte Ökonomie ersetzt, ob im Vierjahresplan der Nazis oder im Staatsinterventionismus des New Deal in den USA (den Friedrich August von Hayek wie Horkheimer als Vorstufe zu einer totalitären Ordnung nach deutschem Vorbild einstufte, woraus sie aber jeweils entgegengesetzte Konsequenzen zogen) (Hayek 1944). Die Staatskapitalismusthese war keine Schrulle Pollocks oder Horkheimers. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 führte die schwere Erschütterung der kapitalistischen Gesellschaften in vielen Ländern „zu relativ ähnlichen Ergebnissen“ in Gestalt staatlicher Eingriffe in die freie Wirtschaft (Eisenstadt 1978, 10). Mit dem Verlust der ökonomischen Funktion der Juden für den freien Markt verlor ihre Emanzipation, ein Relikt des Liberalismus, ihren Sinn. „Im Führerstaat werden die, die leben und die sterben sollen, vorsätzlich designiert.“ (Horkheimer 1939, 131) Weil die Juden überflüssig geworden waren, konnten die Nazis an ihnen als ersten ihre Gewaltlogik exemplifizieren. Die Gewalt gegen Juden entlarvte die dem liberalen Kapitalismus immanente Gewaltlogik, von der die Juden selbst durch ihre Emanzipation in der antagonistischen Klassengesellschaft profitiert hatten. „Selbst die französische Revolution, die der bürgerlichen Wirtschaft politisch zum Sieg verhalf und den Juden die Gleichheit gab, war zweideutiger, als sie sich heute träumen lassen. Nicht die Ideen sondern der Nutzen bestimmt das Bürgertum.“ (Horkheimer 1939, 129) Der Übergang in ein postliberales Stadium des Kapitalismus galt Horkheimer zufolge nicht nur für das Deutsche Reich, selbst Indien und China sah er inzwischen von der gleichen Spannung erfüllt wie die hochkapitalistischen Länder (Horkheimer 1939, 128, vgl. Schivelbusch 2005). Die liberalistischen Ordnungen waren die Vorgängerinnen der totalitären Ordnung. Das aber wollte Horkheimer, der in den USA Zuflucht gefunden hatte, nicht ausdrücklich sagen: „Dass die Emigranten der Welt, die den Faschismus aus sich erzeugt, gerade dort den Spiegel vorhalten, wo sie ihnen noch Asyl gewährt, kann niemand verlangen.“ (Horkheimer 1939, 115) Horkheimer zitierte Kants Metaphysik der Sitten: „‚dass es ein kategorischer Imperativ sei: Gehorchet der Obrigkeit‘“: Der späte Kant sei von den Freiheitsrechten der unteren Schichten auch nicht viel überzeugter gewesen als die

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dunklen Philosophen des Bürgertums (Horkheimer 1939, 124 f.). Mit der Attacke auf Kant verschärfte er die Aggressivität noch, denn in der jüdischen Philosophie seit der Aufklärung bis hin zum Neukantianismus Hermann Cohens stellte Kant gewissermaßen einen „neuen Moses“ dar (in den Worten Hölderlins: „Kant ist der Moses unserer Nation, der sie aus der ägyptischen Erschlaffung in die freie einsame Wüste seiner Speculation führt, und der das energische Gesetz vom heiligen Berge bringt“ (Hölderlin [1779] 1954, 304). Horkheimers Provokation traf den philosophischen Kern der jüdischen Assimilation in Westeuropa. Die Adressaten waren aber nicht nur die in die Welt vertriebenen Juden aus Europa, sondern auch die Juden in den USA. Letztlich war Horkheimers Kritik eine Selbstkritik, Adressat und Sprecher waren identisch. Die jenseits des Atlantiks alteingesessenen Juden sollten ihrerseits nicht der Illusion erliegen, ‚Zuhause‘ zu sein. Mit dem ‚Zuhause‘ findet sich ein wiederkehrendes Motiv dieses jüdischen Diskurses.22 An den Flüchtlingen aus Europa drohte wie bei den Ostjuden im Deutschen Reich die Solidarität zu zerbrechen: „Wer in England und Frankreich noch mit den Ariern über die Steuern schimpfen darf, sieht die flüchtigen Rassegenossen nur ungern über die Grenze kommen […]. Die Ankömmlinge haben eine schlechte Aussprache und unbeholfene Manieren im neuen Land. Man sieht es den Koryphäen nach. Die anderen sind wie Ostjuden oder noch Schlimmeres: politisch Anrüchige. Sie kompromittieren die eingesessenen, die sich da zuhause fühlen und die wiederum den eingesessenen Christen auf die Nerven gehen. Als ob der Begriff des Zuhause in einer grauenvollen Wirklichkeit nicht jedem einzelnen der Judenheit, die es seit Jahrtausenden erfahren hat, ein Zeichen der Lüge und des Hohnes sein sollte, als ob die Juden, die sich irgendwo noch eingesessen wähnen, im Innersten nicht wüssten, dass sich die saubere Hausordnung, von der sie profitieren, morgen schon gegen sie selbst kehrt.“ (Horkheimer 1939, 131) Die letzten Seiten der Glosse münden in einen vielschichtigen, komplexen Schluss, 1) mit einem Zitat aus dem Leviathan des ‚dunklen‘ Philosophen Thomas Hobbes von 1651, 2) einer fast rätselhaften Umkehrung der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1821 und 3) einer Goldsteinschen Hoffnung auf Rettung Europas durch die Juden. Ad 1. ‚vogelfrei‘ (Horkheimer 1939, 124) „Wer jedoch an einer beschränkten menschlichen Ordnung teilhat, darf sich nicht wundern, wenn er gelegentlich selbst unter die Beschränkungen fällt. Einer

22Man

vgl. etwa Scholem ([1966], 32): „Das unendliche Verlangen, nach Hause zu kommen, verwandelte sich bald in die ekstatische Illusion, zu Hause zu sein.“

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der grössten bürgerlichen Philosophen hat zustimmend festgestellt: ‚dass einem unschuldigen Mann, der kein Untertan ist, irgendein Übel zugefügt wird, wenn es nur für das Wohl der Allgemeinheit und ohne Verletzung einer vorhergehenden Abmachung geschieht, ist kein Bruch des Naturgesetzes. Denn alle Menschen, die keine Untertanen sind, sind entweder Feinde oder sie haben durch frühere Abmachungen aufgehört, solche zu sein. Feinde aber, welche nach Ansicht des Staats ihm gefährlich sind, darf man nach dem ursprünglichen Naturrecht bekriegen […].‘ Einer, der nicht dazugehört, nicht durch Verträge geschützt ist, hinter dem keine Macht steht, ein Fremder, ein blosser Mensch, ist restlos preisgegeben.“ (Horkheimer 1939, 134; vgl. Hobbes [1651], 219 [165]) Das Zitat aus Hobbes’ Leviathan stammt aus Kap. 28, „Von Strafen und Belohnungen“. Der Mord an einem Unschuldigen, der kein Untertan ist, verstößt nicht gegen das Naturrecht, denn der Naturzustand, der Kampf aller gegen alle, ist wiederhergestellt, der Gesellschaftsvertrag mit der Exklusion aus der Gemeinschaft der Untertanen außer Kraft gesetzt. Die Juden der Moderne sind durch den Verlust der Staatsbürgerschaft der Vernichtung schutzlos preisgegeben. Ad 2. Das Bestehende ist das Schlechte „Aber es gibt Perioden, in denen das Bestehende in seiner Kraft und Tüchtigkeit das Schlechte geworden ist.“ (Horkheimer 1939, 135 f.) Bei Hegel zeigt sich die Vernunft des Weltgeists in dem, was ist. Horkheimer spielt auf Hegels so berühmten wie berüchtigten Satz an: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ (Hegel [1821], 24) In der Umkehrung verschiebt sich der Diskurs über den Fortschritt in der Geschichte. Es ist nicht vernünftig, was wirklich ist. Die Geschichte scheint sich von der Freiheit zur Unfreiheit zu entwickeln. Das jüdische Problem hebelt die Eindimensionalität der Hegelschen Geschichtsphilosophie aus und führt den Weltgeist ad absurdum. Ad 3. Die Juden, das auserwählte Volk „Die Juden sind einmal stolz gewesen auf den abstrakten Monotheismus, die Ablehnung des Bilderglaubens, die Weigerung, ein Endliches zum Unendlichen zu machen. Ihre Not heute verweist sie darauf zurück. Die Respektlosigkeit vor einem Seienden, das sich zum Gott aufspreizt, ist die Religion derer, die im Europa der Eisernen Ferse nicht davon lassen, ihr Leben an die Vorbereitung des besseren zu wenden.“ (Horkheimer 1939, 136) Diese Sätze sind mit Goldstein zu deuten: Von den Juden ist die Gerechtigkeit Gottes erfunden worden (Goldstein 1913, 548). Das Europa der Eisernen Ferse bezieht sich auf die geniale Dystopie The Iron Heel des zu Unrecht als Abenteuerschriftsteller wahrgenommenen Autors Jack London. Der Roman handelt von der Entstehung einer totalitären, 300 Jahre währenden Oligarchie, die Orwells 1984 noch übertrifft (London 1907). Gegen diese Dystopie repräsentieren die Juden, das auserwählte Volk, die utopische Hoffnung auf Glück.

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5 „Zweite Beschneidung“ Die textkritische Edition der Dialektik der Aufklärung von Gunzelin Schmid Noerr zeigt, dass das Buch zwei Autoren hat, für die die Bruchlosigkeit ihres Denkens eher eine ideale als eine faktische war (Schmid Noerr 1987, 425 ff.). Dass man sie oft wie einen behandelt, liegt auch an Horkheimer und Adorno selbst. Seit Mitte der vierziger Jahre begannen sie zu betonen, ihre Philosophie sei eine. Als aber in den sechziger Jahren die Frage einer Neuauflage der Dialektik der Aufklärung aufkam, war Horkheimer ebenso dagegen wie Adorno dafür. Dieser Unterschied lässt sich leicht aus dem Kontext ihrer jeweiligen Textproduktion erklären: Dem Textkorpus Adornos fügt sich der schmale Band mühelos ein, nicht zuletzt, weil er so viel und so variationsreich wie wenige schrieb und seine Texte ebenso Disziplinen (Philosophie, Soziologie, Musiktheorie, Literaturtheorie …) wie Methoden transzendierten. Adorno verwirklichte in der Retrospektive in der Tat, was Horkheimers Arbeitsprogramm für das Institut für Sozialforschung Anfang der dreißiger Jahre als Ziel skizziert hatte: Fortsetzung der Philosophie mit sozialwissenschaftlichen Mitteln (Habermas 1992, 92). Das zeigt sich besonders in seinen Beiträgen zu The Authoritarian Personality (1950), dem Band, in dem er mit einer Autorengruppe einen bis heute in vielem nicht überholten Klassiker der Vorurteilsforschung schrieb. Wie eng die Arbeit an der Dialektik der Aufklärung mit der empirischen zusammenhing, lässt sich heute aus den Briefen erschließen. Im November 1944 schrieb Adorno etwa über The Authoritarian Personality: „Eine Anzahl der Fragen [für die Fragebögen] habe ich durch eine Art von Übersetzungsarbeit aus den ‚Elementen des Antisemitismus‘ ausdestilliert“.23 Für Horkheimer gilt anderes, wie Habermas an den Verläufen seiner Textproduktion herausgearbeitet hat: eine Zeitspanne der intensiven Produktivität während der dreißiger Jahre in zahlreichen Beiträgen zur Zeitschrift für Sozialforschung vor der Dialektik der Aufklärung und die Zeit von 1941 bis 1944 mit der gemeinsamen Arbeit am Buch. Für die Zeit danach spricht Habermas von der Dauer einer „eigentümlich gehemmten Produktivität“, für die nicht zuletzt Horkheimers Position als Direktor eines laufenden Betriebs verantwortlich gewesen sei. Hier habe es eine Wendung zu einer negativistischen Geschichtsphilosophie gegeben (Habermas 1992, 93, 108 f.). Diese Einschätzung Habermas scheint nicht besonders plausibel, wenn man die Gesammelten Schriften und die hier

23Adorno

in Brief an Horkheimer, 09.11.1944 (Adorno/Horkheimer 2004, 347).

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diskutierten Texte nüchtern betrachtet. Letztlich waren Horkheimers Texte philosophisch und oft aphoristisch, neben Gebrauchstexten aus aktuellen Anlässen und solchen für die akademische Lehre, wenn man von der Dialektik der Aufklärung absieht. Das Jüdische fand sich schon in den Jugendschriften. Die „Judenglosse“ wollte Horkheimer nicht mehr publizieren: Nach 1945 lehnte er den Nachdruck wiederholt ab. Zu bewusst war er sich der Provokation, die er 1939 gegen alle inneren Widerstände für seine Pflicht gehalten hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Völkermord und der Gründung des Staates Israel 1948 gab es eine neue Situation; die Diskussion war obsolet. Als Ende der fünfziger Jahre, an sich aus guten Gründen, die Idee aufkam, Auszüge des Textes in eine als Fischer-Taschenbuch prominente, „das“ deutsche Judentum wenige Jahre nach der Katastrophe nachgerade musealisierende Anthologie aufnehmen zu wollen – Selbstzeugnisse des deutschen Judentums 1870–1945 –, wies Horkheimer das schlicht von sich: „Die Arbeit ist damals in Amerika erschienen und hatte zum Teil die Aufgabe, die außerhalb Deutschlands lebenden Juden an ihre Pflichten zur Aufnahme der von Hitler Verfolgten zu erinnern. Heute könnte der Artikel in einem ganz anderen Sinn wirken, nämlich als eine Absage an Israel und die Juden in Deutschland selbst.“24 In seinen Notizen verhielt Horkheimer sich in den sechziger Jahren jedoch, bei aller zeitlichen Differenz, post festum ganz ähnlich der Goldstein’schen Position vor dem Ersten Weltkrieg: „[Israel] hat sich dem Zustand der Welt assimiliert.“ (Horkheimer [1961/62] 1991, 369) Mit einem jüdischen Staat – und „Staat“ heißt nach der klassischen Definition Webers Herrschaft mit dem Monopol der legitimen physischen Gewalt – verschwand das, was die Juden symbolisierten: die utopische Hoffnung auf „Glück ohne Macht“ (DdA, 202). Hier zeigt sich die Radikalität der Dialektik der Aufklärung und von „Die Juden und Europa“. 1968, als Beiträge Horkheimers aus der Zeitschrift für Sozialforschung in zwei Bänden über Kritische Theorie republiziert werden durften, war „Die Juden und Europa“ nicht dabei. Lesen konnte man den Text trotzdem, im Raubdruck der Studentenbewegung, deren Protagonisten indes nur am Zusammenhang von Kapitalismus und Antisemitismus, nicht aber am jüdischen Problem interessiert waren oder es wahrscheinlich nicht einmal erkannten.

24Horkheimer,

Brief an Achim von Borries, 07.07.1958 (Horkheimer, [1949–1973] 1996b, 423). Horkheimers Aufsatz fehlte deshalb in dem Band: Borries (1962). Zu Horkheimers Haltung zum Staat Israel nach 1948 vgl. Jacobs (2015, 133 ff.).

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Dass Horkheimer die Glosse nicht mehr publizieren wollte, hatte letztlich den gleichen Grund, aus dem Sartre 1945 in den Réflexions die Analyse des unauthentischen Juden nicht sofort publizierte. Er fürchtete, missverstanden zu werden. Sartre, Horkheimer, Arendt – sie zögerten wie schon Goldstein vor dem Ersten Weltkrieg, ihre Selbstkritik und die Ausdifferenzierung des Diskurses über das jüdische Problem angesichts des Antisemitismus öffentlich zu diskutieren25 (vgl. Goldstein 1957, 236 ff.). Die Dialektik von Aufklärung und Herrschaft im Sozialcharakter der Beherrschten aber ist ebenso gentil wie jüdisch. Diese Beobachtung findet sich in der „Judenglosse“, und auch in Adornos Versuch über Wagner: sowohl im Sozialcharakter Wagners selbst als auch in den Gestalten des Siegmund und des Siegfried im Wagner’schen Ring (Adorno 1939, 5 f.). In der Dialektik der Aufklärung ist sie Teil der Schlüsselthese des gesamten Buches: „Die dialektische Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft, das Doppelverhältnis des Fortschritts zu Grausamkeit und Befreiung, das die Juden bei den großen Aufklärern wie den demokratischen Volksbewegungen zu fühlen bekamen, zeigt sich auch im Wesen der Assimilierten selbst. Die aufgeklärte Selbstbeherrschung, mit der die angepaßten Juden die peinlichen Erinnerungsmale der Beherrschung durch andere, gleichsam die zweite Beschneidung, an sich überwanden, hat sie aus ihrer eigenen, verwitterten Gemeinschaft vorbehaltlos zum neuzeitlichen Bürgertum geführt, das schon unaufhaltsam zum Rückfall in die bare Unterdrückung, zu seiner Reorganisation als hundertprozentige Rasse vorwärts schritt.“ (DdA, 198) Die Juden waren – mit Lessings Ringparabel – die „letzten betrogenen Betrüger der liberalistischen Ideologie“ (DdA, 215). * Für Adorno stellten sich Probleme von Republikationen nicht. Nach 1947 hatte er zunehmend das Thema übernommen. Mit Aufsätzen wie „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“, „Meinung Wahn Gesellschaft“ oder „Erziehung nach Auschwitz“ erhielt er eine – in den frühen fünfziger Jahren bei der Rückkehr nach Westdeutschland noch völlig unvorstellbare – Publizität. Schwerpunkt wurde neben der universitären Lehre die sukzessiv zunehmende Intervention in die politisch-kulturelle Öffentlichkeit. Horkheimer und Adorno praktizierten eine Arbeitsteilung, in der Adorno in der Öffentlichkeit zunehmend die Rolle des Avantgardisten übernahm. Die Unterschiede zwischen ihnen hatten inhaltliche Folgen, denn Adornos Fokus lag

25Vgl.

nur: Arendt, Hannah, Brief an Scholem, 29.05.1939 (Arendt/Scholem 2010, 7).

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auf dem Antisemitismus, auch wenn er sich, besonders im Austausch mit Scholem, mit Aspekten des Judentums auseinanderzusetzen begann (Adorno 1967, 482). Horkheimer intervenierte, unauffälliger, in der Bildungspolitik und in der jüdischen Öffentlichkeit (Wiggershaus 2013, 192 ff., Boll 359 ff.). Die unerbittliche Selbstkritik, die Wiggershaus so eindrücklich herausarbeitet und die der Goldstein’sche Kern von Horkheimers „Die Juden und Europa“ ist, findet sich in ihrer Dramatik und auch ihrem Sarkasmus nur in nicht zur Veröffentlichung bestimmten Notizen: „Der Jude, der zurückkam, um zu helfen, daß es nicht wieder geschieht, ist ein Tor, der manchen Deutschen, die gegen den Schrecken ihr Leben gaben, die Treue hielt. Daß er jedoch dableibt, nachdem er wahrnimmt, wie das Nachkriegsdeutschland auf den Leichenbergen bloß Geschäfte macht, politische und kommerzielle, wie es je nach Gebrauch die sogenannte Vergangenheit bewältigt oder stillschweigend als Exportreklame einsetzt, wie die Obermörder wieder oben sitzen oder ihre Pensionen beziehen und die Anstifter und Nutznießer aufs neue ihren Rebbach machen – daß er das sieht und nicht so aufschreit, daß man ihn sogleich mundtot oder ganz tot macht, sondern dabei noch mittut, ist der letzten Verachtung wert.“ (Horkheimer [1961–1962] 1991, 361) Eine fraglose Existenz in Deutschland war Horkheimer unmöglich. 1959 zog er nach seiner Emeritierung in die Schweiz. Man darf nicht die symbolische Bedeutung vergessen, die die Wahl der Bestattung bedeutete und auch heute noch bedeutet. Horkheimer wurde nach jüdischem Ritus auf dem jüdischen Friedhof Berns bestattet, Adorno ohne religiöse Zeremonie auf dem Frankfurter Hauptfriedhof.

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Die Bedeutung der „Elemente des Antisemitismus“ für die Dialektik der Aufklärung Helmut König 1 Einleitung Die Elemente des Antisemitismus sind das fünfte und vorletzte Kapitel der Dialektik der Aufklärung. Das Kapitel ist ein Schlüsseltext der Kritischen Theorie – in mehrfacher Hinsicht. Erstens nimmt es innerhalb des Buches eine herausragende Stellung ein. Der Antisemitismus ist der zentrale Wahn des Nationalsozialismus und die Dialektik der Aufklärung ist der Versuch, wie es in der Vorrede heißt, zu verstehen, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaften menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (DdA, 16). Zum zweiten markiert die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, wie sie in den Elementen verdichtet entfaltet wird, die Zäsur, die die frühe Kritische Theorie der 1930er Jahre von ihrer späteren Gestalt trennt. Inhaltlich ist das die Entwicklung von den Annahmen des Historischen Materialismus und der ihm entsprechenden Ideologiekritik zur genealogischen Kritik, die nicht auf Marx zurückgeht, sondern auf Nietzsche und Freud. Drittens sind die in den Elementen vorgetragenen Überlegungen von wegweisender Bedeutung für das spätere Werk von Horkheimer und Adorno. Die Erfahrung des totalitären Antisemitismus ist für die Autoren der Dialektik der Aufklärung sowohl lebensgeschichtlich wie theorieund werkgeschichtlich einschneidend. Das Problem ist freilich, dass die Autoren der Dialektik der Aufklärung zwar die Gewissheiten des Historischen Materialismus aufgeben, an ihre Stelle aber in einer bloßen Umdrehung oder Umkehrung eine negative Geschichtsphilosophie bzw. eine totalisierende negative

H. König (*)  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_8

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Gesellschaftstheorie setzen, aus der dann ein Entkommen nur noch auf dem Weg der Zuwendung zur Religion, wie bei Horkheimer, bzw. auf dem Weg eines hoch spekulativen mimetischen Materialismus und der Übernahme märchenhafter Lösungsmotive möglich ist. Ich werde mich in meinem Beitrag darauf konzentrieren, die Stellung und Bedeutung der Elemente für die Dialektik der Aufklärung und die Entwicklungsgeschichte der Kritischen Theorie herauszuarbeiten und im zweiten Schritt unter dem Stichwort Negative Ideologiekritik auf die theoretischen Aporien hinweisen, die damit verbunden sind. Zuvor werde ich in einem sehr überblickshaften Zugang die Inhalte charakterisieren und ansprechen, die in den Elementen entfaltet werden, um auf diese Weise den argumentativen Reichtum anzudeuten, der den Text auszeichnet (vgl. König 2011, 2016).

2 Die Elemente des Antisemitismus Die zentrale inhaltliche Aussage der Elemente besteht darin, dass es am Ende nur eine psychische Energie sein kann, die den Antisemitismus antreibt. Eng rational, politisch oder ökonomisch ist er jedenfalls nicht zu erklären. Daraus folgt, dass man den Antisemitismus nur entschlüsseln kann, wenn man seine Funktion für die Antisemiten in den Blick nimmt. Diese Funktion besteht vor allem darin, das verachtete eigene Innere nach außen zu legen und es dort zu bekämpfen. Hinter dem Antisemitismus steht mithin eine Mischung aus Abwehr und Projektion. Die erste These spricht diesen Mechanismus sofort an: In dem, was die Faschisten den Juden vorwerfen, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Der zweiten These zufolge ist es im Kern die Sehnsucht nach Glück ohne Macht, die die Antisemiten abwerten. Die dritte These ergänzt diese Behauptung mit der Aussage, dass der Antisemit das eigene Selbstgefühl abwehrt, ein Parasit und Versager zu sein. Der Antisemitismus ist im Kern Selbsthass, und der Selbsthass wird zum Fremdenhass. Die vierte These erweitert die Perspektive, indem sie auf eine tief liegende religiöse Quelle des Antisemitismus hinweist. Die Ahnung, dass die Selbstvergessenheit, die das Christentum fordert, einen trügerischen Zug hat und nicht hält, was sie verspricht, wird durch die Zerstörung derjenigen abgewehrt, die durch ihre eigene Religion zeigen, dass die Ahnung des Betrugs zurecht besteht. Der fünften These zufolge wird im Antisemitismus die Erinnerung an die eigene animalische Natur, der mimetische Impuls, als unerträglich abgewehrt, und in der Verfolgung der Juden wird die Unterdrückung erneut bestätigt. Die sechste These macht den Mechanismus der Paranoia zum Thema und zeigt die Affektverwandlung, die mit ihm verbunden ist. Das Ersehnte wird zum Verhassten

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und der Unterdrückung ausgesetzt. In der siebten These schließlich, die in der hektografierten Fassung von 1944 noch nicht enthalten war, sondern 1947 zur ersten Buchausgabe hinzugefügt wurde, wird der Antisemitismus mit dem kulturindustriell erzeugten Ticketdenken in Verbindung gebracht, das den Verlust der Erfahrungsfähigkeit bewirkt und zur Wut auf jedwede Art von Differenz führt. Abwehr und Projektion sind die eine Seite des Antisemitismus. Die zweite Seite besteht darin, dass im Akt der Abwehr das Abgewehrte enthalten ist und wiederkehrt, – aber wiederkehrt in einer Form, die es in einen Komplizen der Abwehr verwandelt. Die Faschisten lassen das Unterdrückte durchaus zu, aber nur, wenn und indem es auf die Seite der Unterdrückung übertritt. In dieser eigentümlichen Mischung aus Repression und Befriedigung besteht der zutiefst diabolische Charakter, den der „totalitäre Antisemitismus“ (Horkheimer/Adorno [1959] 1986, VI) annimmt. Der Antisemitismus ist sowohl Natur, Unmittelbarkeit und Trieb wie zugleich Herrschaft, Macht und Unterdrückung. Aufklärung und Natur, avancierte Technik und losgelassener Trieb gehen zusammen. In der ersten These wird gezeigt, dass die Antisemiten sich selber zu dem machen, was sie den Juden zuschreiben: Sie sind ausbeuterisch, übermächtig und rücksichtslos. Die zweite These stellt dar, wie die Sehnsucht nach Glück zu ihrem Gegenteil wird und sich in die perverse Lust an Zerstörung alles Fremden und allen Glücks verwandelt. Die dritte These zeigt, wie die geblendeten Antisemiten es schaffen, sich nicht als Parasiten, Schmarotzer und eigennützige Betrüger zu sehen, sondern als Diener einer großen schöpferischen Sache. Der vierten These zufolge verstehen sich die Judenfeinde als Missionare im Dienst der christlichen Heilsbotschaft, die der Welt die Erlösung bringt. In der fünften These wird der Mechanismus der Wiederkehr des Verdrängten auf der Seite der Verdrängung direkt zum Thema gemacht. Die Abwehr der Mimesis, der Sehnsucht nach Berührung, Anschmiegen und Vereinigung geschieht ihrerseits mit Techniken, in denen mimetische Elemente der Angleichung an die Natur eine zentrale Rolle spielen. Klage, Protest und Unmittelbarkeit werden zu Mitteln der Zurichtung und der Herrschaft. Die Antisemiten bekämpfen die Verlockung, indem sie ihr nachgeben. Der verpönte Trieb tritt in den Dienst seiner Ausrottung. Das Verbotene wird autoritär freigegeben, die mimetische Nachahmung darf praktiziert werden, aber nur, um sie zu zerstören. Rebellion gegen die Herrschaft wird selber zu einer Form von Herrschaft. Die sechste These zeigt, wie die abgewehrte Rebellionslust in die Identifikation mit Herrschaft und autoritärer Unterdrückung mündet. Die Antisemiten werden von der ungelösten Ambivalenz aus autoritären und rebellischen Neigungen angetrieben. Die siebte These schließlich zeigt die Zeitgemäßheit des Antisemitismus. Der Antisemitismus wird zur auswechselbaren Spielmarke in einem von Stereotypen und Tickets bestimmten Weltbild.

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Der Antisemitismus ist ein vielschichtiges Phänomen. Ökonomische, politische, religiöse, rassistische und kulturelle Motive gehen in ihm eine häufig nur schwer entwirrbare Mischung ein. Die Schichten werden in den Elementen über die verschiedenen Thesen verteilt oder in einzelnen Thesen konzentriert zur Sprache und zur Analyse gebracht. Die ökonomische Schicht, in der die Juden als Wucherer und Betrüger, als Schmarotzer und Parasiten, als Spekulanten und Ausbeuter stigmatisiert werden, ist vor allem in der dritten These das Thema. Die Unterscheidung der Nazis zwischen „schaffendem“ und „raffendem Kapital“ folgt sehr genau diesem Wahrnehmungsklischee. Die politische Schicht wird besonders in der zweiten These angesprochen. Mit ihr ist die Vorstellung verbunden, dass die Juden eine universal agierende mächtige Gruppe sind, die überall ihre Hände im Spiel hat und mit den Mitteln von Verschwörung und Konspiration die Unterwerfung der ganzen Welt vorbereitet. Wenn man in der kritischen Analyse die ökonomischen und politischen Motive des Antisemitismus ins Zentrum rückt, gelangt man zu der Aussage, dass die antisemitischen Verhaltensweisen im Kern politische und ökonomische Zwecke verfolgen. Mithilfe des Antisemitismus kann man Juden von der politischen Macht fernhalten, die eigene Macht sichern und einen lästigen Konkurrenten im Wirtschaftsleben ausschalten. Dass man den Antisemitismus auf diese Weise zureichend erklären kann, wird in den Elementen jedoch gerade bestritten. Das Argument von Horkheimer und Adorno lautet, dass sich der totalitäre Antisemitismus durch die Bestimmung möglicher politischer oder ökonomischer Ziele nicht erklären lässt, weil damit sein wesentliches Merkmal: die vollkommene Sinnlosigkeit, die jenseits aller Zweck-Mittel-Logik liegt, übergangen wird. Die religiöse Feindschaft des Christentums gegen die Juden und damit die historisch früheste Schicht des Phänomens wird in der vierten These erörtert. Die rassistische Schicht ist in der ersten These sogleich das Thema. Indem die Juden zur Rasse gemacht werden, können sie ihrem Schicksal nicht mehr entgehen. Mit dem Rassismus werden Gesellschaft und Geschichte generell zurück in ein natürliches Geschehen verwandelt. Die kulturelle Schicht schließlich, in der die Juden wegen ihrer Erscheinungs- und Lebensweise als Angriff auf die eigene Identität erscheinen, wird vor allem in der fünften und sechsten These behandelt. Die fünfte These konzentriert sich auf die affektiv bestimmte, vorgeblich natürliche Aversion gegen die angeblich unzivilisierten Juden, die in ihrer Erscheinungsweise und in ihrem befremdlichen Habitus eine tief verankerte Abwehrreaktion aufseiten der Antisemiten hervorrufen. Die sechste These zeigt die hemmungslose Projektion, mit der die Antisemiten die Juden überziehen. Die kulturelle Schicht schlägt sich in der Geschichte des Antisemitismus in einer Fülle von Fantasien, Bildern, Vorurteilen und Stereotypen nieder. Diese werden an verschiedenen

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Stellen der Elemente aufgegriffen und dechiffriert, und zwar stets so, dass sie gleichsam als Wegweiser genutzt werden, die den Zugang zu den Energien des Antisemitismus ermöglichen.

3 Die Elemente des Antisemitismus, die Dialektik der Aufklärung und die Entwicklung der Kritischen Theorie Die lange und komplizierte Entstehungsgeschichte der Dialektik der Aufklärung rekapituliere ich nur sehr knapp. Ich will das hier nur zusammenfassen und pointieren im Blick auf die Bedeutung der Elemente. Ende 1942 war das erste und grundlegende Kapitel der Dialektik der Aufklärung bereits abgeschlossen. Weitere Teile lagen in Entwürfen vor, und Adorno hatte einen Exkurs zur Interpretation der Odyssee Homers fertiggestellt. Auch Aphorismen und Teile eines Anthropologie-Kapitels waren konzipiert und in ersten Fassungen bereits geschrieben. Eigentümlicherweise gab es nur für das Antisemitismus-Kapitel noch keine Entwürfe. Der Grund dafür war, dass die Arbeit an einer theoretischen Durchdringung des Antisemitismus von Adorno und Horkheimer anfangs gar nicht als Teil des Dialektik-Buches, sondern als Teil groß angelegter Forschungsprojekte über den Antisemitismus konzipiert war (vgl. Wiggershaus 1986, 362; Ziege 2009, 61 ff.). Seit März 1943, als das American Jewish Committee die Forschungs-Finanzierung überraschend zugesagt hatte, nahm der theoretische Teil dieser Projekte zum Antisemitismus bei Horkheimer und Adorno einen größeren Raum ein. Parallel dazu ging die Überarbeitung und Ergänzung der bereits vorliegenden Teile des Dialektikbuchs weiter. Bald kam die Idee auf, die abgeschlossenen Teile des Buches zunächst in mimeographierter Form herauszubringen und in eine solche vorläufige Fassung auch theoretische Überlegungen zum Antisemitismus aufzunehmen. In der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung schreiben Horkheimer und Adorno über das fünfte Kapitel ihres Buches: „Die thesenhafte Erörterung der ‚Elemente des Antisemitismus‘ gilt der Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit. Nicht bloß die ideelle, auch die praktische Tendenz zur Selbstvernichtung gehört der Rationalität seit Anfang zu, keineswegs nur der Phase, in der jene nackt hervortritt. In diesem Sinne wird eine philosophische Urgeschichte des Antisemitismus entworfen. Sein ‚Irrationalismus‘ wird aus dem Wesen der herrschenden Vernunft selber und der ihrem Bild entsprechenden Welt abgeleitet.“ (DdA, 22) Im ersten Satz der Elemente wird über den Antisemitismus

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gesagt, dass er tatsächlich, wie die Antisemiten es propagieren, die „Schicksalsfrage der Menschheit“ (DdA, 197) ist. Nach diesen Sätzen erscheint die Integration der Theorie des Antisemitismus in die Dialektik der Aufklärung vollkommen klar und folgerichtig. In Wirklichkeit war der Weg, auf dem das Antisemitismusthema in die Dialektik der Aufklärung kam, viel komplizierter. Lange Zeit liefen die Arbeit am Dialektikbuch und das Interesse für den Antisemitismus unverbunden nebeneinander her. Das liegt in meinen Augen nicht an Äußerlichkeiten und Zufällen, sondern hat mit der inhaltlichen Tatsache zu tun, dass in der Theorie und im begrifflichen Horizont, in dem sich Adorno und vor allem Horkheimer bis Anfang der 1940er Jahre bewegten, der Antisemitismus gleichsam nicht unterzubringen und nicht vorgesehen war. Es bedurfte einer längeren Phase des Nachdenkens, des gedanklichen Ausprobierens und der Öffnung für ein ganz anderes Paradigma der Theorie, bevor Adorno und Horkheimer in der Lage waren, den Antisemitismus in den gedanklichen Horizont der Dialektik der Aufklärung zu integrieren, in der ja sonst keine wirklichen realhistorischen und materialen Analysen enthalten sind. Auch schon vor 1943 hat es bei Horkheimer und Adorno immer wieder sporadische Annäherungen an das Thema des Antisemitismus gegeben. Allerdings ist es so, dass auf diese Annäherungen auch schnell wieder Distanzierungen folgten. Horkheimer berichtet in seinem Einleitungskapitel zu dem von dem Psychoanalytiker Ernst Simmel herausgegebenen Sammelband über den Antisemitismus, dass ihm bereits 1930 die Dringlichkeit des Antisemitismusthemas deutlich vor Augen stand. Er habe damals oft die Antwort bekommen, „der Antisemitismus sei nur ein Propagandamittel, und Hitler würde, wäre er nur erst an der Macht, bestimmt mit diesem Unsinn aufhören“ (Horkheimer [1944] 1987, 364). 1939 beginnt das Institut für Sozialforschung damit, ein Forschungsprojekt über den Antisemitismus ins Auge zu fassen. Und in einem Brief vom 5. August 1940 schreibt Adorno an Horkheimer: „Oftmals kommt es mir vor, als wäre all das, was wir unterm Aspekt des Proletariats zu sehen gewohnt waren, heute in furchtbarer Konzentration auf die Juden übergegangen. Ich frage mich, ob wir nicht, ganz gleich wie es mit dem Projekt wird, die Dinge, die wir eigentlich sagen wollen, im Zusammenhang mit den Juden sagen sollten, die den Gegenpunkt zur Konzentration der Macht darstellen.“ (Adorno/Horkheimer 2004, 84) Einige Wochen später, am 18. September 1940, schickt Adorno in Form einer Beilage an Horkheimer „ein paar – noch ganz unformulierte – Gedanken zur Theorie des Antisemitismus“, die er selber sogleich mit den Worten kommentiert: „Sie sind so waghalsig, dass ich sie außer Ihnen niemand zeige – andrerseits aber kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass wir mit diesen Erwägungen,

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wie sehr sie auch der Modifikation bedürfen mögen, an eine wirklich wichtige Stelle herangekommen sind, nämlich an eine zugleich einheitliche und nicht rationalistische Erklärung des Antisemitismus.“ (Adorno/Horkheimer 2004, 99) Adorno bringt in dieser Beilage den Antisemitismus mit sehr frühen Schichten der Zivilisation in Verbindung. Die Juden, so meint er, beharrten auf einer nomadischen Existenz, als ihre Umgebung schon sesshaft geworden war. Sie seien deswegen in den Augen der Antisemiten „die heimlichen Zigeuner der Geschichte“ und bedrohen damit die Ideale des zivilisierten Lebens: „Das Bild des Juden repräsentiert das eines Zustandes der Menschheit, der die Arbeit nicht gekannt hat, und alle späteren Angriffe gegen den parasitären, raffenden Charakter der Juden sind bloß Rationalisierungen.“ Die Juden weigern sich, die von der Zivilisation geforderten Anpassungs- und Unterwerfungsleistungen zu erbringen und beharren auf der „jüdischen Utopie“, d. h. auf der Erinnerung an ein „Land, wo Milch und Honig fließen“. Das Verbot, sich auf der nichtjüdischen Seite an die nomadische Existenz und an das Land des Überflusses zu erinnern, so Adorno, ist „der Ursprung des Antisemitismus“ (alle Zitate Adorno/Horkheimer 2004, 99–102). Hier weist eigentlich schon alles in die Richtung einer intensiven Beschäftigung mit dem Antisemitismus. Da ist zum einen die Behauptung, dass das Antisemitismusthema die alte marxistische Frage nach dem Proletariat ablöst, da ist zum zweiten mit den kühnen Spekulationen Adornos in der Beilage der Weg in die Richtung der Zivilisationstheorie, und da ist zum dritten das Argument, dass der Antisemitismus zum Schlüssel für das Verständnis der Gegenwartsgesellschaft geworden ist und alle anderen Fragen in den Hintergrund drängt. Dennoch sollte es zwei weitere Jahre dauern, bevor Adorno und Horkheimer das Thema des Antisemitismus in den anspruchsvollen Dimensionen, die in den Zitaten angeklungen sind, wieder aufgreifen, fortführen und durchdenken. Der Grund dafür ist, dass die theoretische Rahmung, in der der Antisemitismus zur Sprache gebracht werden soll, über einen langen Zeitraum hinweg noch ganz offen ist. Sehr vereinfacht gesprochen geht es darum, ob die Theorie des Antisemitismus im Kontext des Historischen Materialismus und der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie entwickelt werden kann oder nicht. Wenn der Antisemitismus als „Schicksalsfrage der Menschheit“ apostrophiert wird, dann ist damit die Abwendung von der Behauptung verbunden, nach der in der kapitalistischen Ökonomie der Schüssel für den Zustand der Gesellschaft liegt – es sei denn, dass sich auch diese ‚Schicksalsfrage‘ noch im Rahmen einer Analyse der Widersprüche des Kapitalismus erklären lässt. Würde man das so sehen können, dann wäre der Antisemitismus nicht mehr als ein „Vorwand“ (DdA, 197) und würde sich im Rahmen der klassischen Annahmen der Ideologiekritik abhandeln lassen.

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Diese Vorwandthese und die im Hintergrund liegende Ideologiekritik wird Anfang der 1940er Jahre von Adorno und Horkheimer und vom Institut für Sozialforschung noch weitgehend geteilt. Der Antisemitismus erscheint im Kern immer noch als ein probates Mittel, das es der herrschenden Klasse erlaubt, von der Strukturkrise des Kapitalismus abzulenken und die eigene Herrschaft zu zementieren. Diese Argumentation ist in die Elemente nur noch in ganz wenigen Passagen, vor allem in der Dritten These, eingegangen. Vorherrschend ist in den Elementen hingegen die Sichtweise, in der die Judenfeindschaft nicht mehr in die von Marx inspirierte Analyse der kapitalistischen Ökonomie und der entsprechenden Ideologiekritik eingebettet ist, sondern im Rahmen einer Zivilisationstheorie behandelt wird, die sich aus der Psychoanalyse Freuds und der Kulturkritik Nietzsches speist. Diese Hin- und Her-Bewegungen bei der Auseinandersetzung mit dem Thema des Antisemitismus haben mit der generellen Veränderung der Theorie zu tun, mit der Horkheimer und Adorno argumentieren. Offenbar war eine große theoretische Anstrengung nötig, um über die Begrenzungen der Vorwandthese und der klassischen Ideologiekritik hinauszukommen. Es ist, so scheint mir, gerade die Beschäftigung mit dem Antisemitismus, die Horkheimer und Adorno zur weitreichenden Neubestimmung ihrer theoretischen Positionen führt. Diese Neubestimmung betrifft keine Marginalien, sondern die grundlegenden theoretischen Annahmen. Der totalitäre Antisemitismus, das ist der springende Punkt, lässt sich mit den bis dahin von Adorno und Horkheimer für gültig betrachteten Annahmen und Konzepten nicht zureichend erklären. Die Position, die die Elemente einnehmen, steht also am Ende eines vielschichtigen Denkwegs, in dem vor allem Horkheimer lange am Primat der ökonomischen Erklärung des Antisemitismus festhielt. Wie weit der Weg zu jenen Überlegungen war, die dann in den Elementen vorgetragen werden, kann man am besten ermessen, wenn man Horkheimers Aufsatz Die Juden und Europa (1939) zum Vergleich heranzieht. Und auch Anfang der 1940er Jahre war Horkheimer noch davon überzeugt, dass sich die jüngeren gesellschaftlichen Entwicklungen mit dem Rückgang auf die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus plausibel erklären lassen. Diese Haltung bestimmte jedenfalls ohne jeden Vorbehalt die Beiträge, in denen Horkheimer in den Jahren 1940 und 1941 in der Zeitschrift für Sozialforschung die Forschungen und Überlegungen des Instituts zur Faschismustheorie und zur Frage des Antisemitismus vorstellte. Horkheimer erklärt auch hier die Verfolgung der Juden damit, dass die fortschreitende Entwicklung des Kapitals die Sphäre der Zirkulation obsolet gemacht hat. Dadurch werden die

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Juden, die traditionell in dieser Sphäre tätig waren, ökonomisch überflüssig und deswegen zum Freiwild, das beliebig verjagt und verfolgt werden kann. Erst sehr langsam und nach vielem Zögern, beeindruckt sicherlich auch von Anregungen und Ideen Adornos, gibt Horkheimer die funktionalistische und ideologiekritische Deutung mehr oder weniger auf und ersetzt sie durch ganz andere Überlegungen, in denen die archaischen Wurzeln der antisemitischen Reaktionsweisen ins Zentrum rücken und zu einem Typus von Kritik führen, der nicht mehr dem Modell der Ideologiekritik verpflichtet ist, sondern, inspiriert von Freud und Nietzsche, dem Typus genealogischer Kritik (zur Genealogie bei Freud vgl. König 1992, 224 ff.; vgl. Nietzsche [1887] 1972). Was Adorno und Horkheimer als „philosophische Urgeschichte“ (DdA, 22) bezeichnen, folgt diesem Typus der Genealogie. Die Annahme, die der Genealogie zugrunde liegt, besteht darin, dass sich der Antisemitismus nicht aus den realen Konflikten der Gegenwart zureichend erklären lässt. Weder ist er ein Mittel im ökonomischen Konkurrenzkampf noch liegt sein Ursprung darin, dass er als Element politischer Interessen eingespannt werden kann, und schon gar nicht lässt er sich als Rache oder Verteidigungswaffe der Antisemiten gegen eine reale Bedrohung durch die Juden verstehen. Es sind vielmehr uralte und unausgetragene Konflikte der menschlichen Gattung und der Zivilisation, die in ihm zum Ausdruck und zum Ausbruch kommen. Über diese Urkonflikte muss sprechen, wer den Antisemitismus erklären will. Da aber ein gesichertes Wissen über sie nicht vorliegt, bleibt nichts anderes übrig als der Versuch, sie mithilfe von Hypothesen und Konstruktionen dem Verständnis zugänglich zu machen. Es schieben sich mit der Genealogie bei Adorno und Horkheimer nun also Deutungen in den Vordergrund, die nicht dem Umkreis der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie entstammen, sondern in das weite Feld der Vernunft-, Kultur- und Zivilisationskritik hineingehören. Die Theoriereferenzen sind nicht mehr die Marx’sche Ökonomie- und Ideologiekritik, sondern Freud und Nietzsche, also Psychoanalyse, Kultur- und Moralkritik. Die zentralen Begriffe sind nicht mehr Mehrwertproduktion, Wertformanalyse, Kapitalakkumulation, Ausbeutung, sondern Projektion, Verdrängung, verleugneter Wunsch, Magie, Opfer, Paranoia. An die Stelle der Kapitalismusanalyse tritt die Wendung auf das Weltbild der Antisemiten und seine Logik. Der antisemitische Wahn kann in keiner Weise mehr aus dem Akkumulationsgesetz des Kapitals abgeleitet werden. Vor allem dort gehen die Analysen der Elemente weit über Marx hinaus, wo sie die religiösen und archaischen Ursprünge des Antisemitismus einbeziehen. Die genealogische Kritik geht bis in die Zeit einer grauen Vorgeschichte zurück, in der natürlich weder von Kapitalismus noch von Liberalismus auch nur im entferntesten die Rede sein kann.

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Der wirkliche Grund für den Antisemitismus liegt also nun nicht mehr in den Gesetzen der Akkumulation und im Übergang zum Staatskapitalismus, sondern in der mit Herrschaft und sozialer Kontrolle verknüpften Rationalität und Zivilisation, die sich in der Geschichte der Menschheit unaufhaltsam durchgesetzt hat. Und der Antisemitismus und die Vernichtung der europäischen Juden beruhen nicht auf einem Nutzenkalkül, sie sind kein Mittel zu einem anderen Zweck, die Juden werden nicht aus militärischen, politischen oder ökonomischen Gründen ausgerottet, sondern aus reinem Selbstzweck – es ist eine Ausrottung um der Ausrottung willen. Der entscheidende Schritt für die Abwendung von der klassischen Ideologiekritik besteht also in der Einsicht, dass die Verfolgung der Juden nicht das Resultat eines Nutzenkalküls aufseiten der Antisemiten ist, sondern, wie es in der zweiten These der Elemente heißt, ein „Ritual“ (DdA, 200), in dem ein uralter Konflikt der Zivilisation zum Ausdruck kommt. Dem Antisemitismus liegen gerade keine Nutzenkalküle zugrunde, weder politische noch ökonomische. Aus der Perspektive von Nutzenkalkülen betrachtet, ist der Antisemitismus völlig irrational – er rechnet sich nicht. Seine Wurzeln können mithin nicht im Kosten-Nutzen Denken, sondern müssen ganz woanders liegen: in einer Erbschaft, die bis in die archaischen Stufen der Zivilisationsgeschichte zurückreicht.

4 Negative Ideologiekritik Wie kann es mit dem Unternehmen der kritischen Theorie der Gesellschaft weitergehen, wenn die Kritik der Politischen Ökonomie, die Ideologiekritik und mit ihr der Historische Materialismus die Rolle des Schlüssels für die Analyse der Gesellschaft verloren haben, wenn also die Behauptungen, die sich auf den Gegensatz von Kapital und Arbeit beziehen, der Geschichte der Klassenkämpfe und der selbstnegatorischen Dynamik des Kapitalismus obsolet geworden sind? Auch nach der Abwendung von den Gewissheiten des Historischen Materialismus führen Adorno und Horkheimer die Logik der Ideologiekritik weiter – nur dass sie jetzt in allen gesellschaftlichen Entwicklungen die zunehmende negative Totalität des Verblendungszusammenhangs diagnostizieren. Nach wie vor also muss die Kritik auf das Ganze zielen – und nach wie vor ist es so, dass die einzige Veränderung, die zählt, die der gesamten Lebensverhältnisse ist. Das hatte Horkheimer bereits in Traditionelle und kritische Theorie (1937) herausgestellt und an diesem Kriterium die kritische Theorie von der traditionellen Theorie unterschieden, die sich kleinteilig bei dieser oder jener Einzelheit aufhält, ohne das Ganze in den Blick zu nehmen.

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Es ist eigentümlich, dass Adorno und Horkheimer in ihren Analysen in der Dialektik der Aufklärung nicht weniger pauschalisierend und abstrakt argumentieren, als sie es der Aufklärung und ihrer Herrschaftsabsicht vorhalten. In ihrer Kritik des abendländischen Vernunftbegriffs berauben sie ihrerseits das Besondere und historisch Spezifische jeglichen Eigensinns und verwandeln es in ein Exemplar negativer Allgemeinheit. Da gibt es nur den einen und immer gleichen „herrschenden Geist von Homer bis zur Moderne“ (DdA, 54), und „von Parmenides bis auf Russell“ wird die bürgerliche Gesellschaft offenbar zu allen Zeiten und ganz unterschiedslos vom alles nivellierenden Äquivalenzprinzip beherrscht, das zum wesenlosen Schein entwertet, „was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht“ (DdA, 30). So wird das ideologiekritische Denkschema von ihnen eigentlich nur ins Negative gedreht – und damit im Grunde aber doch beibehalten. Jetzt geht es freilich nicht mehr darum, dass – wie in der klassischen Ideologiekritik auf dem Hintergrund des Historischen Materialismus – alle gesellschaftlichen Phänomene und Bewusstseinsformen auf die determinierende Kraft der Wertform, des Geldes und des Kapitals bezogen werden. Nunmehr richtet sich die gesamte kritische Energie und Analyse darauf, dass es im Falschen nichts Wahres geben kann, dass es also im allgemeinen Elend nichts geben kann, was über es hinausweist und für gelingende Verkörperung steht. Sodass da nichts ist, was befriedigend ist, solange nicht alles befriedigend ist. Im nächsten Gedankenschritt wird dann das unerbittliche Festhalten an der Negativität zur Vorbedingung dafür, dass sich doch noch alles zum Guten wenden könnte. Wie im Märchen, so legt Adorno an verschiedenen Stellen seiner Texte nahe, genügt dafür schon die Bewegung des kleinen Fingers, damit die Erlösung geschieht. Das genaue Pendant zu dieser Denkfigur ist das Festhalten an der Katharsis-Theorie des frühen Freud und die einigermaßen überdeterminierte Ablehnung der psychoanalytischen ärztlich-therapeutischen Praxis durch Adorno (vgl. ausführlicher König 2016, 342 ff.). Gesellschaftliche Entwicklungen und Tendenzen, die das bewirken könnten, worauf Adorno setzt, werden von ihm nicht mehr namhaft gemacht. Die normative Basis der Kritik wird nicht ausgewiesen. Die einzige Kraft, die Adorno gelegentlich in Anspruch nimmt, ist die Mimesis, – ein unwillkürlicher, natürlicher, tief sitzender, fleischlicher Impuls, in dem sich die Solidarität der animalia, die wir ja alle miteinander sind, äußert. Es gibt einige Überlegungen von Adorno in diese Richtung, die es meiner Ansicht nach erlauben, von einem mimetischen Materialismus zu sprechen. Freilich muss ich sofort zugestehen, dass das von Adorno nirgendwo zu einer kohärenten Theorie entwickelt worden ist.

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Bei Horkheimer ist es ohnedies so, dass er sich der Religion zuwendet – nicht im Sinne einer positiven Glaubenslehre, aber doch so weit, dass nur in ihr noch das Bewusstsein von der Negativität und Vorläufigkeit der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse wachgehalten wird. Adorno ist dem näher als es häufig dargestellt wird – zum Beispiel wenn er im letzten Aphorismus der Minima Moralia meint, dass die einzige Philosophie, die „im Angesicht der Verzweiflung“ noch zu verantworten wäre, in dem Versuch bestehe, „alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik“ (Adorno [1951] 1970, 333). Mir scheint, dass wir uns von dieser Erbschaft negativer Ideologiekritik verabschieden müssen. Dann könnten wir in einem neuen Durchgang durch die Elemente des Antisemitismus den ganzen Reichtum der dort oftmals nur angedeuteten Überlegungen bergen und prüfen, was davon heute und für die Diagnose der Gegenwart noch zu gebrauchen ist.

Literatur Adorno, Theodor W. [1951] 1970. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W./Max Horkheimer 2004. Briefwechsel 1938-1944. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Horkheimer, Max [1937] 1988. Traditionelle und kritische Theorie. In: Gesammelte Schriften Bd. 4, Hrsg. Alfred Schmidt. Frankfurt a. M.: Fischer. Horkheimer, Max [1939] 1988. Die Juden und Europa. In: Gesammelte Schriften Bd. 4, Hrsg. Alfred Schmidt. Frankfurt a. M.: Fischer. Horkheimer, Max [1944] 1987. Antisemitismus: Der soziologische Hintergrund des psychoanalytischen Forschungsansatzes. In: Gesammelte Schriften Bd. 5, Hrsg. Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt a. M.: Fischer. Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno [1947] 1987. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften Bd. 5, Hrsg. Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt a. M.: Fischer. (Abk.: DdA) Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno [1959] 1986. Vorwort. In: Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Frankfurt a. M.: Europäische Verlags-Anstalt. König, Helmut 1992. Zivilisation und Leidenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. König, Helmut 2011. Historischer Materialismus und Antisemitismus. Ideologiekritik bei Marx, Adorno/Horkheimer und Kurt Lenk. In: Kritik und Leidenschaft. Vom Umgang mit politischen Ideen. Hrsg. Henrique Ricardo Otten/Manfred Sicking. Bielefeld: transcript.

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König, Helmut 2016. Elemente des Antisemitismus. Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Weilerswist: Velbrück. Nietzsche, Friedrich [1887] 1972. Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: Werke II. Hrsg. Karl Schlechta. Frankfurt a. M./Berlin/Wien: Ullstein. Wiggershaus, Rolf 1986. Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung. München: Hanser. Ziege, Eva-Maria 2009. Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Wer aber von der Geschichte des Subjekts nicht reden will, sollte auch vom Kapitalismus schweigen. Zur Radikalität der Dialektik der Aufklärung Marcel Stoetzler

Das Jahr 1947 dürfte der Publikation eines philosophischen Texts über die Selbstzerstörung der modernen liberalen Gesellschaft gewogener gewesen sein als die Gegenwart mehr als siebzig Jahre später dies ist. Man stelle sich dennoch einmal vor, wie ein Verlag wohl auf den Vorschlag eines Autors reagierte, solch ein Buch in fünf recht knappen, hoch verdichteten Essays zu schreiben, von denen der letzte den Begriff des Antisemitismus entwickelt, die anderen vier aber weit weniger Naheliegendes behandeln: Der erste solle in der menschlichen Frühgeschichte nach den Wurzeln der Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts suchen, der zweite die Odyssee Homers neu interpretieren, der dritte Ähnlichkeiten zwischen Kant, de Sade und Nietzsche erörtern, und, Gipfel der Verrücktheit, der vierte die gegenwärtige amerikanische Alltagskultur analysieren. Ein derartiges Buchprojekt käme kaum jemals an den zuständigen LektorInnen vorbei. Eines der wohl berühmtesten philosophischen Werke des zwanzigsten Jahrhunderts, die Dialektik der Aufklärung, ist allerdings sowohl sehr als auch gar nicht verrückt. Die verrückten Themen waren vielmehr einigermaßen naheliegend, zumindest zu einer Zeit, als die politischen Koordinaten verrückt und die Intellektuellen klassisch gebildet waren. Für die letzteren waren de Sade und die Odyssee durchaus aktuelle Themen: De Sade war gerade als ein ernst zu nehmender Autor aus der Zeit der französischen Revolution von dem britischen Anthropologen Geoffrey Gorer entdeckt worden, dessen einschlägiges Buch M. Stoetzler (*)  School of History, Philosophy, Social Sciences, Bangor University, Bangor, Großbritannien E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_9

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Erich Fromm 1934 in der Zeitschrift für Sozialforschung rezensiert hatte (Gorer 1932). Nach der Lektüre Gorers hatte Adorno in einem Brief an Horkheimer erstmals die Formulierung „Dialektik der Aufklärung“ gebraucht (Adorno, 10.11.1941, vgl. Wiggershaus 1997, 348). Die Odyssee war zweifellos der zentrale kanonische Bezugspunkt des Neuhumanismus und als solcher selbst in jüngster Vergangenheit noch relevant.1 Horkheimer und Adorno verweisen am Beginn des Odysseus-Exkurses auf zwei sich widersprechende Weisen der Vereinnahmung der Odyssee: konservative Humanisten des neunzehnten Jahrhunderts begeisterten sich für das pralle, unverfälschte, archaische Menschentum, das sie in den Epen Homers dargestellt sehen wollten, während ihre faschistischen Nachfahren und Gegenspieler sachlich korrekt darauf hinwiesen, dass der listige Odysseus durchaus mit mehr als einem Fuß in der sich ansatzweise schon modernisierenden Welt von Rationalität, Tauschverhältnissen und vermittelter Herrschaft stand. Horkheimer und Adorno stellen fest: „Der böse Blick derer, die mit aller scheinbar unmittelbaren Herrschaft sich einig fühlen und alle Vermittlung, den ‚Liberalismus‘ jeglicher Stufe verfemen, hat ein Richtiges gewahrt.“ (Horkheimer/Adorno [1947] 1987, 68, von nun an zitiert: DdA) Die Dialektik der Aufklärung thematisiert hier also einen Text als ein Dokument der Aufklärung, den der Neuhumanismus fälschlich als einen der mythengetränkten, unverdorbenen Vorvergangenheit gefeiert hatte, und erkennen an, dass die Faschisten die Dummheit der humanistischen Bürger durchschaut hatten. Beides, die Dummheit der Bürger und die Gewitztheit der Faschisten, stehen im Zentrum der Dialektik der Aufklärung. Ganz ähnlich werden Nietzsche und de Sade als nützliche Indikatoren der Grenzen der Aufklärungsphilosophie Kants vorgestellt, ohne jedoch zu bewunderungswürdigen Alternativen aufgebauscht zu werden, wie das in anderen Kontexten geschieht, die manchen irrtümlicherweise als der kritischen Theorie verwandt scheinen. Zahlreiche Texte der kritischen Theorie, von Horkheimers 1Die

brüchig gewordene Relevanz des Neuhumanismus ist direkt mit meiner eigenen Lektüreerfahrung verwoben. Meine erste Taschenbuchausgabe der Dialektik der Aufklärung hatte ich als Gymnasiast zur Aufhellung des Griechischunterrichts erworben, der in meiner Schule das didaktisch progressivste Fach und dank seiner offensichtlichen bürgerlichen Nutzlosigkeit auch das am wenigsten spießige war. Das emotional wertvolle Dokument wurde mir erst ein Vierteljahrhundert später auf der Anreise zu einer Konferenz zur kritischen Theorie von römischen Handtaschendieben entwendet. Die innere Umschlagseite des Bandes war von dem Urteil gezeichnet, das ich als Siebzehnjähriger in Bleistift eingetragen hatte, die Verschlingung von Aufklärungskritik und Gegenaufklärung anzeigend und noch in der rebellischen Lektüre dem reaktionären Einfluss positivistisch-sachlicher Kleinbürgerlichkeit nachgebend: ‚Geschwätziger Ästhetizismus‘.

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„Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie“ (1930) bis zu Adornos „Kulturkritik und Gesellschaft“ (1951), haben den Versuch gemeinsam, von den Reaktionären etwas über die Grenzen der Aufklärung zu lernen, um die über sich selbst aufgeklärte Aufklärung umso machtvoller gegen die Reaktionäre in Stellung zu bringen. In ähnlichem Sinne kontraintuitiv ist in dem Abschnitt über „Kulturindustrie“ der Angriff auf die Form, die Kultur unter der Alleinherrschaft der Warenform annimmt. Wer den Text trotz der in Handbüchern der Cultural Studies verbreiteten Gerüchte liest, mag überrascht sein, dass es sich nicht um ein Lamento über die Kommerz-Kultur handelt – ganz im Gegenteil: Horkheimer und Adorno schreiben, dass die bürgerliche Kultur in der guten alten Zeit des konkurrenzkapitalistischen Liberalismus tatsächlich aus einer großen Warensammlung bestanden hatte und dass gerade darauf ihre relative Freiheit beruhte, während unter der totalitär gewordenen Warenform die Kulturprodukte ihre Warenförmigkeit verlieren und fernab vom Markt als spannungslösende Drogen unter der wohlmeinenden Doppelaufsicht von staatlicher und industrieller Bürokratie stehen. Auch hier deutet die kritische Theorie rechts an, scheinbar ein Motiv der konservativen Kulturkritik aufnehmend, und zieht links durch. Die Zweischneidigkeit der modernen Alltagskultur, und damit zusammenhängend die Integration von hoher und weniger hoher Kulturproduktion als ‚Kulturindustrie‘ (eine Modalität, nicht eine Sache,2 und fatal für beide Bestandteile der Fusion), war den Autoren schon vor dem amerikanischen Exil aufgefallen, in der Weimarer Republik nämlich, wo ‚Amerikanismus‘ und ‚Amerikanisierung‘ nicht ohne Grund intensiv diskutiert wurden. Die Kontinuität zwischen Faschismus und amerikanischer Demokratie steht ein für die offensichtlichere zwischen Weimar und Drittem Reich. Soweit zum nicht so verrückten Aspekt der Dialektik der Aufklärung, der Themenwahl, die sich aus dem Kontext der Entstehung des Buches recht einfach erklären lässt. Seine Radikalität dagegen liegt in der theoretisch und strategisch viel weiterreichenden Verrückung der Perspektive, die das Buch in seiner Gesamtheit durchführt und die nur textimmanent zu erklären ist. Ausgehend von Horkheimers vorangegangenen Schriften zu einer Anthropologie der bürgerlichen Epoche verschiebt es die kritische Theorie der kapitalistischen Gesellschaft hin zu einer anthropologischen Kritik des Prozesses der menschlichen Zivilisation, wobei die Dialektik der kapitalistischen Gesellschaft als aktuelle Erscheinungsform und Zuspitzung einer tieferliegenden Dialektik erscheint, nämlich der

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ist darauf hinzuweisen, dass der vierte Teil „Kulturindustrie“ heißt – ohne den bestimmten Artikel. Dessen Hinzufügung, wie zum Beispiel in den beiden gängigen englischen Übersetzungen, verdinglicht den Gegenstand.

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Dialektik der Aufklärung im weiteren anthropologischen Wortsinn. Die Verrücktheit besteht also in der Verrückung des Zeitrahmens der Kritik. Deren Notwendigkeit ergibt sich aus dem Wahnsinn des Gegenstands: Statt des anfänglich von Horkheimer geplanten Dialektikbuchs kam es zur Dialektik der Aufklärung wegen der zur Zeit der Niederschrift stattfindenden welthistorischen Ereignisse. Die Fragestellung des Buches, dem die Umstände nicht gestatteten, eine ordentliche, akademisch-philosophische Abhandlung zu werden, kristallisierte sich wohl erst bei der Abfassung des letzten Teils, der „Elemente des Antisemitismus“, heraus. Die Analyse des Antisemitismus im fünften Teil der Dialektik der Aufklärung beantwortet die Frage, was den Holocaust verursacht habe, in zwei verschiedenen Zeitregistern, die erst im Licht der Gesamtargumentation des Buches als eine einzige, dialektisch verfasste Antwort erkannt werden können: Die Argumentation verweist auf den Zivilisationsprozess als solchen, und auf den Kapitalismus als seine wahnsinnige gegenwärtige Erscheinungsform. Weder ‚der Kapitalismus‘ noch ‚die Zivilisation‘ wären an sich richtige, zureichende Antworten auf die Frage, ‚Was verursachte die Vernichtung der Juden?‘: Die meisten der Elemente des Antisemitismus, die Horkheimer und Adorno identifizieren, sind nicht genuin modernen Ursprungs, und sind damit zu unspezifisch, um ein bestimmtes Ereignis in der Moderne erklären zu können. Nur moderne Faktoren können moderne Ereignisse erklären, aber was die modernen Faktoren eigentlich sind, das kann nur die Zivilisationskritik entschlüsseln, die das Gegenwärtige als die gegenwärtige Form des Anthropologischen versteht, dessen Zeitdimension die longue durée der Zivilisationsgeschichte ist. Die Verrückung der Fragestellung auf die Ebene der Zivilisation erlaubt es der Kritik des Kapitalismus, einen Schritt zurückzutreten und zu fragen, warum die potenzielle Offenheit der dialektischen Dynamik der von der kapitalistischen Produktionsweise beherrschten Gesellschaftsform, von der sich das Manifest der Kommunistischen Partei noch so viel Gutes versprach, so wenig davon eingelöst hat. Die alleszerstörende Kurzschließung der kapitalistischen Dialektik ist von der ihr vorgeordneten Dialektik der Zivilisation diktiert. Kapitalismuskritik allein ist daher nicht genug. Die ganze Zivilisation, die im Kapitalismus ihren vorläufigen Höhe- wie auch Tiefpunkt gefunden hat, ist zu reformieren.3 Die

3Diese

Radikalität macht die Marx’sche Kritik in ihrer anti-positivistischen Form, das heißt die Kritische Theorie, zum Partner jener anderen Hauptform emanzipatorischer Zivilisationskritik, deren klassische Sprecherin Simone de Beauvoir fast zeitgleich feststellte, dass es „l’ensemble de la civilisation“ sei, das die Frau und die Geschlechterordnung erzeuge (de Beauvoir 1949, 13).

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Entwicklungsgeschichte der Aufklärung ist zugleich auch die der Dummheit, und kaum zufällig heißt das letzte Stück der „Aufzeichnungen und Entwürfe“, mit denen die Dialektik der Aufklärung schließt, „Zur Genese der Dummheit“ (DdA, 288–90). Die Genese der Dummheit ist ein Teil der dialektischen Geschichte der Aufklärung. Adorno und Horkheimer schreiben hier, ein Motiv der Romantik aufnehmend, „das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke“ mit dem „tastenden Gesicht“.4 Erkenntnis ist zart und zaghaft, schreckt zurück bei Widerstand, traut sich aber auch wieder vor, weniger resolut nach jedem erneuten Rückschlag. Mit jeder Tracht Prügel werden wir schwächer und dümmer. Dies ist unser Bild; in diesem Spiegel erkennen wir uns. Dummheit ist ein zentrales Element des Antisemitismus. Das Verhältnis von Kapitalismuskritik und Zivilisationskritik in der Dialektik der Aufklärung lässt sich gut an der Struktur des fünften Teils ablesen.

1 Antisemitismus: der Subjektivität beraubte Subjekte „Elemente des Antisemitismus“ besteht aus sieben Abschnitten. Die ersten sechs Abschnitte entwickeln thematisch voneinander unterschiedene Aspekte der Interpretation des Antisemitismus, während der siebte Abschnitt, der in der Urfassung des Texts von 1944 nicht enthalten war, verschiedene dieser Elemente aufgreift und in zum Teil zugespitzter Form reformuliert. Ausdrückliche Kritik an Kapitalismus und Liberalismus, die einer klar erkennbaren Marx’schen Argumentation folgt, findet sich vor allem in den ersten drei Abschnitten und im siebten: diese Teile der Analyse sind die am wenigsten detaillierten, wobei aber die klar

4Sie

zitieren Goethes Faust (Teil 1, Vers 4068) (Goethe 1953), die Walpurgisnachtszene, in der Mephistopheles sagt, dass eine Schnecke „mit ihrem tastenden Gesicht“ ihn durchschaut habe – in der Tat ein intelligentes Tier. Näher an der Bedeutung des Bildes ist jedoch eine Formulierung von John Keats, der in einem Brief aus dem Jahr 1818 über „that trembling and delicate snail-horn perception of beauty“ schreibt (Brief an Haydon, 8. April 1818 [http:// keats-poems.com/to-benjamin-robert-haydon-teignmouth-april-8-1818/]). Keats zitiert in einem anderen Brief eine Stelle aus Venus and Adonis von Shakespeare, aus dem die Romantik vielfach schöpfte und die auch Horkheimer und Adorno bekannt gewesen sein dürfte: „As the snail, whose tender horns being hit,/Shrinks back into his shelly cave with pain/And there all smothered up in shade doth sit,/Long after fearing to put forth again“ (Venus and Adonis, Strophe 175 [https://englishhistory.net/keats/letters/j-h-reynolds-22-november-1817/; http:// shakespeare.mit.edu/Poetry/VenusAndAdonis.html]).

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erkennbare Marx’sche Linie des später verfassten siebten Abschnitts der gängigen Auffassung widerspricht, Adorno und Horkheimer seien zu dieser Zeit im Begriff gewesen, sich von Marx abzuwenden.5 Der erste Abschnitt (DdA, 197 ff.) eröffnet die Argumentation mit der brutal vorgetragenen These, der Faschismus sei aus einer Metamorphose der liberalen Bourgeoisie hervorgegangen, die Gewalt, Verfolgung und Herrschaft als die eigentlichen Charakteristika der modernen kapitalistischen Gesellschaft offenbare. Das Vertrauen darauf, dass der Liberalismus für Integration und Harmonie stünde, erwies sich als fatal: Den liberalen Bürgern war die nicht ganz restlose Assimilation der Juden sowieso schon immer etwas unbehaglich gewesen. Der zweite Abschnitt (DdA, 199–202) stellt die Frage, wie Antisemitismus eine Volksbewegung werden konnte, wenn doch den Unterschichten klar sein musste, dass sie „nichts davon haben“ würden (DdA, 199). Horkheimer und Adorno schreiben, der Antisemitismus sei ein Luxus. Diese Bewertung, die sich als die Zurückweisung einer ausschließlich funktionalistischen Erklärung des Antisemitismus bezeichnen ließe, führt zum ersten Verweis auf die anthropologische Argumentation, die die Kapitalismuskritik untermauern und ergänzen soll: die „Zweckmäßigkeit für die Herrschaft“ ist offensichtlich, „[d]ie Gestalt des Geistes aber, des gesellschaftlichen wie des individuellen, die im Antisemitismus erscheint, die urgeschichtlich-geschichtliche Verstrickung, in die er als verzweifelter Versuch des Ausbruchs gebannt bleibt“ (DdA, 200), ist keineswegs offensichtlich. Die Autoren benennen hier zwei Untersuchungsgegenstände: Der erste ist eine bestimmte Gestalt des gesellschaftlichen Geistes – das heißt der Kultur oder Zivilisation – wie auch des individuellen Geistes, die im Antisemitismus erscheinen; der zweite ist eine ‚Verstrickung‘, die sowohl urgeschichtlich als auch geschichtlich ist und in die dieser Geist – in seiner antisemitischen Erscheinungsform – „als verzweifelter Versuch des Ausbruchs“ gebannt bleibt. Dieser Zustand, in der der Geist vergeblich versucht, aus einer Verstrickung auszubrechen, die an dieser Stelle nicht näher beschrieben wird, wird im nächsten Satz als ein „Leiden“ bezeichnet, das „der Zivilisation […] tief innewohn[t]“ (DdA, 200). Solange sich dieses Leiden der Erkenntnis entzieht, kann es der Einzelne nicht „beschwichtigen“. Das unverstandene Leiden, das in Geschichte wie Vorgeschichte wurzelt, verhindert Aufklärung über die Gegenwart:

5Die

ursprünglichen sechs Abschnitte erstrecken sich über jeweils zwei, drei, drei, vier, sieben und vierzehn Textseiten, werden also immer länger, während der siebte Abschnitt auf acht Seiten zurückfällt. Die Abschnitte fünf und sechs, die komplexesten und in der Literatur am seltensten diskutierten, sind also bei weitem die umfangreichsten.

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„Die bündig rationalen, ökonomischen und politischen Erklärungen und Gegenargumente – so Richtiges sie immer bezeichnen – vermögen es nicht, denn die mit Herrschaft verknüpfte Rationalität liegt selbst auf dem Grunde des Leidens. […] Die antisemitische Verhaltensweise wird in den Situationen ausgelöst, in denen verblendete, der Subjektivität beraubte Menschen als Subjekte losgelassen werden. […] Der Antisemitismus ist ein […] Ritual der Zivilisation, und die Pogrome sind die wahren Ritualmorde.“ (DdA, 200) Diese Sequenz beginnt mit einer vielfach belegten empirischen Beobachtung: mit Antisemiten lässt sich nicht räsonieren. Diese Beobachtung muss im Zentrum jeglicher Antisemitismustheorie stehen. Die in dieser Sequenz enthaltene Kurzform der Theorie verweist auf drei Elemente: Die unter dem unverstandenen Leiden leidenden Menschen verschließen sich der Rationalität, weil diese selbst aufgrund ihrer Verflechtung mit Herrschaft zu den Ursachen des Leidens gehört; die leidenden Menschen sind verblendet, also blind, und ihrer Subjektivität beraubt; der Antisemitismus ist ein Ritual, was heißt, dass er diesen Zustand bestätigt und verstärkt, aber auch erträglich macht. Die antisemitische Dummheit der leidenden Menschen wird in „Elemente des Antisemitismus“ in zunehmend anthropologischer Weise untersucht: während der dritte Abschnitt (DdA, 202–205) das kapitalismusspezifische Argument entwickelt, dass die kapitalistischen Ausbeuter sich als Produzenten darzustellen suchen und die Ausbeutung auf die Zirkulationssphäre schieben, und auch ein paar (eher flüchtig entwickelte) Argumente dafür benennt, warum die Juden sich besonders gut für diese Rolle eigneten, drehen sich die viel detaillierteren Abschnitte vier, fünf und sechs um Religion, Geist, Mimesis, Magie, Verstand, Paranoia und Projektion (DdA, 205–230). Der siebte Abschnitt (DdA, 230–238) verknüpft die philosophisch-anthropologische Kritik wieder mit der Gegenwartsanalyse von Kapitalismus, Liberalismus und Faschismus. „Elemente des Antisemitismus“ folgt also einer Rahmenform, wobei die Zivilisationskritik aus der Gegenwartskritik begründet wird und wieder in sie einmündet.6

6Siehe

hierzu auch Stoetzler 2017 und 2019. Zum Gesamtargument der Dialektik der Aufklärung siehe Stoetzler 2018.

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2 Begriff der Aufklärung: etwas Besseres als die Arbeit Vom Standpunkt des fünften Teils lässt es sich gut an, sich wieder dem ersten Kapitel, „Begriff der Aufklärung“, das in der 1944er Fassung des Buches selbst „Dialektik der Aufklärung“ geheißen hatte, anzunähern (DdA, 25–66). Das erste Kapitel besteht aus drei Abschnitten. Ich beschränke mich im folgenden auf eine Lektüre des letzten dieser drei Abschnitte, der prägnante Formulierungen der Hauptargumentation der Dialektik der Aufklärung insgesamt enthält. Dieser Abschnitt ist selbst wiederum dreiteilig gegliedert: Er beginnt mit der Auslegung einer Formulierung von Spinoza, also einem Satz aus der historischen Aufklärung, die zur Kritik des Positivismus hin verlängert wird (DdA, 52–55). Dem folgt eine Interpretation der Sirenenepisode aus der Odyssee, die auf eine Kritik der Arbeit hinausläuft (DdA, 55–60), und die letzten sechs Druckseiten wenden sich der Gegenwartskritik zu, erörtern die Frage der Handlungsmächtigkeit der Arbeiter (der Arbeiterautonomie, wie dies später in den siebziger Jahren genannt wurde) und kulminieren in einer Kritik der mangelnden Radikalität der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung (DdA, 60–66): Diese Struktur, die von der Kritik der Aufklärungsphilosophie und ihrer zeitgenössischen Schrumpfform auf dem Umweg über die Auslegung des antiken Epos als Zeugnis der Urgeschichte der bürgerlichen Subjektivität sich dialektisch zur arbeiterbewegungskritischen Kapitalismuskritik vorarbeitet, repräsentiert in kondensierter Form die Struktur der Argumentation der Dialektik der Aufklärung insgesamt. Der dritte Teil des ersten Kapitels beginnt mit einer starken Behauptung: „Der Satz des Spinoza ‚Conatus sese conservandi primum et unicum virtutis est fundamentum‘ enthält die wahre Maxime aller westlichen Zivilisation“ (DdA, 52): Das Streben nach Selbsterhaltung ist das erste und einzige Fundament der Tugend. Das Selbst, das sich selbst erhält und auf das sich die Vernunft bezieht, wird im weiteren Verlauf der Aufklärung immer weiter destilliert, bis hin zum transzendentalen und schließlich dem abstraktesten, dem logischen Subjekt. „Wer unmittelbar, ohne rationale Beziehung auf Selbsterhaltung dem Leben sich überlässt, fällt nach dem Urteil von Aufklärung wie Protestantismus ins Vorgeschichtliche zurück.“ (DdA, 52) Horkheimer und Adorno verbinden den Begriff der Selbsterhaltung mit dem der Arbeit, angedeutet und mitgedacht im Hinweis auf den Protestantismus; die philosophische Diskussion ist immer zugleich, wenn auch indirekt, die der Kritik der politischen Ökonomie: „Vermittelt durchs Prinzip des Selbst ist die gesellschaftliche Arbeit jedes Einzelnen in der bürgerlichen Wirtschaft“ (DdA, 52). Arbeit ist hier gesetzt als an sich gesellschaftlich, aber

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vermittelt durch die gesellschaftliche Form des Individuums. „Je weiter aber der Prozeß der Selbsterhaltung durch bürgerliche Arbeitsteilung geleistet wird, umso mehr erzwingt er die Selbstentäußerung der Individuen, die sich an Leib und Seele nach der technischen Apparatur zu formen haben.“ (DdA, 52) Der Prozess der Selbsterhaltung hieße in der Sprache der Ökonomie ‚die Wirtschaft‘; in der Sprache der Philosophie hieße die „Selbstentäußerung der Individuen“ – also der Verkauf und die Vergegenständlichung des Selbst – gerne auch ‚Entfremdung‘. Der Vorgang ist zutiefst ironisch: je arbeitsteiliger, also entwickelter die Gesellschaft, desto mehr bedeutet Selbsterhaltung Selbstentäußerung. Um sich zu erhalten, gibt das Subjekt sich auf.

3 Fabrik, Büro, Hörsaal „Dem trägt wiederum das aufgeklärte Denken Rechnung: schließlich wird dem Schein nach das transzendentale Subjekt der Erkenntnis als die letzte Erinnerung an Subjektivität selbst noch abgeschafft und durch die desto reibungslosere Arbeit der selbsttätigen Ordnungsmechanismen ersetzt. Die Subjektivität hat sich zur Logik angeblich beliebiger Spielregeln verflüchtigt, um desto ungehemmter zu verfügen.“ (DdA, 52–53) Dieser Vorgang vollzieht sich in der letzten Schrumpfform der Aufklärung, dem logischen Positivismus: anstelle der Subjekte wird die von ihnen erdachte Logik zum Subjekt. Mit dem Denken wird „noch die letzte unterbrechende Instanz zwischen individueller Handlung und gesellschaftlicher Norm beseitigt“. Vernunft wird „zum bloßen Hilfsmittel der allumfassenden Wirtschaftsapparatur“, sie „dient als allgemeines Werkzeug […] zur Verfertigung aller andern Werkzeuge“ (DdA, 53). Diese Art Vernunft ist eindeutig, starr, zwanghaft wie die Selbsterhaltung selbst. Sie „spitzt sich immer wieder zu auf die Wahl zwischen Überleben und Untergang, die noch widerscheint im Prinzip, daß von zwei kontradiktorischen Sätzen nur einer wahr und einer falsch sein kann.“ Hochformalisiertes Denken wird gedankenlos wie die ökonomische Realität: „Die Verweisung des Denkens aus der Logik ratifiziert im Hörsaal die Versachlichung des Menschen in Fabrik und Büro“: ein waschechtes Basis-Überbau-Argument, was in der Kritischen Theorie recht selten vorkommt. Horkheimer und Adorno setzen ihren Befund der Gegenwartskritik in Beziehung zum Zivilisationsprozess: „Das von Zivilisation vollends erfaßte Selbst löst sich auf in ein Element jener Unmenschlichkeit, der Zivilisation von Anbeginn zu entrinnen trachtete“ (DdA, 53–54; nicht kursiv im Originaltext). Diese Verschiebung der Perspektive gibt der Gegenwartskritik zusätzliches Gewicht: die

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kapitalistisch verfasste Menschheit verspielt all das glückversprechende Kapital, das die Menschheit in der Hoffnung auf bessere Zeiten aufgehäuft hat. Wir zerstören nicht nur uns selbst, sondern auch die Hoffnungen und die Schecks, die unsere Vorfahren auf unsere oder unserer Nachkommen Namen ausgestellt haben. Dies ist starke Munition, sofern man Walter Benjamins Argument akzeptiert, dass wir nicht für ein besseres Leben in der Zukunft kämpfen, sondern um das Angedenken der Toten, darum, deren Opfer zu ehren und nicht billig zu verschleudern (Benjamin 1977 [geschrieben 1940, Erstveröffentlichung 1942]). Die Geschichte des Zivilisationsprozesses, der im Zeichen des Henkers stand, verpflichtet: das Wissen um all die Unmenschlichkeit, die im Namen zukünftiger Menschlichkeit erlitten wurde, verbietet uns, unmenschlich zu bleiben. Zivilisation, Geist, Aufklärung zielen darauf, aus dem Kreislauf bewusstloser Selbsterhaltung, nämlich Natur, herauszutreten. Zivilisation, die sich im Zeichen der Selbsterhaltung, nämlich der Arbeit, artikuliert, widerspricht ihrem eigenen Wesen. Die kapitalistische Moderne hat eine Katastrophe herbeigeführt, die sich in ihren eigenen Begriffen nicht fassen lässt: Antisemitismus im allgemeinen, als Ideologie oder Mentalität, kann man durchaus aus den Begriffen der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer unmittelbaren Vorgeschichte erklären, nicht aber die Judenvernichtung. Sie sprengt die Parameter der Gegenwartskritik und verlangt die Verrückung der Thematik auf die Felder Anthropologie und Zivilisationskritik. Horkheimer und Adorno stellen die Frage, was denn eigentlich die Frage war, auf die die Zivilisation die Antwort zu sein versprach. Diese Frage ist: wie ist der Natur zu entkommen? Dem Begriff der Tugend, den der Aufklärer Spinoza formulierte – verweisend auf Selbsterhaltung – halten Horkheimer und Adorno entgegen, dass Selbsterhaltung gerade das Prinzip der Natur sei, dass also die Aufklärung – in der Person Spinozas – einen zumindest unvollständigen Begriff von Aufklärung vertrat. Die über sich selbst aufgeklärte Aufklärung soll nun eingestehen, dass das, was sie nach Spinoza für ihre Tugend hielt, gerade ihre weniger tugendhafte, wenn auch notwendige Seite sei: taktische Anpassung an das Gegenüber. Sie soll nun dialektischerweise in sich gehen und sehen, ob es da nicht noch Tugendhafteres gibt, und Besseres: etwas Besseres als die Arbeit. Je toller die arbeitswütige Menschheit sich abstrampelt, um von der Natur wegzukommen, umso tiefer reitet sie sich in den Morast, und je weniger gewiss der Sieg erscheint, umso grösser der Hass auf die Natur und alles, was in der Kultur an sie erinnert, nämlich „[m]imetische, mythische, metaphysische Verhaltensweisen“ (DdA, 54). Sie sind die fünften Kolonnen, die die Natur innerhalb der wohltemperierten Zivilisation unterhält, die zu erschaffen solch elende Maloche war. Vor den Machenschaften nomadischer und anderer unaufgeklärter Rassen und Geschlechter heißt es auf der Hut zu sein, aber auch vor denen, die

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sich sorglos und verweichlicht „dem Leben“ überlassen (DdA, 52) und dabei die Selbsterhaltungskräfte schwächen. Aufklärung, die im verbissenen Kampf gegen die bloße Selbsterhaltung zur bloßen Selbsterhaltung heruntergekommen ist, kann nach jahrtausendelanger Indienstnahme des Denkens durch die Praxis, geglückte Selbsterhaltung, jetzt ganz aufs nunmehr automatisierte Denken verzichten. Horkheimer und Adorno deuten hier an, wenn auch nur indirekt, wie sich die aufgeklärte Aufklärung selbst heilen kann: die „Lenker der Produktion“ fürchten die Vernunft „an den Enterbten“ (DdA, 55), weil Aufklärung offenbar die Seiten wechseln und dabei sich ändern kann. Der folgende Satz ist entscheidend in diesem Zusammenhang: „Das Wesen der Aufklärung ist die Alternative, deren Unausweichlichkeit die der Herrschaft ist.“ (DdA, 55) „Die Alternative“ bezeichnet hier den dichotomischen Charakter der Vernunft: die Alternative (wörtlich: das entweder/oder) von ja/nein, wegrennen/speerwerfen, Strom fließt/ Strom fließt nicht. Diese Dichotomien sind ebenso unausweichlich wie Herrschaft – nämlich nicht unausweichlich: Herrschaft ist für Horkheimer und Adorno keineswegs unausweichlich, was heißt, dass auch die Herrschaftslogik des ausgeschlossenen Dritten nicht unausweichlich ist. Eine andere, nicht-positivistische Logik, nämlich die dialektische, ist ebenso menschenmöglich wie die Abschaffung von Herrschaft menschenmöglich ist. Darum geht es. Der letzte Satz in diesem langen Absatz lautet: „Unter dem Zwang der Herrschaft hat die menschliche Arbeit seit je vom Mythos hinweggeführt, in dessen Bannkreis sie unter der Herrschaft stets wieder geriet.“ Die Implikation ist sicherlich, ex negativo, dass ‚menschliche Arbeit‘, im Dienste der Selbsterhaltung, nicht zum Mythos zurückführen muss, sofern sie nur aus dem Bannkreis der Herrschaft tritt. Soweit die Argumentation von Abschn. 3, Absatz 1 von „Begriff der Aufklärung“.

4 Die Sirenenepisode: Arbeit, Konformität, Ohnmacht Die folgenden drei Absätze sind der Sirenen-Episode aus dem zwölften Buch der Odyssee, dem Epos Homers aus dem 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, gewidmet (DdA, 55–60). (Dies ist nicht zu verwechseln mit dem ‚Exkurs‘ zur Odyssee, der den gesamten zweiten Teil der Dialektik der Aufklärung einnimmt [67–103]). Die Sirenen-Episode wird von Horkheimer und Adorno als eine Reflexion über „die Verschlingung von Mythos, Herrschaft und Arbeit“ vorgestellt. Sirenen sind verführerisch singende Halbgöttinnen, in der bildlichen Darstel­ lung manchmal halb Vogel, halb Frau, die im Mythos mit dem Tod assoziiert

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werden; ihr Gesang ist tödlich. Homer beschreibt, wie das Schiff des Odysseus unbeschadet an der Heimstatt der Sirenen vorbeifährt: dies geschieht dadurch, dass die Besatzungsmitglieder sich die Ohren verstopfen. Das Bemerkenswerte an der Geschichte ist, dass Odysseus selbst sich nicht die Ohren verstopft, sondern sich an den Schiffsmast fesseln lässt: er hört sich die Gesänge an, die ihre fatale Wirkung tun, befiehlt seinen Leuten, ihn loszubinden, sodass er sich in die Arme und auf die Felsen der Sirenen und damit in den Tod stürzen kann. Dies geschieht aber nicht, da die Besatzungsmitglieder nichts hören können. Adorno und Horkheimer interpretieren dieses seltsam masochistische Arrangement als eine von mehreren Stationen der Charakterbildung des Helden Odysseus, der sich im Verlauf des Epos, nicht unähnlich einem modernen bürgerlichen Roman, zu einem gewissermaßen prototypischen bürgerlichen Subjekt stählt. Die Anstrengung, die nötig ist, um den Gesängen der Sirenen zu widerstehen, wiederholt im Kleinen die des Zivilisationsprozesses im Ganzen: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.“ (DdA, 56) Die Odyssee ist hier bemerkenswert klassenbewusst: Den Arbeitern werden die Ohren verstopft, sodass sie unbehelligt von den schönen Gesängen rudern können, während der Boss sich an den Mast fesseln lässt, aber seine Ohren der Darbietung aussetzt. Die Interpretation endet in der folgenden Passage: „Die Ruderer, die nicht zueinander sprechen können, sind einer wie der andere im gleichen Takte eingespannt wie der moderne Arbeiter in der Fabrik, im Kino und im Kollektiv. Die konkreten Arbeitsbedingungen in der Gesellschaft erzwingen den Konformismus und nicht die bewußten Beeinflussungen, welche zusätzlich die unterdrückten Menschen dumm machten und von der Wahrheit abzögen. Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft, in die das antike Fatum unter der Anstrengung, ihm zu entgehen, sich schließlich gewandelt hat.“ (DdA, 60) Konformismus und Ohnmacht der Arbeiter entstammen nicht Ideologie und Kultur, sondern der Organisation der Arbeit. Die herrschende Klasse braucht keinen Priesterbetrug – bewusste, planvolle, lügnerische Irreleitung der Unterdrückten –, da die Materialität der Gesellschaft, zum Beispiel die räumliche Anordnung der Individuen, aus sich heraus Konformismus und Ohnmacht produziert. Das Bild der Ruderer auf dem Schiff ruft in Horkheimer und Adorno das der Fabrik, aber auch des Kinos auf, das die Individuen isoliert und p­ arallel

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ausrichtet.7 (Zumal die ersten beiden Elemente des Dreiklangs Fabrik, Kino und Kollektiv für Wirtschaft und Kultur einstehen, liegt es nahe anzunehmen, dass der Begriff des ‚Kollektivs‘ sich auf eine politische Kollektivität bezieht, Staat, Nation oder irgendeine andere Art von ‚Racket‘.) Die Menschheit hat die moderne Industriegesellschaft – wie die Zivilisation überhaupt – geschaffen, um dem „Fatum“, der Schicksalsverfallenheit der vorgeschichtlichen Nichtgesellschaft, zu entgehen. Das ging schief: das Fatum hat sich lediglich in die Fabrik verwandelt. Die Ohnmacht wurde nicht aufgehoben, sondern mächtiger.

5 Die Arbeiterbewegung nicht radikal genug: gegen die unnötige Notwendigkeit Odysseus’ schwimmendes Fabrik-Kino-Kollektiv illustriert die Tatsache, dass die kapitalistische Gesellschaft die Ohnmacht der Arbeiter voraussetzt. Hierauf folgt der Satz, der den abschließenden Argumentationsstrang des ersten Kapitels einleitet, ein Satz, in dem, wie so oft in den Texten der Kritischen Theorie, das Wort ‚aber‘ die dialektische Einkassierung signalisiert und damit besondere Aufmerksamkeit verdient: „Diese logische Notwendigkeit aber ist keine endgültige. Sie bleibt an die Herrschaft gefesselt, als deren Abglanz und Werkzeug zugleich. Daher ist ihre Wahrheit nicht weniger fragwürdig als ihre Evidenz unausweichbar.“ (DdA, 60) Die ‚Wahrheit‘ ihrer eigenen Diagnose – die der Notwendigkeit der Ohnmacht in der gegenwärtigen Gesellschaft – ist fragwürdig; die Evidenz dieser Wahrheit ist nicht ‚unausweichbar‘, denn – so die Implikation – Herrschaft selbst ist nicht notwendig. Hier, im Schlussteil von „Begriff der Aufklärung“, geraten Horkheimer und Adorno fast ins Schwärmen über Rationalität und Denkarbeit: „Die eigene Fragwürdigkeit konkret zu bezeichnen freilich hat Denken stets wieder ausgereicht. Es ist der Knecht, dem der Herr nicht nach Belieben Einhalt tun kann. Indem die Herrschaft, seit die Menschen seßhaft wurden, und dann in der Warenwirtschaft, zu Gesetz und Organisation sich verdinglichte, musste sie sich beschränken. Das Instrument gewinnt Selbständigkeit: die vermittelnde Instanz des Geistes mildert unabhängig vom Willen der Lenker die Unmittelbarkeit des ökonomischen Unrechts. Die Instrumente der Herrschaft, die alle erfassen sollen, Sprache, Waffen, schließlich Maschinen, müssen sich von allen erfassen

7Die

Kritik der räumlichen Struktur des Theaters als isolierend und trennend findet sich schon in Rousseaus „Brief an d’Alembert über das Theater“ von 1758 (Lloyd/Thomas 1998, 38).

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lassen. So setzt sich in der Herrschaft das Moment der Rationalität als ein von ihr auch verschiedenes durch. Die Gegenständlichkeit des Mittels, die es universal verfügbar macht, seine ‚Objektivität‘ für alle, impliziert bereits die Kritik von Herrschaft, als deren Mittel Denken erwuchs.“ (DdA, 60) Konträr zu Dichotomien wie der von „System“ und „Lebenswelt“ – die prosaische, Habermas’sche Variation auf die romantische Idee von „Gesellschaft und Gemeinschaft“ – tritt hier nun Verdinglichung als Hoffnungsträger der Aufklärung auf. Das Denken ist zwar der Knecht der Herrschaft, aber Knechte sind nicht immer und unbedingt gehorsam und gefügig. Der Fortschritt der Herrschaft bedeutet auch ihre Beschränkung. Die Instrumentalität und Dinglichkeit der Mittel – des Denkens wie der Kanonen – bedeutet ihre Demokratisierung und schafft die Möglichkeit ihrer Entwendung. Die Maschinen verstümmeln die Menschen zwar, aber „[i]n der Gestalt der Maschinen […] bewegt die entfremdete Ratio auf eine Gesellschaft sich zu, die das Denken in seiner Verfestigung als materielle wie intellektuelle Apparatur mit dem befreiten Lebendigen versöhnt und auf die Gesellschaft selbst als sein reales Subjekt bezieht“ (DdA, 60–61). Das Ziel ist daher nicht etwa, die versteinerte Apparatur – die Verdinglichung oder „Entfremdung, um den Philosophen verständlich zu bleiben“ (Marx/Engels 1969 [1845/6; 1932], 34) – loszuwerden, sondern sie mit den Menschen zu versöhnen. Das ist die Dialektik der Aufklärung: „Seit je war[en] der partikulare Ursprung des Denkens und seine universale Perspektive untrennbar.“ Die universale Perspektive, das heißt die Perspektive auf die menschliche Gesellschaft, hat ihre eigene lange Geschichte, aber in der Gegenwart ist sie, entgegen anderslautender Gerüchte, besonders deutlich: „Heute ist, mit der Verwandlung der Welt in Industrie, die Perspektive des Allgemeinen, die gesellschaftliche Verwirklichung des Denkens, so weit offen, daß ihretwegen Denken von den Herrschenden selber als bloße Ideologie verleugnet wird.“ (DdA, 61) Hier liegt der dunkle Optimismus der Dialektik der Aufklärung: Die Dinge stehen tatsächlich so schlecht, weil sie wirklich so gut stehen. Die „gesellschaftliche Verwirklichung des Denkens“, also die Erfüllung der Aufklärung, ist heute endlich konkrete Möglichkeit – dank des ungeheuren Fortschritts der ‚Entfremdung‘. Eben weil die Aufklärung so weit gediehen ist, dass sie sich endlich gesellschaftlich verwirklichen könnte, wird sie von den Herrschenden denunziert. Heute, siebzig Jahre nach der Veröffentlichung der Dialektik der Aufklärung, sind beide Seiten dieser Dialektik noch gewaltiger entwickelt und akuter: die Reife der Bedingungen zur Realisierung der Aufklärung und ihre systemische Sabotage.

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Im letzten Absatz von „Begriff der Aufklärung“ wird unmissverständlich ausgeteilt und Partei bezogen: für Denken, Aufklärung, Technologie, Fortschritt und revolutionäre Fantasie, gegen den Ökonomismus der sozialistischen Bewegung, gegen Herrschaft und vermeintliche Notwendigkeit, gegen konservative Soziologie und romantisierende Gegenaufklärung: „Die Herrschaft bis ins Denken selbst hinein als unversöhnte Natur zu erkennen aber vermöchte jene Notwendigkeit zu lockern, welcher als Zugeständnis an den reaktionären common sense der Sozialismus selbst vorschnell die Ewigkeit bestätigte.“ (DdA, 64) Entgegen dem sozialistischen Dogma ist Notwendigkeit (von Arbeit, Produktion, Ökonomie, Naturbeherrschung) nicht ewig, sondern kann zumindest gelockert werden. Die Lockerung kann durch Aufklärung erreicht werden, also Selbstreflexion, die versteht, dass Herrschaft „unversöhnte Natur“ ist: Naturbeherrschung betreiben heißt, dem Prinzip Natur unterworfen zu bleiben. „Indem er für alle Zukunft die Notwendigkeit zur Basis erhob und den Geist auf gut idealistisch zur höchsten Spitze depravierte, hielt [der Sozialismus] das Erbe der bürgerlichen Philosophie allzu krampfhaft fest.“ (DdA, 64) Der Sozialismus tut der Notwendigkeit zu viel Ehre an, wenn er sie als Basis anspricht. Damit beraubt er den Geist der Möglichkeit, dort wirksam zu werden, wo es darauf ankommt: in der Gesellschaft als Ganzer, nicht in einem abgespaltenen kulturellen Überbau. Geist und Aufklärung werden „depraviert“, wenn man sie in die Vitrine verbannt. Der ökonomistische Sozialismus ist daher nicht proletarisch-revolutionär, sondern rückständig und bürgerlich.8 „Mit der Preisgabe des Denkens, das in seiner verdinglichten Gestalt als Mathematik, Maschine, Organisation an den seiner vergessenden Menschen sich rächt, hat Aufklärung ihrer eigenen Verwirklichung entsagt. Indem sie alles Einzelne in Zucht nahm, ließ sie dem unbegriffenen Ganzen die Freiheit, als Herrschaft über die Dinge auf Sein und Bewußtsein der Menschen zurückzuschlagen. Umwälzende wahre Praxis aber hängt ab von der Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Bewußtlosigkeit, mit der die Gesellschaft das Denken sich verhärten läßt.“ (DdA, 65) Verdinglichtes Denken rächt sich an den Menschen nur, weil sie des Denkens nicht mehr mächtig sind; dies bedeutet, dass die Aufklärung auf ihre eigene Verwirklichung verzichtet. Sie konzentriert sich auf die Herrschaft über die einzelnen

8Dies

war schon das Ergebnis der ersten empirischen Studie des Instituts für Sozialforschung zu Beginn der 1930er Jahre (Fromm, 1980).

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Dinge, die Totalität außer Acht lassend, weshalb Herrschaft über die Dinge Sein und Bewusstsein der Menschen korrumpiert. Nichts davon ist unvermeidbar oder gar ewig: dem Vergessen kann abgeholfen werden. Nur unreflektierte Aufklärung wird totalitär und zerstört Freiheit. Nicht „Mathematik, Maschine, Organisation“ an sich sind das Problem: „Nicht die materiellen Voraussetzungen der Erfüllung, die losgelassene Technik als solche, stellen die Erfüllung in Frage. Das behaupten die Soziologen, die nun wieder auf ein Gegenmittel sinnen, und sei es kollektivistischen Schlages, um des Gegenmittels Herr zu werden.“ (DdA, 65) Horkheimer und Adorno zitieren in einer Fußnote einen Forschungsbericht der Rockefeller Foundation von 1943, der von Technologie spricht, als hätten die Rockefellers zu viel Heidegger gelesen: die Frage der Technologie sei „the supreme question which confronts our generation today“ (DdA, 65). Die Soziologen finden, die Technologie müsse unter gesellschaftliche Kontrolle gebracht werden, als sei sie eine Naturgewalt und nicht das von der Menschengesellschaft selbst geschaffene Mittel, die Natur unter Kontrolle zu bringen. Nicht die Technologie ist das Problem, sondern ein „gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang“, der die Menschen lehrt, das positiv Gegebene mythisch zu respektieren. Horkheimer und Adorno verteidigen die revolutionäre Fantasie gegen ihre Denunziation als ‚Utopismus‘: „noch die revolutionäre Phantasie [schämt] sich als Utopismus vor sich selber“ und entartet „zum fügsamen Vertrauen auf die objektive Tendenz der Geschichte“ – eine weitere Anlehnung an Benjamins „Zum Begriff der Geschichte“. Nur die angepasste Aufklärung, Verbündete der „blinde[n] Herrschaft“, ist „so destruktiv, wie ihre romantischen Feinde es ihr nachsagen.“ Horkheimer und Adorno erwarten einiges von der „unnachgiebigen Theorie“: ihr Geist „vermöchte den des erbarmungslosen Fortschritts selber an seinem Ziel umzuwenden.“ Obwohl die bürgerliche Gesellschaft fortwährend gewinnt, kann Aufklärung trotz allem am Ende gewinnen, wenn die bürgerliche Gesellschaft sich darin erschöpft hat, alle Bedingungen zu ihrer eigenen Überwindung bereitzustellen. Nur darf die Aufklärung sich nicht unterdessen an sie anpassen: „Indem die bürgerliche Wirtschaft die Gewalt durch die Vermittlung des Marktes vervielfachte, hat sie auch ihre Dinge und Kräfte so vervielfacht, daß es zu deren Verwaltung nicht bloß der Könige, sondern auch der Bürger nicht mehr bedarf: nur noch Aller. Sie lernen an der Macht der Dinge, der Macht endlich zu entraten.“ (DdA, 66) Wissen vermag nun überzugehen in die Auflösung von Herrschaft. Leider haben die Herrschenden davon aber auch schon Wind gekriegt: „Angesichts solcher Möglichkeit aber wandelt im Dienst der Gegenwart Aufklärung sich zum

Wer aber von der Geschichte des Subjekts nicht reden

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totalen Betrug der Massen um.“ Dies ist der etwas deprimierende Schlusssatz von „Begriff der Aufklärung“. Aufklärung wird Massenbetrug, wenn sie im Dienst der Gegenwart steht und die Nutznießer dieser Gegenwart die emanzipatorische Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft fürchten müssen. Dieser Einwand wird dann aber im berühmten letzten Satz des fünften Teils wieder einkassiert, also (wenn man von den Aufzeichnungen und Entwürfen absieht) dem Schlussplädoyer des Buches (in seiner Gestalt von 1947): „Die ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende Aufklärung selbst vermöchte die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen.“ (DdA, 238) * Ein Dokument der Verzweiflung zu schreiben, wäre in Erwägung der Umstände naheliegend gewesen. Es überrascht und verwirrt, dass die Dialektik der Aufklärung kein solches Dokument ist. Das Buch hält vielmehr, was der Titel verspricht: eine Untersuchung der Dialektik, nicht des Scheiterns der Aufklärung. Die dunkle Seite dieser Dialektik ist evident; die optimistische Seite ist erklärungsbedürftig. Der Schlüssel zum Verständnis der dialektischen Argumentation ist die Verschränkung von Zeit- oder Kapitalismuskritik einerseits, Zivilisationskritik andererseits. Die anthropologische Dimension gibt beiden Seiten der Dialektik Tiefe: Vernichtungsantisemitismus und Holocaust sind nicht aus der Kapitalismusanalyse allein zu erklären, aber die anthropologisch untermauerte Antisemitismusanalyse untermauert wiederum die des Kapitalismus. Zugleich wird die Heftigkeit der Denunziation der Aufklärung in der Spätmoderne mit der herangereiften Offensichtlichkeit des emanzipatorischen Potenzials erklärt, das sie trotz allem – „quand même“ – bereithält (DdA, 247). Die brutalste, dümmste und zerstörerischste Seite der Zivilisation verweist daher, ex negativo, auf das ihr noch immer innewohnende Moment der Erlösung, auf deren Verhinderung die Katastrophe abzielte. Die Dialektik der Aufklärung ist ein Dokument der Zurückweisung dieser Verhinderung.

Literatur Benjamin, Walter. 1977 [1940/1942]. Über den Begriff der Geschichte. In: Illuminationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 251–261. De Beauvoir, Simone. 1949. Le Deuxième Sexe. II. L’expérience vécue. Paris: Gallimard. Fromm, Erich. 1980 [ca. 1932]. Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung. Hrsg. Wolfgang Bonß. München: dtv. Goethe, Johann Wolfgang. 1953 [1808-1832]. Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Stuttgart: Kröner. Gorer, Geoffrey. 1932. The revolutionary ideas of the Marquis de Sade. London: Wishart.

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Teil III Kultur und Kulturindustrie

Dialektik der Aufklärung in Bayreuth? Wagners Ring im Lichte der Dialektik der Aufklärung Helge Høibraaten

1. Der 1874 vollendete Ring von Richard Wagner – die Struktur der Handlung mitsamt der die Handlung operativ steuernden Ideen – kann zur Erhellung des Thesensatzes der Dialektik der Aufklärung dienen: „schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“ (Horkheimer/Adorno [1947] 1969, 6, im Folgenden zitiert als DdA) Wir stellen zunächst die erste These dar, wie sie vor allem im Odysseus-Kapitel und in der Einleitung von Horkheimer und Adorno vorgestellt wird (Abschn. 2). Danach geht es um den Ring und um die Brauchbarkeit beider Thesen für das Verständnis der Tetralogie (Abschn. 3, 4, 5 und 6). Wir gehen dabei ein wenig auch auf Adornos Versuch über Wagner ein. 2. Vom Anfang – ich meine vom mythischen Anfang – an hat der hochkomplexe, aus Elementen der Nibelungensage und altnordischer Götter- und Heroenlehre filigran zusammengeschweißte Ring-Mythos etwas mit Aufklärung im Sinne von Horkheimer und Adorno zu tun. Wotan trinkt, um zur Weisheit zu gelangen, aus der Quelle des Riesen Mimir am Fuß der Weltesche Yggdrasil. Für die Weisheit bezahlt er mit einem Auge. Robert Donington formuliert dies so, dass das Augenopfer nach außen die Fähigkeit, mit den Augen auch halbwegs nach innen zu sehen, erbringt (Donington 1974, 69; vgl. auch Bermbach 2001, 33). Wotan tritt also aus dem Unbewussten der bloßen Außenwelt in einen Innenraum der bewussten Einsicht, um von dieser

H. Høibraaten (*)  Norwegian University of Science and Technology, Trondheim, Norwegen E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_10

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Warte aus ein bewusstes Leben führen zu können, die Welt begreifen und gestalten zu können. Er will, wie wir sehen w ­ erden, die fluktuierende Welt des Ursprungs, die sich im Spiel der Rheintöchter so schön zeigt, in Ordnung bringen, der Welt eine Verfassung geben. Zu diesem Zweck bricht er aus der Weltesche einen Ast, den er zu einem Verträge stiftenden Speer formt, fügt aber damit der Natur und der Welt eine letztlich fatale Wunde zu. Aber, um zum Thema des Opfers um der Weisheit willen zurückzukommen: Donington erwähnt aus der Edda auch, dass sich Odin – altnordisch für Wotan – mit einem Speer verwundet und für neun Tage und Nächte an der Weltesche aufhängt, bis er deren Runen zu lesen imstande ist. Wie sind diese beiden Ur-Taten Wotans – das Augenopfer und diese Leidensbereitschaft – zu deuten? Als Beispiele dafür, dass Mythos schon Aufklärung ist. Wenn auch das Aufklärungs-Verständnis von Horkheimer und Adorno Wagner nicht aufgezwungen werden kann, passen einige Elemente des Rings nicht schlecht zu der etwas reduktiven, radikal kritischen Perspektive auf die Aufklärung bei Horkheimer und Adorno, wie wir nach und nach sehen werden. Wenden wir uns aber zunächst dem Odysseus-Kapitel zu. Horkheimer und Adorno finden Wahrheit an der oben genannten „berühmten Erzählung der nordischen Mythologie, der zufolge Odin als Opfer für sich selbst am Baum hing, und an der These von Klages, dass jegliches Opfer das des Gottes an den Gott sei“ (DdA, 61). Welche Wahrheit? Ist die Pointe die, dass der Gott, weil er das Höchste ist, sich nur für sich selbst opfern kann? Nein, gerade nicht, oder sozusagen nur, mit der berühmten Formulierung Durkheims, wenn es auch für den Menschen gilt, dass es für Menschen nichts Höheres gibt als den Menschen. Es geht aber nach Horkheimer und Adorno hier nicht um das Höchste, sozusagen um die positive Vergöttlichung des Menschen, sondern es geht um den Preis dafür, dass man den Innenraum des Selbst erreicht hat – einen Preis, den auch der Gott Odin selbst entrichtet? Die Geschichte der Entstehung dieses Selbst ist „die Geschichte der„Introversion des Opfers“ oder die „Geschichte der Entsagung“ (DdA, 62). Das Opfer ist ein grundlegendes Thema in der Dialektik der Aufklärung, vor allem im Exkurs über Odysseus. Allerdings geht es in der Odyssee vor allem um das Opfer als listige und betrügerische „Veranstaltung der Menschen, die Götter zu beherrschen, die gestürzt werden gerade durch das System der ihnen widerfahrenden Ehrung“ (DdA, 56). „Vor den Göttern besteht nur, wer sich ohne Rest unterwirft“, schreiben Horkheimer und Adorno über die frühen Griechen. „Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen.“ (DdA, 15) Die Opferhandlungen des Odysseus werden aber planmäßig so betrieben, dass die Götter „dem Primat der menschlichen Zwecke“ (DdA, 57) unterstellt werden und „die Welt dem Menschen

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untertan“ wird (DdA, 14). Insofern könnte man durchaus fragen, ob der Mensch nicht doch das Höchste ist? Horkheimer und Adorno behaupten aber, dass gegenüber der Einheit einer Vernunft, die die Macht als das Prinzip aller Beziehungen anerkennt, die Scheidung zwischen Gott und Mensch irrelevant wird: „Als Gebieter über Natur gleichen sich der schaffende Gott und der ordnende Geist. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn, im Kommando.“ (DdA, 15) Überlistet werden übrigens typischer Weise Naturgottheiten, von Odysseus wie von den olympischen Göttern (DdA, 57). Der bekannteste Betrug des Odysseus handelt vom Kyklopen Polyphem, den Odysseus – nachdem Polyphem tagelang von seinen Männern gegessen hatte – austrickst, nicht zuletzt dadurch, dass er sich der Nähe seines Namens zum Wort „Niemand“ bedient. Wenn man von Niemand betrogen wird, kann man auch keine Hilfe erwarten. Diese Dummheit des Polyphem ist aus einem anderen Grund aufschlussreich: Homer begreift sie als Produkt eines Denkens, das „gesetzlos, unsystematisch, rhapsodisch sei“ (DdA, 72 f.) und sieht dies wiederum im Zusammenhang mit einer voragrarischen Lebensform der Kyklopen, einer Lebensform ohne komplexere Arbeit, Gesetze und Ratsversammlung. Polyphem ist Sohn des Meeresgottes Poseidon, dessen elementarische Volksreligion älter sei als „der universale, distanzierte Himmelsgott Zeus“ und die „logozentrische Gesetzesreligion“ des Olymp (DdA, 73). Odysseus steht, als methodisch Denkender, Zeus näher, auch wenn er genötigt ist, auf den Wogen des Elementargottes, der ihm Feind ist, zu segeln. Die Irrationalität Polyphems schlägt sich sozusagen in den Wogen seines Vaters nieder. Das heißt aber allgemein, dass Odysseus zunächst – im Unterschied zum Wolken sammelnden Zeus – überleben muss. Die Macht als Prinzip aller Beziehungen erkennt er an: „Nur die bewußt gehandhabte Anpassung an die Natur bringt diese unter die Gewalt des physisch Schwächeren.“ (DdA, 64) Odysseus „schmiegt dem Vertrauen Polyphems sich ein“ (DdA, 74), indem er ihm Wein zum Menschenfleisch seiner eigenen Männer anbietet. Polyphem trinkt und schläft ein, die Wogen glätten sich sozusagen, und Odysseus kann zuschlagen. Die Einschätzung der Kräfteverhältnisse mache Odysseus „virtuell vom Tode abhängig“ (DdA, 65): die heranschmiegende Mimesis seiner Vernunft habe die Beseelung der Natur schon aufgelöst und sei eine „Mimesis: die ans Tote“, ans Starre (DdA, 64). Damit sind wir beim Thema Entsagung, denn wer das Starre imitiert, muss starr werden, muss Verluste an Männern schon zuvor einkalkulieren, wenn er sich zwischen Scylla und Charybdis durchwinden und überleben soll, er muss also „warten können, Geduld haben, verzichten“ (DdA, 65) – worauf? Nicht bloß

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aufs Lotos-Essen (Narkotika), sondern auf den „Drang zum ganzen, allgemeinen, ungeteilten Glück“ (DdA, 65). Wem das ein wenig überspannt vorkommt, der muss die Parallele nachvollziehen, die Horkheimer und Adorno zwischen zwei Arten von Trug ziehen: dem Trug der Priester einerseits, die das Menschenopfer, und zwar trotz der uralten Erfahrung, „dass die symbolische Kommunikation mit der Gottheit durchs Opfer nicht real ist“, dennoch als „Rationalisierung des Mordes durch Apotheose des Auserwählten“ rechtfertigen; und andererseits dem Trug, der „seit je am Ich zu spüren [ist], das sich selbst dem Opfer des Augenblicks an die Zukunft verdankt.“ Die Parallele wird im nächsten Satz direkt benannt: „Seine [des Ichs, HH – und zwar göttliche] Substanzialität ist Schein wie die Unsterblichkeit des Hingeschlachteten.“ (DdA, 58) Die Autoren hatten schon geschrieben, dass Odysseus selber sowohl als Opfer wie als Priester fungiere (DdA, 57). Wenn sie nun sagen: „Nicht umsonst galt Odysseus vielen als Gottheit“ (DdA, 58), dann wird das heißen, dass er sich selbst vor allem durch Priestertrug vergöttlicht hat, in dem er sich scheinbar opferte und dennoch überlebte. Zwar betonen die Autoren, dass in der Geschichte der Entsagung, die sie im Kontext der „falschen Gesellschaft“ (DdA, 62) lesen, „jeder zu viel ist und betrogen [wird]“ (ebd.). Das gilt dann auch für Odysseus, dessen Selbst „immerzu sich bezwingt und darüber das Leben versäumt, das es rettet und bloß noch als Irrfahrt erinnert“ (DdA, 62 f.). Sie schreiben aber auch: „Keineswegs […] stehen Betrug, List und Rationalität in einfachem Gegensatz zur Archaik des Opfers. Durch Odysseus wird einzig das Moment des Betrugs am Opfer, der innerste Grund vielleicht für den Scheincharakter des Mythos, zum Selbstbewußtsein erhoben.“ (DdA, 57 f.) Der Preis dafür: Das Opfer des Augenblicks, das wir genannt haben. Dies ist aber nicht bloß das Opfer des Augenblicks, sondern das Opfer des lebendigen Augenblicks, des Augenblicks als Leben – also „das Lebendige […], das die […] Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet“, eigentlich gerade erhalten solle (DdA, 62). Albrecht Wellmer nennt schlichter die „Unterdrückung von […] anarchischen Glücksmomenten“ (Wellmer 1985, 11) als Preis für die Ausbildung eines einheitlichen, von der Natur abgeschnittenen Selbst – „der eine und identische Geist“ (DdA, 15), wie die Autoren sagen, oder auch das Subjekt, das sodann eine Art Herrschaft von außen über diese – nunmehr „äußerliche“ – Natur antritt. Horkheimer und Adorno sprechen dabei von einer „Widervernunft des totalitären Kapitalismus“, dessen „Inthronisierung des Mittels zum Zweck […] im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt“, die aber „in der Urgeschichte der Subjektivität schon wahrnehmbar“ sei (DdA, 62). Sie sprechen davon, dass in „dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, […]

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alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, […] ja Bewußtsein selber, nichtig“ werden (DdA, 61 f.). Was sind das für Zwecke, die nichtig werden? Horkheimer und Adorno nennen den gesellschaftlichen Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Fortschritte. Als sie aber zum ersten Mal vom Sich-Abschneiden des Menschen von der Natur handelten, betonten sie das, was durchschnitten worden war: „Die Konstitution des Selbst durchschneidet eben jenen fluktuierenden Zusammenhang mit der Natur, den das Opfer des Selbst herzustellen beansprucht.“ (DdA, 58) Das sind die fluktuierenden Augenblicke, die anarchischen Glücksmomente. Das Problematische oder Dialektische dabei ist, dass – wenn das Selbst konstituiert worden ist – dieser fluktuierende Zusammenhang mit der Natur ja gerade durschnitten ist. Dieses konstituierte Selbst ist „gerade der Mensch, dem nicht mehr magische Kraft der Stellvertretung zugetraut wird“ (DdA, 58). Was ist das? Offenbar das, was Odysseus nicht mehr hat und haben will. Odysseus ist, wie betont, der Heros, „der dem Opfer sich entzieht, indem er sich opfert“ (DdA, 62). Die Autoren nennen ihn zwar auch „Opfer für die Abschaffung des Opfers“ (DdA, 63), das heißt „für eine Gesellschaft, die der Entsagung und der Herrschaft nicht mehr bedarf“ (DdA, 63), aber dies bleibt liegen. Entscheidend hier ist die Abtrennung vom fluktuierenden lebendigen Augenblick des Naturzusammenhangs – die Introversion des Opfers, die schon oben genannt wurde. Die mimeti­ sche Kraft, die Odysseus zeigt, indem er sich an seine Opfer anschmiegt, ist eine Mimesis ans Tote um des Überlebens willen. Horkheimer und Adorno beschreiben als Kontrast einen „mimetischen Zauber“ – eine Erkenntnis, die zwar von der Aufklärung „tabuisiert“ sei, die aber „den Gegenstand wirklich trifft“ (DdA, 20). Hier muss es sich um eine magische Mimesis ans Lebendige handeln, das gerade nicht durch das konstituierte Selbst zum bloß toten Gegenstand petrifiziert worden ist. Der mimetische Zauber trifft den lebendigen Gegenstand im fluktuierenden Wechsel der Momente. „In der Magie gibt es spezifische Vertretbarkeit“ (DdA, 16), schreiben die Autoren. Diese Vertretung fürs Ganze, diese Erwählung zum priesterlich rationalisierten Mord durch Vergöttlichung ist es aber gerade, der Odysseus entgehen will, auch bei einkalkulierten Verlusten an eigenen Menschenleben. Die Autoren betonen, dass Magie „blutige Unwahrheit“ sei (DdA, 15). Erkenntnis und dennoch blutige Unwahrheit? Die Magie ist ja nicht immer blutig. Sie ist ein Maskenspiel, in dem man durch Wechsel der Kultmasken vielen Geistern oder Dämonen ähnlich werden kann, sie kann „erschrecken oder […] besänftigen“ (DdA, 15 f.) – das ist nicht die Herrschaft des einen und identischen Geistes, des einheitlichen Selbst. Die Autoren verweisen aber auch auf die Kunst als ein unblutiges Erbe

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der Zauberei, nachdem dieses Selbst entstanden ist; sie habe mit der Zauberei „gemeinsam, einen eigenen, in sich abgeschlossenen Bereich zu setzen, der dem Zusammenhang profanen Daseins entrückt ist“ (DdA, 25). Sie attestieren der Magie wohl auch eine Art Ehrlichkeit, die man aber vielleicht erst in der Retrospektive richtig erkennen kann, denn: „in ihr wird Herrschaft noch nicht dadurch verleugnet, dass sie sich, in die reine Wahrheit transformiert, der ihr verfallenen Welt zugrundelegt.“ (DdA, 15) Das geschieht aber in der Zivilisation der Aufklärung: „Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. […] [Es] enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, als Substrat von Herrschaft.“ (DdA, 15) Die Dinge werden, könnte man sagen, in dieser Reduktion auf Beherrschbarkeit als unlebendige Wiederholbarkeit, zur Wahrheit eines „disponierenden Denken[s]“ gereinigt (DdA, 20). Der eine und identische Geist ist zur Herrschaft über die Dinge angetreten. Der fluktuierende Zusammenhang mit der Natur ist durchschnitten. Diese Wahrheitsmacht zur Manipulation – die Autoren spitzen noch zu, indem sie das Verhältnis der Aufklärung zu den Dingen explizit mit dem Verhältnis des Diktators zu den Menschen vergleichen (DdA, 15) – wird aber bezahlt „mit der Entfremdung von dem, worüber sie [die Menschen, HH] die Macht ausüben“ (ebd). Es wird zur nicht nur äußeren, sondern dadurch auch zur fremden Natur. Aber das schlägt dann auch auf die eigene Natur, auf die Natur als Lebendigkeit des möglichen Glücks, zurück: Denn die Entfremdung schlägt als Starre auch nach innen, und zwar schon in der odysseischen Frühzeit. „Das identisch beharrende Selbst, das in der Überwindung des Opfers entspringt, ist unmittelbar doch wieder ein hartes, steinern festgehaltenes Opferritual, das der Mensch, indem er dem Naturzusammenhang sein Bewußtsein entgegensetzt, sich selber zelebriert.“ (DdA, 61) Ist Odysseus im Betrug an seinen Opfern verschlagen, so wird diese Verschlagenheit andererseits – und von einem anderen Wahrheitsverständnis aus als dem des disponierenden Denkens – als Ausdruck der „Unwahrheit von List“, als „Verstümmelung“ (DdA, 63), verstanden; und zwar nicht als Verstümmelung des Charakters, sondern als die Verstümmelung, die dem Betrüger geschieht, indem der fluktuierende Zusammenhang mit der Natur abgeschnitten wird. Man muss sich dies ja als charakterbildende Wiederholungstat vorstellen, die Wiederholungstat gegen die Lebendigkeit des Augenblicks. Der Betrüger betrügt sich selber um den eigentlichen Zweck seines Betrugs, wofür Odysseus allerdings den Namen Wiederkehr in die Heimat hat. Allgemein wird die Sicht des Buches von den Autoren einmal wie folgt zusammengefasst, und zwar wird hier nicht nur von Entfremdung gesprochen, sondern auch von Feindschaft:

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„In der Klassengeschichte schloss die Feindschaft des Selbst gegens Opfer ein Opfer des Selbst ein, weil sie mit der Verleugnung der Natur im Menschen bezahlt ward um der Herrschaft über die außermenschliche Natur und über andere Menschen willen.“ (DdA, 61) Da das disponierende Denken der Aufklärung manipulierend-instrumental angelegt ist, werden sowohl die äußere wie auch die eigene Natur wie auch andere Menschen zu manipulierbaren Objekten, zu bloßen Mitteln. Die Verleugnung der lebendigen Natur im Menschen, auch der eigenen, ist ja das Entscheidende: die Entsagung. Die Welt wird objektiviert und steht angeblich zur Disposition eines Diktators. Was ist aber der Zweck dieser Dispositionsmacht unter den Bedingungen der Inthronisierung des Mittels zum Zweck? Was soll der Diktator tun? Er kann die steinernen Verhältnisse ja nicht durch Befehl erlösen und versöhnen. Eigentlich ist er selbst aus Stein, als Garant der steinernen Ordnung. Eigentlich ist er zwecklos, denn auf dem Thron sitzt das Mittel. Die Inthronisierung des Mittels zum Zweck macht Wahn-Sinn. „Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts.“ (DdA, 62) 3. Wir hatten Wotan/Odin, aufgehängt an der Weltesche, verlassen. Kommen wir dazu zurück: „So viel ist wahr an der berühmten Erzählung der nordischen Mythologie, der zufolge Odin als Opfer für sich selbst am Baum hing, und an der These von Klages, dass jegliches Opfer das des Gottes an den Gott sei“ (DdA, 61). Das schreiben Horkheimer und Adorno direkt nach dem Satz über das steinern festgehaltene Opferritual des identisch beharrenden Selbst, das sich selber unmittelbar zelebriere, in dem es dem Naturzusammenhang sein Bewusstsein entgegensetze (DdA, 61). Wie sieht es im Ring aus? Wir werden das selektiv im Einzelnen verfolgen. Zunächst in diesem Abschnitt der Gedankengang im Überblick: Nach seinen Bemühungen (Augenopfer, Sicherhängen am Baum) um Weisheit oder Aufklärung versucht Wotan, der Welt eine richtige Ordnung zu geben, damit ihre fluktuierende Naturgestalt – am Besten veranschaulicht durch den fließenden Rhein mit den unbekümmert spielenden Rheintöchtern – in einen Zustand des Rechts überführt werde, eine Verfassung des Rechts durch Verträge bekomme. Dazu bricht er, wie erwähnt, aus der Weltesche einen Ast aus und formt ihn zum vertragsstiftenden Speer um. Es wird eine Rechtsordnung aufgebaut, die aber zweifeln lässt, ob der Verfassungsstifter es wirklich gut mit der Ordnung meint. Sowohl der Umgang mit den Vertragspartnern wie die Nichtaufnahme des Geschlechts der Nibelungen, geführt von Alberich, wecken diesen Zweifel.

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So, wie wir Wotan in der Welt der Politik sehen, ist nicht viel von dem zu sehen, was Horkheimer und Adorno „Mimesis ans Tote“ (vgl. Abschn. 2) nennen: Wotan ist auch der Zentral-Gott, aber als Verfassungsstifter müsste er eigentlich mehr geräuschlose Vertragstreue liefern. Es wird Zweifel geweckt, ob seine Sicht von Verträgen nicht die einer rein instrumentellen Vernunft im Sinne von Horkheimer und Adorno ist, der zufolge „die Vernunft keine inhaltlichen Ziele setzt“ (DdA, 96) und die Verträge somit bloße Mittel des jeweiligen Subjekts sind – hier Wotans. Mit Alberich bekommt Wotan außerdem einen feindlichen Konkurrenten, der die Weltherrschaft selbst anstrebt und anscheinend auch ein Wundermittel zur Erlangung solcher Herrschaft gefunden hat – den Ring, den er aus seinem Raub des Goldschatzes im Rhein geschmiedet hat. Wotan hat vor diesem Feind Angst und will die Welt vor ihm retten, denkt auch daran, aufzugeben und dem Feind die Welt zu überlassen. Vor allem aber fühlt sich Wotan, der schon mit der Gesetzesform seiner Verträge Schwierigkeiten zu haben scheint, nach und nach durch die eingegangene Ordnung geknechtet und wohl verstümmelt. Also fängt er an, an eine Lösung dieses Verfassungsproblems durch einen freien Helden zu denken, der von außen kommt und der Ordnung nicht verhaftet ist. Er versucht es zweimal und macht zuerst – mit dem Projekt Siegmund – die Erfahrung, dass er, ohne es zu verstehen, nicht nur alles inszeniert, sondern dass er sich insgeheim selbst in den Helden hineinprojiziert hat. Er selbst aber ist durch die Ordnung gebunden. Also versucht er im zweiten Fall, möglichst wenig mit der Entstehung des Helden – Siegfried – zu tun zu haben. In beiden Fällen ist es aber nicht seine Absicht, dass ihm die Kontrolle wirklich entgleiten soll. Denn im Kampf mit Alberich will er mit von der Partie sein. Die Oper Siegfried stellt eine Art indirekte Herrschaft Wotans im scheinbar abgedankten oder pensionierten Zustand dar – eine „List der Vernunft“, wie Adorno mit einer Wendung Hegels formuliert (Adorno 1971, 123 ff.). Doch entgleitet Wotan die Kontrolle. Siegfried, wenn wir ihn als Lernprodukt Wotans aus dem Umgang mit Siegmund verstehen, erscheint – von seiner Furchtlosigkeit abgesehen, die ihn zu einem geeigneten Mittel der Pläne Wotans macht – vor allem als eine Null des unbestimmt Möglichen von Freiheit. Wie Freiheit und Ordnung zusammengehören, ist schon bei Wotan unklar. Mit Siegfried wird es vollends unbestimmt oder vollends banal bestimmbar. Durch die Liebe zwischen Brünnhilde und Siegfried scheint zwar etwas gelungen. Aber das ist eher das Menschwerden der liebenden Brünnhilde. Der nur schlecht sozialisierte Kraftprotz Siegfried muss, nachdem das Liebesverhältnis zwischen den beiden vollkommen ist, ins Abenteuer hinausziehen. Diese Unfähigkeit zu einer wirklich unbedingten Liebesbindung, die in der Götterdämmerung mythisch durch einen

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Liebestrank dargestellt wird, verbindet ihn mit dem Gott Wotan. Im Vergleich fehlt ihm auch die Angst um die Ordnung und die strategische Intelligenz. Siegfrieds Unbestimmtheit lässt ihn zum Mittel und Opfer des Alberich-Sohnes Hagen werden, der in der Götterdämmerung die Welt zum Zweck der Machtübernahme instrumentalisiert. Das gelingt ihm zwar letztlich nicht, weil Brünnhilde nach Siegfrieds Tod endlich versteht und akzeptiert, was Wotan will, der die Weltesche schon gefällt hat und stur sitzend auf seinen Untergang wartet. Warum das alles? Zwei Antworten: Adorno schreibt: „Wollte man die ‚Idee‘ des Rings in einfachen Worten aussprechen, es ließe sich angeben: dass der Mensch vom blinden Naturzusammenhang, aus dem er selber entspringt, sich emanzipiert und Macht über die Natur gewinnt, um ihr in letzter Instanz dennoch zu erliegen. Die Allegorik des Rings sagt die Einheit von Naturbeherrschung und Naturverfallenheit aus.“ (Adorno 1971, 128) Udo Bermbach beschreibt den Ring als eine „von Grund auf böse Geschichte“ (Bermbach 2003, 167), als Dystopie vom „Anfang und Ende aller Politik“ (ebd, 165 ff.). Fast alle Figuren des Rings „sind manipuliert, verfangen sich in selbst gestellte Fallen oder werden durch Andere schließlich zur Strecke gebracht“ (ebd, 168). Nach Wagner sei dem französischen Revolutionär Robespierre „nicht ein hoher Zweck bekannt“ und hatte nur in den Mitteln seinen Zweck (Bermbach 2001, 27, Bermbach 2003, 187). Das Spektakel der Götterdämmerung, das im Folgenden nicht dargestellt wird, ist die Welt der totalen Reduktion der Hauptteilnehmer auf den Status des betrogenen Mittels (bei gleichzeitig heiterer Mobilisierung des Volkes), und zwar so, dass die Teilnehmer vom Hauptbetrüger Hagen derart betrogen werden, dass sie seinerseits betrügen, ja im Falle von Siegfried und Brünnhilde: Verrat begehen gegeneinander, ob nun bewusst oder unbewusst. Der Hauptbetrüger geht aber zuletzt selbst leer aus und der Ring kommt durch Brünnhilde zurück zu den Rheintöchtern. Das ist das Endresultat der Dialektik der Aufklärung des Rings, bevor die Welt in Flammen aufgeht. Man könnte auch sagen: Im Ring schlägt Wotans Aufklärung zurück in eine Mythologie, die sich mittels eines Befreiungs-Mythos versucht, die eigene Zerrissenheit und Verstümmelung zu überwinden; die aber zuletzt einsieht, dass ihr nur die gewollte Selbstvernichtung bleibt. 4. Nach dieser zusammenfassenden Vorschau wollen wir uns jetzt selektiv etwas näher in die Handlung des Rings versetzen, um die Problematik der Dialektik der Aufklärung im Ring etwas eingehender erörtern zu können.

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Wotans Geschichte beginnt damit, so erzählt er seiner Tochter Brünnhilde, dass er nach einer Jugend der Liebe – offenbar nicht zuletzt erotischer Liebe – spürte, dass die Lust verblasste und er nach Macht zu streben begann. Wotan hat eine Ehefrau, Fricka, die er vermutlich einmal liebte, ja noch liebt. Bermbach (2003, 229) verweist darauf, dass Wotan Fricka einst sagte, das Augenopfer sei erbracht worden, um sie zum Weib zu gewinnen: das klingt nach mehr als reiner Sexualität. Wenn aber dieser Liebesbeweis wirklich gilt, wie steht es dann mit dem Status des Augenopfers als Verzicht um der Erkenntnis willen? Dabei muss auch bedacht werden, dass der patriarchale Gott eine Art Verhältnis zu Erda, der ihm beinahe ebenbürtigen Göttin der Tiefe hat, von der er nicht nur ein Kind, sondern entscheidende Warnungen und Grundwissen bekommt. Wotan ist Fricka längst sexuell untreu geworden. Mit Erda hat er die Lieblingstochter Brünnhilde gezeugt, auch acht andere Walküren produziert und Siegmund und Sieglinde mit einer Menschenfrau. An Wotans außereheliche Affären und ihre Bedeutung in seinem Leben – Kinder haben Fricka und Wotan nicht – ist Fricka längst gewöhnt, auch wenn sie sich von ihm nicht dominieren lässt; sie nennt ihn treffsicher trotzig und trifft ihn ein entscheidendes Mal mit scharfsichtiger Polemik, wie wir sehen werden. Wenn Wotan nach Macht zu streben begann, weil die Lust an der Liebe verblasste, dann hat das nicht bloß mit dem Eheleben zu tun. Das Problem ist fundamentaler. Sein Mut verlangte nach Macht, sagt Wotan, aber er fügt bald hinzu: „in der Macht verlangt‘ ich nach Minne.“ (Wagner 1874, Walküre, 2,2) Damit meint er nicht das, was der Schwarzalb Alberich nach seiner Erfahrung in der ersten Szene des Rheingold als Plan entwickelte (und mit der Erzeugung seines Sohnes Hagens später durchführte), nämlich das geraubte Rheingold einzusetzen zum Prostitutionskauf sexueller Dienste – Alberich wollte dies obendrein auch bei den Frauen des Göttergeschlechts durchsetzen. Alberich ging leer aus auf dem sexuellen Naturalienmarkt: Die Rheintöchter hatten auf die Avancen des hässlichen Zwergs spielerisch-kokett, aber auch kränkend-böse reagiert, und er hatte der Liebe darauf bitterlich abgeschworen, dafür aber listig das Rheingold geraubt und durch Zauberei daraus einen Ring geschmiedet – einen Ring, der dem Träger die Weltherrschaft bringen kann. Man stellt sich den jungen Wotan leicht in der rheinisch fließenden Urwelt vor – als schönen Jüngling von den Rheintöchtern umworben und nicht als Gegenstand böser Spiele wie der unschöne Nibelungen-Zwerg Alberich. Der passt nicht zum Rhein mit der ihm eigenen inneren Sonne des Rheingolds und der Liebe. Umso entschiedener ist Alberich, wenn er seines Ausschlusses von der Liebe durch die Rheintöchter inne wird: dem unbedacht herausgeplauderten Hinweis einer Rheintochter folgend, dass Liebesverzicht den Ringzauber möglich mache,

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holt sich Alberich das Gold und löscht das Licht im Rhein aus (Rheingold, 1) – und stellt sich dann finster vor, wie den Frauen zwar nicht Liebe, aber doch Lust abgezwungen werden kann. Gold und vor allem Ring heißt bei Wagner Macht, und Prostitution (das Wort wird natürlich nicht benutzt) soll hier eindeutig Zwang und nicht bloß Sex heißen, wohl auch Rache an der erfahrenen Weltordnung. Der – aktive oder passive? – Ausschluss Alberichs aus der Weltordnung, der später durch Wotans Wiederholung des Goldraubs an Alberich perfekt gemacht wird, beginnt schon hier, mit dem bösen Spiel der Schönen mit dem als minderwertig geltenden hässlichen Zwerg. Herfried Münkler (1998, 383, Fn. 4) identifiziert eine Zweideutigkeit bei Udo Bermbach, der das Verhalten der Rheintöchter einerseits „abgrundbös“ und „verletzend“ nennt1 (Bermbach 2003, 189), andererseits – mit einer Parallele zwischen einer Andeutung des Riesen Fasolt und den Rheintöchtern – von dem überzeugenden, „zwanglose(n) Zwang des Schönen“ (ebd, 203) als geheimer Lebenssucht Wagners schreibt, was sich in Wagners deutlich ausgesprochener Sympathie für die Rheintöchter kundtut. Trotzdem stellt Münkler die These auf, „dass Wagner gerade in der Anfangsszene des Rheingolds die Vorstellung von einer herrschaftsfreien Harmonie des Natürlichen mit sich selbst problematisierte“ (Münkler 1998, 383, Fn. 4). Um einen Prostitutionsplan mit begleitendem Ressentiment geht es dem Gott-König Wotan nicht. Herfried Münkler betont dennoch, Wotan ähnele Alberich, weil: „Macht- und Besitzstreben als sexuelle Ersatzbefriedigung“ auch bei ihm „psychische Disposition“ sei (Münkler 1998, 387). Bermbach betont darüber hinaus, dass Wotans Verlangen sogar eine Suche nach der „– um mit Wagner zu reden – ‚wahren Liebe‘“ einschließe (Bermbach 2003, 229), wenn er auch gleich hinzufügt, dass Wotan diese Liebe nicht finde, „so wenig, wie seine Suche nach Macht und Herrschaft definitiv befriedigt wird.“ Man fragt sich deswegen: Hat sich dieser Zentralgott nicht einer Ordnung gewidmet? Will er nicht der Urwelt eine Verfassung geben? Was soll dieses unbändige Streben nach Macht, Ruhm und Ehre, nach Machtlust und Minne, wenn der Welt eine Ordnung, eine Verfassung geben doch heißen muss, dass der Verfassungsgeber sich auch selber innerhalb der Ordnung subsumiert, sich bindet, zähmt, begrenzt, sozusagen zusammenzieht? Ist es nicht der rationale Sinn einer verfassungsgründenden Vertragsordnung, dass Verträge auf Gegenseitigkeit beruhen, die alle Partner binden, sodass es sinnwidrig ist, wenn einer für sich eine Ausnahme macht? Wird es nicht auch der rationale Sinn der Urhandlungen

1Ich

zitiere entsprechende Belege aus der späteren Arbeit Bermbach 2003.

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gewesen sein, dass sich der Gott zugunsten der gemeinsamen Ordnung geopfert hat – nicht um zu sterben, sondern um als Zentral-Gott der Ordnung verlässlich zu wirken? Nennen wir dieses Motiv das Verfassungsmotiv oder das Vertragsmotiv. Eine mögliche Antwort auf das Vertragsmotiv, die man von Wotan nicht formuliert findet und die wohl auch nicht zu seinen Handlungen als Motiv hinzugedacht werden müsste, trotzdem aber in expliziter Formulierung instruktiv sein kann, ist die folgende: Streben nach Lust, sexuell oder politisch, kann nicht gebändigt und gezähmt, sondern höchstens organisiert werden, weil die Zähmung bedeuten würde, die Vital- oder Kraftquelle zu löschen, aus der eine jede Ordnung lebt. Was heißt hier organisieren? Das ist natürlich nicht so klar, kann aber anhand der Handlung des Rings betrachtet werden. Jedenfalls ist diese Vital-Ordnung weit weg vom Traum eines Weltherrschaft ermöglichenden Rings, der ja in der Handlung nur geträumt oder (von Wotan) stark gefürchtet wird. Das Motiv, um das es hier geht, wirft die Frage auf: Darf sich der Gott, der die Ordnung ursprünglich setzt, nicht gegebenenfalls doch aus ihr herausnehmen, wenn es wirklich um die Bewahrung der Vitalkraft geht? Darf er trotzig-unbändig auf seiner Souveränität bestehen? Gibt es innerhalb einer vitalen Ordnung wirklich kein Recht des starken Helden? Müsste der ordnungsstiftende Gott nicht ein solches Recht beanspruchen können? Nennen wir dieses Motiv das Helden-Motiv. Wotan nennt dieses letzte Motiv nicht in dieser Form, weil er sich von der Vertragsordnung tatsächlich gebunden fühlt, auch wenn er situativ die Neigung hat, sich trotzig zu verhalten. Sobald ihm aber die Last der Ordnung durch die Handlung klar wird, kommt ihm der Gedanke eines solchen Helden, der gewissermaßen von außen mit einem Befreiungsschlag kommen soll. Wotan selbst meint sich gebunden. Andererseits – und das ist entscheidend – denkt sich Wotan das Ganze offenbar so, dass die Ordnung unter seiner Kontrolle bestehen bleiben soll, wenn er auch zuerst nicht wirklich versteht, was das bedeutet oder bedeuten kann. Aber das Problem, das Wotan mit seinen Projekten Siegmund und Siegfried lösen will – wie Freiheit und Ordnung verbunden werden können – ist für ihn unlösbar: das haben wir schon angedeutet und es ist jetzt schon etwas deutlicher. Das Problem ist schon bei Wotan angesiedelt in seinem Schwanken zwischen Vertrags- und Heldenmotiv. Man muss das Vertragsmotiv als Motiv Wotans insofern ernst nehmen, als dieser offenbar beabsichtigt hat, der Welt eine Verfassung zu geben, und dieses Vorhaben auch in gewisser Weise durchführt. Bei Verträgen denkt man aber an Ordnungen, die auf Gegenseitigkeit beruhen, sodass es nicht zulässig ist, für sich selbst eine

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Ausnahme zu machen. Man denkt auch an ein gewisses Maß von Freiwilligkeit. Obwohl Wagners Kenntnisse der modernen kontraktualistischen Tradition unleugbar sind (vgl. Bermbach 2003, 195 ff.) und das Ringdrama prägen, ist auch klar, dass der Weltmonarch Wotan in seinem Reich der verschiedenen Wesen – Götter (Lichtalben), Riesen, Nibelungen (Schwarzalben) und Menschen – autoritär regiert, autoritär und autoritativ. Dabei setzt Wotan magisch-mythische Mittel ein, vor allem seinen Speer, von dem er mal ideologisierend prahlt, dass er die Welt „mit seiner Spitze“ sperre. Und weiter: „Ihm neigte sich der Niblungen Heer; der Riesen Gezücht zähmte sein Rath; ewig gehorchen sie alle des Speeres starkem Herrn.“ (Siegfried, 1, 2, vgl. Münkler 1998, 381 f.) Schauen wir uns die Handlung um das Vertragswerk an. Wotan träumt am Anfang schwärmend von „Mannes Ehre, ewige[r] Macht“ und „endlosem Ruhm“ (Rheingold, 2). Er wird von Fricka geweckt, die Burg Walhalla steht fertig vor ihnen. Erwacht, setzt Wotan seine Begeisterung fort, aber Fricka erinnert sogleich daran, dass Wotan ihre Schwester Freya den Bauherren, den Riesen, als Lohn versprochen hatte. Da ohne Freyas Äpfel die ewige Jugendlichkeit der Götter verloren geht, kann das nicht ernst gemeint sein. Der Riese Fasolt antwortet: „Verträgen halte Treu’! Was du bist, bist du nur durch Verträge!“ (Rheingold, 2) – eine drohende eindeutige Erinnerung an das Vertragsmotiv, das konstitutiv für den Verfassungsgott ist. Wotan ist offenbar nicht der einzige, der Macht hat. Davor hatte Wotan schon dem Gott Donner verboten, die Riesen mit Gewalt zu bekämpfen, was die von Entführung bedrohte Freya erschrecken lässt. Wotan will den Vertrag wenigstens wiederverhandeln und hat schon Loge damit beauftragt, nach Ersatz für die schöne Freya zu suchen, die von Fasolt geliebt wird. Loge sieht die Schwierigkeit, findet aber die Lösung: Alberichs Gold-Hort und Ring sollen Ersatz bieten. Insbesondere der Ring hat den Vorteil, als ein Stück Technologie, die Weltherrschaft magisch ermöglicht, auch in den Händen derer zu wirken, die nicht auf Liebe verzichten wollen. Die mögliche Weltherrschaft überzeugt anscheinend den Riesen Fafner. Für Fasolt hat das Gold außerdem den Vorteil, dass er den Verzicht auf Freya dadurch langsam verkraften kann, dass sie hinter den aufeinandergelegten Goldbarren langsam aus dem Auge schwindet – ein Hinweis auf die innere Sicht Wotans, die dem schmachtenden Riesen abgeht. Fafner geht es dabei um die genaue quantitative Abrechnung. Was aber ist mit der Weltverfassung? Kann man Alberich Gold und Ring einfach entwenden? Da mit Alberich keine Verträge geschlossen worden sind, könnten dem Dieb des Goldes ohne weiteres auch Gold und Ring gestohlen werden, meint Loge. Wotan folgt zuletzt dem Rat und Alberich ist nun dadurch ausdrücklich aus der Weltverfassung ausgeschlossen: der Verfassungsgeber übt sich quasi als Krimineller, benutzt aber seine rechtssetzende Macht, um den Gegner aus dem

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Recht zu stoßen und kann somit vor-kriminell zugreifen. Freya kommt frei, die Jugend der Götter ist gesichert, sie können in die Burg ziehen, am Schluss des Rheingold. Da Fafner, der seinen Bruder tötet, den Witz des Ringes doch nicht versteht und sich mit Ring und Gold an einem abgelegenen Ort zum Dauerschlaf hinlegt, hat Wotan Zeit zu überlegen, was mit der Weltherrschafts-Technologie gemacht werden soll. Dass die Technologie ein Problem werden wird, darauf hat er schon überdeutliche Hinweise bekommen. Alberich hatte nämlich, als ihm Gold und Ring von Wotan und Loge genommen wurden, die Ring-Technologie – sicherlich doch wieder mit magischer Zauberkraft – verflucht, und hatte jedem Träger des Rings den langsamen Tod in Sorge – als „des Ringes Knecht“, nicht „des Ringes Herr“ (Rheingold, 4) – prophezeit. Trotzdem wollte Wotan zunächst gleichwohl den Ring – auch weil der Besitz keinen Liebesverzicht mehr verlangte – nicht hergeben, und die Riesen wollten also Freya für immer mit sich nehmen. Wotan lehnt aber noch zürnend-trotzig ab. Das spricht für seinen unbändigen Impuls des Machtstrebens, wenn auch kaum für seine Zweckrationalität in Bezug aufs Überleben des Göttergeschlechts. Auf Alberichs Fluch gegen gegenwärtige und kommende Besitzer des Rings achtet er also noch nicht wirklich. Da aber kommt die Göttin Erda plötzlich aus der Tiefe herauf und warnt ihn vor dem Ring. Gleichzeitig verkündet sie noch das nahende Ende der Götter, was Wotan so erschüttert, dass er versucht, ihr in die Tiefe zu folgen, um mehr zu erfahren. Das aber wird gerade noch von Fricka und dem Gott Froh verhindert. Wotan kann den Riesen den Ring überlassen und die Götter können die Vorteile der Vertragserfüllung genießen. Die Jugend, das heißt die Ewigkeit, ist gesichert; die Burg steht. Was aber den Ausschluss Alberichs aus den Verträgen, dessen Status hors de la loi und den daraus legitimierten Diebstahl angeht: die Feindschaft, die im Fluch gegen künftige Ringbesitzer allgemein klingt, aber natürlich sehr deutlich konkret gegen den Feind, also gegen Wotan und die Götter gerichtet ist – dies scheint dem Zentralgott vielleicht noch nicht ganz bewusst zu sein, jedenfalls nicht in seiner vollen Bedeutung, trotz des Schocks durch Erda. Später aber, in der Walküre, erzählt er Brünnhilde, wie er „in den Schoß der Welt“ zu Erda sich hinabgeschwungen habe, dass er sie „mit Liebeszauber“ gezwungen, dass er sowohl Kunde von ihr, der Welt weisestem Weib, empfangen wie sie ihm auch die Brünnhilde geboren habe (Walküre, 2,2). Wotan sagt, dass er mit Brünnhilde und den anderen Walküren – und den Kriegern, die sie nach Walhall bringen – habe wenden wollen, was Erda ihm „zu fürchten schuf: ein schmähliches Ende der Ew’gen“ (ebd); später spricht er von „Urmütterfurcht“ (Siegfried, 3,1). Bevor er seinen Sohn Siegmund töten lässt, betont Wotan, dass er Alberichs Ring berührt

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habe und dass er verlassen müsse, was er liebe (Walküre, 2,2) – dabei hat er den Ring schon an die Riesen weitergegeben. Er muss also wirklich Angst haben. Ob er den Ausschluss von Alberich aus der Vertragsordnung jemals als moralisch-rechtlichen Fehler seiner Weltverfassung erkennt, ist übrigens nicht klar. Wenn er die Krieger beschreibt, die er den Walküren befohlen habe zu beschaffen, dann spricht er von Helden, „die herrisch wir sonst in Gesetzen hielten, denen den Mut wir gewehrt, die durch trüber Verträge trügende Bande zu blindem Gehorsam wir uns gebunden – die solltet zu Sturm und Streit ihr [die Walküren, H.H.] nun stacheln, ihre Kraft reizen zu rauhem Krieg, dass kühner Kämpfer Scharen ich sammle in Walhalls Saal!“ (Walküre, 2,2) Keine schöne Beschreibung einer Vertragsordnung des Friedens, umso deutlicher die feierlich verordnete Kraftentfaltung im Krieg. Etwas später in der Szene – er trauert schon um den kommenden Tod seines Sohnes – spricht er zum ersten Mal, verzweifelt und grimmig, den Gedanken aus, den er später entschlossener wiederholen wird: dass er sein Werk aufgebe und nur eines noch wolle, das Ende. Dabei denkt er an Alberich, den „Liebelosen“, dem es gerade gelungen sein soll, eine Frau zu schwängern (Walküre, 2,2). Kann man sich vorstellen, dass die Kämpfe um Walhall auch den nicht satisfaktionsfähigen Todfeind Alberich einschließen? Hierzu eine allgemeinere Überlegung. Meine Spekulation zu einer Vitalquelle im Motiv des freien Helden verdeckt, dass Macht- und Luststreben als solches im Sinne einer Monopolisierung kaum organisiert werden können – es sei denn, man denke nicht an Götter und Helden, sondern an den modernen Staat mit seinen potenziell überwältigenden Zwangsmitteln. Die stärkste Waffe im Ring ist ja die Ring-Technologie, die aber nie tatsächlich in einem Griff nach der Weltmacht eingesetzt wird, sondern nur begehrt oder gefürchtet wird. Und was den Speer angeht, so zeigt uns der tatsächliche Verlauf der Verhandlungen um den Walhall-Vertrag, dass die Riesen durchaus potente Partner im Machtkampf sind, die außerdem Grundlegendes aus The Art of the Deal – der Titel sei hier aus seinem aktuellen Kontext herausabstrahiert – kennen. Fragen wir jetzt, wie wir Wotan bei der Arbeit an seinem Vertragswerk, vor den Versuchen mit Siegmund und Siegfried, allgemein charakterisieren sollten. Im Unterschied zu den beiden Urhandlungen seiner Selbstkonstitution (Augenopfer, Speer-Beschaffung), die zwar nur erinnert werden, scheint es, dass er sich bei der Vertragsarbeit in Rheingold zum Teil etwas unbekümmert durchwurstelt. Er hat wohl vorgedacht und vorbesprochen, aber er scheint auch spontan zu reagieren, zornig und reaktiv-trotzig zuweilen. Ob er sich wirklich verstümmelt fühlt durch die Selbstdisziplinierung, die das Einhalten von Verträgen verlangt, kann man

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d­ iskutieren. Für den rationalen Sinn des Vertragsmotivs, das auf Gegenseitigkeit und Freiwilligkeit beruht, hat er wohl ein gewisses, wenn auch begrenztes Verständnis; man kann sein Verhalten – wie oben (Abschn. 3) – sicherlich besser im Sinne der instrumentellen Vernunft der Dialektik der Aufklärung deuten, im Sinne der kantischen Vernunftsidee „eines freien Zusammenlebens der Menschen“ (DdA, 90) unter Rechtsgesetzen. Als Zentral-Gott kann er sich wohl selbst als Inkorporation des Gemeinwohls der Ordnung vorstellen. Dazu passt das halbwegs Zwingende des bei der Überzeugungsarbeit helfenden magischen Speeres. 5. Dieses Bild ändert sich aber an einem entscheidenden Punkt, als Wotan sich entscheiden muss, Siegmund zu töten. Wotan erhält von Fricka eine wütende Reaktion und scharfsinnige Lektion zugleich, die ihn verzweifelt seine Verstümmelung formulieren lässt: „der durch Verträge ich Herr, den Verträgen bin ich nun Knecht.“ (Walküre, 2,2) Er bekennt sogar seiner Tochter Brünnhilde: „In eigener Fessel fing ich mich, ich Unfreiester aller!“ (Walküre, 2,1) Dabei war sein Hauptgedanke mit Siegmund der folgende gewesen: „Not tut ein Held der, ledig göttlichen Schutzes, sich löse vom Göttergesetz“ – was ihm selbst, dem Gott, „verwehrt“, sei (Walküre, 2,1). Selbst nach der Tötung Siegmunds hält er fest an einem solchen Plan im Nachfolgeprojekt Siegfried, hat also weder vor Alberich kapituliert noch die Freiheitsidee aufgegeben. Aber an einem Punkt hat er Fricka gegenüber nachgegeben. Beim ersten Projekt Siegmund geht es um seinen Sohn aus dem Verhältnis zu einer Menschenfrau. Wotan lässt Siegmund und seine Schwester Sieglinde unter schwierigen Verhältnissen aufwachsen, sie werden früh getrennt und sind bald ohne Vater – Sieglinde sieht ihn nur als fremden Mann bei ihrer Zwangsheirat (er pflanzt das Schwert Nothung in der Eiche des kommenden Ehemann Hundings, als Signal des möglichen Ausbruchs); Siegmund lernt von ihm zu kämpfen, verliert ihn aber bald und kämpft ständig verzweifelt weiter, nennt sich Wehwalt, als Bruder und Schwester sich unerkannt treffen und Hunding nach seinem Namen fragt. Die Liebe blüht auf zwischen Bruder und Schwester. Sie begehen Inzest. Das hat Wotan zwar vielleicht nicht geplant und Fricka ist voll Wut, es steht ihm aber gar nicht so fern und er antwortet humoristisch-triumphierend „Heut – hast du’s erlebt!“ (Walküre, 2,1) Das Inzest-Verbot ist in der Ordnung der Verträge und Institutionen indes grundlegend und Wotan muss sich entscheiden, dies zu respektieren; Siegmund soll von Hunding getötet werden. Das entscheidende Argument Frickas, auf das es Wotan ankommt, ist aber ein anderes, wir kommen darauf im Kontext des ganzen Experiments Siegmund zurück; ein Experiment, das – außer Fricka und Wotan – nicht nur seine beiden Menschenkinder, sondern auch Wotans Tochter Brünnhilde umfasst.

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Das entscheidende Ereignis in diesem Experiment kommt, als Brünnhilde Siegmund kundtut, dass er im Kampf fallen werde und dann nach Walhall gehen soll. Siegmund wählt, für Brünnhilde gänzlich überraschend, den Menschentod, weil seine geliebte Schwester Sieglinde nicht mitkommen darf. Auf Anfrage kann Brünnhilde ihm stattdessen nur „Wunschmädchen“ in Walhall anbieten; er lehnt „sehr bestimmt“ ab und beugt sich zärtlich über die schlafende Sieglinde. Brünnhilde versteht diesen abgelehnten Tausch des „armen“ Weibes gegen ewige Wonne nicht. Er nennt sie darauf „kalt und hart“, ja höhnisch (Walküre, 2, 4). Der Vorwurf trifft sie; plötzlich will Brünnhilde Sieglinde beschützen, ja Siegmund gegen Wotans Willen zum Sieg verhelfen. Die Liebe Siegmunds ist ohne Zweifel unbedingt und man fragt sich: Kann ein nicht-sterblicher Gott denn so unbedingt lieben? Noch gezielter gefragt: Kann insbesondere der verfassunggebende Wotan, als Vital-Quelle der Verfassung verstanden, sich so unbedingt binden lassen? Wenn Wotan auch dergleichen nicht sagt: Er kann es wahrscheinlich nicht. Diesen Gedanken kann er wohl nicht ganz verstehen angesichts all seiner Affären. Er respektiert und liebt Fricka im Rahmen der vertraglichen Institution, die sie verbindet, aber sein Streben nach Minne und Macht erschöpft sich nicht darin. Brünnhilde aber nimmt an der Erfahrung der unbedingten Liebe der beiden Menschen so innig teil, dass sie verändert wird. Sie hat etwas verstanden. Wotan selbst hat aber stattdessen gerade etwas anderes verstanden, nämlich die sein Selbstbild treffende, intern-polemische Argumentation von Fricka, die ihn gegen seinen starken Willen zwingt, das Projekt Siegmund aufzugeben und Siegmunds Tod zu beschließen, sobald das argumentative Gewicht der Argumentation auf seinen Willen drückt. Bevor ich zum Argument komme, sollte aber weitererzählt werden. Siegmunds Ablehnung, seine Liebe zugunsten von ewigem Leben zu opfern, macht Brünnhilde rebellisch gegen Wotans Tötungsbeschluss. Sie kämpft fast physisch – „trotzend dem Gott!“ (Walküre, 3,1) Das ist eine epochemachende Veränderung bei einer Tochter, die sich bisher als ausführenden Willen des Vaters betrachtet und gefühlt hat, sozusagen als das integrale Mittel, während er selbst das Verhältnis auch als reines Selbstverhältnis begreift, das ihm Offenheit ermöglicht: „mit mir nur rat ich, red ich zu dir“ (Walküre, 2,2). Ihr Versuch misslingt, aber Brünnhilde macht nach Siegmunds Tod gleich weiter und erzählt der verzweifelnden Sieglinde, dass diese schwanger ist und sich also nicht dem toten Geliebten anschließen kann, wenn sie ihrer Liebe treu sein soll. Sieglinde ist sofort bereit und zieht in den Wald im Osten. Hier geht es um die Flamme der unbedingten Liebe, die nicht gelöscht werden darf.

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Später verteidigt Brünnhilde sich gegenüber dem wütenden Vater, dass sie doch treu seinem eigentlichen Willen – seiner Liebe zu Siegmund – gewesen ist. Er antwortet ihr bitter, dass sie gar nicht versucht hat, seine Wendung gegen sich selbst, seine „Ohnmachtsschmerzen“ zu verstehen; sie habe sich stattdessen in „selige(r) Lust“ und „wonniger Rührung“ an Siegmunds und Sieglindes Liebe gelabt (Walküre, 3,3). Dennoch kommt es langsam zu einer einvernehmlichen Lösung des entstandenen Problems. Wotan aber geht es danach, in Siegfried, nicht um die Flamme der unbedingten Liebe, wohl aber um ein neues Projekt mit dem Inzestkind, um das Projekt Siegfried. Welches Argument Frickas ist es aber, das Wotans Vernunft dazu führt, sich gegen seinen ursprünglichen Willen zu stellen? Es ist das Argument, dass Wotan keinen Freien geschaffen hat, sondern eine Marionette – alles ist von ihm konzipiert und in die Wege geleitet, nichts der Freiheit seiner zwei Akteure (Bruder und Schwester) überlassen. Siegmund ist Sklave der Konzeption Wotans, oder, wie Fricka noch radikaler ihm vorhält, die reine Verdoppelung von Wotan: „in ihm treff ich nur dich, denn durch dich trotzt er allein“ (Walküre, 2,1), sagt Fricka, auch über den Trotz als Charakterzug des Gatten. Dabei ist der Inzest polemisch mitgemeint, den sie als Teil des allgemeinen Impulses Wotans gegen die Institution Ehe versteht. Bei Wotan schlägt dieses Argument mit emotionaler Evidenz ein: „Zum Ekel find ich ewig nur mich in allem, was ich erwirke!“ (Ebd.) Der Solipsismus, der im Verhältnis zu Brünnhilde Offenheit der Selbstkommunikation bedeutet hat, schlägt ins Gegenteil der Selbsteinsperrung um. Der Tod Siegmunds war für ihn eine harte Entscheidung; erst das Argument, dass Siegmund als seine reine Verdoppelung gelten muss, gibt ihm den Weg zum Tod Siegmunds frei. Er träumt aber unverdrossen weiter von einem Freien „den nie ich schirmte, der in eignem Trotze der Trauteste mir“ (Walküre, 2,2). Dazu passt, dass die schwangere Sieglinde in den Wald entkommen ist und Wotan somit nicht von Anfang an so genau weiß, wie es mit dem kommenden Kind bestellt ist. Brünnhilde muss ihm davon berichten, denn sonst ist sie rettungslos verloren: Wotan will ihr als Strafe die Göttlichkeit nehmen und sie im festen Schlaf verschließen: „wer so die wehrlose weckt, dem ward, erwacht, sie zum Weib“ (Walküre, 3,3). Brünnhilde will natürlich nicht eine so leichte Beute der möglichen sexuellen Gewalt sein. Sie weiß schon um den kommenden Knaben, Siegfried, der, im Walde ohne richtige Eltern aufgewachsen, das Fürchten nie erlernt, und zwar nicht erlernt, bis er das erste Mal Brünnhilde – noch mit der göttlichen Aura – sieht. Da lernt auch er kurz das Fürchten. Für sie, die das noch nicht erlebt hat, ist aber entscheidend, dass derjenige, der sie wecken soll, seine Furchtlosigkeit dadurch soll beweisen können, dass er einen lodernden Feuerring um den Brünnhilde–Felsen durchdringen kann. Nachdem sie

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diese heldisch-männliche Idee feierlich und eindringlich – an sich könnte man ja ­denken, ein so furchtloser Held müsse auch ein risikoreiches Projekt für eine Person sein, die sich nicht wehren kann – dem Vater vorgetragen hat, ist er „überwältigt und tief ergriffen“ (Walküre, 3,3); und er drückt sein Einverständnis triumphierend so aus: „Denn einer nur freie die Braut, der freier als ich, der Gott.“ (Walküre, 3,3) 6. Um das Projekt Siegfried näher zu verstehen, ist es ratsam, zurückzugehen zu den beiden in Abschn. 4 genannten Motiven, dem Vertragsmotiv und dem Heldenmotiv. Wir haben gesehen, dass beide Motive wichtig sind, wenn man Wotan verstehen will. Ich habe das Heldenmotiv auch als möglichen Teil von Wotans Selbstverständnis schon vor seinem Entwurf des freien Helden, der von außen kommen soll, in einer Spekulation zu verstehen versucht. Das Heldenmotiv kommt in Wotan sozusagen als bewusstes Motiv hoch, als er die Grenzen seiner Macht und die Risiken und Nebenfolgen seiner Aktionen (Aktion gegen Alberich) erfährt: Er braucht Heldenhilfe, um zu verhindern, dass sein Todfeind wieder das Gold bekommt; er fühlt sich vielleicht auch irgendwie durch die Vertragsordnung gehemmt. Als er aber seinen Sohn um der Bewahrung der Vertragsordnung willen töten muss, bricht das Motiv geradezu aus ihm heraus: Wotan, der Knecht der Verträge, der Unfreieste aller. Er braucht unverändert Hilfe, wenn es auch unklar ist, was der Held nun konkret tun soll. Wie in Abschn. 3 angedeutet, geht es ihm auch eher prinzipiell um das Verhältnis von Freiheit und Ordnung, selbst wenn er das nicht eigentlich denken kann und so scheitert. Das Scheitern geschieht sowohl im Prinzipiellen als auch in der Wirklichkeit, lässt sich aber an der Wirklichkeit leichter prüfen. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Argument Frickas, dessen Bedeutung für Wotan vielleicht in einer Spekulation angedeutet werden kann, die eine hegelianisch reflektierte Version revolutionär-utopischen Denkens formuliert: „Objektiviere und instrumentalisiere nicht den, den du als freien Helden schaffen willst; verlängere nicht das Bestehende deines Selbst in die revolutionäre Zukunft hinein!“ Denn das hatte er ja mit Siegmund gemacht, meinte er, wenn er vielleicht auch durch den Inzest überrascht war – übrigens noch mehr nach Siegmunds Todesurteil, aber das war von Wotan schließlich gar nicht vorgesehen. Wir könnten das Argument auch langatmig das Argument einer Kritik der Dialektik der disponierend-instrumentellen Vernunft nennen. Wie gesagt: Wotan weiß zunächst nicht viel von Siegfried, es ist Brünnhilde, die Sieglinde mit ihrem Kind im Schoß entkommen lässt. Daran hält sich jetzt Wotan, jedenfalls offiziell. Erzählen Sie mir keine Details, soll Richard Nixon zu seinen

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Beratern anlässlich der Watergate-Affäre gesagt haben. Das Inzestkind soll frei von Wotans Konzeptionen aufwachsen; das Fricka-Argument soll nicht greifen. Kontrollieren will er trotzdem. In Siegfried sieht der gedanklich vorbereitete Zuschauer die indirekte Herrschaft Wotans plastisch dargestellt, wie schon angedeutet (Abschn. 3). Münkler (1987, 396) und Bermbach (2003, 219, mit etwas anderer Begründung) sind sich einig darüber, dass wir Wotan hier auf dem Höhepunkt der Macht sehen. Das können wir nicht im Einzelnen belegen, aber ein wichtiger Punkt ist, dass Wotan seit dem Gespräch mit Brünnhilde über die Art ihrer Bestrafung weiß, dass Siegfried furchtlos ist. Wotan ist hier anders: aus seiner Erfahrung mit Alberich im Lichte von Erdas Wissen hat er Angst, und das steigert sicherlich die Umsicht seiner Intelligenz. Die Furchtlosigkeit Siegfrieds steigert aber die Chance, dass er sein Ziel erreicht: Brünnhilde. Der trotzige, wahrscheinlich auch eifersüchtige Wotan versucht zwar zuletzt, Siegfried mit seinem Speer am Zugang zu Brünnhilde zu hindern. Als er am Schwert des respektlosen Kraftprotzes scheitert, konstatiert er aber, dass er ihn nicht halten könne (Siegfried, 3,2). Er hat wohl nur die Kraft und die Furchtlosigkeit Siegfrieds getestet, auch seinen eigenen Trotz als vital fühlen können, den er mit Siegfried teilt. Wie Adorno behauptet, sind beide Rebellen, und Wotan also sowohl umsichtiger Gott als auch Rebell. Wir kommen noch auf dieses Thema zurück. Der furchtlose Rebell geht durch den Feuerring hindurch und trifft momenthaft auf Furcht vor Brünnhilde und sodann auf die ekstatische Liebe, jenseits von Verlängerungen des Wotan-Selbst, wenn es auch wohl Brünnhilde ist, die diese Liebe wirklich trägt. Als klare Indikation dafür, wie sehr sich Wotan aus der konkreten Lebensplanung Siegfrieds herausgehalten hat und wie riskant das ist, kann erwähnt werden, dass Siegfried, wiewohl er problemlos das Gold und den Ring vom getöteten Riesen Fafner nehmen kann und nimmt, nicht versteht, wozu diese für Wotan und Alberich so entscheidenden Dinge dienen sollen. Das Gold lässt er einfach in der Höhle Fafners liegen, nachdem er ihn getötet hat. Den von Alberich verfluchten Ring gibt er der etwas nach-ekstatisch betäubten Brünnhilde ausgerechnet als Liebesring, wenn es Zeit ist für den Helden, die Geliebte für eine Weile zu verlassen und auf das Abenteuer der Weltentdeckung zu gehen. Einem solchen Helden die Regie zu überlassen: das kann man nicht tun, so viel muss dem politisch-kriegerisch, ja zunehmend apokalyptisch denkenden Wotan klar sein. Nun ist es zu spät, Wotan fällt die Weltesche und Siegfried läuft direkt in die Falle Hagens hinein. Wovon hatte Wotan wohl geträumt? Sicherlich von der Weltherrschaft Siegfrieds und Brünnhildes, auch als eine Ordnung der Liebe, nicht der Prostitution oder Vergewaltigung. Insofern ist es konsequent, wenn Brünnhilde den Ring von

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Siegfried als Ring der Liebe bekommt. Aber was hätte er denn tun sollen, der sinnlose Kraftprotz, der eine Sekunde lang liebte? Welteroberung war nicht seine Sache, sein Schicksal ist deutlich mitgeprägt durch seine Defizite im Vergleich zu Wotan: Ihm fehlt die Aufklärung und die Intelligenz, die sich Wotan durch das Augenopfer erkaufte (vgl. auch unten). Aber das Projekt Siegfried war das wohlüberlegte Herrschaftsprojekt Wotans durch indirekte Steuerung gewesen. Wotans Philosophie der Befreiung von der Verstümmelung des eigenen Selbst sollte sich im Rahmen einer indirekten Kontrolle gerade dieses Selbst verwirklichen; das war aber weder konzeptionell noch in der Wirklichkeit möglich. Die Dialektik von Wotans Aufklärung hat seinen Befreiungsmythos zerstört, und der letzte Ausweg war nur die gewollte Selbstvernichtung. 7. Der Ring ist nicht der Liebe, sondern der Dystopie der Politik gewidmet, folgt man Udo Bermbach. Aber zweimal gewinnt die Liebe punktuell die Oberhand, zunächst bei Siegmund und Sieglinde unter dem Wonnemond und sodann bei Brünnhilde und Siegmund auf dem Brünnhilde-Felsen. Da wird zuletzt – nach Siegfrieds Göttinnen-Angst und Brünnhildes Vergewaltigungs-Angst – dem Tod entgegengelacht, will insbesondere sagen: Brünnhilde hat sich von der Götter-­ Ordnung völlig losgelöst. Ihr geliebter Vater hat keine Macht mehr über sie, und sie will fortan nur noch eine Liebe der Hingabe, nicht mehr die glänzende Liebe der Walküren-Tochter zum Vater im Rahmen einer ewig erhabenen Ordnung. Die wirklich große Liebe ist nicht von dieser politischen Welt. Sie bleibt zuletzt auf dem Brünnhildefelsen, und wenn Siegfried danach den Felsen verlässt und auf Abenteuer geht, dann geht er gleich in die mythische Liebestrankfalle Hagens. Zuallerletzt, als Siegfried tot ist, und zwar insbesondere durch Brünnhildes Verrat gegen ihn, manipuliert wie sie ist durch Hagen, erfüllt sie gerade noch Wotans letzten Wunsch und gibt den spielenden Rheintöchtern den Ring zurück. Der Ring endet in diesem – noch etwas bösen – Spiel und nicht ganz mit der Rückkehr zum Anfang, denn der Ring ist immer noch geschmiedet und noch nicht wieder des Rheines innere Sonne: ein Zeichen, dass nicht die ewige Wiederholung des Rings bevorsteht. Das Resultat der Geschichte Wotans bleibt negativ: Seine Träume von Ordnung und Befreiung erfüllten sich nicht, konnten nicht erfüllt werden. Die Natur als solche umfasst Liebe, sie hängt mit der ursprünglichen Unversehrtheit der Natur zusammen und sie will nicht vergewaltigt werden, wie Brünnhilde dem unerfahreneren Kraftprotz Siegfried vorhält: „Zwinge mich nicht mit dem brechenden Zwang, zertrümmere die Traute dir nicht!“ (Siegfried, 3,3) Aber die Kräfte der zarten Liebe sind zu schwach: die Politiker setzen sich schon mit Wotan und Alberich durch, mit Verträgen und Technologie-Entwürfen

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zur Entfaltung von Macht- und Luststreben; der ganze Ring läuft deswegen auf Selbstvernichtung aus, wie Wotan langsam einsieht und vollzieht.2 Wenigstens eine „Minimallösung“ (Münkler 1987, 401, Bermbach 2003, 234) wird zwar noch erreicht: Brünnhilde akzeptiert nach dem Tod Siegfrieds den Willen des Vaters und gibt den Ring an die Rheintöchter. Die Negation des zweckgerichteten, totalen, rachsüchtig motivierten Betruges von Alberich und Hagen ist aber trotzdem kein eigentlicher Sieg Wotans. Er hat im Ring nur die Dialektik der Aufklärung als affirmative Selbstvernichtung vollendet: Das letzte operative Subjekt des dialektischen Prozesses, Hagen, dem auf der Götterseite der passive, stur schweigend sitzende Wotan entspricht, geht leer aus, weil das ganze Vorhaben der Schwarzalben – der Goldraub aus dem Rhein und ihre Umformung in die Ring-Technologie zum Griff nach der Weltherrschaft, auch Betrug als allgemeines Wirkmittel – auf dasselbe Durchschneiden der fluktuierenden Beziehung des Subjekts zur Natur beruhte, wie wir in der Analyse der Odyssee sahen, und auch an Wotans Verwundung der Weltesche und seiner überwiegend instrumentellen Einstellung im Management seiner Ordnung. Die Dialektik der Aufklärung endet in der total verwalteten Welt ohne Verwalter: Das ist die düstere Perspektive der beiden Frankfurter Theoretiker, auffindbar im Ring, wenn auch in der Form der affirmativen Selbstvernichtung. Aber das Ende ist ein Nullpunkt – nicht der Beginn einer neuen vital fließenden Naturwelt, die sich dann eine Ordnung suchen würde und nochmals am Widerspruch zwischen Ordnung und unbändiger Freiheitsvitalität zugrunde gehen würde. Die große Liebe ist nicht das Thema Wotans und wohl nur sehr punktuell das Siegfrieds. Sie sind, wie Adorno behauptet, beide Rebellen (Adorno 1971, 123 ff, 125). Ein Rebell ist schon der frühen Forschung der Frankfurter Schule zufolge kein Revolutionär „im psychologischen Sinn“; sondern es handelt sich beim Rebellen „um den Abfall von einer Autorität unter Beibehaltung der autoritären Charakterstruktur mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Befriedigungen“ (Fromm 1936, 131). Es herrscht ein innerer Herr im Rebellen, auch wenn er – Siegfried – den Speer des (zwar unerkannten) Gottes mit seinem Schwert in Stücke gehauen hat. Diesen autoritären Herrn habe ich ‚trotzig‘ genannt und bei Wotan im Heldenmotiv (vgl. Abschn. 4 oben) mit der Idee einer unbändigen Vitalquelle der Machtund Minnelust verbunden. Wenn Wotan auch noch rationaler, umsichtiger Gott

2Zu dieser Andeutung vgl. Bermbach (2003, 235 ff., 238 ff.), zur Regenerationsfrage – restitutio in integrum – (243); Bermbach hält an einer „Vernichtungsradikalitätsthese“ fest.

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ist, in der Vitalkraft des Trotzes treffen sich die beiden. Siegfried ist der reinere Typ: Er hat eigentlich kein Ich statt des beibehaltenen Herrn, er leidet unter Ich-Schwäche. Wotan hat zwar ein Ich, aber sein Selbst ist zerrissen zwischen Ich und Rebellion. Oben habe ich die Reaktion Brünnhildes auf Wotans Todesurteil gegen Siegmund als rebellisch bezeichnet. Dabei war mein Gedanke der, dass diese Tochter, die sich als reines Mittel des Vaters verstanden und gefühlt hatte, nun plötzlich etwas anderes verstanden und gefühlt hat, nämlich die unbedingte Liebe auch angesichts des kommenden Todes. Damit habe ich also etwas psychologisch Revolutionäres bei ihr betont. Brünnhilde hat eben nicht wie „a rebel without a cause“ gehandelt, sondern ihre causa war die unbedingte Liebe, die Wotan nicht hat verstehen können. Adorno liefert einen Kommentar zur Inzestaffäre des Rings, der uns zurück zum Motiv der Vitalquelle bringt. Zur Reaktion auf Wagner im 19. Jahrhundert schreibt er: „Wenn ‚liberale‘ Bürger […] sich über den Ehebruch Siegmunds […] empörten, so ist dabei nicht bloß Muckerei am Werke, sondern zugleich die sichere Erkenntnis, dass der Wagnersche Schein der Freiheit das Ideal der bürgerlichen in sein Gegenteil verkehrt. Frei ist hier […] der Stärkere, der dem Schwächeren seinen Besitz wegnimmt.“ (Adorno 1971, 137) War dies alles also bloß die Rebellion des Stärkeren? Adornos Satz kann nicht direkt und ausschließlich auf Siegmund und Sieglinde gemünzt sein, im Gegenteil: Er widmet Siegmund ein heroisches Kompliment als Verfechter der „Gerechtigkeit, mit der die Geschichte beginnt und die den bewußtlosen Mythos als Vorgeschichte abschafft“ (ebd.,142). Der Satz bezieht sich stattdessen auf Wotans Faszination für den Inzest als Rebellion innerhalb seiner dennoch beste­ henden Ordnung. Adorno widmet dem Motiv „in der Liebe Sterben“ nach einer Erwähnung der Erweckung Brünnhildes die folgende Charakteristik: „In der Liebe sterben, das heißt auch, der Grenze gewahr werden, die der Eigentumsordnung am Menschen selber gesetzt ist: erfahren, dass der Anspruch der Lust, wäre er jemals zu Ende gedacht, eben jene autonome, sich zugehörende und ihr eigenes Leben zum Ding erniedrigende Person sprengen würde, die verblendet glaubt, im Besitz ihrer selbst Lust zu finden, und der dieser Besitz Lust gerade entzieht.“ (ebd., 143) Adornos spekulative Deutung spricht hier eine andere Sprache als die der leuchtenden Liebe des lachenden Todes, die Brünnhildes Befreiung aus der Ordnung Wotans markieren soll, aber vielleicht doch letztlich des Vaters Neigung

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zur unbändigen Stärke verhaftet ist. In dieser Wendung klingt das Recht des ­Stärkeren durch, lachend vorm Tod. Adorno wollte mit seinem Versuch über ­Wagner einen Beitrag dazu liefern „die Urlandschaft des Faschismus a­ ufzuhellen, damit sie nicht länger die Träume des Kollektivs beherrscht“ (Adorno, 1964). Dazu hat er – nicht nur im Wagner-Essay, sondern auch (mit Horkheimer) in „Elemente des Antisemitismus“3 – scharfsinnige Analysen geschrieben, deren Bedeutung unabhängig davon ist, ob sie im Einzelnen zutreffen oder nicht. Es würde zu weit führen, mit Adorno hier weiter zu diskutieren. Auf die Betrachtung der Odyssee als der Urlandschaft der bürgerlichen Epoche läßt Adorno eine Betrachtung der Entstehung der Urlandschaft des Faschismus in der bürgerlichen Epoche anhand des Rings folgen. Das Urteil über den Ring lautet gewissermaßen: Zwei trotzige Rebellen sind nicht gut für eine Revolution; sie beweisen nur die steinerne Ewigkeit der Herrschaft und des Selbstopfers. Wie dieses Urteil im Einzelnen auch immer im gegenwärtigen Kontext zu beurteilen sei, es steckt doch unleugbar auch Wahres darin. Seine Bemerkungen zum Sterben in der Liebe zeugen von Adornos F ­ ähigkeit, die Produktivität der Verfallsmomente bei Wagner zu sehen. Adorno würdigt Wagners „Kraft der Neurose“ und „das kritische Bewußtsein“, das seine „grandiose Schwäche […] im Umgang mit den unbewußten Mächten des eigenen Zerfalls gewinnt. Er wird als Stürzender seiner selbst mächtig. Sein Bewußtsein schult sich in der Nacht, die das Bewußtsein zu verschlingen droht.“ (Adorno 1971, 144) „Nietzsche hat wie wenige nach Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt.“ (DdA, 50) Wie ich glaube, wusste Adorno das auch für Wagner. In etwa kann man das schon für seine Betrachtung des Gottes und Rebellen Wotan heranziehen, wenn dort auch Freud sehr präsent ist. Ich habe das Thema nur andeutend in meiner eigenen Weise durchgeführt. Seine Bemerkungen darüber, wie Wagner „im Zeichen der Negativität ein Entrinnendes zu entwerfen“ in der Lage war (Adorno 1971, 140), wie wir es oben im Zitat zu „In der Liebe sterben“ sehen, bringt etwas von Hegel ein, das „im Wagner gegenwärtig ist“ (ebd.). Es liegt auch jenseits der Dialektik der Aufklärung, die im Modell des Selbstbesitzes und des dadurch entstandenen Selbstverlustes zum Ausdruck kommt.

3Siehe

die Beiträge von Stoetzler und König in diesem Band.

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Literatur Adorno, Theodor W. [1939/1964] 1971. Versuch über Wagner. In: Gesammelte Schriften, Bd. 13: Die musikalischen Monographien. Wagner. Mahler. Berg. Hrsg. Gretel Adorno/ Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 1964. „Versuch über Wagner.“ Zur Neuausgabe 1964. In: Die Zeit Nr. 41, 1964. Bermbach, Udo. 2001. „Alles ist nach seiner Art.“ Figuren in Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“. Hrsg. Udo Bermbach. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler. Bermbach, Udo. 2003. „Blühendes Leid.“ Politik und Gesellschaft in Richard Wagners Musikdramen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler. Donington, Robert. 1974. Wagner’s ‚Ring‘ and its Symbols. The Music and the Myth. London Boston: Faber & Faber. Third Edition. Fromm, Erich. 1936. „Sozialpsychologischer Teil“. In: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Paris: Librairie Felix Alcan. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. [1947] 1969. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Im Text zitiert als DdA. Münkler, Herfried. 1998. „Macht durch Verträge. Wotans Scheitern in Wagners Ring“. In: Hrsg. Michael T. Greven/Herfried Münkler/Rainer Schmalz-Bruns Bürgersinn und Kritik. Festschrift für Udo Bermbach zum 60. Geburtstag. Baden-Baden: Nomos. Wagner, Richard. 1874. Der Ring des Nibelungen. Ich zitiere den ersten Teil des Rings, Das Rheingold, indem ich die zitierte Szene als einfache Zahl hinter Rheingold als Titel zitiere: z. B. (Rheingold, 1). Bei den anderen 3 Teilen kommt auch der jeweilige Aufzug dazu, der zuerst angegeben wird, sodann die Szene. Z. B: (Walküre, 2, 4) bedeutet zweiter Aufzug, vierte Szene. Wellmer, Albrecht. 1985. Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Die Verführung der Sirenen. Adorno, Blanchot und die Literatur Vivian Liska

1 Zum Geleit Als Jacques Derrida im Jahr 2001 der Adorno-Preis der Stadt Frankfurt verliehen wurde, sprach er von einer besonderen Affinität zwischen Dekonstruktion und Kritischer Theorie. In seiner Preisrede erklärte er: „Seit Jahrzehnten höre ich Stimmen, wie man sagt, in meinen Träumen. Manchmal sind sie freundlich, manchmal nicht. Da sind Stimmen in mir. Sie alle scheinen zu sagen: Warum solltest du nicht ein für alle Mal, in aller Deutlichkeit und in aller Öffentlichkeit, die Verwandtschaften zwischen deiner Arbeit und jener Adornos anerkennen, ja in Wahrheit die Schuld, in der du Adorno gegenüber stehst? Bist du nicht ein Erbe der Frankfurter Schule?“ (Derrida 2003, 31) Derrida entwirft daraufhin ein Forschungsprogramm für die Zukunft. Er fordert zu einer Untersuchung des unterschiedlichen Erbes von Marx, Hegel und Heidegger in Frankreich und Deutschland auf sowie zu einer Erkundung der endlosen Missverständnisse zwischen deutschen und französischen Denkern der Nachkriegszeit. Die Antwort auf seine Frage fällt dennoch eindeutig positiv aus: „Ich kann und muss ‚Ja‘ sagen zu meiner Schuld gegenüber Adorno“ (Derrida 2003, 31). Derridas Feststellung sorgte für Erstaunen dies- und jenseits des Rheins; sie wurde entweder als falsche

V. Liska (*)  Universiteit Antwerpen, Antwerpen, Belgien E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_11

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Behauptung oder als Ironie gedeutet.1 Die Stimmen der negativen Dialektik und der unaufhebbaren différance, die zweifellos zu den wichtigsten theoretischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts gehören, sprechen tatsächlich selten zu- oder übereinander und die Bestimmung ihrer Beziehung ist, sofern sie bereits untersucht ist, Gegenstand intensiver Kontroversen.2 Die von Derrida nahegelegte Verbindung lädt zur Erforschung dieses Verhältnisses ein. Ein imaginärer Dialog über die Rolle der Literatur in der Moderne zwischen Theodor W. Adorno, einem der Hauptvertreter der Kritischen Theorie, und Maurice Blanchot, dem wahrscheinlich wichtigsten Vorläufer der Dekonstruktion, bietet eine fruchtbare Perspektive für ein solches Unterfangen.

2 Adorno und Blanchot Adorno und Blanchot waren jeweils und in Beziehung zueinander, „extreme Zeitgenossen“ (Hill 1997). Als Zeugen der historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts standen sie zueinander in einer quasi komplementären Konstellation von Nähe und Distanz. Während der französische Essayist und Autor poetischer Prosa und, in den 30er Jahren, Publizist rechter Feuilletons sich während des Krieges aus der politischen Arena zurückzog und im von den Nationalsozialisten besetzten Frankreich ein schweigender Zuschauer blieb, entkam der marxistische Philosoph, dessen Vater jüdischer Herkunft war, ins amerikanische Exil, wo sich angesichts der Geschehnisse sein Urteil über den moralischen Bankrott und die Selbstzerstörung der europäischen Zivilisation zuspitzte. Trotz ihrer verschiedenen Hintergründe, intellektuellen Traditionen und ideologischen Positionen waren sie, in entscheidenden Momenten, von denselben Ereignissen beeinflusst, und entwickelten ihre theoretischen Arbeiten rund um

1Siehe Alex Gruber, Postmoderner Apriorismus. http://www.cafecritique.priv.at/pdf/PostmodernerApriorismus.pdf und Martin Lüdke, „Wie Derrida einmal sogar Adorno reinlegte, https://www.welt.de/print-welt/article477480/Wie-Derrida-einmal-sogar-Adorno-reinlegte. html (beides zuletzt eingesehen 28.11.2017). 2Während die zweite Generation der Frankfurter Schule, namentlich Jürgen Habermas, Derridas Dekonstruktion des Irrationalismus beschuldigt und seine Theorie als Hindernis zur „Vollendung der Moderne“ begreift, argumentieren andere, dass Adorno Derrida „antizipiert“ hätte und behaupten, Adorno hätte Derridas „Interesse für die Grammatik der Partikularität“ geteilt (Thurston 1993, 226, Übersetzung V. L.).

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einen ähnlichen Kanon von Autoren.3 Obwohl sie divergente Sichtweisen auf den Ursprung und die Rolle der Kunst in der Moderne entwickelten und zu Schlüsselfiguren theoretischer Paradigmen wurden, die oft als unvereinbar gelten, kommen sich ihre Reflexionen über Ästhetik, Kunst und Kultur in vielen Punkten nahe. Beide wehrten sich in sehr unterschiedlichen, allerdings gleichermaßen komplexen Schreibweisen gegen den Missbrauch von Sprache als Mittel und Werkzeug der Beherrschung. Beide entwickelten eine Auffassung von Literatur, die auf deren Fähigkeit abzielte, das Monopol der Realität als Maßstab für menschliche Möglichkeiten zu hinterfragen. Adornos Desillusionierung angesichts der Folgen der Aufklärung und Blanchots Widerstand gegen Formen des Denkens und Schreibens, die die Entfaltung des Imaginären einschränken, treffen sich in einer ähnlichen Ablehnung der Tyrannei instrumenteller Vernunft, exkludierender Logik und homogenisierender Abstraktion. Beide wenden sich aus vergleichbaren Perspektiven gegen vereinheitlichende und totalisierende Formen der Repräsentation und gehen von der Überzeugung aus, dass die Literatur nur als autonomer Bereich das Bestehende anfechten kann, das, „was ist“.4 Die Bedeutung, die der inhärenten Nähe der Literatur zum Nichtidentischen, zum Unvollständigen und Negativen in den letzten Jahrzehnten beigemessen wird, sowie die theoretische Konstruktion einer modernistischen Poetik des Fragmentarischen, der Unterbrechung und der Diskontinuität, sind in wesentlichem Maße Adorno und Blanchot verpflichtet. Diese Gemeinsamkeiten, aber auch signifikante und weitreichende Unterschiede ihres Denkens äußern sich in paradigmatischer Weise in ihren jeweiligen Lektüren der Sirenenepisode in Homers Odyssee. Diese Lektüren gehören zu den wichtigsten Zeugnissen der philosophischen und literaturtheoretischen Rezeption des griechischen Epos im 20. Jahrhundert.

3 Sirenengesang und Literatur Der Gesang der Sirenen in Homers Epos steht für zwei entgegengesetzte Kräfte: Er verkörpert den Lockruf des Absoluten und die Gefahr der Unterbrechung auf der Heimreise. Diese Doppelheit – die Gleichzeitigkeit von Totalität und Bruch – kennzeichnet auch den vornehmlich von Adorno geschriebenen ersten Exkurs

3Zu

den wichtigsten Figuren dieses gemeinsamen Kanons gehören Franz Kafka und Samuel Beckett. 4Siehe Blanchots Gebrauch des Ausdrucks „contestation de ce qui est“ (Blanchot 1971, 80).

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in der mit Max Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung5 und das einleitende Kapitel von Blanchots Le livre à venir.6 Die Titel der beiden Texte liefern bereits einen ersten Hinweis auf den Unterschied zwischen den Deutungen Adornos und Blanchots: Die Überschrift von Blanchots Kapitel, „Der Gesang der Sirenen“, betont die Stimmen der Verführung und initiiert eine poetische Spekulation über Genesis und Ontologie der Literatur. Der Titel von Adornos Exkurs, „Odysseus oder Mythos und Aufklärung“ (DdA, 50),7 konzentriert sich hingegen auf Homers Helden und leitet das zentrale Anliegen des Buches – eine Kulturkritik der Moderne im Licht einer umfassenden Geschichtsphilosophie. Auf den ersten Blick erscheinen die beiden Lesarten der homerischen Episode inkommensurabel. Während für Blanchot die literarische Erfahrung das kaum geschichtlich situierte Hauptaugenmerk ist, reflektiert Adorno die Rolle der Literatur im Rahmen einer weit gefassten Analyse der Entwicklungen westlicher Kultur, die bis zum Aufstieg des Faschismus und in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führt. Diese beiden idiosynkratischen Lesarten von Homers kanonischer Szene erfassen jeweils den Kern von Adornos und Blanchots Zugang zu Literatur und Kunst in dieser Zeit und offenbaren in verdichteter Form die Unterschiede zwischen den beiden Denkern, aber auch die überraschende Verwandtschaft ihrer theoretischen Gesten. Blanchot und Adorno hören im Gesang der Sirenen einen Ruf, der die Heimreise des Helden, den Weg zu Stabilität und Identität unterbricht. Seinen Widerstand gegen diese Unterbrechung lesen beide Autoren als selbstauferlegte Einschränkung der Exponiertheit des Subjekts; feige schützt es sich davor, die fremde Stimme, die Stimme der Fremdheit zu hören, von ihr berührt und transformiert zu werden. Für beide ist die Odyssee selbst das Resultat der entmachteten Magie des mythischen Sirenengesangs, der, nach Odysseus’ Widerstand, seine unmittelbare verlockende Gewalt verliert und sich in ein episches

5Max

Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1994 [1944, 1947]. Alle weiteren Zitate werden mit der Sigle DdA direkt im Text nachgewiesen. Inzwischen ist bekannt, dass Exkurs I weitgehend von Adorno allein verfasst wurde (vgl. Wohlfahrt 1998, 240). 6Blanchot, Maurice. [1959] 1962. Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, übersetzt von Karl August Horst. München: Hanser Verlag. Originalausgabe: Maurice Blanchot. 1959. Le livre à venir. Paris: Gallimard. Alle weiteren Zitate werden in Fußnoten im Original wiedergegeben. 7Die Sirenenepisode wird in der Dialektik der Aufklärung zweimal besprochen, zuerst im Kapitel „Begriff der Aufklärung“ (DdA, 38–49), dann im Exkurs I, „Odysseus oder Mythos und Aufklärung“ (DdA, 50–87).

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Narrativ verwandelt – in Homers Odyssee. Das Epos transportiert zwar nicht länger die verführerische Unmittelbarkeit des Gesangs, aber es enthält immer noch Spuren von dessen Verführungskraft als Reminiszenz an eine verlockende, bedrohliche Macht, die jeden verwandelt, der ihrem unwiderstehlichen Zauber erliegt. Das transformierende Potenzial dieser Begegnung übt seinerseits eine Anziehungskraft auf Adorno und Blanchot aus: Ihre Lektüren verwandeln das homerische Original im Sinne ihrer jeweiligen Theorien in wirkmächtige Episoden in der Geschichte des modernen Denkens.

4 Das Lied des Unheils Der Anspruch von Adornos Deutung der Sirenenepisode ist kein geringer: Das homerische Epos kenne bereits die „richtige Theorie“ (DdA, 41) der Dialektik der Aufklärung, der zufolge Mythos bereits Aufklärung ist und Aufklärung wieder in Mythos zurückschlägt. Adornos Projektion der schwergewichtigen Theorie auf die leichtfüßigen, ebenmäßigen homerischen Verse unterliegt eine umfassende Geschichtsphilosophie. Die Verlockung der Sirenen entstammt Adorno zufolge einem „Vielfältigen, Ablenkenden, Auflösenden“ (DdA, 54), das jedoch nur noch in der Erinnerung eines längst Vergangenen existiert, an dessen Überwindung das selbstidentische, einheitliche Subjekt „hart und stark“ (DdA, 54) geworden ist. Gleichzeitig verweist diese zurückverlockende Erinnerung auf die Erwartung eines in unabsehbarer Zukunft liegenden, ungestörten Glücks. Dazwischen liegt Unheil. Die Anziehungskraft, die dieses Lied jahrzehntelang ausgeübt hat, beruht auf der Gleichzeitigkeit einer der schwärzesten Diagnosen über die bisherige Menschheitsgeschichte und des totalen Glücksversprechens, das im Gesang der Sirenen als Nachklang einer heilen Urzeit auf eine ersehnte, aber noch jenseits des Horizonts liegende Zukunft vorausweist. Zwischen Urzeit und Utopie steht, selbst- und naturbeherrschend, Täter und Opfer zugleich, der an den Mast gefesselte Bürger Odysseus. Die Sirenen stehen hier bekanntlich für all dasjenige, das das abendländische Individuum ausgrenzen und verdrängen musste, „bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war“ (DdA, 40). Adornos These beruht auf einem linearen, dreiteiligen Zeitschema, das den Sirenen einen festen Platz zuweist: Sie gehören einer onto-phylogenetischen Vergangenheit an, in der Unmittelbarkeit herrschte und die gleichzeitig das Versprechen eines ungeteilten, unverstümmelten, ungeschmälerten Glücks in einer unbestimmten Zukunft enthält. Aus dieser Klammer fällt die gesamte Jetztzeit als Schuldzusammenhang heraus. Was wird in der Voraussicht auf solche absoluten Ansprüche dem Wissen der Literatur zugestanden?

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In der von Horkheimer und Adorno verwendeten Übersetzung heisst es, dass die Sirenen „von allem wissen, was geschah“ (DdA, 39): Die in den verschiedenen Deutungen der Sirenen-Episode verwendeten Übersetzungen variieren allerdings zwischen „was irgend geschah“, „was immer geschieht“ und „was geschehen wird“ auf der „viel ernährenden Erde“. Im Original ist „geschieht“ ein Aorist, dessen Wortlaut im Griechischen „unbegrenzt“ bedeutet und, manchen grammatikalischen Erklärungen zufolge, unbestimmt lässt, ob es sich um eine einfache Vergangenheitsform oder um eine Handlung in einer gegenwärtigen, jedoch unabgeschlossenen, auf die Zukunft hin offenen Form handelt. Andere wiederum beschreiben den Aorist als eine mit einer Zukunftsdimension behaftete Gegenwartsform, die sich dem Konjunktiv annähert. Wenn Adorno dem Aorist im Original in der Beschreibung desjenigen, von dem die Sirenen wissen, also dem kontinuierlichen, irgend und immer noch offenen Erdgeschehen, mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, wäre die Dialektik der Aufklärung vielleicht weniger melancholisch ausgefallen. Doch so gehört für Adorno nunmehr alles Wissen der Sirenen einer gleichzeitig bedrohlichen und verlockenden Vergangenheit an: „Ihre Lockung ist die des sich Verlierens im Vergangenen.“ (DdA, 39) Die Lockung der Sirenen ist die selbstauflösende Regression, der der triebverzichtende Odysseus sich entziehen muss, um das schwer errungene Selbst zusammenzuhalten. Adorno spricht von der „glücklich-missglückten“ (DdA, 67) Begegnung mit den Sirenen, doch vom Glück ist nicht viel zu spüren, denn falsch macht es Odysseus doppelt, indem er sich an den Mast kettet, da er mit naturbeherrschender Technik die „archaische Übermacht des Liedes“ (DdA, 66) nicht nur bändigt, sondern gut dialektisch auch bestätigt und perpetuiert. Falsch wäre es natürlich auch, täte er es nicht und löste sich zur Gänze auf im Nicht-Identischen. Entweder das nackte Überleben um der Zukunft, der utopischen Heimkehr willen oder die lustvolle Hingabe, die einer regressiven Selbstaufgabe gleichkommt. Angesichts dieser Ausweglosigkeit zwischen verstümmelnder Selbstbehauptung und bedrohlichem Selbstverlust stellt sich die Frage nach der Alternative, die schon viele in der Dialektik der Aufklärung gesucht haben. Kaum zufriedenstellend ist Adornos Versuch, sich die Alternative auf der Ebene des Gleichnisses vorzustellen. Welche anderen Möglichkeiten stellt Adorno dem homerischen Helden in Ausicht? „Odysseus“, schreibt er, „versucht nicht, einen andern Weg zu fahren als den an der Sireneninsel vorbei. Er versucht auch nicht, etwa auf die Überlegenheit seines Wissens zu pochen und frei den Versucherinnen zuzuhören, wähnend, seine Freiheit genüge als Schutz.“ (DdA, 66) Welche Möglichkeiten eines Auswegs fasst Adorno hier ins Auge? Sich dem Gesang erst gar nicht auszusetzen? Das geschähe allerdings um den Preis der Odyssee. Oder gepanzert mit dem Selbstbewusstsein der eigenen Freiheit den

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Sirenen entgegenzugehen? Also letztlich ebenso unerreichbar zu bleiben für die Wirkung ihres fremden Gesangs? Und was wäre die Entsprechung dieser Alternativen auf der Ebene von Adornos Deutung? Wenn, wie Irving Wohlfarth formuliert, die „schmale dritte Möglichkeit“ (Wohlfarth 1998, 254) zwischen Fesselung am Mast und Tod bei den Sirenen die Kunst ist, wie verhält sich diese zu den vorgeschlagenen Möglichkeiten? „Der Drang, Vergangenes als Lebendiges zu erretten, anstatt als Stoff des Fortschritts zu benützen, stillte sich allein in der Kunst,“ heißt es in der Dialektik der Aufklärung (DdA, 39). Kunst, so Adorno, spielt das Spiel der bösen Mächte mit, wenn sie „darauf verzichtet, als Erkenntnis zu gelten, und sich dadurch von der Praxis abschließt“. Dann wird sie „von der gesellschaftlichen Praxis toleriert wie die Lust“ (DdA, 39). Es gibt also eine gute und eine schlechte Praxis, eine gute und eine schlechte Kunst. Die wahre Erkenntnis der Kunst, die Vergangenes als Lebendiges retten möchte, lässt das verdrängte Glücksvermögen als Leitstern gelten, während die falsche dem verklärten Lauschen des gefesselten Odysseus gleicht, für den sie „folgenlos“ bleibt (DdA, 40). Doch wird deutlich, dass Kunst, um diese Funktion erhalten zu können, ihre eigene Verführungskraft aufgeben muss. Nur als „Statthalter der Utopie“, wie Wohlfarth Adorno zitiert, (Wohlfarth 1998, 244) erhält sie ihr Existenzrecht im Reich der Melancholie. Adorno hält der schlechten Praxis des gesellschaftlichen Fortschritts die Verharmlosung der Kunst vor, die, ein entmächtigter Sirenengesang, nur noch im bürgerlichen Konzertsaal erfahren wird; er entmächtigt sie jedoch selbst zum Korrektiv dieser Praxis. Die Begegnung mit den Sirenen ist keine Erfahrung der Wirkungskraft der Kunst, die nur noch in schwachen Tönen an den Sirenengesang erinnert. Vielmehr ist der Gesang in einer missglückten Zivilisation selbst zum „Widersinn“ geworden (DdA, 67), sind, nach der verfehlten Begegnung mit den Sirenen, die diese Zivilisation hervorgebracht hat und nunmehr kennzeichnet, „alle Lieder erkrankt“ (DdA, 67). Wie die Dissonanzen der neuen Musik, so ist auch die Literatur nur aufgrund ihrer Zäsuren, des Innehaltens, das in der Prosa sich ereignet, legitim, denn diese Brüche markieren das falsche Heute: in ihnen blitzt dialektisch der „Schein von Freiheit“ (DdA, 86) auf, der für die künftige Totalversöhnung einsteht. Adornos Sirenen, die doch göttlichen Gesang verhießen, sind hier gar nicht so weit entfernt von jenen Sirenen, die ausgelöst werden, um Gefahr zu verkünden: Sie sind Signale des Unheils. Selten wurde der Literatur eine schwerwiegendere Funktion zugesprochen. Und dennoch: Nicht Ereignis wird hier das Unzulängliche, sondern Abglanz und Vorausleuchten. Die Brüchigkeit der rettenswerten, weil in ihrer Entmächtigung Rettung versprechenden Literatur weist auf eine zukünftige Heimat voraus, die nicht mehr der schlechten Sehnsucht des Entfremdeten nach dem ­Vergangenen

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entspringt, in welches die Sirenen locken. „Heimat“ ist vielmehr das „Entronnensein“ (DdA, 86) vom Mythos und vollzöge sich erst in der von diesem wahrlich befreiten Aufklärung. Das Innehalten, die Zäsur, die die Rede – und die Literatur – vom Gesang unterscheidet, ermöglicht die „Selbstbesinnung“ (DdA, 86), doch sind deren Gehalt und Ausrichtung für Adorno schon vorherbestimmt: Was als Unterbrechung gedacht ist, hat keinen Eigenwert. Vielmehr verwandelt sich das Unterbrechende unter der Hand in eine Verbindung zwischen einst und viel später, und wenn diese auch eher im Sinne Walter Benjamins als „geheime Verabredung“ zwischen Gewesenem und Jetztzeit (Benjamin 1977, 252), also als punktuelle Konstellation gedacht ist, die das Kontinuum der Zeit aufbricht, so mündet sie dennoch letztlich in die Konstruktion einer geschlossenen Kuppel, unter der das zerstörte Jetzt haust. Noch die Zweckfreiheit der Literatur wird dialektisch verarbeitet und für die richtige Theorie funktionalisiert. Sie lockt nicht und verlockt nicht aus sich heraus: Dem Sirenenwissen wird die Macht der transformierenden Fremderfahrung abgesprochen, die in das vorgefasste Programm des Heimkehrenden eingreifen könnte. Sie verheißt keine Störung der vorgezeichneten Bahn, kein Unerwartetes und keine Fremderfahrung, sondern nur den Weg einer verlorenen, falschen Heimat in eine zukünftige richtige. So übt die richtige Theorie Verrat an den unberechenbaren Wasserfrauen. Die richtige Theorie stopft sich, mit dem Blick aufs zukünftige große Ganze, Wachs in die Ohren, um die verführerische Vielfalt möglicher Deutungen, die ihre Lektüre überhaupt erst ermöglicht hat, nicht zu hören. So kommt sie nach geschundenem Text selbst unbeschädigt in der vorherbestimmten Heimat an.

5 Gesang des Abgrunds Adorno nennt die Sirenen-Episode eine „ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung“ (DdA, 41). „Es ist dies keine Allegorie“8, schreibt Maurice Blanchot im Anschluss an seine Lektüre der Episode. In diesem Gegensatz ist schon die ganze Entfernung angedeutet, die Adornos und Blanchots Auffassung vom Wissen der Literatur voneinander trennt. Für Blanchot steht Homers E ­ rzählung

8Blanchot,

Maurice. 1962. Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, München. (Deutsche Übersetzung aus dem Französischen von Karl August Horst. Im Original: „Ce n’est pas là une allégorie.“ Originalausgabe: Maurice Blanchot. 1959. Le livre à venir. Paris.

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der Begegnung mit den Sirenen nicht für etwas anderes ein, sie ist selber diese Begegnung und wiederholt sich an jedem Ort und zu jeder Zeit, wo Literatur sich ereignet, um aus diesem Ort eine Bewegung ins Außen jeglichen Orts und aus dieser Zeit eine Bewegung aus der Zeit heraus zu machen. Anders als Adorno, der eine „richtige Theorie“ im Blick hat, spricht Blanchot nicht von der „glücklich-missglückten“ Begegnung Odysseus’ mit den Sirenen, sondern von der „navigation heureuse malheureuse“9, denn glücken kann, im Unterschied zur glücklichen Fahrt, nur etwas, das ein vorgefasstes Ziel hat. Für Blanchot ist der Entzug dieses Ziels, von dem Odysseus’ Begegnung mit den Sirenen erzählt, die Voraussetzung der Literatur, zugleich ihr ganzer Zauber und ihre Verzweiflung, nämlich alles und nichts zu sein. Zwischen Odysseus und den Sirenen spielt sich für Blanchot der Kampf zwischen der Wirklichkeit und dem Imaginären ab, in dem beide „das Ganze sein wollen, auf absolute Weise die ganze Welt sein wollen, was ihr Zusammenbestehen mit der anderen Welt unmöglich macht; und doch haben beide Welten kein grösseres Verlangen, als mit dem anderen zusammenzubestehen und ihr zu begegnen […] und aus der Welt, die dieser Vereinigung entspringt, die furchtbarste und schönste aller möglichen Welten […] zu machen.“ Doch diese ist, so Blanchot „hélas, un livre, rien qu’un livre.“10 Bei Adorno und Blanchot ist der Anspruch der Literatur monumental und nichtig zugleich: Für den ersteren bewahrt sie ein Vergangenes auf und verweist auf ein Kommendes, steht also lediglich für etwas anderes ein, doch spielt sie gerade als „Statthalter der Utopie“ eine gewichtige Rolle in einem immerhin grandiosen geschichtsphilosophischen Konstrukt. Bei Blanchot ist Literatur hingegen das absolute Ereignis, aber eben nur – ein Buch. Wie für Adorno, werden die Sirenen auch bei Blanchot von der „Macht der Technik“ besiegt, die „immer ein gefahrloses Spiel mit den unwirklichen (inspirierten) Mächten zu spielen vorgibt“11 und die Elementargewalten zu bezwingen sucht. Auch für Blanchot ist Odysseus ein Gefesselter, der ohne Risiko den Genuss des Sirenengesangs erfahren will. In seiner Kritik an Odysseus’ List

9Blanchot,

Le livre à venir, 11. Gesang der Sirenen, 18. Im Original: „Chacune de ces parties veut être tout, veut être le monde absolu, […] et chacun pourtant n'a pas de plus grand désir que cette coexistence et cette rencontre. [… et de faire] du monde qui résulte de cette réunion le plus grand, le plus terrible et le plus beau des mondes possibles, hélas un livre, rien qu’un livre.“ 14–15. 11Ebd., 13. Im Original: „Les Sirènes, vaincues par le pouvoir de la technique qui toujours prétendra jouer sans péril avec les puissances irréelles (inspirées) […]“, 11. 10Blanchot,

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geht Blanchot noch weiter als Adorno: er spricht von dessen Eigensinn, Feigheit und Schlauheit, vom „perfiden Weg, den er einschlug“.12 Er ist für ihn, wie der bürgerliche Konzertbesucher für Adorno, der Inbegriff des Mittelmäßigen, des Gemäßigten, der der Ordnung des Tages angehört und die Erfahrung dessen, was aus ihr herausfällt, bezwingt: „Nach überstandener Prüfung findet sich Odysseus als derselbe wieder, der er gewesen ist, und die Welt findet sich wieder, vielleicht ärmer geworden, aber sicherer und fester.“13 Blanchot stellt Odysseus Melvilles Ahab entgegen, der sich der Metamorphose, die die Sirenen bewirken, nicht entzogen hat, sondern in sie eingedrungen und verschwunden ist. Die Literatur geht von dem Ruf aus, den diese beiden gehört haben, geht diesem Ruf gleichzeitig entgegen und geht letztlich in ihm auf: In beiden Fällen hinterläßt die Begegnung keine Spuren, sondern – eine Erzählung. Blanchot nennt Odysseus einen Menschen, „der taub ist, weil er hört,“14 weil er im Gesang der Sirenen nichts als ein in die Welt eingebundenes Singen hört, nicht aber das Schweigen, dem er seinen Zauber verdankt und das in ihm als ein Ausdrucks-und Bedeutungsloses mitklingt. Es ist dieses taube Hören, das die Sirenen tatsächlich entzaubert, indem es ihren Gesang gegenwärtig und sie zu „leibhaften Mädchen“15, zu Weltgeschöpfen macht, und dadurch ihre Macht zum Verschwinden bringt. Worin liegt diese Macht? Wie für Adorno steht für Blanchot der Gesang der Sirenen der Eigensinnigkeit und angestrebten Einheit des beherrschten und beherrschenden Subjekts entgegen, doch handelt es sich für den letzteren nicht um eine Entfremdung, die sich in einer zukünftigen Versöhnung des Identischen mit dem Nicht-Identischen auflösen soll, sondern um die Erfahrung der Fremdheit selbst. Wie im Unterschied zwischen „geglückt“ und „glücklich“ bleibt auch im Unterschied zwischen aliénation und étrangeté im letzteren, dem Begriff der étrangeté, ein Raum offen für Unerwartetes. Der Gesang der Sirenen ist für Blanchot selbst mangelhaft und unbefriedigend, und wenn er auch, ähnlich wie bei Adorno, in eine zukünftige Richtung zeigt und dort einen Ort anweist, an dem „das echte Glück“16 entspringen soll, so handelt es

12Ebd.,

13. Im Original: „Ulysse, l’entêtement et la prudence d’Ulysse, sa perfidie qui l’a conduit à jouir du spectacle des Sirènes, sans risques et sans en accepter les conséquences, cette lâche, médiocre et tranquille jouissance, mesurée […]“, 11. 13Ebd., 18. Im Original: „Après l’épreuve, Ulysse se retrouve tel qu’il était, et le monde se retrouve peut-être plus pauvre, mais plus ferme et plus sûr.“ 15. 14Ebd., 13. Im Original: „cette surdité étonnante de celui qui est sourd parce qu’il entend“, 11. 15Ebd., 13. Im Original: „de belles filles réelles“, 11. 16Ebd., 11. Im Original: „le vrai bonheur“, 9.

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sich bei Blanchot nicht um eine messianisch-utopische Erfüllung, sondern um das Glück, das der Gesang als ewige Wanderschaft und Unterwegssein in diese Richtung ist. Die Macht des Sirenengesangs ist dieses Versprechen und das unstillbare Begehren der Begegnung selbst. Das Tödliche an der Sirenenverlockung ist, dass sie „eine Sehnsucht nach einem wunderbaren Jenseits weckt, ein Jenseits, das jedoch nichts anderes ist als eine Wüste, in der die Musik, und mit ihr die Sirenen, verschwunden sind.“17 Das Jenseits ist ein Nichts, das Ankommen der Tod, der Gesang der Sirenen der Lockruf, der von dort ausgeht und an dem die Sprache die Welt und zuletzt sich selbst negiert. Wie der Ort ist auch die Zeit, die sich in der Begegnung mit den Sirenen offenbart, eine Nicht-Zeit, die weder, wie bei Adorno, der Lockruf des „sich Verlierens im Vergangenen“ noch ein Bevorstehendes und schon gar keine Jetztzeit ist, die aber – so wie der andere Ort kein Jenseits ist –  auch keine Ewigkeit oder ein Außerzeitliches ist, und auch kein Aorist, der dem Kontinuum der wirklichen Zeit Rechnung trägt, sondern eine Zeit ohne Fixpunkt und ohne Fluss, in ständiger Bewegung, in ständigem Neubeginnen und fortwährender Wiederholung, ein „faszinierendes Allzugleich“18, das in der Erzählung „allmählich und doch im Nu“19 die Wirklichkeit ins Imaginäre gleiten lässt, dort alles in Sprache verwandelt, um zuletzt in ihr zu verschwinden. Was Adorno die mythische Vorzeit nennen würde, wird hier „zur Zeit der Metamorphosen“20, auf welche die Literatur sich hinbewegt. Blanchot tritt in die zirkuläre Zeitlichkeit des Mythos ein und verwandelt sie schreibend in die Zeit der Erzählung, die nichts beim Alten lässt, aber auch nichts verändert. Um von der Begegnung mit den Sirenen erzählen zu können, muss diese schon stattgefunden haben, weil einzig aus ihr das Vermögen zu sprechen und zu erzählen ausgeht, und doch ereignet sie sich erst – und wirklich nur – im erzählten Imaginären selbst. In dieser Verschränkung falten sich Wirklichkeit und Imaginäres ineinander und steigen aus der gängigen Wirklichkeitswahrnehmung aus, in ein dehors, das keinen Innenraum kennt und ihm auch nicht entgegensteht. Für den Ursprung des Mangels, der dem Gesang der Sirenen anhaftet, gibt Blanchot zwei mögliche Erklärungen: Für die einen ist er „dem Menschen in jeder Hinsicht fremd, sehr leise, geeignet, ihm jene höchste Lust zu bescheren,

17Ebd., 12. Im Original: „l’espoir et le désir d’un au-delà merveilleux, et cet au-delà ne représentait qu’un désert, comme si la région-mère de la musique eut été le seul endroit tout à fait privé de musique“, 10. 18Ebd., 124. Im Original: „simultanéité fascinante“, 22. 19Ebd. 20Blanchot, Gesang der Sirenen, 21. Im Original: „temps des métamorphoses“, 17.

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die im Fallen besteht und die er im gewöhnlichen Leben nicht befriedigen kann,“21 für die anderen „eine noch seltsamere Verzauberung: in ihr ist der Gesang der Sirenen dem Singen der Menschen nachgebildet […] und weil sie singen konnten wie die Menschen singen, machten sie aus dem Gesang etwas Ausserordentliches […] Etwas Wunderbares lag in diesem wirklichen Gesang, diesem allen gemeinsamen, schlichten und alltäglichen Gesang verborgen, und dieses Wunderbare müssen sie mit einem Schlag erkannt haben, als es auf unwirkliche Art von fremden und sozusagen imaginären Mächten gesungen ward: Sang des Abgrundes, der, wenn man ihn einmal vernommen hatte, in jedem Wort einen Abgrund auftat und sehr dazu verlockte, in ihm zu verschwinden.“22 In dieser zweiten, „noch seltsameren Verzauberung“ sind die Sirenen also nicht, wie in der ersten, ein ganz Anderes, und ihre Verlockung kein Herausfallen aus dem normalen, gewöhnlichen Leben, kein Sich-fallen-lassen, von dem man wieder aufsteht, um sich daraufhin wieder in die Welt einzufügen, kein Selbstverlust und Wirklichkeitsvergessen im Angesicht des Imaginären, der Kunst, der Literatur. Vielmehr öffnet ihr Gesang „in jedem Wort einen Abgrund“, einen Sog, der dazu verlockt, für immer „in ihm zu verschwinden.“ Viel radikaler ist der Anspruch dieser zweiten Erklärung, aber der Abgrund, der sich dort auftut, ereignet sich, anders als das Fallen, nicht im Leben, sondern im Wort, und was darin verschwindet, könnte das Leben selbst sein. Wie für Adorno mündet auch für Blanchot der Gesang der Sirenen in das Epos, das die Odyssee selber ist. Doch für Blanchot ist der Gesang kein mythisch Schicksalhaftes, das von Homer in der romanhaften Welthaltigkeit des Epos schon „organisiert“ (DdA, 50) und überwunden wurde: er bleibt vielmehr unterund abgründig in ihr bewahrt. Für Adorno geht der falsch-harmonische, kranke

21Ebd.,

11. Im Original: „Les uns ont toujours répondu: c’était un chant inhumain […] étranger à l’homme, très bas et éveillant en lui ce plaisir extrême de tomber qu’il ne peut satisfaire dans les conditions normales de la vie“, 9. In einer anderen Lesart dieser Stelle wäre Blanchots erste Erklärung mit Adornos Beschreibung des Bedürfnisses von Odysseus zusammenzusehen, eine scharfe Grenze zwischen sich und dem mythischen Anderen zu ziehen. 22Ebd. Im Original: „Mais, disent les autres, plus étrange était l’enchantement: il ne faisait que reproduire le chant habituel des hommes, et parce que les Sirènes […] pouvaient chanter comme chantent les hommes, elles rendaient le chant si insolite qu’elles faisaient naître en celui qui l’entendait le soupçon de l’inhumanité de tout chant humain. […] Il y avait quelque chose de merveilleux dans ce chant réel, chant commun, secret, chant simple et quotidien, qu’il leur fallait tout à coup reconnaître, chanté irréellement par des puissances étrangères et, pour le dire, imaginaires, chant de l’abîme qui, une fois entendu, ouvrait dans chaque parole un abîme et invitait fortement à y disparaître.“ 9–10.

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Gesang durch Homers Erzählakt in den Roman über. Auch bei Blanchot „entsteht der Roman aus Odysseus‘ Begegnung mit den Sirenen“ und auch bei ihm ist der Roman „reich und bunt“, und hat „die Weite und Fülle des Lebens in seiner wunderbaren und oberflächlichen Vielfältigkeit“ in sich.23 Doch nicht dort, nicht im Roman, vollzieht sich die wirkliche Begegnung mit den Sirenen. Sie ereignet sich vielmehr dort, „wo der Roman nicht hingeht“24: im récit, jener Form des Erzählens, die nicht der Bericht einer Begebenheit ist, sondern diese Begebenheit selber. Sie strebt jenem Ort des Abgrunds entgegen, aus dem der Gesang der Sirenen entstammt. Was bei Adorno die Zäsur, das Innehalten der erzählten Rede – im Unterschied zum gebundenen Gesang, dem Gedicht – ist, ist bei Blanchot der Ort des Schweigens, von dem das Ereignis der Literatur ausgeht. Die Sirenen singen das absolute, nichteinlösbare Versprechen, solange sie nicht durch die Taubheit des Odysseus, der so viel Versprechen vielleicht gar nicht wollte, zu „wirklichen Mädchen“ degradiert werden. Bei Adorno entrinnt Homer, wie Odysseus, den Sirenen, indem er die Odyssee prosaisch erzählt. Bei Blanchot rächt Homer die betrogenen Sirenen und holt Odysseus in ihr Magnetfeld zurück: „Sie lockten ihn dorthin, wo er nicht ruhen wollte, und verborgen im Schoß der Odyssee, die ihr Grabmal geworden ist, verleiten sie ihn – und nicht nur ihn, sondern viele andere – zu jener glücklich unglücklichen Schiffsreise, wie sie im récit vorliegt, der nicht mehr unmittelbarer Gesang ist, sondern erzählter, und dem Anschein nach harmlos gewordener Gesang, nicht mehr Ode, sondern Episode.“25 Die Odyssee, die ganz aus Welt, Abenteuern und Sprache besteht, wird hier in der Sirenen-Episode, die ihre mise en abîme und ihr eigener Abgrund ist, zum Ort, an dem die Sirenen, mit ihrem nur scheinbar zur Erzählung entmächtigten, verharmlosten Gesang – und als Rache an Odysseus – noch nach ihrer Niederlage, aus ihrem Grab des Schweigens, diese ganze Welt zu sich hinabziehen, jener Leere nicht unähnlich, die in Baudelaires Fleurs du mal „dans un bâillement avalerait le monde“26 – „in einem Gähnen die Erde verschlucken würde.“

23Blanchot,

Gesang der Sirenen, 14. Im Original: „Ce qu’on appelle le roman est né de cette lutte. […] Cette navigation est une histoire tout humaine […]. Elle est assez riche et assez variée pour absorber toutes les forces et toute l’attention des narrateurs.“, 11–12. 24Ebd., 15. Im Original: „Le récit commence où le roman ne va pas“, 12. 25Ebd., 13. Im Original: „Elles l’attirèrent là où il ne voulait pas tomber et, cachées au sein de L’Odyssée devenue leur tombeau, elles l’engagèrent, lui et bien d’autres, dans cette navigation heureuse, malheureuse, qui est celle du récit, le chant non plus immédiat, mais raconté, par là en apparence rendu inoffensif, ode devenue épisode.“ 11. 26Baudelaire, Charles. 1964. „Au lecteur“. In: Les Fleurs du mal, 16. Paris: Gallimard.

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Aber was, fragt man sich angesichts einer solchen Leere, bleibt vom Adressaten der Sirenen, was bleibt zu verführen, herauszufordern, zu verstören? Der französische Sprachtheoretiker Henri Meschonnic spricht in einem kritischen Essay von Blanchots Vorstellung von Literatur im Sinne einer „Zirkularität, welche die größte aller Versuchungen darstellt“ (Meschonnic 1974, 82). Verblüffend ähnlich endet Irving Wohlfahrt seine Analyse von Adornos Interpretation der Sirenenepisode mit der Warnung, „dass der Leser dieses in sich kreisenden Textes“ sich vorsehen muss, seinem Sog nicht zu erliegen (Wohlfahrt 1998, 274). Adorno und Blanchot – zwei singende Sirenen? Singend von ihren eigenen, gleichermaßen verlockenden Vorstellungen von einem fremden Ruf und der Möglichkeit der Begegnung mit dem Anderen? Die alternative Vorstellung ist verlockend, dass ihre zwei Stimmen eine gegenseitige Unterbrechung erzeugen, die allerdings kein erhabenes Verstummen wäre, sondern eine Einladung, den anderen zu hören.

6 Nachklang Adornos und Blanchots Stimmen sind weitgehend verklungen und es ist zweifelhaft, dass das, was heute an neuen Zugängen zur Literatur zu hören ist, auch nur von Ferne der Begegnung ihrer Stimmen ähnelt. Das Maß – und sicher auch Übermaß – ihrer Ansprüche und Erwartungen an Kunst und Literatur ist zur Unkenntlichkeit geschrumpft: Kognitive Theorie? Digitale Geisteswissenschaften? Systemtheoretische Kritik? Wir mögen an den Sirenen vorbeigesegelt und ihrer tödlichen Lockung entgangen sein, aber die Musik ist – zumindest vorläufig – verstummt.

Literatur Benjamin, Walter. 1977. Illuminationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Blanchot, Maurice. 1962. Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, übersetzt von Karl August Horst. München: Hanser Verlag. Originalausgabe: Maurice Blanchot. 1959. Le livre à venir. Paris: Gallimard. Blanchot, Maurice. 1971. Les grands réducteurs. In: L’Amitié, 74–86. Paris: Gallimard. Derrida, Jacques. 2003. Fichus. Frankfurter Rede. Hrsg. Peter Engelmann, mit Anmerkungen von Irving Wohlfarth. Wien: Passagen Verlag. Hill, Leslie. 1997. Blanchot: Extreme Contemporary. London: Routledge. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. [1944, 1947] 1994. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag. Erstausgabe: Social Studies Association, Inc. New York 1944. (Abk.: DdA).

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Meschonnic, Henri. 1974. Blanchot ou l’écriture hors langage. In: Revue Les Cahiers du Chemin Nr. 20, 79–116. Paris: Gallimard. Thurston, John. 1993. Theodor W. Adorno. In: Encyclopedia of Contemporary Literary Theory, Hrsg. Irina Makaryk, 226–233. Toronto [u. a.]: University of Toronto Press. Wohlfahrt, Irving. 1998. Das Unerhörte hören. Zum Gesang der Sirenen. In: Jenseits instrumenteller Vernunft. Kritische Studien zur Dialektik der Aufklärung, Hrsg. Manfred Gangl/Gérard Raulet, 225–274. Frankfurt a. M. [u. a.]: Peter Lang.

Der Wahrheitsgehalt der Kulturindustrie – Zur Aktualität der Diagnose Horkheimer und Adornos Hauke Brunkhorst

In dem berühmten Kapitel Kulturindustrie aus der Dialektik der Aufklärung (zit. als DdA) geht es Horkheimer und Adorno um eine industriell fortgeschrittene Gestalt der Kunst, deren Fortschritt die Autoren mit Marx am Stand der Produktivkräfte messen. Deshalb steht, wie der Untertitel, Aufklärung als Massenbetrug, verrät, deren Wahrheit zur Diskussion. Kunstprodukte einschließlich der Kulturindustrie sind, nicht anders als Tempotaschentücher und Tomaten, Produkte abstrakt allgemeiner gesellschaftlicher Arbeit. Sie werden von Künstlern produziert und vom Publikum konsumiert. Zum Publikum gehören alle. Jede und Jeder, auch wer keine Museen besucht, ins Kino geht, Comics liest oder Symphonien hört, ist, so Adorno in der nachgelassenen, fragmentarisch gebliebenen Ästhetischen Theorie, der „gesellschaftlichen Wirkung“ der Kunst ausgesetzt (Adorno 1973b, 359). Kunst ist „Praxis“, aber eine, die „nichts aufredet“ (Adorno 1973b, 361). Trotzdem, ja: gerade deswegen trägt die „höchst mittelbare Teilhabe an dem Geist“, der „in Kunstwerken sich konzentriert […], in unterirdischen Prozessen […] zur Veränderung der Gesellschaft bei“ (Adorno, 359, siehe auch 530 ff.). Praktische Wirkung haben Kunstwerke „in einer kaum dingfest zu machenden Veränderung des Bewußtseins“ (Adorno 1973b, 360). Sie sind als unvollständige Sprechakte, als Darstellungen ohne Mitteilungsabsicht „latente Praxis“, deren „geschichtliche Genese […] auf Wirkungszusammenhänge“ zurückverweist, die „nicht spurlos in ihnen“ verschwinden (Produktion), sodass auch „der Prozeß, den ein jedes Kunst­­ werk in sich vollzieht“, sich als „Modell möglicher Praxis“ seinem Publikum

H. Brunkhorst (*)  Europa Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_12

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präsentiert. Es kommt in der Kunst nicht „auf die Wirkung“, sondern auf „ihre eigene Gestalt“ an: „ihre eigene Gestalt wirkt gleichwohl“ (Adorno 1973b, 359). Ihre Abgeschlossenheit (ästhetische Autonomie) ist „nicht eins mit Unverständlichkeit. Stattdessen wäre ein Zusammenhang hermetischer Dichtung mit sozialen Momenten zu unterstellen“ (Adorno 1973b, 475 f.). Je hermetischer sie sind, desto größer ihre mögliche Wirkung. Ihr Wahrheitspotenzial verwirklicht sich aber nur, wenn sie einem „objektiven Bedürfnis nach einer Veränderung des Bewußtseins, die in Veränderung der Realität übergehen könnte […], durch den Affront der herrschenden Bedürfnisse, die Umbelichtung des Vertrauten, zu der sie von sich aus tendieren […], entspricht“ (Adorno 1973b, 361). Die Wahrheitswerte (wahr/falsch) dieses Entsprechungsverhältnisses verteilen sich gleichermaßen, wenn auch nicht immer gleichmäßig auf Kunst und Kulturindustrie (Abschn. 1). Am Zusammenspiel von Kunst, Kulturindustrie und Politik in den 1960er Jahren lässt sich die Aktualisierung des ästhetischen Wahrheitspotenzials exemplarisch veranschaulichen (Abschn. 2). Umgekehrt zeigt der erneute Strukturwandel der Öffentlichkeit zu einer Post-Truth Democracy, dass Adornos düsterste Deutung der Kulturindustrie, deren Veröffentlichung die Co-Autoren der mit der Dialektik der Aufklärung gleichzeitigen Studien The Authoritarian Personality seinerzeit abgelehnt hatten, dass sie – prophetisch im besten, ursprünglichen Sinn eines warnenden Vorher-Sagens – erst heute wirklich aktuell geworden ist (Abschn. 3).1

1 Wahrheitswerte Die hegemoniale Tendenz der Kulturindustrie beschreiben Horkheimer und Adorno 1944 als „Verblendungszusammenhang“ (DdA, 216). Die für Technik und Wissenschaft konstitutive Vergegenständlichung und Verdinglichung hat eine, vom frühen Lukács über den späten Husserl bis Horkheimer und Habermas einleuchtend beschriebene, imperiale Tendenz zur Selbstobjektivierung, die das verändernde, performative Verhalten der sozialen Akteure zur Welt durch ein Denken von der Welt her substituiert (DdA, 42 f., 244). Die imperiale Tendenz von Technik und Wissenschaft, die ihre (emanzipatorischen) Möglichkeiten nicht

1Terminologisch

werde ich, obwohl die Sphären sich mittlerweile durchdringen und, wie Adorno sagt, „verfransen“, weiterhin Kunst als professionalisierte Sphäre ästhetischer Spezialisierung und Kulturindustrie als Massenkultur, die durch Medien der Massenkommunikation verbreitet wird, unterscheiden (Adorno 1967a, 158).

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erschöpft, kommt den Verwertungsimperativen und den herrschenden Interessenlagen des Spätkapitalismus entgegen und verstärkt sie. Aufklärung wird als marktkonforme Kulturindustrie ebenso zum „Massenbetrug“ (DdA, 128) wie spätestens heute als marktkonforme Demokratie (Adorno 1967b, 69; Adorno 1973b, 90, 370). Der Anteil der Kultur an der Erzeugung, Erhaltung und Vertiefung gesellschaftlicher Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse ist aber keineswegs eine Erfindung der Kulturindustrie: „Die reinen Kunstwerke, die den Warencharakter der Gesellschaft allein dadurch schon verneinen, daß sie ihrem eigenen Gesetz folgen, sind immer zugleich auch Waren.“ (DdA, 166) Von Anbeginn war der „Autonomie“ der Kunst „ein Moment von Unwahrheit“, der „Blindheit“ und „Lüge“ „beigesellt“ (DdA, 166; Adorno 1973b, 9, 17, 129). Weil Kunstwerke, so auch der späte Adorno, als fait social „immer ihre eine Seite der Gesellschaft zukehren, strahlte die in ihnen verinnerlichte Herrschaft auch nach außen. Unmöglich, im Bewußtsein dieses Zusammenhangs, Kritik an der Kulturindustrie zu üben, die vor der Kunst verstummte.“ (Adorno 1973b, 34) Adorno schließt ausdrücklich das für ihn nicht nur im Sinne der Produktivkräfte, sondern auch der Transzendierung ihrer kapitalistischen Produktionsverhältnisse fortgeschrittenste Werk der Moderne (Schönberg) in diese fatale Dialektik des Fortschritts ein (Adorno 1976). Sein berühmtes Diktum, nach Auschwitz gäbe es kein Gedicht mehr, das von Barbarei frei sei, gilt auch für den Satz, der genau das behauptet, wie Adorno sofort unmissverständlich hinzufügt: „Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ (Adorno 1969a, 30 f.)2

2Das

Diktum von 1949 ist 1951 in der Festschrift für Leopold von Wiese erstmals erschienen. Bertold Brecht hatte es in dem sich selbst dementierenden Gedicht An die Nachgeborenen schon in den 1930er Jahren vorweggenommen (Adorno 1973b, 65 f.). Dem Diktum folgte sofort die Generalisierung, dass nach Auschwitz „die gesamte traditionelle Kultur nichtig“ sei (Adorno 1969a, 31), später und wieder mit Bezug auf Brecht: „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“ (Adorno 1973a, 359). Das Diktum darf nicht so verstanden werden, dass Künstler keine Gedichte mehr schreiben sollten, sondern nur noch solche, deren Lyrik (wie die Baudelaires und Celans) „eine ohne Aura“ sei und sich damit als Lyrik selbst dementiere (Adorno 1973b, 477). Zur Komplexität der hochkontroversen Wirkungsgeschichte: Johann 2018.

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Umgekehrt finden sich auch in der Kulturindustrie Wahrheitsmomente, die ein latentes Widerstandspotenzial darstellen, das sich, wie spätestens die 1960er Jahre gezeigt haben, kulturrevolutionär aktualisieren lässt. Nur so lange halten „Autos, Bomben und Film […] das Ganze zusammen, bis ihr nivellierendes Element am Unrecht selbst, dem es diente, seine Kraft erweist“ (DdA, 169). Das war 1944 auf den Krieg gegen den autoritären Staat und das faschistische Ungleichheitsregime Kontinentaleuropas bezogen, dem die Kulturindustrie mit Autos, Bomben und Filmen diente, an dessen Zerstörung sie im Namen der Egalität aber ebenso beteiligt war. Nicht nur in der male-chauvinistischen Kriegspropaganda zeigt sich die Ambivalenz der Kulturindustrie. Wahr ist die Kulturindustrie genau dort, wo die „zeitgenössische Massenkultur […] gegen den Begriff des Sinns und die Behauptung rebelliert, das Dasein sei sinnvoll“, und wahr wird sie, wo sich die „Extreme ganz oben und ganz unten“ berühren (Adorno 1967a, 178; Adorno 1973b, 162). Sofern sie gegen den Begriff des Sinns rebelliert, ist die Kulturindustrie die exoterische Seite der esoterischen, hermetischen und avancierten Werke der Moderne, die Synthesen nur entwerfen, um sie zu „zerschneiden“, während sich umgekehrt in der Avantgarde der 1960er Jahre nicht nur die Künste untereinander, sondern auch mit der Kulturindustrie „verfransen“ (Adorno 1967a; Adorno 1973b, 209). In der Rebellion gegen das Höhere und den höheren Sinn des Leidens vereinigt sich schon bei Mahler die „Vulgärmusik“ mit der hermetischen Kunst: „Jakobinisch stürmt die untere Musik in die obere ein.“ (Adorno 1985, 184) Der 1911 gestorbene Gustav Mahler nimmt die Schallplattenindustrie sogar vorweg, wenn etwa im zweiten Satz der Fünften Symphonie „das Berlinische ‚Wenn Du meine Tante siehst‘ aus den zwanziger Jahren“ bereits anklingt (Adorno 1985, 184). Auf John Cage vorgreifend, öffnet schon Mahler die Fenster, um die „selbstgerechte Glätte“ der E-Kultur „vom übermäßigen Klang der Militärkapellen und Palmengartenorchester“, dem „Wirbel von Pauken aus der Ferne“ und „Stimmgeräuschen […] demolieren“ zu lassen (Adorno 1985, 185). „Schamlos paradieren seine Symphonien mit dem, was allen in den Ohren liegt, Melodienresten der großen Musik, schalen volkstümlichen Gesängen, Gassenhauern und Schlagern.“ (Adorno 1985, 184) Das der Kulturindustrie eigentümliche „Maß der Könnerschaft“, die technische „Perfektion“, die Wagners Tristan alt aussehen lässt, die „feinen Nuancen“, die „fast die Subtilität der Mittel eines Werks der Avantgarde“ erreichen, können auch der „Wahrheit“, die sie noch verleugnen, dienen (DdA, 137). Andy Warhols Green Desaster von 1963 und zahllose Werke der damaligen Avantgarde haben unmittelbar an die „Könnerschaft“ (DdA, 139), den in der Kulturindustrie verkörperten Stand der Produktivkräfte angeschlossen. Umgekehrt füllen die Comics

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und andere ihrer Produkte heute die Museen. Heimlich kommuniziert ihre fehlerlose Perfektion mit dem „Stil des großen Kunstwerks“, der im „notwendigen Scheitern der […] Anstrengung zur Identität“ sich selbst „negiert“ (DdA, 139). Da sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht mehr scheitert, „nur noch Stil“ ist, gibt die Kulturindustrie das Geheimnis des ästhetischen Stils aller Kulturprodukte, vom großen Werk bis zum erbärmlichsten Kitsch, von der Weimarer Klassik bis zu den B-Movies preis: „den Gehorsam gegen die gesellschaftliche Hierarchie“ (DdA, 139). So verstärkt die Kulturindustrie das wohlbegründete „Mißtrauen“ der unteren sozialen Klassen „gegen die traditionelle Kultur als Ideologie“, und das könnte sich auch gegen den unverhüllten „Schwindel“ der industrialisierten Kultur wenden, „werden die depravierten Kunstwerke mit dem Schund zusammen, dem das Medium sie angleicht,“ doch „insgeheim von den Beglückten“, die die „Kulturwaren durchschauen“, „verworfen“ (DdA, 170, 172). Der Stand der Produktivkräfte, nicht zuletzt des kulturellen Wissens, der in der Kulturindustrie verkörpert ist, untergräbt den Gehorsam gegen die Hierarchie. Er wird nur noch durch die „technisch erzwungene Allgegenwart des Stereotypen“, die „Macht der Wiederholung über das Dasein“ und die „bloße Imitation dessen, was ohnehin schon ist,“ gewährleistet, könnte sich aber jederzeit auch gegen die Fesseln des Systems wenden (Adorno 1967a, 159). „Sogar in der schwächlichsten Gestalt der Imitation ist der Drang, modern zu sein, auch ein Stück Produktivkraft.“ (Adorno 1967a, 159) Deshalb „heftet […] sich das Interesse ungezählter Konsumenten“ mit gutem „Grund […] an die Technik“ (DdA, 144). Ideologischen Rückhalt, so Adorno 1963 in einem Radiovortrag, „hat die Kulturindustrie gerade daran, daß sie vor der vollen Konsequenz ihrer Techniken in den Produkten sorgsam sich hütet“ (Adorno 1967b, 64). Es scheint nur noch ein winziger Schritt zu fehlen, damit die Kulturindustrie das falsche Bewusstsein, das sie intellektuell unterminiert, um es dem entsubjektivierten Habitus umso tiefer einzubrennen, durchschlägt. Auf der Höhe rationaler Materialbeherrschung, die alles in Planmäßigkeit überführen möchte, kommt es dann doch zu Provokationen der Kontingenz, die dem Material die Freiheit erschließen, sich zumindest in wenigen Momenten „Mark Twainscher Absurdität“ selbst zu bestimmen, um zu einem „Korrektiv“ der esoterischen Kunst zu werden, blitzt doch in „manchen Revuefilmen, vor allem aber in der Groteske und den Funnies […] für Augenblicke die Möglichkeit“ der „Negation“ entfremdeter Arbeit „auf“ (DdA, 150). Die „Kulturindustrie hat ihr Wahrheitsmoment daran, daß sie einem sub­ stantiellen, aus der gesellschaftlich fortschreitenden Versagung hervorgehenden Bedürfnis genügt; aber durch ihre Art Gewährung wird sie zum absolut Unwahren“ (Adorno 1973b, 461). Evident wird diese veränderliche Dialektik

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von Wahrheit und Unwahrheit an der Universalisierung der Warenform durch die ubiquitäre Konsumwerbung, die den Albtraum der Unterkonsumtionskrise, der mit jeder Runde steigender Gewinne im Monopolkapitalismus zurückkehrt, nur noch zu verdrängen vermag, indem sie das kapitalistische Leistungsprinzip unterminiert: „Amusement, ganz entfesselt, wäre nicht bloß der Gegensatz zur Kunst, sondern auch das Extrem, das sie berührt.“ (DdA, 150) Weil der Fortschritt der Aufklärung und der Technik jede Form selbstbestimmungsresistent vorenthaltener Gratifikation negierbar macht, enthält die Minima Moralia eine entschiedene Absage an den stillschweigenden Konformismus der psychoanalytischen Kunst- und Kulturtheorie: „Künstler sublimieren nicht.“ (Adorno 1969a, 284; vgl. a. Habermas 1971, 118 f.) Auch das „Zerrbild der Solidarität“, das die Kulturindustrie zeichnet, ist noch ein Entwurf wirklicher Solidarität (DdA, 153). Die Kulturindustrie, die die Menschen bei der Stange hält, trägt gleichzeitig dazu bei, dass „es mit dem bei der Stange halten immer schwieriger geworden [ist]“ (DdA, 153). In der Rebellion gegen den Sinn kommuniziert der Wahrheitsgehalt der hermetischen Werke untergründig mit dem der Kulturindustrie: „Der Bürger wünscht die Kunst üppig und das Leben asketisch; umgekehrt wäre es besser.“ (Adorno 1973, 27)3

2 Kulturindustrie, Avantgarde und Politik Weltverändernde Möglichkeiten erschließen sich der Kunst dort, wo die Avantgarde mit den progressiven Tendenzen der Kulturindustrie konvergiert. Adorno, obwohl er und Horkheimer an der Kulturindustrie kaum ein gutes Haar lassen, sah in Mahlers „Kunstmusik“ ein Handlungsschema, an dem modellhaft die wahrheitsrelevanten Wirkungen der Vereinigung von Kunst- und Industriemusik in einer „Musik der spontanen Aktion“ aufscheinen (Adorno 1938, 354).4 In ihr „schießt das Ganze, worein sie die depravierten Fragmente fügt, wirklich zu etwas Neuem zusammen, aber ihren Stoff übernimmt sie vom regressiven Hören“ (Adorno 1938, 354). Das Schema zeigt, wie das regressive Hören „jäh umzuspringen vermag, wenn jemals Kunst in eins mit der Gesellschaft die Bahn des immer Gleichen verlässt“ (Adorno 1938, 354). Weil das falsche Bewusstsein der

3„Kunst

verklagt die überflüssige Armut durch die freiwillige eigene; aber sie verklagt auch die Askese und kann sie nicht simpel als ihre Norm aufrichten.“ (Adorno 1973, 66) 4Zum Verhältnis von wahrheitserschließendem Potenzial und wahrheitsrelevanter Wirkung der Kunst: Wellmer 1983, 176.

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Massen und der Kulturindustrie, die deren Neigung zur Regression verstärkt, keineswegs nur falsch ist, rührt der „Schrecken, den Schönberg und Webern heute [1938] wie vor dreißig Jahren verbreiten, […] nicht von ihrer Unverständlichkeit her, sondern davon, dass man sie nur allzu richtig versteht“ (Adorno 1938, 355). Genau dieser Schrecken kann jedoch zum Auslöser von Lernprozessen werden, die Gleichgültigkeit verstören und Selbsttäuschung enttäuschen. In den 1960er Jahren lassen wahrheitsrelevante Wirkungen, die der wie immer brüchigen und kurzlebigen Verbindung von Kulturindustrie und Avantgarde entspringen, nicht mehr auf sich warten. In dem Vortrag „Die Kunst und die Künste“, den er 1966 an der Berliner Akademie der Künste vor dem versammelten Avantgardepublikum hält, setzt Adorno sich mit der Beobachtung, dass es zu einer explosionsartigen Vermehrung der wechselseitig korrektiven Grenzverletzungen, der anarchischen Vermischung und Verfransung zwischen den Künsten und zwischen esoterischer Avantgarde und exoterischer Kulturindustrie gekommen sei, an die Spitze der Bewegung. Der „hohnlachenden Erfüllung des Wagnerschen Traums vom Gesamtkunstwerk“ durch die Kulturindustrie haben die „happenings“ „Gesamtkunstwerke“ entgegengesetzt, die „totale Antikunstwerke sein möchten“ (DdA, 132; Adorno 1967a, 159). Plötzlich schien der unvorhersehbare, aller Berechnung entzogene Weg von der in sich umwälzenden, spontanen Aktion der Mahlerschen Kunstmusik zur politisch umwälzenden Praxis ganz kurz. Am 1. Oktober 1964 blockieren in Berkeley Studenten durch ein Sit-in ein Polizeifahrzeug, in dem ein Student, der Flugblätter für Redefreiheit in der Universität verteilt hatte, festgehalten wird. Nach längeren Verhandlungen erlauben die beiden Polizisten dem Sprecher der Studenten, Mario Savio, barfuß auf den Polizeiwagen zu steigen und vom Dach aus eine Rede zu halten. Der erste Satz dieser absichtslos surrealen Szene wurde zum wahrheitserschließenden Happening mit wahrheitsrelevanter Wirkung: „They’re family men, you know. They have a job to do! Like Adolf Eichmann. He had a job to do. He fit to the machinery.“ (Savio 1964) Schlagartig wurde der latente Autoritarismus des demokratischen Wohlfahrtsstaats in einen Satz offenbar. Die von der breiten Öffentlichkeit sorgsam abgeschirmten Oberseminare, in denen über Autorität und Familie diskutiert wurde, öffneten sich dem Massenpublikum von Stern und Spiegel. Plötzlich wurden Schönberg und Webern auch von denen, die sie nie gehört hatten, richtig verstanden. Die „ausgetrocknete“, „verwaltete Öffentlichkeit“ wurde „repolitisiert.“ (Habermas 1968, 100 und 103). Als Malcolm X sich selbst einen (göttlichen) Namen gab, der jede verfügende Bestimmung von sich abweist, machte er sich zum Modell eines einzelnen Allgemeinen, das sich in der Welt lokalisiert und doch jeder Fremdbestimmung

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durch Autorität und Tradition entzieht (Žižek 2018, 50).5 Der Boxer Muhammad Ali zerriss seinen Einberufungsbescheid vor den laufenden Kameras der Weltpresse und sagte: „They (the Vietcong) never called me nigger, they never lynched me, they didn’t put no dogs on me, they didn’t rob me of my nationality, rape and kill my mother and father. Shoot them for what? Just take me to jail.“ (Ali 1967) Damit wurde der Riss erkennbar, der die glänzende neue Welt weißer, heterosexueller Männer von dem Albtraum trennt, der sie für Farbige, Homosexuelle und Frauen war und (vielerorts) immer noch ist – und Frantz Fanon wurde zum ersten Popstar der postkolonialen Theorie.

3 Verblendungszusammenhang: Post-Truth Democracy 3.1 Fun ist ein Stahlbad Aber wie kann das Wahrheitspotenzial der Kunst in der Kulturindustrie zu einer Kraft werden, die die Massen erreicht und bisweilen auch ergreift, wenn die einzige Utopie, die am Ende der neoliberal globalisierten, monopolisierten, von wirtschaftlichen Verwertungsimperativen fast vollständig beherrschten Disseminationsmedien die Massen tatsächlich noch erreicht, dem „Goldgrund“ gleicht, der „hinters Wirkliche“ der Trump Towers, Trump Auftritte, Trump Universities und Trump Cities „projiziert“ (DdA, 152, 216) wird? Wenn die „Öffentlichkeit einen Zustand erreicht hat, in dem unentrinnbar der Gedanke zur Ware und die Sprache zu deren Anpreisung wird“ (DdA, 1 f.)? Wenn selbst liberale und progressive Sender es so halten wie CBS-Chef Les Moonves, als er gestand, Donald Trump „may not be good for America, but it’s damn good for CBS […]. Man, who would have expected the ride we’re all having right now? […] The money’s rolling in and this is fun […]. I’ve never seen anything like this, and this is going to be a very good year for us. Sorry. It’s a terrible thing to say. But, bring it on, Donald. Keep going. Donald’s place in this election is a good thing“ (Moonves 2016)? Wenn nur elf Tage später ein CBS-Reporter während Trumps Chicagoer Wahlkampfauftritt als disembedded journalist erkannt, niedergeschlagen, verhaftet

5Zur

Theorie des göttlichen Namens als Modell ästhetischer Wahrheit: Hindrichs 2014, 258; vgl. auch Theunissen 1978, 324–359.

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und ins Gefängnis gesteckt wird, ohne dass sich an der vollständigen Subsumtion der öffentlichen Willensbildung unter die Warenform, die Diktatur der Einschaltquote, auch nur das geringste ändern würde? Die Antwort gab Donald Trump. Ihn belustigte, wie der Reporter behandelt wurde. „Fun ist ein Stahlbad.“ (DdA, 149) Vor allem nach den Referenden und Wahlkämpfen des Jahres 2016 (Brexit, US-Präsidentschaftswahl) sieht es so aus, als sei die vollständige Subsumtion der Kulturindustrie unter die Warenform erst jetzt, im Zeitalter des World Wide Web, zu einem „fast lückenlos geordneten System“ (Adorno 1967b, 60) geworden. Das Internet hat das krächzende Radio, das „universale Maul des Führers“ (DdA, 168), durch die Twitter-Meldung des Präsidentschaftskandidaten ersetzt, die 150 Mio. vernetzen US-Bürgern unmittelbar am Ende der Sendung zwitschert, er habe das Fernsehduell gewonnen, lange bevor das offizielle Ergebnis seiner Niederlage lediglich die 80 Mio. Zuschauer erreicht, die den Fernseher angeklickt hatten.

3.2 Embedded Journalism Die Globalisierung des im Britisch-Amerikanischen Irak-Krieg 2003 erfundenen embedded journalism, seine Verbindung mit der post-truth democracy der elektronischen Content-Märkte, auf denen die zum Inhalt der Meldung passende Realität gleich mitgeliefert wird, ist die „hohnlachende Erfüllung des Wagnerschen Traums vom Gesamtkunstwerk“ (DdA, 132). Die globale, mittlerweile vollständig privatisierte Medienindustrie hat sich seit längerem darauf eingestellt, in Beschaffung, Allokation und Verkauf von Informationen jeden Kontakt zur unterscheidenden Realität von Politik, Unterhaltung und Geschäft systematisch zu unterbinden. Ihr Credo ist mit den Worten des Vorstandsvorsitzenden des Springerkonzerns, Matthias Döpfner: „Content is our top priority.“ (Zit. n. Clark 2015) Gemeint ist die rein marktstrategische Produktion digital diversifizierbarer und fallweise rekombinierbarer Inhalte, die in beliebiger Auswahl weltweit angeboten werden und deren Produktion sich ausschließlich am umfassend kontrollierten Markverhalten des globalen Publikums und seiner lückenlos erfassten, lokalen Besonderheiten orientiert, sodass nicht mehr die verschiedenen Öffentlichkeiten mit derselben Realität konfrontiert werden, sondern die Darstellung der Realität von vornherein den verschiedenen Öffentlichkeiten angepasst werden kann. Dafür hat der Konzern „Upday“ geschaffen, „a new mobile news aggregation service that Axel Springer has developed in partnership with Samsung Electronics. The service […] uses a series of algorithms to track users‘ reading habits and select a personalized stream of content from across the web“ (Döpfner 2016; vgl. a. Siemons 2016, 45).

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Was der Markt mit seinem untrüglichen Hang zur Realität des Konkurses nicht schafft, besorgt der embedded journalism der Kulturindustrie durch vorauseilenden Gehorsam: „The new media forms have devolved into entertainment, and instead of critical discourse we see the spectacle of a commentariat, across the ideological spectrum, that prefers outrage over complexity and dismisses dialectical uncertainty for the narcissistic affirmation of self-consistent ideologies each of which is parceled out to its own private cable network. Expression is displacing critique.“ (Gordon 2016) Wenn das nicht reicht, tut es die „repressive Toleranz“ (Marcuse) der Qualitätsmedien, die an ihren Objektivitäts- und Neutralitätsstandards festhalten, obwohl jeder weiß, dass das eine die Wahrheit, das andere die Lüge ist. Am 25. August hatte Clinton Trump wegen dessen unstrittig engen, nie verleugneten Sympathien und Kontakten zu den amerikanischen Rechtsradikalen und Neonazis, die sich selbst „alt-right“ (alt = alternative) nennen, angegriffen, was Trump mit einem einzigen SPO-Satz quittierte: „Clinton is bigot.“ Am nächsten Morgen erschien die Washington Post unter der repressiv toleranten Überschrift: „Clinton, Trump Exchange Racially Charged Accusations.“ (Tomasky 2016)

3.3 Gewalt verstärkt sich, je brutaler sie sich einbekennt Die beiden großen Parteien der Vereinigten Staaten, Demokratische und Republikanische Partei, gehorchen denselben Systemimperativen. Durch manipulative Herstellung einer zu Hillary Clinton passenden, politischen ‚Realität‘ hat das Parteiestablishment den einzigen Kandidaten aus dem Spiel genommen, dessen Programm sich der post-truth-democracy des ubiquitären Entertainments widersetzt und an der gesellschaftlichen Wirklichkeit orientiert hatte. Der Clinton-Wahlkampf ist, und das ist ein Moment von Hoffnung der Hoffnungslosen, am Ende daran gescheitert, dass Clintons Wählerinnen und Wähler sich dem Reality-TV der Kandidatin entzogen haben, um sich wie Sanders an der Wirklichkeit statt an der zum jeweiligen Content-Angebot passenden Fake-Reality zu orientieren. Da kam auch der einsame Ruf Michelle Obamas, „Enough is enough!“, zu spät. Genau das aber hat die schlichte Kopie der irreversibel vergangenen Vergangenheit des weißen amerikanischen Stahlarbeiters, ihrerseits eine Kopie des trostlosen sozialistischen Realismus, zur best-selling reality des Wählerschlussverkaufs 2016 gemacht. Beim letzten Wahlkampfauftritt in Pennsylvania sagte Trump: „We are going to win the great state of Pennsylvania and we are going to win back the White House. [Huge cheers] […] When we win, we are bringing steel

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back, we are going to bring steel back to Pennsylvania, like it used to be. We are putting our steel workers and our miners back to work. We are. We will be bringing back our once-great steel companies.“ (Zit. n. Danner 2016) Genauso gut hätte er sagen können, er würde das Reich des Kaisers Augustus im Maßstab 1:1 wiederherstellen – „slavery included. [Huge cheers]“. Aber das hätte im Unterschied zur Wiederkehr der Eisenhower-Jahre noch den fernen Hauch einer, wie immer imperial verzerrten, kosmopolitischen Utopie gehabt, die der mittlerweile vergöttlichte Ronald Reagan bei seinem Amtsantritt noch einmal beschworen hatte: „The City on the Hill.“ Das war Lip-Service, aber mit dem Lip-Service verschwindet der letzte Hauch alteuropäischer Menschenwürde: „Gewalt verstärkt sich, je brutaler sie sich einbekennt.“ (DdA, 129) Das ist die Logik der Selbstradikalisierung, die Hans Mommsen an den nationalsozialistischen Massenverbrechen nachgewiesen hat. Was wird aus dem Wahrheitspotenzial von Kunst und Kulturindustrie, wenn der „Zusammenhang“ des „Denkens“ bereits so weit in atomisierte „Signale“ zerfallen ist, dass die „Quantität des organisierten Amüsements in die Qualität der organisierten Mordlust“ (DdA, 146) umschlägt?6 Die Dialektik der Aufklärung hatte noch die stümperhaften Anfänge der behavioristischen Rattenexperimente mit ihren Labyrinthen und Signalampeln vor Augen, die Nagetiere zur Absonderung von Magensekreten veranlassen (DdA, 145, 174). Mittlerweile haben die Like-Signale und die Endlosketten operanter Konditionierung, die sie in Gang setzen, die virtuellen Echoräume des Internets in ein riesiges Menschenexperiment verwandelt. Unter den für Ratten geschaffenen Laborbedingungen sondern sie Unmengen an Hate Speech Sekreten ab, die sie, wie die Sozialforschung gezeigt hat, unter Realbedingungen nie abgesondert hätten, noch nicht einmal im Unbewussten, die aber – gemäß dem Thomas-Theorem der Soziologie – in ihren Wirkungen real sind (Sunstein 2009; Brodnig 2016).7 „Je aberwitziger der Antagonismus, desto starrer die Blöcke.“ (DdA, 214) Die Logik der Selbstradikalisierung hat sich globalisiert. In ihr verzehren sich ausnahmslos alle politischen Parteien in einem race to the bottom, den der Front National schon am Tag ihrer Gründung 1972 erreicht hatte. „Abhub des Abhubs“ (Adorno 1954).

6An

dieser Stelle der Ausgabe von 1969 steht „Grausamkeit“ anstelle der „Mordlust“ des ersten Privatdrucks von 1944 (vgl. DdA 1987, 163). 7Das wiederum bestätigt Adornos düstere Vermutung, derzufolge die Authoritarian Personality bereits bei Erscheinen veraltet gewesen sei, weil die gesellschaftliche Realität sich unmittelbar, ohne Vermittlung durch das Bewusste und Unbewusste der sozialen Akteure, sozusagen als reine Systemintegration zur Geltung bringt (Adorno 1948, Gordon 2016).

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Während die griechischen Wähler der europäischen Peripherie im Januar 2015 noch, wie in der von Marx und Hayden-White beschriebenen Komödie der sozialen Demokratie, „darüber gelacht“ haben, dass sie mit überwältigender Mehrheit und guten, weithin – sogar von der Gegenseite bis hin zur IMF-Direktorin Christine Lagarde – geteilten Gründen wirklich „for democratic change“ gestimmt hatten, um den längst unerträglichen, weder demokratisch legitimierten noch technokratisch effektiven Belagerungszustand der Troika abzuschütteln, um dann an der Wirklichkeit der europäischen Herrschaftsverhältnisse zu scheitern, haben die Pro-Brexit und Trump Wähler buchstäblich „darüber gelacht, daß es nichts zu lachen gibt“ (DdA, 148 f.).8 – „Wer Steuern zahlt, ist ein Idiot,“ sagt Sergio Berlusconi als amtierender Ministerpräsident einem seiner Fernsehsender zu bester Sendezeit und gewinnt die Wahl mit den Stimmen derer, die ohne Steuern verhungern müssten. „Die böse Liebe des Volks zu dem, was man ihm antut, eilt der Klugheit der Instanzen noch voraus.“ (DdA, 145) Von Hillary Clinton auf die Steuer, die er in Milliardenhöhe hinterzogen hat, angesprochen, erklärt der Präsidentschaftskandidat, der seine Bekanntheit wie Berlusconi allein dem Showgeschäft verdankt, denen, die ihn wählen sollen: „I am smart.“ Die „Lustigkeit“ der Präsidenten neuen Typs, die ihren Wählern die Ausweisung von Millionen von Mexikanern, Fußfesseln für Staatsbürger muslimischer Herkunft, das Gefängnis für die Führer der Oppositionspartei und der Welt einen Handelskrieg versprechen, „schneidet“ jede „Lust ab, […] und verschiebt die Befriedigung auf den Tag des Pogroms“ (DdA, 146 f.). Auf den Content-Märkten der Gegenwart wird eins-zu-eins in die Gesellschaftsstruktur umgesetzt, was Horkheimer und Adorno am Extremfall des faschistischen Antisemitismus beschrieben haben: „Der faschistische Antisemitismus muß sein Objekt gewissermaßen erst erfinden. Die Paranoia verfolgt ihr Ziel nicht mehr auf Grund der individuellen Krankengeschichte des Verfolgers; zum gesellschaftlichen Existential geworden, muß sie es vielmehr im Verblendungszusammenhang der Kriege und Konjunkturen selbst setzen, ehe die psychologisch prädisponierten Volksgenossen als Patienten sich innerlich und äußerlich darauf stürzen können.“ (DdA, 216)

8Der

russische Begriff der Troika meint einen Wagen, der von drei Pferden gezogen wird, gleichzeitig aber die Übersetzung des romanischen politischen Begriffs des Triumvirats, der schamlos auf begrenzte oder umfassende diktatorische Kompetenzen dreier Männer im Ausnahmezustand zurückgreift.

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3.4 Ihrer Subjektivität beraubte Menschen Adorno war schon in den 1940er Jahren der Ansicht, dass die von ihm mitinitiierte, mitbetreute und mitpublizierte Studie The Authoritarian Personality noch vor dem Tag ihres Erscheinens (1950) veraltet gewesen sei, weil Antisemitismus, Faschismus und Autoritarismus nicht mehr individuell zurechenbare Merkmale einer autoritären Persönlichkeitsstruktur sind, sondern, wie er 1948 in den ergänzenden Bemerkungen zu Authoritarian Personality, die seine Co-Autoren nicht publizieren wollten, vermutet, unmittelbarer Ausdruck der „total structure of our society“ (Adorno 1948, Gordon 2016). Die Autoritären und Identitären jeder Couleur sind „ihrer Subjektivität beraubte Menschen“, die „als Subjekte auf Andere losgelassen“ werden (DdA, 180). Ihr Prototyp ist der Antisemit (DdA, 180). „Psychological dispositions do not actually cause fascism […]. Rather, fascism defines a psychological area which can be successfully exploited by the forces which promote it for entirely nonpsychological reasons of delf-interest.“ (Adorno 1951, 135) „Die neue Gestalt der Verblendung“ macht durch „die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft […] die Menschen zu eben dem wieder […], wogegen sich das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung.“ (DdA, 43) Was wird aus dem legitimierenden Zusammenhang von diskursivem Wahrheitsanspruch und politischer Wahl, mit dem die Demokratie steht und fällt, wenn 24 % der Wahlberechtigten eine Bande rechtsradikaler Multimilliardäre an die Regierung bringt, die, wie die meisten von ihnen selber wissen, nichts anderes im Sinn hat, als sie und den Rest der Welt auszuplündern, um sich selbst zu bereichern? „Je unausmeßbarer die Kluft zwischen dem Chorus und der Spitze wird, um so gewisser ist an dieser für jeden Platz, der durch gut organisierte Auffälligkeit seine Superiorität bekundet. Damit überlebt auch in der Kulturindustrie die Tendenz des Liberalismus, seinen Tüchtigen freie Bahn zu gewähren. Sie jenen Könnern heute aufzuschließen, ist noch die Funktion des sonst bereits weithin regulierten Marktes, dessen Freiheit schon zu seiner Glanzzeit in der Kunst wie sonstwo für die Dummen in der zum Verhungern bestand.“ (DdA, 180) Die derzeit wie Pilze aus dem Boden der Finanzmetropolen schießenden Berlusconi, Boris Johnson und Donald Trump gleichen nicht nur wie ein Ei dem andern, sondern sind wortwörtlich „Großrackets“, die „sich darüber verständigten, was der Notdurft der Völker vom Sozialprodukt zuzuteilen sei“ (DdA,

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180). Fließbandfiguren der Kulturindustrie wie Mussolini, Hitler, Berlusconi, Orban, Johnson und Trump können „keine Lüge aussprechen, ohne sie selbst zu glauben“ (Adorno 1969b, 141). Ihre Gewalt verstärkt sich, je brutaler sie sich einbekennt. Es scheint so, als hätte Adorno in seinen düstersten Albträumen einer Menschheit, die vollständiger Selbstobjektivierung verfallen ist, recht, sodass die „Verfassung des Publikums“ nicht mehr durch individuelle Neurosen vermittelt, sondern unmittelbar „ein Teil des Systems“ geworden ist (DdA, 130). Der scheinbar stümperhafte, wie sich aber bald herausstellte, von Cambridge Analytica und Facebook Mikrotargeting perfekt organisierte Wahlkampf Donald Trumps zeigte die „Entschlossenheit der Exekutivgewaltigen, nichts herzustellen oder durchzulassen, was nicht ihren Tabellen, ihrem Begriff von Konsumenten, vor allem ihnen selber gleicht“ (DdA, 130). Aufklärung als Massenbetrug. Melania Trump liest dieselbe Rede, die acht Jahre zuvor Michelle Obama bei ihrer Vorstellung auf dem Wahlparteitag der Demokraten gehalten hatte, bei derselben Veranstaltung der Republikaner 2016 Wort um Wort vom Blatt ab: „Kulturindustrie […] setzt die Imitation absolut.“ (DdA, 139) Durch die Verschmelzung von globalem Privateigentum und globaler Medientechnik ist die atomistische Individualisierung so weit fortgeschritten, dass ein halbwegs gleichmäßiges Informationsminimum, in dem sich der – wie immer hegemonial verzerrte – Stand des wissenschaftlichen Wissens spiegelt, nicht einmal mehr bei Landtagswahlen von Zwergstaaten wie Schleswig-Holstein oder Luxemburg gesichert werden kann. Die fortschreitende Substitution bestreitbaren Wissens durch ad hoc organisiertes Heilswissen immer kürzeren Verfallsdatums fragmentiert nicht nur die Inhalte, sondern auch die Formen und Verfahren, in denen der öffentliche Streit um sie überhaupt noch ausgetragen werden kann. Das erzeugt eine geradezu ideale Umwelt für die Durchsetzung der jeweils mächtigsten Privatinteressen und erklärt, warum sich in breiten, tendenziell mehrheitsfähigen Segmenten der politischen Öffentlichkeit der Obskurantismus des Intelligent Design gegen die wissenschaftlich bewiesene Evolutionstheorie behaupten kann, die empirischen Erkenntnisse der Klimaforschung rundheraus bestritten werden, aus den Wirtschaftswissenschaften alle Theorien entfernt werden konnten, denen die Prämissen des neoliberalen Modellplatonismus suspekt sind, der Zugang der Sozialwissenschaften zur politischen Öffentlichkeit weitgehend blockiert ist und nur noch Wissenschaften, in denen die soziale Realität nicht mehr vorkommt (Wirtschaftswissenschaften, Psychologie, Neurowissenschaft, Evolutionsbiologie), in Talk-Shows, Nachrichtensendungen, Netzkommunikationen, Print- und Bildmedien, Parlaments- und Ausschussdebatten und auf Contentmärkten eine Chance haben, Gehör und Absatz zu finden. Peter Gordon hat vermutlich recht, wenn er schreibt, die elektronisch fortgeschrittene, kapitalistisch organisierte und globalisierte Kulturindustrie

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„signifies not the return of fascism but the dissolution of critical consciousness, and it heralds the slow emergence of something rather different than political struggle: the mediatized enactment of politics in quotation marks where all political substance is slowly being drained away“ (Gordon 2016).

3.5 Dass der Bann sich löse Die sozialen Bewegungen, die in den 1960er Jahren den Verblendungszusammenhang sprengten, lösten eine weltgeschichtliche Kulturrevolution aus. Sie reicht von der Durchdringung der Massen- und Avantgardekultur bis zur Globalisierung einer opferorientierten Erinnerungs- und Menschenrechtskultur, die alle mythischen Heldenepen verblassen lässt; von der sexuellen Revolution bis zur Frauenemanzipation, die Jahrtausende alte Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse umgewälzt und (trotz der ihm verbliebenen Macht) das Patriarchat global delegitimiert und im internationalen und weiten Segmenten des nationalen Rechts sogar illegalisiert hat; von der Durchbrechung der Color-Line und der Aufhebung der Jahrhunderte alten, „weißen“ Hegemonie bis zur Homosexuellenehe und Abschaffung des Abtreibungsverbots in tiefkatholischen Ländern; von der Globalisierung eines breit gefächerten, postkonventionellen Diskurses bis zur historisch singulären biopolitischen Revolutionierung der System-Umweltverhältnisse. Diese Errungenschaften werden aber von der Wiederkehr der großen sozialen Differenzen, die am Beginn des 21. Jahrhunderts den Höchststand von 1900 zum zweiten Mal erreicht haben, überlagert (Piketty 2014). Massive soziale Differenzierung ist nicht deshalb so desaströs, weil sie die absolute Armut vergrößert, was sie nicht tut. Desaströs ist sie, weil sie aufgrund des Entmutigungseffekts die unteren sozialen Schichten, die fast immer und überall links gewählt haben, in die Anomie und von den Wahlurnen fort, die linken Parteien bei kontinuierlich sinkender Wahlbeteiligung immer weiter nach rechts und am Ende das Heer der Nichtwähler aus der früheren „weißen“ Arbeiterklasse, die es nicht mehr gibt, in die Arme von Boris Johnson, Alexander Gauland, Marie Le Pen, Björn Höcke und Donald Trump treibt (Schäfers 2015; Wilkinson/Pickett, 2010; Judt 2010). In der Folge droht der gesamten kulturellen Linken erst die Marginalisierung zu einer gated community im oberen sozialen Segment materiellen und symbolischen Kapitals, dann ein neuer McCarthyismus oder Schlimmeres. Vielleicht aber ist die Tatsache, dass es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schon einmal gelang, den Adorno und Horkheimer 1944 unentrinnbar scheinenden Verblendungszusammenhang, der Herbert Marcuse nach Nixons Wahl einen demokratischen Übergang in den Faschismus befürchten ließ,

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aufzusprengen und das schon damals drohende Ende der Demokratie in einer posttruth democracy zu verhindern, so etwas ähnliches wie ein Kantisches Geschichtszeichen, dass ein Verfassung gewordener, moralischer Fortschritt in der Geschichte nicht oder nur sehr schwer gänzlich rückgängig zu machen ist. Auch die post-truth democracy des frühen 21. Jahrhunderts ist nur ein Verblendungszusammenhang, ein „Bann“ (Adorno), der allen, heute noch leeren Behauptungen und Drohungen der Neurowissenschaften und Adornos und Horkheimers eigenen düstersten Ahnungen zum Trotz auch auf der Freiheit derer beruht, die sich von ihm blenden lassen wollen, zumindest – noch. Deshalb ist die Hoffnung immer noch begründet, der Wahrheitsgehalt des ästhetischen Scheins von Gewaltlosigkeit könne die, die sich selbst täuschen wollen, irritieren und zu einer „zweiten Reflexion“ (Adorno) veranlassen. Im Jahr 1968 sagte Adorno am Schluss seines Vortrags auf dem Frankfurter Soziologentag: „So undurchdringlich der Bann, er ist nur Bann. Soll Soziologie, anstatt bloß Agenturen und Interessen willkommene Informationen zu liefern, etwas von dem erfüllen, um dessentwillen sie einmal konzipiert ward, so ist es an ihr, mit Mitteln, die nicht selten dem universalen Fetischcharakter erliegen, das ihre, sei’s noch so Bescheidene, beizutragen, daß der Bann sich löse.“ (Adorno 1970, 166)

Literatur Adorno, Theodor. 1938. Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In: Zeitschrift für Sozialforschung Jg. 7, H. 3, 321–356. Adorno, Theodor. 1948. Remarks on The Authoritarian Personality. In: Max Horkheimer Archiv, Frankfurt a. M.: Universitätsbibliothek http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/ horkheimer/content/zoom/6323018?zoom=1&lat=1600&lon=1000&layers=B. Adorno, Theodor. [1951] 1987. Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda. In: The Essential Frankfurt School Reader, 118–137. Hrsg. Andrew Arato/Eike Gebhardt. New York: Continuum. Adorno, Theodor. 1954. Brief an Leo Löwenthal vom 2.12.1954. In: Leo Löwenthal. Schriften Bd. 4, 174–176. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor. 1967a. Die Kunst und die Künste. In: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, 158–182. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor. 1967b. Résumé über Kulturindustrie. In: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, 60–70. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor. 1969a. Kulturkritik und Gesellschaft. In: Prismen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor. 1969b. Minima Moralia. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Der Wahrheitsgehalt der Kulturindustrie

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H. Brunkhorst

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Teil IV Zur internationalen Rezeption

Die Dialektik der Aufklärung in den Niederlanden Frederik van Gelder

Die Rezeption der Dialektik der Aufklärung (DdA) im niederländischen Sprachraum: Auf Anhieb klingt das wie ein ‚makkieʻ, auf Holländisch gesprochen, also nach keiner schweren Aufgabe. Zu schreiben wäre eine Geistes- oder Rezeptionsgeschichte, wie das inzwischen wieder ‚normalʻ geworden ist: die Personen und Organisationen namhaft zu machen, die in den Niederlanden seit der Publikation des Buches im Jahre 1947 dazu Stellung genommen oder die darin enthaltenen Themen diskutiert haben. In diesem Sinne ist ein derartiges Vorhaben nicht einmal ganz neu. Martin Jay hatte schon einmal einen Doktoranden auf dieses Thema angesetzt (Clingan 2012). Bis man eine Reflexion an sich heranlässt – unabdingbar für das Verständnis des Buches –, die einem die Lust an der ‚traditionellenʻ Geistesgeschichte reichlich verhagelt: Die Rezeptionsgeschichte bewegt sich im Medium des subjektiven Geistes – in einer Welt, die dabei ist, aufgrund eben jener, in dem Buch dargestellten, objektiv-ökonomischen Machtkonzentration die alte ‚Subjekt/Objektʻ-Differenzierung überhaupt abzuschaffen und sie durch eine neue Tyrannei, nicht weniger bedrohlich als die alte, zu ersetzen. „The Frankfurt School Knew Trump was Coming“, schrieb der Musikkritiker Alex Ross in The New Yorker vom Dezember 2016. Derselbe Autor, in den Schriften der ‚Frankfurterʻ sehr bewandert, wird von dem Philosophen Ger Groot (Nijmegen, Rotterdam [Groot 1998]), in einer Vorlesung über die Negative Dialektik (aus Anlass der niederländischen Übersetzung durch Michel van Nieuwstadt, der auch die DdA übersetzte [van Nieuwstadt 2007, 2014a, b]) folgendermaßen zitiert:

F. van Gelder ()  Amsterdam, Niederlande E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_13

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F. van Gelder

„In Jonathan Franzen’s 2001 novel, The Corrections, a disgraced academic named Chip Lambert, who has abandoned Marxist theory in favor of screenwriting, goes to the Strand Bookstore, in downtown Manhattan, to sell off his library of dialectical tomes. The works of Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Fredric Jameson, and various others cost Chip nearly four thousand dollars to acquire; their resale value is sixty-five. ‚He turned away from their reproachful spines, remembering how each of them had called out in a bookstore with a promise of a radical critique of late-capitalist society‘, Franzen writes. After several more book-selling expeditions, Chip enters a high-end grocery store and walks out with an overpriced filet of wild Norwegian salmon.“ (Ross 2014, zitiert nach Groot 2014) Aus den großen Hoffnungen der Nachkriegszeit, dass wir tatsächlich, objektiv, in einer Zeit nach den Kriegen leben, ist geworden: eine Portion norwegischer Lachs, ein Nichts, ein Gefühl der Vergeblichkeit. Die Rezeptionsgeschichte der Dialektik der Aufklärung kann kaum umhin, auch Rechenschaft von so etwas wie den Regressionen des ‚subjektiven Geistesʻ zu geben – so ist das wohl gemeint. Auch die niederländische Rezeption der Dialektik der Aufklärung hat einer Realdialektik wenig anhaben können, die wieder einmal so bedrohlich geworden ist, wie sie war, als das Buch geschrieben wurde. Ohne 1933 keine Dialektik der Aufklärung und kein Verständnis für die Rezeption des Buches. De eeuwige terugkeer van het fascisme (Die ewige Wiederkehr des Faschismus) heißt ein Buch von Rob Riemen (2010), Direktor der sich gerade im Aufbau befindenden Nexus-Akademie, einer Organisation, vergleichbar etwa mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung. * Der Niederrhein, die Niederlande, die ostfriesischen und norddeutschen Städte, die ‚Benelux-Länderʻ, es ist jener Teil von Europa, von wo aus das, was spätere Jahrhunderte ‚die Aufklärungʻ nannten, entscheidend bestimmt wurde. Wenn man unter ‚Aufklärungʻ jene reale versteht – etwa Max Webers ‚Protestantische Ethikʻ damit assoziiert –, dann ist Holland am ehesten noch einer der Orte, wo ihre historischen Spuren sichtbar sind. Jene schicksalhafte Verbindung von Säkularisierung, instrumenteller Vernunft, Nationalstaat, Markt, Welthandel, Kolonialismus, subjektivierter Ethik, Nominalismus, Tatendrang, Populismus (Goethe schon in seinem Faust unheimlich), inzwischen ‚globalʻ, ‚Weltschicksalʻ geworden – hier hat sie eine lange Geschichte aufzuweisen. In ihren subjektiven Aspekten noch so rezent wie Karl Landauers Briefwechsel – aus Amsterdam – mit Max Horkheimer in Genf (während seiner Arbeit an den Studien über Autorität und Familie, kurz vor dem Krieg), ist diese Verbindung

Die Dialektik der Aufklärung in den Niederlanden

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Gegenstand der analytischen Forschung und theoretischen Reflexion gewesen.1 Das Spinoza-Denkmal, das Gebäude der VOC (Vereinigte Ostindische Kompanie), der Wittenberg-Komplex (früher das Zentrum der Luthergemeinde), das Rembrandthaus, das Thorbecke-Denkmal, das Rijksmuseum ebenso wie das Holocaust-Monument sind in Amsterdam bequem an einem Nachmittag zu Fuß zu besichtigen. Einen kleinen Schlenker weiter, und man läuft auch mal schnell an der Adresse Oostende 19 (Verlag Allert de Lange, Freuds Mann Moses, 1939, Ödön von Horvath, Joseph Roth, Stefan Zweig), oder am Singel 262 (Querido: DdA, 1947, Die Sammlung 1933, von Klaus Mann herausgegeben, Brecht, Bloch, Kafka, Elias, Golo Mann, Lasker-Schüler) vorbei. Möglich, dass Horkheimers Entscheidung, die Dialektik der Aufklärung gerade hier veröffentlichen zu lassen, mit dem Schicksal des Verlegers, Emanuel Querido – die alten Marranen-Anklänge sind dem Namen noch anzuhören –, zu tun hatte. Auch er ist nicht mehr aus dem ‚Ostenʻ zurückgekehrt, wie Landauer, Sternheim, Anne Frank. Es gibt ein Foto von Horkheimer, auf einer der ersten Gedenkveranstaltungen in Frankfurt, ‚Anne aus Frankfurtʻ gewidmet, in der Paulskirche. Wenn man die Aufmerksamkeit auf das Gegenteil des welthistorischen Vorgangs ‚Aufklärungʻ lenken wollte, dann könnte man auch, zwecks Veranschaulichung, auf die letzte Straßenbahnfahrt von Andries Sternheim – dem zeitweiligen Herausgeber der Studien über Autorität und Familie2 – zu sprechen kommen, als erster Station auf seinem Deportationsweg zu den Vernichtungslagern im Osten. Ob er, aus dem Fenster blickend, die Stelle in Augenschein genommen hat, wo Spinoza dreihundert Jahre zuvor aus der jüdischen Gemeinde exkommuniziert wurde? Wir werden es

1„Wir

treffen in der Hauptsache ein ganz ähnliches Verhältnis in sozialer Beziehung wie im Deutschland um die Jahrhundertwende und, den ähnlichen äußeren Verhältnissen entsprechend, gewisse weitgehende Analogien psychologischer Art, so dass man sich in einer Beziehung in die Vergangenheit versetzt glaubt.“ (Landauer 1936, 285 f.) Aus einem Brief an Horkheimer vom 1. Januar 1937: „Die Bourgeoisie ist hier so stabil, daß Unendliches nicht in Frage steht, was für uns seit Jahrzehnten kaum mehr war.“ (Horkheimer 1995b, 10) 2„In unseren Besprechungen zeigt es sich jedenfalls immer mehr, was für eine fundamentale Bedeutung die Kategorie der Autorität für jede Geschichts- und Gesellschaftstheorie besitzt. Autorität und Familie erfüllen in der bisherigen Geschichte kulturell entscheidende Funktionen und es wäre ganz verkehrt, die negativen Momente, welche ihnen in der gegenwärtigen Periode anhaften, auf diese Funktionen überhaupt zu übertragen. Wir versuchen vielmehr zu verstehen, wie die produktiven Leistungen der Autorität und der Familie durch die gegenwärtige allgemein rückschrittliche Entwicklung gehemmt und teilweise unmöglich gemacht werden.“ (Horkheimer, Brief an Andries Sternheim vom 8. Oktober 1934. Horkheimer 1995a, 238)

248

F. van Gelder

nie erfahren. Die Straßenbahnen fuhren damals nur nachts – jedenfalls diejenigen, die für die Juden bestimmt waren.3 ‚De Burchtʻ – die Amsterdamer Zentrale der Gewerkschaftsbewegung, wo Sternheim sich aus dem Diamantfach hochgearbeitet hatte –, liegt nur eine Straßenecke von Jan Wolkers’ Holocaust-Monument entfernt. Horkheimer, wohl zu spät von der Gefahr unterrichtet, in der sich die holländischen Juden befanden, hat ihm noch ein Foto geschickt – von sich selbst, auf den Treppen des Instituts für Sozialforschung in New York stehend, an der Columbia University: „Schöne Grüße an Ihre Frau.“ Sternheims Anstellung in Genf stammte aus der Zeit, als Horkheimer die Hoffnung auf Arbeiterbewegung, Gewerkschaften, Internationalismus noch nicht aufgegeben hatte – andererseits: Ohne dieses ‚Aufgebenʻ, vom Weltlauf erzwungen, hätte es keine Dialektik der Aufklärung gegeben. Antisemitismusanalyse, Sozialpsychologie, Psychoanalyse, Politik und Universalgeschichte – das hatte es in einem Buch noch nie gegeben. Aber es hatte auch noch nie einen solchen Krieg gegeben, oder einen solchen ‚Zivilisationsbruchʻ. Vielleicht daher Adornos Wut auf Heidegger, noch deutlich heraushörbar aus dem Jargon der Eigentlichkeit. Es ist ein ‚Menetekelʻ-Buch – wohl auch ‚Trauerarbeitʻ ausdrückend –, die europäische ‚Dämmerungʻ auf den Begriff bringend, keineswegs für die allgemeine Verbreitung gedacht.4 Außerdem hatten die Niederländer ihre eigene Dialektik der Aufklärung: Johan Huizingas Geschonden Wereld – Een beschouwing over de kansen op herstel van onze beschaving (deutscher Titel: Verratene Welt) nämlich, auch dies geschrieben während des Krieges, 1945 veröffentlicht, noch vor der Dialektik der Aufklärung. Sie enthält weitgehend dieselbe Thematik, allerdings ohne Psychoanalyse. Nicht wenige gab es wohl in den Niederlanden, die meinten, in den Gegenden, wo einst Erasmus, Descartes und Spinoza sich aufgehalten und gewirkt haben, müsse es doch auch noch einige geben, die etwas von der Aufklärung verstünden. Wenn die Dialektik der Aufklärung einigen als eine erzwungene Rückkehr in die ‚Theorieʻ erscheinen könnte (siehe unten), dann hatte das allerdings nur noch scheinbar etwas mit jener ‚traditionellenʻ zu tun, von der sich die Autoren des Buches so entschieden abgrenzten. Aus dem Thema ‚Freizeitʻ, dem Sternheim

3Nach

dem Krieg fasste der Amsterdamer Magistrat den Beschluss, dass es nie wieder eine Straßenbahnlinie 18 geben solle. 4„Meine Fragezeichen und Kreuzchen bedeuten vorwiegend Bedenken gegen eine allzu offene Sprache. [...] Im ganzen komme ich zu dem sehr betrüblichen Schluß, daß sich der Inhalt der Dialektik zur Massenverbreitung nicht eignet.“ (Friedrich Pollock, Brief an Horkheimer, 24. Januar 1961. Horkheimer 1996b, 502)

Die Dialektik der Aufklärung in den Niederlanden

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sich noch im Amsterdamer ‚Juden-Ghettoʻ – ‚in de onderduikʻ („untergetaucht“ lebend), wie das tödliche Versteckspiel mit den Nazis in Holland hieß – widmete, ist dann, in der Dialektik der Aufklärung, der Begriff ‚Kulturindustrieʻ geworden. Auch das hat seine Entsprechung bei Huizinga. In dem heutigen Klima könnte man vergessen, dass das Verhältnis Intellektuelle/Arbeiterbewegung zu Zeiten Sternheims – in einem Holland, das weder einen Bismarck noch einen Ersten Weltkrieg gekannt hatte –, vorrangig als eine Erziehungsaufgabe gedacht war. „Verheffing van de onderklasse“ hieß das und meinte die Horizonterweiterung der Arbeiterklasse. Die unteren Klassen sollten ‚aufgeklärtʻ werden, und Huizinga, nach den Kriegen, verzweifelte nicht weniger daran als die Autoren der Dialektik der Aufklärung. Das war kein Rückfall hinter das von der Kritik der politischen Ökonomie schon Geleistete – wie der Vorwurf so vieler Achtundsechziger später lautete –, sondern die durch den Weltlauf erzwungene Realisierung: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ Ger Groot, in seinem bereits erwähnten Vortrag zur Übersetzung der Negativen Dialektik, zitiert diesen Adorno-Satz als Antwort auf das, was Habermas einmal den ‚Klippschulmarxismusʻ genannt hat; jene unentwegte ‚Praxisʻ-Insistenz – die ja insgeheim, uneingestanden, meistens zum Vorteil des Betrachters ausfallend vorgestellt wird. Wir werden sehen, dass die Dialektik der Aufklärung ohne den dem Buch vorausgehenden Grundsatzstreit über den Praxisbegriff – als dessen Ergebnis das Buch gesehen werden muss – de facto nur als ‚Zitaten-Steinbruchʻ fungieren kann. * Die von Harry Kunneman und Hent de Vries 1989 herausgegebene Schrift Die Aktualität der ‚Dialektik der Aufklärungʻ und die von denselben Autoren vier Jahre später herausgegebenen Enlightenments – Encounters between Critical Theory and Contemporary French Thought sind vielleicht die repräsentativsten Publikationen, wenn es um die Rezeption der Dialektik der Aufklärung in den Niederlanden der achtziger und neunziger Jahre geht. Der Oberbegriff ‚Critical Theoryʻ lässt allerdings gleich erkennen, dass das Buch aus einer Perspektive behandelt wird, bei der sowohl die Habermas’sche Kritik daran als auch die – vor allem aus Frankreich und der ‚identity politicsʻ kommende – Ablehnung der ‚Transzendentalphilosophieʻ5 überhaupt als entscheidend angesehen wird (Korthals 1986; Korthals/Kunneman 1992; Offermans 1982).

5Hier

benutzt als Kurzformel für das mit den Namen Habermas und K.O. Apel verbundene Programm einer auf sprachanalytischer Basis zu erneuernden „Transzendentalphilosophie“/ „Universalpragmatik“.

250

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Die Faszination, welche die Dialektik der Aufklärung erneut ausübt, hängt offenbar damit zusammen, daß dieses Buch auf überzeugende Weise eine Grunderfahrung vieler heutiger Intellektueller auf den Begriff bringt. Es artikuliert das weitgehende Auseinandertreten von Rationalität einerseits und Versöhnung und Freiheit andererseits – aber zu gleicher Zeit wird dieses augenscheinliche Faktum von Horkheimer und Adorno leidenschaftlich angeklagt im Namen einer normativen Perspektive, die in der Vernunftkonzeption der Aufklärung zum ersten Mal klar angesprochen worden ist (Kunneman/de Vries, Hrsg. 1989, 10). Wer die intensiven Auseinandersetzungen zwischen Adorno- und Habermas-­ Schülern aus jenen Jahren miterlebt hat, weiß, wie sehr die ‚normative Perspektive‘ das Schlüsselwort war. Versucht man, zu so etwas wie einem Gesamteindruck zu kommen, dann sind es doch – trotz der Repräsentanten aus Deutschland – eher die skeptischen Töne, die sich in diesen Publikationen durchgesetzt haben (Apostel 1989; Boey 1999; Gabriëls 1995; van Reijen 1994). Es scheint, als ob der Habermas-Schüler Harry Kunneman sich das Habermas-Verbot „Keine Adornospezialisten!“ zu eigen gemacht hat (dazu: Schweppenhäuser 1984, 13 f.; Tillekens 1999; Oosterling 1996). Möglich, dass Habermas sich mit seinem Verbot (das sich vor allem auf der von ihm und Ludwig von Friedeburg 1983 organisierten Adorno-Konferenz bemerkbar machte6) einen Freiraum für eine ‚revidierteʻ Transzendentalphilosophie auf sprachanalytischer Basis erhoffte (anstatt sich auf deutschsprachige, nur noch von Spezialisten aufschließbare Texte zu beziehen), doch beide Bücher deuten eher auf das Scheitern eines solchen Programms hin: Ablehnung der Transzendentalphilosophie überhaupt, in welcher Gestalt auch immer.7 Stattdessen dominiert eine sich auf Foucault berufende „Alles ist Macht“-Position, die sich in den Folgejahren international so spektakulär durchsetzen wird.8

6Habermas/v.

Friedeburg 1983. die deutsche, so stark durch Habermas geprägte Rezeption der DdA zunächst einmal als Frontstellung gegen den Populärmarxismus verstanden wurde (gegen die „Alles ist Macht“ – Position), ist eine Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie im Sinne der Theologie in Deutschland lange Zeit ausgeblieben. Gerade das Letztere ist aber aus De Vries 1999, 2005; Hoogland 2006; Hopman 2013; KU Leuven 2014; Vermij 2014; Wils 2002 nicht wegzudenken. (Erst seit der Ratzinger-Debatte ist diese Seite von der Habermas-Richtung her wieder aufgenommen worden). Etwas Vergleichbares gilt für die Diskussion über Adorno als Musiker und Asthetiker: van Eecke 2013. 8Auch Martin Jay, so bestimmend für die US-amerikanische Adorno-Rezeption, folgt dieser Linie: „Like Foucault, Adorno uses ‚totalityʻ as an insult to designate the omnipresent domination of power structures that can only be challenged locally and particularly.“ (de Vries 2005, 258, dem diese Missdeutung also auch aufgefallen ist.) 7Weil

Die Dialektik der Aufklärung in den Niederlanden

251

„Die Frankfurter Schule hat in den Niederlanden nie Schule gemacht, ebenso wenig übrigens wie beispielsweise in England oder Frankreich. […] Im Vergleich zu Italien geben die Niederlande jedenfalls eine besonders unrühmliche Figur ab: außer von Herbert Marcuse und Walter Benjamin wurde hier noch nahezu nichts übersetzt. […] Was können die Gründe für den deutlichen Mangel an Einfluss der Kritischen Theorie auf das niederländische intellektuelle Klima sein?“ (Offermans 1982, 11)9 Offermans markiert, deutlicher als Jay das damals tat, dass die Autoren der Dialektik der Aufklärung noch festhielten „an der theoretischen Möglichkeit einer nicht bloß instrumentellen, also einer unverkürzten, auf die Verfasstheit der Gesellschaft als Ganzes Bezug nehmenden Vernunft […], und wie sehr ihre Kritik an der Instrumentalisierung der Vernunft an Stellen, wo eine andere Form der Rationalität wünschbar wäre, auch Merkmale einer (irrationalen) Kritik an einer Zweckrationalität als solcher aufzuweisen vermag, für Autoren wie Foucault und Derrida gilt dies nicht mehr: Sie haben mit dem ‚Projekt der Moderneʻ gebrochen, darin ist Habermas zuzustimmen.“ (Offermans 1982, 146) Es werden die üblichen Gründe für die mangelnde Wirkung der Dialektik der Aufklärung während jener Jahre genannt: dieses Denken soll zu ‚hermetischʻ, zu ‚antisystematischʻ, zu ‚ästhetisierendʻ sein, zu sehr ‚aus dem 19. Jahrhundertʻ kommend, zu ‚autoritärʻ.10 Hilfreich ist aber auch ein Blick auf die gesellschaftlich-politischen Aspekte – nicht nur die texthermeneutischen und philosophischen. Die Themen der ‚68erʻ in Deutschland und in den Niederlanden decken sich keineswegs. Wolfgang Kraushaar (2017) hat für die deutsche Seite Politisches geltend gemacht: Vietnam, Notstandsgesetze, Wiederbewaffnung, Berlin, den Kalten Krieg, die mangelnde ‚Aufarbeitung der Vergangenheitʻ, das Verhältnis zu Israel. Kraushaar geht automatisch von dem aus, was für deutsche Intellektuelle bis vor kurzem selbstverständlich war: Wenn es eine ‚Periodisierungʻ für ‚68ʻ und die ‚Neue Linkeʻ gäbe, dann hat das mit der ‚Aufarbeitung der Vergangenheitʻ zu tun, mit einem auf die Weimarer Zeit zurück-

9Dies

hat sich geändert. Inzwischen gibt es eine rege Ubersetzungspraxis, belegt durch Adorno 2012a, b, 2013, 2014; Horkheimer 2007. 10Wenn je, im Anschluss an Schweppenhäuser, den in der Dialektik der AufklärungRezeption monoton wiederkehrenden rhetorischen Formeln nachgegangen werden sollte, womit das Buch sozusagen vom Leibe gehalten wird, dann würde die bloß polemische Umkehrung der Bedeutung der Zentralbegriffe an erster Stelle rangieren. Der Vorwurf, der schwerste allerdings, und für die Rezeption weltweit bestimmendste, wonach den Autoren der Dialektik der Aufklärung, was ihre ‚normativen Voraussetzungenʻ betrafen, ein ‚performativer Selbstwiderspruchʻ nachgewiesen werden könne, kam von Habermas, was immer auch seine Motive dabei gewesen sein mögen.

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F. van Gelder

gehenden Marxismus-‚Revivalʻ, einem sich gegen DDR und Stalinismus kehrenden ‚Anti-Dogmatismusʻ, und einem gegen die eigene Elterngeneration sich wendenden Antinazismus. Für die deutsche Seite ist es selbstverständlich, dass ‚Achtundsechzigʻ eine Reaktion auf den Krieg und die weitgehende personelle Kontinuität der Eliten war – wie so ungefähr alles während der Adenauerzeit. Wenig davon galt für die andere Seite der deutsch-niederländischen Grenze. Holländische Historiker tendieren eher dazu, die sechziger Jahre als das Ende einer auf 1917 (!) zurückgehenden ‚kenteringʻ (eines tiefgreifenden Umbruchs) zu bezeichnen, wobei der Krieg – der ja formal gesehen nur fünf Tage dauerte – weniger wichtig war als eine in den sechziger Jahre einsetzende politische Destabilisierung, eine bis heute andauernde, inzwischen gewissermaßen ‚globalʻ gewordene Situation widerspiegelnd. „Eenheid en verdeeldheid in Nederland, 1917– 1967“ (‚Einheit und Spaltung in den Niederlandenʻ) heißt ein Kapitel in einem Standardwerk, das inzwischen in der 8. Auflage erschienen ist (Lijphart 1990).11 ‚Politische Destabilisierungʻ wird in den Niederlanden des Öfteren mit dem Ende der ‚verzuilingʻ in Verbindung gebracht – jener durchgängigen, die ganze Gesellschaft durchziehenden und bestimmenden, zumeist konfessionellen Aufteilung in protestantische, katholische, jüdische und parteipolitische Milieus, die sich erst in den sechziger Jahren auflöste. Aus dieser Sicht stellen Aktualität (Kunneman/de Vries 1989) und Enlightenments (ebd. 1993) sozusagen das dar, was Habermas zunehmend, in den Jahren danach, in seiner Person verkörperte: eine auf Menschenrechten und moralischem Universalismus basierende ‚Ideeʻ der Europäischen Union. Wenn Habermas 2013 einen der höchsten Preise des Landes, den Erasmuspreis, aus den Händen des Königs erhielt, und dies an einem der historisch signifikantesten Orte Europas, dem Königspalast auf dem Dam, dann war dies ein politischer Akt, ein Ausdruck der Hoffnung. Der ‚östliche Nachbarʻ solle bitte schön nicht noch einmal einen ‚Sonderwegʻ einschlagen, nie wieder in den Nationalismus zurückfallen, ‚Europaʻ nicht wieder den Rücken kehren (vgl. van Gelder 2005). Und damit war die Hoffnung verknüpft, dass die mit ‚1968ʻ einsetzenden politischen Turbulenzen in einem – universalistischen – wenigstens europäischen Zusammenhang angegangen werden können. * Michel van Nieuwstadt, der Übersetzer der Dialektik der Aufklärung12, setzt an der langen Inkubationszeit an, die zwischen der bescheiden aufgemachten

11Ich

vernachlässige hier die entscheidenden Unterschiede zwischen niederländischen und belgischen Erfahrungen während beider Weltkriege. 12van Nieuwstadt 2007. Eine erste Übersetzung war 1987 bei SUN in Nijmegen erschienen.

Die Dialektik der Aufklärung in den Niederlanden

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Broschüre von 1944 und dem Ruhm liegt, der ihr erst eine Generation später zuteilwerden würde. Auch hier, nicht anders als in Deutschland und den angelsächsischen Ländern, müsse man sich das wohl so vorstellen, dass das, was von einer kleinen Intellektuellengruppe – während des amerikanischen Exils, und dann unmittelbar nach dem Krieg – geschrieben wurde und für den internen Gebrauch gedacht war, erst eine Generation später unter völlig veränderten ökonomischen, medialen und politischen Bedingungen an die große ‚Öffentlichkeitʻ gelangen konnte – eine ‚Öffentlichkeitʻ, die es in dieser Form am Anfang gar nicht gab, deren ‚Strukturwandelʻ selber Gegenstand des theoretischen Interesses werden würde, und in der Zwischenzeit, in der heutigen, global vernetzten Welt, weder etwas mit dem Intellektuellen- noch dem Öffentlichkeitsbegriff der vierziger Jahre gemeinsam hatte. Dennoch, bei allen Gemeinsamkeiten, macht es Sinn, das Spezifische an der niederländischen Rezeption der Dialektik der Aufklärung herauszuarbeiten, und keineswegs aus bloß formalen – d. h. geografischen – Gründen. Die Studentenbewegung, Vergangenheits-‚Bewältigungʻ, Antisemitismus, Massenmedien, Europa und Globalisierung – sie haben allesamt einen anderen Charakter in den Niederlanden angenommen – und das spiegelt sich in der Rezeption wider.13 Van Nieuwstadts Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der Dialektik der Aufklärung ist lehrreich, und nicht nur für niederländische Leser. Seine Aufmerksamkeit gilt unter anderem den Änderungen, die die Buchpublikation 1947 von den Philosophischen Fragmenten unterscheidet, nicht zuletzt der neue Titel selber. Die „These VII“ der „Elemente des Antisemitismus“ ist dazugekommen, mit einem ‚Ticketʻ-Begriff, der die Antisemitismusanfälligkeit bei Wählern zum ersten Mal mit formellen Aspekten des Wahlkampfes überhaupt zusammenbringt – die Notwendigkeit der Simplifizierung nämlich, jenes ‚dumbing downʻ und die Klischeeproduktion, ohne welche kein Politiker und keine politische Partei sich behaupten kann. Aus „Mythos und Aufklärung“ ist zudem „Begriff der Aufklärung“ geworden – allesamt Akzentverschiebungen, die auf etwas Objektives hindeuten, etwas, das mit allen ‚positivenʻ oder ‚identitätsphilosophischenʻ oder ‚idealistischenʻ oder

13Einiges

an der Publikationsgeschichte der 1989 bei Campus erschienenen Publikation Die Aktualität der ‚Dialektik der Aufklärungʻ – auf einen in Amsterdam abgehaltenen Kongress aus Anlass des 40. Jubiläumsjahres des Buches zurückgehend – deutet darauf hin, dass das Buch auch so etwas wie eine politische Normalisierung zwischen zwei europäischen Ländern signalisiert – ein Art philosophisches Gipfeltreffen –, wovon das eine das andere nur kurz zuvor überfallen und ausgeplündert hatte, und die Frage nun vorherrschte: „Wie nun weiter?“ Deshalb wohl Töne wie diese: „De EU is het kind van de Frankfurter Schule.“ (Niemöller 2014)

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‚bloß literarischenʻ Konnotationen nicht länger vereinbar ist. Für den nüchternen holländischen Leser, sowieso wohl aller Geschichtsteleologie fremd (man denke an Thomas Manns Mynheer Peeperkorn im Zauberberg), sind es vielleicht gerade diese recht trostlosen Töne, die alte calvinistische Assoziationen wachrufen: „Die erste Hauptpointe des Buches liegt als Drohung zusammengeballt in den ersten beiden Sätzen des Einführungsessays. Vergleichbar mit einem Paukenschlag, lauten sie folgendermaßen: ‚Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.ʻ War dies hier bereits der erste Trommelwirbel, so folgt dieser Pointe sofort noch eine zweite, ebenfalls provozierende Behauptung, nämlich dass das aufgeklärte Denken bereits von Beginn an in Mythos und Unfreiheit umschlägt. Oder, wie Horkheimer und Adorno es in ihrem Vorwort noch etwas komplizierter umschreiben: ‚[…] schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.ʻ Und während die Vernunft und die Zivilisation in Europa den Nationalsozialismus hervorgebracht hatten, gipfelte in den Vereinigten Staaten die Vernunft in der geistigen Beherrschung und Manipulation der Menschen durch die Kulturindustrie. So hatten sich an beiden Seiten des Atlantischen Ozeans die Autonomieverheißungen der Aufklärung als leere Versprechen herausgestellt oder waren in leere Versprechen umgeschlagen.“ (van Nieuwstadt 2007, 276; Übers. FvG) Darauf folgt eine detaillierte, auch in Wiggershaus (1986) und Müller-­ Doohm (2003) zu findende Beschreibung der Arbeitsweise der Autoren bei dem Zustandekommen des Textes in Kalifornien während der Kriegsjahre sowie der außergewöhnliche Grad ihrer Zusammenarbeit. Aber aus dem Adjektiv „gecompliceerder“ („komplizierter“) kann man heraushören, was für die neuere Adorno-Diskussion bezeichnend ist: Jene systematischen Intentionen, die in Aktualität (Kunneman/de Vries 1989) und Enlightenments (ebd. 1993) noch stark hervorgehoben wurden, sind weitgehend aufgegeben worden. Dass es eine Realdialektik zwischen ‚Mythos und Aufklärungʻ in der Geschichte gibt, mit den üblichen sozialwissenschaftlichen Methoden ‚angehbarʻ, ist hier anscheinend nicht mehr gemeint. Dann wird „Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ eine einprägsame literarische Formulierung, aber keineswegs ein Hinweis auf etwas ‚objektiv Widersprüchlichesʻ, die ‚ganze Welt der Erscheinungʻ Betreffendes. Das auf Habermas’ Starnberger Zeit zurückgehende Programm einer mit sprachanalytischen Methoden erneuerten Positivismuskritik, die gleichzeitig einer Neubegründung der ‚Logik der Sozialwissenschaftenʻ gleichkäme – von Dubiel, Söllner, Döbert und anderen vertreten (Dubiel/ Söllner et. al. 1984, Döbert/Habermas/Nunner-Winkler 1977) – findet in der bescheidenen Adorno-Konjunktur der letzten Jahre wenig Beachtung. *

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Die niederländische Rezeption der Dialektik der Aufklärung weist aber auch eine Merkwürdigkeit auf, die meines Wissens bisher nirgendwo registriert worden ist. Zwar sind die Entstehungsgeschichte des Buches, der fragmentierte Aufbau, die intendierte, aber dann nicht geleistete Neuformulierung der ‚Dialektikʻ, die oft monierte ‚Unvermitteltheitʻ von Ethik, Ästhetik, Wissenschaft und Universalgeschichte, die ungeklärte Bestimmung dessen, was noch ‚materialistischʻ heißen kann, allesamt bekannt und in der Sekundärliteratur ausführlich diskutiert worden. Erst recht: das erstaunliche (von keinem Marxisten, weder damals noch später nachvollziehbare) Fehlen von ‚Wissenschaftʻ in der Bedeutung von ‚Kritik der politischen Ökonomieʻ14. Jedoch sucht man in der niederländischen Literatur zur Dialektik der Aufklärung vergebens die Erwähnung einer, der endgültigen Buchfassung vorausgegangenen und innerhalb des Horkheimer-Kreises äußerst kontrovers geführten Kontroverse über Holland selbst. Genauer: über die holländische Staatsform. Noch genauer: über die spezifischen, von den Oraniern während des Befreiungskrieges gegen Spanien herangezogenen, in erster Linie mit dem Namen Althusius verbundenen natur-, staats- und verfassungsrechtlichen Doktrinen, die überhaupt den Begriff des ‚freien Individuumsʻ, den Begriff des Naturgesetzes15 und der Demokratie der nachfolgenden Jahrhunderte bestimmen sollten. Dabei geht es um einen nur noch Spezialisten geläufigen Streit, der hier in aller Kürze dargestellt werden soll. Der Odysseus-Exkurs, der psychoanalytische Ansatz sowie die Reflexionen über die Kulturindustrie lassen nämlich allesamt aus den Augen verlieren, dass es Horkheimer – vor allem in den New Yorker Columbia-Jahren – um die Schlichtung eines Streites ging, der auch die Nachkriegszeit

14„Es

ist ja Unsinn, daß ich, wenn auch mit Teddie gemeinschaftlich, der Arbeit die notwendige Präzision und Konkretheit verleihen könnte. Sie muß mit historischem und ökonomischem Material bis zum Platzen gefüllt sein, sonst wirkt sie als Raisonnement.“ (Horkheimer, Brief an Felix Weil, 10. März 1942. Horkheimer 1996, 275) 15Die eigentliche Differenz zwischen Borkenau und Grossmann – d. h. in dieser Phase der ‚immanenten Kritik am dogmatischen Marxismusʻ – wird spürbar in der völlig konträren Diskussion über Descartes, oder besser: über dessen für die moderne Wissenschaft konstitutiven Dualismus. Nach Borkenau – der das ausführlich in seinem Übergang begründet – bestimmen die Begriffe Individuum, Freiheit, Naturgesetz, Produktion sich wechselseitig, und zwar, historisch gesehen, erst seit der Manufakturperiode. (Und nicht, wie die ‚Unified Scienceʻ-Bewegung das bis heute lehrt, schon seit der griechischen Antike.) Das ist nicht nur weit näher an Lukács gedacht als an einer formelhaften Anwendung des ‚Basis/ Überbauʻ-Modells, es ist jeglicher ‚traditionellenʻ Trennung zwischen Natur und Geschichte abhold (vgl. Adornos „Die Idee der Naturgeschichte“). Sie setzt einen grundsätzlich anderen Zeit- und Praxisbegriff voraus als bei Grossmann.

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beherrschen und eigentlich nie wieder abflauen sollte: Was heißt aus der Sicht des Wissenschaftlers die Handhabung der ‚Marxschen Methodeʻ? Was heißt ‚Realdialektikʻ? Wie wirkt sich das auf die Tätigkeit, die wir ‚Wissenschaftʻ nennen, aus?16 Entfacht hatte sich dieser Streit an einer inzwischen nur noch wenigen bekannten Studie von Franz Borkenau, 1934 in Paris erschienen, die mit einem Vorwort von Horkheimer versehen war („Genf, im September 1933“) und erst 1976 wieder aufgelegt wurde: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild.17 Sie behandelt, so Horkheimer, „das grundsätzliche Problem des Zusammenhangs von Wirtschaft und geistiger Kultur“, ein Problem, „dessen Bearbeitung auch für die eigenen Forschungen des Instituts von besonderer Bedeutung ist“. Der Untertitel lautete: Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode. In den ersten drei Kapiteln geht es um den Ursprung des modernen Wissenschaftsbegriffs, und zwar in seiner historischen Genesis: real in den Wirren des 16. und 17. Jahrhunderts, im Bürgerkrieg in Frankreich (Hugenotten), und dann in dem von Wilhelm von Oranien geführten Befreiungskrieg gegen Spanien; geistig-theoretisch in der Verbindung von calvinistischer Theologie und Naturrecht. „Naturrecht und Gesellschaftsvertrag“ heißt das entscheidende Kapitel, und es handelt nicht zufällig von dem, was dann viel später in den berühmten Werken von Jonathan Israel zum Ausdruck kommen wird (Israel 1991, 2001, 2006, 2007). Ist ein derartiger, deutlich von Max Weber und Lukács beeinflusster Ansatz aber noch mit einer Methode vereinbar, die sich ‚historisch-materialistischʻ nennen kann? Ist das noch mit einer aus der Grünberg-Zeit übernommenen Trennung zwischen historischem Materialismus als Wissenschaft und einem bloß ‚spekulierendenʻ philosophischen Materialismus vereinbar, oder ist diese Trennung selber abstrakt? Was hieße dann noch ‚Konkretionʻ? Henryk Grossmann, ehemaliger Assistent Grünbergs, zusammen mit Pollock Spezialist für den Kernbereich ‚politische Ökonomieʻ, Autor von Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems ­ (­Grossmann [1929] 1970), prominent in den Veröffentlichungen der Zeitschrift für Sozialforschung vertreten, stieß sich jedenfalls daran. Später sollte diese Neuorientierung, von Horkheimer auch gegen Grossmann durchgesetzt, ‚HegelMarxismusʻ heißen, aber zunächst, hinsichtlich des historischen Gegenstandes,

16Auch

die Arbeit im Institut für Sozialforschung während der Jahre unter von Friedeburg, also nach dem Tode Adornos und Horkheimers, wurde durch diese Fragestellung bestimmt (um nicht zu sagen: gelähmt). 17Dem war ein Aufsatz in der Zeitschrift für Sozialforschung vorausgegangen (Borkenau 1932).

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ging es um eine spezifische Auseinandersetzung um die niederländische Staatsgründung, genauer: deren ‚Ideologieʻ. Es war ein ‚Grundsatzstreitʻ, sowohl in der Zeitschrift für Sozialforschung als auch im Briefwechsel ausgetragen, dessen Ausgang die Struktur und den Inhalt der Philosophischen Fragmente bestimmen sollte. Wäre er anders ausgegangen, als er war, es hätte durchaus einen Exkurs „Wilhelm von Oranien und die Erfindung des freien/autonomen Bürgers und Unternehmers“ geben können. Es hätte das behandelt, was Borkenau in der ersten Hälfte des Buches untersucht: das Verhältnis von Naturrecht, Naturwissenschaft, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit.18 Dass dies nicht geschehen ist, ist anscheinend eher auf persönliche als auf sachliche Gründe zurückzuführen.19 Die Konstellation „Naturrecht/instrumentelle Vernunft/die ‚Psycheʻ des modernen Menschen“ – historisch laut Borkenau noch am ehesten während der niederländischen Staatsgründung rekonstruierbar – hat Horkheimers Denken jedenfalls zeitlebens bestimmt.20 Wie sehr Horkheimer darin einen Schlüssel zum Verständnis der heutigen Welt ‚im Ganzenʻ sah, lässt sich an seiner Neubestimmung des Egoismus-Begriffs nachvollziehen, drei Jahre nach Borkenaus Übergang, im in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienenen Aufsatz „Egoismus und F ­ reiheitsbewegung“

18„Wer könnte hier den demokratischen Cäsarismus verkennen, wie er sich in der Herrschaft der Oranier zum ersten Mal in der modernen Geschichte geltend macht! Dies ist der letzte Sinn der Lehre des Althusius. In ihren theoretischen Grundzügen ist er konsequent entwickelt. Der Hauptwiderspruch in Althusiusʻs Lehre, der Gegensatz zwischen Volkssouveränität und Unabänderlichkeit der Verfassung, findet in ihm seine Erklärung.“ (Borkenau [1934] 1976, 131) 19„Ob es einen Sinn hat, nochmals mit Grossmann zu sprechen, weiß ich nicht. […] – ­dieser Mann ist zu sehr verhärtet, psychisch und wohl auch physiologisch. Doch werde ich mir die Sache genau überlegen […]“ (Leo Löwenthal, Brief an Horkheimer, 1. Mai 1941. Horkheimer 1996a, 30) „Übrigens möchte ich vor Borkenau warnen. Er ist nach wie vor ein hochbegabter Mensch und manche seiner Intentionen, auch etwa die Historisierung der Psychoanalyse, auf die er jetzt aus ist, scheinen mir höchst fruchtbar und fortgeschritten. Aber es ist ganz einfach die moralische Frage; nachdem er die Politik an den Nagel gehängt hat, sucht sein maßloser Ehrgeiz anderswo Unterschlupf und ist bereits heute zu jeder Assimilation bereit.“ (Adorno, Brief an Horkheimer, 24. November 1934. Horkheimer 1995a, 270) 20Horkheimers

Distanzierung von der Kritik der politischen Ökonomie – das Schematisierend-Dogmatische daran monierend –, wird in einem langen Brief an Grossmann begründet, der bis heute nicht die Aufmerksamkeit bekommen hat, die er seiner Bedeutung nach verdient. Denn diese Kritik richtet sich gleichermaßen gegen die Marxsche wie die positivistische Dogmatik.

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(­ Horkheimer [1937] 1996). Wird ‚Egoismusʻ, wie hier von Horkheimer anscheinend intendiert, historisch gefasst – das heißt, aus dem positivistisch-klinischen Bereich losgelöst, dort zur Entfaltung gebracht, wo er Horkheimer zufolge hingehört –, dann wird die Aufmerksamkeit des ‚kritischen Historikersʻ (Wirtschaftstheoretikers, Anthropologen, Psychoanalytikers, Weberianers) dorthin gelenkt, wo diese ‚Veränderung in der anthropologischen Tiefenstrukturʻ des Menschen real auch wirklich ihren Ausgangspunkt nimmt, nämlich im 16. und 17. Jahrhundert. Dann müsse es möglich sein, die staats- und verfassungsrechtlichen, massenpsychologischen, wirtschaftlich-ökonomischen Bedingungen zu rekonstruieren, die die ‚Moderneʻ bestimmt haben – bis in deren (unseren) Vernunftbegriff hinein21 –, d. h. den endgültigen Bruch mit dem Mittelalter markierend. (Eine ‚Rekonstruktionʻ, die keineswegs von harmonisierenden, ‚identitätsphilosophischenʻ Prämissen ausgehen müsse.) Genau das ist es, was Borkenau sich vornimmt, in seinem Kapitel über Wilhelm von Oraniens Staatsrechtler Althusius, und den ‚Theoretikerʻ der Amsterdamer ‚Regentenʻ, Grotius. Und genau das ist es, was Grossmann zutiefst befremdet, wie alle ‚Identitätsphilosophenʻ vor und nach ihm.22 Der Kern der Auseinandersetzung dreht sich um den Kausalitätsbegriff.23 Meinen wir damit eine ‚Grundeinstellung zur Weltʻ (um die spätere Terminologie zu benutzen) – die Borkenau zufolge auf die ‚Mechanistenʻ der Manufakturperiode zurückgeht (Galileo, Leonardo, Huyghens, Harvey) –, die zum ersten Mal die

21Wie

sehr Egoismus bei Horkheimer erkenntnistheoretisch-historisch (und nicht psychoanalytisch-therapeutisch) gedacht wird, wird aus seinem Aufsatz „Vernunft und Selbsterhaltung“ (Horkheimer 1942) ersichtlich (vgl. Ebeling 1976 und dann die einflussreichen Studien von Hans Blumenberg). 22Grossmann: „Borkenau ist durch den Aufsatz erledigt“ – d. i. Grossmanns Kritik daran in der Zeitschrift für Sozialforschung (Grossmann, Brief an Horkheimer, 1995a, 294). Er muss merkwürdig desinteressiert daran gewesen sein, was die anderen Autoren in der Zeitschrift für Sozialforschung so geschrieben haben – und das ist denen nicht entgangen. Der Briefwechsel zeugt von erheblicher gegenseitiger Irritation, die in Horkheimers ausführlicher Stellungnahme bzw. Kritik vom 20.1.1943 gipfelte (Horkheimer 1996, 398). Die tieferen, politischen Gegensätze, die sich eher im Streit mit Pollock, dem anderen Ökonomen im Horkheimer-Kreis, äußerten, kommen allerdings erst bei Scheele 2017, dem Herausgeber von Grossmanns Nachlassschriften, zum Vorschein. 23Die

Verbindung – auf der Theorieebene – von dieser, die Zeitschrift für Sozialforschung bestimmenden Kontroverse über die Methode, bis hin zu Habermas’ und Apels Differenzierung zwischen Objektivität im Sinne eines Diskursaprioris und Objektivität im Sinne eines alle bloß menschliche Kommunikation Übersteigenden, ist evident.

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‚Erscheinungʻ in primäre und sekundäre Qualitäten aufgeteilt haben24, oder meinen wir, mit Grossmann, die ‚Allgültigkeitʻ der Marxschen Arbeitswerttheorie? (Die dritte Möglichkeit, die von Adorno so stark vertretene Erneuerung des Wesen/Erscheinung-Unterschiedes – gerade einem so sorgfältigen Adorno-Leser wie Hent de Vries schon in den sechziger Jahre aufgefallen [de Vries 2005] –, scheint den Ökonomen Grossmann nicht interessiert zu haben.) Das heißt, wer Borkenaus Übergang, Horkheimers „Egoismus und Freiheitsbewegung“, Grossmanns Publikationen, auch und vor allem aus der Zeitschrift für Sozialforschung, nebeneinander legt, merkt, dass das, was hier verhandelt wird, die zwei großen Streitpunkte der damaligen, aber auch der Nachkriegszeit ausmachen: die (Un)Gültigkeit der Marxschen Methode (und deshalb auch die politische Legitimität der sich darauf berufenden sozialistischen Länder tangierend) – das heißt, die Bedeutung von ‚historischem Materialismusʻ, sowohl inhaltlich wie methodisch – und der ‚Positivismusstreitʻ, nämlich die Relativierung des Anspruchs auf die unbedingte Objektivität im Sinne der Naturwissenschaften (Russo 1987). (Eine ‚Verhandlungʻ also, die auch noch den nicht zu verschmähenden Vorteil hat, an einem beschränkten Material und an deutlich markierten Positionen das bestimmen zu können, worin sich ‚Kritische Theorieʻ von ‚Marxismusʻ im üblichen Sinne inhaltlich unterschied – damals wie heute.25) 24„Die

Lehre der Mechanisten von den primären und sekundären Qualitäten ist willkürlich, weil an die Anschaulichkeit des Handwerks gebunden. Sie ist jedoch gegenüber aller früheren Physik eine mächtige Neuerung, die der modernen Forschung den Weg gebahnt hat. Denn zum erstenmal wurde hier mit der Voraussetzung ernst gemacht, daß der Erscheinung die objektive Realität abgesprochen werden muß, wenn man sie verstehen will.“ (Borkenau [1934] 1967, 11) 25Wieso diese Grossmann/Borkenau-Kontroverse von Wiggershaus (1986) recht stiefmütterlich behandelt wird, ist nicht einfach nachzuvollziehen. Er formuliert die Problematik nicht anders als auch Horkheimer: „das Irritierende solcher Erklärungen bestand – wie bei Löwenthal und Fromm – in der Fugenlosigkeit ihres Funktionalismus.“ (145) Aber es ist ein ‚Funktionalismusʻ, der Borkenau eher angelastet wird als Grossmann, und dass das Borkenau-Buch nur mit einer überaus vorsichtigen Herausgeber-Vorrede begleitet wird, die weder die sachlichen Probleme benannte, zu deren Lösung die Arbeit beitrug, noch zu ihnen Stellung nahm, führt Wiggershaus nicht auf den hier behandelten Grundsatzstreit zurück, sondern auf Horkheimers vermeintliche politische Zurückhaltung. (Dem steht gegenüber, dass Borkenaus zunehmend kritische Haltung gegenüber dem Kommunismus Horkheimer nur recht gewesen und keineswegs ein Grund für den zurückhaltenden Ton seines Vorwortes gewesen sein müsste.) In Borkenaus Übergang sieht Wiggershaus zwar eine ‚kritische Wissenschaftsgeschichteʻ (ein passenderer Begriff als die übliche ‚Wissenschaftssoziologieʻ), aber diese setzt voraus, dass jener nahtlose Funktionalismus aufgegeben wird, der nach Ansicht von Horkheimer und Adorno eher Grossmanns als Bor-

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Zurück zu den spezifisch holländischen Themen bei Borkenau, und weshalb es dann nicht mehr dazu kam, dieses Material in irgendeiner Form in die Dialektik der Aufklärung aufzunehmen. Wer mit Kategorien aus „Egoismus und Freiheitsbewegung“ die Literatur der holländischen Staatsgründung durchkämmt, ist auf der Suche nach Gründen, die sowohl das Bedürfnis des Historikers und Biografen nach erzählbaren Ereignissen als auch das Bedürfnis des Universalhistorikers nach der Identifizierung von ‚neuen Strukturenʻ erfüllen (d. h. nach einem ‚Übergangʻ, der in der Zeit danach, in den nachfolgenden Jahrhunderten, nur noch um den Preis unerträglicher Regressionen, individuell wie kollektiv, ‚zurückgedrehtʻ werden kann). Für Borkenau erfüllt ‚Souveränitätʻ diese widerspruchsvollen Erfordernisse: Politisch gibt es, im 16. und 17. Jahrhundert, in Holland und Großbritannien, kein wichtigeres Thema als den den Königen und Prinzen zähneknirschend abgerungenen, dann zuerst in der holländischen Verfassung verankerten Verzicht auf ‚royal prerogativeʻ und uneingeschränkte Machtausübung, das heißt die Souveränität (wie etwas später in Großbritannien nach Cromwell und dem Bürgerkrieg). Gleichzeitig sind Willensfreiheit und Prädestination die zwei Begriffe, woran sich die innertheologische Auseinandersetzung entfaltet – also die Bedeutung von ‚Souveränitätʻ, von der intellektuellen Seite her betrachtet. Mit Arminius und Gomarus als den zwei Namen, an die sich der Liberalismus und Antiliberalismus der nachfolgenden Jahrhunderte knüpfen werden. Diese beiden Bewegungen sind während der Anfangsphase – grob gesprochen: bis Spinoza – eher Glaubens- als politische Bewegungen, und sie bilden die Basis für den populären Massenaufstand gegen Herzog Alba und den spanischen König. Ohne ‚hageprekenʻ (die klandestinen ‚Heckenpredigtenʻ der evangelischen Prediger in freier Natur), Bildersturm und antikatholische Agitation (finanziell von den Amsterdamer ‚Regentenʻ getragen) hätte es den ersten nationalen Befreiungskrieg in Europa nie gegeben – oder die ‚Geuzenʻ, d. h. die ersten ‚Revolutionäreʻ und Freiheitskämpfer. Dem Thema ‚Souveränitätʻ kann sowohl begriffs- wie realgeschichtlich nachgegangen werden. Es ist ein Schlüsselbegriff

kenaus Marxismus verunstaltete. (Eine ‚Positivismuskritikʻ, die später in Adornos Kritik an Mitscherlich zurückkehren wird.) Borkenau ist der Integration von psychoanalytischen Begriffen in die Geschichtstheorie deutlich freundlicher gesonnen, als das bei Grossmann der Fall ist, und am Ende wird Horkheimer sich eindeutig gegen Grossmann (und vielleicht die Kritik der politischen Ökonomie überhaupt) kehren. Könnte es sein, dass sogar der ausgewiesene Historiker der Frankfurter Schule, Rolf Wiggershaus, dem bloß polemischen Motiv aufgesessen ist, in der Kritischen Theorie eher ‚abtrünnige Marxistenʻ zu sehen als eine eigenständige Methode?

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sowohl in der politischen Mobilisierung gegen Herzog Alba und den spanischen König26 als auch in der naturrechtlichen Begründung des Aristokraten Wilhelm von Oranien für seine Rebellion gegen Philipp II. Nach Borkenau ist der ‚objektive Widerspruchʻ, der die folgenden Jahrhunderte bestimmen würde – die immer ­stärker auseinandertretenden Gegensätze zwischen Individualrechten/konfessionellen Rechten/Staatsraison –, noch am ehesten hier zu rekonstruieren, in der Rebellion der Niederlande gegen spanische Herrschaft und spanische Inquisition, ganze zwei Jahrhunderte vor der Französischen Revolution. „Zunächst ist die Lösung des Althusius vollauf befriedigend. Die Souveränität ist durch die Individuen konstituiert, deren Interessen sie schützen soll; sie haben sich also nicht zu beklagen. Doch der Absolutismus bei Althusius entgeht nicht darum den Widersprüchen, […] weil er jetzt demokratisch fundiert ist. Der Vertragscharakter der Herrschermacht hebt den Widerspruch zwischen Staatsgewalt und Individualrechten nur schärfer hervor. Die mit dem Einverständnis der Untertanen konstituierte Herrschergewalt, die ausdrücklich die Allmacht im Bereich des staatlichen Lebens zugesprochen erhielt, soll gleichzeitig beschränkt sein. Der Staat soll absolut sein, aber die grundlegenden Lebensverhältnisse seiner Konstituenten sollen von seiner Regelung ausgenommen sein. […] die durchgehende Anwendung der Vertragskategorie überliefert alle menschlichen und göttlichen Verhältnisse der Willkür des subjektiven Wollens. Die moralische Rechtfertigung des Absolutismus wird zur Aufhebung jeder moralischen Norm. […] Nach der einen Seite also ein Reich der Willkür aller Individuen; aber nach der anderen Seite ein Reich der Willkür des Herrschers. Denn dieser aus Verträgen konstituierte Staat kann über alle Verträge hinweggehen. Ob man aber von der Willkürlichkeit des Vertrags oder von der Absolutheit des Herrschers ausgeht, auf jeden Fall ist zwischen dieser Willkür und der Gültigkeit moralischer Normen keine Brücke zu finden.“ (Borkenau [1934] 1976, 135 f.) Was später die ‚Verstehen/Erklären-Kontroverseʻ heißen wird, ist hier schon voll ausgebildet, und zwar in der Frage, ob der holländische Befreiungskrieg gegen Spanien ‚von außenʻ (Kritik der politischen Ökonomie, durch Grossmann vertreten), oder ‚von innenʻ, ‚verstehendʻ (Methoden aus Max Weber und Lukács kommend, durch Borkenau vertreten) zu erforschen sei. Wie sollte die für die Staatsgründung entscheidende Auseinandersetzung zwischen Remonstranten und Contra-Remonstranten, das heißt mit den verschiedenen Fraktionen innerhalb

26Wie

leidenschaftlich das gerade von den östlichen Nachbarn wahrgenommen wurde, wissen wir aus Goethes Egmont und der späteren Heroisierung der ‚Geusenʻ und Schwarzen Galeeren.

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des Streites zwischen Calvinismus und Luthertum, der wiederum nicht von der ‚Machtfrageʻ im damaligen ‚Nationalstaat im Werdenʻ auseinanderzuhalten ist, erforscht werden? Ist die ‚Massenmoralʻ objektiv aus der kapitalistischen Wirtschaft der Zeit ‚deduzierbarʻ (Grossmann 2017a), oder sollte man sich die Frage stellen – mit Borkenau –, ob die für die ‚Moderneʻ konstitutiven Begriffe Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Religionsfreiheit, Föderalismus, Demokratie, wie sie sich danach in Holland und in der angelsächsischen Welt durchgesetzt haben, auf Wilhelm von Oraniens notwendiges ‚Schweigenʻ gegenüber dem spanischen König zurückzuführen seien? Schreibt man eine Biografie über Descartes (Borkenau) oder ‚deduziertʻ man die ‚Struktur der cartesianischen Algebraʻ aus dem ‚Einfluss des Maschinismusʻ? (Grossmann 2017b) Dass einem die ‚binäreʻ Entweder/ Oder-Logik hier versagt, ist nicht die schlechteste Begründung dafür, sich einmal wieder mit dem Wörtchen ‚Dialektikʻ zu befassen. Deutlich genug ist Borkenaus und Horkheimers Unbehagen an einem Verfahren, das Adorno später ‚Subsumptionslogikʻ nennen wird: Man fängt mit den Produktivkräften an – in diesem Fall denen der Manufakturperiode – und landet dann bei der cartesianischen Algebra. Der hier Grossmann angelastete Zirkelschluss liegt auf der Hand: Er setzt einen Objektivitätsbegriff voraus (in dem Wort ‚Produktivkräfteʻ enthalten), der realhistorisch sich erst in ebendieser Manufakturperiode herausbildet (Adorno 1972). Wird der cartesianische Dualismus – Bedingung für die Entfaltung der Naturwissenschaften – vorausgesetzt oder in seiner historischen Genesis rekonstruiert? An dieser Kontroverse – das heißt hier, konkret, an der völlig konträren Behandlung von Descartes und dem Cartesianismus – wird erst richtig spürbar, wie schwierig es ist, einen Materialismusbegriff bei gleichzeitiger Metaphorisierung des Kapitalismusbegriffes konsequent durchzuhalten. (Im Sinne einer realen Krisendiagnostik, hier und jetzt.) Die Hegelsche Wesenslogik setzt, was die Reflexionsleistungen des Einzelnen angeht, Einsicht und Teilhabe (wenn alles gut geht) in und an der stufenweise sich vollziehenden Abstraktion von der sinnlichen Gewissheit voraus, die alle Reflexionsstufen, bis hin zur Einsicht und Identifikation mit dem absoluten und objektiven Geist in der Geschichte durchläuft. Die Geschlossenheit und Endgültigkeit der ‚Phänomenologieʻ, in Hegel, ist durch die Negativität bestimmt, das heißt durch die Unaufhebbarkeit der einzelnen und kollektiven Sterblichkeit. Das Teleologieurteil hier – es war Horkheimers Dissertationsthema – bezieht sich auf den Geist, auf die ‚Dialektikʻ zwischen Allgemeinem und Besonderem und deren ‚Telosʻ, nicht auf eine ‚Weltʻ, die es jenseits und unabhängig vom Geist geben soll. Letzterer bestimmt sich bei Hegel gerade darin, dass die Einsicht in die Unausweichlichkeit des Übergangs vom Verstand zur Vernunft auch die Scheinhaftigkeit aller ‚abstraktenʻ Unterschiede zwischen Ich und Welt, Subjektivität und Objektivität in sich ‚aufhebtʻ.

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Man spürt Grossmanns Dilemma: Sind Fortschritte in der Wissenschaft (hier: die cartesianische Algebra) objektiv oder subjektiv? Wenn der Marxismus, wie Grossmann ihn versteht, solche Bestimmungen gar nicht, sondern nur den universalhistorisch bestimmbaren Produktivkräftebegriff zulässt, ist Descartes dann Wissenschaftler oder (Proto-)Sozialist? Gar Klassenkämpfer? Auch volksverherrlichende Töne sind dem Grossmannschen Denken nicht fremd, wie durch den skurrilen Satz belegt, wonach dem ungebildeten Menschen, „the uneducated man of the street“, mittels der cartesianischen Methode Wahrheiten offenbart werden „not accessible to professional philosophers“.27 Das werden die Berufsphilosophen mit Verwunderung zur Kenntnis genommen haben, ebenso dass der ‚civitas dei/civitas terranaʻ-Unterschied von Augustinus bis Thomas von Aquin als „machines“ zu denken ist. Dass er mit einer solchen Auffassung nicht mehr ernst genommen wurde, liegt auf der Hand. Dennoch ist mit der Distanzierung von Grossmann und der Marxschen Werttheorie die Frage, wie mit dem Kapitalismusbegriff umzugehen ist – das heißt was unter ‚materialistischer Dialektikʻ zu verstehen ist –, keineswegs gelöst. ‚Idealismuskritikʻ ist der akademische Ausdruck für das, was Alfred Schmidt einmal als die dezidierte Abkehr von „wolkigen Universalien“ bezeichnet hat – an einer Stelle, wo die Methodenprobleme von universalgeschichtlichen Konstruktionen überhaupt zur Sprache kommen. „Die pantheistische Verselbständigung der Geschichte zu einem einheitlichen substanziellen Wesen ist nichts als dogmatische Metaphysik“ (Horkheimer, zitiert nach Schmidt 1974). Hier wie an vielen anderen Stellen – auch in der Diskussion über Freud – legt Horkheimer immer wieder den Nachdruck auf das Antidogmatische, das ‚Nichtidentischeʻ, auf das

27Nach

Russo (1987) gibt es eine nie veröffentlichte Grossmann-Monografie, die er in einem Brief von 1946 (an das Institut) so beschreibt: „I am informing you in the following about my main scientific activities during the year 1945. I have completed a book on Descartes in which I give a new interpretation of Descartes’ Geometry, showing that it is not so much a mathematical study than a very original philosophical method. The industrially skilled worker, by just pushing a lever on a machine can deliver a better piece of work than an artisan of long standing; similarly the uneducated man of the street, according to Descartes, can, by the use of Descartes’s equation method, accomplish a better piece of work and discover truths not accessible to professional philosophers. D[escartes] got this idea, as I show, through the influence of contemporary application of machinery. In a special chapter I give a history of machinery from the thirteenth to the seventeenth century and show that already before Descartes, notions were prevailing in daily life according to which macrocosm and microcosm were conceived of as machines.“

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‚Innewerdenʻ von allgemeingebräuchlichen Abstraktionen, bis hin zum Kausalitätsbegriff selber.28 Wie diametral anders (verglichen mit Grossmann) die Diskussion über den cartesianischen Dualismus ausfällt, wenn sie begriffsgeschichtlich behandelt wird, zeigt Borkenau. ‚Begriffsgeschichtlichʻ heißt zunächst einmal, dass die Beweisführung das ‚Materialʻ nicht axiomatisch-deduktiv, sondern narrativ behandelt, als in und durch die Zeit sich verändernde Symbolsysteme. ‚Übergangʻ heißt dann nicht etwas naturwissenschaftlich zu ‚entdeckenʻ, sondern etwas hermeneutisch nachzuvollziehen: der „Konstellationen gewahr werden“, hieß das bei Benjamin. Das Bewusstsein ‚erkenntʻ sich selber in lang zurückliegenden Ereignissen, Schicksalen, Konflikten, stereotyp wiederkehrenden anthropologischen Grunderfahrungen. (Gewissermaßen antizipiert die Grossmann/Borkenau-Kontroverse jene Auseinandersetzung, die später in Habermas’ „Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik“ wiederkehren wird.) ‚Positivismuskritischʻ ist Borkenaus Übergang in dem Sinne, dass für Pascal der cartesianische Dualismus ein geistiges Durchgangsstadium markiert, das erst in alle Richtungen ausgelotet und entfaltet wird, um danach als unbefriedigend und durchschaut zurückgelassen zu werden. Autonomes Ich hier, objektivierte ‚Weltʻ dort: Das ist eine welthistorische Errungenschaft, den Übergang vom Mythos zum Logos markierend, schwer errungen, nach jahrhundertelangen Real- und Religionskriegen zum ersten Mal in der niederländischen Verfassung verankert, dort zum ersten Mal positiv-rechtlich unter Schutz gestellt. In dem Pascal gewidmeten Kapitel von Borkenaus Buch wird dies ausführlich dargestellt. Borkenaus Umgang mit dem Thema ‚Descartesʻ, in seiner diametralen Gegensätzlichkeit, könnte jedenfalls nicht deutlicher sein. Wo Grossmann nicht weit davon entfernt ist, aus Descartes einen Helden der Arbeit zu machen, ist bei Borkenau ‚Descartesʻ eher eine Durchgangsstation auf dem Wege in Richtung Negative Dialektik oder Negative Anthropologie. „Er ist der Entdecker der negativen Dialektik. Er zeigt die Widersprüche im Sein und im Denken. Die positive Dialektik, die eine dialektische Logik als Form, das Wissen um die historische Bedingtheit der Widersprüche als Inhalt voraussetzt, konnte er nicht geben.“ Dies ist keine Beschreibung der Negativen Dialektik von Adorno, sondern eine Charakterisierung Borkenaus von Pascal (Borkenau [1934] 1976, 524). Die Frage ist eigentlich nicht, weshalb es so lange gedauert hat, Grossmann des abstrakten Materialismus zu überführen. Vielleicht ist das nicht einmal die

28Vgl.

das Kapitel „Kausalität als Bann“ in Adorno [1966] 1970, 264.

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richtige Charakterisierung seiner Position. Aber ein Moment davon ist für die Nachkriegsdiskussion entscheidend geblieben: das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität in der Geschichtsschreibung, und deshalb für die Frage, wie ‚Reflexionʻ zu bestimmen sei. Sie müsste vielleicht so gestellt werden: Versteht man die „wissenschaftliche Mechanik“ dadurch, dass man sie etwa mit Leonardo da Vinci oder der Geschichte der Astronomie, Physik, Anatomie oder irgendeiner anderen Disziplin anfangen lässt – das heißt, dass man die Geschichte der Technik und die Geschichte der Naturwissenschaften ‚in einsʻ setzt –, oder eher umgekehrt, das ‚Wissenschaftlicheʻ und das ‚Mechanischeʻ gar nicht von Anfang an als Einheit betrachtet, sie eher trennt, ihre Verbindung nicht einfach voraussetzt, sondern ebendiese ‚Verbindungʻ ganz anderswo sucht, wie Borkenau das tut, nämlich in der „größten, tiefgreifendsten, erfolgreichsten Revolution, [...] dem Befreiungskampf der Niederlande“ (Borkenau [1934] 1976, 132)? Grossmann folgt der ersten Argumentationslinie, Borkenau der zweiten. Beide beanspruchen, die „Genesis des Kapitalismus“ verständlich zu machen. Die niederländische Rezeption der Dialektik der Aufklärung ist deshalb mehr als nur ‚Rezeptionʻ oder ‚Ideengeschichteʻ, obschon beide, in jeder nur wünschbaren Vertiefung, in ihr anzutreffen sind. In Holland lässt sich noch am ehesten jene ‚doppelte Bewegungʻ in der Dialektik der Aufklärung – dem Buch – sowohl nachvollziehen wie durchführen: a) In der Absetzung gegen den Marxschen Positivismus lässt sich zeigen, dass das Abstrakt-Formelhafte an der Kritik der politischen Ökonomie – die abstrakte Handhabung des ‚Basis/Überbauʻ-Schemas – in der Sache, das heißt in der historisch-politischen Rekonstruktion der Staatsgründung unter den Oraniern, sich nicht mehr aufrechterhalten lässt. Eine klare Trennung zwischen objektiven Produktivkräften und subjektiven Produktionsverhältnissen muss sich selber dort aufheben, wo sie sich selber, als Trennung, als damalige Geisteshaltung begegnet. Das ist jedenfalls Borkenaus These, dass die frühholländische ‚Ideologieʻ schon alle Merkmale dessen aufweist, was in späteren Jahrhunderten ‚die Moderneʻ genannt wird, angefangen mit dem Freiheits- und Objektivitätsbegriff. b) Gleichzeitig ist noch am ehesten in den Niederlanden eine Dynamik ‚nachzukonstruierenʻ, die bis zum heutigen Tag andauert: die zwischen Handel, Industrie, Krieg, Wissenschaft und Kapitalakkumulation. *

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Im Rembrandthaus stehend, in der Jodenbreestraat, wo noch Spinoza als Kind gespielt hat, nur einen Steinwurf von der Stelle entfernt, wo er später aus der Synagoge ausgeschlossen wurde – er war zehn, als Rembrandt 1642 die ‚Nachtwacheʻ malte –, geht es einem auf, dass ‚Aufklärungʻ hier verstehen zu wollen, eigentlich heißt: Bilder lesen zu lernen, sie als ‚Fahrzeugeʻ über die Zeit wahrzunehmen, Metaphern aus ferner Zeit transportierend – wie Aby Warburg das gelehrt hat, ‚Bilderfahrzeugeʻ. Die Spannung, die sich hier aufbaut, ist die zwischen Reformation und Renaissance29; man käme weiter, wenn man jene ‚Nachtwacheʻ mit Raphaels ‚Athener Akademieʻ vergleichen würde, und der darin unverkennbaren Verinnerlichung nachgehen würde, die Erasmus zufolge in der Renaissance fehlte (Wesseling 2001). In der Dialektik der Aufklärung ist die psychoanalytische Begrifflichkeit eher implizit vorhanden, die Frage der Historisierung der Freudschen Ansichten – die Anwendbarkeit der Psychoanalyse auf die Geschichte ‚insgesamtʻ – allerdings allgegenwärtig. Wie ‚Materialismusʻ zu bestimmen sei, mit Marx oder mit Freud, hat nie aufgehört, die Horkheimer-Gruppe zu entzweien. Ein wesentliches Moment dieser Auseinandersetzung war die ‚Erklärungʻ des Ineinandergreifens von Theologie und politischem Kampf während des holländischen Unabhängigkeitskrieges, das heißt während des ‚Übergangesʻ vom ‚Feudalismusʻ zum ‚Kapitalismusʻ, ob man diesen Übergang nun mit Marx oder mit Hegel und Freud bestimmt. Wie die Geschichte zu erklären und die Gerechtigkeit zu bewerkstelligen sei (wie sie ‚symbolisiertʻ, von wem verkörpert und ‚vertretenʻ werden darf, und mit welcher Begründung) – das war in Dordrecht und Westminster im 16. und 17. Jahrhundert nicht weniger umstritten als in Genf, New York und San Francisco drei- oder vierhundert Jahre später.

Literatur Adorno, Theodor W. 1972. Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? In: Gesammelte Schriften, Bd. 8. Hrsg. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 354–370. Adorno, Theodor W. 2012a. Zonder richtlijn. Parva aesthetica. (Übers. Mark Wildschut). Amsterdam: Boom.

29Der

‚Positivismusʻ (d. h. jener naturwissenschaftliche ‚[Anti-]Geistʻ, wogegen die ‚Frankfurterʻ vierhundert Jahre später meinten mobilisieren zu müssen), ist hier im ‚status nascendiʻ; er ist von Seefahrt, Navigation, Astronomie, Handel und Krieg nicht loszulösen.

Die Dialektik der Aufklärung in den Niederlanden

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Zur Rezeption der Dialektik der Aufklärung in den USA und Großbritannien Lars Fischer

Die Geschichte der Rezeption der Dialektik der Aufklärung in den USA und Großbritannien ist, im doppelten Sinn, ganz überwiegend eine Geschichte ihrer Nichtrezeption.1 Zum einen hat dieser Text in der Rezeption der Kritischen Theorie in der Regel eine marginale Rolle gespielt, zum anderen hat auch

1Mir geht es in diesem Aufsatz um die Darstellung allgemeiner Trends und Entwicklungen. Dass sich dabei an etlichen Stellen auch auf (weitere) Ausnahmen verweisen ließe, ist mir bewusst, dafür bietet ein Überblick dieser Länge aber nicht genügend Raum. Jene Kolleginnen und Kollegen, denen ich damit Unrecht tue, kann ich nur um Verzeihung bitten. In diesem Aufsatz nutze ich den Begriff „englischsprachig“ in Ermangelung einer praktikablen Alternative nur mit Blick auf die Vereinigten Staaten und Großbritannien. Welche Kolleginnen und Kollegen in diesen Kontext gehören, habe ich nicht anhand ihres Passes oder ihrer Herkunft, sondern je nach ihrer (hauptsächlichen) Wirkungsstätte zum jeweiligen Zeitpunkt entschieden. Noch ein Wort zur Auswahl der behandelten Autorinnen und Autoren: Sie ist teils systematisch, teils pragmatisch, teils willkürlich bzw. subjektiv gewesen. Ich bin beispielsweise sämtliche bei jstor.org verfügbaren Texte bis zur Jahrtausendwende durchgegangen, in denen der Volltextsuche zufolge entweder die Dialektik der Aufklärung oder die Dialektik der Aufklärung erwähnt wurden (insofern war es für mich in gewisser Weise ein Segen, dass die Dialektik nur eine relativ geringe Beachtung gefunden hat). Hinzu kamen die mir bereits bekannte Literatur und diejenigen Autorinnen und Autoren, die dort besonders häufig erwähnt werden. Mit der abschließenden Auswahl der tatsächlich zitierten bzw. diskutierten Autorinnen und Autoren habe ich versucht, eine Balance zu schaffen zwischen jenen, die einerseits nach allgemeinem und/oder meinem eigenen Dafürhalten „objektiv“ besonders wichtig (gewesen) sind, und andererseits jenen, deren Beiträge ich besonders interessant, instruktiv, anregend oder, in manchen Fällen, witzig fand.

L. Fischer (*)  UCL Hebrew & Jewish Studies, London, Großbritannien E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schmid Noerr und E.-M. Ziege (Hrsg.), Zur Kritik der regressiven Vernunft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22411-0_14

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dort, wo er erwähnt oder auf ihn Bezug genommen wurde, selten eine substanzielle Auseinandersetzung mit ihm stattgefunden. Marcel Stoetzler hat in einem jüngst erschienen Handbuchartikel über die Dialektik der Aufklärung darauf hingewiesen, dass es zwar jede Menge Sekundärliteratur zur Dialektik gebe, die meisten Beiträge sich aber jeweils nur mit einem bestimmten Aspekt oder Kapitel des Buchs beschäftigen. Dabei werde meist metatheoretisch argumentiert und der Text selten im Detail analysiert (Stoetzler 2018a, 142). Dies trifft auf die Rezeption der Dialektik in den USA und Großbritannien allemal zu. Allzu oft fungiert sie dort in erster Linie (wenn nicht gar ausschließlich) als „Schwellenschrift […] an der sich die vermeintlich ‚gute‘ frühe Kritische Theorie von der ‚schlechten‘ späten schied“ (Zwarg 2017, 383). Der erwähnte Beitrag Stoetzlers findet sich in dem von Beverley Best, Werner Bonefeld und Chris O’Kane herausgegebenen dreibändigen SAGE Handbook of Frankfurt School Critical Theory. Der Titel mag deutschsprachige Leserinnen und Leser etwas verwundern. Wozu der Hinweis auf die Frankfurter Schule, wenn es sich doch um ein Handbuch zur Kritischen Theorie handelt? Doch wird der Begriff „Kritische Theorie“ in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich wesentlich weiter gefasst. Der Begriff Kritische Theorie, so der an der Purdue University in Indiana lehrende Dino Franco Felluga in seiner Einleitung zu dem Band Critical Theory. The Key Concepts, bezeichne „die theoretische Analyse der Kultur insgesamt und vereint eine Denktradition, die von den Strukturalisten der Moderne bis zu den Dekonstruktivisten und postmodernen Theoretikern der letzten 50 Jahre reicht“ (2015, XXIV). So kommen in dem Band Adorno 20 mal, Horkheimer 21 mal und die Dialektik der Aufklärung fünfmal vor. Zum Vergleich: Foucault bringt es auf 159 Erwähnungen, Lacan auf 200 und Spivaks Aufsatz „Can the subaltern speak?“ immerhin auf acht, wobei dieser im Gegensatz zur Dialektik auch tatsächlich zitiert und nicht nur nebenbei erwähnt wird. Im Routledge Companion to Critical Theory (Malpas und Wake 2006) finden sich 57 Hinweise auf Adorno, 30 auf Horkheimer und kein einziger auf die Dialektik der Aufklärung. Žižek dagegen wird 63 mal, Foucault 121 mal und Derrida 199 mal erwähnt. In Lois Tysons critical theory today. A User-Friendly Guide (2006) kommen weder Adorno, noch Horkheimer, noch die Dialektik der Aufklärung vor. In Alan Hows Critical Theory (2003) wird die Dialektik der Aufklärung zweimal erwähnt und damit ebenso oft wie beispielsweise Francis Ford Coppolas The Godfather. Über Habermas gibt es dagegen ein ganzes Kapitel. Unter den 32 Texten in Douglas Tallacks Critical Theory: A Reader (1995) findet sich jeweils ein Text von Adorno, Benjamin, Marcuse (und Habermas). Ansonsten von der Frankfurter Schule keine Spur. Die Dialektik der Aufklärung wird in dem 507seitigen Reader insgesamt viermal erwähnt.

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Doch auch, wenn wir uns dezidiert der Rezeption der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule zuwenden, ist es um die Dialektik der Aufklärung nicht allzu gut bestellt. Es gibt inzwischen zwei ausführlichere Darstellungen zur Rezeption der Kritischen Theorie in den USA: Thomas Wheatlands Studie, The Frankfurt School in Exile (2009), die sich neben der Exilzeit auch mit der Rezeption und Rolle Marcuses in der amerikanischen Neuen Linken beschäftigt, und Robert Zwargs Die Kritische Theorie in Amerika. Das Nachleben einer Tradition (2017).2 Zwarg befasst sich mit der Rezeption der Kritischen Theorie in den für ihre Vermittlung entscheidenden amerikanischen Zeitschriften Telos und New German Critique bis etwa 1990. Im rezeptionsgeschichtlichen Teil der Studie Wheatlands wird die Dialektik der Aufklärung kurz im Zusammenhang mit Marcuses One-Dimensional Man erwähnt, es wird aber sehr deutlich, dass sie zumindest für die anfängliche Rezeption der Frankfurter Schule in den USA (jenseits der Authoritarian Personality) keine Rolle spielte. In Zwargs Darstellung des „Nachlebens“ der Frankfurter Schule in den Vereinigten Staaten kommt die Dialektik der Aufklärung, wenn ich mich nicht verzählt habe, genauso oft vor wie Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein (auf insgesamt 464 Seiten 25 mal). Dass die Dialektik der Aufklärung in diesen beiden Studien keine nennenswerte Rolle spielt, liegt dabei gewiss nicht an Wheatland oder Zwarg. Zum Vergleich: In Patricia Mooney Nickels North American Critical Theory after Postmodernism (2012), das aus ausführlichen Selbstauskünften von Ben Agger, Andrew Arato, Robert J. Antonio, Seyla Benhabib, Craig Calhoun, Nancy Fraser, Douglas Kellner und Timothy W. Luke besteht, wird die Dialektik der Aufklärung auf insgesamt 249 Seiten zehnmal genannt (davon dreimal von Ben Agger, einmal in der Bibliografie und einmal im Register). Auch in einer der „beiden ersten großen Abhandlungen, die das Werk Adornos einem englischsprachigen Publikum vorstellten“ (Zwarg 2017, 27), Fredric Jamesons Marxism and Form (1971), einem immerhin 432seitigen Werk, wurde die Dialektik der Aufklärung kein einziges Mal erwähnt. In seinem vorangegangenen 41seitigen Aufsatz von 1967, „T. W. Adorno, Or, Historical Tropes“, der Jay zufolge die Rezeption der Kritischen Theorie in den USA einleitete (1984, 167), erwähnte Jameson die Dialektik der Aufklärung immerhin einmal in einer Fußnote (1967, 40).

2Hinzu

kommen noch einige kleinere Arbeiten, beispielsweise von Kellner und Roderick (1981), Jay (1984), Arato (1986) und Hohendahl (1995).

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1 Das Übersetzungsproblem Dass es erst 1972 zur Veröffentlichung einer englischen Übersetzung der Dialektik der Aufklärung kam, hat ihre breitere Rezeption in den USA und Großbritannien unweigerlich hinausgezögert. „In unserem Zeitalter der Raumfahrt und elektronischen Übersetzungsprogramme stellt es ein intellektuelles Rätsel dar, dass Meilensteine der Sozialwissenschaft nicht schneller übersetzt werden“, schrieb Zoltán Tar 1975, verständliche Ungeduld mit wundersamer Technikgläubigkeit bzw. beachtlichem technischem Unverstand verbindend, zu Beginn einer Sammelbesprechung der in den vorangegangenen Jahren erschienenen Übersetzungen von Schlüsseltexten der Kritischen Theorie (1975, 629–30). Bedenke man, dass es ein halbes Jahrhundert gedauert habe, bis Webers Wirtschaft und Gesellschaft und Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein übersetzt worden seien, und dass Simmels Philosophie des Geldes noch immer nicht in einer englischsprachigen Ausgabe zur Verfügung stehe, müsse man aber wohl zufrieden sein, dass es mit der Übersetzung (unter anderem) der Dialektik der Aufklärung so schnell gegangen sei. „Dieses glückliche Ereignis“ sei, so Tar, „eines der wenigen positiven Nebenprodukte der Studentenrevolte, zum Teil wohl, weil die Veröffentlichung ‚radikal-subversiver‘ Literatur sich zeitweilig als profitables Unterfangen erwiesen hat“ (1975, 630). Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass Adorno sich in seinem Beitrag für den von Donald Fleming und Bernard Bailyn herausgegebenen Band, The Intellectual Migration. Europe and America, 1930–1960 (1969), darüber beklagte, dass die Dialektik der Aufklärung „bis jetzt noch nicht ins Englische übertragen“ worden sei. Dies sei insofern bedauerlich, als „das Buch am ehesten einem Mißverständnis vorbeugt, dem die ‚Authoritarian Personality‘ von Anbeginn sich ausgesetzt sah, und an dem sie, durch ihre Akzentsetzung, nicht ganz unschuldig sein mochte: daß die Autoren versucht hätten, den Antisemitismus, und darüber hinaus den Faschismus insgesamt, lediglich subjektiv zu begründen, dem Irrtum verfallen, dies politisch-ökonomische Phänomen sei primär psychologischer Art. […] Die ‚Elemente des Antisemitismus‘ haben theoretisch das Rassevorurteil in den Zusammenhang einer objektiv gerichteten, kritischen Theorie der Gesellschaft gerückt. Allerdings haben wir dabei, im Gegensatz zu einer gewissen ökonomistischen Orthodoxie, uns gegen Psychologie nicht spröde gemacht, sondern ihr, als einem Moment der Erklärung, in unserem Entwurf ihren Stellenwert zugewiesen.“ (Adorno [1969] 1998, 722)

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Die erste englischsprachige Ausgabe der Dialektik der Aufklärung, von John Cumming übersetzt, erschien schließlich 1972 bei Herder and Herder in New York und 1973 bei Allan Lane in London. Für eine breitere Rezeption des Werks im englischsprachigen Raum war damit eine entscheidende Hürde genommen. Doch gab die Übersetzung zu allerlei Beschwerden Anlass. Am prononciertesten hat sich zu dieser Frage wohl Robert Hullot-Kentor geäußert. Jede (neuerliche) Beschäftigung mit Adorno, so Hullot-Kentor in einem ursprünglich 1989 veröffentlichten Aufsatz, „Back to Adorno“, müsse sich „mit dem Schaden auseinandersetzen, der seinen Schriften durch unzureichende Übersetzungen zugefügt worden ist“. Dies sei insbesondere bei der Dialektik der Aufklärung der Fall, die durch Cumming in besonderem Maße „inhibiert“ worden sei (Hullot-Kentor [1989] 2006, 24). Zwar sei an der Übersetzung vieles auch gut, ja mitunter, behauptete er tollkühn, „verbessert sie sogar das Original“ (Hullot-­ Kentor [1989] 2006, 278). Dennoch gebe es mit ihr so viele gravierende Probleme, dass man das Buch „letztlich nicht ernsthaft studieren kann“. Das größte Problem liege in der Tatsache, dass für den Begriff „Vertretung“ statt „substitution“ „representation“ gesetzt worden sei. Dies sei zwar an sich kein Fehler, mache es aber unmöglich, die für die Dialektik als Ganzes wichtige Theorie des Opfers zu verstehen (Hullot-Kentor 1992, 107; für andere Beispiele siehe Hullot-Kentor [1989] 2006, 278 ff.). Mit der Neuübersetzung von Edmund Jephcott, die 2002 bei Stanford University Press herauskam, sind etliche Probleme behoben worden, doch ist die Kuh damit noch nicht vom Eis. Stoetzler hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass die Überschrift des vierten Kapitels im Original „Kulturindustrie“ laute, in beiden Übersetzungen aber „The Culture Industry“ (also mit bestimmtem Artikel). So werde das Missverständnis genährt, es handele sich bei „‚der Kulturindustrie‘ um eine bestimmte, fest umrissene Sphäre der kulturellen Produktion, etwa im Sinne der ‚Populärkultur‘“ (Stoetzler 2018a, 156). James Schmidt hat in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die bereits bei der Übersetzung des Begriffs Aufklärung entstehen. Der deutschen Leserin bleibe es im Zweifelsfall selbst überlassen zu entscheiden, ob es im Text jeweils um „die Aufklärung“ im historischen Sinn oder um Aufklärung in einem umfassenderen Sinn gehe. Für den englischen Leser hat der Übersetzer diese Entscheidung wohl oder übel bereits getroffen. An einem konkreten Beispiel zeigt Schmidt, dass Cumming und Jephcott dabei keineswegs immer zu dem gleichen Schluss gelangt sind (2018, 15). Relevant ist diese Frage, weil so die Möglichkeit besteht, dass Aussagen, die sich gar nicht auf „die Aufklärung“ als historisches Phänomen beziehen und in diesem Kontext auch fragwürdig wären, dennoch als solche begriffen werden. Schmidt argumentiert, dass diese

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­ erwechslung der herben Kritik zahlreicher englischsprachiger Ideengeschichtler V an der Dialektik der Aufklärung durchaus in einem bedeutsamen Maße zugrunde liegen könnte. Die Dialektik „mag wenig mit ‚der Aufklärung‘ zu tun haben, die von Historikern erforscht worden ist“, folgert Schmidt, „doch hat sie mit ihren Hoffnungen sehr viel zu tun“ (2018, 26).3 Noch viel größere Verständnisprobleme (wenn auch nicht streng sprachlicher Art) wirft ganz offensichtlich der Begriff Dialektik auf. Wie Stoetzler in seinem Beitrag zu diesem Band klarstellt, bietet die Dialektik der Aufklärung genau, „was der Titel verspricht: eine Untersuchung der Dialektik, nicht des Scheiterns der Aufklärung“ (2018b, 179). Bei genauer Lektüre der Dialektik ergebe sich, dass „Fortschritt, als Fortschritt der Herrschaft, auch den Fortschritt der Negation von Herrschaft bedeutet — genau das meint ja die Formulierung ‚Dialektik der Aufklärung‘“ (Stoetzler 2018a, 151). Dies würde man der Art, in der im englischsprachigen Raum in der Regel über die Dialektik der Aufklärung diskutiert wird, allerdings nur mit Mühe entnehmen. Es ging und geht also um mehr als die Überwindung der sprachlichen Barriere. Die Kritische Theorie muss(te) nicht nur einem „english-speaking“, sondern auch einem „english-thinking“ Publikum nahegebracht werden (Pearson 1974, 111). Stephen Brockmann, der seit 1993 als Germanist an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh lehrt, hat diese Problemlage meines Erachtens recht treffend wie folgt zusammengefasst: „Es gibt dafür zweifellos mehrere Gründe: die berüchtigte Unzugänglichkeit des deutschen philosophischen Stils; der Schwierigkeitsgrad der deutschen Sprache an sich; eine anti-‚politische‘ Voreingenommenheit, die vermutet, die deutsche Philosophie sei ein allzu heißes Eisen; die so große Widerstandsfähigkeit des amerikanischen Optimismus gegen den deutschen Pessimismus; die anglo-amerikanische Tradition der empirischen Philosophie, die die kontinentale Tradition ganz allgemein mit Misstrauen, ja mit Verachtung betrachtet, sich aber eher noch mit dem kartesischen Frankreich abfinden kann als dem Kantischen, Hegelschen und Schopenhauerschen Deutschland. Entscheidend waren jedoch vermutlich die beiden Weltkriege. Vor 1945 und allemal vor 1914 war die deutsche philosophische Tradition an amerikanischen Universitäten stark vertreten; seit 1945 ist dieser

3Noch

2003 sah sich der in Trinidad and Tobago geborene britische Soziologe Krishan Kumar, der seit 1996 einen Lehrstuhl für Soziologie an der University of Virginia in Charlottesville innehat, genötigt, einen Leserbrief an das Times Literary Supplement zu schreiben, um zu monieren, dass ein derart renommierter Wissenschaftler wie George Steiner den Titel der Dialektik nach wie vor mit Dialectic of the Enlightenment angebe (2003).

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­ influss so gut wie verschwunden, es gibt ihn am ehesten noch auf Umwegen über E Frankreich“ (Brockmann 1995, 102). Viele dieser Schwierigkeiten verdeutlichte schon eine der ersten Besprechungen der 1947 in Amsterdam bei Querido herausgebrachten deutschsprachigen Ausgabe der Dialektik der Aufklärung. Sie wurde 1949 in Books Abroad veröffentlicht und stammt von Bayard Q. Morgan, der im Vorjahr nach fünfzehn Jahren an der Spitze des Germanistischen Instituts in Stanford emeritiert worden war (Roeming 1967, 173). Es lohnt sich, sie zur Illustration des ganzen Ausmaßes seines wohl relativ repräsentativen Unverständnisses in Gänze zu zitieren: „Dieses Buch bietet so viele Einsichten und vernünftige Urteile, dass ich die meines Erachtens mangelnde Wahrscheinlichkeit, dass es auch nur die Schwelle zum Bewusstsein jener überqueren wird, die von seiner Botschaft am meisten profitieren würden, sehr bedaure. (1) Während Aufklärung (Rationalismus) auf ziemlich vernichtende Weise analysiert und entwertet wird, entwickeln die Autoren keine klare Idee, was der moderne Mensch tun soll, um seine bedauerliche Situation zu verbessern. (2) Einzelne unzusammenhängende Aufsätze zu lesen, ist ohnehin schwierig genug. Dass man es hier mit fragmentarischen Aufsätzen zu tun hat, ist vollends entmutigend, da man nie sicher sein kann, ob der Autor mit sich ins Reine gekommen ist. (3) Die Aufsätze sind in einem Stil geschrieben, dessen sich deutsche Autoren nur allzu oft bedienen, wenn es um Themen wie Philosophie, Ethik, die Sozialwissenschaften und dergleichen geht. Bestenfalls ist er schwerverständlich, schlimmstenfalls ist er für den Laien so gut wie unverständlich. Philosophisch scheint es fragwürdig, auf der Grundlage der amerikanischen Filmindustrie eine Theorie der modernen Zivilisation zu entwickeln, wie dies in dem (unvollendeten) Kapitel über Kulturindustrie geschieht. Meines Erachtens wäre es besser gewesen, die Autoren hätten mit der Veröffentlichung gewartet, bis ihre Fragmente zur Vollendung herangereift und sie in der Lage gewesen wären, ihrem negativen Bild das Angebot eines positiven Programms gegenüberzustellen.“ (Morgan 1949, 392)

2 Marxismus, Praxis und die Neue Linke in den USA Auf eine ausführlichere Darstellung der Rezeption der Dialektik der Aufklärung in der ab Ende der 1960er Jahre zum Zuge kommenden Neuen Linken werde ich in diesem Kapitel aus mehreren Gründen verzichten. Zum einen lässt sich diese Rezeption nun zum großen Teil in Robert Zwargs Studie (2017) nachlesen. Zum zweiten findet in der Neuen Linken in dieser Zeit, wie schon erklärt, so gut wie keine ernst zu nehmende Rezeption der Dialektik statt. Zum dritten stellte sich zu

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meiner Überraschung heraus, dass entscheidende Frontstellungen (und zum Teil auch das beteiligte Personal) sich bis heute, wie wir noch sehen werden, letztlich kaum verändert haben. Im Mittelpunkt standen und stehen dabei drei entscheidende Fragen: 1) Wie marxistisch war die Frankfurter Schule und (wann) hörte sie auf, es zu sein? 2) Wie hielt die (spätere) Frankfurter Schule es mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis? 3) Wie „pessimistisch“ war die spätere Frankfurter Schule? Zu einer Zeit, da manche meinten, die Ideen der Frankfurter Schule seien „in den revolutionären Kämpfen, die die bürgerliche Welt heimsuchen, zu einer materiellen Kraft“ geworden (Kellner 1975, 131), wog die Praxisfrage verständlicherweise schwerer, als das aus heutiger Sicht vielleicht unmittelbar einsichtig ist. Wie schon erwähnt, fungierte die Dialektik der Aufklärung in diesen Auseinandersetzungen fast immer als „Schwellenschrift, […] an der sich die vermeintlich ‚gute‘ frühe Kritische Theorie von der ‚schlechten‘ späten schied“ (Zwarg 2017, 383).4 Dazu war eine tatsächliche Auseinandersetzung mit dem Text nicht erforderlich und sie erfolgte in der Regel auch nicht. Es wird vielen Menschen heute vielleicht nicht mehr eingängig sein, wie eng zu Hochzeiten der Neuen Linken in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren (und zum Teil auch noch darüber hinaus) deskriptive und normative Aussagen über die erwähnten drei Kernfragen oft miteinander verquickt waren. Schon die Behauptung, dass man zwischen dem Deskriptiven und dem Normativen überhaupt sinnvoll unterscheiden könne, wäre damals heftig umstritten gewesen, und auch das Eingebundensein in universitäre Strukturen schien vielen, die sich mit der Kritischen Theorie beschäftigten, deren Priorität aber emphatisch auf der Praxis lag, die Verlässlichkeit von Autoren, die sich zur Frankfurter Schule äußerten, automatisch infrage zu stellen. Jenseits der zum Teil berechtigten Kritik ist der Schlagabtausch zwischen Russell Jacoby und Martin Jay in gewisser Weise typisch für diese Form der Auseinandersetzung (Jacoby 1974; Jay 1975; Jacoby 1975). Als Universitätshistoriker, so Jacoby, müsse Jay garantieren, dass sein Thema „tot und vergangen sei“. Er wolle die Kritische Theorie zwar darstellen, sie zugleich aber auch abschreiben (Jacoby 1974, 231) und die Frankfurter Schule „für Demokraten und Historiker sicher machen, indem er ihr bescheinigt, sie habe mit Marxismus nichts zu tun“ (Jacoby 1974, 232). Man muss also bei diesen Auseinandersetzungen immer sehr genau darauf schauen, welcher Art von

4Zur

Abwegigkeit der These von einer Abkehr der Frankfurter Schule vom Marxismus, sofern man ihn nicht auf seine sozialdemokratische oder parteikommunistische Ausprägung reduziert, siehe u. a. Ziege (2009), Stoetzler (2018a) und meinen Aufsatz zu „Antisemitism and the Critique of Capital“ im SAGE Handbook (Fischer 2018).

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Marxismus oder Praxis die Frankfurter Schule sich entweder verschrieben oder entzogen haben soll, und an welchem Maßstab der Grad ihres „Optimismus“ oder „Pessimismus“ jeweils gemessen wird. Diese Probleme lassen sich beispielhaft an der oft vorgetragenen Kritik illustrieren, Martin Jays Dialektische Phantasie habe das anfängliche Interesse der Frankfurter Schule am Marxismus und/oder ihren späteren Abfall vom Glauben entweder zu ausführlich oder nicht ausführlich genug dargestellt. Die Bedeutung dieser Monografie Jays für die Vermittlung der Kritischen Theorie nicht nur an ein amerikanisches bzw. englischsprachiges Publikum kann kaum überschätzt werden (das Buch ist inzwischen in dreizehn Sprachen übersetzt worden).5

5Eine englische Übersetzung von Rolf Wiggershaus’ Standardwerk erschien 1994 bei polity und MIT Press als The Frankfurt School. Its History, Theories, and Political Significance (1994). Seiner breiteren Rezeption dürfte schon seine Länge im Weg gestanden haben. Wiederholt wurde es in Besprechungen als „sprawling“ (siehe beispielsweise Schneck 1996, 176, 180; Congdon 1995) beschrieben, was in diesem Zusammenhang so viel wie „ausufernd“ heißt. Aufgrund der anderen Kultur der Geisteswissenschaften in den USA und Großbritannien, die weniger auf Vollständigkeit ausgerichtet ist und viel eher auf übersichtliche Mengen besonders prägnanter und instruktiver Beispiele und Fallstudien, aus denen sich klare Argumente ergeben, wird ein Werk von solcher Länger bis zum nachdrücklichen Erweis des Gegenteils mehr oder weniger automatisch für maßlos gehalten. So verwies Terry Eagleton, obwohl insgesamt positiv in seinem Urteil, beispielsweise auf die „teutonische Gründlichkeit“ des Werks (1994). Auch wegen seiner „geradezu enzyklopädischen Gründlichkeit“ wurde Wiggershaus’ Buch als mögliche Einführung wiederholt als zu anspruchsvoll für diejenigen bezeichnet, die nicht ohnehin schon über intensive Kenntnisse sowohl der Frankfurter Schule als auch der deutschen Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfügten (Brockmann 1995, 103; Calhoun 1995, 705). Zudem präsentiere Wiggershaus keine bestimmte Argumentation, so Eagleton, er verstehe sich eher auf die Beschreibung als die Analyse und eher auf die Analyse als die Beurteilung (1994). Das Buch sei „etwas mehr als eine Chronik der Ereignisse und etwas weniger als eine Ideengeschichte“, so Schneck (1996, 180). Wiggershaus enthalte sich jeder übergreifenden Interpretation („big interpretation“), so Paul Breines, was angesichts der Neigung Horkheimers und Adornos zu übergreifenden Interpretationen verwundere (1996, 841). Wer sich selbst wissenschaftlich intensiver mit der Frankfurter Schule beschäftigt, kommt um Wiggershaus selbstverständlich nicht herum, doch dürfte Richard Wolin in seiner Einleitung zu einem dem Werk gewidmeten Review Symposium der Zeitschrift Constellations (1995) wohl richtig gelegen haben, als er schrieb, das Buch werde „zu einem dauerhaften Bezugspunkt [point of reference] für künftige Studenten und Wissenschaftler werden, die sich mit der Kritischen Theorie beschäftigen“ (1995, 268). Sofern ich mich nicht täusche, dient Wiggershaus’ wiederholt als „monumental“ oder als „Kolossus“ (Breines 1996, 840) beschriebene Geschichte der Frankfurter Schule in erster Linie als Informationsquelle und wird eher selektiv als Nachschlagewerk genutzt, als in seiner Gesamtheit gelesen und durchgearbeitet. Ihr systematischer Einfluss dürfte daher insgesamt

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Zugegeben, Jay hatte nur begrenzten Zugang zu den inzwischen in großem Umfang verfügbaren Primärquellen und seine mitunter etwas bedächtige Darstellung endet mit der Rückkehr Horkheimers und Adornos nach Deutschland. Auch ist sein Buch gewiss kein eigenständiges Meisterwerk der Gesellschaftstheorie, schon, weil das gar nicht Jays Absicht war. Doch gerade für Leserinnen und Leser, die sich neu mit der Frankfurter Schule beschäftigen, bietet Jays Dialektische Phantasie nach wie vor die beste Grundlage für die weitere Beschäftigung mit der inzwischen umfangreichen Sekundärliteratur. Überwiegend ist die heftige Kritik, die bei seinem Erscheinen gegen das Buch gerichtet wurde, wirklich nur noch aus dem historischen Kontext heraus zu begreifen, und sie besagt letztlich wohl mehr über die Kritiker als über Jays Buch. Allerdings beschrieb auch Jay die Entwicklung hin zur Dialektik der Aufklärung als eine Abkehr der Frankfurter Schule vom Marxismus. Diese habe ihren „sichtbarsten Ausdruck“ darin gefunden, dass sie „den Klassenkampf als Motor der Geschichte, jenen Eckpfeiler jeder wahrhaft marxistischen Theorie,

relativ gering (gewesen) sein. Die entscheidende Bedeutung der Studie Wiggershaus’ dürfte wohl darin bestanden haben, Horkheimer auch im Bewusstsein von Nichtspezialisten als entscheidenden Akteur zu verankern. Seine Leserschaft aber ist wohl ungleich kleiner (gewesen) als die von Jays Dialektischer Phantasie. Mit Blick auf die Dialektik der Aufklärung im Besonderen erklärte etwa der seit 1987 an der Loyola University in Chicago lehrende David Ingram, das „zentrale Leitmotiv“ von Wiggershaus’ Studie sei seines Erachtens die Tatsache, „dass es den beiden prominentesten Kritischen Theoretikern nicht gelang, ihre eigene kritische Perspektive zu internalisieren — und dass es ihnen folglich auch nicht gelang, in Zusammenarbeit mit anderen eine kohärente Theorie der Aufklärung zu organisieren und zu formulieren“ (1995, 274). Ähnlich meinte der im Vorjahr zum Philosophieprofessor an der St Louis University in Missouri gekürte James Bohman, das interessanteste an der „revisionistischen“ Schilderung Wiggershaus’ sei, dass man den Schilderungen Horkheimers und Adornos bezüglich ihrer eigenen Entwicklung und Motivation offenkundig nicht trauen dürfe. So hätten sie beispielsweise in der Dialektik der Aufklärung behauptet, sie trauten der Wissenschaft nicht mehr, seien aber selbst noch bis 1950 an empirischen Projekten beteiligt gewesen, standen also offenbar mit der Wissenschaft doch noch auf gutem Fuß (1997, 599 f.). Kellner sah sich durch Wiggershaus darin bestätigt, dass Horkheimer und Adorno in erster Linie an „rein theoretischen Projekten“ wie der Dialektik der Aufklärung interessiert gewesen seien (1995, 1370). Als ungleich ernsthafter sticht unter den unmittelbaren Reaktionen auf die Veröffentlichung der englischen Übersetzung von Wiggershaus’ Geschichte der Frankfurter Schule die Besprechung von Eli Zaretsky hervor, der sich insbesondere mit dem Verhältnis der Kritischen Theorie zur Psychoanalyse befasste und bemängelte, Wiggershaus habe in seiner Behandlung der Dialektik die Aneignung der Freudschen Theorie des Narzissmus nicht berücksichtigt (1995, 284).

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durch einen anderen ersetzte“ (Jay [1973] 1976, 300). Horkheimer und Adorno hätten sich zwar noch einer Sprache bedient, die an den Marxismus erinnert habe, so Jay, „die Antworten auf kulturelle Fragen“ jedoch „nicht mehr in der materiellen Basis der Gesellschaft“ gesucht ([1973] 1976, 303). Nicht nur habe die Frankfurter Schule „alle Spuren einer orthodox-marxistischen Theorie von Ideologie“ hinter sich gelassen, zudem habe sie gar noch nahegelegt, Marx selbst sei ebenfalls der Dialektik der Aufklärung erlegen (Jay [1973] 1976, 303). Die harsche Kritik Douglas Kellners an Jays Buch vermittelt einen instruktiven Eindruck der Diskussionen jener Zeit und hilft zugleich, gewisse Kontinuitätslinien deutlich werden zu lassen. Insgesamt, so Kellner, sei Jays Darstellung „irreführend und enttäuschend. Irreführend ist sie darum, weil sie das in der Arbeit des Instituts in den 1930er Jahren angelegte radikal-marxistische Programm nicht darstellt und daher eine irreführende Interpretation der Kritischen Theorie bietet“ (Kellner 1975, 131). Doch „nur, wenn man die ursprüngliche revolutionäre Konzeption der Kritischen Theorie klar ins Auge fasst“, so Kellner, „kann man die grundlegenden Veränderungen in den Positionen der Frankfurter Schule erfassen und interpretieren“ (1975, 144). Sie habe in den 1940er Jahren eine „überraschende“ Richtung eingeschlagen und sich von der früheren Kritischen Theorie „radikal verabschiedet“ (Kellner 1975, 144). Die neue Position sei dann am klarsten in der Dialektik der Aufklärung zum Ausdruck gekommen (Kellner 1975, 146). Horkheimer und Adorno hätten „jegliche revolutionäre Absicht preisgegeben“ (Kellner 1975, 146) und den „quietistischen und sogar mystischen Implikationen“ der Dialektik folgend „Passivität und Resignation“ propagiert. Die Dialektik der Aufklärung sei auch die Grundlage für Marcuses „katastrophale Geschichtsphilosophie in One-Dimensional Man“ gewesen, die Marcuse aber zum Glück schnell wieder aufgegeben habe (Kellner 1975, 147). Es mag etwas überraschen, dass Kellner den Abfall der Frankfurter Schule vom Marxismus dann als Folge der Intensivierung von Faktoren erklärte, die sich bereits in den 1930er Jahren gezeigt hätten. Schon damals sei „ihre Beziehung zum orthodoxen Marxismus“ problematisch gewesen (Kellner 1975, 148). Schon in den 1930er Jahren hätten „Horkheimer und seine Kollegen die Rolle des Proletariats als revolutionäre Kraft angezweifelt“ (Kellner 1975, 149). Genau hier wird das grundlegende Problem von Kellners Position deutlich. Sein Bezugspunkt war nicht der Marxismus, sondern der orthodoxe Marxismus. Dessen Limitierungen, sei es in seiner sozialdemokratischen oder seiner parteikommunistischen Lesart, zu überwinden, war schließlich spätestens seit Horkheimers Antritt als

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Direktor das erklärte Ziel des Instituts für Sozialforschung und dessen primärer Zweck. Von etwas, dem man von Anbeginn an nie verpflichtet war, kann man aber schwerlich abfallen. Selbst wenn die Frankfurter Schule anfangs dem orthodoxen Marxismus verpflichtet gewesen wäre, würde eine spätere Umorientierung an sich aber auch noch kein Verbrechen darstellen. Worin besteht hier also der Vorwurf, was genau soll hier gegen wen verteidigt werden? Wie Peter Hohendahl später anmerkte, sei die Kritik derjenigen aus der Neuen Linken, die das Interesse von Adorno und Horkheimer an der Dialektik der Aufklärung bemängelt hatten, wohl schon insofern ins Leere gelaufen, als „sie nicht gründlich genug darüber nachgedacht haben, ob die spätkapitalistische Gesellschaft der 1960er Jahre mit den Instrumenten des klassischen marxistischen Dogmas theoretisch noch erfasst werden konnte“ (Hohendahl 1992, 12). Der 2018 verstorbene Moishe Postone gehörte über Jahrzehnte hinweg zu jenen, die sich eben dieser Frage mit großer Ernsthaftigkeit zuwandten. Folgt man seiner Argumentation, die ich hier aus Platzgründen nicht im Einzelnen darstellen kann, liegt die Ironie bei alledem darin, dass Pollock, Horkheimer und Adorno mit ihrem Marxismus gerade deshalb in gewisse Schwierigkeiten gerieten, die sich dann auch in der Dialektik der Aufklärung offenbarten, weil sie dem orthodox-marxistischen Verständnis der Arbeit letztlich viel stärker verhaftet waren als sie selbst überhaupt begriffen (Postone 1993, 84–120; Postone und Brick 1993; Postone 2004; Postone 2017). „Dass eine angemessene kritische Theorie der Welt in ihrer heutigen Form weiterhin eine Kritik des Kapitalismus voraussetzt,“ darauf bestand Postone, „heißt jedoch nicht, dass man einfach auf die traditionelle Form dieser Kritik zurückgreifen kann“ – Kapitalismuskritik müsse heute mit den „fruchtbaren Anliegen der Frankfurter Schule“ integriert werden (Postone 2017, 139). Weiter warf Kellner Jay in seiner Besprechung vor, er sei „ein Ideengeschichtler in der Tradition seines Doktorvaters H. Stuart Hughes“ und teile dessen „abgehobenes Interesse an Briefen, persönlichen Beziehungen, Tratsch und Belanglosigkeiten“. Jays Darstellung sei „anekdotenhaft“. Statt sich „den schwierigen Herausforderungen der Gesellschaftstheorie und Kritik zu widmen“, so Kellner, sei Jay „seinem eigenen Faible für das Spiel der Ideen, seiner Neigung, sich in seine eigene dialektische Fantasie zu flüchten“, gefolgt (Kellner 1975, 144). Nicht genug damit, dass Jay den Marxismus der frühen Frankfurter Schule unterbelichtet habe, zudem habe er auch noch die jüdische Herkunft der Angehö­ rigen des Instituts übermäßig betont. Entscheidend sei doch wohl ihre politische

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Haltung und nicht ihre „ethnische Abstammung“ (Kellner 1975, 133) gewesen.6 Angesichts der Vehemenz von Kellners Kritik könnte man leicht den Blick dafür

6Die

Auffassung des Jüdischseins als einer vornehmlich oder ausschließlich „ethnischen“ Kategorie ist in der Linken seit langem eine beliebte Strategie, um der fortgesetzten Existenz von Juden (bzw. des Staats Israel) jegliche Legitimation abzusprechen. Ein besonders dramatisches Beispiel hierfür lieferten Paul Piccone und Russel Berman in ihrer Kritik an einer der drei Sonderausgaben „Germans and Jews“, mit der New German Critique 1980 auf den Rummel im Anschluss an die Ausstrahlung der Miniserie „Holocaust“ in der Bundesrepublik reagierte. Ausgehend von einer völlig berechtigten Kritik am kulturindustriellen Charakter von „Holocaust“ folgerten Piccone und Berman, die Reaktionen auf die Miniserie könnten nur kontraproduktiv sein. So würde ein „minimaler Antifaschismus“ genährt, der die Diskussion „auf den historischen Konflikt zwischen Nazis und Juden“ reduziere (Piccone/Berman 1980, 118) – als habe es hier je in irgendeinem ernst zu nehmenden Sinn zwei Konfliktparteien gegeben. Die Herausgeber und Autoren der New German Critique würden behaupten, dass „der Nationalsozialismus ausschließlich vom Blickwinkel der Dynamik zwischen Juden und Nazis [the Jewish-Nazi dynamic] aus erklärt werden“ könne (Piccone/Berman 1980, 119). Horkheimers Diktum sei dahin gehend abgewandelt worden, dass „wer vom Antisemitismus reden will, vom Kapitalismus schweigen sollte“ ((Piccone/Berman 1980, 114). So sei ein „Primat ethnischer, religiöser oder nationaler Merkmale“ etabliert worden. Jede Analyse, die die Juden nicht ausschließlich als Juden behandle, werde abgelehnt. Jene, die in der Kritischen Theorie jüdische Elemente zu erkennen meinten, glichen jenen Rechtsextremisten, die den Marxismus als „jüdische Wissenschaft“ bezeichneten, so Piccone und Berman. Die an und für sich lobenswerte Kritik am orthodoxen Marxismus, die sich gegen dessen Reduktion aller gesellschaftlichen Entwicklungen auf eine grob vereinfachende Vorstellung vom Klassenkampf richte, sei nun bedauerlicherweise in eine „ebenso grob vereinfachende Vorstellung vom Kampf der Ethnien gemündet“ ((Piccone/Berman 1980, 119). Dabei sei doch hinlänglich bekannt, dass alle ethnischen „Identitäten“ heute letztlich erfunden und also künstlich seien ((Piccone und Berman 1980, 127). Dies könne man in den „Elementen des Antisemitismus“ nachlesen. Schließlich hätten Horkheimer und Adorno dort eindeutig festgestellt, dass der Antisemitismus „herzlich wenig mit den Juden per se zu tun hat, dafür aber sehr viel mit dem Kapitalismus“. Horkheimer und Adorno zufolge seien die Juden die „mehr oder minder zufälligen Opfer“ des Antisemitismus gewesen ((Piccone/Berman 1980, 125). Leider lassen sich diese Gedanken in den „Elementen“ in der Tat nachweisen; um sie in dieser Form für das alles entscheidende Fazit der „Elemente“ zu halten, bedarf es aber trotzdem einer außerordentlich selektiven und tendenziösen Lesart. Ansonsten allerdings, so Piccone und Berman, habe die Dialektik der Aufklärung nur dem Konkurrenzkapitalismus innegewohnt und sei somit obsolet (1980, 123). Piccone und Berman zitierten im Übrigen auch Baudrillards Äußerungen, denen zufolge die Schoa sich schon deshalb nicht wiederholen könne, weil sie sich ohnehin andauernd zutrage. Das zeitgenössische Fernsehen, das „Holocaust“ ausstrahle, so zitierten sie Baudrillard weiter, sei das „gleiche schwarze Loch wie Auschwitz“ (1980, 120). Anson Rabinbach (1980) schrieb damals eine Erwiderung auf die Kritik von Piccone und Berman (1980).

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verlieren, dass Kellner und Jay sich im Grundsatz einig waren: Die Frankfurter Schule war vom Marxismus abgefallen, und die Dialektik der Aufklärung war der deutlichste Ausdruck dieses Abfalls. In einem gemeinsam mit Rick Roderick verfassten Überblick über jüngere Entwicklungen in der Rezeption der Kritischen Theorie machte Kellner Jay 1981 in einer Fußnote das, was man im englischen ein „backhanded compliment“ nennt, ein Kompliment, das den Empfänger mindestens ebenso sehr beleidigt, wie es ihn lobt. Schon der ideologischen Verquastheit wegen lohnt es sich, diese gewundene Passage ausführlich zu zitieren: „Rückblickend stellt sich heraus, dass Jays Buch angesichts seiner umfassenden Perspektive, seines Detailreichtums und der Tatsache, dass Jay sich abwegiger Interpretationen und feindseliger Kritik enthalten hat, trotz seiner Mängel in vielerlei Hinsicht das beste Buch über die Kritische Theorie ist. Selbst die Tatsache, dass Jay die marxistischen Wurzeln der frühen Kritischen Theorie und ihre Entwicklung als interdisziplinäre Gesellschaftstheorie mit politischen Absichten nicht hinreichend dargestellt […] und die Kritische Theorie ohne viel Kritik oder Interpretation wie eine Schatzkammer der Persönlichkeiten, Theorien und Ideen präsentiert hat, trug zur Vermittlung der Kritischen Theorie an die englischsprachige Öffentlichkeit bei. Es ist schwer zu sagen, ob die Tatsache, dass es Jay gelungen ist, einem englischsprachigen Publikum die Kritische Theorie zu verkaufen und schmackhaft zu machen, sie entschärft und stumpf gemacht hat […] oder Jays Art, die Kritische Theorie zugänglich und attraktiv zu machen, die beste Strategie war, um sie einem amerikanischen Publikum vorzustellen. Sollte dies der Fall sein, hätten die von Kellner und Jacoby kritisierten Merkmale des Buchs sich als Tugenden erwiesen.“ (Kellner/Roderick 1981, 141) Zu den Stimmen, die die von so vielen akzeptierte Annahme, die Dialektik der Aufklärung verkörpere die Abkehr der Kritischen Theorie vom Marxismus, ablehnten, gehörte die von Susan Buck-Morss (1977). Im Falle Adornos könne man ganz im Gegenteil behaupten, so Buck-Morss, dass die Dialektik überhaupt erst dessen Hinwendung zu Marx signalisiere (Buck-Morss 1977, 62). Auch den vermeintlichen Pessimismus der Dialektik stellte sie infrage. Immerhin ergriffen Horkheimer und Adorno ja für die Aufklärung und die Erfüllung ihrer Versprechen Partei (Buck-Morss 1977, 61). Entgegen der weitläufigen Behauptung, Adorno habe Horkheimer beim Verfassen der Dialektik der Aufklärung irgendwie überrumpelt, betonte Buck-Morss den intimen Charakter, der ihre Zusammenarbeit gerade in den Jahren, in denen die Dialektik verfasst wurde, gekennzeichnet habe (Buck-Morss 1977, 173). Mit dem Text der Dialektik der Aufklärung setzte allerdings auch Buck-Morss sich nicht näher auseinander.

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Recht bedeutend für die englischsprachige Rezeption der Dialektik der Aufklärung dürfte wohl (bis heute) der von Andrew Arato und Eike Gebhardt herausgegebene und 1978 erschienene Band, The Essential Frankfurt School Reader (gewesen) sein.7 Arato und Gebhardt erklärten explizit, es gehe ihnen darum, Texte zu präsentieren, die nicht bereits ohne größere Schwierigkeiten auf Englisch zugänglich seien, insofern ist es nur folgerichtig, dass sich in dem Band kein Abschnitt der Dialektik findet. Allerdings spielt sie auch in ihren relativ ausführlichen Einleitungen kaum eine Rolle. In den insgesamt 280 Endnoten, die sich auf ihre Einleitungen beziehen, kommt die Dialektik zweimal vor, das eine Mal wird auf sie verwiesen, das andere Mal werden sieben Wörter aus ihr zitiert. Habermas bringt es dagegen auf sieben Endnoten und selbst Heinz Paetzold mit seiner Neomarxistischen Ästhetik von 1974 auf drei. Paul Piccone, der langjährige Herausgeber der Zeitschrift Telos, erklärte in seinem Vorwort, die Dialektik der Aufklärung habe die Situation während des Kalten Krieges auf großartige Weise erfasst, die von Habermas erkannten Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus aber nicht vorhergesehen und biete daher auch keine Antwort auf sie (Arato/Gebhardt 1978, XIX f.). Arato ging mit einem halben Satz auf die „Elemente des Antisemitismus“ ein, nicht der Dialektik oder des Antisemitismus’ wegen, sondern weil Adorno seines Erachtens unter anderem in diesem Text als der eigentliche Hauptverantwortliche für die Integration der „‚Synthese‘ zwischen Marx und Freud“ in die Kritische Theorie zu erkennen sei (Arato/Gebhardt 1978, 17), was er an der in den „Elementen“ vorgetragenen Projektionsthese festmachte. Horkheimer und Adorno hätten ihre Aufmerksamkeit statt der Politik der Kultur gewidmet, so Arato weiter, für sie sei „die Theorie der Kulturindustrie zur Theorie des Spätkapitalismus“ geworden. In der Dialektik der Aufklärung hätten Horkheimer und Adorno „die Kritik der spätkapitalistischen Kulturindustrie in einer zerstörerischen, negativen Hermeneutik (oder Geschichtsphilosophie) der Zivilisation in ihrer Gesamtheit verankert“, und das, obwohl Pollocks Staatskapitalismuskonzept ihnen die Möglichkeit geboten hätte, „die Kulturtheorie mit der Krisentheorie staatskapitalistischer Gesellschaftsformen zu verbinden“ (Arato/Gebhardt 1978, 24). Dass das Elend der Dialektik der Aufklärung daher rühre, dass Horkheimer und Adorno Pollocks Staatskapitalismustheorie zu wenig Gehör geschenkt hätten, ist meines Wissens eine selten vorgetragene These geblieben.

7Zu

gerne wüsste ich, was wen wie dazu bewog, den Titel des Buches in Fraktur zu setzen.

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3 ‚Dialektik der Aufklärung‘ auf Umwegen Wie weit die Nichtrezeption der Dialektik der Aufklärung reicht, zeigt sich nicht zuletzt darin, wie oft überhaupt nur indirekt auf sie Bezug genommen wird. Die Häufigkeit, mit der der vermeintliche Inhalt der Dialektik überwiegend oder ausschließlich anhand von Zitaten aus Horkheimers Eclipse of Reason oder Marcuses One-Dimensional Man erklärt wird, ist mitunter schon geradezu komisch. Es gibt selbstverständlich auch ernsthafte Gründe dafür, die Aufmerksamkeit in andere Richtungen zu lenken, so beispielsweise, wenn Nancy Love (1987) – in einem Sonderheft der New German Critique zur Aufklärungskritik, in dem es zwar einen Artikel von Habermas gibt, die Dialektik der Aufklärung aber außer bei Love und in einigen spitzen Bemerkungen Richard Wolins (1987) nicht vorkommt – sich um die Rekonstruktion der Epistemologie der Dialektik der Aufklärung mithilfe der Negativen Dialektik bemüht und dabei Habermas öfter zitiert als die Dialektik selbst. Selbst dort, wo der Einfluss der Dialektik der Aufklärung am größten gewesen zu sein scheint, nämlich im Zusammenhang mit der Kulturindustriekritik, ist fraglich, in welchem Maße dem tatsächlich die Dialektik zugrunde gelegen hat. Schaut man beispielsweise in die Einleitung zu dem von Bronner und Kellner herausgegebenen, 1989 erschienenen Reader zur Kritischen Theorie, so verweisen diese zwar darauf, die Kulturindustriekritik der Kritischen Theorie sei zunächst in der Dialektik der Aufklärung umrissen, mustergültig aber sei sie in Adornos Aufsatz „Résumé über Kulturindustrie“ (auch hier wieder als „The ­Culture Industry Reconsidered“, also mit dem bestimmten Artikel übersetzt) formuliert worden, den sie folgerichtig auch in ihren Band aufnahmen (1989, 10). Angesichts der Tatsache, dass es sich um einen Reader handelte und kürzere selbstständige Texte dort vielleicht angemessener sind als Exzerpte aus größeren Werken, mag diese Entscheidung unschuldig genug erscheinen. Doch war die von Bronner und Kellner verwendete Übersetzung Anson Rabinbachs 1975 bereits in New German Critique veröffentlicht worden (Adorno [1963/1967] 1975),8 dort mit einer Einleitung von Andreas Huyssen, in der dieser erläuterte, warum es sich lohne, diesen Aufsatz zu veröffentlichen. Seine Bedeutung liege darin, dass er auf „ein substanzielles Umdenken der Dialektik

8Eine

etwas holprige Übersetzung des Aufsatzes von Rafael Cook war zuvor in der Zeitschrift Cinéaste erschienen (Adorno [1963/1967] 1971). Dort wurde der Titel einfach nur mit „The Culture Industry“ angegeben.

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der Aufklärung gegenüber“ hindeute. Adorno habe in dem Aufsatz „seine vorherige Verurteilung der Aufklärung als Instrument rationalisierter Herrschaft und Unterdrückung widerrufen oder zumindest abgeschwächt“ (Huyssen 1975, 9; siehe hierzu auch Zwarg 2017, 254 f.). So lesen wir dann beispielsweise auch bei Martin Jay, dank der Übersetzung dieses Aufsatzes sei nun leichter zu verstehen, wie Adorno die „ungebrochen“9 düstere Prognose seiner ursprünglichen Analyse in der Dialektik der Aufklärung nachträglich nuanciert habe (1984, 175). Inwieweit Adorno die in der Dialektik vorgetragene Auffassung in dem Aufsatz tatsächlich zurückgenommen hat, ist dabei nicht von Belang. So oder so wurde hier eine Rezeption begründet, die sich ganz bewusst von der Dialektik der Aufklärung abzusetzen suchte. Dass es Horkheimer und Adorno, wie Stoetzler noch einmal klargestellt hat (2018a, 157), bei ihrer Kulturindustriekritik in der Dialektik mitnichten darum ging, dass Kultur zur Ware geworden sei, sondern gerade darum, dass mit der „Auflösung ihres genuinen Warencharakters […] nun auch der letzte Schutz gegen ihre Erniedrigung zu Kulturgütern gefallen“ sei ([1947] 1987, 188), ist dem Allermeisten, was sich als Rezeption der Kulturindustriekritik der Kritischen Theorie ausgibt, ob nun unter Verweis auf die Dialektik der Aufklärung oder nicht, ohnehin schwer anzumerken.

4 Die britische Rezeption der ‚Dialektik der Aufklärung‘ In Großbritannien trug George Lichtheim, der als Experte für den Marxismus und seine Weiterungen weithin respektiert wurde, entscheidend dazu bei, Ende der 1960er Jahre Interesse an der Kritischen Theorie zu wecken.10 Allerdings stand die Dialektik der Aufklärung auch hier nicht im Mittelpunkt und Lichtheim war dem Buch alles andere als wohlgesonnen. Er interessierte sich wohl auch weniger für die Kritische Theorie als solche, sondern in erster Linie für Adorno. Ende September 1967 veröffentlichte er im Times Literary Supplement (TLS), dem traditionell einflussreichsten Feuilleton im Vereinigten Königreich, einen wohlwollenden Artikel über Adorno.

9Im

Original steht „remittingly“ (nachlassend) statt „unremittingly“, was doch wohl nur ein Druckfehler bzw. ein Freudscher Verschreiber sein kann. 10Zu Georg Lichtheim siehe die Nachrufe von Laqueur (1973) und Jay (1973).

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„Sollte der Name Theodor Adornos bei Amerikanern, die sich mit der zeitgenössischen soziologischen Literatur auskennen, eine spontane Reaktion hervorrufen, ist dies am ehesten mit Adornos Mitautorschaft an dem 1950 veröffentlichten und (in jedem Sinne des Wortes) gewichtigen Sammelband The Authoritarian Personality zu erklären“, schrieb er, um zu veranschaulichen, wie wenig bekannt Adorno, außer eben in diesem einen Zusammenhang, in der englischsprachigen Welt sei (Lichtheim 1967, 892). Die Dialektik der Aufklärung befand sich zwar in der angefügten Liste relevanter Publikationen, Lichtheim erwähnte sie in dem Artikel aber mit keinem Wort. Im folgenden Jahr veröffentlichte er in der an der Northwestern University in Evanston (Illinois) herausgegebenen Zeitschrift TriQuarterly einen ausführlichen, immerhin 38seitigen Artikel, „From Marx to Hegel. Reflections on Georg Lukács, T. W. Adorno, and Herbert Marcuse“, in dem er die Kritische Theorie systematisch als eine Form des hegelianischen Marxismus darstellte (Lichtheim 1968). Die Dialektik der Aufklärung erwähnte er auch diesmal nicht. Als er sich 1969 erneut im Times Literary Supplement zur Kritischen Theorie äußerte, ging Lichtheim immerhin nebenbei auf die Dialektik der Aufklärung ein. „In diesem Werk klingt bereits die durch den Aufstieg und Fall des Dritten Reichs und die damit verbundenen Gräuel verursachte Desillusionierung an“, schrieb er. Horkheimer und Adorno hätten darin ein „angespanntes Gleichgewicht“ gewahrt zwischen „dem militanten Rationalismus der früheren Arbeiten und der zunehmenden Erkenntnis, dass das Erbe der Aufklärung ein zwiespältiges ist – daher der Titel Dialektik der Aufklärung“ (Lichtheim 1969, 598). Was er wirklich von der Dialektik der Aufklärung hielt, offenbarte er im folgenden Jahr, als er, erneut im Times Literary Supplement, etwas ausführlicher auf dieses „Werk, das seit Jahren eine Untergrundexistenz unter den heimatlosen Linken der Bundesrepublik“ führe, zu sprechen kam. Dessen Thema, erklärte er, „ist uns inzwischen auf nervtötende Weise vertraut und es spricht vieles dafür, dass das, was in der Zeit um 1945 neu und originell war, sich nun in eine Litanei billiger Apokalypsen verwandelt – ‚die abgedroschenen Voraussagen der Verwüstung, der billige Geisteskitzel der Verfremdung, der Schwulst und Schwall kleiner Pinscher über fehlende Authentizität und Verlorenheit‘, um den gleichnamigen Held in Saul Bellows Roman Herzog zu zitieren. Allerdings lohnt es sich dennoch das Buch zu lesen, nämlich als Einführung in die seltsame Synthese von Marx, Freud, Nietzsche und Heidegger, die im allgemein mit dem Namen Herbert Marcuse in Verbindung gebracht wird, und die von einer Generation von Intellektuellen arglos popularisiert wird, für die der gewaltsame Tod der Weimarer Republik und der damit einhergehende Zusammenbruch der Alten Linken nicht mehr ist, als eine der vielen blutigen Episoden in der jüngeren Geschichte

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Kontinentaleuropas.“ (Lichtheim 1970, 272; das Zitat findet sich in Bellow [1964] 1967, 96) Allzu vielen Lesern dürfte Lichtheim die Dialektik der Aufklärung damit wohl nicht schmackhaft gemacht haben. Der Einfluss seiner Äußerungen sollte nicht unterschätzt werden. Lichtheim galt einerseits als sympathisierender Kenner der nichtstalinistischen Linken. Andererseits war seine Neigung zu dem, was man im englischsprachigen Raum gerne (und oft mit gehörigem Misstrauen) „continental philosophy“ nannte und nennt, wohl bekannt. Wenn also selbst Lichtheim mit diesem offenbar recht abstrusen Werk nichts anzufangen wusste, dürfte damit für viele englische Leserinnen und Leser festgestanden haben, dass es sich hier wahrlich nicht zu gucken lohne. Im Übrigen weisen seine Bemerkungen deutlich auf die zentrale Rolle Marcuses in der Wahrnehmung der Kritischen Theorie im englischsprachigen Raum hin. Im Jahr 1995 veröffentlichte das Times Literary Supplement eine Liste der 100 einflussreichsten seit dem Krieg veröffentlichten Bücher (TLS 1995). Die ­Dialektik der Aufklärung schaffte es immerhin auf diese Liste, was insofern nicht ohne Ironie ist, als die Dialektik im TLS selbst, sofern man der Suchfunktion des TLS-Archivs trauen kann, bis 2013 insgesamt 25 mal erwähnt wurde, also im Schnitt etwas weniger als einmal alle zweieinhalb Jahre. Nun gehört ein gerüttelt’ Maß an Vorbehalten gegenüber „kontinentalen“ Verwegenheiten beim gutbürgerlichen Times Literary Supplement gewissermaßen zur Grundausstattung. Doch auch in der 1960 gegründeten, zunächst von Stuart Hall und dann von Perry Anderson redigierten New Left Review, dem auch international einflussreichen Flaggschiff der britischen Neuen Linken, erging es der Dialektik der Aufklärung (wie auch der Kritischen Theorie insgesamt) kaum besser. Zwar schrieb Irving Wohlfarth dort Ende 1967 noch in einer kurzen Einleitung zur Übersetzung von Adornos Aufsatz „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“, mit dessen Veröffentlichung werde „das Werk Adornos endlich einem englischen Publikum vorgestellt“, was „schon lange überfällig“ sei, und lieferte sogar in etwa einem Dutzend Zeilen eine knappe, sachliche Zusammenfassung der Dialektik. Prägend für die Haltung der Zeitschrift und der Szene, die sie bediente, war aber eher der in der Sekundärliteratur allerorten zitierte Artikel „The Frankfurt School“ von Göran Therborn. Die Frankfurter Schule sei über eine rein ethische Motivation nie hinausgekommen (1970, 69) und habe reduktionistisch die Wissenschaft und die Politik gleichermaßen der Philosophie unterworfen (1970, 74), so Therborn. Seinen Aufsatz „Die Juden und Europa“ habe Horkheimer deswegen nicht erneut veröffentlichen wollen, weil er zu marxistisch sei (Therborn 1970, 81). Obwohl Therborn im Rahmen seiner Abrechnung mit der

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­ ialektik der Aufklärung diese einige Male auch direkt zitierte, sticht eine Stelle D als bezeichnend für das Schicksal der Dialektik in dieser Zeit im Allgemeinen besonders hervor: Ursprünglich habe Horkheimer sich an Lukács’ Verständnis der Wissenschaft gehalten. Doch „in der Dialektik der Aufklärung […] geht es nur um Wissenschaft als Herrschaftsinstrument“. An dieser Stelle folgt eine Fußnote, die jedoch nicht etwa auf die Dialektik verweist, sondern auf Marcuses One-Dimensional Man (Therborn 1970, 83).11 Kurzum, die Frankfurter Schule habe dem Marxismus nicht nur keine geeigneten Instrumente zu dessen strategischer Fortentwicklung geboten, sondern „alle derartigen Instrumente denunziert, einfach weil sie Instrumente sind“ (Therborn 1970, 79). Was bleibe, sei lediglich „erstarrte Tugendhaftigkeit“ (Therborn 1970, 96).12 Nun habe ich bei der Vorbereitung dieses Überblicks auch Texte gelesen, deren offenkundig mutwilliges Unverständnis der Dialektik der Aufklärung gegenüber mich durchaus aus der Ruhe gebracht und mitunter wütend gemacht hat. Nach den Dutzenden Verweisen in der Sekundärliteratur auf die zentrale Rolle der Therbornschen Kritik an der Frankfurter Schule hatte ich fest damit gerechnet, auch dieser Text werde mich in Rage versetzen. Tatsächlich aber sticht an ihm in allererster Linie ein schon fast niedlich zu nennendes Unvermögen im Umgang mit der Materie hervor. Die Tatsache, dass sein Beitrag offenbar eine so zentrale Rolle spielte, deutet umso mehr darauf hin, dass hier in Wirklichkeit nicht eine kritische Rezeption, sondern schlicht eine umfassende Abwehr bzw. Nichtrezeption stattfand. Auch in Großbritannien wurde Jays Dialektische Phantasie scharf angegriffen. So schrieb beispielsweise der 2013 verstorbene, vor allem durch sein Buch Hooligan: A History of Respectable Fears (1980) bekannt gewordene Sozialarbeitswissenschaftler und Kriminologe und damalige Dozent in Cardiff Geoffrey Pearson 1974 in einer Sammelbesprechung zur Kritischen Theorie, die Frankfurter Schule sei jene Richtung, „die jeder ‚kennt‘ aber niemand liest. Sieht man einmal von dem, was die Franzosen ‚la drugstorisation de Marcuse‘ nennen, und von einer kleinen Gruppe um die Zeitschrift Telos gruppierter junger amerikanischer Wissenschaftler ab, hat der

11An

anderer Stelle erklärte Therborn Horkheimers Geschichtsverständnis mit einem Zitat von Marcuse (Held 1980, 356). 12Therborns Artikel wurde 1977 in dem von der New Left Review herausgegebenen Band Western Marxism. A Critical Reader nochmals abgedruckt. Der Titel ist insofern etwas missverständlich, als der Band nicht aus Texten von herausragenden „westlichen Marxisten“, sondern aus Texten über sie besteht. Die übrigen Kapitel beschäftigen sich mit Lukács (zweimal), Gramsci, Sartre (zweimal), Althusser (zweimal) und Lucio Colletti.

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riesige Corpus der Kritischen Theorie in der englischsprachigen Welt kaum eine Wirkung entfaltet“ (Pearson 1974, 111). Da Jay sich den leidenschaftlich geführten Debatten um den Marxismus und den Praxisbezug der Kritischen Theorie (Pearson hob Therborns Kritik als besonders stichhaltig hervor) in der Substanz nicht wirklich gewidmet habe, erschiene die „spätere“ Frankfurter Schule bei ihm zwangsläufig als „eine Truppe von Bauchrednern und Jongleuren: Aus ihren Mundwinkeln rufen sie dieses und jenes über ‚Totalitarismus‘, ‚Barbarei‘ und ‚Faschismus‘, während sie andererseits federleicht dialektisch über Schönbergs Musik, Diltheys Phänomenologie und die Astrologieseiten der Zeitungen in Los Angeles flüstern, oder über die Entwicklung der Aufklärung, zugleich aber die quantitativen Methoden ihrer amerikanischen Gastgeber erlernen, um sie in The Authoritarian Personality, ihrem außerordentlich atypischen und einzigen weithin bekannten englischen Werk, zur Schau zu stellen.“ (Pearson 1974, 113) Auch Gillian Rose äußerte sich, wie Jay sich nach ihrem frühen Tod in seinem ausführlichen Nachruf (1997) erinnerte, kritisch zu seinem Buch. Jays Darstellung sei „unverbindlich“ und „intellektuell nichtssagend“, bemängelte sie in einem im Januar 1974 veröffentlichten Leserbrief an New Society, eine in London erscheinende parteiunabhängige Zeitschrift, in der vor allem gemäßigte linke Intellektuelle zu Wort kamen. Weder habe er einen Schritt aus der Materie herausgetan, um sie sachgemäß darstellen, noch habe er sich ausreichend in die Kritische Theorie vertieft, um „deren Leben und Antrieb vermitteln“ zu können. Allerdings ging es Rose um mehr als Jays Buch und die Besprechung in New Society, auf die sich ihr Leserbrief bezog. Die Werke der kritischen Theoretiker seien erst seit kurzem (wenn überhaupt) auf Englisch verfügbar, und es sei wichtig, dass man sie zunächst einmal ernsthaft zur Kenntnis nehme, bevor man sie zu historisieren beginne. „Die Originalität dieser Schriften liegt in der Herausforderung, mit Blick auf ein ganzes Spektrum grundlegender Fragen in der Soziologie und Philosophie auf eine andere Art zu denken“, schrieb sie. Daher sei es unvermeidlich, dass die betreffenden Schriften zunächst schwer zugänglich seien. Überhaupt sei auffallend, dass die Texte in der Diskussion um die Frankfurter Schule im Allgemeinen gar nicht wirklich berücksichtigt würden. Es wäre ein herber Verlust, würde man sich diesen Herausforderungen nicht stellen. Dazu bedürfe es einer „sensiblen Einführung“. Am besten solle man sich zunächst direkt mit Adorno auseinandersetzen (Rose 1974). Es sei klar gewesen, schrieb Jay in seinem Nachruf, „dass sie Gewehr bei Fuß stand, einem an dessen bitteren Geschmack nicht gewöhnten anglo-amerikanischen Publikum eine gehörige Portion Kritischer Theorie zu verabreichen, und sich ärgerte, dass ihr jemand zuvorgekommen war“ (Jay 1997, 45).

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Nun gehörte die 1978 erschienene überarbeitete Doktorarbeit von Rose, The Melancholy Science, zweifellos zu den intelligenteren, anspruchsvolleren und subtileren Interpretationen Adornos, und es lohnt sich auch heute noch, sie zu lesen, unabhängig davon, ob man ihre Einschätzungen teilt. Aller Leidenschaft zum Trotz kann man bei ihr das Normative durchaus vom Deskriptiven unterscheiden. Sie beharrte darauf, dass man Adorno nur sehr bedingt als hegelianischen Marxisten beschreiben könne (Rose 1978, 142) und dass Adorno auch weiterhin mehr zu bieten habe als Habermas (Rose 1978, 146). Der Dialektik der Aufklärung aber stand auch sie verständnislos gegenüber. Als Dialektik der Aufklärung wird sie in dem 212seitigen Buch auf gerade einmal anderthalb Seiten verhandelt. In ihr seien Ideen entwickelt worden, mit denen Adorno sich damals in seiner empirischen Arbeit auseinandergesetzt habe, „insbesondere die ‚Kulturindustrie‘ und ‚Antisemitismus‘ [‚anti-semitism‘]“, so Rose.13 Doch habe er „Horkheimers Sorge um die instrumentelle Vernunft und die Logik der Herrschaft nicht geteilt. Für Adornos Gesellschaftstheorie sind die Verdinglichung und Marxens Werttheorie viel wichtiger. Adorno und Horkheimer vereinigten – jeder in seinen Werken auf seine Weise – die Hyperbel Nietzsches und Webers, die in der Dialektik der Aufklärung so klar hervortritt.“ (Rose 1978, 5) Im Übrigen demonstriere die Dialektik der Aufklärung zum einen, „wie schwierig es ist, eine allgemeine Theorie der Herrschaft über die Natur mit der Theorie einer bestimmten Gesellschaftsform zu verbinden“, zum anderen „die erheblichen Schwierigkeiten, die mit dem Versuch einhergehen, Nietzsches Ideen soziologisch aufzufassen“ (Rose 1978, 26). Wenn ich eben schrieb, „als Dialektik der Aufklärung“ sei der Text von Rose auf gerade einmal anderthalb Seiten abgehandelt worden, so deshalb, weil sie ganze fünf Seiten den „Elementen des Antisemitismus“ und deren Zusammenhang mit der Authoritarian Personality widmete. Allerdings ging es ihr dabei nicht um die Bedeutung der „Elemente“ für die Dialektik als Ganzes und schon gar nicht um den Antisemitismus, sondern darum, Adornos Verhältnis zum Positivismus und zur Empirie zu problematisieren. Dabei spielten, jedenfalls ihrer Intention nach, weder der Inhalt noch der Kontext des konkreten Sachverhalts eine Rolle. Es gebe nur wenige Einführungen in Adornos Werk, schrieb David Held in seiner Besprechung von The Melancholy Science, und die meisten würden „widergeben ohne zu erhellen“. Bei Rose sei das anders, lobte er (Held 1979).

13Darüber,

dass Rose den Antisemitismus einerseits mit einem Bindestrich versah, als gebe es den Semitismus tatsächlich, ihn dann aber in Anführungsstriche setzte, als sei der Antisemitismus wiederum nur ein Konzept, ließe sich ein eigener Aufsatz schreiben!

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Held stellt eine gewisse Ausnahme im britischen Kontext dar. Er hält heute mehrere hochrangige Positionen (unter anderem) an der Universität im britischen Durham, nachdem er die LSE 2011 wegen seiner Verwicklung in den Skandal um die allzu engen Beziehungen zur Gaddafi-Familie verlassen musste. Zudem ist er Mitbegründer und Leiter des polity-Verlags, der unter anderem Übersetzungen der Werke Habermas’ und einer Reihe von Adornos Werken und Briefwechseln herausgebracht hat (demnächst soll hier auch der Briefwechsel zwischen Adorno und Gershom Scholem herauskommen). Er veröffentlichte 1980 eine Introduction to Critical Theory. Horkheimer to Habermas. „In den letzten zehn Jahren“, so Held 1980, „sind die geläufigsten Vertreter der Frankfurter Schule im Zusammenhang mit zwei Hauptanliegen bekannt geworden: der Sozialphilosophie und Sozialpsychologie. Ihre anerkanntesten theoretischen Innovationen betreffen ihre Analysen der Struktur der Vernunft und Technik und die Verschränkung von Aufklärung, Mythos, Herrschaft und Natur […] Zu den meistzitierten Texten gehören die Dialektik der Aufklärung, Eclipse of Reason, Minima Moralia, One-Dimensional Man und The Authoritarian Personality.“ (Held 1980, 40) Held bot eine ausführliche, sachliche und weitgehend zutreffende Zusammenfassung der Dialektik der Aufklärung, die allerdings auch einen instruktiven Eindruck davon vermittelte, wie kraftlos und wenig überzeugend die Dialektik wäre, wenn Horkheimer und Adorno versucht hätten, sie als konventionellen Prosatext aus einem Guss zu schreiben. Er beharrte darauf, dass im Laufe der Entwicklung der Kritischen Theorie die „klassischen marxistischen Themen nicht einfach ersetzt wurden“. Die Existenz von Klassen und der Klassenkampf seien weiterhin wichtige Kategorien für ihr Verständnis des Kapitalismus gewesen. Außerdem sei es falsch, die späteren Schriften als „pessimistisch“ oder „romantisch“ zu bezeichnen (Held 1980, 40). Held beendete das Buch mit der Feststellung, dass die Kritische Theorie „als integraler und wichtiger Bestandteil der marxistischen Tradition Bestand“ habe (1980, 400). Offenbar konnte man an dieser trotz alledem insgesamt positiven Einschätzung aber auch vorbeilesen. So tat es jedenfalls der als Mitherausgeber der Werke von Norbert Elias bekannt gewordene, in Leeds lehrende Soziologe Richard Kilminster – über den es in der Einladung zu einer 2018 zu seinen Ehren abgehaltenen Konferenz heißt, er habe „dem philosophisch gefärbten kritischen Marxismus und späteren Postmodernismus [Zygmunt] Baumans stets das entgegengehalten, was er später die postphilosophische Soziologie Elias’ nannte“ (Mennell 2018). In einer in Sociology, der Fachzeitschrift des britischen Berufsverbands der Soziologen, veröffentlichten Besprechung von Helds Buch schrieb er zunächst:

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„Die Darstellungen der Ideen von Marcuse, Horkheimer und Adorno (insbesondere in ihrer Dialektik der Aufklärung, der Held zurecht eine zentrale Bedeutung beimisst) klingen wie die Beschwörungen und Manifeste der studentischen Linken der 1960er Jahre.“ Er sei sich bei der Lektüre wie in jene Zeit zurückversetzt vorgekommen. „Die Texte sind übervoll mit Begriffen wie ‚Befreiung‘, ‚Totalität‘, ‚Negation‘, ‚Verdinglichung‘, ‚Emanzipation‘ […] ‚Herrschaft‘, ‚Kulturindustrie‘, ‚Fetischismus‘, ‚Status Quo‘ (der stets ausgebaut wird), ‚Assimilation‘, ‚Vernunft‘, ‚technologische Rationalität‘, ‚Entfremdung‘ und – natürlich – ‚Praxis‘. Schon rief ich selbst: Gebt dem Begehren ungehindert nach! So ist’s! Weiter so!“ [Indulge untrammelled desire!14 This is where it’s at! Right on!]. (Kilminster 1982, 139) Doch mit alledem mache Held bei seiner Bewertung der kritischen Theorie dann „kurzen Prozess“. Mit Blick auf die „imponierenden Theorien der frühen [mit früh meint Kilminster vor Habermas] Frankfurter Schule“ bleibe kaum ein Stein auf dem anderen und Held weise die „Altmeister der Kritischen Theorie in ihre Schranken“ (Kilminster 1982, 139 f.). Bei allem Überschwang lag Kilminster allerdings nicht völlig daneben, da Helds insgesamt positives Urteil in nicht unerheblichem Maße auf Habermas’ Beitrag beruhte. Dass Held und sein inzwischen gegründeter Verlag das Buch 1990 unverändert und ohne ein zusätzliches Wort der Erklärung als „wichtiges neues Werk“ (laut Klappentext) erneut auf den Markt geworfen haben, dürfte wohl der realistischen Einschätzung Rechnung getragen haben, dass es für die meisten potenziellen Leserinnen und Leser 1990 in der Tat noch genauso neu sein würde wie 1980, und dass die darin getroffenen Aussagen über die 1970er Jahre auf die 1980er Jahre kaum weniger zutreffen würden. Kilminsters kunterbunte Auflistung entbehrt insofern nicht einer gewissen Komik, als den Aktivisten, von denen bei einer Gegenüberstellung mit den diversen ideologischen Versatzstücken, die Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre in der Luft lagen, schon 1968 vermutlich nur wenige die Kritische Theorie zweifelsfrei hätten identifizieren können, hier nun von einem Wissenschaftler, dem es ähnlich geht, nachträglich nochmals bestätigt wird, die Kritische Theorie habe sie zutiefst geprägt. Wheatland (2009) hat gezeigt, dass schon die landläufigen Annahmen über Marcuses Einfluss auf die Neue Linke maßlos übertrieben sind und Marcuse viel eher von der Neuen Linken gelernt habe als

14Anspielung

auf die situationistische Parole: „Die Spielregeln sind einfach: Zu leben, statt einen schleichenden Tod zu ersinnen – und dem Begehren ungehindert nachzugeben“.

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umgekehrt. Dass nun ausgerechnet die britische Neue Linke nachts von der Kritischen Theorie geträumt haben soll, scheint mir dann doch arg unwahrscheinlich. Kellner und Roderick schlugen 1981 eine Erklärung für die offenbar (im Vergleich zu den USA) noch „feindseligere“ Rezeption der Kritischen Theorie in der britischen Linken vor. Während sich der Kapitalismus in Deutschland und den Vereinigten Staaten weitgehend stabilisiert habe, befinde sich die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs in einer sich dauerhaft verschärfenden Krise, die so gravierend und dermaßen mit Händen zu greifen sei, dass die Beschäftigung der Kritischen Theorie mit der Stabilisierung des Kapitalismus und der Integration der Arbeiterklasse dort weniger plausibel und der ohnehin tiefer verankerte traditionelle Marxismus eingängiger erscheine. So sei es marxistischen Gruppen, unter ihnen insbesondere den Trotzkisten, und Zeitschriften wie der New Left Review gelungen, eine starke, wenn auch in sich widersprüchliche marxistische Kultur zu schaffen, die ihre Anhänger „gegen den Hegelianischeren, spekulativeren und ausgeklügelteren Marxismus – und gelegentlichen Antimarxismus – der Kritischen Theorie geimpft“ habe. Daher käme Althusser in England eben besser an (Kellner und Roderick 1981, 158). Dieser Erklärungsansatz weist zwar einerseits auf ein recht mechanistisches Verständnis vom Verhältnis von Basis und Überbau hin, andererseits liegt aber sicher auch ein Kern von Wahrheit darin.

5 Vom Regen in die Traufe Bereits 1974 meinte Reinhard Kreckel, seit dem Vorjahr Soziologiedozent in Aberdeen, in einer in Sociology veröffentlichten Besprechung, angesichts der Vielzahl der in der jüngeren Zeit erschienenen Publikationen zum Thema könne kein Zweifel bestehen: „Die Frankfurter Schule ist in“. Demnächst, so meinte er, werde die Kritische Theorie aus „dem Ghetto der ‚radikalen‘ Zeitschriften in Großbritannien und Amerika ausbrechen, in dem sie seit einiger Zeit gedeiht, und ihren Weg in die Lehrbücher der Mainstreamsoziologie machen. Doch in welcher Rolle? Wird sie ein weiteres Stück totes Inventar sein, das sich in den etablierten soziologischen Kanon einreiht, oder wird sie die anglo-amerikanische Soziologie herausfordern?“ (Kreckel 1974, 491 f.) Diese Prognose erwies sich nicht nur als arg voreilig, tatsächlich sollte sich diese Frage bis auf Weiteres so überhaupt nicht stellen, denn die Rezeption der Kritischen Theorie und mit ihr der Dialektik der Aufklärung vollzog sich alsbald in erster Linie nicht in den Sozial-, sondern in den Geisteswissenschaften.

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„Soweit ich die Lage überblicke“, erklärte Hohendahl 1995, „hat die Mainstreamsoziologie in Amerika keine besondere Affinität für Adorno bewiesen. Selbst an den radikalen Rändern ist das Interesse an Adornos Gesellschaftstheorie eher gering“ (1995, 58). In den Geisteswissenschaften spiele er dagegen eine weit prominentere Rolle (Hohendahl 1995, S. 64). Hohendahl wunderte sich zudem über das neuerliche Interesse an Adornos Werk nach 1989, da es „zu keinem der intellektuellen Trends der späten 1980er und frühen 1990er Jahre“ passe (1992, 3). Im Übrigen, so Hohendahl, sei es vielleicht an der Zeit, „anzuerkennen, dass Adorno ein ‚Klassiker‘ geworden ist, ein Autor, dessen Schriften ihre Vitalität bewahren, sich der unvermittelten Aneignung aber widersetzen“ (1992, 14 f.). Gefragt, warum er sich weiterhin an der völlig aus der Mode gekommenen Kritischen Theorie orientiere, antwortete Moishe Postone 2009, es gebe dafür sowohl theoretische als auch eher zufällige Gründe: „Ich verbrachte fast die ganzen 1970er und die frühen 1980er Jahre in Frankfurt. Einerseits vollzog sich die Rezeption des Poststrukturalismus in den USA vorwiegend während ich in Deutschland war. Andererseits war die Rezeption des Poststrukturalismus in Deutschland viel schwächer, und das hatte viel damit zu tun, dass viele sich dort mit der Frankfurter Schule und Lukács auskannten. Wenn ich es richtig beurteile, kommt noch hinzu, dass in dem Maß, in dem die amerikanische Wissenschaft in den 1970er und 1980er Jahren der Rezeption von Theorie überhaupt aufgeschlossen gegenüberstand, dies vornehmlich in den Geistes- und nicht in den Gesellschaftswissenschaften der Fall war.“ (Postone 2009, 308) Kaum dem Unverständnis der Neuen Linken entronnen, bekam die Kritische Theorie und mit ihr die Dialektik der Aufklärung es nun mit dem Poststrukturalismus und der Postmoderne zu tun, jenen Entwicklungen, denen wir auch die eingangs erwähnten Handbücher zur Kritischen Theorie verdanken, in denen die Frankfurter Schule am besten gar nicht erst vorkommt. „Das einzig legitime ‚zurück zu‘“, schrieb Hullot-Kentor 1989 zu Beginn seines bereits erwähnten Aufsatzes „Back to Adorno“, „ist eines, das die Rückkehr zu etwas fordert, das überhaupt noch nicht erreicht wurde“. Dass dies auf die Rezeption der Schriften Adornos weiterhin zutreffe, habe mehrere Gründe, zu denen mangelnde Sprachkenntnisse, unzureichende Vertrautheit mit dem deutschen Idealismus und der Niedergang des Marxismus gehörten. Nicht zuletzt sei sie aber auch überschattet worden von der „jüngsten Mode der Dekonstruktion, die dem kritischen Denken unermesslichen Schaden zugefügt hat. Mühsam gewonnene Einsichten in die Klassenstruktur, die zusätzliche Unterdrückung [surplus repression] und den Konformismus wurden preisgegeben zugunsten der Verfeinerung von Vermeidungstechniken und der Verherrlichung bestimmter Formen des Wortspiels, die früher als das letzte Aufgebot

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eines auf den Hund gekommenen Vorstellungsvermögens galten.“ (Hullot-Kentor [1989] 2006, 23) Damals, so fügte Hullot-Kentor hinzu, als er den Aufsatz 2006 erneut veröffentlichte, habe der Poststrukturalismus seit einem Jahrzehnt das Geschehen bestimmt – zu seiner Verwunderung, „da der Strukturalismus sich in den Vereinigten Staaten nie in hinreichendem Maße etabliert hatte, um eine so weitreichende und detaillierte Kritik plausibel motivieren zu können“ (2006, 2). Zu den wenigen vielleicht eher trotz als wegen dieser Trends erwähnenswerten Arbeiten gehört Christopher Roccos Aufsatz von 1994, „Between Modernity and Postmodernity: Reading Dialectic of Enlightenment against the Grain“. Die Dialektik der Aufklärung, so Rocco, sei „heute so radikal wie vor vier Jahrzehnten“. Sie sei ein viel komplexeres Buch, als sowohl seine „modernen“ als auch seine postmodernen Kritiker erkannt hätten (Rocco 1994, 72). Dabei meint er mit „modern“ in erster Linie Habermas und die Habermasianer und mit „postmodern“ in erster Linie Foucault. Ihm, Rocco, gehe es zuallererst darum, dass die Dialektik, statt in der Nachfolge Habermas’ verworfen oder von der „Mode der Dekonstruktion“ verdrängt zu werden, wieder ernstgenommen werde (1994, 72). Ihr Wert liege darin, „dass sie uns, indem sie es sowohl erklärt als auch vorführt, lehrt, wie man über die Welt, über Menschen und Dinge nachdenkt“ (Rocco 1994, 72). Mit ihrem Rückgriff auf die Antike sei es Horkheimer und Adorno mitnichten darum gegangen, undialektisch eine lineare Kontinuität zu suggerieren. Vielmehr solle dieser Rückgriff die scheinbar überwundene archaische Vergangenheit den barbarischsten und irrationalsten Phänomenen der Gegenwart gegenüberstellen, um so die Gegenwart, und den Einfluss, den die Vergangenheit auf sie ausübt, zu entmythologisieren (Rocco 1994, 77). Dies, so Rocco, entspreche weitgehend der genealogischen Methode Foucaults. Im Übrigen stehe die Form des Texts jener allzu hermetischen Totalität, die die Dialektik angeblich schaffe oder zu schaffen drohe, von vornherein entgegen (Rocco 1994, 86). Mehr noch, obwohl Horkheimer und Adorno in ihr zugegebenermaßen kein explizites Konzept der kommunikativen Rationalität entwickelt hätten, laufe Habermas’ Kritik insofern ins Leere, als der Text dank seiner Form bereits eine bestimmte Form der kommunikativen Rationalität kommuniziere (Rocco 1994, 89).

6 Das Habermasproblem In seinem bereits mehrfach erwähnten Aufsatz „Back to Adorno“ schrieb HullotKentor, wolle man sich nun erneut der Dialektik der Aufklärung zuwenden, müsse man nicht nur mit dem Übersetzungsproblem zurande kommen, sondern auch mit

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der Tatsache, dass Habermas sich „diesseits des Atlantiks infolge einer ungeheuer unglückseligen historischen Fehlzuordnung als wichtigster Vertreter der Frankfurter Schule etabliert hat“ ([1989] 2006, 24). Dabei könne kein Zweifel daran bestehen, „dass die in der Dialektik der Aufklärung vorgetragene Analyse der List der Vernunft mehr über Habermas weiß, als Habermas über das Buch“ (HullotKentor [1989] 2006, 27 f.). Wäre Habermas „Odysseus auf der Flucht aus der Höhle Polyphems gewesen, hätte er sich auf den Rücken der Schafe gesetzt, und mit der westlichen Zivilisation wäre es vorbei gewesen“ (Hullot-Kentor [1989] 2006, 28). Nun soll man sich mit den unwichtigen Dingen im Leben ja nicht unnötig abgeben. Ich will zum besseren Verständnis aber noch hinzusetzen, dass Habermas sich keineswegs nur bei den eher liberal gesinnten Kritikern der tatsächlichen Kritischen Theorie großer Beliebtheit erfreut, sondern auch bei jenen, die bei der Frankfurter Schule allerorten eine Abkehr vom Marxismus wittern. In ihrer bereits erwähnten Einleitung zu dem Band Critical Theory and Society. A Reader, der im gleichen Jahr wie Hullot-Kentors „Back to Adorno“ erschien (1989) und in dem auch Habermas mit zwei Texten vertreten ist, fassen Bronner und Kellner zusammen, worum es der Kritischen Theorie mit dem „zuerst in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung umrissenen“ Konzept der „Kulturindustrie“ gegangen sei bzw. gehe (1989, 9).15 Sie fahren dann fort: „In diesem Sinn“ habe Habermas „eine bahnbrechende historische und theoretische Untersuchung“, nämlich den Strukturwandel der Öffentlichkeit, vorgelegt, der allerdings auch zeige, wie weit Habermas sich „von der ersten Generation der Kritischen Theorie“ entfernt habe, und daher „auf die zunehmende Heterogenität der Frankfurter Schule“ verweise. „Während Adorno und Horkheimer der Aufklärung und damit auch dem Projekt der Moderne zunehmend kritisch gegenüberstanden“, habe Habermas sich zur Aufklärung und damit auch zur Moderne bekannt. Dann geht es unmittelbar damit weiter, dass „die Zusammenarbeit zwischen Adorno und Horkheimer in den frühen 1940er Jahren“ mit einer Abkehr vom Marxismus und vom Wunsch nach radikaler gesellschaftlicher Veränderung einhergegangen sei. „Die Dialektik der Aufklärung steht damit für die Verschiebung von der interdisziplinären Gesellschaftstheorie hin zur Philosophie und Kulturkritik“ (Bronner/Kellner, 10 f.) Dieses Beispiel ist auch insofern in­­ struktiv, als man 1989, anders als vielleicht noch Anfang der 1970er Jahre, über

15Dass

Adorno hier als Autor zuerst genannt wird, ist mitnichten nur eine Nachlässigkeit, sondern der Tendenz geschuldet, Adorno zum Hauptschuldigen an der Abkehr vom Marxismus zu erklären, als sei Horkheimer dabei irgendwie überrumpelt worden.

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Habermas’ Verhältnis zur Kritischen Theorie wirklich keinerlei Zweifel mehr hegen konnte. Die zunächst etwas paradox erscheinende Attraktivität Habermas’ für diese Art Kritiker der Dialektik der Aufklärung dürfte wohl in der Rückkehr zu einem linear positiven Verständnis der Aufklärung, zu Handfesterem als der „Philosophie und Kulturkritik“ und dem (zumindest potenziell) größeren Praxisbezug von Habermas’ „kommunikativem Handeln“ liegen.16 Hinzu kommt vermutlich, dass man durch die „Eingemeindung“ Habermas’ angesichts der massiven Differenzen zwischen ihm und der gesamten Kritischen Theorie die zum Teil beträchtlichen Unterschiede zwischen den Angehörigen der eigentlichen Frankfurter Schule und die Nuancen innerhalb ihrer Positionen nivellieren und so grob vereinfachende Generalisierungen leichter aufrecht erhalten konnte.

7 Der heutige Stand der Dinge Der heutige Stand der Dinge lässt sich wohl kaum besser illustrieren als durch einen Vergleich zweier jüngst veröffentlichter Handbücher: Dem bereits erwähnten SAGE Handbook of Frankfurt School Critical Theory (2018) einerseits und dem Palgrave Handbook of Critical Theory (Thompson 2017) andererseits. Während, wie wir bereits sahen, Marcel Stoetzler zum (zugegebenermaßen umfangreicheren) SAGE Handbook ein eigenes Kapitel zur Dialektik der Aufklärung beigetragen hat, gibt es im Palgrave Handbook nur ein Kapitel, das sich dezidiert mit einem Einzelwerk beschäftigt, und darin wird nicht etwa die Dialektik der Aufklärung behandelt, sondern Adornos posthum veröffentlichte Ästhetische Theorie. Während Stoetzler die Dialektik der Aufklärung sorgsam würdigt (2018a), lässt Stephen Bronner im Palgrave Handbook im Rahmen eines breiter angelegten Kapitels mit einer Ausnahme kein gutes Haar an ihr (2017a). Entscheidend kommt hinzu, dass Stoetzler die Zentralität der „Elemente des Antisemitismus“ für die Gesamtkonstruktion der Dialektik der Aufklärung herausarbeitet, diese bei Bronner aber schlicht keine Rolle spielen. In seiner abschließenden Würdigung der Frankfurter Schule erwähnt er zwar, in der Dialektik finde sich immerhin „eine innovative Interpretation des Antisemitismus“ (Bronner 2017a, 33). Näheres hat er dazu aber nicht zu sagen. Dass es zwischen dieser „innovativen Interpretation“ und der Dialektik der Aufklärung als Ganzes

16Hier

bestätigt sich indirekt einmal mehr Hullot-Kentors Feststellung, dass Habermas sich „als Wächter der Flamme der Vernunft“ darstelle, in seinem Verhältnis zum Ästhetischen aber eher „die Rage der Vernunft“ zum Tragen komme ([1989] 2006, 32).

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einen Zusammenhang, geschweige denn einen integralen, geben könnte, kommt ihm offenbar nicht einmal in den Sinn. Immerhin müsste sich ihm doch die Frage stellen, wie ein seines Erachtens so umfassend misslungenes, irregeleitetes und irreführendes Buch in eine „innovative Interpretation des Antisemitismus“ münden könne. Es gibt im Palgrave Handbook auch kein eigenes Kapitel über die Bedeutung der Auseinandersetzung der Frankfurter Schule mit dem Antisemitismus für die Entwicklung der Kritischen Theorie. Laut Register wird der Antisemitismus in dem 730seitigen Handbuch insgesamt siebenmal erwähnt – ebenso oft wie die Weltbank (zum Vergleich: Judith Butler bringt es auf dreizehn Einträge). Hinzu kommt noch ein Verweis auf die „Elemente des Antisemitismus“. Für die Dialektik der Aufklärung gibt es im Register 25 Einträge, von denen sich sieben auf das Kapitel von Moishe Postone beziehen. (Zum Vergleich: Lukács bringt es im Register auf 43 Einträge und es kommen noch sieben zusätzliche Verweise auf Geschichte und Klassenbewusstsein hinzu). Gleichwohl bezeichnet auch Bronner die Dialektik der Aufklärung als „das einflussreichste Werk der Frankfurter Schule“. Als konkretes Beispiel für diesen Einfluss fällt ihm dann allerdings nur „ihre bahnbrechende Kritik an der ‚Kulturindustrie‘“ ein. Sie habe „einen ganzen Diskurs geprägt“ (Bronner 2017a, 23 f.). Bronner zufolge erging die Dialektik sich in eben jener ahistorischen Spekulation, von der die Kritische Theorie sich eigentlich habe absetzen wollen. Sie beruhe auf „falscher Konkretheit“ und sehe an all den falschen Stellen kausale Zusammenhänge („false concreteness and misplaced causality“; diesen Vorwurf erhebt er sogar mit gleichem Wortlaut zweimal) (Bronner 2017a, 25, 26). Es wird schnell deutlich, dass Bronners atemberaubendes Unverständnis sich in erster Linie aus zwei Quellen speist. Zum einen ist ihm offensichtlich jeder Einblick in das Wesen dialektischen Denkens erspart geblieben. Bei ihm sind die Dinge, was sie scheinen, und das Wesen einer Handlung oder Position lässt sich an den explizit gemachten Intentionen derer, die sie begehen oder einnehmen, vollständig und widerspruchsfrei ablesen. Unbeabsichtigte Folgen geben zur Überprüfung dieser Intentionen keinen Anlass. Zum anderen geht es bei Bronner auch jetzt noch um den angeblich mangelnden Praxisbezug: Da mühen die Aktivisten sich im Namen der Aufklärung redlich ab, und diese Leute sitzen in ihrem Elfenbeinturm und können an allem immer nur herummäkeln. Zu keinem Zeitpunkt hätten Horkheimer und Adorno „die tatsächlichen Bewegungen berücksichtigt, die sich der instrumentellen Vernunft bedient und sich der Aufklärung verschrieben haben“. Dadurch sei ihre Kritik „scholastisch, abstrakt und vage“ geworden. Der Faschismus, so Bronner apodiktisch, sei nicht „das Produkt irgendeiner philosophischen Dialektik gewesen, sondern die Reaktion der fanatischsten konterrevolutionären Kräfte auf die internationalen

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bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, deren demokratische Werte sich der Aufklärung und ihren politischen Erben verdankten: dem Liberalismus und dem Sozialismus“. Außerdem hätten „der Nationalsozialismus und alle faschistischen Bewegungen ihre Basis vornehmlich in der Bauernschaft und im Kleinbürgertum gehabt. Diese präkapitalistischen Klassen sahen ihre materiellen und ideologischen Interessen durch die Moderne mit ihrer kapitalistischen Produktionsweise und ihren beiden dominanten Klassen, der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse, bedroht.“ Vermutlich will er damit sagen, dass „präkapitalistische“ Klassen die „instrumentelle Vernunft“ noch gar nicht beherrschen gelernt, also auch das von ihr beherrscht werden noch nicht erlernt haben konnten. Kurzum, die Dialektik der Aufklärung „umhüllt reale historische Konflikte mit einem anthropologischen Nebel: Das Metapolitische löscht das Politische aus“ (Bronner 2017a, 25). „Der Sieg der Nazis,“ so Bronner weiter, „ergab sich aus einer realen Auseinandersetzung zwischen realen Bewegungen, deren Mitglieder (verschiedenste) Urteile über ihre Interessen und Werte fällten.“ Horkheimer und Adorno hätten all diese vielfältigen Motive unter ihre eine fixe Idee subsumiert und, was noch schlimmer sei, die Schoa als unvermeidbar beschrieben, obwohl es doch in Wirklichkeit reale Möglichkeiten gegeben hätte, den Aufstieg der Nationalsozialisten zu verhindern (Bronner 2017a, 26).17 So hätten die Autoren der Dialektik der Aufklärung sich schließlich der „ungezügelten Subjektivität“ und einem „hyperintellektuellen politischen Sektierertum“ verschrieben. „Ihre Botschaft der Befreiung wurde in der Tat so aufgefasst, als sei sie in einer Flasche enthalten, die man aufs Meer hinausgeworfen habe“ (Bronner 2017a, 27). Dass Bronner meint, Horkheimer und Adorno „falsche Konkretheit“ vorwerfen zu müssen, kann dabei nur verwundern. Die Vorstellung, dass „Bewegungen“ unvermittelt „die Aufklärung“ verkörpern, ist kaum weniger absurd als seine geradezu kindlich naive Interpretation der Dialektik, der zufolge Horkheimer und Adorno versucht hätten, den Nationalsozialismus monokausal mit „irgendeiner philosophischen Dialektik“ zu erklären. Bei Stoetzler findet dagegen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Dialektik der Aufklärung statt. Er verweist darauf, dass sich in den meisten Absätzen mehrere Gedankengänge fänden, die einander oft gegenseitig dialektisch infrage stellen. Schon durch diese komplexe Form der Darstellung verweigere die ­Dialektik sich einer knappen und geradlinigen Zusammenfassung, und jeder Versuch, eine

17Diese

Anwürfe finden sich, überwiegend wortgleich, auch in Bronners Critical Theory. A Very Short Introduction (2017b, 62 f.), dem zurzeit vermutlich meistgekauften und meistgelesenen Einzelwerk zur Kritischen Theorie.

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solche zu formulieren, könne die tatsächliche Argumentationsführung nur verzerrt wiedergeben. Entscheidende Argumente ergäben sich gerade aus der Spannung zwischen verschiedenen Textblöcken, die gegenseitig ihre jeweilige Bedeutung destabilisierten. Letztlich könne die Bedeutung der Dialektik der Aufklärung darum nur durch close readings substanzieller Passagen, also durch die sorgfältige und detaillierte Auseinandersetzung mit dem Text erschlossen werden (Stoetzler 2018a, 145). In dem Handbuchartikel führt er dies anhand des ersten Abschnitts der Dialektik, „Begriff der Aufklärung“, exemplarisch vor. Seine sorgfältige Exegese des Texts erlaubt es ihm, die sonst fast durchgängig auf den Kopf gestellte Dialektik der Aufklärung zur Abwechslung einmal wieder auf die Füße zu stellen, und so entpuppt sie sich als „überraschend optimistisch“ (Stoetzler 2018a, 151). „Ein Dokument der Verzweiflung zu schreiben,“ so Stoetzler in seinem Beitrag zu diesem Band, wäre schließlich „in Erwägung der Umstände naheliegend gewesen. Es überrascht und verwirrt, dass die Dialektik der Aufklärung kein solches Dokument ist. […] Die dunkle Seite dieser Dialektik ist evident; die optimistische Seite ist erklärungsbedürftig“ (Stoetzler 2018b, 179). Die Vorstellung, die Kritische Theorie habe eine „negative Wendung“ genommen, die von der Dialektik der Aufklärung verkörpert werde, weist er als „grob vereinfachend und wenig überzeugend“ zurück (Stoetzler 2018a, 142). Nirgends in dem Text, so Stoetzler, stehe, dass der Siegeszug der Herrschaft ein zwangsläufiger sei (2018a, 148). Es gehe ja, wie gesagt, um die Dialektik der Aufklärung. Wie Stoetzler in seinem Beitrag zu diesem Band einräumt, können „nur moderne Faktoren […] moderne Ereignisse erklären, aber was die modernen Faktoren eigentlich sind kann nur die Zivilisationskritik entschlüsseln, die das Gegenwärtige als die gegenwärtige Form des Anthropologischen versteht, dessen Zeitdimension die longue durée der Zivilisationsgeschichte ist“ (2018b, 166). Im Übrigen hat James Schmidt jüngst darauf verwiesen, dass die Verortung der Anfänge der Aufklärung in der Antike in den 1930er und 1940er Jahren unter Philosophiehistorikern durchaus üblich war und ihrerseits auf „die Aufklärung“ zurückgeht. So habe unter anderem Moses Mendelssohn in seinem Beitrag „Ueber die Frage: was heißt aufklären“ (1784) auf das Vorbild der antiken Griechen verwiesen (Schmidt 2018, 24 f.). Es ging hier also, wie schon Buck-Morss feststellte, um die Infragestellung einer der „heiligen Kühe des bürgerlichen Rationalismus, der harmonischen Ära des antiken Griechenlands“ (1977, 61).18

18Hierzu

siehe auch Stoetzler (2019).

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Doch bei aller Beschäftigung mit der Zivilisationsgeschichte und Fragen des „Geistes“, so Stoetzler, hätten Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung auf einer materialistischen Perspektive beharrt (2018a, 150). Dabei beruft Stoetzler sich beispielsweise auf folgende Klarstellung aus der Dialektik: „Die konkreten Arbeitsbedingungen in der Gesellschaft erzwingen den Konformismus und nicht die bewußten Beeinflussungen, welche zusätzlich die unterdrückten Menschen dumm machten“ (Horkheimer/Adorno [1947] 1987, 60, Hervorhebung von mir, L.F.). „Das Verhältnis von Kapitalismuskritik und Zivilisationskritik in der Dialektik der Aufklärung“ lasse sich „gut an der Struktur des fünften Kapitels ablesen“ (Stoetzler 2018b, 167). Ja, „die Fragestellung des Buches“ sei „wohl erst bei der Abfassung […] der ‚Elemente des Antisemitismus‘“ vollends klar geworden (Stoetzler 2018b, 166). Sie seien „(in beiderlei Wortsinn) die Aktualisierung der vor allem im ersten Kapitel geleisteten konzeptionellen Arbeit“ (Stoetzler 2018a, 144).19 Das in Vorbereitung befindliche Buch Stoetzlers über die Dialektik der Aufklärung dürfte eine willkommene Gelegenheit bieten, um nach den Jahrzehnten der Nicht- und pauschalisierenden Fehlrezeption und den von der Neuen Linken, dem Poststrukturalismus und den Postmodernen angerichteten Verwüstungen über einzelne Ausnahmen hinaus eine Rezeptionsphase einzuläuten, in der die Mehrzahl der Beteiligten die sorgfältige Lektüre der ganzen Dialektik der Aufklärung, auch unter angemessener Berücksichtigung ihrer Form, in den Mittelpunkt stellt.

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19Neben

Jay (1980) hat sich vor allem Rabinbach (1997, leicht überarbeitet 2000) ernsthaft mit den „Elementen des Antisemitismus“ bzw. der Konzeptionalisierung des Antisemitismus durch die Frankfurter Schule befasst. Weder Jay noch Rabinbach ist es aber meines Erachtens gelungen, deren Zentralität für die Entwicklung der Kritischen Theorie angemessen herauszuarbeiten. Zu diesem Thema siehe auch Fine und Spencer (2017, 44 ff.) und Bonefeld (2019), außerdem Jacobs (2015). Entscheidend für die Fortentwicklung der Antisemitismustheorie in der Tradition der Frankfurter Schule war bekanntlich Postone (1986).

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