Untersuchungen zur Zeitkonzeption in Kants Kritik der reinen Vernunft [Reprint 2013 ed.] 9783110890372, 3110180294, 9783110180299

The present study clearly distances itself from previous literature on the topic by demonstrating that Kant's theor

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Untersuchungen zur Zeitkonzeption in Kants Kritik der reinen Vernunft [Reprint 2013 ed.]
 9783110890372, 3110180294, 9783110180299

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Teil Eins: Die metaphysische und die transzendentale Erörterung des Zeitbegriffs in den §§ 4 und 5 der,Kritik der reinen Vernunft‘
Teil Eins: Vorbemerkungen
Kapitel Eins: Das erste Zeit-Argument: Die Zeit als Bedingung der Wahrnehmung
Kapitel Zwei: Das erste Raumargument: Der Raum als Bedingung der äußeren Wahrnehmung
Kapitel Drei: Das zweite Zeit-Argument: Der Substratcharakter der Zeit
Kapitel Vier: Das dritte Zeitargument: Die Eindimensionalität und Irreversibilität der Zeit
Kapitel Fünf: Das vierte Zeit-Argument: Die Zeit als homogene Einheit
Kapitel Sechs: Das fünfte Zeit-Argument: Die Unendlichkeit der Zeit
Kapitel Sieben: Die transzendentale Erörterung des Begriffs der Zeit (§5)
Teil Zwei: Kants Begründung der Subjektivität der Zeit: der § 6 der ,Kritik der reinen Vernunft‘
Kapitel Acht: Der Schluß auf die Nicht-Objektivität der Zeit: (§ 6a)
Kapitel Neun: Die Begründung der Subjektivität der Zeit: (§ 6b)
Exkurs I: Die Zeit als Form der Anschauung (§ 6b)
Exkurs II: Die Zeit als Formale Anschauung
Exkurs III: Die Darstellung der Zeit im Raum
Kapitel Zehn: Transzendentale Idealität und empirische Realität der Zeit und die ,dritte Möglichkeit‘
Exkurs: Die Widerlegung des Trendelenburgschen Einwandes
Teil Drei: Die Begründung der Phänomenalität des Ich und die Konzeption der Zeit
Kapitel Elf: Innerer Sinn und Selbstaffektion (§8)
Kapitel Zwölf: Die Widerlegung des Idealismus
Literaturverzeichnis
Personen- und Sachregister

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Karin Michel Untersuchungen zur Zeitkonzeption in Kants Kritik der reinen Vernunft

w DE

G

Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke, Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Thomas M. Seebohm

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Walter de Gruyter · Berlin · New York

Karin Michel

Untersuchungen zur Zeitkonzeption in Kants Kritik der reinen Vernunft

Walter de Gruyter · Berlin · New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3-11-018029-4 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar.

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2001 im Fach Philosophie des Fachbereiches 2 der Bergischen Universität / Gesamthochschule Wuppertal als Dissertation angenommen (Erstgutachter Prof. Dr. Manfred Baum, Zweitgutachterin Prof. Dr. Marion Heinz; Tag der Disputation: 20. August 2001). Für die Veröffentlichung wurde die Arbeit stilistisch und an wenigen Stellen inhaltlich überarbeitet. Daß die Dissertation in der vorliegenden Form möglich wurde, verdanke ich in erster Linie der Förderung von Prof. Dr. Manfred Baum, der in zahlreichen intensiven Diskussionen und gemeinsamer Lektüre der Schriften Kants den Fortgang meiner Arbeit mit großem Engagement begleitet hat. Ihm gilt mein besonderer Dank. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Marion Heinz, die mir während der Zeit der Erstellung meiner Dissertation durchgängig fachliche, persönliche und institutionelle Unterstützung gewährt hat. Möglich wurde diese Arbeit nicht zuletzt durch den familiären Rückhalt meiner Mutter und meines Lebensgefährten Hans Jürgen Seemann. Beide haben mich auch in schwierigen Phasen der Arbeit stets ermutigt und bestärkt. Mein Dank gilt schließlich dem freundschaftlichen Beistand von Dr. Friederike Küster und Herrn Andreas Thomas, der mir mit technischer Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage zur Seite stand. Nicht unerwähnt bleiben soll der Walter de Gruyter Verlag, namentlich Frau Dr. Grünkorn, Frau Müller und Herr Schirmer, unter deren freundlicher Beratung die Arbeit in eine publikationsgerechte Form gebracht werden konnte. Den Herausgebern der Kantstudien Ergänzungshefte danke ich für die Aufnahme der Dissertation in ihre Reihe. Wuppertal, im November 2003

Karin Michel

Inhalt Vorwort

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Einleitung

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Teil Eins: Die metaphysische und die transzendentale Erörterung des Zeitbegriffs in den §§ 4 und 5 der .Kritik der reinen Vernunft' Teil Eins: Vorbemerkungen Kapitel Eins: Das erste Zeit-Argument: Die Zeit als Bedingung der Wahrnehmung Kapitel Zwei: Das erste Raumargument: Der Raum als Bedingung der äußeren Wahrnehmung Kapitel Drei: Das zweite Zeit-Argument: Der Substratcharakter der Zeit Kapitel Vier: Das dritte Zeitargument: Die Eindimensionalität und Irreversibilität der Zeit Kapitel Fünf: Das vierte Zeit-Argument: Die Zeit als homogene Einheit Kapitel Sechs: Das fünfte Zeit-Argument: Die Unendlichkeit der Zeit Kapitel Sieben: Die transzendentale Erörterung des Begriffs der Zeit (§5) Teil Zwei: Kants Begründung der Subjektivität der Zeit: der § 6 der .Kritik der reinen Vernunft' Kapitel Acht: Der Schluß auf die Nicht-Objektivität der Zeit: (§ 6a) Kapitel Neun: Die Begründung der Subjektivität der Zeit: (§ 6b)

15 17 25 39 55 69 85 101 121

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Inhalt

Exkurs I: Die Zeit als Form der Anschauung (§ 6b) Exkurs II: Die Zeit als Formale Anschauung Exkurs III: Die Darstellung der Zeit im Raum Kapitel Zehn: Transzendentale Idealität und empirische Realität der Zeit und die .dritte Möglichkeit' Exkurs: Die Widerlegung des Trendelenburgschen Einwandes

165 174 185

191 208

Teil Drei: Die Begründung der Phänomenalität des Ich und die Konzeption der Zeit Kapitel Elf: Innerer Sinn und Selbstaffektion (§ 8) Kapitel Zwölf: Die Widerlegung des Idealismus

219 221 249

Literaturverzeichnis Personen- und Sachregister

285 291

Einleitung Die Auseinandersetzung mit dem Zeitproblem gehört zu den zentralen Themen der Philosophie. Sie begann in der Antike und ist bis in die Gegenwart hinein von besonderer Relevanz für die Behandlung sowohl philosophischer als auch einzelwissenschaftlicher Fragestellungen.1 Diese Auseinandersetzung ist u.a. dadurch gekennzeichnet, daß bereits im Vorfeld der besonderen Problemerörterung die Bestimmung dessen, was überhaupt unter Zeit zu verstehen ist, kontrovers diskutiert wird. Die Diskussion gilt hier vor allem der Frage, ob man bei der Bestimmung der Natur der Zeit primär vom Zeitbewußtsein und Zeiterleben auszugehen hat, ob also die Zeit ursprünglich als etwas .Inneres' zu bestimmen ist und im Feld menschlicher Subjektivität verortet werden muß, oder ob man zu dieser Bestimmung primär bei den Veränderungen der Natur anzusetzen hat, ob also die Zeit ursprünglich als etwas .Äußeres' dem Bereich der Objektwelt zugehört.2 Entsprechend wird die Zeit einerseits als Zeitlichkeit des menschlichen Daseins3, als erlebte Zeit und reine Dauer4, als Eigenzeit5 oder als soziale Zeit in kulturspezifischer Differenzierung6 bestimmt. Andererseits gilt sie als Naturzeit oder als an der Ortsbewegung meßbare physikalische Zeit oder auch als Zeit der Thermodynamik.7 Die vorliegende Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Diskussion zeittheoretischer Fragestellungen. Sie stellt dabei die von Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft begründete Zeittheorie in den Vordergrund. Kants Zeitkonzeption ist insofern von besonderem Interesse, als sie die beiden Momente miteinander in Beziehung bringt, die gemäß der oben angesprochenen Polarisierung in Vgl. dazu Waltet Zimmerli, Mike Sandbothe (Hg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie. Darmstadt 1993; Mike Sandbothe, Die VergitBchung der Zeit. Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissensehaft. Darmstadt 1998; John F. Callahan, Four Views of Time in Ancient Philosophy. Harvard University Press 1948 (Reprint 1968); Gundala S. Herbert, Time. A Metaphysical Study. Easwaran College Book House 1978; J. T. Fraser, The Voices o/Time. Amherst 1981. Vgl. Klaus Düsing, „Objektive und subjektive Zeit". In: Kant-Studien 71, 1980, S. 1-34; Peter Bieri, Zeit und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereichs. Frankfurt a.M. 1972; Charles M. Sherover, The Human Experience of Time. The Development of its Philosophical Meaning. New York 1975; George W. Withrow, The Natural Philosophy of Time. Oxford 1980. VgL Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen 1986. Henri Bergson, „Essai sur les données inmmédiates de la conscience". In: Henri Bergson, Oeuvres. Paris 1970, S. 1-157. Helga Nowotny, Eigenheit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt a.M. 21989. Robert Levine, A Geography of Time. New York 1997. Vgl. z.B. Adolf Grünbaum, Philosophical Problems of Space and Time. Dordrecht 1973.

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Einleitung

der Diskussion um den Zeitbegriff unvereinbar scheinen: Indem Kant die Zeit als ,Form der inneren Anschauung' definiert, gibt er eine spezifische Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Zeit Diese Antwort enthält insofern ein integrierendes Moment, als sie die Zeit einerseits in einer sehr radikalen Weise dem Subjekt zuordnet, andererseits jedoch kompromißlos an der Behauptung der Objektivität der Zeit festhalten kann: Kant macht mit seiner Konzeption der Zeit geltend, daß der Zeit, gerade weil sie sich als strukturelles Moment des menschlichen Anschauungsvollzuges selbst erweisen läßt, auch Realität und objektive Geltung zuerkannt werden muß, wenn auch nur für die Gegenstände der Sinne. Die Zeit ist Kant zufolge die Form apriori der eigenen oriental history' — d.i. des empirischen Selbstbewußtseins im Bewußtsein der Abfolge der jeweils eigenen Vorstellungen und inneren Akte 8 — und läßt sich eben darum auch als objektive Zeit der äußeren Natur ausweisen. Unsere Studie wird dieser besonderen, paradox anmutenden Doppelbestimmung der Zeit nachgehen. Sie wird sich dabei primär auf Kants Begründung der Subjektivität der Zeit konzentrieren und im Ausgang davon zeigen, inwiefern diese Begründung zugleich eine Grundlage für die Bestimmung der Zeitlichkeit der Objektwelt liefern kann. Indem die vorliegende Untersuchung diesen Fokus setzt, wird sie deutlich machen können, daß Kants Zeitkonzeption auch und gerade für die in der Kritik der reinen Vernunft entwickelte Epistemologie von maßgeblicher Relevanz ist und dabei Konsequenzen nach sich zieht, die bis in die Begründung der praktischen Philosophie hineinreichen. In dieser Hinsicht ist ein Theorem von besonderer Bedeutung, das Kant mit seiner Zeittheorie eng verknüpft. Es besteht in der Behauptung, daß die menschliche Erkenntnis grundsätzlich auf Erscheinungen restringiert ist. Kurz gesagt gibt Kant für diese Behauptung folgende Begründung: So wie der Empirismus geht er zunächst davon aus, daß die Inhalte der Erkenntnis durch das Denken zwar bearbeitet, aber nicht als solche erzeugt werden können, sondern durch die Sinne gegeben werden müssen. Im Unterschied zur empiristischen Position vertritt Kant jedoch die Auffassung, daß es Elemente der Erkenntnis geben kann, die selbst nicht der Erfahrung entstammen, daß beispielsweise die Bearbeitung der sinnlichen Gegebenheiten gemäß bestimmter, dem Verstand selber apriori entspringender Begriffe erfolgt. Er führt ferner den Nachweis, daß die Zeit nichts anderes sein kann als eine apriori vorgegebene und damit notwendige, allgemeine und subjektive Bedingung, von der die sinnliche Anschauung ihrer Möglichkeit nach abhängt. Die Bestimmung der Zeit als apriorisches Erkenntniselement bedeutet dann in bezug auf die Gegebenheiten der Sinne, daß diese nicht anders als der Anschauungsbedingung gemäß, d.h. nur als subjektrelative Erscheinungen erfaßt werden können. Aus VgL Heniy Allison, Kant's transcendentalidealism. London 1983, S. 298.

Einleitung

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dieser Argumentation geht wiederum als Konsequenz hervor, daß die auf Sinnesgegebenheiten angewiesene menschliche Erkenntnis prinzipiell nur Erscheinungserkenntnis sein kann. Mit der Ausformulierung dieser Konsequenz legt Kant den Grundstein für seine berühmte Lehre von dem .transzendentalen Idealismus aller Erscheinungen'9 und der Unerkennbarkeit der Dinge an sich. Diese Lehre stützt sich maßgeblich auf die Untersuchungen der Transzendentalen Ästhetik, die Kant im Rahmen seines Projekts einer Vernunftkritik durch die in der Transzendentalen Logik entwickelte Theorie des Verstandes komplementiert. Die Lehre von der Restriktion der menschlichen Erkenntnis auf Erscheinungen stellt eines der Hauptresultate von Kants theoretischer Philosophie dar. In der Transzendentalen Dialektik arbeitet Kant dann die Konsequenz dieser Lehre heraus. Dieser Teil der KrV10 fordert auf dem Boden des transzendentalen Idealismus die vollständige Revision des Wahrheitsanspruchs von Aussagen der traditionellen Metaphysik, sofern dieser Wahrheitsanspruch als solcher auf der Annahme einer Erkennbarkeit der Dinge an sich beruht Eine weitere brisante Konsequenz, die Kant aus seinem transzendentalen Idealismus zieht, besteht in seiner Lehre, daß die Natur aufgrund der Restriktion menschlicher Erkenntnis auf Erscheinungen allein nach Maßgabe einer notwendigen zeitlichen Ordnung, d.i. als durchgängiger kausaler Nexus erkannt werden kann. Damit wird von Kant für das Feld der Erkenntnis und der theoretischen Philosophie jede Möglichkeit durchstrichen, das Problem der Freiheit stellen und behandeln zu können. Das bedeutet jedoch nicht, daß er das Freiheitsproblem als unlösbar betrachtet: Vor dem Hintergrund seiner spezifischen Zeitkonzeption erhebt er vielmehr den Anspruch, daß sich, da auf der Basis dieser Konzeption eine präzise Unterscheidung von Dingen an sich und Erscheinungen möglich wird, erst durch sie die Möglichkeit der Freiheit und damit die Möglichkeit der praktischen Philosophie überhaupt begründen läßt. Darin besteht ein zentrales Anliegen der Kritik der reinen Vernunft. Kann nämlich gezeigt werden, daß die Zeit nichts anderes als eine Anschauungsbedingung des Subjekts ist, so kann auch die Zeitfolge, die nach Maßgabe des Kausalbegriffs (für den Kant einen Ursprung aus dem reinen Verstand nachweist) als notwendig und objektiv vorgestellt wird, nur für Dinge gelten, die Gegenstände der Anschauung und somit Erscheinungen sind. Für den Bereich der Dinge an sich gilt dies jedoch nicht. Kann also ein von den Erscheinungen unterscheidbarer Bereich der Dinge an sich angenommen werden, so ist zumindest für diesen Zum Begriff des transzendentalen Idalismus vgl. A369. Im weiteten Verlauf unserer Untersuchung werden wir die Abkürzung JCrV fur den Titel Kritik der ninen Vernunft verwenden. Ferner gilt fur die Zitationsweise, daß alle Zitate, die einer Rekonstruktion unterzogen werden, vom Text abgehoben und durch eine besondere Schriftart markiert werden. Texte, die eher erläuternden Charakter haben, werden in den laufenden Text integriert und sind dort in jedem Fall als Zitate gekennzeichnet

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Einleitung

Bereich auch die Möglichkeit der Freiheit nicht prinzipiell auszuschließen, wobei unter Freiheit die Möglichkeit zu einem voraussetzungslosen, selbst nicht von zeitlich vorhergehenden Ursachen bedingten Selbstanfang zu verstehen ist. Die von der Zeitauffassung der Transzendentalen Ästhetik abhängige Konzeption der Differenz von Erscheinungen und Dingen an sich bietet so den Ansatzpunkt fur die eigenständige Freiheitslehre, die Kant im Rahmen seiner praktischen Philosophie entwickelt. Kants Zeitkonzeption ist aber nicht allein für seine Erkenntnistheorie und Freiheitslehre von besonderer Relevanz, sondern auch für seine Theorie der Subjektivität und des Selbstbewußtseins. Sie begründet Kants Lehre von der Phänomenalität des Ich und der Sinnlichkeit des Selbstbezuges. Diese Lehre führt zu einer Destruktion der traditionellen rationalen Psychologie und deren Erklärung der Identität des Subjekts durch die Annahme einer sich selbst als Ding an sich erfassenden Seelensubstanz. Kant ersetzt diese Auffassung durch die Konzeption eines Subjekts, das sich in der Zeit seiner eigenen Vorstellungen und inneren Akte und darin seiner selbst bewußt wird, dabei aber stets weltbezogen bleibt, — eines Subjekts, dessen Identität Kant im Rückgang auf die funktionale oder formale Einheit einer synthetischen Verstandeshandlung bestimmt, die als dasselbe Bewußtsein in allem Bewußtsein mannigfaltiger, sinnlich gegebener Bewußtseinsinhalte enthalten ist. Die voranstehende Skizze beleuchtet die weitreichenden freiheitstheoretischpraktischen bzw. erkenntnis- und subjekttheoretischen Konsequenzen von Kants Theorie der Zeit lediglich in groben Zügen. Die Konsequenzen dieser Theorie werden vor allem in der transzendentalen Logik der Kritik der reinen Vernunft sowie in Kants Schriften zur praktischen Philosophie entfaltet. Unsere Studie wird diesen Konsequenzen nicht im einzelnen nachgehen. Ihr Anliegen besteht vielmehr darin, sich auf die eigentliche Arbeit der Begründung des transzendentalen Idealismus zu konzentrieren, die Kant beim Entwurf seiner Zeitkonzeption in der Transzendentalen Ästhetik leistet. Es geht dieser Studie somit primär um eine Untersuchung der Basis, die den eben genannten Konsequenzen zugrundeliegt. Die vorliegende Arbeit wird diese Basis im wesentlichen nach Maßgabe von Zwei Zielsetzungen analysieren: Sie wird zunächst eine Explikation von Kants Konzeption der Subjektivität der Zeit vornehmen. Diese Explikation soll dazu dienen, ein genaues Verständnis der Prämissen und argumentativen Schritte zu gewinnen, auf die sich Kant beim Entwurf seiner Zeittheorie stützt. Die Aufschließung der sachlichen Problematik wird mit Hilfe einer detaillierten systematischen Rekonstruktion der §§ 4, 5, 6 und 8 der Kritik der reinen Vernunft erfolgen. Dabei soll deutlich werden, daß Kant in den Texten der §§ 4 und 5 die Zeitvorstellung zunächst als .Anschauung apriori' erweist, um aus dieser Bestimmung in

Einleitung

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§ 6 auf die Subjektivität der Zeit zu schließen, zugleich aber auch ihre objektive Geltung und empirische Realität zu erweisen und zu zeigen, daß diese mit ihrer Subjektivität vollauf vereinbar ist. Die Untersuchung des § 8 gilt vor allem Kants Entfaltung der subjekttheoretischen Konsequenzen seiner Bestimmung der Zeit. Die in den genannten Paragraphen enthaltenen Argumente sollen im folgenden einer detaillierten Rekonstruktion unterzogen werden. Eine derartige Rekonstruktion ist insofern unentbehrlich, als die unmittelbare Textbasis des ersten Teils der transzendentalen Elementarlehre der Kritik der reinen Vernunß durch eine extreme Knappheit der Darstellung gekennzeichnet ist. Nicht zuletzt ist sie auch deshalb von besonderem Interesse, weil die Untersuchung der Zeit-Erörterung in der bereits mehrere Jahrhunderte umfassenden Rezeptionsgeschichte der Transzendentalen Ästhetik häufig zugunsten der Untersuchung der Erörterung des Raumbegriffs zurückgestellt wurde." Mit der Gewinnung eines genauen Textverständnisses verbindet unsere Untersuchung ein weiteres Ziel: Es geht ihr um die Klärung einiger fundamentaler Begründungsprobleme, die sich im Hinblick auf Kants Zeittheorie stellen. Diese Klärung gehört zu den vordringlichen Aufgaben eines adäquaten Verständnisses der Transzendentalen Ästhetik. Sie ist insofern unerläßlich, als die Tragfähigkeit der von Kant im weiteren Verlauf des Werkes entwickelten Erkenntnis- und Subjekttheorie, der Metaphysikkritik und des Entwurfs der Freiheitslehre zu einem nicht unerheblichen Anteil auf der Tragfähigkeit seiner Zeittheorie beruht. Die formale und inhaltliche Richtigkeit des Schlußverfahrens, mit dem Kant seine Definition der Zeit gewinnt, die Stimmigkeit und Triftigkeit sowohl der einzelnen Zeit-Argumente wie auch des Gesamtaufbaus der Zeit-Erörterung sind also für das Gelingen des Gesamtprojekts der Kritik der reinen Vernunft von entscheidender Bedeutung. Beide Punkte werden von selten der Forschungsliteratur in Frage gestellt. Zweifel an der Triftigkeit einzelner Argumente formulieren die meisten Kommentatoren. Wir werden unten im einzelnen darauf eingehen. Repräsentativ für die Infragestellung der Tragfähigkeit des Gesamtaufbaus der Erörterung ist eine Interpretation, die Sadik Al-Azm in seiner 1967 erschienenen Monographie über Kants Theorie der Zeit vorlegt. Al-Azm geht von der in § 1 der KrV enthaltenen Bestimmung aus, die Form der Erscheinungen (d.h. die Form der Anschauung) müsse „insgesamt im Gemüthe a priori bereit liegen und daher abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden."12 Diese Bestimmung, die in § 1

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Paradigmatisch ist hier der Band 2 von Hans Vaihingen großem Kammentar φ Kants Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart 1881-1892, Nachdruck Aalen 1970. Darin nimmt die Untersuchung von Kants Raumerörterung (d.i. der §§ 2 und 3 der KrV) auf etwa 220 Seiten einen deutlich größeren Umfang ein als die Untersuchung der Zeiterörterung (d.i. der §§ 4-6) auf etwa 30 Seiten. B34.

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Einleitung

der KrV nicht mehr sein kann als lediglich ein erster Ausblick auf das Resultat der folgenden Untersuchung, wird von Sadik Al-Azm als generelle Prämisse aufgefaßt, die den weiteren Ausführungen der Transzendentalen Ästhetik vorangestellt wird und aus der die gesamte darin vorgestellte Theorie hervorgehen soll: „Kant's initial definition of the distinction between the content (matter) and the form of appearances, the tacit assumptions and conclusions of his two isolations plus his complete dismissal of the possibility that formal relations may be given with sensation means that the arguments of the metaphysical expositions are not .proofs' of the Kantian position of this subject. They are systematic elaborations or clarifications of the implications of his original definition and assumptions concerning the concepts of time and space."13 Der von Al-Azm formulierten Auffassung zufolge enthält die Erörterung des Zeitbegriffs (ebenso wie die des Raumbegriffs) lediglich die Explikation einer bereits vorausgesetzten Definition. Würde aber diese Lesart die Intention von Kants Ausführungen treffen, so wäre für seinen Text ein fundamentales Problem zu diagnostizieren: Kant würde dann in seiner Begründung der Subjektivität der Zeit, die er im § 6 der KrV dezidiert als Schluß aus der vorgeschalteten Untersuchung des Zeitbegriffs ausweist, das zu Beweisende — nämlich die Definition der Zeit als Form der Anschauung — bereits voraussetzen. Dies würde jedoch heißen, daß die Beweisführung in der Transzendentalen Ästhetik zirkulär, ihrem Aufbau nach also logisch fehlerhaft wäre. Beim Vorliegen eines derartigen Fehlers wäre Kants Bestimmung der Zeit nicht eigentlich bewiesen und dann möglicherweise nicht mehr als eine willkürliche Setzung des Autors: die Tragfähigkeit der Kantischen Zeitkonzeption wäre insgesamt in Frage gestellt. Von der gleichen Fragwürdigkeit wären dann auch die oben skizzierten Theoreme eines transzendentalen Idealismus, die Kant von seiner Zeitkonzeption abhängig macht. Die aus Sadik Al-Azms Interpretation resultierende Problematik könnte auf diese Weise das gesamte Projekt der Kritik der reinen Vernunft in Frage stellen.14 Im Zuge unserer Rekonstruktion von Kants Zeitkonzeption werden wir gemäß der eben gegebenen Problemdiagnose nicht nur den Gehalt der einzelnen Argumente seiner Erörterung des Zeitbegriffs explizieren und deren jeweilige Trif13

Sadik Al-Azm, Kant's Therny of Time. New York 1967, S. 40. Die eminente Bedeutung der Transzendentalen Ästhetik für die kritische Philosophie Kants läßt sich mit den Worten von Julius Ebbinghaus wie folgt bestimmen: „Und doch hängt an ihr [an der Lehre von der Anschauung apriori, K.M.] wirklich die ganze Lehre der kritischen Philosophie; denn wenn Raum und Zeit nicht Anschauungen apriori sind, so können wir nicht sagen, daß wir es in aller unserer Erkenntnis nur mit Erscheinungen zu tun haben und die ganze Konstruktion einer möglichen Harmonie zwischen dem Reich der Natur und dem der Freiheit fällt dahin." (Julius Ebbinghaus, „Kants Lehre von der Anschauung apriori". In: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 3, hrsg. v. Hariolf Oberer u. Georg Geismann. Bonn 1990, S. 121-138, hier S. 124 f.)

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tigkeit und formale Richtigkeit zu überprüfen haben. Wir werden zusätzlich auch die Gesamtanlage der Erörterung untersuchen und dabei prüfen müssen, ob sie die zirkuläre Struktur, die ihr Al-Azms Interpretation unterstellt, tatsächlich aufweist oder nicht. Diese doppelte Überprüfung wird in Auseinandersetzung mit Einwänden erfolgen, die von maßgeblichen Kommentatoren vor allem aus dem Bereich der angelsächsischen Kant-Forschung vorgebracht werden (H. Allison, P.F. Strawson, L. Falkenstein, P. Guyer, H.J. Paton, N.K. Smith, u.a.). Einige dieser Autoren verfolgen zumindest implizite einen vergleichbaren Interpretationsansatz wie Sadik Al-Azm. Wir werden die Triftigkeit der Kantischen Argumente gegen diese Einwände verteidigen. Unsere Verteidigung wird freilich nicht in bloß apologetischer Absicht gefuhrt. Sie stellt vielmehr den Versuch dar, in der Diskussion um Kants Zeitbegriff eine Position zu beziehen, die eine Auseinandersetzung mit seiner Zeitauffassung und damit auch mit seiner Variante des kritischen Philosophierens in Gang halten und befördern möchte. Unsere Studie erfolgt, wie oben schon erwähnt, methodisch in der Weise einer genauen Rekonstruktion des Textes der Transzendentalen Ästhetik sowie einiger weiterer Abschnitte der Kritik der reinen Vernunft (darunter der mit dem Titel Widerlegung des Idealismus überschriebene Teil der KrV15). Mit diesem Vorgehen setzt sich die Studie einschränkend gegen das Verfahren einer Interpretation ab, das die Transzendentale Ästhetik in ihren zahlreichen Kontexten (historischen, werkgeschichtlichen usw.) untersucht und Kants Theorie in einen offenen, letztlich unabschließbaren Sinnzusammenhang einstellt. Das bedeutet nicht, daß solche Kontexte pauschal ignoriert werden; ihre Berücksichtigung hat sich nur an den Leitgesichtspunkten der Rekonstruktion auszuweisen. Die Rekonstruktion versucht vor allem, die begrifflichen und argumentativen Strukturen der relevanten Textpassagen herauszuarbeiten und deren systematische Unterstellungen aus ihrer häufig nur implikativen Verfassung hervorzuheben und freizulegen. Auf diese Weise soll die Frage der inneren Konsistenz und Triftigkeit der Kantischen Argumentation einer Prüfung zugänglicher gemacht werden. Die Untersuchung besteht aus drei Teilen: Der erste Teil enthält eine detaillierte Rekonstruktion der ,Zeit-Argumente', die Kant in den §§ 4 und 5 der Kritik der reinen Vernunft im Zuge einer Erörterung des Zeitbegriffs vorbringt Der zweite Teil untersucht die in § 6 aus dieser Erörterung erschlossene Theorie von der Subjektivität der Zeit und thematisiert ferner die Frage, wie angesichts dieser Subjektivität die Realität und objektive Gültigkeit der Zeit begründet werden kann. Der dritte Teil handelt im Rahmen einer Rekonstruktion des § 8 von der spezifischen Funktion, die der Zeit in Kants Theorie des Selbstbewußtseins und 15

B274 ff.

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der Selbsterkenntnis zukommt. Im selben Teil wird zum Abschluß der Arbeit das Problem des Zusammenhangs von Selbst- und Weltbewußtsein behandelt, das Kant in seiner Widerlegung des Idealismus thematisiert und als Verhältnis von Zeit und Raum sowie als Verhältnis von innerem und äußerem Sinn bestimmt. Die Methode der Rekonstruktion wird in allen drei Teilen unserer Studie eingesetzt. Mit ihrer Hilfe behandelt der erste Teil die Erörterung des Zeitbegriffs in den §§ 4 und 5 der KrV. Die Rekonstruktion wird zeigen, daß Kant in diesen Paragraphen vier wesentliche Merkmale der Zeit, die im Begriff der Zeit apriori gedacht werden, untersucht. Sie wird ferner zeigen, daß Kant unter Zugrundelegung des Ergebnisses dieser Untersuchung die Vorstellung von der Zeit als eine .Anschauung apriori' bestimmen kann. Wir werden damit deutlich machen, daß Kant seine Zeiterörterung systematisch am Leitfaden der Kategorien orientiert. Diese Orientierung gibt dann auch einen Hinweis darauf, daß er die Zeit in den §§ 4 und 5 als Gegenstand- und gerade nicht als Anschauungsform - thematisiert. Wir werden herausarbeiten, daß Kant die Zeit in den genannten Textabschnitten als synthetische Einheit eines gegebenen Zeit-Mannigfaltigen untersucht, das apriori nach eben jenen kategorialen Hinsichten bestimmt werden kann, unter denen dem Ergebnis der Transzendentalen Analytik der KrV zufolge Gegenstände überhaupt gedacht werden müssen. In dieser Bestimmung der systematischen Leithinsicht von Kants Thematisierung der Zeit folgen wir dem Interpretationsansatz von Klaus Reich16 und Julius Ebbinghaus17. Worin dieser Ansatz genau besteht, werden wir im nächsten Abschnitt genauer erläutern. Im Vorblick auf diese Erläuterung und die eigentliche Textrekonstruktion soll jedoch bereits an dieser Stelle festgehalten werden, daß ein Nachweis des Vorherrschens einer Betrachtungsweise der Zeit, die .gegenstandsorientiert' ist und der Maßgabe der Kategorientafel folgt, zweierlei leistet: Auf der Grundlage dieses Nachweises werden sich zum einen Einwände der Kommentatoren gegen einzelne Argumente Kants entkräften lassen und zum anderen wird das an Sadik Al-Azms Interpretation gebundene Problem einer Zirkularität im Gesamtaufbau der Zeit-Erörterung aufgehoben werden können. Die Rekonstruktion der ZeitErörterung im ersten Teil unserer Arbeit wird somit zu einem negativen, wenn auch für das Projekt der Vernunftkritik selbst äußerst bedeutsamen Ertrag fuhren. Die Rekonstruktion von Kants Argumentation wird im ¡(weiten Teil unserer Untersuchung unter der positiven Fragestellung gefuhrt, auf welche Weise aus der Bestimmung der Zeitvorstellung als .Anschauung apriori' die Subjektivität der 16

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Vgl. Klaus Reich, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Berlin 1932, S. 61. Vgl. neuerdings Klaus Reich, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Manfred Baum, Udo Rameil, Klaus Reisinger und Gertrud Scholz. Hamburg 2001, S. 71. Julius Ebbinghaus, „Kants Lehre von der Anschauung apriori", a.a.O., S. 125.

Einleitung

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Zeit hervorgeht Der zweite Teil der Studie befaßt sich mit dem § 6 der KrV in seinen drei Abschnitten a) bis c). Der erste Abschnitt gilt der eigentlichen Begründung der Subjektivität der Zeit. Wir werden die jeweiligen Begründungsschritte nachvollziehen und zeigen, in bezug auf welche Begriffe und welche Teile der §§ 4 und 5 Kant in § 6 a) erschließt, daß die Zeit „die subjective Bedingung ist, unter der alle Anschauungen in uns stattfinden können".18 Im Rahmen der Rekonstruktion des Abschnitts § 6 b) werden wir dann die eigentliche Definition der Zeit analysieren. Unsere Untersuchung wird dabei der Bestimmung des Formcharakters der Zeit wie auch der Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Zeit als ,Form der Anschauung' und als .Formaler Anschauung'19 jeweils einen eigenen Exkurs widmen. Ein weiterer Exkurs behandelt die von Kant geltend gemachte Abhängigkeit der gegenständlichen Vorstellung der Zeit von der Vorstellung des Raumes. Im Anschluß an unsere Analyse der Definition der Zeit werden wir den Text von § 6 c) untersuchen. In diesem Abschnitt fuhrt Kant aus, daß und inwiefern der Zeit der Doppelcharakter der Subjektivität und transzendentalen Idealität und zugleich der objektiven Geltung und empirischen Realität zuerkannt werden kann. Die Rekonstruktion der zugehörigen Argumentation soll einerseits verdeutlichen, daß und wie Kant mit dieser Doppelbestimmung eine Vereinbarung von zeittheoretisch scheinbar inkompatiblen Bestimmungen gelingt. Sie soll andererseits die Struktur der Begründung des Erscheinungsbegriffs herausarbeiten, der als eines der wichtigsten Fundamente des Projektes der Kritik der reinen Vernunft anzusehen ist. Im Zusammenhang mit der Begründung des Erscheinungsbegriffs werden wir in einem Exkurs das unter dem Namen Trendelenburgs bekannt gewordene Problem des möglichen Doppelstatus der Zeit als Form der sinnlichen Anschauung und als Form der Dinge an sich behandeln. Der dritte Teil der Studie wird sich schließlich mit der Bedeutung von Kants Zeitkonzeption für seine Theorie des Selbstbewußtseins und der Selbsterkenntnis befassen. Die Rekonstruktion wird dabei vom § 6 direkt auf den § 8 der KrV übergehen, in dem Kant das Selbstverhältnis des Ich unter dem Titel der Selbstaffektion thematisiert und die eigentlichen subjekttheoretischen Konsequenzen seiner Definition der Zeit entfaltet. Wir werden im Zuge der Rekonstruktion des § 8 herausarbeiten, daß Kant in diesem Text unter Zugrundelegung seiner Auffassung der Zeit als ein der Sinnlichkeit apriori zugehöriges Moment beweist, daß der Selbstbezug im konkreten zeitlichen Vorstellungsbewußtsein sinnlich sein muß. Dabei wird zugleich bewiesen, daß das unmittelbare, inhaltDer Ausdruck „Fonnale Anschauung" ist der von Kant gewählte terminus technicus für die apiiori mögliche gegenständliche Vorstellung von Raum und Zeit. Vgl. B160 Fn.

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Einleitung

lieh bestimmte Selbstbewußtsein nicht in einer Selbstanschauung des Intellekts bestehen kann. Mit diesem Nachweis wird die traditionelle Auffassving, daß der Rückgang auf das eigene Innere den Direktbezug zu einem Bereich des Seins an sich eröffnet, verabschiedet. Im § 8 legt Kant den Grundstein für seine später in der KrVvorgebrachte Kritik der Rationalen Psychologie20, die sich darauf stützt, daß sich der inneren Anschauung nicht ein substanzielles Ich als letztes Subjekt allen Denkens präsentiert, sondern nur eine Mannigfaltigkeit von Tätigkeiten und Vorstellungen, die in der Zeit auftreten und vorübergehen. Die Auffassung, daß die Selbstanschauung nicht den Träger oder den Akteur erfaßt, der mentale Tätigkeiten ausübt und Vorstellungen hat, impliziert, daß sich das, was das Ich, zu dem die Vorstellungen und Tätigkeiten gehören, an ihm selber ist, der Erkenntnis prinzipiell entzieht. In der Transzendentalen Logik befaßt sich Kant im Kontext einer Untersuchung des Verstandes an zentraler Stelle (vor allem im 2. Abschnitt der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe21) erneut mit der Problematik des Selbstbewußtseins. Er fuhrt dort aus, daß sich das Ich in seiner Funktion, identisches Subjekt seiner Gedanken zu sein, unabhängig von diesen Gedanken als ein reines Ich-denke-Bewußtsein zwar denken, nicht aber anschauen kann. Kant betont, daß es sich bei der Selbstvorstellung eines solchen reinen Ich gerade nicht um eine Sdhsterkenntnis handelt, sondern nur um einen bloßen Gedanken, durch den das mögliche Verbundensein und Zusammengehören mannigfaltiger verschiedener Gedanken in ein und demselben Bewußtsein gedacht werden kann, das als allgemeine Voraussetzung jedes besonderen inhaltlich bestimmten Bewußtseins fungiert.22 Bereits der kurze Blick auf Kants Theorie des Selbstbewußtseins verdeutlicht, daß sie eine spezifische Fassung des Ich-Begriffs vorlegt: Sie handelt einerseits vom Ich, sofern es sich auf zeitlich gegebene Bewußtseinsinhalte bezieht und sich selbst durch diese Inhalte als gegebenen empirischen Gegenstand vorstellen und erkennen kann. Sie handelt andererseits vom Ich, nicht sofern es sich als Objekt vorstellt, sondern sofern es sich seiner selbst als Subjekt seiner Gedanken bewußt ist. Kant unterscheidet demnach zwischen einem empirischen Selbstbewußtsein, das er auch als ein psychologisches Ich' bezeichnet, das sich selbst als Gegenstand des inneren Sinnes in der Zeit erscheint, und dem reinen Selbstbewußtsein oder dem .logischen Ich', das sich selbst unabhängig von gegebenen Bewußtseinsgehalten als unaufhebbare Voraussetzung und notwendiges Subjekt aller seiner Denkhandlungen und Vorstellungsvollzüge denkt23 Mit der Unter20 21 22

Vgl. Von den Paralogismen der reinen Vernunft, B399 ff. B129 ff. VgL z.B. B157 ff. VgL hier und auch zum vorigen Kants Schrift Weihes sind die wirklichen Fortschritte, àie die Mctaphyúk seit Leibni^ens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat von 1804, AA XX, S. 265 ff., vor allem S. 269 f. VgL auch Manfred Baum, „Logisches und personales Ich bei Kant". In: Dietmar H. Heidemann (Hrsg.), Probleme der Subjektivität in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 107-123.

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Scheidung zwischen einem sich nur denkenden und einem sich auch anschauenden Ich will Kant, wie er selbst ausdrücklich betont, nicht eine Theorie der .doppelten Persönlichkeit' entwerfen, sondern lediglich verdeutlichen, welche innere Struktur der Selbstbezug des Subjekts aufweist: Bei dem psychologischen und dem logischen Ich handelt es sich um zwei Aspekte desselben Ich, das sich zum einen allein als Subjekt und zum anderen im Rückgang auf seine konkreten Bewußtseinsinhalte auch als Objekt vorstellen und auf diese Weise, wie Kant es ausdrückt, zu sich selbst ,Ich' sagen kann.24 Die Frage, wie diese Selbstbeziehung möglich ist, beantwortet Kant im Rahmen einer Theorie der ,Selbstaffektion'. Diese Theorie wird Gegenstand des vorletzten Kapitels unserer Untersuchung sein. Darin werden wir zunächst die Rolle bestimmen, die Kant den Ausführungen der Transzendentalen Ästhetik zufolge der Zeit in bezug auf das Selbstverhältnis des Subjekts zuerkennt. Von da aus werden wir einen Ausblick darauf geben, daß und inwiefern die Theorie der Selbstaffektion einen maßgeblichen Beitrag zur Lösung des Problems der Anwendbarkeit der Kategorien als Begriffen von rein spontanen Denkfunktionen des Subjekts auf die Gegebenheiten der Sinne leistet. Aufgrund der zentralen Stellung, die Kant seiner Theorie der Zeit als Form des inneren Sinnes innerhalb der KrV einräumt, stellt sich mit einiger Dringlichkeit die Frage, wie im Rahmen eines .transzendentalen Idealismus' das Verhältnis des inneren Sinns zum äußerem Sinn bzw. das Verhältnis von Zeit und Raum bestimmt wird. Dieser Frage bringt unsere gesamte Studie besondere Aufmerksamkeit entgegen: So enthält sie in ihrem ersten Teil u.a. eine Analyse des ersten Raum-Argumentes und führt mit einer Gegenüberstellung des ersten Zeit- und Raum-Argumentes in die Thematik der Beziehung von Raum und Zeit ein. Im ersten Raum-Argument erweist Kant den Raum als Bedingung apriori der anschaulichen Bezugnahme auf einen Bereich des Äußeren. An anderen Stellen der KrV arbeitet er heraus, daß der Raum in dieser Funktion zugleich der anschaulichen Darstellung der Zeit selbst dient und auf diese Weise auch eine explizit zeittheoretische Bedeutung gewinnt. Im Ausgang von der Untersuchung dieser Bestimmtingen werden wir im Verlauf der vorliegenden Studie deutlich machen können, daß und auch warum die Thematisierung der Beziehung von Raum und Zeit ein stets midaufendes Thema der Kantischen Bestimmung des Zeitbegriffs bleibt. Im Kontext der in der Transzendentalen Ästhetik entwickelten Theorie von der Sinnlichkeit verweist die Beziehimg von Raum und Zeit auf das Verhältnis von innerem und äußerem Sinn. Das zuletzt genannte Verhältnis wird von Kant in 24

VgLAAXX,S. 270.

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einem eigenen Abschnitt der KrV behandelt, der zur Transzendentalen Logik gehört und mit dem Titel Widerlegung des Idealismus überschrieben ist. Diese Widerlegung wird Gegenstand des letzten Kapitels unserer Studie sein. Wir werden darin aufzeigen, auf welche Weise Kant seine Theorie der subjektiven Zeit, des inneren Sinns und des phänomenalen Ich durch den Beweis komplettiert, daß der Selbstbezug im Sinne der inneren Erfahrung und der Selbsterkenntnis nur in Abhängigkeit vom Raum und der äußeren Erfahrung möglich ist Diese Komplettierung macht dann deutlich, daß Kant erst mit der Widerlegung des Idealismus den eigentlichen Ertrag seiner Untersuchung der Sinnlichkeit in der Transzendentalen Ästhetik gewinnt: Durch die Widerlegung werden die Sphären der Zeit und des Raumes, der inneren und äußeren Erfahrung sowie der inneren und äußeren Erscheinung in ihrer wechselseitigen Bedingtheit erwiesen: Während die Transzendentale Ästhetik einen Beweis dafür enthält, daß der innere Sinn und die Zeit notwendige Bedingung für äußere Erfahrung ist, beweist die Widerlegung des Idealismus, daß die innere Erfahrung in ihrer Möglichkeit von einem äußeren Sinn und somit vom Raum abhängig ist. Der Nachweis einer solchen wechselseitigen Abhängigkeit soll deutlich machen, daß im Rahmen von Kants transzendentalem Idealismus der Zeit und dem inneren Sinn keine Priorität gegenüber dem Raum und dem äußeren Sinn eingeräumt wird: Kant zufolge ist für den Menschen und die menschliche Erkenntnis das Weltbewußtsein ebenso konstitutiv wie das Bewußtsein seiner selbst. Indem unsere Studie die Begründung der genuinen Subjektivität der Zeitvorstellung und der objektiven Geltung dieser Vorstellung im ersten Teil der Kritik der reinen Vernunfi rekonstruiert, geht sie zunächst einer explizit zeittheoretischen Fragestellung nach. Die Untersuchung zielt dabei auf die Gewinnung eines adäquaten Verständnisses von Inhalt und Form der Kantischen Erörterung des Zeitbegriffs. Auf der Grundlage dieses Verständnisses wird die Untersuchung zeigen, daß Kant eine Zeitauffassung formuliert, deren Bedeutung über den engen Rahmen rein zeittheoretischer Fragestellungen hinausgeht. Dies betrifft vor allem den Stellenwert, den diese Zeittheorie für die Formulierung einer Subjekttheorie hat, die sowohl die Cartesische Vergegenständlichung des Ich zu einer substantia cogitans als auch die Humesche Reduktion des Ich auf ein bloßes ,Bündel von Vorstellungen' vermeidet.25 Dies betrifft zum anderen die Relevanz der Zeittheorie für die Konzeption eines Idealismus, der den Bezug auf eine extramentale Wirklichkeit weder für unmöglich hält noch als problematisch ansieht. Die Untersuchung macht deutlich, inwiefern Kants Bestimmung des

25

Vgl dazu auch Klaus Diising, Selbstbewußtseinsmodclle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe spr konkreten Subjektivität. München 1997, hier vor allem S. 105 f.

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Wesens der Zeit der Schlüssel zu seiner Theorie der Selbsterkenntnis wie auch zu seiner Theorie der Erkenntnis der äußeren Natur und schließlich der Schlüssel zu seiner Begründung eines praktischen Freiheitsbegriffs ist.

Teil Eins Die metaphysische und die transzendentale Erörterung des Zeitbegriffs in den §§ 4 und 5 der ,Kritik der reinen Vernunft'

Teil Eins: Vorbemerkungen Kant erarbeitet die Grundlagen seiner Zeitkonzeption im zweiten Teil der Transzendentalen Ästhetik. Dieser Teil handelt als einziger Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft explizit und ausschließlich ,Von der Zeit'.26 Den allgemeinen Kontext von Kants Thematisierung der Zeit gibt die Frage vor, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist. Kant bestimmt dabei die Metaphysik ganz im Sinne der Tradition als ein System der „Erkenntnis apriori [...] aus reinem Verstände und reiner Vernunft."27 Charakteristisch für die Metaphysik ist, daß sie in ihren Aussagen den Anspruch erhebt, durch Begriffe, die selbst nicht aus der Erfahrung, sondern aus dem reinem Denken hervorgehen, Erkenntnisse apriori von Gegenständen der Erfahrungswelt zu gewinnen. In einer Untersuchung der Berechtigung dieses Anspruchs nimmt Kant eine Position ein, die sich gegen die philosophische Tradition absetzt: Er setzt nämlich nicht fraglos voraus, daß Metaphysik als Wissenschaft möglich ist, sondern überprüft diese Möglichkeit als solche im Rückgang auf ihre allgemeinen und notwendigen Bedingungen. Motiviert ist Kants Überprüfung u.a. dadurch, daß die Metaphysik bei der Formulierung ihrer Erkenntnisse zu widersprüchlichen Ergebnissen kommt, die als solche die Legitimität ihres Anspruches auf Wissenschaftlichkeit grundlegend in Frage stellen. Kant wählt für seine Untersuchung des Erkenntnisanspruchs der Metaphysik einen besonderen Zugang: Er setzt bei dem Spezifikum an, daß die metaphysischen Erkenntnisse in der Form von Urteilen apriori formuliert werden.28 Er analysiert diesen Urteilstyp und zeigt, daß es sich dabei um den speziellen Fall synthetischer Urteile apriori handelt, die unabhängig von der Erfahrung gebildet werden und somit der .reinen Vernunft' entspringen — um Urteile, wie sie Kant zufolge auch in der Mathematik und der Naturwissenschaft formuliert werden können.29 Kant konzentriert sich dementsprechend bei der Durchführung seines Projekts auf eine Untersuchung der reinen Vernunft als das Vermögen der Formulierung synthetischer Urteile apriori und bestimmt die in der reinen Vernunft enthaltenen elementaren Bedingungen, unter denen diese Formulierung möglich wird. Sein metaphysiktheoretischer Ansatz gewinnt damit zugleich seine erkenntniskritische Dimension: Kant schaltet der eigentlichen Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Metaphysik eine .Kritik der 26 27 28 29

VgL B46, Überschrift. AA IV, Prolegomena § 1, S. 265/66; vgL auch AA VI, Die Metaphysik der Sitten, S. 217; B22; und ferner Dougjas P. Dryer, Kant's Solutionfor Verification in Metaphysics. London 1966, S. 18 ff. VgL AA IV, Prolegomena § 4, S. 272 f. VgL B18 ff.

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Vorbemerkungen

reinen Vernunft' vor, der es um die Gewinnung einer allgemeinen nichtempirischen, d.h. nicht-psychologischen Theorie der Bedingungen der Erkenntnis von Gegenständen durch synthetische Urteile apriori geht. Diese Theorie soll das liefern, was Kant als .transzendentale Erkenntnisse' bezeichnet; dies sind Erkenntnisse darüber, daß und wie gewisse Vorstellungen apriori möglich sind und apriori auf Gegenstände bezogen werden können.30 Im Zuge einer Kritik der reinen Vernunft entwirft Kant also eine Theorie, die, wie er selber sagt, „sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese apriori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt."31 Dem Entwurf seiner .Vernunftkritik' legt Kant die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand als zwei gleichwertigen Erkenntnisquellen zugrunde, die er gesondert untersucht. Im ersten Teil dieser .Kritik', in der Transzendentalen Ästhetik, wird speziell die Sinnlichkeit im Hinblick darauf thematisiert, ob sie gewisse Elemente enthält, die als Bedingungen apriori für den Gegenstandsbezug fungieren, d.h. hier: die als Bedingungen apriori gelten können, unter denen Gegenstände gegeben werden.32 Die Zeitvorstellung wird dabei als eine derartige Bedingung erwiesen. Die Voraussetzungen für diesen Nachweis werden im § 4 der KrV im Rahmen einer Metaphysischen Erörterung des Zeitbegriffs herausgearbeitet, die in § 5 durch eine Transzendentale Erörterung desselben Begriffs ergänzt wird.33 Der Titel dieses § 4: .Metaphysische Erörterung des Zeitbegriffs', ist in mehrfacher Hinsicht programmatisch. Er macht zum einen den Ausgangspunkt von Kants Zeit-Untersuchung deutlich: Dieser liegt dezidiert beim Begriff der Zeit, der einer Erörterung unterzogen wird. Kant setzt den Ausdruck .Erörterung' in der Transzendentalen Ästhetik in einer präzisen Bedeutung ein: .Erörterung' oder .Exposition' ist der terminus technicus für ein bestimmtes Analyseverfahren 34: Er steht für die Gewinnung einer „deutliche[n], wenn gleich nicht ausführliche^] Vorstellung dessen, was zu einem Begriffe gehört".35 Kant unterscheidet die Exposition ausdrücklich von der Definition als einer ausführlichen, klaren und zureichenden Angabe der konstitutiven Merkmale, die einen Begriff eindeutig gegen andere Begriffe abgrenzen. In bezug auf eine solche Abgrenzung betont Kant dann, daß sie im eigentlichen Sinne nur für Begriffe möglich ist, „die 30 31 32 33 34

35

Vgl. B80. VgL B25. Vgl. B30. Im zweiten Teil des Werkes, in der Transzendentalen Logik, wird dann der Ventami auf in ihm enthaltene Bedingungen apriori untersucht, unter denen Gegenstände gedacht werden. Vgl. B74. VgL B46 und B48, Überschrift Im § 105 seiner Logik gibt Kant die folgende Bestimmung vom Exponieren eines Begriffs: „Das Exponiren eines Begriffs besteht in der an einander hängenden (successiven) Vorstellung seiner Merkmale, so weit dieselben durch Analyse gefunden sind." (AAIX, Logik § 105, S. 143) B38.

Vorbemerkungen

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ich [...] selbst vorsätzlich gemacht habe".36 Und als .selbst gemacht' im eigentlichen Sinne können Kant zufolge nur die mathematischen Begriffe gelten, weil sie sich ihrem Inhalt nach auf Gegenstände beziehen, die apriori erzeugbar sind und daher nicht mehr und nicht weniger Merkmale aufweisen, als durch ihren Begriff gedacht werden.37 Das soll bedeuten: Weil sich die Gegenstände mathematischer Begriffe apriori konstruieren lassen, ist auch der Inhalt dieser Begriffe vollständig bekannt und daher ganz präzise anzugeben. Alle anderen Begriffe sind dagegen nicht in diesem Sinne selbst gemacht, sondern entweder empirisch oder apriori .gegebene' Begriffe. Gegebene Begriffe aber sind Kant zufolge nicht im eigentlichen Sinne definierbar, weil über ihren Inhalt nicht eindeutig zu befinden ist. So ist der Inhalt von empirisch gegebenen Begriffen häufig strittig oder muß durch einen Zugewinn von Erfahrung revidiert werden. Er steht, wie Kant sich ausdrückt, „niemals zwischen sicheren Grenzen".38 Aber auch bei apriori gegebenen Begriffen kann man nicht sicher sein, ob sie außer den deutlich bewußten Merkmalen nicht noch weitere enthalten, die bei der Verwendung des Begriffs zwar relevant sind, als solche aber unthematisch bleiben. Daß ein gegebener Begriff ausführlich genug entwickelt ist, kann demgemäß immer nur vermutet, aber nicht apodiktisch gewiß gemacht werden.39 Daher kommt für ihn nur eine Annäherung an die Definition in Frage. Eine solche Annäherung aber erfolgt durch eine Exposition. Kant stellt heraus, daß es gerade in der Philosophie legitim ist, nicht mit Definitionen, sondern mit Expositionen zu beginnen, weil hier im Unterschied zur Mathematik die Gegenstände der Begriffe nicht konstruiert werden können, sondern vorgegeben sind. Das Verfahren der Exposition kann jedoch durchaus auf eine Definition des Begriffs hinführen, weil sich in bezug auf seine exponierten Merkmale Schlüsse ziehen lassen, die zum Abschluß der Untersuchung eine präzise Bestimmung des Begriffs ermöglichen.40 Eben diesem Verfahren folgt Kant in seiner Untersuchung des Zeitbegriffs (und des Begriffs vom Raum). Er geht vom Zeitbegriff als einem gegebenen Begriff aus, der kein empirischer Begriff sein kann, eben weil die Zeit als solche kein empirisch gegebenes Ding, kein Gegenstand der Wahrnehmung ist. Er erörtert diesen Begriff in Hinsicht auf die Frage nach den Grundlagen der Metaphysik als einer apriorischen Erkenntnis von Gegenständen. Entsprechend wird der Zeitbegriff einer .metaphysischen' Erörterung unterzogen. Mit der Verwendung des Ausdrucks .metaphysisch' verdeutlicht Kant in der Überschrift des § 4, daß der 36 37 38 39 40

B757. VgL ebda. B7S6. Vgl. ebda. Vgl. B758.

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Vorbemerkungen

Zeitbegriff hinsichtlich solcher Merkmale exponiert werden kann, die nicht der Erfahrung entstammen, aber auch nicht durch eine Konstruktion erzeugt werden können, sondern als Bestimmungen aufgefaßt werden, die der Zeit als solcher apriori zugesprochen werden und die dadurch den Zeitbegriff als apriori gegebenen Begriff ausweisen. Der Umstand, daß Kant den Zeitbegriff als einen apriori gegebenen Begriff erörtert, ist an dieser Stelle deshalb von besonderem Interesse, weil er einen ersten Hinweis auf die Beantwortung der Frage nach der Gesamtanlage von Kants Untersuchung enthält. Begriffe sind nämlich Kant zufolge als Vorstellungen zu bestimmen, die sich vermittelst der in ihnen enthaltenen Merkmale auf Gegenstände beziehen, die durch den jeweiligen Begriff gedacht werden. Dies gilt auch für den Zeitbegriff, der sich auf die Zeit bezieht. Indem Kant apriori vorstellbare Inhalte dieses Begriffs exponiert, thematisiert er also eben solche Merkmale, durch die sich das Denken apriori auf die Zeit als Gegenstand des Zeitbegriffs beziehen kann. Insofern läßt sich hier sagen, daß die metaphysische Exposition des Zeitbegriffs zugleich auch von der Zeit als einem Gegenstand handelt. Das aber heißt, daß die Zeit im Kontext von Kants Exposition zunächst noch nicht als Formprinzip der Anschauung untersucht wird. Sie wird hier vielmehr als ein Gegenstand erörtert, der sich vermittelst seines Begriffes denken und sich durch Urteile bestimmen läßt, in denen dem Gegenstand Zeit die in seinem Begriff enthaltenen Merkmale apriori als Prädikate zugesprochen werden. Erst das Ergebnis der Untersuchung dieses Gegenstandes erlaubt es Kant, im § 6 der KrV auf die eigentliche Provenienz und den ursprünglichen Charakter der Zeitvorstellung zu schließen. Und erst dieser Schluß bildet die Grundlage für die präzise Bestimmung des Wesens der Zeit als Form des inneren Sinnes. Wir werden diese argumentativen Schritte in der Untersuchung der §§ 4-6 der KrV im einzelnen nachvollziehen. Ein weiteres Indiz dafür, daß Kant die Zeit in seiner Zeiterörterung nicht von vornherein als Form der Anschauung, sondern zunächst als einen Gegenstand thematisiert, enthält die Systematik, die Kant seiner metaphysischen Erörterung des Zeitbegriffs zugrundelegt. Zu der Erörterung gehören vier Passagen, die jeweils ein bestimmtes Merkmal des dabei in Frage stehenden Begriffs bzw. eine besondere Bestimmung apriori der Zeit behandeln. Bezüglich der Auswahl dieser Merkmale oder Bestimmungen kann nachgewiesen werden, daß Kant sich an den allgemeinen, nicht-empirischen Weisen des Denkens von Gegenständen überhaupt orientiert. Auf dieses Verfahren hat zuerst Klaus Reich hingewiesen.41 Kants Orientierung läßt sich im Vorhinein kurz wie folgt verdeutlichen: 41

Vgl. Klaus Reich, Die Vollständigkeit..., a.a.O., S. 5 9 / 7 1 . Vgl. fernen Udo Rameil, Raum und Außenwelt. Interpretationen Kants kritischem Idealismus. Köln 1977, S. 106 ff. Reich behandelt diesen Punkt mit Bezug auf die Exposition des Raumbegnffs.

Vorbemerkungen

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Als gegebener Begriff ist der Zeitbegriff zunächst eine Vorstellung bzw. ein Inbegriff von Vorstellungen, die mit Bewußtsein auf einen Gegenstand bezogen werden.42 Der Gegenstand des Zeitbegriffs ist die Zeit, d.i. die Vorstellung einer objektiven Einheit, in der eine Mannigfaltigkeit möglicher gegebener Zeiten vereinigt vorgestellt wird. Der Zeitbegriff bezieht sich auf seinen Gegenstand vermittelst der in ihm gedachten Merkmale. Wir werden zeigen, daß diese Merkmale die Zeit als wahrnehmungsnotwendig, als Substrat aller Dinge, als homogene Einheit, als unendlich groß bestimmen. Für die Auswahl gerade dieser Merkmale der Zeit im Kontext einer ,metaphysischen Exposition' läßt sich zeigen, daß sie den allgemeinsten Hinsichten gemäß sind, unter denen das Denken von Gegenständen überhaupt möglich ist. Diese allgemeinsten Hinsichten bezeichnet Kant in der Transzendentalen Logik der JCrKals Kategorien.43 Kategorien sind Kant zufolge Begriffe apriori von Grundweisen des Denkens von Objekten überhaupt, die sich durch eine Reflexion auf die logischen Formen der Verbindung von Begriffen zu Urteilen vollständig angeben lassen.44 Kennzeichnend für das Urteil ist, daß es im Unterschied zum bloßen Begriff wahr oder falsch sein kann: Im Urteil wird der Anspruch erhoben, daß die in ihm verbundenen Vorstellungen objektiv in einem Bewußtsein zusammengehören können. D.h. daß im Urteil der Anspruch erhoben wird, über eine bloß subjektive Vorstellungsverbindung hinausgehend auch Verhältnisse im Gegenstand zu treffen. Das Urteil erhebt als Vorstellungsverbindung den Anspruch, mit einem Gegenstand übereinzustimmen und insofern objektiv und damit intersubjektiv gültig zu sein. Jedes Urteil ist so verstanden eine Objektivität beanspruchende Vorstellungsverbindung. Das Urteil besitzt zugleich eine logische Form, die auf bestimmte Funktionsweisen des Verstandes verweist, welche die Arten determinieren, in der im Urteil Vorstellungen verbunden werden können. Die logische Form schreibt z.B. vor, daß im Urteil ein Begriff als Subjekt und ein anderer als Prädikat fungieren muß. Diese Struktur bietet dann den allgemeinen Rahmen dafür, einen Gegenstand überhaupt als ein Ding mit Eigenschaften bestimmen zu können. Das Beispiel deutet an, inwiefern die dem Urteilen zugrundeliegenden logischen Funktionen als Grundweisen des Denkens von Objekten überhaupt aufzufassen sind. Kant fuhrt für diese logischen Funktionen eine Tafel von Begriffen apriori ein, die er Kategorien nennt, weil sie sich auf die allgemeinsten Weisen des Denkens von bestimmten Objekten beziehen.45 Für Kants Erörterung der Zeit hat die Kategorientafel vor allem eine methodische Bedeutung: Da diese Tafel den Untersuchungen der Transzendentalen Legk 42 43 44 45

Vgl. AAIX, Logik §1, S. 91. Vgl. Klaus Reich, Die Vollständigkeit..., a.a.O., S. 59 / 71. VgL B90 ff. Vgl. dazu auch Klaus Reich, Die Vollständigkeit..., ebda. VgL B105 f.

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Vorbemerkungen

gemäß die Begriffe apriori der verschiedenen Grundweisen gegenstandsbezogenen Denkens vollständig umfaßt, kann diese Tafel systematisch die Behandlung eines jeden Gegenstandes des Denkens anleiten. So gehört zum Denken jedes möglichen Objekts die der logischen Quantität des Urteils entsprechende Bestimmung, daß es als Objekt die Einheit einer Vielheit von Einheiten ist Es gehört dazu ferner die der Urteilsqualität entsprechende Bestimmung, daß und gegebenenfalls in welchem Maße dieser Einheit Prädikate oder Bestimmungen zukommen oder nicht zukommen. Ebenfalls gehört dazu die der logischen Relation im Urteil entsprechende Bestimmung, daß das Objekt im Verhältnis zu diesen Bestimmungen als Subjekt bzw. Träger oder Substrat fungiert und daß es gemäß der Urteilsmodalität, d.h. in Entsprechung zu den Formen der Urteilsgewißheit, selbst als möglich, wirklich oder notwendig zu bestimmen ist. Wir werden in der nachstehenden Rekonstruktion der Zeit-Argumente des § 4 der KrV ausführen, inwiefern die genannten kategorialen Momente Kants Erörterung des Zeitbegriffs und die Bestimmung der Zeit als Gegenstand leiten. Im Anschluß an Klaus Reich werden wir dabei zeigen, daß Kant im ersten ZeitArgument die Zeit unter der Hinsicht der Modalität thematisiert: Hier wird das im Zeitbegriff apriori gedachte Merkmal der Notwendigkeit der Zeit im Verhältnis zur Erkenntnis, näherhin im Verhältnis zu dem Anteil, den die Wahrnehmung an der Erkenntnis hat, exponiert. Über die Zeit wird dabei ausgesagt, daß sie eine notwendige Voraussetzung der Wahrnehmung ist. Im Ausgang von dieser Aussage wird dann die Nicht-Empirizität der Vorstellung von der Zeit erwiesen. Das zweite Zeit-Argument untersucht die Zeit unter der kategorialen Hinsicht der Relation: Hier wird über die Zeit gesagt, daß sie als Träger alles Anschaubaren fungiert. Exponiert wird dabei die im Begriff der Zeit gedachte Bestimmung des Gegenstandes Zeit als eines notwendigen und allgemeinen Substrates, als das die Zeit im Verhältnis zu den Erscheinungen bestimmt werden kann. Daraus, daß die Allgemeinheit und Notwendigkeit dieser Trägerfunktion nicht empirisch zu legitimieren ist, schließt Kant erneut, daß die Vorstellung von der Zeit nicht durch Erfahrung gewonnen sein kann. Das vierte ZeitArgument46 thematisiert die Zeit unter dem Gesichtspunkt der Qualität: Erörtert wird darin die notwendige Singularität der Zeit und die dadurch bedingte Homogenität der Zeiten als Bestimmungen (Teile) der Zeit. Daraus wird in bezug auf die Zeitvorstellung gefolgert, daß sie nicht allgemein im Sinne eines Begriffs sein kann und daher ursprünglich anschaulich sein muß. Das fünfte Zeit-Argument behandelt die Zeit abschließend unter der systematischen Hinsicht der Quantität Untersucht wird hier die uneingeschränkt gegebene Größe der Zeit. Kant fuhrt Das dritte Zeit-Argument enthält eine von Kant so bezeichnete .transzendentale Erörterung' des Zeitbegriffs, auf die wir unten genauer eingehen werden. Die Erörterung des Zeitbegriffe gemäß der Systematik der Kategorientafel betrifft nur die metaphysische Erörterung des Zeitbegriffs, d.h. die Punkte 1), 2), 4) und 5) des § 4.

Vorbemerkungen

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in diesem Zeit-Argument vor Augen, daß jeder möglichen Angabe bestimmter Zeitgrößen die Vorstellung von der Zeit als einem gegebenen Quantum zugrunde liegt, das sich durch keine Größenbestimmung ausschöpfen läßt, weil es als ein Ganzes vorgestellt wird, das als solches alle seine Teile möglich macht Er schließt daraus, daß die Vorstellung dieses Ganzen kein Begriff sein kann, weil Begriffe nur analytische Einheiten des Bewußtseins sind, d.h. weil Begriffe nur als Vorstellungen von gemeinsamen Teilen anderer Vorstellungen gedacht werden können, nicht aber als Ganze, die ihre Teile ermöglichen. Dieser kurze, noch ganz vorläufige Blick auf die Systematik des § 4 macht in einem ersten Anlauf deutlich, inwiefern gegen Sadik Al-Azms Interpretationsansatz geltend gemacht werden kann, daß Kants Zeiterörterung zunächst der gegenständlich vorgestellten Zeit gilt Die Orientierung am Leitfaden der Kategorien gibt dabei vor, wie und durch welche Punkte die metaphysische Betrachtung der Zeit geführt werden muß, um vollständig zu sein.47 Sie garantiert die Erschöpfung aller Momente des Verstandes (Modalität, Relation, Qualität, Quantität), nach denen die Zeit apriori als Objekt bestimmt und der Begriff der Zeit als apriori gegebener Begriff dieses Objektes exponiert werden kann. Auffällig ist dabei, daß Kant in der Untersuchung dem kategorialen Leitfaden in einer Anordnung folgt, die der Ordnung der eigentlichen Urteils- und Kategorientafel entgegengesetzt ist.48 Klaus Reich gibt als Grund für diese Abweichung an, daß Kant sich in der metaphysischen Exposition des Raum- bzw. Zeitbegriffs eines .analytischen' Verfahrens bedient49, weil diese Begriffe apriori gegebene Begriffe sind und nicht .gemachte' mathematische Begriffe, deren Inhalt bzw. deren Gegenstände synthetisch konstruierbar sind.50 Insofern werden die methodischen Leithinsichten der Exposition ebenfalls in einem analytischen Zusammenhang vorgestellt.51 Kant beginnt seine Untersuchung mit dem Nachweis, daß die Zeitvorstellung kein empirischer Begriff, sondern apriori gegeben 47

48 49

*

VgL AAIV, Prokgmena § 39, S. 325: „Dieses System der Kategorien macht nun alle Behandlung eines jeden Gegenstandes der reinen Vernunft selbst wiederum systematisch und giebt eine ungezweifelte Anweisung oder Leitfaden ab, wie und durch welche Punkte der Untersuchung jede metaphysische Betrachtung, wenn sie vollständig werden soll, müsse geführt werden: denn es erschöpft alle Momente des Verstandes, unter welche jeder andere Begriff gebracht werden muß." Vgl. B95, B106; ferner AA IV, Probgmena § 21, S. 302. VgL Klaus Reich, DU Vollständigkeit..., a.a.O., S. 59 / 71. Vgl. B758. Im Kontext des Aufsuchens der Kategorien in § 10 der Kritik werden diese in einer synthetischen Reihenfolge präsentiert: Hier beginnt Kant mit dem ,einfachsten' Kategorientitel der Quantität, um zur Qualität überzugehen (der Begriff der Realität setzt den Begriff der Größe voraus) und dann zur Relation (der Begriff des Verhältnisses von Substanz und Akzidenz setzt den Begriff der Realität voraus). Die Modalität ist schließlich der ,komplexeste' KategorientitcL So setzt der Gedanke der Existenz eines Objekts den Begriff von dem, was das Objekt ist, voraus. Das aber wird den drei Titeln der Relation, der Qualität und Quantität gemäß bestimmt VgL dazu Klaus Reich, Die Vollständigkeit ..., a.a.O., S. 56 / 67; Udo Rameil, Raum und Außenwelt..., a.a.O., S. 109 f.

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Vorbemerkungen

ist. Dieser Nachweis bestimmt zunächst das Verhältnis der Zeit zur Erkenntnis überhaupt. Erst dann geht Kant zurück auf die Bestimmung, was die Zeit als solche in ihrer Relation zu den Erscheinungen, ihrer Qualität und Quantität nach Zum Abschluß unserer methodischen Vorbetrachtungen soll noch einmal ausdrücklich betont werden, daß darin die Kategorientitel nicht zur Erkenntnis der Zeit als eines wirklichen Objekts angewendet werden. Die Titel geben lediglich die systematischen Aspekte an, unter denen die Zeit apriori als metaphysischer Gegenstand gedacht und unter denen die Thematik und die Anordnung der Argumente bestimmt werden kann.53 Kant untersucht die Bedingungen apriori des Denkens von Gegenständen überhaupt im Rahmen seiner Theorie des Verstandes in der Transzendentalen Logik. Die Transzendentale Ästhetik zielt dagegen nur auf eine Bestimmung der Bedingungen apriori für die Anschauung von Gegenständen. Kant hebt eigens hervor, daß er die Sinnlichkeit in Isolation vom Verstand untersucht 54, er stellt somit in der Transzendentalen Ästhetik den Anteil, den der Verstand bei der Vorstellung von Raum und Zeit hat, nicht eigens heraus. Dieser Anteil muß jedoch für die Durchführung der Untersuchung selbst zumindest methodisch vorausgesetzt werden. Denn ohne ihn wäre Kants eigener Theorie zufolge eine denkende Bezugnahme auf den Gegenstand ,Zeit' als solche nicht mögjich und damit auch die Möglichkeit durchstrichen, überhaupt etwas über die Zeit aussagen bzw. überhaupt untersuchen und bestimmen zu können, was Zeit ist. Was genau Kant in seiner Transzendentalen Ästhetik über die Zeit zu sagen hat, werden wir in den folgenden Kapiteln ausfuhrlich darlegen.

52 53

54

Vgl. Klaus Reich, Die Vollständigkeit..., a.a.O., S. 61 / 72. Ein Textabschnitt des Opus postumum verdeutlicht dies wie folgt „Der Raum ist nicht etwas Existierendes außer meiner Vorstellung: eben so wenig auch die Zeit; dennoch aber etwas a priori gegebenes was auch unter Categorien gebracht werden kann z.B. der Einheit derselben (es ist Ein Raum und Zeit) Als eine Größe die als Ganzes immer nur wie ein Theil eines angegebenen noch größeren Ganzen mithin als unendlich gedacht werden muß." AA XXII, S. 22. Vgl. dazu auch Udo Rameil, Raum und Außenwelt, a.a.O., S. 109. Vgl. B36.

Kapitel Eins Das erste Zeit-Argument: Zeit als Bedingung der Wahrnehmung Die beiden ersten Argumente der Zeiterörterung gelten gleichermaßen dem Nachweis der Erfahrungsvorgängigkeit der Zeitvorstellung. Kant fuhrt diesen Nachweis im Ausgang von der Exposition zweier Merkmale des Zeitbegriffs, die der Zeit apriori zugesprochen werden können. Die Zeit wird dabei als Gegenstand untersucht, der nach Maßgabe der kategorialen Gesichtspunkte der Modalität und Relation thematisiert wird: Das erste Zeit-Argument bestimmt die Zeit unter der Hinsicht der Modalität in ihrem Verhältnis zur Sinnlichkeit als einem Erkenntnisvermögen, untersucht wird die Funktion der Zeit innerhalb der Wahrnehmung. Sie wird dabei als notwendige Bedingung der Wahrnehmung erwiesen. Aus diesem Nachweis schließt Kant, daß die Zeitvorstellung keine empirische Vorstellung sein kann. Das zweite Zeit-Argument thematisiert dann die Zeit gemäß der kategorialen Hinsicht der Relation, indem es darauf rekurriert, daß die Zeit im Verhältnis zu jedem möglichen Gegenstand der Wahrnehmung als ein Substrat bestimmt werden kann. Aus der Notwendigkeit dieses Substratcharakters schließt Kant ein zweites Mal, daß die Zeitvorstellung nur von apriorischer Provenienz sein kann. Die systematische Konzeption der Untersuchung nach kategorialen Gesichtspunkten gibt demnach nicht nur einen Hinweis darauf, daß Kant die Zeit als eine Art von Gegenstand thematisiert, sie macht auch einsichtig, warum er voneinander abgehobene Argumente zum Nachweis der Nicht-Empirizität bzw. Apriorität der Zeitvorstellung anfuhrt· Das erste Argument erweist die Apriorität im Rückgang auf eine .epistemische' Notwendigkeit der Zeit, das zweite Zeit-Argument thematisiert dagegen eine ,ontologische' Notwendigkeit, die der Zeit relativ auf das empirisch bestimmte Dasein in ihr zuerkannt werden kann. Wir werden im folgenden zunächst eine Rekonstruktion des ersten ZeitArgumentes vornehmen und dabei zeigen, wie Kant in diesem Abschnitt des § 4 die Zeit als Bedingung der Wahrnehmung erweist und von da aus auf die NichtEmpirizität der Zeitvorstellung schließt. Der Untersuchung des zweiten ZeitArgumentes wird eine Analyse des ersten Raum-Argumentes vorgeschaltet Der Einschub der Bestimmung des Raumbegriffs erfüllt dabei den Zweck einer Einfuhrung: Zum einen soll dadurch die grundlegende epistemische Funktion erläu-

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Das erste Zeit-Argument

tert werden, die Kant dem Raum als Bedingung apriori der Möglichkeit für die Bezugnahme auf Gegenstände ,außer mir' beimißt Andererseits dient dieser Einschub dem Aufiriß der Problematik des Verhältnisses von Raum und Zeit, die uns in unserer Studie durchgehend beschäftigen wird. Die Relevanz der Frage nach dem Verhältnis von Raum und Zeit wird dabei vor allem im letzten Kapitel dieser Arbeit in einer Analyse von Kants Widerlegung des Idealismus deutlich werden. Bei der Rekonstruktion aller von Kant durchgeführten Argumente werden wir der in der Einleitung angesprochenen Problematik einer möglichen Zirkularität im Gesamtaufbau der Transzendentalen Ästhetik und speziell des Abschnittes ,Von der Zeit' besondere Aufmerksamkeit widmen.55 Dasselbe gilt für Einwände der Kommentatoren gegen die einzelnen Argumente. Wir werden demgemäß für jedes Argument gesondert zu zeigen haben, daß und inwiefern es die Zeit nicht als Form der Anschauung, sondern als Gegenstand des Zeitbegriffs thematisiert und mit der Analyse des Gehaltes der jeweiligen Argumente auch deren formale Folgerichtigkeit prüfen. Das im folgenden näher zu untersuchende erste Zeit-Argument scheint indessen zunächst Sadik Al-Azms Annahme zu bestätigen, Kant setze bei der metaphysischen und transzendentalen Erörterung des Zeitbegriffs bereits die Bestimmung der Zeit als Form der Anschauung voraus: Denn das erste Zeit-Argument geht vom Zugleichsein und Aufeinanderfolgen aus — von Zeitverhältnissen der Wahrnehmungsgegenstände. Es setzt also bei .gewissen Verhältnissen' an, die im § 1 der KrV als Weisen oder .Formen' der Ordnung des Anschaubaren bestimmt wurden.56 Kant scheint also tatsächlich schon an dieser Stelle von der im § 1 eingeführten Dichotomie zwischen der Form und der Materie der Anschauung Gebrauch zu machen und damit einen Gedanken vorauszusetzen, der im § 6 dezidiert als Schluß aus der Untersuchung der Zeit präsentiert wird. Im Gegenzug zu Al-Azms Vermutung werden wir im Zuge unserer Analyse deutlich machen können, daß Kant die Zeitverhältnisse im ersten Zeit-Argument primär mit Bezug auf die Vorstellung einer einheitlichen Zeit thematisiert, die zeitliche Verhältnisse und Ordnungen des Wahrgenommenen ermöglicht Der Schwerpunkt unserer Rekonstruktion wird bei dem Nachweis liegen, daß Kant die Zeitvorstellung als Voraussetzung dafür erweist, in der Wahrnehmung zwischen Vorstellung und wahrgenommenem Gegenstand und im Ausgang davon zwischen Konstanz und Veränderung in diesem Gegenstand zu unterscheiden. Auf diese

56

Zur Problematik einer Zirkularität in Kants Argumentation Tg], noch einmal den entsprechenden Abschnitt in der Einleitung zu dieser Arbeit VgJ. B34.

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Weise wird unsere Analyse des ersten Zeit-Argumentes zweierlei leisten: Sie wird nicht nur die Auffassung Sadik Al-Azms widerlegen können, Kant habe das erste Zeit-Argument konzipiert als „[...] tautological deduction resulting from his earlier twofold step of seperating the form of appearances from their contents (sensation) and holding that the form is fundamentally extraneous to the informed contents."57 Sie wird ferner einen Einwand entkräften können, der vor allem in bezug auf das erste Raum-Argument formuliert wurde, jedoch aufgrund der Parallelfuhrung der Untersuchungen von Raum und Zeit problemlos auf das erste Zeit-Argument übertragen werden kann. Der Einwand wurde zuerst von Johann Georg Feder, einem Zeitgenossen Kants, vorgebracht, später von Hans Vaihinger aufgenommen und in neuerer Zeit wieder und in verschärfter Form von Peter F. Strawson vertreten.58 Angewendet auf die Zeit-Erörterung lautet der Einwand: Die im ersten Zeit-Argument geltend gemachte Priorität der Zeitvorstellung vor der Vorstellung der Zeitverhältnisse als den besonderen Arten des Inder-Zeit-seins wahrnehmbarer Dinge und Ereignisse beweist nicht die Apriorität der Zeitvorstellung. Wir werden diesen Einwand unten genauer als Leithinsicht für die Klärung der Frage explizieren, wodurch genau im ersten Zeit-Argument die Apriorität der Zeit verbürgt werden soll. Zunächst aber zur eigentlichen Rekonstruktion des ersten Zeit-Argumentes: Kant stellt diesem Argument eine These voran, die sich sowohl gegen rationalistische wie gegen empiristische Ansätze in der Zeittheorie richtet, die in der Auffassung übereinstimmen, daß die Zeit eine relationale Bestimmung der Dinge an sich ist: Beide Ansätze betrachten den Zeitbegriff als einen Verhältnisbegriff, der im Ausgang von Dingen und Ereignissen, die sich den Sinnen präsentieren, gebildet und durch den ein gemeinsames Merkmal dieser Gegenstände gedacht wird. So vertritt beispielsweise Locke die Auffassung, daß der Zeitbegriff infolge der inneren Wahrnehmung entsteht und daher ein empirischer Begriff ist.59 Auch Leibniz faßt die Zeitvorstellung als den Begriff einer relationalen Eigenschaft der Dinge auf, die sich der Wahrnehmung präsentieren. Er macht zwar im Unterschied zu Locke geltend, daß die empirisch bestimmbaren Gegenstandsverhältnisse mit Hilfe des reinen Denkens auf ideale Ordnungen rückführbar 57

Sadik Al-Azm, Kant's Theory of Time, a.a.O., S. 41. Vgl. auch Paul Guyer, Kant and the Claim of Knowledge. Cambridge 1997, S. 345-346: „Hie first two arguments in each of diese sets are supposed to establish that space and time are the pure, and therefore apriori, forms of intuition, that all data for judgement are given only as representations of state of affairs in space and/or time." Vgl dazu in bezug auf den Raum: Johann Georg Heinrich Feder, Ueber Raum und CausaBtät. Göttingen 1787, Repr. Brüssel 1968, § 6, S. 21 ff.; Hans Vaihinger, Kommentar %ur Kritik der reinen Vernunft Bd. 2, a.a.O., S. 156 f., S. 369; Peter F. Strawson, The Bounds of Sense. London 1966, S. 58. Vgl. dazu auch Lome Falkenstein, Kant's Intuitionism: A Commentary on the Transcendental Aesthetic. Toronto u.a. 1995, S. 161 ff. VgL dazu ferner Norman Κ. Smith, A Commentary on Kant's „Critique of Pun Reason". London 1918, Reprinted 1979, S. 99 ff. Vgl. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding II14. 31.

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und erst so in dem, was sie als solche sind, erkennbar sind, auf Ordnungen, denen die Dinge nicht als Erscheinungen, sondern als nicht-wahrnehmbare Substanzen und denkbare Dinge an sich unterliegen.60 Leibniz stimmt aber mit Locke durchaus darin überein, die Zeit als Verhältnisbestimmung der Dinge bzw. als Relationssystem aufzufassen, in dem Dinge und Vorstellungen den Sinnen erscheinen, als Relationssystem, das ohne die Voraussetzung gegebener Relata, wie Leibniz sich ausdrückt,,Nichts' ist.61 Gegen diese zweifache Variante der relationalen Zeitauffassung wendet sich Kant mit folgender Gegenthese: Die Zeit ist 1) kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden.62

Die These enthält zunächst nicht mehr als nur die knappe Behauptung der Nicht-Empirizität der Zeitvorstellung. Ihre Begründung erfolgt in der Form einer Widerlegung, aus der Kant dann positiv die Notwendigkeit der Zeitvorstellung für die Vorstellung von Verhältnissen der Merkmale von Gegenständen der Wahrnehmung erschließt Im Kontext dieser Argumentation bestreitet Kant keineswegs, daß die Zeit in der Erfahrung anzutreffen ist, er widerspricht lediglich der Auffassung, daß es sich bei ihrer Vorstellung um einen abgezogenen oder .abstrakten' Begriff 63 handelt, der aus der Erfahrung hervorgeht und lediglich aufgrund von Erfahrung gültig ist. Kant präsentiert sein Gegenargument mit denkbar minimalen Mitteln: Denn das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen würde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum Grunde läge. Nur unter deren Voraussetzung kann man sich vorstellen: daß einiges zu einer und derselben Zeit (zugleich) oder in verschiedenen Zeiten (nach einander) sei 64

Die Knappheit der Formulierung scheint in der Tat den oben erwähnten, von Johann Georg Heinrich Feder adaptieren Einwand gegen die Beweiskraft des Argumentes nahezulegen: Kant würde hier keine wirkliche Begründung für seine Ausgangsthese vorlegen, sondern nur die analytische und somit triviale Behauptung aufstellen, daß die Spezifikation bestimmter Zeitverhältnisse eine allgemei60 61

62 63 64

VgL G.W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Ventand. Hamburg 1996, S. 123 ff. So heißt es bei Leibniz, daß „die Augenblicke [der Zeit, K.M.] losgelöst von den Dingen Nichts sind, und [...] nur in der sukzessiven Ordnung der Dinge selbst ihren Bestand haben". Gottfried Wilhelm Leibniz, Hauptschrißen %ur Grundlegung der Philosophie Bd 1, Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke, 5.6. Darmstadt 1966, S. 136. In durchaus vergleichbarer Weise bestimmt Locke die Zeit als Vorstellung, die durch Verallgemeinerung der beobachteten Abfolgen von Vorstellungen, d.h. anhand von gegebenen relationalen Eigenschaften der Vorgänge im eigenen Geiste gewonnen wird. VgL John Locke, Essay, I 2. 14. Vgl. dazu auch z.B. Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica. Ed. 71779. Nachdruck Hildesheim/New York 1982, § 239, S. 73. B46. Vgl. dazu AA II, De mundi senábi&s... § 6, S. 394; AAIX, Logik § 6, S. 95. Abstrahieren* bedeutet hier das Absehen von Unterschieden. B46.

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ne Vorstellung von der Zeit voraussetze. Die Behauptung einer solchen Priorität sei aber als Beweisgrund für die Apriorität der Zeitvorstellung ungeeignet Denn sie würde keineswegs ausschließen, daß die Vorstellung von der Zeit bei der Unterscheidung des Nacheinander- und Zugleichseins in derselben Weise logisch vorausgesetzt wäre, wie etwa der allgemeine Begriff des Geruchs bei der Spezifikation verschiedener Arten von Aromen. Der Begriff des Geruchs ist aber ein empirischer Begriff, der aposteriori im Ausgang von Gegebenheiten der Wahrnehmung gewonnen wird und der auch nur für diese Gegebenheiten gilt. Kurz: Die Vorstellung der Zeit könnte zwar Grundlage für die Bestimmung der Arten von Zeitverhältnissen, aber dennoch ein empirischer Begriff sein. Eine Überprüfung der Beweiskraft des ersten Zeit-Argumentes sollte also der Frage nachgehen, inwiefern die Begründung von Kants These die Apriorität der Zeitvorstellung tatsächlich verbürgen kann. Zur Beantwortung dieser Frage werden wir zunächst untersuchen, was es Kant zufolge genau heißen soll, daß Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen ,in die Wahrnehmung kommen'. Kurz gesagt beantwortet Kant die Frage so: Die Transzendentale Ästhetik untersucht das Vermögen der Sinnlichkeit und dessen Leistung — die Anschauung — in ihrer Funktion, sich in der Erkenntnis auf Gegenstände zu beziehen. Diesem Programm entsprechend wird im ersten Zeit-Argument zunächst die empirische Anschauung, d.h. die Wahrnehmung als Bezug der Vorstellungen auf die Gegenstände der Sinne untersucht. Wahrnehmung ist zunächst bewußte Empfindung, zugleich aber auch immer Wahrnehmung von etwas.65 Wenn nun gezeigt werden kann, daß die Zeit konstitutiv ist für den Gegenstandsbezug als solchen und keine Folge dieses Bezuges, dann kann ihre Vorstellung nicht der Erfahrung vorausgesetzter Gegenstände entstammen und somit auch kein empirischer Begriff sein. Kants Argumentation kann also dann als beweiskräftig gelten, wenn sie als Herausarbeitung einer der Grundlagen des Gegenstandsbe^ugs in der Wahrnehmung verstanden werden kann. Daß Kant im ersten Zeit-Argument überhaupt die Zeitverhältnisse als Verhältnisse von Gegenständen der Wahrnehmung thematisiert, läßt sich mit einem genauen Blick auf die gewählte Formulierung zeigen: Das Argument handelt vom Zugleich- und Nacheinander sein, von dem also, was zugleich und nacheinander ist. Das aber sind die zeitlichen Gegenstände oder die Gegenstände der empirischen Anschauung.66 Im Hinblick auf diese Gegenstände muß dann zunächst generell vorausgesetzt werden, daß es überhaupt möglich ist, die in der Anschauung gegebenen Empfindungen, die ja als solche nur 65 66

Vgl B207, auch A120, A374. Diese Orientierung der Beweisführung hebt Kant bereits in der entsprechenden Argumentation der Untersuchung des Zeitbegriffs in seiner Inauguraldissertation von 1770 deutlich hervor: „Sunt enim post se invicem, quae exsistunt temporibus diversis, quemadmodum simul sunt, quae exsistunt tempore eodem." ΑΑΠ, De mundi scnnbilis... § 14, S. 399. (Denn etwas ist nach einander, was in verschiedener Zeit besteht, und das zugleich ist, was in derselben Zeit besteht)

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Anschauung gegebenen Empfindungen, die ja als solche nur subjektive Vorstellungen sind, auf einen Gegenstand zu beziehen.67 Kants Argument basiert darauf, daß die Unterscheidung der Zeitverhältnisse für eben diese Beziehung von zentraler Bedeutung ist und daß die Zeit, die als Voraussetzung für die Unterscheidung von Zeitverhältnissen fungiert, sich so als die Voraussetzung für den Gegenstandsbezug der Wahrnehmung erweisen läßt Kants Argumentation kann also dann als bündig gelten, wenn sie aufzeigt: Die Zeit ist deshalb keine wahrnehmbare Bestimmung, die Gegenständen unter anderen empirischen Eigenschaften zukommt, weil sie als Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung und Erfahrung dieser Gegenstände selbst fungiert. Kann dies erwiesen werden, dann kann die Vorstellung der Zeit nicht von irgendeiner Erfahrung abgezogen worden sein, sondern muß der Erfahrung, wie es im Text heißt, ,a priori zum Grunde liegen'. Daß Kant im ersten Zeit-Argument gerade diese Argumentationsstrategie verfolgt, werden wir im folgenden detailliert zeigen. Das erste Zeit-Argument untersucht die Zeit im Hinblick auf die Funktion, die sie in der Wahrnehmung erfüllt. Damit ergibt sich eine thematische Parallele zu einer empiristischen Position der Zeittheorie, wie sie z.B. von John Locke vertreten wird. Dieser Theorie zufolge ist die Zeit ein empirischer Begriff, der im Ausgang von Gegebenheiten der Sinne durch abstrahierenden Vergleich gebildet wird. Locke vertritt die Auffassung, daß diese Gegebenheiten letztlich Vorstellungen und damit Gegebenheiten eines inneren Sinnes sind68, die sich diesem Sinn in der Weise eines ununterbrochenen Auf- und Abtretens präsentieren. Die Gegebenheiten des inneren Sinnes sind, wie es bei Locke heißt, „our ideas [...] passing in train".69 Sie liefern Locke zufolge die Grundlage für die Bildung der Begriffe der Aufeinanderfolge und der Dauer und, in weiteren Stufen der Abstraktion, des Begriffs der Zeit.70 Locke erklärt den Gegenstandsbezug dieses ,train of ideas' dadurch, daß mit Hilfe von Urteilsakten die vorübergehenden Vorstellungen als Bestimmungen eines Gegenstandes aufgefaßt werden können, der ihnen als Träger supponiert wird. Da dieser Träger aber als solcher nicht wahrnehmbar ist, läßt sich die Gegenständlichkeit nur anhand des Verhältnisses der Vorstellungen von seinen Bestimmungen ausweisen: Bestimmungen, die im Gegenstand zusammen vorliegen, können durch reversible Vorstellungsfolgen, d.h. im wiederholten Zurückkommen auf die gleichen Vorstellungsinhalte erfaßt und dadurch als koexistent bestimmt werden; Bestimmungen, die im Gegenstand " 68

69 70

Vgl.B34.B208. Zum Begriff des inneren Sinnes vgl. die Arbeit von Georg Mohr, Das sinnliche Ich. Innerer Sien und Btwußtsan bei Kant. Würzburg 1991. Vgl. ferner. Udo Thiel, „Varieties of Inner Sense". In: Archiv fir Geschichte der Philosoph», 79,1997, S. 58-79. John Locke, Essay, II 7. 9. Vgl. John Locke, Essay, Π 14. 31.

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einander abwechseln und sich durch nicht-reversible Vorstellungen erfassen lassen, können als sukzessiv aufgefaßt werden. Zugleichsein und Aufeinanderfolgen werden so als Bestimmungen des Verhältnisses von Bestimmungen von Wahrnehmungsgegenständen, d.h. als Bestimmungen zweiter Stufe verstanden. Auch Kant rekurriert in seinem ersten Zeit-Argument auf die Zeitverhältnisse als Bestimmungen zweiter Stufe. Er macht jedoch gegen die empiristische Zeitauffassung geltend, daß Zeitverhältnisse nicht infolge des Gegenstandsbezuges in der Wahrnehmung unterschieden werden, sondern dessen Voraussetzung sind. Auf dem Stand der Transzendentalen Ästhetik gibt Kant dabei dem Empirismus generell zu, daß ein Wahrnehmungsgegenstand nicht durch das Denken allein, d.h. nicht als unabhängiger Träger von Bestimmungen bekannt sein kann, sondern nur durch gewisse Empfindungen, die als solche Vorstellungen sind und nur durch Urteilsakte als Gegenstandsbestimmungen aufgefaßt werden. Kant stimmt so mit Locke darin überein, daß in der Wahrnehmung das Vorliegen eines Dinges anhand eines Verhältnisses gegebener Vorstellungen erfaßt wird. Von zentraler Bedeutung für sein erstes Zeit-Argument ist, daß ein derartiges Vorstellungsverhältnis aber nicht allein auf das Verhältnis kompatibler Prädikate in einem Urteil, d.h. auf ein logisches Verhältnis reduziert werden kann, das nur eine Denkmöglichkeit angibt Kant hält dem Rationalismus klar entgegen, daß der Gegenstand der Wahrnehmung mehr ist als nur ein denkmöglicher logischer Gegenstand: Er ist vielmehr der real mögliche empirische Gegenstand, der durch gegebene Empfindungen unmittelbar in seiner Wirklichkeit vorgestellt wird. Entscheidend ist, daß im zuletzt genannten Fall das Kriterium für die Möglichkeit des Zusammengehörens der Bestimmungen im selben Gegenstand nicht bloß in deren logischer Kompatibilität bestehen kann, sondern in einer realen Koexistenz perzipierter Eigenschaften. Wenn Kant in seinem ersten ZeitArgument ausdrücklich die Wahrnehmung thematisiert, bezieht er jedoch andererseits keineswegs die Position des Empirismus. Er weist vielmehr entschieden darauf hin, daß die Möglichkeit, durch eigene Empfindungen Bestimmungen vorzustellen, die im Gegenstand der Wahrnehmung zusammengehören, auf einer Bedingung beruht, die selbst gerade nicht durch Erfahrung gegeben werden kann. Genau hier setzt seine Argumentation an. Das Bewußtsein der Zeitverhältnisse erfüllt in der Wahrnehmung die Funktion einer notwendigen Bedingung. Die Begründung dafür läßt sich folgendermaßen rekonstruieren: Folgt man nämlich Lockes Auffassung, daß sich Empfindungen wie alle anderen Vorstellungen auch als solche durch ein unverfügbares .passing in train' auszeichnen, so gilt auch, daß diese Vorstellungen ohne die Voraussetzung eines Bewußtseins von Gleichzeitigkeit gar nicht als Wahrnehmungen von Bestimmungen gelten könnten, die in dem, was wahrgenommen wird, koexistieren und so überhaupt erst ein von den Vorstellungen selbst unterscheidbares wirkliches

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Ding vorstellbar machen.71 Ohne ein Bewußtsein vom Zugleichsein wären die Empfindlangen nur Elemente im Strom des Bewußtseins ohne allen Gegenstandsbezug. Das aber heiße Das Bewußtsein vom Verhältnis des Zugleichseins bietet allererst die Grundlage für die Möglichkeit, sich in der Wahrnehmung auf einen bestimmten Gegenstand beziehen zu können, der sich einerseits von dem Vorstellungsvollzug selbst unterscheidet und andererseits kein bloß logischer Gegenstand ist (dessen Möglichkeit allein aus der logischen Kompatibilität der in seinem Begriff gedachten Merkmale eingesehen werden kann). Der wahrgenommene Gegenstand kann dann sowohl das Subjekt selbst als auch ein äußeres Ding sein. In beiden Fällen gilt, daß ein Zeitverhältnis konstitutiv ist für die Möglichkeit, sich ihn überhaupt als Gegenstand vorstellen zu können. So verstanden kommt also das Zugleichsein in die Wahrnehmung als ein nichtlogisches Kriterium, das ein Bewußtsein einer spezifischen Zusammengehörigkeit von vorgestellten Bestimmungen im selben Gegenstand ermöglicht Eben dieser Gedanke macht klar, daß das Bewußtsein des Zugleichseins sich nicht einer Vorgabe der Wahrnehmungsgegenstände verdanken und somit nicht auf der Grundlage der Wahrnehmung entstehen kann, weil es als eine notwendige Voraussetzung für die Bezugnahme auf das Wahrgenommene fungiert. Ohne ein Koexistenzbewußtsein, d.h. ohne das Bewußtsein eines spezifischen Zeitverhältnisses, wäre die Vorstellung eines vom Vorstellungsvollzug unterschiedenen Gegenstandes, der als Gegenstand durch das Zusammenvorliegen von Merkmalen bestimmt ist, die durch Empfindungen, d.h. durch Vorstellungen bekannt sind, nicht möglich. In diesem starken Sinne ist das Zugleichsein keine Folge der Wahrnehmung. Mit dieser Funktionsbestimmung des Zugleichseins kann das erste Ergebnis von Kants Argumentation festgehalten werden: Hängt die Beziehung der Empfindungen als Vorstellungen .passing in train' auf einen von diesem ,train' unterscheidbaren Gegenstand ihrer Möglichkeit nach von dem Bewußtsein der Gleichzeitigkeit als einem Zeitverhältnis ab, dann kommt das Zugleichsein in die Wahrnehmung nicht als deren Folge, sondern als deren Voraussetzung.72 Vergleichbares gilt auch für das Nacheinandersein, d.h. für die Wahrnehmung von Veränderungen: Auch hier kann dem Empirismus zugegeben werden, daß das, was sich verändert, in der Wahrnehmung nicht als Träger gegeben ist, der einem Zustandswechsel unterliegt. Auch die Wahrnehmung der Veränderung besteht im Bewußtsein eines Verhältnisses von Empfindungen als Vorstellungen, die auf Bestimmungen einer gegenständlichen Einheit bezogen werden, die diesen Bestimmungen supponiert wird. Die Wahrnehmung der Veränderung 71

VgL dazu John Locke, Essay, TV. 3. 9 f. und IV. 4.10 ff. VgL dazu auch Douglas P. Dryer, Kant's Solutionfor Verification in Mitaphysics, a.a.O., S. 228 f.

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besteht dabei in einem Bewußtsein von Bestimmungen, die relativ auf die koexistierenden Bestimmungen des Gegenstandes auftreten und verschwinden und so als wechselnde gegen nicht-wechselnde Bestimmungen abgehoben werden können. Das Verhältnis des Aufeinanderfolgens ist dabei ebensowenig wie das des Zugjieichseins auf die bloß logische Beziehung von Prädikaten zu einem Subjektbegriff zurückzufuhren: Wird nämlich im Urteil anhand der Beziehving von Vorstellungen ein Gegenstand bestimmt, so müssen die dabei hergestellten Vorstdlungsverhältnisse ihrer logischen Form nach dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit genügen. Diesem Prinzip zufolge ist es unzulässig, demselben Subjekt inkompatible Prädikate, und zulässig, ihm kompatible Prädikate zuzusprechen. Das Spezifíkum der Wahrnehmung von Veränderungen besteht jedoch gerade darin, demselben Gegenstand Bestimmungen zuzuerkennen, die im Sinne der Logik unvereinbar sind: Veränderung bedeutet, daß etwas so und so bestimmt und dann auch nicht bestimmt ist. In der Wahrnehmung können einem Gegenstand entgegengesetzte Bestimmungen ganz ohne das Bewußtsein eines Widerspruchs zugesprochen werden.73 Geht man nun zurück auf die Bedingung, unter der eine Wahrnehmung der Veränderung und die Bestimmving Desselben durch entgegengesetzte Prädikate möglich ist, kann man zunächst negativ festhalten, daß hier das logische Widerspruchsprinzip nicht uneingeschränkt gelten kann. Was diese Geltungseinschränkung bedingt, ist ein Zeitverhältnis: Es ist das Bewußtsein einer Aufeinanderfolge, durch das im empirischen Gegenstandsbezug etwas möglich wird, was im Bereich des bloßen Denkens von Gegenständen ausgeschlossen werden muß: Es handelt sich um die Bestimmung Desselben durch Entgegengesetztes. Mit dem Bewußtsein der Aufeinanderfolge kommt also eine zeitliche Verschiedenheit zum Tragen, die den Geltungsbereich der logischen Verschiedenheit auf eben die Regelung des logischen Verhältnisses von Begriffen einschränkt.74 Das Aufeinanderfolgen ist ein nicht-logisches Kriterium, das in die Wahrnehmung (näherhin in die Wahrnehmung der Veränderung) kommt als Voraussetzung für den darin erfolgenden Gegenstandsbezug. Denn ohne Abfolgebewußtsein könnten die Empfindungen als Vorstellungen nicht auf Bestimmungen bezogen werden, die im Gegenstand nicht zusammengehören, sondern wechseln, d.i. relativ zu seinen koexistierenden Bestimmungen sind und nicht sind, auftreten und verschwinden. So wie das Bewußtsein des Zugleichseins ist damit auch das Bewußtsein des Aufeinanderfolgens ein Kriterium dafür, in der Wahrnehmung Vorstellungen nicht nur im Bewußtseinsstrom zu durchlaufen, sondern durch sie Gegenstände vorzustellen, die sich vom Strom der Vorstellungen selber unterscheiden, Gegenstände, mit Bestimmungen, die konstant bleiben, und mit Bestimmungen, die in Relation zu den kon73

Vgl dazu AAIV, Prolegomena §20, S. 3Q1. Vgl dazu die Ausführungen zur Interpretation des § 5 der Kritik, die sich auf Kants Revision der Formulierung des Satzes vom Widerspruch in seiner Inauguraldissertation beziehen, unten Kap. 7.

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stanten Merkmalen wechseln. Begründet aber das Aufeinanderfolgen die Möglichkeit eines bestimmten Gegenstandsbezuges, d.h. des Bezuges auf Veränderliches, so kann es nicht infolge einer Vorgabe vorausgesetzter Gegenstände in die Wahrnehmung kommen, es kann keine Folge der Wahrnehmung sein, sondern muß der Wahrnehmung als Voraussetzung für ihren spezifischen Gegenstandsbezug vorhergehen. Dies gilt wieder unabhängig davon, ob es sich um die Wahrnehmung der Veränderung eines äußeren Gegenstandes handelt oder um den Zustandswechsel des Subjektes selbst Die Bestimmung, wie das Aufeinanderfolgen ,in die Wahrnehmung kommt', stellt ein weiteres Ergebnis von Kants Argumentation dar: Hängt die Möglichkeit, sich einen Gegenstand in wechselnden Bestimmungen befindlich vorzustellen, von der Voraussetzung des Zeitverhältnisses der Abfolge ab, dann resultiert das Bewußtsein dieses Zeitverhältnisses nicht selbst aus der Wahrnehmung. Wir können hier die bisherigen Ergebnisse von Kants Argumentation wie folgt zusammenfassen: Ebenso wie das Zugleichsein kommt auch das Aufeinanderfolgen in die Wahrnehmung als eine außerlogische Voraussetzung der Wahrnehmung. Das Bewußtsein des Zugleichseins und des Aufeinanderfolgens ist die Bedingung dafür, Empfindungen als Vorstellungen von Gegenständen auffassen zu können, deren Bestimmungen wechseln, d.h. relativ auf die koexistierenden Bestimmungen der Dinge auftreten und verschwinden. So wie das Bewußtsein des Zugleichseins ist auch das Bewußtsein des Nacheinander ein Kriterium dafür, über das bloße Haben der Vorstellungen hinauszugehen, d.h. vom eigenen Vorstellungsfluß Gegenstände zu unterscheiden und ihnen dabei widersprechende Bestimmungen beilegen zu können, ohne daß sie als solche unmöglich werden. Die Zeitverhältnisse garantieren also, daß sich in der Wahrnehmung etwas vorstellen läßt, das für das Denken allein entweder eine bloße Möglichkeit darstellt oder gar unmöglich wäre. Das aber heißt Im Feld der Empirie kann das, was logisch denkmöglich ist, auch als real möglich und wirklich gebbar, und das, was logisch sogar unmöglich ist, ebenfalls als real möglich und wirklich gebbar vorgestellt werden. Die Zeitverhältnisse begründen demnach die Differenz von logischer und realer Möglichkeit bzw. garantieren, daß in bestimmten Fällen aus der logischen Unmöglichkeit keine Unmöglichkeit der Sache folgt. Auf der Grundlage dieses Ergebnisses wird deutlich, inwiefern Kant im § 4, 1) zugunsten der Apriorität der Zeitvorstellung argumentiert: Indem er darin die Zeitverhältnisse als Bedingung der Möglichkeit des empirischen Gegenstandsbezuges ausweist, kann er geltend machen, daß sie für jede Wahrnehmung notwendig sind. Dies bedeutet für die Vorstellung dieser Verhältnisse, daß sie kein kontingentes psychologisches Faktum und kein empirischer Begriff ist, sondern eine Vorstellung, die Empirie allererst begründet und ihr in diesem Sinne apriori vorhergeht.

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Offengeblieben ist an dieser Stelle noch die Frage, wie sich zeigen läßt, daß nicht allein die Vorstellung von Zeitverhältnissen, sondern die Vorstellung der Zeit die Wahrnehmung apriori ermöglicht. Die Begründung dafür geht aus dem letzten Satz des Argumentes hervor: Nur unter deren Voraussetzung kann man sich vorstellen: daß einiges zu einer und derselben Zeit (zugleich) oder in verschiedenen Zeiten (nach einander) sei.75

Dieser Satz macht deutlich, daß die Bestimmung und Unterscheidung von Zeitverhältnissen des Wahrgenommenen ihrerseits von einer Voraussetzung abhängt: Sie ist selbst nur auf der Grundlage der Vorstellung von der Zeit möglich: Zugleichsein und Aufeinanderfolgen beziehen sich auf Arten des Seins in der Zeit. Sie sind Bestimmungen, die Bestimmungen von Wahrnehmungsgegenständen in ihrem Verhältnis zueinander betreffen. Entscheidend ist, daß dieses Verhältnis die Gegenstandsbestimmungen in ein Verhältnis zur Zeit als solcher setzt. Alle diese Bestimmungen sind in der Zeit. Einiges: nämlich das, was zugleich ist oder koexistiert, ist zu derselben Zeit, und anderes: das, was aufeinander folgt, ist zu verschiedenen Zeiten, die alle zu der einen Zeit gehören. Mit dieser Kennzeichnung hebt Kant hervor, daß die Zeit als Grundlage für eine nicht-logische Weise der Gleichheit und Verschiedenheit dessen, was darin enthalten ist, fungiert. Die Zeit wird hier als einheitliches Medium bestimmt, das Verhältnisse als Verhältnisse in ihm erst ermöglicht76 Sie ist so verstanden eine Bedingung für die Bestimmung und Unterscheidung von Zeitverhältnissen, aber nicht als Gattungsbegriff, sondern als einheitlicher Grund für die zeitliche Gleichheit und die zeitliche Differenz und damit auch die Grundlage der Wahrnehmung von Dingen und Ereignissen. Wir können demnach die gesamte Argumentation wie folgt zusammenfassen: Wenn sich die Bestimmung und Unterscheidung von Zeitverhältnissen als Bedingung des empirischen Gegenstandsbezuges erweist, wenn ferner die Bestimmung und Unterscheidung dieser Verhältnisse ihrerseits von der Voraussetzung einer Vorstellung von der Zeit als dem Medium abhängig ist, das diese Verhältnisse selber möglich macht, dann ist die Zeit die Bedingung des empirischen Gegenstandsbezuges. Aus diesen Prämissen folgt dann in bezug auf die Vorstellung von der Zeit, daß sie nicht auf der Grundlage der Wahrnehmung entste-

75 76

B46. Eine Parallelstelle der Dissertation bringt dies noch deutlicher zum Ausdruck: „Quod autem relajones attinet s. respectus quoscunque, quatenus sensibus sunt obvii, utrum nempe simul sint, an post se invicem, nihil aliud involvunt, nisi positus in tempore determinandos, vel in eodem ipsius puncto, vel diversis." AA Π, De mundi sauibiHs... § 14, 5., S. 400. (Was aber die Verhältnisse der Beziehungen jeder Art anlangt, soweit sie bei den Sinnen vorkommen, ob sie nämlich zugleich oder nach einander sind, so enthalten sie nur die Stellungen in der Zeit, je nachdem sie durch denselben Zeitpunkt oder durch verschiedene zu bestimmen sind.)

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hen kann, sondern, eben weil sie eine Bedingung der Wahrnehmung ist, der Wahrnehmung ihrer Möglichkeit nach vorhergeht. Der Bedingungscharakter schließt also die Möglichkeit aus, daß etwas unabhängig von der Zeit wahrgenommen werden könnte. Die Zeitvorstellung ist demnach notwendig und in diesem strengen Sinne allgemeingültig: Sie liegt, wie es im ersten Zeit-Argument heißt, der Wahrnehmung ,apriori zum Grunde'. Damit ist die These bewiesen: Die Vorstellung der Zeit ist kein empirischer Begriff, der von der Erfahrung abstrahiert ist. Zum Abschluß unserer Rekonstruktion können wir jetzt noch einmal auf die zu Beginn der Untersuchung angeführten Einwände gegen Kants Argumentation zurückkommen. Ihr Ergebnis spricht zunächst deutlich gegen Sadik Al-Azms Diagnose, Kants Bestimmung der Apriorität der Zeitvorstellung gehe als ,tautological deduction' aus der im § 1 der KrV konstatierten Trennung von Form und Materie der Erscheinungen hervor. Wir konnten demgegenüber zeigen, daß das erste Zeit-Argument zwar die Zeitverhältnisse im Sinne der Anordnungsprinzipien möglicher Gegenstandsbestimmungen einfuhrt. Wir konnte aber auch zeigen, daß diese Verhältnisse auf die Vorstellung von der Zeit als einem einheitlichen Medium zurückgeführt werden, in dem und zu dem in der Anschauung gegebene Vorstellungen in bestimmte Verhältnisse gesetzt müssen, um als Zustände von Gegenständen gelten zu können. Der Voraussetzungscharakter dieses Mediums für die Wahrnehmung läßt darauf schließen, daß die Vorstellung dieses Mediums nicht aus der Erfahrung gewonnen sein kann. Nur dies will Kant durch seine Argumentation bewiesen — die im § 1 der KrV eingeführte Unterscheidung von Form und Materie spielt für diesen Beweis keine Rolle — das erste Zeit-Argument handelt von einer gegenständlichen Vorstellung der Zeit. Auch den zweiten Einwand gegen das Argument, daß nämlich eine Priorität der Zeit vor den Zeitverhältnissen gar nicht auf eine Apriorität der Zeitvorstellung schließen läßt, können wir auf der Grundlage der oben durchgeführten Rekonstruktion beantworten: Sie bestätigt zwar, daß Kant im ersten ZeitArgument die Zeitvorstellung als Voraussetzung für die Spezifikation von Zeitverhältnissen betrachtet. Sie verdeutlicht aber auch, daß diese Spezifikation nicht in der Einteilung eines empirischen Gattungsbegriffs in Artbegriffe besteht, sondern darin, daß die Zeit als allgemeines Medium vorgestellt wird, das durch die in ihr möglichen Verhältnissen eine Bezugnahme auf das Wahrgenommene ermöglicht. Daß die Zeitvorstellung ein empirischer Begriff sein könnte, wird durch den Nachweis ausgeschlossen, daß das für die empirische Anschauung charakteristische Bewußtsein zeitlicher Relationen keine Folge der Wahrnehmung ist, sondern deren Voraussetzung. Daß die Zeitvorstellung als Grund der Unterscheidbarkeit von Zeitverhältnissen keine empirische Vorstellung und

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folglich auch kein empirischer Begriff sein kann, geht aus dem Nachweis der Apriorität der von ihr vorgegebenen Verhältnismöglichkeiten hervor. Die Priorität der Zeit vor den Zeitverhältnissen beweist also die Apriorität der Zeitvorstellung dadurch, daß ohne sie keine zeitlichen Relationen und ohne diese Relationen in der Wahrnehmung keine Gegenstände vorstellbar wären. Mit dieser Replik können wir unsere Rekonstruktion des ersten Zeit-Argumentes abschließen. Vor dem Übergang auf die Untersuchung des zweiten ZeitArgumentes soll im nächsten Kapitel Kants Bestimmung der Grundlage speziell der äußeren Wahrnehmung untersucht werden. Wir werden mit dieser Untersuchung einen ersten Schritt zu der uns im Kontext unserer Studie auch interessierenden Bestimmung des Verhältnisses von innerer und äußerer Wahrnehmving unternehmen.

Kapitel Zwei Das erste Raumargument: Der Raum als Bedingung der äußeren Wahrnehmung Im ersten Zeit-Argument erweist Kant die Apriorität der Zeit anhand der Verdeutlichung ihrer Funktion als allgemeine Voraussetzung für den empirischen Gegenstandsbezug. Das Argument zeigt, daß das Bewußtsein der Zeitverhältnisse des Nacheinander und Zugleich als unverzichtbare Bedingung dafür fungiert, in der Wahrnehmung Vorstellungen als Bestimmungen von Gegenständen aufzufassen und Dinge von Ereignissen unterscheiden zu können. Aus dieser Bestimmung wurde die Nicht-Empirizität der Zeitvorstellung erschlossen. Seine Durchführung und sein Ergebnis setzt das erste Zeit-Argument in eine gewisse Parallele zum ersten Raum-Argument, in dem Kant ebenfalls den Gegenstandsbezug der Wahrnehmung und dessen notwendige Bedingung thematisiert, sich dabei jedoch speziell auf die äußere Wahrnehmung konzentriert Diese Spezifikation gewinnt in der weiteren Entwicklung von Kants Theoriekonzeption eine besondere Bedeutung: Denn indem Kant im ersten Raum-Argument den Raum als Bedingung der Möglichkeit der Bezugnahme auf ein Äußeres überhaupt erweist, legt er zum einen den Grundstein dafür, einen strukturellen Unterschied der Funktionsweise des inneren und äußeren Sinnes zu bestimmen. Zum anderen werden im ersten Raum-Argument mit den räumlichen Verhältnissen des .außer mir' und .nebeneinander' diejenigen Momente der Raumvorstellung bestimmt, für die in späteren Ausführungen der ÍCrKgeltend gemacht wird, daß sie für die Darstellung und Veranschaulichung der Zeit selbst notwendig sind. Schließlich wird Kant in der Widerlegung des Idealismus für die Sphäre des ,Außer mir' erweisen, daß sie eine notwendige Bedingung für die Selbsterkenntnis des Subjekts darstellt. Dieser komprimierte Hinweis auf einige markante Konsequenzen der spezifischen Raumauffassung, die Kant in seiner Transzendentalen Ästhetik konzipiert, soll an dieser Stelle genügen. Die genannten Punkte werden im Verlauf unserer Arbeit noch ausführlich untersucht werden. Die folgende Rekonstruktion des ersten Raum-Argumentes wird diese Untersuchung vorbereiten. Unsere Rekonstruktion wird zunächst davon ausgehen, daß Kant im ersten Raum-Argument (in Parallele zum ersten Zeit-Argument) ein Merkmal des Raumbegriffs exponiert, das dem Raum unter der Leithinsicht der Kategorie der

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Modalität apriori zuerkannt werden kann. Die Rekonstruktion wird damit geltend machen, daß auch der Raum von Kant zunächst nicht als Form der Anschauung thematisiert wird, sondern als Gegenstand des Raumbegriffs, um von der Untersuchung der Funktion, die dieser Gegenstand hinsichtlich der Wahrnehmung erfüllt, auf die Nicht-Empirizität der Vorstellung des Raumes zu schließen: Im ersten Raum-Argument wird bewiesen, daß der Raum die notwendige Bedingung dafür ist, gegebene Vorstellungen auf einen äußeren Gegenstand zu beziehen. Aus diesem Bedingungscharakter schließt Kant darauf, daß die Vorstellung des Raumes nicht infolge der Wahrnehmung entstehen und daher keine empirische Vorstellung sein kann. Wir werden die Bedeutung dieses Nachweises vor allem im letzten Kapitel dieser Arbeit deutlich machen. Darin wird gezeigt, daß und inwiefern der im ersten Raum-Argument geführte Nachweis der Nicht-Empirizität zusammen mit dem Nachweis der Anschaulichkeit der Raumvorstellung den von Kant vertretenen formalen Idealismus begründet, der sowohl die Vorstellungsrelativität der Dinge wie auch die Notwendigkeit ihrer äußeren Wirklichkeit erweist. Kants Widerlegung des Idealismus stützt sich auf die Ergebnisse der Transzendentalen Ästhetik. Für diese Widerlegung gilt demnach, daß sie selbst nur dann triftig sein kann, wenn auch ihr Fundament in der Transzendentalen Ästhetik hinreichend begründet ist. Letzteres erscheint jedoch als problematisch: Im ersten RaumArgument thematisiert Kant die räumlichen Verhältnisse der Gegenstände der Wahrnehmung. Vergleichbar der Interpretation des ersten Zeit-Argumentes durch Sadik Al-Azm sehen einige Kommentatoren in dieser Themarisierung einen Hinweis darauf, daß Kant den Raum als Form der Anordnung der Wahrnehmungsgegenstände betrachtet und zeigen will, daß diese der Wahrnehmung selbst vorausgeht. So heißt es etwa bei Paul Guyer: „In the first edition of the Critique, Kant simply advances five claims about space and time which are listed without any further classification [...] and which are collectively supposed to ground the further conclusions in which the transcendental ideality of space and time are asserted [...]. The first two arguments in each of these sets are supposed to establish that space and time are pure, and therefore a priori, forms of intuition, that all data for judgement are given only as representations of state of affairs in space and/or time."77 Guyers Formulierung legt nahe, daß im ersten RaumArgument sowohl der Nachweis der Apriorität der Raumvorstellung geführt werden soll als auch der Nachweis, daß der Raum eine Form der Anschauung ist. Damit stellt sich hier ein vergleichbares Problem wie in bezug auf das erste Zeit-Argument: Auch eine Rekonstruktion des ersten Raum-Argumentes muß der Frage nachgehen, ob Kant darin auf den im § 1 der KrV präsentierten 77

Paul Guyer, Kant and the Claims o/Knowledg, a.a.O., S. 345, Hervorh. K. M.

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Formbegriff rekurriert und dabei das Resultat, das aus der gesamten Erörterung des Raumbegriffs im § 3 der KrV erst erschlossen wird, vom Beginn seiner Untersuchung an unterstellt. Die Problematik einer möglichen Zirkularität im Aufbau der Transzendentalen Ästhetik, die nicht zuletzt auch die Tragfähigkeit von Kants Widerlegung des Idealismus in Frage stellen würde, stellt sich also auch hier. Im Zusammenhang mit der Rekonstruktion des ersten Zeit-Argumentes konnte oben bereits auf einen weiteren grundsätzlichen Einwand gegen das erste Raum-Argument aufmerksam gemacht werden. n Wir werden uns im folgenden noch einmal mit diesem Einwand auseinandersetzen und dabei auf die Fassung rekurrieren, die ihm Peter F. Strawson gibt. In Strawsons The Bounds of Sense heißt es: „The argument is really too short. It is difficult to extract from it anything remotely to the purpose exept the tautology that we could not become aware of objects as spatially related unless we had the capacity to do so."79 Bestünde, wie Strawson es hier sagt, Kants Argumentation lediglich in der tautologischen Behauptung, daß wir uns der räumlichen Verhältnisse der Dinge nicht bewußt werden könnten, wenn wir nicht die Fähigkeit dazu hätten, so wäre damit in der Tat nichts Wesentliches gewonnen. Ferner wäre nicht auszuschließen, daß die Raumvorstellung ein empirischer Begriff sein könnte, der als Gattungsbegriff für die Bestimmung verschiedener Arten räumlicher Verhältnisse fungiert. Die Rekonstruktion des ersten Raum-Argumentes kann dessen Beweiskraft nur dann stützen, wenn sie zeigen kann, daß und inwiefern das erste RaumArgument mehr enthält als die oben genannte tautologiche Behauptung, und einen gültigen Nachweis für die Nichtempirizität der Raumvorstellung fuhrt. Die von Kant formulierte These zur Bestimmung der Funktion des Raumes in der Wahrnehmung lautet: 1) Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen worden.' 0

Parallel zum ersten Zeit-Argument gilt die Stoßrichtung der These der Widerlegung einerseits der empiristischen Position, nach der die Vorstellung des Raumes ein empirischer Begriff ist, der aus der Verallgemeinerung von Distanzoder Volumenvorstellungen hervorgeht, die haptische und visuelle Wahrnehmungen begleiten.81 Andererseits wendet sich Kant gegen die von Leibniz vertretene Auffassung, der Raum sei der Inbegriff von relationalen Ordnungen, deren man sich bei der Wahrnehmung zusammen bestehender Dinge bewußt 78 79

VgL oben Kap. 1. Peter F. Strawson, The Bounds of Sense, a.a.O., S. 58. Zum Vorwurf der Tautologie vgl. auch Paul Guyer, Kant and the Claims of KnowJedge, a.a.O., S. 346, Lome Falkenstein, Kant's Intuitionism, a.a.O., S. 161 ff. 80 B38. 81 VgL John Locke, Essay, Π 13. 2.

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wird.82 Das erste Raum-Argument richtet sich gegen die relationale Auffassung des Raumes als Ordnung, die sich unter Voraussetzung koexistierender Dinge bestimmen läßt Es soll die Auffassung widerlegen, daß die Raumvorstellung eine Folge der Wahrnehmung empirischer Gegenstände ist. Expliziert besagt Kants These, daß der Raum kein empirischer Begriff von äußeren Verhältnissen gegebener Gegenstände sein kann, die unter Abstraktion von anderen Merkmalen als gemeinsame relationale Bestimmungen dieser Gegenstände vorgestellt werden könnten. Kants These läßt sich aber nicht nur negativ explizieren. Das Beweisziel des Argumentes ist auch positiv durch das allgemeine Anliegen der Kritik der reinen Vernunft bestimmt, nicht-empirische Bestandteile der menschlichen Gegenstandserkenntnis aufzusuchen und zu erweisen, daß diese gleichwohl empirische und objektive Bedeutung haben. Dementsprechend untersucht Kant auch die äußere Wahrnehmung unter der Fragestellung, inwiefern sie Elemente enthält, die als Bedingungen apriori fungieren, unter denen Erkenntnis von Gegenständen möglich ist. Bezüglich des Aufsuchens dieser Bedingungen ist im Hinblick auf die Untersuchung der äußeren Wahrnehmung zunächst festzuhalten, daß Kant dabei von ihrem faktischen Stattfinden resp. von der Erfahrung äußerer Gegenstände ausgeht. Daß es äußere Erfahrung gibt und daß sie möglich ist, weil sie sich wirklich vollzieht, wird für die Untersuchung als selbstverständliche Voraussetzung angenommen. Die relevante Fragestellung lautet hier: Lassen sich Bedingungen apriori angeben, auf denen die äußere Anschauung als Leistung der menschlichen Sinnlichkeit ihrer Möglichkeit nach beruht? Seinem Ausgang von der äußeren Wahrnehmung entsprechend stellt Kant dem Beweis seiner These eine Beschreibung des konkreten Stattfindens dieser Wahrnehmung voran. Diese besteht darin, [daß] gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden.83

Im Zusammenhang mit der Analyse des ersten Zeit-Argumentes konnte bereits auf den Standpunkt verwiesen werden, von dem aus Kant in der Transzendentalen Ästhetik argumentiert. Im ersten Raum- und Zeit-Argument wird die empirische Anschauung ohne Ansehen der Funktionen des Verstandes analysiert. Dabei gibt Kant dem Empirismus zu, daß sich das Subjekt in der Wahrnehmung auf Gegenstände bezieht, die nicht als die Substrate von Eigenschaften gegeben werden, sondern nur durch sinnliche Vorstellungen bekannt sind, die als Vorstellungen der Bestimmungen von Gegenständen aufgefaßt werden können. Im 82

VgL Gottfried Wilhelm Leibniz, Hauptschrifien %ur Grundlegung der Philosophie, Bd. I, Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke (Leibniz' drittes Schreiben). Hamburg Ί966 , S. 134. Vgl. auch Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphyúca § 239, a.a.O., S. 71. Vgl. ferner W. Patt, Transzendentaler Idealismus. Kants Lehre von der Subjektivität der Anschauung in der Dissertation von 1770 und der „Kritik der reinen Vernunft". Berlin/New York 1987, S. 147 ff. B38. Mit Mellin lese ich hier .mir' statt .mich'.

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ersten Raum-Argument geht Kant auf die Bedingung zurück, unter der diejenigen Gegenstände wahrgenommen werden können, die von den inneren Gegenständen, d.h. vom Subjekt selbst und dessen Vorstellungen unterscheidbar sind. Zur Wahrnehmung dieser Gegenstände gehört zunächst das Gegebensein von Empfindungen. Unter Empfindung versteht Kant an dieser Stelle eine Zustandsmodifikatìon des Subjekts, die zugleich auf die wirkliche Gegenwart eines die Sinne affizierenden Gegenstandes verweist.84 An anderer Stelle dann bestimmt er die Empfindung so: „Empfindung (hier die äußere) drückt eben sowohl das bloß Subjective unserer Vorstellungen der Dinge außer uns aus, aber eigentlich das Materielle (Reale) derselben (wodurch etwas Existirendes gegeben wird), [...] und gleichwohl wird jene auch zum Erkenntniß der Objecte außer uns gebraucht"15 Die Empfindung ist hier im Gegensatz zu der bloß subjektiven Empfindung von Lust und Unlust die ,,objektive[n] Empfindung, als Wahrnehmung eines Gegenstandes des Sinnes".86 Dieser Gegenstand wird im Ausgang vom Bewußtsein eigener Rezeptivität als nicht dem Vorstellungsvermögen selbst angehörendes Objekt der Vorstellungen angenommen. Empfindungen sind Vorstellungen, die als solche im inneren Sinn als in der Zeit gegeben bewußt werden. Sie können aber in der Wahrnehmung auf etwas bezogen werden, das sich vom Subjekt selbst und seinen Vorstellungsvollzügen unterscheiden läßt Eben diese Unterscheidung zeichnet Wahrnehmung als äußere aus: Darin werden die gegebenen Empfindungsvorstellungen in mir auf einen von ihnen verschiedenen, ihnen aber entsprechenden äußeren Gegenstand bezogen. Der Gegenstand wird dabei als ,Etwas außer mir' wahrgenommen, sofern er sich relativ auf den bestimmten Ort, den der eigene Körper mit seinen Sinnesorganen einnimmt, an einem anderen, davon verschiedenen Ort befindet Von diesem Ort lassen sich wiederum Orte, die andere Körper einnehmen, unterscheiden. Die Deskription kennzeichnet die äußere Anschauung also durch drei Momente: Diese enthält erstens .gewisse Empfindungen', d.s. die Vorstellungen der äußeren Sinne als Zustandsmodifikationen des Subjekts, sie enthält zweitens die Beziehung dieser Empfindungen auf .Etwas', auf einen Gegenstand. Drittens gilt fur diesen Gegenstand, daß er sich dem Ort nach .außer mir' befindet, d.h. daß er von mir verschieden ist, weil er sich von dem Ort, den ich selbst einnehme, unterscheidet und sich darum auch von anderen Gegenständen, die ebenfalls nicht ich selber sind, unterscheiden läßt. Entscheidend für die Beschreibung der äußeren Wahrnehmung ist, daß diese wesentlich durch das Bewußtsein einer Ortsdifferenz gekennzeichnet ist. In bezug auf dieses Bewußtsein stellt Kant 84

86

VgL B34; B74, B376. AA V, Kritik der Vrtàlskrafi, S. 189. Vgl dazu und zum folgenden auch Udo Rameil, Rom und Außenwelt, a.a.O., S. 55 ff. AA V, Kritik der Urteilskraft, S. 206.

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dann die Frage, ob es eine Folge der Wahrnehmung ist, oder timgekehrt der Wahrnehmung vorausgeht. Vor dem Hintergrund dieser Frage fuhrt Kant den eigentlichen Beweis seiner These: Denn damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden (d.i. auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als darin ich mich befinde), ungleichen damit ich sie als außer und neben einander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen. Demnach kann die Vorstellung des Raumes nicht aus den Verhältnissen der äußern Erscheinung durch Erfahrung erborgt sein, sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch gedachte Vorstellung allererst möglich.87

Für die adäquate Rekonstruktion dieser Beweisführung ist als Ausgangspunkt festzuhalten, daß im Kontext einer Thematisierung des Verhältnisses von Empfindungen und empfundenen Gegenständen eine Ambiguität zu beachten ist, die sowohl für den Begriff des »Äußeren' als auch für den Begriff der .Empfindung' selbst gilt Dieser Ambiguität ist in bezug auf die Frage nach der Triftigkeit der Kantischen Argumentation besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Der Untersuchung der Doppeldeutigkeit des Empfindungsbegriffs soll im folgenden zunächst eine ausfuhrliche Bestimmung der Doppeldeutigkeit des Ausdrucks .außer mir' vorgeschaltet werden. Kant benennt als Charakteristikum der äußeren Wahrnehmung, daß darin gewisse Empfindungen auf etwas .außer mir' bezogen werden. Der Begriff des Äußeren bezieht sich dabei auf eine bestimmte Weise des Verschiedenseins, die Kant an dieser Stelle betont: Das Außer- und Nebeneinander soll als Ortsverschiedenheit von einer bloßen Verschiedenheit abgehoben werden. Diese Differenzierung kennzeichnet die Zweideutigkeit des Begriffs ,außer einander', der sich zum einen auf die logische, zum anderen aber auf die räumliche Verschiedenheit beziehen läßt Kant wendet sich mit der Herausstellung dieser Zweideutigkeit gegen die von Christian Wolff im Gefolge von Leibniz vertretene rationalistische Konzeption des Raumes. Diese läßt nämlich die genannte Ambiguität insgesamt außer Acht und identifiziert die räumliche Verschiedenheit mit der logischen resp. führt die eine auf die andere zurück. Das .Außer mir' und .Außer einander' wird bei Christian Wolff dezidiert als .Verschiedenheit von uns' und .Verschiedenheit voneinander' im Sinne der logischen Verschiedenheit verstanden.88 Kants Argumentation zielt demgegenüber darauf, daß der topologische Unterschied von Ich und Gegenstand nicht mit der logischen Verschiedenheit iden87

88

B38. So heißt es in Christian Wolffs Vernünftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seek des Menschen, Hildesheim 1965, S. 23 im § 45: „Wenn wir auf uns acht haben, so werden vir finden, daß wir uns vieler Dinge als außer uns bewußt sind. Wir setzen sie aber außer uns, indem wir erkennen, daß sie von uns unterschieden sind: gleichwie wir sie auch außer einander setzen, indem wir erkennen, daß sie von einander unterschieden sind."

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tifiziert werden kann. Er rekurriert darauf, daß die Vorstellung des .Nicht-Ich' als des logisch Anderen zum Subjekt oder der Begriff eines Objekts überhaupt nur die formale Bedingung für das Denken eines vom Subjekt unterschiedenen Gegenstandes ist, nicht aber eine Bedingung für dessen Wahrnehmung: Was sich im logischen Sinne des Non-Α von mir oder von anderem A unterscheiden läßt, ist alles, was sich denken läßt: der göttliche Geist oder die Menge der Primzahlen ebenso wie ein äußerer Körper. Die logische Verschiedenheit ist als solche indifferent bezüglich der Räumlichkeit oder Unräumlichkeit dessen, was als das Andere gedacht wird. Das logische non-Α gibt Differenz nur formaliter an. Die Unterscheidung von logischer und topologischer Differenz ist für Kants Argumentation vor allem in folgendem Punkt relevant: Die logische Verschiedenheit drückt den Unterschied zwischen Subjekt und Gegenstand bzw. zwischen den Gegenständen apriori aus, sofern diese nur als mögliche Gegenstände aufgefaßt werden, d.h. sofern sie Objekte des Denkens sind. Wenn aber in der Wahrnehmung zur logischen Verschiedenheit nicht noch die topologische hinzukäme, so könnte sich das Subjekt durch seine Empfindungen nicht auf einen empfundenen Gegenstand beziehen, der eben nicht als bloß logisch mögliches, intentionales Objekt gedacht wird, sondern ein real möglicher Gegenstand der äußeren Wahrnehmung ist Die logische Unterschiedenheit wird ausgesagt durch die Verneinung eines Begriffes in einem Urteil.89 In der Wahrnehmung aber ist der Gegenstand nicht bloß ein denkbares ,Nicht-Ich', sondern etwas, das als .Außer mir' empfunden wird und eben darum ,nicht ich selbst' ist Die Bestimmung dessen, was in der Wahrnehmung nicht ich ist, setzt die Vorstellung voraus, daß es sich an einem Ort befindet, der sich von dem Ort, an dem ich bin, unterscheidet Lokalisation und Ortsdifferenz sind Weisen des Verschiedenseins, die im Bereich der logischen Differenzierung vollkommen irrelevant, für den Bereich der empirischen Differenzierung von Subjekt und Gegenstand dagegen aber unabdingbar sind: Die Differenz von Empfindungen und Empfundenem ist nicht auf die von A und non-Α zu reduzieren. Sie enthält das Bewußtsein einer Ortsdifferenz und mit diesem das Bewußtsein einer Differenz des Inneren und Äußeren, das spezifisch ist für den empirischen Gegenstandsbezug. Insofern kann man festhalten: Das Bewußtsein einer Ortsdifferenz ist als außerlogisches Unterscheidungsmoment eine notwendige Bedingung für diese Art des Gegenstandsbezuges: Würde man sie aufheben, so könnten die Empfindungen nur subjektive Vorstellungen bzw. Bestimmungen des Subjekts sein, nicht aber als Vorstellungen von den Gegenständen der Wahrnehmung gelten.

So heißt es im § 6 von Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogstischtn Figurtn von 1762: „Logisch unterscheiden, heißt erkennen, daß ein Ding A nicht Β sei, und ist jederzeit ein verneinendes Urteil [...]". AA Π, S. 60.

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Damit wird klar: Für die Bezugnahme auf einen von mir verschiedenen Gegenstand der Wahrnehmung sind Lokalisation und Ortsdifferenz kein kontingentes, sondern ein notwendiges Kriterium. Wahrnehmung wäre als Wahrnehmung des von mir Verschiedenen, d.h. in ihrer Spezifik als äußere Wahrnehmung ohne ein Bewußtsein von Ortsverhältnissen nicht möglich. Dieses Bewußtsein ist die Voraussetzung für die Unterscheidbarkeit des Subjekts selbst von den Gegenständen seiner Wahrnehmung. Im ersten Raum-Argument wird zusätzlich betont, daß dieses Bewußtsein auch eine Voraussetzung für die Unterscheidbarkeit dieser Gegenstände voneinander ist Denn wenn im Denken logisch C von mir selbst und von Β unterschieden werden kann, so impliziert dies nicht die Vorstellung, daß C neben mir oder Β liegt.90 Logisch werden Gegenstände nur in dem Sinne als verschieden vorgestellt, daß sie sich wechselseitig ausschließen und der eine nicht der andere ist Hier ist die Art der Verschiedenheit indifferent gegenüber der spezifischen äußeren Nachbarschaft, durch die sich Gegenstände, die sich in der Wahrnehmung von mir unterscheiden lassen, auch voneinander unterscheiden. Ohne die Voraussetzung einer Ortsdifferenz könnten also Gegenstände nicht als Gegenstände der äußeren Wahrnehmung voneinander unterschieden werden. Die Lokalisation ist somit notwendig fur die Wahrnehmung von Gegenständen, die sich .Außer mir' und auch .Außer einander' befinden. In der äußeren Wahrnehmung liegt eben jene Bedingung, die die Unterscheidbarkeit zwischen mir bzw. meinen Vorstellungen und Gegenstand ermöglicht, auch der Unterscheidbarkeit der 90

In seiner Arbeit: „Time, Space and Schematism". In: The Philosophical Forum ΧΓΠ, 1, 1981, S. 1-11, gibt Gerold Prauss als Grund fur die der B-Auflage zugefügte Ergänzung „und nebeneinander" (B 38) an, Kant sei sich darüber klar geworden, daß die Spezifik der Raumstruktur mit dem „außer einander" allein nicht erfaßt sei, da auch zur zeitlichen Mannigfaltigkeit das „außer einander" der Zeitteile gehöre. Allerdings bleibe auch mit dieser Ergänzung der Raum unterbestimmt, da ja die Zeitteile ebenfalls durch ein „nebeneinander" LS. eines Nachbars chaftsverhäl misses zu kennzeichnen wären. Die Spezifik des Raumes ließe sich daher allein durch die Koexistenz u.d.h. allein durch die Simultaneität seiner Teile hinreichend von der Zeit unterscheiden, für deren Teile die Simultaneität umgekehrt auszuschließen sei Das Zugleich aber sei eine genuin zeitliche Bestimmung, durch die ein Primat der Zeit etabliert würde, aus dem einige Probleme der Kantischen Philosophie (vor allem hinsichtlich der Frage nach der Notwendigkeit räumlicher Schemata) entstünden, die „familiar and insoluble" seien (S. 4/5). Gemäß der oben präsentierten Rekonstruktion des ersten Raum-Argumentes braucht zur F.rHänmg des Zusatzes der B-Auflage eine Abgrenzung der Raum- gegen die Zeitverhältnisse nicht in Anspruch genommen zu werden. Denn wenn es Kant im ersten Raum-Argument darum geht, den logischen Sinn des .Außer mir' durch den topologischen Sinn des ,an einem anderen Ort als ich' einzuschränken, so ist aus Gründen der Symmetrie ebenfalls für das .Außer einander' der empfundenen Körper die topologische Bedeutung ihres Verhältnisses als .Nebeneinander' explizit anzugeben. Durch den Zusatz von Β wird demnach die Abhebung der Ortsdifferenz zwischen mir und dem Gegenstand der äußeren Wahrnehmung sowie der Ortsverschiedenheit dieser Gegenstände voneinander von der bloß logischen Verschiedenheit thematisiert, nicht aber das Verhältnis von Raum und Zeit. Zum räumlichen Sinn der Wendung .außer mir' im Unterschied zum logischen vgl auch AA VI, Die Metaphysik der Sitten § 17, S. 268. VgJ. dazu auch Walter Patt, Transzendentaler Idealismus, a.a.O., S. 189.

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Gegenstände voneinander zugrunde. Insofern kann man sagen: „Die Dinge, die außer mir und von mir ortsverschieden sind, sind auch untereinander durch ihre Orte unterschieden, nicht aber ist die Ortsverschiedenheit meiner selbst von den empfundenen Dingen ein Spezialfall von Ortsverschiedenheit überhaupt."91 In diesem Sinne heißt es bereits in Kants Dissertation: „Non enim aliquid ut extra me positum concipere licet, nisi illud repraesentando tanquam in loco, ab eo, in quo ipse sum, diverso, ñeque res extra se invicem, nisi illas collocando in spatii diversis locis."92 Damit können wir als erstes Ergebnis unserer Rekonstruktion des ersten Raum-Argumentes festhalten: Das Bewußtsein der Verhältnisse des Außer- und Nebeneinander ist eine notwendige und gleichwohl außerlogische Bedingung für den Bezug der Vorstellungen auf Gegenstände, die das Subjekt von sich selber und seinen Vorstellungen zu unterscheiden weiß. Es handelt sich um das Bewußtsein einer Relation, die nicht von den äußeren Gegenständen als Relata abhängt, sondern die konstitutiv ist für diese Relata. Die Relation geht hier den Relata vorher in dem Sinne, daß ohne ihre Voraussetzung die Wahrnehmung äußerer Gegenstände nicht möglich wäre. Mit diesem Resultat ist die Rekonstruktion des Beweises der Ausgangsthese des ersten Raum-Argumentes jedoch noch nicht abgeschlossen. Kant thematisiert in seiner These nicht nur die Ortsverhältnisse, er bestreitet vor allem, daß die Vorstellung des Raumes ein empirischer Begriff sein kann. Es bleibt also noch zu klären, inwiefern sich im Ausgang von den oben angestellten Vorüberlegungen zeigen läßt, daß die Vorstellung des Raumes kein empirischer Begriff sein kann. Als Ausgangspunkt kann dabei die Bestimmung der Beziehung zwischen der Vorstellung der Ortsverhältnisse und der Vorstellung des Raumes dienen. Diesbezüglich kann man festhalten, daß die Bestimmung von Orten und die lokale Differenzierung als solche von der Vorstellung eines einheitlichen, mannigfaltig besetzbaren Raumes abhängig ist. Und das bedeutet dann: Nicht allein die Ortsverhältnisse, sondern der Raum, sofern er diese Verhältnisse ermöglicht, ist die Bedingung der äußeren Wahrnehmung. Er fungiert hier als Medium des Äußeren, dessen Vorstellung es dem Subjekt ermöglicht, sich selbst an einem Ort in ihm zu situieren und sich von da aus auf andere Gegenstände zu beziehen. Diese Bestimmung erlaubt dann (ähnlich wie im ersten Zeit-Argument) folgenden Schluß: Ist die Lokalisation bzw. Ortsrelation als Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandsbezuges äußerer Wahrnehmung ausweisbar und wird ferner der Manfred Baum, „Kants Raumargumente und die Begründung des transzendentalen Idealismus". In: Hariolf Oberer (Hg.), Kant. Analysen - Probleme - Kritik Bd. II. Würzburg 1996, S. 41-64, hier S. 43. AA Π, De mundi sensibili!... § 15, S. 402: (Denn ich kann nichts als außer mir gesetzt vorstellen, wenn ich es nicht in einem von dem, wo ich bin, verschiedenen Ort vorstelle, und ebensowenig Sachen außer einander, wenn ich sie nicht in verschiedene Orte des Raumes stelle.)

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Raum als Bedingung der Lokalisation vorgestellt, dann ist der Raum die Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandsbezuges in der äußeren Wahrnehmung. Aus eben jenem Bedingungscharakter folgt dann die Nicht-Empirizität der Vorstellung des Raumes: Ist der Raum die Bedingung der Möglichkeit der empirischen Referenz auf das Äußere, dann kann seine Vorstellung keine Folge der Wahrnehmung und demnach auch kein Begriff sein, der, wie es in der These heißt, ,νοη äußeren Erfahrungen abgezogen worden' und so ein empirischer Begriff wäre. Mit diesem Resultat ist die Rekonstruktion des eigentlichen Beweises abgeschlossen und die These bestätigt: Weil die Möglichkeit der äußeren Wahrnehmung als solche eine Vorstellung des Raumes voraussetzt, kann diese Vorstellung nicht im Ausgang von der äußeren Wahrnehmung erzeugt werden.93 Vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses können wir nun zu der oben angeführten Problematik einer möglichen Zirkularität in Kants Untersuchung des Raumbegriffs (zumindest in bezug auf das eben analysierte erste Raum-Argument) Stellung nehmen: Indem Kant geltend machen kann, daß die Vorstellung von Ortsverhältnissen nicht von vorausgesetzten äußeren Gegenständen abhängt, kann er ebenfalls geltend machen, daß nicht die Mannigfaltigkeit der Dinge das Kriterium für die Unterscheidung und Beziehung von Orten sein kann, sondern nur die Vorstellung von einem einheitlichen Raum, in den etwas an einen Ort gesetzt und auf etwas an einem anderen Ort bezogen werden kann. Das erste Raum-Argument handelt also nicht bloß von verschiedenen Orten, sondern von verschiedenen Orten des Raumes, der sie ermöglicht. Diese Gedankenführung zeigt ganz klar, daß Kant im ersten Raum-Argument nicht die Absicht verfolgt, den Raum, wie es bei Guyer heißt, als „pure, and therefore a priori, formfs] of intuition"94 zu bestimmen. Das Argument erweist lediglich auf der Grundlage eines Nachweises, daß der Raum für die äußere Wahrnehmung notwendige Bedingung ist, die Nicht-Empirizität der Raumvorstellung. Der Raum wird dabei als universell besetzbares Medium des Äußeren überhaupt bestimmt, das nicht im Feld des Denkens, sondern im Feld der empirischen Anschauung die Differenz von Innerem und Äußerem begründet. Daraus zieht Kant die Konsequenz, daß die Erfahrung als Ursprung der Vorstellung dieses Mediums ausgeschlossen werden muß. Nur auf diesen Nachweis zielt das erste Raum-Argument: Es beweist lediglich, daß die Vorstellung vom Raum kein empirischer Begriff sein kann, es beweist noch nicht den formalen und subjektiven Charakter dieser Vorstellung. Es läßt beispielsweise die Möglichkeit offen, daß die Vorstellung vom Raum ein

93

Vgl. AA Π, De mmdi sensibiüs... § 15, S. 402. Paul Guyet, Kant and the Claims of Knowledge, a.a.O., S. 345.

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nicht-empirischer Begriff sein könnte, der sich auf ein Ding an sich beziehen könnte. In diesem Sinne können wir als weiteres Ergebnis unserer Rekonstruktion festhalten, daß das erste Raum-Argument ebensowenig als Beleg für eine mögliche Zirkularität der Argumentation der Transzendentalen Ästhetik im Ganzen gelten kann wie das erste Zeit-Argument. Vor dem Hintergrund unserer Rekonstruktion können wir weiterhin festhalten, daß auch die immanente Triftigkeit des ersten Raum-Argumentes nicht in Frage gestellt werden muß. Strawsons Einwand: „the argument is really too short"95 ist durchaus unzutreffend. Es besagt nicht, daß die Bestimmung räumlicher Verhältnisse bloß auf die Fähigkeit zurückzufuhren ist, räumliche Verhältnisse konstatieren zu können. Kant führt darin vielmehr vor, daß der Raum als außerlogische und gleichwohl notwendige Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandsbezuges speziell der äußeren Wahrnehmung fungiert Das Ergebnis des ersten Raum-Argumentes stellt keineswegs bloß eine triviale tautologiche Behauptung dar. Ferner wird im ersten Raum-Argument parallel zum ersten Zeit-Argument die Raumvorstellung relativ auf die Bestimmung räumlicher Verhältnisse nicht als in Arten eingeteilter empirischer Gattungsbegriff bestimmt, sondern als nicht empirisch zu gewinnende Vorstellung eines allgemeinen Mediums, das, indem es spezifische Verhältnisse ermöglicht, als Voraussetzung der Wahrnehmung fungiert, sofern diese äußere Wahrnehmung ist Wir hatten oben angekündigt, neben der Ambiguität im Begriff des Äußeren auch eine Ambiguität zu untersuchen, die im Empfindungfocgriff selber liegt. Diese Problematik ist hier noch zu bedenken: Auffallig ist, daß Kant im ersten Raum-Argument keine eigene Bestimmung des Empfindungsbegriffs vornimmt Eine solche Bestimmung scheint jedoch im Kontext der Frage nach den Bedingungen äußerer Wahrnehmung überaus wichtig zu sein. Denn Empfindungen lassen sich einerseits als Zustandsmodifikation des eigenen Inneren auffassen, das, versteht man darunter den Inhalt des empirischen Bewußtseins bzw. die Gegebenheiten des inneren Sinnes, als solches keinen Ort hat, also als etwas genuin Unräumliches gekennzeichnet ist Andererseits kann man unter Empfindungen aber auch Zustände des Ich im Sinne des eigenen Körpers verstehen, der sich neben anderen Körpern im Raum befindet, so daß die Empfindungen als etwas Koexistierendes aufgefaßt werden können.96 Im ersten RaumArgument wird die Alternative, ob Empfindungen als Gemüts- oder Körperzustände zu bestimmen sind, offengelassen.97 Die Offenheit ist hier in dem Ansatz begründet, den Kant für seine Argumentation wählt: Er geht im ersten Raum95

VgL noch einmal Peter F. Strawson, The bounds of Seme, a.a.O., S. 58. Vgl. Manfred Baum, „Kants Raumargumente ...", a.a.O., S. 50 ff. VgL dazu noch einmal Udo Rameil, Raum und Außenwelt, a.a.O., S. 55 ff.

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Argument vom Faktum der äußeren Erfahrung aus, deren Stattfinden er in keiner Weise in Frage stellt. Kants Untersuchung setzt voraus, daß es in der äußeren Erfahrung Empfindungen von Körpern gibt, daß der eigene Körper als Quelle dieser Empfindungen fungiert und daß das Ich vermittelst des eigenen Körpers mit anderen Körpern in Beziehung tritt. Die Empfindung kann dabei sowohl als Affektion des Körpers wie auch als Gemütszustand betrachtet werden. Beides wird hier lediglich als Aspektverschiedenheit behandelt: wird die Empfindung im eigenen Körper lokalisiert, so wird dieser als ihr Sitz angesehen, wird sie auf das eigene Gemüt bezogen, so kann eben dieses als Sitz der Empfindung angegeben werden. Entscheidend ist hier allein, daß für die Lokalisation der Empfindung der Raum als notwendige Bedingung vorausgesetzt werden muß. An anderer Stelle weist Kant nach, daß die Bestimmung des Subjekts selbst und seiner inneren Zustände allein von der Voraussetzung der Zeit abhängig ist 98 Dies spielt im ersten Raum-Argument noch keine Rolle. Darin analysiert Kant zunächst die äußere Erfahrung im Hinblick auf die darin enthaltenen nichtempirischen Elemente. Kant erörtert darin weder die Problematik des Verhältnisses von Leib und Seele oder Materie und Geist noch die Idealismusproblematik, d.i. die Frage, ob es überhaupt äußere Wahrnehmung gibt, ob die räumliche Außenwelt als solche existiert oder nur Vorstellung ist.®9 Im ersten RaumArgument wird lediglich nach einer möglichen Bedingung apriori gefragt, durch die in der Wahrnehmung Empfindungen auf Gegenstände bezogen werden, die sich vom Subjekt unterscheiden lassen, obwohl sie empfunden und damit zugleich auch subjektrelative Gegenstände sind: Als diese Bedingung apriori erweist sich der Raum. Das Verhältnis des ,Außer mir' und Außer einander' und der Raum, der diese Verhältnisse ermöglicht, bestimmt nicht Verhältnisse der vom Vorgestelltwerden unabhängigen Dinge an sich. Er bestimmt vielmehr das, was als Äußeres durch sein Verhältnis zum wahrnehmenden Subjekt wie auch zu anderen wahrnehmbaren Gegenständen apriori bestimmt ist. Der Raum ist eine Bedingung von Wahrnehmung und damit eine Grundlage für den Bezug des Subjekts auf sinnesrelative Gegenstände. Das aber heißt: Er ist das Kriterium für die Möglichkeit einer Bezugnahme auf Erscheinungen. Oft 99

Vgl. B49 und unten Kapitel 9 zu § 6, Schluß b). In „Kants Raumargumente ...", a.a.O., S. 53 macht Manfred Baum auf den restringierten Anspruch des ersten Raum-Argumentes aufmerksam: „Die Einführung des Raumbegriffs als einer Vorstellung apriori kann sich [...] weder mit der Aufgabe der Widerlegung des Idealismus belasten noch die transzendentale Idealität des Raumes, die durch die vier Raumargumente ja erst begründet werden soll, schon voraussetzen. Aus diesen darstellungsökonomischen Gründen bedient sich Kant des Kunstgriffs, die Empfindung als etwas einzuführen, das sowohl als Zustand der Seele als auch des Körpers angesehen werden kann, also nur dem Aspekt nach verschieden von sich selbst ist Damit eröffnet sich zugleich die Möglichkeit, die notwendige Funktion der Raumvorstellung als eines Datums a priori bei der Ermöglichung äußerer Erfahrung zu erweisen, ohne sich der nutzlosen Trivialität bedienen zu müssen, daß räumliche Verschiedenheit den Raum voraussetzt"

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Auch wenn Kant im ersten Raum-Argument das Problem der Realität der Außenwelt aus der Untersuchung ausklammert, kann mit Hilfe dieses Argumentes doch eine erste Perspektive für die Bestimmung des Verhältnisses von Ich und Außenwelt gewonnen werden, die wir schon an dieser Stelle kurz ansprechen wollen. In dem Kapitel der KrV, das explizit der Widerlegung des Idealismus gewidmet ist, weist Kant darauf hin, daß in der Transzendentalen Ästhetik der Grund eines dogmatischen Idealismus, der „den Raum als Eigenschaft, die den Dingen an sich selbst zukommen soll, ansieht" 10°, bereits ,gehoben' sei. Dieser Hinweis läßt sich im Hinblick auf das erste Raum-Argument konkretisieren. Als dogmatischen Idealismus kennzeichnet Kant die von George Berkeley konzipierte Position. Kant versteht Berkeley so, daß dieser das räumliche Äußere als absolutes Äußeres oder als einen Bereich des nicht vorstellungsrelativen Seins an sich auffaßt. Berkeley hatte die Möglichkeit der Dinge an sich und des absoluten Raumes mit bezug auf einen Widerspruch ausgeschlossen, auf die sich die Behauptung des Ansichseins stützt Die Behauptung des Ansichseins impliziert die Vorstellung von etwas Nicht-Vorgestelltem. Vor dem Hintergrund dieses Argumentes entwickelt Berkeley die Auffassung, daß die äußeren Dinge als Wahrnehmungsgegenstände keine Dinge an sich, sondern nur vorstellungsrelative Erscheinungen sein können und daß daher ihr Sein auf ein Wahrgenommenund Vorgestelltwerden zurückgeführt werden müsse: Was Gegenstand äußerer Erfahrung sein soll, ist nach diesem Verständnis darauf beschränkt, Vorstellung zu sein.101 Die Konzeption des Newtonischen Raumes als Sphäre eines absoluten Äußeren, in dem sich die Dinge als vorstellungsunabhängige Dinge an sich befinden sollen, ist demnach als solche widersprüchlich. Daraus zieht Berkeley (nach Auffassung Kants) den Schluß, daß alles Vorstellbare eben nichts anderes als nur Vorstellung ist: Indem Berkeley also die Dinge auf ihr Vorgestelltwerden zurückfuhrt und den Raum als Eigenschaft der Dinge an sich betrachtet, wird für ihn das räumliche Äußere zum bloßen Schein, dem nichts Wirkliches entsprechen kann.102 Kant wendet gegen diese Idealismuskonzeption ein, daß sich deren Grund in der Transzendentalen Ästhetik heben läßt Dieses .Heben' besteht darin, daß Kant in seiner Raumkonzeption den Widerspruch der Vorstellung eines NichtVorgestellten vermeidet Das erste Raum-Argument macht deutlich, daß Empfindungen bewußte Vorstellungen sind und sich doch auf ein Äußeres beziehen, weil eine Vorstellung vom Raum diesem Bezug apriori als Bedingung vorhergeht Kants Beweisführung zielt darauf ab, daß der Raum dem vorstellenden

ΖB274·

Vgl George Berkeley, Dm Dialog ^wischen Hylas und Philonom. Hamburg 41991, S. 52. In diesem Sinne kennzeichnet Kant Berkeleys Position in der Widerlegung its Ideaäsmur. „Berkeley, der den Raum mit allen Dingen, welchen er als unabtrennliche Bedingung anhängt, für etwas, das fur sich selbst unmöglich sei, und darum auch die Dinge im Raum fur bloße Einbildungen erklärt". B274.

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Subjekt eine spezifische Sphäre eröffnet, die es möglich macht, vermittelst von Vorstellungen ein Vorgestelltes zu lokalisieren, von dem dann gesagt werden kann, daß es, obwohl wahrgenommen und vorgestellt, dennoch nicht darauf beschränkt ist, nur Vorstellung zu sein. Im ersten Raum-Argument wird also vorgeführt, daß das Äußere in der Wahrnehmung aufgrund der Apriorität der Raumvorstellung weder auf ein Sein an sich, noch auf eine Vorstellung reduziert werden muß. In diesem Sinne enthält das erste Raum-Argument implizit ein Argument gegen Berkeleys generelle Suspension des Äußeren. Dieses Argument arbeitet jedoch nur heraus, daß sich die Vorstellung von etwas Vorstellungsverschiedenem überhaupt widerspruchsfrei behaupten läßt Ein Beweis der'Realitätdes Äußeren ist damit allerdings noch nicht verbunden. Die in der Transzendentalen Ästhetik entwickelte Raumkonzeption schließt somit den von Descartes vertretenen .problematischen Idealismus'103 nicht aus, der zwar nicht behauptet, daß der Raum und die äußeren Gegenstände etwas Unmögliches sind, der aber gleichwohl mit Bezug auf den Traum geltend macht, daß etwas im Raum vorgestellt werden kann, was nicht wirklich existiert.104 Der Cartesische Skeptizismus betont, daß die Existenz des räumlich Äußeren zwar möglich, aber letztlich nicht beweisbar ist, so daß der Raum und die Außenwelt eben doch nur etwas Vorgestelltes sein könnten. Mit diesem Problem sieht sich auch Kants Konzeption konfrontiert, insofern die Transzendentale Ästhetik aus der Untersuchung des Raumbegriffs die Subjektivität des Raumes erschließt.105 Damit befaßt sich Kant in seiner Analyse der äußeren Erfahrung im ersten RaumArgument jedoch noch nicht. Das Problem stellt sich in aller Schärfe erst mit der eigentlichen Begründung der Subjektivität des Ravîmes in den Schlüssen, die Kant aus der metaphysischen und transzendentalen Erörterung des Raumbegriffes zieht. Die primäre Aufarbeitung der Konsequenzen, die aus dieser Konzeption für die Frage nach der Realität der Außenwelt erwachsen, wird dann an anderer Stelle der KrV im Rahmen einer Bestimmung der empirischen Bedeutung der Kategorie der Wirklichkeit unter dem Titel der Widerlegung des Idealismus 106 vorgenommen. Das Schlußkapitel dieser Arbeit wird sich mit dieser Widerlegung eingehend befassen. Für die Gewinnung eines Grundverständnisses der Kantischen Raumkonzeption ist die Beschäftigung mit dem ersten Raum-Argument unerläßlich. Hier wird der Gedanke formuliert, daß die Raumvorstellung die Bedingung apriori für die Bezugnahme auf ein Äußeres überhaupt fungiert. Dieser Gedanke liegt sowohl Ζ 105 106

VgLB247 ·

Vg}. Descartes, Meditatioiu», Hamburg 1992, S. 34. Vg}. dazu Udo Rameil, Raum und Außemveb, a.a.O., S. 162 ff.; Dietmar H. Heidemann, Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, a.a.O., S. 103 ff. VgL B42. VgJ. B247 ff.

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der unten noch ausführlich zu behandelnden Notwendigkeit der äußeren Darstellung der Zeit durch eine gezogene Linie als auch der Frage nach der Wirklichkeit des Äußeren zugrunde. Beide Thematiken beziehen eine Differenz von Raum und Zeit mit ein, die schon an dieser Stelle anhand einer Gegenüberstellung des ersten Raum- und Zeit-Argumentes kenntlich gemacht werden kann: Indem im ersten Raum-Argument der Gedanke der konstitutiven Funktion des Raumes für die Beziehung auf ein nicht-logisches Äußeres überhaupt dargelegt wird, ist die entscheidende Differenz zum ersten Zeit-Argument bereits benannt: Im ersten Zeit-Argument führt Kant den Nachweis, daß die Zeitvorstellung kein von irgendeiner Erfahrung abstrahierter Begriff ist Für die Raumvorstellung wird komplementär dazu nur geltend gemacht, daß sie nicht von äußeren Erfahrungen abstrahiert sein kann. Die Zeitvorstellung wird demnach als die gegenüber dem Raum universalere Bedingung der empirischen Anschauung und Erkenntnis eingeführt. Damit scheint Kant der Zeit eine epistemische Priorität gegenüber dem Raum zuzuerkennen. Andererseits erweist Kant die Raumvorstellung ihrerseits als Voraussetzung dafür, daß das Subjekt Empfindungsvorstellungen nicht nur sich selbst als Eigenzustände zuschreiben, sondern auch auf einen Gegenstand beziehen kann, den es von sich selber unterscheidet Zu beachten ist dabei, daß sich diese Möglichkeit durch die Voraussetzung der Zeit allein nicht begründen läßt: Die Raumvorstellung gibt mit dem ,außer mir' und .nebeneinander' Verhältnismöglichkeiten vor, die in der Zeitvorstellung nicht enthalten sind. Wenn also die Zeit im ersten Zeit-Argument als Bedingung des empirischen Gegenstandsbezuges überhaupt erwiesen wird, so ist dabei vorausgesetzt, daß das Bewußtsein von äußerer Dauer und Veränderung seiner Möglichkeit nach nicht nur notwendig von der Unterscheidung von Zeitverhältnissen abhängt, sondern auch von dem Bewußtsein des ,Außer mir', das auf der nichtempirischen Vorstellung des Raumes beruht. In diesem kurzen Vergleich zeigt sich also bereits, daß das Verhältnis von Raum und Zeit für die Frage nach den Grundbedingungen empirischer Erkenntnis und nach dem Verhältnis des Inneren und Äußeren von zentraler Bedeutung ist. Wir werden im Zusammenhang mit der weiteren Rekonstruktion von Kants Ausführungen zum Zeitproblem noch Gelegenheit haben, uns eingehend mit der Gemeinsamkeit, der Differenz und Interdependenz der Raum- und Zeitvorstellung zu befassen. Wir werden dabei herausarbeiten können, daß sich die Zeit als notwendige sinnliche Bedingung der Gegenstandserkenntnis erweisen läßt, die jedoch ohne den Bezug auf den Raum keine hinreichende Erkenntnisbedingung ist. Wenn wir uns im Kontext unserer Rekonstruktion u.a. mit dem Verhältnis von Raum und Zeit beschäftigen wollen, so wird es nicht erforderlich sein, die Analyse jedes der von Kant vorgebrachten Zeit-Argumente durch eine Analyse des entsprechenden Raum-Argumentes zu komplementieren. Im folgenden wird sich der Rekurs auf Kants Raum-Erörterung nur auf solche

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Das erste Raum-Argument

Differenzen, die uns im Licht unserer generellen Fragestellungen besonders bedeutsam erscheinen, beschränken. Bevor das Verhältnis von Raum und Zeit aber näher behandelt werden kann, bedarf es noch einiger Vorbereitungen, die wir mit der Untersuchung des zweiten Zeit-Argumentes weiter voranbringen wollen.

Kapitel Drei Das zweite Zeit-Argument: Der Substratcharakter der Zeit Unsere Ausgangsthese, daß Kant im § 4 der KrV die Zeit nicht als subjektive Form der Anschauung, sondern als Gegenstand des Begriffs der Zeit thematisiert, wird sich auch im Zuge der Rekonstruktion des zweiten Zeit-Argumentes stützen lassen. Darin untersucht Kant die Bestimmung der Zeit als das Substrat aller Erscheinungen. Bei der Erörterung dieser Bestimmung ergibt sich eine gewisse Parallele zum ersten Zeit-Argument. Beide Argumente verfolgen dasselbe Beweisziel: Sie erweisen gleichermaßen die Nicht-Empirizität der Zeitvorstellung. Die Nicht-Empirizität wird im zweiten Zeit-Argument jedoch nicht wie im ersten daraus erschlossen, daß die Zeit als eine notwendige Bedingung der Wahrnehmung bestimmt werden kann, sondern daraus, daß sie sich als notwendige Bedingung der Gegenstände der Wahrnehmung erweisen läßt107 In diesem Sinne thematisiert das zweite Zeit-Argument die Zeit unter der Hinsicht einer Relation, in der die Zeit zum Wahrnehmbaren steht. Diese Relation stellt hier die Leithinsicht für die Exposition des Zeitbegriffs dar und läßt sich auf das Verhältnis apriori von Subsistenz und Inhärenz zurückführen. Dieses Verhältnis betrifft nicht die Zeit als Form der Anschauung oder als Struktur bzw. Ordnungsweise des sinnlich Gegebenen, sondern die Zeit, sofern sie als Behälter oder Matrix für das Erfahrbare überhaupt vorgestellt wird. Im zweiten ZeitArgument wird gezeigt, daß die Vorstellung einer solchen Matrix die Vorstellung einer notwendigen Bedingung des Daseins und des Erscheinenskönnens aller möglichen wahrnehmbaren Dinge ist und daher keine empirische, sondern nur eine apriori gegebene Vorstellung sein kann. Ebenso wie bei der Rekonstruktion des ersten werden wir uns auch bei der Untersuchung des zweiten Zeit-Argumentes nicht nur mit der Bedeutung der Argumentation für die formale Richtigkeit des Aufbaus der Transzendentalen Ästhetik im Ganzen befassen, sondern auch die immanente Stimmigkeit und Stichhaltigkeit der Argumentation selbst überprüfen. Diesbezüglich sind gegen das zweite

107

Vergleichbares erweist in bezug auf den Raum Manfred Baum, „Kant on Pure Intuition". In: Philip D. Cummins, Günter Zöller (Hg.), Minis, Ideas, and Objects. Essays on the Theoiy of Representation in Modern Philosophy. Atascadero 1992, S. 303-315, hier S. 305.

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Das zweite Zeit-Aigument

Zeit-Argument einige Einwände erhoben worden, die unsere Analyse leiten und durch sie auch geprüft werden sollen. Wird die Parallelführung des zweiten Zeit-Argumentes mit dem entsprechenden Raum-Argument berücksichtigt, so kann zunächst der Einspruch, den Johann Georg Heinrich Feder in bezug auf das zweite Raum-Argument erhebt, auf das entsprechende Zeit-Argument übertragen werden. Feder gibt zu bedenken, daß die Behauptung der „Unvertilgbarkeit einer Vorstellung aus unserem Denken" nicht schon die Apriorität ihres Ursprunges verbürgt.10* Einen vergleichbaren Einwand formuliert Hans Vaihinger, der unterstreicht, daß aus dem Nachweis einer relativen Notwendigkeit der Zeit nicht folge, daß sie eine den Empfindungen vorhergehende Vorstellung ist.109 Norman Kemp Smith sieht im zweiten Zeit-Argument allenfalls den Nachweis einer subjektiven Notwendigkeit der Zeit.110 Paul Guyer faßt die genannten Einwände pointiert zusammen, indem er anmerkt, daß das Argument seine Interpreten vor die schwierige Aufgabe stelle zu zeigen, daß es weder eine bloße Tautologie enthält noch ein bloßes psychologisches Faktum konstatiert.111 Reinhard Brandt bringt in bezug auf das zweite Raum- und Zeit-Argument die Interpretation vor, daß Kant in beiden Fällen zwei Arten von Notwendigkeit voneinander unterscheide, zum einen eine Notwendigkeit, die sich aus dem ,Zum-Grunde-Liegen' ergäbe: „Raum und Zeit liegen allen äußeren bzw. allen Erscheinungen überhaupt zum Grund und sind entsprechend bezogen auf sie, relativ also zu Gegenständen in ihnen, notwendig [...]".112 Dagegen hebe Kant eine zweite Form der Notwendigkeit ab, da es im zweiten Raum-Argument explizit heiße, daß man sich niemals eine Vorstellung davon machen könne, daß kein Raum sei113, und dies gelte analog auch für die Zeit. Diese Notwendigkeit beziehe sich darauf, daß Raum und Zeit subjektiv notwendig seien, insofern für den Vorstellenden Raum und Zeit, im Unterschied zu allen eliminierbaren Gegenständen in ihnen, als solche gegeben seien, weil in ihrem Fall die Differenz zwischen Vorstellung und Vorgestelltem wegfalle. Für den Vorstellenden ist „die Vorstellung vom Raum [...] der Raum, die Vorstellung von der Zeit ist für ihn die Zeit."114 „Die Notwendigkeit liegt demnach in der Identität von Vorstellung und Vorgestelltem (so wie dem ontologischen Gottesbeweis zufolge mit dem Begriff Gottes auch dessen Existenz gegeben ist)."115 VgL Johann Georg Heinrich Feder, Ueber Rauet und Causaütät, a.a.O., S. 26 ff., bes. S. 30. Vgl. Hans Vaihinger, Kommentar spr Kritik der reinen Vernunft Bd. 2, a.a.O., S. 371. Ähnlich argumentiert Peter F. Strawson in The Bounds of Sense, a.a.O., S. 58 in bezug auf den Raum. Norman IC Smith, A Commentary on Kant's „Critique of Pure Season", a.a.O., S. 124. Paul Guyer, Kant and the Claims of Knowkdg, a.a.O., S. 347. Reinhard Brandt, „Raum und Zeit in der ,Transzendentalen Ästhetik' der Kritik der reinen Vernunft". In: Michael Großheim/Hans-Joachim Waschkies (Hg.), Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift fur Hermann Schmitz. B o n n 1993, S. 441-458, hier, S. 446 f. 113 Vgl. B39. 114 Reinhard Brandt, „Raum und Zeit...", a.a.O., S. 447. 115 A.a.O., S. 448. 108

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Das zweite Zeit-Argument

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Würde es Kant aber in seiner Argumentation nur um den Beweis einer relativen Notwendigkeit gehen, so wäre damit lediglich die tautologische Behauptung zu gewinnen, daß die Annahme von Gegenständen in Raum und Zeit die Vorstellung von Raum und Zeit voraussetzt In ähnlicher Weise argumentiert Julius Ebbinghaus in bezug auf das zweite Raum-Argument, daß es Kant darin um den Nachweis der Notwendigkeit des Raumes in bezug auf seine Vorstellung gehe: „Der Raum kann nicht anders als im Verhältnis der Unmöglichkeit seines Nichtseins vorgestellt werden. Eben dies: den Raum vorstellen können und doch als nichtseiend — das ist es, wozu unserem Vorstellungsvermögen in der Tat die Mittel fehlen." 116 Diese Kritik läßt sich aufgrund der parallelen Konstruktion der Raum- und Zeitargumente in der KrV leicht auf das zweite ZeitArgument übertragen. Die folgende Rekonstruktion des zweiten Zeit-Argumentes wird sich mit diesen Einwänden und Interpretationsansätzen auseinandersetzen. Sie wird dabei vor allem eine Entscheidung darüber zu treffen haben, ob das zweite Zeit-Argument dem Beweis einer absoluten, d.h. sie selbst betreffenden Notwendigkeit der Zeit gilt oder ob darin nur die relative Notwendigkeit der Zeit für die Erscheinungen erwiesen wird. Sie wird ferner prüfen, ob Kant in seinem Argument zwar beansprucht, die relative Notwendigkeit der Zeitvorstellung im Verhältnis zum Dasein der Dinge, d.h. eine relative, objektive Notwendigkeit der Zeit zu erweisen, dabei aber eigentlich nur zeigt, daß sie eine subjektive Notwendigkeit besitzt und nur ,unvertilgbar ist für unser Denken'. Sie wird in diesem Zusammenhang auch untersuchen, ob das Argument nur tautologisch die Vorausgesetztheit der Zeit für das Zeitliche erweist, aus der aber die Apriorität der Zeitvorstellung nicht erschlossen werden kann. Wir beginnen unsere Rekonstruktion mit der Untersuchung der These, die Kant dem zweiten Argument zur Bestimmung des Ursprungs der Zeitvorstellung voranstellt. Sie lautet: Die Zeit ist eine nothwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt 117

Bewiesen werden soll hier die Notwendigkeit der Zeitvorstellung als allgemeine Grundlage von Anschauungen. Für das Verständnis dieser These ist zunächst zu klären, in welchem Sinne an dieser Stelle der Begriff der Anschauung zu verstehen ist. Dabei ist hervorzuheben, daß der Anschauungsbegriff von Kant in mehreren Bedeutungen verwendet wird: Er bezieht sich zum einen auf eine gegebene Vorstellung im Gemüt118, er bedeutet aber auch den Vollzug des Anschauens 116 117 118

Julius Ebbinghaus, „Kants Lehre von der Anschauung apriori", a.a.O., S. 126. B46. Vgl. z.B. B132.

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Das zweite Zeit-Aigument

selbst119 und schließlich bezeichnet er den angeschauten Gegenstand.120 In der These des zweiten Zeit-Argumentes verwendet Kant den Ausdruck gemäß der hier zum Tragen kommenden kategorialen Leithinsicht in der letztgenannten Bedeutung: Behauptet wird darin, daß die Zeit als notwendige Vorstellung allen Anschauungen: allen durch den äußeren und inneren Sinn angeschauten Gegenständen, d.h. allen Erscheinungen zugrunde liegt. Daß Kant im zweiten ZeitArgument die Zeitvorstellung in ihrer Beziehung zu den Gegenständen der Anschauung behandelt, wird durch einen Blick auf das allgemeine Programm der Transzendentalen Ästhetik deutlich. Darin geht es primär um die Analyse der Erfahrung im Hinblick auf die Funktion, die der Sinnlichkeit und den allgemeinen Elementen der Sinnlichkeit zukommt Die Zeit ist ein solches Element der Sinnlichkeit, das sich apriori durch Bestimmungen kennzeichnen läßt, die sich durch eine Exposition des Begriffs der Zeit ermitteln lassen. In seiner Exposition des Zeitbegriffs setzt Kant voraus, daß die sinnlich wahrnehmbaren und erfahrbaren Gegenstände zeitlich sind, die Zeitlichkeit der Anschauungen wird im zweiten Zeit-Argument zunächst als Faktum hingenommen. Von da aus rekurriert Kant darauf, daß sie zugleich für alle Anschauungen notwendig ist in dem Sinne, daß sie als notwendige Grundlage zu den Gegenständen der Erfahrung gehört Das Verhältnis der Zeit zu den Erscheinungen wird dadurch bestimmt, daß ihr apriori der Charakter eines allgemeinen Substrates des Anschaubaren zuerkannt werden kann. Diese Verhältnisbestimmung beantwortet die Frage, wie die Erscheinungen als solche möglich sind. Entscheidend für diese Antwort ist, daß das zweite Zeit-Argument in bezug auf das Verhältnis der Dinge und Ereignisse zur Zeit ein asymmetrisches Bedingungsverhältnis aufzeigt und von da aus die Abhängigkeit der Erscheinungen von einem Grund, der von ihnen unabhängig ist, als notwendig erweist Wir werden, wie oben bereits angekündigt, im folgenden die These vertreten, daß im zweiten Zeit-Argument nicht die absolute Notwendigkeit der Zeit im Verhältnis sich selbst erwiesen werden soll, sondern nur die Notwendigkeit des Zugrundeliegens der Zeit für das Zeitliche, die als die relative Notwendigkeit innerhalb des Verhältnisses von Subástense und Inhärens^ gedacht wird. Kant beweist seine These durch den folgenden Gedanken: Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. 121

Daß der Beweis überhaupt der Bestimmung eines Verhältnisses gilt, verdeutlicht Kant durch den Ausdruck Jui Ansehung'. Die Argumentation geht davon aus, daß in der Erfahrung beliebig antreffbare Erscheinungen in einem Verhältnis zur 119 120

12t 121

Vgl. z.B. B49. VgL z.B. B34, B204. B46.

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Zeit stehend vorgestellt werden und daß in bezug auf dieses Verhältnis nach dem Status der Zeit gefragt werden kann: ist sie logisch früher als die Erscheinungen oder ist sie von der Voraussetzung der Erscheinungen abhängig? Zur Beantwortung dieser Frage präsentiert Kant zunächst ein Gedankenexperiment122, mit dem ein Indiz dafür geliefert wird, daß die Relation zwischen den Erscheinungen und der Zeit keine symmetrische ist. Das Experiment gilt der Möglichkeit des Aufhebens oder Wegdenkens und wird innerhalb der Relation zum einen in bezug auf die Erscheinungen, zum anderen in bezug auf die Zeit durchgeführt Es fuhrt zu jeweils verschiedenen Resultaten: Sieht man auf die Erscheinungen und hebt man die Zeit auf, so werden auch die Erscheinungen aufgehoben. Sieht man aber auf die Zeit und hebt man die Erscheinungen auf, so bleibt die Zeit zurück. Dieses Zurückbleiben liefert den Hinweis darauf, daß die Zeit im Verhältnis zu den Sinnesgegenständen als etwas Selbständiges vorgestellt werden kann, als etwas, das unabhängig von den Erscheinungen auch für sich besteht, während die Erscheinungen offenbar unselbständig nur in der Zeit und nicht außerhalb und unabhängig davon sein können. Das Gedankenexperiment macht somit deutlich: Sofern man sich Gegenstände der Sinne vorstellt, muß man auch die Zeit vorstellen als das, worin sie erscheinen. Die Zeit läßt sich aber auch als solche vorstellen, unabhängig von dem, was in ihr ist. In diesem Sinne kann die Zeit auch als etwas für sich Bestehendes gelten. Das bedeutet aber nicht, daß eine leere Zeit ohne Zeitliches auch wirklich ist, sondern nur, daß man sie sich unabhängig von den Dingen als etwas Selbständiges vorstellen kann.123 Das Selbständigsein gehört aber zur Definition der Substanz als das, was nur als Subjekt, aber nicht als Prädikat vorgestellt werden kann.124 Das Unselbständigsein gehört dagegen zur Definition des Akzidenz als das, was nur Prädikat, aber nicht als Subjekt vorgestellt werden kann.125 Das Gedankenexperdiment der Wegdenkbarkeit aller Erscheinungen aus der Zeit enthält noch nicht den Beweis des Arguments, es fuhrt aber vor, daß das Verhältnis der Erscheinungen zur Zeit überhaupt den Begriffen der Subsistenz und Inhärenz gemäß bestimmt werden kann. Diese Dichotomie ist hier die Leithinsicht der Untersuchung, eine Leithinsicht, die einen Ansatzpunkt für die Rekonstruktion der eigentlichen Argumentation zugunsten der Apriorität der Zeitvorstellung bietet. Die durch die Rekonstruktion zu beantwortende Frage lautet: Wodurch genau wird die Notwendigkeit der .Subsistenz' der Zeit bewiesen? Auffallig ist, daß Kant in der Skizzierung seines Experimentes die Zeit (wie auch den Raum) als etwas beschreibt, das nicht,aufhebbar' ist in dem Sinne, daß es nicht als nicht-seiend 122

124 125

VgL Sadik Al-Azm, Kant's Theory of Time, a.a.O., S. 43. Vgl. Douglas P. Dryer, Kant's Solution for Verification in Metaphysics, a.a.O., S. 321.

Vgl B129, B149.

VgL A348; AAIV, Prolegomena § 47, S. 334.

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vorgestellt werden kann. Kants Formulierung legt in der Tat nahe, daß er an dieser Stelle von der Zeit in Termini einer an sich selbst notwendigen Entität im Sinne eines ens necessarium zu sprechen scheint. Der Gedanke eines ens necessarium ist wesentlicher Bestandteil des ontologischen Gottesbeweises, der zeigen soll, daß die Existenz als Bestimmung, die im Begriff des höchst vollkommenen Wesens enthalten ist, für den Gegenstand des Begriffs notwendig gilt126, so daß die Existenz dieses Gegenstandes aus der bloßen Möglichkeit dieses Begriffs eingesehen werden kann.127 ,Sein' oder .Existenz' wird hier als durch den Begriff und den Satz von Widerspruch garantiertes reales Prädikat des Gegenstandes aufgefaßt, der dem Begriff des vollkommensten Wesens entspricht. In diesem Sinne wäre die Vorstellung des höchsten Wesens die .notwendige Vorstellung' von etwas, das unmöglich nicht sein könnte und in und durch sich selbst notwendig ist. Die Unmöglichkeit des Nichtseins weist den so vorgestellten Gegenstand als Substanz aus, die .absolut' ist in dem Sinne, daß sie durch sich selbst begreifbar wird und nur in sich selbst ist.128 Enthält das zweite Zeit-Argument einen analogen Gedanken? Würde die Zeit, wie Reinhard Brandt vermutet, im zweiten Argument als .notwendige Vorstellung' in dem Sinne erwiesen, daß die Zeit selbst bereits mit ihrer Vorstellung gegeben wäre129, so wäre ihr Dasein identisch mit ihrer Vorstellung. Die Zeit müßte dann nicht durch irgendeinen von ihr selbst verschiedenen Faktor begründet werden und wäre so in einem absoluten Sinne notwendig. Wäre dies Kants Beweisabsicht, so ließe sich für das zweite Zeit-Argument tatsächlich eine latente innere Verknüpfung von Zeit und Gott annehmen.130 Gegen diese sowohl von Reinhard Brandt wie von Julius Ebbinghaus vertretene Lesart des zweiten Zeit-Argumentes spricht jedoch folgendes: Die Zeit ist keine notwendige Vorstellving im Sinne einer Identität von Vorstellung und Existenz des Vorgestellten. Denn betrachtet man die Zeit als solche und ohne Ansehen ihrer Inhalte, so kann man sich sehr wohl eine Vorstellung davon machen, daß keine Zeit sei, in Gedanken läßt sich die Zeit ebenso ,aufheben' wie jeder andere Gegenstand des Denkens: Man kann sie als solche wegdenken. Es ist also grundsätzlich möglich, und dies ist an dieser Stelle zu betonen, sich zu

126

129 130

Vgl. Descartes, Meditationes de prima philosophia - Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch-Deutsch, hrsgg. v. Lüder Gäbe. Hamburg 1992, V 7-12, S. 118 ff. VgL AA XX, Randanmerkungen zu Weiches sind die wirklichen Fortschritte ..., S. 329. VgL dazu Reinhard Brandt, „Raum und Zeit...", a.a.O., S. 448. Vgl. dazu auch Julius Ebbinghaus, „Kants Lehre von der Anschauung apriori", a.a.O., S. 126. VgL dazu auch B620 ff., B627. Der Begriff des ens necessarium wird von Kant in der Transzendentalen Dialektik einer eingehenden Kritik unterzogen. Dort wird gezeigt, daß Existenzklsätze nicht analytisch sein können, daß das Sein von etwas nicht durch den Begriff allein, sondern nur im Hinausgehen über den Begriff auf den Bereich der empirischen Anschauung erkannt werden kann. Vgl. Reinhard Brandt, „Raum und Zeit...", a.a.O., S. 448. Vgl. A.a.O., S. 442.

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denken, daß keine Zeit sei.131 Die Notwendigkeit der Zeitvorstellung kann also nicht nach dem Muster der Notwendigkeit der Vorstellung eines ens necessarium verstanden werden: Die Existenz ist kein durch den Begriff der Zeit und den Satz vom Widerspruch garantiertes reales Prädikat des Gegenstandes, der dem Begriff der Zeit entspricht. Das aber heißt: Die Zeit ist keine notwendige Vorstellung in einem absoluten Sinne. Das Sein der Zeit ist nicht allein durch die Vorstellung von der Zeit zu garantieren. Wenn sich aber die Behauptung der Identität dieser beiden Momente (Sein und Vorstellung) nicht halten läßt, ist die zu Beginn dieses Kapitels gestellte Frage, ob das zweite Zeit-Argument dem Beweis einer absoluten Notwendigkeit der Zeit gelten kann, nach den bisherigen Überlegungen negativ zu beantworten. Wir können demgemäß im folgenden davon ausgehen, daß im zweiten ZeitArgument die relative Notwendigkeit der Zeitvorstellung erwiesen werden soll. Worin diese genau besteht, läßt sich im Rückgang auf den Ausgangspunkt von Kants Untersuchung angeben: Er liegt bei der Thematisierung der Gegenstände des äußeren und inneren Sinnes in ihrem Verhältnis zur Zeit. Kant stellt heraus, daß in bezug auf diese Gegenstände die Unaufhebbarkeit der Zeit behauptet werden kann. Diese Unaufhebbarkeit steht hier unter einer Bedingung: Die Zeit läßt sich zwar als solche in Gedanken suspendieren, sie läßt sich jedoch nicht suspendieren, wenn es sich um die Annahme von Anschauungen handelt. Hier liegt der Schwerpunkt der Argumentation: Im zweiten Zeit-Argument stellt Kant die Frage, ob die Zeitvorstellung durch die Gegenstände der empirischen Anschauung bedingt ist, oder ob diese umgekehrt von der Zeitvorstellung abhängen. Das Gedankenexperiment des Aufhebens zeigt, daß die Alternative zugunsten des letzteren entschieden werden kann. Damit legt das Experiment die spezifische Notwendigkeit der Zeit frei: Auch wenn es möglich ist, die Zeit für sich genommen widerspruchsfrei als nicht-seiend zu denken, so ist es doch unmöglich, sie sich im Verhältnis zu den Anschauungen als nicht-seiend vorzustellen. Denn ein Gegenstand der Anschauung, der keine bestimmte Zeit erfüllt, ist als solcher unmöglich. Anschauungen im oben bestimmten Sinne können nur dann Anschauungen sein, wenn sie irgendwann existieren, kein Gegenstand kann als existent und wirklich vorgestellt werden, ohne daß man sich die Zeit vorstellt, in der er existiert. Daß er eine Zeitposition erfüllt, ist die Bedingung der Möglichkeit seines Daseins. Das Kernargument des § 4, 2) liegt also darin, daß den anschaubaren Dingen nur unter der Bedingung Existenz zuzuerkennen ist, daß sie in die Zeit gesetzt werden können, und ferner, daß dies ausnahmslos für alle Anschauungen gelten muß. 131

Kant äußert sich in AA ΧΧΙΠ, R e i XVII E 17 - A 26, S.22 selbst zu diesem Punkt: „Der Raum und die Zeit fuhren in ihrer Vorstellung zugleich den Begriff der Nothwendigkeit mit sich. Nun ist dieses keine Nothwendigkeit eines Begriffs. Denn wir können beweisen, daß sich die Nichtexistenz desselben nicht widerspreche."

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Daß Existenzbehauptungen von Sinnesgegenständen ihrer Möglichkeit nach auf einer zeitlichen Positionierung beruhen, ist die Grundlage dafür, daß die Zeit als allgemeines Substrat der Sinnesgegenstände vorgestellt werden kann. Kant macht dies in einer Reflexion noch einmal eigens deutlich: „Die Zeit ist, was aller Dinge Daseyn befaßt, worin alle Dinge existieren, worin also jedem sein Daseyn relativisch gegen andere bestirnt wird, wann und wie lange." 132 Hier formuliert Kant folgenden Gedanken: Wenn ein Gegenstand der Wahrnehmung als möglich vorgestellt werden soll, so müssen die Wahrnehmungen als Wahrnehmungen von Gleichzeitigem und Sukzessivem vorstellbar sein, d.h. als Wahrnehmung von etwas Realem, das in der Zeit ist und ein Verhältnis zu anderem in der Zeit hat. (Dabei ist vorausgesetzt, daß die Vorstellungen als solche im Verhältnis zueinander nur sukzessiv bewußt werden können.) Die Zeit wird dabei nicht bloß als Form oder Ordnungsweise des Realen vorgestellt, sondern als besetzbares, die Realität und die Verhältnisse des Realen ermöglichendes einheitliches Medium, in das die Dinge einstellbar sein müssen, um erscheinen zu können. In diesem Sinne also ist die Zeit eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zugrundeliegt. Diese Notwendigkeit ist dabei, wie Sadik AlAzm treffend sagt, „neither the strict necessity of the logicians nor the logicometaphysical necessity of the rationalist philosophers"133, sondern eine für die Gegenstände der Erfahrung selbst gültige Notwendigkeit: „time is necessary visa-vis the appearances themselves."134 Bevor wir im Ausgang von diesem Ergebnis einen letzten Schritt in der Rekonstruktion der Kantischen Argumentation unternehmen, soll noch ein kurzer Blick auf die von Newton vertretene Zeitauffassung geworfen werden. Dieser Blick wird helfen, die Bedeutung des Schlußsatzes, den Kant im zweiten ZeitArgument formuliert, zu verdeutlichen. Newton gilt als der bedeutendste Vertreter der These, daß Raum und Zeit jeweils als ein für sich bestehendes absolutes Substrat bestimmt werden können. Im Gefolge Newtons diskutiert Clarke die Konsequenzen dieser Bestimmung mit Leibniz vor allem im Hinblick auf den Raum. Bezogen auf die Zeit bedeuten dieselben Konsequenzen, ihr, die hier als eine absolute Entität aufgefaßt wird, die ewig gleich verfließt und alles, was ist, in sich enthält, einen göttlichen Status zuzuerkennen. Sie könnte (ebenso wie Clarke mit Newton den Raum bestimmt) als Ausdruck der Allumfassendheit Gottes oder als ,sensorium dei' bezeichnet werden.135 Wie kann nun vor dem Hintergrund des Resultates der oben durchgeführten Rekonstruktion ein solcher Ge132

135

AA XVII, Refi. 4321, S. 505. Sadik Al-Azm, Kant's Theory o/Time, a.a.O., S. 45. Ebda. Vgl. Gottfned Wilhelm Leibniz, Hauptsdmften spr Grundlegung der Philosophie, Bd. I, Briefwechsel Leibniz-Clarke, a.a.O., S. 120 ff.

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danke überhaupt verständlich gemacht werden? Dem Ergebnis unserer Analyse der Bestimmung, daß Kant im zweiten Zeitargument die relative Notwendigkeit der Zeit erweist, zufolge, kann die Vorstellung einer Leeren Zeit' ja nicht für sich gewonnen werden, sondern nur in Abhängigkeit von der Vorstellung von Zeitinhalten und der Möglichkeit ihrer Wegdenkbarkeit. Daß und wie die Vorstellving einer absolut notwendigen leeren Zeit im Newtonschen Sinne zustandekommt, läßt sich von dem von uns vertretenen Standpunkt der relativen Notwendigkeit der Zeit aus durchaus verständlich machen, und zwar durch den folgenden Gedanken: Während die Zeit für alle Sinnesgegenstände in der Erfahrung immer dieselbe notwendige Daseinsbedingung bleibt, kann der Zeitinhalt jeweils ein anderer sein. Eine bestimmte Zeitdauer, beispielsweise dieselbe Stunde oder eine wiederkehrende Tageszeit, kann so oder auch anders erfüllt sein. Die Kontingenz, d.h. die Ersetzbarkeit von Zeitinhalten durch andere relativ auf dieselbe Zeiteinheit, läßt sich auch auf den Zeitinhalt überhaupt beziehen, der insgesamt ein anderer sein könnte, der also als ganzer durch einen Akt der Abstraktion weggedacht werden kann, wobei nur noch die Zeit zurückbleibt, die dann als eine Art leerer Behälter vorgestellt wird. Auf andere Weise läßt sich die Vorstellung von einer absoluten oder leeren Zeit nicht gewinnen, denn eine leere Zeit kann weder selbst ein Gegenstand der Wahrnehmung sein noch kann ihre Realität als notwendig behauptet werden allein auf der Grundlage der Möglichkeit, sich die Zeit als solche vorzustellen bzw. den Begriff der Zeit zu denken. Die Vorstellung der Selbstständigkeit und des Substratcharakters der Zeit ist demnach zu gewinnen einerseits im Ausgang von der Kontingenz der Anschauungen und andererseits von der Bestimmung der Zeit als notwendige Bedingung ihres Daseins. Das bedeutet: Die Zeit läßt sich nur unter der Hinsicht der Subsistenz in Korrelation auf die Inhärenz ihrer Inhalte denken: Eine für sich bestehende, leere Zeit kann nur im Rahmen der Relation von Zeit und Zeitlichem behauptet werden. Der Substratcharakter der Zeit ist also nur gewissermaßen über den Umweg dessen zu bestimmen, was die Zeit erfüllt. Das Experiment des Wegnehmens setzt diese Relation voraus. Von diesem Ergebnis aus kann nun der letzte Schritt des Argumentes rekonstruiert werden, der in der Bestätigung der Ausgangsthese besteht: Die Zeit ist also a prion gegeben.136

Der Schlußsatz des zweiten Zeit-Argumentes enthält eine Konsequenz aus der Näherbestimmung der Relation von Zeit und Zeitlichem: Daß die Zeit apriori gegeben ist, geht aus der Notwendigkeit und Gerichtetheit der Relation von Zeit

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und Zeitlichem hervor. Das Argument zeigt, daß die Zeit relativ auf das in ihr und durch sie mögliche Dasein als etwas Vorgegebenes vorgestellt wird. In dieser Vorgegebenheit ist sie von den Anschauungen unabhängig, gilt aber für jeden beliebigen kontingenten empirischen Zeitinhalt. In diesem Sinne liegt die Zeit allen Anschauungen im Sinne möglicher Gegenstände der Sinne zugrunde. Ihre Vorgängigkeit als Erscheinungs- und Daseinsbedingung macht die Notwendigkeit und Allgemeinheit der Zeit aus. Die Vorstellung von etwas Notwendigem und Allgemeinem aber läßt sich wegen der Kontingenz und der Partikularität der Wahrnehmung nicht durch die Wahrnehmung selber legitimieren, und insofern kann die Vorstellung von der Zeit keine empirische Vorstellung und daher auch kein empirischer Begriff sein. In diesem Sinne kann Kant sagen, daß die Zeit, d.h. hier: die Vorstellung von der Zeit, .apriori gegeben* ist: Sie ist der apriori gegebene Begriff von etwas, das notwendige Bedingung des möglichen Daseins von wahrnehmbaren Objekten ist, wobei dieses Dasein ein Zugleichsein oder ein Nacheinandersein ist 137 Kant hebt im zweiten Zeit-Argument ausdrücklich hervor, daß die Zeit eine notwendige Vorstellung ist. Diese Formulierung macht deutlich, daß die Bestimmung des Substratcharakters weder auf einen an sich bestehenden Newtonischen Universalbehälter, noch auf die Zeit als wahrnehmbaren Gegenstand bezogen werden kann, und somit die Zeit nur etwas Vorgestelltes ist, nämlich eine als Einheit vorstellbare notwendige Erscheinungsbedingung.13® Dies wird an dieser Stelle mit dem Begriff,Vorstellung' nur angedeutet. Unter welchen Bedingungen diese Vorstellung von der Zeit möglich ist, wird in der Transzendentalen Ästhetik selbst nicht thematisiert. Hier zeigt Kant zunächst nur, daß der Zeit relativ auf die zeitlichen Erscheinungen apriori ein Substratcharakter zugesprochen werden kann. Er schließt daraus, daß die Vorstellung der Zeit nicht empirischer Herkunft sein kann, weil sie einer notwendigen Bedingung gilt, die alle Gegenstände der Sinne als solche ermöglicht und daher nicht von diesen abstrahiert werden kann. Mit diesen Ausführungen können wir die Rekonstruktion der eigentlichen Beweisführung des zweiten Zeit-Argumentes abschließen und nun im Ausgang von ihrem Befund auf die zu Beginn dieses Kapitels angeführten Einwände gegen Kants Argumentation eingehen. 137

138

In demselben Sinne äußert sich Douglas P. Dryer in Kant's Solution for Verification in Metaphysics, a.a.O., S. 232: „...we cannot attain any immediate representation of any object without representing it in time. Nothing observable therefore can exist without existing at some time. Time, thus Kants points out, is not represented as a determination of objects which is dependent on the objects which present themselves within it But the representation of them is dependent upon it Our representation of time therefore cannot be derived from what we observe. For that reason Kant holds that it is not only not an empirical concept but not an empirical representation of any sort" Vgl. B347, AA Π, De mundi sensibiäs..., S. 402.

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Daß Kant in seiner Argumentation nicht von einer Abhebung der Zeit als Form von einer gegebenen Materie ausgeht, ist durch die Thematisierung der Zeit als Substrat der Erscheinungen hinreichend widerlegt. Der Substratcharakter ist eine Bestimmung, die auf eine gegenständlich vorgestellte Zeit bezogen wird und nicht auf eine Form oder Ordnung der Dinge. Ferner kann man dem Einwand, daß Kant im zweiten Zeit-Argument lediglich eine subjektive Notwendigkeit der Zeit erweise, entgegnen: Kants Argument zeigt nicht, daß die Unmöglichkeit, das Dasein von Gegenständen der Erfahrung unabhängig von der Voraussetzung der Zeitvorstellung zu konstatieren, ein psychologisches Faktum oder die subjektive Notwendigkeit eines Denk- oder Wahrnehmungszwanges ist. Es zeigt vielmehr, daß das Bewußtsein der Möglichkeit der gegenständlichen Wahrnehmung als solches von der Voraussetzung einer Zeitvorstellung abhängig ist. Das Argument, daß Erscheinungen als anschaulich gegebene Gegenstände nur in und durch die Zeit möglich sind, macht für die Zeit eine .objektive' Notwendigkeit, nämlich eine Notwendigkeit der Zeit für die mögliche Existenz von Objekten der Wahrnehmung geltend. Das zweite Zeit-Argument macht deutlich, daß die Zeit in der Erfahrung notwendig enthalten ist, weil sie hier als Medium des Anschaubaren überhaupt fungiert. Die ,Unvertilgbarkeit' der Zeitvorstellung betrifft dabei nicht das Denken und Vorstellen, sondern das Dasein der Dinge. Auch der Einwand, daß sich Kant beim Beweis der These des zweiten ZeitArgumentes bloß auf die Tautologie stützt, daß das Zeitliche die Zeit voraussetzt, kann an dieser Stelle entkräftet werden. Kant fuhrt seinen zweiten Beweis zur Apriorität der Zeitvorstellung nicht, indem er zeigt, daß der Begriff der Zeit apriori aus dem Begriff des Zeitlichen explizierbar ist und daß die Aufhebung dieses Begriffs das Zeitliche dem Begriff nach unmöglich macht. Zeit und Zeitliches verhalten sich zueinander nicht wie Gattung und Art Kant bezieht sich vielmehr darauf, daß einem Gegenstand, der für das Denken allein nur ein Gegenstand überhaupt wäre, mit der Zeitlichkeit ein zusätzlicher Faktor gegeben ist, den man nicht wegdenken kann, wenn er ein möglicher Gegenstand der Erfahrung sein soll. Das zweite Zeit-Argument stützt sich nicht darauf, daß die Annahme von Gegenständen in der Zeit die Zeitvorstellung analytisch enthalte, sondern hier wird vielmehr eine Notwendigkeit erwiesen, die aus der Unmöglichkeit folgt, sich Dinge und Ereignisse (d.s. Veränderungen als Verbindung kontradiktorisch entgegengesetzter Prädikate) als anschaulich gegeben und gleichwohl nicht in der Zeit vorzustellen. Die Zeitvorstellung muß die Gegenstandsvorstellung apriori fundieren, wenn diese einem Gegenstand der Anschauung gilt. Während an Gegenständen der äußeren und inneren Anschauving das, was darin empirisch gegeben ist, weggedacht werden kann, gehört das Früher* und Spätersein in der Zeit in anderer Weise zu den Erscheinungen als irgendwelche faktisch gegebenen sinnlichen Merkmale. Das Früher- und Spätersein stellt die Bedingung der Möglichkeit ihres Seins als wirkliche oder auch nur

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Das zweite Zeit-Argument

als möglicherweise wirkliche Erscheinungen dar. Daher ist die Zeit Bedingung aller inneren und äußeren, ja sogar aller bloß imaginierten Erscheinungen. Denn auch diese können, selbst wenn sie nicht wirklich sind, nur dann überhaupt als existierend vorgestellt werden, wenn ihnen eine Zeitposition zugewiesen werden kann, die sie erfüllen. Nach der Diskussion der Einwände bleibt für die Rekonstruktion noch ein weiterer Satz des Argumentes, den wir bisher noch nicht untersucht haben, da er nicht in die eigentliche Beweisführung integriert ist. Kant thematisiert in diesem Satz einen Aspekt, der unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Raum und Zeit verdeutlicht werden kann. Der Satz lautet: In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich. Diese können insgesammt wegfallen, aber sie selbst (als die allgemeine Bedingung ihrer Möglichkeit) kann nicht aufgehoben werden. 139

Kant sagt hier explizit, daß der Zeit insofern ein Grundlagencharakter zuzusprechen ist, als allein in ihr alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich ist. Entscheidend ist hier die Voraussetzung, daß Erscheinungen als Gegenstände der empirischen Anschauung im Hinblick auf ihre Art zu existieren als veränderüch vorgestellt werden.140 Darin sind sie grundsätzlich von den Gegenständen der Geometrie unterschieden: Geometrische Gegenstände können zwar ebenso wie die Erscheinungen als Gegenstände der Anschauung gelten. Spezifisch für sie ist jedoch, daß sie rein räumliche Gegenstände sind. Das heißt: Sie können sowohl unabhängig von der empirischen Anschauung als auch unabhängig von der Zeit vorgestellt werden. Geometrische Figuren sind zeitlose mathematische Gegenstände, die als solche keiner Veränderung unterliegen können. Diese Gegenstände sind aber nicht wirklich, sie sind nur mögliche Gegenstände und allein vom Raum abhängig, der als solcher weder Zeitlichkeit noch Veränderung begründen kann. Veränderung besteht nach der Definition Kants in einem Wechsel des Seins und Nicht-seins eines gegebenen Zustandes eines Dinges.141 Nun ist für das reine Denken das so Definierte widersprüchlich und unmöglich. Auch in der reinen Anschauung des Raumes ist Veränderung unmöglich. Diese doppelte Unmöglichkeit liefert den Schlüssel zum Verständnis des zuletzt zitierten Satzes. Aus ihr folgt nämlich die entscheidende Konsequenz: Völlig apriori läßt sich gar nicht bestimmen, daß es überhaupt etwas Veränderliches gibt oder geben kann. Das aber heißt, daß Veränderung allein aposteriori, nämlich nur anhand von wirklichen empirischen Gegebenheiten, die in der Zeit wechseln, bestimmt werden. Die Gegebenheit selbst: das auf ein Nichtsein folgende Dasein in der Erscheinung 139 140 141

B46. VgL B230. Vgl. B290 Fn.

Das zweite Zeit-Argument

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kann als solches nicht apriori erkannt werden.142 Was aber apriori angegeben werden kann, ist, daß die Zeit der wirklichen Veränderung als Voraussetzung ihres Stattfindens und als ,Worin' möglichen Wechsels vorhergeht Insofern ist allein in der Zeit die Wirklichkeit der Erscheinungen in all ihrer Koexistenz, aber eben auch in aller ihrer Veränderlichkeit möglich. Die Behauptung, daß die Zeit notwendig für das sinnlich Vorgestellte ist, ist demnach weder eine Tautologie noch eine kontingente Voraussetzung, von der Kant in seiner Theorie ausgeht.143 Sie folgt vielmehr aus der Unmöglichkeit einer Aufhebung der Zeit in bezug auf die Gegenstände der Anschauung. Die im zweiten Zeit-Argument erwiesene Notwendigkeit der Zeitvorstellung ist eine solche, die nicht nur im Experiment des Wegdenkens psychologische Plausibilität erreicht, sondern auch die Erscheinungen in ihrer Möglichkeit selbst begründet und eben daraus ihre strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit bezieht, mit der Kant die Apriorität der Zeitvorstellung begründet.

142

Vgl. B221. Vgl. Lome Falkenstein., Kant's ìntuitionism, a.a.O., S. 200.

Kapitel Vier Das dritte Zeitargument: Die Eindimensionalität und Irreversibilität der Zeit Bevor Kant im nächsten Schritt seiner metaphysischen Erörterung des Zeitbegriffs den Nachweis führt, daß die Zeitvorstellung zu den anschaulichen Vorstellungen gehört, bestätigt er das bereits gewonnene Ergebnis durch eine regressive Argumentation. Im § 5 der KrV bezeichnet Kant eine solche Argumentation als Transzendentale Erörterung des Begriffs der Zeit. Zu verstehen ist darunter „die Erklärung eines Begriffs als eines Principe, woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann. Zu dieser Absicht wird erfordert: 1) daß wirklich dergleichen Erkenntnisse aus dem gegebenen Begriffe herfließen, 2) daß diese Erkenntnisse nur unter der Voraussetzung einer gegebenen Erklärungsart dieses Begriffs möglich sind."144 Mit diesen Punkten ist auch das Programm des dritten Zeit-Argumentes angegeben: Es untersucht bestimmte apriori formulierbare Urteile über die Zeit und zeigt, wie diese Urteile möglich sind. Kant rekurriert dabei auf die zuvor gegebene Erklärung des Zeitbegriffs als Vorstellung, die nicht der Erfahrung entstammt, aber für Erfahrung notwendig ist Im dritten Zeit-Argument befaßt sich Kant vor allem mit dem Notwendigkeitsbewußtsein, das die in Frage stehenden Urteile begleitet. Er geht dabei 1) vom wirklichen Vorliegen von Urteilen apriori aus, in denen der Zeitbegriff die Subjektposition einnimmt. Er schließt von da aus 2) darauf zurück, daß diese Urteile möglich sind, weil der Zeitbegriff als apriori gegebener Begriff erklärbar ist, und bestätigt damit das Ergebnis der beiden zuvor durchgeführten Argumente. Die Rekonstruktion des dritten Zeit-Argumentes wird auf verschiedene Besonderheiten aufmerksam machen, die für den von uns gewählten Rekonstruktionsansatz von einiger Bedeutung sind. Diesen Besonderheiten wird in den Kommentaren zu diesem Argument insgesamt vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Im Unterschied zur transzendentalen Erörterung des Raumbegriffs im § 3 der KrV fallt auf, daß Kant die transzendentale Erörterung des Zeitbegriffs nicht in einem einheitlichen Textabschnitt ausführt, sondern in zwei, bzw. sogar drei

144

B40.

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Das dritte Zeit-Argument

Teile aufteilt: Einen Teil enthält das dritte Zeit-Argument, einen anderen der explizit als Transzendentale Erörterung des Begriffs der Zeit betitelte § 5 145, ein weiterer Teil ist in der zweiten Hälfte des vierten Zeit-Argumentes enthalten.146 Hans Vaihinger bezeichnet diese merkwürdige Streuung als „Nachlässigkeit" des Autors der Kritik bzw. als „störende Inconcinnität."147 Die Streuung der transzendentalen Erörterung des Zeitbegriffs unterbricht ganz klar die Symmetrie in der Untersuchung des Raum- und Zeitbegriffs. Die Streuung bringt dabei einige Schwierigkeiten mit sich, die Kant bei der Erörterung des Raumbegriffs durch eine insgesamt stringentere Organisation des Textes hätte vermeiden können. Die folgende Rekonstruktion des dritten Zeit-Argumentes wird sich mit diesen Schwierigkeiten befassen und dabei deutlich machen, daß dieser Textabschnitt die oben als Interpretation von Sadik Al-Azm apostrophierte Lesart, Kant setze im § 4 der KrV die Konzeption der Zeit als Anschauungsfotm bereits voraus, zwar begünstigt, jedoch nicht legitimiert. Aufgrund ihres regressiven Charakters läßt sich für die transzendentale Erörterung des Zeitbegriffs keine eigene kategoriale Leithinsicht der Untersuchung angeben. Vielmehr wird die Zeit hier denselben allgemeinen Hinsichten gemäß erörtert, die auch für die beiden vorangehenden Argumente leitend waren. Daher werden wir bei der Rekonstruktion des Argumentes die Frage berücksichtigen, inwiefern darin die im ersten Zeit-Argument erwiesene modale und die im zweiten Zeit-Argument erwiesene relative Notwendigkeit der Zeitvorstellung bestätigt wird. Kant baut sein drittes Zeit-Argument so auf, daß in dessen These zunächst ein Rückbezug auf die beiden vorigen Argumente hergestellt wird. Deren Ergebnis, die Bestimmung der .Notwendigkeit apriori* der Zeitvorstellung, wird als Grundlage für die apodiktische Gewißheit der axiomatischen Sätze über die Zeit und die Zeitverhältnisse benannt. Die Axiome werden dann im einzelnen aufgeführt und gegen die Verhältnisbestimmungen abgehoben, die in der Raumvorstellung apriori enthalten sind. Mit Rekurs auf die strenge Allgemeinheit und apodiktische Gewißheit der Zeit-Axiome wird schließlich für die Vorstellung von der Zeit, auf der diese Aussagen beruhen, erwiesen, daß sie nicht empirischen Ursprungs sein kann. Der letzte Satz des Argumentes macht im Ausgang von der Anwendbarkeit der Zeit-Axiome auf die Erscheinungen geltend, daß die apriorische Vorstellung von Zeitverhältnissen als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung fungieren muß, weil nur so die empirische Geltung der Zeitaxiome erklärt werden kann.

145 146

Vgl. B48 und unten Kap. 7. Vgl. B47 und unten Kap. 5. Hans Vaihinger, Kommentar ^ur Kritik der reinen Vernunft Bd. 2, a.a.O., S. 372.

Das dritte Zeit-Argument

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Vor dem Einstieg in die eigentliche Rekonstruktion ist zunächst festzuhalten, daß der Hauptteil des dritten Zeit-Argumentes von der Zeit überhaupt handelt. Dabei wird die Zeit nicht wie zuvor in ihrem epistemischen oder ontologischen Verhältnis zu ihren Inhalten thematisiert, sondern - vorbereitet durch die Erörterung ihres Substratcharakters - als das, was sie als solche ist. Das dritte ZeitArgument handelt von der Zeit, sofern die Verhältnisse der Zeiten als Teile der Zeit abzüglich aller empirischen Inhalte betrachtet und dabei einer Bestimmung unterzogen werden können, die axiomatischen Charakter hat. Die These, die Kant der Argumentation voranstellt, lautet: 3) Auf diese Nothwendigkeit a priori gründet sich auch die Möglichkeit apodiktischer Grundsätze von den Verhältnissen der Zeit oder Axiomen von der Zeit überhaupt 148

Die These weist mit der Formulierung ,diese Notwendigkeit apriori' zunächst auf den regressiven Charakter der zu ihr gehörenden Argumentation hin. Sie bezieht sich auf die zuvor erwiesene Nicht-Empirizität der Zeitvorstellung und gibt die Intention der Argumentation an: Wenn man den apodiktischen Gewißheitsanspruch der Axiome von der Zeit anerkennt, unterstellt man zugleich, daß auch dem Grund dieser Gewißheit eine .Notwendigkeit apriori' zukommt. Das bedeutet: Wenn die Zeit-Axiome wahr sind, dann ist auch die Zeit als Gegenstand dieser Aussagen und Grund ihrer Wahrheit etwas Notwendiges, die Vorstellung von etwas Notwendigem aber kann nicht von empirischer Provenienz sein. Das Resultat der ersten beiden Zeit-Argumente wird also im dritten ZeitArgument wiederholt, aber auf andere Weise gewonnen: Ausgangspunkt ist nicht die Untersuchung einer Bestimmung der Zeit, die im Begriff der Zeit apriori gedacht wird, sondern vielmehr der Gewißheitscharakter von Sätzen. Kant beweist seine These wie folgt: Sie hat nur Eine Dimension: verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nach einander (so wie verschiedene Räume nicht nach einander, sondern zugleich sind). Diese Grundsätze können aus der Erfahrung nicht gezogen werden, denn diese würde weder strenge Aflgemeinheit, noch apodiktische Gewißheit geben. Wir würden nur sagen können: so lehrt es die gemeine Wahrnehmung; nicht aber: so muß es sich verhalten.14

Als Ausgangspunkt des Beweises nennt Kant zwei als ^Axiome' gekennzeichnete Aussagen, die den Anspruch erheben, für alle möglichen Zeiten zu gelten und deren Verhältnis zueinander apriori zu bestimmen, wobei sich dieses Verhältnis - darauf weist Kant durch den Klammerausdruck hin — wesentlich von den für den Raum möglichen Verhältnissen unterscheidet. Im zweiten Schritt rekurriert Kant darauf, daß es keine anderen als nur empirische Aussagen über die Zeit geben könnte, wenn die Vorstellung der Zeit der Erfahrung endehnt wäre. Verhält es sich aber so, daß die Urteile über die Dimensionszahl und die Unum149

B47. B47.

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Das dótte Zeit-Argument

kehrbarkeit der Zeit nicht nur wahrscheinlich, sondern mit dem Bewußtsein unumstößlicher Geltung verbunden sind, so muß es auch einen Grund apriori für ihre Wahrheit und Gewißheit geben. Wenn also unterstellt werden kann, daß es axiomatische Aussagen über die Zeit gibt, wenn diese Aussagen notwendig sind und der Erfahrung selbst vorausgehen, dann muß auch die Zeitvorstellung als Grundlage dieser Sätze selbst apriori notwendig sein und der Erfahrung vorausgehen. Soweit die Grundlinie des Argumentes. Die detaillierte Rekonstruktion dieser Beweisführung wird sich in der Betrachtung des argumentativen Aufbaues zuerst auf die Grundsätze der Zeitverhältnisse selbst konzentrieren: sie stellen den Ausgangspunkt der gesamten Argumentation dar und enthalten deren Beweisgrund. Kant führt die Aussagen: Die Zeit hat nur eine Dimension und Verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nur nacheinander unter dem Titel des »Axioms' ein. Axiome sind per definitionem ostensiv aufweisbare, aus sich heraus einleuchtende Wahrheiten, die in ihrer ursprünglichen und unmittelbaren Gewißheit nicht aus anderen Sätzen ableitbar und daher unbeweisbar sind, die selbst aber als Grundlage des Beweises anderer Sätze dienen können.150 Axiomatische Urteile sind ferner durch eine Notwendigkeit, Allgemeinheit und apodiktische Gewißheit gekennzeichnet.151 Als erstes Axiom, das sich auf Verhältnisse der Zeit bezieht, führt Kant den Satz von der Eindimenmnalität der Zeit ein, das zweite, das sich auf die Ordnung der Zeiten bezieht, betrifft die Irreversibilität, die Einsinnigkeit oder Gerichtetheit der Zeit. Beide Sätze werden durch einen Doppelpunkt getrennt, der als Angabe eines Bedingungsverhältnisses zwischen den Sätzen gelesen werden kann, dergestalt, daß die Eindimensionalität bzw. der spezifische Reihencharakter der Zeiten bedingt ist durch deren Einsinnigkeit bzw. gegenseitige Unvertauschbarkeit. Demnach ist zuerst zu klären, inwiefern die Aussage über die Eindimensionalität ein apodiktischer Grundsatz von den Verhältnissen der Zeit ist. Die Dimensionszahl ist generell eine Bestimmung, die sich auf Mannigfaltigkeiten bezieht und dabei Arten des Mannigfaltigen bestimmt. Im vorliegenden Fall gibt sie an, in welchem Sinne die Zeit ein Mannigfaltiges sein kann. Was das Dimensionalitätsaxiom mit apodiktischer Gewißheit aussagt, ist, daß das Verhältnis der Zeiten oder Zeitabschnitte zueinander nur in einer Hinsicht bestimmt sein kann: Die Möglichkeit einer Variation von Zeitlängen ist auf genau eine Erstreckung limitiert. — Eine Zeit kann im Verhältnis zu einer anderen in nicht mehr als nur einer 150

Vgl. AA EX, U g k § 35, S. 110. VgL AA Vili, Über ein vermeintes Rieht aus Menschenliebe φ liigen, S. 429 ; AA IV, Metaphysische Anfangsffiinde der Natomissenschtrft, S. 469 ; AA EX, Logik, Einleitung, S. 65.

Das dritte Zeit-Argument

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einzigen Hinsicht größer oder kleiner sein. Das Mannigfaltige ist im Falle der besonderen Zeitabschnitte von der Art einer Reihe mit nur einer möglichen Abmessung, d.h. mit nur einer möglichen Größenausdehnung.152 Entscheidend ist, daß das Axiom der Eindimensionalität eine apodiktische Aussage darüber ist, daß zur Spezifik der Mannigfaltigkeit von Zeitabschnitten eine Restriktion in der Erstreckungsmöglichkeit gehört. Auch das zweite Axiom von der Einsinnigkeit oder Irreversibilität handelt von Verhältnissen der Zeit, nämlich davon, daß im Hinblick auf die verschiedenen Zeiten eine bestimmte Ordnung konstatiert werden muß: die Ordnung des Früher und Später. Es handelt vom zeitlich Mannigfaltigen, sofern dessen Verhältnisse eindeutig bestimmt sind, sofern die Zeiten oder Zeitabschnitte nur in einer bestimmten Weise angeordnet sein können. Das Prädikat der Irreversibilität ist ein speziell für Zeitverhältnisse geltender Ordnungsbegriff. Der Grundsatz, daß verschiedene Zeiten nur nacheinander sein können, bezieht sich auf die apodiktische Gewißheit, zu einer späteren Zeit nicht anders als im Durchgang durch eine frühere zu gelangen. Er bezieht sich darauf, daß die frühere Zeit als Bedingung für das Auftreten der späteren notwendig ist — das zweite Zeit-Axiom drückt also die Evidenz einer einseitigen Bedingtheit im Verhältnis der Zeiten aus. Es handelt sich dabei um eine axiomatisch festliegende Bedingtheit, die nicht aus bestimmten Voraussetzungen erwiesen, sondern nur aufgewiesen, beschrieben und erläutert werden kann. Aber nicht nur die Zeiten oder die Zeitabschnitte stehen zueinander in einem Verhältnis, sondern auch die Zeit-Axiome selbst: Auch dieses Verhältnis kann nur aufgewiesen und beschrieben werden: Über die Irreversibilität der Zeit sagt das Dimensionalitätsaxiom als solches nichts aus. Es gibt nur eine Bestimmtheit hinsichtlich der Möglichkeit der Größenerstreckung von Zeiten an, läßt aber offen, welcher Teil der Vielheit der bedingende und welcher der bedingte ist. Anders gesagt: Die Eindimensionalität als solche kennzeichnet nicht nur die Zeit, sondern auch die Linie im Raum. Sie ermöglicht nicht unmittelbar eine Angabe über die Spezifik der Anordnung des durch sie bestimmten Mannigfaltigen. Zur Bestimmung dieser Spezifik muß zusätzlich auf das Irreversibilitäts-Axiom rekurriert werden. Das Eindimensionalitäts-Axiom ist also auf das Irreversibilitätsaxiom angewiesen, wenn es sich speziell auf die Zeit beziehen soll. Darauf, daß ein weiteres Verhältnis im Kontext der Argumentation eine entscheidende Rolle spielt, weist Kant in einem Klammerausdruck hin. Dieser Ausdruck bezieht sich auf die Besonderheit, daß sich die Aussagen über die Dimensionalität und Gerichtetheit auf die Zeit unangesehen ihrer empirischen Inhalte

152

Vgl. dazu auch AA V m , Über eine Entdeckung..., S. 221.

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Das dritte Zeit-Argument

beziehen. Da nämlich die Zeit als solche nicht wahrnehmbat ist153, stellt sich die Frage, wie überhaupt Verhältnisse der Zeit aufgewiesen und erkannt werden können, wenn dazu weder auf Verhältnisse empirischer Gegebenheiten noch auf andere Sätze rekurriert werden kann, aus denen sich Aussagen über die Verhältnisse der reinen Zeit gewinnen ließen. Der Klammerausdruck weist darauf hin, wie Kant diese Frage beantwortet Zur Erkenntnis der Verhältnisse der reinen Zeit ist der Rekurs auf den reinen Raum erforderlich, d.h. auf die Möglichkeiten der Unterscheidung von Arten der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit, die dieser im Vergleich zur Zeit bietet. Entscheidend ist, daß Kant im dritten ZeitArgument die Zeit zum ersten Mal explizit in ihrer Beziehung zum Raum erörtert und dabei die zeitlichen und räumlichen Verhältnismöglichkeiten gegenüberstellt. Die Gegenüberstellung verdeutlicht die jeweilige Spezifik des einen in Abhebving zum anderen: Während verschiedene Zeiten nicht zugleich, sondern nur nacheinander sind, sind verschiedene Räume nicht nacheinander, sondern nur gleich.154 Dieser Vergleich thematisiert zwar explizit nur die Verschiedenheit zeitlicher und räumlicher Ordnung, gilt aber zugleich auch der Verschiedenheit von Raum und Zeit hinsichtlich ihrer Dimensionalität: Der Raum ist gegenüber der Zeit in mehr als nur einer Hinsicht mannigfaltig. Für die räumliche Größenerstreckung lassen sich drei Möglichkeiten der Variation ausmachen: Während eine Zeitdauer nur in einer Hinsicht zu- oder abnehmen kann, kann z.B. ein Kegel in dreifacher Hinsicht als sich vergrößernd oder verkleinernd vorgestellt werden. Diese dreifache Erstreckung räumlicher Mannigfaltigkeit erlaubt dann dementsprechend drei Weisen möglicher räumlicher Verschiedenheit das Nebeneinandersein in Höhe, Breite und Tiefe. Der Raum bietet also gegenüber der Zeit ein größeres Spektrum an Unterscheidungsmöglichkeiten an. Daraus erwachsen zugleich Konsequenzen für die mögliche Gerichtetheit räumlicher Verhältnisse: Der Raum setzt der Irreversibilität oder Anisotropie der zeitlichen Mannigfaltigkeit die Isotropie der Orte entgegen: Für die letzteren gibt es keine Restriktion hinsichtlich ihrer Anordnungsrichtung. In der dreifachen Ordnung des Nebeneinander sind alle Teilräume gleichgestellt: Alle Räume sind gleichermaßen durch das Raumganze bedingt - im Unterschied zu den Teilzeiten aber bedingen Räume nicht einander: Gelangt man zur späteren Zeit nur im Durchgang durch eine bestimmte andere, nämlich die relativ auf sie frühere Zeit, so ist der Übergang in einen bestimmten Teilraum in keiner Weise durch einen bestimmten anderen Teilraum determiniert. Jeder Teilraum ist im Rahmen der drei Erstreckungsmöglichkeiten von beliebigen anderen Teilräumen seiner Umgebung aus erreichbar, die umgekehrt ebenso auch von ihm aus erreichbar sind. Eine Restriktion in bezug auf die Übergangsrichtung fehlt hier. Das ist auch darin begründet, daß alle Räume

153

Vgl. z.B. B220, B225, B257. VgL noch einmal B47.

Das dritte Zeit-Argument

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zugleich sind, während die Teile der Zeit nicht nur aufeinander folgen, sondern allesamt verschwinden, wenn ihre Nachfolgerinnen auftreten. Räume koexistieren miteinander als Teile des Raumes überhaupt Diese Koexistenz ist wiederum als solche nicht begründbar und nicht auf anderes zurückzufuhren. Sie läßt sich nur als apriorisches Faktum konstatieren, das von dem apriorischen Faktum, daß die Zeiten miteinander nicht koexistent sind, sondern einander folgen, abgehoben werden kann. Die jeweils spezifische Dimensionalität und die dadurch bedingte Ein- resp. Mehrsinnigkeit der Anordnung der Zeit- und Raumteile geht also unmittelbar aus der vergleichenden Betrachtung des jeweils anderen hervor. Im Vorverweis auf das vierte und fünfte Zeit-Argument läßt sich in bezug auf diese vergleichende Betrachtung zusätzlich festhalten, daß eine wesentliche Differenz von Raum und Zeit in der Andersartigkeit ihres jeweiligen Verhältnisses von Ganzem und Teilen besteht. Die spezifische Dreidimensionalität des Raumes und die in allen seinen Dimensionen mögliche Richtungsumkehr liegt der Vorstellung zugrunde, daß die räumlich koexistierende Mannigfaltigkeit als Totalität gewissermaßen auf einen Schlag zusammen vorliegt. Die eindimensional gerichtete Zeitfolge sieht dagegen ein .Verschwinden' der jeweils früheren Zeit beim Auftreten der jeweils späteren vor.155 Dieses Verschwinden führt aber zu einer spezifischen Schwierigkeit im Hinblick auf die Vorstellbarkeit sowohl der Zeitmannigfaltigkeit als auch des Zeitganzen: Ist die Zeit als Voraussetzung für alle ihre Teile und deren Verhältnisse nicht nur durch die Eindimensionalität, sondern auch durch die Ordnung der Abfolge bestimmt, so ist ein Zusammenvorliegen, das zur Vorstellung der Raummannigfaltigkeit als solcher gehört, für die Zeiten aufgrund ihres spezifischen Verhältnisses zueinander ausgeschlossen. Damit entsteht jedoch das Problem, wie dann überhaupt mehr als der gerade gegebene Zeitabschnitt, wie also überhaupt die Mannigfaltigkeit vorstellbar sein soll, die für die Konstatierung eines .Verhältnisses' von Zeiten vorausgesetzt ist. Damit verbindet sich die Frage, wie überhaupt die Zeit als ein Ganzes (das in den Zeit-Argumenten vier und fünf als Bedingung der Möglichkeit mannigfaltiger Zeiten und deren Verhältnisse erwiesen wird) vorstellbar sein soll. Mit dieser Fragestellung, die für Kants Zeittheorie insgesamt von großer Bedeutung ist, muß sich eine Untersuchung der Behauptung, daß die Zeit als ,Zeitfluß', d.h. als einheitlicher Zusammenhang eines Mannigfaltigen vorstellbar sein soll, auseinandersetzen. Der eng gesteckte Rahmen des dritten ZeitArgumentes läßt der Behandlung dieser Problematik keinen eigenen Raum. Durch den Vergleich von Raum und Zeit wird sie aber, wenn auch nur sehr indirekt, als solche aber zumindest eröffnet. Wir werden uns mit dieser Proble155

Zum Begriff des .Verschwindens' der Zeiten vgl. Lüder Gäbe, Die Paralogismo! der ninen Vernunft. Marburg 1954, S. 58.

Das dòtte Zeit-Argument

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matik in einem späteren Kapitel unserer Arbeit eingehend befassen, das dem Verhältnis zwischen der Zeit als Form der Anschauung und der Zeit als formaler Anschauung gewidmet ist.156 Im Kontext des dritten Zeit-Argumentes spielt die eben bezeichnete Problematik noch keine eigene Rolle. Hier wird lediglich der axiomatische Charakter der Aussagen über die Eindimensionalität und Gerichtetheit der Zeit anhand der Dreidimensionalität und Richtungsbeliebigkeit des Raumes verdeutlicht. Dabei erweist sich der Vergleich der Zeit mit dem Raum nicht als beliebig oder redundant, er fuhrt vielmehr anschaulich vor Augen, daß das Prädikat des Zugleichseins, das mit apodiktischer Gewißheit die Mannigfaltigkeit des Raumes als dreidimensionales Nebeneinander bestimmt, auf die Zeit selbst nicht anwendbar ist. Dieses Prädikat bestimmt allerdings die Koexistenz des Raummannigfaltigen durch ein Verhältnis zur Zeit: Es drückt das Zusammenbestehen vieler Räume aus, die ein und dasselbe Zeitsegment besetzen. Raum und Zeit sind also wechselseitig aufeinander bezogen: So wie die Hinzuziehung der Vorstellung räumlicher Koexistenz für die anschauliche Darstellung der einheitlichen Abfolge verschwindender Zeiten (im Bild einer gezogenen Linie) erforderlich ist, so ist die Koexistenz verschiedener Räume nur anhand ihres Bezuges auf ein und dieselbe Zeit zu veranschaulichen. Wir werden die Erläuterung der Zeitaxiome und den Exkurs zum Verhältnis räumlicher und zeitlicher Relationen unten noch für weitere Überlegungen fruchtbar machen. Für die Rekonstruktion der Beweisführung des dritten ZeitArgumentes ist beides jedoch noch nicht zureichend. Zu klären ist noch, inwiefern der Rekurs auf die Zeit-Axiome den Beweis zugunsten der Apriorität der Zeitvorstellung bestätigt. Der ,nervus probandi' liegt in dem von Kant geltend gemachten Bewußtsein der strengen Allgemeinheit und apodiktischen Gewissheit157, durch die die Zeitaxiome als Sät^e gekennzeichnet sind. Er liegt also in der Modalität der Aussagen über die reine Zeit. Die von Kant im dritten Zeit-Argument vorausgesetzte Gewißheit bezüglich der Art zeitlicher Erstreckung, resp. der Unmöglichkeit, ein und dieselbe Zeit zweimal zu durchlaufen, bestimmt den Erkenntnisstatus dieser Urteile bzw. den Grad ihrer Gewißheit. Diese Gewißheit ist apodiktisch: Sie besagt, daß kein Fall möglich ist, der das Urteil widerlegen könnte. Und diese Art der Gewißheit erlaubt dann den Schluß auf den Status der Zeitvorstellung: Apodiktische Aussagen sind als solche von strenger Allgemeinheit und können somit keine Urteile sein, die auf der Grundlage von Wahrnehmungen gebildet werden. Denn Urteile, die auf empirisch begründeten Verallgemeinerungen beruhen, können weder strenge Allgemeinheit noch den höchstmöglichen Grad an Gewißheit beanspruchen: ihr Gegenteil ist prinzipiell 156

Vgl. unten Kap. 9. Vgl. noch einmal B47.

Das dótte Zeit-Argument

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möglich. Sie sind nur wahrscheinlich, ihre Wahrheit kann jederzeit durch neu auftretende Fakten in Frage gestellt werden. Diese Urteile können also keine unbedingte Gültigkeit für alle möglichen Fälle, sondern nur eine empirisch bedingte Gültigkeit für bisher vorliegende wirkliche Fälle beanspruchen. Die ZeitAxiome sind jedoch eben solche Aussagen, die beanspruchen, für jede mögliche zeitliche Erstreckung undjede mögliche zeitliche Anordnung wahr zu sein. Darin besteht der Kern von Kants Argumentation: Ein derartiger Geltungsanspruch wäre vollkommen unerklärlich, wenn die Grundlage der Wahrheit dieser Aussagen nur in dem läge, was durch bisherige Wahrnehmung und Erfahrung bekannt wäre. Sind also die Zeit-Axiome Aussagen von apodiktischer Gewißheit, so müssen die Zeit und ihre Verhältnisse als das, worauf sich die Aussagen beziehen, etwas sein, das die strenge Allgemeinheit der Aussagen rechtfertigt. Wenn die Zeit aber nichts Kontingentes sein kann, so kann die Vorstellung von ihr auch keine Folge der Wahrnehmung sein. Die Notwendigkeit apriori der Zeitaxiome läßt also darauf schließen, daß die Vorstellung von der Zeit keine empirische Vorstellung und damit auch kein empirischer Begriff sein kann. Mit dieser Überlegung ist im dritten Zeit-Argument der Schluß auf die NichtEmpirizität der Zeitvorstellung der Sache nach abgeschlossen. Darin wird dasselbe Ergebnis gewonnen, zu dem auch das erste Zeit-Argument kam, allerdings mit Hilfe eines anderen Verfahrens und aus anderer Perspektive: Das erste ZeitArgument erweist die Zeit als notwendig im Sinne einer unverzichtbaren Grundlage des Gegenstandsbezuges in der Wahrnehmung. Das dritte Zeit-Argument zeigt komplementär dazu im Ausgang vom Faktum der Apodiktizität von Erkenntnissen über die Verhältnisse der Zeit, daß der spezifische Gewißheitscharakter dieser Erkenntnisse unmöglich und unerklärbar wäre, wenn die Vorstellung der Zeit und der Zeitverhältnisse aus der Erfahrung .abgezogen' wäre. Es rekurriert darauf, daß die Zeit notwendig ist als Grundlage für den Gewißheitsgrad der Erkenntnis der Zeit durch Urteile, die unabhängig von der Erfahrung formuliert werden können. Sowohl im ersten als auch im dritten ZeitArgument wird also die Zeit als etwas erwiesen, was im Verhältnis zur Erkenntnis notwendig ist, sei es zur empirischen Erkenntnis und zur Erfahrung, sei es zur apriorischen Erkenntnis der Verhältnisse reiner Zeiten und des reines Raumes. Erfolgt im dritten Zeit-Argument aber über den Rückschluß auf die epistemische Notwendigkeit hinaus auch eine Affirmation der im zweiten Zeit-Argument erwiesenen relativen Notwendigkeit der Zeit für ihre Inhalte? Diese Frage beantwortet der letzte Satz des dritten Zeit-Argumentes:

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Das diitte Zeit-Argument

Diese Grundsätze gelten als Regeln, unter denen überhaupt Erfahrungen möglich sind, und belehren uns vor derselben und nicht durch dieselbe.15

Der Satz konstatiert, daß die Zeit-Axiome als Erkenntnisse über Verhältnisse der reinen Zeit mit derselben apodiktischen Gewißheit auch für Zeitverhältnisse gelten, die in der Erfahrung angetroffen werden können: Auch für Erscheinungen kann die zeitliche Erstreckung nur auf eine einzige Weise dimensioniert sein resp. eine Zustandsänderung in der Erscheinung ist nur unter der Voraussetzung eines Zustandes möglich, der bereits durchlaufen wurde und als solcher nicht mehr eingenommen werden kann. Im Rahmen der transzendentalen Erörterung der Zeit schließt Kant im Ausgang von dieser faktischen Gewißheit auf deren Bedingung zurück. Leitend ist dabei die Frage, was die Zeit sein muß und welchen Status ihre Vorstellung hat, wenn die Zeit-Axiome als synthetische Urteile apriori für Erscheinungen gelten können. Die Antwort auf die Frage bestätigt die zuvor erwiesene relative Notwendigkeit der Zeitvorstellung für ihre empirischen Inhalte: Sie kann nicht der Erfahrung entstammen, weil der Anspruch, daß die Zeitverhältnisse der erfahrbaren Gegenstände mit eben derselben strengen Allgemeinheit und apodiktischen Gewißheit erkennbar sind wie die Verhältnisse der reinen Zeiten, sich allein im Ausgang von der Erfahrung nicht begründen läßt. Auch hier rekurriert die Argumentation darauf, daß Urteilen, die auf Erfahrung beruhen, keine strenge, sondern nur komparative, induktiv gewonnene Allgemeinheit zukommt.159 Die Zeit-Axiome sind aber Urteile, die einen Anspruch auf strenge Allgemeingültigkeit erheben. Sie .belehren uns', wie es bei Kant heißt, ,vor der Erfahrung und nicht durch sie.' Daraus folgt dann, daß die Vorstellung der Zeitverhältnisse, die für die Erscheinungen konstatiert werden können, nicht selbst der Erfahrung entspringen können, sondern den Erscheinungen und deren Erfahrbarkeit selbst vorhergehen müssen. Eine apodiktische Gewißheit hinsichtlich der Irreversibilität und der Eindimensionalität des Zustandswechsels in der Erscheinung kann es nämlich nur dann geben, wenn die erfahrbaren Erscheinungen selbst in ihrer Möglichkeit von der Voraussetzung dieser Verhältnisse der Zeit abhängen. In diesem Sinne kann Kant sagen, daß die Grundsätze von den Verhältnissen der Zeit als Regeln gelten, unter denen Erfahrungen möglich sind. Die Zeit-Axiome können apodiktisch gewisse Sätze über empirische Gegebenheiten sein, wenn die Verhältnisse der Zeit die Bedingungen für die Möglichkeit der Wahrnehmung der Gegenstände und dieser Gegenstände selbst sind. - Sie sind sowohl relativ auf die Erfahrung als auch relativ auf die Gegenstände dieser Erfahrung etwas Notwendiges.

138 B47. 159 Vgl B3.

Das dritte Zeit-Argument

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Mit diesem Ergebnis kann die Rekonstruktion des Argumentes als abgeschlossen gelten. Ein Punkt ist jedoch noch nicht geklärt: Der zuletzt zitierte Satz des § 4, 3) enthält ein Element, das für das von uns verfolgte Ziel, die formale Stimmigkeit im Gesamtaufbau des Abschnittes ,Von der Zeit' nachzuweisen, ein gewisses Problem darstellt. Auffällig ist nämlich, daß Kant in dem genannten Satz die Zeitaxiome als .allgemeine Regeln' bezeichnet, ,unter denen überhaupt Erfahrungen möglich sind'. Gemeint ist hier eine bestimmte Regularität oder Gleichförmigkeit, die die apriori erkennbaren Verhältnisse der Zeit als Erfahrungsbedingungen den Erscheinungen vorgeben 16°: Diese Regularität besteht darin, daß die Erscheinungen nur innerhalb eines gerichteten Früher-SpäterVerhältnisses gleichbleiben oder sich in verschiedenen Zuständen befinden können. Die Erscheinungen verhalten sich dabei zu den in den Zeit-Axiomen angegebenen Regeln so: Sie sind dem Früher-Später-Verhältnis und der Gerichtetheit dieser Relation gegenüber kontingent. Für die Geltung dieser Regeln ist es ohne Belang, um welche Erscheinungen es sich handelt und ob diese wirklich existieren oder nicht. Den Erscheinungen gegenüber sind diese Regeln dagegen notwendig: Es ist keine Erscheinung möglich, die den Verhältnissen der Zeit nicht unterliegt. Aufgrund dieser logischen Unabhängigkeit können die Zeitverhältnisse auch abgesehen von den Erscheinungen vorgestellt werden. Das Absehen ist möglich, weil es sich bei den Zeitverhältnissen um apriorische Verhältnisse handelt, d.h. um Relationen, die unabhängig von ihren Relata als solche vorgestellt werden können, weil sie ihren Relata apriori vorausgehen und als Bedingung zugrundeliegen. Aus der Bestimmung der Vorgängigkeit der Zeitverhältnisse vor ihren Relata ergibt sich für unseren Rekonstruktionsansatz jedoch ein besonderes Problem: Indem Kant die Zeit-Axiome in ihrer Geltung als Regeln für die Erscheinungen bzw. für die Erfahrung thematisiert, scheint er den Rekurs auf die gegenständliche Vorstellung der Zeit aufzugeben: Denn die Zeit-Axiome sollen ja apriori unter der Bedingung für die Erscheinungen gelten können, daß die Zeit in der Erfahrung als ein Prinzip enthalten ist, das eine Ordnung des Mannigfaltigen der Erscheinung bedingt. Als Prinzip der Dimensionierung und der Struktur der Dinge wird die Zeit aber weniger als eine Art Medium oder Behälter verstanden, sondern vielmehr als etwas, „was macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann."161 Damit wäre die Zeit aber gemäß der Nominaldefinition des § 1 eine Form der Erscheinungen, die relativ auf deren kontingente Materie als notwendig ordnendes Prinzip fungiert.162 Im § 160 161 162

Der Begriff der Regel ist hier im Sinne der „Vorstellung einer allgemeinen Bedingung, nach welcher ein gewisses Mannigfaltige (mithin auf einerlei Art) gesetzt werden kann" (Al 14) zu verstehen. B34. Ebda.

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Das dritte Zeit-Argument

4, 3) scheint Kant also die Zeit als ein solches Fonnprinzip zu bestimmen und dessen Notwendigkeit als Beweis dafür einzusetzen, daß die Zeitvorstellung, die — da sie nicht induktiv im Ausgang von den Gegenständen der Erfahrung zu gewinnen und folglich nicht durch die Objekte selbst bedingt sein kann — apriori im Subjekt verankert sein muß. Der letzte Satz des dritten Zeit-Argumentes scheint also aus der Bestimmung der Zeit-Axiome als Regeln der Wahrnehmung und Erfahrung auf die Bestimmung der Zeit als reine Form der sinnlichen, empirischen Anschauung zu schließen. So gelesen würde der letzte Satz des dritten Zeit-Argumentes durchaus einen Anhaltspunkt für die von Sadik Al-Azm vertretene Auffassung bieten, daß Kant im § 4 der KrV die Unterscheidung von Form und Materie der Anschauung bereits für seine Argumentation voraussetzt und auch in Anspruch nimmt. Enthält also das dritte Zeit-Argument nicht nur, wie Hans Vaihinger meint, eine „störende Incondnnität" 163, sondern mehr noch einen eindeutigen Hinweis auf die Voraussetzung des zu Beweisenden und damit auf einen Fehler im Gesamtaufbau der Untersuchung? Einen wichtigen Hinweis zur Klärung dieser Frage gibt ein Blick auf die transzendentale Erörterung des Raumes.164 Dort bringt Kant eine Überlegung vor, die der Sache nach dem Punkt vergleichbar ist, der im letzten Satz des dritten Zeit-Argumentes thematisiert wird. Wir werden diese Überlegung hier kurz skizzieren: Sie bezieht sich im wesentlichen darauf, daß die Aussagen der Geometrie synthetische Urteile apriori von apodiktischer Gewißheit über Verhältnisse des Raumes sind, die zugleich für die äußeren Erscheinungen gelten. Diese Aussagen sind synthetisch, weil sich ihre Prädikate nicht aus einer Analyse des Subjektbegriffs gewinnen lassen, sie sind apriorische Sätze, weil sie apodiktisch gewiß sind und demnach nicht aus der Erfahrung abgeleitet sein können. Daraus schließt Kant zum einen, daß die Vorstellung vom Raum, auf den sich diese Sätze beziehen, weder eine begriffliche, noch eine empirische Vorstellung sein kann und deshalb eine reine Anschauung sein muß. Er schließt daraus weiterhin, daß die Verhältnisse des Raumes, den diese Sätze apriori bestimmen, Verhältnisse sind, die apriori auch den Erscheinungen zugrunde liegen müssen, weil die geometrischen Sätze sonst nicht für die Erscheinungen gelten könnten. Somit wären auch die räumlichen Verhältnisse Relationen, die den Erscheinungen als empirischen Relata apriori vorausgehen. Das Fazit der Überlegung lautet: Wenn die Sätze der Geometrie allgemeine und notwendige Aussagen sind, dann kann die Vorstellung des Raumes mit seiner Ordnung gemäß der Höhe, Breite und Tiefe, von der die Sätze handeln, nicht das Resultat einer Induktion sein. Hängt die Vorstellung des Raumes aber nicht von den Gegenständen ab, dann muß sie

143 164

Hans Vaihinger, Kommentar v¡tr Kritik der reinen Vernunft Bd. 2, a.a.O., S. 372. Vgl. B40 f.

Das dritte Zeit-Argument

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im Subjekt begründet sein und zwar, weil sie anschaulich ist, im Anschauungsvermögen des Subjekts. Gelten diese Sätze für die Gegenstände der Erfahrung, dann liegt die Vorstellung des Raumes im Subjekt, sofern sich dieses durch Anschauung auf Gegenstände der Erfahrung bezieht. Die Vorstellung des Raumes und der räumlichen Verhältnisse liegt demnach, wie Kant es formuliert, „bloß im Subjecte, als die formale Beschaffenheit desselben von Objecten afficirt zu werden und dadurch unmittelbare Vorstellung derselben, d.i. Anschauung, zu bekommen."165 Die Skizze macht die strukturelle Ähnlichkeit deutlich, die sich zum Gehalt des letzten Satzes der transzendentalen Erörterung des Zeitbegriffs ergibt. Der Blick auf diese Ähnlichkeit kann zur Klärung der Frage nach einer möglichen Zirkulantat im Aufbau der Kantischen Argumentation beitragen. Mit seiner Hilfe läßt sich nämlich eine allgemeine Verortung der transzendentalen Erörterung innerhalb des Gesamtaufbaus der Argumentation vornehmen: Von Bedeutung ist dabei, daß Kant der transzendentalen Erörterung des Raumbegriffs einen eigenen Paragraphen widmet: den § 3 der KrV. Dieser Paragraph schließt an die vollständig durchgeführte metaphysische Erörterung des Raumes an und steht zugleich unmittelbar vor der Definition des Raumes als Form aller äußeren Erscheinungen und subjektive Bedingung der Sinnlichkeit.166 Mit ihrer Positionierung wird eindeutig markiert, daß hier die transzendentale Erörterung der Bestätigung der vorangehenden Untersuchung wie auch der Vorbereitung und Überleitung zu den „Schlüssen aus obigen Begriffen" dient, die das Ergebnis der Gesamtuntersuchung des Raumbegriffs präsentieren.167 An diesem Punkt unterscheidet sich die transzendentale Erörterung des Zeitbegriffs im § 4 von der des Raumbegriffs im § 3 erheblich: Ihr kommt keinerlei Eigenständigkeit zu. Sie ist Teil der metaphysischen Erörterung und trennt hier Argumente für die Apriorität von Argumenten für die Anschaulichkeit der Zeitvorstellung. Sie bezieht sich ferner nicht explizit auf den Begriff der Form der Anschauung, sondern nur auf den Regelbegriff, der auf den formalen Charakter der Zeit lediglich vage verweist. Der Grund dafür liegt darin, daß die transzendentale Erörterung des Zeitbegriffs im § 4 eben nur die in Nr. 1) und 2) geführten Aprioritätsbeweise bestätigt, nicht aber die Beweise für die Anschaulichkeit der Zeitvorstellung, die auf die Zeit als Ganzes rekurrieren. Weiterhin wird die transzendentale Erörterung des Raumbegriffs im Ausgang von den Sätzen der Geometrie geführt, die eine ,reine Anschauung', d.h. eine Vorstellung vom Raum als einem Ganzen koexistierender Teile voraussetzen. Demgegenüber können die Zeitaxiome nicht auf eine ^Anschauung' im genannten Sinne bezogen werden: Die Teile der Zeit verschwinden; daher fallt es schwer, die Zeit 165 B40. 166 Vgl. B42. 167 B42 ff.

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als ein Ganzes vorzustellen. Da die Zeit-Axiome so verstanden einen anderen Status haben als die Aussagen der Geometrie, legt Kant im § 4, 3) dann nahe, daß sie nicht von einer ,reinen Anschauung', sondern von einer reinen Form der empirischen Anschauung handeln und so als Regeln für die Wahrnehmung und Erfahrung gelten können. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß Kant ausgehend von dem zuvor eingesetzten Regelbegriff in der These des vierten Zeit-Argumentes von der Zeit als einer,reinen Form der sinnlichen Anschauung' spricht An dieser Stelle wirkt seine Terminologie jedoch besonders deplaziert, weil sich das vierte ZeitArgument in seinem Hauptgedankengang explizit mit dem Zeitganzen, also mit der gegenständlich vorgestellten Zeit befaßt und gerade nicht mit der Zeit als reiner Form der sinnlichen Anschauung. Dasselbe vierte Argument enthält aber in seinem zweiten Teil auch eine .transzendentale Erörterung' des Zeitbegriffs, mit der die Anschaulichkeit der Zeitvorstellung regressiv bestätigt wird. Der Punkt 4) des § 4 trägt dadurch nicht gerade zur Vereinfachung der Texdage bei. Angesichts der komplexen Situation läßt sich demnach konstatieren, daß der Verzicht auf eine klare Trennung zwischen der metaphysischen und der transzendentalen Erörterung im § 4 der KrV einen deutlichen Mangel darstellt und eine gewisse Aufbauschwäche in der Untersuchung des Zeitbegriffs dokumentiert. Warum hat Kant diese Aufbauschwäche in der B-Auflage nicht korrigiert? Für die Raum-Argumente hat er von der Möglichkeit einer Reorganisation des Textes Gebrauch gemacht und die transzendentale Erörterung vollständig in den § 3 ausgelagert. Auf diese Weise konnte er für die Erörterung des Raumbegriffs die eben angeführten Schwierigkeiten vermeiden. Eine Übertragung des dritten Zeit-Argumentes in den § 5, der explizit mit dem Titel „Transscendentale Erörterung des Begriffs der Zeit" 168 überschrieben ist, hätte den Gesamttext der Zeit-Erörterung stringenter und transparenter machen können. Ein Grund für den Verzicht auf die klare Trennung von metaphyischer und transzendentaler Erörterung bei der Untersuchung des Zeitbegriffs mag in der einmal etablierten Zerstreuung der letzeren liegen: Hätte Kant das dritte Zeit-Argument in den § 5 übertragen, so hätte dies zugleich erhebliche Eingriffe in den Text des vierten Zeit-Argumentes erforderlich gemacht, die Kant offenbar vermeiden wollte. Entscheidend ist an dieser Stelle jedoch nicht so sehr die Klärung der Frage nach dem Motiv für die Beibehaltung des Defizits der Textorganisation, sondern eher die, ob dieses Defizit als Indiz für eine mögliche Zirknlarität der Argumentation des § 4 im ganzen zu bewerten ist und es so die Tragfähigkeit der Transzendentalen Ästhetik in Frage stellt. Gegen diese Möglichkeit spricht vor allem der 168

B48.

Das dritte Zeit-Argument

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Blick auf die transzendentale Erörterung des Raumbegriffs. Er zeigt, daß diese sowohl der Bestätigung aller voranstehenden Argumente als auch der Vorbereitung der Formulierung des Gesamtergebnisses der Untersuchung dient Ähnliches gilt auch für die transzendentale Erörterung des Zeitbegriffs: Sie ist im dritten und vierten Zeit-Argument jeweils nur unvollständig durchgeführt und wird erst mit dem § 5 komplettiert, der dann die metaphysische Erörterung der Zeit mit den daraus gezogenen Schlüssen verknüpft. Wir können also abschließend festhalten: Die transzendentale Erörterung im dritten Zeit-Argument erweist im Ausgang von den Zeitverhältnissen und deren apriorischer Regel- und Ordnungsfunktion für die Erscheinungen in der Tat, daß die Zeit ein reines formales Moment der sinnlichen Anschauung ist. Aber dem Begriff der subjektiven Form der Anschauung, der im dritten Zeit-Argument vorbereitet und dann im vierten explizit genannt wird, kommt innerhalb der metaphysischen Erörterung des Zeitbegriffs selbst noch keine eigenständige Funktion zu. Das wird vor allem dadurch deutlich, daß Kant weder im Hauptargument des vierten noch in dem des fünften Zeit-Argumentes von dem Begriff der Form weiteren Gebrauch macht. Die Verwendung des Ausdrucks ¿eine Form der sinnlichen Anschauung' in der These des vierten Zeit-Argumentes stellt also tatsächlich etwas dar, was Vaihinger als .störende Inkonzinnität' bezeichnet Entscheidend ist aber, daß es sich hier nur um ein Indiz für ein Defizit in der Textorganisation handelt, nicht aber um ein sachliches Problem oder um einen tragfähigen Hinweis auf die logische Fehlerhaftigkeit im Gesamtaufbau der Transzendentalen Ästhetik. Mit der Rekonstruktion des letzen Satzes im dritten Abschnitt des § 4 ist bereits ein erster Vorblick sowohl auf die These als auch auf den zweiten Teil des vierten Zeit-Argumentes gewonnen. Wir werden die Bedeutung dieser These und der ihr unterstellten Argumentation in der folgenden Untersuchung erschließen.

Kapitel Fünf Das vierte Zeit-Argument: Zeit als homogene Einheit Kant fuhrt seine metaphysische Erörterung des Zeitbegriffs mit zwei Argumenten fort, die dem Beweis der Anschaulichkeit der Zeitvorstellung gelten. Der Charakter der Zeitvorstellung wird dabei wieder aus der Untersuchung gewisser Bestimmungen der Zeit erschlossen, die apriori als Inhalt des Zeitbegriffs exponiert werden können. Es handelt sich um die Bestimmungen der Homogenität und der Unendlichkeit, die der Zeit gemäß den kategorialen Hinsichten der Qualität und Quantität apriori zugesprochen werden können. In diesem zweiten Teil der metaphysischen Erörterung des Zeitbegriffs setzt sich Kant mit der Frage auseinander, ob die Zeitvorstellung, für die zuvor gezeigt worden war, daß sie kein empirischer Begriff ist, ursprünglich überhaupt ein Begriff sein kann. Mit dem vierten und fünften Zeit-Argument wird diese Möglichkeit ausgeschlossen. Beide Argumente erweisen die genuine Inkompatibilität der Zeitvorstellung mit der Natur des Begriffs und machen auf diese Weise deutlich, daß sie keine Vorstellung ist, die dem Verstand oder der Vernunft entspringt. So wird im vierten Zeit-Argument gezeigt, daß, da es nur eine einzige Zeit geben kann, deren Vorstellung nicht vielgültig und damit kein Begriff sein kann, der als Begriff einen Umfang haben muß. Das fünfte Zeit-Argument führt in Ergänzung dazu aus, daß die Zeit, sofern sie als Ganzes vorgestellt wird, das unendlich viele Teile in sich enthält, nicht ursprünglich durch einen Begriff vorgestellt werden kann, weil Begriffe als solche weder einen unendlichen Inhalt haben noch ein Ganzes vorstellen können, das seinen Teilen vorausgeht. Daß Kant %u>ei Beweise zur Anschaulichkeit der Zeitvorstellung fuhrt, ist hier sowohl durch die Kategorientafel als allgemeine Systematisierungshinsicht der Untersuchung als auch durch die doppelte Bestimmtheit des Begriffs im Hinblick auf seinen Umfang und Inhalt begründet Wir werden die genannten Punkte im folgenden näher entfalten. Auch im Zuge unserer Rekonstruktion der Argumente 4) und 5) des § 4 der KrVvnid deutlich werden, daß Kant die Zeit darin nicht als Form der Anschauung, sondern als apriori bestimmbaren Gegenstand des Zeitbegriffs thematisiert. Zum Abschluß des vorigen Kapitels konnten wir schon darauf hinweisen, daß Kant zwar in der These des vierten Zeit-Argumentes vom Begriff der ,reinen Form der sinnlichen Anschauung' Gebrauch macht, ihm aber in der Beweisführung selbst keine eigentliche Relevanz verleiht. Die folgende Rekonstruktion

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Das vielte Zeit-Argument

wird diesen Punkt im einzelnen belegen. Sie wird insgesamt zu dem Ergebnis kommen, daß sich weder im vierten noch im fünften Zeit-Argument Indizien dafür finden, die Sadik Al-Azms Interpretation des argumentativen Ansatzes von § 4 bestätigen und damit für Kants Argumentation einen fehlerhaften Aufbau belegen. Das vierte Zeit-Argument, das wir im folgenden untersuchen werden, thematisiert die Zeit als apriori vorstellbare Ganzheit der Zeiten. Kant setzt dabei voraus, daß diese Vorstellung möglich ist, ohne die Bedingungen dieser Möglichkeit eigens zu benennen.16® Die Zeit wird dabei als etwas Einfaches bestimmt, das nicht geteilt, sondern nur eingeteilt werden kann. Aus dieser Einfachheit geht hervor, daß die Teile der Zeit, da sie alle gleichermaßen aus dem Ganzen der Zeit hervorgehen, miteinander und mit diesem Ganzen selbst homogen sein müssen. Die Homogenität aber ist ein Prädikat, das der Zeit apriori gemäß der kategorialen Leithinsicht der Qualität zugesprochen werden kann: Es gibt an, daß alle möglichen Zeiten qualitativ gleichartig sein müssen, und ferner, daß die Zeit als .homogener Fluß' vorgestellt wird, der alle Zeiten in sich enthält. Wir werden im folgenden herausarbeiten, daß und wie Kant im vierten Zeit-Argument die Zeitvorstellung unter der Leithinsicht der Qualität als anschauliche Vorstellung erweist. Vor der eigentlichen Rekonstruktion sollen wieder zunächst einige Probleme benannt werden, die sich in bezug auf Kants Argumentation stellen, die in der Analyse zu berücksichtigen und nach Möglichkeit zu lösen sind: Kant erweist tinter Punkt 4) des § 4 die Anschaulichkeit der Zeitvorstellung im Rückgang darauf, daß die Zeitvorstellung zu den Vorstellungen gehört, die, so heißt es im Text, ,nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden können'.170 An dieser Stelle wird ganz explizit darauf Bezug genommen, daß die Zeit in der Untersuchung als Gegenstand thematisiert wird. Verschiedene Kommentatoren nehmen gleichermaßen daran Anstoß. So heißt es etwa bei Hans Vaihingen „Wunderlich ist die Ausdrucksweise von ,der Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann' - als ob die Zeitvorstellung durch einen Gegenstand. Zeit gegeben wäre!" 171 Auch Peter F. Strawson sieht hier ein Problem: Indem Kant den Begriff des Gegenstandes und der Einheit in Anspruch nimmt, scheint er in seine dezidiert als Theorie der Sinnlichkeit konzipierte Transzendentale Ästhetik Elemente einzuarbeiten, die eigentlich 169

170

171

Darauf, daß es nicht ganz unproblematisch ist, sich die Zeit als ein Ganzes vorzustellen, weil die Teile der Zeit vergehen, konnte bereits Ende des vorigen Kapitels hingewiesen werden. Diese Problematik bleibt im vierten Zeit-Argument zunächst außen vor. Vgl. B47. Hans Vaihinger, Kommentar %ur Kritik der reinen Vernunft Bd. 2, a.a.O.,, S. 373.

Das vierte Zeit-Argument

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zur Untersuchung des Verstandes in der Transzendentalen Analytik gehören. Eine derartige Vermischung dieser Sektoren stehe aber im Widerspruch zu der Kantischen Konzeption der strikten Trennung von Sinnlichkeit und Verstand: „[...] to justify the attribution of the singularity of space and time would seem to lack consonance with the fact that the topics of objectivity and unity are among the central themes of the Analytic, which is supposed to explore the conditions imposed by the understanding, rather than the sensibility, on the nature of our experience."172 Lome Falkenstein gibt zu bedenken, daß die Bezugnahme auf einen einzelnen Gegenstand immer auch eine Tätigkeit des Verstandes voraussetzt und daß daher die Einzelnheit des Gegenstandes nicht die Anschaulichkeit seiner Vorstellung beweist: „Why should we suppose that the effect of a singular object on us should not require intellectual processing (in the form of combination of the manifold or of a figurative synthesis of the imagination) in order to be cognized, just as much as the cognition of a discursive or universal concept requires intellectual processing (in the form of reflection, comparison, and abstraction)?" 173 Das Problem, auf das sich die genannten Einwände beziehen, besteht im Kern darin, daß Kant die Vorstellung von Einheit und Gegenständlichkeit in der Transzendentalen Logik untersucht und dort als eine dem Verstand und gerade nicht der Anschauung entspringende Vorstellung erweist. Diesem Kernproblem nachzugehen ist für die von uns vorgeschlagene Lesart, daß der § 4 primär von der gegenständlich vorgestellten Zeit handelt, von zentraler Bedeutung. Wir werden diesen Punkt zwar erst im Kontext der Analyse des Ergebnisses der gesamten Erörterung des Zeitbegriffs, das im § 6 formuliert wird, klären können.174 Anhand der Untersuchung des vierten Zeit-Argumentes aber kann schon im Vorfeld dieser Klärung gezeigt werden, in welchem Sinne Einheit und Einzigkeit der Zeit überhaupt als Prädikate apriori zugesprochen werden können und wie sich diese Bestimmungen in den Kontext der Frage nach der Möglichkeit einer gegenständlichen Vorstellung der Zeit einfügen. Eine verwandte Fragestellung betrifft das Ergebnis der Argumentation selbst Wie ist die darin erwiesene Unbegrifflichkeit resp. Anschaulichkeit der Zeitvorstellung mit dem in der B-Auflage der KrV eingeführten Titel zu vereinbaren, durch den Kant seine Untersuchung explizit als Erörterung des Begriffs der Zeit kennzeichnet?175 Diese Fragestellung betrifft das Verhältnis der begrifflichen und der anschaulichen Vorstellung der Zeit.

172

174

Peter F. Strawson, The Bounds of Sense, a.a.O., S. 65. VgL dazu auch Klaus Düsing, „Objektive und subjektive Zeit", a.a.O., S. 8. Lome Falkenstein, Kant's Intutàonism:, a.a.O., S. 227. Vgl. unten, Exkurs Π des Kap. 9. Vgl. dazu Herbert J. Paton, Kant's Metaphysics of Experience. London 1936, S. 122 ff.

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Das vierte Zeit-Aigument

Nach der Sondierung von Problemen der Argumentation können wir mit der eigentlichen Rekonstruktionsarbeit beginnen. Kant stellt seinem vierten ZeitArgument eine negative These voran, die besagt, daß die Zeit ursprünglich nicht durch einen Begriff vorgestellt wird. Der erste Satz des Beweises konstatiert, daß verschiedene Zeiten nur Teile derselben Zeit sind. Der zweite Satz enthält eine Aussage über die Spezifik des anschaulichen Vorstellens. Aus beiden Prämissen geht unter Vermittlung des Begriffs des einzigen Gegenstandes ein Schlußsatz hervor, auf dessen Ausführung Kant in verknappender Darstellung verzichtet: Der Schlußsatz ist identisch mit der These des Argumentes. Der Beweis beginnt zunächst mit einer positiven Bestimmung der Zeit. Er setzt bei der Mannigfaltigkeit der verschiedenen Zeiten an und fuhrt sie auf die Einheit der Zeit als ihren gemeinsamen Grund zurück: Verschieden, so heißt es hier, sind Zeiten nur als Teile eben derselben Zeit. Das Verhältnis von Verschiedenheit und Identität stellt ein zentrales Thema des Beweises dar. Die zu beweisende These lautet: 4) Die Zeit ist kein discursiver oder, wie man ihn nennt, allgemeiner Begriff, sondern eine reine Forni der sinnlichen Anschauung.176

Die negative Fassung der These weist darauf hin, daß Kant den Beweis als Widerlegung fuhren wird. Vor dem Hintergrund der vorangestellten Aprioritätsbeweise wird nun ausgeschlossen, daß die Zeitvorstellung ein apriorischer Begriff sein kann. Im Ausgang von diesem Ausschluß wird dann positiv erwiesen, daß die Zeitvorstellung eine Anschauung sein muß, von der Kant im Vorblick auf das Ergebnis der gesamten Untersuchung behauptet, daß sie sich auf eine reine Form der sinnlichen Anschauung zurückfuhren läßt. Auffällig ist, daß Kant den diskursiven Charakter der Begriffe von ihrem Allgemeinheitscharakter ausdrücklich unterscheidet. Auf die Relevanz dieser Unterscheidung hat vor allem Klaus Reich hingewiesen. Daß der Begriff der Diskursivität für das Verständnis des zweiten Satzes der Argumentation von zentraler Bedeutung ist, werden wir unten näher erläutern. Der Beweisgang des Argumentes wird zweistufig gefuhrt und in sehr verdichteter Form vorgebracht. Er umfaßt lediglich die beiden Sätze: Verschiedene Zeiten sind nur Theile eben derselben Zeit Die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann, ist aber Anschauung.177

Zu Beginn der Argumentation macht Kant deutlich, daß die Zeitvorstellung das Bewußtsein eines Verhältnisses von Verschiedenheit und Identität enthält, das als Verhältnis eines Ganzen zu seinen Teilen ausgedrückt werden kann. Dabei kommt Identität der Zeit als Ganzer und Verschiedenheit den Zeitteilen zu. Fokus der Betrachtung ist, daß die Zeit stets eben dieselbe ist in dem Sinne, daß sie nicht als Aggregat von Teilen angesehen werden und dementsprechend auch

177

B47. B47.

Das vierte Zeit-Argument

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nicht in diskrete Teile aufgelöst werden kann. Für die Zeitteile dagegen gilt: Sie sind verschieden nur, sofern sie Teile eines Ganzen sind; sie sind nicht als eigenständige Teile voneinander abhebbar, die Zeit ist kein ^Compositum' diskreter Zeiten, sie ist vielmehr ein ,Totum', das eine Mannigfaltigkeit von inneren Teilen enthält, die aus diesem Totum durch Einteilung hervorgehen.178 Kant macht an dieser Stelle geltend, daß das Verhältnis von Ganzem und Teil im Falle der Zeit durch eine Vorgänggkät des Ganzen vor den Teilen bestimmt ist. Ein zentrales Moment der Argumentation liegt bei der Bestimmtheit der Spezifik der Vorgängigkeit des Ganzen vor seinen Teilen: Im Falle der Zeit nämlich wird das Ganze als notwendige Bedingung seiner Teile vorgestellt. Hier gilt, daß verschiedene Zeiten nur innerhalb der Zeit als deren Teile möglich sind. Die Zeitvorstellung enthält ein Bewußtsein davon, daß keine Zeit vorstellbar ist, die isoliert bzw. für sich und außerhalb des Zeitganzen auftreten kann. Das bedeutet: Alle möglichen Zeiten können nur als Einschränkungen eines und desselben Ganzen, das ihnen allen gleichermaßen zugrunde liegt, verschieden sein und dadurch ein Mannigfaltiges bilden. Verschiedene Zeiten sind also in dem präzisen Sinne nur Teile eben derselben Zeit, daß ohne die Voraussetzung des Zeitganzen die Vorstellung und Bestimmung einer Mehrheit von früheren und späteren Zeiten verschiedener Länge als solche unmöglich wäre. Diese Charakterisierung der Zeiten hat dann entscheidende Konsequenzen für die Bestimmung der Zeit als solcher: Wenn nämlich die Zeiten nur als Teile der Zeit überhaupt unterscheidbar sind, dann kann die Zeit selbst nur etwas Einzelnes und in diesem Sinne etwas Individuelles sein. Diese Individualität ist für Kants Argumentation von grundlegender Bedeutung, weil ihr ein besonderer Status zukommt: Zwar sind alle Individuen als Individuen identische Ganze und in diesem Sinne etwas Einzelnes. Die Zeit aber zeichnet sich vor allen anderen Individuen dadurch aus, daß ihre Einzelnheit undurchstreichbar ist: Denn wenn die Selbigkeit und Ganzheit der Zeit als Bedingung der Möglichkeit der Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Zeiten fungiert, kann das Zeitganze nicht ein Individuum neben möglichen anderen Individuen derselben Art sein. Dadurch, daß keine der verschiedenen Zeiten außerhalb des Zeitganzen möglich ist, wird apriori ausgeschlossen, daß es überhaupt mehr als nur eine Zeit geben kann. Positiv heißt das: Es kann nur eine einige Zeit geben. - Die Zeit als das eine und selbe Totum ist demnach notwendig Einzig und somit ein Unikum im strengen Sinne: Die Zeit ist das einzige Individuum ihrer Art. Die Einzigkeit enthält nun eine Folgebestimmung, die der Zeit ebenfalls apriori zugesprochen werden kann und die direkt auf die Leithinsicht der Unter178

Vgl. dazu die Monographie zum Ganzheitsbegriff von Albert Johannes Dietrich, Kant's Begriff des Ganzen in seiner Ranm-Zeitlehre und das Verhältnis ç» Leibniz Halle 1916. Dietrich behandelt in Kap. ΠΙ ausführlich die Differenz von „totum" und „compositum", durch die Kant das Raumganze im Unterschied zu beliebigen aggregation Ganzheiten charakterisiert (vgL B466).

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suchung von § 4, 4) bezogen ist: Hängen die verschiedenen Zeiten insgesamt in ihrer Möglichkeit von der Einschränkung des Zeitganzen ab, so können sie sich als Teile dieses Ganzen nicht qualitativ voneinander unterscheiden wie die Arten einer Gattung oder Individuen einer Art, die nur in einigen Hinsichten untereinander gleich sind, in anderen aber nicht. Die Zeiten müssen vielmehr miteinander ganz gleichartig sein, denn jede von ihnen kann nur diejenige Natur besitzen, die ihr ihre Ursprungseinheit selbst verleiht. .Gleichartigkeit' bezieht sich hier auf eine Ubereinstimmung der Zeiten miteinander und mit dem Ganzen in Hinsicht auf die Qualität Als Teile des Zeitganzen müssen sie untereinander homogen sein. Die Homogenität ist dabei nicht selbst eine Qualität, sondern ein Prädikat, das eine apriori bestimmbare qualitative Gleichheit einer inneren Mannigfaltigkeit angibt, deren Differenz nicht durch empirische Gegebenheiten vorgegeben wird und die als solche auf die Einheit des Ganzen, das sie ermöglicht, notwendig bezogen ist. Das Prädikat der Homogenität wird von Kant im vierten ZeitArgument zwar nicht explizit thematisiert. Es folgt jedoch apriori aus der Einzigkeit der Zeit. .Homogenität' ist eine Bestimmung, die der Beschaffenheit der Zeit und der Zeiten apriori als Metaprädikat beigelegt werden kann, sofern die Zeit unangesehen ihrer empirischen Inhalte als solche vorgestellt wird und sofern die Zeiten Teile sind, die in einem notwendigen Verhältnis zum Zeitganzen stehen. Die Zeit also wird im vierten Zeit-Argument als ein apriori individuiertes, homogenes Ganzes von Zeiten bestimmt. In der zweiten Stufe der Beweisführung wird die Bestimmung der Singularität der Zeit auf eine Aussage über die Spezifik des anschaulichen Vorstellens bezogen. Bei dieser Aussage handelt es sich um die an zweiter Stelle stehende MajorPrämisse der Argumentation. Sie thematisiert die Art von Vorstellungen, durch die in der Erkenntnis die Bezugnahme auf einzelne Gegenstände erfolgt: Die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann, ist aber Anschauung.17

Nicht zuletzt dadurch, daß Kant den eigentlichen Text der Kritik der reinen Vernunft mit einer Bestimmung der Anschauung eröffnet, wird deren Stellenwert für das Gesamtprojekt betont. Kant führt im ersten Satz des § 1 der KrV die Anschauung ein als Art, wie sich die Erkenntnis .unmittelbar' auf den Gegenstand bezieht.180 Unmittelbar ist dieser Bezug, weil er nicht vermittelst einer Prädikation von Merkmalen oder vermittelst eines Schlusses erfolgt. Anschauung ist eine repraesentatio singularis m , eine .einzelne' Vorstellung, die den Gegenstand als individuelle Einheit in der Mannigfaltigkeit seiner Merkmale direkt und als sol179 180 181

B47. Vgl. B33. Vgl.AAIX,L