Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms 1943 und ihre Familien: Forschungsprojekt zur Weitergabe von Kriegserfahrungen 9783666453786, 9783525453780, 9783647453781

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Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms 1943 und ihre Familien: Forschungsprojekt zur Weitergabe von Kriegserfahrungen
 9783666453786, 9783525453780, 9783647453781

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Ulrich Lamparter/Silke Wiegand-Grefe/ Dorothee Wierling (Hg.)

Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms 1943 und ihre Familien Forschungsprojekt zur Weitergabe von Kriegserfahrungen

Mit 47 Abbildungen und 28 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525453780 — ISBN E-Book: 9783647453781

Die Drucklegung dieses Bandes wurde ermöglicht durch Mittel der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und der Köhler-Stiftung in Essen. Das Forschungsprojekt erfuhr durch folgende Einrichtungen und Institutionen großzügige finanzielle Förderung: Gerda-Henkel-Stiftung Düsseldorf, KöhlerStiftung Essen, Werner-Otto-Stiftung Hamburg, International Psychoanalytic Association (IPA), Universitätsklinikum Eppendorf-Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-45378-0 ISBN 978-3-647-45378-1 (E-Book) Umschlagabbildung: © Denkmalschutzamt Hamburg – Bildarchiv, Fotograf: Willi Beutler © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort von Hartmut Radebold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Jörg Frommer Individuelle und transgenerationale Spätfolgen politischer Traumatisierung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Die Struktur des Projekts und die interdisziplinäre Zusammenarbeit Ulrich Lamparter Aufbau und Struktur des Forschungsprojekts: »Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms (1943) und ihre Familien« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Dorothee Wierling Das »Feuersturm«-Projekt. Eine interdisziplinäre Erfahrung aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Thomas A. Kohut Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft: Theorie, Praxis, Kritik. Ein Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Die Generation der Zeitzeugen Birgit Möller/Ulrich Lamparter Erlebnis und Verarbeitung des »Feuersturms« im Lebensverlauf. Ein typologischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Malte Thießen Der Luftkrieg als Lebens- und Familiengeschichte. Medien und Rahmen der Erinnerung an den »Feuersturm« . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

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Inhalt

Ulrich Lamparter/Valeska Buder/Véronique Sydow/Stefan Nickel/ Silke Wiegand-Grefe Psychometrische Befunde in der Generation der Zeitzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Linde Apel Keine Unbeteiligten. Über Nähe und Distanz zum NS-System aus der Retrospektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Nicole Drost/Ulrich Lamparter Das Tableau diagnostischer Urteile. Eine qualitativ-quantitative Auswertung der Zeitzeugeninterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Erhard Mergenthaler/Ulrich Lamparter/Nicole Drost Langfristige kognitiv-emotionale Regulation traumatischer Erlebnisse am Beispiel des »Hamburger Feuersturms« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Werner Bohleber Von den Schwierigkeiten, im narrativen Interview mit traumatischen Erfahrungen umzugehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Alexander von Plato Die Bombardierungen Dresdens und Hamburgs – vom unterschiedlichen Umgang mit den Luftangriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Die zweite Generation Christa Holstein/Ulrich Lamparter Die zweite Generation: Die Kinder der Zeitzeugen. Qualitative Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Philipp von Issendorff Transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumata. Eine psychometrische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Ulrich Lamparter/Christa Holstein Was ist gefolgt? Erste Ergebnisse zur Transmission der Erfahrung des »Hamburger Feuersturms« (1943) zwischen der ersten und der zweiten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

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Inhalt

Die dritte Generation und die Familien Silke Wiegand-Grefe/Birgit Möller Kriegskindheit im »Hamburger Feuersturm« und ihre Folgen. Eine theoretische Einführung in die Perspektive der Enkel und Familien . . . . . . 295 Hella Hofer/Silke Wiegand-Grefe Enkel berichten – qualitative Befunde aus der dritten Generation . . . . . . . . . . . . 307 Amelie Meyer-Madaus/Silke Wiegand-Grefe Familien über drei Generationen im Familieninterview. Ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Lydia Morgenstern/Christin Raddatz/Stefan Nickel/Birgit Möller/ Ulrich Lamparter/ Silke Wiegand-Grefe Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« und die transgenerationale Weitergabe von Kriegserfahrungen. Befunde aus der Familienperspektive . . . . 336 Schlusswort Jürgen Reulecke Ein Experiment besonderer Art: Das Projekt »Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

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Vorwort

Die beschädigenden bis traumatisierenden zeitgeschichtlichen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen, die den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die direkte Nachkriegszeit erlebt hatten, waren bis zum Jahr 2000 unbekannt. Weder die einzelnen Wissensdisziplinen noch die Öffentlichkeit interessierten sich dafür. Die manchmal gestellte, einzige Frage war die nach der Weitergabe nationalsozialistischer Ideologie und Erziehung durch diejenigen, die als Erwachsene die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg mitgestaltet hatten. Unsere bisherigen Kenntnisse über die so Betroffenen stützen sich auf kumulierte psychotherapeutische Behandlungsberichte, Ergebnisse aus Katamnesestudien, Sekundäranalysen von Längsschnittstudien mit anderer Zielsetzung und auf relevante Einzelfragen im Rahmen repräsentativer Querschnittsuntersuchungen. Diese Kinder und Jugendlichen haben inzwischen das höhere Erwachsenenalter (sechzig bis achtzig Jahre) und jetzt zunehmend das hohe Erwachsenenalter (»80+«) erreicht. Aufgrund ihres Alters sinkt ihre Lebenserwartung – insbesondere die der Männer. Sie sind in Kürze nicht mehr als die letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges zu interviewen beziehungsweise zu untersuchen. Ab 2004 beunruhigte uns in der Forschungsgruppe w2k (weltkrieg2kindheiten) zunehmend – angestoßen durch internationale Untersuchungen, insbesondere aus Israel, und eigene familiäre Erfahrungen – die Frage, was diese Erfahrungen für ihre lange nach dem Krieg gegründeten Familien und insbesondere für ihre Kinder und Enkelkinder bedeuten. Die nachfolgenden 20 Beiträge informieren die Leserinnen und Leser – vermutlich und hoffentlich aus vielen wissenschaftlichen Disziplinen – über ein mit dieser Zielsetzung, dieser Form und diesen Ergebnissen bisher für den deutschen Sprachraum erstmalig durchgeführtes und damit nach meinem Kenntnisstand einmaliges Forschungsprojekt. Folgende Aspekte, die dieses »Hamburger Projekt« kennzeichnen, erscheinen mir besonders wichtig: Es ermöglicht den Zugang zu einer weiteren Gruppe, geprägt durch den gemeinsam erfahrenen und doch so unterschiedlich erlebten »Hamburger Feuersturm« und nachfolgend wiederum mit unterschiedlich familiären und transgenerationalen Folgen lebend. Es erfolgte unter Nutzung quantitativ und qualitativ erhobener Informationen/ Daten, testpsychologischer Untersuchungen einschließlich computergestützter Text-

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Vorwort

analysen. Es ermöglichte die interdisziplinäre Untersuchung von drei Generationen – jeweils individuell und im familiären Kontext. Interdisziplinarität wird immer gewünscht – manchmal im Bewilligungsbescheid sogar vorgegeben. Es bedarf aber in Wirklichkeit eines langen gemeinsamen Arbeitsprozesses, um die fachspezifischen Anliegen, Begrifflichkeiten, Zugänge und Forschungsstandards gegenseitig kennenzulernen, für das jeweilige Projekt zu erproben und schließlich für die Zielsetzungen gemeinsam zu nutzen. Die beteiligten Wissensdisziplinen Psychoanalyse, Psychiatrie, Klinische Psychologie und Zeitgeschichte waren dazu aufgefordert – sicher eine große Herausforderung für alle Beteiligten! Entscheidende Voraussetzung für ein derartiges interdisziplinäres Forschungsprojekt ist eine gemeinsame Finanzierung – eine Voraussetzung, die in der heutigen Forschungslandschaft zunehmend noch seltener zu werden scheint, als sie es ohnehin bereits seit langem ist. Die angefragten fördernden Institutionen – hier die Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, und die Köhler-Stiftung, München – waren in dankenswerterweise bereit, durch ihre abgestimmte Finanzierung entsprechende Teilbereiche des Projektes zu ermöglichen, das zusätzlich durch die Werner-Otto-Stiftung, Hamburg, unterstützt wurde. Selten erhält man die Chance, ein Forschungsprojekt – selbst außen stehend – von der Idee bis zum Abschlussbericht zu begleiten. Ich erinnere mich an die ersten Gespräche mit Ulrich Lamparter und an unseren gemeinsamen Besuch bei Dorothee Wierling in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg im Herbst 2004. Auf dem Besprechungstisch lagen mehrere Ordner mit den archivierten Zeitzeugenberichten über den »Hamburger Feuersturm«. Das »Hamburger Abendblatt« hatte nach einem Aufruf eine große Anzahl dieser Berichte aus der Hamburger Bürgerschaft bekommen. Schon vorher hatte mir Peter Riedesser (früh verstorbener Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Hamburg) sein deutliches Interesse an dieser Fragestellung signalisiert und die Mitarbeit von Silke Wiegand-Grefe in Aussicht gestellt. In den folgenden Jahren erlebte ich die nun gebildete Gruppe immer wieder auf den Tagungen/Kongressen unserer Forschungsgruppe w2k und konnte dadurch an einem lebendigen, mich immer anregenden und interessanten interdisziplinären Prozess teilnehmen, einschließlich des Abschlusstreffens mit den älteren Teilnehmern der Studie, die zusammen mit ihren jüngeren Familienmitgliedern der nächsten Generationen gekommen waren. Die mir gegebene Chance der Begleitung dieses Projektes ermöglichte mir einen weiteren wichtigen Zugang zu vielen Fragestellungen und ich habe dadurch viel gelernt. Ich freue mich, dass der Abschlussbericht jetzt in dieser Form und in diesem Umfang als Buch erscheint. Hartmut Radebold

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Jörg Frommer

Individuelle und transgenerationale Spätfolgen politischer Traumatisierung in Deutschland

Das interdisziplinäre Forschungsprojekt über Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« kann verstanden werden als Beitrag zur kollektiven Standortbestimmung deutscher Identität heute. Ich gehe dabei aus von der inzwischen wenig bestrittenen Tatsache, dass nach der Katastrophe von nationalsozialistischer Diktatur, Schoah und Zweitem Weltkrieg ein kollektives »Beschweigen« (Rüsen, 2001, S. 96) der furchtbaren und unfasslichen Ereignisse entstand und für lange Zeit dominierte. Trauernde Erinnerung blieb im öffentlichen Diskurs und auch in familiären Beziehungen lange unsichtbar, wurde marginalisiert, und eine wie auch immer verstandene »Aufarbeitung« blieb ambivalent. Im Verhältnis der Kriegsgeneration zu den jüngeren Kriegskindern und der ersten Nachkriegsgeneration erwies sich dieses Manko als schwere Belastung und trug 1968 in der alten BRD zu einer krisenhaften Zuspitzung des Generationenkonflikts bei, für den der Begriff »Bruch zwischen den Generationen« nicht überzeichnet ist, zumindest für den intellektuellen Teil der damaligen Jugend (Aly, 2007; Marquard, 2004).

Zwei Fragen zur Erinnerungsabwehr in der westdeutschen Nachkriegskultur Ich möchte im Folgenden zunächst der Frage nachgehen, ob die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, die danach einsetzte und in die Erinnerungskultur unserer Tage einmündete, gelungen ist oder ob sich transgenerational nicht nur Traumatisierungen, sondern auch Defizite in der Erinnerung und Bewältigung etabliert haben, die einer gelungenen Verarbeitung im Wege stehen. Ich werde die These zu begründen versuchen, dass Projekten wie dem Zeitzeugenprojekt zum »Hamburger Feuersturm« (Lamparter et al., 2010a; 2010b; Möller u. Thießen, 2010) hier quasi eine therapeutische Funktion in Bezug auf eine kollektive Fehlentwicklung zukommt, im Sinne der Integration einer zerrissenen Erinnerungskultur. Voraussetzung für dieses Projekt war die Etablierung einer engen interdisziplinären Forschungskooperation zwischen Psychoanalytikern und Historikern1. Jeder, der 1

Bei einer allgemeinen Verwendung von Personenbegriffen ist in allen Beiträgen dieses Bandes stets auch die weibliche Form mitgemeint.

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J. Frommer

sich in seiner akademischen Karriere auf interdisziplinäre Zusammenarbeit eingelassen hat, weiß, wie sehr Selbstverständlichkeiten der Weltsicht, auf die sich eine Disziplin intern geeinigt hat, dadurch herausgefordert werden. Ich möchte daher im zweiten Teil meines Beitrags aus der Perspektive der Psychoanalyse versuchen, den Ertrag zu würdigen, den dieses Forschungsprojekt für die psychoanalytische Identität und das psychoanalytische Gegenstandsverständnis – speziell das von uns deutschen Psychoanalytikern – impliziert. Gemeint ist das Verhältnis der Psychoanalyse zur äußeren Realität. Wie in vielen Bereichen jüdisch dominierter akademischer Kultur hatte nämlich auch im Bereich der Psychoanalyse nach dem Zweiten Weltkrieg eine Wiederaneignung eingesetzt, die in einzelnen Facetten zu Überidentifizierungen führte, die nicht unproblematische Züge tragen. Ein zentraler Aspekt hing damit zusammen, dass die während der Nazidiktatur zugelassene, quasi »entfreudianisierte« neo-psychoanalytisch ausgerichtete Tiefenpsychologie die soziale Realität sehr stark in den Vordergrund rückte zu Lasten der Beschäftigung mit den Realitäten der Aktualisierung innerer Konflikte und sexueller Triebschicksale in der Interaktion zwischen Analysand und Analytiker (Schröter, 2006). Dem hierdurch bei der Wiederaneignung der Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland vorherrschenden Bedürfnis nach eindeutiger Abgrenzung von der als kontaminiert empfundenen eigenen Herkunft kamen neuere Entwicklungen entgegen, die innerhalb der mittlerweile im angloamerikanischen Raum weiterentwickelten psychoanalytischen Theorie und Behandlungstechnik etabliert worden waren. Diese Neuerungen betrafen – ohne dass sie damit erschöpfend beschrieben wären – zum einen eine Tendenz, Äußerungen des Analysanden über reale Vorkommnisse in seinem Leben konsequent als Projektion innerer Konflikte auf äußere Situationen zu deuten; eng damit verbunden war zum anderen die Deutung der Konflikte des Analysanden aus dem Gegenübertragungsgeschehen im Hier und Jetzt zu Lasten der gemeinsamen Beschäftigung mit der Biographie des Analysanden (Wurmser, 2011a). Zweifelsfrei ist von der Rezeption dieser internationalen Entwicklungen einerseits eine fruchtbare Wiederentdeckung der Psychoanalyse in Deutschland ausgegangen. Unglücklicherweise wurde andererseits dabei aber wenig reflektiert, dass die Konzentration auf das Hier und Jetzt der Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik in den psychoanalytischen Kulturen Englands und Nordamerikas zur Blüte gebracht wurde, also in Umgebungen, in denen sich beide, Analysand und Analytiker, unhinterfragt auf einen über Generationen gefestigten, demokratischen Common Sense verlassen konnten und sich eben beide nicht dem abgewehrten transgenerationalen Erbe brutaler Verstrickung in Massenvernichtung, Inhumanität und Seelenmord in dem Maße stellen mussten, wie das im Nachkriegsdeutschland der Fall war. Der eigentliche Fortschritt im Sinne der Konzentration auf das Wesentliche wurde also zumindest partiell zum Hemmschuh der Aufarbeitung der bewussten und unbewussten Abkömmlinge von traumatischem Verlusterleben, Täteridentifikationen und Scham- und Schuldverstrickung, für die die konzise Beschäftigung mit den individuellen und familiären Schicksalen unerlässlich gewesen wäre. Nicht nur in Patientenbe-

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Individuelle und transgenerationale Spätfolgen politischer Traumatisierung

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handlungen, sondern auch in vielen Lehranalysen blieb die transgenerationale Realität deutscher Schuld- und Leidverstrickung daher unterberücksichtigt und behindert durch die Überidentifikation mit einem Psychoanalyse-Verständnis, das überall dort misstrauisch unbelehrbare deutsche Rückwärtsgewandtheit argwöhnte, wo auf äußere Realität und biographische Faktizität rekurriert wurde.

Kollektive Abwehrschicksale misslungener Erinnerungskultur Lassen Sie mich mit dem ersten Aspekt beginnen: Für die »Achtundsechziger« genannten Intellektuellen der Nachkriegsgeneration wurde der Nationalsozialismus »durch bewusste negative Abgrenzung zum konstitutiven Element der eigenen Identität« (Rüsen, 2001, S. 100). Diese psychoanalytisch im Sinne einer zwanghaften Verkehrung in das Gegenteil zu verstehende »Gegenidentifizierung« (S. 100) war gekennzeichnet durch eine Haltung der moralischen Verurteilung der Elterngeneration, die kollektiv der Täterschaft »überführt« wurde, und brachte Lebensentwürfe hervor, die denen der Eltern diametral entgegengesetzt waren. Diese »Gegen«-Lebensentwürfe wurden getragen von einem überlegen wirkenden Habitus der »moralische[n] Distanzierung« (S. 99) gegenüber der Vorgeneration und allen Gleichaltrigen, die sich der »Bewegung« nicht anschließen konnten. Völlig übersehen hatte diese Generation des Neuaufbruchs allerdings, wie Reimut Reiche in einer selbstkritischen Rückschau schreibt, »daß wir uns […] niemals einen wirklichen Begriff davon machen konnten, daß die mit der Zerschlagung des deutschen Nationalsozialismus der Verdrängung anheimgefallenen omnipotenten, destruktiven, grausamen und mörderischen Taten und Phantasien im dynamischen Unbewußten des Einzelnen und des Kollektivs fortexistierten« (1988, S. 50). Die von Alexander und Margarete Mitscherlich (1967) als Ursache der Trauerblockade postulierten Hitler-Identifikationen und noch viel mehr die Identifikationen mit nahen Angehörigen der eigenen Eltern- und Großelterngeneration, die als Hitler-Getreue in Naziverbrechen verstrickt waren, bestanden auch und gerade in der 68er-Generation und führten zu unerträglichen inneren Konflikten, die mit Verdrängung, Verleugnung, Projektion und Über-Ich-Spaltung beantwortet wurden. Dabei ging es vor allem um die »Bewältigung« von »entlehnten« Scham- und Schuldgefühlen (Eickhoff, 1991; Wurmser 1987/1993), das heißt von Gefühlen, die sich nicht auf eigenes Handeln bezogen, sondern auf das der verstrickten Angehörigen. Idealtypisch lässt sich das Schicksal dieser schwer erträglichen Emotionen, einschließlich der sich auf sie beziehenden Hassgefühle und Bestrafungsimpulse, wie folgt nachzeichnen: Sie wurden zunächst verdrängt, und es wurde kollektiv ein expansiver, auf unbegrenzte Entfaltung ausgerichteter Lebensstil entwickelt, der alles andere zu sein schien als das Resultat quälender eigener Schuld- und Schamgefühle. Ferner wurden die verdrängten, entlehnten, nunmehr unbewussten Schuld- und Schamgefühle projiziert, das heißt, es wurden Schuldige identifiziert und angeklagt. Objekte der Projektion waren dabei zunächst die eigenen Eltern, insbesondere die Autoritarismus-geprägten Väter.

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J. Frommer

»Deutsch« als Adjektiv wurde für diese sich Hals über Kopf in die Xenophilie stürzende Generation zum Unwort: Mit großem Aufwand wurden Lebensentwürfe verfolgt, durch die man sich als toskanischen Landarbeiter, als kreolischen Rockmusiker, als südfranzösischen Weinbauer, als reisenden indischen Siddhartha, als bolivianischen Guerillero oder als Kämpfer der Oktoberrevolution phantasierte und damit inneren Anklagen und Selbsthass zu entweichen versuchte. Das entlehnte, unbewusste Schuldgefühl zog somit unbewusst entlehnte Identitätskonstruktionen nach sich, deren Aufrechterhaltung massive Projektionstätigkeit erforderte. Nicht zuletzt im Gefolge der deutschen Wiedervereinigung, die am Beispiel der nun näher gerückten ehemaligen Bürger der DDR unübersehbar vor Augen führte, welches Leid autoritäre Diktatur und menschenverachtende Seelenblindheit anrichten, wurde das Ungenügen der beschriebenen Abwehr- und Ausblendungsstrategien der Nachkriegsgeneration deutlich (Frommer, 2000). Paradoxerweise rückte das unfassbare Leid in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht weiter weg, sondern näher heran. Die Wiedervereinigung beendete eine lange Zwischenperiode des kollektiven Sich-nicht-zuständig-Fühlens für das Erbe von 1945, und die beiden Jahrzehnte, die seither vergangen sind, bestätigen eindrucksvoll die bereits Anfang der 1980er Jahre aufgestellte Hypothese des israelischen Psychoanalytikers Hillel Klein (1983): »Nach einer Zeit, in der sowohl in Deutschland als auch in Israel die Verschwörung des Schweigens herrschte, kommt es nun zur Rückkehr des Unterdrückten. Das Grausame, das Schreckliche, welches wir zu verneinen und zu verschweigen versucht haben, kommt zur Oberfläche« (zit. n. von Westernhagen 1991, S. 88). In beeindruckender Weise haben Ulrike Jureit und Christian Schneider (2010) bezüglich der gegenwärtigen Selbststilisierung der Deutschen zu »Gefühlten Opfern« gezeigt, welche Irrwege Erinnerungskultur dann einzuschlagen geneigt ist, wenn »Aufarbeitung der Vergangenheit« – wie Theodor W. Adorno 1959 bereits lakonisch feststellte – nicht in erster Linie dem Zweck diene, »daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen« (1977, S. 555). Subtil weisen Jureit und Schneider an Beispielen ritualisierter Erinnerungskultur und Schlüsseltexten des öffentlichen Diskurses wie der Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag der Kapitulation am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag nach, wie sich Opferidentifikation in Verbindung mit der Illusion, durch Erinnerung »Erlösung« von quälenden entlehnten Schuld- und Schamgefühlen zu erlangen, mit fortbestehender Trauerabwehr und Abwehr der Anerkenntnis eigener Verstrickung in das Böse verquickt, gemäß der Parole: Eigentlich stehe ich den Opfern des deutschen Faschismus näher als meinen eigenen Eltern und Großeltern, die in Täterschaft verstrickt waren; mein Gedenken und meine Trauer um diese Opfer ist daher vergleichbar mit der Trauer der Angehörigen dieser Opfer; damit bin ich von quälenden Scham- und Schuldgefühlen entlastet, Nachfahre der Täter zu sein und die Identifikation mit ihnen in mir zu tragen (Schneider, 2010).

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Individuelle und transgenerationale Spätfolgen politischer Traumatisierung

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Freilegung der Trauer um die eigenen Angehörigen als quasitherapeutischer Beitrag zur kollektiven Erinnerungskultur Vor dem Hintergrund der hier sehr gerafft zusammengefassten Argumentation von Jureit und Schneider wird evident, dass diese Konfliktlösung, die sich kollektiv im Halbbewussten eines Teils der westdeutschen Eliten herausgebildet hat, mit Fug und Recht als faul bezeichnet werden darf. Schuld- und Schamabwehr sind erkauft durch den Verrat an den eigenen Vorfahren, die Trauer ist insofern falsch, als sie sich nicht auf die eigenen Nächsten bezieht. Echte Trauer bleibt somit weiter suspendiert, und – last, but not least – den Nachfahren der Opfer bleibt die Nähebekundung berechtigterweise suspekt. Genau an dieser Stelle setzt das Projekt an: In über 140 Interviews mit Zeitzeugen der Bombardierung sowie mit ihren Kindern und Enkeln wird die verschüttete Erinnerung der Hamburger an ihr eigenes verheerendes Kriegsschicksal wachgerufen und die Erinnerungsspuren werden detailliert nachgezeichnet. Unsere Eltern und Großeltern waren nicht nur kollektiv in Täterschaft verstrickt, sondern sie waren auch Opfer. Versteinert standen sie nach dem Krieg vor den Trümmern ihrer Welt: gezeichnet durch grausame Verluste naher Angehöriger, selbst verletzt, ohnmächtig mit wenigen Habseligkeiten dem Tod entronnen. Die Forschungsergebnisse des »Hamburger Feuersturm«-Projekts bestätigen die Hypothese Alexander von Platos, dass es in Deutschland »nicht so einfach ist, von einer kollektiven Erinnerung oder einem kollektiven Gedächtnis zu sprechen«, sondern es mehr Sinn habe, von »zerrissenen Erinnerungskulturen oder einem zerrissenen kollektiven Gedächtnis zu sprechen« (2004, S. 11, § 24). Die Forschungsergebnisse zeigen weiter, dass in jeder Familie andere Erlebnisse stattfanden und transgenerational zu ganz unterschiedlichen individuellen und familiären Geschichten geronnen sind. Auf diese Weise wird der Zugang zu den unterschiedlichen Formen des »kommunikative[n] Gedächtnis[ses]« (Assmann 1999, S. 13) eröffnet, in dem das Geschehene und seine Verarbeitung tradiert werden. Die pauschale Vorstellung eines kollektiven Beschweigens oder einer an echter Trauer und Aufarbeitung vorbeigehenden Pseudoerinnerungskultur wird empirisch aufgelöst in eine Typologie von Verarbeitungsweisen, die unter klinisch-psychoanalytischer Perspektive ebenso fruchtbar ist wie unter historiographischer. Überzeugend zeigen die Interviews authentisch eigene Betroffenheit als Opfer und eröffnen so den verschütteten Zugang zu Schmerz und Verlust. Verbunden damit ist nicht nur eine Befreiung von Versteinerung in ungelebter Trauer, sondern es ergibt sich darüber hinaus die Chance zu einer glaubwürdigeren Positionierung gegenüber den Nachfahren der Opfer deutscher Grausamkeit: Denn wer Schmerz um die eigenen Angehörigen nie erlebt und zugelassen hat, kann auch nicht reklamieren, den Schmerz anderer um ihre verlorenen Familienmitglieder und Freunde mitzufühlen. Die Welle der Zeitzeugenforschung an der Generation der »Kriegskinder« ist nicht unbegleitet geblieben von mahnenden und kritischen Stimmen, die durch die Aktualisierung der Kriegskindheitstraumatisierungen – beispielsweise im Kontext der Debatte

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J. Frommer

um Günter Grass – »eine Tendenz der Enthistorisierung zugunsten einer Anthropologisierung von Leid« befürchten, in der »die Fokussierung auf die bloße Leiderfahrung des Menschen als Menschen« (Diner, 2003, S. 1) die das Leid bedingenden historischen Umstände ausblende, um letztlich als Gegenbewegung eines »unglaubwürdigen ultramoralischen Diskurses der Selbstbezichtigung« (S. 1) die moralischen Unterschiede zwischen Tätern und Opfern einzuebnen.

Aufdeckung von Fehlerinnerung als quasitherapeutischer Beitrag zur kollektiven Erinnerungskultur – ein Fallbeispiel Neben der Freilegung eigener Trauer liegt die zweite große Stärke des Projekts in der passenden Antwort auf die Befürchtung, dass der Selbstexkulpierung durch moralische Distanzierung und Abwehr eigenen Betroffenseins nun die Selbstexkulpierung durch verklärte Selbststilisierung eigenen Leids folgen soll. Die Antwort ist einfach und überzeugend. Sie lautet schlicht: Erkenntnisgewinn durch Methode. Es soll hier nicht auf die unterschiedlichen Stränge des methodischen Zugriffs eingegangen werden, der sicherlich auch eine Reihe kritischer Fragen evozieren könnte. Relevant im Zusammenhang mit den hier aufgeworfenen Fragen ist vor allem, dass die Datenerhebungs- und -auswertungsmethoden des Projekts das Übermitteln klischeehafter Selbststilisierung unterbinden, indem sie diese Stilisierungen aufweisen. Die Interviews zeigen beides: eigenes authentisches Betroffensein und Abwehr in Form ungenügender und scheiternder individueller und transgenerationaler Aufarbeitung. Die Familiengeschichte beispielsweise, in der ein Vater seine Frau, seine Tochter, zwei Enkel und zuletzt sich selbst durch Abseilen an Gardinen vom Balkon des vierten Stocks eines brennenden Hauses rettet, berührt unmittelbar und strahlt eine Aktualität aus, als sei sie gestern geschehen. Todesangst, Verletzung und Schmerz werden ebenso spürbar wie die tiefgründige Sorge in der unmittelbar nach dem Bombenangriff und der Rettungsaktion des Vaters auseinandergerissenen Familie, ob die anderen Familienmitglieder überlebt haben. Abgeschattet, angedeutet und im Dunkeln bleiben – wie die Forschergruppe richtig feststellt – allerdings viele Fragen der Verarbeitung. Die Aufarbeitung findet offensichtlich nicht im Dialog des Interviews statt, sondern bildet einen Subtext, der zu entschlüsseln ist; so etwa in der Schilderung, in der die Tochter berichtet, wie es dem Vater unmittelbar nach dem Ereignis erging: »Und da ist er abgestürzt. Aber dadurch, dass eben diese Luftschutzkräfte auf der Straße waren, ist der Sturz wohl etwas abgemildert worden. Aber wie gesagt, er war behindert dadurch, dass er das, das Bein blieb steif, das hat er so behalten […]. [Später] da haben wir ihn besucht und meine Tochter sagte: ›Das ist aber nicht mein Opa‹. Er war erstmal ein Arm gebrochen und beide Beine. [6 Sekunden Pause] Mach mal aus ’n Augenblick, ich kann nicht mehr denken« (zit. nach Möller u. Thießen, 2010, S. 27).

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Die Stelle ist außerordentlich aufschlussreich. Die bewegende Situation wird geschildert, in der die Tochter ihrem tot geglaubten Vater, der ihr Leben gerettet hat, erstmals wieder begegnet, gemeinsam mit ihrer Tochter, also der vierjährigen Enkelin. Formal auffällig sind zwei elliptische Formulierungen in Form von Satzabbrüchen, die auf Auslassungen verweisen: Die erste Stelle lautet: »Er war behindert dadurch, dass er das …«, worauf folgt: »das Bein blieb steif, das hat er so behalten«. Es fällt nicht schwer, die Auslassung folgendermaßen hypothetisch zu ergänzen: »Er war behindert dadurch, dass er das getan hat«, oder vielleicht noch stärker: »dass er das für uns getan hat«. Nun zur zweiten Stelle. Im Interviewtranskript ist zu lesen: »meine Tochter sagte: ›Das ist aber nicht mein Opa‹«. »Er war …«, worauf folgt: »erstmal ein Arm gebrochen«. Auch hier fällt die Ergänzung nicht schwer im Sinne von: »Er war am Leben«. Nehmen wir beide Auslassungen zusammen, so wird die nachfolgende Pause und der Off-talk: »Mach mal aus ’n Augenblick, ich kann nicht mehr denken«, verständlicher. Es ist von nichts anderem die Rede als von der vor der Wiederbegegnung drohenden Tatsache, der Vater habe sein Leben geopfert, um dadurch die Familie zu retten. Hierfür spricht auch die anfängliche Personenverkennung der Vierjährigen, für die der Großvater bereits »gestorben« war. Offensichtlich ist die Erinnerung an diesen angenommenen Verlust und die Wiederbegegnung auch heute, über sechzig Jahre später, so erschütternd, dass das Denken aussetzt, also ein traumatischer dissoziativer Zustand evoziert wird und die Interviewerin das Gespräch unterbricht. Warum werden die schlimme Befürchtung und der zugehörige Affekt aber nicht ausgesprochen? Warum gilt für das gesamte Interview, wie Möller und Thießen richtig notieren, dass die Interviewte »auf Emotionen, die mit dem Erleben dieser Situation verbunden sind, nur begrenzt beziehungsweise auf Nachfrage der Interviewerin eingehen kann« (S. 34)? Affektisolierung und relativierendes Herunterspielen signalisieren nicht nur in diesem Interview das starke Bedürfnis der befragten Individuen und Familien, dem Erlebten im Sinne einer biographischen Sinnfindung eine identitätsstiftende Funktion zuzuweisen, bei gleichzeitiger Fehlerinnerung, Verdrängung und Ausblendung bezüglich des Nicht-Integrierbaren. Das betrifft zum einen das Ausmaß der Grausamkeit des selbst als Opfer Erlebten, zum anderen aber auch das Verstricktsein in Täterschaft. Die Kriegskinder-Interviews und die methodisch geleiteten Ergebnisse der interdisziplinären Auswertung geben also Zeugnis von beidem: einerseits von Traumatisierung und Schuldverstrickung, andererseits aber auch von deren Abwehr und mangelnder Aufarbeitung.

Die Bedeutung biographischer und familiärer Realität für die psychoanalytische Arbeit Damit sind wir beim zweiten und abschließenden Ertrag des »Hamburger Feuersturm«-Projekts angelangt, auf den ich hinweisen möchte. Wie bereits angedeutet, ist in der gegenwärtigen klinischen Theorie der Psychoanalyse ein Verständnis dominierend, das – um eine Formulierung Werner Bohlebers (2007, S. 298) aufzugreifen – einer

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»›Kolonisierung der Vergangenheit‹ durch die Gegenwart« das Wort redet, die massiver psychischer Traumatisierung nur ungenügend Rechnung trägt. Bohleber spricht vom Trauma als einem »factum brutum, das im Augenblick des Erlebens nicht in einen Bedeutungszusammenhang integriert werden kann, weil es die seelische Textur durchschlägt« (S. 301). Er verbindet seine kritische Analyse mit der Forderung nach einer stärkeren Fokussierung der Rekonstruktion der realen traumatischen Ereignisse der äußeren Welt in der analytischen Behandlung, die die Voraussetzung für ihre Integration in das Selbst darstellten. Neben diese berechtigte Forderung hat Marion Oliner in ihren jüngsten Arbeiten noch einen anderen Akzent gesetzt. Lange hat sie mit sich gerungen, ob sie einem auf der Jahrestagung der »Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft« 2009 in Magdeburg gehaltenen Vortrag den von ihr favorisierten Titel »Drehen Sie sich nicht um, Frau Lot« geben könne, ohne das Publikum allzu sehr zu verstören. Das Trauma als ein Hereinbrechen nicht bewusstseinsfähiger, bloßer Faktizität des Geschehnisses in den seelischen Zusammenhang zu verstehen, greift für sie zu kurz. Stattdessen plädiert sie für ein Verständnis, das die Ausblendung des Traumatischen im Sinne einer »negativen Halluzination« als konstruktive psychische Leistung versteht, die das Ziel verfolgt, »all das, was an Verlust erinnert werden könnte, bildlich zu zerstören und den Ersatz für bare Münze hinzustellen« (Oliner, 2011a, S. 270). Durch eine Selbstsuggestion, die eigentlich eine Selbsttäuschung sei, versuche der Traumatisierte, »die Vergangenheit ungeschehen zu machen, indem das Gegenteil befördert wird« (S. 272). Diese für die psychische Balance und letztlich für das psychische Überleben unerlässliche Konstruktion bedinge allerdings eine blockierende, tiefe innere Spaltung zwischen der Seite des Wirklichkeitsbezugs, die sich bemühe, den Verlust zu vergessen, und der Seite, die ihn anerkennen müsse, um die Psyche vor der psychotischen Wirklichkeitsverkennung zu bewahren. Oliner zufolge lebt Frau Lot, die im nicht vollendeten Sich-Umdrehen halb erstarrt ist, »also mit einem steifen Hals und denkt, sie hätte viel vom Leben erfahren, aber sie verwechselt das Rezept zum Überleben mit dem Rezept für das Leben« (S. 272). Marion Oliners Vorschlag, das bei Traumatisierten regelmäßig auftretende Ausblenden als negative Halluzination im Sinne einer konstruktiven Leistung zu verstehen, die dem Überleben des Selbst dient (allerdings um des Preis eines innerlichen Halberstarrtseins), trifft sich mit dem an die Oral-History-Tradition anknüpfenden methodologischen Selbstverständnis der Arbeitsgruppe »Zeitzeugenprojekt Hamburger Feuersturm«. Empirisch konnte gesichert werden, dass das Erleben dieser Katastrophe für die interviewten Zeitzeugen und ihre Familien eine zentrale Bedeutung im Lebensverlauf einnahm, im Sinne eines »Kristallisationspunkt[s] biographischer Erfahrung« (Lamparter et al., 2010b, S. 376). Vor allem die selbst stark traumatisierten Zeitzeugen erlebten die Katastrophe als »biographische Wende, nach der ›alles anders‹ war« (S. 376). Zugleich machte der Abgleich der Narrative mit den objektiv dokumentierten Fakten auch Fehlerinnerungen und Auslassungen deutlich und erwies den »Hamburger Feuersturm« als »Ort projektiver Erinnerung« (S. 376). Besonders beklemmend erleben wir als Nachgeborene diese Tatsache im Interviewmaterial dort, wo ähnlich wie in der

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Münchner Kriegskinderstudie der Arbeitsgruppe um Ermann und in anderen Untersuchungen eine »Herauslösung des Krieges aus dem Zusammenhang der Nazizeit« (Brockhaus, 2010, S. 319; Dörr, 2007; Ermann, 2007) unverkennbar wird und so ganz im Sinne der von Dan Diner beklagten Tendenz einer politisch unkritischen Anthropologisierung von Leid das Wort geredet wird. Die oben versuchte punktuelle Tiefenanalyse einer Narrativstelle zeigt die konstitutive Funktion derartiger Auslassungen dahingehend, dass – zum Teil entlehnten – unbewussten Schuldgefühlen einschließlich der Dimension der Überlebensschuld eine zentrale Bedeutung zukommt. Daneben sind Schamgefühle, vor allem in Bezug auf Täterverstrickung ebenso bedeutsam wie die Notwendigkeit der subjektiven Konstruktion einer positiv besetzten Identität als Deutsche(r), die – wie Jörn Rüsen es ausgedrückt hat – durch eine fragile und »merkwürdige Mischung von Integration und Exklusion« (2001, S. 101) der Verantwortung für Nazidiktatur und Schoah gekennzeichnet ist. In diesem Forschungsprojekt ist es gelungen, die Erfahrungsaufschichtung des »Verarbeitungs-, Konstruktions- und Sinnbildungsprozess[es]« (Wierling, 2003, S. 97) bei den Betroffenen Schicht für Schicht abzutragen und so sowohl das individuell und familiär Erinnerte und Berichtete als auch das Nicht-Erinnerte und Nicht-Berichtete zur Sprache zu bringen. Die beschriebene Vorgehensweise kann über das Forschungsprojekt zum »Hamburger Feuersturm« hinaus auch die Theoriediskussion innerhalb der Psychoanalyse befruchten. Nicht nur Werner Bohleber (2007) und Marion Oliner (2008, 2011a), sondern auch Jacob Arlow (2002), Harold Blum (1983), Ilse Grubrich-Simitis (2008), Tilmann Habermas (2011), Léon Wurmser (2011b) und andere haben die den aktuellen klinischen Theoriediskurs bestimmende ausschließliche Konzentration auf das Übertragungsgeschehen auf Kosten der gemeinsamen Erarbeitung der autobiographischen Lebensgeschichte einschließlich ihrer Einbettung in reale gesellschaftliche Bezüge kritisiert.

Von der Erinnerungsabwehr zur gemeinsamen Erinnerungsarbeit als Entwicklungschance Wenig produktiv erscheint in diesem Diskurs das Auseinanderklaffen in eine Mainstream-Position, die das Spezifische psychoanalytischer Arbeit ausschließlich in der Deutung von Übertragungsgeschehen im Hier und Jetzt verortet, und in die Gegenposition, die Deutungen außerhalb der Übertragung einschließlich genetischer Deutung und Rekonstruktion für einen wertvollen und unverzichtbaren Beitrag erachtet, ohne den die Behandlung Gefahr laufe, »die schmerzlichsten Erlebnisse von Patienten [zu] übersehen, um einen geringfügigen Übertragungspunkt aufzugreifen« (Wurmser, 2011b, S. 184). Besonders bei schwer Traumatisierten kann das Hineinzwängen negativer Affekte in Übertragungsdeutungen dazu führen, dass der Patient den Analytiker als anmaßend, kolonisierend oder fraternisierend erlebt und mit dem Gefühl zurückbleibt, dass das Schreckliche des von ihm Erlebten in der Analyse keinen Platz findet.

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In dieser Debatte kann der Rückgriff auf die sozialwissenschaftliche Methodologie der »Oral-History«-Forschung insofern hilfreich sein, als auch das vom Analysanden in der Stunde Erzählte einen Prozess der Erfahrungsaufschichtung offenbart, der die Verarbeitung der Lebensgeschichte zu einem sinnstiftenden autobiographischen Narrativ beinhaltet, das jeweils ad hoc situations- und beziehungsabhängig generiert und konstruiert wird. Aus der Perspektive der Zeitzeugenforschung ist die dichotome Alternative »Arbeit an der äußeren Realität« versus »Arbeit an der inneren Realität der Übertragung« insofern nicht überzeugend. Die Dichotomie löst sich auf in der Einsicht, dass das Erlebte in einer Beziehung aktualisiert und erzählt wird. Der Zuhörer wird damit zum Teil der Geschichte, seine Gegenübertragung zum Instrument zur Erfassung unausgesprochener, verdrängter und verleugneter Aspekte der erzählten Geschichte. Seine mäeutische Fähigkeit zum – im Sinne Max Webers (1917/1973) – wertbeziehenden Urteilen, also zur feinsinnigen Differenzierung zwischen seinen eigenen wertenden Urteilen und den im Erzählten enthaltenen Wertungen, entscheidet mit über das Gelingen des sinnstiftenden autobiographischen Narrativs sowohl des Zeitzeugen im Interview als auch des Analysanden in der Stunde. Schicht für Schicht trägt der Zuhörer in beiden Fällen die Erfahrungsgeschichte ab und legt sowohl das Erlebte als auch seine Bearbeitungen frei. Das Einbeziehen der Verzerrungen und Ausblendungen in seine Rekonstruktion ermöglicht ein tieferes Verständnis, das auch die Abwehr des unerträglich Erscheinenden einschließt. Arbeit im Hier und Jetzt heißt dann, dieses umfassendere Verständnis zu einer gemeinsamen Wahrheit werden zu lassen, indem die innere Konfliktstruktur der Wiederaufführung des Erlebten in der aktuellen Beziehung aufgezeigt wird. Diese Arbeit beinhaltet allerdings auch nicht selten, Unfassliches, Unüberwindliches, Brüche und Trennendes zu akzeptieren und das andere anzuerkennen einschließlich Phänomenen des Nicht-wahrhaben-Wollens. Die Notwendigkeit dieser Abwehr wird nämlich oft vergessen, was dann zur Ersetzung einer wirklichen Verarbeitung durch vorschnelle moralische Verurteilung führt. Gemeint ist damit allerdings nicht, dass Abspaltung, Verleugnung und Verdrängung ein unveränderlicher Dauerzustand sein müssen, sondern, mit den Worten Marion Oliners (2011b), dass »es mit der Zeit doch möglich wird, etwas von dem, was geschehen ist, zu bearbeiten. Das kann man aber nur tun, wenn man gute Abwehrmöglichkeiten hat, um überhaupt psychisch weiterleben zu können.«

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Die Struktur des Projekts und die interdisziplinäre Zusammenarbeit

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Ulrich Lamparter

Aufbau und Struktur des Forschungsprojekts: »Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms (1943) und ihre Familien«

Warum ein Projekt über den »Hamburger Feuersturm«? In Zeiten des Friedens kann man sich nur schwer den Krieg vorstellen. Der Zweite Weltkrieg scheint schon lange zurückzuliegen. Und doch ist es erst siebzig Jahre her, dass Hamburg wie viele andere deutsche Städte schwerste und umfassende Zerstörungen erfuhr und große Teile der Stadt »in Schutt und Asche gelegt« wurden. Auch wenn die Trümmer schon lange beiseite geräumt und die »Bombengrundstücke« neu bebaut sind, stößt man auch heute noch auf unverkennbare Spuren der damaligen Zerstörungen. Übrig gebliebene Bunker wie der riesige Hochbunker auf dem Heiligengeistfeld in St. Pauli wirken als Erinnerungsort, als Wächter oder Mahnmal1, und unverkennbare Brüche im Stadtbild lassen unterschwellig das Ausmaß der Vernichtung erahnen.

Was war der »Hamburger Feuersturm«? Der »Hamburger Feuersturm« steht als Begriff für den großen, sich über mehrere Tage hinziehenden Luftangriff der Alliierten, überwiegend der britischen Royal Air Force, auf Hamburg im Juli 1943. Eine frühe Quelle zu dem Ausmaß der Zerstörungen ist das bis heute aufgelegte Buch des damaligen Oberbrandmeisters der Stadt Hamburg, Hans Brunswig (1978/2003), der aus seiner Sicht die Angriffe beschrieben und dokumentiert hat. Das bereits drei Monate nach dem »Hamburger Feuersturm« niedergeschriebene Buch von Hans Erich Nossack mit dem Titel »Der Untergang« (1948/1976) gab eine erste wichtige Darstellung. Volker Hage (2003; 2003/2008) hat die vielfältigen literarischen Zeugnisse zum »Hamburger Feuersturm« zusammengestellt und kommentiert. Zum 50. Jahrestag erschien bereits eine Serie von Augenzeugenberichten im »Hamburger Abendblatt«, also zehn Jahre vor der Serie über die hier dokumentierten Zeitzeugen. Diese wurden von der Hamburger Historikerin Renate Hauschild-Thiessen (1993) 1

Eine erste Arbeit aus dem Projekt (Lamparter et al., 2008a) hat sich mit dem Bunkererleben der Zeitzeugen beschäftigt und Thießen (2008) hat in demselben von Inge Marszolek und Marc Buggeln herausgegebenen Band, in dem sie veröffentlicht ist, die Rolle der Hamburger Bunker in der Erinnerungsgeschichte der Stadt beschrieben.

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Die Struktur des Projekts und die interdisziplinäre Zusammenarbeit

gesammelt und zusammenfassend veröffentlicht. Ebenfalls aus Anlass des 50. Jahrestages setzte sich der bekannte Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter (2007) in einer Ansprache in der Hamburger St. Petri Kirche mit dem Phänomen auseinander, dass über den Bombenkrieg kaum gesprochen wurde. Dieses rühre von einem Tabu her, das nur den im Nationalsozialismus Verfolgten und so Gerechtfertigten das Sprechen erlaube, während diejenigen, die im Nationalsozialismus – wie unwillig auch immer – mitfunktioniert hätten, ein Schweigegebot empfänden. Nachdem es seit Ende März 1943 über Hamburg weitgehend ruhig gewesen war, vernichtete die »Operation Gomorrha« (wie das Unternehmen von den Alliierten genannt wurde) mit vier Nachtangriffen der Briten und zwei Tagesangriffen der amerikanischen Luftwaffe große Teile der dicht besiedelten innerstädtischen Hamburger Arbeiterwohnbezirke. Jeweils rund 740 Flugzeuge waren bei den ersten drei Nachtangriffen im Einsatz, circa 300 bei den amerikanischen Tagesangriffen und noch einmal 350 beim letzten Nachtflug dieser Serie. Sie warfen etwa 8.500 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf Hamburg, fast ungefährdet durch die starke Flak der Stadt, die durch den Abwurf unzähliger Stanniolstreifen erstmals in der Luftkriegsgeschichte blind und unschädlich gemacht wurde. Etwa 34–35.000 Menschen verloren bei diesen Angriffen ihr Leben, das waren mehr als 80 Prozent aller Bombenopfer in Hamburg während des gesamten Krieges. 37.000 Verletzte wurden registriert. Da viele Verletzte aus Hamburg flüchteten, kann ihre Gesamtzahl nur geschätzt werden, man geht von etwa einer viertel Million Menschen aus. Zerstört oder schwer beschädigt wurden: 580 Industrie- und Rüstungsbetriebe, 2632 gewerbliche Betriebe, 379 Kontorhäuser, 24 Krankenhäuser, 277 Schulen, 257 Staats- und Parteidienststellen. Über 255.000 Wohnungen fielen den Luftangriffen zum Opfer, das war etwa die Hälfte des gesamten Hamburger Wohnraumbestands. Besonders in den Stadtteilen Hammerbrook, Hamm und Rothenburgsort wurde ein Inferno entfacht, das es bis dahin in diesem Ausmaß noch nie gegeben hatte. Die Bomben hatten, begünstigt durch die Wetterverhältnisse am 27. und in der Nacht zum 28. Juli 1943, ganz andere Wirkungen zur Folge, als sie bislang von Bombenangriffen auf Städte bekannt waren. Es kam zum »Feuersturm« mit einer unvorstellbaren Hitze, in der alles schmolz, und zu einem Luftmangel mit gewaltigen Winden, der zu Erstickungen führte (vgl. Bracker, 1993, S. 130; Brunswig, 1978/2003) und die Menschen verschmoren ließ. Nach dem Angriff waren die als Aufräumarbeiter eingesetzten Soldaten stärksten seelischen Erschütterungen ausgesetzt. Zur Trümmerbeseitigung wurden auch Insassen des Konzentrationslagers Neuengamme herangezogen. Die Toten, soweit sie überhaupt noch als Leichnam zu erkennen waren, wurden in Massengräbern auf dem großen Hamburger Friedhof in Ohlsdorf begraben. Die obdachlosen Menschen wurden ins ganze damalige Reichsgebiet verbracht, besonders nach Osten und nach Süden. Die überlebenden Kinder wurden oft von den Familien getrennt und kamen in die Kinderlandverschickung, wo es ihnen oft nicht gut ging. Die damaligen Luftangriffe mit ihren gewaltigen Zerstörungen sind heute nicht nur in ihren dauerhaften städtebaulichen Spuren wahrnehmbar, sondern sind auch

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U. Lamparter · Aufbau und Struktur des Forschungsprojekts

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als politische Bezugserfahrung im »soziokulturellen Gedächtnis« der Stadt umfassend repräsentiert (Thießen, 2007). Bei der Frage nach dem psychomentalen Fortwirken des »Feuersturms« im individuellen Seelenleben ihrer Bewohner stößt man jedoch auf eine merkwürdige Erinnerungssperre und Sprachlosigkeit, die sich in folgender Beobachtung beispielhaft niederschlägt: Manche sagen, sie oder ihre Angehörigen hätten den »Feuersturm« auch erlebt, dann aber bricht das Gespräch – und oft sogar der direkte Blickkontakt – ab. Offenbar lässt sich vom »Hamburger Feuersturm« – wie von anderen schrecklichen Ereignissen – nicht leicht erzählen. Auch im gängigen Medizinbetrieb in Kliniken und Praxen kommen bezeichnenderweise die in der Stadt ja weit verbreiteten Erfahrungen im »Feuersturm« kaum zur Sprache.2 So werden bis heute anhaltende seelische Folgen möglicherweise übersehen oder nicht mit den damaligen Kriegserfahrungen in Verbindung gebracht. Nicht zuletzt spielen in der üblichen psychoanalytischen Behandlungs- und Ausbildungspraxis die Kriegserlebnisse eines Patienten, seiner Eltern oder Großeltern in der Regel kaum eine Rolle. Im sogenannten psychoanalytischen Erstinterview wird die Frage nach prägenden Lebenserfahrungen der Patienten oder ihrer Eltern im Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg oder auf der Flucht aus den Ostgebieten kaum gestellt. Wird hier zu schnell eine Schicht übersprungen und die an der Oberfläche liegende »Wahrheit« übersehen? Gehen die traumatischen Erfahrungen und prägenden Auswirkungen dieser Zeit auf den »normalen« Durchschnittsbürger in der scheinbaren Normalität des kollektiven Schicksals unter (Haag u. Lamparter, 1994)? Vor diesem Hintergrund entstanden erste konkrete Fragen: Gab und gibt es heute keinen Raum für die Erzählungen oder keine aufnahmebereiten Ohren? Gibt es zwar ein offizielles Gedenken, aber wurde in den einzelnen Familien doch wenig von den Erfahrungen in den Bombennächten erzählt? Dabei sind doch wahrscheinlich persönliche Erzählungen in der Familie ein zentrales Medium der Weitergabe historischer Erfahrung durch die Generationen. Was könnte Erzählungen in der Familie verhindert oder begünstigt haben? Oder gab es vielleicht ganz andere – eher unbewusste – Ebenen der Weitergabe mit vielleicht bis heute unbegriffenen und latent wirksamen negativen Folgen? Wirft so der Feuersturm heute noch einen großen Schatten auf die Stadt und seine Bewohner?

2 Die professionelle Abwehr gegen das Offensichtliche ist erheblich: In den Jahren vor unserem Forschungsprojekt habe ich für den Studentenunterricht ein Erstgespräch mit einer langjährig hospitalisierten chronischen Angstpatientin (»Ich kann nicht denken«) auf Video aufgenommen. Sie hatte die Bombenangriffe im Alter von acht (!) Jahren im ebenfalls abgebrannten Straßenzug »Hohe Luft« erlebt und war von der Mutter getrennt worden, die sie erst Stunden später wiederfand. Sie kleidete ihre Angst in die Formulierung: »Ich habe mich vor Angst weggeschrien«. Dieses Angstmuster brach bei ihr als erwachsene Frau erneut hervor. Ich erinnere mich noch genau an meine Gegenübertragungsabwehr, dass das doch alles nicht zusammenhängen könne.

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Die Struktur des Projekts und die interdisziplinäre Zusammenarbeit

Entwicklung der Forschungsfragen im Projekt Vor diesem Hintergrund konkretisierten sich weitere Fragen, die in den Vorüberlegungen zur Gestaltung des Projekts und zur Entwicklung der Forschungsfragestellungen eine wichtige und gestaltende Rolle spielten. Wurde wirklich so wenig in den Familien über die Erfahrungen im »Hamburger Feuersturm« gesprochen, wie es den Anschein hat? Und wenn ja, in welchen Phasen der Nachkriegsgeschichte? Und wer sprach mit wem? Die Erlebniskohorten untereinander oder mit den nachfolgenden Generationen, den Kindern, Enkeln? Ist der Begriff »Tabuisierung« angebracht? Gibt es klinisch fassbare Folgen? Vielleicht mehr, als man gemeinhin annimmt? Wie wurde das erlebte Geschehen unter der Bombardierung und im »Feuersturm« langfristig verarbeitet? Gibt es latente Verarbeitungsmechanismen, wie steht es mit dem Verhältnis zur Aggression? Gibt es Schuldgefühle angesichts eines als unverdient empfundenen Überlebens? Gibt es offene oder latente Gegenaggressionen? Wie denken die Menschen heute über die persönlichen Opfer, die ihnen abverlangt wurden? Wie denken sie über die Tatsache, dass sie als Kind oder Jugendlicher mehr oder weniger schuldlos zu Opfern gemacht wurden? Was weiß man und wie denkt man in den folgenden Generationen? Gibt es bis heute reichende Auswirkungen? Gibt es Gemeinsamkeiten in der Verarbeitung oder gibt es überwiegend Unterschiede zwischen den Generationen? Kann man von einer »geglückten« oder »gesunden« Verarbeitung sprechen, wenn ja, was wären ihre Merkmale und ihre Gründe?

Verortung und Entstehung des Projekts und die zentralen Gesichtspunkte seiner Gestaltung Ihre wissenschaftliche Konkretion erfuhren diese Fragen in einem Projekt, das sich in den Rahmen der sogenannten Kriegskind-Forschung verorten konnte, den Bemühungen einer sich selbst entdeckenden Generation, die lange geschwiegen hatte. Wesentliche Impulse, Anregungen und konkrete Unterstützungen verdankt es dem Arbeitskreis w2k und hier besonders Hartmut Radebold. Dieser interdisziplinäre Arbeitskreis hatte sich zusammengefunden, um individuelle Forschungsansätze zu den psychischen Folgen des Zweiten Weltkriegs auszutauschen und neue Projekte anzustoßen. Hier zeigten sich erhebliche Desiderate der Forschung zu den Erfahrungen der »Kriegskinder« im Krieg und zu den zum Teil lebenslangen Folgen: Eindrucksvollen Erlebnisschilderungen und kasuistischen Darstellungen standen wenige empirische Untersuchungen gegenüber. Augenzeugenberichte schildern das Geschehen und die Zerstörungen, aber wie ging es weiter? Vor allem: Wie sehen die Zeitzeugen heute den Einfluss ihrer Kriegserfahrungen auf ihr Leben? Haben sie ein Trauma erlebt, unter dem sie vielleicht

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bis heute leiden? Die Beziehungen zu der folgenden, einer sich ebenfalls als betroffen erlebenden Generation waren erst in Ansätzen, und zwar vorwiegend durch kasuistische Schilderungen und erste Beschreibungen sichtbar. Könnten die Auswirkungen von traumatischen Erlebnissen im Krieg auch in die nächsten Generationen hineinreichen, wie dies in den Forschungen zu den Kindern von Holocaust-Überlebenden beschrieben wurde, und könnten dabei ähnliche Mechanismen der unbewussten Weitergabe wirksam sein? In unserer Hamburger Forschungsgruppe fanden sich für ein Projekt zu den Folgen des »Hamburger Feuersturms« von 1943 Forscher aus drei Institutionen zusammen und brachten die Disziplinen der Psychoanalyse, klinischen Psychologie und Familienforschung mit der Geschichtswissenschaft in Kontakt: Die Psychoanalytiker kamen aus dem Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg (UKE): Ulrich Lamparter aus der Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Silke Wiegand-Grefe aus der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Die Psychotherapeutin Christa Holstein und die klinische Psychologin Birgt Möller kamen etwas später hinzu. Sie trafen in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte der Universität Hamburg (FZH) auf die Historiker Dorothee Wierling, Linde Apel und Malte Thießen. Gemeinsam fanden wir die uns inflationär erscheinende Verwendung des Traumatisierungsbegriffs problematisch, die dem wirklichen Trauma die Spezifität nimmt, und wir entwickelten Neugier und Freude in Bezug auf die Erprobung einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Psychoanalytikern und Historikern. Das Thema »Transgenerationalität« schien uns zu eng gezogen; wir bevorzugten einen weiteren und weniger vorbelasteten Begriff und sprachen von »familiärer Weitergabe«. Multiperspektivität und das eventuelle Aufbrechen zunftspezifischer Einengungen waren uns ebenfalls wichtig. Unsere Aussagen sollten möglichst durch empirische Methoden abgestützt, kontrolliert und überprüfbar sein, aber wir erhofften uns ebenso einen großen Gewinn durch die Analyse von Einzelfällen gerade im interdisziplinären Gespräch. Dies führte zu einem multidisziplinären Ansatz, der qualitative und quantitative Forschungsstrategien verbinden sollte. Ein gedachter Adressat für unsere Forschung war nicht zuletzt die Binnenkultur der psychoanalytischen Fachgesellschaften und der psychotherapeutischen Alltagspraxis. Wir entwickelten die Hoffnung, durch Realisierung eines psychoanalytisch inspirierten empirischen und interdisziplinären Projekts zu Auswirkungen zeitgeschichtlicher Erfahrungen auf die psychische Struktur von Menschen mit dazu beizutragen, die ahistorische Konzeption von Unbewusstheit in der Psychoanalyse um zeitgebundene psychomentale Strukturen und Verfasstheiten zu erweitern.3 3 Die Geschichte der psychoanalytischen Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und den durch den Nationalsozialismus angerichteten psychomentalen Verwerfungen und Beschädigungen bedarf noch einer umfassenden Aufarbeitung. In der Nachfolge des 1967 erschienenen Buches von Alexander und Margarete Mitscherlich zur deutschen Unfähigkeit zu trauern hätte sich aus heutiger Sicht vor allem für den explizit über die traumatische Neurose arbeitenden Alfred Lorenzer (zum Beispiel 1966) angeboten, in seiner späteren Theorie der desymbolisierten

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Die Struktur des Projekts und die interdisziplinäre Zusammenarbeit

Durch die umfassenden Vorarbeiten von Malte Thießen zur Geschichte der Erinnerungskultur des Zweiten Weltkriegs in Hamburg (2007) und seine Mitarbeit bei dem Projekt ergab sich eine Perspektivöffnung zur Tradierungsgeschichte und zur Geschichte des öffentlichen Gedenkens in Hamburg: In unserem Forschungsansatz verwarfen wir alle Überlegungen nach einem breiteren Ansatz zur generellen Erforschung von Kriegstraumatisierung und ihren Folgen, sondern lokalisierten das Erleben von Krieg zeitlich und räumlich auf das Ereignis des »Hamburger Feuersturms« und brachten schon allein dadurch eine historisch fassbare Dimension ein: Der Bezug auf ein einzelnes lokales Kriegsereignis macht es möglich, auch die allgemeine Erinnerungsgeschichte vor Ort und das kulturelle Gedächtnis der Stadt in die Analyse individueller Verarbeitungsmodi einzubeziehen. Schließlich bestand eins unserer Anliegen darin, die Berichte der Zeitzeugen zu sammeln und in der Werkstatt der Erinnerung in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte zu archivieren. Damit wollten wir unter anderem einen »Beitrag gegen das Vergessen« leisten, weil wir uns auch bewusst waren, dass zumindest die älteren der Zeitzeugen absehbar dem Ende ihres Lebens entgegengingen und nicht mehr lange für das persönliche Gespräch zur Verfügung stehen würden, so dass die unmittelbare persönliche Darstellung des Kriegserlebens verloren gehen wird. Zusammengefasst ergaben sich folgende zentrale Gesichtspunkte für die gesamte Gestaltung der Untersuchungen: –– Interdisziplinarität, –– Multiperspektivität, –– ein generationaler Ansatz, –– ein weiter Begriff von Transgenerationalität, –– ein empirischer Ansatz, –– qualitative und quantitative Untersuchungen, –– ein lokaler Bezug –– und die Archivierung. Förderung: Das Vorhaben stieß auf eine großzügige und ermutigende Bereitschaft von Institutionen und Stiftungen zur Förderung. Es wurde wesentlich von der Gerda-Henkel-Stiftung in Düsseldorf und der Köhler-Stiftung in Essen, von der Werner-­OttoInteraktionsformen diese Beschädigungen zu beschreiben und theoretisch einzuholen. Im Jahr 1979 formulierte Rosenkötter: »Triebschicksale und Identitätskrisen der [von ihm beschriebenen U. L.] Patienten erscheinen als historisch strukturiert« (1979, S. 1024). Leider etwas versteckt in einem thematisch anders benannten Sammelwerk von Aufsätzen schreiben Küchenhoff und Warsitz: »Die Wissenschaften von der Seele, die […] in Distanz zur äußeren Realität nur innerseelische Befindlichkeiten betrachten, überantworten sich selber einer gesellschaftlich disponiblen Fungibilität« (1992, S. 127). Im deutschen Sprachraum hat später Hartmut Radebold (2000) die »Vaterlosigkeit« der Kriegskinder als übergreifendes biographisches Merkmal der Kriegskindergeneration konkret als Kriegsfolge beschrieben. Werner Bohleber (1997, 2000) plädiert immer wieder nachdrücklich dafür, zeitgeschichtliche Prozesse in die Deutungspraxis der psychoanalytischen Arbeit einzubeziehen.

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Stiftung in Hamburg sowie vom Forschungsfond der International Psychoanalytical Association (IPA) gefördert.

Fragestellungen und Perspektiven Rasch war uns bewusst, dass angesichts der Komplexität der Fragen, die uns beschäftigten, die Entwicklung einer dezidierten Forschungsstrategie notwendig sein würde. Auch methodische Fragen sollten so weit als möglich im Vorfeld bereits geklärt sein. Klar war, dass es um das Problem gehen würde, wissenschaftliche Aussagen aus der Aggregation von Einzelfällen zu generieren, die wir ausführlich und ausgedehnt untersuchen wollten. Damit war absehbar, dass die entstehenden Daten äußert komplex sein würden. In diesem Zusammenhang wird der »Typbegriff« interessant, ein »gedankliches Instrument ersten Ranges«, das erlaubt, Komplexität wirksam zu reduzieren und sich als Grundfigur für eine qualitative Diagnostik anbietet (Frommer, 2000). So fokussierten wir unsere zentrale Fragestellung mit Hilfe des »Typbegiffs« auf das Vorhaben, am Beispiel des »Hamburger Feuersturms« eine Typologie der langfristigen Folgen und der transgenerationalen Weitergabe traumatischer Kriegserfahrungen in Kindheit und Jugend auf einer empirischen Grundlage zu entwickeln. Unter dieser zentralen Fragestellung wurden weitere differenzierende Fragestellungen ausgearbeitet, erste Annahmen formuliert und alles unter drei Perspektiven strukturiert: 1. der langfristigen, individuellen Verarbeitung des »Hamburger Feuersturms«, 2. der familiären, transgenerationalen Verarbeitung und Tradierung sowie 3. der gesellschaftlichen Perspektive. Im Einzelnen wurden folgende Fragen unter diesen drei Perspektiven bearbeitet: Langfristige individuelle Verarbeitung des Erlebens im »Feuersturm« –– Wie wurden die Kriegs- und Bombardierungserlebnisse des »Feuersturms« individuell verarbeitet? –– Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitungsweise aufzeigen, »Typen« individueller Verarbeitung klassifizieren? –– Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen verbunden? –– Gibt es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« und der psychischen Befindlichkeit heute? Familiäre Verarbeitung und transgenerationale Übertragung –– Wie lässt sich die familiäre Verarbeitungsweise, der familiäre Umgang mit diesen Kriegserlebnissen beschreiben? –– Lassen sich bestimmte Muster dieser familiären Verarbeitungsweise aufzeigen, »Typen« familiärer Verarbeitung klassifizieren? Lässt sich die theoretische Vermutung transgenerationaler Weitergabe empirisch belegen?

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Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und historische Erfahrungsaufschichtung –– Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? –– Lassen sich Bezüge herstellen zwischen individuellen und familiären Verarbeitungen einerseits und öffentlichen Deutungsangeboten andererseits? –– Welchen Gebrauch machten die Erzähler von den historischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Nachkriegsdeutschland für die Wiedererlangung von Stabilität und einer Zukunftsperspektive boten? Das Konzept der »familiären Weitergabe« umfasst sowohl Fragen nach einer unbewussten Transmission traumatischer Erfahrung, nach Prozessen der bewussten familiären Tradierung wie auch nach den Prozessen der kulturellen Gedächtnisbildung und ihrer wechselseitigen Interferenz. Aus psychoanalytischer Perspektive interessiert besonders die innere Beziehung der Kinder und Enkel zur Erlebensperson, dem Zeitzeugen. Grundsätzlich entschieden wir uns, in dem Projekt zunächst jede Generation »für sich« zu untersuchen und erst in einem zweiten Schritt die Bezüge zwischen den Generationen in den Blick zu nehmen.

Datenerhebung und -auswertung im Gesamtprojekt Methode Das »Hamburger Abendblatt« hatte am 4. Februar 2003 mit Blick auf den zu erwartenden 60. Jahrestag der »Operation Gomorrha« dazu aufgerufen, unter dem Stichwort »Bombennächte« Berichte über persönliche Erlebnisse einzusenden. Circa 150 Zuschriften von Zeitzeugen gingen in der Redaktion ein und wurden dann in einer Artikelserie »Hamburg im Feuersturm« zum Teil in Auszügen abgedruckt. Sie erschien von Mitte bis Ende Juli 2003 in zehn Teilen. Das eingesandte Material war der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg zur Archivierung übergeben worden. Es handelte sich um allgemeine Zuschriften, persönliche Berichte und auch persönliche Dokumente aus dieser Zeit (vgl. Apel, 2007). Soweit es sich bei den Einsendern bei einer Durchsicht dieses Materials um Überlebende des »Feuersturms« zu handeln schien, wurden diese Zeitzeugen während der Entstehungsphase des Projekts im Frühjahr 2005 kontaktiert. Die Resonanz war überwältigend. Die Zeitzeugen schienen unter einem großen »Erzähldruck« zu stehen. Nur wenige Tage nach Zusendung unserer Anfrage erhielten wir von insgesamt 75 versandten Anfragen über siebzig (!) Rücksendungen mit zustimmenden Antworten und einer Bereitschaftserklärung zum Interview. Von diesen Probanden haben 66 den »Hamburger Feuersturm« persönlich erlebt. Insgesamt ließen sich 64 Interviews mit 34 Frauen und 30 Männern realisieren. Sie waren zum Erlebenszeitpunkt zwischen drei und 27 Jahre alt. Das durchschnittliche Alter zum Zeitpunkt der Befragung betrug 75 Jahre (66 bis 91 Jahre). 85 Prozent der Befragten hatten mindestens ein Kind, durchschnittlich hatte jede Familie zwei Kinder.

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Auch die Angaben zu Schulabschluss und Berufsabschluss zeigen ein generationstypisches Profil: Schulabschluss: 39 Prozent Haupt-/Volksschule, 53 Prozent Realschule/ Mittlere Reife, 15 Prozent (Fach-)Abitur. Berufsabschluss: 58 Prozent Lehre, 75 Prozent Meister, 13 Prozent (Fach-)Hochschulabschluss, 6 Prozent kein Abschluss. Für die Datenerhebung konnten wir rasch eine interdisziplinär tragfähige Methode entwickeln. Das Vorgehen bei der »Oral History« und das im psychoanalytischen Forschungsinterview erwiesen sich beide gemeinsam als anschlussfähig. Zehn Psychoanalytiker4 der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Hamburg am Michael-Balint-Institut stellten sich mit großem Interesse und Engagement als Interviewer zur Verfügung. Die zentrale Methode waren auf Tonband oder Video aufgezeichnete und transkribierte5 lebensgeschichtliche Forschungsinterviews von Psychoanalytikern. Um die Hemmschwelle für die Befragten nicht zu groß werden zu lassen und die Interviewer nicht zu sehr unter Druck zu setzen, war bei den Einzelinterviews eine Tonbandaufzeichnung und keine Videoaufzeichnung vorgesehen. Die später durchgeführten Familieninterviews wurden dagegen auf Video aufgezeichnet. Die Historiker hatten nichts dagegen, zusätzlich psychometrische Fragebögen einzusetzen, und reagierten auf diese mit skeptischer Neugier. Um historisch wichtige Aspekte nicht zu übersehen, sahen wir Zweituntersuchungen durch die Historiker vor. Bei den im weiteren Auswertungsverfahren als paradigmatische Fälle bezeichneten Interviews wurde der Betreffende noch einmal durch einen Historiker des Projekts6 interviewt; auch diese Interviews wurden transkribiert und gingen in die weiteren Auswertungen ein. Die Interviews wurden nach persönlicher Kontaktaufnahme durch die Interviewer entweder bei dem Befragten zu Hause oder in der Praxis des Interviewers durchgeführt. Dazu wurde ein semistrukturierter und kommentierter Interviewleitfaden von der Forschungsgruppe erarbeitet. Hier ging es nicht nur um das Erleben des »Hamburger Feuersturms« und die Biographie, sondern, für Psychoanalytiker ungewohnt, auch um Fragen der Erinnerung an öffentliches Gedenken, das Familiengedächtnis, die Reflexion von schulischen und außerschulischen Bildungs-, Lektüre- und Kommunikationserfahrungen. Auch nach politischen Einstellungen wurde gefragt. Es blieb den Interviewern überlassen, wie sie die Interviews im Einzelnen gestalteten. Der Interviewleitfaden ist im Anhang (Materialien, Anhang 1) dargestellt.

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Sabine Börsch, Sabine Cassel-Bähr, Antje Haag, Paul Keibel, Brigitte Niemann, Birgitta Rüth-Behr, Ursula Sassenberg, Angelika Steiner, Ulrich Stuhr, Ulrich Wirth. Weitere Interviews wurden von Ulrich Lamparter, Miriam Haagen, Christa Holstein und Birgit Möller geführt. 5 Frau Maria Akingunsade hat ganz allein in nicht nachlassender Zuverlässigkeit circa 120 Interviews transkribiert und sich ganz allein diesen ja oft hoch belastenden Erzählungen ausgesetzt. Mit der gleichen Zuverlässigkeit führte der Soziologie Dr. Stefan Nickel die statistischen Berechnungen im Projekt durch und war immer mit Rat und Tat zur Stelle. 6 Linde Apel, Malte Thießen, Dorothee Wierling.

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Die »Nacherzählend gedeutete Verarbeitungsgeschichte« Für die Auswertung der Interviews konnten wir methodische Ansätze aus dem »Hamburger Gesunden-Projekt« nutzen, das an der Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf durchgeführt wurde (Deneke et al., 1987; Stuhr et al., 2001; Lamparter et al., 2005). Es hatte unter der Leitfrage »Wer ist gesund, wer bleibt es?« ähnlich komplexe Forschungsfragen verfolgt. In dieser Arbeitsgruppe hatte Friedrich-Wilhelm Deneke die »Nacherzählend gedeutete« Fallgeschichte eingebracht. Ausgangspunkt waren Überlegungen, die subjektive Repräsentation des Erlebens in den Vordergrund der Datenerhebungen zu stellen: Es wird dann nicht in erster Linie etwa im Sinne einer Life-Event-Forschung oder eines biographischen Ansatzes erhoben, was ein Proband in seinem Leben bisher erlebt hat. Vielmehr wird in einer biographischen Fallgeschichte vor allem aus einer das Erleben des Probanden nachvollziehenden Perspektive in einem ersten Schritt beschrieben, wie dieser seine lebensgeschichtlichen Erfahrungen psychisch organisiert hat, und in einem zweiten Schritt dann, wie sich diese gebildeten Strukturen wiederum für die Repräsentation seines weiteren Erlebens im Fortgang seiner Biographie ausgewirkt haben. So wird durch die Anfertigung einer solchen »Nacherzählend gedeuteten« Fallgeschichte der Sprung von der Ebene äußerer Faktizität auf die Ebene innerer, seelischer Repräsentation methodisch bewältigt. Gleichzeitig wird damit perspektivisch ein Anschluss an die Gedächtnisforschung möglich. Deneke (1993) schlägt eine Brücke zur neurobiologischen Fundierung des Erlebens und der Gedächtnisfunktion, indem er auf den vom Kliniker oder Forscher in der Einzelfallanalyse nachzuvollziehenden Zusammenhang zwischen subjektiver Erfahrung und psychischer Strukturbildung als Organisationsprozess des Selbst im Gehirn verweist. Zwanglos wird bei einer solchen Konzeption möglich, einerseits die das Erleben grundsätzlich strukturierenden zeitgeschichtlichen Prozesse in eine Fallgeschichte aufzunehmen und andererseits genau die Auswirkungen des »Feuersturms« im biographischen Verlauf zu beschreiben. Ein Beispiel für das Wechselspiel zwischen zeitgeschichtlichen Einflüssen auf die Erfahrungswelt, den strukturbildenden Prozessen und der erneuten Erfahrungsbildung: Für einige unserer Zeitzeugen waren die Erfahrungen in der Hitlerjugend prägend. Sie konnten dort viel Spannendes erleben, altersgemäßen Stolz entwickeln, sich aus dem »kleinbürgerlichen Mief« befreien. Ihre Neugier und ihr technisches Interesse wurden geweckt. Gleichzeitig wurden sie zur Härte gegen sich selbst und andere angehalten und Mitempfinden für Schwache und Empathie für andere wurden getilgt. Sie wurden dazu erzogen, die eigene Innenwelt nicht so wichtig zu nehmen, sondern zu funktionieren, bedingungslos ihren Auftrag und ihre Pflicht zu erfüllen, und es bildeten sich die entsprechenden psychischen Strukturen aus. Durch das Erleben des »Feuersturms« kam es zu einer massiven Erschütterung dieser Strukturen, durch die Niederlage Deutschlands zu einer narzisstischen Krise. Es waren nun umfassende Anpassungen erforderlich, die jedoch auf die zeitgeschichtlich »eingeimpften« Strukturen der Erlebnisverarbeitung

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zurückgreifen mussten. Diese waren zum Teil hilfreich, weil sie eine gewisse »Härte« mit sich gebracht hatten, auf der anderen Seite führten sie auch zu einer inneren Desorientierung und einer sich immer mehr verfestigenden Abwehr, die wiederum zu neuen Problemen führte, etwa in der persönlichen Beziehungsgestaltung. Diese sich gegenseitig bedingenden und im Einzelfall sich unterschiedlich ausprägenden Wechselbeziehungen von Struktur und Erleben gilt es methodisch zu fassen. In der »Nacherzählend gedeuteten Verarbeitungsgeschichte« (NageVe) schildert der Interviewer aus der eingefühlten oder rekonstruierten Binnenperspektive des Befragten: –– dessen im Lebensvollzug beim Wechselspiel von biographischer Erfahrung und psychischer Strukturbildung entstandene »innere Situation« zum Zeitpunkt des »Hamburger Feuersturms«, –– das Erleben des »Hamburger Feuersturms«, dessen »erste Verarbeitung«, insbesondere die sich daraus ableitende weitere psychische Strukturbildung –– und wie diese »Verarbeitung« im weiteren Lebensverlauf durch das fortlaufende Wechselspiel von Erfahrung und Strukturbildung sich weiter ausgeprägt hat beziehungsweise als strukturelle Prägung selbst erfahrungsbestimmend war. Folgende Gliederung der »Nacherzählend gedeuteten Verarbeitungsgeschichte« wurde dabei vorgeschlagen: –– Charakteristik des Interviews, affektive Wirkung auf den Interviewer, Beziehungsgeschehen, –– biographischer Hintergrund, –– zentrale Selbst- und Objektrepräsentanzen, –– innere Situation zum Zeitpunkt des »Feuersturms«, –– Erleben des »Feuersturms«: •• Was und wie hat der Zeitzeuge den Angriff erlebt? –– erste Verarbeitung: •• Gab es frühe Folgen für die psychische Strukturbildung? –– mittelfristige Verarbeitung (zum Beispiel nach Kriegsende), –– weitere Lebensentwicklung, –– heutige Verarbeitung, –– Krankheitsfolgen aus subjektiver Sicht, –– individuelle Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, –– Einbettung in das Zeitgeschehen, –– Generativität und die Weitergabe der Kriegserfahrungen, –– Rolle des öffentlichen Gedenkens.

Typen der Verarbeitung und Bestimmung paradigmatischer Interviews Für die weitere Auswertung orientierten wir uns entsprechend dem Vorbild des »Hamburger Gesunden-Projekts« an der »Verstehenden Typenbildung« von Uta Gerhardt

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(1995), die für die Zwecke der Untersuchung modifiziert worden war (Stuhr et al., 2001). Diese zu Anfang des Projekts entwickelten methodischen Schritte konnten die Forschungsgruppe und im weiteren Forschungsprozess die Projektmitarbeiter Malte Thießen als Historiker und Birgit Möller als klinische Psychologin nutzen und weiterentwickeln. Die Methode der Auswertung ließ sich auch bei den Interviews der folgenden Generationen anwenden. Nach Abschluss der Interviewphase kamen die beteiligten Untersucher und die Forschungsgruppe insgesamt zu ersten Diskussionen des Fallmaterials zusammen. Danach wurde anhand der Interviewtranskripte von den Projektmitarbeitern Birgit Möller und Malte Thießen mit einer intensiven Auswertung begonnen. Sie erarbeiteten eine phänomenologische Typologie der Verarbeitung des »Feuersturm«-Erlebnisses in der »Erlebensgeneration« und beschrieben 13 unterschiedliche Verarbeitungstypen. Auf dieser Grundlage definierte die Forschungsgruppe insgesamt neun paradigmatische Fälle. Der leitende Grundgedanke dabei war: Welche Einzelfälle sind geeignet, als ausgewählte Personen die Gesamtheit der untersuchten Fälle so zu repräsentieren, dass die Beobachtungsvielfalt – bezogen auf alle untersuchten Probanden – nicht über Gebühr reduziert wird und prägnante Beobachtungen und Befunde festgehalten werden, die für die Erfassung der Verarbeitungsgeschichte der Probanden relevant erscheinen (vgl. den Beitrag von Birgit Möller und Ulrich Lamparter in diesem Band). Dazu wurden Karteikarten mit Kurzcharakteristiken der Probanden getrennt nach Geschlecht und ansteigendem Alter auf einem langen Tisch ausgelegt und die paradigmatischen Fälle Fall für Fall ausgesucht. Im weiteren Vorgehen wurde jeder dieser Fälle anhand des Transkripts ausführlich in der Gruppe diskutiert. Die Ergebnisse dieser Diskussion einbeziehend wurde von einem der Historiker der Forschungsgruppe ein Zweitinterview mit dem jeweiligen Zeitzeugen durchgeführt, um offen gebliebene Punkte zu klären und methodisch die Interdisziplinarität sicherzustellen. Erneut kam die Forschungsgruppe zusammen. Für jeden der paradigmatischen Fälle wurden in gemeinsamer Diskussion die Forschungsfragestellungen beantwortet. Die Antworten wurden für jeden Fall gesondert schriftlich dokumentiert. In weiteren Auswertungssitzungen formulierte die Projektgruppe Antworten auf die Forschungsfragestellungen für die »Erlebensgeneration« in einer Zusammenschau der paradigmatischen Fälle. Die Antworten wurden schriftlich im Konsens niedergelegt. Tabelle 1 fasst die methodischen Schritte in einer Übersicht zusammen. Tabelle 1: Methodische Schritte bei der qualitativen Untersuchung der Zeitzeugen­generation Semistrukturiertes Interview

Psychoanalytiker/-therapeut

Transkript »Nacherzählend gedeutete Verarbeitungsgeschichte«

Psychoanalytiker/-therapeut

Erste Sitzungen zur Interpretation

Interdisziplinäre Forschungsgruppe

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Fallkondensation und Fallamplifikation

Historiker/Psychotherapeutin

Phänomenologische Typenbildung

Historiker/Psychotherapeutin

Gruppendiskussion mit Bestimmung paradigmatischer Fälle

Interdisziplinäre Forschungsgruppe

Zweitinterview der paradigmatischen Fälle

Historiker

Gruppendiskussion der paradigmatischen Fälle mit Beantwortung der Forschungsfragen im Einzelfall

Interdisziplinäre Forschungsgruppe

Beantwortung der Forschungsfragen im Überblick über die paradigmatischen Fälle

Interdisziplinäre Forschungsgruppe

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Quantitative Verfahren Zunächst erhoben wir in einem sogenannten »Kriegskind-Modul« Daten zur persönlichen Betroffenheit im »Hamburger Feuersturm« und Angaben zum subjektiven Einfluss der Kriegserlebnisse auf die Erziehung der eigenen Kinder. Weiterhin setzten wir eingeführte Fragebogeninstrumente zur Erfassung des gegenwärtigen Gesundheitszustandes, von Depressivität und Angst, ein. Als Instrument zur Erfassung einer posttraumatischen Belastungsstörung wurde die deutsche Fassung (Ehlers, Steil, Winter u. Foa, 1996) der »Posttraumatic Stress Diagnostic Scale« (PDS-1, Foa, Cashman, Jaycox u. Perry, 1997) verwendet. Zudem erfolgte die Erfassung der Familiendynamik (Family Assessment Device: FAD, deutsch Familienbögen: FB, siehe Cierpka u. Frevert, 1994), eine Erfassung der mehrgenerationalen Familiendynamik (Parental Bonding Instruments: PBI, siehe Parker, Tupling u. Brown, 1979) mit der Messung der Dimensionen »Fürsorge« und »Kontrolle« der Elterngeneration gegenüber der Kindergeneration. Diese Fragebögen wurden durch selbst formulierte Items ergänzt, die aus der Kriegserfahrung erwachsene Prinzipien der Erziehung erfassen sollten und das »Kriegskind-Modul« ergänzten. Die Fragebogenuntersuchungen wurden grundsätzlich vor dem Interview durchgeführt. Die quantitativen Ergebnisse der »Erlebensgeneration« werden in dem Beitrag von Ulrich Lamparter, Valeska Buder, Véronique Sydow, Stefan Nickel und Silke WiegandGrefe dargestellt, die Ergebnisse in der zweiten Generation in dem Beitrag von Philipp von Issendorff und die Ergebnisse zu den familiären Dimensionen in dem Beitrag von Lydia Morgenstern et al.

Zusammenführung qualitativer und quantitativer Daten Bereits in der Entstehungsphase des Projekts stellten wir uns eine Zusammenführung der qualitativen und der quantitativen Daten mittels statistischer multivariater Verfahren vor, ohne dazu aber bereits einen genauen Forschungsplan zu haben. Im

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Die Struktur des Projekts und die interdisziplinäre Zusammenarbeit

Laufe des Forschungsprozesses haben wir dann eine Quantifizierung der Interviewdaten vorgenommen, indem ein sogenanntes Tableau diagnostischer Urteile angelegt wurde. Dieses Tableau ließ sich als Einschätzinstrument für alle Zeitzeugeninterviews verwenden. Die dabei entstehende Zahlenmatrix kann mit multivariaten Verfahren (Faktorenanalyse) analysiert werden. Darauf aufbauend lassen sich Skalen bilden, die mit sich selbst, aber auch mit den Ergebnissen der Fragebögen oder anderen Einschätzbefunden aus dem Projekt korreliert werden können. Das methodische Vorgehen und die dabei gefundenen ersten Ergebnisse werden in dem Beitrag von Nicole Drost und Ulrich Lamparter dargestellt.

Psycholinguistische Auswertung der Zeitzeugeninterviews Eine zunächst in der Anlage des Projekts nicht vorgesehene, aber hochinteressante weitere Auswertungsmöglichkeit ergab sich durch die Mitarbeit von Erhard Mergen­thaler bei dem Projekt. Erhard Mergenthaler hat sich als Informatiker und Psychotherapieforscher über viele Jahre den inneren Gesetzmäßigkeiten des psychotherapeutischen Gesprächs gewidmet und diese unter psycholinguistischen Gesichtspunkten mit den Methoden der modernen Datenverarbeitung analysiert. Er hat typische Abfolgen charakteristischer Prozesse (deepen and provide, broaden and built) in psychotherapeutischen Stunden als sogenannten »therapeutischen Zyklus« (Therapeutic Cycle Model: TCM) beschrieben. Neben Maßen der allgemeinen Redeaktivität geht man dabei vom Affektgehalt der im Dialog vorgefallenen Wörter und von ihrem Abstraktionsgrad aus. Es zeigt sich beispielsweise: Wenn es in einer therapeutischen Stunde zu einer Orientierung auf Verstehen und Einsicht kommt, entspricht dies einer Phase im Stundendialog, in der einerseits überdurchschnittlich viele affekttragende Wörter und gleichzeitig überdurchschnittlich viele abstrahierende Begriffe verwendet werden. Eine solche Phase nennt Mergenthaler »Connecting«. Es erschien von großem Reiz, das von Mergenthaler entwickelte Verfahren einer psycholinguistischen Textanalyse auf die Transkripte der Zeitzeugeninterviews anzuwenden und dabei folgende Gesichtspunkte zu verfolgen: –– zusammenfassende Darstellung der psycholinguistischen Muster der Zeitzeugen, –– Vergleich psycholinguistischer Muster der »Feuersturm-Erzählung« innerhalb der Zeitzeugen, –– Vergleich psycholinguistischer Muster im Verlauf eines Interviews, –– Detektion und Analyse von Änderungen im Sprechen der Interviewpartner, –– Untersuchung der Frage, inwieweit eine gesunde und nicht pathologische Regulation möglich ist, –– Überprüfung der kongruierenden Validität mit anderen Befunden (psychometrische Befunde, Tableau diagnostischer Urteile). Der Beitrag von Erhard Mergenthaler, Nicole Drost und Ulrich Lamparter schildert die ersten Ergebnisse dieser Untersuchungen.

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Die Erhebungen in der zweiten Generation Die Angehörigen der zweiten Generation wurden mit einem analogen Vorgehen wie die Zeitzeugen untersucht. Wir entschieden uns, dass nach Möglichkeit derjenige Interviewer, der schon mit dem Zeitzeugen gesprochen hatte, auch die weiteren Familienangehörigen interviewen sollte. Der Interviewleitfaden wurde an die Fragestellungen in der zweiten Generation angepasst. Anders als bei den Zeitzeugen, die unter großem Erzähldruck standen, ergab sich hier die Grundsituation, dass wir nach der Bearbeitung der Fragebögen von uns aus Interesse an einem Kontakt und Interview hatten, so dass erhebliche Arbeit und Hartnäckigkeit nötig waren, die Kinder für ein Interview zu gewinnen, sofern diese überhaupt erreichbar nah wohnten. Die Arbeit der Fallkondensierung und Fallamplifikation der Interviews wurde von Christa Holstein und Dorothea Mester geleistet. Sie stellten eine kategoriale Übersicht über die Untersuchungsgruppe her. Darauf aufbauend wurden auch in der Generation der Kinder paradigmatische Fälle bestimmt und die Forschungsfragen generationsbezogen beantwortet. Die Ergebnisse werden im Einzelnen in dem Beitrag von Christa Holstein und Ulrich Lamparter geschildert. Die quantitativen Fragebogenuntersuchungen konnten auch mit Kindern der Zeitzeugen durchgeführt werden, die nicht in Hamburg und Umgebung wohnten. Philipp von Issendorff gelang es, eine erfreulich große Anzahl an Angehörigen der zweiten Generation zur Teilnahme an der Fragebogenuntersuchung zu bewegen. Im Fokus seiner Erhebungen stand die Frage, ob sich in der zweiten Generation psychometrisch im Vergleich zu Stichproben aus der Normalpopulation ein höheres Ausmaß an Depressivität und Angst nachweisen lasse. Weiter wurde untersucht, ob ein höheres Ausmaß an möglicher Traumatisierung im »Hamburger Feuersturm« bei den Zeitzeugen mit höheren Angst- und Depressionswerten bei ihren Kindern einhergehe. Zur Erhebung der Angst- und Depressionsparameter wurden dieselben Instrumente wie in der »Erlebensgeneration« eingesetzt. Die Ergebnisse werden im Einzelnen in dem Beitrag von Phillipp von Issendorff beschrieben.

Analyse der Transmissionsmuster zwischen der ersten und zweiten Generation Die erste Analyse der Transmissionsmuster zwischen den Generationen war wiederum qualitativ angelegt. Sie ging von den paradigmatischen Fällen in beiden Generationen aus, deren jeweilige Kinder beziehungsweise Eltern (Zeitzeugen) in die Auswertung einbezogen wurden. Aus diesen Interviews wurden mittels des Textanalyseprogramms »MaxQDa« umschriebene Textpassagen identifiziert, in denen Folgen des »Feuersturms« thematisiert wurden. Diese wurden jeweils pro Eltern-Kind-Paar einander gegenübergestellt. Diese fallbezogenen Gegenüberstellungen der Generationen machten das Beziehungsgeschehen sichtbarer und führten zu ersten Formulierungen zu den

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transgenerationalen Austauschprozessen. Diese Befunde werden in dem Beitrag von Ulrich Lamparter und Christa Holstein dargestellt.

Erhebungen an der dritten Generation In der dritten Generation, also der Generation der Enkel, kam es zu einer weiteren Verminderung der Probandenzahl. Zum Teil waren die Enkel noch zu jung, um interviewt werden zu können, zum Teil gab es hier noch größere Schwierigkeiten, das Anliegen des Projekts zu vermitteln und Angehörige der Enkelgeneration für ein Interview zu gewinnen. Dennoch kamen sehr interessante Interviews zustande, die mit einem analogen Vorgehen wie in der Erlebens- und Kindergeneration ausgewertet wurden. Die dabei gefundene Typenlösung wird in dem Beitrag von Hella Hofer und Silke Wiegand-Grefe dargestellt. Es folgt die Untersuchung transgenerationaler Beziehungen in Zeitzeugenfamilien anhand von Genogrammen durch Amelie Meyer-Madaus und Silke Wiegand-Grefe. Der Beitrag von Lydia Morgenstern et al. berichtet von den quantitativen Befunden aus den familienbezogenen Fragebögen und bildet den Abschluss der Betrachtung der dritten Generation.

Erfahrungen im Projekt und Überlegungen zur Ertragsbildung Schon allein durch die Wahl der Untersuchungsgruppe verbot sich jeder Gedanke an eine Repräsentativität der Untersuchungsergebnisse. Wir waren eher interessiert am einzelnen Schicksal und der Möglichkeit, dieses näher zu verstehen, sowie daran, seine Weitergabe in diesen Familien zu studieren. Auch wenn wir ein breites Beobachtungsspektrum anstrebten, untersuchten wir nicht »die Opfer« des »Hamburger Feuersturms«. Denn insoweit diese nicht unmittelbar bei den Angriffen umgekommen sind, ist davon auszugehen, dass viele Überlebende der damaligen Angriffe mittlerweile verstorben sind. Man muss vermuten, dass die schon verstorbenen Überlebenden eher kränker waren als diejenigen, die heute noch leben und sich als Zeitzeugen auf einen Aufruf in einer Artikelserie in einer bürgerlichen Tageszeitung melden. Schon allein deshalb muss davon ausgegangen werden, dass sich in unserer Untersuchung die langfristig andauernden Krankheitsfolgen nicht in repräsentativer Weise gezeigt haben. Das einmalige biographische Forschungsinterview hat nur eine begrenzte »Eindringtiefe« für unbewusste Prozesse und Vorgänge. Abgespaltenes, Verdrängtes oder »Eingekapseltes« kommt in einem solchen Interview vielleicht nicht zur Sprache und entzieht sich, wenn auch nicht unbedingt der Wahrnehmung des Interviewers, so doch dem Transkript. Aber selbst bei großer Offenheit der Interviewer kommt es im Interview zu Abwehrreaktionen des Interviewers und einer Vermeidung der Wiederbelebung grauenvoller Erinnerungen.7 7 Hier findet sich in anderer Weise das Problem wieder, das in der »Luftkriegsdebatte« in der germanistischen Literaturkritik thematisiert worden ist. Ausgelöst durch einen 1997 gehaltenen

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In der interdisziplinären Zusammenarbeit ergaben sich grundsätzlich große Übereinstimmungen sowohl bei der Herangehensweise als auch bei den Überlegungen im Einzelfall. Eine methodische Differenz ergab sich bei der Gestaltung der Interviews. Die Historiker, der Tradition der »Oral History« verpflichtet, sahen ihre Hauptaufgabe im Interview darin, Erzählungen zu generieren. Sie hätten manches Mal ruhig weitergefragt. Die Psychoanalytiker gingen »konstruierender« vor, hatten mehr die interpersonalen Beziehungen und die Prozesse der psychischen Repräsentation und der Affekte im Fokus ihrer Aufmerksamkeit und bezogen das eigene Interviewerleben systematischer ein. Als weiterer Punkt einer interdisziplinären Differenz zeigte sich die Gedächtniskonzeption: Die Psychoanalytiker gingen hier von Speicherungsvorgängen in den verschiedenen expliziten und impliziten Gedächtnisformationen aus, während die Historiker eher die Geschichte der Erinnerung selbst und die Konstruktionen aus heutiger Sicht im Sinn hatten. Äußere Realität und innere Realität, Verarbeitung, traumatische Fixierung, psychische Abwehr, Ambivalenz (von den Psychoanalytikern eingebracht), biographische Sinnsuche, Gelegenheitsstruktur, soziokulturelles Gedächtnis einer Stadt (von den Historikern eingebracht) erwiesen sich als interdisziplinär gut handhabbare Begriffe, die den interdisziplinären Dialog ermöglichten. Immer wieder war es schwierig, für eine manchmal positive oder unkritische Haltung der Zeitzeugen gegenüber dem Nationalsozialismus und die zeittypische Prägung ihrer Mentalität eine angemessene, weder moralisierende noch pathologisierende Einstellung und Sprache zu finden. Zudem bringt die damalige, zeitgebundene Mentalität, die das »Funktionieren« in den Vordergrund stellt, und weniger die Wahrnehmung von Gefühlen und Empfindungen, den psychoanalytischen Untersucher schnell dazu, in ihr eine pathologische oder zumindest besondere Gefühlsabwehr zu sehen. Die Historiker wiesen hier immer wieder auf die allgemeine Verbreitung dieses psychomentalen Stils in der Allgemeinbevölkerung hin. Zur Frage der Verwicklung der Forscher in die eigene Geschichtlichkeit und zur damit verbundenen Frage der Objektivität zeigte sich in der konkreten Arbeit: Diese hingen weniger von der Professionszugehörigkeit ab als viel eher von der Persönlichkeits- und Abwehrkonstruktion des Einzelnen, aber auch von der Verwicklung der eigenen Familie in die Zeit des Nationalsozialismus und vom eigenen psychomentalen Erbe. So hatte jedes Mitglied der Forschungsgruppe seine eigene Akzentuierung und seine Schwerpunktsetzung in der Interpretation. Diese Phänomene erkannten wir als notwendig und geradezu zwangsläufig an; durch genaue Dokumentation der Auswertungsgespräche und durch immer wieder einsetzende Reflexionsphasen versuchten wir eventuellen grob verfälschenden Sichtweisen oder sich in der Forschungsgruppe entwickelnden gruppendynamisch bedingten Fehlinterpretationen vorzubeugen. ForschungssuperVortrag von W. G. Sebald (1999) an der Züricher Universität über »Luftkrieg und Literatur« wird kontrovers diskutiert, ob in den literarischen Schilderungen des Luftkriegs die unvorstellbare Schrecklichkeit der Erlebnisse überhaupt in Worte gefasst werden konnte.

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visionen durch Hartmut Radebold und Werner Bohleber waren hier wichtig, ebenso Beratungen durch Carl Nedelmann. Der ebenfalls über w2k zustande gekommene Kontakt mit der Münchner Arbeitsgruppe »Kriegskindheit« um Michael Ermann und Christa Müller half eine klarere Sicht auf uns selbst und unsere Methoden zu gewinnen und wirkte inspirierend. Ein systematischer Fehler bei der Arbeit mit derart belastendem Material kann durch die sich zwangläufig einstellende Forschungsroutine entstehen, die besonders das empathische Verstehen des Einzelfalls angreift. Dies ließ sich nicht immer vermeiden, aber auch hier versuchten wir nach Kräften gegenzusteuern und uns immer wieder auf die Problematik des Einzelfalls und seine Schilderungen neu und offen einzulassen. Das Projekt stieß auf das Interesse verschiedener Medien. Es wurde insbesondere im Online-Wissenschaftsmagazin (L.I.S.A) der Gerda-Henkel-Stiftung ausführlich über das Projekt berichtet. Dazu drehten wir selbst im ersten Halbjahr 2009 Folgen zu verschiedenen Themen, die dann von einem professionellem Filmteam geschnitten und unter unserer Mitarbeit aufbereitet wurden. Einige dieser Folgen waren auch im ZDF zu sehen. Darüber hinaus wurde das Projekt in verschiedenen Zeitungen dargestellt. Es war uns wichtig, die Zeitzeugen und ihre Angehörigen über unsere Arbeit zu informieren. Daher wurde ein »Abend für die Zeitzeugen« durchgeführt, an dem wesentliche Ergebnisse der Untersuchungen vorgestellt wurden. Am 16. November 2011 wurden auf einer Abschlusstagung die Ergebnisse des Projekts mit eingeladenen Referenten und Gästen diskutiert. Insgesamt sind bei einem solch komplexen interdisziplinären und langjährigen Projekt die Schwierigkeiten in der praktischen Durchführung kaum zu unterschätzen. Ich nenne lebensgeschichtliche Veränderungen und unvermeidliche Krisen bei den einzelnen Forschern mit einer Verschiebung ihrer Interessen und Veränderungen ihrer Kapazitäten sowie nicht zuletzt Veränderungen der allgemeinen Rahmenbedingungen in den Institutionen. Vielleicht gibt es auch so etwas wie einen unterschiedlichen disziplinären wissenschaftlichen Stil. Historiker leben mehr vom Schreiben und ihre Formulierungskunst ist für Analytiker oft geradezu erstaunlich und nötigt Bewunderung ab. Die wissenschaftliche Belohnungspraxis in den Fachgebieten ist sehr unterschiedlich: In der Medizin gilt es, Arbeiten in möglichst hochrangigen englischsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften zu publizieren, bei den Historikern findet hingegen das einen neuen Ansatz verfolgende oder eine neue Quelle behandelnde Buch die größere Anerkennung.

Was wurde nicht erreicht? Zeitweilig dachten wir an eine Internationalisierung des Projekts und die Einwerbung von EU-Mitteln. Auch andere Städte haben im Zweiten Weltkrieg schwere Bombenangriffe erlebt und katastrophische Erfahrungen gemacht. Ein systematischer Vergleich wäre sicherlich lohnend. Dazu haben unsere Kräfte nicht gereicht. Wir sind in einer lokalen Hamburger Perspektive verblieben. Grundsätzlich würde sich die Herange-

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hensweise des Projekts für vergleichbare Projekte gut eignen. Insgesamt glauben wir in der Forschungsgruppe, ein auf vergleichbare Fragestellungen übertragbares Modell für die interdisziplinäre Forschung entwickelt zu haben.

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Dorothee Wierling

Das »Feuersturm«-Projekt Eine interdisziplinäre Erfahrung aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft

Wie die Forschungsstelle Teil des Projekts wurde Angefangen hat alles mit einer Initiative und Anfrage von Psychoanalytikern und Psychoanalytikerinnen aus dem Umkreis des Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) in Hamburg. Sie wandten sich im Jahre 2004 an die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), einer Einrichtung des Senats der Hansestadt, die sich der Geschichte des 20. Jahrhunderts und insbesondere der Zeit des Nationalsozialismus und dessen Folgen widmet. Für ihre Projektidee, die biographische und familiäre Verarbeitung des großen Bombenangriffs auf Hamburg im Sommer 1943, wollten sie mit Historikern kooperieren. Bei den ersten Kontakten stellte sich heraus, dass sich an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte nicht nur interessierte Historiker und Historikerinnen fanden, sondern auch ein Archivbestand, der im Folgenden die Grundlage für das Projekt bilden sollte: Es handelte sich dabei um die Namen, Briefe und Sachzeugnisse von 75 Hamburger und Hamburgerinnen, die im Jahre 2003 an einer Leseraktion der wichtigsten Tageszeitung in Hamburg, dem »Hamburger Abendblatt«, teilgenommen hatten. Die Zeitung hatte anlässlich der sechzigjährigen Wiederkehr des Bombenangriffs diejenigen unter ihrer Leserschaft, die den »Feuersturm«, wie der Angriff allgemein bezeichnet wurde, erlebt hatten, gebeten, sich mit ihren Erinnerungen an das schreckliche Ereignis genauer zu beschäftigen, dazu etwas aufzuschreiben oder sich für Gespräche zur Verfügung zu stellen. Im Anschluss an diese Aktion hatte das »Hamburger Abendblatt« die ihm zugesandten Materialien dem Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte zur Verfügung gestellt.1 Auf der Grundlage dieser günstigen Voraussetzungen wurde dann das Projekt entworfen, dessen Ergebnisse in diesem Band vorgestellt werden. Dass es sich um ein interdisziplinäres Projekt handeln sollte, gehörte von Beginn an zum Kern des Vorhabens. Dies schlug sich nicht nur in der Zusammensetzung der den Förderungsantrag stellenden Institutionen und Personen nieder, sondern auch darin, dass zwei Stiftungen mit unterschiedlichen disziplinären Schwerpunkten (die Gerda-Henkel-Stiftung und die Köhler-Stiftung) parallel kontaktiert wurden und von jeder Disziplin eine Person als Bearbeiter oder Bearbeiterin eingestellt wurde. Auch der Forschungsantrag 1

Archiv der FZH, Sign. 292–81 (WK II, Luftkrieg, Zeitzeugenberichte).

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Die Struktur des Projekts und die interdisziplinäre Zusammenarbeit

selbst wurde im interdisziplinären Gespräch entwickelt, wobei sich auch bald inhaltliche beziehungsweise methodische Unterschiede und Differenzen abzeichneten, die im weiteren Verlauf des Projekts immer wieder eine Rolle spielen sollten; darauf gehe ich weiter unten noch ein. Im Vordergrund aber standen das Interesse am Thema und die Neugier auf das interdisziplinäre Abenteuer sowie eine gewisse Euphorie, als der Antrag auf Forschungsförderung positiv beschieden wurde. Unser Hochgefühl beruhte jedoch zu einem großen Teil darauf, dass wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnten, worauf wir uns einließen.

Interdisziplinarität: Zauberformel und Praxis Interdisziplinarität ist in den letzten Jahren zu einer Art Zauberformel für die Erneuerung und Dynamisierung wissenschaftlicher Tätigkeit geworden. Interdisziplinäres Denken und Arbeiten gelten auf der einen Seite per se als etwas Gutes, so dass die Praxis der Forschungsförderung teilweise so eingerichtet ist, dass Interdisziplinarität belohnt wird. Interdisziplinär sind die großen Forschungsverbundprojekte an Universitäten, die sogenannten Sonderforschungsbereiche, die Graduiertenkollegs der »Deutschen Forschungsgemeinschaft« (DFG) und viele Institute für höhere Studien wie das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, das Max-Weber-Kolleg in Erfurt oder das »Kulturwissenschaftliche Institut« in Essen. Auf der anderen Seite erhöht die Tatsache, dass die Gutachtergremien der »Deutschen Forschungsgemeinschaft« ebenso wie die auswärtigen Gutachter streng disziplinär ausgerichtet sind, die Chancen für die positive Bewertung von interdisziplinären Forschungsanträgen eher nicht. Und im europäischen Forschungsförderprogramm, dem European Research Council (ERC) wurde das Sonderprogramm für interdisziplinär angelegte Projekte wieder eingestellt, vielleicht weil sich herausgestellt hatte, dass es als Abfalltonne für solche Projekte genutzt wurde, mit dem die disziplinbezogenen Gutachterpanels ihre eigenen Budgets nicht belasten wollten. Denn vieles, was als interdisziplinäre Praxis bezeichnet wird, stellt sich bei genauerem Hinsehen als Mogelpackung heraus. Auch an den interdisziplinären Einrichtungen wird in der Regel nebeneinander und nicht miteinander gearbeitet. Es geht dort allenfalls um den wechselseitigen Austausch zwischen den Disziplinen, um das interdisziplinäre Gespräch – was nicht kritisiert werden soll, aber doch etwas anderes darstellt als die hier gemeinte Interdisziplinarität, die in ihrem weitergehenden Sinn auf mehr abzielt: nämlich auf das disziplinüberschreitende Forschen, die Transdisziplinarität. Der Unterschied liegt darin, dass beim transdisziplinären Forschen die andere Disziplin nicht nur anerkannt und angehört, sondern auch angewendet wird – während man die eigene zur Verfügung (und gelegentlich zur Disposition) stellt.2 2 Die Begriffe Interdisziplinarität und Transdisziplinarität werden oft synonym gebraucht. Jedenfalls existiert keine verbindliche Definition, welche die Unterscheidung eindeutig machen würde. Mittlerweile gibt es eine Fülle von Publikationen, die sich mit den erkenntnistheoretischen ebenso

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D. Wierling · Das »Feuersturm«-Projekt

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Kein Zweifel, dass man dabei viel lernen kann – doch spätestens dann, wenn es um den Stellenmarkt und die eigene wissenschaftliche Karriere geht, rächt sich die interdisziplinäre und transdisziplinäre Anstrengung oft als reine Zeitverschwendung. Denn an den Universitäten sind die entsprechenden Angebote meist strikt nach Fächern und Abteilungen gegliedert, vor allem in den »klassischen« Disziplinen. Und so gilt es, möglichst schon bei der ersten Qualifikationsarbeit, der Promotion, deren Grenzen gerade nicht zu überschreiten und sich innerhalb dieser Grenzen als Kandidat oder Kandidatin zentral zu positionieren. Die damit aber nicht erledigte Forderung, interdisziplinär zu arbeiten, sogar zu denken, richtet sich auch an Historiker, die damit manchmal wenig anfangen können, zum einen, weil sie sich sowieso mit allem beschäftigen dürfen, solange es in irgendeiner Vergangenheit liegt; zum andern, weil die mit der Interdisziplinarität verbundene Reflexion von Methoden und Theorien die Sache der meisten Historiker nicht ist. Sie sind in der Regel sogar eher theoriefern und zeigen entsprechend geringe Neigung, sich mit den theoretischen Ansätzen anderer Wissenschaften herumzuquälen, ihre eigene Methode zu explizieren oder gar infrage stellen zu lassen; schließlich fühlen sich die meisten Historiker in ihrer Disziplin sehr wohl und können die Notwendigkeit interdisziplinären Arbeitens nicht recht einsehen. Bis heute versteht sich die Geschichtswissenschaft als eine auf dem Studium historischer Quellen beruhende, hermeneutisch vorgehende Geisteswissenschaft. Dennoch haben Historiker spätestens seit den 1960er Jahren ihr Methodenrepertoire deutlich erweitert; so wurden zum Beispiel sozialwissenschaftliche Methoden aufgenommen, Methoden der Ethnologie und der Literaturwissenschaften. Diese Methodenerweiterung scheint mir eine zwar notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Interdisziplinarität zu sein, solange es dabei lediglich darum geht, neue Forschungsmethoden zur Beantwortung alter Fragen als das zu nutzen, was in der Zunft die »Hilfswissenschaften« sind, womit in der Regel Spezialkenntnisse gemeint sind, wie beispielsweise die Numismatik oder die Statistik. Die methodische Öffnung war zum Teil durch neue Fragen notwendig geworden, stand also im Zusammenhang mit der Strukturgeschichte sowie mit neueren Ansätzen der Sozial-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte. Dabei blieb ein bestimmter Typus des Fragens für die Geschichtswissenschaft konstitutiv, nämlich die nach dem politischen, gesellschaftlichen und mentalen Wandel in der Zeit. Ebenso blieb die Geschichtswissenschaft bei der Antwortfindung auf die historische »Quelle« verwiesen, mit den daraus sich ableitenden Begrifflichkeiten und Analyseinstrumenten, der »Historischen Methode«, wie sie im 19. Jahrhundert von Johann Gustav Droysen systematisch entwickelt wurde (Droysen, 1875). Methoden von Nachbarwissenschaften für historische Fragestellungen zu nutzen ist aber etwas ganz anderes, als sich mit deren realen Vertretern und ihren – aus der Sicht von Historikern – unzureichenden oder unverständlichen Fragen auseinanderwie mit den praktischen Problemen interdisziplinären Denkens und Arbeitens auseinandersetzen – durchaus auch kritisch (Mittelstraß, 2003; Jungert, Romfeld, Sukopp u. Voigt, 2010).

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Die Struktur des Projekts und die interdisziplinäre Zusammenarbeit

zusetzen. Umgekehrt gilt natürlich dasselbe. Selbstverständlich können auch Historiker von Vorformen der Interdisziplinarität wie dem regelmäßigen disziplinären Austausch oder der Anwendung nützlicher Methoden aus anderen Disziplinen profitieren und sie nehmen solche Gelegenheiten auch wahr. Doch schon auf der Grundlage allgemeiner Erwägungen lässt sich – in Abwandlung von Karl Valentin – sagen: Interdisziplinarität ist lehrreich, macht aber viel Arbeit.

Geschichte und Psychoanalyse Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse erscheinen auf den ersten Blick als ideale Partner. Beide arbeiten auf der Grundlage der Erfahrungsaufschichtung, hier der gesellschaftlichen, dort der individuellen. Es geht hier wie dort um erzählte Zeitlichkeit. Beide lassen sich als geisteswissenschaftliche Disziplinen definieren, deren zentrale Kompetenz das Verstehen ist. Was der einen die schriftliche Quelle im Archiv, ist der anderen der Patient mit seinen Erinnerungen, Träumen und Phantasien. Empathiefähigkeit, das »Sich-hineinversetzen-Können«, sind beiden Mittel des Verstehens, zumindest soweit auch die Historiker einzelne oder kollektive Akteure im Visier haben, und nicht nur Institutionen oder Strukturen. Beide Wissenschaften schließlich bedienen sich zur Vermittlung ihrer Ergebnisse des Mittels der Erzählung, sei es als Krankengeschichte, sei es als individuelle oder kollektive Erfahrungsgeschichte, sei es als »objektive«, große Geschichte. Diese naheliegende Partnerschaft beschäftigt seit Jahrzehnten vor allem Historiker, wobei der 1971 erschienene Band von Hans-Ulrich Wehler als Beginn einer »modernen« Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse gelten kann – erstaunlich, weil gerade dieser Historiker von der Biographie und der Erzählung weg und hin zu einer Geschichte des strukturellen gesellschaftlichen Wandels kommen wollte. Die Psychoanalyse interessierte ihn im Rahmen einer breiter eingeforderten methodischen Erweiterung der altmodischen Hermeneutik, allerdings endete seine Abhandlung damit, das Potenzial der Psychoanalyse für die Geschichtswissenschaft als relativ gering zu erachten, und folgerichtig spielte sie für seine eigene Arbeit später keine Rolle mehr. Dennoch behielt die Psychoanalyse für Historiker einen beträchtlichen Reiz – allein bis zum Jahre 1998 wurden 270 deutschsprachige Veröffentlichungen gezählt (von Plato, 1998) und acht Jahre später hat der französische Geschichtstheoretiker Michel de Certeau seinen Klassiker »Histoire et psychanalyse entre science et fiction« (deutsch: »Theoretische Fiktionen«) aus dem Jahre 1987 noch einmal in neuer Überarbeitung veröffentlicht (de Certeau, 2006). Gegenüber dieser nun schon vierzig Jahre andauernden Obsession der Historiker in Bezug auf die Psychoanalyse ist deren Einfluss auf die geschichtswissenschaftliche Praxis ausgesprochen kümmerlich. Wie kann man diese Diskrepanz erklären? Die Geschichtswissenschaft hat wenig große theoretische Entwürfe und wenig innovative Methoden hervorgebracht. Ihre Wahrheitsansprüche sind begrenzt, ihre Aussagen beruhen mehr auf Plausibilität als auf objektiven Tatbeständen, wollen die Historiker

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nicht bloße Chronisten bleiben oder werden. Die Techniken der Quelleninterpretation wirken gegenüber sozialwissenschaftlichen Auswertungsverfahren eher bieder und wenig raffiniert – das Bedürfnis nach Anerkennung und Behauptung im Wettstreit der Disziplinen ist also verständlich. Die in die Psychoanalyse gesetzten Hoffnungen werden bei näherer Beschäftigung mit ihr freilich enttäuscht. Die meisten Historiker nehmen die Psychoanalyse auf drei Weisen wahr: Zum Ersten geschieht dies über die Popularisierung der Grundannahmen und Begriffe der Psychoanalyse, an denen sie als Bildungsbürger erheblichen Anteil haben. Die erstaunliche Karriere der Psychoanalyse bei der Eroberung unseres Alltagswissens mag von Psychoanalytikern selbst unter Umständen als Trivialisierung wahrgenommen werden, dennoch können sie mit Genugtuung feststellen, dass die Existenz des Unbewussten¸ familiärer Grundkonflikte und innerpsychischer Phänomene wie Verdrängung, Neurose und Trauma längst akzeptierte Fakten des Lebens geworden sind, die allerdings somit ihren skandalösen Charakter verloren haben. Auch die Historiker glauben, schon zu wissen, was Psychoanalyse ist, welchen Gebrauch sie von ihr machen können oder nicht machen wollen; jedenfalls operieren sie unbefangen mit psychoanalytischem Vokabular. Zum Zweiten konzentriert sich die wissenschaftlich-inhaltliche Aneignung der Psychoanalyse der Nichtspezialisten auf die Schriften Sigmund Freuds, woraus Historiker oft den Schluss ziehen, dass es sich hier um ein extrem dogmatisches, ahistorisches, biologistisches und spekulatives Unterfangen handle, mit dem sie wenig anfangen und gegen das sie leicht argumentieren könnten. Zum Dritten ist das Bild vieler Historiker vom Nutzen der Psychoanalyse für die Geschichte von dem geprägt, was seit den 1970er Jahren Psychohistorie genannt wird. Bei deren Protagonisten handelt es sich überwiegend um Psychoanalytiker, die historisch arbeiten, das heißt die historische Ereignisse auf ihre psychischen Folgen hin untersuchen, etwa die exemplarische Studie über Mangelund Verlusterfahrungen von Kindern im Ersten Weltkrieg (Loewenberg, 1971). Eine einflussreiche Variante der Psychohistorie benutzte die Geschichte aber auch, um die Gültigkeit der zentralen psychoanalytischen Annahmen über den psychischen Apparat für die unterschiedlichsten Epochen und die dabei durchlebten, zentralen psychischen Konflikte nachzuweisen, zum Beispiel den Ödipuskonflikt, und sie verknüpfte diese Strategie mit ahistorischen Annahmen über die menschliche Psyche und die Stufen individueller Entwicklung (DeMause, 1982). Ein solch statisches Menschenbild lud auch aufgeschlossene Historiker nicht zur Interdisziplinarität ein (Blasius, 1977). Ein großer Teil ihrer Beschäftigung mit der Psychoanalyse galt ohnehin weniger der Aneignung psychoanalytischer Theorien und Methoden als vielmehr deren Historisierung, also ihrer Verortung in kulturgeschichtlichen Epochen, sozialen Milieus und politischen Bewegungen. (Gay, 1988; Toews, 1991). Im Rahmen einer solchen »intellectual history« geht es aber nicht vorrangig um die damit verbundene Relativierung psychoanalytischen Wissens, sondern darüber hinaus um die Einbettung der Psychoanalyse in die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und der Moderne. Psychoanalyse ist hierbei Gegenstand der Forschung, nicht Partner zur Untersuchung einer gemeinsamen dritten Sache. Wenn Historiker von der Psychoanalyse für ihre Forschung Gebrauch machen,

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dann wird sie meist als wichtige Hilfswissenschaft von solchen akzeptiert, die biographisch arbeiten, an Mentalitätsgeschichte interessiert sind und dem historischen Subjekt auch Subjektivität zugestehen, die sie bis in eine Tiefe ergründen wollen, welche nur durch die Annahmen und Techniken der Psychoanalytiker erreicht werden kann.3 Das Projekt, dessen Ergebnisse wir in diesem Konferenzband vorstellen, knüpft an solche gemeinsamen Fragen und Interessen an. Es begann aber anders, nämlich damit, dass die Psychoanalytiker die Historik als Hilfswissenschaft in Anspruch nehmen wollten. Sie hofften, von uns etwas über die Ereignisse zu erfahren, über die ihre Interviewpartner sprechen würden. Die innere Welt des »Feuersturms« konnte aber nicht adäquat untersucht werden, so die Annahme, wenn das Verhältnis zwischen den Erzählungen und den damaligen Ereignissen im Ungewissen blieb. Hatte zum Beispiel der Mann, der berichtete, nach dem Bombenangriff auf einer Hamburger Straße einen Bison gesehen zu haben, über eine reale Erfahrung gesprochen? So lautete eine Frage, mit der die Psychoanalytiker ihre Erwartungen an uns Historiker beispielhaft formulierten. Unsere Antwort fiel vermutlich enttäuschend aus: Da auch der Tierpark Hagenbeck von den Bomben getroffen worden war und dabei Tiere ausgebrochen waren, war die Bison-Erscheinung durchaus möglich. Ob der Junge dem Bison aber real begegnet war oder ihn nur aufgrund von Erzählungen oder Phantasien gesehen zu haben glaubte, diese Frage konnten wir nicht beantworten. Denn auch die Historiker, zumal diejenigen, die für psychoanalytische Ansätze offen sind, interessieren sich für innerpsychische Prozesse, sehen in der subjektiven Deutung eine Wirklichkeitsebene, die in ihre Analyse eingeht und berücksichtigen neben unabweisbaren äußeren Geschehnissen nicht nur die praktischen, sondern auch die emotionalen Reaktionen der historischen Subjekte als Teil der Geschichte, die sie erforschen. Die Kooperation Geschichtswissenschaft–Psychoanalyse konnte nicht als arbeitsteilige: innen–außen, funktionieren. Die Sache würde komplizierter werden. Allerdings auch interessanter.

Erzählungen als Material Zunächst ging es um die Produktion des Materials, an dem wir gemeinsam arbeiten wollten. Es sollten Angehörige der sogenannten Erlebnisgeneration, und, soweit möglich, ihre Kinder und Enkelkinder interviewt werden. Aber was für ein Interview sollte das sein? Die Historiker plädierten für ein stark lebensgeschichtlich orientiertes Gespräch. Wir gingen aufgrund der Erfahrung der »Oral History« davon aus, dass die Bedeutung, die einem Ereignis im Interview gegeben wird – hier dem » Hamburger Feuersturm« –, sich nur aus dessen Vor- und Nachgeschichte erklärt, also aus den Erfahrungen, auf denen die neue Erfahrung aufbaut beziehungsweise an die sie anknüpft, und aus den danach gemachten Erfahrungen, die unter Umständen zu einer Bedeutungsveränderung des betreffenden Ereignisses geführt hatten (Wierling, 2003). 3 Siehe Dörr, 2010. Der Artikel führt in die komplexe Beziehung dieser Disziplinen und ihre Geschichte ein und enthält viele Hinweise auf weiterführende Literatur.

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Der lebensgeschichtliche Zugang sollte auch dazu dienen, die von uns ja zunächst nur unterstellte zentrale Bedeutung des »Feuersturms« im Leben der Betroffenen zu überprüfen. Inwieweit wurde diese Vorannahme dadurch relativiert, dass die Erzähler auch andere Erlebnisse und Lebensphasen stark machten? Den Psychoanalytikern ging es mehr darum, die emotionale Qualität des »Feuersturms« in der Tiefe auszuloten, und zwar, indem das Interview sich thematisch auf das Ereignis und seine Verarbeitung konzentrieren sollte. Zwischen diesen beiden – hier etwas vereinfacht dargestellten – Positionen entlang der Disziplingrenzen fand sich ein, wie ich glaube, guter Kompromiss. Klar war, dass die Interviews von Psychoanalytikern durchgeführt werden sollten, wobei die Historiker Zweitinterviews mit jenen machen würden, die als sogenannte paradigmatische Fälle Grundtypen der Verarbeitung repräsentierten. (vgl. den Beitrag von Lamparter und Möller in diesem Band). Ähnlich wurde bei den Kindern und Enkeln verfahren, wobei hier die Gespräche stärker thematisch als biographisch geführt wurden. Die ergänzenden Familieninterviews lassen sich dagegen mit dem Begriff der »Erzählung« nicht adäquat beschreiben. Im Hinblick auf die technische Aufbereitung der Interviews folgten wir den Regeln der »Oral History«: Die Gespräche wurden vollständig transkribiert und die Transkripte bildeten die Grundlage für erste Gesprächsrunden, an denen sich alle Projektmitglieder und die Interviewer beteiligten. Bei diesen »Runden« hat sich im eigentlichen und angenehmsten Sinn Interdisziplinarität ereignet. Hier haben wir gelernt, wie anders wir fragen, wie verschieden wir uns gegenüber den Erzählern positionieren, wie anders unsere Vorannahmen und oft auch unsere Schlüsse waren. Hier haben wir auch voneinander gelernt, und zu unserer Überraschung waren wir uns in diesen Runden nach langem Gespräch in den zentralen Punkten dann doch einig, zumindest über die (wissenschaftliche) Berechtigung unserer gelegentlich unterschiedlichen Deutungen. Für die Historiker war es eine neue Erfahrung, sich so direkt auf die Gefühle der Interviewten einzulassen beziehungsweise nach ihnen zu fragen. Für die Psychoanalytiker war es sicher neu, sich im transkribierten Text selbst zu begegnen – und damit Objekt der Quelleninterpretation zu werden. Anders als in Supervisionsgesprächen gab es ja in unserem Projekt immer den im Transkript fixierten Text als Referenz für die Interpretation und für die Rekonstruktion der Gesprächsdynamik. Die Identifikation von sogenannten paradigmatischen Fällen, die einer Tiefenanalyse unterzogen werden sollten, ging auf das methodische Design der Psychoanalytiker zurück und stellte sich als außerordentlich produktiv heraus. Die Identifikation und Auswahl dieser Fälle wurde ebenfalls im interdisziplinären Gespräch vorbereitet und ausgehandelt – auch hier ergab sich ein ebenso intensives wie ergebnisorientiertes Gespräch zwischen den Disziplinen.

Fragen und Deutungen Trotz dieser – für uns alle – überaschenden Anschlussfähigkeit und häufigen Übereinstimmung im Umgang mit dem Interviewmaterial zeigten sich doch auch bedeutsame Unterschiede bei der Erhebung und Deutung der Erzählungen über den »Feuersturm«,

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die offensichtlich durch unsere unterschiedliche disziplinäre Ausrichtung bestimmt waren. Dass es auch unter den Historikern und unter den Psychoanalytikern Unterschiede bei Deutungen und Analysen gab, lasse ich an dieser Stelle beiseite. Die mir als disziplinäre Differenzen erscheinenden Unterschiede möchte ich an zwei Aspekten näher ausführen. Der erste betrifft unsere Fragen an die Erzähler und die Deutung ihrer Antworten. Dass die Interviews zunächst ausschließlich von Analytikern geführt wurden, löste zumindest bei mir anfangs etwas Sorge aus. Einerseits ließen die Interviewer, von Neugier auf die Erzählungen und das Projekt angetrieben, den Erzählern aber mehr Raum und Zeit, als ihnen in der üblichen psychoanalytischen Sitzung zur Verfügung steht; und andererseits waren wir Historiker erstaunt, wie direkt gelegentlich nach Gefühlen gefragt wurde und wie gezielt, zum Beispiel durch Reformulierungen, manche Interviewer das unausgesprochen Angedeutete explizit zum Thema machten. Als »Oral Historians« gehen wir in der Regel anders vor: Wir lassen der Rede ihren Lauf, auch wenn sie an der Oberfläche zu bleiben scheint; statt nach Gefühlen, fragen wir nach Geschichten, in denen Gefühle indirekt aufscheinen. Dieser auffällige Unterschied hatte allerdings weniger Einfluss auf den Verlauf der Interviews als auf ihre spätere Deutung im Auswertungsgespräch. Denn die Interviewpartner setzten sich mit ihrer Geschichte in den meisten Fällen durch, auch da, wo sie sich auf den Interviewer, sei er nun Analytiker oder Historiker, und seine besondere Rolle – als Experten für die Seele oder die Geschichte – einstellten. Bei den Nachfragen – sowohl solchen, die während der Interviews direkt an die Erzähler gerichtet wurden als auch jenen, die sich bei der Lektüre der Transkripte und beim interdisziplinären Austausch über verschiedene Lesarten ergaben, zeigten sich deutliche Unterschiede entlang der Disziplingrenzen. Diese Nachfragen richteten sich von Seiten der Psychoanalytiker nicht nur gezielter auf Gefühle, sondern auch auf eine Welt, in deren Zentrum die nächsten Bezugspersonen, insbesondere die Eltern (und konkret meist die Mutter) standen; für sie war die Familie nicht nur der wichtigste Bezugsrahmen der Erzähler, sondern auch derjenige für ihre eigene Deutungsarbeit. Die Historiker tendierten hingegen stärker dazu, mit ihren Fragen den gesamten sozialen Nahbereich der Erzähler zu erkunden und dabei auch die weitere Verwandtschaft, Nachbarschaft, Stadt und Gesellschaft zu berücksichtigen (vgl. den Beitrag von Malte Thießen in diesem Band). Unsere Hauptfrage zur Verarbeitung des »Feuersturm«-Erlebnisses lautete, mit welchen biographischen Strategien und sozialen Praktiken die Erzähler von den Gelegenheitsstrukturen der Nachkriegsgesellschaft in ihrem konkreten Umfeld Gebrauch gemacht hatten. Diese Fragen ließen sich mit denjenigen der Psychoanalytiker nach innerpsychischen und familiären Verarbeitungsstrategien aber sehr gut verknüpfen. Bei der Deutung ergaben sich dann aber doch Differenzen. Eine bezog sich auf die Frage, in welchem Grad der Erzähler angesichts der beschriebenen Erfahrung im »Feuersturm« Gefühle gezeigt hatte, sich also der seelischen Erschütterung, die das Ereignis ausgelöst hatte, im Gespräch hatte stellen können. Hier tendierten die Psychoanalytiker dazu, explizites Sprechen über solche Gefühle zum Maßstab zu machen, während die Historiker stärker auf die indirekten, in Geschichten eingekleideten Emotio-

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nen achteten beziehungsweise diese als Verweis für die emotionale Bedeutung stärker anerkannten. In unserem Austausch über diese Differenz stellte sich heraus, dass wir Historiker eher das alltägliche Sprechen in der betroffenen Generation und sozialen Schicht zum Maßstab nahmen, während die Psychoanalytiker mehr von ihren Erfahrungen (und Ansprüchen) in therapeutischen Kommunikationssitzungen ausgingen. Solche Unterschiede im Umgang mit Emotionen und ihrem Ausdruck zeigten sich auch in der Art, wie die Historiker und Psychoanalytiker mit ihren eigenen Gefühlen oder ihrer Reaktion auf die Gefühle der Erzähler umgingen. In unseren gemeinsamen Gesprächen kamen die Historiker meist distanzierter auf die Interviews zu sprechen – mit der bei uns professionell eingebauten Haltung des Zweifels: Schließlich hat die im 19. Jahrhundert oft an aus dem Mittelalter überlieferten Texten entwickelte Historische Methode der Quellenkritik ihre Wurzel in dem Generalverdacht der gefälschten Quelle (Fried, 2004). Übertragen auf die Interviews hieß das zum Beispiel: Konnte sich das Erzählte tatsächlich so zugetragen haben? Warum wurde ein Umstand, von dessen Bedeutung wir aus anderen Quellen wussten, im Interview nicht erwähnt? Wurde hier etwas erzählt, das der Betreffende vielleicht nur in einer Fernsehdokumentation gesehen hatte? Benutzte ein anderer nicht ein sprachliches Bild, dass in den 1950er Jahren in öffentlichen Reden ständig wiederholt worden war? Beschrieb hier jemand seine Gefühle in verbalen Versatzstücken einer verwässerten Therapiesprache? Zwar war für uns im Interview Empathie, ehrliches Sich-Hineinversetzen, unabdingbar sowohl unter forschungsethischen als auch unter forschungspraktischen Erwägungen, nämlich als ein Mittel, um die Erzählungen anzuregen. Außerhalb der Interviewsituation und in Abwesenheit der Erzähler sahen wir Empathie aber doch überwiegend als Instrument, das im Dienst einer kritischen Textanalyse stehen und zum Einsatz kommen sollte. Diese Haltung unterschied sich deutlich von derjenigen der Psychoanalytiker, die im Auswertungsgespräch zunächst häufig auf ihre eigenen Empfindungen angesichts der Erzählungen der Zeitzeugen zu sprechen kamen. Sie zögerten länger als wir, sachliche Zweifel oder negative Gefühle gegenüber den Interviewpartnern zu äußern oder sich von den Erzählern zu distanzieren. Wir Historiker gingen erkennbar unvermittelter in den Modus der kalten Analyse über. Das Erstaunliche und Erfreuliche war aber auch hier, dass trotz dieser Ausgangsdifferenzen am Ende eines oder mehrerer Gespräche immer eine gemeinsame Deutung zustande kam. Das war nicht nur als Gruppenerlebnis, sondern auch als interdisziplinäres Ergebnis wichtig: Von verschiedenen Fragen, Annahmen und Haltungen ausgehende Bewegungen konnten sich im Austausch treffen.

Trauma oder nicht Der zweite Aspekt betrifft das Konzept von Trauma. Es hat in den letzten Jahren sowohl in öffentlichen Debatten als auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine erstaunliche Konjunktur erlebt. Einerseits ist das Phänomen posttraumatischer Belastungsstörungen trotz des sperrigen Begriffs und der wenig eingängigen Abkürzung PTBS im Alltagswissen angekommen, wenn auch die wenigsten wissen, um welche

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Symptome es sich dabei eigentlich handelt. Seit auch deutsche Soldaten wieder in Kriegen kämpfen, wird der Zusammenhang zwischen Trauma und Krieg als gegeben angenommen und systematisch popularisiert. Traumatisierungen von Bundeswehrsoldaten im Afghanistan-Einsatz sind ein Standardthema in Feuilletons und Kriminalfilmen. Trauma hat in jüngster Zeit auch bei der Thematisierung der Folgen des Zweiten Weltkriegs eine erstaunliche Konjunktur. Vor allem im Genre des journalistischen Sachbuchs wird das Konzept umstandslos auf jegliche Kriegserfahrung angewendet. Aber auch in der Geschichtswissenschaft ist Trauma stärker in den Mittelpunkt gerückt. Nicht immer wird hier angemessen reflektiert, in welchem Sinne der Begriff benutzt werden kann. Instruktiv sind Arbeiten, in denen das Traumakonzept im Zusammenhang mit Krieg selbst historisiert wird, und solche, in denen ein enger Begriff von Trauma zugrunde gelegt und auf angemessene Quellen, zum Beispiel Krankenakten, angewandt wird, wie dies Svenja Goltermann in ihrer Arbeit über Kriegsheimkehrer gemacht hat (Goltermann, 2009). Die Historiker im »Feuersturm«-Projekt standen dem Trauma skeptisch gegenüber und betonten immer wieder, dass offen gefragt werden müsse, ob, bei wem und warum ein Trauma der Fall sei. Woran konnte man all das erkennen? Und wie konnte man wissen, ob aktuelle Anzeichen für Trauma tatsächlich auf das »Feuersturm«-Erlebnis zurückzuführen seien? Diese Fragen beschäftigten uns alle im Projekt, unabhängig von unserer Disziplinangehörigkeit. Denn sie betrafen die Erkenntnispotenziale und -grenzen des Projekts überhaupt. Was den engeren Projektzusammenhang betraf, so stellte sich auch hier das Problem, dass nach einer potenziellen Traumatisierung auf mindestens drei Ebenen gefragt werden musste: erstens in Bezug auf das Ereignis selbst, nämlich, inwieweit das, was den Erzählern im »Feuersturm« widerfahren war, sich als so schrecklich herausstellte, dass eine Traumatisierung möglich war. Wir waren uns dabei zweitens bewusst, dass weniger das äußere Ereignis, als vielmehr die konkreten Umstände, unter denen es erlebt worden war, eine Traumatisierung mehr oder weniger wahrscheinlich machten. Hierzu lagen Studien aus beiden Disziplinen vor, die zu dem Ergebnis gekommen waren, dass zumindest im Fall von Kindern die Anwesenheit einer nahen, aber auch starken und besonnenen Bezugsperson eine entscheidende Rolle spielte.4 Schließlich ging es drittens auch darum, inwieweit eine durch den »Feuersturm« erfolgte Traumatisierung in der Folgezeit durch tröstende Erlebnisse und geglückte Strategien überwunden werden konnte. Diese komplexe Ausgangslage stellte ein beträchtliches methodisches Problem dar. Wie sich im interdisziplinären Gespräch herausstellte, war der Traumabegriff auch unter Psychoanalytikern umstritten beziehungsweise unterlag auch hier einer Debatte um Definitionen und Diagnosen von Trauma. Dennoch tendierten die Analytiker anders als die Historiker dazu, Trauma erst einmal zu vermuten und dann genauer zu 4 Zuerst Anna Freud und Dorothy Burlingham (1943) in ihrer Studie über Kriegswaisen unterschiedlicher Herkunft und Vorgeschichte in Großbritannien: »War and Children«, in deutscher Übersetzung (1971): »Heimatlose Kinder«.

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(er)messen. Diese Messinstrumente hatten jedoch ihre Tücken: Denn selbst wenn man im aktuellen Gespräch Hinweise auf Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung feststellen konnte – was im Übrigen nur bei einer kleinen Zahl von Interviewten der Fall war –, so war damit noch nicht geklärt, woher diese Symptome stammten, ob sie also dem Erleben des »Feuersturms« plausibel zugeordnet werden konnten. Konnte man sich dabei einfach auf die Selbstaussage der Erzähler »verlassen«? Andererseits unterstellt ein engerer Traumabegriff, wie ihn auch Werner Bohleber (vgl. seinen Beitrag in diesem Band) verwendet, dass traumatische Erfahrungen sich ja gerade dadurch auszeichnen, dass sie sich dem »normalen« Erzählen widersetzen, weil es sich eben um nicht anschlussfähige, nicht integrierbare Erfahrungen handelt. Daraus ergaben sich aber weitere methodische Grenzen unseres gemeinsamen Zugangs, den Erfahrungen des »Feuersturms« über autobiographische Erzählungen auf die Spur zu kommen. Anders als für die Psychoanalytiker hatte die Frage, ob die Erzähler des »Feuersturms« traumatisiert seien oder nicht, für die Historiker nur eine geringe Bedeutung. Hinzu kommt, dass die Traumafrage für uns in einem heiklen geschichtspolitischen Kontext steht, dem sich auch die am »Feuersturm«-Projekt Beteiligten nicht entziehen konnten. Es geht um die Frage, inwieweit es angemessen ist, sogenannten nichtverfolgten Deutschen den mit der Idee von Trauma verknüpften Status als Opfer zuzusprechen, wobei der Opferbegriff im Alltagsgebrauch mit der Zuschreibung von »Unschuld« eng verbunden ist. Die Bombardierung deutscher Städte, die Vertreibung ethnisch Deutscher aus ihrer Heimat, die Erfahrungen von Kindern im Krieg – dieser Themen haben sich professionelle Historiker erst spät und zögerlich angenommen, zahlreich war die Kritik, die sogenannte Selbstviktimisierung der Deutschen jetzt auch noch wissenschaftlich zu unterstützen. Auch in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte gab es solche Skepsis, und auch unter uns »Feuersturm«-Historikern. Geradezu erleichtert nahmen wir zur Kenntnis, dass die Interviewpartner selbst sich keineswegs als Opfer stilisierten. Dennoch fragten wir auch gezielt nach der Haltung zum Nationalsozialismus unter den älteren Interviewten (vgl. den Beitrag von Linde Apel in diesem Band). Die Behauptung vieler Interviewpartner, sie hätten über den »Feuersturm« erst jetzt, im Alter und seit wenigen Jahren sprechen können, schien die Annahme von Trauma in Verbindung mit dem Tabu (als zwei Weisen der Nichtsagbarkeit) zu stützen. Aber was bedeuteten solche Aussagen, wenn doch, wie Malte Thießen zeigen konnte, dieses Ereignis im kollektiven Gedächtnis Hamburgs fest verankert ist und jährlich neu in Erinnerung gerufen wird (Thießen, 2007)? Folgt man der Grundregel der »Oral History«, wonach zunächst alles ernst zu nehmen ist, was die Interviewpartner erzählen, dann können wir diese Aussage nicht als bloße Schutzbehauptung abtun, sondern müssen sie als subjektive Wahrhaftigkeit annehmen; und dann entstehen nicht moralische, sondern wissenschaftliche, insbesondere mentalitätsgeschichtliche Fragen, etwa nach dem Zusammenhang von privatem Wiederaufbau und Schweigen in den 1950er Jahren, aber auch nach dem Einfluss der ersten Nachkriegsgeneration auf intergenerationelle Gespräche über die Kriegserfahrung und die Entstehung neuer Regeln für die öffentliche Rede über den Nationalsozialismus. Die zur Beantwortung solcher Fragen notwendige Anerkennung der

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Subjektivität auch solcher Deutscher, die nicht antinationalsozialistisch eingestellt waren und deshalb weniger zur Identifikation einladen, ist eine zentrale, in der interdisziplinären Kooperation anerkannte und eingeforderte Voraussetzung unseres Projekts gewesen. Auch die Psychoanalytiker fragten nach der Verantwortung und Schuld der Erlebnisgeneration im Nationalsozialismus. Wie auch Interviews mit der Kindergeneration zeigten, liegt hier weniger eine disziplinäre als vielmehr eine generationelle Prägung vor. Dennoch konnten die Historiker von der besonderen, das heißt voraussetzungslosen Empathiebereitschaft und Empathiefähigkeit der Psychoanalytiker, die zum unbestrittenen Kernbestand ihrer Professionalität gehören, zusätzlich lernen und profitieren.

Akademische Kulturen Die größte Herausforderung für die interdisziplinäre Zusammenarbeit stellte sich weniger auf inhaltlichem oder methodischem Gebiet als vielmehr in dem Versuch, das, was man als akademische Kulturen beschreiben kann, miteinander in Einklang zu bringen. Historiker und Psychoanalytiker waren nämlich in sehr unterschiedliche Wissenschaftssysteme eingebunden, was gelegentlich zu erheblichen Reibungsverlusten führte. Besonders die Psychoanalytiker waren, soweit sie Universitätsangehörige waren, offenbar besonderen Spannungen ausgesetzt, die für die Historiker zunächst kaum zu erkennen waren. Erstere stehen in einem modernen Universitätsklinikum unter einem ständigen Legitimationsdruck, ihren am Einzelfall orientierten Forschungsstil zu rechtfertigen, unterliegen dort einer bibliometrisch begründeten akademischen Belohnungskultur und sahen sich genötigt, auch diesen Erfordernissen Rechnung zu tragen. Diese Spannungen führten dann sowohl bei Fragen der Projektorganisation, der Zuordnung von Zuständigkeiten und Arbeitsleistungen und Praktiken finanzieller Förderung und vor allem bei Usancen im Kontext von Veröffentlichungen zu schwierigen Gesprächen. Diese Erfahrungen waren vergleichbar mit denen anderer Projekte, an denen eher geisteswissenschaftlich und medizinisch geprägte Disziplinen beteiligt waren (Welzer, 2006). Es ist ein Zeichen für die Stärke des gemeinsamen inhaltlichen Engagements und des wechselseitigen Respekts, dass es uns gelang, hierfür Lösungen zu finden. Während wir uns einerseits darauf einigten, dass die eigene Disziplin den ersten Referenzrahmen für die jeweiligen Veröffentlichungen abgeben und dabei jede Publikation den disziplineigenen Regeln des Erstautors folgen sollte, gaben wir andererseits das Ziel einer gemeinsamen Veröffentlichung am Ende des Projekts dennoch nicht auf. Der nun vorliegende Band ist allerdings auch ein Zeichen dafür, dass es in manchen dieser Fragen zu keiner vollständigen Annäherung gekommen ist: Die Historiker etwa bleiben dabei, dass Autorenschaft an das persönliche Verfassen des Textes gebunden sei, während die Psychoanalytiker hier den Regeln für Autorenschaft in der modernen Medizin folgen, indem auch die konstitutive Mitarbeit an der gemeinsamen Entwicklung von Fragestellung, Methode, Datengewinnung und ihrer Verarbeitung wie auch der Projektsteuerung insgesamt neben substanziellen Beiträgen zum Publikationsmanuskript Ko-Autorenschaft begründen können. Die Historiker mochten nicht völlig auf Fußnoten verzichten, die

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es ihnen erlauben, zusätzliche Verweise und Belege zu benennen, ohne den Argumentationsfluss im Haupttext zu unterbrechen. Wir hoffen, dass die Leser und Leserinnen dasselbe Verständnis uns gegenüber zeigen, das wir füreinander während des Projekts entwickelt haben. Sie werden dem Band auch in anderer Hinsicht die unterschiedlichen »Handschriften«, Fragerichtungen, Denkweisen und methodischen Praktiken entnehmen können. Die Projektdynamik brachte es mit sich, dass im Rahmen der klinischen Forschung zunehmend auch Methoden der empirischen Sozialwissenschaft angewandt wurden, die zu quantifizierbaren Aussagen führten. Kohut (vgl. seinen Beitrag in diesem Band) hat deshalb recht, wenn er letztere im Grunde als eine dritte Disziplin benennt, die das Material auf eigene Weise ausgewertet hat. Im Ergebnis hoffen wir, dass trotz aller Unterschiedlichkeit die wechselseitige Befruchtung in der Arbeit und die interdisziplinären Lernpotenziale des Projekts in diesem Band ablesbar sind.

Literatur Blasius, D. (1977). Psychohistorie und Sozialgeschichte. Archiv für Sozialgeschichte, 17, 383–403. Certeau, M. de (1987). Histoire et psychanalyse entre science et fiction. Paris: Gallimard. Certeau, M. de (2006). Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse. Wien: Turia und Kant. DeMause, L. (1982). The foundations of psychohistory. New York: Creative Roots Pub. Dörr, N. R. (2010). Zeitgeschichte, Psychologie und Psychoanalyse, Version: 1.0. Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung. Zugriff am 02. 04. 2013 unter http://docupedia.de/zg/Zeitgeschichte_Psychologie_und_Psychoanalyse Droysen, J. G. (1875). Grundriss der Historik. Leipzig: Veit. Freud, A., Burlingham, D. (1943). War and children. New York: Medical War Books. Freud, A., Burlingham, D. (1971). Heimatlose Kinder. Frankfurt a. M.: Fischer. Fried, J. (2004). Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München: Beck. Gay, P. (1988). Freud. A life for our time. New York: W. W. Norton & Company. Goltermann, S. (2009). Die Gesellschaft der Überlebenden. Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München: DVA. Jungert, M., Romfeld, E., Sukopp, T., Voigt, U. (Hrsg.) (2010). Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Loewenberg, P. (1971). The psychohistorical origins of the Nazi Youth Cohort. American Historical Review, 76, 1457–1502. Mittelstraß, J. (2003). Transdisziplinarität. Wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit. Konstanz: UVK. Plato, A. von (1998). Geschichte und Psychologie – Oral History und Psychoanalyse. BIOS, Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, 11 (2), 171–200. Thießen, M. (2007). Eingebrannt ins Gedächtnis. Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943–2005. München: Dölling und Galitz Verlag. Toews, J. (1991). Historicizing psychoanalysis. Freud in his time and for our time. The Journal of Modern History, 63, 504–545. Wehler, H.-U. (Hrsg.) (1971). Geschichte und Psychoanalyse. Köln: Kiepenheuer & Wisch. Welzer, H. (2006). Nur nicht über Sinn reden! Stets wird »Interdisziplinarität« gefordert. Doch in der Praxis trennen Geistes- und Naturwissenschaftler Welten. Ein Erfahrungsbericht. Zeit-online. Zugriff am 02. 04. 2013 unter http://www.zeit.de/2006/18/B-Interdisziplinaritt_xml Wierling, D. (2003). Oral History. In M. Maurer (Hrsg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften. Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaften. Bd. 7 (S. 81–151). Stuttgart: Reclam.

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Thomas A. Kohut

Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft: Theorie, Praxis, Kritik Ein Kommentar

Zu Anfang möchte ich mich für die Möglichkeit bedanken, zu diesem äußerst interessanten und wichtigen Band etwas beizutragen. Ich beneide die Historiker und Psychoanalytiker um ihre Zusammenarbeit an diesem psychologisch-historischen Projekt. Mehrmals in den vergangenen Jahren habe ich an einer ähnlichen Kollaboration zwischen Forscherinnen und Forschern aus der Psychoanalyse und aus den Geisteswissenschaften mitgewirkt, und meines Wissens war keine so sorgfältig durchdacht und durchgeführt wie diese. Eins der bedeutendsten Hindernisse in der Zusammenarbeit zwischen Psychoanalytikern und Akademikern, das ich in der Vergangenheit selbst erlebt habe, wurde jedoch von Ulrich Lamparter in seiner Einführung und Dorothee Wierling in ihrem Beitrag nicht erwähnt. Meiner Erfahrung nach besteht dieses Hindernis in der unausgesprochenen Befürchtung seitens der Kliniker, dass die Akademiker ihnen intellektuell überlegen sein könnten, und seitens der Akademiker in der unausgesprochenen Befürchtung, dass die Kliniker ihre psychologischen Störungen sofort durchschauen. Das ist natürlich nicht ganz ernst gemeint. Aber eine Reihe von bedenkenswerten Einwänden, Fehleinschätzungen und Missverständnissen können anfangs der interdisziplinären Zusammenarbeit im Weg stehen, verschwinden aber, sobald man dann tatsächlich miteinander arbeitet und feststellt, dass man sich gar nicht so unähnlich ist wie man dachte – weder als Wissenschaftler noch als Mensch. Ich sollte meine Überlegungen zum Thema interdisziplinäre Kollaboration zwischen Psychoanalytikern und Historikern damit beginnen, mein persönliches Interesse an diesem Thema zu benennen. Im Hinblick auf meinen Familienhintergrund (mein Vater war der Psychoanalytiker Heinz Kohut), meine psychoanalytische sowie historische Ausbildung, meine frühere, relativ kurze psychotherapeutische Tätigkeit und meine langjährige Erfahrung als Geschichtsprofessor am Williams College (Massachusetts) möchte ich nicht als jemand gelten, der irgendwie »Interdisziplinarität« verkörpert. Ich will keine gespaltene Persönlichkeit sein und halte mich eher für eine ganze, harmonische, gut integrierte Person. Um also meine Ausgangsposition gleich klarzustellen: Ich sehe keinen grundlegenden methodologischen Unterschied zwischen meiner Herangehensweise als Historiker – Geschichte als Untersuchung subjektiver Erfahrungen von Menschen der Vergangenheit – und meiner Herangehensweise als Psychoanalytiker – Psychoanalyse als Untersuchung von Menschen und den Prägungen,

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die sie durch ihre Interaktionen mit und Verinnerlichung ihrer Umgebung erfahren haben, einer Umgebung, die in nicht unwesentlichem Maße die Geschichte bereitstellt. Dorothee Wierling hat zwar diese gemeinsame Methodologie ebenfalls erwähnt, aber es ist sicherlich gerechtfertigt, noch einmal darauf hinzuweisen. Die Geschichte und die Psychoanalyse sind beide verstehende Wissenschaften. Das wesentliche Element im historischen und im psychoanalytischen Verständnis des Menschen ist, um Wilhelm Dilthey zu paraphrasieren, »die Wiedererkennung des Ich in dem Anderen«. Historiker wie ich und Psychoanalytiker wie ich versuchen beide, Menschen zu verstehen – die einen mehr in der Vergangenheit, die anderen mehr in der Gegenwart –, indem sie ihnen Empathie entgegenbringen. In beiden Disziplinen ist Verstehen gelungen, wenn der Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin den Standpunkt des anderen einnimmt, um erklären zu können, warum – Zeit, Ort, Umstand und Erfahrung des anderen vorausgesetzt – das Gegenüber genau so fühlte, dachte und handelte. In beiden Wissenschaften versuchen Erklärungen, das Subjekt verständlich zu machen. Analytiker und Analytikerinnen wollen durch ihre Deutungen dem Patienten helfen, Verständnis dafür zu entwickeln, warum – seine Vergangenheit und Gegenwart, seine Erfahrung und Umgebung vorausgesetzt – er auf seine besondere Art und Weise fühlt, denkt und handelt. In der Geschichte versuchen Historikerinnen und Historiker, durch ihre Deutungen beim Leser Verständnis für das historische Subjekt zu entwickeln, indem sie vermitteln, warum – die Erfahrung und Umstände des historischen Subjekts vorausgesetzt – geschehen konnte, was geschah. In der Geschichtswissenschaft gibt es kein verbindliches »Set« von Theorien, das Studierende in ihrem Studium lernen müssen, um als Historiker anerkannt zu werden, so wie angehende Psychoanalytikerinnen und -analytiker psychoanalytische Theorie lernen müssen. Die Anwendung von Theorien seitens der Historiker und Historikerinnen ist eher eklektisch, da sie in ihren Versuchen, die Vergangenheit zu verstehen, aus den Theorien unterschiedlicher Disziplinen schöpfen können. Immerhin, Theorie in der klinischen Praxis der Psychoanalyse spielt eine vergleichbare Rolle wie in der geschichtswissenschaftlichen Praxis. In der historischen Forschung und in der psychoanalytischen Behandlung von Patienten ist Theorie ein Werkzeug, um das einfühlsame Verstehen von Menschen in der Vergangenheit beziehungsweise der Gegenwart zu ermöglichen. Man kann sogar behaupten, dass im klinischen Kontext Theorie weniger ein Kompendium universeller Gesetze der menschlichen Psychologie ist als vielmehr ein Versuch, die konkreten klinischen Erfahrungen vieler verschiedener Analytiker miteinander zu verknüpfen. Theorie ist in der Psychoanalyse notwendig, da jeder Analytiker und jede Analytikerin klinische Erfahrungen nur mit einer begrenzten Anzahl von Patienten machen kann. Theorie ermöglicht, dass jeder und jede Einzelne mit vielen Patienten und mit den Erfahrungswerten vieler Analytiker in Kontakt kommt. Theorie erweitert deshalb die Fähigkeit, seine eigenen Patienten zu verstehen. Obwohl psychoanalytische Theorie Psychoanalytikerinnen und -analytikern also hilft, Verständnis für ihre Patienten zu entwickeln, wird der Psychoanalytiker die Erfahrungen der spezifi-

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Die Struktur des Projekts und die interdisziplinäre Zusammenarbeit

schen Patienten gründlich in deren eigener Sprache und aus deren eigener Perspektive zu verstehen suchen – genau wie die historische Forschung versucht, die Menschen der Vergangenheit gründlich aus deren eigener Perspektive zu verstehen. Historiker und Historikerinnen können nicht einfach die Ergebnisse anderer Wissenschaftler als ihre eigenen übernehmen; und Analytikerinnen und Analytiker können nicht einfach psychoanalytische Theorie als ihr eigenes psychologisches Verständnis übernehmen. Theorie ist in beiden Disziplinen kein Ersatz für Empathie. Vielmehr ist sie ein Weg, empathisches Verständnis für andere Menschen zu entwickeln – stets in ihrem individuellen, einzigartigen Erfahrungskontext. Soweit also zu meiner Betonung eines gemeinsamen methodologischen Vorgehens im Umgang mit Menschen innerhalb der Geschichtswissenschaft und der Psychoanalyse. Nun zu einigen Reibungspunkten oder Divergenzen, die ich für weniger gravierend halte als etwa Dorothee Wierling in ihrem Beitrag. So sieht sie einen der Unterschiede darin, dass die Psychoanalytiker im Gegensatz zu den Historikern die Tatsache, dass die Zeitzeugen vor allem beschrieben, was sie erlebt haben, und weniger oder nur indirekt ausdrückten, was sie in Bezug auf das Erlebte empfanden, als eine Abwehr interpretierten – also als Zeichen dafür, dass das Erlebte noch nicht verarbeitet und emotional bewältigt wurde. Hier muss ich den Historikern zustimmen. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich die Zeitzeugen nicht in einer Therapie, sondern in einer Interviewsituation befanden. Man kann nicht erwarten, dass jemand einem völlig Fremden erzählt, was er oder sie bei sehr schwierigen Erfahrungen empfunden hat. Schließlich erwartet man ja selbst in der Therapie, dass Patienten am Anfang lediglich erzählen, was ihnen widerfahren ist. Erst wenn sie sich in einer geschützten Umgebung verstanden fühlen, können sie über ihre Gefühle sprechen. Der Entschluss, die Interviews von Psychoanalytikern durchführen zu lassen, stellte nicht nur für die Zeitzeugen, sondern auch für die Interviewer eine ungewohnte Herausforderung dar. Sie fragten und hörten zu – nicht als Therapeuten, sondern in einer undefinierten Rolle, geprägt von Neugier, Anteilnahme und Einfühlung. Was sich in der Therapie erst über viele Treffen herstellt, musste hier in einem Treffen erreicht werden. Obwohl dieser Unterschied den Interviewern natürlich klar war, hat diese Sondersituation vermutlich nicht zuletzt für sie einen besonderen Druck erzeugt. Ein zweiter und ähnlicher Reibungspunkt ist der, dass die Psychoanalytiker die Zeitzeugen häufiger direkt auf ihre Gefühle ansprachen, während die Historiker, in der Einsicht, dass die Gefühle in den Erzählungen verborgen sind, den Zeitzeugen im Allgemeinen die Möglichkeit gegeben haben, ununterbrochen zu reden (selbst wenn ihr Reden auf der Oberfläche zu bleiben schien) und ihre Geschichten zu erzählen, in denen Gefühle nur indirekt auftauchten. Ich kann mir keinen Psychoanalytiker vorstellen, der einem Patienten nicht erlauben würde zu erzählen, was er oder sie erzählen will, die eigene Gesprächsagenda zu setzen, frei zu assoziieren. Meines Erachtens ist die gezielte Befragung über die Gefühle der Zeitzeugen nicht unbedingt »psychoanalytisch«, sondern vielmehr das unvermeidliche Produkt der zeitlich begrenzten Interviewsituation.

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Der zentrale Unterschied zwischen Historikern und Psychoanalytikern, der sowohl von Lamparter als auch Wierling hervorgehoben wird, betrifft den Fokus, nicht die Methodologie. Während die Historiker Geschichten über die Vergangenheit hören wollten, waren die Psychoanalytiker mehr an der Dynamik der Interviewsituation selbst interessiert. Ich sehe darin jedoch eine ungeheuer produktive interdisziplinäre Spannung. Was die Zeitzeugen in den Interviews erzählten, einschließlich ihrer Erinnerungen an die Vergangenheit, war von der Interviewsituation geprägt und stellte eine bestimmte Kommunikation mit dem Interviewer dar. Und die Art und Weise, in der die Zeitzeugen mit der Interviewsituation umgingen, und damit auch mit der Kommunikation im Interview, war von ihrer vergangenen Erfahrung geprägt. Versteht man Zeitzeugen zugleich als Menschen, die auf ihre gegenwärtige wie auch ihre vergangene Erfahrung reagieren, so hat man offensichtlich ein ideales Beispiel für interdisziplinäres Denken vor sich. Die realen Schwierigkeiten und Hindernisse, die im Laufe des Projekts auftauchten, scheinen sich weniger zwischen Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse abgespielt zu haben als vielmehr zwischen Geschichte und Psychoanalyse einerseits und den von der akademischen Psychiatrie und der akademischen Psychologie festgelegten Regeln für Forschung und Veröffentlichung andererseits. Die Anpassung an die Forschungsstandards der akademischen Psychiatrie und empirischen Psychologie führt dazu, dass sich die psychoanalytische Forschung zunehmend auf psychologische Phänomene konzentriert, die empirisch beobachtbar und messbar sind – Phänomene, die sich von denen im Fokus der psychoanalytischen klinischen Arbeit unterscheiden. Das heißt, wenn man die Forschungsstandards der akademischen Psychiatrie und empirischen Psychologie übernimmt, ist die Forschung nicht mehr eine tiefenpsychologische Erforschung komplexer mentaler Zusammenhänge, sondern eine Erforschung relativ einfacher, oberflächlicher Ausprägungen der komplexen psychologischen Tiefen, die empirisch beobachtbar und messbar sind. Sicherlich kann das Wissen um und das Wahrnehmungsvermögen für die komplexen psychologischen Tiefen in der empirischen Forschung Entscheidungen dahingehend beeinflussen, welche Oberflächenerscheinungen untersucht werden. Psychoanalytisches Wissen und psychoanalytische Wahrnehmung können auch die Interpretationen der empirischen Ergebnisse beeinflussen. Ich würde eine solche Forschung dennoch als psychoanalytisch geprägte empirische Forschung bezeichnen. Psychoanalytische Forschung ist grundsätzlich die Erforschung komplexer psychologischer Tiefen. Da diese Tiefen empirisch nicht beobachtet werden können, sind Psychoanalytikerinnen und -analytiker auf Empathie und Introspektion angewiesen, um zu erfahren, was unterhalb der empirisch beobachtbaren und messbaren psychologischen Oberfläche liegt. Empathie als Beobachtungsmodus in der Psychoanalyse setzt – wie auch in der Geschichtswissenschaft – die Fähigkeit voraus, sich in den anderen hineinzuversetzen und zu versuchen, seine oder ihre Erfahrungen mitzuerleben, als wären es die eigenen. Empathisches Verstehen erfordert Wissen über den Kontext des anderen, aber auch Wissen über sich selbst und einen Zugang zu sich selbst.

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Die Struktur des Projekts und die interdisziplinäre Zusammenarbeit

Mir ist bewusst, dass ich damit psychoanalytische Forschung mit psychoanalytischer Therapie gleichsetze. Tatsächlich scheinen mir beide eng verwandt, da Therapeut und Patient gemeinsam das psychologische Leben des Patienten in all seiner Tiefe und Komplexität erforschen. Darüber hinaus sind die wichtigsten Beiträge, die die Psychoanalyse zum psychologischen Verständnis des Menschen geleistet hat, nicht aus der empirischen Forschung hervorgegangen, sondern aus der tiefgehenden, empathischen Ergründung individueller Patienten durch individuelle Psychoanalytiker – und durch die tiefgehende, empathische Selbstergründung individueller Psychoanalytiker. In jedem Fall erscheint es mir bedenklich, wenn der psychoanalytischen Therapie und der psychoanalytischen Forschung unterschiedliche Epistemologien zugrunde liegen. Dieser Unterschied muss von psychoanalytischen Forschern und Forscherinnen sorgsam durchdacht werden. Einerseits kann man dafür plädieren, stolz und ungeniert psychoanalytisch an die psychoanalytische Forschung heranzugehen – mit dem Risiko, dass die eigene Arbeit dann vom psychiatrischen und psychologischen Establishment ignoriert oder abgelehnt wird. Im Fall der aktuellen Studie würde man sich dann ausschließlich auf eine genaue, eingehende, empathische Lektüre der individuellen Interviews mit Opfern des »Feuersturms« und ihren Kindern und Enkelkindern konzentrieren. Andererseits könnte man psychoanalytische Forschung mit empirischer Forschung verbinden, in diesem Fall durch die Kombination einer genauen, eingehenden, empathischen Lektüre der individuellen Interviews zusammen mit einer empirischen Auswertung der Interviewtranskripte insgesamt. Hierbei läge die Herausforderung darin, die Beziehung zwischen psychoanalytischen und empirischen Befunden zu bestimmen – zu analysieren, welche Berührungspunkte sie aufweisen und an welchen Stellen sie divergieren. Schließlich könnte man eine Methode anwenden, die ich oben als psychoanalytisch geprägte empirische Forschung beschrieben habe, wobei der Versuch, das Interviewtranskript empathisch zu verstehen, aufgegeben würde. In diesem Fall würde jedoch die Entscheidung, welche psychologischen Phänomene in den Transkripten beobachtet und gemessen werden, durch die Einsichten der Psychoanalytikerinnen und -analytiker in Traumata und ihre transgenerationale Übertragung beeinflusst sowie durch das empathische Verständnis, das sie in ihrer therapeutischen Arbeit mit Menschen erworben haben. In Anbetracht der Beiträge in diesem Band scheint mir, dass die Forschung an diesem Projekt hauptsächlich als eine Kombination psychoanalytischer und historischer Lesarten einerseits und einer sehr umfassenden empirischen Auswertung der Interviews andererseits betrieben wurde. Weil Psychoanalyse und Geschichte eine gemeinsame Methodologie im Umgang mit Menschen teilen, schätze ich den Einfluss der Psychoanalyse auf die Geschichte und auf andere Geisteswissenschaften optimistischer ein als Dorothee Wierling. Historikerinnen und Historiker, die den Menschen der Vergangenheit mit Empathie begegnen, wählen sowohl einen historischen als auch einen psychoanalytischen Weg. Deswegen haben solche Historiker einfühlsame, einsichtige, äußerst psychoanalytische historische Studien hervorgebracht, auch wenn sie nicht ausdrücklich so bezeichnet werden. Im gleichen Sinne hat die Psychoanalyse in den letzten hundert Jahren zunehmend zu

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erkennen gelernt, dass die äußere Umwelt eine wesentliche Rolle in der Gestaltung der Psyche spielt. Da diese Umgebung wiederum von historischen Ereignissen und Strömungen geprägt ist, spielt die Geschichte direkt und indirekt eine wesentliche Rolle in der Prägung des Selbst. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass die innere Welt durch die Erfahrungen der äußeren Welt geprägt wird, dass Menschen historisch sind und dass wir die Psyche erst in aller Tiefe verstehen können, wenn wir die gestaltende Macht der Geschichte berücksichtigen. In der Therapie führt das Übersehen historisch bedingter Faktoren dazu, dass man wichtige Einflüsse auf Patienten übersieht und sie dadurch falsch versteht. Eine Psychoanalyse mit strengem Blick auf das Klinische verfehlt wesentliche Quellen zum Verständnis des Menschen. Insofern ist das Projekt ein Musterbeispiel für die produktiven Kräfte, die in der Zusammenarbeit von Historikern und Psychoanalytikern freigesetzt werden können. Denn Geschichtsbewusstsein erschließt der Psychoanalyse ein psychologisches Gebiet weit über den Behandlungsraum hinaus, nämlich die Welt, in der die Menschen wirklich leben. Umgekehrt kann eine Vertrautheit mit psychoanalytischer Theorie und vor allem klinischer Praxis das Verständnis von Historikern und Historikerinnen für die Menschen der Vergangenheit bereichern. Die Mitarbeit von Psychoanalytikern und -analytikerinnen an historischer Forschung eröffnet Historikerinnen und Historikern einen Zugang zu dem Wissen und dem Wahrnehmungsvermögen von Menschen, die sich professionell dem Verständnis der menschlichen Erfahrung widmen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Projekte wie dieses, bei denen Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft in einen Austausch miteinander treten, um ein historisches Ereignis zu verstehen, das sich über Generationen hinweg auswirkt, uns nicht nur helfen, dieses Ereignis und seine Auswirkungen auf die Menschen in der Vergangenheit und in der Gegenwart zu verstehen. Diese Zusammenarbeit bringt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus zwei Disziplinen zusammen, die einen ähnlichen Zugang zum Verständnis des Menschen haben. Die Psychoanalyse kann dadurch zu einem besseren Verständnis des Einflusses der Geschichte auf die Psyche gelangen und die Geschichtswissenschaft kann größeren Mut entwickeln, der psychologischen Dimension der Vergangenheit zu begegnen.

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Die Generation der Zeitzeugen

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Birgit Möller/Ulrich Lamparter

Erlebnis und Verarbeitung des »Feuersturms« im Lebensverlauf Ein typologischer Ansatz

Ein zentrales Ziel des interdisziplinären Forschungsprojektes war, wie im Beitrag »Aufbau und Struktur des Forschungsprojekts« von Ulrich Lamparter dargestellt, die Herausarbeitung von Typen beziehungsweise paradigmatischen Fällen und Mustern der individuellen Verarbeitung der »Feuersturm«-Erlebnisse der Zeitzeugen. Mit Hilfe eines mehrschrittigen, umfangreichen Auswertungsprozesses sollten folgende Fragen beantwortet werden: 1. Wie wurden die Kriegs- und Bombardierungserlebnisse des »Hamburger Feuersturms« individuell verarbeitet? 2. Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitungsweise aufzeigen, Typen/paradigmatische Fälle individueller Verarbeitung klassifizieren? 3. Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen/ist der paradigmatische Fall verbunden? 4. Gibt es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« und der psychischen Befindlichkeit heute? 5. Familiäre Verarbeitung und transgenerationale Weitergabe: Wie lässt sich der familiäre Umgang mit den Kriegserlebnissen beschreiben? 6. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und historische Erfahrungsaufschichtung: Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? 7. Welchen Gebrauch machten die Erzähler von den historischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Nachkriegsdeutschland für die Wiedererlangung von Stabilität und einer Zukunftsperspektive boten? Das mit diesem Vorgehen verfolgte Ziel war, eine umfassende Übersicht über die Gesamtstichprobe zu gewinnen und das breite Spektrum abzubilden, wie Zeitzeugen individuell mit dem »Feuersturm« umgegangen sind und ihre Erlebnisse in der Familie weitergegeben haben. Als grundsätzliche methodische Herangehensweise wählten wir den qualitativen Ansatz der »Verstehenden Typenbildung« in Anlehnung an Uta Gerhardt (1995, 2001) und Max Weber (1904/1988). Dieses Vorgehen erschien uns am besten geeignet, der Komplexität seelischer Phänomene der Verarbeitung gerecht zu werden und zugleich ohne Verlust der Anschaulichkeit vom Besonderen des Einzelfalls auf das Allgemeine beziehungsweise eine Gruppe zu schließen. Da das Individuum in

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Die Generation der Zeitzeugen

einem interdependenten Verhältnis zu Gesellschaft und Kultur steht, repräsentiert der Einzelfall immer auch typische, durch gesellschaftliche beziehungsweise historische Ereignisse geprägte Strukturen und »weist somit über sich selbst hinaus« (Gerhardt, 1995, S. 101; vgl. Erdheim, 2001). Das Individuum kann daher nur im Verhältnis zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung verstanden werden. Die Analyse der Interviews und Verarbeitungsmuster fand somit in einem Spannungsverhältnis statt: zwischen einem Bedürfnis nach Verallgemeinerung (Typenbildung) und dem Wunsch, komplexe individuelle Prozesse (Einzelfallanalyse) zu verstehen.

Methodisches Vorgehen Vor diesem Hintergrund war das methodische Vorgehen darauf ausgerichtet, vom Einzelfall ausgehend eine Übersicht über die Untersuchungsgruppe zu gewinnen und Vorschläge für eine Typisierung zu erarbeiten. Dies erfolgte in drei Schritten beziehungsweise Arbeitsphasen: der Durchführung der Interviews, der Kategorienbildung und Ausarbeitung von Vorschlägen für Verarbeitungstypen und der interdisziplinären Gruppenarbeit. 1. Arbeitsphase: Durchführung der Interviews

In der ersten Projektphase wurden mit Hilfe eines bereits erprobten, semistrukturierten Interviewleitfadens von für die Durchführung geschulten Psychoanalytikern sechzig Einzelinterviews mit Zeitzeugen des »Feuersturms« geführt. Diese wurden auf Tonband aufgezeichnet und transkribiert. Nach dem Interview erstellte der jeweilige Psychoanalytiker eine »Nacherzählend gedeutete Verarbeitungsgeschichte« (NageVe)1, in der die Verarbeitung des Geschehenen aus der subjektiven Erlebensperspektive des Betroffenen nochmals zusammenfassend beschrieben wurde. Als Beleg dienten Passagen aus dem transkribierten Interview. 2. Arbeitsphase: Kategorienbildung und Ausarbeitung von Vorschlägen für Verarbeitungstypen

Die Analyse der Interviews und die Ausarbeitung der Vorschläge für die Verarbeitungstypen wurden von Malte Thießen (Historiker) und Birgit Möller (Klinische Psychologin) durchgeführt. Die interdisziplinäre Zusammensetzung sollte ermöglichen, sich der Beantwortung der Fragestellungen in einem kritischen Diskurs von unterschiedlichen Perspektiven aus zu nähern. Grundlage für die Auswertung der Interviews war eine an der Fragestellung ausgerichtete deduktive Kategorienbildung, die im Prozess der Durcharbeitung des Materials durch induktive Kategorien ergänzt und erweitert wurde. Grundlage der Auswertung

1

Die Methodik orientierte sich am »Hamburger-Gesunden-Projekt« (vgl. Stuhr et al., 2001) und den in diesem Rahmen angewandten theoretischen Gesichtspunkten eines »genetisch-dynamischen Strukturverstehens« (vgl. Deneke, 1998).

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B. Möller/U. Lamparter · Erlebnis und Verarbeitung des »Feuersturms«

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waren die Transkripte der Interviews und die »Nacherzählend gedeuteten Verarbeitungsgeschichten« der Interviewer. Für jeden Zeitzeugen wurde anhand der Kategorien ein Stammblatt mit soziodemographischen Daten, systematischer Erfassung wesentlicher Ereignisse während und nach dem »Feuersturm« (unter anderem Verluste, Verletzung, Verschüttung, Zerstörung von Eigentum), Besonderheiten sowie – in ausführlicherer Form – eine strukturierte Zusammenfassung der Erlebnisse und ihrer Verarbeitung erstellt. Diese Zusammenfassung umfasste folgende Inhalte: 1. Biographischer Hintergrund und innere Situation zum Zeitpunkt des »Feuersturms«: Persönliche Entwicklungs- beziehungsweise Lebensgeschichte sowie Beziehungserfahrungen vor dem »Feuersturm«, Selbstwertgefühl, Ressourcen, Charaktermerkmale, Temperament, Selbstwirksamkeit beziehungsweise Kontrollüberzeugung, soziale und familiäre Situation, Kriegserfahrungen. 2. Erleben des »Feuersturms«: Schilderungen und subjektive Bewertung im Hinblick auf Prägung und Relevanz für persönliche Lebensgeschichte. 3. Erste Verarbeitung: innerliche wie äußerliche Bedeutung der Ereignisse beziehungsweise Erlebnisse, psychische/psychosomatische Reaktionen oder Folgen (zum Beispiel Symptome, Verhaltensweisen, Störungen), innere und äußere Situation, Verarbeitungsmöglichkeiten, Verfügbarkeit innerer und äußerer guter Objekte, Veränderung von Selbst- und Objektbildern. 4. Mittelfristige Verarbeitung: wie unter 3. sowie familiäre und soziale Situation nach Krieg und Nationalsozialismus, Verarbeitungsmöglichkeiten durch Beruf, Familie, Beziehungen, Freunde, Gesellschaft. 5. Heutige Verarbeitung: Heutige Rückschau und Auseinandersetzung mit dem »Feuersturm«, auch vor dem Hintergrund von Altern, Krankheit und Tod. Als Verarbeitungsmuster wurde interpretiert, was in den Schilderungen der Zeitzeugen als eine Art Leitmotiv der Verarbeitung das gesamte Gespräch oder zumindest mehrere Abschnitte durchzog. Ausgangspunkt waren dabei die Selbstaussagen der Befragten über ihren Umgang mit dem »Feuersturm«, was vor dem Hintergrund der Interdisziplinarität und professioneller Unterschiede in den Deutungsmustern wichtig war und eine gemeinsame Auswertung möglich machte. Die Kategorisierung und Zusammenfassung der Interviews wurden von Malte Thießen und Birgit Möller zunächst unabhängig voneinander erstellt. In einem zweiten Schritt wurden beide Ausarbeitungen verglichen und für jeden Zeitzeugen diskutiert. Die dritte Fassung integrierte die wesentlichen Aspekte beider Fassungen im Konsens. Für jedes Interview wurden die typischen Verarbeitungsformen beschrieben, kategorisiert und hinsichtlich ihrer Ausprägung klassifiziert. Alle Interviews wurden anschließend nach Verarbeitungstypen geordnet und es wurde für jede Kategorie eine prägnante Überschrift gesucht. Nach einer erneuten Überprüfung der Zuordnung und gegebenenfalls auch einer Modifizierung wurde für jede Gruppe ein Interview ausgesucht, das das Verarbeitungsmuster besonders gut repräsentierte. Am Ende standen

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Die Generation der Zeitzeugen

Vorschläge für 13 Verarbeitungstypen beziehungsweise prototypische Zeitzeugeninterviews, die das gesamte Verarbeitungsspektrum bestmöglich abbildeten und der Forschungsgruppe als Grundlage für weitere Analysen dienten. 70 Prozent der Zeitzeugen wurden einer Kategorie zugeordnet, 20 Prozent zwei Kategorien, 8 Prozent drei und 2 Prozent vier Kategorien. Die 13 Verarbeitungstypen: 1. Typ »A« – Alleingang und Alleinsein: Der »Feuersturm« (FS) wird als »absoluter Alleingang« beziehungsweise als Ereignis beschrieben, das den Zeitzeugen ganz auf sich allein gestellt und gegebenenfalls isoliert habe. (5 Fälle (F): weiblich (w): 11, 11, 20,5 Jahre (J); männlich (m): 6, 8 Jahre (J)) 2. Typ »AZ« – Aktiver Zeitzeuge: Der »Feuersturm« (FS) dient als Anlass für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, als Vermächtnis für den aktiven Zeitzeugen. Er (der FS) wird als Anlass für eine aktive Auseinandersetzung mit dem Krieg (evtl. auch mit der NS-Zeit im Allgemeinen) genommen und mit Berichten, Vorträgen an die Öffentlichkeit gebracht, im Freundes- und Familienkreis besprochen und diskutiert. (12 F: w: 7, 9, 11, 11, 20 J; m: 8, 9, 10, 13, 15, 19, 23 J) 3. Typ »B« – Beruf und Wohlstand: Der »Feuersturm« (FS) dient als Ausgangspunkt für Berufserfolg, Wohlstand, Status, materiellen Aufstieg. Die FS-Erfahrung führt zu Selbstständigkeit und ist Ausgangspunkt für die spätere Berufsbiographie, für Erfolg in Ausbildung und Beruf. Eine dezidierte »Aufstiegsbiographie« sichert materiellen Wohlstand in der Nachkriegszeit und hilft, die Kriegserfahrung zu verarbeiten, zu lindern etc. (7 F: w: 22, 23, 27 J; m: 8, 9, 9, 16 J) 4. Typ »F« – Familiärer Zusammenhalt: Im »Feuersturm« (FS) bewährt sich die Familie beziehungsweise die Partnerschaft als Überlebensmittel, familiäre Gemeinsamkeit ist von größter Bedeutung. Der familiäre Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung haben geholfen, (relativ) unbeschadet aus dem »Feuersturm« herauszukommen. (6 F: w: 13, 22, 22 J; m: 5, 7, 9 J) 5. Typ »G« – Glaube: Der »Feuersturm« (FS) dient als Impuls oder Beweis für den Halt im Glauben. Er (der FS) wird als Erlebnis angesehen, in dem der Glaube oder die Gemeinde beziehungsweise religiöse Gemeinschaft Kraft und Hoffnung gegeben habe. (3 F: w: 11 J; m: 15, 16 J) 6. Typ »GZ« – Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Der »Feuersturm« (FS) wird als Ereignis geschildert, das den Zusammenhalt (außerhalb der Familie) befördert oder als gemeinsames Schicksal, als »kollektives Unheil« verbunden und zur gegenseitigen Hilfe motiviert habe. (2 F: w: 3,5, 22 J) 7. Typ »N« – NS-Begeisterung bis heute: Nationalsozialismus, Krieg, BDM, HJ etc. ist die »gute alte Zeit«, bot einmalige Chancen in Freizeit, Beruf, Freundschaften etc. und erscheint zum Teil bis heute attraktiv. (2 F: w: 15, 17 J). 8. Typ »PI« – Politische Identifikation: Der »Feuersturm« (beziehungsweise Krieg) wird als Erlebnis geschildert, das die politische Einstellung entscheidend geprägt habe. Bei diesem Typ gibt es Überschneidungen zu Typ 9 (Reifungsprozess) und zu Typ 11 (Aktivität). (3 F: m: 5, 6, 16 J)

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B. Möller/U. Lamparter · Erlebnis und Verarbeitung des »Feuersturms«

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 9. Typ »PF« – Psychische Folgen: Der »Feuersturm« (FS) wird als biographische Zäsur mit Folgen bis heute beziehungsweise als nachhaltiger Einschnitt in die Psyche erlebt. In ihm ging die Kindheit verloren, er stellt eine Zäsur beziehungsweise dauerhafte Erschütterung in der persönlichen Entwicklung oder eine unwiederbringliche Verlusterfahrung (zum Beispiel des behüteten Familienlebens) dar. Folgen des »Feuersturms« dauern bis heute an, zum Beispiel als Trauma oder als psychosomatische Folgen. (11 F: w: 10; 4, 4, 5, 7, 7, 7, 8, 10, 17, 21 J; m: 17 J) 10. Typ »R« – Persönlicher Reifungsprozess: Der »Feuersturm« (FS) ist ein persönliches Erlebnis, das zur selbstständigen Frau oder zum Familienmenschen oder auch zu einer politischen Wandlung, zum Beispiel zum Pazifisten, geführt habe. Er (der FS) wird zur persönlichen Konversions-, sozialen oder politischen Reifungserfahrung erklärt, auf die sich die politische Identität zurückführen lasse. Bei diesem Typ gibt es Überschneidungen zum Typ 8 (psychische Folgen). (4 F: w: 10, 13, 20 J; m: 21 J) 11. Typ »T« – Tatkraft: Der »Feuersturm« (FS) wird als Beweis oder Impuls für Selbstständigkeit und (sportliche) Aktivität angesehen. Er wird als Lebenserfahrung beschrieben, die für Selbstbewusstsein gesorgt habe. Im (beziehungsweise seit dem) »Feuersturm« habe man sein Leben selbst in die Hand genommen, anpacken können – diese Erfahrung hat zum Teil bis heute Nachwirkungen. Der »Feuersturm« wird in diesem Sinne auch als Ereignis interpretiert, das dank sportlicher Leistung bewältigt wird (»da habe ich laufen gelernt«) oder Anlass für sportliche Aktivitäten gibt, die bis heute die Leistungsfähigkeit und Gesundheit des Körpers unter Beweis stellen. Bei diesem Typ gibt es Überschneidungen zum Typ 4 (Beruf, Wohlstand). (5 F: w: 13, 22 J; m: 9, 16, 24 J) 12. Typ »U« – Unbeteiligt: Über den »Feuersturm« (FS) wird nicht viel nachgedacht: »vergangen, vergessen, vorbei«. Das FS-Erlebnis wird »abgeschüttelt« oder als Befreiung erlebt (»andere Dinge waren schlimmer«). Es wird optimistisch in die Zukunft geblickt, der »Feuersturm« hat keine gravierende bleibende Bedeutung. (5  F: w: 22, 23 J; m: 11, 13, 15 Jahre) 13. Typ »V« – Vorwurfshaltung und Generationenkonflikt: Der »Feuersturm« (FS) dient zur Auseinandersetzung mit den beziehungsweise als Vorwurf gegenüber den Nachgeborenen. Der »Feuersturm« erhalte heutzutage zu wenig Bedeutung, unter anderem werde ihm in der eigenen Familie zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, es herrsche Unverständnis für das Leid der Kriegsgeneration vor. Vorwurf, Anklage des Zeitzeugen, zum Teil (zumindest unterschwellig) auch gegenüber jüngeren Interviewern und Interviewerinnen. (9 F: w: 7, 11, 12, 17, 20 J; m: 5, 9, 15, 16 J) 3. Arbeitsphase: Interdisziplinäre Gruppenarbeit

In der dritten Auswertungsphase wurden der Gruppe die oben beschriebenen 13 Verarbeitungstypen mit den zugehörigen Interviews vorgestellt. Diese Interviews wurden anhand der Interviewtranskripte einer Tiefenanalyse unterzogen und umfassend diskutiert. Nicht berücksichtigte Interviews wurden zur Reflexion der bisherigen Prototypen-Bildung und zur möglichen Aufnahme neuer Typen erneut gesichtet. Die Ergeb-

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Die Generation der Zeitzeugen

nisse wurden in der Gruppe diskutiert und detailliert protokolliert. Kontroversen und unterschiedliche Sichtweisen beziehungsweise Herangehensweisen wurden festgehalten und – soweit möglich – nach einem Konsens gesucht. Im nächsten Schritt wurden alle Zeitzeugeninterviews auf Grundlage der vorgeschlagenen Typenbildung beziehungsweise Zuordnung zu bestimmten Typen nach Alterskohorten und Geschlecht geordnet, mit dem Ziel, die Geschlechter und Altersgruppen möglichst gleich verteilt zu integrieren und mögliche Überschneidungen zu vermeiden. Die Gruppe einigte sich auf neun paradigmatische Fälle, die die Gesamtheit der Beobachtungen und Verarbeitungsmuster im Wesentlichen abdeckten und als »Leuchttürme« die Phänomene der Untersuchungsgruppe kasuistisch »ausleuchteten«. Mit diesen Zeitzeugen wurden nun durch die Historiker und Historikerinnen Zweitinterviews mit spezifischer Schwerpunktsetzung zur Gewinnung ergänzender Informationen geführt. Nachdem diese vorlagen, wurden anhand der neun Fälle in weiteren Gruppendiskussionen die Leitfragen jeweils einzeln beantwortet. Schließlich wurden diese Antworten in einem weiteren Arbeitsschritt zusammen mit den Beobachtungen an den anderen Fällen und der eingangs vorgestellten »Typenlösung« zu einer »Theorie« der Verarbeitung der »Feuersturm«-Erfahrung im Lebensverlauf integriert.2

Die ausgewählten paradigmatischen Fälle Im nachfolgenden Abschnitt werden die neun paradigmatischen Fälle anhand der Beantwortung der Leitfragen vorgestellt. Frau Gisela Behrends3 Allgemeine Beschreibung4

Im Interview mit Frau Behrends werden das Schicksal und die Art der seelischen Verarbeitung eines sehr kleinen Kindes sowie die Rolle der Psychologie als sich gesellschaftlich etablierende Wissenschaft deutlich. Der »Feuersturm« wird als biographische Zäsur mit langzeitlichen, bis heute anhaltenden Folgen erlebt. Eine Beschäftigung und Aufarbeitung erfolgt in der Tiefe mit Hilfe psychologischer beziehungsweise psychotherapeutischer Ansätze. Die Beschäftigung mit dem »Feuersturm« und Nationalsozialismus sowie die psychische Verarbeitung dauern bis heute an. Der Fall gehört dem Typ »Psychische Folgen« (PF) an.

2 Dieser letzte Schritt der gemeinschaftlichen Reduzierung und Bestimmung paradigmatischer Interviews hatte den Vorteil, dass die Verarbeitungstypen überschaubarer wurden. Dies erfolgte jedoch auf Kosten der in den vorgeschlagenen 13 Typen repräsentierten Vielfalt der Verarbeitungsmuster. 3 Die Namen der Interviewten wurden durch Alias-Namen-Bildung anonymisiert, siehe Materialien, Anhang 6. 4 Die allgemeine Beschreibung basiert auf allen dieser Gruppe zugehörigen Interviews und in Anlehnung an Aussagen der Zeitzeugen.

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Biographischer Hintergrund

Frau Behrends war zum Zeitpunkt des »Feuersturms« vier Jahre alt und lebte mit ihrem eineinhalb Jahre jüngeren und zwei Jahre älteren Bruder sowie ihrer Mutter in Hamm. Der Vater war als Arzt an der Front und kam während des Krieges nur selten nach Hause. Frau Behrends beschreibt ihre Eltern als egoistisch und nicht erreichbar. Die Kinder hätten für sie nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Ihre Mutter scheint Frau Behrends in ihrer Kindheit als unerreichbar erlebt zu haben. Sehnsucht, Wut sowie Schuldgefühle bestanden nebeneinander. Ihre von der Mutter nicht erfüllten Wünsche nach Nähe und Geborgenheit richtete sie an den fernen, ihr unbekannten Vater, den sie idealisierte, der sie aber, wenn er zu Hause war, sehr enttäuschte. Erleben des »Feuersturms«

Während des »Feuersturms« suchte die Familie Schutz im Keller. Als das Haus getroffen wurde, war der Kellerausgang verschüttet. »Und irgendwann sind wir dann nach draußen gekommen, und da war eben nur Feuer. Es war nur Feuer. Und es waren nur Funken. Und äh, es die, die Luft war erfüllt von Schreien. Also es war, das, es war die Hölle« [3]5. »Ich hab das überhaupt nicht auf die Reihe gekriegt, was so um mich herum geschah, der Himmel war schwarz, es roch schlecht, und keiner hatte Zeit, niemand. Da hab ich nur in Erinnerung war ein wahnsinniges Gebrüll in der Luft, also ich hab gedacht, alle Gespenster sind also unterwegs« [2]. Es sind nur einzelne Bilder und isolierte Gefühle da. Besonders eindrücklich ist ihr in Erinnerung geblieben, wie ihre Mutter sich völlig erschöpft auf die S-Bahnschienen gelegt und gesagt habe: »Lieber Gott, so hilf mir doch!« [4]. Da habe sie wie ein kleiner Hund ihrer Mutter die Hand auf die Schulter gelegt. Sie habe Todesangst gehabt, als sie von jemandem über einen Graben geworfen wurde, den sie auf dem schmalen Steg nicht habe überqueren wollen. »Und dann bin ich da liegen geblieben, und da merkte ich, wie die ganze, ganze Kraft aus mir rausging. Das war, als würde das ganze Leben aus mir rausgehen, als ich denn da abgestellt wurde, abgelegt wurde. Ich weiß aber nur, dass das einzig heftige Gefühl war in der Nacht« [4]. Beantwortung der Leitfragen

–– Leitfrage 1: Wie wurden die Kriegs- und Bombardierungserlebnisse des »Hamburger Feuersturms« individuell verarbeitet? Der »Feuersturm« wird als ein für die Lebensgeschichte bedeutsames Ereignis 5 Nach den Interviewausschnitten sind in eckigen Klammern die Seitenangaben der Transkripte angeführt, siehe hierzu auch unter Materialien, Anhang 6, der die den anonymisierten Namen zugehörigen Interviewsignaturen aufführt.

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geschildert. Er wird von der Zeitzeugin in Form einer detaillierten, bilderreichen Erzählung verarbeitet, die – angereichert durch den familiären Austausch – dem kindlichen Erleben Ausdruck verleiht. Frau Behrends berichtet, als Kind niemanden gehabt zu haben, dem sie sich mit ihren Erlebnissen hätte anvertrauen können. Sie blieb damit lange Zeit allein. Frau Behrends legt im Interview dar, dass ihr Weg der Verarbeitung »die Psyche« sei: »und ich hab den Weg der Psyche gewählt« [9]. Sie hat früh angefangen, sich für Psychologie zu interessieren und im späteren Lebensabschnitt eine psychotherapeutische Weiterbildung absolviert. Die Weiterbildung und verschiedene psychotherapeutische Behandlungen, die sie gemacht hat, betrachtet sie als Folge der Kriegserfahrungen und als Hilfe bei ihrer Verarbeitung. –– Leitfrage 2: Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitungsweise aufzeigen, Typen/paradigmatische Fälle individueller Verarbeitung klassifizieren? Der »Feuersturm« ist eine Erzählung, mit der sich Frau Behrends als Verletzte und Opfer der Umstände beschreibt. Dies entspricht ihrem in früher Kindheit geprägten Selbstbild als »Dumme«. »Das Gefühl ist völlig, äh, wil-, willenlos, wird mit einem gemacht, was ich nicht will. Und das hat sich eigentlich mein Leben, das ist eigentlich so’n Faden, der sich ganz lange in meinem Leben fortgeführt hat, so fühlte ich mich immer. Ich fühlte mich immer als Opfer und auch, ich kann mich nicht, ich hab mich ganz schlecht wehren können« [22]. Angesichts des jungen Alters, in dem Frau Behrends den »Feuersturm« erlebt hat, ist zu vermuten, dass die detaillierte Erzählung im Dienste einer biographischen Sinnbildung durch weitere Elemente beziehungsweise Erfahrungen angereichert wurde. Der »Feuersturm« dient Frau Behrends als Anlass, über Belastungen und seelische Verletzungen im Lebensverlauf zu sprechen. Hierzu gehören schwierige familiäre Beziehungen und spätere Missbrauchserfahrungen, gescheiterte Liebesbeziehungen sowie die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Letztere wird zum Lebensthema, das ihr Antworten auf das Verhalten des durch den Krieg beziehungsweise die Kriegsgefangenschaft verwandelten Vaters zu geben scheint. Die schwierigen familiären Beziehungen und Missbrauchserfahrungen werden vor dem Hintergrund einer psychologischen NS-Auseinandersetzung thematisiert, was Frau Behrends Orientierung zu geben scheint. –– Leitfrage 3: Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen/ist der paradigmatische Fall verbunden? Das gewünschte Medizinstudium wurde vom Vater untersagt, so dass Frau Behrends Krankenschwester wurde. Im Laufe ihres Berufslebens hat Frau Behrends gesellschaftliche Angebote der Anerkennung und Bestätigung ihrer Stärke sowie zur Abwehr und Bewältigung belastender Erlebnisse und Gefühle gesucht (eine solche Strategie belegen unter anderem die zeitweise Ausübung mehrerer, sie fordernder Jobs, verschiedene berufliche Weiterbildungen, die Erziehung dreier Kinder). So scheinen unterschiedliche Selbstbilder nebeneinander zu existieren: das des verletzten Opfers und das der starken (Allein-)Kämpferin. Ihr »eiserner Wille« habe

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ihr geholfen, das Leben zu meistern – was möglicherweise vor dem Hintergrund der von ihr beschriebenen »NS-Sozialisation« einem durch die Eltern unbewusst vermittelten Nazi-Selbstbild entspricht. Frau Behrends war es wichtig, auf Beziehungsebene Dinge zu klären. Nach dem Scheitern ihrer Ehe erlangte der Wunsch, sich auch professionell mit Psychologie und Psychotherapie zu beschäftigen, Bedeutung. Frau Behrends nutzte die in den 1960er Jahren sich etablierenden Ausbildungsmöglichkeiten verschiedener psychotherapeutischer Schulen. Als sie schließlich für eine psychotherapeutische Weiterbildung zugelassen wurde, erlebte sie dies als Auszeichnung und Anerkennung. So gelang es ihr, ihre lebensgeschichtliche Strategie (»die Psyche ist der Weg«) auch auf beruflicher Ebene zu verankern. Darüber hinaus haben ihr die enge Beziehung zu den Enkelkindern und deren Liebe, die Hinwendung zur Natur und das Halten eines Hundes geholfen, Probleme und Schwierigkeiten zu bewältigen. –– Leitfrage 4: Gibt es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« und der psychischen Befindlichkeit heute? Es gibt keine manifesten, klinisch relevanten körperlichen oder psychischen Symptome, die mit den »Feuersturm«-Erlebnissen in Zusammenhang stehen, wenngleich Frau Behrends ihre Existenz- und Verlustängste noch heute ursächlich auf diesen bezieht. Der »Feuersturm« scheint jedoch an dieser Stelle als Wechselrahmen für in der Beziehung zu ihren Eltern entstandene existenzielle Ängste genutzt zu werden. –– Leitfrage 5: Familiäre Verarbeitung und transgenerationale Weitergabe: Wie lässt sich der familiäre Umgang mit den Kriegserlebnissen beschreiben? Frau Behrends legt dar, dass zwischen ihr und ihren Kindern »Welten liegen«, da diese den Krieg nicht erlebt hätten. Deshalb sei es ihr nicht möglich, mit ihnen darüber zu sprechen. »Ich hab’s ja immer versucht, aber ich kriegte sofort eins auf ’s Dach« [65]. Von ihren Sorgen und Problemen wollten die Kinder nichts wissen: »Immer kommst du auf dich zu sprechen […] Du bist nicht die wichtigste Person« [56]. Ihre schlimmen Träume habe sie ihren Kindern jedoch erzählt und ihre Verletzungen ungewollt an sie weitergegeben: »Die Sünden der Väter werden geahndet bis ins siebte! Glied« [2]. Die dargestellte Zurückweisung durch die Kinder könnte vor dem Hintergrund der mütterlichen psychischen Belastung als Ausdruck von Abgrenzungsbemühungen und Schutz vor emotionaler Überforderung oder Überflutung verstanden werden. –– Leitfrage 6: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und historische Erfahrungsaufschichtung: Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? Frau Behrends Verarbeitungsform weist geschlechtstypische Merkmale auf. So beschäftigte sie sich schon früh mit psychologischen Themen und Bewältigungsformen. Als Mädchen orientierte sie sich am Beruf des Vaters, der ihr jedoch verwehrt wurde. Sie wurde Kinderkrankenschwester, wählte später als Kompromiss den Beruf der Medizinisch Technischen Assistentin.

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 rau Behrends definiert sich im Interview über die Zugehörigkeit zur »zweiten F Generation«, grenzt sich damit, auf gesellschaftliche Definitionsangebote zurückgreifend, von ihren Eltern ab. Die Schichtzugehörigkeit spielte insofern eine Rolle, als sich Frau Behrends’ Eltern Menschen anderer Schichtzugehörigkeit gegenüber abgrenzten. So wurde Frau Behrends’ erster Mann, der aus einer Arbeiterfamilie stammte, von der Herkunftsfamilie zunächst abgelehnt oder über Patienten schlecht gesprochen. –– Leitfrage 7: Welchen Gebrauch machten die Erzähler von den historischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Nachkriegsdeutschland für die Wiedererlangung von Stabilität und einer Zukunftsperspektive boten? Der Aufstieg der Psychoanalyse und psychotherapeutischen Schulen im Nachkriegsdeutschland bot Frau Behrends die Möglichkeit, sich mit Hilfe von Psychotherapien und einer psychotherapeutischen Ausbildung mit ihren Erlebnissen auseinanderzusetzen und diese aufzuarbeiten. Der gesellschaftliche Diskurs über die NS-Vergangenheit hilft Frau Behrends, sich mit ihrer Familie kritisch auseinanderzusetzen. Familienbeziehungen und Missbrauchserfahrungen werden vor dem Hintergrund einer psychologischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit thematisiert und bieten Orientierung. Frau Behrends litt unter der Rollenzuweisung als »dumme« Tochter, deren Wunsch nach einem Studium – im Gegensatz zu ihren Brüdern – nicht unterstützt wurde. Sie fand einen Weg der Weiterentwicklung und Verwirklichung ihrer Wünsche, nutzte unterschiedliche Berufsangebote und Zusatzqualifikationen, die sie befriedigten und erfüllten. Frau Gerda Berlin Allgemeine Beschreibung

Das Interview mit Frau Berlin zeigt die am meisten als relevant erachteten Phänomene in der Gruppe der weiblichen Zeitzeugen. Die »Feuersturm«-Erfahrung führt zu Selbstständigkeit. Der »Feuersturm« wird als »Startschuss« für ihren Erfolg im Beruf angesehen. Eine Aufstiegsbiographie sichert materiellen Wohlstand in der Nachkriegszeit und hilft, die Kriegserfahrung zu verarbeiten oder zu lindern (Typ B, »Beruf und Wohlstand«). Gleichzeitig hat sich im »Feuersturm« die Familie beziehungsweise in späteren Jahren die Partnerschaft als Überlebensmittel bewährt. Familiäre Gemeinschaft und Zusammenhalt waren und sind bis heute von größter Bedeutung. Die gegenseitige familiäre Unterstützung hat geholfen, dass man (relativ) unbeschadet aus dem »Feuersturm« herausgekommen ist (Typ F, »familiärer Zusammenhalt«). Biographischer Hintergrund

Die zum Zeitpunkt des »Feuersturms« 22 Jahre alte Frau Berlin wuchs in wohlbehüteten Familienverhältnissen auf und verlebte eine »wunderschöne Kindheit« [2]. Sie wohnte mit ihren Eltern und zwei Geschwistern, einem acht Jahre älteren Bruder und

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einer drei Jahre älteren Schwester, in einer kleinen Villa in Eilbek. Sie hatten herzliche Beziehungen zueinander sowie zu vielen Freunden und Verwandten. Frau Berlin beschreibt sich selbst als »Vatertochter«, die ihren Vater zärtlich liebte, sowie als ein eher ängstliches und schüchternes Kind. Erleben des Feuersturms

Frau Berlin erlebte mit ihrer Familie die Angriffe im Keller ihres Wohnhauses: »Es bebte und zitterte. Wir hatten nur eine Todesangst, so jetzt kommt gleich was, und wir standen umarmt und unsere Köpfe so zur Mitte hin. Wir haben auch gebetet … Wir erwarteten unser Ende« [7]. Als schließlich morgens Entwarnung ertönte, war es ganz dunkel, obwohl Juli war. Ihr Haus war stehen geblieben. Mit einem von Freunden organisierten LKW fuhren sie nach Bad Segeberg. Es war dunkel, roch nach Rauch und die Straßen waren nicht wiederzuerkennen. An der Stadtgrenze erlebte sie eine »Sternstunde« [8]. Es sei plötzlich hell geworden und die Sonne hätte auf die Felder geschienen. »In den Dörfern standen Frauen, die hatten Brote gestrichen und Getränke für uns und reichten uns die, das war so fabelhaft … als wir lebendig aus dieser brennenden Stadt herausgekommen waren« [8]. Einen Tag später erfuhren sie von einer Eilbekerin, dass diesmal auch ihr Haus zerstört worden sei. Es sei alles weg gewesen. Aber sie hätten nicht geweint. Sie seien vorbereitet gewesen. »Es gab Schlimmeres, Menschen, die ihre Familie verloren hatten. … Aber das Leben der Menschen war eine Gemeinschaft. Alle hatten irgendwie dasselbe erlebt« [10]. Beantwortung der Leitfragen

–– Leitfrage 1: Wie wurden die Kriegs- und Bombardierungserlebnisse des »Hamburger Feuersturms« individuell verarbeitet? Die große Bedeutung der Familie für Frau Berlin durchzieht das gesamte Interview und spielt auch für die Verarbeitung der »Feuersturm«-Erlebnisse eine große Rolle. In der Gemeinschaft der Familie kann der »Feuersturm« durchstanden und die »Feuersturm«-Erlebnisse verarbeitet werden. Der familiäre Zusammenhalt bietet den hierzu nötigen Schutz und Halt. Frau Berlin beschreibt den »Feuersturm« mit Hilfe starker Gemeinschaftsbilder und erlebt mit dem »Feuersturm« zugleich das Ende ihrer Kindheit. Die Beschreibungen des familiären Zusammenhaltes erscheinen zuweilen idealisiert und es ist zu vermuten, dass Frau Berlin damit schwierige Inhalte oder Erlebnisse auszublenden versucht. Die Möglichkeit, 1943 in einem Krankenhaus als Medizinisch-Technische Assistentin anzufangen, sowie die Liebe zu einem Mann scheinen die »Feuersturm«Erlebnisse in den Hintergrund gedrängt zu haben, so dass dieser in seinen Folgen als nicht so dramatisch erlebt wurde. Ihre erfolgreiche berufliche Weiterentwicklung, der gemeinschaftliche und familiäre Zusammenhalt sowie die Liebe zu ihrem Mann werden als »Erfolgsgeschichten« in das Narrativ eingebunden. Die Beziehung zum Vater hat für Frau Berlin zeitlebens eine besondere Bedeutung, so dass die Familienbindung zugleich die Vaterbindung zu repräsentieren scheint.

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Frau Berlin heiratet schließlich einen Mann im Alter ihres Vaters, der in seinem Wesen ebenfalls als diesem ähnlich beschrieben wird. Die Mutter wird nach dem »Feuersturm« als psychisch belastet dargestellt. Frau Berlins Wunsch nach Selbstständigkeit und beruflichem Weiterkommen konnte hierdurch als Abwehr erklärt werden. Die engen familiären Bindungen bleiben bis heute bestehen. Frau Berlins Tochter wohnt als Untermieterin im gleichen Haus. Frau Berlin ist zudem in unterschiedlichen Gemeinschaften aktiv und eingebunden (zum Beispiel in der Kirchengemeinde). Neben dem familiären und gemeinschaftlichen Zusammenhalt und dem beruflichen Erfolg hat das Schreiben eines Tagebuchs Frau Berlin geholfen, die Erlebnisse zu verarbeiten. Leitfrage 2: Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitungsweise aufzeigen, Typen/paradigmatische Fälle individueller Verarbeitung klassifizieren? Der familiäre Zusammenhalt sowie der berufliche Erfolg haben Frau Berlin geholfen, die Kriegs- und Nachkriegszeiten zu überstehen (vgl. oben). Leitfrage 3: Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen/ist der paradigmatische Fall verbunden? Frau Berlin beschreibt eine zeitlebens privat und öffentlich aktiv gestaltete Zeitzeugenschaft, die in ihrer Aufarbeitung jedoch unpolitisch bleibt. Das »Hereinbrechen des Krieges« wird in der Tradition gesellschaftlicher Hamburger Erinnerungskultur als Katastrophe erlebt, das Kriegsende als Erleichterung. Die »Nazis« sind in diesem Diskurs die »anderen«, über die ohne große affektive Anteilnahme gesprochen wird. Ähnlich ist es bei Frau Berlin, die bestimmte Bereiche der Auseinandersetzung mit der (Familien-)Geschichte ausspart. Leitfrage 4: Gibt es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« und der psychischen Befindlichkeit heute? Es gibt keine klinisch relevanten Zusammenhänge. Leitfrage 5: Familiäre Verarbeitung und transgenerationale Weitergabe: Wie lässt sich der familiäre Umgang mit den Kriegserlebnissen beschreiben? Frau Berlin hat zeitlebens eine enge und herzliche Beziehung zu ihren drei Kindern und Enkeln. Sie beschreibt ihre Kinder und Enkel als an den »Feuersturm«-Erlebnissen interessiert und danach fragend. Kritische Fragen, beispielsweise warum die Elterngeneration nichts gegen die »Nazis« getan und sich nicht gewehrt habe, seien von einer Tochter gestellt worden. Frau Berlin beschreibt einen friedlichen familiären Umgang, der ihr wichtig sei, möglicherweise aber das Austragen von Konflikten verhindert hat. Leitfrage 6: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und historische Erfahrungsaufschichtung: Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? Frau Berlin war zum Zeitpunkt des »Feuersturms« bereits selbstständig und identifiziert mit männlichen und weiblichen Identifikations- und Entwicklungsangeboten

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(Berufstätigkeit, Hilfsberuf). Sie stammte aus einem großbürgerlichen Milieu, mit dessen Idealen (Zusammenhalt, Kontinuitätsstiftung) sie sich identifizierte. Ihre Fähigkeiten, zu schreiben, sich auszudrücken, sowie ihre schulische und berufliche Bildung konnte sie nutzen, sich persönlich weiterzuentwickeln und die Kriegserfahrungen zu verarbeiten. –– Leitfrage 7: Welchen Gebrauch machten die Erzähler von den historischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Nachkriegsdeutschland für die Wiedererlangung von Stabilität und einer Zukunftsperspektive boten? Frau Berlin nutzte die gesellschaftlichen Möglichkeiten des beruflichen Weiterkommens, bedient sich heute zur Beschreibung des Wiederaufbaus symbolisch des Mitte der 1960er Jahre entstandenen Begriffs der »Trümmerfrau«. Das soziale bürgerliche Milieu sowie ihre berufliche Tätigkeit gaben Stabilität. Sie beschäftigte sich mit dem Aufbau ihrer Familie und der Familie ihres Mannes, engagierte sich als Zeitzeugin und leitete historische Dokumente über die Familie ihres Mannes an das Staatsarchiv weiter. Frau Liesbeth Struve Allgemeine Beschreibung

Das Interview zeigt die Folgen eigener Verletzung und schwerer Verlust- und Trennungserlebnisse. Bei der über zwanzigjährigen, jungen Frau kam es im »Feuersturm« zum Tod von Familienangehörigen, Verbrennungen am eigenen Körper sowie einer schweren Traumatisierung. Der »Feuersturm« bildete eine biographische Zäsur, nach der »alles anders« war. Im Interview wird eine noch immer anhaltende emotionale Erschütterung deutlich. Das Überleben ist bis heute ein zentrales biographisches Leitmotiv, die traumatisierenden Erfahrungen konnten psychisch kaum integriert werden. Frau Struve gehört dem Typ »Psychische Folgen« (PF) an. Biographischer Hintergrund

Frau Struve wuchs mit ihrer Großmutter mütterlicherseits, zu der sie eine enge Beziehung hatte, und ihren Eltern in Hamm-Süd auf. Sie war ein Einzel- und »Vaterkind« [31], hatte eine eher schwierige und distanzierte Beziehung zu ihrer Mutter. Zum Zeitpunkt des »Feuersturms« lebte die zwanzigjährige Frau Struve bei ihren Eltern in einer Zweizimmerwohnung. Sie war als Stenotypistin bei einer Versicherung tätig und hatte einen Freund, der während des Krieges als Tankwarenfahrer außerhalb Hamburgs im Einsatz war. Erleben des »Feuersturms«

Die Familie suchte in der Nacht zum 28. Juli 1943 zunächst im Keller Zuflucht, musste diesen jedoch verlassen, nachdem das Treppenhaus zu brennen anfing. Dort kam es zur Trennung zwischen einerseits Frau Struve und ihrem Vater und andererseits der Mutter und Großmutter, die die andere Richtung einschlugen und in den Flammen umkamen. Der Vater riet seiner Tochter, ein feuchtes Tuch vor den Mund zu halten,

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was Frau Struve eigenen Angaben nach vor dem Erstickungstod bewahrte. Sie zog sich während des »Feuersturms« Brandwunden 2. Grades zu (»war schwer verwundet« [12]). Vater und Tochter flüchteten sich in den nahegelegenen Park, verloren sich jedoch auf dem Weg dorthin aus den Augen: »Ja, da war man auf sich allein gestellt« [12]. Unmittelbar nach dem »Feuersturm« wurde Frau Struve von einem Sanitäter medizinisch versorgt und nach Thüringen gebracht, wo sie liebevoll von den Nonnen gepflegt wurde. Über die Trennungen, von der Mutter, der Großmutter und vom Vater, hat sie zunächst nicht weiter nachgedacht. »Man war wohl so überdreht, man hat wohl gar nicht, äh, das nachempfunden, also das kam erst später, nicht, was eigentlich Sache war, ne« [12]. Ihre Brandwunden, so betonte Frau Struve mehrfach, seien schnell geheilt: »Aber schnell geheilt, ’ne gute Heilhaut« [12]. Von Heiligenstadt aus unterrichtete Frau Struve auf postalischem Weg ihren Vater und ihren Freund über ihren Verbleib. Der Vater kam kurze Zeit später und besuchte sie im Lazarett. Als der Vater bei ihr war, überkam Frau Struve ein großer Schmerz: »In der Tür stand er dann. Also da kam das erst. Da hab ich so, da hab ich so geschrien, die, die ganzen Pfleger da, die haben alle gedacht – Nein. Ich hab mein Leben lang nicht so geschrien, wie ich da dann – In dem Moment, wo er – weil da war so die alte Zeit, nicht, verstehen Sie« [13]. Beantwortung der Leitfragen

–– Leitfrage 1: Wie wurden die Kriegs- und Bombardierungserlebnisse des »Hamburger Feuersturms« individuell verarbeitet? Frau Struve ist es im Interview nur begrenzt möglich, über die »Feuersturm«-Erlebnisse zu sprechen. Ihr diesbezügliches Narrativ wirkt affektisoliert. Der von Frau Struve beschriebene Zustand der emotionalen Betäubung bis zum Zeitpunkt des Wiedersehens mit dem Vater scheint auf eine durch die schwere Traumatisierung hervorgerufene emotionale Betäubung hinzuweisen. Die Erlebnisse müssen unmittelbar nach dem »Feuersturm« zur Aufrechterhaltung der psychischen Funktionsfähigkeit beziehungsweise des Überlebenswillens abgespalten worden sein, konnten dann erst später teilweise emotional erlebt werden. In ihren Beschreibungen wird das Ausmaß der äußeren und inneren Zerstörung beziehungsweise Traumatisierung ersichtlich. Sie beschreibt, dass mit dem »Feuersturm« fast alle Erinnerungsstücke vernichtet waren: »Was das für’n Schicksal ist, wenn die einzige Erinnerung ein Stück Kachel ist« [1]. Es ist zu vermuten, dass für Frau Struve der ambivalent verarbeitete Tod der Mutter (und Großmutter) das zentrale Erlebnis des »Feuersturms« war, das sie anhand von über viele Jahre quälender Gedanken über das Sterben der Mutter sowie damit einhergehenden Schuldgefühlen zum Ausdruck brachte. Die traumatisierenden Erlebnisse und Verluste haben Frau Struve ein Leben lang begleitet, sie waren bis heute nur begrenzt integrierbar: »aber es ging ja Millionen Menschen so« [24]. »Und die meisten (sind) ja umgekommen…ich war, ich bin doch auserwählt« [42]. Mit Hilfe von Rationalisierung, Umkehrung von Ausgeliefertsein

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und Ohnmacht in Kontrolle beziehungsweise der Interpretation, von höherer Stelle zum Überleben bestimmt worden zu sein, versucht sie den Ereignissen im Nachhinein einen Sinn zu geben. Frau Struve berichtet, dass im Alter die Erinnerungen eine andere Rolle spielen und zurückkommen: »Wenn man jung ist … lebt man so in den Tag hinein … Und im Alter kam das [Erinnerungen] erst dann wieder« [24]. Leitfrage 2: Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitungsweise aufzeigen, Typen/paradigmatische Fälle individueller Verarbeitung klassifizieren? Frau Struve versucht durch Selbstdeutung als Auserwählte und Gesunde (»Aber schnell geheilt, ’ne gute Heilhaut« [12]) einen Umgang mit den traumatisierenden Ereignissen zu finden. Ihre Selbstständigkeit, die Wiederaufnahme der Tätigkeit im Büro sowie das Aufgehobensein und die »Harmonie« [12] in der Familie und zu ihrem Freund halfen ihr, sich zu stabilisieren. Zugleich tröstete sie das gemeinsame Schicksal. Leitfrage 3: Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen/ist der paradigmatische Fall verbunden? Die gute Ehe mit ihrem Mann sowie das harmonische Familienleben helfen Frau Struve, die Kriegserlebnisse zu verarbeiten. Frau Struve betont, dass es für sie nach Kriegsende »traumhaft weiter« [38] ging. Fähigkeiten, die Frau Struve geholfen haben, mit den Ereignissen fertig zu werden, waren eine gewisse Genügsamkeit sowie die Unterscheidung des »Wichtigem vom Unwichtigem« [25] beziehungsweise die Umdeutung von schwierigen in positive Erlebnisse. So wurde der nach dem Krieg erfahrene Hunger von ihr positiv gedeutet: »Da ging das Hungern erst los, aber da haben wir gern gehungert, weil das ja mit dem Krieg vorbei war, ne« [52]. Frau Struve engagiert sich als aktive Zeitzeugin in einem Stadtteilbüro, tauscht sich dort über ihre Erfahrungen aus und überlässt dem Stadtteilbüro Dokumente und Berichte, die in Ausstellungen veröffentlicht werden. Die Bewahrung von Erinnerungsstücken sowie der spätere Besuch des Klosters, in dem sie nach dem »Feuersturm« behandelt wurde, sind ihr sehr wichtig. Die Verluste ihres Vaters und ihres Ehemanns versucht Frau Struve mit Hilfe von Tagebucheinträgen zu verarbeiten [56]. Leitfrage 4: Gibt es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« und der psychischen Befindlichkeit heute? Frau Struve berichtet, dass die Sirenen bei Probealarm ihr »immer noch unter die Haut gehen« [38]. Ähnlich ist es mit Brand- und Grillgeruch, die Erinnerungen an den »Feuersturm« wachrufen. Träume oder wiederkehrende plötzliche Erinnerungen verneint sie. Leitfrage 5: Familiäre Verarbeitung und transgenerationale Weitergabe: Wie lässt sich der familiäre Umgang mit den Kriegserlebnissen beschreiben? Für Frau Struve spielt die (familiäre) Harmonie in ihrem Leben eine zentrale Rolle. Sie hilft bei der Verarbeitung, sorgt für Stabilität und seelisches Gleichgewicht. Frau Struve fühlt sich mit ihren Erlebnissen und schmerzlichen Verlusten von ihrer Tochter verstanden und ihr nahe. Sie bleibt beim Interview in ihrer Nähe, passt auf, dass

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der Mutter nichts zu viel wird. Es ist zu vermuten, dass die Tochter für Frau Struve stützende Funktion hat. Der Austausch mit der Tochter über die Kriegserlebnisse und NS-Zeit hingegen wird als ambivalent beschrieben. Neben der harmonischen Nähe hat Frau Struve auch das Gefühl, dass ihre Tochter nicht verstehen kann, wie ihre Mutter seinerzeit Judenverfolgung und Ermordung zulassen konnte. Sie erlebt sie in diesem Kontext als vorwurfsvoll. –– Leitfrage 6: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und historische Erfahrungsaufschichtung: Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? Die mit den Verbrennungen einhergehende Stigmatisierung als Frau wird von Frau Struve als besonders schmerzlich erlebt. Sie scheint einen für damalige Verhältnisse eher »weiblichen« Umgang gefunden zu haben, der durch Harmonie und Genügsamkeit sowie behagliches Einrichten in der Familie gekennzeichnet ist. Das berufliche Weiterkommen spielt eine untergeordnete Rolle. Frau Struve gehört dem SPD-Arbeitermilieu an, lebt damit verbundene Werte. Frau Struve nutzt ihre Tochter, die sich intensiv um ihre Mutter kümmert, anscheinend unbewusst als Container für ihre Erlebnisse. In der Beziehung zu ihr leben die verlorenen Objekte wieder auf. –– Leitfrage 7: Welchen Gebrauch machten die Erzähler von den historischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Nachkriegsdeutschland für die Wiedererlangung von Stabilität und einer Zukunftsperspektive boten? Der Umzug in eine eigene Wohnung war für Frau Struve ein wichtiger Schritt zur Normalisierung. Ihr gelang es in der Nachkriegszeit, Lebensmittel zu organisieren, was sie mit Stolz erfüllte. Es war der Familie zunehmend möglich, sich etwas zu leisten und keine Not mehr leiden zu müssen, was ebenfalls zur Stabilisierung beitrug. Ihr Engagement als Zeitzeugin bringt ihr soziale Anerkennung und Wertschätzung. Herr Heino Stich Allgemeine Beschreibung

Herr Stich steht für die Gruppe der männlichen Zeitzeugen, die nach dem »Feuersturm« im Jugend- und Jungerwachsenenalter noch an der Front waren. Für sie war der »Feuersturm«, in dem sie vor allem als Helfer oder Flakbesatzung eingesetzt waren, die erste schlimme und irritierende Erfahrung im Krieg, die jedoch im Angesicht der späteren Kriegserfahrungen und Gefangenschaft als weniger bedeutsam erlebt wurde. Die Kriegserlebnisse sind für Herrn Stich traumatisierend. Er setzt sich mit diesen sowie mit der Enttäuschung den politisch Verantwortlichen gegenüber lebenslang auseinander. Herr Stich gehört dem Typ »Psychische Folgen« (PF) an. Biographischer Hintergrund

Der 17-jährige Herr Stich lebte zum Zeitpunkt des »Feuersturms« bei seinen Eltern in Sasel. Er geht in dem Interview weder auf die Beziehung zu seinen Eltern ein, noch

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macht er weitere Angaben zur Familie, so dass unklar bleibt, ob er Geschwister hat und welche Beziehung er zu seinen Eltern hatte. Erleben des »Feuersturms«

Im Gegensatz zu den anderen Interviews spielt der »Feuersturm« bei Herrn Stich eine untergeordnete Rolle. Die Erinnerungen scheinen durch spätere Kriegserlebnisse überformt beziehungsweise relativiert. Zum Zeitpunkt des »Feuersturms« war Herr Stich als Flakhelfer in Barsbüttel im Einsatz. Von dort aus hat er den »Feuersturm« indirekt miterlebt und gesehen, dass Bücher vom Himmel fielen [6] und überall verbrannte Asche lag: »Ja, man sah ja nur eine Stadt im Rauch« [6]. Erst nach einigen Tagen, als er wegen eines GöringBesuches beurlaubt wird, erfuhr Herr Stich vom Überleben beziehungsweise dem Verbleib seiner Eltern. Das Haus war ausgebombt, sie hatten aber überlebt. Nach Rückkehr in die Stadt sah er die Folgen des »Feuersturms«: Die Keller waren »noch voll Tote« [11]. Beantwortung der Leitfragen

–– Leitfrage 1: Wie wurden die Kriegs- und Bombardierungserlebnisse des »Hamburger Feuersturms« individuell verarbeitet? Im Interview beschreibt Herr Stich, dass der »Feuersturm« »leider erst der Anfang« [11] gewesen sei. Es erfolgte eine Einordnung des »Feuersturms« in die militärische Traditionsgeschichte seiner Familie. Nach dem »Feuersturm« trat er der Offiziersschule bei und meldete sich »aus einem nicht mehr erkennbaren Grund« [9] freiwillig zum Wehrdienst. Die Erfahrungen, die Herr Stich gemacht hat, waren und sind mit der positiven militärischen Tradition seines Vaters und Großvaters nicht in Einklang zu bringen. Die ursprüngliche Begeisterung wich rasch einer tiefen Erschütterung. Seine schlimmsten Erlebnisse hatte Herr Stich als Soldat in Ostpreußen, wo er unter anderem ermordete Deserteure, Abschlachtungen und die Versenkung der Gustlow beobachtete. Die Kriegserlebnisse, stellt Herr Stich fest, seien weitaus gravierender als die »Feuersturm«-Erlebnisse gewesen. Herr Stich kam in Kriegsgefangenschaft, die er mit KZ-Analogien beschreibt, wurde schließlich über Umwege nach Hamburg entlassen. Nach dem Krieg begann Herr Stich als Polizist zu arbeiten, was für ihn zeitlebens belastend ist. Insbesondere Verkehrsunfälle erschüttern ihn und rühren möglicherweise an die Kriegserlebnisse. –– Leitfrage 2: Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitungsweise aufzeigen, Typen/paradigmatische Fälle individueller Verarbeitung klassifizieren? Herr Stich beschreibt sich als der glücklich Überlebende, der in einer Kette von unglücklichen Situationen wiederholt (Lebens-)Glück gehabt und überlebt hat. Überlebensgeschichten und Optimismus dominieren das Narrativ. Erschütterung, Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit werden mit allgemeiner gesellschaftlicher Stimmung und Normen erklärt beziehungsweise abgewehrt: »Da war wohl so ein Leit-

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strahl, da mussten wir durch« [27], »Bemüht, Optimist zu sein« [34]. Zugleich klingt zuweilen eine große Enttäuschung gegenüber den politisch Verantwortlichen beziehungsweise der Politik an: »Die hat uns das Blaue vom Himmel gelogen und begeistert und uns dann fürchterlich enttäuscht« [28]. Leitfrage 3: Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen/ist der paradigmatische Fall verbunden? Nach dem Kriegsende baute Herr Stich sein eigenes Haus, was für ihn große Bedeutung hat und ihm ermöglichte, sich von den Eltern zu lösen und abzugrenzen. Mit seinem Garten, den er liebevoll und zeitaufwendig gestaltet, und der Natur fühlt er sich sehr verbunden. Herr Stich hat bis heute das Morsegerät, das er während des Krieges benutzt hat, im Wohnzimmer stehen. Dies scheint auf die Bedeutung der Kriegserlebnisse hinzuweisen. Möglicherweise möchte Herr Stich auch unbewusst zeigen, dass er kein Deserteur war. Leitfrage 4: Gibt es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« und der psychischen Befindlichkeit heute? Nur insofern, als der »Feuersturm« den Anfang der belastenden und erschütternden Erfahrungen markiert. Herr Stich hat bis heute schlechte Träume von der Gefangenschaft, erlebt sich als gebrochen und überwältigt, was an manchen Stellen des Interviews durch Weinen zum Ausdruck kommt. Leitfrage 5: Familiäre Verarbeitung und transgenerationale Weitergabe: Wie lässt sich der familiäre Umgang mit den Kriegserlebnissen beschreiben? Die Enkelin hat für Herrn Stich große Bedeutung: Für sie bewahrt er vieles auf, wie zum Beispiel die Flugblattsammlung, die er ihr widmet. Die Morsetaste möchte er seinem Enkel vermachen. Zugleich berichtet Herr Stich, dass er weder mit seinen Kindern noch mit seinen Enkelkindern über die Kriegserlebnisse spricht. Sie scheinen für Herrn Stich im Umgang keine Rolle zu spielen. Leitfrage 6: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und historische Erfahrungsaufschichtung: Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? Herr Stich stammt aus einer kleinbürgerlichen, deutschnationalen Familie mit der Tradition der Soldatenkarriere, die sich bei ihm später als Polizistenkarriere fortsetzt. Wenngleich Herr Stich schlechte Erfahrungen gemacht hat, scheint es ihm nicht möglich gewesen zu sein, sich aus dieser männlichen Tradition zu lösen. Das Militärische scheint einerseits eine Kategorie zu sein, die ihm (rigide) Struktur und Orientierung bietet, andererseits etwas Offen-Weiches und Gebrochenes zu verkörpern, womit er sich identifizieren kann. Leitfrage 7: Welchen Gebrauch machten die Erzähler von den historischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Nachkriegsdeutschland für die Wiedererlangung von Stabilität und einer Zukunftsperspektive boten? Der Kauf des Grundstückes und Bau seines Hauses waren für Herrn Stich eine erfolgreiche Aufbaugeschichte nach dem Krieg, die geholfen hat, mit den Erleb-

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nissen umzugehen und Stabilität wiederzuerlangen. Zugleich ist eine Traurigkeit darüber, dass er aus seinem Leben nicht das hat machen können, was er wollte, bis heute geblieben. Herr Stich identifiziert sich zudem stark mit der Familiengeschichte seiner Frau. Diese ist gekennzeichnet von der Beschäftigung von Zwangsarbeitern und der Gutsenteignung im Osten. Herr Helmut Stier Allgemeine Beschreibung

Wie ein damalig älterer Junge den »Feuersturm« erlebt hat, zeigt das Interview mit Herrn Stier. In eindrucksvoller Weise kann der Zeitzeuge trotz fundamentaler Angsterfahrungen während des »Feuersturms«, anschließender Fronterfahrungen und dem Tod der Mutter 1945 einen bedeutenden beruflichen Aufstieg vollziehen und seinen Söhnen ein Studium ermöglichen. Er kann auf gute Ressourcen und Netzwerke zurückgreifen und die in der Nachkriegszeit vorhandenen Gelegenheitsstrukturen für sich nutzen. Das berufliche Weiterkommen und der damit einhergehende Wohlstand haben eine stabilisierende Funktion und erleichtern Herrn Stier die Verarbeitung der belastenden Erlebnisse. Herr Stier wurde dem Typ »Beruf und Wohlstand« (BW) zugeordnet. Biographischer Hintergrund

Herr Stier war zum Zeitpunkt des »Feuersturms« 16 Jahre alt und machte in der Innenstadt eine Ausbildung zum Anwaltslehrling. Er lebte mit seinen Eltern, mit denen er sich gut verstand, in Dulsberg. Seine ältere Schwester und seine beiden Brüder lebten nicht mehr im Elternhaus. Ein Bruder war 1942 in Russland gefallen. Herr Stiers Mutter starb im Januar 1945 plötzlich an einer Lebererkrankung. Erleben des »Feuersturms«

Herr Stier war in einer Nacht der Angriffe in der Kanzlei in der Mönckebergstraße, in der er eine Ausbildung machte, als Nachtwache eingeteilt. Er und weitere drei Männer flüchteten sich in den Wendekeller des Paternosters, wo sie im Dunkeln mehrere Stunden ausharrten. Als sie nach oben gingen, erblickten sie die brennenden Häuser: »Das Haus war nicht getroffen, es hat auch nicht gebrannt, es war alles nur von dem Luftdruck und von dem, äh, ja kam von dem Feuersturm, da waren die Türen rausgefallen, die Akten-äh-borde waren umgefallen, es war also ein Chaos … brannte es lichterloh und denn, das war also grauenhaft, das kann man sich gar nicht vorstellen … Und denn kam natürlich diese, dieses unheimliche Denken, wie sieht das zu Hause aus?« [6 ff.]. Herr Stier flüchtete an der Alster entlang Richtung St. Georg und Dulsberg, sah auf seinem Weg viele brennende Häuser und Leichen: »Es war grauenhaft« [26]. Das Haus der Familie war ausgebombt, Freunde der Familie verloren während des »Feuersturms« ihr Leben. Herr Stier floh anschließend mit seiner Familie nach Celle. Nach seiner Rückkehr wurde er in die Wehrmacht eingezogen.

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Beantwortung der Leitfragen

–– Leitfrage 1: Wie wurden die Kriegs- und Bombardierungserlebnisse des »Hamburger Feuersturms« individuell verarbeitet? Nach dem Krieg macht Herr Stier in der Behörde Karriere. Er erhält eine Anstellung im Gericht, steigt auf in den gehobenen Dienst, wechselt, begleitet von Aufstiegsmöglichkeiten, die Behörden, um dann in der Finanzbehörde einen höheren Posten zu bekommen. Getragen von Neugierde und vielfältigen Ressourcen sind berufliches Weiterkommen, gesellschaftliche Stellung und Wohlstand für die Verarbeitung der Erlebnisse für Herrn Stier maßgebend. Seine berufliche Erfolgsgeschichte und die damit verbundene Anerkennung und Genugtuung ermöglichen, die Erlebnisse und dazugehörigen Affekte abzuwehren. Einzig der Tod der Mutter lässt im Interview die Abwehr bröckeln und schmerzliche Gefühle bei Herrn Stier zum Vorschein kommen. –– Leitfrage 2: Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitungsweise aufzeigen, Typen/paradigmatische Fälle individueller Verarbeitung klassifizieren? Beruflicher Erfolg und Wohlstand sowie die Erarbeitung von hilfreichen unterstützenden Netzwerken sind die tragenden Säulen für die Verarbeitung. Dies gilt sowohl in Bezug auf Herrn Stier selbst als auch in Bezug auf seine beiden Kinder, die er nach Kräften unterstützt und für die er sich selbst zurücknimmt und einiges versagt hat. So hat er ihnen zum Beispiel eine gute Ausbildung ermöglicht. Die Söhne haben Karriere in unterschiedlichen Arbeitsbereichen gemacht, worauf Herr Stier sehr stolz ist. –– Leitfrage 3: Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen/ist der paradigmatische Fall verbunden? Herr Stier nutzt die vor dem Krieg aufgebauten sozialen und beruflichen Netzwerke, die ihn in seinem beruflichen Weiterkommen unterstützen und ihm ermöglichen, sich mit anderen intensiv über die Vergangenheit auszutauschen. Seine Karriere in der Behörde sorgte durch den sicheren Arbeitsplatz sowie die vorgegebenen Entwicklungswege für Stabilität und Gefühle der Kontrolle und Selbstwirksamkeit. Sein eigener sowie der berufliche Erfolg und Wohlstand seiner Kinder haben für Herrn Stier einen hohen Stellenwert. –– Leitfrage 4: Gibt es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« und der psychischen Befindlichkeit heute? Es gibt keine klinisch relevanten Zusammenhänge. –– Leitfrage 5: Familiäre Verarbeitung und transgenerationale Weitergabe: Wie lässt sich der familiäre Umgang mit den Kriegserlebnissen beschreiben? Herr Stier berichtet, dass er von sich aus mit seinen Kindern über die Kriegserlebnisse nicht spricht. Im Interview wird ein Interesse der Kinder an den Erlebnissen nicht erkenntlich. Herr Stier gibt an, dass seine Kinder selten, nur bei besonderen Anlässen darauf zu sprechen kommen. Es fällt auf, dass die Kinder im Interview als Bezugspunkt oder Austauschpartner nicht vorkommen. Sie werden in der Erzählung wenig lebendig und scheinen eher als Selbstobjekte zu fungieren. Der

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von Herrn Stier erstellte Erfahrungsbericht ist, so betont Herr Stier, zum Nachlesen für die Enkelkinder. –– Leitfrage 6: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und historische Erfahrungsaufschichtung: Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? Vor dem Hintergrund der Verluste des Krieges sowie unzureichender personeller Ressourcen konnte Herr Stier die Nachkriegszeit zu einer erfolgreichen (männlichen) Karriere gut nutzen. Er hatte vor und während des Krieges in der Wehrmacht gelernt, zu funktionieren und Netzwerke aufzubauen, was ihm ermöglichte, sich im behördlichen System zurechtzufinden und sein Berufsleben aktiv zu gestalten. Im Interview fällt auf, dass Frauen als handelnde Personen nicht in Erscheinung treten. So finden seine Frau und Schwester im Interview kaum und seine Mutter nur in Zusammenhang mit ihrem Tod Erwähnung. Ihm unterstellte Frauen werden als Dienstleisterinnen dargestellt. Herr Stier stammt aus einem gehobenen, aufstiegsorientierten SPD-Arbeitermilieu, das Bildung als Wert erkannt hatte. Die Familie war in einer christlichen Gemeinde engagiert, was Herr Stier später in einer anderen Gemeinde fortsetzte. Sein damaliges Alter ermöglichte Herrn Stier seine Aufstiegschancen zu nutzen. –– Leitfrage 7: Welchen Gebrauch machten die Erzähler von den historischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Nachkriegsdeutschland für die Wiedererlangung von Stabilität und einer Zukunftsperspektive boten? Der sofortige Verwaltungsaufbau ermöglichte Herrn Stier den beruflichen Aufstieg. Er engagiert sich bis heute in der Kirche, beim CVJM und in einem Bauverein. Frau Edelgard Ballhaus Allgemeine Beschreibung

Das Interview mit Frau Ballhaus vereint sehr viele als relevant erachtete Phänomene und wurde deshalb als paradigmatischer Fall bestimmt. Die Erlebnisse im »Feuersturm« wurden in der Familie »durchgestanden«. Die Verluste waren aus Sicht der Zeitzeugin erträglich. Im Vordergrund ihres heutigen Erlebens steht die kritische und aufarbeitende Auseinandersetzung mit der Zeit ihrer Kindheit. Dabei fokussiert sie nicht primär auf die eigene Kriegserfahrung, sondern auf die Vertreibung der Juden aus dem »untergegangenen Viertel«. Hier stellt sie sich kritisch der Verwicklung der eigenen Familie. Sie engagiert sich öffentlich wahrnehmbar. Sie hat aus der Kriegs- und Verlusterfahrung auch positive Lehren gezogen, zum Beispiel im Jetzt zu leben, da man doch alles verlieren kann. In der Nachkriegszeit nutzte sie die sich für eine junge Frau damals ergebenden Möglichkeiten, beruflich tätig zu sein und eigene Interessen zu verfolgen. Frau Ballhaus wurde dem Typ »Vergangenheitsbewältigung« (VB) zugeordnet. Biographischer Hintergrund

Die neunjährige Frau Ballhaus lebte zum Zeitpunkt des »Feuersturms« mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern (ein Jahr jüngerer Bruder und eine acht Jahre jüngere Schwes-

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ter) im Grindelviertel. Der Vater war als Soldat in Russland. Die Beziehung zu ihren Eltern und ihren Geschwistern beschreibt Frau Ballhaus als positiv. Erleben des »Feuersturms«

Frau Ballhaus erlebte den »Feuersturm« mit ihrer Mutter, ihren Geschwistern und Großeltern im Grindelviertel. Die Familie suchte Schutz im Bunker, während die Wohnung von Bomben getroffen und zerstört wurde. Die jüngere Schwester erlitt Phosphorverbrennungen. Die Familie floh zu Fuß nach Rothenburgsort, wo sie drei Tage später erneut ausgebombt wurde. Mit den Großeltern gelang es ihnen schließlich, Hamburg zu verlassen und auf einem Bauernhof Unterschlupf zu finden. Die Flucht mit den Großeltern wurde von Frau Ballhaus als Unterstützung und Beruhigung erlebt. Am Schmerzlichsten war für Frau Ballhaus der Verlust ihres Schulranzens und Kanarienvogels: »Um den Kanarienvogel, ja, da hab ich am meisten getrauert« [16]. Beantwortung der Leitfragen

–– Leitfrage 1: Wie wurden die Kriegs- und Bombardierungserlebnisse des »Hamburger Feuersturms« individuell verarbeitet? Frau Ballhaus erlebte die Bombardierung mit ihrer Familie. Sie erlebte ihre als energisch und handlungsfähig wahrgenommene Mutter sowie ihre Großeltern, mit denen die Familie später floh, als beruhigend, stabil und Halt gebend. Die Erwachsenen scheinen den damaligen Schrecken abgefedert und Frau Ballhaus sicher emotional begleitet zu haben. Es ist zu vermuten, dass vor dem Hintergrund des Aufgehobenseins in den Beziehungen zur Mutter und den Großeltern der »Feuersturm« von Frau Ballhaus als nicht so schlimm und zerstörerisch wahrgenommen wurde: »Es ist schlimmer, verlassen zu sein, als wo alles weg war« [68]. Die Lehren, die Frau Ballhaus aus den materiellen Verlusten zog (ihre Wohnung war ausgebombt), war, dass es sich nicht lohne, zu sparen, um materielle Werte zu schaffen, »die sind ja doch weg« [16] und »was Freude macht, braucht gar nicht teuer sein« [66]. Frau Ballhaus ist ein neugieriger und positiv denkender Mensch, der versucht, aus dem Leben etwas zu machen, die guten Zeiten zu nutzen, da schlechte kommen könnten [66 ff.]. –– Leitfrage 2: Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitungsweise aufzeigen, Typen/paradigmatische Fälle individueller Verarbeitung klassifizieren? Die Verarbeitung der »Feuersturm«-Erlebnisse ist bei Frau Ballhaus geprägt durch eine positive Gelassenheit sowie die Fähigkeit, loslassen zu können. Über die Erlebnisse und Gefühle hat Frau Ballhaus mit ihrer Familie wenig gesprochen, sich für ihre Verarbeitung die Wiederaufbau-Hoffnung der Nachkriegszeit aneignen können. Diese scheint an die Erfahrungen mit der Familie anzuknüpfen und Sicherheit sowie Stabilität zu vermitteln. Frau Ballhaus setzt sich zeitlebens intensiv mit der NS-Vergangenheit und der Verfolgung der Juden in Hamburg, insbesondere im Grindelviertel, auseinander. Sie erinnert sich detailliert an das Zusammenleben mit jüdischen Nachbarn, liest viel

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und besucht Seminare. Sie bemerkt zunehmend, wie wichtig es ist, über die (NS-) Vergangenheit zu sprechen. Dies war für sie auch Anlass, das »Feuersturm«-Interview zu machen. Die Rolle ihrer Familie in der NS-Zeit (der Vater war als Hausmeister tätig, als die Juden im Grindelviertel aus ihren Wohnungen vertrieben wurden) beschäftigt Frau Ballhaus. Über die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Leben im Grindelviertel und der Verfolgung der Juden scheint sich Frau Ballhaus dem Thema der Schuld anzunähern. Leitfrage 3: Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen/ist der paradigmatische Fall verbunden? Frau Ballhaus erlebte »die schönen 50er Jahre« [42] als »die wichtigsten Jahre in der Entwicklung« [81]. Sie machte eine Ausbildung zur Drogistin und fand Arbeit in ihrem Beruf. Sie wechselte zu einer Fotofirma, entwickelte sich beruflich weiter, was ihr viel Spaß brachte. Sie heiratete einen Mann, mit dem sie glücklich ist. Leitfrage 4: Gibt es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« und der psychischen Befindlichkeit heute? Es gibt keine klinisch relevanten Zusammenhänge. Leitfrage 5: Familiäre Verarbeitung und transgenerationale Weitergabe: Wie lässt sich der familiäre Umgang mit den Kriegserlebnissen beschreiben? Erst im höheren Lebensalter begann Frau Ballhaus mit ihrer Familie über die »Feuersturm«- und Kriegserlebnisse zu sprechen. Für ihre Schwester, die zum Zeitpunkt des »Feuersturms« ein Jahr alt gewesen ist, erstellte sie einen Bericht über den »Feuersturm«, mit ihrem Bruder kam sie vor wenigen Jahren darüber erstmals ins Gespräch. Auch mit ihrem Ehemann, der Verluste erlitten hat, spricht sie »eigentlich erst jetzt« [68]. Ihre Tochter (eine ist nach langer Krankheit verstorben) zeigt Interesse, von den Erlebnissen zu erfahren. Leitfrage 6: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und historische Erfahrungsaufschichtung: Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? Frau Ballhaus stammt aus einer kleinbürgerlichen Familie, die nicht primär aufstiegsorientiert, sondern erfolgs- und bewältigungsorientiert ist. Diese Ausrichtung sowie die gegenseitige familiäre Unterstützung und Halt gebenden Strukturen sind für Frau Ballhaus eine fundierte Grundlage, ihr Leben zufriedenstellend aktiv und positiv zu gestalten. Leitfrage 7: Welchen Gebrauch machten die Erzähler von den historischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Nachkriegsdeutschland für die Wiedererlangung von Stabilität und einer Zukunftsperspektive boten? Frau Ballhaus ist sehr lebenstüchtig und hat alle Gelegenheiten für ihr individuelles Fortkommen, die sich ihr boten, ergriffen. Sie fand in ihrem Hobby des Filmens Erfüllung, nutzte zeittypische Angebote (Schmalfilm in den 1950er Jahren, Gründung einer Familie, Hausbar etc.). Es ist ihr bis heute wichtig, das Leben zu genießen und Neues kennenzulernen.

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Die Generation der Zeitzeugen

Frau Esther Angel Allgemeine Beschreibung

Das Interview mit Frau Angel steht für bis heute »ungebrochene« Einstellungen und Ressentiments. Frau Angel gehört zu der Gruppe von »begeisterten« jungen »Mädels«, die mit dem NS-System hochidentifiziert waren und denen viele Möglichkeiten des Kontakts und der Bewährung geboten wurden. Sie sieht sich im »Feuersturm« als Teil einer »Befehlskette« und erlebt diesen »im Auge des Orkans«. Gemeinschaftserleben, erfahrene Anerkennung und Zuspruch stehen für sie bis heute im Vordergrund. Die im Nationalsozialismus einsozialisierten Werte sowie die Fähigkeit, zu funktionieren und Entbehrungen und Angst zu ertragen, helfen ihr ein Leben lang. Zu einem »Umsturz der Werte« nach dem Krieg kommt es nicht. Die Zeugin wurde dem Typ »bleibende positive NS-Erfahrung« (N) zugeordnet. Biographischer Hintergrund

Frau Angel war zum Zeitpunkt des »Feuersturms« 17 Jahre alt und nach Handelsschule und Dienstjahr als Melderin in einem Luftschutzstellen-Kommando in der Innenstadt tätig. Sie lebte seit der Trennung ihrer Mutter von ihrem Vater und der Scheidung ihrer Eltern im vierten Lebensjahr bei ihren Großeltern in Bergedorf. Die Beziehung zu ihren Eltern wird als schwierig und die Großeltern werden als ihre wichtigsten Bezugspersonen beschrieben. Erleben des »Feuersturms«

Frau Angel war während des »Feuersturms« im Keller ihrer Dienststelle tätig, die ausgebombt wurde: »Wir sind durch Kellerräume gegangen und, ja was ich vorher nie gesehen hab, und denn saßen da Verletzte und Verwundete, die da Schutz gesucht hatten in den Kellerräumen. Und denn führt er uns tatsächlich, irgendwo sind wir rausgeklettert. Ob das ’n Fenster war oder ’ne Tür, das weiß ich nicht mehr. Also morgens um acht, ein Sturm, ein Feuersturm. Also der Himmel war rot und schwarz, also Tageslicht war das nicht« [7]. Es gelingt Frau Angel und ihren Kollegen schließlich, dem Keller zu entfliehen. Da sie Strohschuhe trug, erlitt sie bei der Flucht durch die Stadt Verbrennungen am Fuß: »Also das hab ich so hingenommen, da hab ich gar nicht um gejammert, wissen Sie« [8]. Frau Angel beschreibt sich als unerschrocken und furchtlos: »Glauben Sie, ich hab nie Angst gehabt, also, also das versteh ich ja, ja bis heute noch nicht« [5]. Angst wird nur in Zusammenhang mit dem Verbleib ihrer Großeltern Thema. Beantwortung der Leitfragen

–– Leitfrage 1: Wie wurden die Kriegs- und Bombardierungserlebnisse des »Hamburger Feuersturms« individuell verarbeitet?

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 rau Angel beschreibt ihre Situation während des »Feuersturms« mit einem soldatiF schen Pathos der Pflichterfüllung und betrachtet sich als Schicksalsgemeinschaft des Luftschutzkommandos [Zweitinterview6, S. 25]. Eine Trennung zwischen Kriegsgeschehen und »Gemeinschaft der Mädchen […] vom Kommando« [Zweitinterview, S. 138], in der sie sich durch die Offiziere, die sich um die Dienststellenmitarbeiterinnen kümmerten, als auch den Zusammenhalt mit den Kolleginnen geschützt fühlte, wird deutlich. Einzig in Zusammenhang mit der Sorge um die Großeltern wird Angst im »Feuersturm« benannt. Es ist zu vermuten, dass an dieser Stelle das Kontrollgefühl brüchig wird und Gefühle des Alleinseins sowie Ausgeliefertseins zum Vorschein kommen. –– Leitfrage 2: Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitungsweise aufzeigen, Typen/paradigmatische Fälle individueller Verarbeitung klassifizieren? Die Integration und Partizipation am NS-System scheinen im Verarbeitungsprozess für Frau Angel eine Stütze gewesen zu sein. Pflichterfüllung und Gemeinschaftsleben hatten für Frau Angel höchste Priorität und gaben ihr Stärke und Selbstvertrauen. »Feuersturm« und Nationalsozialismus werden als die schönste Zeit des Lebens beschrieben. Der Nationalsozialismus wird von Frau Angel entpolitisiert. Eine kritische Einstellung dem ihm gegenüber existiert, wenn überhaupt, nur vordergründig. –– Leitfrage 3: Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen/ist der paradigmatische Fall verbunden? Die »Gemeinschaft der Mädchen vom Luftschutzkommando« hält ein Leben lang und hat für Frau Angel große Bedeutung. Nach dem Krieg trat Frau Angel in den Dienst der Engländer: »Also das klappte alles und dann bin ich, ja, war ich da bei dem höchsten Chef beim Engländer und die Liesel auch, und äh, und dann war, kam ’ne furchtbare Zeit, da haben die Deutschen sich gegenseitig angezeigt« [21]. Frau Angel war nach dem Krieg bemüht, möglichst schnell einen Heiratspartner zu finden. Sie heiratete »gut« und ihre »Laufbahn, die verlief ja steil nach oben« [35]. Eine Reflexion ihrer Rolle bei den Engländern oder der NS-Zeit fand nicht statt: »In der Zeit war ich wirklich begeistert, das muss ich, das muss ich sagen« [27]. »Und wenn ich jetzt diese Verwahrlosung sehe, dann kann ich das einfach nicht begreifen […] Und darum finde ich, wäre das ganz gut, wenn die mal, äh, zu wissen kriegen wie, so wie ich, äh, groß geworden bin, und, und was ich in meinem Leben erreicht habe. Ja, und nicht weil wir nun immer da für den Führer waren oder all, all so was. Nein, das war einfach, ich hatte wunderbare Lehrer und die haben mich geformt, und ich hatte viele Talente« [2]. »Nein, es war in meinen Augen, da konnte man abends um elf allein, äh, nach Hause kommen. Da brauchten Sie keine Angst zu haben, dass Sie einen übern Kopf kriegten oder so. Und, und die Jugend war, wir waren diszipliniert. Ich war, ’36 war Olympiade. Also ich wär am liebsten dabei gewesen« [26]. –– Leitfrage 4: Gibt es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« und der psychischen Befindlichkeit heute? 6 Die Zweitinterviews wurden von den Historikern geführt.

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 s gibt keine klinisch relevanten Zusammenhänge. – Eine von Frau Angel beschrieE bene Vorwurfshaltung Ärzten gegenüber, Träume von der Großmutter, die sich im »Feuersturm« nicht retten konnte, sowie das Gefühl, körperlich beschädigt zu sein, das Frau Angel jedoch nicht auf den »Feuersturm« zurückführt, stehen möglicherweise mit den »Feuersturm«-Erlebnissen in Zusammenhang. –– Leitfrage 5: Familiäre Verarbeitung und transgenerationale Weitergabe: Wie lässt sich der familiäre Umgang mit den Kriegserlebnissen beschreiben? Frau Angel hat ein ambivalentes Verhältnis zu ihren Söhnen und lehnt es ab, dass sie im Rahmen des Projektes interviewt werden. Sie gibt als Grund an, dass ihr Ehemann ihren Söhnen schon genug vom Leid während des Krieges erzählt habe, sie sie nicht noch zusätzlich belasten wolle. Es ist zu vermuten, dass der Ablehnungsgrund mit ihrer bis heute anhaltenden Begeisterung für den Nationalsozialismus und Identifikation mit diesem sowie daraus resultierenden möglichen familiären Konflikten in Verbindung steht. –– Leitfrage 6: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und historische Erfahrungsaufschichtung: Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? Das Geschlecht spielt bei Frau Angel eine große Rolle. Ihre Schilderungen tragen häufig eine sexuelle Konnotation und die Beziehungen zu Männern haben für sie zumeist potenziell erotischen Charakter. Frau Angel verkörpert eine kleinbürgerliche Aufstiegsbiographie, die geprägt ist von Gelegenheitsstrukturen wie die Arbeit bei den Engländern. –– Leitfrage 7: Welchen Gebrauch machten die Erzähler von den historischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Nachkriegsdeutschland für die Wiedererlangung von Stabilität und einer Zukunftsperspektive boten? Die im Narrativ von Frau Angel kreierte Erfolgsgeschichte als Aufstiegsbiographie wird an einigen Stellen brüchig. Wenngleich es Frau Angel gelang, die positiven Gelegenheitsstrukturen der Kriegs- und Nachkriegszeit zu nutzen, erfüllten sich ihre Wünsche und Erwartungen doch nicht in einem von ihr erträumten Maß. Während ihre Freundinnen Rechtsanwälte und Ärzte heirateten, vermählte sie sich »unter Wert« mit einem Tischler. Sie fand schließlich als Sachbearbeiterin in der Verwaltung eines Betriebes Anstellung. Herr Heinrich China Allgemeine Beschreibung

Charakteristisch für das Interview mit Herrn China ist seine deutliche Vorwurfshaltung gegen die, die »das alles nicht erlebt« haben. Diese würden sich nicht in angemessener Weise um das damalige schreckliche Geschehen kümmern. Es herrschen grundsätzlich eher projektive Erlebens- und Verarbeitungsmodalitäten vor. Nach dem Krieg gelingt durch Fleiß und eine geglückte Partnerwahl ein beeindruckender beruflicher Aufstieg. Herr China wurde dem Typ »Vorwurfshaltung« (VH) zugeordnet.

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Biographischer Hintergrund

Herr China war zum Zeitpunkt des »Feuersturms« neun Jahre alt und lebte mit seinen Eltern, der Schwester seines Vaters und seiner fünf Jahre älteren Schwester in einer großzügigen Vierzimmerwohnung in Hamm-Süd. Der Vater verbrachte als Soldat die gesamte Kriegszeit in Frankreich. Herr China gibt an, eine unbeschwerte frühe Kindheit erlebt zu haben. Die Mutter wird als temperamentvolle, emotionale und kompetente Frau beschrieben, die anpacken konnte. Das Vaterbild der frühen Kindheit blieb vermutlich aufgrund der späteren schweren Enttäuschung (Fremdgehen des Vaters und Trennung der Eltern) in den Schilderungen etwas blass. Erleben des »Feuersturms«

Während der Luftangriffe flüchtete Herr China mit seiner Mutter und seiner Tante in den Keller. Da dieser sehr voll war, fanden sie nur noch im Gang Platz. Als eine Bombe einschlug und das Licht ausging, bekam er einen Schreck: »Erst wenn man selbst dran ist, dann ist es was anderes« [15]. Der Versuch, mit anderen Menschen in den Hof zu flüchten, scheiterte, da es dort bereits brannte. Sie nahmen daher den Vorderausgang und flohen zu einem großen Platz in der Nähe des Hauses. Dort sahen sie, dass ihr Haus lichterloh brannte, was Herr China jedoch als nicht besonders schlimm erlebte: »Das hat mich eigentlich gar nicht so nachhaltig, äh, beeindruckt. Beeindruckt hat mich also, oder beeinträchtigt, sagen wir so, ich, haben mich eigentlich die andern Dinge viel mehr« [33]. Herr China wurde mehrfach von durch die Feuerbrunst mitgerissenen Gegenständen getroffen und unter anderem im Nacken verletzt. Auf dem Weg der Flucht erlebten sie am nächsten Tag, wie über ihnen Flugzeuge Angriffe flogen, was Herrn China zutiefst erschüttert hat. Es war die einzige Stelle des Interviews, an der er weinte: »Das war schrecklich, auf diese wehrlosen Menschen« [23]. Beantwortung der Leitfragen

–– Leitfrage 1: Wie wurden die Kriegs- und Bombardierungserlebnisse des »Hamburger Feuersturms« individuell verarbeitet? Herr China schildert seine »Feuersturm«-Erlebnisse sehr plastisch und bilderreich. An manchen Stellen kommt eine starke emotionale Betroffenheit zum Vorschein: »Dann ist man schon mal ’n bisschen emotionaler geworden […] Also man hakt das ja nicht ab wie ’ne, wie ’ne, wie ’n Kontoauszug« [80]. Herrn China ist es jedoch nicht möglich, über seine Gefühle zu sprechen und diese zu benennen. Es ist zu vermuten, dass er diese nicht verbalisieren kann oder gelernt hat, dass über diese nicht gesprochen werden darf. So liest Herr China ein Buch über den »Feuersturm«, in dem das Kriegsleid sehr intensiv geschildert wird, wehrt eine emotionale Auseinandersetzung mit diesem jedoch ab mit dem Argument, dass der Autor nichts von der Materie verstehe. Herr China scheint ambivalent und hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich mit seinen Erlebnissen und Gefühlen mitzuteilen, und der Unfähigkeit, darüber zu sprechen. Die Sprachlosigkeit kann auch als Ausdruck einer Angst verstanden werden, beim Gegenüber nicht auf Verständnis zu stoßen

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und enttäuscht zu werden. Herr China löst das Dilemma der Nicht-Vermittelbarkeit der Erlebnisse, indem er dieses nach außen verlagert und wiederholt betont, dass die anderen nichts von den damaligen Erfahrungen hören wollen. Leitfrage 2: Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitungsweise aufzeigen, Typen/paradigmatische Fälle individueller Verarbeitung klassifizieren? Herr China entwickelt eine Vorwurfshaltung gegenüber allen, die den Kriegserfahrungen mit Unverständnis begegnen, sowie gegenüber Nachgeborenen: »Die heutige Generation kann überhaupt nicht ermessen […] Die haben von Tuten und Blasen keine Ahnung« [2]. Er thematisiert wiederholt die Unmöglichkeit, die Erfahrungen weiterzugeben, was auf eine mangelnde Möglichkeit ihrer Repräsentation hinzudeuten scheint. Eine Analogie zu diesen Erfahrungen tritt in dem von ihm geschilderten Umgang mit Musik zum Vorschein: Herr China gibt an, gerne zu singen, aufgrund der Unkenntnis von Noten jedoch keinen tieferen Zugang zur Musik bekommen zu können. Leitfrage 3: Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen/ist der paradigmatische Fall verbunden? Der Wiederaufbau spielt für Herrn China eine große Rolle im Umgang mit den Erlebnissen. Zur Sicherung des Überlebens musste Herr China zunächst körperlich hart arbeiten (unter anderem Steineklopfen, Aushilfstätigkeiten). Er konnte schließlich im Beruf Fuß fassen und nach »harter Arbeit« [55] aufsteigen. Aufgrund von Prüfungsangst konnte Herr China keine weiterführenden Schulen besuchen. Ein Vorgesetzter unterstützte ihn und ermöglichte ihm, in der Bank zu einer ansehnlichen Stellung zu kommen. Herr China gibt an, alles fünf Jahre später erreicht zu haben, ein »Spatzünder« zu sein [43]. Neben Stolz über das Erreichte werden Minderwertigkeitsgefühle und Unsicherheit deutlich. Leitfrage 4: Gibt es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« und der psychischen Befindlichkeit heute? Es gibt keine klinisch relevanten Zusammenhänge. Leitfrage 5: Familiäre Verarbeitung und transgenerationale Weitergabe: Wie lässt sich der familiäre Umgang mit den Kriegserlebnissen beschreiben? Seine Ehefrau gibt Herrn China Ruhe und Sicherheit. Sie beschwichtigt ihn, wenn er sich von den nachfolgenden Generationen nicht verstanden fühlt und wütend ist. Austausch und Erzählungen mit seiner Frau und Freunden, die Ähnliches erlebt haben, sind für Herrn China sehr wichtig. Gegenüber der Tochter und Enkeltochter scheinen die Erlebnisse hingegen keine Rolle zu spielen. Leitfrage 6: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und historische Erfahrungsaufschichtung: Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? Herr China stammt aus einem kleinbürgerlichen, bildungsorientierten Milieu. Seine hart erarbeiteten beruflichen Erfolge sowie sein Freundeskreis, zu dem er intensiven Kontakt pflegt, geben ihm Bestätigung. Herr China ist stets in der (männlichen) Rolle des aktiv Handelnden, dem es jedoch nicht möglich ist, über Gefühle

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zu sprechen. Gegenüber den nachfolgenden Generationen grenzt er sich mit dem Vorwurf des Nichtverstehens und einer Entwertung ihrer Leistungen deutlich ab. –– Leitfrage 7: Welchen Gebrauch machten die Erzähler von den historischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Nachkriegsdeutschland für die Wiedererlangung von Stabilität und einer Zukunftsperspektive boten? Der Bau des eigenen Hauses ist für Herrn China ein wichtiger Schritt zur Wiedererlangung von Stabilität. Durch die Gelegenheitsstruktur ist es ihm nach dem Krieg möglich, mit einem Hauptschulabschluss in den Vorstand einer Firma aufzusteigen. Herr Ronald Korn Allgemeine Beschreibung

Die Schilderungen von Herrn Korn zu seinem damaligen Erleben im »Feuersturm« repräsentieren viele der vorgefundenen Erlebensmuster (Angst im Bunker, Erleben der Zerstörung und Vernichtung, Beziehungsschilderungen in der geteilten Angst mit anderen Familienmitgliedern). Es wird an seinem Beispiel besonders deutlich, dass der »Feuersturm« in einer individuellen biographischen Situation erlebt wurde. Heute setzt sich Herr Korn aktiv mit dem »Feuersturm« auseinander und stellt sich als Zeitzeuge für Vorträge zur Verfügung. Er hat ein waches Interesse am Thema, das ihn bis heute begleitet. Herr Korn wurde dem Typ »aktiver Zeitzeuge« (AZ) zugeordnet. Biographischer Hintergrund

Der zum Zeitpunkt des »Feuersturms« acht Jahre alte Herr Korn lebte zusammen mit seinen Eltern in einer Mietwohnung in Eimsbüttel in bescheidenen, aber soliden Verhältnissen. Sein Vater war Autolackierer, seine Mutter bis zur Heirat als Hausmädchen, unter anderem bei einer jüdischen Familie, tätig. Die Beziehung zu den Eltern beschreibt Herr Korn als eng und gut. Beide Eltern wurden als liebevoll und Sicherheit gebend erlebt. Während des Krieges war der Vater als Soldat in der Nähe von Buxtehude bei der Flak eingesetzt. Erleben des »Feuersturms«

Herr Korn floh in der Nacht mit seiner Mutter in den Hochbunker. Beide hatten Angst, die Situation wurde zunehmend unheimlich: »Da sind viele ältere Menschen im Nachthemd reingetragen worden, und die hatten dann einfach nur ’n Wecker oder ’n kleines Vogelbauer in der Hand, und dann […] plötzlich ging das Licht aus […] Da waren so phosphorisierende Farben an der Wand […] Nun sah ich denn bloß noch da dunkle Schatten davor und da hab ich dann richtig Angst gekriegt, weil das, weil so eigentlich sonst hab ich, war ich ei – na ja, mein Vater hatte eben gesagt: Die Hochbunker, die sind eigentlich sicher, und da kann euch nichts passieren« [3 ff.]. Am nächsten Morgen liefen Mutter und Sohn durch die zerstörten Straßen, was bedrückend war. Als ihnen auf einer engen Straße plötzlich ein vermutlich aus Hagenbecks Tierpark entlaufener Bisonbüffel entgegengerannt kam, bekam Herr Korn große Angst. Mutter und Sohn konnten sich gerade noch in einen Hauseingang retten. Der Büffel erschien Herrn Korn

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in seiner kindlichen Wahrnehmung gefährlicher als die Bombenangriffe. Er versuchte, seiner ängstlichen Mutter Trost zuzusprechen, und fühlte sich als ihr Beschützer. Beantwortung der Leitfragen

–– Leitfrage 1: Wie wurden die Kriegs- und Bombardierungserlebnisse des »Hamburger Feuersturms« individuell verarbeitet? Herrn Korn gelingt es, seine im »Feuersturm« erlebte Ohnmacht und Passivität in Aktivität umzukehren. Er tritt als Beschützer und Tröster der Mutter auf, was ihm hilft, die Situation innerlich zu bewältigen. Erlebte Ängste werden während des »Feuersturms« und auch in späteren Situationen (Sturmflut in Hamburg) auf andere Objekte verschoben (Angst vor dem Bison, Angst um das Leben der Kühe etc.). Der enge und gute Kontakt zur Mutter, das Finden einer neuen Heimat sowie eine aktive Haltung nach dem Krieg helfen Herrn Korn, die Erlebnisse zu verarbeiten. Der »Feuersturm« dient in späteren Jahren als Anlass, sich intensiv mit der Familiengeschichte auseinanderzusetzen und sich als Zeitzeuge institutionell und öffentlich zu engagieren. –– Leitfrage 2: Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitungsweise aufzeigen, Typen/paradigmatische Fälle individueller Verarbeitung klassifizieren? Der »Feuersturm« dient als Anlass, sich mit der Familiengeschichte sowie Kriegsund NS-Zeit zu beschäftigen. Herr Korn versucht, sich den Erinnerungen zu stellen, um im Nachhinein Dinge besser verstehen zu können. Aktivität und Handeln sind für ihn wichtige Maxime. Er ist aktives Mitglied in einer Erinnerungswerkstatt und möchte seinen Beitrag dazu leisten, dass es nie wieder Krieg gibt, indem er zum Beispiel Schulkindern von den Kriegserlebnissen erzählt oder einen Stolperstein setzen lässt. Vor dem Hintergrund eigener leidvoller Erfahrungen versucht Herr Korn, anderen zu helfen. So kümmert er sich beispielsweise intensiv um ein Scheidungskind (seine Eltern haben sich ebenfalls in seiner Kindheit scheiden lassen). –– Leitfrage 3: Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen/ist der paradigmatische Fall verbunden? Herr Korn hat sich eine »pragmatische Überlebenskunst« angeeignet, die gekennzeichnet ist durch Realitätsbezug, Authentizität und einen aktiven Bewältigungsstil. Es ist ihm möglich, sich im Rahmen seiner Grenzen zu verwirklichen. Nach seinem Ruhestand nimmt Herr Korn durch seine Beteiligung an der Erinnerungswerkstatt die aktive Rolle des Zeitzeugen ein. –– Leitfrage 4: Gibt es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« und der psychischen Befindlichkeit heute? Es gibt keine klinisch relevanten Zusammenhänge. –– Leitfrage 5: Familiäre Verarbeitung und transgenerationale Weitergabe: Wie lässt sich der familiäre Umgang mit den Kriegserlebnissen beschreiben? Herr Korn hat eine gute und enge Beziehung zu seiner Frau und ein eher ambivalentes Verhältnis zu seinem Sohn. Zu seinen Enkelkindern hat er einen liebevollen Kontakt. Für sie ist er ein verständnisvoller und geduldiger Großvater. Mögli-

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cherweise fällt es Herrn Korn vor dem Hintergrund seiner leidvollen Erfahrungen mit seinem Vater und in Identifikation mit seinem eigenen Großvater leichter, ein verständnisvoller Großvater zu sein als ein guter Vater. Seine Schuldgefühle dem Sohn gegenüber scheint Herr Korn indirekt zu bewältigen, indem er zum Beispiel Möglichkeiten der Wiedergutmachung suchte und anderen Jugendlichen sein handwerkliches Können vermittelte. Mit seinem ältesten Enkel, der sich intensiv mit Sterben und Tod auseinandersetzt und sich um die Gräber von Verwandten kümmert, spricht er über seine Kriegserlebnisse. –– Leitfrage 6: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und historische Erfahrungsaufschichtung: Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? Herr Korn stammt aus einem halbproletarischen Kleinbürgertum, das ihm Sicherheit und Orientierung gab. Er bewältigt die »Feuersturm«-Erlebnisse durch Einnehmen einer eher männlich handelnden und anpackenden Rolle der aktiven Bewältigung und Abwehr der Gefühle von Ausgeliefertsein und Ohnmacht. Herr Korn kann sich an die damalige Zeit gut erinnern, teilt diese Erinnerungen mit seiner Familie, insbesondere seinen Enkelkindern, die ihm viel bedeuten. –– Leitfrage 7: Welchen Gebrauch machten die Erzähler von den historischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Nachkriegsdeutschland für die Wiedererlangung von Stabilität und einer Zukunftsperspektive boten? Herr Korn nutzte die Möglichkeiten im Nachkriegsdeutschland nur in begrenztem Umfang. Es war ihm nicht möglich, seine beruflichen Wünsche zu verwirklichen. Seine Entwicklungsmöglichkeiten waren begrenzt. Er wagte nur einzelne Überschreitungen wie eine Afrikareise und gab sich zumeist mit Ersatz und Alternativen zufrieden.

Beantwortung der Forschungsfragen unter Einbeziehung aller paradigmatischen Fälle Nach der ausführlichen Diskussion der paradigmatischen Fälle wurden in weiteren Auswertungssitzungen die bisherigen Ergebnisse zusammengetragen und unter dem Aspekt der Forschungsfragen diskutiert. Ziel war, die ausgearbeiteten Verarbeitungsmuster historisch, gesellschaftlich und psychologisch auf einem höheren Abstraktionsniveau in der Gesamtheit zu erfassen und einzuordnen. Die »Feuersturm«-Erzählung oder: Was wird erzählt? Fast alle Zeitzeugen präsentieren im Interview eine konsistente Erzählung vom »Feuersturm«, der als etwas unfassbar Schreckliches, das man nur durch Glück, Zufall oder die Vorausschau eines Erwachsenen überlebt hat, geschildert wird. Das Narrativ liefert ein zum Teil beeindruckend detailliertes und kohärentes Bild vom »Feuersturm« und den Erlebnissen, das durch einen komplexen lebenslangen Verarbeitungsprozess entstanden ist. Dabei ist das Narrativ zumeist angereichert und überformt durch zu

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einem späteren Zeitpunkt gelesene Berichte oder Dokumentationen sowie anderweitige Erfahrungen. So berichten die Zeitzeugen beispielsweise von bedrohlichen Tieffliegern während oder nach dem »Feuersturm« in Hamburg, die es in dieser Zeit nicht gab und symbolisieren dadurch das Erleben von existenzieller Bedrohung, Angst oder Ohnmacht. Andere zum Zeitpunkt des »Feuersturms« sehr junge Zeitzeugen (jünger als vier Jahre) beschreiben detailliert Situationen, an die sie sich in dieser Form kaum mehr erinnern können. Die im Rahmen des »Feuersturms« erlebte Bedrohung, Gewalt und Vernichtung scheint zugleich auch die von 1933 bis 1945 erlebten Gewalterfahrungen zu repräsentieren, die in den Erzählungen zum Teil eine untergeordnete Rolle spielen. Der »Feuersturm« beziehungsweise die Gelegenheit zum Interview im Rahmen des Forschungsprojektes dienen den Zeitzeugen als Anlass, über emotional bedeutsame Erlebnisse zu sprechen, mit dem Ziel, vom Gegenüber in ihrer biographischen Sinnbildung anerkannt zu werden. So wird in vielen Interviews nicht der »Feuersturm« als das bedeutendste Ereignis beschrieben, sondern später erlebte Verluste oder belastende Erfahrungen (zum Beispiel die Trennung der Eltern). Diese bilden den Kern der Erzählung. Das häufig drängende Anliegen, Zeugnis abzulegen, sowie der (unbewusste) Wunsch nach Bestätigung – vor allem auch leidvoller Erfahrungen – erscheinen vor dem Hintergrund des höheren Alters und der damit einhergehenden Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und der Endlichkeit verständlich. Leitfrage 1: Wie wurden die Erlebnisse des »Feuersturms« individuell verarbeitet?

Das Narrativ der Zeitzeugen ist durch ein Wechselspiel aus individuellen, familiären und gesellschaftlichen Verarbeitungsprozessen entstanden und stellt eine Verdichtung von Erfahrungen im »Feuersturm«, aus der Kriegszeit sowie der gesamten Lebensgeschichte dar. Nachfolgende Faktoren waren für die unmittelbare und mittelfristige Verarbeitung des »Feuersturm«-Erlebnisses entscheidend:  1. die Anwesenheit von nahestehenden, Halt und Sicherheit gebenden Menschen, die »Bescheid wussten«, nicht den »Kopf verloren«, handelten oder etwas sagten,  2. die vorbestehende psychische Stabilität als Folge einer ausreichend guten Beziehung zu den wichtigsten Bezugspersonen der Kindheit,  3. die biographische Situation zum Zeitpunkt des »Feuersturms«,  4. das Ereignis als solches: Verlust von Angehörigen, Wohnung, Eigentum etc.,  5. die Bewertung des »Feuersturms« als biographischen Einschnitt,  6. die weitere Erfahrung von Krieg und Gewalt oder von Isolation, Entbehrung, Unrecht. Die langfristige Verarbeitung geschieht im Kontext der Nachkriegsbiographie und entwickelt sich fortlaufend im Rahmen der Lebensgeschichte. Hierfür ergeben sich folgende, ergänzende Faktoren:  1. Ausgrenzung oder Demütigung,  2. narzisstische Erschütterung durch die Niederlage Deutschlands,

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 3. Teilhabe am Wiederaufbau,  4. Gesprächsangebote und Identifikationsmöglichkeiten nach dem Krieg,  5. Aufbau von inneren Abwehrstrukturen bei limitierten Möglichkeiten zur Veränderung sowie geringen äußeren Resonanzerfahrungen,  6. äußerer Erfolg,  7. Partnerwahl und Familiengründung als Stabilisierung oder Fortsetzung früherer schwieriger Erfahrungen,  8. retrospektive Sinnbildung,  9. Übernahme von gesellschaftlichen Deutungs- und Verarbeitungsangeboten zur Lebenserfahrung, 10. Beziehungssetzung zum Holocaust und Beschäftigung mit der NS-Zeit, 11. Entwicklung eines Bedürfnisses nach Tradierung an die nachfolgenden Generationen. Leitfrage 2: Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitung aufzeigen/Typen individueller Verarbeitung klassifizieren?

Wie vorausgehend dargestellt, konnten von Birgit Möller und Malte Thießen unter dem Leitbegriff der Verarbeitung insgesamt 13 typologische Muster differenziert werden. Sie dienten als Vorschlag und Grundlage für die Auswahl der neun ausführlich beschriebenen paradigmatischen Fälle (vgl. oben). Leitfrage 3: Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen und die paradigmatischen Fälle verbunden?

Die Umgangsstrategien erhalten vor dem Hintergrund der unter Leitfrage 1 zusammengefassten individuellen, familiären, gesellschaftlichen und historischen Einflussfaktoren eine individuelle Prägung. Neben kollektiven Deutungsangeboten (Wiederaufstieg oder Schicksalsgemeinschaft) fördern Gelegenheitsstrukturen, die nach dem Krieg berufliches Fortkommen oder Wohlstand wie Hausbau ermöglichen, die langfristige Verarbeitung der Kriegserlebnisse und dienen der äußeren und inneren Stabilisierung. Darüber hinaus haben die Unterstützung durch die Familie und den späteren Partner oder die spätere Partnerin sowie die Gründung einer eigenen Familie eine große Bedeutung. Verluste werden partiell wiedergutgemacht und schmerzliche oder traumatisierende Erlebnisse mitgeteilt und emotional aufgenommen beziehungsweise bewahrt. Die lebensgeschichtliche Verarbeitung und der Werdegang werden in den Interviews zumeist als Erfolgsgeschichte präsentiert beziehungsweise umgedeutet, was die Wichtigkeit der Einbettung der Erlebnisse in individuelle Bedeutungszusammenhänge und eine kohärente Sinngebung unterstreicht. Das aktive Handeln und Gestalten scheint ein wichtiges Gegengewicht zu bilden, die erlebte Ohnmacht, Gewalt und Zerstörung zu verarbeiten. Das Füllen von Leerstellen im Narrativ, seine Überformung durch Medienberichte oder andere lebensgeschichtliche Erfahrungen und die Wendung ins Positive

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können auch – wie manche Interviews gezeigt habe – der Abwehr einer Sprachlosigkeit beziehungsweise Zerstörung der Symbolisierungsfähigkeit durch eine Traumatisierung dienen. Leitfrage 4: Gib es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« und der psychischen Befindlichkeit heute?

Im Gegensatz zu unseren Vorannahmen stellten sich die Zeitzeugen im Interview überwiegend als psychisch gesund und im klinischen Sinne gar nicht bis in geringem Maße traumatisiert dar. Einige Zeitzeugen beschreiben Reaktionen auf Sirenen, Feuerwerk, bestimmte Gerüche oder Ähnliches, die sie auf die »Feuersturm«-Erlebnisse zurückführen. Dieser Befund deckt sich mit den Daten der quantitativen Erhebung (vgl. den Beitrag von Lamparter, Buder, Sydow, Nickel und Wiegand-Grefe). Es ist zu vermuten, dass vor dem Hintergrund eines Selektionseffektes nur psychisch stabile und aktive Zeitzeugen, die auf eine positive Lebensbilanz zurückblicken, an der Untersuchung teilnahmen und das Ausmaß der psychopathologischen Folgen in dieser Untersuchung unterschätzt wird. Leitfrage 5: Familiäre Verarbeitung und transgenerationale Weitergabe: Wie lässt sich der familiäre Umgang mit den Kriegserlebnissen beschreiben?7

Für viele Zeitzeugen spielen die Partner für die Verarbeitung eine große Rolle. Sie stehen als Gesprächspartner zur Verfügung, nehmen die Erlebnisse anerkennend und sinngebend auf. Da die meisten Partner die Kriegszeit und den »Feuersturm« ebenfalls erlebt haben, besteht ein emotionaler Zugang, der verbindet. Manche Zeitzeugen und ihre Partner vermeiden ein Gespräch, um mit für sie schwierigen oder belastenden Gefühlen nicht in Kontakt zu kommen. In Bezug auf die nachfolgenden Generationen gestaltet sich der Umgang mit dem »Feuersturm« zuweilen schwierig. Der »Feuersturm« fungiert als Seismograph für familiäre Konflikte und Ambivalenzen sowie als Projektionsfläche für Auseinandersetzungen. So wird die »Feuersturm«-Erzählung und ihre unzureichende Beachtung durch die Kinder von den Eltern häufig als Anlass genommen, ihnen Desinteresse und emotionale Gleichgültigkeit vorzuwerfen. Dahinter stehen zumeist Gefühle der Zurückweisung, der unzureichenden Wertschätzung und Anerkennung sowie mangelnden Zuwendung durch die Kinder, die nur auf diesem Wege artikuliert werden können und eine lange Vorgeschichte haben. Manche Kinder schützen sich durch Zurückweisung vor elterlicher Funktionalisierung oder zu großer emotionaler Belastung. Neben unterschiedlichen Wünschen, Bedürfnissen und Konflikten wird auch der Umgang mit dem Nationalsozialismus über den »Feuersturm« verhandelt. Manche Zeitzeugen lehnten es vor dem Hintergrund ihrer anhaltenden Begeisterung für den Nationalsozialismus und der kritischen Haltung ihrer Kinder sowie daraus resultierenden befürchteten Konflikten ab, dass auch diese interviewt würden. 7 Dieser Frage wird hier aus Sicht der Zeitzeugen nachgegangen.

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Im Gegensatz zu den Kindern gestaltet sich der Umgang der Zeitzeugen in Bezug auf die Enkelkinder deutlich entspannter. Dies hat mit dem geringeren Konfliktpotenzial und der weniger starken emotionalen Verstrickung zu tun. Viele Zeitzeugen gaben an, dass sich die Enkelkinder für die Erlebnisse interessieren und sie mit ihnen darüber regelmäßig sprechen würden. Manche schreiben ihre Erinnerungen für sie auf oder vermachen ihnen signifikante Erinnerungsstücke. Die Interviews haben gezeigt, dass es manchmal auch dreier Generationen bedarf, um etwas aufzugreifen, was von den Zeitzeugen und ihren Kindern in seiner tiefen emotionalen Bedeutung nur begrenzt integriert werden konnte (vgl. Möller u. Thießen, 2010). Für manche Zeitzeugen hat die »Feuersturm«-Erzählung in der Familie einen zentralen Stellenwert: Sie ist Teil eines immer wieder neu verhandelten und in Wandlung begriffenen familiären Selbstbildes und dient als Identifikationsangebot. In diesen Familien wird über den »Feuersturm« regelmäßig gesprochen, zum Beispiel bei Familienzusammenkünften. Einige Zeitzeugen haben erst spät angefangen, mit ihrer Familie über die »Feuersturm«-Erlebnisse zu sprechen. Leitfrage 6: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und historische Erfahrungsaufschichtung: Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? Geschlecht Die bei den Prototypen beschriebenen geschlechtstypischen Verarbeitungsformen greifen auf gesellschaftlich geprägte Rollenmuster und -erwartungen zurück. Es ist daher wichtig, sie in Wechselwirkung mit den historischen und kulturellen Gegebenheiten zu betrachten, da sie gesellschaftlich ständig neu verhandelt werden. Geschlechterrollen-Stereotype sind Grundlage für den Aufbau sozialer Interaktionen und Strukturen. In den Interviews sind geschlechtstypische Muster der Verarbeitung zu finden. So versuchen Frauen eher durch Hinwendung zur Familie (familiärer Zusammenhalt, Harmonie), Sprechen über die Erfahrungen, Beschäftigung mit psychologischen Themen, Ergreifung eines helfenden Berufes und Genügsamkeit in Hinblick auf eigene Entwicklungsmöglichkeiten (unter anderem in Hinblick auf die berufliche Weiterentwicklung) ihre Erlebnisse mittel- und langfristig zu verarbeiten. Männer hingegen stabilisieren sich zumeist über das berufliche Fortkommen und den Aufstieg. Sie sind eher in einer nach außen gerichteten, aktiv handelnden Rolle, in der viele die Möglichkeit nutzten, die ihnen durch die Gelegenheitsstrukturen in der Nachkriegszeit angeboten beziehungsweise zugewiesen wurde (beruflicher Aufstieg). Männer, die bei der Wehrmacht waren, setzen sich häufig stark für bestimmte politische Werte wie Pazifismus ein. Die durch (damalige) gesellschaftliche Rollenerwartungen und soziale Klischees geprägten geschlechtsspezifischen Muster weisen zudem darauf hin, dass in Bezug auf die Kriegserinnerungen Sagbarkeitsregeln zum Tragen kommen, die Frauen und Männern spezifische durch Medien, Erinnerungskultur und Familienbeziehungen geprägte Erzählungen zuweisen (vgl. den Beitrag von Thießen in diesem Band). Manche Frauen und Männer lösen sich von den gesellschaftlichen Vorstellungen

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ab und gehen ihren eigenen Weg. So studieren einige Zeitzeuginnen unter zum Teil schwierigen Bedingungen oder verwirklichen sich im Beruf. Manche Männer engagieren sich in sozialen Zusammenhängen. Generation Der »Feuersturm« dient transgenerational als generationenübergreifender Bezugspunkt, der viele Funktionen erfüllt. Einige Zeitzeugen definieren sich als »Kriegskinder« oder »Trümmerfrauen» und grenzen sich als einer Erinnerungsgemeinschaft zugehörig von der »zweiten Generation«, die sie in ihren Erfahrungen nicht verstehen kann, ab. Für andere Familien dient der »Feuersturm« im familiären Gedächtnis als Möglichkeit der Identifikation mit bestimmten familiären Werten und in Bezug auf die eigene biographische Verortung als sinnstiftend. Im Hinblick auf die Traumatisierung mancher Zeitzeugen dient die generationsübergreifende Beschäftigung mit dem »Feuersturm« der Verarbeitung der Erlebnisse, die von den Zeitzeugen kaum bis gar nicht integriert werden können. Schicht

Die schichtspezifischen Werte (Bildung, Genügsamkeit vs. berufliches Weiterkommen, schichtspezifischer Zusammenhalt und Vernetzung) geben den meisten Zeitzeugen Stabilität sowie Orientierung und Strategien für den Umgang mit (schwierigen) Lebenssituationen. 7. Welchen Gebrauch machten die Erzähler von den historischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Nachkriegsdeutschland für die Wiedererlangung von Stabilität und einer Zukunftsperspektive boten?

Die Gelegenheitsstrukturen – insbesondere in Hinsicht auf einen beruflichen Aufstieg, berufliche Anerkennung und Weiterbildungsmöglichkeiten – spielen bei den Zeitzeugen eine zentrale Rolle für die Wiedererlangung von Stabilität und die Wiederherstellung eines positiven Selbstwertgefühls. Die Identifikation mit dem gesellschaftlichen »Wiederaufbau«, der Bau eines Hauses oder Erwerb einer Wohnung sind für die Zeitzeugen wichtige Meilensteine, im Nachkriegsdeutschland wieder Fuß zu fassen. Die spätere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit durch Seminare, im Rahmen von Erinnerungswerkstätten etc., das Engagement der Betroffenen und ihre soziale Anerkennung als Zeitzeugen sowie ihr darüber hinausgehendes Eingebundensein in soziale Netze und Gemeinschaften haben sinnstiftenden Charakter und helfen, die Erlebnisse zu integrieren. Manche nutzen die Möglichkeit, sich mit Hilfe psychologischer Angebote tiefgehender mit ihrer Lebensgeschichte auseinanderzusetzen.

Fazit Alle interviewten Zeitzeugen sehen ihre Erfahrung im »Hamburger Feuersturm« als zentral in ihrem Leben an. Die Erinnerung an den »Feuersturm« rührt die Untersuch-

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ten bis heute tief an. Sie erinnern das Erlebte plastisch, manche Untersucher berichten von starken Empfindungen während der Gespräche. Dies verbindet sich bestätigend mit den quantitativen Befunden, die zeigen, dass über 50 Prozent der Interviewten in der quantitativen Befragung den »Feuersturm« als das schlimmste Ereignis ihres Lebens angaben (Buder, 2010). Die überraschend geringe Manifestation klinischer Zusammenhänge geht wahrscheinlich auch auf einen Stichprobenbias beziehungsweise die Selektion der Untersuchungsgruppe zurück. Dennoch wurden in einigen Fällen bis heute bestehende Traumatisierungen deutlich. Der Leitbegriff der hier vorgestellten Auswertung, der Begriff der »seelischen Verarbeitung«, hebt auf die Abfolge von traumatischer Erfahrung, dadurch erfolgter Prägung und die in Wechselwirkung mit der gesellschaftlichen beziehungsweise historischen Entwicklung entstandenen Lebensmotive in der Nachkriegszeit ab. Mit dem vorgestellten Ansatz erscheint es möglich, diese Vorgänge so nachzuzeichnen, dass ihre individuelle Komplexität und Einzigartigkeit erhalten bleibt und doch das Typische im Einzelfall hervortritt.

Literatur Buder, V. (2010). 60 Jahre später: Leiden überlebende Kinder und Jugendliche des »Hamburger Feuersturms (1943)« an einer posttraumatischen Belastungsstörung? Dissertation. Universität Hamburg, Fachbereich Medizin. Deneke, F.-W. (1998). Psychische Struktur und Gehirn. Stuttgart: Schattauer. Ehlers, A., Steil, R., Winter, H., Foa, E. B. (1996). Deutsche Übersetzung der Posttraumatic Stress Diagnostic Scale (PDS). Oxford: University, Warnford Hospital. Erdheim, M. (2001). Psychoanalyse und Kulturwissenschaften. In R. Apsel (Hrsg.), Ethnopsychoanalyse. Bd. 6, Forschen, erzählen und reflektieren (S. 182–201). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Gerhardt, U. (1995). Typenbildung. In U. Flick, E. von Kardorff, H. Keupp, L. von Rosenstiel, S. Wolff (Hrsg.), Handbuch qualitative Sozialforschung (S. 435–439). Weinheim: Beltz. Gerhardt, U. (2001). Idealtypus – Zur methodologischen Begründung der modernen Soziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lamparter, U., Holstein, C., Thießen, M., Wierling, D., Wiegand-Grefe, S., Möller, B. (2010). 65 Jahre später. Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« (1943) im lebensgeschichtlichen Interview. Forum der Psychoanalyse, 26 (4), 365–387. Möller, B., Lamparter, U., Wiegand-Grefe, S. (2012). »Und plötzlich war ich ganz allein«. Traumatisierende Erfahrungen einer Jugendlichen während des »Hamburger Feuersturms« bzw. Zweiten Weltkrieges und ihre transgenerationale Weitergabe. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. Ergebnisse aus Psychotherapie, Beratung und Psychiatrie, 61 (8), 623–640. Möller, B., Thießen, M. (2010). Familiäre Tradierung der Erlebnisse des »Hamburger Feuersturms«: Drei Generationen berichten. ZPPM, Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin. Themenschwerpunkt Transgenerationale Traumatisierung, 8 (1), 25–39. Stuhr, U., Lamparter, U., Deneke, F.-W., Oppermann, M., Höppner-Deymann, S., Bühring, B., Trukenmüller, M. (2001). Das Selbstkonzept von »Gesunden«. Verstehende Typenbildung von LaienKonzepten sich gesundfühlender Menschen. Psychotherapie & Sozialwissenschaft, 3 (2), 98–118. Sydow, V. (in Vorbereitung). 60 Jahre später: Angst und Depression bei Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms. Dissertation. Universität Hamburg, Fachbereich Medizin. Weber, M. (1904/1988). Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In J. Winkelmann (Hrsg.), Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (S. 145–214). Tübingen: Mohr Siebeck.

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Malte Thießen

Der Luftkrieg als Lebens- und Familiengeschichte Medien und Rahmen der Erinnerung an den »Feuersturm«

Seit Jahren erforschen Historiker und Psychoanalytiker den individuellen und familiären Umgang mit dem Nationalsozialismus. Welche neuen Erkenntnisse kann da eine Untersuchung von Zeitzeugen des »Feuersturms« und deren Angehörigen gewinnen? Dieser Beitrag möchte die Frage beantworten, indem Ergebnisse des Projekts aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive präsentiert werden. Da erste Ergebnisse bereits veröffentlicht worden sind (vgl. Lamparter et al., 2009; Thießen, 2009a; 2009b; 2009c; 2009d; 2009e; Möller u. Thießen, 2010; Lamparter et al., 2010a; Lamparter et al., 2010b; Apel, 2011a; Apel, 2011b), geht es im Folgenden vor allem darum, neue Befunde der Untersuchung zu präsentieren, die zukünftigen Forschungen Impulse geben könnten. Solche Impulse gehen zunächst einmal von der Interdisziplinarität des Projekts aus, zumal gerade die Zusammenarbeit von Historikern und Psychoanalytikern umstritten ist (vgl. Wehler, 1974; von Plato, 1998). Trotz aller Schwierigkeiten, die interdisziplinäre Kooperationen gemeinhin aufwerfen, erwies sich der Austausch in diesem Projekt als sehr fruchtbar (vgl. den Beitrag von Wierling in diesem Band). So führte die wiederholte Mahnung der Psychoanalytiker an die Historiker, in Zeitzeugeninterviews nicht nur auf gesellschaftliche Kontexte und lebensgeschichtliche Prozesse, sondern ebenso auf familiäre Dynamiken zu achten, zu Erkenntnissen, die im letzten Abschnitt des Beitrags eine Rolle spielen werden. Impulse gehen zweitens vom Untersuchungsfokus des Projekts aus. Mit der Analyse individueller und familiärer Erinnerungen an den »Feuersturm«, wie die Luftangriffe auf Hamburg vom Juli 1943 bezeichnet werden, konzentriert sich die Studie auf ein konkretes lokales Ereignis. Was auf den ersten Blick als Beschränkung erscheint, erweist sich letztlich als Erweiterung des methodischen Zugriffs. So bietet die Fallstudie erstmals Gelegenheit, die Bedeutung einer Stadt als Erinnerungsrahmen systematisch zu erkunden. Dieser Rahmen spielt im Folgenden insofern eine Rolle, als gefragt werden soll, inwiefern städtische Räume Erinnerungen von Zeitzeugen und deren Weitergabe beeinflussen. Dass diese Erinnerungsrahmen die Forschung über das historische Gedächtnis von Beginn an bewegt haben, belegen bereits die Pionierarbeiten von Maurice Halbwachs (1925/1985). Seit dem »Spatial Turn« in den Kulturwissenschaften kommt eine Vielzahl an Studien hinzu, die den Zusammenhang von Erinnerung und städtischem

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Raum erkunden (vgl. Assmann, 2009; Lossau, 2009; Reeken u. Thießen, 2013, in Vorbereitung). Umso erstaunlicher ist es, dass der Einfluss von Gebäuden und Orten, von lokalen Erinnerungskulturen und Medienöffentlichkeiten in der »Oral History« bislang weitgehend übersehen wird (vgl. Cappelletto, 2006; Mazur-Stommen, 2008, S. 81). In dieser Hinsicht bietet das Projekt Anregungen, den sozialen Nahbereich von Zeitzeugen genauer zu erfassen. Drittens möchte dieser Beitrag den medialen Einfluss auf Zeitzeugen verstärkt untersuchen. Bislang dominiert in der Forschung die Vorstellung, dass Spielfilme und TV-Dokumentationen mit historischem Sujet als Erinnerungsimpuls fungieren (vgl. Welzer, 2008). So haben die wegweisenden Studien zur »Tradierung von Geschichtsbewusstsein« zeigen können, wie sich in private Erzählungen vom Krieg Episoden aus Filmen einschleichen, da diese einen »Assoziationsraum der NS-Vergangenheit« (Welzer, Moller u. Tschuggnall, 2002, S. 109) eröffnen. Dieser Befund wird vom »Feuersturm«-Projekt bestätigt. Auch bei den Hamburger Zeitzeugen und ihren Angehörigen spielen TV-Dokumentationen über die NS-Zeit eine Rolle. Allerdings formen noch andere Medienformate die Erzählungen. Auch dieser Einfluss soll im Folgenden genauer in den Blick genommen werden. Diese Überlegungen bestimmen die weitere Gliederung. Der erste Abschnitt erkundet den Zusammenhang von Medien und Erinnerungen und kreist um die Frage, inwiefern Nachrichtensendungen einen Referenzrahmen eröffnen. Den zweiten Schwerpunkt bildet eine Analyse lokaler Erinnerungskulturen und ihrer Bedeutung für Lebens- und Familiengeschichten. Drittens wird der städtische Raum vermessen, indem Spuren des Krieges und Topographien als Ankerplätze der Erinnerung analysiert werden. Im Mittelpunkt des vierten Abschnittes (S. 113 ff.) steht die Familie als soziales Handlungsfeld, das von spezifischen Medien wie Erfahrungsberichten oder Relikten des Krieges und von familiären Praktiken wie Spaziergängen und Geburtstagsfeiern geprägt ist. Hier geht es auch um die Frage, was im Familiengedächtnis passiert, wenn der Erinnerungskonsens brüchig wird. Solche Konflikte verweisen auf den fünften Abschnitt (S. 118 ff.), in dem über die Familien hinausgeblickt und der Freundeskreis als Erinnerungsrahmen erkundet wird. Am Beginn des Projekts stand die Frage, warum sich Zeitzeugen noch heute so genau an den Luftkrieg erinnern, obgleich die Ereignisse mittlerweile mehrere Jahrzehnte zurückliegen? Bereits während der ersten Interviews fiel auf, wie präzise viele befragten Zeitzeugen Auskunft geben können, selbst wenn sie zum Zeitpunkt des Geschehens noch Kinder oder gar Kleinkinder waren. Schließlich betrug das Durchschnittsalter der befragten Zeitzeugen im Juli 1943 gerade mal zwölf Jahre. Eine erste naheliegende Erklärung für das Erinnerungsvermögen wäre die Bedeutung des »Feuersturms«. Demnach erinnert man sich an einschneidende Ereignisse genauer als an andere, haben »Erinnerungen an ein Symbol« (von Plato, 2007) eine hohe Tradierungswahrscheinlichkeit. Allerdings lässt sich in einigen Interviews feststellen, dass für viele Zeitzeugen andere Dinge größere Bedeutung hatten: der Verlust von Angehörigen an der Front, Verletzungen und Krankheiten, Gefangenschaft und soziale Probleme in

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der Nachkriegszeit, aber auch spätere Erfahrungen wie Trennungen oder Todesfälle. Dass dem Luftkrieg heute eine historische Bedeutung zugeschrieben wird, erklärt also noch nicht dessen Stellenwert in Lebens- und Familiengeschichten. Eine plausiblere Erklärung für das Erinnerungsvermögen dürfte die Erkenntnis der Erinnerungsforschung sein, dass wiederholte Kommunikation und spätere Rückblicke eine Tradierung von Erinnerungen befördern, die sich in bestimmten Erzählungen und Episoden festsetzt (vgl. Welzer, 1998). Das entspricht dem Erkenntnisinteresse der »Oral History«, die in Erinnerungen kein Abbild historischer Erlebnisse, sondern eine Quelle für »verarbeitete Geschichte« (von Plato, 2007, S. 133) sieht, in der sich »Konstruktions- und Sinnbildungsprozess[e]« (Wierling, 2003, S. 97) analysieren lassen. In diesem Sinne bietet dieser Beitrag eine Analyse von Kommunikations- und Sinnbildungsgelegenheiten – insofern erklären Medien, städtische Erinnerungskulturen und Räume, die Familie und der Freundeskreis, warum und wie die Zeitzeugen an den »Feuersturm« zurückdachten und von ihm berichteten, so dass der Luftkrieg zu einem Kapitel der Lebens- und Familiengeschichte gerann.

Analogiebildungen und Aktualisierungen: Fernsehen und Erinnerung Inwiefern erklären das Fernsehen, Radio und Zeitungen, dass Zeitzeugen sich heute noch an den »Feuersturm« erinnern? Warum geben öffentliche Medien einer Tradierung von Erinnerungen Anstöße? In mehreren Interviews fällt auf, dass Zeitzeugen ihre Erlebnisse anhand von Analogien erzählen, wie in dem Gespräch mit Herrn Siller: »Sie müssen sich ein richtiges Chaos vorstellen, wie man das heute so in Bagdad, und so ungefähr muss man sich das vorstellen, so sah das hier überall aus« (Siller, 18. 10. 2006 [21]).1 Ein anderes Beispiel für solche aktuellen Bezüge bietet das Interview mit Herrn Cramer: »Das hat man wohl so im Laufe von 70 Jahren im Kopf immer noch drin. Dass man das behält. Und ich bring das immer in Verbindung mit dem heutigen Krieg im Irak. Ich finde es so furchtbar, dass so viele Leute jeden Tag da sterben müssen. […] es ist ja kein richtiger Krieg, wo ’ne Armee gegen eine Armee kämpft, sondern die stellen irgendwo ein Auto in die Ecke und es fliegt in die Luft, und die Leute mit, und keiner weiß warum. […] Und das erinnert mich natürlich auch immer an mein eigenes Erlebnis, wo man doch empfunden hatte, dass man eigentlich, dass das Glück war, dass man da rausgekommen ist« (Cramer, 02. 03. 2007, [4–5]). 1

Alle Namen der Interviewpartnerinnen und -partner wurden anonymisiert. Belegt werden die folgenden Interviewausschnitte mit Angabe des anonymisierten Nachnamens, des Interviewdatums und der Seitenangabe der Transkription durch Zahlen in eckigen Klammern, so dass die Zitate in den Interviewbeständen der »Werkstatt der Erinnerung« der FZH geprüft werden können. Einige Interviewpassagen wurden wegen der besseren Lesbarkeit sprachlich behutsam geglättet.

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An solchen Analogiebildungen werden zwei Dinge deutlich: Erstens geben Medieneinflüsse den Zeitzeugen Anstöße, sich überhaupt zu erinnern. Zweitens, und das ist für eine Weitergabe bedeutsam, dienen Medieneindrücke als Referenz, um eigene Erlebnisse zu erklären. In beiden Beispielen ist diese Referenz die Unberechenbarkeit eines (Terror-)Krieges im Irak, die als eigene Kriegserfahrung im »Feuersturm« präsentiert wird. Ein drittes Beispiel unterstreicht diesen Befund. Hier deutet die Zeitzeugin Gemeinsamkeiten zwischen den Eindrücken vom »Feuersturm« und jenen aus dem heutigen Irak als Anregung für ihre eigene Kriegserinnerung: »Es gibt ja auch Bilder, wo Sie die Zerstörung der Häuser sehen, wo Sie da hineingucken können, ja. Da hab ich genau das gleiche Gefühl wieder. Dann hab ich das Gefühl, so ist das bei dir gewesen, genauso. Ja, das berührt mich wahnsinnig. Und ich weiß auch, wie die Menschen sich fühlen, die in diesem, in diesem Dilemma sitzen und in diesen beengten Sachen, und in diesen Bunkern, die sie aufsuchen müssen und, es wird ja nicht sehr häufig gezeigt, aber auch in diesen Flüchtlingslagern. Ich weiß genau wie die, solche Leute sich fühlen« (Hessling, 09. 08. 2006, [54]). Auch darum berichten Zeitzeugen noch heute vom »Feuersturm«: weil Kriege stets in den Medien präsent sind und einen Deutungsrahmen aufspannen, in dem der Zweite Weltkrieg für andere vermittelbar wird. Diese Analogiebildungen haben zwei Konsequenzen. Erstens verschwimmen in diesen Erzählungen die Grenzen zwischen Geschichte und Gegenwart, stecken »aktuelle Interpretationsschemata« den Rahmen ab, »in dem autobiographische Erinnerungen erzählt werden« (Tschuggnall, 2000, S. 87). Zweitens fungieren Medien als Medien im eigentlichen Wortsinn: Aktuelle Kriegsberichte geben den Zeitzeugen Gelegenheit, ihre Erlebnisse an andere zu vermitteln. »Und unser Enkel«, so berichtet es Frau Brinkner, »der ist neun Jahre alt und der fragt denn auch noch immer wieder, vor allem auch wie das mit dem Irakkrieg kam. Da fragte er denn auch, was wir erlebt hätten und ob das schlimm ist, und ob man heute noch Angst fürs Leben hätte« (Brinkner, 11. 04. 2005, [29]). Medien sind daher sowohl eine Erklärung, warum Zeitzeugen sich erinnern, als auch wie sie sich erinnern. Die Erzählbarkeit des Luftkriegs fußt auf seiner Anschlussfähigkeit an gegenwärtige Medieneindrücke. In diesem Sinne handelt es sich bei den Interviews stets um Aktualisierungen der Lebensgeschichte, die sich am medialen Referenzrahmen ausrichten. Dieser Referenzrahmen reicht demnach weiter, als bisherige Forschungen vermutet haben. Für Zeitzeugen dienen nicht nur explizite Bezüge auf den Zweiten Weltkrieg als Erinnerungsimpuls, wie sie TV-Dokumentationen und Filme über den Nationalsozialismus bieten. Ebenso wichtig ist der ganz normale Medienalltag, dessen Bilder und Deutungen Aktualisierungen anregen.

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Lokale Erinnerungskulturen als Erinnerungsrahmen Mit den Medien hängt ein zweiter Erinnerungsrahmen untrennbar zusammen. In ungefähr einem Drittel der Interviews beziehen sich Zeitzeugen auf Filme des NDR oder auf Serien in Lokalzeitungen, auf Ausstellungen, Bücher und Denkmäler, die an den Luftangriff auf Hamburg im Juli 1943 erinnern. »Ja grade jetzt«, so erklärt zum Beispiel Herr Meyer, »wo das alles 60 Jahre her war, aber auch als das 50 Jahre her war, wann immer im Fernsehen alles war« (Meyer, 30. 11. 2006, [12]), sei Gelegenheit für persönliche Rückblicke gewesen. Ein anderer Zeitzeuge beschreibt es ähnlich: »Es hat mich schon viele Jahre irgendwie bewegt, diese ganze Geschichte, überhaupt wenn so Jahrestage sind und im Rundfunk oder im Fernsehen irgendwelche Sendungen sind, und dann geht einem das schon sehr nahe, weil dann die ganze Erinnerung wieder durchkommt« (Sander, 28. 08. 2006, [1]). Hervorzuheben sind solche Schilderungen, weil sie den Einfluss lokaler Erinnerungskulturen belegen. Zwar finden sich unter den Befragten auch Hinweise auf nationale Debatten, setzen sich einzelne Zeitzeugen etwa mit der Ansprache Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Kriegsendes auseinander. Die städtische Erinnerungskultur ist in unserem Sample indes ungleich präsenter. Dieser Befund ist wenig erstaunlich, da ein Großteil der Zeitzeugen Berichte für eine Serie des »Hamburger Abendblatts« zum 60. Jahrestag beigesteuert hat, die meisten Zeitzeugen also selbst Teil der städtischen Erinnerungskultur sind. Doch gerade dieses Engagement unterstreicht noch den Stellenwert lokaler Erinnerungsrahmen, der von der Forschung bislang übersehen wurde. Im Falle des »Feuersturms« ist dieser Befund umso bedeutsamer, weil Forschungen über die »Kriegskinder« oder das »Familiengedächtnis« oft behaupten, dass für Erinnerungen an den Luftkrieg, an Leid und Schrecken der deutschen Opfer jahrzehntelang kein öffentlicher Referenzrahmen bestanden habe. Nicht nur in der Öffentlichkeit, auch in wissenschaftlichen Beiträgen war die Rede von einem »Tabu« in der Erinnerungskultur, mit dem sich ein Verdrängen der Kriegserlebnisse erkläre (vgl. Thießen, 2007, S. 399 ff.). Auch die Studien um Harald Welzer haben in einer erinnerungskulturellen Dominanz des Holocaust eine Erklärung gesehen, warum im Familiengedächtnis »Wechselrahmungen« und Heroisierungen festzustellen seien, so dass Kriegsgeschichten in den Mustern des Holocaust berichtet würden. Demnach habe eine Lücke zwischen »der öffentlichen Erinnerungskultur auf der einen Seite und familiärer Tradierung auf der anderen Seite« (Welzer, Moller u. Tschuggnall, 2002, S. 7 ff., 163 ff.) dazu geführt, dass für das Leid der Deutschen keine öffentlichen »Basiserzählungen« bereit gestanden hätten. Dass diese Vorstellung nicht zu halten ist, zeigt nicht nur die Hamburger Fallstudie. In der Hansestadt ebenso wie in Dresden, Halberstadt, Kassel, Köln, Lübeck, Magdeburg, Pforzheim, Würzburg und vielen Städten mehr war die Erinnerung an das Leid der Deutschen, an Bombennächte und Bombenopfer stets öffentlich präsent (für Hamburg vgl. Thießen, 2007; für Dresden vor allem Neutzner,

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2005; Widera, 2005; von Plato, 2007; für weitere Städte unter anderem die Beiträge in Niven, 2006; Rosenfeld u. Jaskot, 2008; Arnold, Süß u. Thießen, 2009; Arnold, 2011; vgl. auch Alexander von Platos Beitrag in diesem Band). Lokale Erinnerungskulturen geben also ebenfalls Hinweise, warum der »Feuersturm« erinnert wird: weil er bis heute immer wieder, nicht zuletzt im Rhythmus der Jahrestage, öffentlich gedeutet wurde. Bemerkenswert ist dieser Einfluss lokaler Erinnerungskulturen auch, wenn man ihn zeitlich in seine Anfänge im »Dritten Reich« zurückverfolgt. Bereits die nationalsozialistische Erinnerungskultur prägte die Erinnerung einiger Zeitzeugen, wie die Schilderungen von Herrn Hermann von der Zeit nach dem »Feuersturm« nahelegen: »Es war auch einige Wochen nach, nach den Angriffen war ein großer Gottesdienst auf ’m Rathausmarkt. Da bin ich auch hingewesen. Der Rathausmarkt war voll. Und vom Balkon des Rathauses hat ein Pastor, hat eine Predigt gehalten, und hat uns gesegnet, das weiß ich noch. […] Ja das, das war auch unheimlich beeindruckend, ich hab das eigentlich immer gesucht so, ich suchte da so, so Menschen, die mir helfen konnten, oder mit denen ich mich austauschen konnte und die gab es eigentlich nicht« (Hermann, 19. 10. 2006, [48]). Tatsächlich lässt sich nachweisen, dass im November 1943 eine große Gedenkfeier auf dem Rathausmarkt veranstaltet wurde. Allerdings sprach zu dieser Gelegenheit kein Pastor, sondern Gauleiter Karl Kaufmann zu circa 20.000 Hamburgern. Die Kirchen waren als Erinnerungsakteur in dieser Zeit nahezu ausgeschaltet, der zeitgleich stattfindende Gedenkgottesdienst in der großen St.-Petri-Kirche wirkte mit gerade mal neunzig Besuchern so gut wie ausgestorben (Thießen, 2007, S. 64 ff.). Kaufmann »segnete« die Besucher zwar nicht im eigentlichen Wortsinn, wie der Zeitzeuge hier erklärt. Gleichwohl erinnerte er mit Pathos an »die große Stunde der Bewährung« und an den Zusammenhalt in den Bombennächten als »immerwährende Verpflichtung« (S. 66) zum Wiederaufbau. Dass Kaufmanns Verklärung des Luftkriegs als Gemeinschaftserlebnis bei Herrn Hermann auf offene Ohren stieß, ist nachvollziehbar. Schließlich hatte der Zeitzeuge im Luftangriff mit der elterlichen Wohnung nicht nur sein Lebensumfeld, sondern während der Flucht aus dem Luftschutzkeller auch seinen Bruder verloren. So verlogen die Propaganda heutzutage klingt, für Überlebende bot sie wahrscheinlich eine erste Erklärung des Unerklärlichen, für Zeitzeugen wie Herrn Hermann vielleicht sogar eine Sinnstiftung des Sinnlosen (vgl. entsprechende Beispiele aus Dresden und Lübeck bei Widera, 2005; Thießen, 2012, S. 255–257). Da die NS-Propaganda an Bedürfnisse der »Volksgenossen« anknüpfen musste (Süß, 2007; Echternkamp, 2004, S. 20, 71), ist ihr Einfluss auf private Erinnerungen kaum zu überschätzen. In der Presse und in den Gedenkveranstaltungen des »Dritten Reichs« fand der »Feuersturm« zum ersten Mal zu einem kollektiven Bezugspunkt für eine Erinnerungsgemeinschaft und zu Sprachformeln, mit denen sich die Bombenopfer untereinander verständigen konnten.

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Noch in einer dritten Hinsicht bilden lokale Erinnerungskulturen einen Erinnerungsrahmen: Sie befördern die Weitergabe von Erinnerungen, indem zum Beispiel lokale Jahrestage als Gesprächsanlass in Familien fungieren. Frau Koller nahm das öffentliche Interesse am 60. Jahrestag zum Anlass, einen Bericht an ihre Kinder zu schreiben: »nachdem jetzt dieser Feuersturm, 60 Jahre, sehr viel in der Zeitung rundging, hab ich gedacht, das schreibst du ihnen mal handschriftlich sauber und ordentlich ab, und das gibst du ihnen mal, das können die sich mal durchlesen« (Koller, 28. 12. 2006, [43]. Auch die Tochter dieser Zeitzeugin nutzt das Medieninteresse als eine Gelegenheit, ihre Mutter zu befragen: »Es ist eigentlich eher immer ein Thema gewesen, auf das man in längeren Gesprächen oder eben gezielt anhand irgendeiner Dokumentation oder so gekommen ist, dass man sagt, ›Ey du, ich hab da grad was gesehen oder gehört, sag mal, wie war das eigentlich?‹« (Tochter von Frau Koller, 20. 07. 2007, [21 f.]). Andere Zeitzeugen nutzen öffentliche Erinnerungen auch zur Beglaubigung ihrer persönlichen Erzählung. Frau Erwald beispielsweise schildert Familiengespräche, in denen sie auf Beiträge der Erinnerungskultur verwiesen habe, um ihre Erlebnisse nachvollziehbar zu machen: »Ja wenn solche Filme zum Beispiel liefen, ne. Denn hat man gesagt: ›Habt ihr euch das angeguckt?‹ Und so weiter. Denn es wurde ja paarmal, wurde das ja gezeigt wieder. ›Gomorrha‹, glaube ich, nannte sich dieser Film. Und denn hab ich gesagt: ›Habt ihr euch das angeguckt? Und das und das hab ich mitgemacht‹; und, und, und dann muss man sich wundern, dass man da heil rausgekommen ist und, ja dann, dann schon. Denn kommt man wieder auf dieses Gespräch« (Erwald, 03. 05. 2006, [43]). Erinnerungskulturen fungieren also als transgenerationaler Transmissionsriemen. Sie bauen eine Brücke zwischen den Generationen, auf der die Erinnerung weiterwandern kann. In lokalen Erinnerungskulturen findet diese Brücke besonders stabile Fundamente, weil hier die Bezüge zur alltäglichen Lebenswelt im eigentlichen Wortsinne besonders naheliegen. Darüber hinaus konstituieren lokale Erinnerungskulturen Erinnerungsgemeinschaften, die Zeitzeugen ein Forum für den Austausch eröffnen. Das lässt sich an einigen Interviews zeigen, die von Gedenkveranstaltungen berichten: »Nur wenn so besondere Anlässe waren, so wie jetzt, dann kommt einem das mal wieder so in Erinnerung. Und ganz besonders erinnere ich mich ja, wir hatten vor zehn Jahren, da war die 50. Wiederkehr, da war hier auf dem Ohlsdorfer Friedhof, wo dieser große Gedenkfriedhof ist für die Ausgebombten, da war dieser Ökumenische Gottesdienst, da sind wir, meine Frau und ich da gewesen, ich war also überrascht über die vielen Menschen […]. Da waren ja auch alle, ja Gleichaltrige, die irgendwie so was auch miterlebt hatten« (Siller, 18. 10. 2006, [14]). Interessant sind solche Gemeinschaften, weil sie einen ebenso großen Einfluss auf individuelle Erinnerungen haben dürften wie »imagined communities« (Benedict

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Anderson) nationaler Provenienz. Lokale Erinnerungskulturen geben Gedenkorten und dem Publikum eine reale Präsenz, sie ermöglichen soziale Praktiken des Erinnerns und schaffen dadurch eine Aura der Teilhabe und Gemeinschaft. Im Austausch mit anderen Zeitzeugen und wegen der öffentlichen Resonanz, die lokale Gedenkfeiern ausstrahlen, verwandelt sich das individuelle Erlebnis in einen kollektiven Erinnerungsort, zumindest aber in die Vorstellung eines gemeinsamen Erinnerungsorts, der für den Austausch der Zeitzeugen untereinander von Bedeutung ist.

Der städtische Raum als Ankerplatz der Erinnerung Wenn Zeitzeugen durch die Straßen ihrer Stadt gehen, lesen sie in ihnen wie in einem Buch. Wiederaufgebaute Häuser, leere Plätze und zahlreiche »Bombenlücken« avancieren zu Ankerplätzen der Erinnerung. In Städten wie Hamburg kommen noch zahlreiche Bunker hinzu, selbst die Elbe und ihre Kanäle bieten den Zeitzeugen Bezüge. Ein neues Gebäude inmitten eines alten Straßenzuges verweist für sie auf das, was damals war: auf die eigene Wohnung, auf die eines Bekannten oder Freundes, auf das Geschäft um die Ecke, in dem man täglich ein- und ausging. Herr Sander beschreibt in seinem Interview, wie für ihn ein ganzer Stadtteil als Erinnerungshilfe dient: »jetzt geht das schon los, dass man mal was vergisst, wenn man etwas älter ist, aber dieses ist ja so, als wenn man, als wenn es erst kürzlich gewesen ist, und denn es hat mich auch im Alter wieder hierher gezogen in, in die Umgebung von meinem früheren Stadtteil, ich geh da ja oft vorbei, verhältnismäßig. Und dann sieht man das immer wieder, hat man das immer wieder alles vor sich« (Sander, 28. 08. 2006, [2]). Der städtische Raum bietet aber nicht nur Erinnerungsimpulse. Er hilft zugleich, Erinnerungen als Erzählung zu strukturieren. So erklärt Herr Hessling zu Beginn des Interviews, dass er kurz zuvor durch die Straßen gegangen sei, in denen er 1943 vor den Bomben geflohen sei. Dieser Spaziergang dürfte eine Erklärung sein, warum der damals fünfjährige Junge die Bombennacht so präzise wiedergibt – weil er den Fluchtweg später wiederholen konnte: »unsere Fluchtmöglichkeit bestand nur aus dem schmalen Fußweg zwischen den Häusern […]. Und wir mussten dann bis zur Bellealliancestraße nur etwa vielleicht 20 oder 25 Meter laufen, und das haben wir dann auch getan. ’N Augenblick ausgeruht unter dem Torweg, und dann losgelaufen. Und als wir in der Bellealliancestraße ankamen, also wie gesagt, 20, 25 Meter, da waren wir in relativer Sicherheit, denn die Belalliancestraße hatte ein Steinpflaster, da brannte nichts. […] Und wir sind dann schräg gegenüber gelaufen in der Ecke, in der gegenüberliegenden Ecke, Eimsbüttler Chaussee und Waterloostraße war damals noch ein kleines Stück Isebek, offener Bach. Das ist nicht kanalisiert da, also und auch nicht, war

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nicht verrohrt, war’n offener Wasserlauf, und da sind wir reingesprungen und haben erstmal unsere Kleidung gelöscht und haben dann wieder uns abgekühlt« (Hessling, 22. 11. 2006, [9 f.]). Als Erinnerungsimpuls fungieren im städtischen Raum auch scheinbare Nebensächlichkeiten. Selbst der Belag von Straßen dient zum Beispiel als Ankerplatz der Erinnerungen. »Also ich erzähl das aber auch wegen dieser Asphaltgeschichte«, beschreibt es etwa Frau Budow: »Wir sind nachher rausgekommen dank der Tatsache, dass manche Straßen noch mit schwedischem Granit gepflastert waren. Stellen Sie [sich] das heute mal vor. Ein Ereignis mit dieser Hitzeentwicklung. Kein Mensch könnte mehr vor die Tür gehen, nicht? Also darüber spricht man ja aber gar nicht. Deswegen erzähl ich das« (Budow, 18. 02. 2008, [6]). Interessant sind solche Bezüge auch für die Weitergabe von Erinnerungen. Denn nicht nur die Medien und lokalen Erinnerungskulturen, auch der städtische Raum fungiert als Medium zwischen Zeitzeugen und Angehörigen. So nennen mehrere Kinder und Enkel den Anblick von Bunkern, der ihnen Anlässe zum Nachfragen gegeben habe. »Als ich ein kleiner Junge war«, beschreibt es der Sohn eines Zeitzeugen, »und die Dinger viel gesehen hab, diese Bunker, ›was sind das für, was sind Bunker? Das, was sind das für komische Häuser, die keine Fenster haben?‹ Wo denn meine Eltern mir erzählt haben, wofür, welchen Zweck die hatten. […] Ja, also das muss für die Leute fürchterlich gewesen sein, die da drin waren und dann hört man’s krachen« (Mansen, 21. 01. 2008, [57]). Hier ist die zweifache Funktion des städtischen Raums für das Familiengedächtnis mit den Händen zu greifen: Zum einen regt der Bunker den Zeitzeugen zur Retrospektive an, sollen die Eltern dem Sohn ihre Erlebnisse im Angesicht des heutigen Bunkers schildern. Zum anderen fungiert der Bunker als Imaginationsobjekt für den Sohn, der sich ein eigenes Bild vom Luftkrieg macht. Der städtische Raum spannt demnach in dreifacher Hinsicht einen Erinnerungsrahmen: Erstens liegen hier Ankerplätze der Erinnerung, an die sich bestimmte Erzählungen festmachen lassen. Zweitens entstehen »Mental Maps«, mit denen Erinnerungen feste Konturen und kohärente Strukturen erhalten. Und drittens bildet die Stadt einen Vermittlungsraum zwischen Zeitzeugen und Angehörigen. Der Enkel einer Zeitzeugin bringt diesen Zusammenhang entsprechend auf den Punkt: »Also ich hab mal versucht irgendwie, […] das erst mal zum Stadtteil zuzuordnen und dann zu überlegen so was für’n Wahnsinn. Wirklich nur Schutthaufen. Straßenzüge lang. Egal wo man hinguckte, nur Schutthaufen. Das ist unfassbar, also finde ich, da stand kein Baum, kein Strauch, kein Haus, kein gar nichts. Ab und

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zu hat man mal irgendwo ’n halben Kamin stehen sehen, oder irgendwie ’n Viertel von ’ner Häuserwand. Und ansonsten war alles weg. Also das muss unfassbar gewesen sein, wenn man da also was mitgekriegt hat« (Behringer, 26. 01. 2009, [56 f.]).

Relikte, Rituale, Beziehungen und das Familiengedächtnis Im Familiengedächtnis dienen Erinnerungen der Konsens- und Identitätsstiftung, indem sie miteinander ausgehandelt werden und den Bedürfnissen aller Familienmitglieder entgegenkommen (vgl. Keppler, 1994; Welzer, Moller u. Tschuggnall, 2002; Reiter, 2006). Das bedeutet keineswegs, dass alle Familienmitglieder dasselbe »erinnern«, im Gegenteil: Meist sind Familienerinnerungen vage, so dass einzelnen Familienmitgliedern individuelle Interpretationen der Familiengeschichte möglich sind. Sabine Moller, Karoline Tschuggnall und Harald Welzer erklären damit das Phänomen verschiedener »Tradierungstypen«. Im Familiengedächtnis geht es aber nicht nur um Konsens, sondern auch um Konflikte (vgl. Frei, 2001; von Plato, 2001). Im Folgenden wird deshalb gefragt, wie Familienbeziehungen und -konflikte anhand von Erinnerungen ausgehandelt werden und umgekehrt: wie sich Konflikte im Familiengedächtnis niederschlagen. Außerdem werden in diesem Abschnitt spezifische Medien des Familiengedächtnisses erkundet, die bislang kaum erforscht worden sind. Wie oben gezeigt worden ist, spielen Fernsehdokumentationen und Spielfilme zwar eine Rolle für die Weitergabe von Erinnerungen. Einflussreich sind indes noch ganz andere Medien, mit denen Familiengeschichten tradiert werden. Ein erstes Beispiel bietet die Familie Bahnsen. Hier wird der »Feuersturm« als »Wunder« tradiert, wie die Zeitzeugin im Interview erklärt (vgl. Möller u. Thießen, 2010). Mit ihrer Tochter wurde sie in der Bombennacht aus dem brennenden Haus abgeseilt und kam mit geringen Verletzungen davon. Diese Geschichte wird von Kindern und Enkeln ganz ähnlich, zum Teil sogar wortgenau berichtet. Für diese Übereinstimmungen gibt es eine einfache Erklärung. In den 1990er Jahren verfasste die Zeitzeugin einen Bericht über ihre Erlebnisse im »Feuersturm«, der seither in der Familie kursiert. Bemerkenswert ist der Bericht, weil er auf Initiative eines Enkels entstanden ist. So erklärt Frau Bahnsen ihre Motivation, die Erlebnisse festzuhalten: »das ist ja mein Enkel B. gewesen, der mich darauf gebracht hat. Während einer Autofahrt erzählte ich so einige Stories, und da hat er gesagt: ›Omi, das musst du aufschreiben, das gehört zur Familiengeschichte. Wir wissen zu wenig von dieser Zeit.‹ […] Und ›Das ist so unfassbar, was ihr da alles erlebt habt.‹ Und, ›Schreib das mal auf.‹ Und da hab ich gesagt, ›Och, wen interessiert das?‹ ›Ja mich interessiert das‹« (Bahnsen, 29. 05. 2006, [2]). Tatsächlich scheint ein Großteil solcher Berichte auf Anregung der Nachgeborenen geschrieben worden zu sein. So lässt sich erklären, dass viele Berichte die Ereignisse

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einordnen, glätten oder gar beschönigen, wie der Sohn einer Zeitzeugin feststellt: »Na gut, die Brutalität wird natürlich irgendwo so’n bisschen ausgegrenzt bei solchen Berichten« (Sohn von Frau Erwald, 22. 06. 2007, [7]). Bemerkenswert ist nicht allein diese Tradierungsfunktion für die Nachgeborenen, sondern auch ihre Bedeutung für die Verfasser und Verfasserinnen der Berichte. Schließlich beziehen sich diese ebenso auf ihre Aufzeichnungen, zitieren sie diese in Interviews, um ihrer Erzählung eine feste Struktur zu verleihen: »ich hab meinen Bericht immer im Kopf«, erklärt zum Beispiel Frau Bahnsen (29. 05. 2006, [13]). Anders gesagt: Der familienkompatible Bericht beeinflusst die Selbstdeutung der Zeitzeugen. Erzählungen vom Luftkrieg gehören daher selten ihnen allein, sie bedienen immer auch Seh- beziehungsweise Erzählgewohnheiten der Zuhörer, greifen deren Eindrücke und Einwände auf, erfüllen Sagbarkeitsregeln sowie soziale Normen und wirken in dieser modellierten Form auf den Zeitzeugen zurück (vgl. Tschuggnall, 2004). In diesem Sinne entwickeln Berichte mitunter eine Art »Eigensinn«. In ihnen werden Deutungen festgeschrieben, so dass das Familiengedächtnis keineswegs beliebig und je nach Gegenwartsinteresse umgedeutet werden kann. Die Berichte machen uns daher bewusst, dass sich das geflügelte Wort vom »Familienalbum« durchaus wörtlich nehmen lässt: Das Familiengedächtnis speist sich nicht nur aus Filmen und Fernsehen, sondern auch aus privaten Medien, die zwar von öffentlichen Erinnerungen beeinflusst sind, allerdings Geschichten festschreiben, die nicht mehr beliebig anzupassen sind. Hier liegt im Übrigen auch eine Quelle für zahlreiche Konflikte, die am Ende dieses Abschnitts in den Blick genommen werden. Eigensinnig ist noch ein anderes Erinnerungsmedium, auf das wir in mehreren Interviews gestoßen sind: Relikte des Krieges wie verbrannte Kacheln, Tassen, Tischdecken, Schuhe oder Silberlöffel. Einige Zeitzeugen präsentieren in den Interviews Gegenstände, um ihrer Erzählung eine Aura des Authentischen zu verleihen. Ebenso wichtig wie diese Beglaubigungsfunktion sind die Geschichten, die den Relikten eingeschrieben sind. Für Frau Schilling und ihre Familie rufen einige Sektgläser die Geschichte ihrer Rettung aus dem »Feuersturm« durch einen Nachbarn in Erinnerung. »Ich hab so’n paar Sektgläser zur Hochzeit bekommen«, erklärt sie im Interview, »und irgendwie haben wir was gefeiert, [da] hatte ich diese Sektgläser, ich sag, ›Guck mal, die sind von deinem, von unserm Nachbarn, die hab ich zur Hochzeit gekriegt. Das ist doch von Herrn Schmidt, der uns aus’m Laden geschmissen hat und der dabei verbrannt ist‹« (Schilling, 05. 04. 2007, [12]). Relikte wecken also nicht nur Erinnerungen, sie tradieren zudem spezifische Erzählungen, wie auch das Interview mit Herrn Mankowski zeigt. Dieser berichtet von seiner Flucht durch die brennende Stadt, auf der einer seiner Schuhe (siehe Abbildung 1) im heißen Straßenasphalt stecken geblieben sei: »überall war’s heiß. Da hab ich meinen einen Stiefel verloren, […] einen hab ich gerettet. […] Den hab ich, den hab ich noch heute, ja. Das ist jetzt mein Spartopf« (Mankowski, 30. 11. 2006, [4]). Tatsächlich ist die-

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Abbildung 1: Relikt aus dem Krieg: Schuh von Herrn Mankowski

ser »Spartopf« »noch heute« Dreh- und Angelpunkt für Erzählungen vom Luftkrieg. Auch solche Relikte des Krieges geben also Antworten auf die Ausgangsfrage. Einerseits zeigen sie, warum sich Zeitzeugen überhaupt erinnern können: weil den Dingen spezifische Erlebnisse (siehe Abbildung 2) und Emotionen eingeschrieben werden, die zu Geschichten gerinnen. Andererseits geben sie uns Auskunft, wie Zeitzeugen sich erinnern, welche Deutungen vom Krieg tradiert werden. Erzählungen über den Krieg scheinen sich bei familiären Anlässen zu häufen, so dass sich Familienfeste als ein weiteres Medium des Familiengedächtnisses interpretieren lassen. Jahrestage sind ja keineswegs der Erinnerungskultur vorbehalten, sondern Knoten- und Kontaktpunkte familiärer Kommunikation. So kommt das Gespräch auch bei Familienfeiern auf den Luftkrieg, wie einige Zeitzeugen hervorheben. Ein Zeitzeuge verortet solche Anlässe bereits in die frühe Nachkriegszeit: »Man, man fing ja an wieder richtig zu feiern […] Und wenn man dann natürlich so’n bisschen weinselig oder bierselig oder wie das war, dann kamen natürlich auch Erinnerungen hoch ›Und weißt du noch?‹, und so weiter. Und äh, man war natürlich heilfroh, dass man irgendwie schon mit dem Leben davongekommen war« (Wentcke, 23. 02. 2007, [14]).

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Die Generation der Zeitzeugen

Abbildung 2: Relikt aus dem Krieg zur Erinnerung an den »Feuersturm« am 27. Juli 1943: ein Paar Silberlöffel

Das wichtigste Medium familiärer Erinnerung ist allerdings etwas ganz Alltägliches: die Beziehung zwischen Zeitzeuge und Angehörigen. Das klingt wenig überraschend, ist Kommunikation doch die Basis jeglicher Erinnerung. Das »Feuersturm«-Projekt kommt in diesem Zusammenhang allerdings zu weiteren Erkenntnissen. Zu Beginn unserer Forschungen waren wir davon ausgegangen, dass Erlebnisse im »Dritten Reich« ein Problem seien, das in Familien verhandelt werden müsse. Eine Auswertung der Interviews relativiert diese Annahme. Sie legt nahe, dass das Gespräch über den Nationalsozialismus eine Platzhalter-Funktion einnehmen kann, um andere Probleme zu diskutieren. Anders gesagt: Nicht immer birgt die Vergangenheit den Konfliktstoff, der

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in der Gegenwart eine Rolle spielt, sondern umgekehrt: oft ist die Gegenwart das Problem, das auf die Vergangenheit projiziert und so erzählbar wird. Das Reden über den Krieg fungiert in diesen Fällen als Metapher, um andere Erfahrungen zu verhandeln: Trennungen, Scheidungen, Krankheiten, Süchte und gescheiterte Berufsbiographien. Ein Beispiel für diesen Zusammenhang bietet Frau Erwald. Sie berichtet im Interview zunächst sehr ausführlich von psychischen Folgen, die der »Feuersturm« bei ihr hinterlassen habe. Im weiteren Verlauf des Interviews kommt sie jedoch auf andere Probleme zu sprechen: »Naja, ich, ach, beneide eigentlich heute nur die Jugend. Ich denke immer, meine ganze Jugend, die ist flöten, nicht. Wenn man das heute so sieht, wo die Kinder heute überall hinfahren können und was sie machen können. Und das war alles eingeschränkt und ähm, man hat selber ja viel zu früh geheiratet. Man hätte ja seinen Beruf weiter machen können und das sind irgendwie Fehler, die man selber gemacht hat. […] Hab ich gedacht: Das war eigentlich viel zu früh und du hättest erstmal das Leben genießen sollen und reisen sollen und später daran denken, ’ne Familie zu gründen« (Erwald, 03. 05. 2006, [S. 44 f.]). Eben diese Erzählung ist das Leitmotiv des weiteren Gesprächs, die Geschichte von einem Leben verpasster Chancen, von den Zwängen der Ehe und Familie. Nun könnte man einwenden, dass das alles eine Folge des Krieges sei. Die begeisterten Schilderungen der Zeitzeugin vom BDM oder von der Gemeinschaft im Krieg unterstreichen jedoch die These: Die Erzählung vom Krieg ist in diesem Interview oft eine Parabel für das spätere Leiden an familiären Konflikten. Besonders deutlich wird das an einer Passage, in der Frau Erwald die Auswirkungen ihres selbst diagnostizierten Luftkriegtraumas konkretisiert: »Und voriges Jahr bat meine Tochter mich, sagt sie, ›Komm doch mal mit zum Osterfeuer.‹ Und denn bin ich tatsächlich mitgegangen zum Osterfeuer, und das war also ganz schrecklich für mich, als dieser Funkenflug da hochging. Da hab ich gesagt: ›Oh Gott, das ist ja wie damals.‹ Und ich weiß, dass meine Tochter noch mit mir geschimpft hatte. Sagt sie: ›Du kannst einem auch jedes Fest verderben.‹ Und das hat mich so geschockt und also das war für mich, kam also ’ne ganz schlimme Erinnerung hoch. Und […] ich werde da nie wieder hingehen, das ist, das sitzt so tief« [13]. Was hier »so tief sitzt«, scheint weniger der »Feuersturm« zu sein, als vielmehr die Zurückweisung durch die Tochter, in der sich für die Zeitzeugin ein Familienkonflikt und ihre »Enttäuschung, dieses Misstrauen« [45] manifestieren. Solche Passagen relativieren die Kriegserfahrungen keineswegs. Sie weisen aber auf einen weiteren Grund hin, warum der »Feuersturm« im Familiengedächtnis seinen festen Platz erhält: weil das Reden und Schweigen vom Krieg als Seismograph für Familienbeziehungen dient.

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Die Generation der Zeitzeugen

Dieser Befund mündet in einer grundsätzlichen Beobachtung: Das Familiengedächtnis konstituiert sich nicht nur im Konsens, sondern ebenso durch Konflikte. In unserem Projekt beweist das der hohe Anteil an Zeitzeugen, die eine Befragung ihrer Angehörigen verweigerten. Knapp ein Drittel aller Gesprächspartner mit Kindern und Enkelkindern stimmten einer Kontaktaufnahme zu diesen nicht zu. Einige Interviews machen zudem deutlich, dass Zeitzeugen feine Unterschiede unter ihren Angehörigen machen, wenn nach Interviewpartnern gefragt wird. Offenbar gibt es für Gespräche über den Luftkrieg »Lieblingskinder« und »Problemkinder« (Paulsen, 23. 07. 2007, [27]), wie es eine Zeitzeugin formuliert. Zwar sind gerade die »Problemkinder« für die Forschung ganz besonders interessant, doch ausgerechnet sie fallen nachvollziehbarer Weise aus dem Untersuchungsfokus, sobald Konflikte in Familien schwelen. Wenn die Familiengeschichte geprägt ist von familiären Beziehungen und Normen, ist das Reden über den Luftkrieg also umgekehrt eine Form des symbolischen Sprechens, mit der sich familiäre Verhältnisse, Wünsche und Werte verhandeln lassen. Die »ungläubigen Kinder«, die Alexander von Plato (2001) in Forschungen zum Familiengedächtnis vermisst, sind daher auch in unserem Fall schwer aufzuspüren, allerdings nicht notwendig, weil der Nationalsozialismus das größte Problem für die Familien darstellt, sondern möglicherweise, weil man aus anderen Gründen nicht miteinander spricht.

Über das Familiengedächtnis hinaus: Erinnerungen im Freundeskreis Solche Beziehungsprobleme verweisen auf einen weiteren Erinnerungsrahmen, der in der Forschung meist zu kurz kommt (vgl. demgegenüber Reiter, 2006): der Freundesund Bekanntenkreis. Bemerkenswert sind solche Erinnerungsgemeinschaften, weil hier Gesprächsmöglichkeiten bestehen, die jene in den Familien ergänzen beziehungsweise ersetzen können. So legt die Äußerung von Frau Brandt nahe, dass der Austausch mit einer Freundin einen hohen Stellenwert für ihre alltägliche Erinnerung einnimmt: »Ich hab eine beste Schulfreundin und wir sprechen oft darüber, […] wir können auch heute noch am Telefon über diese Dinge sprechen. […] Wir erinnern uns an diese Zeiten der Angst und der Not und wie wir zusammenhielten« (Brandt, 03./08. 08. 2006, [54]) Im Freundeskreis tauschen sich Zeitzeugen demnach unter »ihresgleichen« aus, können sie hier doch gegenseitiges Verständnis voraussetzen, wie Herr Cramer erläutert: »also wenn ich das heute so an Reaktionen höre, […], also frei nach dem Motto: Das stimmt doch gar nicht. Ne, so schlimm war’s doch gar nicht. Also da […] ist nicht so gut Kirschen essen mit mir. Aber zum Glück im Freundeskreis, das sind ja alles in etwa Gleichaltrige und die haben es auf die eine oder andere Art und Weise auch erlebt« (Cramer, 12. 03. 2007, [3 f.]). So wichtig der familiäre Erinnerungsrahmen auch ist, speist sich das soziale Umfeld von Zeitzeugen jedoch noch aus weiteren Erzählgemeinschaften, die Herr Siller auflistet: »In Kollegenkreisen, Freundeskreisen, Rechtspflegertreffen, Kegelklub und Tanzclub

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Abbildung 3: Foto aus dem Krieg: »Wir Mädchen vom Luftschutzkommando«

und so, wo wir überall sind, Gleichaltrige, da kommt das denn schon mal zur Sprache« (Siller, 18. 10. 2006, [26]). Dass solche Erzählgemeinschaften zum Teil bereits in der Zeit des Luftkriegs entstanden, belegt das Gespräch mit Frau Allwerden. Sie präsentiert während des Interviews Fotos aus ihrer Zeit als Luftschutzhelferin, die mit »Wir Mädel von der Luftschutzpolizei« oder »Wir Mädel vom Kommando S3L8« beschriftet sind. Diese »Mädel«, so berichtet Frau Allwerden, hätten sich ihr »Leben lang […] getroffen« (Allwerden, 17. 09. 2007, [18]), »das war ja solche Freundschaft, weil wir ja auch oft in Gefahr waren, in der Zeit hier, wo die Angriffe waren« [53]. Obwohl Frau Allwerden im Interview hinzufügt, dass sie in diesem Kreis nie über den Luftkrieg geredet habe, sprechen die oben genannten Fotos, die sie später von einem der »Mädel« erhielt, eine andere Sprache. Schon die Beschriftung eines Fotos der gemeinsamen Schlafbaracke deutet auf eine jener Geschichten des »Feuersturms« hin, die auch in den Jahren danach erzählbar gewesen sein dürfte: »E.s Schlafkabinett nach der Katastrophe. Fall nicht wieder aus der 3. Etage«.2 Solche Einblicke in den Freundeskreis erweitern das Forschungsfeld um einen Erinnerungsrahmen, der eine Untersuchung spezifischer Sinnbildungsstrategien ermöglicht. So dürften der Legitimationsdruck oder das Entlastungsbedürfnis unter Freunden und 2

Beschriftung eines Fotos auf der Rückseite. Auf einem anderen Foto ist eine Liste mit den Namen aller Mädchen und der Anzahl der Abzüge notiert. Alle Digitalisate der Fotografien finden sich in der Akte des Interviews.

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Die Generation der Zeitzeugen

Bekannten geringer sein als in der Familie, haben wir es hier doch mit Erinnerungsgemeinschaften zu tun, die sich selbst als Generation mit gemeinsamen Erfahrungen verstehen (Jureit, 2009). Gerade weil man die soziale Wirksamkeit realer GenerationenErfahrungen infrage stellen muss (Jureit, 2006), entfaltet die Generation als Erzählgemeinschaft in der Retrospektive ihre Prägekraft für Erinnerungen: Es ist diese »Generation als Erzählung« (Thießen, 2009c), die zu spezifischen Sinnstiftungen führt, die denen in Familien zur Seite stehen.

Plädoyer für eine Erinnerungsgeschichte in der Erweiterung Individuelle und familiäre Erinnerungen lassen sich in unterschiedliche Kontexte und Rahmen einordnen: Als Lebens- und Familiengeschichte hat der Luftkrieg ebenso viel mit den Ereignissen im Juli 1943 zu tun wie mit dem Irakkrieg nach der Jahrtausendwende, mit Gedenkveranstaltungen, Fernsehsendungen und Zeitungsserien, mit Häuserfassaden, Straßen und Bunkern, mit Schuhen, Sorgenkindern und Skat-Abenden. Diese Ergebnisse sind daher ein Plädoyer für eine Erweiterung des Untersuchungsrahmens, in dem das individuelle und Familiengedächtnis genauer erforscht werden kann. Um der Komplexität retrospektiver Sinnbildungen gerecht zu werden, reicht eine Analyse medialer Einflüsse nicht aus. Aber auch jene »cadres sociaux«, die Maurice Halbwachs (1925/1985) als Rahmen kollektiver Erinnerungen benannt hat, bedürfen einer Ausweitung: Zu fragen ist nach dem Einfluss familiärer Strukturen und sozialer Räume, nach der Bedeutung von Milieus und dem Gedächtnis der Dinge. Diese Medien und Rahmen sind eine Antwort auf die einleitend aufgeworfene Ausgangsfrage, warum Zeitzeugen sich heute noch so genau an den Luftkrieg erinnern können. Darüber hinaus erklären sie, wie sich die Zeitzeugen heute erinnern. Die Erinnerungsrahmen und Erinnerungsimpulse geben Hinweise, was vom Luftkrieg erzählbar ist und weitergegeben werden kann. Die hier vorgestellten Rahmenbedingungen geben aber auch Antworten auf die Frage, warum wir unter den Zeitzeugen bestimmte Verarbeitungstypen finden (vgl. den Beitrag von Birgit Möller und Ulrich Lamparter), warum sich spezifische Erzählmuster abzeichnen, in denen Lebens- und Familiengeschichten tradiert werden. Solche »Erinnerungs-« beziehungsweise »Erzählmuster« (Jureit, 1999; Wierling, 2003) sind schon früher beschrieben worden. Das »Feuersturm«-Projekt allerdings vertieft unsere Einblicke in diese Rekonstruktionsprozesse in zweifacher Hinsicht. Erstens erweitert es unser Verständnis von den Rahmen der Erinnerung: Die gängige Unterscheidung zwischen »individuellem« und »sozialem Gedächtnis«, zwischen »kommunikativem« und »kulturellem Gedächtnis« reicht offenkundig nicht aus. Es wäre zu einfach, allein nach dem Einfluss des Fernsehens oder politischer Debatten auf Zeitzeugenerinnerungen zu fragen. Vielmehr sind Erinnerungen in mehrere Rahmen zugleich eingebettet, in den familiären Rahmen ohnehin, aber auch in nationale und lokale Erinnerungskulturen, in globale wie lokale Medienöffentlichkeiten, in Räume des alltäglichen Nahbereichs und in Erzählgemeinschaften des Freundeskreises. Auch

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die Erzählmuster des »Feuersturms« unterstreichen daher das Plädoyer für eine Erinnerungsgeschichte in der Erweiterung: für eine Analyse des nationalen, regionalen und familiären Rahmens, die den Erzählungen der Zeitzeugen Konturen geben. Zweitens erweitert das Projekt unser Verständnis für die Medien der Erinnerung. Neben dem Fernsehen, den Zeitungen und dem Radio spielen weitere Dinge eine Rolle als Erzählimpuls. Solche Impulse können von Gegenständen ausgehen, von Berichten oder Dokumenten, aber auch von Straßen und Gebäuden. Selbst Geräusche und Gerüche fungieren als eine Art Erinnerungsmedium, wie jene Interviewpassagen nahelegen, die vom Grillgeruch, von Sirenen- und Feuerwerksgeräuschen sprechen. Untersucht man die Zeitzeugen des »Feuersturms« als eine »Erinnerungsgeschichte in der Erweiterung«, wird im Übrigen auch deutlich, warum in den Interviews so selten Hinweise auf Traumata zu finden sind. Die Rahmen und Medien der Erinnerung fördern eine retrospektive Sinnbildung, weil sie die Erinnerung an spätere Erfahrungen anschlussfähig machen und in neue Kontexte einordnen. Sie erlauben eine Vermittlung der Erlebnisse, weil die Erzählung sozial kompatibel wird, so dass die Geschichte vom Krieg letztlich zu einem »guten Ende« führt, weil sie erzählbar sein muss. Die Rahmen und Medien der Erinnerung geben uns daher nicht nur Auskunft darüber, warum sich Zeitzeugen an den »Feuersturm« erinnern, sondern auch darüber, warum so vieles vergessen wird: weil einige Geschichten vom Schrecken und Leid aus jenen Rahmen fallen, die für Lebens- und Familiengeschichten vom Luftkrieg bereitstehen.

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Die Generation der Zeitzeugen

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Ulrich Lamparter/Valeska Buder/Véronique Sydow/Stefan Nickel/ Silke Wiegand-Grefe

Psychometrische Befunde in der Generation der Zeitzeugen

Fraglos ist sowohl in der »Oral History« als auch in der Psychoanalyse das Forschungsinterview der wichtigste und zentrale methodische Zugang. Doch wurde bei den Planungen im Projekt zusätzlich auch ein empirisch-quantifizierender Zugang zu den Forschungsfragestellungen vorgesehen: Es sollten grundlegende Angaben zum Erleben des »Feuersturms« und zur subjektiven Verarbeitung und familiären Tradierung systematisch und einheitlich erhoben werden. Weiter sollte die Untersuchungsgruppe der Zeitzeugen durch den Einsatz gebräuchlicher und leicht handhabbarer Fragebogeninstrumente in relevanten psychologischen Merkmalen erfasst und daraufhin untersucht werden, inwieweit heute noch gesundheitsbeeinträchtigende Folgen fortbestehen. Durch den Einsatz derselben oder geringfügig angepasster Instrumente in den folgenden Generationen sollten im weiteren Fortgang des Projekts gezielte Vergleiche zwischen den Generationen möglich werden. Die Ergebnisse der psychometrischen Untersuchungen im Projekt werden in diesem Band in drei Beiträgen vorgestellt: Unser Beitrag stellt ausschließlich die in der Zeitzeugengeneration erhobenen Befunde dar. Der Beitrag von Philipp von Issendorff in diesem Band zeigt dann die entsprechenden, in der Folgegeneration erhobenen Befunde, soweit sie mittels der eingesetzten standardisierten Instrumente zu Angst, Depression und Somatisierung erhoben wurden. Schließlich berichtet und interpretiert der Beitrag von Lydia Morgenstern et al. die in der Familienperspektive erhobenen Befunde.

Fragestellungen Im Einzelnen ergaben sich folgende in den Kontext des Gesamtprojekts eingebundene Forschungsfragen: –– Welche Aussagen treffen die Zeitzeugen zu ihren heutigen Einstellungen zum Krieg allgemein und wie sehen sie die Rolle ihrer Erfahrungen im Krieg und »Feuersturm« für die Erziehung ihrer eigenen Kinder? –– Wie beschreiben die Zeitzeugen ihren derzeitigen körperlichen und psychischen Gesundheitszustand? –– Lassen sich psychometrische Hinweise auf eine heute bestehende klinisch relevante Symptomatik finden?

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U. Lamparter/V. Buder/V. Sydow/S. Nickel/S. Wiegand-Grefe · Psychometrische Befunde

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–– Lassen sich mittels psychometrischer Methoden seelische Folgen im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung feststellen? –– Lassen sich bei diesen Fragen Alters- oder Geschlechtsunterschiede finden? –– Gibt es weitere Unterschiede, die damit in Zusammenhang stehen, wie viel an Schrecklichem die damaligen Kinder und Jugendlichen im »Feuersturm« erlebt haben?

Methode Die standardisierten Fragebogeninstrumente wurden teilweise in einer Abstimmung mit einer interdisziplinären Forschungsgruppe an der Universität Münster (Hoffmeister, Grundmann, Thaler, Schneider u. Heuft, o. J.) ausgewählt, die ihrerseits mit der Gruppe w2k (Gruppe »Weltkrieg 2 Kindheit«) verbunden war. Die Übersicht der Tabelle 1 stellt alle eingesetzten Fragebögen in einem Überblick zusammen. Tabelle 1: Übersicht Fragebogeninstrumente Zu erfassendes Konstrukt

Instrument

Erleben des »Feuersturms«, Einstellungen zum Krieg, subjektiv erfahrene und ausgeübte Erziehungspraxis

»Kriegskind-Modul« Teil 1 und 2

Gegenwärtiger subjektiver Gesundheitszustand

Visuelle Analogskala (VAS)

Lebenszufriedenheit der »Kriegskinder­ generation« im Alter

PGC (Philadelphia Geriatric Center Moral Scale, nach Lawton, 1975)

Klinische Symptome und Beschwerden

SCL-14 (Klaghofer u. Brähler, 2001)

Gesundheitsbezogene Lebensqualität

SF-36 (Bullinger u. Kirchberger, 1998)

Angst und Depressivität

HADS-D

Posttraumatische Belastungsstörung

PDS-d-1 (Ehlers, Steil, Winter u. Foa, 1996)

Allgemeine Lebensbelastung

Eppendorfer Belastungsbogen (Deneke, Lamparter u. Stuhr, 2001)

Familiäre Dimensionen der Funktionalität in zeitgeschichtlicher Perspektive

FB-A (Cierpka u. Frevert, 1995), ergänzt durch spezifische Items (»Kriegskind-Modul« Teil 3)

Familiäre Dimensionen »Fürsorge« und »­Kontrolle« in zeitgeschichtlicher Perspektive

PBI (Parker, 1979) ergänzt durch spezifische Items (»Kriegskind-Modul« Teil 3)

Datenerhebung Die Adressen der Zeitzeugen entstammten weit überwiegend dem in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte vorgehaltenen Aktenkonvolut aus den Zuschriften zum »Hamburger Abendblatt« (vgl. Lamparter et  al., 2008). Ergänzend erhielten wir einige

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Die Generation der Zeitzeugen

Adressen von Zeitzeugen, die in der Geschichtswerkstatt Eimsbüttel der »Galerie Morgenland« verfügbar waren. Es wurden alle erreichbaren Zeitzeugen in die Fragebogenerhebung einbezogen, also auch diejenigen, die nicht interviewt werden konnten oder keine eigenen Kinder hatten. Insgesamt nahmen 77 Personen an der quantitativen Erhebung in der »Erlebensgeneration« teil. Bei vierzig Zeitzeugen suchten die Doktoranden des Projekts, Valeska Buder und Véronique Sydow, diese zu Hause auf und unterstützten sie bei der Bearbeitung der Fragebögen. Die übrigen Zeitzeugen wollten die Bögen lieber für sich allein bearbeiten und übersandten die bearbeiteten Bögen mit der Post. Alle Zeitzeugen bearbeiteten die Bögen zeitlich vor einem geplanten Interview. Die Untersuchungen wurden im Laufe des Jahres 2006 durchgeführt.

Auswertung Es wurde ein einheitlicher Datensatz über alle im Projekt erhobenen quantitativen Befunde angelegt. In der Regel wurden Häufigkeitsverteilungen und Mittelwerte berechnet, Unterschiede wurden mittels Chi-Quadrat-Test, t-Test und Varianzanalyse auf statistische Signifikanz geprüft. Vereinzelt wurden Extremgruppenvergleiche vorgenommen.

Ergebnisse Soziodemographische Daten

Tabelle 2 gibt eine Übersicht über die soziodemographischen Charakteristika aller in die Untersuchung mit Fragebögen eingegangenen Zeitzeugen. Es handelt sich um 77 Personen im Alter von 65 bis 90 Jahren. Tabelle 2: Soziodemographische Charakteristika (absolute und relative Häufigkeiten; N = 77) Merkmal

N

Geschlecht weiblich männlich

42 35

54,5 45,5

Nationalität deutsch sonstige

75 0

100,0 0,0

Alter bei Befragung (Ø Jahre) 65–69 Jahre 70–79 Jahre 80–89 Jahre 90 Jahre

13 40 23 1

(∅ 75,9) 16,9 51,9 29,9 1,3

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%

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Merkmal

N

Alter am 1. 8. 1943 3–5 Jahre 6–12 Jahre 13–27 Jahre

11 32 34

14,3 41,6 44,2

Belastung Kindheit/Jugend gar nicht wenig mittel stark sehr stark

11 15 16 17 12

15,5 21,1 22,5 23,9 16,9

Förderung Kindheit/Jugend gar nicht wenig mittel stark sehr stark

10 14 18 11 4

17,5 24,6 31,6 19,3 7,0

Familienstand ledig verheiratet getrennt/geschieden verwitwet wieder verheiratet

8 39 5 18 3

11,0 53,4 6,8 24,7 4,1

Anzahl der Kinder (Ø Anzahl) kein Kind 1 Kind 2 Kinder 3 Kinder über 3 Kinder

11 17 34 10 5

(∅ 1,8) 14,3 22,1 44,2 13,0 6,5

Häusliche Gemeinschaft allein (Ehe-)Partner Partner und Kind Kind Eltern/-teil Verwandte/Bekannte Heim Sonstige

28 44 2 1 0 0 0 0

37,3 58,7 2,7 1,3 0,0 0,0 0,0 0,0

Schulabschluss Haupt-/Volksschule Realschule/Mittlere Reife (Fach-)Abitur kein Abschluss Sonstiges

27 37 11 0 1

35,5 48,7 14,5 0,0 1,3

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%

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Die Generation der Zeitzeugen

Merkmal

N

%

Berufsabschluss Lehre Meister (Fach-)Hochschulabschluss kein Abschluss Sonstiges

43 7 10 6 10

56,6 9,2 13,2 7,9 13,2

Berufstätigkeit ja nein Hausfrau beides

34 27 5 5

47,9 38,0 7,0 7,0

77 0

100,0 0,0

Schulabschluss Partner/-in Haupt-/Volksschule Realschule/Mittlere Reife (Fach-)Abitur kein Abschluss Sonstiges

30 20 11 0 0

49,2 32,8 18,0 0,0 0,0

Berufsabschluss Partner/-in Lehre Meister (Fach-)Hochschulabschluss kein Abschluss Sonstiges

40 5 8 5 3

65,6 8,2 13,1 8,2 4,9

Rente ja nein

Das Geschlechterverhältnis war bei einem etwas größeren Vorkommen der Frauen fast ausgeglichen. 66 Zeitzeugen hatten Kinder, elf waren kinderlos. Die meisten Zeitzeugen waren zum Zeitpunkt der Untersuchung zwischen siebzig und 79 Jahre alt. Im Juli 1943 war das jüngste Kind drei Jahre alt, zwei damals schon über Zwanzigjährige wurden in der Untersuchungsgruppe belassen. In der Annahme altersspezifischer Schicksale und Erlebensrepräsentationen unterschieden wir drei Gruppen nach dem Alter zum Zeitpunkt des »Feuersturms«: bis 5 Jahre, 6 bis 12 Jahre und 13 Jahre und älter, was folgende Altersverteilung ergab: 3 bis 5 Jahre 14,2 Prozent, 6 bis 12 Jahre 41,1 Prozent, 13 bis 27 Jahre 44,2 Prozent. Persönliche Betroffenheit und erlebte Auswirkungen auf die Familie Im ersten Teil des sogenannten »Kriegskind-Moduls« wurde zum einen erhoben, wo die Zeitzeugen den »Feuersturm« erlebt hatten, und zum anderen wurden erste Selbsteinschätzungen zu den Auswirkungen auf die Familie und die Kinder ermittelt (siehe Tabelle 3).

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Tabelle 3: Persönliche Betroffenheit durch den »Hamburger Feuersturm« (absolute und relative Häufigkeiten; N = 77) (»Kriegskind-Modul« Teil 1) Fragen

N

Wo waren Sie zur Zeit des »Hamburger Feuersturms«? In Hamburg direkt, Stadtteil: Altona Barmbek Borgfelde Eimsbüttel Hamm Hammerbrook Sonstiges In der Nähe von Hamburg Außerhalb

74 6 10 3 10 11 6 28 3 0

96,1 7,8 13,0 3,9 13,0 14,3 7,8 36,4 3,9 0,0

Haben Sie die Bombardierung persönlich erlebt? Ja Nein

76 1

98,7 1,3

Waren Sie persönlich vom »Hamburger Feuersturm« in irgendeiner Weise betroffen? Ja Nein

74 3

96,1 3,9

Wurde Ihr Haus im »Hamburger Feuersturm« zerstört? Ja Nein Teilweise

60 12 5

77,9 15,6 6,5

57 17 3

74,0 22,1 3,9

Haben Sie Familienangehörige im »Hamburger Feuersturm« verloren? Ja Nein

16 60

21,1 78,9

Wirken sich diese Erlebnisse nach Ihrer Einschätzung noch heute auf Ihre Familie aus? Ja Eher ja Eher nicht Nein

9 11 27 27

12,2 14,9 36,5 36,5

Haben Sie etwas von diesen Erlebnissen an Ihre Kinder und Enkelkinder weitergegeben? (nur Personen mit Kind/-ern; N = 66) Ja Eher ja Eher nicht Nein

38 14 10 5

56,7 20,9 14,9 7,5

Haben Sie Ihren Haushalt im »Hamburger Feuersturm« v­ erloren? Ja Nein Teilweise

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%

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Die Generation der Zeitzeugen

Fragen

N

%

Haben Sie innerhalb der Familie darüber gesprochen? Ja Eher ja Eher nicht Nein

46 17 9 3

61,3 22,7 12,0 4,0

Haben die Erlebnisse bei der Erziehung Ihrer Kinder eine Rolle gespielt? (nur Personen mit Kind/-ern; N = 66) Ja Eher ja Eher nicht Nein

13 9 18 26

19,7 13,6 27,3 39,4

Die meisten Zeitzeugen gingen nicht davon aus, dass sich die damaligen Erlebnisse noch heute auf die Familie auswirken würden. Sie bejahten jedoch eher die Frage, ob sie etwas von diesen Erlebnissen an ihre Kinder oder Enkel »weitergegeben« hätten, und auch, dass in der Familie über die Erlebnisse gesprochen worden sei. Dass sie bei der Erziehung eine Rolle gespielt hätten, wurde dagegen eher verneint. Es war schon bei der Entwicklung dieser Fragen klar gewesen, dass unsere ersten summarischen Fragen nur erste Orientierungen würden liefern können. Mit einem weiteren Einschätzbogen wollten wir detailliertere und präzisere Einschätzungen erhalten. »Kriegskindmodul« zur subjektiven Erziehungspraxis und der familiären Weitergabe

Die 13 in der Forschungsgruppe erarbeiteten Items zur subjektiven Erziehungspraxis und zur familiären Weitergabe der Kriegserfahrung waren in 13 Selbstaussagen gefasst (zum Beispiel »Ich wollte, dass meine Kinder wissen, wie schlimm Krieg ist«) mit den Antwortmöglichkeiten (stimmt genau, stimmt eher, stimmt eher nicht, stimmt überhaupt nicht). Dieser zweite Teil des »Kriegskind-Moduls« wurde nur von Zeitzeugen bearbeitet, die eigene Kinder hatten (N = 66). Abbildung 1 zeigt die hier gefundenen Häufigkeiten. Es entsteht das Gesamtbild, dass sich die Zeitzeugen eher erzählungsbereit einschätzen und weit überwiegend ihren Kindern bewusst die Schrecken des Kriegs vermitteln wollten. Das Item »Ich wollte, dass meine Kinder wissen, wie schlimm Krieg« ist, erfuhr die höchste Zustimmung. Dem Item »Ich habe nie darüber erzählt, was vergangen ist, ist vorbei«, wurde am wenigsten zugestimmt. Fast ausgewogene Zustimmung und Ablehnung zeigt das Item: »Die Sorge, dass meinen Kinder etwas Ähnliches zustoßen könnte, hat mein ganzes Leben begleitet.« Lebensbelastungen in Kindheit und Jugend und im späteren Leben (EFLB)

Um die Stärke der Lebensbelastungen in der Untersuchungsgruppe in einem Überblick zu erfassen, wurde der »Eppendorfer Fragebogen zur Lebensbelastung« (Deneke, Lamparter u. Stuhr, 2001) eingesetzt. Er gibt definierte belastende Lebensereignisse

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Ich wollte, dass meine Kinder wissen, wie schlimm Krieg ist.

Es war mir wichtig, meinen Kindern von meinen Erlebnissen im »Hamburger Feuersturm« zu erzählen, damit so etwas nie wieder vorkommt. Aus der Erfahrung, dass plötzlich alles, was man hat, weg sein kann, wollte ich meine Kinder zum sparsamen und sorgsamen Umgang mit Dingen anleiten. Die Sorge, dass meinen Kindern Ähnliches passieren könnte, hat mein ganzes Leben begleitet.

Meine Erlebnisse im Krieg haben die Erziehung meiner Kinder beeinflusst.

Meine Kinder können mich nur verstehen, wenn sie wissen, was ich im »Hamburger Feuersturm« erlebt habe. Ich wollte meine Kinder nicht mit schlimmen Kriegserlebnissen belasten.

Die Sorge, alles zu verlieren, hat die Erziehung meiner Kinder beeinflusst.

Ich finde es leichter, mit meinen Enkeln über meine Kriegserlebnisse zu sprechen.

Ichhabe das Gefühl, meine Enkel sind offener und wollen mehr über meine Erlebnisse wissen als meine Kinder.

Ich hatte das Gefühl, dass meine Kinder nichts mehr über die Erlebnisse hören wollten.

Ich konnte nicht darüber sprechen, weil es mich selbst zu sehr belastet hätte.

Ich habe nie darüber erzählt – Was vergangen ist, ist vorbei.

Abbildung 1: »Kriegskind-Modul« (Teil 2): Selbsteinschätzungen der Zeitzeugen zur Weitergabe der Erfahrungen im Krieg und »Feuersturm« (N = 66) – angeordnet nach dem Grad der Zustimmung

getrennt für die Kindheit und Jugend und für das Leben als Erwachsener (ab 18 Jahre bis heute) vor und ermittelt auch einen Gesamtscore der subjektiven Belastung in Kindheit und Jugend und im Leben als Erwachsener. Abbildung 2 zeigt diese Gesamtscores.

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Die Generation der Zeitzeugen

Abbildung 2: Stärke der subjektiven Lebensbelastung insgesamt (EFLB-Globalitems; Anzahl in Prozent)

Für die Kindheit und Jugend ergibt sich eine breite Verteilung mit einer starken Besetzung der Extremfelder (gar nicht und sehr stark), während sich für das Erwachsenenalter die meisten Probanden eine mittlere Lebensbelastung zuschreiben. Gegenwärtiger subjektiver Gesundheitszustand der Zeitzeugen

Dieser wurde mittels einer visuellen Analogskala (VAS) erfragt. Auf der Mitte eines Blattes Papier ist eine 100 mm lange, quer verlaufende Linie aufgezeichnet. Ihre Endpfeile markieren auf der linken Seite einen »sehr guten« Gesundheitszustand und auf der rechten Seite einen »sehr schlechten« Gesundheitszustand. Der Befragte soll mit einem Kreuz auf dieser Linie sein persönliches aktuelles Gesundheitsempfinden in den letzten sieben Tagen einschätzen. Diese Angabe wird als Skalenwert einer Millimeter-Skala von 0 (sehr gut) bis 100 (sehr schlecht) quantifiziert. Abbildung 3 stellt die gefundene Verteilung in drei Untergruppen dar (Wert 0–33 gut, Wert 34–66 mittel und Wert 67–100 schlecht).

Abbildung 3: Subjektiver Gesundheitszustand in einer VAS von 0 bis 100 (Angaben in Prozent) Anmerkungen: Mittelwert: 30,8; Standardabweichung: 25,6; N = 76

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Überwiegend schätzten sich die Zeitzeugen als von guter oder zumindest mittlerer Gesundheit ein. Dabei schilderten sich die Frauen im Durchschnitt weniger gesund (34,2) als die Männer (26,2) (p = 0,22; t-Test für unabhängige Stichproben). Lebenszufriedenheit im Alter (PGC) Das Instrument PGC (Lawtons PGC Morale Scale, 1975) wurde in der deutschen Fassung eingesetzt. Es umfasst 17 sprachlich einfach formulierte Items (zum Beispiel »Ich bin leicht aus der Fassung zu bringen«, »Ich fühle mich heute genauso glücklich und zufrieden wie früher«), die mit »ja« und »nein« beantwortet werden, und hat drei Subskalen: innere Ruhe, Einstellung zum eigenen Alter sowie Zufriedenheit mit den sozialen Beziehungen, verbunden mit einem positiven Lebensrückblick. Abbildung 4 zeigt die gefundenen Ergebnisse im Überblick.

Abbildung 4: Vergleich der Lebenszufriedenheit im Alter nach Geschlecht (Mittelwerte der PGCSubskalen und des Gesamtscores) Anmerkungen: * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01 (t-Test für unabhängige Stichproben)

Sowohl in den Subskalen wie auch im Gesamtscore stellen sich die Zeitzeugen als wenig vom Altern beeinträchtigt und in guter psychischer Verfassung dar. Dies ist bei den Männern noch ausgeprägter als bei den Frauen. Klinische Symptome und Beschwerden (SCL-14)

Bei der Symptom-Checkliste SCL-14 handelt es sich um eine deutsche Kurzfassung des SCL-90-R, der Symptom-Checkliste von Derogatis (1977). Der Fragebogen misst die subjektiv empfundene Beeinträchtigung durch körperliche und psychische Symptome einer Person innerhalb der letzten sieben Tagen auf drei Subskalen: Depressivität, phobische Angst und Somatisierung. Durch seine zeitliche Fokussierung auf die letzten sieben Tage ergänzt der SCL-14 andere Verfahren zur Messung der aktuellen Befindlichkeit und der zeitlich überdauernden Persönlichkeitsstruktur. Abbildung 5 zeigt die durchschnittlichen Mittelwerte in den Subskalen des Instruments und den mittleren Gesamtscore getrennt für die Geschlechter.

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Die Generation der Zeitzeugen

Abbildung 5: Vergleich der Subskalen des SCL-14 nach Geschlecht (Mittelwerte der SCL-14-Skalen; 4 = maximal mögliche Beschwerden) Anmerkungen: * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01 (t-Test für unabhängige Stichproben)

Auch in diesem Instrument stellen sich die Zeitzeugen als wenig beeinträchtigt dar, wobei die durchschnittlichen Scores der Männer in der Subskala der Depressivität sogar noch signifikant niedriger als bei den Frauen ausfallen. Angst und Depressivität (HADS-D)

Die Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS-D) dient der Selbstbeurteilung von Angst und Depressivität bei Erwachsenen mit körperlichen Beschwerden beziehungsweise Erkrankungen und wurde in der deutschen Adaptation (Herrmann-Lingen, Buss u. Snaith, 1995) der englischen Fassung von Zigmond und Snaith (1983) verwendet. Das Instrument zeichnet sich durch seine Kürze von 14 Items aus, die getrennt eine Angst- und eine Depressivitätssubskala bilden. Die Skalen sollen diese zwei gerade bei körperlich Kranken häufigsten psychischen Störungsformen auch bei leichterer Ausprägung erfassen. Die Formulierungen der Items lauten zum Beispiel: »Ich blicke mit Freude in die Zukunft« oder »Ich habe manchmal ein ängstliches Gefühl in der Magengegend«. Die vorgegebene Antwortmöglichkeit ist vierstufig. Die Abbildungen 6 (Angstskala) und 7 (Depressionsskala) zeigen, wie sich die Untersuchungsgruppe im Mittelwert auf diesen Skalen beschrieb.

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Abbildung 6: Schweregrad der Angst nach Punkten der HADS-D/A (Angaben in Prozent) Anmerkungen: Mittelwert: 5,53; Standardabweichung: 3,67; N = 75

Abbildung 7: Schweregrad der Depression nach Punkten der HADS-D/D (Angaben in Prozent) Anmerkungen: Mittelwert: 4,41; Standardabweichung: 3,02; N = 75

Bei dem Störungsschwerpunkt der Angst werden etwas auffälligere Befunde erhoben: 11,8 Prozent der Befragten beschreiben sich als auffällig und 11,7 Prozent als grenzwertig auffällig, so dass sich bei fast einem Viertel der Untersuchungsgruppe eine angstbezogene Symptomatik zumindest andeutet. Im Bereich der Depressivität beschreiben sich nur 2,6 Prozent der Befragten als auffällig und 11,7 Prozent als grenzwertig auffällig.

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Die Generation der Zeitzeugen

Abbildung 8: Schweregrad der Angst und/oder Depression der HADS-D (Angaben in Prozent)

Betrachtet man, inwieweit sich überhaupt bei den Befragten in dem Instrument eine Auffälligkeit zeigte, findet man bei 15,6 Prozent der Befragten eine grenzwertige Auffälligkeit und bei 11,7 Prozent eine Auffälligkeit (siehe Abbildung 8). Insgesamt beschreibt sich also circa ein Viertel der Befragten (27,3 Prozent) in dem Instrument zumindest als grenzwertig auffällig. Ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen Männern und Frauen ergab sich nicht. Gesundheitsbezogene Lebensqualität (SF-36)

Der SF-36 Fragebogen zum Gesundheitszustand (Bullinger u. Kirchberger, 1998) ist ein krankheitsübergreifendes Messinstrument zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität von Patienten. Es misst mit Hilfe von 36 Items mit unterschiedlichen Antwortformaten ein breites Spektrum von acht Dimensionen körperlicher und psychischer Gesundheit: körperliche Funktionsfähigkeit, körperliche Rollenfunktion, körperliche Schmerzen, allgemeine Gesundheitswahrnehmung, soziale Funktionsfähigkeit, emotionale Rollenfunktion, psychisches Wohlbefinden. Die Rohwerte der Subskalen beziehungsweise der Gesamtskala werden linear in eine Skala von 0 bis 100 transformiert. Hohe Werte indizieren eine günstige Ausprägung, das heißt das Fehlen von Symptomen bezogen auf die jeweiligen Skalen und Subskalen, niedrige Werte eine ungünstige Ausprägung, das heißt das Vorliegen von Symptomen oder Beschwerden. Eine genauere Beschreibung und Auswertung der mit diesem Instrument erhobenen Befunde nimmt Véronique Sydow (in Vorbereitung) vor. Grundsätzlich beschreiben sich auch in diesem Instrument die untersuchten Zeitzeugen als vergleichsweise gesund, wobei die Männer sich sogar als noch gesünder darstellen, wie Abbildung 9 zeigt.

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Abbildung 9: Vergleich der gesundheitsbezogenen Lebensqualität nach Geschlecht (Mittelwerte der SF-36-Subskalen; 100 = beste Gesundheit) Anmerkungen: PF = Körperliche Funktion; RP = Körperliche Rollenfunktion; BP = Körperliche Schmerzen; GH = Allgemeine Gesundheitswahrnehmung; VT = Vitalität; SF = Soziale Funktion; RE = Emotionale Rollenfunktion; MH = Psychisches Wohlbefinden. Das Einzelitem, welches die Veränderung der Gesundheit im Vergleich zur Vorwoche erfasst, ist kein Bestandteil der acht Skalen und wird daher hier nicht aufgeführt. * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01; *** p ≤ 0,001 (t-Test für unabhängige Stichproben)

Posttraumatische Belastungsstörung (PDS-d-1)

Zur Frage nach dem Vorkommen psychotraumatischer Ereignisse und der PTSD in der Untersuchungsgruppe wurde die deutsche Fassung der PDS eingesetzt (Ehlers, Steil, Winter u. Foa, 1996). Die an die Definitionen des diagnostischen Manuals DSM-IV der nordamerikanischen psychiatrischen Gesellschaft orientierte »Posttraumatic Stress Diagnostic Scale« (PDS) erfasst in vier getrennt zu bearbeitenden Teilen das Vorhandensein unterschiedlicher Arten von Traumatisierung, das Vorliegen und die Häufigkeit von 17 Symptomen der Intrusion, Vermeidung und Übererregung, die Merkmale des Traumas nach den Diagnosekriterien des DSM-IV und ob die Symptomatik bestimmte Lebensbereiche beeinträchtigt. Das Instrument, dessen Aufbau und Auswertung in der Arbeit von Valeska Buder (2010) ausführlich dargestellt sind, erlaubt neben der Diagnosestellung eine Einschätzung des Schweregrades einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) und der einzelnen Symptombereiche. Foa, Cashman, Jaycox und Perry (1997) ermitteln gute Werte für Sensitivität und Spezifität sowie für Reliabilität und Validität des gesamten Fragebogens, dessen Ziel es ist, als Screening-Instrument in einer heterogenen Stichprobe Menschen mit PTSD nach DSM-IV zu erkennen und den Schweregrad der Erkrankung einzuschätzen.

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Die Generation der Zeitzeugen

Abbildung 10 bezieht sich auf die erste Fragerichtung des Instruments, nämlich nach den im bisherigen Lebensverlauf erlebten traumatischen Ereignissen und welches von diesen mit der höchsten subjektiven Belastung verbunden war.

Abbildung 10: Rangfolge traumatischer Erlebnisse und zentrale Belastung (Angaben in Prozent) Anmerkungen: Signifikanz: p = 0,06 (Chi-Quadrat-Test).

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57 Prozent der Befragten erlebten sich durch die Erfahrungen der Bombenangriffe als am meisten belastet. Für die weitere Auswertung des Instrumentes, das nach der Betroffenheit während des schlimmsten Ereignisses fragt, bot sich die Unterscheidung von zwei Gruppen an: diejenigen, welche die Bombenangriffe als das schlimmste Ereignis angegeben hatten, und diejenigen, die andere Ereignisse als das am meisten belastende Ereignis genannt hatten.

Abbildung 11: Betroffenheit während des »schlimmsten« Erlebnisses (Angaben in Prozent) Anmerkungen: * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01; *** p ≤ 0,001 (Chi-Quadrat-Test)

Wie zu erwarten zeigen die auf die Bombardierungen bezogenen Antworten eine größere Zustimmung zu denjenigen Items, die eine eigene Lebensgefahr und die Lebensgefahr und Verletzung anderer Personen beschreiben (siehe Abbildung 11). In Bezug auf die eigene körperliche Verletzung fand sich kein Unterschied. Auch hier zeigt sich, dass sehr viele unserer Zeitzeugen die Angriffe mehr oder weniger unverletzt überstanden hatten. Die Abbildung 12 zeigt, bei wie vielen Probanden die DSM-IV-Diagnosekriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung erfüllt waren.

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Die Generation der Zeitzeugen

Abbildung 12: PTBS-Diagnosestellung gemäß DSM-IV nach Art der zentralen Belastung (Angaben in Prozent; N in Klammern) (N = 77) Anmerkungen: PDS-Kriterien a) Erleben eines traumatischen Ereignisses, b) mindestens 1 Symptom »Wiedererleben«, c) mindestens 3 Symptome »Vermeidung/emotionaler Rückzug«, d) mindestens 2 Symptome »Erhöhtes Erregungsniveau«, e) Dauer der Symptomatik mindestens 1 Monat, f) mindestens 1 Bereich des Lebens beeinträchtigt. Signifikanz: n. s. (Chi-Quadrat-Test)

Insgesamt erfüllten elf Personen (14,3 Prozent) die Kriterien einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Sechs (7,9 Prozent) von ihnen hatten die Bombenangriffe als das am meisten belastende Ereignis angegeben. Freilich hatten auch die fünf anderen Personen den »Hamburger Feuersturm« erlebt.1 In den Befunden zu den erlebten Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen, nach denen im Instrument dichotom (also mit Ja oder Nein) gefragt wird, waren die Frauen wesentlich geneigter, negative Auswirkungen zu sehen, wie aus Abbildung 13 hervorgeht.

1

Auch bei den Zeitzeugen, die ein anderes »schlimmstes Ereignis« als die Erlebnisse im Bombenkrieg angegeben haben, könnte eine »Erschütterung« vorliegen, welche im Sinne einer sequenziellen Traumatisierung die spätere Verarbeitung belastender Erfahrungen erschwert und diese traumatisch macht.

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Abbildung 13: Beeinträchtigung in wichtigen Lebensbereichen nach Geschlecht (Angaben in Prozent) Anmerkungen: * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01 (Chi-Quadrat-Test)

Fast die Hälfte der Frauen sieht eine Auswirkung auf die allgemeine Lebenszufriedenheit. Hier scheint sich in besonderer Weise die allgemeinere Tendenz abzubilden, dass die Frauen der Untersuchungsgruppe bei sich eher negative Folgen beschrieben, während die Männer offenbar vielmehr aus einer Position der Abwehr die Fragebögen bearbeiteten und weniger negative Auswirkungen einschätzten.

Heutige Symptomatik und die damalige »Feuersturm«-Erfahrung Lebensalter zum Zeitpunkt des »Feuersturms« In einer vertiefenden Analyse der Befunde soll die Frage verfolgt werden, ob sich neben den bereits dargestellten Geschlechtsunterschieden auch Auswirkungen des Alters ergeben. Tabelle 4 geht von den eingangs definierten Altersgruppen aus, die sich auf das Erlebensalter des »Feuersturms« beziehen.

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Die Generation der Zeitzeugen

Tabelle 4: Unterschiede in den Symptomen von Betroffenen nach Lebensaltersphase am 1. 8. 1943 (Mittelwerte; N = 77) Skalen

Alter am 1. 8. 1943 3–5 J, (N = 11)

Allgemeiner Gesundheitszustand Visuelle Analogskala (VAS)

6–12 J. (N = 32)

p-Wert 13–27 J. (N = 34)

28,8

38,2

24,4

9,0 8,8 10,0

9,6 8,0 10,5

10,0 7,9 10,4

n. s. n. s. n. s.

Klinische Symptome und Beschwerden (SCL-14) Depressivität Phobische Angst Somatisierung

0,55 0,15 1,09

0,62 0,34 1,20

0,35 0,24 0,92

n. s. n. s. n. s.

Angst und Depressivität (HADS-D) Angst Depressivität

8,2 5,3

5,8 4,5

4,4 4,1

≤ 0,01 n. s.

Gesundheitsbezogene Lebens­ qualität (SF-36) Körperliche Funktion Körperliche Rollenfunktion Körperliche Schmerzen Allgemeine Gesundheitswahrnehmung Vitalität Soziale Funktion Emotionale Rollenfunktion Psychisches Wohlbefinden

80,0 86,4 75,2 64,1 58,7 90,3 87,9 69,2

70,4 57,0 60,6 54,7 58,3 78,9 75,0 70,4

57,4 53,7 60,7 54,9 57,2 89,0 87,3 79,0

≤0,05 0,07 n. s. n. s. n. s. n. s. n. s. n. s.

Posttraumatische Belastungs­ störung (PDS-d-1) Wiedererleben Vermeidung/emotionaler Rückzug Erhöhtes Erregungsniveau Gesamtscore

2,64 2,27 4,20 8,70

1,74 2,07 3,35 5,96

1,13 0,84 1,79 3,35

n. s. n. s. 0,07 0,06

Lebenszufriedenheit im Alter (PGC) Innere Ruhe Einstellung zum eigenen Alter Zufriedenheit mit Beziehungen und Lebensrückblick

0,09

Anmerkungen: n. s. = nicht signifikant (einfaktorielle ANOVA)

Während die jüngste Altersgruppe sich im SF-36 wenig überraschend körperlich gesünder beschreibt, stellt sie sich jedoch in den Instrumenten HADS-D und PDS-d-1 deutlich psychisch mehr beeinträchtigt dar: Sie erreicht signifikant höhere durchschnittliche Scores in der Skala »Angst« des HADS-d und im durchschnittlichen Gesamtscore des PDS-d-1.

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U. Lamparter/V. Buder/V. Sydow/S. Nickel/S. Wiegand-Grefe · Psychometrische Befunde

Ausmaß der potenziellen Traumatisierung (KISTE-F) im »Feuersturm«

Mittels des in der Forschungsgruppe entwickelten Einschätzbogens (KISTE-F) wurde die »Feuersturmerzählung« im Interview nach deren Verschriftlichung eingeschätzt. Die Entwicklung und der Aufbau dieses Instruments sind in dem Beitrag von Phillipp von Issendorff (vgl. außerdem von Issendorff, 2011) beschrieben. Anhand der Schilderung des »Feuersturms« im lebensgeschichtlichen Forschungsinterview sollen durch die einschätzende Betrachtung der Geschehnisse und ihrer Schilderung das mögliche »Ausmaß an Traumatisierung« einerseits und die potenziell schützenden Umstände andererseits beurteilt und quantifiziert werden. Bei einem Mittelwertvergleich der Extremgruppen unter dem Gesichtspunkt der Traumatisierung fanden sich nur vereinzelte signifikante Unterschiede, wie Tabelle 5 zeigt. Tabelle 5: Unterschiede in den Symptomen nach Extremgruppen Betroffener gemäß KISTE-F (Mittelwerte; N = 34) Skalen

Extremgruppen°

p-Wert

Schwach Traumatisierte (N = 17)

Stark Traumatisierte (N = 17)

27,8

28,7

n. s.

9,5 8,1 10,4

10,1 7,9 10,2

n. s. n. s. n. s.

Klinische Symptome und Beschwerden (SCL-14) Depressivität Phobische Angst Somatisierung

0,50 0,27 0,87

0,34 0,21 1,01

n. s. n. s. n. s.

Angst und Depressivität (HADS-D) Angst Depressivität

5,2 5,0

4,8 3,9

n. s. n. s.

Gesundheitsbezogene Lebensqualität (SF-36) Körperliche Funktion Körperliche Rollenfunktion Körperliche Schmerzen Allgemeine Gesundheitswahrnehmung Vitalität Soziale Funktion Emotionale Rollenfunktion Psychisches Wohlbefinden

73,3 73,5 67,8 58,9 59,4 87,5 72,5 72,6

61,3 47,1 66,3 56,4 52,7 85,2 80,4 75,3

n. s. 0,07 n. s. n. s. n. s. n. s. n. s. n. s.

Allgemeiner Gesundheitszustand Visuelle Analogskala (VAS) Lebenszufriedenheit im Alter (PGC) Innere Ruhe Einstellung zum eigenen Alter Zufriedenheit mit Beziehungen und Lebensrückblick

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Die Generation der Zeitzeugen

Skalen

Extremgruppen°

Posttraumatische Belastungsstörung (PDS-d-1) Wiedererleben Vermeidung/emotionaler Rückzug Erhöhtes Erregungsniveau

Schwach Traumatisierte (N = 17)

Stark Traumatisierte (N = 17)

2,38 2,00 2,47

1,06 1,12 2,53

p-Wert

0,08 n. s. n. s.

Anmerkungen: ° Extremgruppen wurden unterhalb des ersten und oberhalb des dritten Quartils der KISTE-F-Skala »Potenziell traumatische Ereignisse« ausgewählt. n. s. = nicht signifikant (t-Test für unabhängige Stichproben)

Diese Befunde sprechen dafür, dass das Ausmaß der langfristigen psychischen Folgen nicht vom damals »objektiv« erlebten Ausmaß der Traumatisierung abhängt und hier andere Variablen eine Rolle spielen.

Zusammenfassende Betrachtung In ihren Aussagen zu ihren heutigen Einstellungen zum Krieg und dazu, welche Rolle ihre Erfahrungen im Krieg und »Feuersturm« für die Erziehung ihrer Kinder spielen, beschreiben sich die Zeitzeugen differenziert in Abhängigkeit von der genauen Fragestellung. Fügt man die gefundenen Aussagen zu einer Gruppencharakteristik zusammen, so könnte man sagen, dass unsere Zeitzeugen überwiegend schon glauben, über ihre Erfahrungen gesprochen zu haben, und ihren Kindern auf jeden Fall vermitteln wollten, wie schlimm Krieg ist, aber weniger glauben, dass diese Einstellungen Folgen für die konkrete Erziehungspraxis hatten. Ansonsten beschreiben sie im Durchschnitt ihren körperlichen und seelischen Gesundheitszustand gegenwärtig überwiegend als stabil und haben eine überraschend hohe Lebenszufriedenheit entwickelt. Am ehesten finden sich Hinweise auf eine ängstliche und depressive Symptomatik, wobei besonders das bereits leichtere Störungen erfassende Instrument HADS-d Symptome von Angst und Depressivität abbildet. 14 Prozent der untersuchten Zeitzeugen beschreiben eine heute bestehende posttraumatische Belastungsstörung im PDS-d-1, wobei die Hälfte von ihnen die Bombenangriffe als das schlimmste Ereignis angibt. In der Tendenz beschreiben sich die Frauen der Untersuchungsgruppe als mehr beeinträchtigt, besonders deutlich wird dies im Teil 4 des PDS-d-1, der Beeinträchtigungen in gegenwärtigen Lebensbereichen erfasst. Der PDS-d-1 gibt auch Hinweise, dass die jüngste Altersgruppe die meisten posttraumatischen Symptome aufweist, und diese beschreibt sich auch in den anderen Instrumenten als am meisten beeinträchtigt. Dagegen zeigt der Abgleich des hier geschilderten psychometrischen Datensatzes mit den Einschätzbefunden der KISTE-F zu den traumatisierenden Umständen im »Feuersturm«, dass diese hier nicht zu signifikan-

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U. Lamparter/V. Buder/V. Sydow/S. Nickel/S. Wiegand-Grefe · Psychometrische Befunde

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ten Unterscheidungen führten. In weiteren Auswertungen sollen die hier dargestellten Befunde mit anderen Befunden aus dem Projekt verbunden werden und auch mit den Befunden aus anderen Zeitzeugenuntersuchungen zum Zweiten Weltkrieg verglichen werden (Sydow, in Vorbereitung).

Literatur Buder, V. (2010). 60 Jahre später: Leiden überlebende Kinder und Jugendliche des »Hamburger Feuersturms« (1943) an einer posttraumatischen Belastungsstörung? Dissertation. Universität Hamburg, Fachbereich Medizin. Bullinger, M., Kirchberger, I. (1998). Der SF-36-Fragebogen zum Gesundheitszustand. Handanweisung. Göttingen: Hogrefe. Cierpka, M., Frevert, G. (1994). Die Familienbögen: Ein Inventar zur Einschätzung von Familienfunktionen (Klinische Untersuchungsverfahren). Zeitschrift für Klinische Psychologie, 28 (3), 223–224. Deneke, F. W., Lamparter, U., Stuhr, U. (2001). Der Eppendorfer Fragebogen zur Lebensbelastung (EFLB). Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie. Unveröffentlichtes Manuskript. Derogatis, L. R. (1977). SCL-90-R, administration, scoring and procedures, manual one for the Revised version. Baltimore: John Hopkins University School of Medicine. Ehlers, A., Steil, R., Winter, H., Foa, E. B. (1996). Deutsche Übersetzung der Posttraumatic Stress Diagnostic Scale (PDS). Oxford: University, Warnford Hospital. Ellert, U., Kurth, B.-M. (2004). Methodische Betrachtungen zu den Summenscores des SF-36 anhand der erwachsenen bundesdeutschen Bevölkerung. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 47, 1027–1032. Foa, E. B., Cashman, L., Jaycox, L., Perry, K. (1997). The validitation of a self-report measure of posttraumatic stress disorder: The Posttraumatic Diagnostic Scale. Psychological Assessment, 9 (4), 445–441. Franke, G. (1995). SCL-90-R. Die Symptom-Checkliste von Derogatis – Deutsche Version. Göttingen: Beltz Test. Franke, G. (2002). SCL-90-R. Die Symptom-Checkliste von Derogatis. Manual zur deutschen Version. Göttingen: Beltz Test. Harfst, T., Koch, U., Kurtz von Aschoff, C., Nutzinger, D. O., Rüddel, H., Schulz, H. (2002). Entwicklung und Validierung einer Kurzform der Symptom Checklist-90-R. DRV-Schriften, 33, 71–73. Herrmann-Lingen, C., Buss, U., Snaith, R. P. (1995). HADS-D, Hospital Anxiety and Depression Scale – deutsche Version. Ein Fragebogen zur Erfassung von Angst und Depressivität in der somatischen Medizin. Testdokumentation und Handanweisung. Bern: Hans Huber. Hoffmeister, D., Grundmann, M., Thaler, H.-U., Schneider, G., Heuft, G. (o. J.) Abschlussbericht: Zeitgeschichtliche Erfahrungen und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Teilhabe alter Menschen. Institut für Soziologie Universität Münster. Zugriff am 04. 04. 2013 unter http://www. uni-muenster.de/soziologie/forschung/docs/w2k/abschlussbericht.pdf Issendorff, P. von (2011). Transgenerationalität von Kriegstraumata: Psychometrische Untersuchungen am Beispiel des Hamburger Feuersturms von 1943. Dissertation. Universität Hamburg, Fachbereich Medizin. Lamparter, U., Apel, L., Thießen, M., Wierling, D., Holstein, C., Wiegand-Grefe, S. (2008). Zeitzeugen des Hamburger »Feuersturms« und ihre Familien. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur transgenerationalen Weitergabe traumatischer Kriegserfahrungen. In H. Radebold, W. Bohleber, J. Zinnecker (Hrsg.), Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen (S. 215–256). Weinheim: Juventa.

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Die Generation der Zeitzeugen

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Linde Apel

Keine Unbeteiligten Über Nähe und Distanz zum NS-System aus der Retrospektive

Bei den im »Feuersturm«-Projekt geführten Interviews stand das Erleben der Bombenangriffe auf Hamburg im Sommer 1943 im Vordergrund des Forschungsinteresses. Darüber hinaus gehörten weitere thematische Felder zum Forschungskontext, darunter Fragen zur persönlichen Bewältigung und generationellen Tradierung des Erlebten, aber auch zur Einstellung gegenüber dem nationalsozialistischen System. Als Zeitzeugen des »Feuersturms« galten im Forschungsprojekt 72 Personen der Jahrgänge 1916 bis 1942.1 Davon erlebten 14 Frauen und zwei Männer der Jahrgänge 1916 bis 1925 beträchtliche Teile ihrer Jugend und prägende Jahre ihres Erwachsenendaseins im NS-System. Dass dazu lediglich zwei Männer gehören, ist insofern charakteristisch, da es sich bei den Erfahrungen im Bombenkrieg um Ereignisse an der »Heimatfront« (Hagemann 2002, S. 29 ff.) handelt, von denen Frauen in besonderer Weise betroffen waren. Aus der Gruppe der 14 jungerwachsenen Zeitzeugen möchte ich die Interviews mit vier Frauen der Jahrgänge 1916, 1919 und 1920 vorstellen. Was ihre Aussagen vergleichbar macht, ist, dass sie alle mit dem NS-System konform gingen, auch wenn die Interviews über die Reichweite der Übereinstimmung lediglich Hinweise geben. Die in einer spezifischen Kommunikationssituation mit überwiegend therapeutisch geschulten Interviewern entstandenen mündlichen Quellen kennzeichnet, dass die Gesprächspartner ein großes Interesse hatten, befragt zu werden. Weiterhin lässt sich diese Gruppe der Befragten einem Personenkreis zurechnen, der bisher nicht umfassend interviewt wurde2, da sie in der Regel weder zu den Gegnern noch zu den Verfolgten des NS-Regimes, sondern weit überwiegend zu den »ganz normalen« Deutschen gehörten, die die unterschiedlich erlebte Erfahrung der Bombenangriffe eint.3 Auch deshalb hat ihre Lebensgeschichte bisher nicht primär im »Rampenlicht« (Niethammer, 1985, S. 7.) historischen Interesses gestanden. Die Interviews sind insbesondere davon geprägt, dass das thematische Feld Nationalsozialismus nicht den Schwerpunkt bildete. Dies ermöglichte es den Gesprächspartnern, über das am eigenen Leib 1

Die Transkripte dieser Interviews sowie jener mit der Kinder- und Enkelgeneration sind in der Werkstatt der Erinnerung, dem »Oral-History«-Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, archiviert und können dort eingesehen werden. 2 Interviews mit dieser Gruppe liegen unter anderem den Arbeiten von Rosenthal, 1990; Bergerson, 2004; Johnson u. Reuband, 2005; Harvey, 2010; Kohut, 2012 zugrunde. 3 Ein Gesprächspartner gehörte zur Gruppe der NS-Verfolgten.

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Die Generation der Zeitzeugen

erfahrene Leid und dessen erfolgreiche Bewältigung zu sprechen. Über die Erfahrung der Bombenangriffe hinaus geben die Erzählungen von Angehörigen der Erlebnisgeneration des Krieges Aufschluss über die Attraktivität des Nationalsozialismus. Sie ermöglichen damit auch Einblicke in den unspektakulären Alltag einer ausgrenzenden Gesellschaft. In Zusammenhang mit ihren Erzählungen über die NS-Zeit äußern sich die Befragten auch über den Mord an den Juden, wobei es einigen auffallend schwerfällt, die Verbrechen als solche zu benennen. Innerhalb dieser Aussagen bewerten sie, teils rechtfertigend, teils selbstkritisch, teils leidenschaftslos, was sie darüber wissen konnten. Die Interviews enthalten damit Hinweise auf Unrechts- und Schuldgefühle und verweisen darauf, wie heute vor dem Hintergrund der eigenen Kriegserfahrungen über die gemischten Gefühle gesprochen wird, die mit der NS-Zeit verbunden werden. Dabei wird sichtbar, welche Aspekte eines konsensualen Geschichtsverständnisses sich bis in die Erlebnisgeneration hinein durchgesetzt haben. Dass die Bombenkriegserfahrungen heute unstrittig als Opfererfahrungen gelten, hat das Sprechen über den Nationalsozialismus sicherlich gefördert.

»Ja, wissen Sie, ich muss es ehrlich sagen, ich kann keine Schuld empfinden.« – Frau Farmer, die vehement Unschuldige Frau Farmer, Jahrgang 1916, erlebte die Bombenangriffe des Sommers 1943 als berufstätige Frau im Alter von 27 Jahren in einem stark attackierten Hamburger Stadtviertel und wäre in dem Keller, in dem sie Schutz gesucht hatte, fast erstickt.4 Das Interview dreht sich trotz wiederholter Versuche der Interviewerin, den Schwerpunkt auf das Erleben der Bombenangriffe und ihre Folgen zu legen, um ihre Einstellung zum NSSystem und in Zusammenhang mit dem Wissen um die Verfolgung von Juden auch um Schuldabwehr. Das Gespräch ist dadurch charakterisiert, dass Frau Farmer sich mit großem, bisweilen fast aggressiv wirkendem Nachdruck verständlich zu machen versucht und dabei der Interviewerin beständig ins Wort fällt. Auch verwendet die zu den ältesten Befragten gehörende Gesprächspartnerin eine Reihe von Begrifflichkeiten und Deutungsmustern, die die NS-Zeit überdauert zu haben scheinen. Frau Farmers Erläuterung ihrer Erzählmotivation macht deutlich, wie die gängige mediale Inszenierung von Zeitzeugen des »Dritten Reiches« sie geprägt hat.5 Sie erklärt, dass sie deshalb befragt werden wolle, weil sie sich als eine der wenigen noch lebenden Zeitzeugen versteht, die die Ereignisse als Erwachsene mit einer gewissen Verantwortung erlebt hätten. Damit grenzt sie sich von dem ab, was ihr allabendlich präsentiert 4 Interview mit Frau Farmer am 25. 8. 2006, Interviewerin: Sabine Niemann, Forschungsstelle für Zeitgeschichte/Werkstatt der Erinnerung (im Folgenden: FZH/WdE) 1432. Die Namen der Interviewten wurden anonymisiert, siehe auch Anhang 6 der Materialien. Die eckig eingeklammerten Zahlen nach den Zitaten verweisen auf die Seiten des Transkripts. 5 Vgl. dazu Sabrow u. Frei (2012), darin Martin Sabrow, »Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen den Welten«, S. 13–32, sowie Harald Welzer (2012), »Vom Zeit- zum Zukunftszeugen. Vorschläge zur Modernisierung der Erinnerungskultur«, S. 33–48.

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wird: »Auch heute, was Sie im Fernsehen sehen, das sind alle, die das als Kind erlebt haben« [4]. Befragt nach dem eigentlich Erlebten während der Bombenangriffe, antwortet sie, dass ihr alles deutlich vor Augen stehe, kann aber auf Nachfragen kaum Einzelheiten schildern. Die Interviewerin macht daraufhin einen neuen Versuch, sie dazu zu bewegen, sich über ihre Erinnerungen an die Ereignisse zu äußern. Ihre Frage danach, wann Frau Farmer bewusst geworden sei, dass Bombenangriffe zu erwarten gewesen seien, gibt dem Gespräch eine unerwartete Wendung. Frau Farmer antwortet: »Ich hab keine Fremdsender geguckt, ich hab’s nicht gewusst« [10]. Unmittelbar im Anschluss an ihre Aussage, dass sie sich nicht mit Hilfe ausländischer Radiosender informiert habe, kommt sie auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen: ihr begrenztes Wissen und die Tatsache, dass heute viel mehr und fast ausschließlich Negatives über die NS-Zeit bekannt sei, was die damaligen Zeitgenossen, so auch sie und ihre Generation, nicht wissen konnte. Vom drohenden Bombenangriff, von dem sie nichts ahnte, geht sie über zum verlorenen Krieg. Erst auf eine erneute Nachfrage der zunehmend erstaunt wirkenden Interviewerin räumt Frau Farmer ein, gewusst zu haben, dass der Krieg verloren sei. Sie schließt mit folgenden Sätzen an: »Wir wussten nicht, was für Verbrechen war, wir wussten nicht, dass vor unsrer Haustür in Neuengamme ein KZ war. Das wussten wir alle nicht. Und wir haben, ich zum Beispiel habe Tag und Nacht beinah gearbeitet, ich war Medizinisch Technische Assistentin in der Radiologie. Was meinen Sie, da haben wir doch gar nicht« [11]. Ihre Berufstätigkeit, die anfangs noch als Argument für ihre besondere Qualität als Zeitzeugin diente, wandelt sich nun zur Begründung, warum sie lediglich über einen stark eingeschränkten Informationshorizont verfügt habe und nichts über die von ihr unter dem Schlagwort »Konzentrationslager« subsumierten Verbrechen des Systems gewusst hätte. Neben den »Fremdsendern«, die sie nicht gehört habe und ihrer Berufstätigkeit bietet Frau Farmer ein drittes Argument dafür an, dass sie nicht informiert gewesen sei und daher nicht verantwortlich gemacht werden könne: Sie sei Teil eines Frauenhaushaltes mit einem auf die Berufstätigkeit und häusliche Arbeit reduzierten Leben gewesen. »Ja, das Familienleben, das war eben ganz furchtbar langweilig, wenn ich das so – Wir waren die ganze Woche waren wir im Dienst, und am Sonntag, dann gingen wir immer zu einer Freundin, und dann stopften wir Strümpfe alle zusammen, saßen wir da, und die hatte Kaffee« [18]. Sie führt aus, dass sie auch deshalb nicht habe Bescheid wissen können, weil sie familiär keine Kontakte zu Männern gehabt habe, die ihrer Meinung nach als Soldaten besser informiert gewesen seien.

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»Wissen Sie, ich bin in einem, ich habe in einem Frauenhaushalt. Mein Vater war ja tot. Deshalb, wenn ich nun Brüder gehabt hätte, die auf Urlaub gekommen wären, hätt ich ja viel mehr gewusst. […] Das, man sagt immer, dass wir’s nicht ge- äh, da, wir haben es nicht gewusst. Wirklich« [11]. Inständig bittet sie die Interviewerin im weiteren Verlauf des Gesprächs um Verständnis für ihre Ahnungslosigkeit über schuldhafte Zusammenhänge, die sie andeutet, aber nicht näher benennt und obendrein weit von sich weg an die Front verlegt. Zur Verstärkung ihrer Einstellung spielt sie zwei angesehene und in der Öffentlichkeit bekannte Personen gegen einander aus. »Man ist höchstens wütend, dass man das alles so falsch, nicht, vorgesetzt gekriegt hat. Wir sind, der Wo-, äh, dieser Professor Wolfssohn da in München, der hat ja gesagt: ›Das deutsche Volk ist verführt worden.‹ Das sagen die Deutschen nicht. Weizsäcker sagt: ›Wir haben alle gewusst.‹ Männer haben vielleicht alle gewusst, und die im Krieg waren, haben alle, haben’s erfahren. Aber doch Frauen nicht. Wir sind doch fast genauso viele Frauen wie Männer. Davon wird nie gesprochen« [28]. Weizsäcker ist in diesem Fall der Deutsche, der ihrer Meinung nach nicht das Richtige sagt. 1985 hatte er anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes im Bundestag eine vielbeachtete Rede gehalten, in der er den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung bezeichnete (Gill u. Steffani, 1986; Kirsch, 1999). Der jüdische Historiker und Publizist Michael Wolfssohn gehört für sie offenbar nicht zu den Deutschen, dennoch zitiert sie seine Aussage, weil er damit ihre Position, betrogen und verführt worden zu sein, unterstützt. Auch an einer anderen Stelle des Gesprächs bezieht Frau Farmer sich auf Juden: »Und selbst, weiß ich auch, selbst Juden, nicht, das, das, das erschüttert mich heut so sehr, haben die a-, die, die abtransportiert wurden, die konnten zum Teil ja noch ’n paar Möbel oder irgendwas damals, ich weiß es, ich hab das nie, ich wohnte nicht, das war an der Moorweide, das war in ’ner ganz anderen Gegend von Hamburg. Die, äh, die, glaubten noch, dass sie vielleicht nur irgendwo weit weg kamen, und eines Tages zurückkehren. Die haben nicht gewusst, dass sie nur zur Vergasung oder wie kamen. Das haben die nicht geahnt. Das konnte kein Mensch denken. Das ist so, wirklich« [37 f.]. Mit Vehemenz beharrt sie weiterhin auf ihrer Unwissenheit. Das Nichtwissen, das sie auch den kurz vor der Deportation in den Tod stehenden Juden unterstellt, setzt sie mit ihrer eigenen Ahnungslosigkeit gleich. In der Formulierung »das konnte kein Mensch denken« ist eine Andeutung der Grausamkeit des Mordes an den Juden enthalten, von der sie sich abgrenzen will. Dies verweist nicht notwendigerweise auf Empathie mit den Opfern oder darauf, dass diese Verbrechen noch heute unbegreifbar sind, sondern vielmehr darauf, dass der weit verbreitete antijüdische Konsens in der deutschen Gesellschaft bei Gewalt und Mord aufbrach (Bajohr, 2006, S. 77 f.). Gegen Ende des Interviews erklärt sich, warum Frau Farmer so lebhaft darauf beharrte, nicht über genügend Informationen zu verfügen. Sie weist jenen die Schuld

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an nicht genauer bezeichneten Verbrechen zu, die ihrer Meinung nach einen umfassenden Überblick gehabt hätten, aber dennoch nicht eingegriffen hätten: den Alliierten. Befragt danach, ob es etwas gebe, an das sie sich besonders ungern erinnere, zögert sie zunächst, um dann zu antworten: »Ich meine, was mich irgendwie so, so, äh, in einer Weise in, nicht Wut nicht, aber irgendwie, das das die nach’m Krieg, dass das so anders alles gedeutet ist. Er wollte den Krieg verkürzen. Die Alliierten, die Alliierten haben alles gewusst mit den Konzentrationslagern und sind nicht eingeschritten. Das ist eine Schuld […] Aber doch nicht, doch nicht, äh, äh, so, so, also Leute wie wir, wie die, wie so die Frauen und so weiter. Und das hat mich immer so aufgeregt, und das regt mich heute auch noch auf« [60]. Frau Farmer macht im Interview keinen Hehl aus ihrer damaligen Zustimmung zum Nationalsozialismus, zugleich lehnt sie jegliche Verantwortung für dessen Verbrechen ab und umgeht es, sie konkret zu benennen. Ihre Befürwortung des Regimes begründet sie in stereotyper Weise mit den verbesserten ökonomischen Verhältnissen und der Verringerung der Arbeitslosigkeit, um später die Frage nach ihrer BDM-Mitgliedschaft zu verneinen. Aus einer längeren, zwischen beiden Aussagen liegenden anschaulichen Erzählung geht hervor, welche Gefühle sie mit dem NS-System verband. Noch im Sommer 1944 scheint sie zu dem Regime gestanden zu haben. Auch dafür hofft sie auf das Verständnis der Interviewerin: »Aber wir wollten nicht, dass der Krieg verloren, verstehen Sie. Das muss man doch verstehen. Das können die Leute heut nicht mehr verstehen. Ja manche haben sich, die haben auch mehr gewusst, die haben sich gefreut. Die haben sich gefreut als, als, als Hitlers ab-, äh, äh, äh, als, äh, als Hitler überlebte ’44. Aus Angst, dass das andere, was dann kommt, noch schlimmer ist. Nur, ja, das ist ’ne ganz furchtbare Denkweise, aber die hab ich auch gehabt« [13]. Obwohl Frau Farmer hier ihre damalige Sichtweise zu kritisieren scheint, sieht sie doch keinen Anlass, ihre Einstellungen zu überdenken. Um sich besser verständlich zu machen, greift sie eine zeitgenössische Interpretation des Krieges auf: »Bei uns damals haben wir immer gesagt, also immer ›genieß den Krieg, der Frieden wird fürchterlich‹« [14]. Der darin enthaltenen Angst vor Strafe, gewissermaßen ein implizites Schuldeingeständnis, widerspricht sie auf eine vorsichtige Nachfrage der Interviewerin entschieden: »Ja, wissen Sie, ich muss es ehrlich sagen, ich kann keine Schuld empfinden. Jetzt hinterher, wenn ich weiß, was da geschehen ist mit den, mit den – Natürlich ist es so furchtbar, dass ich da, also praktisch denn, wir haben auch jüdische Bekannte und Freunde gehabt. Das ist nicht so, dass, dass ich nun, äh, nicht, äh, ich sagte, die Juden sollen umkommen oder was, nicht?« [15].

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Die Generation der Zeitzeugen

Frau Farmer stellt in der Gruppe der hier präsentierten jungerwachsenen Befragten aus der BDM-Generation (Reese, 2007) hinsichtlich ihrer Nähe zum NS-Regime keine Ausnahme dar. Was ihre Aussage von anderen unterscheidet, die sich mit dem NS-System identifizierten (Apel, 2011), ist ihr vehementes Beharren auf ihrer Unschuld mit der Begründung, dass sie eine berufstätige, sich an die Regeln haltende Frau ohne Kontakte zu informierten Männern gewesen sei (Grote u. Rosenthal, 1992). Damit bedient sie sich eines typischen, nach dem Krieg weit verbreiteten geschlechtsspezifischen Wahrnehmungsmusters, das unter anderem dazu führte, dass nach 1945 nur wenige Frauen für ihr Engagement und ihre Tätigkeiten bis 1945 juristisch belangt wurden (Weckel u. Wolfrum, 2003, S. 10). Schuldgefühle weist sie ebenso weit von sich wie eine Verantwortung für das Geschehene. Vom radikalen Antisemitismus grenzt sie sich aber ab. Um sich von einer persönlichen Verantwortung für die Verbrechen an den Juden zu distanzieren, zieht sie die größten Verbrecher der Gegenwart heran: »Das Volk hat ja nicht die Juden umbringen wollen, sondern es ist ja eine Gruppe gewesen, die da gezüchtet sind. Das ist heute wie mit den Terroristen, die kommen oft aus ganz ordentlichen Familien und werden dann fanatisch« [15]. Mit Hilfe einer 2006 aktuellen Debatte über islamistische Terroristen legitimiert sie ihre Argumente und macht damit zugleich ihre Distanzierung plausibel (Thießen, 2009, S. 317 ff.). Auch wenn ihre Zuweisung der Schuld an eine »gezüchtete« Gruppe seltsam unzeitgemäß wirkt und an die Diskurse der 1950er Jahre erinnert, wonach lediglich eine kleine Clique von überzeugten Tätern für den Mord an den Juden verantwortlich gewesen sei, ist dies der einzige Hinweis darauf, dass es ihrer Meinung nach neben den Alliierten weitere Schuldige gab. Frau Farmer hat sich im Interview erst nach mehrfacher Aufforderung durch die Interviewerin kurz und andeutend über ihre Erfahrungen während der Bombenangriffe geäußert. Einen wesentlich größeren Raum nimmt ihre Auseinandersetzung mit dem ihrer Meinung nach unhaltbaren und grundverkehrten Umgang mit dem Nationalsozialismus ein. Ihre Position kulminiert gegen Ende des Interviews in folgender Aussage: »Na ja, die haben uns doch was vorgelogen, dass der Krieg und das alles. Ja, das ist unsere ganze Generation. […] Wir sind verführt worden. […] Das heißt ja nicht, dass wir, dass wir hätten manchmal was mehr tun können oder was, weil das, darum geht es ja gar nicht. Wir sind ja aber auch nur Menschen, aber wir, dieses, dieses ewige Schuldgefühl. Wir haben zu lange gebüßt« [57]. Erneut nimmt sie hier eines ihrer zentralen Argumente auf, in dem sie die Schuld für Zusammenhänge und Ereignisse, die sie nicht benennt, mit den Alliierten verknüpft. Denn unmittelbar im Anschluss an die Aussage, »wir haben zu lange gebüßt«, kommt sie auf Churchill zu sprechen und missbilligt, dass er den Karlspreis erhalten

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L. Apel · Keine Unbeteiligten

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habe. »Für mich ist er wie, ist er ’n Verbrecher. Er hat ja – Wissen Sie, wir haben ja auch, wir haben ja doch, wie heißt das, Coventry ja auch bombardiert und vieles, das ist es ja nicht, das hab ich ja alles erst hinterher« [57 f.]. Die Verleihung des Karlspreises an Winston Churchill hat 1955 stattgefunden. Für Frau Farmer scheint es gestern erst geschehen zu sein, so sehr empört es sie, dass der britische Premierminister, den sie für die Bombenangriffe auf Hamburg verantwortlich macht und der in ihrer Argumentation der Inbegriff des schuldigen, weil wissenden Täters ist, einen international anerkannten Preis erhalten hat. Es war sicherlich nicht ganz einfach, der sprunghaft zwischen Zeiten und Themen wechselnden und sich vielfach in Andeutungen ergehenden Frau Farmer zu folgen, wie an dem Interviewverlauf und den Versuchen der Interviewerin, die Gesprächsführung zu behalten, abzulesen ist. An dieser Stelle jedoch schließt sich gewissermaßen der Kreis in Frau Farmers Argumentation. Es sind nicht primär ihre Erfahrungen im Bombenkrieg, über die sie sprechen möchte. Vielmehr ist ihr das Thema als Hintergrundfolie recht, um sich von einer unberechtigt zugewiesenen Schuld zu entlasten. Auch wenn manche ihrer mit großer Bestimmtheit vorgetragenen Aussagen bisweilen skurril klingen, war die 91-Jährige sicherlich nicht altersverwirrt. Im anderthalbstündigen Interview hält sie ihren hohen Rechtfertigungs- und Erzähldruck durch, um ihr Gegenüber davon zu überzeugen, dass sie nichts mit dem zu tun hatte, was die NS-Zeit heute charakterisiert: die Verbrechen an den Juden.

»Ich war, ich muss sagen, ich war Nationalsozialist.« – Frau Bad, die Sachliche Mit Frau Bad, Jahrgang 1919, gestaltete sich das Interview auf ganz andere Weise, auch wenn sie, ähnlich wie Frau Farmer, ihre Bereitschaft zum Interview damit begründet, die im Fokus stehenden Ereignisse nicht als Kind, sondern als eine der wenigen noch lebenden Erwachsenen erlebt zu haben.6 1943 lebte sie, die ein begeistertes BDM-Mitglied war, mit ihrer 1940 geborenen Tochter in einer kleinen Wohnung in einem kleinbürgerlich geprägten Stadtteil im Hamburger Osten. Sie hatte zuvor eine Ausbildung als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft gemacht und war mit einem Wehrmachtssoldaten verheiratet. Die Luftangriffe im Juli 1943 überstand sie über mehrere Tage im Hauskeller und hatte unterdessen erfolglos versucht, sich mit ihrer Tochter zu ihren im Westen Hamburgs lebenden Eltern durchzuschlagen. Das relativ kurze Interview ist davon geprägt, dass Frau Bad zwar bereitwillig auf die Fragen und Anregungen der Interviewerin eingeht, ihr in vielen Fällen aber nicht viel dazu einfällt. Mehrfach entschuldigt sie sich dafür, »auch nichts weiter« [2] oder »nix Ergreifendes« [7] erzählen zu können, wohl weil sie befürchtet, den Erwartungen einer Therapeutin nicht zu entsprechen, die für sie das renommierte Hamburger Universitätskrankenhaus repräsentiert. Die einen bescheidenen Eindruck machende Frau Bad legt der Interviewe6 Interview mit Frau Bad am 24. 8. 2006, Interviewerin: Angelika Steiner. FZH/WdE 1345.

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rin gegenüber ein großes Entgegenkommen an den Tag, vielleicht, weil es ihr unangenehm ist, nur wenige Details schildern zu können, möglicherweise aber auch, weil es sie ehrt, als interessante Gesprächspartnerin zu gelten. Als das Gespräch über Frau Bads Erfahrungen im Krieg bereits fortgeschritten ist, kommt ein neues Thema auf. Gefragt nach ihren Gefühlen gegenüber ihrem Arbeitgeber nach Kriegsende, der britischen Besatzungsmacht, von deren Luftwaffe die Stadt kurz zuvor noch bombardiert worden war, antwortet sie: »Ja, das kann ich nun gar nicht so sagen, also ich – Ich weiß nur, als dass die Besatzung, als die, äh, der Krieg zu Ende war, und die fuhren bei uns die Straße mit ihren, mit ihren Panzern und mit ihren Wagen da längs, da kamen mir die Tränen. Das weiß ich noch ganz genau. Da, man durfte ja nicht raus, wir standen hinter der Gardine, und da hab ich auch zu meinem Vater gesagt, ›Oh, Vati, nun guck mal, nun war alles umsonst, nicht?‹ Ich war, ich muss sagen, ich war Nationalsozialist. Ich war sehr, äh, engagiert. Ich war in der Hitlerjugend und ich war vorher in der Bündischen Jugend, und ich war auch ’ne Verrückte, die Heil geschrien hat, wenn Adolf da zum Hafen fuhr und so« [14/15]. Auf eine kurze paraphrasierende Intervention der Interviewerin bestätigt Frau Bad erneut das Gesagte: »Ja, muss ich zugeben, nich’? Ja. Der eine war eben, nicht, so und der andere war« [15]. Unmittelbar anschließend erklärt sie: »Und von dieser ganzen Judenverfolgung und so, da haben wir echt nichts gewusst« [15]. Im Gegensatz zu Frau Farmer, die für ihren Enthusiasmus fortwährend um Verständnis bittet, bringt Frau Bad ihre damalige Einstellung nüchtern und präzise auf den Punkt. Sie lässt dabei kein Bedürfnis erkennen, sich zu rechtfertigen. Eine Einschränkung muss sie hingegen vornehmen: Sie sei nicht über die Verbrechen an den Juden informiert gewesen. Dies erläutert sie folgendermaßen: »Da wohnten ja fast nur Juden in der Gegend Hallerstraße. Die waren aber alle sehr nett. Ja, kann ich nicht anders sagen. Und da hab ich dann, ich wusste wohl, dass die denn, sagt meine Mutter, ›Die sind schon weg. Und Familie Hirschfeld ist weg.‹ Ich sag, ›Wo sind die denn hin?‹ Und so, ’ne? Das hat man gar nicht so mitgekriegt. Also ich hab das persönlich nicht so mitgekriegt« [15]. Frau Bad, die sich große Mühe gibt, auf die Fragen der Interviewerin einzugehen, äußert sich auch hier mit einer das gesamte Interview charakterisierenden Unaufgeregtheit und Offenheit. Über das Verfolgungsschicksal der Juden spricht sie jedoch mit vielen Andeutungen und Abbrüchen, die bei anderen Befragten in ähnlicher Weise vorkommen.7 Sichtbar an der Aussage »die waren aber alle sehr nett« werden heutige soziale Konventionen, nach denen die Judenverfolgung abzulehnen und das Schick7 Vgl. dazu Kohut (2012): »Looking away« from Jews in Nazi Germany, S. 161 f.

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sal der Verfolgten zu bedauern ist und mit deren Übernahme man sich zugleich von damals wirksamen Einstellungen distanziert. Ihre vage Frage, wo »die [Juden] denn hin« seien und was aus ihnen geworden sei, lässt sie offen. Ihre mehrfache Verneinung, einen letztlich diffus bleibenden Verfolgungszusammenhang »nicht so mitgekriegt« zu haben, verweist darauf, dass sich Frau Bad nicht sonderlich für ihre jüdischen Nachbarn interessiert zu haben scheint. Die Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung ließ sich ohne Weiteres ignorieren. Bemerkt hat »man« ja tatsächlich nur dann, wenn man es bemerken wollte. So hielt etwa der mit einer sogenannten Halbjüdin verheiratete Erwin Garvens einen Tag vor der Deportation von Juden aus Hamburg in das Ghetto Litzmannstadt in seinem Tagebuch fest, dass er den ganzen Tag die zur Deportation aufgeforderten Juden mit ihrem Gepäck an einem Fenster habe vorbeilaufen sehen. Er schließt den Eintrag mit den Worten: »Man schämte sich, zu dem deutschen Volk zu gehören, in selben Namen das alles ja angeblich geschieht« (zit. nach Apel, 2010, S. 253). Garvens, der über jenen Stadtteil schreibt, in dem auch die für jüdische Familien arbeitenden Eltern von Frau Bad lebten, konnte sich aus familiären Gründen dem Schicksal seiner jüdischen Nachbarn nicht verschließen. Er war all das, was Frau Bad nicht war: empört, beschämt, erschüttert. Seine Aussage zeigt, dass sich die Kurzformel »weg«, die Frau Bad mehrmals benutzt und die die typische verhüllende Umschreibung für alle Vorgänge ist, die mit Emigration oder Deportation der Juden zu tun haben, auf Ereignisse bezieht, die im Stadtbild durchaus sichtbar gewesen sind. Sie wurden von vielen wahrgenommen, man musste sich jedoch dafür interessieren, um sie zu verstehen und einordnen zu können.8 Für Frau Bad, die sich heute noch an die Tränen der Enttäuschung erinnert, als sie mit dem Einmarsch der britischen Truppen ihre Hoffnungen auf ein gutes Ende schwinden sah, waren dies offenbar nur flüchtige, sie nicht weiter betreffende Vorgänge. Rückblickend verbindet sie mit ihren jüdischen Nachbarn keine erinnernswerten Emotionen. Zu ihnen hatte sie wohl, wie viele andere auch, eine große Distanz. Frau Bad spricht in ihrem bereitwilligen Entgegenkommen der Interviewerin gegenüber ohne Vorbehalte über ihre Übereinstimmung mit dem NS-Regime. Ein Bedürfnis, sich damit auseinanderzusetzen oder sich zu rechtfertigen, hat sie nicht. Auch für ihre Abwendung vom NS-System findet sie knappe Worte. Nach ihrer Tätigkeit bei der britischen Besatzungsmacht befragt, beschreibt Frau Bad plastisch, wo sie gearbeitet hat, und schließt mit folgenden Worten: »Das war ’ne schöne Zeit da. Ja, also da, weiß nicht, denn hab ich das auch alles vergessen mit Adolf und all dem Schiet« [18]. Offenbar will sie mit ihrer eigenen Begeisterung für »Adolf« oder mit ihrer Enttäuschung nach »all dem Schiet« nichts mehr zu tun haben. Sie hatte in der Nachkriegszeit sicherlich etwas anderes zu tun, als sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen. Das geht aus der nachfolgenden Erklärung hervor: »Will ich mal so sagen. Ich war denn auch froh, dass ich Arbeit hatte, dass wir nicht hungern mussten, ’ne?« [18]. 8 Vgl. dazu das Tagebuch von Karl Dürkefälden, der sich darin explizit mit den politischen Entwicklungen im Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat (Obenaus, 1985).

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Im etwa 45 Minuten langen Interview spricht Frau Bad in einfachen Worten und mit der für sie typischen Lakonie über das, was ihr im Leben zugestoßen ist. Sie scheint die Aufmerksamkeit der Interviewerin zu genießen, auch wenn sie sie sich mehrmals bei ihr dafür entschuldigt, nichts Besonderes zu berichten zu haben. Erst auf wiederholte Nachfragen erzählt sie, wie sie erfolglos versuchte, sich mit ihrer Tochter durch die brennende Stadt zu ihren Eltern zu retten. Als die Interviewerin ihr nahelegt, dass dies wohl ihr schlimmstes Erlebnis gewesen sei, bestätigt sie es zunächst, um es unmittelbar anschließend wieder einzuschränken: »Es gibt bestimmt viele Leute, die noch mehr erlebt haben, und Schlimmes, Schlimmeres noch erlebt haben. Aber das hat mir auch gereicht, nich’? Das und dann die ganzen Bombennächte, ja nicht nur diese drei schlimmen Nächte, sondern auch vorher schon, immer in den Luftschutzkeller, immer nachts runter« [23]. Ihre Vergangenheit ist ein abgeschlossenes Kapitel, ein Bedürfnis, darüber kritisch zu reflektieren, hat sie nicht.

»Dass man das einfach nicht gewusst hat und nicht mitkriegte.« – Frau Hagenbusch, die Unschlüssige Anders als bei Frau Bad spielen im Gespräch mit Frau Hagenbusch, Jahrgang 1920, Auseinandersetzungen mit den negativen Seiten des NS-Systems und ihrem eigenen Verhalten eine große Rolle.9 Frau Hagenbusch war noch in der Ausbildung, als sie einen Kollegen heiratete, kurz bevor er eingezogen wurde. Die Bombenangriffe des Sommers 1943 überstand sie in einem Bunker. Sie möchte ihre Erlebnisse »als Mahnung« [1] an die Nachkommen weitergeben und erzählt davon mit vielen ihr noch präsenten Details. Was ihre Äußerungen von den beiden vorigen unterscheidet, ist, dass sie in den langen Passagen über ihre Erlebnisse im Bombenkrieg auf die Verfolgung der Juden zu sprechen kommt und darüber reflektiert, was sie damals davon bemerkt hat. Auch wenn sie die Vorwürfe von Jüngeren abwehrt, ihre Haltung hätte dazu beigetragen, die NS-Verbrechen zu ermöglichen, kreisen ihre Aussagen dennoch um die Frage, was sie wusste und was sie hätte tun können. Frau Hagenbusch nutzt das Gesprächsangebot über ihre Kriegserfahrungen zögerlich zur kritischen und ambivalenten Selbstbefragung. Obwohl sie im Verlauf des Gesprächs eine ganze Reihe von Orten und Situationen erwähnt, die für die Ermordung der Juden zentral waren, sie also offenbar sehr viel wahrgenommen und erzählt bekommen hat, insistiert sie darauf, »dass man das einfach nicht gewusst hat und nicht mitkriegte« [41]. Diese Argumentationsform, Wahrnehmungen zuzugeben und im selben Moment abzuwehren, zieht sich durch das gesamte Gespräch. Eine Nachfrage der Interviewerin im Kontext des Kriegsendes löst bei Frau Hagenbusch eine Reflexion über die sie beunruhigenden Aspekte des NS-Regimes aus. Obwohl 9 Interview mit Frau Hagenbusch am 16. 10. 2006, Interviewerin: Christa Holstein. FZH/WdE 1448.

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sie weder ein direktes Verständnis für den Krieg äußert noch dem NS-System unmittelbar zustimmt, gibt sie an, im Mai 1945 enttäuscht gewesen zu sein: »Ich fand das nur nicht gut, dass das nun so zu Ende gegangen war, wenn schon, aber wie sollte es anders gehen. Wir, wir haben ja lange drauf gewartet, dass es zu Ende gehen sollte, nicht? Denn an die Wunderwaffen haben wir ja auch nicht mehr geglaubt nachher« [21 f.]. Hier klingen Ernüchterung und verständliche Angst vor den Reaktionen der Sieger durch. Offenbar hat sie eine Zeitlang an die nationalsozialistische Durchhalteparole von der »Wunderwaffe« geglaubt, die eine Wende im Krieg herbeiführen würde. Ihre Distanz zum Regime begründet sie anschließend damit, dass einiges durchgesickert sei, was sie nicht habe glauben können. Auf Nachfragen erläutert sie: »Ja, äh, dass zum Beispiel die deutschen Truppen da die Leute erschossen haben meinetwegen im Baltikum und so, und dass, und dass in den KZs so schreckliche Sachen passierten. Das, das hat man, das hab ich ja bis zum Schluss nicht gewusst, was da passiert ist. Aber es kam denn mal was, und dann kam einmal der Bruder meines Vaters, der auch bei der Marine war aus Libau nach Hamburg und hat uns besucht, und der hat uns das dann erzählt, dass er selbst gesehen hätte, wie, äh, was, ich weiß nicht, was für Leute es waren, im, äh, wo ist das Libau ist oben Lettland oder, weiß ich nicht genau. Dass die ihr eigenes Grab schaufeln mussten, erschossen wurden. Der hat es mir, uns erzählt. Das durfte er aber gar nicht im Grunde, aber so in der engsten Familie, da, also da war für mich, brach die Welt zusammen, dass es wirklich so war, dass unsere, dass wir solche schrecklichen Sachen dann gemacht haben, die Deutschen« [22]. Mit dem Namen Libau verbindet sich heute das Wissen um Massenerschießungen lettischer Juden in der zweiten Jahreshälfte 1941 (Ezergailis, 1996). Die deutsche Wehrmacht hatte die Stadt im Juni 1941 besetzt, die jüdische Bevölkerung umgehend isoliert und mit Unterstützung von kollaborierenden örtlichen Polizeiverbänden und in Zusammenarbeit mit Kommandos der Einsatzgruppe A begonnen, sie zu ermorden. Frau Hagenbusch gibt an dieser Stelle zu erkennen, über Massentötungen an Juden gehört zu haben. Sie schließt sich als eine der Wenigen sogar ausdrücklich in den Täterkreis mit ein: »dass wir solche schrecklichen Sachen dann gemacht haben«. Es bleibt unklar, wann sie davon erfahren hat, da ihre Aussage verschiedene Interpretationen zulässt. Zum einen sagt sie, »bis zum Schluss«, das heißt bis Kriegsende, nichts von Massenerschießungen und Verbrechen in Konzentrationslagern gewusst zu haben, zum anderen erzählt sie von ihrem Onkel, der aus einem Ort der Massenverbrechen nach Hamburg zu Besuch kam und ihr und ihrer Familie davon erzählte. Dies könnte bedeuten, dass sie lange vor Kriegsende über Details der Massenerschießungen informiert war. Gleichwohl lässt sich daraus nicht ableiten, was sie im Einzel-

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nen wusste. Deutlich wird aber, dass sie diese Auskünfte stark belasteten, vielleicht, weil es ihr immer schwerer fiel, ihre Informationen nicht zu einem aussagekräftigen Ganzen zusammenzusetzen, das ihr Konsequenzen abverlangt hätte. Für sie »brach die Welt zusammen, dass es wirklich so war«. Wann dies geschah, bleibt offen, aber dieses Wissen verunsicherte sie und erschwerte es ihr, sich weiter mit dem System zu identifizieren, in dem sie lebte. Auch ein weiterer Abschnitt des Interviews gibt Aufschluss über die Bedrängnis, die Frau Hagenbusch heute noch empfindet, wenn sie davon erzählt, was sie damals gesehen hat: »Ich hatte mal eine Bekannte hier, da sprachen wir auch darüber, und dann erzählte die, sie könnte mir nicht glauben, dass ich nicht wusste, was passierte in den KZs und mit den Juden. Ich sag ja, ›Frau Sowieso, ich habe es, ich kannte hier keine Juden in dem Sinne, ich hab aber einmal erlebt, als ich in der Stadt war, dass auf der Moorweide sie zusammengetrieben wurden, das hab ich erlebt, das hab ich gesehen.‹ Hab die Menschen unheimlich bedauert, aber ich hab sie nicht gesehen, wie sie abtransportiert wurden, nur wie sie da standen und, ach Gott. Und da sagte die Dame zu mir: ›Und Sie haben nichts unternommen?‹ Womit sie ja Recht hat, aber da hab ich ihr gesagt, ›Sie kannten die Zeiten nicht.‹ Ich hätte damals nicht gewusst, was ich unternehmen sollte, das geb ich ehrlich zu, weil ich auch nicht glaubte, welchen schweren Weg die gehen mussten« [47]. Frau Hagenbusch erwähnt, wie auch Frau Farmer, einen der Orte, an denen sich die jüdische Bevölkerung Hamburgs versammeln musste, bevor sie deportiert wurde. Die Grünanlage Moorweide mit dem ehemaligen Logenhaus der Freimaurer liegt heute noch zentral und gut einsichtig mitten in der Stadt. Vermutlich haben viele diese Vorgänge beobachtet. Eine von ihnen, die mit einem getauften Juden verheiratete Lehrerin Luise Solmitz, zeichnete einen Tag vor der Deportation von 968 Hamburger Juden nach Minsk auf, was sie und ihre Mitreisenden sah: »In der S-Bahn reckten die Leute die Hälse; vorm Logenhaus wurde offenbar ein neuer Transport zu verschickender Nichtarier zusammengestellt.«10 Luise Solmitz hat, ähnlich wie Erwin Garvens, Ereignisse beobachtet und festgehalten, weil sie und ihre Familie davon persönlich betroffen waren. Beide haben sich sicherlich ähnlich hilflos gefühlt wie Frau Hagenbusch, haben aber andere Konsequenzen daraus gezogen, und sei es nur, das Gesehene kontinuierlich schriftlich festzuhalten. Frau Hagenbusch, die an anderer Stelle auf das SPD-Milieu verwies, dem sich ihre Familie zugehörig gefühlt habe, hat ihre Umgebung und die Vorgänge in der Stadt augenscheinlich aufmerksamer betrachtet als Frau Bad oder Frau Farmer. Ihr ständiges Changieren zwischen Glauben und Wissen zeigt, wie schwer es ihr fällt, ihre heutigen Kenntnisse mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was sie damals glaubte oder 10 FZH Archiv, Tagebuch Luise Solmitz, Eintrag, vom 7. 11. 1941.

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erhoffte.11 Dass die deutschen Juden unfreiwillig, unter brachialen Umständen, außer Landes geschafft wurden, war zeitgenössisch ein weit verbreitetes Wissen (Longerich, 2006; Hesse u. Springer, 2002). Als Frau Hagenbusch die zum Abtransport in den Tod versammelten Juden sah, konnte oder wollte sie das, was sich vor ihren Augen abspielte, wie viele andere auch, nicht als Verbrechen definieren (Welzer, 2007). Im Rückblick formuliert Frau Hagenbusch die Veränderung, die ihre Wahrnehmung durchgemacht hat, mit den Worten: »weil ich auch nicht glaubte, welchen schweren Weg die gehen mussten«. Was sie an der Moorweide beobachtet hatte, daran erinnert sie sich heute mit Mitgefühl und Hilflosigkeit, und sie kann es mit dem ihr heute zur Verfügung stehenden Wissen anders einordnen als damals. Aus der Tatsache, dass viele Aspekte der Judenverfolgung bekannt und sichtbar waren, kann jedoch nicht geschlossen werden, dass oder wie weitgehend die Kenntnis über den Massenmord an den Juden verbreitet war.12 Frau Hagenbusch, die im Gespräch darauf hinweist, dass sie »zu Juden […] überhaupt kein Verhältnis« [22] hatte, ist diejenige, die sich am längsten über das Schicksal der Juden äußert. Besonders fällt dabei auf, dass sie nicht auf Gerüchte eingeht oder die sonst übliche Sprachregelung verwendet, nach der die Juden »weg«gingen oder »weg«kamen, sondern dass sie drei Orte der Judenverfolgung konkret benennt. Dabei verlegt sie den Moment, in dem ihr die Dimension der Verbrechen klar wurde, immer wieder in die Nachkriegszeit: »Nur was man eben nach dem Krieg alles gehört hat, das konnte ich gar nicht fassen, dass Menschen so schlimm zu Menschen sein können« [23]. Aus dem Interview geht aber hervor, dass sie viele Elemente des Verfolgungsgeschehens bereits während des Krieges wahrgenommen hatte. Neben ihrer Beobachtung der Geschehnisse an der Moorweide verfügte sie über Informationen aus dem engsten Familienkreis über die Massentötungen von Juden im Baltikum. Hinzu kommt, dass Frau Hagenbusch ihren Mann an seinem Einsatzort in Lodz oder Minsk besucht hat (Löw, 2006; Rentrop, 2012).13 »Und denn war ich einmal im Krieg mit meinem ersten Mann, der ja dann in Russland war, der war in Minsk, ja in, oder in Lodz? In Lodz, nicht? Weiß ich nicht mehr. Da war ich mal ’n paar Tage hingefahren, weil er dahin verlegt wurde, und dann war im Winter, und dann sah ich immer, wirklich, die armen Juden mit’m Schlitten und mit Kohlen und die hab ich so bedauert. Die wurden ja auch schon alle verfolgt da und hatten schon alle ’n Judenstern dann drauf, nicht? Schreck11 Vgl. dazu auch die von Lore Walb (1998) nachträglich kritisch kommentierten, während der NSZeit von ihr geführten Tagebücher. 12 Karl Heinz Reuband (2002) hat auf die verschiedenen, gleichzeitig existierenden, von Kenntnis und Unkenntnis geprägten Wahrnehmungsrealitäten über den Holocaust hingewiesen. Zahllose Analysen beschäftigten sich mit dieser Frage. Vgl. dazu unter anderem auch Mommsen, 1988; Ullrich, 1991; Bankier, 1995; Longerich, 2006; Bajohr u. Pohl, 2006. 13 Beide Orte waren Ziel von Deportationen Hamburger Juden, in denen Ghettos für die einheimischen und aus vielen Teilen Westeuropas dorthin verschleppten Juden errichtet worden waren (Löw, 2006; Rentrop, 2012).

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lich. Also das sind Erlebnisse, die mir geblieben sind und wo man bestimmt gern hätte geholfen, aber – ist, ist nicht mehr – Deshalb bewunder ich die auch alle sehr, die zum Beispiel Juden versteckt haben und ihnen geholfen haben, das muss ich schon sagen, denn das war wirklich schlimm. Wenn das rausgekommen wär irgendwie, die wären ja sofort an die Wand gestellt worden damals. Aber bei mir war das gar nicht die Angst jemandem zu helfen, sondern ich wüsste gar nicht, wie ich’s hätte machen sollen als junges Mädchen, nicht?« [48]. Frau Hagenbusch erzählt von einem Ort unter militärischer Besatzung, an dem sie die Ghettoisierung und Zwangsarbeit von Juden selbst mit ansah. Aussagen wie diese über den Umgang mit Juden an den Orten der Vernichtung kommen in Interviews äußerst selten vor (Niethammer, 1990, S. 123).14 Sie äußert Mitleid, begründet, warum sie ihnen keine Hilfe zukommen ließ, und erhofft Verständnis dafür. Im Gegensatz zu den besetzten Gebieten waren im Deutschen Reich Hilfeleistungen für Juden zwar nicht verboten und nicht mit der Todesstrafe belegt. Allerdings gab es eine Vielzahl von Verordnungen und Erlassen, mit denen gegen die Unterstützung von Juden vorgegangen wurde (Kosmala, 2002). Die Aufdeckung solcher Taten hatte nicht zwingend tödliche, wohl aber unabsehbare und daher nicht weniger beängstigende Folgen. Frau Hagenbusch stellt es im Interview so dar, als hätte sie den Umgang mit den Juden auch damals schon als Unrecht begriffen. Der Vorwurf von Jüngeren belastet sie als Zeugin derart, dass sie sich doppelt dafür rechtfertigt, warum sie nichts tun konnte: Sie war zu jung und es war zu gefährlich. Mit der dramatischen Formulierung »sofort an die Wand gestellt« begründet sie, warum ihr damals keine Handlungsoptionen außer der von ihr gewählten offenstanden. Frau Hagenbusch, die sich zum Abschluss dieser Erzählung retrospektiv als hilfloses, junges Mädchen darstellt, war zu dieser Zeit zwar tatsächlich noch keine 25 Jahre alt, aber bereits verheiratet und berufstätig. Ihre widersprüchlichen Aussagen darüber, wann sie etwas gewusst habe, sind weniger Fehler ihrer Erinnerung, als dass sie vielmehr darauf verweisen, wie schwer es ihr damals gefallen ist, aus dem Gesehenen und Gehörten Konsequenzen zu ziehen und wie viel Mühe es ihr heute noch bereitet, sich dies einzugestehen. Sie, die gern Mitglied im BDM gewesen wäre, weil sie dazu gehören wollte, es aber ihrem Vater zuliebe nicht tat, ging den Informationen möglicherweise aus Selbstschutz nicht nach. Sie kann sich jedenfalls nicht daran erinnern, mit anderen über das Gesehene und Gehörte gesprochen zu haben. Die sich selbst als unpolitisch bezeichnende Frau Hagenbusch hinterlässt in dem knapp zweistündigen Interview, in dem ihre Äußerungen über die Verbrechen an den Juden zwar nur kurze, aber erstaunlich anschauliche und mit der Erwähnung von Deportation, Massenerschießungen und Zwangsarbeit exemplarische Passagen umfassen, den Eindruck einer nachdenklichen Gesprächspartnerin, die sich mit Mitgefühl an das Schicksal der Juden erinnert. Nicht nur erwähnt sie etliche Ereignisse, die mit 14 Vgl. dazu auch die autobiographischen Erinnerungen von Inge Stolten (1982) an die Hamburger Juden in Minsk (S. 79 ff.).

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der Verfolgung und Vernichtung von Juden verknüpft sind, ein Zeichen dafür, dass es auch bei fehlendem persönlichen Kontakt möglich war, vieles und ganz Unterschiedliches aus verschiedenen Quellen zu erfahren. Sie signalisiert auch, dass sie ihr Wissen und das, was sie damals glaubte oder nicht glauben wollte, noch heute beschäftigt.

»Ja, es war ’ne schlimme Zeit, also wirklich wahr.« – Frau Ahorn, die Pragmatische Frau Ahorn, Jahrgang 1920, sieht für Selbstzweifel oder selbstkritische Rückblicke eigentlich keinen Anlass. Sie hatte bereits mit 17 Jahren geheiratet, wohl auch, um ihrer Familie zu entkommen, in der sie die Hausarbeit für ihre Brüder übernehmen musste.15 Die Bombenangriffe überlebte sie mit ihrem Mann, der auf Fronturlaub war, ihren beiden Söhnen im Kleinkindalter, ihrer Mutter und Schwester, weil sie sich gemeinsam aus einem nur unzureichend Schutz bietenden Hauskeller in einen Luftschutzbunker retten konnten. Anschließend wurde Frau Ahorn für eine Weile aufs Land evakuiert. Da sie berufstätig war und ihre Arbeitskraft benötigt wurde, konnte sie wenig später nach Hamburg zurückkehren. Frau Ahorn erzählt lebendig und detailreich, wie sie auf dem Weg zur eigenen Wohnung zahlreiche Hindernisse überwand und nach provisorischen Unterkünften in einem Vorort unterkam. Sie schildert dabei auch, wie sie, die jeglichen Besitz verloren hatte, die materielle Kompensation nutzte, die das NSRegime den ausgebombten »Volksgenossen« anbot, und beschreibt, wie es ihr gelang, sich mit Hilfe von Bezugsscheinen und persönlichen Beziehungen wieder einzurichten. »’N Tisch und, äh, ’ne alte Couch hab ich von einer Kollegin gekriegt, und äh, einen Küchenschrank hab ich bekommen. Und zwar hatten sie im Freihafen ein großes Lager. Da war das ganze, waren die ganzen Möbel von den Juden, die sie rausgeschickt haben in die KZs, die waren da untergebracht. Und die Möbel, die haben sie ausgeliefert an die Ausgebombten, ’ne?« [7 f.]. Die Nachfrage des Interviewers, ob sie gewusst habe, wem die Möbel zuvor gehört hätten, beantwortet sie mit: »Ja, ja, das wussten wir ja. Aber, wir waren ja froh, dass wir was kriegten, nicht?« [8]. Eine Zwischenfrage des Interviewers überhörend fährt sie fort: »Und vor allen Dingen, das muss ich dabei sagen, also die, das Ausmaß, was die Menschen da erlitten haben, das hat man ja nicht gewusst. Das hat man ja wirklich nicht gewusst. Also ich schon ganz und gar nicht, nicht?« [8]. Eine weitere Nachfrage des Interviewers, ob sie damals darüber gesprochen habe, dass die Möbel zuvor jüdischen Hamburgern gehört hatten, verneint sie wiederholt und erklärt: »Das hat man, hat man in dem Moment erfahren, als man sie ja abholte, nicht?« [8]. Frau Ahorn war nach der Ausbombung eine Weile lang obdachlos und konnte sich später unter komplizierten Umständen wieder in Hamburg ansiedeln und in ihrem 15 Interview mit Frau Ahorn am 18. 2. 2008, Interviewer: Malte Thießen, FZH/WdE 1342.

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Beruf tätig sein. Längere Abschnitte ihrer facettenreichen und ausdrucksstarken Erzählungen widmet sie, die als junge, alleinstehende Mutter zweier kleiner Kinder und spätere Witwe ihr Leben meisterte, ihrem erfolgreichen ökonomischen Aufstieg. Rückblickend resümiert sie ihre Kriegserfahrungen zwar lakonisch mit den Worten: »Ja, es war ’ne schlimme Zeit, also wirklich wahr« [21]. Zugleich bildet dieser Satz den Auftakt für eine ausführliche Schilderung des für sie spannend erlebten Kriegsendes. Das knapp vierstündige Gespräch ist davon geprägt, dass sich Frau Ahorn durchweg gern an ihre Erfahrungen erinnert, weil sie sie als Kette erfolgreich überwundener Hindernisse und als viele kleine, aber befriedigende Fortschritte und Errungenschaften erzählen kann, in die sie auch die Trauer um ihren gefallenen Mann und eine Frühverrentung wegen Arbeitsunfähigkeit sinnvoll integrieren kann. Im Gegensatz zu Frau Bad, die sich mehrmals dafür entschuldigt, sich nur an wenige Details zu erinnern, kann Frau Ahorn viele Szenen anschaulich wiedergeben und erzählt hörbar gern von einem Leben, das ihr trotz des gravierenden Einschnittes der Ausbombung und des materiellen Verlusts gut gelungen ist. Über ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus äußert sie sich nicht explizit und es bleibt unklar, ob oder wie sie sich dazu damals oder heute positioniert. Sie erwähnt lediglich, einen Besuch bei einem benachbarten Ehepaar vermieden zu haben, weil sie sich mit ihr eine Rede von Goebbels im Radio anhören wollten. Ihre Distanz geht aus ihrer Umschreibung der politischen Einstellung des Mannes hervor, den sie mit den Worten beschreibt: »Der war auch so sehr für die Partei« [21]. Die Passage über den Küchenschrank aus jüdischem Besitz verweist darauf, wie normal es war, von der sozialen Ausgrenzung der jüdischen Nachbarn zu profitieren. Die Versorgung mit Möbeln war nur ein Aspekt der materiellen Kompensation für Bombengeschädigte, die die Auswirkungen des Krieges lindern und dafür sorgen sollte, dass eine unzufriedene Bevölkerung dem Regime seine Unterstützung nicht entzog (Süß, 2007, S. 102 f.; Aly, 2005, S. 139 ff.). Dass der geraubte jüdische Besitz den Geschädigten des Bombenkriegs zur Verfügung stand, war öffentlich bekannt. Frau Ahorn hat dieses Angebot, wie viele andere in ihrer Situation auch, nicht abgelehnt. Sie brauchte schließlich dringend Möbel, um sich damit einzurichten. Eine Andeutung, dass ihr bewusst war, dass es unrecht war, geht aus ihrer Erklärung hervor, wonach sie erst von den Besitzverhältnissen erfahren habe, als sie unmittelbar vor den Möbeln gestanden habe. Sie deutet darin eine Situation an, in der sie nicht anders hätte handeln können, als sie es getan hat. Zweifellos hätte es größeres Aufsehen erregt, wenn eine alleinstehende Mutter zweier Kleinkinder die Annahme von Möbeln aus jüdischem Besitz abgelehnt hätte. Durch ihre Erwähnung der »Möbel von den Juden, die sie rausgeschickt haben in die KZs« kommt sie jedoch nicht umhin, sich abzugrenzen und Stellung zu nehmen über »das Ausmaß, was die Menschen da erlitten haben«. Darüber hätte sie nichts gewusst. Ihr damaliges Verhalten rechtfertigt sie nicht. Es scheint für sie heute noch aus den Umständen heraus als normal und nachvollziehbar zu gelten. Von der Ausgrenzung und Ausraubung, ja auch vom Mord an den Juden hat sie ohne damalige oder heutige Gewissensbisse profitiert. Mit den schlimmen Verbrechen möchte sie gleichwohl nichts zu tun haben. Frau Ahorn hinterlässt den Eindruck, mit ihrer

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Vergangenheit ganz im Reinen zu sein. Das Angebot, anlässlich ihrer Bombenkriegserfahrungen davon zu erzählen, wie sie das Erlebte bewältigte und was sie dennoch erreichte, nahm sie gern an. Ihre umstandslose Äußerung, ein Möbelstück aus jüdischem Besitz übernommen zu haben, ist innerhalb der Interviews mit Angehörigen der Erlebnisgeneration die einzige dieser Art.

Fazit Die hier präsentierten Gespräche zeigen, dass man heute kaum mehr über den Krieg sprechen kann, ohne das NS-Regime und den Holocaust zu thematisieren. Fast alle der Befragten im »Feuersturm«-Projekt, die in der Zeit des Nationalsozialismus junge Erwachsene waren, haben im Kontext ihrer Kriegserfahrungen dazu Stellung genommen, meist, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Bestimmte Stichworte reichten aus, um teils ausgiebige Rechtfertigungen und Erklärungen auszulösen. Eine veränderte historische Perspektive, die Orientierung auf die (jüdischen) Opfer (Jureit u. Schneider, 2010) und eine spezifische erinnerungspolitische Dynamik, das »Holocaust-Prisma« (Welzer, 2012, S. 37), durch das heute zurückgeschaut wird, so zeigen die Interviews, haben unterdessen auch in den Aussagen derjenigen, die als junge Erwachsene zur Erlebnisgeneration des »Dritten Reiches« gehörten und ihm viel Zustimmung entgegenbrachten, deutliche Spuren hinterlassen. Ihr Verhalten im Nationalsozialismus bedarf daher heute umso mehr der Legitimation im öffentlichen Gespräch. Auch wenn alle im Interview versuchen, ihrem Leben die damals geltende Normalität zurückzugeben, können sie sich heute einer Stellungnahme zu den Verbrechen im Sinne einer abgrenzenden Rechtfertigung nicht entziehen. Dabei ähneln die Erklärungen und Verteidigungsargumente jener zentralen Rechtfertigungsformel, die bereits unmittelbar nach Kriegsende so oft geäußert wurde, dass sie von außenstehenden Beobachtern als »deutsche Nationalhymne« (Bourke-White, 1979, S. 90) bezeichnet wurde: »Wir haben nichts gewusst.«16 Sichtbar an den hier vorgestellten Aussagen wird aber auch, wie begrenzt die Vorstellung von den Verbrechen des NS-Systems ist: Darunter verstanden wird nach wie vor der Mord an den Juden. Über andere Opfergruppen, Sinti und Roma, unheilbar Kranke und sozial Unerwünschte, die sowjetische Zivilbevölkerung und die sowjetischen Kriegsgefangenen, herrscht kein ähnlich weitgehendes gesellschaftliches Übereinkommen. Im öffentlichen Diskurs sind diese Facetten der Ausgrenzungsgesellschaft bei weitem nicht so präsent. An den hier präsentierten Aussagen lässt sich auch ablesen, dass die fortwährend wiederholte Behauptung, nichts über die Verbrechen des NS-Systems gewusst zu haben, gleichermaßen richtig und falsch ist. Sie ist richtig, weil auch diejenigen, die etwas gewusst haben, sich aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht für Details, Auswirkungen und Dimensionen interessiert haben. Sie ist falsch, weil in den Inter16 Vgl. dazu auch Padover, 1999.

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164

Die Generation der Zeitzeugen

views deutlich wird, was man mitbekommen konnte, selbst wenn man nichts wissen wollte. Unbeteiligt waren die hier zitierten Gesprächspartnerinnen nicht, ins dichotome Täter-/Opferschema passen sie ebenso wenig. Auch die begriffliche Erweiterung um »Bystander« (Hilberg, 1996) erklärt nicht genug, da auch Zuschauer, so die nicht alle Aspekte abdeckende deutsche Übersetzung, mit sehr unterschiedlichem Interesse und Wissen und unterschiedlicher moralischer oder politischer Einstellung Zeugen und damit Beteiligte waren. Wer hingeschaut hat, hat nicht notwendigerweise zugestimmt, wer weggeschaut hat, hat dies nicht unbedingt deshalb getan, weil er ablehnte, was er sah und nicht Zeuge eines Unrechts werden wollte. Ungerührt lässt diese Epoche offenbar alle nicht. Dieses Unwohlsein reflektiert die öffentliche Debatte über den Nationalsozialismus, die seit Jahren zum HolocaustDiskurs geworden ist. Dies ist unterdessen gesellschaftlicher Konsens: Niemand kann heute über den Nationalsozialismus sprechen, ohne den Judenmord zu erwähnen und sich zugleich davon zu distanzieren.

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L. Apel · Keine Unbeteiligten

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166

Die Generation der Zeitzeugen

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Nicole Drost/Ulrich Lamparter

Das Tableau diagnostischer Urteile Eine qualitativ-quantitative Auswertung der Zeitzeugeninterviews

Der in diesem Beitrag geschilderte Auswertungsprozess der Zeitzeugeninterviews im »Hamburger Feuersturm«-Projekt hat das Ziel auch quantitativ zu beschreiben, welche zentralen diagnostischen Aussagen sich in klinischer Sicht und in einer psychoanalytisch begründeten Perspektive zu den zentralen Erlebensfiguren der heutigen Zeitzeugen machen lassen. Im Rahmen des Projekts ergänzt dieser Ansatz den ebenfalls verfolgten Weg einer Analyse paradigmatischer Fälle und der Typenbildung (siehe den Beitrag von Lamparter und den von Möller und Lamparter in diesem Band). Das hier dargestellte »Tableau diagnostischer Urteile« versucht einen anderen Weg, die Komplexität des Forschungsgegenstandes zu meistern. Es ist schon schwierig, bei einer Menge von 68 Interviews über die berichteten Inhalte, Erlebnisqualitäten und Verarbeitungsweisen einen bloßen Überblick zu gewinnen. Will man darüber hinaus bestimmen, auf wie viele der Interviewten welche Befunde ebenfalls zutreffen und in welchem Maße, ist die integrative Kapazität des einzelnen Forschers oder der Forschergruppe rasch überfordert. Bei dem hier dargestellten methodischen Schritt sollen aus erzählten Geschichten Zahlen werden, um eine quantifizierbare Einschätzung der Untersuchungsgruppe zu gewinnen und diese mit anderen Befunden verbinden zu können.

Methode Bei dem ausgewerteten Material handelt sich um 68 transkribierte Interviews der sechzig interviewten Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturm«-Projekts, 29 Männer und 31 Frauen, zum Zeitpunkt des »Feuersturms« zwischen drei und 27 Jahren alt. Sie waren leitfadengestützt von Psychoanalytikern und Psychotherapeuten interviewt worden. Mit neun dieser Zeitzeugen war als sogenannte paradigmatische Fälle (vgl. Lamparter et al., 2010a) entsprechend dem Forschungsdesign des Projekts (vgl. Lamparter et al., 2009) zusätzlich ein zweites Interview von einem Historiker geführt worden. Es handelt sich um Interviewdauern zwischen ein und drei Stunden, die zwischen sechzig und 160 transkribierte Textseiten ergaben. Wie in dem Beitrag von Lamparter und dem von Möller und Lamparter beschrieben, fertigten die Interviewer ergänzend eine sogenannte »Nacherzählend gedeutete Verarbeitungsgeschichte« an: Es handelt sich um einen Bericht, in dem die subjektive Verarbeitung

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Die Generation der Zeitzeugen

des Geschehenen aus der subjektiven Lebensperspektive des Betroffenen komprimiert beschrieben wird. Der Interviewer schildert dabei aus der eingefühlten und rekonstruierten Binnenperspektive des Interviewten das Wechselspiel von biographischer Erfahrung und psychischer Strukturbildung (vgl. Lamparter et al., 2008; Stuhr et al., 2001). Das hier zur Auswertung angewandte Verfahren der »Systematisierten Diagnostischen Eindrucksbildung« wurde von einer Forschergruppe um Deneke (Deneke et al., 1984) konzipiert und von Lamparter weiterentwickelt (Lamparter, 1994). Es handelt sich um ein Einschätzverfahren, welches das Vorgehen eines klinisch-psychologischen Diagnostikers nachzubilden sucht. Der Vorteil dieses Verfahrens besteht darin, dass der innere Zusammenhang der Daten tendenziell erhalten bleibt. Das Verfahren arbeitet mit sogenannten diagnostischen Urteilen: Dabei handelt es sich um kurze Aussagesätze, die aus dem Material heraus gebildet werden – bei unserer Untersuchung aus den Transkripten der Zeitzeugeninterviews – und mit Hilfe derer der Diagnostiker seinen Eindruck zusammenfassend beschreibt. So geben diese diagnostischen Urteile nicht einfach die Sicht oder Schilderung der Inhalte durch den Interviewten wieder, sondern das Geschehen wird durch die Brille des Diagnostikers betrachtet. Er ist dabei aufgefordert, zu sichten und verdichtend zu formulieren, was sich aus dem Erzählten mitteilt, und in einem zweiten Schritt einzuschätzen, wie bedeutsam sich das jeweilige Urteil für Erleben, psychische Strukturbildung und biographische Entwicklung des Interviewten darstellt. Unser Vorgehen gestaltete sich folgendermaßen: Die Interviewtranskripte der neun zuvor als paradigmatisch eingeschätzten Zeitzeugen (siehe den Beitrag von Birgit Möller und Ulrich Lamparter in diesem Band) wurden von Nicole Drost in einem gesonderten Auswertungsgang durchgearbeitet. Dabei wurden 170 diagnostische Urteile gebildet. Nun wurden anhand des so gebildeten Urteilsrasters alle Interviews durchgearbeitet und eingeschätzt. Dabei zeigte sich, dass die aus den paradigmatischen Fällen gebildeten diagnostischen Urteile das Feld der Phänomene gut abdecken konnten. Beim Rating wurde eine sechsstufige Skala verwendet, die den Relevanzgrad jedes einzelnen diagnostischen Urteils für die jeweils bewertete Person abbildet. Methodisch bedingt gehen neben der Lebenserfahrung des Interviewten und seiner heutigen Bewertung des Erlebten in dieses Gesamtbild auch seine aktuellen Darstellungsbedürfnisse und die diagnostischen Voreinstellungen des Diagnostikers mit ein. Für die Einschätzung, vor allem für den Teil, der das Interviewgeschehen thematisiert, wurde auch die »Nacherzählend gedeutete Verarbeitungsgeschichte« herangezogen. Diese gibt zusätzlich zu dem Text des Interviewtranskripts Einblick in das Interviewgeschehen und die persönliche Einschätzung desjenigen, der die interviewte Person selbst im Kontakt erlebt hat.

Thematische Ordnung des Tableaus Die erarbeiteten diagnostischen Urteile lassen sich zu neun Themenbereichen ordnen: (1) Lebenssituation vor dem »Feuersturm« sowie familiäre Herkunft, (2) Erleben und Geschehen während der Bombardierungen und im »Feuersturm«, (3) Erleben und Geschehen nach den Bombardierungen und dem »Feuersturm«, (4) Erleben und

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N. Drost/U. Lamparter · Das Tableau diagnostischer Urteile

Geschehen bis zum Kriegsende beziehungsweise bis zum Ende der NS-Zeit, (5) Verarbeitung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, (6) weitere Verarbeitung bis heute, (7) familiäre Traditionsbildung, (8) psychische und körperliche Folgen, (9) Interviewgeschehen. Die folgenden tabellarischen Übersichten zeigen zu jedem Themenbereich die dazugehörigen diagnostischen Urteile und die Ergebnisse der Einschätzung für die Zeitzeugen unserer Stichprobe anhand der Interviews. Sie geben so einen quantifizierten Überblick über die in den Erzählungen geschilderten Erlebnisse, ihre innere Repräsentation und ihre Bedeutung für das diagnostische Gesamtbild. Die Tabellen 1 bis 9 zeigen die diagnostischen Urteile in der Reihenfolge der Höhe der Mittelwerte. Sie stellen die Einschätzergebnisse über die Gesamtstichprobe (N = 60) dar, wobei das N variiert, weil sich nicht jedes diagnostische Urteil bei jedem Zeitzeugen bewerten ließ. Tabelle 1 stellt die Ergebnisse zu den diagnostischen Urteilen zusammen, die sich mit der Lebenssituation vor den Bombardierungen und dem »Feuersturm« befassen. Sie haben zum Inhalt, wie die Lebenssituation insgesamt empfunden wurde, wie Mutter und Vater erlebt wurden, ob Begeisterung oder Ängste in Bezug auf den Nationalsozialismus vorhanden waren. Den höchsten Mittelwert (3,58) erzielt das diagnostische Urteil »Lebenssituation vor dem ›Feuersturm‹ stabil, geordnet und weitgehend unbelastet«, es hatte also, was die Einschätzung für die Situation vor dem »Feuersturm« betrifft, die höchste Relevanz. Tabelle 1: Lebenssituation vor dem »Feuersturm«/familiäre Herkunft (1–23) Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(1) Lebenssituation vor dem »Feuersturm« stabil, geordnet und weitgehend unbelastet

60

1

5

3,58

1,51

(13) Vater als positives Familien­ oberhaupt erlebt

37

0

5

3,43

1,71

(2) subjektive Beschreibung der Kindheit als schön

51

0

5

2,73

2,12

(12) Vater als liebevoll erlebt

31

0

5

2,65

1,99

(6) Mutter als zugewandt, liebevoll, zärtlich erlebt

33

0

5

2,24

1,97

(7) funktionierende Mutter ohne Warmherzigkeit

35

0

5

2,14

1,80

(19) Familie oder Familienmitglieder waren vom Nationalsozialismus überzeugt

55

0

5

2,00

1,64

(16) Vater war abwesend im Krieg

55

0

5

1,91

1,98

(20) begeistertes BDM-Mädel oder begeisterter HJ-Junge

53

0

5

1,91

1,97

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Die Generation der Zeitzeugen

Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(3) Belastungen in der Kindheit bis 10 Jahre

55

0

5

1,85

2,00

(21) hat an Hitler und den National­ sozialismus geglaubt

44

0

5

1,82

1,93

(8) Mutter als defizitär erlebt

35

0

5

1,80

1,92

(22) fasziniert durch Uniformen und Militär

44

0

5

1,57

1,84

(14) Vater schwach oder blass

36

0

5

1,28

1,61

(11) mütterliche Ersatzfiguren verfügbar

44

0

5

1,07

1,82

(9) Mutter als streng oder kalt erlebt

39

0

5

1,05

1,52

(5) viele Ängste in der Kindheit (»ich war ein ängstliches Kind«)

57

0

5

0,74

1,42

(10) Mutter war schon verstorben, schwer krank oder anderweitig abwesend

56

0

5

0,73

1,60

(15) Vater als ›böse‹ erlebt, überstreng, entwertend oder schlagend

40

0

5

0,73

1,40

(18) väterliche Ersatzfiguren verfügbar

49

0

5

0,73

1,52

(17) ist ohne Vater aufgewachsen

58

0

5

0,66

1,40

(23) frühe Ängste vor dem NS-Geschehen, Hitler und dem Kriegsbeginn

57

0

5

0,60

1,35

(4) frühe Übernahme von Pflichten

55

0

4

0,42

1,10

Die Ergebnisse in Tabelle 1 scheinen insgesamt typische Sozialisationsschicksale in den 1930er Jahren widerzuspiegeln. Der Vater wurde vielfach als positives Familienoberhaupt erlebt, bei manchen war er jedoch schon abwesend im Krieg. Bei der Mutter zeigt sich ein zweigespaltenes Bild: die Mittelwerte für »Mutter als liebevoll, zugewandt, zärtlich erlebt« und »funktionierende Mutter ohne Warmherzigkeit« liegen beinah auf derselben Höhe. Tabelle 2 zeigt die diagnostischen Urteile, die das Erleben während der Bombardierungen und im »Feuersturm« einschätzen. In diesen geht es um Ausmaß und Art der erlebten Ängste, ob ein Gefühl der Ausweglosigkeit vorhanden war oder ob es möglich war, die Ängste abzuwehren. Thema ist auch, wie der Umgang eventuell anwesender Familienmitglieder mit der Gefahrensituation erlebt wurde, ob der Zeitzeuge selbst verletzt wurde, ob seine Angehörigen verletzt wurden oder zu Tode kamen und ob überhaupt Leichen gesehen wurden. Außerdem inwieweit das Zuhause und die eigene Habe verloren gingen. Die höchsten Mittelwerte zeigen sich bei den diagnostischen Urteilen »episodische Angsteinbrüche« und »Familienmitglieder bei der Flucht energisch und umsichtig«, wozu auch der recht hohe Mittelwert für das Urteil »ein Halt gebendes Objekt war verfügbar« passt. Hohe Werte haben auch die Urteile, die sich auf den Verlust des Zuhau-

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N. Drost/U. Lamparter · Das Tableau diagnostischer Urteile

ses und der eigenen Habe beziehen. Die Mittelwerte für »gut funktionierende Angstabwehr« und »überwältigendes Angsterleben« liegen auf ähnlicher Höhe. Tabelle 2: Erleben während der Bombardierungen und im »Feuersturm« (25–41) Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(34) Familienmitglieder bei der Flucht energisch und umsichtig

50

0

5

4,14

1,28

(27) episodische Angsteinbrüche

56

0

5

4,02

1,12

(25) Erleben der Bombardierungen im Keller oder Bunker

60

0

5

3,97

1,46

(39) Zerstörung des Zuhauses

60

0

5

3,87

1,98

(40) Verlust der eigenen Habe beziehungsweise Habe der Familie

60

0

5

3,83

2,00

(33) ein »Halt gebendes Objekt« war verfügbar

60

0

5

3,50

1,62

(29) gut funktionierende Angstabwehr

58

0

5

3,29

1,77

(28) überwältigendes Angsterleben

56

0

5

3,09

1,59

(32) Zusammenhalt in der Familie während der Bombardierungen (zum Beispiel: Familie stand in Kreis und hielt sich an den Händen)

48

0

5

2,71

1,83

(41) hat Leichen/verbrannte, verkohlte Leichen gesehen

56

0

5

2,61

2,22

(26) Erleben von Bombenangriffen in der Wohnung, auf der Straße oder anderswo draußen (zum Beispiel an der Flakstellung)

60

0

5

1,85

1,95

(37) Ungewissheit um die Angehörigen

59

0

5

1,47

1,92

(30) verschobene Angst

57

0

5

0,93

1,45

(31) es gab ein Gefühl der Ausweg­ losigkeit

59

0

5

0,92

1,58

(38) Tote in der Familie

60

0

5

0,75

1,47

(35) eigene körperliche Verletzungen

60

0

3

0,40

0,85

(36) Verletzungen bei Familien­ angehörigen

60

0

5

0,28

0,90

Insgesamt zeigen die Ergebnisse der diagnostischen Urteile in Tabelle 2, dass sich das Vorhandensein von umsichtigen und Halt gebenden Familienmitgliedern für die Zeitzeugen von höchster Relevanz zeigte. Sehr bedeutsam war für viele auch die Zerstörung des Zuhauses und der Verlust der eigenen Habe. Beim Angsterleben kam es zu

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Die Generation der Zeitzeugen

episodischen Angsteinbrüchen und überwältigendem Angsterleben, aber auch eine gut funktionierende Angstabwehr zeigte sich in den Interviews. In Tabelle 3 sind die diagnostischen Urteile zum Erleben und Geschehen kurz nach den Bombardierungen und dem »Feuersturm« zu sehen. Dazu gehören, ob und inwieweit die Erfahrung gemacht wurde, Unterkunft und Hilfe gefunden zu haben, selbst geholfen zu haben, ob Ängste abgewehrt werden konnten, etwa durch Konzentration auf die Notwendigkeiten des Augenblicks, und ob darüber hinaus Deprivationen erlebt wurden, etwa durch Trennungen. Die Ergebnisse zeigen, dass der höchste Mittelwert auf das Urteil »konnte Ängste gut durch die Konzentration auf das Notwendige und Pragmatische abwehren« fällt. Danach kommen die Urteile »Unterbringungsmöglichkeiten waren rasch gefunden« und »hat die Erfahrung gemacht, Hilfe zu erhalten« mit ähnlich hohen Mittelwerten. Tabelle 3: Erleben nach den Bombardierungen und dem »Feuersturm« (42–49) Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(47) konnte Ängste gut durch Konzentration auf das Notwendige und Pragmatische abwehren

60

0

5

3,95

1,49

(42) Unterbringungsmöglichkeiten waren rasch gefunden

51

0

5

3,86

1,20

(43) hat die Erfahrung gemacht, Hilfe zu erhalten

54

0

5

3,24

1,64

(49) hat soziale Deprivationen erlebt, zum Beispiel durch Trennungen, Kinderlandverschickung

60

0

5

1,53

1,79

(48) starke emotionale Reaktion oder Zusammenbruch beim Wiedersehen mit Familienmitgliedern, von denen sie/er getrennt worden war

51

0

5

1,14

1,79

(44) hat die Erfahrung guter Pflege gemacht

44

0

5

0,45

1,25

(45) hat selbst anderen Menschen geholfen beziehungsweise Hilfe angeboten

53

0

5

0,43

1,20

(46) hat versucht selbst Schutz zu geben (zum Beispiel der Mutter oder den Geschwistern)

55

0

5

0,31

0,94

In der Erinnerung der Mehrzahl der von uns interviewten Zeitzeugen ist es offenbar so, dass recht schnell Hilfe und Unterkunft gefunden wurden und dass Ängste deshalb nicht so sehr erlebt wurden, weil sie sich darauf konzentrierten, mit den gegebenen Umständen zurechtzukommen.

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173

N. Drost/U. Lamparter · Das Tableau diagnostischer Urteile

Tabelle 4 zeigt die diagnostischen Urteile zum Erleben und Geschehen bis zum Kriegsende beziehungsweise Ende der NS-Zeit. Dazu gehören, ob nach den Bombardierungen auf Hamburg im Juli 1943 noch weitere Kriegshandlungen erlebt wurden, entweder im zivilen Bereich oder beim Militär, ob eine Identifizierung mit der deutschen Kriegsführung bestand beziehungsweise fortbestand und wie das Ende des Krieges und die Kapitulation Deutschlands erlebt wurde, mit Angst oder Erleichterung. Des Weiteren inwieweit Entbehrungserfahrungen, wie Hunger und Kälte, eine Rolle spielten und, falls der Vater als Soldat im Krieg gewesen war, ob und wie dieser zurückkam. Interessiert hat uns auch, ob die Unterbrechung oder Änderung des Bildungsverlaufs eine Rolle gespielt hat. Die Ergebnisse zeigen, dass das Urteil »Vater kam heil aus dem Krieg zurück« den höchsten Mittelwert erzielte, wobei dieses diagnostische Urteil nur bei 31 Zeitzeugen bewertet werden konnte (weil der Vater bei den anderen 29 nicht bekannt, schon vorher verstorben oder gar nicht als Soldat an der Kriegsfront war). Danach folgen die Urteile »hat Entbehrungserfahrungen gemacht (Hunger, Kälte etc.)«, »hat das Kriegsende (die Kapitulation) als Befreiung, Erlösung empfunden« und »war froh und dankbar überlebt zu haben«. Tabelle 4: Erleben bis zum Kriegsende beziehungsweise Ende der NS-Zeit (50–63) Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(61) Vater kam heil aus dem Krieg zurück

31

0

5

3,13

2,28

(60) hat Entbehrungserfahrungen gemacht (Hunger, Kälte etc.)

54

0

5

2,44

1,44

(58) hat das Kriegsende (die Kapitulation) als Befreiung/Erlösung empfunden

35

0

5

2,20

1,97

(50) Identifizierung mit der deutschen Kriegsführung

44

0

5

2,00

2,05

(59) war froh und dankbar überlebt zu haben

47

0

5

1,55

1,72

(57) hat das Kriegsende (die Kapitulation) mit Angst erlebt

34

0

5

1,38

1,92

(63) Bildungsverlauf abgebrochen

57

0

5

1,37

1,45

(52) hat nach den Bombardierungen noch weitere Kriegserlebnisse gehabt

57

0

5

1,30

1,85

(55) hat Tieffliegerangriff erlebt

60

0

5

1,08

1,69

(53) hat schlimmste Gräueltaten im Krieg gesehen oder erlebt

52

0

5

0,62

1,44

(62) gebrochener Vater kommt aus dem Krieg zurück und ist ganz anders

31

0

5

0,58

1,43

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174

Die Generation der Zeitzeugen

Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(56) ist im Kriegsgeschehen mehrmals knapp am Tod »vorbeigeschrammt« (zum Beispiel an der Front)

52

0

5

0,56

1,38

(54) hat schwere Kriegserlebnisse an der Front erlebt (»Feuersturm« war nur ein Vorspiel)

51

0

5

0,51

1,30

(51) Aussagen wie: Man habe damals nicht denken können; wäre nur Funktion gewesen oder Ähnliches

58

0

5

0,36

1,15

Neben den Entbehrungserfahrungen spielte die Dankbarkeit, überlebt zu haben, eine wichtige Rolle. Das Empfinden des NS- und Kriegsendes als Befreiung und Erlösung war häufiger vertreten als die Angst vor dem, was nun kommen würde. Zum Teil war auch noch eine Identifizierung mit der deutschen Kriegsführung wahrnehmbar, trotz der Erfahrung der Bombardierungen und des »Feuersturms« und zum Teil weiterer Kriegserfahrungen. In Tabelle 5 sind die diagnostischen Urteile zur Verarbeitung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren dargestellt. Unter anderem geht es in den Urteilen darum, ob die Zeitzeugen, die damals im Kindes-, Jugend- oder jungen Erwachsenenalter waren, eine Bezugsperson hatten, der sie sich mit dem, was sie bewegte, anvertrauen konnten, ob überhaupt in der Familie über das Erlebte und Geschehene gesprochen wurde und wie gut sie mit der damaligen Situation zurechtgekommen sind. Des Weiteren wie das eigene Leben mit Partnerschaft, eigener Familie und Beruf weiter ging. Außerdem wollten wir wissen, ob es persistierendes nationalsozialistisches Gedankengut und eine Verwicklung von Familienmitgliedern in den Nationalsozialismus gab. Den höchsten Mittelwert in diesem Themenbereich haben die diagnostischen Urteile »konnte sich hinterher gut anpassen« und »konnte die Gelegenheiten nutzen, die sich nach dem Krieg ergaben«. Gefolgt werden diese von »Gründung einer eigenen Familie«, »Stabilisierung durch die Beziehung zu einem Partner«, »Konzentration auf den Wiederaufbau«, »beruflich sehr engagiert, Kompetenz im Beruflichen war/ist wichtig«. Tabelle 5: Verarbeitung in den Nachkriegsjahren (64–82) Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(66) konnte sich hinterher gut anpassen

60

0

5

4,15

1,25

(74) konnte die Gelegenheiten nutzen, die sich nach dem Krieg ergaben

59

0

5

4,15

1,28

(70) Gründung einer eigenen Familie

60

0

5

3,88

1,86

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175

N. Drost/U. Lamparter · Das Tableau diagnostischer Urteile

Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(78) Stabilisierung durch die Beziehung zu einem Partner

57

0

5

3,72

1,76

(68) Konzentration auf den Wiederaufbau

59

0

5

3,71

1,70

(76) beruflich sehr engagiert, Kompetenz im Beruflichen war/ist wichtig

54

0

5

3,59

1,73

(75) Stabilisierung durch viel Arbeiten

54

0

5

3,37

1,59

(73) hat die 1950er Jahre als schön und besonders wichtig für ihr/sein Leben empfunden

55

0

5

3,35

1,97

(69) Konzentration auf Hausbau (»ein schönes Zuhause schaffen«) und Familie

59

0

5

3,25

2,11

(77) hat eine berufliche Karriere gemacht

55

0

5

3,00

1,56

(79) hat Partner/Partnerin, der/die selbst viel im Krieg erlebt hat

42

0

5

2,81

1,93

(64) es gab eine Bezugspersonen, der man sich anvertrauen konnte

59

0

5

2,24

1,76

(71) hat Kinder bekommen

60

0

5

1,73

1,07

(65) in der Familie wurde über das Geschehene und Erlebte gesprochen

60

0

5

1,47

1,47

(72) hat alles für das berufliche Fortkommen der Kinder gegeben, dafür Verzicht geleistet

43

0

5

1,09

1,49

(67) man sei »zurechtgekommen«, zum Beispiel: Es sei ja allen so gegangen, dadurch sei es leichter gefallen

48

0

5

0,88

1,70

(80) Familie ist nach dem Krieg zerbrochen

60

0

5

0,72

1,45

(81) persistierendes nationalsozialistisches Gedankengut in der Familie

59

0

5

0,63

1,38

(82) Verdacht auf eine Verwicklung beziehungsweise die Verwicklung von Familienmitgliedern in den Nationalsozialismus und eine damit verbundene Kompromittierung

60

0

5

0,43

1,08

Unsere Ergebnisse zeigen, dass für die interviewten Zeitzeugen der Wiederaufbau, die Gründung einer Familie und das Bedürfnis, sich beruflich zu situieren, nach Ende der NS-Zeit und des Krieges im Vordergrund standen. Dagegen spielt im Erleben und der

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176

Die Generation der Zeitzeugen

Erinnerung unserer Interviewten das Sprechen über das Geschehene und Erlebte in der Familie eine deutlich geringere Rolle. Tabelle 6 zeigt die diagnostischen Urteile zur weiteren Verarbeitung bis zur heutigen Zeit. Zu diesem Themenbereich, der die meisten diagnostischen Urteile enthält, gehören die eigene Einschätzung, wie sich das Erlebte auf die eigenen Biographie ausgewirkt hat, ob und wie es verarbeitet werden konnte, ob weitere Belastungen, etwa durch als traumatisch erlebte Erfahrungen, dazu kamen. Des Weiteren finden sich hier Einschätzungen, inwieweit die Interviewten Folgesymptome entwickelt haben, wie sie sich in der Welt stehend erlebten, ob und wie eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dessen Ideologie und Verbrechen stattfand. Die Ergebnisse zeigen, dass die diagnostischen Urteile »im weiteren Leben spielten Harmoniebedürfnis und Einbindung in eine Familie eine große Rolle« und »Grundvertrauen in die Welt blieb erhalten« die höchsten Mittelwerte erzielten. Auch das Urteil »beschäftigt sich mit der NS-Zeit, indem sie/er zum Beispiel Bücher darüber liest oder Filme dazu ansieht« liegt im oberen Bereich der Mittelwerte. Etwas darunter liegen die Urteile »Kindheit sei nach den Kriegserlebnissen zu Ende gewesen« und »Entwicklung psychischer und körperlicher Folgesymptome«. Tabelle 6: Weitere Verarbeitung bis heute (83–122) Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(101) im weiteren Leben spielten Harmoniebedürfnis und Einbindung in die Familie eine große Rolle

60

0

5

3,32

1,69

(103) Grundvertrauen in die Welt blieb erhalten

60

0

5

3,22

1,68

(104) beschäftigt sich mit der NS-Zeit, indem sie/er zum Beispiel Bücher darüber liest oder Filme dazu ansieht

59

0

5

2,42

1,61

(84) Kindheit sei nach den Kriegserlebnissen zu Ende gewesen

49

0

5

2,00

2,09

(95) Entwicklung psychischer und ­körperlicher Folgesymptome

57

0

5

1,95

1,70

(100) versucht positiv zu denken und Dinge zu machen, die Freude machen

56

0

5

1,93

1,88

(102) hat das Gefühl, noch einmal schwierige Zeiten durchstehen zu können

47

0

5

1,91

2,10

(98) hat das Gefühl, großes Glück gehabt zu haben

56

0

5

1,88

1,82

(96) hatte Alpträume

51

0

5

1,65

1,94

(83) hatte trotz der Kriegserfahrung eine schöne Kindheit

46

0

5

1,63

1,76

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177

N. Drost/U. Lamparter · Das Tableau diagnostischer Urteile

Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(92) hatte später immer wieder belastende Lebenserfahrungen (zum Beispiel im Beruf)

59

0

5

1,44

1,79

(107) erwähnt die NS-Verbrechen, die Judenverfolgung und -ermordung, die Konzentrationslager

60

0

5

1,42

1,53

(94) hat nach dem Krieg Diskriminierung als Frau erlebt

27

0

5

1,41

1,89

(111) beteiligt sich selbst an »Erinnerungsarbeit« (etwa in Stadtteilarchiven oder Geschichtswerkstätten)

60

0

5

1,38

1,40

(91) Wiederholung von traumatischer Situation als Reinszenierung (zum Beispiel beim Verlust naher Angehöriger)

60

0

5

1,17

1,88

(105) kritische Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie

59

0

5

1,14

1,56

(114) meint, man habe (wirklich) nichts gewusst von den Verbrechen der Nazis

59

0

5

1,02

1,58

(109) hält das öffentliche Gedenken für wichtig

59

0

5

0,83

1,48

(113) sieht sich selbst als naiven, unpolitischen Menschen

51

0

4

0,78

1,36

(88) Verarbeitung überwiegend idealisierend und die eigene Rolle betonend

60

0

5

0,70

1,27

(117) enttäuscht von den NS-Führungspersönlichkeiten (zum Beispiel »und nachher waren sie alle feige«)

58

0

5

0,66

1,49

(106) benennt die Schuld der Deutschen am Krieg

60

0

5

0,63

1,29

(118) hat Abneigung gegen die Politik entwickelt (zum Beispiel »die lügen das Blaue vom Himmel runter«)

60

0

5

0,62

1,42

(120) sieht die Deutschen vor allem als Opfer

59

0

5

0,61

1,35

(119) moniert bei anderen eine Anspruchshaltung: subtiler Vorwurf gegen alle, denen es besser geht, findet nachfolgende Generation egoistisch oder gierig

60

0

5

0,53

1,20

(121) Ressentiment gegen die Amerikaner, Briten oder anderen Kriegsgegner

59

0

5

0,51

1,27

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178

Die Generation der Zeitzeugen

Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(86) bezeichnet sich als »gebranntes Kind des Krieges« oder in ähnlicher Weise

60

0

5

0,48

1,11

(108) findet heutige rechtsradikale Strömungen beunruhigend

59

0

5

0,47

1,29

(87) Verbundenheit mit »Schicksalsgenossen« der damaligen Zeit bestand weiter

60

0

5

0,43

1,02

(93) hat später schwere Beziehungstraumata erlebt (zum Beispiel sexueller Missbrauch durch den Vater)

58

0

5

0,43

1,26

(85) Aussagen, man sei zu jung gewesen, um einen Überblick zu bekommen, sich eine eigene unabhängige Meinung zu bilden, zu wissen, was richtig und falsch sei, oder Ähnliches

60

0

5

0,42

1,18

(89) Abwehr von negativen Gefühlen durch Erzählen von Anekdoten

60

0

5

0,40

1,17

(112) moniert, dass das Gedenken an die Bombenopfer zu wenig Beachtung findet

58

0

5

0,38

1,27

(116) »tut« sich ein offizielles Gedenken nicht an

56

0

4

0,30

1,01

(90) Wiederholungsbezüge durch massives Überwältigungserleben in der späteren Lebensgeschichte durch Katastrophen (zum Beispiel Sturmflut)

59

0

5

0,29

1,05

(110) fand es hilfreich, Tagebuch zu schreiben

58

0

5

0,28

1,02

(97) hatte später Angst, durch einen Unfall ums Leben zu kommen und »ihre Kinder nicht groß zu bekommen« oder Ähnliches

52

0

5

0,25

0,97

(115) betont mehrfach, dass es auch schöne Seiten gab

60

0

5

0,25

0,91

(99) fühlt sich »auserwählt«, am Leben geblieben zu sein

48

0

5

0,21

0,87

(122) Opferkonkurrenz mit Juden

58

0

5

0,19

0,85

In diesem Themenbereich zeigt sich ein mannigfaltiges Bild, bestehend aus psychischen und körperlichen Folgesymptomen, wie etwa Alpträumen und dem Empfinden, die Kindheit sei nach dem Erlebten zu Ende gewesen. Es gab aber auch das Emp-

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N. Drost/U. Lamparter · Das Tableau diagnostischer Urteile

finden, trotz der Kriegserfahrung eine schöne Kindheit gehabt zu haben, ebenso wie das Gefühl, Glück gehabt zu haben, und den Versuch, positiv zu denken und Dinge zu tun, die Freude machen. Tabelle 7 zeigt die diagnostischen Urteile zum Themenbereich, den wir »familiäre Traditionsbildung« genannt haben. Dazu gehören, ob in der Familie gesprochen wurde und wird, auch mit den nachfolgenden Generationen, ob es eine explizite Traditionsbildung in der Familie gibt, ob Gegenstände von damals eine Rolle spielen, inwieweit die Interviewten die eigenen Kinder als interessiert an ihren Erlebnissen oder als vorwurfsvoll erleben, welche Qualität die Beziehung zu den Kindern und Enkelkindern hat. Außerdem wird in einem Urteil ermittelt, wie vorwurfsvoll die Zeitzeugen gegenüber ihren Kindern oder überhaupt Jüngeren gegenüber sind, und in einem anderen, ob die Vermittlung der Kriegserfahrung an die nächste Generation gelungen ist. Ein weiteres Urteil fragt nach eventuellen negativen Erfahrungen in Form von Entwertungen der Zeitzeugen durch deren Eltern oder Großeltern. In der Tabelle 7 ist zu sehen, dass das diagnostische Urteil »hat eine gute Beziehung zu den Enkelkindern« den höchsten Mittelwert hat, wobei dieses nur bei 33 Interviewten zu bewerten war, entweder weil es bei den anderen 27 keine Enkelkinder gibt oder die Qualität der Beziehung aus dem Erzählten nicht einzuschätzen war. Gefolgt wird dieses Urteil von dem Urteil »hat eine gute Beziehung zu den eigenen Kindern«, welches nur bei 44 Interviews zu bewerten war, aus den schon oben genannten Gründen. Dahinter liegt das diagnostische Urteil »Vermittlung der Kriegserfahrung an die nächste Generation ist nicht gelungen«. Tabelle 7: Familiäre Traditionsbildung (123–143) Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(130) hat eine gute Beziehung zu den Enkelkindern

33

0

5

4,21

1,29

(129) hat eine gute Beziehung zu den eigenen Kindern

41

0

5

3,51

1,40

(143) Vermittlung der Kriegserfahrung an die nächste Generation ist nicht gelungen

59

0

5

2,95

1,81

(128) Familie hat sich nie einen »großen Kopf gemacht« und einfach gelebt

60

0

5

2,45

1,74

(131) beschreibt deutliche Einflüsse der eigenen Kriegserlebnisse auf die Erziehung der eigenen Kinder

46

0

5

1,61

1,58

(123) es gab und/oder gibt Gespräche über das Erlebte in der Familie

60

0

5

1,52

1,36

(139) möchte, dass nachfolgende Generationen Lehren ziehen

60

0

5

1,30

1,50

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180

Die Generation der Zeitzeugen

Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(127) erlebt die Kinder als interessiert an den eigenen Erlebnissen

51

0

5

1,29

1,46

(133) hat zu den eigenen Kindern ein schwieriges Verhältnis

43

0

5

1,26

1,68

(137) Kontaktabbrüche in der Familie

60

0

5

1,08

1,60

(135) Kinder gedeihen nicht

41

0

4

0,83

1,16

(140) Vorwurfshaltung an die nachfolgenden Generationen, dass sie zu wenig wissen, sich zu wenig interessieren, sich zu wenig auseinandersetzen

60

0

5

0,73

1,48

(136) will nicht, dass die eigenen Kinder interviewt werden

37

0

5

0,62

1,30

(132) Beziehung zu den Kindern eng, aber problematisch

41

0

4

0,56

1,12

(124) Gegenstände aus den Trümmern des Wohnhauses spielen in der Familiengeschichte eine Rolle (zum Beispiel in den Trümmern gefundene Teetassen, Kachel aus der Küche etc.)

58

0

5

0,55

1,40

(141) Wut, Neid und Ressentiment gegen Jüngere

60

0

5

0,50

1,31

(138) hat Entwertungen durch die Eltern oder Großeltern erfahren

59

0

5

0,46

1,19

(134) sieht sich vorwurfsvollen Fragen der Kinder ausgesetzt

45

0

5

0,33

1,02

(125) explizite Traditionsbildung in der Familie (aktives Erinnern, öffentliches Gedenken ist wichtig, Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie)

60

0

3

0,25

0,63

(126) »Feuersturm« ist eine familiäre Zentralerzählung

60

0

2

0,22

0,52

(142) Vorwürfe gegenüber der »68er«Generation

58

0

4

0,14

0,74

Die Beziehung zu den Enkeln und Kindern stellt sich überwiegend als gut dar (bei den bewertbaren Interviews). Die Vermittlung der Kriegserfahrung an die nachfolgenden Generationen ist unserer Einschätzung nach jedoch vielfach nicht gelungen. Diese Diskrepanz erklärt sich dadurch, dass die meisten Zeitzeugen kaum oder gar nicht mit ihren Nachkommen über das Erlebte und Geschehene gesprochen haben beziehungsweise sprechen. Ob es daran liegt, dass die Zeitzeugen nicht darüber sprechen wollen oder die Kinder nicht interessiert sind, lässt sich in unseren Interviews nicht

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N. Drost/U. Lamparter · Das Tableau diagnostischer Urteile

klar ausmachen. Bei einigen wenigen Interviewten gab es jedoch auch konfliktreiche Auseinandersetzungen, deren Ursache diese Zeitzeugen in einer vorwurfsvollen Haltung der Kinder begründet sehen. Tabelle 8 zeigt die diagnostischen Urteile, die sich mit psychischen und körperlichen Folgen befassen. Diese Urteile haben zum Inhalt, wie gut der körperliche Allgemeinzustand heute ist, ob es psychosomatische Erkrankungen gibt, ob aus der subjektiven Sicht des Zeitzeugen psychische Probleme bestehen, ob und in welchen Maße bis heute Ängste vorhanden sind, ob es Alpträume gibt und wie sehr das Erlebte den Interviewten noch immer keine Ruhe lässt. Interessiert hat uns auch, wie hoch die Lebenszufriedenheit ist und ob bestimmte politische Einstellungen oder eine pessimistische Weltsicht entwickelt wurden. Den höchsten Mittelwert erzielten die diagnostischen Urteile »körperlich rüstig, im Alter guter Gesundheitszustand« und »hat aus der eigenen Sicht keine psychischen Probleme«, nachfolgend die Urteile »die psychische Abwehr ist bis heute weitgehend stabil«, »hohe Lebenszufriedenheit« und »eiserner Wille«. Tabelle 8: Psychische und körperliche Folgen (144–163) Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(144) körperlich rüstig, im Alter guter Gesundheitszustand

59

0

5

3,73

1,44

(145) hat aus der eigenen Sicht keine psychischen Probleme

59

0

5

3,73

1,89

(146) die psychische Abwehr ist bis heute weitgehend stabil

60

0

5

3,68

1,66

(149) hohe Lebenszufriedenheit

60

0

5

3,47

1,47

(147) eiserner Wille

60

0

5

3,37

1,16

(152) Sicherheitsbedürfnis ist wichtig für die eigene Lebensgestaltung

56

0

5

2,66

1,88

(160) will das Erlebte nicht so nah an sich herankommen lassen, versucht es zu kontrollieren oder zu verdrängen

59

0

5

2,08

1,74

(151) hat großes Harmoniebedürfnis entwickelt

58

0

5

2,02

1,66

(150) hat eine pazifistische Haltung beziehungsweise antimilitaristische Einstellung entwickelt

51

0

5

1,90

2,02

(153) hat ihr/sein ganzes Leben lang große Existenzängste gehabt

59

0

5

1,66

1,76

(154) Angst bei Sirenenalarm, Knallgeräuschen (zum Beispiel an Silvester) oder Flugzeuggeräuschen

49

0

5

1,57

1,94

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182

Die Generation der Zeitzeugen

Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(157) meint, im Alter kommen die Erinnerungen wieder

59

0

5

1,49

1,76

(163) hat pessimistische, resignierte Weltanschauung entwickelt

60

0

5

1,32

1,62

(162) erhebliche psychosomatische Störungen zum Beispiel hoher Blutdruck, Medikamentenabhängigkeit

48

0

5

1,21

1,79

(158) Thema kommt immer wieder hoch

60

0

5

0,92

1,53

(156) hat immer noch Alpträume

49

0

5

0,84

1,61

(155) Angst bei Bränden/Brandgeruch (zum Beispiel beim Grillen)

47

0

5

0,72

1,66

(159) »dreht« sich immer wieder in die Vergangenheit hinein

60

0

5

0,60

1,29

(161) vorzeitiger Ausstieg aus dem Berufsleben

54

0

5

0,59

1,38

(148) hat Psychotherapie gemacht

59

0

5

0,22

0,83

Auffallend ist, dass die von uns interviewten Zeitzeugen sich überwiegend in einem guten körperlichen Allgemeinzustand befinden, nach eigener Darstellung und zum Teil auch nach Beurteilung der Interviewer, und eine hohe Lebenszufriedenheit zeigen. Die Sichtweise und Darstellung der Interviewten, sie hätten keine psychischen Probleme, wurde in unserer Einschätzung zum Teil, jedoch nicht immer geteilt. Unser Eindruck war, dass es für einige der Interviewten wichtig und notwendig war, sich in ihrem Selbstbild als stabil, nicht belastet und aus eigener Kraft die Schwierigkeiten überstehen könnend zu erleben, und dass andere Erlebens- oder Sichtweisen abgewiesen beziehungsweise abgewehrt werden mussten. In Bezug auf diesen Punkt gab es eine große Bandbreite. Tabelle 9 zeigt die diagnostischen Urteile zum Interviewgeschehen. In ihnen geht es darum, wie die Interviewten das Erlebte erzählen, wie sie sich im Interviewgeschehen zeigen sowie welche Reaktionen dadurch beim Interviewer auftreten, ob die Zeitzeugen mit ihrer Art und ihrer Erzählung Sympathie, Antipathie oder/und Anrührung auslösen. In der Tabelle kann man sehen, dass das diagnostische Urteil »kann das Erlebte aus einer kindlichen oder jugendlichen Perspektive schildern« den höchsten Mittelwert erhält. Danach folgen »löst beim Zuhörer beziehungsweise Leser Sympathie und Hochachtung aus« und »rührt mit ihrer/seiner Erzählung an«.

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N. Drost/U. Lamparter · Das Tableau diagnostischer Urteile

Tabelle 9: Interviewgeschehen und Wirkung des Interviewten auf den Interviewer beziehungsweise den Leser des Interviewtranskripts (164–170) Standard­ Mittelabweichung wert

N

Minimum

Maximum

(164) kann das Erlebte aus einer kindlichen oder jugendlichen Perspektive schildern

60

0

5

3,18

1,60

(169) löst beim Zuhörer beziehungsweise Leser Sympathie und Hochachtung aus

60

0

5

2,92

1,51

(170) rührt mit ihrer/seiner Erzählung an

60

0

5

2,42

1,69

(165) hat bei der Erzählung starke Affekte

60

0

5

2,07

1,51

(166) bringt das Grauen und den Schrecken bildhaft rüber

60

0

5

1,88

1,45

(167) »Feuersturmerleben« wird aus der Position der Abwehr geschildert

60

0

5

1,85

1,54

(168) löst beim Zuhörer beziehungsweise Leser eher unangenehme Gefühle aus

60

0

5

1,47

1,46

Die Ergebnisse zeigen, dass die Zeitzeugen eher Sympathie und Hochachtung auslösten und die Zuhörer beziehungsweise Leser der Interviewtranskripte angerührt wurden durch die Erzählungen. Deutlich seltener wurden unangenehme Gefühle ausgelöst.

Betrachtung des Tableaus: Besonders wichtig erscheinende Einzelurteile zu bestimmten Fragen Im Folgenden werden einzelne diagnostische Urteile herausgegriffen, die aus inhaltlichen Gründen besonders wichtig erscheinen, und ihre Verteilung in der Untersuchungsgruppe betrachtet. Das Erleben von Zerstörung, Verletzung und Tod

Bei der überwiegenden Mehrzahl der Zeitzeugen wurde das Zuhause durch die Bombardierungen und das Feuer vollständig zerstört und die persönliche Habe verloren. Die meisten hatten nur noch das, was sie am Leibe trugen oder in einem kleinen Koffer mit sich führten (siehe Abbildung 1). Die Bedeutung von eigenen Verletzungen ist dagegen gering, hier bildet sich ab, dass nur wenige der Interviewten eigene körperliche Verletzungen erlitten hatten. Auch hatten nur wenige Tote in der eigenen Familie zu beklagen. Das hat deshalb bei der von uns interviewten Gruppe bei vielen eine nicht so große Rolle gespielt. Wobei zu

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Die Generation der Zeitzeugen

Abbildung 1: Relevanz der Bombardierungs- und »Feuersturm«-Erfahrung

betonen ist, dass es bei Einzelnen aus der Gruppe jedoch in hohem Maße zutrifft und auch bis heute teilweise stark nachwirkt. Es zeigte sich jedoch, dass ein großer Teil der Interviewten in einem starken bis sehr starken Maße Leichen beziehungsweise verbrannte, verkohlte Leichen gesehen hatte und bei vielen dieses besonders eindrücklich in Erinnerung geblieben ist. Dass dieses meist zuerst gar nicht oder nur sehr zurückhaltend erzählt wurde, zeigt, wie schwer das Gesehene und Erlebte wiegt. Der Schrecken und die Grausamkeit vermittelten sich im Interview an diesen Stellen oft besonders stark. Manche Zeitzeugen meinten, sie hätten darüber noch nie mit jemandem gesprochen. Ob Leichen gesehen wurden und in welcher Art und welchem Umfang hat sich als sehr relevant für das Erleben gezeigt. Erleben in der unmittelbaren Nachkriegszeit

In der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigt sich, wie groß die Anpassungsfähigkeit der Interviewten war und wie wichtig der Wiederaufbau sich für ihr Erleben darstellt. (Abbildung 2). Dazu gehört, dass nach Ende der NS-Zeit und des Krieges in den Familien nicht viel über das Geschehene und Erlebte gesprochen wurde. Viele der Zeitzeugen, die damals Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene waren, hatten keine Bezugsperson, der sie sich mit ihrem Erleben und ihren Gefühlen anvertrauen konnten, und dies ist als prägend für die weitere Verarbeitung des Erlebten einzuschätzen.

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Abbildung 2: Relevanz von Erfahrungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit

Auseinandersetzung mit NS-Ideologie und -verbrechen

Bei den »heiklen« Themen (Abbildung 3) zeigt sich ein Bild, wie es auch aus anderen Auswertungen der Interviews im Projekt zu erwarten gewesen ist: wenig kritische Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie, wenig Thematisierung der Kriegsschuld, die ja zu den erlebten Bombardierungen auf Hamburg führte. Auch die vorweg gehenden Bombardierungen auf englische Städte wurden nur von einigen wenigen erwähnt. Auf den ersten Blick scheint dies auch für das Thema der NS-Verbrechen zu gelten. Jedoch zeigt sich bei genauerem Hinsehen eine subtile Thematisierung der Verbrechen an Juden und anderen Bevölkerungsgruppen und der mit diesen Verbrechen verbundenen Konzentrationslager. 35 Prozent erwähnen das Thema kurz, jedoch so, dass sie es etwa nur in einem Nebensatz unterbringen. Häufig in der Art und Weise, dass es in der Nachbarschaft oder der Schulklasse Juden gegeben habe, man sich aber nichts dabei gedacht habe, als diese nicht mehr da gewesen oder verschwunden seien. Was aus heutiger Sicht mit diesen wohl geschehen sein könnte beziehungsweise vermutlich geschehen ist, wird dann aber selten thematisiert. Das Thema der Verfolgung und Ermordung von Gruppen der Bevölkerung, besonders von Juden, treibt die Interviewten offenbar mehr um als etwa das Thema der Kriegsschuld. Jedoch äußert sich das nicht in offenem Sprechen darüber, sondern gerade darin, dass viele der Zeitzeugen es nur kurz erwähnen, um dann schnell zu einem anderen Thema überzuwechseln. Wenn Konzentrationslager überhaupt thematisiert werden, dann meist indem gesagt oder betont wird, man habe davon nichts gewusst.

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Die Generation der Zeitzeugen

Abbildung 3: Relevanz von Nationalsozialismus, Kriegsschuld und NS-Verbrechen im Interview

Überdauernde Einstellungen

Die folgenden drei Themen in Abbildung 4 zeigten sich als wenig relevant für die Zeitzeugen in unseren Interviews. Nur sehr wenige sehen sich selbst als Opfer beziehungsweise äußerten dieses im Interview. Auch Ressentiments gegen die Alliierten beziehungsweise ehemaligen Kriegsgegner zeigten nur wenige. Äußerungen, dass die NS-Zeit ja auch schöne oder gute Seiten gehabt habe, gab es selten. Wenn es zu Äußerungen in dieser Richtung kam, wurde meist die Verringerung der Arbeitslosigkeit genannt, teilweise auch betont. Eine Interviewte betonte, man habe damals ja noch abends auf die Straße gehen können, ohne Angst haben zu müssen, überfallen zu werden. Einige erwähnten, wie schön die Aktivitäten in der Hitlerjugend für sie gewesen seien. Bei diesen drei diagnostischen Urteilen ist anzunehmen, dass die soziale Erwünschtheit bei den Interviewten eine nicht unerhebliche Rolle spielte. Äußerungen in dieser Richtung gelten als nicht politisch korrekt. Einfluss auf das ermittelte Urteil nahm sicher auch, dass die Zeitzeugen im Rahmen eines Forschungsprojekts mit Mitarbeitern von zwei bekannten Hamburger Institutionen gesprochen haben.

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Abbildung 4: Relevanz von überdauernden Einstellungen im Interview

Familiäre Traditionsbildung

Bei den diagnostischen Urteilen der Abbildung 5 geht es um die familiäre Traditionsbildung. Sehr eindrucksvoll ist, dass in vielen Familien gar nicht oder kaum über das Erlebte und Geschehene gesprochen wird. Ein großer Teil unserer Zeitzeugen, beinahe 70 Prozent, erleben ihre Kinder als gar nicht oder kaum interessiert an ihren Kriegserlebnissen.

Abbildung 5: Relevanz von diagnostischen Urteilen der Weitergabe in der Familie

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Die Generation der Zeitzeugen

Psychische Folgen und das Interviewgeschehen

In den ersten drei diagnostischen Urteilen der Abbildung 6 geht es darum, wie relevant psychische Folgen für das Leben der interviewten Zeitzeugen sind. Die meisten haben ihrer Aussage nach keinerlei Alpträume in der heutigen Zeit bezüglich ihrer Kriegserlebnisse. Allerdings haben insgesamt etwa ein Viertel mehr oder weniger stark immer noch Alpträume. Das Gleiche gilt in etwa für Ängste bei Bränden beziehungsweise für Brandgeruch. Bei Geräuschen, die an die Bombardierungen und den Krieg erinnern können, bei Sirenenalarm, Knallgeräuschen – etwa bei der Silvesterknallerei – oder Flugzeuggeräuschen, zeigte sich jedoch, dass ein erheblicher Teil unserer Zeitzeugen bei Geräuschen dieser Art Angst oder Beunruhigung empfindet und diese Gefühle sich als wichtig für ihr Erleben darstellen. Das letzte diagnostische Urteil in Abbildung 6 gehört zum Themenbereich »Interviewgeschehen«. Es erwies sich als sehr unterschiedlich, wie viele Affekte die Zeitzeugen während ihrer Erzählung zeigten. Manchen kommen noch heute die Tränen, wenn sie über das Erlebte und Erlittene sprechen. Einige haben eine sehr anklagende Haltung, entweder gegenüber Hitler und anderen damals wichtigen Persönlichkeiten oder aber gegenüber den nachfolgenden Generationen, die sich ihrer Ansicht nach zu wenig interessieren oder kümmern würden. Manche der Zeitzeugen erzählen hingegen ruhig und mehr oder weniger reflektiert über das, was sie erlebt haben. Bei einigen ist der Abstand spürbar, den sie gewonnen haben, und die Verarbeitung und Integration des Erlebten in ihr Leben.

Abbildung 6: Relevanz psychischer Folgen und Interviewgeschehen

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Faktorenanalyse des Tableaus und Bildung von Skalen Für die weitere statistische Prüfung der diagnostischen Urteile auf Interdependenzen untereinander und mit anderen, zum Beispiel psychometrischen Befunden, müssen die wechselseitigen Beziehungen der Urteile untereinander geklärt und als strukturierender Ordnungsgesichtspunkt eingeführt werden. Um dies zu erreichen, haben wir auf multivariate Verfahren und Prinzipien der Testkonstruktion zurückgegriffen. Bei diesem Vorgehen werden die Urteile des Tableaus wie Items eines zu konstruierenden psychologischen Tests behandelt. Dieser methodische Weg soll im Folgenden beispielhaft ausgeführt werden. Es wurde für jede der gefundenen inhaltlichen Themenbereiche eine Faktorenanalyse aufgestellt. Dabei wurden nur diagnostische Urteile mit ausreichender Variabilität und »Missing Values« von unter 20 Prozent berücksichtigt. Auf der Grundlage der sich bei der Faktorenanalyse ergebenden Faktoren und inhaltlichen Erwägungen haben wir neue Skalen gebildet, jeweils bestehend aus zwischen vier und acht statistisch zusammengehörenden diagnostischen Urteilen. Insgesamt ergaben sich acht Skalen, die wie folgt benannt wurden (der Benennung folgen die zugehörigen diagnostischen Urteile): 1. »Belastungen und Ängste in der Kindheit«: »Belastungen in der Kindheit bis zum Alter von zehn Jahren«; »frühe Übernahme von Pflichten«; »viele Ängste in der Kindheit«; »Mutter war schon verstorben, schwer krank oder anderweitig abwesend«; »Vater war abwesend im Krieg«; »ist ohne Vater aufgewachsen«; »väterliche Ersatzfiguren waren verfügbar«; »frühe Ängste vor dem NS-Geschehen, Hitler und dem Krieg«, 2. »Angsterleben im Feuersturm«: »episodische Angsteinbrüche«; »überwältigendes Angsterleben«; »gut funktionierende Angstabwehr«, 3. »Sicherheitserleben im ›Feuersturm‹«: »es gab ein Gefühl der Ausweglosigkeit«; »Zusammenhalt in der Familie während der Bombardierungen (zum Beispiel Familie stand im Kreis und hielt sich an den Händen)«; »ein ›Halt gebendes Objekt‹ war verfügbar«; »Familienmitglieder bei der Flucht energisch und umsichtig«; »hat Leichen/verbrannte, verkohlte Leichen gesehen«, 4. »Kriegserfahrungen (an der Front)«: »hat nach den Bombardierungen noch weitere Kriegserlebnisse gehabt«; »hat schlimmste Gräueltaten im Krieg gesehen oder erlebt«; »hat schwere Kriegserlebnisse an der Front erlebt («Feuersturm» war nur ein Vorspiel)«; »ist im Kriegsgeschehen mehrmals knapp am Tod ›vorbeigeschrammt‹ (zum Beispiel an der Front)«; »hat Entbehrungserfahrungen gemacht (Hunger, Kälte etc.)«; »Bildungsverlauf abgebrochen«, 5. »Belastungen in der Nachkriegszeit«: »Kindheit sei nach den Kriegserlebnissen zu Ende gewesen«; »Wiederholung von traumatischer Situation als Reinszenierung«; »hatte später immer wieder belastende Lebenssituationen«; »hat später schwere Beziehungstraumata erlebt, zum Beispiel durch sexuellen Missbrauch«; »Entwicklung psychischer und/oder körperlicher Folgesymptome«; »Grundvertrauen in die Welt blieb erhalten«,

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Die Generation der Zeitzeugen

6. »kritisches Bewusstsein«: »beschäftigt sich mit der NS-Zeit, indem sie/er zum Beispiel Bücher darüber liest oder Filme dazu ansieht«; »kritische Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie«; »erwähnt die NS-Verbrechen, die Judenverfolgung und -ermordung, die Konzentrationslager«; »hält das öffentliche Gedenken für wichtig«; »beteiligt sich selbst an ›Erinnerungsarbeit‹ (etwa in Stadtteilarchiven oder Geschichtswerkstätten)«, 7. »subjektiv keine psychischen Probleme«: »hat aus der eigenen Sicht keine psychischen Probleme«; »die psychische Abwehr ist bis heute weitgehend stabil«; »hat Psychotherapie gemacht«; »hohe Lebenszufriedenheit«; »erhebliche psychosomatische Störungen, zum Beispiel hoher Blutdruck, Medikamentenabhängigkeit«; »hat pessimistische, resignierte Weltanschauung entwickelt«, 8. »Gespräche über das Erlebte«: »es gab und/oder gibt Gespräche über das Erlebte in der Familie«; »erlebt die Kinder als interessiert an den eigenen Erlebnissen«; »Familie hat sich nie einen ›großen Kopf gemacht‹ und einfach gelebt«; »Vermittlung der Kriegserfahrung an die nächste Generation ist nicht gelungen«. Ausgehend von dieser Skalenbildung lassen sich im weiteren Forschungsprozess weitere Berechnungen anstellen: Interkorrelation der Skalen, Korrelation mit den psychometrischen Befunden, Korrelation mit Befunden der psycholinguistischen Auswertung der Interviews und Korrelation mit den anderen Einschätzungsmaßen. Als erstes Beispiel haben wir für diesen Beitrag die gefundenen Skalen mit den Ergebnissen der sogenannten KISTE-F-Berechnungen (von Issendorff, 2011) korreliert (»Kennzahl zur individuellen Schwere traumatisierender Ereignisse im ›Feuersturm‹«). Dieses Maß war entwickelt worden (vgl. den Beitrag von Philipp von Issendorff), um das Ausmaß der möglichen Traumatisierung im »Feuersturm« zu quantifizieren. Dazu waren die »Feuersturm«-Erzählungen in den Transkripten der Interviews mit einem eigens entwickelten Instrument eingeschätzt worden. Es enthielt neben potenziell traumatischen Ereignissen auch Angaben zu potenziell schützenden Umständen (wie zum Beispiel die Gegenwart einer schützenden Person). Die Ergebnisse der Berechnungen zeigt Tabelle 10. Praktisch alle Skalen der diagnostischen Urteile zeigen keine Korrelation mit den potenziell traumatisierenden Ereignissen im »Feuersturm«. Lediglich die Skala »Sicherheitserleben im ›Feuersturm‹« korreliert negativ hoch signifikant mit der Ereignisgruppe »Tod von anderen«. Weitere Korrelationen ergeben sich mit der Ereignisgruppe der »potenziell schützenden Umstande«. Bei der Interpretation ist zu berücksichtigen, dass die diagnostischen Urteile mehr auf die Relevanz für das Gesamtbild abzielen, die KISTE-F dagegen vor allem die konkreten Umstände im »Feuersturm« zu quantifizieren suchte. Die signifikante Korrelation beider Einschätzungen weist darauf hin, dass die Wahrnehmung des grausamen Todes von anderen im »Feuersturm« mit einem Verlust des basalen Sicherheitsgefühls einherging und diese Erfahrung das Merkmal »Sicherheitserleben« innerhalb der Untersuchungsgruppe differenziert.

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Tabelle 10: Korrelation der Subskalen mit Kiste-F-Ergebnissen

Signifikanz: * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01 (Korrelation nach Pearson)

Fazit Es gelingt mit der geschilderten Auswertungsmethode zentrale Befunde der Zeitzeugeninterviews einer quantitativen Auswertung zugänglich zu machen und grundsätzlichere Strukturen der Erlebensverarbeitung innerhalb der Untersuchungsgruppe zu erkennen. Als besonders bedeutsam zeigt sich bei der unmittelbaren Schilderung des »Feuersturm«-Erlebens, wie wichtig das sich vermittelnde Gefühl der Sicherheit durch die Umsicht von Familienangehörigen bei der Flucht und/oder aufgrund des Vorhandenseins eines Halt gebenden Objekts war. Auch der Verlust der Habe und besonders der Anblick von Toten haben einen besonders hohen Stellenwert. Die diagnostischen Urteile zur Nachkriegszeit zeigen die vielfach beschriebene hohe Anpassungsfähigkeit und die Konzentration auf den Wiederaufbau in der Generation der »Kriegskinder« und ebenso, dass in den Familien kaum über das Erlebte gesprochen wurde. In der nachträglichen Verarbeitung erscheint die untergründige und angedeutete Thematisierung der Judenverfolgung bedeutsamer gegenüber den Themen der allgemeinen Erfahrung im Nationalsozialismus und der Kriegsschuldfrage oder dem Vorwurf einer unmenschlichen Kriegsführung der Alliierten im Bombenkrieg. Ein intensives eigenes Opfererleben ist nur bei 9 Prozent der Interviewten diagnostisch relevant. Auch die Befunde zur familiären Tradierung des Erlebten entsprechen der gängigen Vorstellung,

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Die Generation der Zeitzeugen

dass in den Familien der Betroffenen wenig gesprochen wurde und wird und dass die Kinder der Zeitzeugen als eher weniger interessiert an den Kriegserfahrungen erlebt wurden und werden. Unter den bis heute erlebten symptomatischen Folgen, die sich bei den von uns Interviewten als insgesamt vergleichsweise wenig ausgeprägt zeigen, stehen Alpträume und durch spezifische Auslöser hervorgerufene Ängste im Vordergrund. Dabei überwiegen die geräuschassoziierten Ängste diejenigen Ängste, die durch Feuer und Brandgeruch ausgelöst werden. Aus den Einzelbefunden lassen sich durch eine Faktorenanalyse Skalen bilden. Dadurch ergeben sich weitere Auswertungsmöglichkeiten im Gesamtprojekt. In einem ersten Versuch einer Verknüpfung mit einem Datensatz der ­Kiste-F zum unmittelbaren Erleben in den Bombardierungen und im »Feuersturm« wurden diese beispielhaft erprobt.

Literatur Deneke, F.-W., Stuhr, U., Deneke, C., Bühring, B., Franz, A. (unter Mitarbeit von F. Balck) (1984). Die diagnostische Beurteilung von Patienten mit einer Herztodphobie: ein Ansatz, verschiedene psychologische Erklärungskonzepte zu integrieren. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 34 (11), 273–286. Issendorff, P. von (2011). Transgenerationalität von Kriegstraumata: Psychometrische Untersuchungen am Beispiel des Hamburger Feuersturms von 1943. Dissertation. Universität Hamburg, Fachbereich Medizin. Lamparter, U. (1994). Studien zur Psychosomatik des Hörsturzes. Psychoanalytische und psychometrische Untersuchungen zu Aspekten der Entstehung, des Verlaufs und der Prognose. Habilitationsschrift. Universität Hamburg, Fachbereich Medizin. Lamparter, U., Apel, L., Thießen, M., Wierling, D., Holstein, C., Wiegand-Grefe, S. (2009). Zeitzeugen des Hamburger »Feuersturms« und ihre Familien. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur transgenerationalen Weitergabe traumatischer Kriegserfahrungen. In H. Radebold, W. Bohleber, J. Zinnecker (Hrsg.), Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen (S. 215–256). Weinheim: Juventa. Lamparter, U., Holstein, C., Apel, L., Möller, B., Thießen, M., Wierling, D., Wiegand-Grefe, S. (2010b). Die familiäre Weitergabe von Kriegserfahrungen als Gegenstand interdisziplinärer Forschung. ZPPM, Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin. Themenschwerpunkt Transgenerationale Traumatisierung, 8 (1), 9–24. Lamparter, U., Holstein, C., Thießen, M., Wierling, D., Wiegand-Grefe, S., Möller, B. (2010a). 65 Jahre später. Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« (1943) im lebensgeschichtlichen Interview. Forum der Psychoanalyse, 26 (4), 365–387.

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Erhard Mergenthaler/Ulrich Lamparter/Nicole Drost

Langfristige kognitiv-emotionale Regulation traumatischer Erlebnisse am Beispiel des »Hamburger Feuersturms«

Traumatische Erlebnisse gehen nicht spurlos an den Opfern und Helfern vorbei. Sie prägen diese Menschen auf vielfältige Weise. Um mehr über die individuell sehr unterschiedlichen Verarbeitungsprozesse zu erfahren, ist empirische Forschung nötig. Die hier vorgestellte Studie hat das Ziel, dazu einen Beitrag zu leisten. Sie stützt sich auf Ansätze aus der Psychotherapieforschung, die sich mit Fällen befasst, in denen Patienten traumatische Erlebnisse pathologisch verarbeitet hatten und durch Psychotherapie wieder eine normale und intakte Regulation erlangten. So kann davon ausgegangen werden, dass die Anwendung der für die Psychotherapieforschung entwickelten Analyseinstrumente auf Interviews mit den Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« zur Klärung der Frage, inwieweit es ihnen gelungen ist, ihre Erlebnisse zu »verarbeiten«, beiträgt und klinische Einschätzungen belegt. Der theoretische und zugleich methodische Ansatz der »Resonating Minds Theorie« (RMT; Mergenthaler, 2008) erlaubt es, psychische und mentale Veränderungsprozesse auf der Grundlage linguistischer Analysen und der Anwendung computergestützter Textanalyse empirisch zu erforschen. Dieser und vergleichbare Ansätze werden bereits seit mehreren Jahren in der Psychotherapieforschung erfolgreich verwendet. Die RMT hilft dem Forscher, in Textquellen (Interviews, Therapiegesprächen, Berichten, Briefen …) spezifische Verarbeitungsmuster zu identifizieren, sie detailliert zu analysieren und in einen sinnvollen Zusammenhang mit den in den Texten berichteten Ereignissen und Gedankengängen zu setzen. Darüber hinaus ist es möglich, die linguistischen Daten zu Konzepten in Bezug zu setzen, die aus den Neurowissenschaften und der experimentellen und kognitiven Psychologie stammen. Als Textmaterial der in diesem Beitrag vorgestellten Studie dienen die Interviews mit Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms«, die im Rahmen des interdisziplinären Projekts »Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms (1943) und ihre Familien« von Psychoanalytikern und Psychotherapeuten leitfadengestützt durchgeführt wurden. Es schien von großem heuristischen Reiz, die Analysemethoden der RMT auf diese Interviews anzuwenden und die über die RMT gewonnenen Ergebnisse mit klinischen Beurteilungen des Interviewmaterials zu vergleichen und wechselseitig zu validieren.

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Die Generation der Zeitzeugen

Die »Resonating Minds Theorie« In der Psychotherapieforschung steht die Veränderung eines Patienten als Ergebnis therapeutischer Gespräche im Mittelpunkt. Entsprechend ist es Ziel der Prozessforschung zu ergründen, wie die Psyche und Gedanken sowohl des Patienten als auch des Therapeuten interagieren. Zu beobachten, was beide mit Wörtern tun, die einzelnen Schritte der Bedeutungsfindung aufzuzeigen, Zusammenhänge herzustellen: All das muss geleistet werden, um mehr über die Bedingungen bei der Entstehung therapeutischer Veränderung zu verstehen. Therapeuten und Patienten interagieren in einer spezifischen Weise; ein Prozess, den Mergenthaler (2008) »Resonating Mind« nennt. Er unterscheidet zwei Aspekte. Zum einen bezieht er sich auf die interindividuelle Sicht, die sich in Konzepten wie der therapeutischen Allianz oder den Möglichkeiten emotionaler Kommunikation wiederfindet. Auf einer eher biologischen Ebene greift dies zurück auf die Funktion der Spiegelneuronen, die Rizzolatti, Fogassi und Gallese (2001) als neurobiologischen Vorgang identifiziert haben, der dem Verstehen und der Nachahmung sowohl von Handlungen als auch von Erfahrung zugrunde liegt (Saarela et al., 2007). Zum anderen misst Mergenthaler der intraindividuellen Sicht Bedeutung zu, wie sie in Konzepten zum Informationsfluss innerhalb der Gedankenwelt einer Person auftritt (zum Beispiel States of Mind von Horowitz, 1987). Diese betrifft auch, aus dem neurobiologischen Blickwinkel gesehen, Aktivitäten zwischen spezifischen Hirnarealen und zwischen linker und rechter Hirnhälfte, insbesondere unter dem Aspekt der Hirnasymmetrie (Hugdahl u. Davidson, 2002; Benelli et al., 2012). Die Psychotherapieforschung befasst sich mit diesen Aspekten, indem sie untersucht, wie diese zur therapeutischen Veränderung beitragen oder beitragen könnten. Die RMT greift diese Perspektiven auf und bildet sie auf das interaktive System der Interventionen des Therapeuten und der Modalitäten des Patientenverhaltens ab. Die von der RMT genutzten Schlüsselkonzepte sind psychische Regulations- und Veränderungsprozesse, Hirnasymmetrie, Kognition und Emotion. Therapeutische Interventionen werden in dem Sinne verstanden, dass sie unterschiedliche mentale Zustände und Hirnaktivitäten im Patienten auslösen können. Zeitzeuge vs. Patient

Die Zeitzeugen haben sich nicht als Patienten in das Interview begeben und die Interviewer waren nicht im engeren Sinne therapeutisch tätig, wenngleich sie ihre Einfühlung und ihr psychotherapeutisches Wissen und ihre Erfahrung einbringen sollten. Was die klinische Situation mit Patienten oder Klienten von der Interviewsituation mit Zeitzeugen unterscheidet, ist, dass mit dem Interview nicht die Absicht verbunden ist, eine therapeutische Reflexion oder gar eine Veränderung des Zeitzeugen zu bewirken. Dennoch, in dem biographisch orientierten Interviewgeschehen zum Thema »Feuersturm« ist zwangsläufig zu erwarten, dass in den verbalen und nonverbalen Interaktionen alle Facetten der RMT auftreten und das Transkript eines Interviews Zeugnis von Regulationsprozessen gibt, sowohl zwischen den Beteiligten als auch zwischen ihren

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E. Mergenthaler/U. Lamparter/N. Drost · Langfristige kognitiv-emotionale Regulation

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individuellen mentalen Zuständen. Daher können die zu beobachtenden Regulationen daraufhin untersucht werden, inwieweit sie eher denen einer gesunden und intakten Persönlichkeit entsprechen oder eher solche Züge aufweisen, die in Therapiesitzungen mit Patienten gefunden wurden. Diese Sicht schließt nicht aus, dass im Interview mit den Zeitzeugen weitere Regulationsprozesse angestoßen werden und es dadurch auch zu Veränderungen der Gesprächsteilnehmer kommen kann. Regulationsprozesse

Die RMT unterscheidet drei Faktoren: affektives Erleben, kognitive Verarbeitung und Verhalten. Alle drei Faktoren sind gleichzeitig wirksam. Sie werden im Gespräch aktiviert, indem über emotionale Erfahrungen gesprochen wird, diese reflektiert werden und das entsprechende Verhalten durch das Erzählen von Geschichten und Erlebnissen ebenfalls mit einbezogen wird. Regulationsprozesse zwischen diesen drei Faktoren können nun als intakt und gesund oder aber als pathologisch interpretiert werden. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass der Spielraum zur Regulation nicht zu jedem gegebenen Zeitpunkt beliebig groß ist, sondern durch die momentane neuronale Aktivität begrenzt wird. Bei Patienten kann die inter- und intraindividuelle Regulation durch gezielte Interventionen des Therapeuten in einer Therapiestunde beeinflusst werden. Bei Zeitzeugen ist eher zu erwarten, dass durch das Interview habituelle Verarbeitungsmuster evident werden, sich jedoch im Laufe des Interviews nicht verändern. Emotionale Valenz

Aus der experimentellen Psychologie ist, insbesondere durch Arbeiten von Isen (1990), bekannt, dass die emotionale Valenz unmittelbar mit unterschiedlichen kognitiven Leistungen verbunden ist. Positive Emotionen begünstigen insbesondere kreative Prozesse und sind daher geeignet, das Lösen von Problemen zu erleichtern. Frederickson (1998) spricht von »broaden and build« und bezieht sich dabei auf kognitive Vorgänge, bei denen der Blickwinkel auf einen Sachverhalt mit allen seinen Facetten erweitert wird (broaden) und aus dieser Vielfalt neue Zusammenhänge, Sichtweisen und Erkenntnisse gewonnen werden können (build). In der RMT wird dieser Sachverhalt aufgegriffen und stellt als »Broaden-and-Build« einen wesentlichen Baustein dar. Negativen Emotionen hingegen spricht Isen (1990) die Eigenschaft zu, dass sie die kognitive Struktur fokussieren. In seiner RMT nennt Mergenthaler (2008) dies »Deepen-and-Provide«, einen Zustand, bei dem es möglich ist, einen konzentrierten und problemorientierten Zugang zu Erinnerungen an konfliktbeladenes Material zu finden, es mit emotionalen Details zu vertiefen und in der Folge dem Zuhörer (zum Beispiel Patienten) zu vermitteln. Reflexion und Abstraktion

Piaget führte das Konzept der »abstrahierenden Reflexion« ein und bezog sich dabei auf unterschiedliche Ebenen, auf denen Sachverhalte und Erlebnisse berichtet werden können. Je größer das Ausmaß an Reflexion, desto abstrakter ist der Sprachgebrauch. In der

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Die Generation der Zeitzeugen

RMT wird die auf der linguistischen Ebene messbare Ausprägung abstrakter Begriffe als Indiz für das zugrunde liegende Ausmaß an Reflexion gesehen und gemessen.

Das therapeutische Zyklusmodell In Verbindung mit der RMT hat Mergenthaler (1996; 2008) ein Modell entwickelt, das die zentralen Aspekte eines therapeutischen Gesprächs, »Deepen-and-Provide« und »Broaden-and-Build«, aufgreift und als charakteristische Verhältnisse der emotionalen Valenz und der Abstraktion in den Worten der Patienten beschreibt und in eine prototypische Abfolge stellt. Das Modell baut auf einem zyklischen Verlauf in der Interaktion von Emotion und Abstraktion auf und wird deshalb auch Zyklusmodell (Cycles Model, CM) genannt.1 Dabei werden vier sogenannte Emotions-Abstraktions-Muster (EA-Muster) unterschieden: 1. Als »Relaxing« wird ein Muster beschrieben, bei dem beide Aspekte, Emotion und Abstraktion, unterdurchschnittlich ausgeprägt sind. Typische Gesprächsinhalte hierfür sind Sachberichte, die nicht mit positiven oder negativen Gefühlen verbunden sind. In den Interviews mit den Zeitzeugen könnten im Sinne dieses Musters sachliche Hinweise darauf zu finden sein, wie alt sie waren, wo sie zum Zeitpunkt des »Feuersturms« wohnten oder wer bei ihnen war. 2. Als »Reflecting« wird ein Muster beschrieben, bei dem die Emotion unterdurchschnittlich und die Abstraktion überdurchschnittlich stark ausgeprägt sind. Typische Gesprächsinhalte sind Schilderungen von Zusammenhängen ohne Bezug zu emotionalen Inhalten. Bei den Zeitzeugen könnten dies zum Beispiel Schilderungen der Prinzipien der Flugabwehr oder der Vorsorgemaßnahmen zum Brandschutz sein. 3. Als »Experiencing« wird ein Muster beschrieben, bei dem die Emotion überdurchschnittlich stark und die Abstraktion unterdurchschnittlich ausgeprägt sind. Typische Gesprächsinhalte sind Berichte von emotionalen, oft auch traumatischen Erlebnissen, ohne über sie zu reflektieren. Bei den Zeitzeugen könnten dies zum Beispiel Berichte über das Flammeninferno und das Leiden der Menschen sein. 4. Als »Connecting« wird ein Zustand beschrieben, bei dem beide Variablen, Emotion und Abstraktion, überdurchschnittlich ausgeprägt sind. Typische Gesprächsinhalte sind Beschreibungen von emotional erlebten Ereignissen und deren Verarbeitung oder Bewältigung. Bei den Zeitzeugen könnten dies zum Beispiel Berichte sein, wie sie mit einzelnen Aspekten des »Feuersturms« zu kämpfen und darunter zu leiden hatten und wie sie diese Situation bewältigt haben.

1

Das Zyklusmodell findet unter anderem Anwendung bei der Analyse von psychotherapeutischen Gesprächen und Gesprächsfolgen (Behandlungen); für eine Übersicht und mögliche Anwendungen siehe Mergenthaler (2008); Kraemer, Lihl und Mergenthaler (2007); Lepper und Mergenthaler (2008); McCarthy, Mergenthaler, Schneider und Grenyer (2011).

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Das Zyklusmodell lässt folgenden idealtypischen Verlauf (siehe Abbildung 1) eines Zeitzeugeninterviews erwarten: Zunächst tritt das Muster des »Relaxing« auf, zum Beispiel der Hinweis auf Ort und Zeit eines Ereignisses. Dem folgt das »Experiencing«, zunächst mit negativer Valenz, wie etwa mit einem Bericht, wie eine Brandbombe im Haus einschlug und sich Angst ausbreitete. Dies entspricht dem »Deepen-and-Provide«. Gleichzeitig oder unmittelbar danach wechselt das »Experiencing« in einen Zustand, bei dem zusätzlich zu der negativen Emotion positive Aspekte aufscheinen, das »Broaden-and-Build« beginnt. Ein Beispiel wäre, wie es gelang, aus dem brennenden Haus zu entkommen oder Hilfe zu erhalten. In einem sich anschließenden »Connecting« können negative und positive Aspekte verknüpft und zusammen reflektiert werden, zum Beispiel, was alles hätte passieren können und welch Glück es war zu entkommen und welche Gründe dafür entscheidend gewesen sein könnten. Es kann sich ein »Reflecting« anschließen, bei dem, nun ohne bemerkenswerte emotionale Beteiligung, das Erlebte nochmals zusammengefasst wird. Relaxing → Experiencing Deepen-and-Provide Broaden-and-Build → Connecting → Reflecting → Relaxing Abbildung 1: Idealtypische Abfolge der EA-Muster (Emotions-Abstraktions-Muster nach dem Zyklusmodell)

Verfahren Mergenthaler (1996, 2008) hat ein Verfahren zur empirischen Umsetzung des Zyklusmodells entwickelt, mit dem Transkripte von Gesprächen nach den vier EA-Mustern klassifiziert und mit den einzelnen Schritten des idealtypischen Verlaufs des Zyklusmodels verglichen werden können. Es werden dabei Makro- und Mikroanalysen unterschieden. Bei der Makroanalyse wird das ganze Transkript einem EA-Muster zugewiesen. Bei der Mikroanalyse werden die Transkripte in Wortblöcke segmentiert und dann jedem Wortblock (WB) ein EA-Muster zugewiesen. Mit Hilfe der Software CMd (CM deutsch) erfolgt die Segmentierung eines Textes automatisch (zum Beispiel Wortblöcke zu je 200 Wörtern). Danach wird je Segment der Anteil emotional getönter Wörter und abstrakter Begriffe ausgezählt. Das Ergebnis wird am Mittelwert und der Standardabweichung des gesamten Transkriptes standardisiert und graphisch dargestellt. Zusätzlich wird die emotionale Valenz (positiv oder negativ) der Emotionswörter und der narrative Stil (hoch, wenn viele Geschichten und Sachverhalte erzählt werden) über den Verlauf des Interviews erhoben und in die Graphik aufgenommen (siehe auch Mergenthaler, 1996, 2008).

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Untersuchungsgruppe und Fragestellungen

Es werden die Transkripte von sechzig Erstinterviews mit Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« untersucht. Zur Auswahl der Zeitzeugen (Ein- und Ausschlusskriterien) sowie zur Beschreibung der Untersuchungsgruppe siehe Lamparter et al. (2010). Als Vergleichsgruppe werden N = 52 klinische Erstinterviews mit Psychotherapiepatienten herangezogen.2 Mit der Anwendung des Zyklusmodells auf die Interviews mit den Zeitzeugen soll über Querschnittsuntersuchungen gezeigt werden, dass die einzelnen Zeitzeugen sich hinsichtlich der EA-Muster sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene unterscheiden lassen und verschiedenen Typen zugeordnet werden können. Ein Vergleich mit den klinischen Interviews soll darüber hinaus erste Hinweise darauf geben, ob die Zeitzeugen eine klar zu unterscheidende Gruppe darstellen. Auf die Berichte von Zeitzeugen angewandt, wäre allgemein zu erwarten: In Phasen von »Deepen-and-Provide« erinnern sie ihre Erlebnisse nach und nach und können sie auch erzählen. Die damit verbundenen negativen und belastenden Gefühle stehen im Vordergrund. Schließt sich ein »Broaden-and-Build« und »Connecting« an, dann manifestiert sich, wie sie die problematischen Erlebnisse bewältigt haben. Es soll überprüft werden, inwieweit sich diese Erwartungen in den Mikroanalysen der Zeitzeugeninterviews wiederfinden. Mit einer beispielhaften Längsschnittstudie soll schließlich bei einem einzelnen Zeitzeugen der Gesprächsverlauf analysiert werden, um daraus Rückschlüsse auf seinen Verarbeitungsstil zu ziehen.

Ergebnisse Vergleich der Interviews untereinander – Querschnitt Linguistische Variablen

Das gesamte Korpus aller sechzig Interviews mit den Zeitzeugen umfasst annähernd eine Million Wörter (N = 959.713, Zeitzeugen und Interviewer zusammen). Die durchschnittliche Länge eines Interviews liegt bei rund 16.000 Wörtern (MW = 15.995,2, SD = 4.530,5, N = 60).3 Das kürzeste Interview umfasst 6.424, das längste 27.316 Wörter. Die klinischen Interviews sind deutlich kürzer (MW = 5.213,6, SD = 2.276,5, N = 52). Die Länge der Interviews mit den Zeitzeugen ist unabhängig von deren Geschlecht und Alter. Bei den Patienten sind die Interviews der Frauen signifikant länger (Männer: MW = 4.527,9, SD = 2.033,74, N = 26; Frauen: MW = 5.899,2, SD = 2.336,2, N = 26; p < ,05). Die Verteilung der linguistischen Maße in beiden Korpora ist in Tabelle 1 wiedergegeben. Die Zeitzeugen unterscheiden sich hochsignifikant von den Patienten. Während 2 Die Transkripte wurden von der Ulmer Textbank, Universität Ulm (Mergenthaler u. Kächele, 1994) zur Verfügung gestellt. 3 Für statistische Größen werden folgende Abkürzungen verwendet: MW = Mittelwert, SD = Standardabweichung, p = Irrtumswahrscheinlichkeit, N = absolute Anzahl, min = Minimum, max = Maximum.

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sie beim narrativen Stil deutlich höhere Werte aufweisen, liegen sie bei der Emotion auch mit der Unterscheidung positiv/negativ und bei der Abstraktion viel niedriger. Tabelle 1: Mittelwert (MW), Standardabweichung (SD) in Prozent und Signifikanz (p) des Gruppenvergleichs mit Wilcoxon/Kruskal-Wallis’ Test der linguistischen Textmaße Korpus Patienten

Zeitzeugen

N = 52

N = 60

MW

SD

MW

SD

p
0,9). Die Kennzahl ergibt sich als Anzahl der in dieser Weise markierten Ereignisse und kann Werte zwischen null (kein traumatisches Ereignis geschildert) und 28 (potenziell traumatische Ereignisse in allen Kategorien) annehmen. Die KISTE-F ist ein semiquantitatives Instrument, mit dem wir das subjektiv geschilderte, potenziell traumatisierende Erleben der Zeitzeugen erfasst haben, um es mit quantitativen Methoden untersuchen zu können. Als Grundlage für die Bewertung dient hier ausschließlich die Schilderung des »Feuersturm«-Erlebens der Zeitzeugen im Interview, also die erzählende Wiedergabe der subjektiven Erinnerung. Diese Perspektive bildet einen Gegenpol zum Traumafragebogen PDS, der die aktuelle Symptomatik einer posttraumatischen Belastung erfasst, nicht aber das zugrunde liegende, frühere Erleben. HADS-D Die »Hospital Anxiety and Depression Scale« von Zigmond und Snaith und ihre deutschsprachige Version HADS-D (Herrmann, Buss und Snaith, 1995) sind Fragebögen zur Erfassung von Angst und Depressivität. Sie wurden häufig validiert und gehören zu den international am weitesten verbreiteten Selbstbeurteilungs-Screeningverfahren. Die untersuchten Symptome entsprechen im Wesentlichen den Leitlinien zur Diagnose von Angststörungen und Depressionen nach ICD-10. Zur Normierung der deutschen Version dient bei Herrmann et al. (1995) eine Stichprobe unauffälliger Kontrollpersonen. Ihre Größe ist mit N = 278 relativ klein, und ihre Zusammensetzung ist in der Originalveröffentlichung nicht genau dokumentiert. Wir verwandten parallel dazu eine Normierungsstichprobe der deutschen Bevölkerung von Hinz und Schwarz (2001) mit N = 2.037 zufällig ausgewählten Probanden, deren Daten zum Teil nach Altersgruppen aufgeschlüsselt vorliegen. SCL-14

Die »Symptom-Checkliste« SCL-14 von Harfst et al. (2002) dient ebenfalls dem Screening für Depression und Angst, außerdem erfasst sie den Faktor Somatisierung. Sie ist eine auf 14 Fragen gekürzte Fassung der SCL-90-R von Derogatis und basiert auf der ins Deutsche übersetzten Version von Franke (1995). Die SCL-90-R ist weit verbreitet, auch in Untersuchungen mit Überlebenden von Kriegen und Katastrophen und im Zusammenhang mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Jedoch ist sie mit neunzig Fragen recht lang und wird häufig wegen psychometrischer Schwächen kritisiert (Prinz et al., 2008). Mehrere Versuche wurden unternommen, diese Nachteile in Form von Kurzversionen zu beheben. Die SCL-14 beschränkt sich auf die drei Subskalen Depression, phobische Angst und Somatisierung und auf die 14 Fragen mit den höchsten Faktorladungen (Harfst et al., 2002). Die Normierungsdaten einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe in Deutschland (N = 2.096) wurden uns freundlicherweise von den Autoren zur Verfügung gestellt.

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Ein Vergleich verschiedener deutschsprachiger Kurzversionen der SCL-90-R bestätigt die SCL-14 und kommt zu dem Schluss, dass mit ihr »die Symptombelastung in drei unabhängigen klinischen Dimensionen zu erfassen« ist (Prinz et al., 2008, S. 343). Während die HADS-D eine generalisierte Angstsymptomatik berücksichtigt, werden in der Angstskala der SCL-14 nur phobische Symptome erfasst, also Symptome gerichteter Angst, und zwar insbesondere der Agoraphobie.

Ergebnisse Zeitzeugen Alle unsere Zeitzeugen berichten, die Bombardierung Hamburgs Ende Juli 1943 persönlich erlebt zu haben. Alle bis auf einen schildern im Interview ihre Angst während des »Feuersturms«. Die deutliche Mehrheit hat sich vom Tod bedroht gefühlt (90 Prozent). Übereinstimmend mit den Angaben im Fragebogen ergab die Auswertung der Interviews mit der KISTE-F, dass 77 Prozent der Zeitzeugen Haus oder Wohnung verloren haben. Die meisten berichten auch, das eigene Haus brennen gesehen zu haben (53 Prozent). Viele wurden verschüttet oder waren anderweitig eingesperrt (38 Prozent). Sehr viele haben Feuer oder Sturm auch im Freien ohne Schutzraum erlebt (78 Prozent). Die Mehrheit der Zeitzeugen schildert im Interview den Anblick von Toten (62 Prozent) und Verwundeten (42 Prozent). Den Tod von Angehörigen schildern im Interview 15 Prozent unserer Gesprächspartner. Keiner von ihnen berichtet, den Tod von Angehörigen selbst miterlebt zu haben. Weitere Details gehen aus Tabelle 2 hervor. Tabelle 2: Auswahl aus der Auswertung zur individuellen Schwere traumatisierender Ereignisse im »Feuersturm« mit der KISTE-F (absolute und relative Häufigkeiten im Durchschnitt der Auswerter, N = 60) Potenziell traumatisierende Ereignisse laut mündlichen Berichten der Zeitzeugen

N

%

durch zerstörte Straßen gelaufen oder gefahren

59

98

selbst vom Tod bedroht

54

90

Feuer oder Sturm ohne Schutzraum erlebt

47

78

Angst im Keller

48

80

Angst im Bunker

21

35

verschüttet oder eingesperrt

23

38

körperlich verletzt

14

23

Anblick von Toten

37

62

Anblick von Verwundeten

25

42

Tod von Angehörigen

9

15

Tod von Nachbarn oder Nahestehenden

26

43

Haus oder Wohnung verloren

46

77

eigenes Haus brennen gesehen

32

53

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In den Antworten zum Fragebogen PDS-d zeigt sich (Buder, 2010), dass die meisten unserer Zeitzeugen (44 von 75) im »Hamburger Feuersturm« das Erlebnis sehen, das sie noch heute am meisten belastet (59 Prozent). 14 von ihnen geben Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung an und fühlen sich davon in mindestens einem Lebensbereich beeinträchtigt (32 Prozent). Die strengen Kriterien der Diagnose einer PTSD nach DSM-IV erfüllen fünf von ihnen (11 Prozent). Von den 31 Zeitzeugen, die ein anderes Ereignis als stärker belastend empfinden, geben elf eine Belastungssymptomatik mit Beeinträchtigung an (35 Prozent), dreimal war eine PTSD nach den Kriterien des DSM-IV zu diagnostizieren (10 Prozent), wie Abbildung 3 zeigt. Die Unterschiede in der PTSD-Diagnostik zwischen den beiden Gruppen sind statistisch nicht signifikant (Chi-Quadrat-Test: p > 0,05).

Abbildung 3: Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose nach DSM-IV (absolute Häufigkeiten nach Fragebogen PDS-d, N = 75)

Kinder der Zeitzeugen Bei den Kindern unserer Zeitzeugen fanden wir insgesamt deutlich erhöhte Werte für Angst, Depressivität und Somatisierung gegenüber den bevölkerungsrepräsentativen Vergleichsstichproben. Nach dem Fragebogen HADS-D hatten in unserer Stichprobe der Folgegeneration 13 von 75 Probanden auffällig erhöhte Symptome der Angst, das sind 17 Prozent im Gegensatz zu 7 Prozent in der Kontrollgruppe bei Herrmann et al. (1995) und zu 6 Prozent in der Normierungsstichprobe von Hinz und Schwarz (2001), siehe Abbildung 4.

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Abbildung 4: Angst in der Stichprobe Kinder (relative Häufigkeiten nach Fragebogen HADS-D, N = 75, dahinter Vergleichswerte der Kontrollgruppe)

Auffällige Werte für Depressivität fanden wir bei vier von 75 Probanden der Folgegeneration, das sind 5 Prozent gegenüber 1 Prozent in der Vergleichsgruppe von Herrmann et al. (1995). Hier war auch der Anteil grenzwertiger Befunde mit 12 Prozent gegenüber 4 Prozent in der Kontrollgruppe deutlich erhöht (siehe Abbildung 5).

Abbildung 5: Depressivität in der Stichprobe Kinder (relative Häufigkeiten nach Fragebogen HADS-D, N = 75, dahinter Vergleichswerte der Kontrollgruppe)

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Die zweite Generation

Allerdings fällt hier der Vergleich mit der Normierungsstudie von Hinz und Schwarz (2001) wesentlich schwächer aus. In der Gruppe von 40 bis 59 Jahren, deren Altersumfang unserer Stichprobe der Folgegeneration recht nahekommt, hatten 15 Prozent der repräsentativen Stichprobe grenzwertige bis auffällige Befunde bei der Depressivität. Auch im Fragebogen SCL-14 zeigten sich erhöhte Werte für Depressivität in der Folgegeneration. Auf der Skala für phobische Angst unterscheiden sich unsere Probanden dagegen im Durchschnitt nur gering von der Gesamtbevölkerung. Der Wert für Somatisierung ist wiederum klar erhöht, wie in Abbildung 6 dargestellt.

Abbildung 6: Ergebnisse der SCL-14 in der Stichprobe Kinder (Mittelwerte auf den Skalen von 0 bis maximal 4, N = 75, dahinter repräsentative Stichprobe)

Insgesamt sind unsere Ergebnisse zur psychischen Symptomatik der Folgegeneration also je nach Fragebogen und je nach Normierungsstudie unterschiedlich. Auch müssen die Vergleiche kritisch bewertet werden, denn zum Teil weichen die Altersverteilungen der Stichproben voneinander ab, und Depressivität und Somatisierung sind im Allgemeinen altersabhängig. Festzuhalten bleibt aber, dass in allen Fällen die Symptomatik in unserer Stichprobe erhöht ist gegenüber den Vergleichsstichproben, zum Teil sogar deutlich erhöht. Bei aller Vorsicht können wir daraus den Schluss ziehen, dass die Kinder der Zeugen des »Hamburger Feuersturms« in unserer Stichprobe häufiger von den typischen Traumafolgestörungen Angst, Depression und Somatisierung betroffen sind als repräsentative Vergleichsstichproben der deutschen Bevölkerung. Hypothesentests

In der statistischen Analyse kommt die Methode der linearen Regression zur Anwendung. Als Maß für die Stärke des Zusammenhangs dienen die empirischen Korrelationskoeffizienten. Dieses in der empirischen Forschung übliche Vorgehen impliziert theoretisch normal verteilte Variablen und unterstellt lineare Zusammenhänge. Das kann hier letztlich nur mit praktischen Gesichtspunkten begründet werden – auch nichtlineare Zusammenhänge wären denkbar. Bei der Berechnung der p-Werte wurde berücksichtigt, dass alle Tests in dieser Studie sogenannte einseitige Tests sind: Alle hier untersuchten Hypothesen prognostizieren positive Korrelationen; konkret bedeutet das,

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dass höhere Werte der unabhängigen Variablen für Traumatisierung mit höheren Werten der abhängigen Variablen für Angst, Depression und Somatisierung einhergehen. Als Signifikanzniveau dient das allgemein gebräuchliche Maß α = 0,05. Die methodischen Voraussetzungen werden von manchen Kritikern für so unrealistisch gehalten, dass sie quantitative Methoden auf dem Gebiet der menschlichen Psyche sehr skeptisch betrachten oder sogar grundsätzlich ablehnen. Diese Haltung ist nachvollziehbar. Andererseits bedeutet eine Ablehnung quantitativer Forschung auch den Verzicht auf hilfreiche und international anerkannte Verfahren und die Verabschiedung aus einem großen Teil der wissenschaftlichen Diskussion. Will man überhaupt Forschung betreiben, die über die Individualebene hinausgeht, dann kommt man um die Bildung quantitativer Modelle und die damit verbundenen Annahmen nicht herum. Wir überprüften die statistischen Zusammenhänge zwischen der Schwere einer posttraumatischen Belastung bei den Zeitzeugen nach PDS-d (»Symptom Severity Score«) und der Symptomatik von Angst, Depression und Somatisierung ihrer Kinder nach HADS-D und SCL-14. Außerdem überprüften wir die Zusammenhänge zwischen der Schwere potenziell traumatischer Ereignisse nach KISTE-F (also auf Basis der Interviews) und den Werten für Angst, Depression und Somatisierung der Kinder nach HADS-D und SCL-14. Zwischen den beiden Skalen für die Traumatisierung der Eltern und den fünf Einzelskalen bei den Kindern wurden also insgesamt zehn Korrelationen berechnet, außerdem ergeben sich für die Summenskalen noch einmal vier (abhängige) Werte. Tabelle 3 zeigt alle Ergebnisse in der Übersicht. Tabelle 3: Korrelationen zwischen Traumatisierung der Zeitzeugen und psychischer Symptomatik ihrer Kinder: Gesamt- und Einzelskalen (N = 69 beziehungsweise N = 61) Zeitzeugen Kinder

PDS-d »Symptom Severity Score« (N = 69)

KISTE-F Summenwert (N = 61)

HADS-D Gesamtwert

r = +0,202, p < 0,05

r = +0,108

HADS-D Angst

r = +0,234, p < 0,05

r = +0,095

HADS-D Depression

r = +0,129

r = +0,098

SCL-14 Gesamtwert

r = +0,037

r = +0,221, p < 0,05

SCL-14 Depression

r = +0,043

r = +0,078

SCL-14 phobische Angst

r = +0,019

r = +0,379, p < 0,01

SCL-14 Somatisierung

r = +0,020

r = +0,197

Sämtliche Korrelationskoeffizienten sind der Hypothese entsprechend positiv, das heißt, in unserer Stichprobe gehen höhere Traumawerte bei den Zeitzeugen mit erhöhten Werten bei der psychischen Symptomatik ihrer Kinder einher. Negative Korrelationen fanden sich nicht. Das ist bemerkenswert, denn die Wahrscheinlichkeit, dass dies bei zehn unabhängigen Koeffizienten rein zufällig zustande kommt, ist mit p = 0,510 < 0,001 sehr gering.

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Die zweite Generation

Die Korrelationskoeffizienten (r) und damit die Effektstärken liegen im unteren Bereich, die entsprechenden Bestimmtheitsmaße (r²) sind demzufolge gering: Die Varianz der psychischen Belastung der Kinder lässt sich statistisch nur zu einem kleinen Anteil mit der Traumatisierung ihrer Eltern erklären. So ist es auch zu erwarten, denn viele andere biographische und psychische Einflüsse haben die heute erwachsenen Kinder der Zeitzeugen im Laufe ihres Lebens geprägt. Dennoch ist ein Zusammenhang messbar und ist bei zwei der vier Gesamtskalen sowie bei zwei der zehn Einzelskalen trotz des relativ geringen Stichprobenumfangs statistisch signifikant. Dies ist, wie Tabelle 3 zeigt, zum einen der Zusammenhang zwischen posttraumatischer Belastung bei den Zeitzeugen nach PDS-d und psychischer Belastung bei ihren Kindern nach HADS-D. Das zweite signifikante Ergebnis ist die Korrelation zwischen potenzieller Traumatisierung der Zeitzeugen nach KISTE-F und psychischer Belastung ihrer Kinder nach SCL-14. Um neben den rechnerischen Signifikanzkriterien einen Eindruck von Verteilung und potenziellem Zusammenhang zu vermitteln, veranschaulicht Abbildung 7 das letztere Ergebnis in Form einer zweidimensionalen Punktwolke. Jede Markierung entspricht einem Probanden der Folgegeneration. Die Gerade zeigt das Ergebnis der linearen Regression, daneben sind Korrelationskoeffizient und p-Wert angegeben. Die Korrelation ist nicht hoch, und nur schwach ist hier die Tendenz zu erkennen, dass die Kinder mit sehr hoher psychischer Belastung eher bei denjenigen Zeitzeugen zu finden sind, die einer hohen Zahl von potenziell traumatisierenden Ereignissen im »Feuersturm« ausgesetzt waren.

Abbildung 7: Psychische Belastung der Kinder nach SCL-14 und potenzielle Traumatisierung der Zeitzeugen nach KISTE-F (Punktwolke und lineare Regression, N = 61)

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Deutlicher werden die Ergebnisse bei Aufschlüsselung auf die Einzelskalen. Sie fördern zwei weitere signifikante Korrelationen zutage, die die Hypothese der transgenerationalen Weitergabe unterstützen. In beiden Fällen lassen sich nämlich die gefundenen Zusammenhänge zwischen Traumatisierung der Zeitzeugen und psychischer Belastung ihrer Kinder vorrangig auf eine Angstsymptomatik bei den Kindern zurückführen (siehe Tabelle 3). Für den Zusammenhang von Symptomschwere nach PDS-d bei den Zeitzeugen und Angstsymptomatik bei den Kindern nach HADS-D ergibt sich ein Korrelationskoeffizient von r = 0,234 bei einem p-Wert von 0,027. Für den Zusammenhang von potenziell traumatischen Ereignissen im »Feuersturm« nach KISTE-F und phobischer Angst bei den Kindern nach SCL-14 ergibt sich ein Korrelationskoeffizient von 0,379 bei einem p-Wert von 0,001. Das letztgenannte Ergebnis ist überraschend eindeutig. Auch unter Anwendung des strengsten Maßstabs für statistische Signifikanz bei Mehrfachtestung, der BonferroniKorrektur, weist hier der korrigierte p-Wert bei insgesamt 14 getesteten Korrelationen mit p’ = 0,018 noch immer deutlich auf einen signifikanten Zusammenhang zwischen traumatischem Erleben der Eltern im »Feuersturm« und phobischer Angst bei ihren Kindern hin. Die Effektstärke kann als mittelgroß bezeichnet werden. Abbildung 8 veranschaulicht auch dieses Ergebnis in Form einer Punktwolke.

Abbildung 8: Phobische Angst der Kinder nach SCL-14 und potenzielle Traumatisierung der Zeitzeugen nach KISTE-F (Punktwolke und lineare Regression, N = 61)

Hier ist der Zusammenhang am deutlichsten, und die graphische Darstellung ist recht suggestiv: Je höher die potenzielle Traumatisierung der Zeitzeugen im »Feuersturm« nach KISTE-F, desto stärker ist die Symptomatik der phobischen Angst nach SCL-14

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bei ihren Kindern. Es zeigt sich allerdings auch ein deutlicher Bodeneffekt: Bei den meisten Probanden der Folgegeneration ist die Angstsymptomatik so gering, dass sie sich mit den Fragen der SCL-14 nicht differenzieren lässt. Abschließend sei auch auf den Zusammenhang zwischen potenzieller Traumatisierung der Zeitzeugen und den Symptomen der Somatisierung bei ihren Kindern hingewiesen. Diese Korrelation erreicht mit einem Koeffizienten von r = 0,197 zwar keine statistische Signifikanz (p = 0,064, knapp über dem Signifikanzniveau). Im Hinblick auf die naturgemäß kleine Stichprobe ist das Ergebnis dennoch beachtenswert, zumal insgesamt die Kinder unserer Zeitzeugen deutlich höhere Werte für Somatisierung nach SCL-14 aufweisen als die repräsentative Vergleichsstichprobe ähnlichen Durchschnittsalters.

Fazit Zwei zentrale Ergebnisse konnten erarbeitet werden: Erstens fanden wir bei den Kindern der Zeugen des »Hamburger Feuersturms« insgesamt erhöhte Werte für die Symptomatik der typischen Traumafolgestörungen Angst, Depression und Somatisierung. Zweitens korreliert die Angstsymptomatik signifikant mit der Schwere des traumatischen Erlebens und der posttraumatischen Belastung bei ihren Eltern. Diese Ergebnisse müssen allerdings zurückhaltend interpretiert werden. Die Berechnungen beruhen auf einer relativ kleinen Zahl von Probanden, die Stichprobe ist nicht repräsentativ und trotz standardisierter Fragebögen bleiben naturgemäß Unsicherheiten bei den Messungen. Die Zeitzeugen unserer Untersuchungsgruppe haben auf einen Zeitungsartikel geantwortet. Sie sind Leser jener Tageszeitung und bereit, sich mit den damaligen Ereignissen auseinanderzusetzen. Letzteres ist das Gegenteil von Vermeidungsverhalten – eines zentralen diagnostischen Kriteriums der PTSD. Unsere Stichprobe muss also als verzerrt angesehen werden. Möglicherweise standen uns gerade die am stärksten traumatisierten Überlebenden nicht zur Verfügung. Besonders unsicher erscheint die Messung der Schwere von Traumatisierung und posttraumatischer Belastung lange Zeit nach den auslösenden Ereignissen. Hier haben wir es einerseits mit Unzulänglichkeiten des Traumafragebogens zu tun, andererseits konnten wir auf umfangreiche mündliche Befragungen unserer Zeitzeugen zurückgreifen. Mit der KISTE-F hatten wir ein zweites, von der PDS unabhängiges Instrument für den Versuch zur Verfügung, die potenzielle Traumatisierung der Zeitzeugen über sechzig Jahre nach den Ereignissen quantitativ zu erfassen. Für die Messung von Angst, Depression und Somatisierung in der Folgegeneration konnten wir auf standardisierte und international anerkannte Selbstbeurteilungsfragebögen zurückgreifen. Von Nachteil für diese Untersuchung ist die zeitliche Instabilität der typischen Traumafolgestörungen. Unter diesem Aspekt wären subtile Auswirkungen auf die Persönlichkeit und Störungen der Identitätsbildung als Zielgrößen möglicherweise besser geeignet. Sie sind allerdings wesentlich komplexer und schwer quantitativ zu erheben, so dass ihre Erfassung der qualitativen Forschung vorbehalten bleibt.

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Im Ergebnis zeigt unsere Untersuchung dennoch mehrere signifikante Zusammenhänge. Zwischen den beiden Messgrößen zur Traumatisierung der Zeitzeugen (PDS-d und KISTE-F) und den fünf Messgrößen zur psychischen Belastung der Folgegeneration (Angst und Depression nach HADS-D sowie Angst, Depression und Somatisierung nach SCL-14) wurden insgesamt zehn empirische Korrelationskoeffizienten berechnet. Bemerkenswert ist zunächst, dass alle zehn positiv sind, wie es der Hypothese der transgenerationalen Weitergabe entspricht. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies rein zufällig zustande kommt, ist mit p = 0,510 < 0,001 sehr gering. Dies ist das auffälligste Ergebnis der Studie. Zwei der vier Korrelationen zwischen Traumatisierung der Zeitzeugen und Summenwerten für die psychische Belastung ihrer Kinder sind statistisch signifikant: Der Zusammenhang zwischen PDS-d bei den Zeitzeugen und HADS-D (gesamt) bei den Kindern mit einem Korrelationskoeffizienten von r = 0,20 sowie der Zusammenhang zwischen KISTE-F bei den Zeitzeugen und SCL-14 (gesamt) bei den Kindern mit r = 0,22. Dass die Effektstärken hier gering sind, kann angesichts der langen Zeit, die zwischen dem traumatischen Erleben der Zeitzeugen im »Feuersturm« 1943, der Geburt ihrer Kinder 1945 bis 1979 und unseren Befragungen lag, nicht überraschen. Deutlicher werden die Ergebnisse bei Aufschlüsselung auf die Einzelskalen. Die Zusammenhänge lassen sich nämlich vorrangig auf eine Angstsymptomatik bei den Kindern zurückführen. Auch dies ist gut mit der Hypothese einer transgenerationalen Weitergabe der Traumata zu vereinbaren: Fast alle Zeitzeugen unserer Stichprobe haben im »Hamburger Feuersturm« massive Angst, zumeist Todesangst erlebt. Während unsere Zeitzeugen selbst im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt keine erhöhte Angstsymptomatik aufweisen, finden wir diese im Sinne einer transgenerationalen Weitergabe dagegen bei ihren Kindern. Je stärker die Eltern im »Feuersturm« 1943 traumatisiert wurden, desto höher ist – so jedenfalls das Ergebnis der psychometrischen Berechnungen – heute, über sechzig Jahre später, die Angstsymptomatik bei ihren Kindern, insbesondere die der phobischen Angst. Unter den signifikanten statistischen Zusammenhängen ragt schließlich ein Wert besonders heraus: Die empirische Korrelation zwischen potenzieller Traumatisierung der Zeitzeugen nach KISTE-F und der phobischen Angst ihrer Kinder nach SCL-14. Sie weist mit einem Koeffizienten von 0,38 eine Effektstärke auf, die als mittelgroß bezeichnet werden kann. Das Bestimmtheitsmaß erreicht hier den Wert r² = 0,14: Rein statistisch lassen sich also knapp 15 Prozent der Varianz der Angstsymptomatik in der Folgegeneration mit der Varianz der potenziellen Schwere der Traumatisierung unserer Zeitzeugen im »Hamburger Feuersturm« erklären. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass dieser statistisch deutliche Zusammenhang ein Zufallstreffer ist. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Zufall mit p = 0,001 hier sehr klein, und auch unter strenger Berücksichtigung der Mehrfachtestung durch Bonferroni-Korrektur bleibt die Fehlerwahrscheinlichkeit mit p’ = 0,018 unterhalb von 2 Prozent. Ohne Frage müssen diese Befunde im Hinblick auf die methodischen Schwierigkeiten mit Vorsicht interpretiert werden. In der Gesamtschau zeigen die statistischen

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Die zweite Generation

Ergebnisse unserer Untersuchung jedoch konsistent in eine Richtung. Zwischen der Traumatisierung der Zeitzeugen im »Hamburger Feuersturm« und der psychischen Belastung ihrer nach dem Krieg geborenen Kinder – insbesondere der Angstsymptomatik – ist ein Zusammenhang statistisch messbar und inhaltlich plausibel. Bei aller Vorsicht können diese Befunde als ein psychometrischer Hinweis auf transgenerationale Folgen der Ereignisse im »Hamburger Feuersturm« gesehen werden.

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P. von Issendorff · Transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumata

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Ulrich Lamparter/Christa Holstein

Was ist gefolgt? Erste Ergebnisse zur Transmission der Erfahrung des »Hamburger Feuersturms« (1943) zwischen der ersten und der zweiten Generation

Für die Untersuchungen der Transmissionsprozesse zwischen den Generationen konnte bei der ursprünglichen Planung des Projekts noch keine methodische Prozedur entwickelt werden. Wir wussten nicht, wie ergiebig das Interviewmaterial sein würde und welche Auswertungsmöglichkeiten sich letztlich ergeben würden. Abgesehen von der Planung von Familieninterviews und der Anlage der psychometrischen Untersuchungen war so die genauere Methode zur Erkundung der »Transgenerationalität« offen geblieben.

Fragestellung Es stellte sich also die Aufgabe, anhand des transkribierten Interviewmaterials methodische Schritte zur Ermittlung der Modalitäten der Weitergabe der »Feuersturm«-Erfahrung zu entwickeln und mit Hilfe dieser methodischen Schritte die Frage der Transmission der »Feuersturm«-Erfahrung detailliert zu untersuchen.

Erste Untersuchungen Einen ersten Einstieg bildeten Auswertungen von Dorothea Mester (2010) und Mona Peter (2011). Sie führten an ausgewählten Familien erste textanalytische Untersuchungen mit Hilfe der Kernsatzmethode von Leithäuser und Volmerg (1988) durch und fanden dabei gut nachvollziehbare Hinweise auf subtile Folgen und Auswirkungen durch die Generationen. Die Wahl der untersuchten Familien war dabei beliebig und folgte dem Eindruck der Autoren, wo das Material reichhaltig schien und deshalb auch ein Ertrag zu erwarten war (Goldsucherstrategie).

Systematische Auswertung Untersuchung von paradigmatischen Fällen

Es war aufgrund der gesamten Architektur des Projekts naheliegend, für eine systematische Auswertung von den insgesamt im Projekt benannten paradigmatischen Fällen auszugehen (neun Zeitzeugen, sieben Kinder). Von diesen Fällen waren zwei Zeit-

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U. Lamparter/C. Holstein · Was ist gefolgt?

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zeugen mit einem Interview ihrer Kinder nicht einverstanden gewesen, so dass hier kein Interview mit den Kindern vorlag. Diese beiden Fälle wurden aus der weiteren Analyse herausgenommen. Zweimal kam es vor, dass sowohl der Zeitzeuge als auch das Kind als paradigmatischer Fall seiner generationalen Gruppe bestimmt worden waren. Im paradigmatischen Fall eines Kindes waren beide Eltern vom »Feuersturm« betroffen und mit beiden Eltern lagen Interviews vor. Bei zwei Zeitzeugen konnten jeweils zwei Geschwister interviewt werden. Ansonsten lag immer nur ein Interview vor, auch wenn es noch andere Geschwister gab. Insgesamt ergab sich so eine Analysegruppe von zwölf Zeitzeugen mit insgesamt 14 Kindern. Kategoriales Häufigkeitstableau

Zunächst wurde ein kategoriales Häufigkeitstableau erstellt, das sowohl die Zeitzeugen als auch ihre Kinder umfasste. Wir gingen dabei von den bei der Auswertung der Kindergeneration verwendeten Kategorien (vgl. den Beitrag von Holstein und Lamparter) aus und haben für einen ersten Auswertungsschritt die Kategorien des »Konkreten Wissens« (W) und des »Emotionalen Wissens« (E) verwendet, die dichotom (vorhanden/nicht vorhanden) skaliert wurden. Bei der Zuordnung zeigte sich, dass zwar alle als paradigmatisch ausgewählten Zeitzeugen aus naheliegenden Gründen der Kategorie W1 (W1 = »Konkretes Wissen um die Geschehnisse im ›Feuersturm‹« vorhanden) zugeordnet wurden, doch bei der Zuordnung zu der Kategorie »Emotionales Wissen« schätzten wir nur bei fünf der zwölf Zeitzeugen ein wirklich gegenwärtig verfügbares emotionales Wissen (E1) ein, die anderen sieben Zeitzeugen wurden der Kategorie (E2) zugeordnet; bei ihnen überwogen offenbar Abwehraspekte. Bei den 14 Kindern gingen wir von sechs Kindern mit konkretem Wissen um den »Feuersturm« aus (W1) und bei neun Kindern von emotionalem Wissen (E1). In den Kategorien F = Folgen, B = Beziehung und K = Kommunikation haben wir jeweils vier Beurteilungsstufen verwendet. Dabei repräsentierten auf der Einschätzungsskala die Ziffer 1 keine oder geringe Folgen bei gelungener Verarbeitung (F1), gute familiäre Beziehungen (B1), gute Kommunikationsbeziehungen (K1); die Ziffer 4 stand am anderen Ende der Skala in den entsprechenden Kategorien für schwere Folgen (F4) in einer eher nicht gelungenen Verarbeitung (F4), schlechte Familienbeziehungen (B4) und schlechte Kommunikationsstrukturen (K4). Die Tabelle im Anhang 4 der Materialien: »Kategoriale Einschätzungen zur Transgenerationalität« beschreibt die insgesamt getroffenen Zuordnungen bei Zeitzeugen und Kindern. Musteranalyse im kategorialen Tableau Besonders interessant erschien unter dem Aspekt der Transgenerationalität die Kategorie »Emotionales Wissen« und die hier zu findenden Muster zwischen den Zeitzeugen (ZZ) und ihren jeweiligen Kindern (KZZ). Wir unterschieden vier verschiedene Muster und ermittelten dabei die in Tabelle 1 dargestellten Häufigkeiten.

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Die zweite Generation

Tabelle 1: Musteranalyse »Emotionales Wissen« im kategorialen Tableau (18 Eltern-Kind-Beziehungen in den paradigmatischen Fällen der Zeitzeugen [ZZ] und der Kinder der Zeit­zeugen [KZZ]). Kategorie

Häufigkeit

»Emotionaler Austausch«

(ZZ E1, KZZ E1)

4-mal

»Aktive Verweigerung« der zweiten Generation

(ZZ E1, KZZ E2)

3-mal

»Doppelsperrung«

(ZZ E2, KZZ E2)

2-mal

»Aktive Einfühlung« der zweiten Generation

(ZZ E2, KZZ E1)

6-mal

Von besonderem Interesse erschien uns die Subgruppe der »Aktiven Einfühler«. Die Übersicht der Tabelle 2 zeigt, wie sie sich in den anderen Kategorien verhielt und welche Muster sich dabei ergaben. Tabelle 2: Kategoriale Einschätzung von Folgen (F), familiärer Beziehung (B) und Kommunikationsbeziehungen (K) bei der Subgruppe des Musters der »Aktiven Einfühler« der zweiten Generation (N = 5)1 (ZZ = Zeitzeuge, KZZ = Kind eines Zeitzeugen) ZZ 1: F3, B3, K2

KZZ 1: F4, B3, K2

ZZ 2: F2, B1, K2

KZZ 2: F2, B1, K1

ZZ 3: F3, B1, K2

KZZ 3: F3, B1, K2

ZZ 4: F3, B1, K2

KZZ 4: F3. B1, K2

ZZ 5: F3, B2, K2

KZZ 5: F3, B2, K2

Es zeigten sich in dieser Subgruppe ein relativ hohes Folgenniveau in der zweiten Generation, relativ gute familiäre Beziehungen und gute, aber letztlich keine sehr guten kommunikativen Beziehungen. Möglicherweise musste »etwas überwunden« werden. Das relativ hohe Folgenniveau in der zweiten Generation fand sich allerdings nicht nur in dieser Subgruppe. Auch bei der Einschätzung der anderen Kinder fand sich ein relativ hohes Folgenniveau. Insgesamt übertraf es sogar das Niveau in der »Erlebensgeneration«. Von den 14 Kindern wurden elf der Kategorie F3 oder F4 zugeordnet und nur drei der Kategorie F1 und F2. Dieser erste Befund stimulierte uns, hier weiter nachzuforschen und nach Differenzierungen zu suchen. Zunächst haben wir uns noch einmal dafür interessiert, was eigentlich als Folgen in den Interviews der Kinder beschrieben wird.

1

Der 6. Fall wurde als Sonderfall aus dieser Übersicht herausgenommen, da beide Eltern im »Feuersturm« gewesen waren und er in der anderen Elternbeziehung der Gruppe »Emotionaler Austausch« zugeordnet war. Er erfuhr insgesamt folgende Einschätzung: ZZ 6: F2, B3, K4; KZZ 6: F4, B4, K4; ZZ 7: F4, B3, K3; KZZ 6: F4, B4, K4.

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Erstellung eines Textkorpus »Folgen« bei den Kindern

In einer neuerlichen Durchsicht der Interviews der paradigmatischen Fälle der Kinder zu den angesprochenen Folgen wurden von Christa Holstein Textelemente als Kurzzitate herausgesucht, in denen die Folgen des »Feuersturms« und der Kriegserfahrungen der Eltern im Erleben der Kinder thematisiert wurden. Es ergab sich so ein noch etwas klareres und anschaulicheres Bild als bei der reinen kategorialen Auswertung. Um hier einen inhaltlichen Überblick über die Phänomene zu gewinnen, haben wir – orientiert an einem Vorgehen von Kohut (2012) – die so ermittelten Zitate aus den Interviews untereinander geschrieben, ohne dass im Einzelnen kenntlich gemacht wurde, welchem Interview die Zitate entnommen worden waren (siehe Materialien, Anhang 5). Die Zitate wurden lediglich nach dem Lebensalter der zitierten Person geordnet. Es entstand ein dreiseitiger Text mit Zitaten, der einer interpretativen Auswertung zugänglich ist. Diese »Folgensätze« repräsentieren die Antworten der paradigmatischen Kinderfälle auf die Frage nach den lebenslangen Folgen insgesamt und machen sie anschaulich. Sie können nun einer psychoanalytischen Betrachtung unterzogen werden, indem man die einzelnen Aussagen als »Wörter eines Satzes« versteht, wie dies etwa in einer gruppenanalytischen Sitzung der Fall ist (vgl. Foulkes, 1978). Die meisten Zitate lassen wenig Zweifel daran, dass die Zeit des Nationalsozialismus und besonders die Erlebnisse und Erzählungen der Eltern tief in das eigene Erleben eingedrungen sind. Vereinzelte Gegenstimmen formulieren allerdings auch harte Gegenpositionen (»Das kann ich mir nicht vorstellen«), deren Abwehrcharakter im Sinne einer Verneinung deutlich wird. Äußerungen im Sinne einer Bagatellisierung oder auch einer Verschiebung finden sich überhaupt nicht. Der in den Zitaten zentral aufscheinende Begriff ist die Angst, die in verschiedenen Erscheinungsformen geschildert wird: Verlustängste, mangelnde Geborgenheit, Angstträume, Panik, gefolgt von Schmerz. Viele der geschilderten Ängste beziehen sich auf Feuer und Brandgeruch und die Verlegung von Fluchtmöglichkeiten. Es wird gespürt, dass viel »ins Unterbewusste verlagert« ist. Ebenso werden Limitierungen und Prägungen der Eltern geschildert, die zum Beispiel zu aggressiven (Jähzorn, Schlagen), egozentrischen (Alleinlassen, eigene Lebensziele verfolgen) oder einengend-sicherheitsbewussten Erziehungsstilen geführt haben. Die Angst entsteht aus der Identifikation. Nicht formuliert, abgewehrt beziehungsweise verdrängt ist die Trauer um die Verluste des Krieges, etwa die Häuser des zerstörten Hamburgs oder die vielen Menschen, die zu Tode kamen. Einzelne Ereignisse aus den Schilderungen der Eltern, zum Beispiel der Behinderte, der im Keller zurückgelassen wurde, während alle anderen ins Freie gelangen konnten, rühren auch heute noch zu Tränen. Das gesamte Ausmaß des Schreckens des massenhaften Todesschicksals wird jedoch in den Zitaten nicht erfasst, es wirkt so, als ob die Eltern eben doch nicht alles erzählt hätten. Es durchdringt die Generationenschranke offenbar nicht. Hier gibt es einen Eigenschutz in der Phantasie. Irritationen über die Erzählungen der Eltern werden ebenfalls formuliert. Die in den Zitaten eingefangenen Stimmen wirken nachdenklich, vorwurfsvoll, aber auch eingefühlt in die Nöte und Limitierungen der »Erlebensgeneration«. Einige gehen

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Die zweite Generation

von Mischbildern aus, die übertragenen Ängste mischen sich mit den eigenen und intensivieren diese. Die Zitate formulieren weiterhin die Einstellung, auf keinen Fall wieder Krieg erleben zu wollen und ihn schrecklich zu finden. Sie bleiben aber relativ unkonkret und auch unkritisch. Explizite politische oder auch biographische Konsequenzen aus dieser Einstellung werden kaum formuliert. Auch die Beschäftigung mit den Geschehnissen im »Dritten Reich« wird als schwierig und zusetzend empfunden. Die Zitate lassen eine Einstellung anklingen, dass man damit eigentlich nichts zu tun habe. Die Gruppe erscheint insgesamt sympathisch, aber leicht verstört und auch nicht ganz mit sich im Reinen, es muten Identitätskonflikte an. Die eigene Familiengeschichte ist voller Brüche und Rätsel und Ungenauigkeiten, über die man manchmal nachdenkt, die man aber auch hinter sich lassen möchte. Als Leser der Zitatensammlung vermisst man Folgen im Sinne einer aggressiven persistierenden Einstellung (Groll) auf die Menschen und politischen Kräfte, die hinter dem Krieg stehen, ihn angefacht haben. Eher finden sich ohnmächtig-aggressive Äußerungen über die Menschen, die die NS-Zeit heute noch verherrlichen. Es formuliert sich insgesamt das Bild einer unsicheren Identität einer Gruppe, die sich bemüht, die Souveränität über das eigene Leben und Erleben zu gewinnen, dabei aber immer wieder eingeholt wird und von Ängsten bedroht ist. Dabei scheint die Einstellung, dankbar zu sein, nicht in der schlimmen Zeit geboren zu sein und das alles nicht persönlich erlebt zu haben, die Abwehr eher zu verstärken. Die Gruppe hat sich darauf eingestellt, nicht alles wissen zu können und zu wollen und auch nicht alles verstehen zu können. Doch auch Anstrengungen der Bewältigung werden formuliert, die beim Leser eine Empfindung von Achtung und Respekt erzeugen. Diese »Selbstdarstellung der Untersuchungsgruppe« entspricht im Wesentlichen den Befunden bei der Einzeldiskussion der paradigmatischen Fälle aus der Kindergeneration, wie sie in dem Beitrag von Holstein und Lamparter geschildert werden. Klinische Mikroanalyse von parallelisierten Textpassagen

Angesichts ihrer offenbaren inhaltlichen Repräsentativität für die Verarbeitungsprozesse sahen wir den Versuch als aussichtsreich an, unter der Kategorie »Folgen« zu sammelnde Textpassagen für eine erste Analyse der Austauschprozesse unter den Generationen heranzuziehen. Bei einer weiten Bestimmung der Kategorie »Folgen« (im Sinne, was aus dem »Feuersturm« innerlich gefolgt ist), war dazu in jedem Interview – bei den Zeitzeugen und bei ihren Kindern – reichhaltiges Material zu erwarten. Es schien freilich notwendig, hier nicht nur Kurzzitate zu verwenden, sondern die Originalformulierungen im Transkript in ihrem jeweiligen Kontext für die Auswertung heranzuziehen. Wir nahmen an, dass sich möglicherweise gerade beim Vergleich der genauen Formulierungen zwischen den Generationen wichtige Hinweise finden lassen würden. Die Auswahl der zu analysierenden Textpassagen wurde mit Hilfe des Textanalyseprogramms MaxQDA vorgenommen. Dieses macht möglich, einzelne Textpassagen im Interview zu markieren und in einem Ordner zu sammeln, hier etwa dem Ordner »Folgen«.

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In diesem Ordner wurden nun alle Interviewpassagen sowohl der paradigmatischen Zeitzeugen und ihrer Kinder als auch der paradigmatischen Kinder und des zugehörigen Zeitzeugen gesammelt, in denen »Folgen« des »Feuersturms« thematisiert waren. Dieser reduzierte Textkorpus erwies sich nach unserem Eindruck als sehr gut zugänglich für fallbezogene Auswertungen. Wir verzichteten daher auf eine erneute Durcharbeitung des gesammelten Textmaterials mit Hilfe des Textprogramms unter neu zu bildenden fallbezogenen Kategorien, sondern begannen mit Forschungssitzungen, bei denen jeweils die gesammelten Interviewpassagen des Zeitzeugen und seines Kindes gegenübergestellt und diskutiert wurden. Wir machten die Beobachtung, dass auf diese Weise die Texte zu leben begannen und viele Spannungen und Beziehungen sichtbar wurden, die man bei der Lektüre und Kontrastierung der gesamten Interviews in ihrer ganzen Länge möglicherweise überlesen hätte. Die Ergebnisse der Diskussion wurden schriftlich festgehalten. Dabei wurden die Austauschprozesse zwischen den Generationen fallbezogen beschrieben und in einem kurzen Kommentar zusammengefasst. Wie bei entsprechenden psychoanalytischen Falldiskussionen üblich geht es dabei weniger um die Ermittlung tatsächlicher psychischer Abläufe, sondern um die Konstruktion möglicher Verständnisverbindungen und unbewusster Bezüge. Der folgende Abschnitt beschreibt die einzelnen Fälle. Austauschprozesse zwischen den Generationen in den paradigmatischen Fällen Helmut Stier2, ZZ, geboren 1927/Boris Stier, KZZ, geboren 1958 Der Zeitzeuge Helmut Stier überlebte den Angriff voller Angst an seiner Arbeitsstelle im Schacht eines Aufzugs. Er erinnert die Angst und das Entsetzen beim Gang durch die zerstörten Straßen voller Leichen. Es prägte sich ein tiefes Gefühl der Verlorenheit aus, als gegen Ende des Kriegs seine Mutter starb, er selbst noch zu den Endkämpfen eingezogen wurde und »in einem kalten Erdloch in Polen« eine Niere verlor. Trotz allem erlebt er sein Leben durch seine starke Verbundenheit in der Familie und durch seinen beruflichen Erfolg als geglückt. Er hatte dennoch unterschwellig lebenslang mit Ängsten zu tun, was sein sensibler Sohn, Boris Stier, bemerkt, der wie sein Bruder beruflich sehr erfolgreich ist. Im gemeinsamen stillen Gedenken vor dem Mundsburg-Denkmal kommt es zu einem emotionalen Austausch, doch alles bleibt wortlos. Der Sohn nimmt die Verletzlichkeit des Vaters wahr und respektiert dessen emotionale Grenzen, vielleicht sieht er diese sogar als zu eng an. Auch für sich definiert er enge Grenzen, worauf er sich einlassen will oder was er gar herausfordern oder vorwurfsvoll erzwingen könnte, doch er will nicht »zu tief da hinein gehen«. Er will sich nicht vorstellen, was gewesen ist. Die gemeinsame Haltung einer Vermeidung der Erzählung – da zu schrecklich – zieht sich durch die Familie. Es wird eher auf praktische Überwindung des Schrecklichen, Neuanfang und individuelle Suche 2 Die Namen der Interviewten wurden durch Alias-Namen-Bildung anonymisiert, siehe Materialien, Anhang 6.

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Die zweite Generation

nach dem richtigen Lebensweg gesetzt. In diesem sollen die Kinder eine wichtige Rolle spielen, indem sie das erreichen, was der »Erlebensgeneration« durch die Zeitläufte versagt blieb. Kommentar: Man könnte von einer Belastungs-Vemeidungs-Kollusion sprechen. Ebenso bestehen delegatorische Aufträge. Heino Stich, ZZ, geboren 1926/Sabine Reisen, KZZ1, geboren 1956/ Gudrun Stich, KZZ2, geboren 1960

Der Zeitzeuge Heino Stich, der sich als »gebranntes Kind des Kriegs« bezeichnet, steht in einer familiären Tradition, die bis zu einem preußischen Kürrasierregiment zurückreicht. Die Erlebnisse im »Feuersturm« waren für ihn nur der Anfang von vielen weiteren schrecklichen Kriegserlebnissen an der Front. Er hatte sich noch als Offiziersanwärter gemeldet. Innerlich berührt und noch voll von diesen Erlebnissen versuchte er nach dem Krieg, sich eine heile Familie zu schaffen, und baute dazu auf einem Grundstück als Ersatz für die verlorene Wohnung ein großzügig angelegtes Haus. Nach wie vor beschäftigt er sich sammelnd mit den Geschehnissen im »Dritten Reich« und im Krieg und hat eine »ganze Bibliothek« aufgebaut. Folgen des Krieges sind bis heute cholerische Ausbrüche, Schlaflosigkeit, Alpträume, hoher Blutdruck. Er konnte es offenbar schwer ertragen, als seine beiden Töchter sich selbstständig machten und eigene Wahlen trafen. Die ältere Tochter, Sabine Reisen, wird zur Rebellin, wehrt sich und grenzt sich ab – oft gelingt ihr das nur um den Preis eines zeitweiligen Kontaktabbruchs. Sie erlebt den Vater als überkontrollierend, wenig empathisch und eifersüchtig. Trotz der offenkundigen Beschäftigung des Vaters mit der Kriegszeit vermittelt sie im Interview eher den Eindruck, der Vater habe wenig gesprochen. Sie erlebt seine kontrollierende Fürsorge als massive Bevormundung und Einengung und kann sich erst heute damit auseinandersetzen, ohne heftig aggressiv zu werden. Ihr Gegenentwurf ist Freiheit und Selbstständigkeit. Kommentar: Die Weitergabe geschieht im Rahmen einer wiederholend abgrenzend verstrickten Beziehung. Die Fürsorglichkeit des Vaters in äußeren Dingen wird nicht als Kompensation für das erlebte Schreckliche wahrgenommen, sondern als Ein­engung, Bevormundung und Kontrolle. Die jüngere Tochter, Gudrun Stich, hat sich besser angepasst und hat auch mehr psychologisches Verständnis entwickeln können. Sie hat sich dem Vater in einer emotional intuitiven Annäherung zugewandt. Nach einer Scheidung lebt sie wieder in dem elterlichen Anwesen. Sie erinnert sich kaum an das, was der Vater erzählt hat, sondern vor allem daran, wie emotional »aufgelöst« er dabei war. Sie erlebt ihn freilich interessiert daran, die »Bücher herauszuholen«. Konsistenter sind die Erinnerungen der Mutter in ihr aufbewahrt, sie kann sich gut in ihr Fluchtschicksal einfühlen. Die eigentlichen »Feuersturm«-Geschichten kennt sie aus Erzählungen anderer. Sie mag keine Pfadfinder und keine Lagerfeuerromantik und ist ihrer Schwester ähnlich in der Ablehnung von allem, was mit Militär und Krieg zu tun hat.

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Aktiv will sie sich mit dem Nationalsozialismus nicht auseinandersetzen, er ist ihr affektiv unangenehm und das reicht ihr. Ihre Grundhaltung ist schützend und fürsorglich, jedoch nicht kritisch. Dass der Vater sich freiwillig und auch bewusst als Offiziersanwärter gemeldet hat, wird so dargestellt, dass der Vater einer der Letzten gewesen sei, die man eingezogen habe. Sie will den Vater vor seinen Erinnerungen schützen und fragt sich, ob es gut war, dass der Vater noch einmal bei Danzig war und dort Orte der Kriegserinnerung besucht hat. Sie bemerkt eine Angstlosigkeit des Vaters bei Gewittern, bei denen doch andere Menschen an Bomben dächten, aber beim Vater könne man davon nichts mitbekommen. Dies gibt ihr zu denken, wird von ihr emotional aufgenommen. Kommentar: Positiv begleitende, intuitiv schonende Rezeption. Sie kann das »Fürsorge-Thema« des Vaters offenbar anders aufnehmen als die Schwester und mit einer »Gegenfürsorge« antworten. Harald Rangel, ZZ, geboren 1924/Jochen Rangel, KZZ, geboren 1964 Der als Jugendlicher »naziüberzeugte« und gleichzeitig kreative Zeitzeuge Harald Rangel – er wollte Redakteur werden – war bei dem »Feuersturm« vor allem beim Aufräumen tätig und musste unter anderem die Leichen bergen. Im Interview akzentuiert er mehr die Dinge und Werte, die vernichtet wurden, als die toten Menschen. Er hat dann später im Krieg und besonders in russischer Gefangenschaft noch vieles für ihn Schlimmeres erlebt. Nach dem Krieg konnte er seine journalistische Tätigkeit nicht mehr aufnehmen. Er eröffnete einen Laden, rieb sich mit seiner Frau, mit der er eigentlich gar nicht zusammengepasst hatte, und ließ sich im Alter scheiden. Auch der Vater des Zeitzeugen musste nach dem Krieg irgendwelche Hilfsarbeiten (Nachtwächter) machen, war als Nazi »belastet«. Es ist dem Zeitzeugen sehr wichtig, dass er ein guter Mensch gewesen sei, nichts Böses getan habe. Eine Gesinnungsschuld sieht er nicht. Im Vordergrund stehen heute Alpträume. Er hat eine besondere Art der Abwehr/ Bewältigung, nämlich das Erzählen heiterer Geschichten. Er hat sich in der Gefangenschaft durch Zaubern, Theaterspielen und gleichzeitig durch das Hinnehmen dessen behauptet, was man nicht ändern kann: »Ich mach hier nicht den traurigen Otto.« Er bewahrt Gelassenheit. Er hat nur heitere Geschichten zur Weitergabe aufgeschrieben, manchmal dichtet er etwas dazu, so dass es lustig wird. Der im Leben stehende Sohn des Zeitzeugen, Jochen Rangel, der als Einzelkind sich dem Konfliktfeld zwischen den Eltern entzog, versucht dies bewusst heute auszugleichen. Er will seinen eigenen Kindern aktiv vermitteln, dass der Krieg etwas Schreckliches war. Seine zentrale Botschaft ist, dass sie merken und wertschätzen, wie gut sie es heute haben. Zum Kern des traumatischen Erlebens des Vaters mag und kann er freilich nicht durchdringen. Es gibt ein Bedürfnis, den Vater und sich selbst zu schützen und behutsam zu sein. Auch wenn er im Rahmen von geschäftlichen Kontakten auswärtigen Kollegen zeigt, wo der »Feuersturm« getobt hat, so hat er doch wenig »zeitgeschichtlichen Zugang«. Die offenkundigen Verwicklungen seines Vaters und besonders seines Großvaters in den Nationalsozialismus sind nicht Teil seiner bewuss-

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ten Identität geworden; so bleibt manches »wolkig«. Sein Anliegen, dem Vater nahe zu sein, führt dazu, dass sie gemeinsam eine Reise zur Glienecker Brücke unternehmen, wo der Vater in Gefangenschaft geraten war, als er schon gedachte hatte, »dem Russen« entkommen zu sein. Kommentar: Bei aller positiven Begleitung und der offenkundigen Bemühung um Weitergabe der Erfahrung gibt es ein latent wirksames »Vermächtnis« aus der traumatischen Kriegserfahrung des Vaters. Vater und Sohn gehen unterschiedlich damit um. Der Vater etwas verharmlosend, das Schlimme im Traum verdichtend, der Sohn einfühlend in die Beschädigung seines Vaters und seine Abwehr: Man könnte von einer »gereinigten Weitergabe« sprechen. Sie tradiert weniger die eigentliche traumatische Erfahrung als vielmehr ein Vermächtnis für heutige Einstellungen dem Leben gegenüber. Heinrich-Jens Lorre, ZZ, geboren 1935/Melanie Tiger, KZZ, geboren 1968

Der beim »Feuersturm« acht Jahre alte Junge Heinrich-Jens Lorre wurde streng von seinen Großeltern erzogen, er war unehelich geboren. Die Mutter lebte in einer anderen Stadt. Während des »Feuersturms« konnte er sich im Keller als »kleiner Held« erleben. Kontrastierend bleibt die Erinnerung an eine tote Frau in das Gedächtnis eingebrannt, die oben auf einem Leichenberg lag. In der inneren Welt des Zeitzeugen existieren Fluchtbewegungen, Angst, aber auch Sehnsucht nach Wärme und Beziehung. In seinem äußerlich erfolgreichen Lebensverlauf kann er auf sein neugieriges Interesse für die Dinge des Lebens, seine Freude an der Bewegung und den Stolz auf seinen gesunden Körper zurückgreifen. Er kann jedoch nur schwer ertragen, wenn andere passiv sind oder es sich bequem machen. Seine hier interviewte Tochter stammt aus einer zweiten, stabilen Ehe. Seine Erfahrungen im »Feuersturm« werden bei ihm unter dem Leitmotiv organisiert, dass er mit Glück überlebt hat, und werden nicht als traumatisch tradiert. Doch das Schicksal der überstrengen Erziehung durch die Großeltern mischt sich unter der Hand mit den Kriegserfahrungen. Seine Tochter, Melanie Tiger, interpretiert seinen beruflichen Ehrgeiz als Folge dieser Erfahrungen. Ihre emotionale Wahrnehmung ist genau, auch wenn sie sehr wenig über die Geschehnisse in Krieg und Nationalsozialismus und von der Geschichte des Vaters weiß. Sie verweigert sich dabei den Leistungsanforderungen des Vaters. Als nunmehr Erwachsene wünscht sie sich Anerkennung ihrer eigenen Lebensleistung, dass sie einen Beruf gelernt, Kinder bekommen hat und in einem Reihenhaus wohnt. Die transgenerationale Weitergabe der Erfahrung wird überlagert von der allgemeinen Dynamik der Beziehungs- und Strukturentwicklung in der Familie und zwischen Vater und Tochter. Dabei scheint eine durchgängige »Abwehrlinie« erkennbar. Neben Verdrängung, Verleugnung, der Flucht, durch Bewegung die Gedanken auszuschalten und der Abwehr eigener Verlorenheit und Schwäche lassen sich auch kompensatorische narzisstische Phantasien vermuten. Aggressive Phantasien werden in dominantes Verhalten umgesetzt. Es gibt eine Reaktionsbildung mit starkem Ehrgeiz,

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vom dem sich die Tochter des Zeitzeugen wieder abhängig erlebt, gegen den sie aber auch revoltiert, indem sie sich verweigert. Kommentar: Aus den Prägungen seiner frühen Erfahrungen heraus kommt es beim Zeitzeugen zu Wiederholungen und Reaktionsbildungen, die regressive Entwicklungen in der Familie begünstigen. Die partielle Delegation von Schwäche stößt bei der Tochter auf Verweigerung und wird unterlaufen. Ronald Korn, ZZ, geboren 1935/Udo Korn, KZZ, geboren 1962

Bei dem Zeitzeugen Ronald Korn vermengt sich die Erfahrung des »Feuersturms« und der Ausbombung mit der Trennungsgeschichte der Eltern und dem sich einer anderen Frau zuwendenden Vater. So wurde der Zeitzeuge mit der Mutter »zusammengeschmiedet«. Er kann sich neugierig und fasziniert zuwenden, bewahrt bis heute eine Offenheit, unternimmt weite Reisen und stellt sich als aktiver Zeitzeuge zur Verfügung. Dabei scheint es ihm zu gelingen, immer wieder faszinierende und lebendige Geschichten zu erzählen, ohne sich wirklich die damaligen eigenen inneren negativen Gefühle zu vergegenwärtigen und sie preiszugeben. Es könnte sein, dass er sich einerseits verpflichtet fühlte, der Mutter ein Halt zu sein, aber andererseits Angst hatte, von eigenen Ängsten überflutet zu werden. Der Sohn, Udo Korn, ist mit dem Vater hoch identifiziert. Er fühlt sich durch den delegatorischen Auftrag, seine eigene Familie auf keinen Fall zu verlassen, überfordert. In seiner Begeisterung für Waffen und Kriegsspiel scheint sich die Faszination des Vaters widerzuspiegeln, der von der anderen Elbseite nach der Flucht die brennende und immer wieder angegriffene Stadt betrachtete. Der Sohn sieht, dass der Vater durch den Krieg geprägt ist. Er will dem Vater auf jeden Fall nahe sein. Vordergründig geschieht die Weitergabe der Erfahrung vor allem durch die geteilte Faszination und die identifikatorische Teilhabe des Sohnes am Erleben des Zeitzeugen. Im Hintergrund gibt es vielfältige latente Beziehungsmuster, die nicht erkannt, sondern eher agiert werden. Bei allen Bemühungen verfehlen Vater und Sohn sich, erreichen sich nicht emotional und können keine wirklich gleichberechtigte, lebendige Beziehung entwickeln. Es handelt sich weniger um ein Missverständnis als um ein Nichterreichen. Kommentar: Die aktive Zeitzeugenschaft des Vaters setzt sich nur unterschwellig in die familiäre Weitergabe um, da der Vater vor allem möchte, dass der Sohn in seinen persönlichen Beziehungen die Lehren aus der damaligen Zeit zieht. Liesbeth Struve, ZZ, geboren 1922/Roswitha Hude, KZZ, geboren 1959

Die Zeitzeugin Liesbeth Struve hat bei dem Angriff ihre Mutter und ihre Großmutter verloren und nur wegen ihrer »guten Heilhaut« überlebt. Obwohl schon lange verheiratet, hat sie ihre Tochter relativ spät bekommen, nämlich erst mit 37 Jahren. Für die Zeitzeugin ist Harmonie das Wichtigste. Die Harmonie richtet sich gegen das Erleben von Verzweiflung, Alleinsein, die erlebte Destruktivität und gegen das unerträgliche Gefühl der Überlebensschuld. Ihre aktive Zeitzeugenschaft kann auch gelesen werden als Versuch, mit diesen Gefühlen zurechtzukommen.

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Die Tochter, Roswitha Hude, ist schwer krank und bis heute behindert, wahrscheinlich früh im jungen Erwachsenenalter an einer Psychose erkrankt. Sie ist empathisch mit dem Erleben der Mutter im »Feuersturm« verbunden und kann dieses wahrscheinlich wenig in sich »wegschließen«. Sie hat sonst eigentlich niemand: »Bei mir wird nichts weitergehen.« Sie kann keine reparativen Funktionen für die nächste Generation übernehmen. Die Fürsorge für die Mutter wird zu ihrem zentralen Inhalt. Ihr zentraler Affekt ist Wut auf die Nazis. In dieser Wut kann das Motiv der ödipalen Ausgeschlossenheit enthalten sein, aber auch ein Ressentiment dagegen, dass sie bei der Mutter eine »braune Schicht« erhalten sieht. Es entsteht im Auge des Betrachters dieser Verbundenheit das Bild einer Brücke, auf der sich Mutter und Tochter begegnen und verbunden sind, unter der aber die destruktive Energie sich austobt. Die Tochter hat die Funktion eines Containers für die desintegrierten Affekte der Mutter übernommen. Sie benennt im Interview auch Details, welche die Zeitzeugin im Interview nicht erwähnt, zum Beispiel das »Überdie-Leichen-Gehen«. Kommentar: Die abgewehrten Aspekte der »Feuersturm«-Erfahrung mit ihren schrecklichen Verlusten wurden von der Tochter aufgegriffen und gespürt. Die psychische Kapazität der Tochter ist offenbar bereits in früheren Jahren überfordert gewesen. Es kann vermutet werden, dass sie unbewusst die verlorenen Menschen ersetzen sollte. Else Lauf, ZZ, geboren 1935/Margot Lauf, KZZ, geboren 1962 Während die Mutter Else Lauf, sie war beim »Feuersturm« acht Jahre alt, sagt, dass in der Familie nicht darüber gesprochen wurde, sagt die Tochter Margot Lauf, dass an Geburtstagen immer davon gesprochen wurde. Die Mutter beschreibt bei sich starke psychische Folgen, vor allem Ängste. Sie hat im Traum Angst vor Bombenangriffen und fragt sich, wo sie die Kinder verstecken könne. Sie wertet das aber nicht als große Belastung. Sie schildert auch das Lebensgefühl nach dem Krieg. Was hinter ihr lag, war wie weg. Die Abwehr ist freilich dünn: Sie merkt, dass es sie sehr mitnimmt, sich wieder damit zu beschäftigen. In der Familie gibt es viele Konflikte und eine große aggressive Spannung. Ihr Vater war bei einem Polizeikorps in Sewastopol. Ihre eigene Mutter war aggressiv und schlug die Kinder. Die Tochter der Zeitzeugin kann genau beschreiben, wie die Erzählungen früher auf sie gewirkt hätten, zum Beispiel, dass sie sich diese als Kind als Abenteuergeschichten hätte anhören können, die zum glücklichen Überleben der Familie geführt hätten. Es »kam unweigerlich auf den Tisch«. Sie weint im Interview und muss mit der Fassung kämpfen, als sie von dem Mann mit dem Rollstuhl berichtet, der nicht mit aus dem Haus fliehen konnte und zurückgelassen werden musste. Dieser Teil der Geschichte sei nur einmal erzählt worden. Sie benennt eine »Lücke der Darstellung«: »Man redet vom Tafelsilber, das man hinterher dann noch aus dem Keller geholt hat, aber da hätte man ja auch auf die Leiche des Mannes mit dem Rollstuhl stoßen müssen.« Sie habe wahrgenommen, dass die Mutter die Geschichten ohne emotionale Beteiligung erzähle und sie damit schützen wolle. Sie selbst nimmt eine äquivalente Schon-

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haltung ein: »Ich habe die Eltern als verletzlich empfunden und sie geschont. Da schlummert etwas Emotionales: Das habe ich als Kind schon gespürt.« Sie hat das Gefühl, dass alle in Tränen ausbrechen, wenn sie etwas anrührt, aber umgekehrt spürt sie, dass die Mutter nicht will, dass sie weint. Es geht immer wieder um das Weinen und seine Kontrolle. Inwieweit sie selbst von den Kriegserlebnissen der Eltern geprägt ist, hält sie offen. Da fehlt ihr das »analytische Rüstzeug«. Als Entwicklungshelferin in einem afrikanischen Bürgerkriegsland hat sie täglich mit aggressiven und kriegerischen Konflikten zu tun. Kommentar: Die familiäre Weitergabe enthält sehr viele Elemente in einem Zusammenspiel von Erzählung und Verschweigen, Einfühlung und Gefühlsabwehr, mit den Themen Angst, Weinen und Verlust auf der einen und dem Thema der Aggression auf der anderen Seite. Die Erfahrungen der Eltern im Krieg scheinen die Lebensentwicklung der Tochter thematisch zu bestimmen. Eva Hölling, ZZ, geboren 1936; Carl Hölling, ZZ, geboren 1938/ Ida Fiedler, KZZ, geboren 1971

Beide Eltern haben den »Feuersturm« erlebt. Die Zeitzeugin Eva Hölling war bereits vor dem »Feuersturm« ein verlassenes, einsames Kind: »Seit meinem dritten Lebensjahr bin ich immer um mein Leben gelaufen. Ich wollte nur weg.« Ihre Mutter war psychotisch und wurde wahrscheinlich in der Heilsanstalt im Rahmen der Euthanasie umgebracht. Der Vater war Nazi. Die Großmutter väterlicherseits war da, aber mit eigenen Sorgen belastet. Die Zeitzeugin wurde die Vertraute der Großmutter für ihre Eheprobleme. Auch nach dem Krieg hat die Zeitzeugin immer noch Angst und benutzt die Tochter als Container. Sie gibt der Tochter eine Wiege mit einer Puppe, die den »Feuersturm« überlebt hat, zum Spielen, was die Tochter als großen Druck erlebt. Ihr Mann, Zeitzeuge Carl Hölling, ist für die psychische Stabilität der Zeitzeugin sehr wichtig. Er steht für eine rationalisierende Abwehr, er verdichtet und konzentriert die Angsterfahrung in einem Tieffliegererlebnis. Seine zentrale »Feuersturm«-Geschichte ist eine Fluchtgeschichte: »Dem Blockwart eine auf den Schädel geben«, damit man aus dem Keller rauskommt. Er steht damit auch für die Aggression. Sie schützt, aber macht auch Angst. Unbewusst hat sich vermutlich die sonst nicht gelebte und nur manchmal durchbrechende Aggression der Tochter beider Zeitzeugen, Ida Fiedler, mitgeteilt. Diese reagiert abrupt, geht weg, macht sich selbstständig und bricht den Kontakt ab. Die Weitergabe der Erfahrung wurde über die Mutter vermittelt, die auch die »Feuersturm«-Geschichte des Vaters erzählt hat. Die Tochter erlebt sich als Container der Mutter: »Die hat mir ihren Schock vermittelt.« Sie ist zumindest teilweise mit der vermutlich umgebrachten Mutter der Zeitzeugin identifiziert Der »Feuersturm« ist für sie eine prägende Leiderfahrung, real, präsent, überfordernd und überlastend. Sie sieht selber Folgen für sich, ist damit nicht fertig. Sie hat Angst vor Feuer, eine hohe Sensibilität für Brandgeruch, Angst die Mutter und die Kinder zu verlieren. Von ihren Ängsten kann sie sich nur schwer distanzieren und beobachtet bei sich eine vermehrte Labilität.

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Sie hat aber auch einen Blick für die »Erlebensgeneration« und kann zum Teil deren Psychologie sehen: »Was da alles hochkommt.« Ihre eigenen Kinder möchte sie vor den überschwemmenden Erzählungen der Großmutter und Zeitzeugin schützen. Sie habe bemerkt, dass die Kinder schon panisch auf das Feuer im Kamin reagieren würden. In der Partnergestaltung ist sie an Wiederholungen gescheitert. Es gibt dramatische und verstörende Beziehungsentwicklungen mit Kontaktabbruch zu den Eltern. Die Mutter sagt: »Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.« Die Tochter versteht das nicht als Ausdruck von Sorgen, sondern als egoistische Provokation. Kommentar: Als typische transgenerationale Muster erscheinen Funktionalisierungen, Überschwemmungen und ein Mitleid-Empathie-Missverständnis. Greta Echter, ZZ, geboren 1940/Susi Echter-Strutz, KZZ, geboren 1967

Die Zeitzeugin Greta Echter war beim »Feuersturm« drei Jahre alt. Sie wurde von ihrer Mutter durch die brennende Stadt getragen, die davon einen »ganz steifen Arm« bekam. Die Ausbombung und die Nachkriegszeit sind für sie ein Kontinuum der Not. Zentrales biographisches Ereignis war der Tod des Bruders in der Nachkriegszeit durch unabsichtliche Vergiftung. Danach fand in der Familie eine Art Tabuisierung der Kriegserfahrung statt, weil der an seiner Stelle geborene »Ersatzsohn« es nicht habe ertragen können, wenn über diese Zeit gesprochen worden sei. Aufgrund der Notzeit und der Armut erlebte sie sich lange als ausgegrenzt und weinte viel. Wichtig war für sie eine positive Beziehung zum Vater. Sie kann sich als stark, autonom und fleißig sehen. Sicherheit, Wohlstand, gute familiäre und nachbarschaftliche Beziehungen und Bücher sind ihr wichtig. Ihre zentralen »Lebensweichen« wurden vor diesem Hintergrund gestellt. Sie musste eine Ausbildung zur Schneiderin machen, weil das nützlich war und man nicht wusste, welche Zeiten noch kommen würden. Später hat sie »im Büro gelernt« und ist aufgestiegen. Heute schreibt sie sich alles von der Seele. Die bereits fertiggestellten Kapitel gibt sie der Tochter jedoch (noch) nicht zu lesen. Sie erkennt an, dass seelische Folgen bestehen: »Es sind Sachen, die haben einen zeitlebens verfolgt.« Hamburg ist für sie weniger die Stadt der Vernichtung und Angst als die Stadt, in der sie nach dem Umzug der Familie nach Altona aufblühte. Ihr gegen den Krieg gerichteter Pazifismus ist nicht politisch ausformuliert. Die Tochter, Susi Echter-Strutz, zeichnet sich durch eine besondere innere Nähe zur Zeitzeugin und ein einfühlendes, ja sogar identifikatorisches Verständnis aus. Sie fühlt sich verpflichtet, das Leid der Mutter zu teilen. Das geht so weit, dass im Text verschwimmt, über wessen Erleben nun genau gesprochen wird, das der Mutter oder das der Tochter. Sie hat sich den »Feuersturm« vorgestellt und trägt die Bilder in sich: »Wenn ich heil (aus dem Keller) rauskomme, kann ich in jeder Sekunde zerrissen werden.« Sie erkennt, wenn die Mutter sich mit Jahrestagen beschäftigt, und empfindet dabei, dass die Mutter sie nicht mit ihren Gedanken und Erinnerungen belasten will. Auch sie bleibt unpolitisch. Dass sie Bergen-Belsen als Kind besuchen musste, erlebte sie als illegitimen staatlichen Zwang. Wie die Mutter bezieht sie einige ihrer »Lebensentscheidungen« aus der historischen Erfahrung der Familie, flüchten zu müssen: »Ich habe nur zwei Kinder, damit ich an jeder Hand eines halten kann.« Auch zen-

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trale Ängste werden dadurch bestimmt: In ihren Angstträumen ist die Angst zentral, auseinandergerissen zu werden. Sie beschreibt einige Einstellungen von sich, die für die Zeitzeugengeneration typisch sind: Physische Wärme wird mit psychischer Wärme zum Teil gleichgesetzt. Bei Geschenken achtet sie darauf, ob man sie notfalls einschmelzen oder tauschen kann, falls wieder schlechte Zeiten kommen. Von anderen Verhaltensweisen der »Erlebensgeneration« kann sie sich distanzieren. Übermäßiges Sorgen um Essen und die Kleidung versteht sie in ihrer Herkunft und regt sich nicht darüber auf. Die Vergangenheitsorientierung ihrer Mutter erlebt sie als belastend. Nachdem die Kriegsgeneration die komplette Ohnmacht unter den Bomben erfahren hat, geht es jetzt darum, etwas machen und bewirken zu können. Kommentar: Dieser Fall zeigt typische transgenerationale Muster: Die Tochter sieht bei sich die Aufgabe, der Mutter bei der Verarbeitung zu helfen und identifiziert sich bewusst mit der Mutter. Sie übernimmt dabei zentrale Ängste sowie vielfältige zeittypische Einstellungen, die aus der Erfahrung des Krieges und des Verlustes gewachsen sind. Heidi Behrends, ZZ, geboren 1939/Sabine Rauhe, KZZ, geboren 1969

Die Zeitzeugin Heidi Behrends erlebt sich als traumatisiert mit deutlichen »psychischen Folgen«. Sie war jedoch schon vor dem »Feuersturm« traurig und einsam. Die Mutter stammte aus großbürgerlichem Haus und war emotional weit weg, der Vater – Arzt und Nazi – hatte »Dreck am Stecken«. Vor dem Krieg wurde er idealisiert, doch kam er verändert, als »gebrochener Mann« aus dem Krieg zurück, war brutal und schrie. In der Nachkriegszeit gab es wenig Geld, es wurde auch gehungert. Die Eltern werden sich später gemeinsam suizidieren (drei Jahre vor dem Interview). Sie hätten nur egoistisch für sich gelebt und keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Sie selbst habe ein Leben lang um eine geglückte Existenz gekämpft. Beziehungen mit Männern seien immer eine »Sache auf Leben und Tod«. Sie habe aber trotzdem alles in ihrem Leben gemacht, was sie habe machen müssen. Sie hat drei Kinder bekommen und lange Zeit quälende Gedanken gehabt, welches Kind an der Hand sie retten würde. Sie hat »Naziträume«: Sie will Juden vor dem Vater warnen. Er sei kein Arzt, sondern er würde sie umbringen. Aber sie kann nicht sprechen. Die Zeitzeugin hat ein bewusstes Konzept von Transgenerationalität und weiß um die indirekte Weitergabe ihrer Ängste und Verletzungen an die Kinder: immer auf der Hut sein, rechtzeitig wegkommen. Aus Sorge, dass die Kinder verhungern könnten, musste sie immer in sie »reinstopfen.« Sie bedauert spürbar, wie sie mit den Kindern umgegangen ist. So tut es ihr heute sehr leid, dass sie den Kindern ihre Träume am Morgen erzählt und sie damit gequält hat. Die Beziehungen zu ihren Kindern und Enkeln bleiben ambivalent und es kommt immer wieder zu Kontaktabbrüchen. Heute lebt sie eher in der autarken Position, ein Garten tut ihr gut. Sie hat einen Hund, sonst lebt sie allein. Vom Vater ihrer Kinder ist sie geschieden. Sie hat herausgefunden, dass gegen die Angst der Verstand hilft, und geht gegen die Angst an, die sie zu beherrschen droht.

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Der »Feuersturm« bildet das Grundmuster des Erlebens von Trennung, Angst, überwältigender Aggression und Todesnähe ab. Auffallend oft verwendet sie im Interview das Wort »tödlich« oder »tot«: »Wenn ich von einem Mann verlassen werde, dann ist das tödlich.« Auch Alleinsein ist »tödlich«. Ihre Kinder würden sich darüber »tot«lachen, dass sie immer so früh zum Bahnhof gehe. Ihre Tochter, Sabine Rauhe, sagt im Interview, sie könne bei sich keine umfassende Prägung erkennen, beschreibt aber Folgen (Empfindlichkeiten gegen Sirenen, Angst vor dem Feuer), so dass der Eindruck entsteht, dass sich »etwas festgesetzt hat«. Das Leben der Mutter sei »ein einziges Drama« gewesen. Sie habe die Kinder »viel benutzt, um ihr eigenes Loch zu stopfen«. Sabine Rauhe problematisiert die Opferrolle der Mutter mit kritischer Schärfe. Die Auswirkungen der Kriegserfahrungen auf das eigene Erleben werden vor allem durch das So-Sein der Mutter bestimmt, wobei der Tochter klar ist, dass die Mutter kein »sattes und gestärktes« Kind gewesen sei. Vom »Feuersturm« weiß sie nichts Genaues. Sie weiß nur, dass Hamburg »kaputt gebombt« werden sollte. Die Abwehr gegen die überstülpenden Erzählungen der Mutter dominiert. Sie hat sich nicht dafür interessiert, weil die Beziehung zur Mutter so schwierig war. Sie empfindet Dankbarkeit für die heutige Lebenssituation im Frieden. Sie musste viel Beziehungsarbeit leisten, bis sie heute ihre Ehe als gut bezeichnen kann. Sie gehört der Generation der »Aufräumarbeiter« an, die mit »den Deutschen« eigentlich nichts zu tun haben will. Kommentar: Die Verarbeitung der »Feuersturm«-Erfahrung wird in der zweiten Generation sehr durch die Beziehungserfahrungen mit der Zeitzeugin bestimmt. In der Autarkiebewegung und in der Hinwendung zur Natur und zu den Tieren entsprechen sich Mutter und Tochter. In einer wechselvollen und schwierigen Beziehungsgeschichte kam es zu intrusiven Überschwemmungen, Gegenbewegungen, partiellen Identifikationen, einer offenen Abwehr gegen wahrgenommene Instrumentalisierungen und einer bewussten Verneinung der Anerkennung eines Dauer-Opfer-Status für die Zeitzeugin. Edelgard Ballhaus, ZZ, geboren 1934/Miriam Ballhaus, KZZ, geboren 1963

Die Zeitzeugin Edelgard Ballhaus beschreibt klar und eigenständig die Folgen des Erlebten: Sie hänge nicht am Materiellen, weil es doch alles verloren gehen könne. Sie konnte früher nach einem Probealarm nicht schlafen und erlebte Flugzeuge zur Brandbekämpfung in Frankreich wegen ihrer Geräusche als unangenehm und beängstigend. Aus Angst, selbst früh an einem Unfall zu sterben, habe sie ihre Kinder besonders zur Selbstständigkeit erzogen Nach dem Krieg haben sich neue Möglichkeiten für die wache und aktive »Zeitgenossin« mit neuen Hobbys und neuen beruflichen Möglichkeiten eröffnet. Diese Wendung zur Aktivität zeichnet sie aus. Sie versucht, »positiv zu denken«. In ihrer aktiven Beschäftigung mit der Stadtteilgeschichte, und besonders der jüdischen Geschichte, ist sie mit ihrer Tochter verbunden. Die Tochter, Miriam Ballhaus, ist in der Lage, sich mit diesem »gesunden Anteil« zu identifizieren, die »Abwehrleistung« der Mutter nachzuvollziehen und anzuerkennen. Beide unternehmen eindrucksvolle Schritte der Selbstreflexion. Dennoch gibt es

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eine Tendenz, die Verwicklung des Vaters der Zeitzeugin in den Nationalsozialismus nicht kritisch im Detail zu beleuchten. Er musste als Hausmeister die Schlüssel der jüdischen Familien entgegennehmen, bevor sie deportiert wurden. Die Tochter beklagt bei der Zeitzeugin einen Mangel an Geborgenheit, den sie zum Teil auf die Kriegserlebnisse zurückführt. Einerseits konnten sie und ihre Schwester nachfragen, weil die Mutter »sachlich« blieb und sie keine Angst haben mussten, dass die Mutter »zusammenbricht«. Andererseits erlebte sie ihre Mutter als jähzornig. Man musste sich vor ihr in Acht nehmen, wusste nie, wann sie »explodiert«. Sie nimmt genau wahr, dass hinter der Autarkie und Festigkeit der Mutter ein »Mangel an Urvertrauen« steht. Sie geriet früher häufiger in den »Kugelhagel« der Affekte, wenn die Eltern untereinander oder auch mit der Schwester stritten, deren chronisches Krankheitsschicksal und deren früher Tod die Familie enorm belastet haben. Diese Erfahrungen und Konflikte münden biographisch in eine bewusste Kinderlosigkeit, da sie Angst habe, eine Geburt nicht zu überleben. Und sie führten dazu, dass die Tochter es heute ablehnen würde, die Mutter später zu pflegen. Bei ihrer Beschäftigung mit der Familiengeschichte des Vaters, der heute noch der NS-Ideologie anhängt, lässt sie Verleugnungen nicht stehen, sondern klärt aktiv das Schicksal einer Großtante auf, die der Euthanasie zum Opfer fiel. Die »transgenerationale Weitergabe« wird von ihr betont: »Das dauert, das geht durch die Generationen, das dauert, bis es raus ist.« Kommentar: Auch bei offenbar ganz offenem und interessiertem Umgang mit Krieg und Nationalsozialismus können tiefgreifende emotionale Folgen bestehen, die erkennbar in das Lebensschicksal hineinwirken, zum Beispiel durch die Tradierung einer angstvollen Vorstellung, dass etwas Schlimmes passieren könnte (die Angst der Mutter, bei einem Unfall zu sterben, korrespondiert mit der Angst der Tochter, bei einer Geburt zu sterben).3 Der »Folgenreichtum« der Kriegserfahrung führt aber auch zu einer aktiven Transmission von Wissen und Werten und von historischer Erfahrung. Dabei spielen intergenerationale Missverständnisse eine Rolle: in diesem Falle eine Erziehung zur Selbstständigkeit und das Empfinden eines Mangels an Geborgenheit. Daraus resultierende Beziehungserfahrungen haben bis heute beziehungsgestaltende Kraft. Gerda Berlin, ZZ, geboren 1921/Christine Berlin, KZZ, geboren 1950/ Jochen Richard Berlin, KZZ, geboren 1957

Die Zeitzeugin Gerda Berlin beschreibt ihr Erleben im »Feuersturm« als existenzielle Grenzerfahrung, die sie im Schutz der Familie überstanden habe. Sie schildert idealisierend, dass es gut ausgeht, blendet manches aus und »glättet« retrospektiv die Erfahrung. Für sie ist wichtig, dass sie bald darauf einen Beruf lernen (»Glücksrausch«) und später eine Familie gründen kann. An Folgen zu leiden habe nur ihre eigene Mutter, sie selbst eigentlich nicht. Ein schwieriges Kapitel sind auch die Folgen für ihre 3

Natürlich gibt es auch andere Erklärungen für eine solche Parallelität. Andererseits spielen sich die Folgen nicht isoliert vom sonstigen psychischen Geschehen ab.

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Schwester, die nach dem Verlust des Hauses in der zweiten Bombennacht aus ihrer Wohnung »vertrieben« wurde und nach München »musste«, damit für die restliche Familie Platz war. Die »jüdische Problematik« in der Familie, nämlich die Herkunft und das Schicksal ihres Mannes, den sie nach dem Krieg geheiratet hat, wird erst im Gespräch mit der Tochter deutlich. Die Tochter, Christine Berlin, beschreibt eine Tradierung von großer familiärer Nähe, aber ihre Phantasie und ihr unbewusstes Wissen gehen darüber hinaus. Sie sei über Jahre aus Angstträumen schreiend aufgewacht, die mit Erzählungen von Flugzeugangriffen in Verbindung gebracht würden. Einerseits hatte sie »Reliquien im Besitz«, andererseits hat sie diese aber auch zurückgegeben. Unter allen Interviewten der Kindergeneration hat sie die umfassendste Therapie in Form einer Psychoanalyse gemacht, um die komplexe familiäre Problematik im Zusammenhang mit ihrem Vater und dessen jüdischer Identität besser zu verstehen. Auch seine Erfahrungen und seine Ängste aus der Nazizeit haben auf die Tochter eingewirkt. Die Angst, die »Schutzburg« zu verlieren, beherrschte ihre Kindheit. Hier gehen wahrscheinlich Ängste mit ein, die aus der Erfahrung des Hausverlustes im Bombenkrieg gespeist werden. Introspektiv geschult durch die Erfahrung der Psychoanalyse kann sie beschreiben, dass sie vor allem ein »Stimmungsbild« aufgenommen hat. Aus der kindlichen Perspektive war es nicht möglich, alle relevanten Zusammenhänge zu erkennen, da sie auf eine doppelte Abwehr stieß: die partielle Verleugnung der Mutter und das Nicht-Reden des Vaters. Die Erinnerung kondensiert sich an den Reliquien und an Teilaspekten der Erzählungen, deren Lücken durch Phantasien geschlossen werden. Der Sohn der Zeitzeugin, Jochen Richard Berlin, gibt ein ganz anderes Bild, er wendet seine Erfahrungen ins Allgemeine: Jeder wurde geprägt, was vorher war, kann man nicht wissen. Doch von den ambivalenten und spannungsreichen Tradierungen in der Familie scheint er mehr »mitbekommen« zu haben, als er selbst möchte. Er hat klar eine Haltung der Abwehr entwickelt: Die meisten Menschen brauchen Antworten auf Fragen, die er sich aus Trotz oder Verletzung nicht stellt. Kommentar: Der Vergleich der Geschwister zeigt verschiedene Stile: Auf der einen Seite die Tochter, die das Stimmungsbild aufnimmt und in Angstträumen verarbeitet, und auf der anderen Seite der eher abwehrende Sohn, der sich rundum verschanzt. Insgesamt ist die Familiengeschichte in vielen Aspekten von der Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges geprägt. Sie verdichten sich in der Angst, aus der »schützenden Burg vertrieben« zu werden. Was lässt sich nun zusammenfassend sagen? Am transkribierten Interviewtext unten dem Aspekt »Folgen« zusammengetragene und einander gegenübergestellte Textpassagen geben einen ersten Einblick in die Vorgänge der Weitergabe der »Feuersturm«-Erfahrung. Sie zeigen zum einen, wie sehr diese Vorgänge in die allgemeine Beziehungsdynamik eingebunden sind, lassen zum anderen aber auch einige spezifische Vorgänge erkennen. Sie lassen sich zwanglos zu verschiedenen Gruppierungen ordnen, wie Tabelle 3 zeigt.

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Tabelle 3: Übersicht über transgenerationale Prozesse zwischen der ersten und zweiten Generation anhand einer Interpretation von ausgewählten und einander gegenübergestellten Textpassagen Absperrungen

–– das Unsagbare nicht sagen können und wollen –– etwas in sich begraben –– Tradierungen von geschönten Geschichten und Idealisierungen –– Verwicklungen in den Nationalsozialismus in der eigenen Familie verleugnen –– resignative Rundumverschanzung –– Die Annahme von Aufträgen oder »Lehren« verweigern

Direkte Übertragung von Affekten und Szenen von der ersten auf die zweite Generation

–– Angst –– Reinszenierungen –– Stimmungsbilder –– Übergabe von »Reliquien« –– »Lückenschluss« durch Phantasie

Bewusste und akzeptierende Mitverarbeitung der Kriegsbelastung durch die zweite Generation

–– gemeinsame Geschichtsarbeit –– bewusste Annahme der Transgenerationalität

Funktionalisierung der zweiten Generation bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrung

–– Ersetzung der verlorenen Menschen –– Container-Funktion

Missverständnisse zwischen den Generationen

–– Fürsorglichkeits-Freiheits-Kollusion –– Fürsorglichkeits-Vorwurf der EmpathiemangelKollusion –– Mitleid-Empathie-Missverständnis –– Missverständnis: Erziehung zur Selbstständigkeit – Mangel an Geborgenheit

Konkordante Regulationen bei beiden Generationen

–– Vermeidung von Schädigung –– gereinigte Weitergabe

Vermächtnisse

–– Verzicht in der ersten Generation für den Aufstieg der zweiten –– Dankbarkeit und Bescheidenheit –– andere Beziehungsgestaltung als vom Zeit­zeugen erlebt –– latente Vermächtnisse (Abwehr des Bösen, Abwehr von Schuld)

Verfehlte Annäherungen

–– wortlose Identifikation ohne wirkliche ­»Berührung«

Transmission von Haltungen und Lebensthemen

–– Aggression (»Explosivität«) –– wiederholende Familienbeziehungen –– zum Beispiel Scheitern in der Partnerschaft –– Vermeidung eigener Generativität in der zweiten Generation –– Vorgabe von Lebensthemen –– Übernahme von zeittypischen Einstellungen und Haltungen

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Die zweite Generation

Fazit Der systematische Vergleich der Textpassagen kann in jeder der untersuchten Zeitzeugen-Kind-Beziehungen die Modalitäten der Weitergabe des »Feuersturm«-Erlebens beschreiben. Dabei kann eine große Anzahl verschiedener Vorgänge erarbeitet werden, auch wenn das methodische Vorgehen Grenzen hat. Besonders wichtig erscheinen die Missverständnisse zwischen den Generationen und die kollusiven Verschränkungen dabei. Eine Generation, die ihren Kindern gegenüber fürsorglich auf die Kontrolle der äußeren Lebensumstände hingearbeitet hat, kann sich in die emotionalen Bedürfnisse der Kinder nicht wirklich einfühlen. Die Kinder wiederum erleben ihre Eltern als egozentrisch und nicht wirklich beziehungsfähig.

Literatur Foulkes, S. H. (1978). Praxis der gruppenanalytischen Psychotherapie. München: Ernst Reinhardt. Kohut, T. A. (2012). A German generation. An experimental history of the twentieth century. New Haven: Yale University Press. Leithäuser, T., Volmerg, B. (1988). Psychoanalyse in der Sozialforschung. Eine Einführung am Beispiel einer Sozialpsychologie der Arbeit. Opladen: Westdeutscher Verlag. Mester, D. (2010). Die Kernsatzmethode, ein Verfahren der qualitativen Sozialforschung zur Auswertung lebensgeschichtlicher Interviews. Vorgestellt an dem Fallbeispiel einer Zeitzeugenfamilie des Hamburger Feuersturms (1943). Bachelorarbeit. Universität Bremen, Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften. Peter, M. (2011). Transgenerationale Weitergabe von Kriegserfahrungen? Eine qualitativ-empirische Untersuchung am Beispiel des Hamburger Feuersturms. Bachelorarbeit. Universität Bremen, Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften.

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Die dritte Generation und die Familien

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Silke Wiegand-Grefe/Birgit Möller

Kriegskindheit im »Hamburger Feuersturm« und ihre Folgen Eine theoretische Einführung in die Perspektive der Enkel und Familien

Begriff der Generation In Soziologie, Pädagogik, Psychologie und Psychoanalyse rückt die Erforschung von über die Generationen weitergegebenen, ungelösten Konflikten und Traumatisierungen, vor allem in der Erforschung der psychosozialen Langzeitfolgen des Nationalsozialismus, zunehmend ins Blickfeld (Timmermann, 2011). Dabei werden in der Literatur üblicherweise zwei Bedeutungen des Begriffs »Generation« unterschieden: zum einen die Generation in der Familie und zum anderen die Generation in der Gesellschaft: »Auf der Ebene der Familie bedeutet Generation eine bestimmte Position in der Abfolge von Eltern und Kindern. Auf der Ebene der Gesellschaft bedeutet Generation eine Einheit, die auf einer Geburtskohorte aufruht, nämlich auf der Menge von Personen, die im gleichen Zeitraum geboren sind. Sie bewegen sich im Gleichschritt durch den Lebenslauf und erfahren die einzelnen historischen Ereignisse im gleichen Alter« (Kohli, 2009, S. 230). Der familiale Generationenbegriff bezieht sich auf die Abstammung und trennt die Generationen im ursprünglichen Sinne der Erzeugung. Der gesellschaftliche Generationenbegriff zielt auf Gemeinsamkeiten aufgrund gleicher oder benachbarter Geburtsjahrgänge im Sinne von generationstypischen historischen Erfahrungen, von gemeinsamen Werte- oder Lebensstilen (Szydlik u. Künemund, 2009). Das Generationskonzept wird auf beiden Ebenen als »ein Schlüssel zur Analyse der Bewegung durch die Zeit« bezeichnet (Kohli, 2009, S. 230). Beide Ebenen stehen in Wechselwirkung zueinander: Gesellschaftliche Prozesse bilden sich in Familien ab und umgekehrt.

Die Mehrgenerationenperspektive in der Arbeit mit Familien Die Perspektive der transgenerationalen Folgen eröffnet sich aus der Sicht der Familientherapeuten, die in den 1960er Jahren begonnen haben, unter einer Mehrgenerationenperspektive zu arbeiten. In Deutschland war es vor allem die Göttinger Arbeitsgruppe für Familientherapie um Eckhard Sperling, die sich seit Ende der 1960er Jahre der Erforschung und Therapie intergenerationaler Dynamik bei psychischen Störungsbildern widmete (Sperling, 1979; Massing, Reich u. Sperling, 1992). Impulse dazu entstammten den Arbeiten über »Unsichtbare Bindungen« von Boszormenyi-Nagy und Spark (1973/2001), die sich mit der generationsübergreifenden Dynamik von Loyali-

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Die dritte Generation und die Familien

tät, Verdienst und Vermächtnis beschäftigten. Auch Horst-Eberhard Richters wegweisende Arbeiten über den »Patient Familie« (1970) oder das Konzept der Delegation von Helm Stierlin gingen in diese Entwicklungen ein. All diese Konzepte verweisen auf ungelöste Konflikte in der Eltern-Großeltern-Generation, die in der Kindergeneration ihren Ausdruck finden. In der Mehrgenerationenperspektive der Familientherapie wird davon ausgegangen, dass sich Störungen und Konflikte der jeweiligen Kindergeneration aus unbewussten Konflikten zwischen Eltern und Großeltern beziehungsweise den Partnern und ihren Eltern ergeben und »dass sich in Familien über die Generationen im Wesentlichen immer wieder dieselben Konflikte abspielen, dass also ein intrafamiliärer Wiederholungszwang besteht« (Massing, Reich u Sperling, 1992, S. 21). Dieser innerfamiliäre Wiederholungszwang entsteht durch intrafamiliäre Übertragungsprozesse, zum Beispiel unbewusste Identifizierungen, durch die Delegationen, Aufträge und Vermächtnisse über Generationen hinweg wirksam werden. Die Begründer der Mehrgenerationenperspektive erkannten die spezielle Bedeutung der Großelterngeneration für das Schicksal der Enkel durch deren direkte Einflussnahme und auch indirekt durch Übermittlung von bestimmten, affektiv verankerten Wertvorstellungen. In sehr vereinfachter Form ausgedrückt »geht es dabei darum, dass Eltern ihren Kindern Konflikte vermitteln, die sie in ihrer Geschichte mit ihren eigenen Eltern erlebt und nicht verarbeitet haben« (S. 14). Zu Störungen kommt es, »wenn Eltern aufgrund unverarbeiteter eigener Konflikte oder Traumatisierungen nicht mehr in der Lage sind, sich mit ihren lebensgeschichtlichen Erfahrungen, Erlebnissen und Phantasien auseinanderzusetzen, sondern diese, zum Beispiel durch Verdrängung, abwehren müssen. Auf diese Weise können die Kinder und Enkel zum psychischen Container (Bion, 1962) werden für unverarbeitetes Leid ihrer Eltern und Großeltern, für Schuld und Verantwortung, die diese auf Grund von Überforderung nicht verarbeiten konnten« (Timmermann, 2011, S. 23). In diesen Arbeiten zur Mehrgenerationenperspektive standen gemäß familientherapeutischer Tradition das Verständnis und die Behandlung seelischer Störungen und Konflikte unter Einbeziehung der Familie im Vordergrund. Psychoanalytische Familientherapeuten beschäftigen sich aber auch mit den Auswirkungen nationalsozialistischer Vergangenheit und nationalsozialistischen Gedankengutes auf die Familien (Buchholz, 1989; Massing, 2008). So thematisiert Massing (2008) im therapeutischen Prozess die Gefahr von gemeinsamen Abwehrprozessen bei Patienten und Therapeuten, da auch die Therapeuten aus der sogenannten Kriegskindergeneration infolge von eigenen Traumatisierungen möglicherweise ähnlichen Abwehrprozessen unterworfen sind wie ihre Patienten.

Psychoanalytische Konzepte der Weitergabe eines Traumas in Familien Die Forschungen zur transgenerationalen Weitergabe traumatischer Erfahrungen haben in den Forschungen zu den psychischen Folgen des Holocaust die längste Tradition. So sprechen Holocaust-Forscher von einem »Pakt des Schweigens« zwischen ehema-

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ligen KZ-Häftlingen und ihrer späteren Umgebung. Untersuchungen zur transgenerationalen Auswirkung des Holocaust stimmen darin überein, dass dieser »Pakt des Schweigens« zu weiteren unbewussten Reinszenierungen des Traumas führe (Fischer u. Riedesser, 1998, S. 236). Dan Bar On (2003), der als einer der Ersten Überlebende und Täter des Holocaust untersucht hat und dessen wegweisende Forschungen weitreichende Impulse für Gruppenaustausch und für Versöhnungsgespräche zur Folge hatten, führte Gespräche mit Kindern von Nazitätern. Er beschreibt, wie der Holocaust die Menschen in Kategorien einteile: in Opfer und Überlebende, Täter, Retter, Mitläufer, Zuschauer und Nichtbetroffene. Das Konzept der Transposition von Kestenberg (1990, 1993) bezeichnet einen Vorgang, durch den sich die Kinder von Holocaust-Überlebenden durch das Schweigen der Eltern hindurch in die traumatische, jedoch nie besprochene Erlebniswelt der Eltern einfühlen. Dabei übernehmen sie verschiedene Rollen und Affekte der bedrohlichen Gesamtsituation. Im Konzept der Konkretisierung beschreibt Bergmann (1982), wie die Kinder durch das Schweigen der Eltern hindurch die bedrohliche Vergangenheit spüren und sich bemühen, diese Gesamtstimmung zu konkretisieren, sich ein konkretes Bild von den ungreifbaren, bedrohlichen Phantasien zu machen, die die Eltern übermitteln. Die israelische Psychoanalytikerin Ilany Kogan (1995) betont in ihren Arbeiten die Aktivität der Eltern, ihre Kinder in Rollen und Konstellationen der eigenen unverarbeiteten Vergangenheit hineinzudrängen, was traumatische Folgen für die Kinder habe. Psychoanalytiker haben die Bedeutung transgenerationaler Traumaübermittlung auch im Zusammenhang mit anderen Kriegserfahrungen des Zweiten Weltkrieges wie Flucht und Vertreibung und anderen politischen Gewalterfahrungen betont (Bohleber, 2008; Volkan, 2000; Radebold, 2004). Die Übermittlung von transgenerationalen Traumatisierungen bei Kindern von Flüchtlingen sieht von der Stein (2004, S. 150) als das Ergebnis meist unbewusst bleibender psychischer Prozesse. Internalisierte Objektbilder und dazugehörige Affekte der Eltern werden von ihnen an die Kinder weitergegeben, wobei meist unbewusst Aufgaben wie Trauerarbeit, Wiedergutmachung erlittener Verletzungen und Kränkungen, Wiederbeschaffung von Verlorenem und Ungeschehenmachen von Hilflosigkeit delegiert werden. Die Kernidentität der Kinder wird überflutet und beeinflusst vom verletzten Selbst und internalisierten Objektbildern nebst dazugehörigen Affekten, die zu den ursprünglich Traumatisierten, den Eltern und Großeltern gehören. Nach Volkan (2000) findet die Übermittlung eines traumatischen Ereignisses statt, indem elterliche Selbst- und Objektbilder in den Kindern deponiert werden und dadurch Repräsentationen von der Person einer Generation an die nächste Generation weitergegeben werden. Kinder sind emotional eng mit ihren Eltern verbunden und tragen einen Teil der Last, wenn Eltern und Großeltern traumatisiert sind. Selbst bei Eltern, die massive Traumata durch psychische Abwehrmechanismen wie Verleugnung und Derealisierung abwehren, »erfassen die Kinder unbewusst das Erlittene, bearbeiten Anzeichen mit ihrer Fantasie und agieren diese Fantasien in der äußeren Welt aus. Diese Kinder leben in zwei Wirklichkeiten, der eigenen und der, die der traumatischen Geschichte

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Die dritte Generation und die Familien

der Eltern angehört« (Bohleber, 2008, S. 111). Aus psychoanalytischer Perspektive findet der Transfer von Eltern zu Kindern vor allem über unbewusste Identifizierungsprozesse statt. Identifizierung wird als einer der zentralen Mechanismen verstanden, der die Generationen miteinander verknüpft. (Bohleber, 2008). Timmermann (2011) geht davon aus, dass sich Kinder nicht mit dem gesamten Erleben der Eltern und ihren Rollen und Funktionen identifizieren, sondern Kinder und Eltern an einem zirkulären Prozess beteiligt sind, in dem beide dazu beitragen, dass sich bestimmte Identifizierungen entwickeln. Eine Erweiterung des Konzepts der Identifikation, das in Bezug auf psychoanalytische Theorien und Behandlungskonzepte schwerer seelischer Störungen diskutiert wird, ist der Begriff der projektiven Identifizierung. Bohleber bezieht diese Identifizierungskonzepte auch auf transgenerative Prozesse bei der Bewältigung der Folgen von kollektiven Katastrophen (Bohleber, 2008). Er unterscheidet vier Identifizierungsprozesse: Erstens findet die Identifizierung nicht nur mit der Person, sondern auch mit deren Lebensgeschichte statt. Zweitens sind es umfassende Identifizierungen, die nicht nur das Kind vornimmt, sondern auch von Seiten der Eltern aufgezwungen werden, weil die Eltern das Kind zur Regulierung ihres narzisstischen Gleichgewichts benötigen (vgl. auch Kogan, 1993). Drittens handelt es sich um unbewusste Identifizierungen, die jedoch nicht einer Verdrängungsleistung entstammen, sondern durch direkte Einfühlung in die unbewussten, verschwiegenen oder totgesagten Inhalte eines elterlichen Objekts entstanden sind. Viertens geht es um narzisstische Identifizierungen, die auch durch Nichtanerkennung der Generationsgrenzen gekennzeichnet sind, so dass die Kinder in zwei Wirklichkeiten leben und sich Vergangenheit und Gegenwart vermischen (Bohleber, 2008). Als psychodynamische Mechanismen der Weitergabe in Familien werden in der Literatur zum Beispiel beschrieben: vielfältige Identifikationsprozesse, Identifikation mit dem Aggressor, pathogene Identifizierungen (vgl. Bohleber, 2008); transgenerationale Weitergabe (zum Beispiel Schuld- und Schamgefühle, »Lebensschuld«) durch projektive Identifikation; Opferidentität und Gegenidentifizierung; Weitergabe internalisierter Objektrepräsentanzen mit Delegation von Wiedergutmachung und Ungeschehenmachen erlittener Kränkungen (von der Stein, 2004); Absperrung, Isolierung, Verleugnung, Verdrängung als Abwehrmechanismen und latente Weitergabe mit Wiederkehr des Verdrängten in den Folgegenerationen; Relativierung der traumatischen Erfahrung mit konsekutiver Entwirklichung; Tabus werden zu Introjekten; narzisstische Dysregulation; Spaltungen, »pathologische Normalität« (Radebold, 2004).

Empirische Studien zur transgenerationalen Weitergabe eines Traumas in Familien Im letzten Jahrzehnt wurden die mehrgenerationalen Folgen der Kriegserlebnisse und des Holocaust über mehrere Generationen in Familien zunehmend in empirischen Studien (qualitativ und quantitativ) untersucht. So beschäftigen sich Wiseman, Metzl und Barber (2006) in einer qualitativen Studie mit Fragen der transgeneratio-

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nalen Kommunikation von Holocaust-Überlebenden in der zweiten Generation. Die Autoren untersuchen in ihrer narrativen Studie das Verhältnis von Kindern zu ihren Müttern, wobei die Mütter alle Überlebende eines Konzentrationslagers des Zweiten Weltkrieges sind. Von den Kindern der Studie wurde das Gefühl von »Wut« zwar stark mit der Wahrnehmung des Elternteils als »kontrollierend« assoziiert, nicht aber mit der Wahrnehmung des Elternteils als »verletzlich«. Die Wahrnehmung des Elternteils als »verletzlich« wurde hingegen mit dem Gefühl von »Schuld« assoziiert. Außerdem war das Gefühl von »Schuld« damit assoziiert, Konflikte mit den Eltern zu vermeiden. Der Wunsch, »geliebt« und »verstanden« zu werden, und der Wunsch nach »Selbstbestätigung« waren in den Berichten die häufigsten Wünsche. Aus soziologisch-historischer Perspektive haben sich beispielsweise Welzer und Mitarbeiter (Welzer, Moller u. Tschuggnall, 2002) in Interviews mit Kindern von Nazitätern mit dem Holocaust im Familiengedächtnis beschäftigt und fünf themenspezifisch unterschiedliche, wiederkehrende Muster gemeinsamen Sprechens, fünf »Tradierungstypen«, herausgearbeitet: 1) Opferschaft, 2) Rechtfertigung, 3) Distanzierung, 4) Faszination und 5) Überwältigung. Rashkin (2012) stellt in einer neueren Arbeit anhand eines Fallbeispiels verschiedene psychoanalytische Perspektiven bei der Betrachtung eines transgenerationalen Traumas einander gegenüber. In einer aktuellen Arbeit arbeitet auch Gerlach (2012) aus einer psychoanalytischen Perspektive heraus, welche transgenerationalen Folgen und psychischen Konsequenzen der Holocaust als kollektives Trauma für die nachfolgenden Generationen hat, die im Behandlungsprozess verstanden werden müssen. Transgenerationaler Weitergabe von Traumata als politische Gewalterfahrungen am Beispiel von Südamerika widmet sich eine psychoanalytische Arbeit von Viñar (2012). In dieser Interviewstudie beschäftigt sich Viñar unter dem Titel »Transgenerational inscription and trauma« mit den Folgen politischer Gewalt in Südamerika. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden in Südamerika viele Menschen Opfer politischer Gewalt. Sie wurden gefangen genommen, gefoltert und exekutiert. Dies hat Folgen, die sich in die Opfer und ihre Familien eingebrannt haben. Viñar interviewte vier Kinder, deren Eltern in politischer Gefangenschaft waren. Die Studie schildert die berichteten Einzelfälle, ohne jedoch Schlussfolgerungen abzuleiten. Auch quantitative empirische Studien mit Kontrollgruppen- oder Vergleichsgruppen-Design werden in den letzten zehn Jahren vorgelegt. So untersuchen Van Ijzendoorn, Bakermans-Kranenburg und Sagi-Schwartz (2003) in ihrer Metaanalyse die Hypothese, ob es eine »sekundäre Traumatisierung« in den Familien von HolocaustÜberlebenden gebe. Die Autoren finden einen signifikanten Unterschied im Wohlbefinden (»Well-Being«) zwischen der zweiten Generation von Holocaust-Überlebenden und den Vergleichsgruppen. Wenn man die Studien jedoch in zweckmäßige und nichtselektive Studien unterteilt, fällt auf, dass in den nichtselektiven Studien kein Einfluss der elterlichen Traumatisierung durch die Holocaust-Erfahrungen gefunden werden konnte. »Sekundäre Traumatisierung« tauchte nur in den zweckmäßigen (meist klinischen) Studien auf, in denen die Probanden aus anderen Gründen gestresst waren.

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Die dritte Generation und die Familien

Mit dem transgenerationalen Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) in der Nachkommenschaft von Holocaust-Überlebenden setzen sich Yehuda, Bell, Bierer und Schmeidler (2008) auseinander. Yehuda et al. (2008) untersuchen die Unterschiede zwischen erwachsenen Kindern von Holocaust-Überlebenden und einer vergleichbaren jüdischen Kontrollgruppe. Die Ergebnisse zeigen, dass Nachkommen Holocaust-Überlebender (mit PTBS) im Vergleich zu einer Kontrollgruppe eine höhere Lebenszeitprävalenz von affektiven Störungen, Angststörungen und (mit geringerer Ausprägung) Substanzmissbrauch haben. Die Kinder Holocaust-Überlebender leiden insgesamt häufiger an einer psychischen Erkrankung. Die elterliche Erkrankung an PTBS hat einen Effekt darauf, ob der Nachkomme eine PTBS entwickelt, wobei eine väterliche PTBS nur einen Effekt aufweist, wenn die Mutter auch unter PTBS leidet. Der Effekt von mütterlicher PTBS auf die Nachkommen ist größer, wenn der Vater auch unter PTBS leidet, aber auch präsent, wenn nur die Mutter eine PTBS-Diagnose hat. Eine Studie von Shmotkin, Blumstein und Modan (2003) befasst sich mit den Langzeiteffekten von extremen Traumata Holocaust-Überlebenden in einer älteren Stichprobe (75 bis 94 Jahre) der israelisch jüdischen Population. Die Überlebenden werden verglichen mit Europäern, die vor oder nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierten. Die Teilnehmer der letzteren Gruppe haben mit dem Holocaust verbundene Lebensgeschichten, bezeichnen sich selbst jedoch nicht als Überlebende. Unter der Kontrolle soziodemographischer Daten zeigt die Studie, dass es den Überlebenden im Vergleich zu denen, die vor dem Krieg emigrierten, im Bereich der körperlichen Gesundheit und in bestimmten psychosozialen Domänen schlechter ergangen ist. In dieser Studie gibt es kaum Unterschiede zwischen den Holocaust-Überlebenden der israelisch-jüdischen Population und denen, die nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierten. Auch Scharf (2007) und Kollegen untersuchten die Langzeiteffekte von kriegsbezogenen Traumata auf die zweite und dritte Generation Holocaust-Überlebender. Dabei erforschten sie Unterschiede in der psychischen und psychosozialen Funktionalität zwischen den Enkeln Holocaust-Überlebender und einer Kontrollgruppe. Mütterlicher Holocaust-Hintergrund war mit einem erhöhten Level psychologischem Stress und weniger positiver Repräsentation der Erziehung assoziiert. Enkel, deren beide Großeltern Holocaust-Überlebende waren, nahmen ihre Mütter in dieser Studie als weniger akzeptierend und weniger zur Unabhängigkeit ermutigend wahr. Außerdem berichteten sie weniger positive Selbstwahrnehmung als die Kontrollgruppe. Zudem nahmen sie ihren Vater als weniger akzeptierend und weniger zur Unabhängigkeit ermutigend wahr und zeigten ein höheres Level ambivalenter Bindung. Beim militärischen Grundtraining passten sie sich in der Fremdeinschätzung durch Freunde weniger an als die Probanden, von denen nur ein Elternteil das Kind eines Holocaust-Überlebenden war. Kinder und Enkel mit nur einem Eltern- beziehungsweise Großelternteil als Holocaust-Überlebender funktionierten ähnlich wie diejenigen ohne Holocaust-Hintergrund. Insgesamt war die psychosoziale Funktionalität sowohl in zweiter als auch in dritter Generation niedriger als in der Kontrollgruppe. Eine aktuelle empirische Studie, die transgenerationale Transmissionen an 150

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Enkeln der Holocaust-Generation untersucht, hat Perlstein (2011) vorgelegt. Die Enkel wurden nach dem Status der Holocaust-Erfahrungen ihrer Großeltern in drei etwa gleich große Gruppen eingeteilt: eine ultra-orthodoxe Gruppe mit zwei oder mehr Holocaust-Erfahrungen, eine ultra-orthodoxe Gruppe ohne Holocaust-Erfahrungen und eine nicht jüdische Gruppe ohne Holocaust-Erfahrungen. Die Gruppen wurden mit verschiedenen Tests zur Erfassung von sekundären Traumata, Lebensereignissen, einem Angstinventar und einem modifizierten STROOP-Vorgehen untersucht und mit verschiedenen auf den Holocaust bezogenen Stimuli konfrontiert. Der StroopInterferenz-Test ist ein Verfahren zur Messung der individuellen Interferenzneigung bei der Farb-Wort-Interferenz mittels Farbvorlagen und Farb-Wort-Vorlagen. In den Ergebnissen zeigte die ultra orthodoxe Gruppe, unabhängig vom Status der großelterlichen Holocaust-Erfahrungen, eine erhöhte Rate auf den Holocaust bezogener, sekundärer traumaspezifischer Charakteristika, während die nichtjüdische Gruppe dies nicht zeigte. Die Ergebnisse werden von der Autorin Perella Perlstein dahingehend interpretiert, dass der Transfer des Holocaust-Traumas nicht generell als Erfahrung der Holocaust-Generation erzeugt wird, sondern insbesondere als Erfahrung der ultra orthodoxen Gemeinschaft. Weitere aktuelle empirische Ergebnisse aus einer großen epidemiologischen Studie (SHARE – Survey of Health, Aging and Retirement in Europe), in der eine Interviewstudie und Fragebögen kombiniert wurden, haben Shrira, Palgi, Ben-Ezra und Shmotkin (2011) für eine israelische Stichprobe vorgelegt. Im Ergebnis dieser Studie zeigen die Nachkommen der Holocaust-Überlebenden (OHS, N = 215), insbesondere mit zwei Elternteilen, zwar ein stärkeres Gefühl von Wohlbefinden, aber mehr körperliche gesundheitliche Probleme im Vergleich zu einer Kontrollgruppe (N = 146). Zusammenfassend gehen psychoanalytische Konzepte davon aus, dass psychische Folgen von Traumatisierungen nicht nur die Betroffenen selbst beeinträchtigen, sondern über unbewusste Identifizierungen an die nächste Generation weitergegeben werden. Diese Weitergabe beziehungsweise Rezeption geschieht über zahlreiche, komplexe psychische Mechanismen, die in der Literatur überwiegend anhand von Fallgeschichten und qualitativen (Einzel-)Fallstudien beschrieben werden. In den letzten Jahren wurden diese Prozesse auch an systematisch erhobenen Stichproben über mehrere Generationen untersucht (vgl. auch Wiegand-Grefe, 2010; Wiegand-Grefe u. Möller, 2012, 2013). Unser Forschungsprojekt stellt insofern ein besonders komplexes Vorhaben dar, weil es im interdisziplinären Prozess systematische Studien über drei interviewte Generationen einschließlich der Familienperspektive ermöglicht.

Fragestellungen unseres Forschungsprojektes aus der Perspektive der Enkel und Familien Aus der Enkel- und Familienperspektive beschäftigen uns folgende Fragen: –– Wie ist die individuelle Verarbeitungsweise/der individuelle Umgang mit diesen Kriegserlebnissen in der Generation der Enkel (dritte Generation)?

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Die dritte Generation und die Familien

–– Lassen sich bestimmte Muster dieser Verarbeitungsweise bei den Enkeln aufzeigen, »Typen« der Verarbeitung bei den Enkeln klassifizieren? –– Wie ist die familiäre Verarbeitungsweise/der familiäre Umgang mit diesen Kriegserlebnissen in den Familien? –– Lassen sich bestimmte Muster dieser familiären Verarbeitungsweise aufzeigen, »Typen« familiärer Verarbeitung klassifizieren?

Methodik der Enkel- und Familienauswertungen: Datenerhebung und Stichprobe Die Datenerhebung erfolgt auch aus der Perspektive der Enkel und Familien in einer Kombination aus qualitativen und quantitativen Erhebungs- und Auswertungsmessmethoden. Die Stichprobengewinnung zur Befragung der Zeitzeugen und ihrer Familien wird in den Beiträgen zur Zeitzeugengeneration in diesem Band beschrieben und daher in diesem Beitrag nicht wiederholt, um Redundanzen zu vermeiden. In der qualitativen Untersuchung wurden mittels eines Interviewleitfadens neben den Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« und ihren Kindern auch alle erreichbaren Enkel interviewt. Die Interviews wurden in der Regel von denselben Interviewern durchgeführt, die auch zuvor schon die Zeitzeugen und ihre Kinder interviewt hatten. Enkel sollten ab zehn Jahren interviewt werden, für diese jüngeren Kinder wurden von der Projektgruppe Schwarz-Weiß-Fotos als Gesprächsmaterial zum Einstieg ausgewählt. Die ausführlichere Beschreibung der Enkelstichprobe erfolgt im Beitrag von Hofer und Wiegand-Grefe in diesem Band. Insgesamt liegen 16 Interviews mit Enkeln vor. Sieben Familien erklärten sich zum Familiengespräch bereit,1 das auf Video aufgezeichnet und transkribiert wurde. Die Familiengespräche wurden von jeweils zwei Projektmitarbeitern durchgeführt. Die Transkription bildet die Grundlage für eine »Nacherzählend gedeutete« Familiengeschichte, die dann mit der modifizierten Methode der »Verstehenden Typenbildung« ausgewertet wird. Auch für die Kinder- und Enkelgeneration wurden ergänzend quantitative Methoden (Fragebögen) angewandt (vgl. den Beitrag von Lydia Morgenstern et al. in diesem Band).

Die qualitative Auswertungsmethode der Enkel und Familieninterviews Als Grundlage für die qualitative Methodik wurde auch für die Auswertung der Enkelinterviews und Familiengespräche die Methode der »Verstehenden Typenbildung« ausgewählt, bei der es sich um eine Untersuchungsmethode aus der qualitativen Sozialforschung zur Auswertung biographischer Daten handelt. Die Ausarbeitung dieser Methode durch Gerhardt (1995) geht auf die Idealtypenbildung von Max Weber 1

An dieser Stelle sei vor allem allen Familien, die sich auch für ein Familieninterview bereit erklärten, sehr herzlich gedankt!

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(1904/1988) zurück. Sie basiert auf Verstehensprozessen und hat zum Ziel, anhand von Einzelfallstudien und abhängig von der jeweiligen Fragestellung prägnante Einzelfälle, sogenannte optimale Grenzfälle, herauszuarbeiten. Der Vergleich der Einzelfälle dient dabei der Kontrastierung, welche es ermöglicht, Beschreibungsmerkmale für eine Stichprobe beziehungsweise eine Fragestellung zu benennen (Stuhr, 1995). Diese optimalen oder auch reinen Grenzfälle beschreiben am besten einen bestimmten fragestellungsspezifischen Merkmalskomplex. Es handelt sich hier um Prototypen, die sich durch die gesamten Beschreibungsmerkmale definieren und letztendlich die Grundlage zur Konstruktion des Idealtypus bilden. Die ursprüngliche Methode der »Verstehenden Typenbildung« sieht dabei vor, den Prototypen so zu abstrahieren, dass ein Konstrukt entsteht, welches nicht mehr nur einen bestimmten Merkmalskomplex repräsentiert, sondern einen abstrakten Typus ausmacht, der aber gut beschreibbar ist. Diese Methode wurde in der Hamburger Arbeitsgruppe um Friedrich Deneke, Ulrich Lamparter und Ulrich Stuhr im »Hamburger Gesunden-Projekt« modifiziert und weiterentwickelt (Stuhr et al., 2001; Deneke, Stuhr u. Lamparter, 2003; Lamparter et al., 2005, 2009) und aufgrund der Vorerfahrungen mit dieser Methode innerhalb unserer Projektgruppe durch Ulrich Lamparter auch für das »Hamburger Feuersturm«-Projekt ausgewählt und dort modifizierend weiterentwickelt.

Methodisches Vorgehen Die qualitative Auswertungsmethodik der Enkelinterviews und der sieben Familieninterviews wird mit vergleichbaren qualitativen Methoden wie die Auswertung der Interviews der Zeitzeugengeneration vorgenommen. Sie lässt sich in Kürze folgendermaßen beschreiben: Auch die Interviews der Enkel und Familien wurden auf Tonband aufgezeichnet und transkribiert. Der Interviewer schreibt nach dem Interview eine »Nacherzählend gedeutete Verarbeitungsgeschichte« (NageVe), die die subjektive Verarbeitung des Geschehenen aus der Perspektive des Interviewten zusammenfassend und komprimierend verdichtend beschreibt. Zur Veranschaulichung werden Interviewpassagen aus transkribiertem Material beifügt. In einem ersten Auswertungsschritt der Enkel wurden – analog zur Zeitzeugengeneration – alle Interviews der Enkel und Familien gesichtet, für jeden Enkel und für jede Familie eine »Karteikarte« mit den zentralen Informationen erstellt und auf der Grundlage dieser Karteikarten und der »Nacherzählend gedeuteten Verarbeitungsgeschichten« (NageVes) in mehreren Auswertungsschritten eine erste Typenbildung als Diskussionsgrundlage für die Kleingruppe herausgearbeitet. Im nächsten Schritt wurde jedes Enkel- und Familieninterview ausführlich diskutiert. In einem weiteren Schritt im Auswertungsprozess wurden paradigmatische Fälle als »Leuchttürme« benannt. Diese sollen die Beobachtungsvielfalt reduzieren und gleichzeitig alle relevanten Phänomene übergreifender Verarbeitungsmuster repräsentieren; sie wirken als »Leuchttürme«, welche alle relevanten Phänomene der Stichprobe »ausleuchten«, eines oder viele relevante Muster repräsentieren (vgl. Lamparter et al., 2010a, 2010b).

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Die dritte Generation und die Familien

Anschließend wurden die paradigmatischen Fälle im Hinblick auf unsere Leitfragen analog der Zeitzeugengeneration untersucht (vgl. den Beitrag von Lamparter, Buder, Sydow, Nickel und Wiegand-Grefe in diesem Band). Dieser Beitrag bildet den theoretischen Bezugsrahmen für die Arbeiten zur Enkelund Familienperspektive. Einige der Ergebnisse zur qualitativen Auswertung der Enkelinterviews werden im Beitrag von Hofer und Wiegand-Grefe vorgestellt. Die Auswertung der Familieninterviews wird anhand eines Fallbeispiels im Beitrag von Meyer-Madaus und Wiegand-Grefe beschrieben. Einige der Auswertungen der quantitativen Daten (Fragebögen) zur Familienperspektive legt abschließend der Beitrag von Morgenstern et al. vor.

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S. Wiegand-Grefe/B. Möller · Kriegskindheit im »Hamburger Feuersturm«

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Die dritte Generation und die Familien

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Hella Hofer/Silke Wiegand-Grefe

Enkel berichten – qualitative Befunde aus der dritten Generation

Der »Hamburger Feuersturm« steht als Begriff für die Luftangriffe von den Alliierten auf Hamburg vom 24. Juli bis zum 3. August 1943. Die Gesamtzahl der Opfer dieser Angriffe kann nur geschätzt werden. Historiker gehen heute von etwa 35.000 Toten aus. Die Tag- und Nachtangriffe trugen den Codenamen »Operation Gomorrha«, benannt nach der biblischen Stadt Gomorrha, der Stadt der Sünder und Verbrecher, die Gott durch Feuer und Schwefel vernichtete. In der städtischen Öffentlichkeit ist diese Erinnerung an den Sommer 1943 in Form von regelmäßigen Gedenkveranstaltungen und Gedenkstätten wie die Nikolaikirche präsent. Über die langfristigen Auswirkungen dieser Kriegserfahrung im Hinblick auf individuelle und transgenerationale Folgen ist bislang wenig bekannt. Im Forschungsteam wurden die Folgen des Kriegsereignisses bei den Überlebenden des »Hamburger Feuersturms« und die familiäre Weitergabe dieser traumatischen Erfahrung über drei nachfolgende Generationen bis zur Enkelgeneration interdisziplinär erforscht und die vielschichtigen Folgen der Angriffe auf Hamburg und ihre Wechselwirkungen ergründet. Über die langfristigen Auswirkungen dieser Kriegserfahrung, ihre individuellen und transgenerationalen Folgen, ist bislang wenig berichtet worden. Das Forschungsprojekt versucht, eine Typologie der Verarbeitung und der transgenerationalen Weitergabe der traumatischen Kriegserfahrung im »Hamburger Feuersturm« auf empirischer Grundlage zu entwickeln. In diesem Beitrag soll die Typologie der Enkelgeneration näher beschrieben werden. Es wird untersucht, inwiefern sich mittels der Tradierung von Kriegserlebnissen ein Muster der individuellen und familiären Verarbeitung bis in die Enkelgeneration abzeichnet und sich hieraus eine Typenbildung erarbeiten lässt. Das Vorgehen wird abschließend anhand von zwei paradigmatischen Fällen kurz illustriert.

Methode und Durchführung Die Zeitzeugen meldeten sich auf einen Zeitungsartikel im »Hamburger Abendblatt« anlässlich des 60. Jahrestages des »Hamburger Feuersturms« und teilten ihre Erlebnisse in den Bombennächten des Juli 1943 in Briefen, Erlebnisberichten oder Tagebucheinträgen mit. Sie machten deutlich, welche nachhaltige Bedeutung die Erlebnisse des »Hamburger Feuersturms« für sie hatten. Sowohl mit den Zeitzeugen als auch mit den

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Die dritte Generation und die Familien

Kindern und Enkeln wurden lebensgeschichtliche Interviews geführt. Im Rahmen von tiefenhermeneutischen Einzelfallanalysen wurden diese ausgewertet. In der Enkelgeneration wurde als Hauptmotivation, am Forschungsprojekt mitzuwirken, Neugierde und Interesse angegeben. Im Forschungsprojekt werden qualitative und quantitative Auswertungsmethoden kombiniert, die hier vorgestellte Auswertung der Enkelinterviews gehört zum qualitativen Teil des Projektes. Die qualitativen Daten entstammen narrativen Interviews mit achtzig Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« (erste Generation) und mit deren erreichbaren Kindern (zweite Generation N = 43) sowie den Enkeln (dritte Generation N = 16). Die dritte Generation wird von sechs weiblichen und zehn männlichen Enkeln repräsentiert, die alle zwischen 1966 und 1998 geboren sind. Mittels Interviewleitfäden wurden psychoanalytische Einzelinterviews mit der dritten Generation der Zeitzeugen durchgeführt, diese digital aufgezeichnet und schließlich transkribiert. Im Anschluss an das durchgeführte Interview schrieben die Interviewer eine »Nacherzählend gedeutete Verarbeitungsgeschichte«, in der die subjektive Verarbeitung des Geschehenen aus der Perspektive der Enkelgeneration beschrieben wird. Die »Nacherzählend gedeutete Verarbeitungsgeschichte« der Enkelinterviews enthält und gliedert, was in den Interviews ermittelt wurde: die Motivation des Interviewten; den biographischen Hintergrund und die gegenwärtige Lebenssituation; die Zentralund Objektrepräsentanzen, das heißt die Beziehung zu den unmittelbaren Familienmitgliedern, insbesondere zu dem oder der Zeitzeugin, die den »Feuersturm« erlebt hat; welche eigene Vorstellung der Interviewte oder die Interviewte vom Erleben des Zeitzeugen hat und wie diese Bilder entstanden sind, das heißt, wie und in welchen Situationen der Enkel vom Erlebten des Zeitzeugen erfahren hat, welche Themen abgewehrt wurden, wie sich das Verarbeitungsmuster darstellte. In der »Nacherzählend gedeuteten Verarbeitungsgeschichte« werden das im Interview geäußerte Wissen und die Vorstellung des Enkels vom Erleben des Zeitzeugen im Zweiten Weltkrieg allgemein zusammengetragen: Ist es dem Kind möglich, zu reflektieren, wie der Zeitzeuge die Kriegserlebnisse verarbeitet hat? Spielt das öffentliche Gedenken, zum Beispiel über Filme, Dokumentationen oder Mahndenkmäler, eine Rolle für den Enkel und inwieweit tragen diese zur Entstehung der Bilder des Enkels vom »Hamburger Feuersturm« bei? Sieht der Enkel langfristige Folgen bei den Zeitzeugen und welche Auswirkungen schreibt er den Erlebnissen des Zeitzeugen seinem eigenen Leben zu? Das heißt, glaubt der Befragte, irgendwie von den Kriegserlebnissen der Großeltern in seiner seelischen Entwicklung beeinflusst worden zu sein? Besteht eine grundsätzliche Angst vor Krieg und könnte diese im Zusammenhang mit dem »Hamburger Feuersturm« stehen? Wie erfolgte die individuelle Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, hat der Enkel eine Annahme oder ein Wissen vom Nationalsozialismus und den zeithistorischen Zusammenhängen? Wie geht der Enkel mit diesem Wissen um und wie sehr ist er davon emotional berührt? Wurde der Enkel in seiner politischen Einstellung von den Kriegserfahrungen des Zeitzeugen geprägt und wie ist dessen eigene Einstellung zu kriegerischen Handlungen? Wie wurde innerhalb der Familie mit den Kriegserfahrungen des Zeitzeugen umgegangen, gab es

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H. Hofer/S. Wiegand-Grefe · Enkel berichten

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eine Erzähltradition? Ist es dem Kind möglich, über die innerfamiliären Beziehungen nachzudenken oder auch über die Weitergabe der »Feuersturm«-Erfahrungen? Was glaubt der Enkel, welche Ressourcen der Zeitzeuge besitzt, mit den Erfahrungen im »Hamburger Feuersturm« umzugehen oder diese zu verarbeiten? Außerdem wird in der »Nacherzählend gedeuteten Verarbeitungsgeschichte« die Charakteristik und die affektive Wirkung des Interviews auf den Interviewer beschrieben und wie sich das Beziehungsgeschehen im Interview darstellt. Das transkribierte und digital aufgezeichnete Material sowie die »Nacherzählend gedeutete Verarbeitungsgeschichte« dienen als Grundlage für die qualitative Auswertungsmethode der Enkelgeneration, welche auf der »Verstehenden Typenbildung« (Gerhardt, 1995) basiert, die für dieses Projekt modifiziert wurde (Lamparter et al., 2010). Bei der »Verstehenden Typenbildung« handelt es sich um eine Untersuchungsmethode aus der qualitativen Sozialforschung, die der Auswertung biographischer Daten dient. Die Methode der »Verstehenden Typenbildung«, auch »Verstehende Strukturanalyse« genannt, basiert auf dem idealtypischen Verstehen Max Webers und kann auch als qualitative Clusteranalyse bezeichnet werden. Das Konzept von Uta Gerhardt enthält vier Stufen des analytischen Vorgehens: 1. Fallrekonstruktion und Fallkontrastierung, 2. Bildung von Prototypen, 3. Einzelfallverstehen, 4. Strukturverstehen. Eine Typenbildung ist das Ergebnis eines Gruppierungsprozesses, in dem ein zu analysierender Objektbereich anhand eines oder mehrerer Merkmale in Typen eingeteilt wird. Bei der Typenbildung, um die es in diesem Beitrag geht, bezieht sich der Objektbereich auf die 16 Enkel aus der dritten Generation der Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms«. Ziel der Typenbildung ist einerseits, eine interne Homogenität innerhalb der Gruppierungen zu schaffen, bei denen sich die Elemente eines Typus möglichst ähnlich sind, und andererseits, eine externe Heterogenität zwischen den einzelnen Typologien zu erreichen, bei denen sich starke Unterschiede aufzeigen. Die zugehörige homogene Untergruppe des Typus weist gemeinsame Eigenschaften auf, an denen sie charakterisiert und beschrieben werden kann. Aus den Daten der Stichprobe werden besonders prägnante Fälle herausgearbeitet. Es handelt sich hier um Prototypen, die sich durch die gesamten Beschreibungsmerkmale definieren und letztendlich die Grundlage zur Konstruktion des Idealtypus bilden. Diese Prototypen werden genauer beschrieben, mit den anderen Fällen verglichen und den ihnen ähnlichen Fällen zugeordnet. Dies geschieht im dritten Schritt, dem Einzelfallverstehen. Der Prototyp dient dabei als konkretes Musterstück, »an dem man das Typische aufzeigen und die individuellen Besonderheiten dagegen abgrenzen kann«. Am Ende entsteht durch diese Verstehensprozesse sowie ein genaues Beschreiben und die anschließende Gruppierung eine Struktur der Stichprobe, die als qualitative Clusteranalyse bezeichnet werden kann. Bei der Auswertung der Enkelgene-

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Die dritte Generation und die Familien

ration wurde der vierte Schritt, das Strukturverstehen, vernachlässigt. In anderen Forschungsprojekten wie dem Projekt »Das Selbstkonzept von Gesunden« von Stuhr et al. (2001) kam diese Methode der »Verstehenden Typenbildung« ebenfalls zur Anwendung. Nachdem mit den Enkeln der Zeitzeugen des »Feuersturm«-Projekts Interviews geführt worden waren, wurde zunächst eine Analyse der als Audioaufzeichnung vorliegenden Gespräche vorgenommen. Parallel zum mehrfachen Hören wurden die Transkripte mitgelesen. Das Gesprächsmaterial umfasst insgesamt 16 Gespräche, die jeweils maximal 120 Minuten dauern. Es wurde eine individuelle Karteikarte angefertigt, auf der wesentliche Merkmale der betreffenden Person festgehalten wurden. Mit Hilfe der Karteikarten wurden wesentliche individuelle Einzelkomponenten hinsichtlich der betreffenden Person, besonders im Hinblick auf den Feuersturm, dokumentiert und näher beschrieben. Der Bericht der »Nacherzählend gedeuteten Verarbeitungsgeschichte« diente als Ergänzung der Karteikarte und wurde erst im Anschluss an die Auswertung der Interviews mit einbezogen. Dann erfolgte die Typisierung in den drei Stufen der »Verstehenden Typenbildung«.

Ergebnisse Aus den 16 Enkeln ließen sich vier Gruppierungen erarbeiten: die Gruppe der »Unwissenden«, die Gruppe der »Harmoniebedürftigen«, die Gruppe der »Auseinandersetzungsbereiten« und die Gruppe der »Distanzierten«. Im Folgenden werden diese vier Enkelgruppen zuerst anhand von Kurzdarstellungen (Typenbildung, Bildung von Prototypen) vorgestellt. Im Anschluss daran wird dann aus zwei dieser Gruppen, der Gruppe der »Harmoniebedürftigen« und der Gruppe der »Auseinandersetzungsbereiten«, jeweils ein paradigmatischer Fall (Einzelfallverstehen) ausführlicher dargestellt. Kurzvorstellung der vier Enkelgruppen Die Gruppe der »Unwissenden« Diese Gruppe wird durch die jüngsten zwei Teilnehmer der Studie abgebildet. Diese beiden Enkel sind neun und 13 Jahre alt. Die Unwissenheit bezieht sich auf die Kenntnisse über die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge des »Hamburger Feuersturms« und auf das »Feuersturm«-Erleben des Zeitzeugen. Beide Enkel pflegen eine gute Beziehung zum Zeitzeugen, dieser habe von Kriegserlebnissen berichtet. Beiden ist gemein, dass die Zeitzeugen zum einen häufig in Zusammenhang mit dem Geschichtsunterricht in der Schule vom Krieg berichten, zum anderen eher über indirekte, nicht so persönliche Dinge aus den eigenen Kriegserfahrungen sprechen. Ein Bespiel hierfür ist der Zeitzeuge J. M., der seinem Enkel Ewald anhand von Kriegsschiffen, die im Hafen liegen, oder über Fotografien an der Wand von eigenen Kriegserlebnissen berichtet. Der »Hamburger Feuersturm« ist in den Erzählungen nicht präsent. Die Enkelin Nadja hat im Rahmen ihres Geschichtsunterrichtes mit dem Großvater über den Zweiten Weltkrieg gesprochen. Auf Nachfragen seitens der Enkelin habe der Zeitzeuge berichtet. Dabei bleiben die Erlebnisse des »Hamburger Feuersturms« jedoch oberflächlich. Das

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H. Hofer/S. Wiegand-Grefe · Enkel berichten

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Wissen über den Zweiten Weltkrieg ist insgesamt kaum vorhanden, was sicherlich auch mit dem Alter der beiden jüngsten Enkel erklärt werden kann. Es wird deutlich, dass innerhalb der Familien der beiden wenig innerfamiliäre Kommunikation herrscht. Die Gruppe der »Harmoniebedürftigen« Diese Gruppe setzt sich aus fünf Enkeln unterschiedlichen Alters zusammen. Die Enkel sind zwischen 14 und 19 Jahre alt. In der Gruppe gibt es zwei Geschwisterpaare, die jeweils Cousins und Cousinen sind. Die Gruppe zeigt wenig konkretes zeitgeschichtliches Wissen über den »Hamburger Feuersturm«. Die Erlebnisse der Zeitzeugen im »Feuersturm« sind dieser Gruppe bekannt, diese wurden sachlich und emotional wenig gefärbt berichtet. Dennoch haben alle fünf Enkel eine lebendige Vorstellung vom »Hamburger Feuersturm«. Häufig dienten Fotos als Vorlage für die Erzählungen der Zeitzeugen, aber auch der Anlass des 60. Jahrestages und der daraus resultierende Artikel im »Hamburger Abendblatt« diente als Motiv, den Enkeln über das »Feuersturm«-Erleben zu berichten. Zum Zeitzeugen besteht bei allen Enkeln ein enges, vertrauensvolles und harmonisches Verhältnis. Ebenso eng und harmonisch ist die Bindung an die Primärfamilie und unter den Geschwistern. Die Familie stellt einen Schutzkreis dar. Alle fünf Enkel können ein großes Harmoniebestreben angeben, wirken familiär sehr angepasst und konform und zeigen wenig bis kein Autonomiebestreben innerhalb der Familie. Alle sind wenig damit vertraut, über emotional belastende Themen zu sprechen. Kriegserlebnisse werden als etwas Belastendes und Bedrohliches empfunden. Von den Zeitzeugen wurden eher positive Erlebnisse aus dem Krieg berichtet. Alle zeigten eine große Scheu, den Zeitzeugen mit negativen Erlebnissen zu konfrontieren, auch aus eigener Angst gegenüber den als bedrohlich empfundenen Erlebnissen. Wichtig erscheint den Enkeln, den Zeitzeugen zu schützen und die Erlebnisse im »Feuersturm« nicht zu tiefgehend zu erfragen. Durch Medien, wie das Fernsehen oder Literatur, aber auch angeregt durch die Schule wurde das Wissen über Kriegsgeschehnisse erweitert und die Emotionen wurden spürbarer. Der Gruppe ist gemein, dass sie die NS-Ideologie verabscheut und eine ablehnende Haltung gegenüber Adolf Hitler ausdrückt. Die Enkel können eine anfängliche Begeisterung der Zeitzeugen für Adolf Hitler benennen, rechtfertigen diese jedoch mit Naivität und Unwissenheit. Die eigenen Großeltern werden geschützt, die Beteiligung der Großeltern verleugnet oder verdrängt. Alle Enkel zeigen eine Ablehnung gegenüber kriegerischen Handlungen. Die Bombardierung im »Hamburger Feuersturm« wird von allen Enkeln verurteilt. Alle Enkel vermuten bei den Zeitzeugen eine seelische Belastung durch das »Feuersturm«-Erleben, wagen es jedoch nicht diese näher zu betrachten. Eine Auswirkung des »Feuersturms« auf das eigene Leben vermuten einige. Als Ressourcen der Zeitzeugen, mit den schlimmen Kriegserlebnissen umzugehen, werden die Familie, Freunde und die Ausübung eines Berufes genannt. Die Gruppe der »Auseinandersetzungsbereiten«

Diese Gruppe wird von sechs Enkeln repräsentiert. In dieser Gruppe sind die ältesten Enkel vertreten, sie sind zwischen 18 und 45 Jahre alt. Diese Gruppe besitzt konkretes

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Die dritte Generation und die Familien

Wissen über die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge im »Hamburger Feuersturm«. Die Erlebnisse des Zeitzeugen im »Hamburger Feuersturm« sind den Enkeln bekannt. Teilweise gaben die Enkel an, schon in der Kindheit mit den Erlebnissen konfrontiert worden zu sein. Heldengeschichten spielten eine besondere Rolle. Gemein ist dieser Gruppe ein offenes, kritisches und unbefangenes Hinterfragen der Kriegserlebnisse und der Einstellung der Zeitzeugen zum Naziregime. Viele Enkel dieser Gruppe schildern ein distanziertes Verhältnis zum Zeitzeugen. Es wird innerfamiliär wenig über Gefühle gesprochen. Die Zeitzeugen werden teilweise als wenig kritik- und reflektierfähig beschrieben. Die Enkel setzten sich offener mit dem Nationalsozialismus auseinander. Teilweise findet man in dieser Gruppe Enkel, die Scham und Schuldgefühle für ihre Nationalität empfinden. Vereinzelt sind die Enkel mit der Schuld der Großeltern identifiziert. Abwehrmechanismen wie die Reaktionsbildung wird vereinzelt in dieser Gruppe beobachtet. Die Enkel dieser Gruppe setzen sich kritisch mit den Geschehnissen im Zweiten Weltkrieg auseinander und äußern sich auch kritischer gegenüber ihren Großeltern. Die Gruppe der »Distanzierten« Diese Gruppe wird von drei Enkeln repräsentiert, die zwischen 23 und 29 Jahre alt sind. Allen Enkeln dieser Gruppe ist das »Feuersturm«-Erleben des Zeitzeugen bekannt. Das Erleben und darüber Berichten durch den Zeitzeugen wird von allen als wenig emotional und sehr rational erlebt. Zeitgeschichtlich wissen alle drei in etwa den »Hamburger Feuersturm« einzuordnen. Das Interesse an den Erlebnissen der Zeitzeugen ist als eher gering einzuschätzen. Eine wenig skeptische Haltung gegenüber dem NS-Regime wird bei zwei Enkeln dieser Gruppe deutlich. Alle Enkel dieser Gruppe haben den Wehrdienst verweigert. Lisa und Sabine: Zwei Einzelfälle Paradigmatischer Fall aus der Gruppe der »Harmoniebedürftigen«: Lisa1 Lisa ist zum Zeitpunkt des Interviews 17 Jahre alt und besucht die elfte Klasse des Gymnasiums. Lisa ist der Gruppe der »Harmoniebedürftigen« zugeordnet. Lisa lebt gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder und den Eltern in einem Haushalt. Das Verhältnis zur Zeitzeugin wird als sehr innig und umsorgend beschrieben [10]2. Lisa berichtet, selbst wenig vom »Hamburger Feuersturm« zu wissen, von der Zeitzeugin weiß sie, dass Hamburg durch den »Feuersturm« zerstört wurde [2]. Auch die Wohnung der Großmutter sei zerstört worden [3]. Dies habe sie durch den Bericht der Zeitzeugin an das »Hamburger Abendblatt« erfahren, der ihr von der Zeitzeugin vorgelesen worden sei [2]. Der Bericht der Zeitzeugin sei einmalig vorgelesen worden, danach habe man nicht mehr darüber gesprochen [10]. 1

Die Namen der Interviewten wurden durch Alias-Namen-Bildung anonymisiert, siehe Materialien, Anhang 6. 2 Nach den Interviewausschnitten sind in eckigen Klammern die Seitenangaben der Transkripte angeführt, siehe hierzu auch unter Materialien, Anhang 6.

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H. Hofer/S. Wiegand-Grefe · Enkel berichten

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Beim Vorlesen sei die Zeitzeugin der Enkelin sehr stark vorgekommen, Gefühle von Trauer oder Verzweiflung habe die Enkelin nicht bemerkt, »als wär’s nicht unbedingt ihre Geschichte« [8]. Vielleicht, so vermutet Lisa, habe die Zeitzeugin aber auch die Gefühle, die im Zusammenhang mit dem »Feuersturm« stünden, verdrängt [8]. Eine tiefe Traurigkeit der Großmutter erlebe sie, wenn diese vom Verlust ihres Bruders im Krieg berichte [9]. Lisa weiß von der Flucht der Großmutter in einen U-BahnSchacht und wie diese dort mit anderen vor dem »Feuersturm« geflohenen Menschen auf Koffern saß und versuchte, Hab und Gut samt Vogel und Katzen vor den Flammen zu retten [3]. Die Vorstellung über die Zerstörung erscheint Lisa »sehr schrecklich« [3]. Wichtig erscheint ihr aber auch, dass noch Leben gerettet werden konnten. Die Gefühle bei der Flucht müssen von Lisa erspürt werden, die Zeitzeugin habe eher »kalt« und distanziert darüber berichtet [17]. Die Zeitzeugin habe selber wenig über die »Feuersturm«-Erlebnisse erzählt, an viele Einzelheiten könne Lisa sich nicht erinnern [4]. Über die Schule habe sie von der NS-Zeit erfahren, der »Feuersturm« und die Zerstörung Hamburgs seien nicht thematisiert worden [5]. Filme über das »Dritte Reich«, die in der Schule gezeigt worden seien, hätten sie sehr berührt und erschreckt, mit ihrer Mutter habe sie darüber reden können. Die Zeitzeugin habe Lisa nicht fragen wollen, da diese die Zeit miterlebt habe. Da habe sie »behutsam sein wollen« und nicht alte Sachen wieder ausgraben [7]. Vielleicht hätte die Zeitzeugin bei diesen Erinnerungen angefangen zu weinen, dies wollte Lisa vermeiden und »nicht zu tief in die Wunde rein« [13]. Lisa glaubt, dass die Zeitzeugin zur Zeit des Nationalsozialismus ein naives, junges Mädchen gewesen sei, die sich nicht ernsthaft mit Politik auseinandergesetzt habe [12]. Das Holocaust-Denkmal in Berlin habe Lisa einmal besucht, dieses habe bedrückt und beengend auf sie gewirkt [27]. Kriegsdenkmäler über den »Hamburger Feuersturm«, wie die Nikolaikirche oder den Ohlsdorfer Friedhof, sind Lisa nicht bekannt [26 f.]. Auswirkungen des »Feuersturm«-Erlebens der Zeitzeugin auf das Leben von der Enkelin kann sich Lisa vorstellen. So vermutet sie, dass sich das »bedrückte Verhalten« der Mutter dadurch bedinge, dass diese als Kind häufig allein gewesen sei, und eventuell an sie, Lisa, weitergegeben worden sei [19]. Diese Gedanken werden aber schnell wieder von Lisa relativiert, schließlich sei ihre Familie heute »das totale Gegenteil« [20]. Auch habe sich der Erziehungsstil im Vergleich zu früher verändert, Lisa und ihr Bruder würden weniger autoritär erzogen und man gehe offener miteinander um [21]. Strenge müssten ihre Eltern wenig ausüben, da sie und ihr Bruder sich so verhielten, wie es sich die Eltern wünschten [22]. Gute Schulleistungen und das Spielen eines Instrumentes seien Lisas Eltern wichtig [22 f.]. Kriegsspielzeuge habe es in Lisas Kindheit nicht gegeben [26], es habe seitens ihr und ihrem Bruder auch kein Interesse daran gegeben. Geholfen, mit den schlimmen Erlebnissen des Krieges fertig zu werden, habe vermutlich, dass die Zeitzeugin diese verdrängt und »weggeschoben« [28] habe. Außerdem habe sie nach dem Krieg ein schönes Leben geführt, ihren Traumberuf ausgeübt und geheiratet [19, 28]. Hierbei ist Lisa auf Vermutungen angewiesen [28]. Sie kann

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sich vorstellen, dass die Erinnerungen zeitweise wieder hochkämen und die Zeitzeugin auch zum Weinen brächten [29]. Die Bombenangriffe der Engländer und Alliierten auf Hamburg findet Lisa nicht gerechtfertigt. Überhaupt sei es falsch, »irgendwas mit Gewalt lösen zu wollen« [16]. Es hätte auch andere Lösungen geben müssen, um das Sterben von so vielen Unschuldigen zu vermeiden [16]. Insgesamt erweckt Lisa den Eindruck eines sehr angepassten Mädchens, einer noch sehr wenig zur Familie abgegrenzten 17-Jährigen. Sie ist sehr an der Meinung der Eltern orientiert, eine bewusste Auseinandersetzung hat sie bisher nicht gewagt. Es besteht eine sehr enge und harmonische Bindung zu dem jüngeren Bruder, die Familie stellt einen sicheren Schutzkreis für Lisa dar. Paradigmatischer Fall aus der Gruppe der »Auseinandersetzungsbereiten«: Sabine

Sabine ist zum Zeitpunkt des Interviews 43 Jahre alt und eine der ältesten Teilnehmer der Studie. Ihre Mutter ist sowohl Zeitzeugin (im Folgenden mit ZZ2 gekennzeichnet) als auch Kind einer Zeitzeugin (im Folgenden mit ZZ1 gekennzeichnet), da sie den »Hamburger Feuersturm« im Alter von vier Jahren miterlebte. Somit ist auch Sabine sowohl Enkel einer Zeitzeugin (ZZ1) als auch Tochter einer Zeitzeugin (ZZ2). Sie ist geschieden, lebt zusammen mit ihren zwei Kindern und ist von Beruf Lehrerin. Sabine wird der Gruppe der »Auseinandersetzungsbereiten« zugeordnet. Die Zeitzeugin (ZZ1) wird von Sabine als »eine runde, gemütliche Oma« beschrieben, die eine »typische Hausfrau« gewesen sei, die gut kochen und nähen habe können und ihr als Kind Tiergeschichten erzählt habe [13]. Als Kind sei sie in der Nähe der Großeltern aufgewachsen und habe gemeinsam mit diesen viel Zeit verbracht, da die Eltern berufstätig gewesen seien [13]. Eine besonders innige Beziehung scheint Sabine zu ihrem Großvater gehabt zu haben, mit dessen stiller und zurückhaltender Seite sie sich identifizieren kann [59]. Für Sabine war der Großvater eine wichtige Bezugsperson und wird von ihr als »der Allerliebste und Allerbeste« idealisiert [59]. Die Mutter von Sabine wird als »energisch und aufbrausend« beschrieben, das Verhältnis von Mutter und Tochter als offen und vertrauensvoll bezeichnet. Ihren Vater habe Sabine erst im Erwachsenenalter richtig kennengelernt, als Kind habe sie sich der Meinung der Mutter über den Vater angeschlossen, die diesen häufig herabgesetzt und schlechtgemacht habe [16]. Beide Eltern hätten sich nach einer »schlechten Ehe«, unter der sie sehr gelitten habe, voneinander getrennt [14 f.]. Sie hat einen jüngeren Bruder, der ebenfalls an der Studie teilgenommen hat. Mit dem »Hamburger Feuersturm« verbindet Sabine »eine brennende Stadt«, Menschen auf der Flucht vor dem Feuer in die Bunker, ausgebrannte Häuser, aus denen »gelbe und rote Flammen schlagen«, und »knatternde Flugzeuge am Himmel« [2 f.]. Diese Bilder seien durch Fernsehberichte oder Filme entstanden. Erstmals vom »Feuersturm« erfahren habe sie als Kind durch die Zeitzeugin (ZZ1), die häufig von der Nacht erzählt habe, in der sie ausgebombt und durch den Urgroßvater gerettet worden seien. Diese Berichte hätten auf Sabine »nicht bedrohlich gewirkt«

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und seien »ganz weit weg gewesen« [4]. Dramatische Szenen der »Rettungsaktion des Urgroßvaters«, mit dem Abseilen aus der brennenden Wohnung und dem Sturz der Zeitzeugin (ZZ1) aus dem Fenster mit anschließendem Aufenthalt im Krankenhaus, seien von der Zeitzeugin (ZZ1) »eher sachlich« erzählt worden [7] und hätten auf Sabine nicht bedrohlich gewirkt. Ihre Mutter (ZZ2) habe nie über ihre Erlebnisse in den »Feuersturm«-Nächten berichtet und sei an den Gesprächen auch nicht beteiligt gewesen [7 f.]. Über Ängste und Gefühle sei innerhalb der Familie wenig gesprochen worden [7], sie seien eine »eher sachliche Familie« gewesen [11]. Als ihre Großmutter, die Zeitzeugin (ZZ1), von der Suche nach den eigenen Kindern während des Krieges berichtet habe, habe Sabine die Sorge um die Kinder gut nachempfinden können, da sie selber Mutter sei [10]. Das »Feuersturm«-Erleben der Zeitzeugin (ZZ1) beurteilt Sabine als deren wichtigstes Erlebnis, welches diese jedoch nicht als Belastung empfinden würde [31 f.]. Seelische Folgen habe sie bei der Zeitzeugin (ZZ1) keine bemerkt, wundere sich aber darüber, dass ihre Eltern und Großeltern keine Anzeichen von Kriegstraumatisierungen gezeigt hätten. In der heutigen Zeit würde mehr über Traumafolgen bei Kriegsveteranen durch Kriege berichtet werden [34]. Körperliche Folgen der Zeitzeugin (ZZ1) durch den Krieg könnten die lebenslangen Rückenschmerzen sein, über die die Zeitzeugin (ZZ1) häufig klage, sie könnten durch den Sturz in der »Feuersturm«-Nacht bedingt sein [32]. Erst nach dem Tod des Ehemannes habe die Zeitzeugin (ZZ1) schwere Depressionen und Alpträume bekommen und es sei ihr sehr schlecht gegangen [33]. In der Schule habe Sabine ein Referat über das Leben von Hitler recherchiert, um zu verstehen, wie sich aus dem Menschen »so ein Monster« habe entwickeln können [17]. Auch seien Filme über den Ersten und Zweiten Weltkrieg gezeigt worden, die sie sehr erschüttert hätten. Sie habe nicht verstehen können, wie junge Menschen kurz vor Kriegsende noch in den Krieg geschickt worden seien, am liebsten hätte sie Ihnen zugerufen: »Tu’s nicht« [19]. Innerhalb der Familie sei wenig über die damaligen politischen Verhältnisse gesprochen worden, von der Zeitzeugin (ZZ1) weiß Sabine, dass diese gerne in den BDM eingetreten wäre, was ihr vom Vater aber zunächst untersagt worden sei. Sie sei aber auf »keinen Fall rechts eingestellt gewesen«, sondern habe wegen der »schicken Uniform und den Unternehmungen« dem BDM beitreten wollen [26]. Sabine vermutet, dass innerhalb ihrer Familie (von ZZ1) damals sicherlich offen über Adolf Hitler gesprochen worden sei, man habe jedoch versucht, die Kinder nur ansatzweise mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus zu konfrontieren [53]. Sabines Großvater, der Ehemann der Zeitzeugin (ZZ1), sei als Versorgungsoffizier in Russland gewesen, von dort habe er Lebensmittelpakete an die Familie in Deutschland geschickt [20]. Er sei zu Kriegsbeginn zum Militärdienst eingezogen worden, was auch das Ende der beginnenden Fußballkarriere des Mannes der Zeitzeugin (ZZ1) bedeutet habe [27]. Später sei er in Kriegsgefangenschaft in England gewesen [22]. Sabine bedauert, nicht mehr über die Rolle des Großvaters im Krieg zu wissen, kann sich aber nicht vorstellen, dass dieser »eine böse Rolle« gehabt habe [20]. Er wird von der Enkelin als ein sehr tiefsinniger Mensch beschrieben, der sich einerseits nicht schnell

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habe verleiten lassen, anderseits aber auch nicht gegen alles angegangen sei. Die Verunsicherung der Enkelin wird deutlich, aber auch der Versuch, den Großvater in seiner positiv besetzten Rolle zu schätzen. Die Zeitzeugin (ZZ1) wird als eher oberflächlich beschrieben, als eine junge Frau, die sich von Äußerlichkeiten habe leiten lassen. Die Begeisterung der Zeitzeugin (ZZ1) für den BDM sieht die Enkelin eher unpolitisch im Zusammenhang mit schönen Aktivitäten und dem Gruppenzusammenhalt. Von sich selbst sagt Sabine, dass sie heute politisch links eingestellt sei [28]. Von ihrer Mutter (ZZ2) kennt Sabine Geschichten aus der Nachkriegszeit [22], wie Schulbesuche am Nachmittag oder Schokoladengeschenke von den Engländern [23]. Eine Schwester der Zeitzeugin (ZZ1) habe einen englischen Besatzungssoldat geheiratet und sei mit diesem nach England ausgewandert. Bei späteren Besuchen der Zeitzeugin (ZZ1) habe diese nicht als Deutsche erkannt werden wollen, da in England eine deutschfeindliche Stimmung geherrscht habe [23]. Die Zeitzeugin (ZZ1) sei während des Krieges zu Verwandten geflohen, aber noch im Krieg zurück nach Hamburg gekehrt, da man sich nicht vertragen habe [24]. Sabine sind keine weiteren Bombennächte aus Erzählungen der Großmutter bekannt. Die Erzählungen hätten die alleinige Versorgung der Kinder beinhaltet, bedingt durch die Abwesenheit des Großvaters, und »wie sie aus Säcken Mäntel genäht hat« [25 f.]. Es sei hauptsächlich darum gegangen, was man habe leisten müssen [26]. Es sei fast unmöglich, Kriege zu verhindern, da es immer wieder »Machtmenschen« geben würde, die sich durchsetzen und »über Leichen gehen« würden [29 f.]. Krieg sei in jedem Fall »grausam und schlimm« [28]. Man könne nur hoffen, dass so etwas nie wieder passiere [29]. Die Deutschen hätten aus ihren Fehlern gelernt und würden sich nicht wieder in einen Krieg hineinziehen lassen [30 f.]. Der Einsatz von deutschen Soldaten zur Verteidigung und Sicherung in Krisengebieten müsse sein, da man nicht erwarten könne, dass andere für einen den Kopf hinhalten würden [29 f.]. Die Bombenangriffe auf Hamburg seien nicht gerechtfertigt gewesen, als Schuldigen und Verursacher des »Feuersturms« würde Sabine Hitler bezeichnen [28 f.]. Machtmenschen, die sich durchsetzten und über Leichen gingen, würde es auch in der heutigen Politik noch geben [29]. Zivilisten seien dabei immer die Opfer, auch in den heutigen Kriegen. Als Kinder durften Sabine und ihr Bruder Spielzeugpistolen besitzen. Beide hätten viel miteinander gestritten und vereinzelt geprügelt. Der Mutter sei dies vor allem auf die Nerven gegangen und daher durch lautes Schreien unterbunden worden [37]. Sabines eigene Kinder dürften ebenfalls Pistolen und Ritterspielzeug besitzen, da es ihrem Bruder als Kind auch nicht geschadet habe und sie beide soziale und liebe Menschen geworden seien [38]. Außerdem würden verbotene Dinge nur noch interessanter werden [38]. Bei der Erziehung ihrer eigenen Kinder sei es Sabine wichtig, dass man offenen und ehrlichen Kontakt miteinander pflege und sich aufeinander verlassen könne. Ihre Kinder seien für sie »das Wichtigste auf der Welt« und ihr größter Wunsch sei es, dass die Kinder glücklich würden [40] und zur Selbstständigkeit erzogen würden [41].Wichtig ist Sabine, gemeinsam mit ihren Kindern Zeit zu verbringen. Ihrem Sohn habe sie

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auch von Adolf Hitler erzählt, und zwar, dass dieser »ganz böse war … und dass er die Juden umgebracht hat« [44]. In der Zeit der Fußball-Europameisterschaft sei es Sabine schwergefallen, sich zu ihrer deutschen Identität zu bekennen. Eine Deutschlandfahne an ihr Auto zu stecken und sich zu ihrer Nationalität zu bekennen, habe ihr große Probleme bereitet, da sie Nationalismus mit den Nazis in Verbindung bringe: »National sind nur die Nazis« [45]. Als sie mit ihrem Sohn die deutsche Nationalhymne habe üben sollen, habe sie nicht einmal den Text gekonnt, »weil das doch etwas ist, was für mich nicht positiv besetzt ist, sondern eher negativ« [46]. Sie habe versucht, ihrem Sohn ihre Einstellung zur Nationalhymne zu erklären, dabei sei ihr wichtig gewesen, dass sie ihren Sohn mit der eigenen Einstellung nicht negativ beeinflusse, sondern dieser möglichst neutral bleibe [46]. Bei einem Schüleraustausch in den USA habe ihre damalige Gastfamilie deutsche Fahnen zu den amerikanischen Fahnen aufgestellt, dies sei Sabine sehr unangenehm gewesen, da sie sich für ihr Deutschsein und die Vergangenheit der Deutschen geschämt habe: »Ich konnte eigentlich gar nicht, nun so war, ich konnte gar nicht richtig stolz darauf sein, Deutsche zu sein« [47]. National sein bedeutet für Sabine, nationalsozialistisch zu sein. Dabei habe sie sich von der Nazi-Vergangenheit distanzieren wollen. Anders als Hitler es getan habe, habe sie sich nicht besser als die anderen darstellen und diese anderen »Rassen« damit abwerten wollen. Es sei für sie spürbar gewesen, dass sie als Deutsche im Ausland immer mit Nazis in Verbindung gebracht worden sei [48]. Sie habe sich unwohl und angefeindet gefühlt und sich als Nachkommin der Nazis verteidigen müssen [52]. Von einem amerikanischen Schulkamerad sei sie sogar gefragt worden, ob die Deutschen die Juden – heute noch! – umbringen würden [50]. Bei einem Schüleraustausch (1984) in England habe eine englische Lehrerin sich geweigert, deutsche Schüler zu unterrichten. Auch von den Gastfamilien in England habe sie sich nicht herzlich willkommen gefühlt [48]. In der Schule in England sei sie von Jungen mit dem Hitlergruß begrüßt worden [49] und in den Familien seien Brettspiele gespielt worden, in denen Hakenkreuze »das Böse« dargestellt hätten [49]. Ebenso hätten sie gemeinsam mit der Gastfamilie Filme schauen müssen, in denen die Deutschen »immer die Schlechten waren« [49]. Sie sei damals über dieses Verhalten überrascht und sehr unglücklich gewesen. Sie habe versucht, sich und ihre Familie von den Gräueltaten der Nazis zu distanzieren und darzustellen, dass sie diese heute als sehr schrecklich betrachte [51]. »Aber man fühlt sich doch auch immer noch irgendwie so ’n bisschen in, in der Verantwortung oder in der Schuld, also denke ich schon, dass in dem eigenen Land das so stattgefunden hat« [52]. Die Rolle des öffentlichen Gedenkens, wie zum Beispiel durch das Kriegsdenkmal Nikolaikirche, hat für Sabine keine Bedeutung. Da sei sie ähnlich pragmatisch wie ihre Großmutter: »Das war so, das ist ’n Relikt der Zeit«, das würde weder sie noch ihre Großmutter (ZZ1) besonders berühren [54]. Ihre Großmutter (ZZ1) habe die traumatischen Erlebnisse des »Feuersturms« – »unter Schock« – verdrängt, nach dem Tod des Großvaters habe sie dann begonnen, über die Kriegs- und Nachkriegszeit zu sprechen. Sie habe berichtet, wie sie oft allein

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gewesen sei und was sie alles habe leisten und organisieren müssen und dass der Großvater auch nach dem Krieg »nichts auf die Reihe kriegte« [55]. Sie habe den Großvater nur schlecht gemacht [56]. Geholfen mit den traumatischen Erlebnissen des Krieges hätten der Großmutter (ZZ1) vor allem ihr pragmatischer, zupackender Charakter und die Notwendigkeit, etwas tun zu müssen. »Die Frauen mussten ja im Krieg auch über sich hinauswachsen und alles selber regeln« [55]. Schließlich sei es allen Frauen so ergangen. Da die Großmutter immer nur emotional unbeteiligt und distanziert über ihre Kriegserlebnisse gesprochen habe, hätten sie Sabine wenig berührt. Aber Gespräche seien immer sehr wichtig für sie (Sabine) gewesen. Früher habe sie die mit ihrer Mutter führen können, aber die stehe ihr innerlich doch nicht so nah, sie seien einfach zu verschieden. Heute habe sie Freundinnen, mit denen sie über ihre Probleme reden könne [59].

Diskussion Es können, wie oben gezeigt, vier Typologien in der Enkelgeneration unterschieden werden: –– die Unwissenden, –– die Harmoniebedürftigen, –– die Auseinandersetzungsbereiten, –– die Distanzierten. Die Zuordnung der Einzelfälle zu den Gruppierungen lässt homogene Untergruppen entstehen, die Unterschiede in der individuellen Verarbeitung und Auseinandersetzung mit den traumatischen Kriegserfahrungen der Zeitzeugen verdeutlichen. Der Typus der »Unwissenden« wird durch die jüngsten Teilnehmer der Studie vertreten. Diese Gruppe ist am wenigsten über die Kriegserlebnisse der Zeitzeugen informiert. Die Gruppe der »Harmoniebedürftigen« zeichnet sich durch familiäre Angepasstheit und Unsicherheit im Umgang mit den Erlebnissen des Zeitzeugen im »Hamburger Feuersturm« aus. Die »Auseinandersetzungsbereiten« werden von den ältesten Teilnehmern der Stichprobe vertreten. Diese Gruppe setzt sich aktiv mit dem »Feuersturm«-Erleben und den Kriegsgeschehnissen auseinander. Die Gruppe der »Distanzierten« ist mit den Erlebnissen des Zeitzeugen im »Feuersturm« vertraut, vermeidet aber die aktive Auseinandersetzung oder entzieht sich ihr. Dem traumatischen Erleben des Zeitzeugen im »Feuersturm« wird keine bedeutende Rolle beigemessen. Die dargestellten Ergebnisse der Untersuchung können keine verallgemeinernden, statistisch repräsentativen Befunde liefern. Die Verarbeitungswege müssen vor dem Hintergrund des jeweiligen individuellen, sozialen, kulturellen und biologischen Hintergrundes betrachtet und analysiert werden. Ebenfalls muss bei der Typisierung die Altersdiskrepanz zwischen den Enkeln beachtet werden. Die Gruppe der »Unwissen-

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den« wird von den beiden Jüngsten der Stichprobe abgebildet, die Gruppe der »Auseinandersetzungsbereiten« wird durch die Ältesten der Enkelgeneration vertreten. Gerade in der Gruppe der »Harmoniebedürftigen« wird deutlich, dass diese Gruppe sich mit Hilfe von Büchern oder Filmen in die unausgesprochenen Erfahrungen und schrecklichen Erlebnisse der Zeitzeugen hineinzuversetzen und sie zu verstehen versucht. In der Gruppe der Älteren und »Auseinandersetzungsbereiten« ist die direkte Konfrontation und offene Auseinandersetzung vorherrschend. In dieser Gruppe findet eher eine Bewertung der NS-Vergangenheit und der Haltung und Rolle der Großeltern statt. In der Gruppe der »Distanzierten« wird eine eher passive und weniger interessierte Haltung der Enkel gegenüber den Erlebnissen der Zeitzeugen im »Hamburger Feuersturm« deutlich. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Trauma des »Hamburger Feuersturms« die Enkelgeneration (wie sie die Stichprobe präsentiert) in der Mehrheit nicht nachhaltig beeinflusst zu haben scheint. Nur vereinzelt lassen sich Spuren der Vergangenheit in der Enkelgeneration erkennen.

Literatur Gerhardt, U. (1995). Typenbildung. In U. Flick, E. von Kardorff, H. Keupp, L. von Rosenstiel, St. Wolff (Hrsg.), Handbuch qualitative Sozialforschung (S. 435–439). Weinheim: Beltz. Hofer, H. (2012). Die transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumata. Dissertation in Vorbereitung. Universität Hamburg. Kuckartz, U. (1988). Computer und verbale Daten: Chancen zu Innovation sozialwissenschaftlicher Forschungstechniken. Europäische Hochschulschriften. Reihe 22, Soziologie, Bd. 173. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang. Lamparter, U., Holstein, C., Apel, L., Thießen, M., Wierling, D., Wiegand-Grefe, S., Möller, B. (2010). 65 Jahre später. Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms (1943)« im lebensgeschichtlichen Interview. Forum der Psychoanalyse, 26 (4), 365–387. Möller, B., Lamparter, U., Wiegand-Grefe, S. (2012). Und plötzlich war ich ganz allein. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 8, 622–639. Stuhr, U., Lamparter, U., Deneke, F.-W., Oppermann, M., Höppner-Deymann, S., Bühring, B., Trukenmüller, M., (2001). Das Selbstkonzept von Gesunden. Psychotherapie & Sozialwissenschaft, 3 (2), 98–118. Weber, M. (1904/1988). Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In J. Winkelmann (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (S. 146–214). Tübingen: Mohr. Wiegand-Grefe, S., Möller, B. (2012). Die Transgenerationale Weitergabe von Kriegserfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg über drei Generationen – eine Betrachtung aus psychoanalytischer Perspektive. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 8, 610–621. Ziegler, Rolf (1973). Typologien und Klassifikationen. In G. Albrecht, H. Daheim, F. Sack (Hrsg.), Soziologie, Sprache – Bezug zur Praxis – Verhältnis zu anderen Wissenschaften (S. 11–47). Opladen: Westdeutscher Verlag.

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Amelie Meyer-Madaus/Silke Wiegand-Grefe

Familien über drei Generationen im Familieninterview Ein Fallbeispiel

Das Genogramm in der Familienforschung Mendell und Fischer (1956) beschrieben erstmalig in den 1950er Jahren systematisch, dass sich Analogien in den Verhaltensweisen und Grundkonflikten in einer Familie über drei Generationen hinweg auffinden lassen. In den 1980er Jahren arbeiteten psychoanalytische Familientherapeuten auf der Grundlage der Arbeiten von Boszormenyi-Nagy und Spark (1973/2001) das Konzept der Mehrgenerationenperspektive weiter aus (Massing, Reich u. Sperling, 1992, vgl. den Beitrag von Wiegand-Grefe und Möller in diesem Band), mittels derer sich generationenübergreifende Dynamiken, Beziehungsmuster und unbewusste Konflikte beschreiben und nachvollziehen lassen. Die Entwicklung der theoretischen Konzeption eines sich über mehrere Generationen erstreckenden emotionalen Prozesses liegt also schon mehr als sechzig Jahre zurück. Gleichzeitig erarbeiteten Kerr und Bowen (1988) das Genogramm – die Darstellung eines Familienstammbaums über mindestens drei Generationen mit der Möglichkeit einer graphischen Darstellung der Beziehungsmuster innerhalb einer Familie. Durch die graphische Darstellung wesentlicher Informationen über die Familie wird ein Überblick über komplexe Familienstrukturen geschaffen. Er ermöglicht die Aufstellung von Hypothesen über die Verknüpfung eines familiären Problems mit der Familienstruktur und ihrer historischen Entwicklung. Bestimmte Verhaltensweisen in den familiären Beziehungen werden als transgenerationale »Kernpunkte« im Lebenszyklus der Familie deutlich (vgl. Cierpka, Reich und Massing, 2008). In unserem Beitrag wollen wir ein Beispiel einer Auswertung im »Hamburger Feuersturm«-Projekt geben, die den familiären Beziehungen der Zeitzeugen nachgeht und neben Karteikarten mit modifizierten Genogrammen arbeitet. Diese ermöglichen eine graphische Übersicht über den Familienstammbaum der Zeitzeugen und ihrer Familien, indem sie wichtige Informationen zu Beziehungen untereinander, Kommunikation, Bildungsstand beziehungsweise Beruf, Auseinandersetzung und Wissen über den »Feuersturm« und die NS-Zeit komprimiert zusammenfassen. Der Vorteil an dieser Darstellung ist die Möglichkeit, »Linien« in diesen Bereichen transgenerational zu verfolgen und Analogien oder auch Diskrepanzen vergleichsweise schnell zu erfassen. Das Familienbild wird übersichtlicher und die Familie des Zeitzeugen kann als Gan-

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A. Meyer-Madaus/S. Wiegand-Grefe · Drei Generationen im Familieninterview

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zes betrachtet werden. In der Dissertation von Meyer-Madaus (in Vorbereitung) soll die familiäre Perspektive weiter ausgearbeitet werden. Dabei soll die Frage verfolgt werden, ob sich bestimmte Muster einer »familiären Verarbeitungsweise« des »Hamburger Feuersturms« aufzeigen lassen und daraus bestimmte Typen entwickelt werden können. Unser Beitrag schildert die vorgesehene Methodik und ein erstes Fallbeispiel mit dem zugehörigen Genogramm.

Methodik In dem »Hamburger Feuersturm«-Projekt waren anhand von jeweils generationsspezifischen Interviewleitfäden Einzelinterviews mit Zeitzeugen des »Feuersturms«, ihren Kindern und Vertretern der Enkelgeneration geführt worden. Des Weiteren wurden Familieninterviews mit möglichst einem Vertreter jeder Generation geführt.1 Diese Interviews wurden auf Video aufgezeichnet, um nicht nur Intonation und verbalen Umgang zu analysieren, sondern zusätzlich Aspekte wie Körpersprache, Haltung und Gestik der Familienmitglieder interpretieren zu können. Zu ihrer Auswertung wurden Karteikarten zu jeder Familie erstellt, mit dem Ziel, die Kerninformationen aus den Interviews kompakt und anschaulich zusammenzufassen. Dabei wurden neben den Familieninterviews auch die wichtigsten Informationen über das Familienleben aus den Zeitzeugen-, Kinder- und Enkelinterviews berücksichtigt. Auf jeder auf diese Weise erarbeiteten Familienkarteikarte werden die einzelnen Familienmitglieder kurz charakterisiert (Bildungsniveau, Partnerschaften) und es wird ihre jeweilige Beziehung zum Zeitzeugen beschrieben. Anschließend wird das »Feuersturm«-Erleben des Zeitzeugen beschrieben, wobei drei wesentliche Punkte fokussiert werden: 1. innere Situation zum Zeitpunkt des »Feuersturms«, 2. Erleben des »Feuersturms« und dessen erste Verarbeitung, 3. Tradierung der Verarbeitung und Einflussfaktoren auf diese, wie Zeit, Erfahrungen der Selbstständigkeit und die Entwicklung eigener Lebensstrukturen oder die Gründung einer eigenen Familie. Konfliktbewältigung, Ressourcen, Kommunikation inner- und extrafamiliär, Rolle des öffentlichen Gedenkens, zum Beispiel in der Gedenkstätte Nikolaikirche, am Massengrab im Friedhof Ohlsdorf oder an einem kleinen Denkmal an der Mundsburg. Anschließend werden der Umgang mit dem »Feuersturm« in der Familie und die Bereitschaft zu seiner Thematisierung und zur offenen Kommunikation auf der Karteikarte zusammengefasst. Diese ist das Ergebnis einer Durcharbeitung der verfügbaren Transkripte und Verarbeitungsgeschichten. Zitate aus den transkribierten Inter1

Das Zeitzeugeninterview, das Kinderinterview sowie das Enkelinterview des Fallbeispiels wurden von Ulrich Lamparter geführt. Silke Wiegand-Grefe und Dorothea Mester führten das Familieninterview.

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Die dritte Generation und die Familien

views dienen der Veranschaulichung. Darüber hinaus werden die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Familie und ihre heutigen politischen Einstellungen sowie die Einstellung zu Krieg und Gewalt im Allgemeinen auf der Karteikarte abgebildet. Die Fragen nach innerfamiliären Werten und Erziehungsmethoden, den Stellenwert der Familie und deren Integrität für jeden Einzelnen, transgenerationalen Analogien oder auch Veränderungen bilden den inhaltlichen Bezugspunkt dieser Karteikarten und dienen als Basis für den nächsten Vorgang eines Typisierungsversuchs. Dieser soll in folgenden zwei Schritten erreicht werden: Nach der oben beschriebenen Erstellung der Familienkarteikarte mit besonderem Augenmerk auf die Muster der innerfamiliären Kommunikation und vorherrschende Tradierungsmuster werden in einem zweiten Schritt die individuellen Beziehungen innerhalb der Familie betrachtet. Dabei werden gezielt Informationen aus den Interviews, die das Verhältnis zu der nächsten/übernächsten Generation beschreiben, gefiltert und die Achsen Zeitzeuge– Kind, Kind–Enkel familienindividuell analysiert. Anschließend soll in einem zweiten, abschließenden Schritt anhand dieser Information die Erzeugung von »Typen« familiärer Verarbeitung erfolgen, die die Kernmerkmale einer Familie prägnant zusammenfassen, sofern das vorhandene Material dies sinnvoll ermöglicht. Diese Auswertungsmethodik basiert auf der sogenannten »Verstehenden Typenbildung« nach Uta Gerhardt (1995), die für dieses Projekt modifiziert wurde (Lamparter et al., 2009). In dem Projekt lagen insgesamt sieben Familieninterviews vor. In der Arbeit von Meyer-Madaus (in Vorbereitung) werden diese sieben Familien, bestehend aus Zeitzeug(en), Kind(ern), Enkel(n) und gegebenenfalls Urenkeln bearbeitet, analysiert und erst einzeln und dann als Gesamtes typisiert.

Ergebnisse am Fallbeispiel Für das hier berichtete erste Beispiel der Auswertung und die Erstellung eines diesem Beispiel zugehörigen mehrgenerationalen Genogramms wurden die in Tabelle 1 aufgeführten Quellen verwendet. Tabelle 1: Übersicht über das verwendete Material (für diesen Beitrag) Interviews

Zeitzeuge (ZZ), Kind des ZZ (KZZ), Enkel des ZZ (EZZ), Familieninterview

Transkripte der Audiodateien aus den Interviews und dem Familienvideo

Interview Zeitzeuge (ZZ), Kind des ZZ (KZZ), Enkel des ZZ (EZZ), Familieninterview

NageVe (»Nacherzählend gedeutete Verarbeitungsgeschichte«)

ZZ-Interview

Karteikarten (Meyer-Madaus)

Familien, Kinder, Enkel

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A. Meyer-Madaus/S. Wiegand-Grefe · Drei Generationen im Familieninterview

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Familie Mendel Das folgende Beispiel eines zum Zeitpunkt des »Hamburger Feuersturms« zehnjährigen Zeitzeugen und seiner Tochter soll die individuelle und transgenerationale Verarbeitung traumatisierender Kriegserlebnisse über die Generationen und ihre Nachhaltigkeit aufzeigen und diskutieren, wie der Einfluss auf das weitere Leben innerhalb der Familie war. Auch die Frage, in welcher Weise die familiären Ressourcen (Gesundheit, Beruf, Geld, Lebensenergie, Zufriedenheit) zur Kompensation eines solchen Erlebnisses genutzt werden können und ob sie ausreichen, soll in diesem Beitrag exemplarisch dargestellt werden. Herr Jörg Mendel im »Feuersturm«

Der Zeitzeuge Jörg Mendel wurde 1933 als ältester von vier Kindern in einer Kreisstadt in Ostfriesland geboren. Sein Vater, Beamter beim Arbeitsamt, trat 1937 in die Partei ein und wurde 1941 eingezogen. Während des Krieges arbeitete der Vater als Funkwagenfahrer. Erst 1946 sei er aus der Kriegsgefangenschaft als völlig veränderter, »gebrochener Mann« (ZZ-Interview) zurück nach Hause zur Familie gekommen. Zehnjährig, etwas außerhalb des Zentrums, in einem Bunker Schutz suchend, den er »Erdloch« nennt (ZZ-Interview), erlebte der Zeitzeuge den ersten Angriff auf Hamburg. Um den Vater zu sehen, der in Russland verwundet worden war und sich in Wandsbek in der Genesungskompanie aufhielt, seien er und seine Mutter »voll darein gekommen, in diese Sache« (ZZ-Interview). Beim Besuch von Hagenbecks Tierpark hatte er zwei Landschildkröten erworben, für die er zu Hause schon ein Terrarium gebaut hatte, und die sein ganzer Stolz waren. Während des Wiedersehens mit dem Vater kam der Alarm, der Vater musste in die Kaserne und Mutter und Sohn sowie die Landschildkröten suchten in dem Erdloch Schutz, was Herrn Jörg Mendel bis heute präsent ist: der Modergeruch, der Sand, »der in den Nacken rieselt«, »das ist auch so ’n Erlebnis, dass der Sand rieselt, das hat man behalten«, »Ich weiß das alles noch ganz genau« (ZZ-Interview). Er habe ein Buch über seine Erinnerungen geschrieben, um sich das aktive Erinnern zu erleichtern und seine Erfahrungen an die nächsten Generationen detailgetreuer weitergeben zu können. Hamburg brannte und als sie aus dem Bunker kamen, war alles nur noch grau: »Es gab keine Sonne […] es war alles nur Ruß« (ZZ-Interview), und es gab auch nichts Grünes mehr. Die Häuser in der Straße waren bei diesem Angriff nur vereinzelt von Brandbomben getroffen worden. Neben dem eigenen Überleben war ihm auch das Wohlergehen seiner Tiere wichtig: »Auch meine Schildkröten hatten die Katastrophe überstanden« (ZZ-Interview). Der Vater, der nur durch die Tatsache, dass er durch den Besuch seiner Familie vom Dienst befreit war, den Angriff überlebt hatte (von der Flakbesatzung, die ihn vertreten hatte, war niemand mehr am Leben), sorgte dafür, dass die Familie auf einem Lastwagen zum Harburger Bahnhof transportiert wurden. »Hier Leichen-Annahmestelle« stand auf einem Straßenschild, das dem damals zehn-

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jährigen Jungen auf der Fahrt durch den vollkommen zerstörten Stadtteil Hamm ins Auge fiel und als eine der schrecklichsten, nie vergessenen Situationen in Erinnerung bleiben sollte: »Das war schlimm« (ZZ-Interview). Beim Einstieg in die bereitstehenden Evakuierungszüge am Harburger Bahnhof fiel eine seiner Schildkröten unter den Wagen auf die Gleise, wurde jedoch von einem Soldaten gerettet und dem Jungen übergeben, der darüber natürlich sehr, sehr glücklich war (vgl. NageVe des ZZ-Interviews). Herr Jörg Mendel bezeichnet sich selbst als »stolzen Hitlerjungen« (ZZ-Interview), der das Ende des Krieges, gar nicht mehr überzeugt vom Endsieg, als Erlösung empfand. Nach dem Besuch der Realschule wurde er zum Schifffahrtsjungen. Über dreißig Jahre sei er danach beim Wetterdienst der Bundeswehr stationiert gewesen. Heute arbeitet er ehrenamtlich als Archivar seiner Stadt. Die Familie von Herrn Jörg Mendel

Jörg Mendel ist Ehemann und Vater von drei Töchtern und einem Sohn. Der Zeitzeuge ist seit über fünfzig Jahren verheiratet. Seine vier Kinder leben relativ nah beieinander im Raum Hamburg/Schleswig-Holstein. Die Aussage der Tochter, Frau Gabriele Schulle: »Hamburg war mir immer nahe« (Familieninterview), impliziert die Bedeutung der Hansestadt für die Familie. Seine Frau habe selbst Bombenangriffe auf Wilhelmshaven, 101 an der Zahl, erlebt, könne aber nie über die schrecklichen Ereignisse sprechen, berichtet Jörg Mendel. Die Familie Mendel erklärte sich auf Wunsch des Zeitzeugen, Jörg Mendel, und wegen dessen aktivem Geschichtsinteresse zum Interview bereit. Familie Mendel ist eine harmonische Familie, ohne gravierende Beziehungsschicksale. Zu seinen insgesamt vier Enkelkindern hat der Zeitzeuge ein gutes Verhältnis, wobei insbesondere mit dem zweitältesten, zehnjährigen Enkel, mit dem auch ein Einzelinterview geführt wurde, reger Austausch bestehe. Am Familieninterview konnte entgegen der Vereinbarung und Planung außer dem ZZ bedauerlicherweise nur die jüngst-geborene Tochter des Zeitzeugen, Frau Gabriele Schulle teilnehmen. Während des Interviews kommt der sechsjährige Sohn beziehungsweise Enkel außerplanmäßig zum Interview hinzu, so dass letztlich drei Generationen am Familiengespräch beteiligt sind. Der Enkel sollte in einem anderen Zimmer unter Betreuung spielen, erschien aber mehrfach neugierig und hochinteressiert im Türrahmen, so dass er von der Familientherapeutin, die das Gespräch leitete, eingeladen wurde, am Gespräch teilzunehmen. Weitere Interviews, ein EZZ-Interview mit dem Enkel des Zeitzeugen (ZZ), Ewald Deeken, sowie ein KZZ-Interview mit Ewald Deekens Mutter, Frau Helga Deeken, fanden separat statt. Die Angaben daraus werden im Folgenden als weitere Quellen jedoch mitberücksichtigt, um ein anschaulicheres Bild des Familiengefüges illustrieren zu können. Frau Gabriele Schulle, die am Familieninterview partizipierte, ist verheiratet und Mutter des sechsjährigen Sohnes. Sie arbeitete lange Zeit in Hamburgs gewaltigstem Bunker, dem Bunker auf dem Heiligengeistfeld, dessen Größe und Gangsystem sie nachhaltig beeindruckt hätten, insbesondere durch das Wissen um dessen Bedeutung

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als Hamburgs Hauptbunker, auf dessen Dach Luftabwehrgeschosse stationiert gewesen seien. Sie habe von ihrem Vater viele Bilder vom Krieg und »Feuersturm« gezeigt bekommen, so dass sie sich ihre Heimatstadt plastischer in der Vergangenheit habe vorstellen können. So erklärt sie sich ihre Nähe zu Hamburg. Die zweitälteste Tochter des Zeitzeugen (Frau Helga Deeken) ist verheiratet und Mutter eines »hochsensiblen, empfindlichen, hochintelligenten« Sohnes (des EZZ Ewald Deeken). Sie beschreibt sich selbst als sehr empfindlich für Animositäten und erklärt, dass sie keinerlei Diskussion scheue. Sie führt dieses Attribut auf ihren Vater zurück, der immer alles ausdiskutiert wissen wolle. Der Zeitzeuge Jörg Mendel wird von seiner zweitältesten Tochter als strenge Vaterfigur beschrieben: »Es war ihm ein Vergnügen, uns vor anderen Leuten anzubrüllen« (KZZ-Interview). Er sei jedoch ein besserer Großvater als er Vater gewesen sei, spiele viel mit ihrem Sohn und mache viele Unternehmungen. In der Beziehung zur Familie sei der Zeitzeuge nie der gewesen, der er eigentlich sei: »Hat immer gemeint, er müsse eine andere Rolle spielen« (KZZ-Interview), dennoch sei er einer der intelligentesten Menschen, die sie kenne. Sie verstünde sich heute besser mit ihrem Vater als mit ihrer Mutter – sie sei ihrem Vater »am nächsten«. Sie bemängelt die Unterstützung durch ihr Elternhaus, das mangelnde Verständnis für ihren Wunsch zu studieren, was letztendlich dazu geführt habe, dass sie – getrieben von dem Bedürfnis nach Autonomie – direkt nach der Schule ausgezogen sei. Sein Enkelsohn, Ewald Deeken, beschreibt ihn jedoch als liebevollen Opa, der viel mit ihm spiele, bastle und male: »Den find ich super« (EZZ-Interview). Eine Aussage des Enkels als Beispiel dafür, dass der Umgang mit der Enkelgeneration oftmals leichter gelingt. Der Abstand zu dem Erlebten, aber auch die subjektiv empfundene, abgeschwächte Verantwortlichkeit, nicht in der Pflicht einer autoritären Vaterfigur sein zu müssen, scheinen den Zugang zur nächsten Generation zu erleichtern. Die Vorstellung der Familie vom »Feuersturm«

Bedingt durch die vielen Erzählungen des Zeitzeugen sind die Bilder der Familie vom »Feuersturm« lebendig. Seine jüngste Tochter, Gabriele Schulle, vermag sich kaum vorzustellen, wie es sein muss, aus einer heilen Welt zu kommen und am nächsten Tag alles nur noch in Schutt und Asche zu sehen – überall Trümmerhaufen der Tristesse. Lachend führt sie an: »Ich finde, man muss sich dann immer vor Augen führen, dass damals trotzdem die Welt bunt war, ne […] nicht schwarz-weiß« (Familieninterview). Sie nennt zwar die Eigenarten ihres Vaters, ist jedoch verwundert, wie wenig psychische Folgen es gegeben habe. Obwohl er so stark sei, spüre sie sein Leiden doch manchmal. Im Familieninterview schildert Frau Gabrielle Schulle die Erzählungen ihres Vaters über den »Feuersturm«: »Ja und wir haben’s erzählt bekommen, als wir auch etwa in dem Alter waren. Also man konnte sich dann ja so eins zu eins eigentlich so reinversetzen«, und zeigt sich emotional bewegt.

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Seine zweitälteste Tochter, Frau Helga Deeken, kann sich genauer an die Schilderung des Vaters über den Tag vor dem »Feuersturm« erinnern. Er habe seinen eigenen Vater in Wandsbek besucht und ihm die Schildkröten, welche er in Hagenbecks Tierpark gekauft hätte, stolz präsentiert. Ihr Vater habe einen schwierigen Vater gehabt, wenig warmherzig »so ’n Übermensch« (KZZ-Interview). Und seine Mutter, also ihre Großmutter, sei auch ganz kalt und berechnend gewesen, so dass ihr Vater viel auf sich allein gestellt gewesen sei: »Ich glaube, mein Vater hat es echt schwer gehabt« (KZZInterview), subjektiv habe er immer besser sein müssen als die anderen. Besonders in der Nachkriegszeit, so wurde es beiden Töchtern überliefert, musste die Familie des Vaters viel Hunger leiden. Der Zeitzeuge und seine Geschwister mussten hamstern gehen, weil der Vater des ZZ ein »150%iger Beamter war, der sich das nicht erlauben konnte« (Familieninterview), er habe sich nicht um das leibliche Wohl der Familie gesorgt. Jörg Mendel entwickelte daraufhin eine Art Versorgerinstinkt für seine eigene Familie und arbeitete hart: »Ich habe vier Kinder und die sollen es gut haben« (ZZ-Interview), so dass die Familie dreimal täglich zusammen aß. Das gemeinsame Essen und gleichzeitig die damit verbundene Zusammenkunft als Familie hatten einen hohen Stellenwert. »Wir haben alles gegessen«, schildert Gabriele Schulle im Familieninterview und dass Essen wegzuwerfen schon immer ein Tabu gewesen sei. Auch heute noch sei ihr Vater der Resteverwerter der Familie. Der zehnjährige Enkel, Ewald Deeken, hat ein begrenztes Wissen über den »Feuersturm«, er weiß, dass Hamburg brannte und sein Großvater den »Feuersturm« überlebte. Aus Angst vor der Reaktion vermeide er es, aktiv nachzufragen. Er legitimiert sein Zögern damit, dass sein Großvater seiner eigenen Mutter auch erst spät vom »Feuersturm« erzählt habe. Sein Wissen über den »Feuersturm« habe er durch seine Mutter, da das Fach Geschichte in der Schule für sein Alter noch nicht vorgesehen sei. Kommunikation in der Familie

In der Familie Mendel werden deutliche Unterschiede der Gesprächsbereitschaft und Offenheit deutlich. Jörg Mendels Großvater mütterlicherseits habe viel vom Ersten Weltkrieg und Kaiser Wilhelm gesprochen, seine Erlebnisse detailgetreu geschildert. Dass er nicht ans System geglaubt habe, daraus habe er nie ein Geheimnis gemacht. Sein eigener Vater jedoch – sichtlich gezeichnet durch den Krieg – habe nie gesprochen. Jörg Mendel selbst ist aktiver Zeitzeuge, geht in die Klassen und berichtet vom Krieg und seinen Erlebnissen. Er hat bereits Artikel zu diesem Thema geschrieben und empfindet die Weitergabe des Erlebten an die Folgegenerationen als wichtig. Das Interesse von Jörg Mendels Kindern an diesem Thema variiert. Seine älteste Tochter, Redakteurin, möchte nichts mehr über den »Feuersturm« von ihm hören. Der Sohn, beim Roten Kreuz arbeitend, nehme »das so hin« (ZZ-Interview), dass sein Vater so viel von diesem Thema spreche. Gar nichts davon wissen will Jörg Mendels mittlere Tochter. Die jüngste Tochter, die am Familieninterview teilgenommen hat, ist »ganz

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interessiert« (ZZ-Interview). »Dem kann man sich ja nicht entziehen, wenn man das so hört aus erster Hand«, so die jüngste Tochter im Familieninterview. Das Paradoxe ist jedoch, dass der Zeitzeuge seine Erzähllust eingrenzt und seine eigenen Enkelkinder nicht mit Kriegsgeschichten belasten will: »Da hätte ich schon so meine Probleme« (ZZ-Interview). Sein mit 14 Jahren ältester Enkel, Sohn der erstgeborenen Tochter, interessiere sich ohnehin überhaupt nicht für seine Geschichten. Der interviewte zehnjährige Enkel Ewald Deeken sowie sein Cousin hören ihm zwar gerne zu, die Erzählungen handeln aber aus oben genannten Motiv eher von Herrn Jörg Mendels Abenteuern als Schifffahrtsjunge. Nur gelegentlich seien auch Kriegsschiffe und »diese Grauen« (EZZ-Interview) Thema, meint Ewald Deeken dazu. Umgang mit dem »Feuersturm« und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Familie (politische Einstellung)

Der Zeitzeuge stammt aus einer sozialdemokratischen Familie, sein Großvater väterlicherseits, der aktiv am Ersten Weltkrieg teilnahm und 1914 eingezogen wurde, sei stolzes SPD-Mitglied gewesen und niemals der Partei beigetreten. Der Vater des Zeitzeugen sei dazu gezwungen worden, sich der Partei zu fügen, da man sonst keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen hätte. Sein Vater musste, um Beamter zu werden, 1937 in die Partei eintreten (vgl. ZZ-Interview). 1940 »ging der letzte Jude weg«, wegen eines Lotteriegewinns kam die Familie zu Geld und bezog ein Judenhaus, dessen ExBesitzerin noch sagte: »dies Haus wird euch nie Glück bringen« (ZZ-Interview), bevor sie zum Bahnhof ging. Der »Kauf« des Hauses wurde dem Vater des Zeitzeugen nach dem Krieg zum Verhängnis, denn dieser musste das Haus noch einmal bezahlen und gleichzeitig erfolgte die Entlassung aus dem Staatsdienst. Sein bester Freund war ein Jude, der den Krieg überlebte, »das war alles sehr schlimm für die Generation« (Familienkarteikarte). Die Linie der Sozialdemokratie lässt sich innerfamiliär verfolgen: Die Tochter Helga Deeken war früher sehr aktiv bei den Jusos, heute interessiere sie sich eher für Lokalpolitik, »große Politik« interessiere sie nicht so und sie könne sich mit keiner Partei identifizieren (KZZ-Interview). In der Familie Mendel fand eine übermäßige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus statt. Durch Erzählungen, Bücher und sogar Familienreisen nach Polen, auf Spuren jüdischer Familien, akzentuierte der Zeitzeuge sein Bedürfnis, sich mit dieser Zeit zu konfrontieren, und auch seine Familie sollte sich mit dieser Thematik beschäftigen. Seine Tochter drückte im KZZ-Interview ihre Verwunderung darüber aus, wie »Menschen aus’m KZ überhaupt weiterleben konnten«. Sie habe sehr viel über dieses Thema gelesen, sich Bildbände über Auschwitz angesehen, sichtlich berührt empfindet sie es als »übermäßige Auseinandersetzung«. Indirekt bewundert sie die Stärke der Zeitzeugengenerationen und somit auch die ihres Vater: »Ich weiß nicht, ob ich damit hätte umgehen können.« Sie führt ihr Problem mit der deutschen Identität auf die Vergangenheit zurück, von der sie sich nicht vollkommen abzuspalten vermag.

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Der »Feuersturm« habe »nur noch eine ganz geringe Bedeutung« für das Erleben in der Familie – so die Aussage des Zeitzeugen. Dass sich die Nachwirkungen des »Feuersturms« jedoch im Alltagsleben der Familie erkennen lassen: »man ist immer so’n bisschen da, man ist immer dran geblieben an dieser Geschichte« (Familieninterview), lässt sich im folgenden Abschnitt erkennen. Familiäre Erzähltradition über den »Feuersturm« und die NS-Zeit

Die Frage »Wie war das früher?« wurde von Jörg Mendel als »Hüter der Familiengeschichte« häufig durch Besichtigungen von Schauplätzen, Bunkern oder auch durch Bilder aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges beantwortet. Er integrierte seine Familie somit in seine Interessen. Seinen Kindern gelang es, sich in einen größeren Zusammenhang im Familiengefüge einzuordnen. Den Wunsch, die eigene Vorgeschichte zu erfahren, um sich bewusst oder unbewusst definieren zu können, nennt dies der Familienforscher Manfred Cierpka (vgl. Cierpka et al., 2008). Der Zeitzeuge betreibt eine offene und kritische Auseinandersetzung mit der NSZeit, auch mit seiner eigenen Rolle als Hitlerjunge. Seine eigene »Verblendung«, er war in der Hitlerjugend, die ihn zunächst begeisterte, benennt er so: »Ich war Adolf Hitlers Kind geworden« (ZZ-Interview). Er wurde zum Hordenführer: »das war das erste kleine Abzeichen« (ZZ-Interview), bevor zwei Schlüsselerlebnisse seine Einstellung zum System verändern sollten. Zum einen steckte er seine Hände beim Appell wegen eisiger Kälte versehentlich in die Hosentaschen, was dazu führte, dass ihm von hinten so in die Kniekehle getreten wurde, dass er beim »Knochenbrecher« vorstellig werden musste. Ein Ereignis, das ihn nicht so schnell loslassen sollte. Zum anderen spielte er Fanfare für die Hitlerjugend: »Meine Fanfare war die schlechteste, weil sie nicht glänzte« (ZZ-Interview). Er wurde entlassen, weil die Fanfare nicht glänzte: »Das war für mich sowas Schlimmes«. Sichtlich verletzt kamen – so deutet er es im Nachhinein – die ersten Zweifel auf, ob, wie seine Tochter es beschrieb, die Hitlerjugend noch »der Knaller« sei. Kurz vor Kriegsende, so schildert der Zeitzeuge, »lief ja zuletzt alles durcheinander. Äh, ich weiß noch, wie unsere Hitlerjugend aufgelöst wurde. An einem Tag vor der Kapitulation mussten wir alle noch mal antreten und da war die ganze Sache schon irgendwie, äh=äh, ganz locker. Das seh ich heut noch, da saß unser Fähnleinführer, der, der war so’n bisschen schwergewichtig, der saß vor der Front auf ’m Stuhl, und das hab ich bis heut noch nicht begriffen. Der hat wohl damals schon gewusst mit seinen 18, äääh, morgen ist sowieso die Welt, ist alles zu Ende. […] Unser Führer ist gefallen. Und wir lösen hiermit das Fähnlein auf. Und denn durften wir nach Hause gehen« (Familieninterview). Im Nachhinein war dies ein Schlüsselereignis und wie eine Art Befreiungsschlag. Erziehungsmethoden, Kommunikation, Werte innerhalb der Familie, Beziehungen

Der Zeitzeuge beschreibt seine Beziehung zur eigenen Mutter als innig, als Ältester habe er viel gedurft und auch gleichzeitig viel Verantwortung für seine jüngeren Geschwis-

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ter übernehmen müssen. Sein Vater, Fahrer und Hilfsfunker an der Front, sei viel weg gewesen und habe ihm häufig als Orientierungsfigur gefehlt. Er habe den Kindern als durch den Krieg völlig veränderter Mann nach dem Krieg nicht mehr »übers Haar streichen können«. »Ich als stolzer Hitlerjunge seh’ da auf einmal diesen klapperdürren Mann.« Er konnte sich nicht mehr mit dem Vater identifizieren, der sich, seiner Meinung nach zur Verarbeitung des Erlebten, mehr und mehr dem Alkohol zuwandte. In seinem Elternhaus wurde wenig gesprochen: »Die Stille […], die schnürte alles ab« (ZZ-Interview). Der Wille, lebensbejahende Dinge zu erleben und sich von dem depressiven Milieu des Elternhauses zu distanzieren, erzwang den Auszug. Eine Erfüllung des Wunsches nach Autonomie gelang letztendlich durch die Schifffahrt. Was in seiner Primärfamilie nicht gelang, wollte Jörg Mendel in seiner eigenen Familie besser machen: »Wir haben alle Themen durchdiskutiert und das ging manchmal ganz schön heiß her« (Familieninterview). Die Diskussionen wurden gesucht und durch viele Fragen – ohne Scheu, so beschreibt es die Tochter Gabriele Schulle, kamen immer wieder »neue Geschichten« (Familieninterview). Obwohl der Zeitzeuge sich beruflich verausgabte und sogar an Feiertagen arbeitete, um seine Familie zu versorgen, fühlten seine Kinder sich wenig unterstützt. Die strenge, rigide Erziehung, die Jörg Mendel in seinem eigenen Elternhaus erfahren hatte, wurde beibehalten: Der Zeitzeuge hat einen hohen Anspruch an sich selbst und seine Kinder. Es herrscht eine Art Dominanz über das schwächere Glied in der Kette: »Es war ihm ein Vergnügen, uns vor anderen Leuten anzubrüllen«, so schildert es Helga Deeken im Kinderinterview. Sie beklagt des Weiteren eine mangelnde Anerkennung ihrer Fähigkeiten, wodurch ihr letztendlich auch ein Studium verwehrt worden sei. Dennoch behält die Tochter das Erziehungsmuster bei und erzieht ihren Sohn mit Strenge und hohem Anspruch. Gute Leistungen in der Schule, Mithilfe im Haushalt (Garten- und Blumendienst) und soziale Integrität scheinen enorm wichtig. Doch (auch) ihr Sohn scheint sich überfordert zu fühlen: In der Schule habe er ein schwieriges Verhältnis zu den Lehrern und seinen Mitschülern und auch im Einzelinterview entstand der Eindruck eines ruhigen, introvertierten Junge, der manchmal gar nicht zu wissen scheint, was um ihn herum geschieht. Seine Mutter scheint das Beste für ihren Jungen zu wollen und möchte ihn mit dem Verdacht einer Depression stationär behandelt wissen, da sie sich selbst außer Stande fühlt, die Probleme ihres Kindes zu lösen. Einstellung zu Gewalttaten und Krieg

Weder den Kindern des Zeitzeugen noch seinen Enkeln war/ist der Umgang mit Kriegsspielen erlaubt; der Enkel suggeriert, dass seine Eltern ihm das sofort wegnehmen würden, »aber ich möchte so etwas auch nicht spielen« (EZZ-Interview). Geprägt durch die schlimmen Kriegserfahrungen und Gewalttaten, die sein Großvater erleben musste, scheint sein Enkel dieses Verbot akzeptieren zu können. Die Tochter des Zeitzeugen, Helga Deeken, kann sich keine Kriegsfilme oder Bilder aus der Zeit ansehen. Der Sohn des Zeitzeugen dient hingegen der Bundeswehr

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und arbeitet beim Roten Kreuz. Der Enkel möchte in der damaligen Zeit nicht gelebt haben, er gucke zwar gerne »Star Wars«, möge Karl-May-Festspiele, die Gewalt an der Schule mache ihm jedoch Angst: »es gibt immer welche, die böse sind« (EZZ-Interview). Seine kindliche Naivität wird anhand von Aussagen wie: »Soldaten passen auf jeden auf, der nicht Böses macht«, deutlich. Auch sein Wunsch, »zur Bundeswehr würde ich gerne mal gehen« (EZZ-Interview), impliziert, dass der Junge keine klare Vorstellung von den Aufgaben und Pflichten eines Soldaten zu haben scheint. Für ihn sind Soldaten nur »die Guten«, die auf das Volk aufpassen. Subjektive Verarbeitung und Umgang mit dem »Feuersturm« in der Familie Der Zeitzeuge verarbeitete das Erlebte schon in der NS-Zeit aktiv durch die bewusste Thematisierung. In der Hitlerjugend erzählte er seinen Kameraden vom Brand Hamburgs, als sei es ein Abendteuer gewesen, fast stolz, dabei gewesen zu sein. Auch später als Schiffjunge distanzierte er sich nicht nur räumlich von dem Erlebten, sondern auch durch einen neutralen Tonfall gegenüber seinen Zuhörern. »Am Nachmittag haben wir die erste Erkundungstour in Hamburg gestartet. Auffallend sind die noch zahlreichen Trümmergrundstücke. Überall gibt es Notbehelfswohnungen« (Familieninterview). Dass einige Dinge »aktiv verdrängt« wurden, steht außer Frage. Jörg Mendel nennt seine gute Beziehung zur Mutter und auch zum Großvater, seine guten Gene und seine Neugier als hilfreiche Verarbeitungsmuster. Besonders die Mutter habe ihm immer vermittelt, dass man auch das Schwierige ertragen könne, wenn man in Verbindung mit dem guten Objekt sei: »Die muss wohl immer eingewirkt haben, sachte, sachte, und die hat vielleicht auch damals mal gesagt: ›Guck Dir das mal an, wie Dein Opa das macht!‹, und den liebte ich ja auch […] der konnte ja so wahnsinnig gut erzählen« (ZZ-Interview). Weiter nennt er auch seine Fähigkeit zum Ausbruch, das heißt die Dinge hinter sich zu lassen und zur See zu fahren, das heißt Konsequenzen daraus zu ziehen, dass er mit dem Vater nicht auf »eine Welle kam« (ZZ-Interview). Die Abkommandierung des geliebten Großvaters nach Dachau (bedingt durch seine kritische Haltung gegenüber dem System) und seine eigenen seelischen Verletzungen in der Hitlerjugend führten dazu, dass der anfangs stolze Hitlerjunge bereits vor dem Kriegsende nicht mehr an den Endsieg glaubte. Er entfremdete sich von sämtlichen Bezugspersonen, wie zum Beispiel von seinen nationalsozialistischen Lehrern, aber auch von seinem Vater, den er bei dessen Heimkehr kaum wiedererkannte. Durch die »Flucht nach vorn«, durch die Idee der Seefahrt, vermied er den Konflikt mit seinem Vater, der nach seiner Wahrnehmung überzeugter vom System und sehr angepasst gewesen sei. Durch die aktive Auseinandersetzung und das kritische Hinterfragen »seiner Rolle« im System besteht eine deutliche Diskrepanz zu anderen Zeitzeugen. Er kritisiert dieses aktive Verdrängen und Leugnen der eigenen Verwicklung massiv. Es scheint, als habe er durch die »Fähigkeit zur Scham über die eigene Verwicklung« (NageVe des ZZInterviews) einen Verarbeitungsprozess durchlaufen, um das Erlebte aus einer größeren Distanz, als etwas Gewesenes betrachten zu können. Auffällig ist der Aktionismus des

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Zeitzeugen, der zusätzlich zu seinem Ehrenamt als Archivar und dem Naturschutzbund viele Nebenprojekte ausübt, die ihm die Freude am Leben erhalten und ihn resümieren lassen: »Wir haben ein schönes Leben gehabt. Kann man ruhig sagen. Trotz dieser Ereignisse« (Familieninterview). Tradierung

Schwermut/Depression: Auf den ersten Blick scheint es, dass die »Krankheit« des Vaters des Zeitzeugen, den Jörg Mendel als depressiv und wenig lebensbejahenden Menschen bezeichnet – »an Jahrestagen kommt das alles wieder hoch […] und dann, und dann wird darüber gesprochen« – bei Ewald Deeken (EZZ) wieder auftritt. Vielleicht aber ist er nur derjenige, der den Mut hat, »den Frust« rauszulassen. Seiner Mutter zufolge habe er »ganz viel Frust« (KZZ-Interview), vielleicht bedingt durch die Dominanz der Eltern, einerseits verknüpft mit den hohen Erwartungen an die Kinder und andererseits mit einer Art Hinderung an den Möglichkeiten: Der Zeitzeuge verließ sein Elternhaus früh – so auch seine eigenen Kinder. Beide Generationen waren unzufrieden mit der Unterstützung, die sie von Zuhause bekamen (Hinderung am Studium) und strebten nach Unabhängigkeit. Die Angst vor Kriegswiederholung, die in dem Zeitzeugen steckt, hat er familiär weitergegeben. Zwar sind der Umgang mit Krieg und die Konfrontation mit diesem Thema verschieden – die einen gucken sich Bilder über diese Zeit an (Sohn und jüngste Tochter), während andere (Helga Deeken) dieses vermeiden –, dennoch sind sie sich einig, dass sie in so einer Zeit nicht gelebt haben wollen und ihnen der Gedanke einer Wiederholung Angst mache (vgl. Familieninterview). Zu erwähnen bleibt das besondere Verhältnis zu Tieren. Dass die Schildkröten damals im Leben des Zeitzeugen eine wichtige Rolle spielten, wurde bereits geschildert. Diese Tierliebe hat er weitergeben, die Familie hatte immer Haustiere, »so 50 Tiere«, um die es sich aufopferungsvoll zu kümmern galt. Gabrielle Schulle ist heute, aus Rücksicht gegenüber dem Tier, Vegetarierin: »Tierliebe ist, glaube ich, ’n ganz großes Thema. Also das ist was, was ich von meinem Vater in die Wiege gelegt bekommen habe« (Familieninterview). Der Zeitzeuge vermittelt transgenerational aktives Geschichtsinteresse: »wir waren immer eine geschichtsbewusste Familie«, und die Wichtigkeit der offenen Kommunikation. So spricht Gabriele Schulle mit ihrem Sohn auch über beispielsweise »schreckliche Dinge«. Ebenso sind ihrer Schwester Diskussionen wichtig und sie gibt an, keine Auseinandersetzung mit ihrem Sohn zu scheuen. Die Familie Mendel kann man als eine sehr geschichtsbewusste Familie bezeichnen, die sich mit der Problematik der Zeit intensiv auseinandersetzen will und sich auch nicht davor drückt, heikle Themen zu diskutieren, obgleich auch eine Spaltung innerhalb der Familie erkennbar wird. Ein sehr offener Umgang, eine offene Kommunikation, Erzählbereitschaft zeichnet einen Teil der Familie aus (ZZ, jüngste Tochter), während ein anderer Teil sich davon distanziert (so auch zum Beispiel nicht zum Familiengespräch erscheint).

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Genogramm der Familie Mendel Das Genogramm der Familie (siehe Abbildung 1) wurde in Anlehnung an die in der Familiendiagnostik übliche Art und Weise erstellt (vgl. Cierpka, 2008). Dabei werden primär vier verschiedene Dimensionen untersucht und graphisch dargestellt: –– Zunächst erfolgt eine Abbildung der Familienstruktur und der Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder untereinander. Der sogenannte vertikale Blick, das heißt der Blick auf die einzelnen Generationen im zeitlichen Kontext, ermöglicht eine Überprüfung auf repetitive Muster im Familiengefüge. –– Dann werden die Informationen über die Einstellung jedes Einzelnen zum Zweiten Weltkrieg und dem »Feuersturm« insgesamt abgebildet. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema und die Art der Kommunikation sowie der Umgang mit Emotionen werden bildlich dargestellt. –– Auch Krankheiten, die innerfamiliär unabhängig von Kriegsereignissen als mögliche Folge des »Feuersturms« und Krieges oder als Korrelat eines anderen traumatischen Erlebens auftreten und als mögliche instabile Faktoren im Familiensystem zu identifizieren sind, finden Beachtung. –– Schließlich werden die Erziehungsmethoden, die für die jeweilige Zeit charakteristisch waren, aufgezeigt, so dass Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den Generationen rasch zu erkennen sind. Interpretation des Genogramms der Familie Mendel

Betrachtet man das erstellte Genogramm (Abbildung 1), fällt der Blick zunächst einmal auf die innerfamiliären Beziehungen. Es wird deutlich, dass der Zeitzeuge einen sehr großen Bezug zu seinem dem System gegenüber kritisch eingestellten Großvater mütterlicherseits hat. Das Verhältnis zu seinem Vater, der, wie oben bereits geschildert, durch seine Abwesenheit zu Diensten des Staates als Vorbild ausfiel, war distanziert, und als er nach dem Krieg zudem alkoholkrank wurde, entfremdete sich das Verhältnis weiter. Erkrankungen: Sowohl der Vater des Zeitzeugen als auch seine Mutter erkrankten im Alter. Sein Vater wurde alkoholkrank, was man als eine Art Reaktion auf die traumatischen Kriegs- beziehungsweise »Feuersturm«-Erlebnisse verstehen kann. Die Mutter des Zeitzeugen wurde im Alter demenzkrank. Zwei der drei Geschwister des Zeitzeugen sind bereits verstorben, der jüngere Bruder beging Suizid. Die jüngste Schwester des ZZ liegt krankheitsbedingt im Sterben. Jörg Mendel trug als ältester Sohn die meiste Verantwortung und es scheint ihm am besten gelungen zu sein, mit dem Erlebten umzugehen. Seine Stärke, die er durch sein aktives Leben geschöpft oder auch bewahrt zu haben scheint, kristallisiert sich – in Abgrenzung zu seinen Geschwistern – heraus. Beim Betrachten des Genogramms unter der Perspektive von Krankheiten fällt auf, dass die Kindergeneration vollständig als gesund gilt und nur der Enkel Ewald Deeken an einer von seinen Eltern beschriebenen Depression leidet.

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Abbildung 1: Genogramm Familie Mendel

Die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg fand, wie in der Graphik ersichtlich, mit unterschiedlicher Intensität und gemischtem Interesse bei allen vier Kindern des Zeitzeugen statt. Festzuhalten ist hier, dass das Interesse der Kindergeneration großen Einfluss auf die Enkelgeneration zu haben scheint. Am Beispiel der ältesten Tochter lässt sich dies belegen. Aus Sicht des Zeitzeugen – leider konnte kein Interview mit ihr stattfinden – sei sie wenig an den Erzählungen ihres Vaters interessiert. Obwohl ihr Sohn mit 14 Jahren der älteste Enkel ist und potenziell der reifste Zuhörer

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Die dritte Generation und die Familien

wäre, schildert der Zeitzeuge, dass diesen außer Sport wenig interessiere. Als Gegenbeispiel vermittelt Frau Gabriele Schulle, die jüngste Tochter, ihr eigenes aktives Interesse auch an ihren Sohn weiter. Auch der Faden einer strengen rigiden Erziehung lässt sich anhand des Genogramms schnell nachvollziehen. Wenn man die Berufswahl der Kinder des Zeitzeugen betrachtet, fällt auf, dass alle seine Nachkommen eine Art Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Die Wichtigkeit der Menschennähe, die Möglichkeit, Menschen durch Bilder oder Text Botschaften zu vermitteln, fällt auf. Die älteste Tochter versucht die Transportation von Botschaften als Redakteurin, während die jüngste als Fotografin tätig ist. Auch der Sohn des Zeitzeugen, beim Roten Kreuz tätig, arbeitet mit Menschen zusammen und führt den Dienst für die Institution der Bundeswehr – sein Vater war früher Beamter beim Wetterdienst – fort.

Fazit In diesem Fallbeispiel lässt sich erkennen, dass die Erlebnisse im »Hamburger Feuersturm« unbewusst oder bewusst in der vorgestellten Familie tradiert worden sind und im Familiengedächtnis über die Generationen weiterleben. Jedes der Familienmitglieder fühlt sich in der Pflicht, sich mit diesem Thema offen auseinanderzusetzen. Wenngleich das Interesse, sich darüber innerhalb der Familie intensiver auszutauschen, vereinzelt abgeklungen ist, fand jedoch die primäre Beschäftigung mit den Themen Krieg und »Feuersturm«, das heißt die Erkundung Hamburgs im Zusammenspiel mit den Erzählungen der Ereignisse des »Feuersturms« als Teil Hamburger Stadtgeschichte, bei der gesamten Familie statt. Die Wichtigkeit, dieses Stück der Familiengeschichte erfahren zu haben, scheint bei allen Familienmitgliedern einen hohen Stellenwert zu haben, wenngleich das aktuelle Interesse der Familie und das Bewahren dieser Erlebnisse divergiert. Dieses Bewusstsein für die Themen Krieg und »Feuersturm« wird transgenerational vermittelt und das Verdrängen, wie es viele andere Zeitzeugen praktizieren würden, in der Familie kritisiert. In unserer kleinen und hoch selektiven Stichprobe (vgl. hierzu Meyer-Madaus, in Vorbereitung) ist diese Art des offenen Umgangs hervorzuheben. Auch die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten werden offen thematisiert. Die Familie kann man als »bewusste und für Kritik offene Familie« bezeichnen. Ob sich ein solcher Familientyp herausarbeiten lässt, wird die weitere Beschäftigung mit dem Material zeigen.

Literatur Boszormenyi-Nagy, I., Spark, G. M. (1973/2001). Unsichtbare Bindungen. Stuttgart: Klett-Cotta. Cierpka, M., Reich, G., Massing, A. (2008). Mehrgenerationenperspektive und Genogramm. In M. Cierpka (Hrsg.), Handbuch der Familiendiagnostik (S. 259–289). Heidelberg: Springer. Kerr, M. E., Bowen, M. (1988). Family evaluation: An approach based on Bowen Theory. New York u. London: WW Norton & Company. Lamparter, U., Apel, L., Thießen, M., Wierling, D., Holstein, C., Wiegand-Grefe, S. (2009). Zeitzeu-

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A. Meyer-Madaus/S. Wiegand-Grefe · Drei Generationen im Familieninterview

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gen des Hamburger Feuersturms und ihre Familien. In H. Radebold, W. Bohleber, J. Zinnecker (Hrsg.), Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen (S. 215–256). Weinheim: Juventa. Massing, A., Reich, G., Sperling, E. (1992). Die Mehrgenerationen Familientherapie (2. bearb. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mendell, D., Fischer, S. (1956). An approach to neurotic behavior in terms of a three generational family model. The Journal of Nervous and Mental Disease, 123, 171–180. Meyer-Madaus, A. (in Vorbereitung). Die transgenerationale Weitergabe traumatischer Kriegsereignisse am Beispiel des Hamburger Feuersturms – eine qualitative Analyse aus der Familienperspektive. Dissertation. Universität Hamburg, Fachbereich Medizin.

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Lydia Morgenstern/Christin Raddatz/Stefan Nickel/Birgit Möller/ Ulrich Lamparter/ Silke Wiegand-Grefe

Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« und die transgenerationale Weitergabe von Kriegserfahrungen Befunde aus der Familienperspektive

In modernen Designs zu komplexen Forschungsgegenständen und Forschungsfragen werden qualitative und quantitative methodische Ansätze miteinander verbunden. In dem Forschungsprojekt »Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms (1943) und ihre Familien« wurde daher versucht, ergänzend zur qualitativen Interviewmethode in einer quantitativen Untersuchung transgenerationale familiäre Vermittlungsprozesse zu erfassen. Das Projekt in seinem Mixed-Methods-Design ist in früheren Arbeiten bereits ausführlich beschrieben worden (vgl. Lamparter et al., 2008; Lamparter et al., 2010; Wiegand-Grefe u. Möller, 2012) und wird in dem Beitrag von Ulrich Lamparter in diesem Band zusammenfassend dargestellt. Problematisch ist, dass kein Fragebogen zur Messung der transgenerationalen Dynamik über mehrere Generationen existiert. Überdies beziehen sich alle familiendiagnostischen Instrumente auf höchstens zwei gegenwärtig zusammenlebende Eltern-KindGenerationen, nicht auf Dynamiken über drei Generationen. Zudem sind bestehende Instrumente in der Regel familiendiagnostische Verfahren unter dem Blickwinkel familientherapeutischer Interventionen, jedoch keine auf unsere Fragestellungen transgenerationaler Traumaübermittlung zugeschnittenen Messinstrumente. Zur Lösung dieser methodischen Probleme haben wir bereits existierende, standardisierte Fragebögen zur Familiendynamik für jeweils zwei Generationen mehrmals unter verschiedener Blickrichtung in der Instruktion (Blick auf die Herkunftsfamilie und Blick auf die eigene Familie) angewandt. Darüber hinaus wurden im Projekt eigene Untersuchungsinstrumente (für jede Generation getrennt) mit ad hoc formulierten Items zum Einfluss der Kriegserfahrungen auf die Erziehung entwickelt (sogenanntes »Kriegskind-Modul«, Lamparter et al., 2008, Wiegand-Grefe, 2008; vgl. auch die Ausführungen von Wiegand-Grefe in Lamparter et al., 2008). Das quantitative Design zur Familiendynamik sah letztlich wie in Tabelle 1 dargestellt aus.

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L. Morgenstern et al. · Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms«

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Tabelle 1: Design der Fragebogenuntersuchungen über drei Generationen im »Hamburger Feuersturm«-Projekt (Tabelle übernommen aus Wiegand-Grefe, 2008, S. 228) Bearbeiter

Messinstrument

Betroffene

–– PBI mit Blick auf die Eltern (Herkunftsfamilie) –– FB-A mit Blick auf eigene, jetzige Familie –– innerhalb jedes Instrumentes Ad-hoc-Items zur transgenerationalen Weitergabe des Erlebnisses »Feuersturm« –– Ad-hoc-Items zum Erleben des »Feuersturms« (»Kriegskind-Modul«)

1. Generation (Kinder)

–– –– –– ––

2. Generation (Enkel)

–– –– –– ––

PBI mit Blick auf die Eltern FB-A mit Blick auf die Herkunftsfamilie FB-A mit Blick auf die eigene Familie innerhalb jedes Instrumentes Ad-hoc-Items zur transgenerationalen Weitergabe des Erlebnisses »Feuersturm« –– Ad-hoc-Items zum Erleben des »Feuersturms« der Eltern­generation aus Sicht der Kinder (»Kriegskind-Modul«) PBI mit Blick auf die Eltern FB-A mit Blick auf die Herkunftsfamilie FB-A mit Blick auf die jetzige Familie (sofern vorhanden) innerhalb jedes Instrumentes Ad-hoc-Items zur transgenerationalen Weitergabe des Erlebnisses »Feuersturm« –– Ad-hoc-Items zum Erleben des »Feuersturms« der Großelterngeneration aus Sicht der Enkel (»Kriegskind-Modul«)

Unser Beitrag berichtet in Auszügen über die Ergebnisse der Fragebogenuntersuchungen an der Zeitzeugengeneration zur Familiendynamik sowie die entsprechenden Ergebnisse der Kindergeneration im FB-A (Cierpka u. Frevert, 1995) und im PBI (Parker, 1979) sowie im »Kriegskind-Modul«. In laufenden Qualifikationsarbeiten von Raddatz (in Vorbereitung) und Morgenstern (in Vorbereitung) wird diese Gegenüberstellung unter verschiedenen Aspekten weiter ausgearbeitet. Die Fragebögen der Enkelinnen und Enkel der Zeitzeugen konnten in diesem Zusammenhang leider nicht sinnvoll ausgewertet werden, weil es zu wenige waren (N = 16) und die Altersgruppe der Enkel zu breit streute (vgl. den Beitrag von Hofer und Wiegand-Grefe in diesem Band).

Fragestellungen Hier gehen wir folgenden Fragestellungen nach: –– Wie beschreiben die Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« und deren Kinder ihre Familien in den Dimensionen des FB-A zur familiären Funktionalität (»Aufgabenerfüllung«, »Rollenverhalten«, »Kommunikation«, »Emotionalität«, »Affektive Beziehungsaufnahme«, »Kontrolle«, »Werte und Normen«)? Welche Stärken/ welche Schwächen haben die Familien? –– Wie stellt sich der wahrgenommene elterliche Erziehungsstil im Fragebogen PBI in den Dimensionen »Fürsorge« und »Kontrolle« in den Familien dar? –– Wie beschreiben die Kinder der Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« ihre

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Die dritte Generation und die Familien

Herkunftsfamilien und ihre eigenen Familien im Hinblick auf die transgenerationale Weitergabe der Kriegserfahrungen in der Elterngeneration?

Methodik Messinstrumente

Die Einschätzung der Familiendynamik in ihren Dimensionen der Funktionalität der Familie erfolgte mit dem »Allgemeinen Familienbogen« (FB-A; Cierpka u. Frevert, 1994). Zur Messung der Dimensionen »Fürsorge« und »Kontrolle« der Elterngeneration gegenüber der Kindergeneration und der damit verbundenen Erfassung der mehrgenerationalen Familiendynamik setzten wir das »Parental Bonding Instrument« (PBI) ein (Parker, 1979). Der Allgemeine Familienbogen (FB-A)

Die Familienbögen FB (Cierpka u. Frevert, 1994) sind eine deutsche Variante der McMaster Family Assessment Device (MFAD, Epstein, Baldwin u. Bishop, 1983). Die Family Assessment Device (MFAD) ist ein sechzig Items umfassendes Selbstbeschreibungsinstrument, welches Aspekte der Familienbeziehungen auf der Grundlage des »McMaster Model of Family Functioning« (Epstein et al., 1983) darstellt. Die Familienbögen sind ebenfalls als Selbstberichtsinstrument eine Operationalisierung des Familienmodells von Cierpka (1990), das eine Weiterentwicklung des »McMaster Model of Family Functioning« (Epstein, Bishop u. Levin, 1978) und eine überarbeitete Version des »Process Model of Family Functioning« von Steinhauer (1984) darstellt. Die Familienbögen können sowohl im klinischen Setting als auch in der Forschung über die perzipierten Familienprobleme eingesetzt werden. Die Aussagen werden in sieben Bereichen (»Aufgabenerfüllung«, »Rollenverhalten«, »Kommunikation«, »Emotionalität«, »Affektive Beziehungsaufnahme«, »Kontrolle«, »Werte und Normen«) gebündelt, die als Dimensionen des Familienmodells beschrieben werden und in den Familienbögen als Skalen operationalisiert sind. Der Test besteht aus drei Modulen mit je 28 Items. Für die in diesem Beitrag vorgestellte Untersuchung wird die gesamtfamiliäre Perspektive dieses Fragebogens (Allgemeiner Fragebogen, FB-A) mit 28 Items verwendet. Der FB-A beinhaltet dabei zusätzliche 12 Items, die neben den sieben bereits erwähnten Funktionsbereichen die Kontrollskalen »Soziale Erwünschtheit« und »Abwehr« bilden. Die Einschätzung der Items erfolgt auf einer vierstufigen Ratingskala. Die Items werden nachträglich so gepolt, dass angegebene Probleme zu einer Erhöhung des Skalenwertes führen. Je mehr ein T-normierter Wert über 60 liegt und je mehr Familienmitglieder ihn aufweisen, desto eher deutet dies auf eine Dysfunktionalität der Familie in diesem Bereich hin. Die Interkorrelationen der Skalen legen nahe, dass ein »Summenwert« aller sieben Skalen die Stärken beziehungsweise Schwächen der Familien reliabel zu beschreiben vermag. Alle 28 Items des »Allgemeinen Familienbogens« lassen sich mit einem Cronbach-Alpha von 0,88 zusammenfassen. Die Validität der Familienbögen wurde in verschiedenen Studien belegt.

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L. Morgenstern et al. · Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms«

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Das Parental Bonding Instrument (PBI)

Das Parental Bonding Instrument (PBI; Parker et al., 1979), ins Deutsche übersetzt von Lutz, Heyn und Kommer (vgl. Fragebogen zur elterlichen Bindung FEB, 1995), ist ein Selbstauskunftsfragebogen zur Erhebung des subjektiv erinnerten elterlichen Erziehungsstils während der ersten 16 Lebensjahre. Mütterlicher und väterlicher Erziehungsstil werden dabei getrennt voneinander über jeweils 25 identische Items erfragt. Die Ausprägung der Zustimmung beziehungsweise Ablehnung der Aussagen erfolgt mit Hilfe einer vierstufigen Likertskala (»stimmt genau«, »stimmt in etwa«, »nein, kaum« und »nein, überhaupt nicht«). Parker et al. (1979) operationalisierten das elterliche Erziehungsverhalten über die zwei Dimensionen »care« (Skala »Fürsorge«, 12 Items) und »overprotection« (Skala »Kontrolle«, 13 Items). »Fürsorge« beinhaltet den positiven Pol »elterliche Zugewandtheit«, »emotionale Wärme« und den negativen Pol »Zurückweisung«, »emotionale Kälte«. »Kontrolle« besteht aus dem positiven Pol »Förderung der Unabhängigkeit«, »Unterstützung in der Entwicklung von Autonomie« und dem negativen Pol »starke elterliche Kontrolle«, »Überbehütung«, »Verhinderung autonomen Verhaltens«. Anhand dieser zwei Skalen und des von Parker et al. (1979) entwickelten Vier-Felder-Modells können folgende vier Erziehungsstile mit dem PBI klassifiziert werden: a) optimale Bindung (hohe Fürsorge und geringe Kontrolle), b) liebevolle Einschränkung (hohe Fürsorge und hohe Kontrolle), c) lieblose Kontrolle (geringe Fürsorge und hohe Kontrolle) und d) fehlende oder schwache Bindung (geringe Fürsorge und geringe Kontrolle). Cut-off-Werte sind sowohl für die Mütter- als auch für die Väter-Skalen vorhanden. Bei der Skala »Fürsorge« liegen die Werte bei 27 für Mütter beziehungsweise 24 für Väter und bei der Skala »Kontrolle« bei 13,5 für Mütter beziehungsweise 12,5 für Väter. Anwendung findet das PBI in der Forschung, insbesondere bei klinischen Fragestellungen. Das »Kriegskind-Modul«

Das bei der »Erlebensgeneration« eingesetzte »Kriegskind-Modul« setzt sich aus insgesamt 23 Items zusammen, die entweder mit »ja« oder »nein« beziehungsweise mit einer vierstufigen Skala von »stimmt genau« bis »stimmt überhaupt nicht« beantwortet werden können. Für eine solche gerade Anzahl an Ausprägungen entschieden wir uns aus methodischen Gründen: um eine Antworttendenz zu erzwingen und keine »Nullantworten« zu ermöglichen. Diese Art der Itemvariante bringt jedoch bekanntermaßen eine nachteilige Tendenz zu positiven Antworten mit sich, die wir jedoch in Kauf nehmen mussten. Methodisch haben wir außerdem die Antworttendenzen unterschiedlich gepolt, so dass abwechselnd eine zustimmende oder eine ablehnende Antwort in die hypothetisch vermutete Richtung weist. Inhaltlich konzentrieren sich die ersten sechs Fragen des »Kriegskind-Moduls« auf die persönliche Betroffenheit vom »Feuersturm«, wie zum Beispiel: In welchem Stadtteil und wie schwer wurden die Luftangriffe erfahren, wurde das Wohnhaus, der eigene Haushalt betroffen oder haben die Zeitzeugen gar Angehörige im »Feuersturm« verloren? Eine Einschätzung zur familiären Bedeutung des »Feuersturms« sollte durch vier weitere Fragen vorgenommen werden: Wirkt sich

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Die dritte Generation und die Familien

das Bombenkriegserlebnis noch heute auf die Familie aus, haben die Zeitzeugen ihre Erfahrungen an Kinder und Enkel weitergegeben, mit ihnen darüber gesprochen, oder hat der »Feuersturm« bei der Erziehung der Kinder eine Rolle gespielt? Im Weiteren wurden angelehnt an eine Beschreibung von Radebold (2005) über typische Verhaltensmuster der Kriegskindgeneration Items zu einem generationstypischen intentionalen Erziehungsverhalten formuliert, das möglicherweise die transgenerationale Weitergabe beeinflusst hat, wie zum Beispiel das Aufheben von Dingen (die vielleicht später noch gebraucht werden könnten); die Suche nach Wärme und Geborgenheit; ein sparsamer Umgang mit Ressourcen; Sicherheitsstreben; das Kämpfen um den Erhalt der Autonomie; das Kämpfen um den Erhalt des Eigentums; eine fehlende Rücksichtnahme sich selbst gegenüber; »sofort zum Aufbruch bereit sein«; eine Angst, Menschen zu verlieren; bestehende Schwierigkeiten, zu trauern; vorsichtige, skeptische bis misstrauische Einstellung gegenüber der Umwelt (vgl. Lamparter et al., 2008). Nach diesen Frageblöcken sollten die Befragten mit spontanen Antworten 13 Einstellungssätze bewerten (zum Beispiel: »Ich finde es leichter, mit meinen Enkeln über meine Kriegserlebnisse zu sprechen als mit meinen Kindern«). Diese Feststellungen können in einer vierstufigen Skala von »stimmt genau« bis »stimmt überhaupt nicht« (im Antwortformat des FB-A) beantwortet werden, vertiefen noch einmal den Komplex der Weitergabe und Transgenerationalität und werden dem FB-A und dem PBI angefügt. Bei den Kindern der Zeitzeugen wurden die Items des »Kriegskind-Moduls« so umformuliert, dass sie zum einen Auskunft über ihr Wissen dazu einholten, was den Eltern im »Feuersturm« widerfahren war (zum Beispiel: »Hat ihre Mutter/ihr Vater die Bombardierung persönlich erlebt?«), und zum anderen Einschätzungen dazu erfragten, inwieweit die Kriegserfahrungen ihrer Eltern sich auf das Zusammenleben, die Erziehung der Kinder und das Leben der Eltern insgesamt ausgewirkt haben. Neben der Einschätzung der Herkunftsfamilie wurden über weitere 13 Aussagen typische Verhaltensmuster der Kriegsgeneration im Umgang mit ihren Enkeln aus Sicht der Kindergeneration erfragt (zum Beispiel: »Meine Mutter/Mein Vater findet es leichter, mit den Enkeln über ihre/seine Kriegserlebnisse zu sprechen, als mit ihren/seinen Kindern«). Einschätzungen der Kinder der Zeitzeugen im »Kriegskind-Modul« erfolgten demnach ebenfalls – analog der standardisierten Fragebögen FBA und PBI – zum einen mit Blick auf die Herkunftsfamilie und zum anderen mit Blick auf die eigene gegenwärtige Familie. Stichprobe

Die Rekrutierung der Untersuchungsgruppe der Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« ist in den Beiträgen von Ulrich Lamparter und Linde Apel in diesem Band ausführlich beschrieben. Die in diesem Beitrag vorgestellten Daten wurden im Rahmen der Fragebogenuntersuchungen an dieser Untersuchungsgruppe und ihren Nachkommen erhoben. Hier wurden alle Probanden einbezogen, die von sich selbst sagen, sie hätten den »Hamburger Feuersturm« als Kind erlebt und die für uns auch postalisch aus den Adresslisten der »Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg« und der »Geschichts-

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L. Morgenstern et al. · Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms«

werkstatt Eimsbüttel« erreichbar waren. Außerdem wurden die Kinder der Zeitzeugen, soweit sie für uns erreichbar waren, gebeten an der Untersuchung teilzunehmen. Stichprobenbeschreibung

Für die Stichprobenbeschreibung der Zeitzeugen verweisen wir auf den Beitrag von Ulrich Lamparter in diesem Band. Die Beschreibung der Stichprobe der in unsere Untersuchung eingegangenen Kinder der Zeitzeugen stellt sich wie in Tabelle 2 dargestellt dar. Tabelle 2: Soziodemographische Charakteristika (absolute und relative Häufigkeiten; N = 81) Merkmal

N

Geschlecht weiblich männlich Nationalität deutsch sonstige Geburtsjahr (∅ Alter) 21–30 Jahre 31–40 Jahre 41–50 Jahre 51–60 Jahre 61–70 Jahre Familienstand ledig verheiratet getrennt/geschieden verwitwet wieder verheiratet Anzahl der Kinder (∅ Anzahl) kein Kind 1 Kind 2 Kinder 3 Kinder über 3 Kinder Häusliche Gemeinschaft allein (Ehe-)Partner Partner und Kind Kind Eltern/-teil Verwandte/Bekannte Heim Sonstige

%

46 35

56,8 43,2

81 0

100,0 0,0

2 14 43 18 4

(∅ 46,4 Jahre) 2,5 17,3 53,1 22,2 4,9

11 24 12 1 0

22,9 50,0 25,0 2,1 0,0

18 9 15 4 2

37,5 18,8 31,3 8,3 4,2

8 14 15 7 1 0 0 2

17,0 29,8 31,9 14,9 2,1 0,0 0,0 4,3

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Die dritte Generation und die Familien

Ergebnisse Die Zeitzeugengeneration

Zunächst wird zusammenfassend dargestellt, wie sich die Untersuchungsgruppe der Zeitzeugen in dem »Allgemeinen Familienbogen« (FB-A) mit Blick auf die eigene gegenwärtige Familie im Geschlechtervergleich beschreibt (Abbildung 1). Für die männlichen Zeitzeugen liegen die T-normierten Werte des FB-A zwischen 51,0 und 61,7 und für die weiblichen Zeitzeugen zwischen 46,6 und 57,3. Bei den Kontrollskalen »Soziale Erwünschtheit« und »Abwehr« betragen die Werte 41,6 und 41,1 für Männer sowie 46,9 und 44,4 für Frauen. Am höchsten ausgeprägt und damit am konflikthaftesten erscheint die Dimension »Rollenverhalten« sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Sie ist auch die einzige Dimension, die bei der Subgruppe der männlichen Zeitzeugen mit T = 61,7 den kritischen Bereich von > 60 – allerdings geringfügig – überschreitet. Auffällig bei der Gegenüberstellung der Einschätzungen von Frauen und Männern ist des Weiteren die von Männern konfliktreichere Beurteilung ihrer Familien im Vergleich zu Frauen. Signifikante Geschlechterunterschiede sind bei den Skalen »Aufgabenerfüllung«, »Kommunikation«, »Emotionalität«, »Affektive Beziehungsaufnahme« und dem FB-A-»Summenwert« zu finden (p ≤ 0,05). Bei der Skala »Aufgabenerfüllung« zeigt sich sogar ein p-Wert von ≤ 0,001. Eine mögliche Erklärung für diese Unterschiede zeigen die Kontrollskalen »Soziale Erwünschtheit« und »Abwehr«, in denen die weiblichen Zeitzeugen jeweils etwas höher liegen. Dieser Unterschied ist allerdings nicht signifikant.

Abbildung 1: Vergleich der familiären Funktionalität nach Subskalen und Kontrollskalen des FB-A und nach Geschlecht (T-normierte Werte; hohe Werte > 60: kritische Bereiche)1 Anmerkungen: AE = Aufgabenerfüllung; RV = Rollenverhalten; KOM = Kommunikation; E = Emotionalität; AB = Affektive Beziehungsaufnahme; K = Kontrolle; WN = Werte und Normen; SUM = Summenwert; Kontrollskalen: SE = Soziale Erwünschtheit; A = Abwehr, * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01; *** p ≤ 0,001 (t-Test für unabhängige Stichproben), 1 Referenzgruppe: Familien mit älteren Kindern, mind. 12 Jahre (Phase 4 im Familienlebenszyklus).

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Die Befunde des PBI in der Zeitzeugengeneration mit Blick auf ihre Herkunftsfamilie werden in Abbildung 2 dargestellt. Entscheidend bei der Betrachtung der Ergebnisse sind die Überschreitungen der von Parker et al. (1979) berechneten Cut-off-Werte in den familiären Dimensionen »Fürsorge« und »Kontrolle«. Überschritten wird dieser mit dem Mittelwert (M = 24,9) der Skala »Fürsorge durch den Vater« (Cut-off-Wert = 24). Das Ergebnis beschreibt demzufolge eine von den Zeitzeugen erlebte höhere väterliche Fürsorge bei gleichzeitig weniger väterlicher Kontrolle. Nach Parkers (1979) Vier-Felder-Modell wird diese Konstellation als Erziehungsstil mit »optimaler Bindung« beschrieben. Der Mittelwert der Skala »Fürsorge durch die Mutter« liegt mit 24,9 dagegen unterhalb des vorgegebenen Cut-off-Werts von 27, was einen durch weniger mütterliche Fürsorge und weniger Kontrolle geprägten Erziehungsstil beschreibt und nach Parker (1979) als eher »schwache Bindung« zu deklarieren ist. Die Skalen »Kontrolle durch die Mutter« sowie »durch den Vater« liegen dagegen beide unterhalb der Cut-off-Werte und werden, wie bereits oben beschrieben, mit niedriger Kontrolle in Verbindung gebracht.

Abbildung 2: Familiäre »Fürsorge« und »Kontrolle« nach PBI (Mittelwerte; Maximum = 39 beziehungsweise 36)

Die Ergebnisse des PBI mit Blick auf die unterschiedlich erinnerte erlebte »Kontrolle« und »Fürsorge« durch die Eltern der weiblichen und männlichen Zeitzeugen sind in Abbildung 3 graphisch aufbereitet. Im Geschlechtervergleich beschreiben signifikant mehr Frauen eine erlebte Kontrolle durch den Vater als die männliche Subgruppe (p ≤ 0,01). Der Mittelwert für Frauen überschreitet hier sogar den Cut-off-Wert von 12,5. Demnach haben Frauen ihre Väter als weniger fürsorglich und vermehrt kontrollierend empfunden. Nach Parker (1979) ist dieser Erziehungsstil als »lieblose Kontrolle« definiert. Männer beschreiben den väterlichen Erziehungsstil dagegen als fürsorglich und wenig kontrollierend, was unter der Kategorie »optimale Bindung« zusammengefasst werden kann. Der mütterliche Erziehungsstil wird dagegen von Frauen und Männern

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als weniger fürsorglich und weniger kontrollierend beschrieben, was nach Parker (1979) auf eine »schwache Bindung« hinweist.

Abbildung 3: Vergleich der familiären »Fürsorge« und »Kontrolle« nach Geschlecht (Mittelwerte der PBI-Skalen; Maximum = 39 beziehungsweise 36) Anmerkungen: * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01 (t-Test für unabhängige Stichproben)

Ergebnisse der Kinder der Zeitzeugen im FB-A und im PBI

Die Ergebnisse der Kinder im FB-A zur Herkunftsfamilie – also der Generation der Zeitzeugen – sind in Abbildung 4 dargestellt. Wie in der Elterngeneration ist auch bei den Kindern der Zeitzeugen ein Geschlechterunterschied hinsichtlich des beurteilten Konfliktreichtums innerhalb ihrer Herkunftsfamilien zwischen Männern und Frauen zu finden. Die T-normierten Werte der Männer liegen dabei, über alle sieben Dimensionen hinweg, höher (zwischen 42,2 und 53,0) als die Werte der Frauen (zwischen 33,3 und 49,9). Signifikante Unterschiede sind bei den Dimensionen »Aufgabenerfüllung« und »Kommunikation« (p ≤ 0,001), »Emotionalität« (p ≤ 0,01) sowie »Affektive Beziehungsaufnahme« und beim »Summenwert« (p ≤ 0,05) zu finden. Auch die Kontrollskalen »Soziale Erwünschtheit« und »Abwehr« wurden, wie bei der Elterngeneration, von Frauen jeweils höher bewertet als von Männern. Ein signifikanter Unterschied ist jedoch auch hier nicht zu verzeichnen. Der kritische Bereich von T-normierten Werten > 60 wird in keiner der dargebotenen Dimensionen überschritten.

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Abbildung 4: Vergleich der familiären Funktionalität in den Einschätzungen der Kinder der Zeitzeugen mit Blick auf die Herkunftsfamilie nach Subskalen und Kontrollskalen des FB-A und nach Geschlecht (T-normierte Werte; hohe Werte > 60: kritische Bereiche)1 Anmerkungen: AE = Aufgabenerfüllung; RV = Rollenverhalten; KOM = Kommunikation; E = Emotionalität; AB = Affektive Beziehungsaufnahme; K = Kontrolle; WN = Werte und Normen; SUM =Summenwert; Kontrollskalen: SE = Soziale Erwünschtheit; A = Abwehr * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01; *** p ≤ 0,001 (t-Test für unabhängige Stichproben) 1

Referenzgruppe: Familien mit älteren Kindern, mind. 12 Jahre (Phase 4 im Familienlebenszyklus)

Auffallend homogen ist die Ausprägung der sieben Dimensionen und der Kontrollskalen bei der Einschätzung der Kinder der Zeitzeugen zu ihrer jetzigen eigenen Familie (Abbildung 5). Die T-normierten Werte der Männer liegen dabei zwischen 48,9 und 52,5 und die der Frauen zwischen 47,9 und 54,9. Im Vergleich zu den Ergebnissen zur Herkunftsfamilie wird die eigene Familie zwar von Frauen als etwas konfliktreicher beschrieben als von Männern, doch liegen dagegen die Werte der Kontrollskalen »Soziale Erwünschtheit« und »Abwehr«, im Gegensatz zur Einschätzung der Herkunftsfamilie, bei Männern etwas höher als bei Frauen. Es konnten allerdings keine signifikanten Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Kindern der Zeitzeugen im FB-A festgestellt werden. Auch überschreitet keine der Skalen den kritischen Bereich von > 60, welcher Hinweise auf familiäre Dysfunktionalität in den unterschiedlichen Bereichen geben könnte.

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Abbildung 5: Vergleich der familiären Funktionalität mit Blick auf die eigene Familie bei Kindern von Zeitzeugen des» Hamburger Feuersturms« nach Subskalen und Kontrollskalen des FB-A und nach Geschlecht (T-normierte Werte; hohe Werte > 60: kritische Bereiche)1 Anmerkungen: AE = Aufgabenerfüllung; RV = Rollenverhalten; KOM = Kommunikation; E = Emotionalität; AB = Affektive Beziehungsaufnahme; K = Kontrolle; WN = Werte und Normen; SUM =Summenwert; Kontrollskalen: SE = Soziale Erwünschtheit; A = Abwehr, * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01; *** p ≤ 0,001 (t-Test für unabhängige Stichproben), 1

Referenzgruppe: Familien mit älteren Kindern, mind. 12 Jahre (Phase 4 im Familienlebenszyklus).

Die Einschätzung der Kinder der Zeitzeugen über ihre Herkunftsfamilie im PBI stellt Abbildung 6 dar. Keine der beiden Dimensionen »Fürsorge durch die Mutter« und »Kontrolle durch die Mutter« beziehungsweise »durch den Vater« überschreiten die Cut-off-Werte. Demzufolge werden die Eltern in der Generation der Zeitzeugen, sowohl die Mütter als auch die Väter, als eher weniger fürsorglich und weniger kontrollierend von ihren Kindern eingeschätzt. Nach Parkers (1979) Vier-Felder-Modell wird diese Konstellation unter dem Erziehungsstil »schwache Bindung« kategorisiert.

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Abbildung 6: Familiäre »Fürsorge« und »Kontrolle« nach PBI (Mittelwerte; Maximum = 39 beziehungsweise 36)

Erst bei der genaueren Betrachtung von weiblichen und männlichen Kindern der Zeitzeugengeneration können spezifischere Unterschiede kenntlich gemacht werden (Abbildung 7). Die Mittelwerte der männlichen Subgruppe überschreiten bei den Skalen »Fürsorge durch die Mutter«, »Fürsorge durch den Vater« sowie »Kontrolle durch die Mutter« jeweils die Cut-off-Werte von 27, 24 beziehungsweise 13,5. Bei der Skala »Fürsorge durch die Mutter« zeigt sich sogar ein signifikanter Geschlechterunterschied (p ≤ 0,05).

Abbildung 7: Vergleich der familiären »Fürsorge« und »Kontrolle« nach Geschlecht (Mittelwerte der PBI-Skalen; Maximum = 39 beziehungsweise 36) Anmerkungen: * p ≤ 0,05; ** p ≤ 0,01; *** p ≤ 0,001 (t-Test für unabhängige Stichproben)

Männer schätzen demzufolge ihre Väter als eher fürsorglich und wenig kontrollierend ein, während ihre Mütter als fürsorglich und kontrollierend wahrgenommen wurden. Nach Parkers (1979) Vier-Felder-Modell haben die Söhne der Zeitzeugen eine »opti-

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Die dritte Generation und die Familien

male Bindung« zu ihren Vätern und einen »liebevoll einschränkenden« Erziehungsstil durch ihre Mütter erlebt. Andererseits erlebten die Töchter der Zeitzeugen sowohl ihre Mütter als auch ihre Väter als eher weniger fürsorglich und wenig kontrollierend. Nach Parkers (1979) VierFelder-Modell wird diese Konstellation als »schwache Bindung« eingestuft. Die Kinder der Zeitzeugengeneration im »Kriegskind-Modul«

Was die Kinder der Zeitzeugen über die Erfahrungen ihrer Mütter und Väter im »Hamburger Feuersturm« wissen, wurde im »Kriegskind-Modul« erfragt und ist in Tabelle 3 in einer Übersicht dargestellt. Die Antwortkategorien, insbesondere die Kategorie »weiß nicht«, können dabei indirekt einen Eindruck über das Kommunikationsverhalten zwischen der Zeitzeugengeneration und ihren Kindern geben. Auffallend ist hierbei, dass 44,3 Prozent der Kinder nicht wissen, ob ihre Mütter und Väter »wirtschaftliche Unterstützung«, und 35 Prozent nicht wissen, inwiefern ihre Mütter und Väter »persönliche beziehungsweise emotionale Unterstützung« bekommen haben. Tabelle 3: Faktenwissen über die Erfahrungen des Zeitzeugen (Mutter oder Vater) beim »Hamburger Feuersturm« (absolute und relative Häufigkeiten; N=81) Fragen zum »Hamburger Feuersturm«

N

%

Wo war ihre Mutter/ihr Vater zur Zeit des »Hamburger Feuersturms«? In Hamburg direkt, Stadtteil: Altona Barmbek Eimsbüttel Hamm Hammerbrook Wandsbek Winterhude Keine Angabe Sonstiges

68 11 5 8 5 4 3 3 11 18

85,0 16,2 7,4 11,8 7,4 5,9 4,4 4,4 16,2 26,3

7 1 4

8,8 1,3 5,0

Hat ihre Mutter/ihr Vater die Bombardierung persönlich erlebt? Ja Nein Weiß nicht

65 2 13

81,3 2,5 16,3

War ihre Mutter/ihr Vater persönlich vom »Hamburger Feuersturm« in irgendeiner Weise betroffen? Ja Nein Weiß nicht

61 4 14

77,2 5,1 17,7

In der Nähe von Hamburg Außerhalb Weiß nicht

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L. Morgenstern et al. · Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms«

Fragen zum »Hamburger Feuersturm«

N

%

Wurde das Haus ihrer Mutter/ihres Vaters im »Feuersturm« zerstört? Ja Nein Teilweise Weiß nicht

35 24 7 13

44,3 30,4 8,9 16,5

Hat ihre Mutter/ihr Vater ihren/seinen Haushalt im »Hamburger Feuersturm« verloren? Ja Nein Teilweise Weiß nicht

33 26 7 13

41,8 32,9 8,9 16,5

Hat ihre Mutter/ihr Vater Familienangehörige im »Hamburger Feuersturm« verloren? Ja Nein Weiß nicht

3 66 11

3,8 82,5 13,8

Hat ihre Mutter/ihr Vater wirtschaftliche Unterstützung bekommen? Ja Nein Teilweise Weiß nicht

3 32 9 35

3,8 40,5 11,4 44,3

Hat ihre Mutter/ihr Vater persönliche beziehungsweise emotionale Unterstützung bekommen? Ja Nein Teilweise Weiß nicht

11 33 8 28

13,8 41,3 10,0 35,0

In Abbildung 8 sind die Items des »Kriegskind-Moduls« zur Einschätzung der Kinder der Zeitzeugen mit Blick auf die Herkunftsfamilie zusammengefasst. Allgemein lässt sich der Eindruck gewinnen, dass die Kinder der Zeitzeugen die Erlebnisse ihrer Eltern in Verbindung mit dem »Hamburger Feuersturm« als markante Erfahrungen im Leben ihrer Eltern einschätzen. Aufgrund der Menge an Items heben wir im Folgenden nur exemplarisch einige Ergebnisse heraus. So geben 75,1 Prozent der Befragten an, dass die Ereignisse im »Hamburger Feuersturm« das Leben ihrer Mütter beziehungsweise Väter stark beeinflusst haben (ja, eher ja). Auch bei der Frage, ob die Kriegserlebnisse ihrer Eltern insgesamt prägend seien, bejahten dieses 83,5 Prozent (ja, eher ja). 60 Prozent der Kinder der Zeitzeugen sagen, dass die Ereignisse im »Hamburger Feuersturm« kein Tabu in ihrer Herkunftsfamilie waren. Die Ergebnisse der Items nach Radebold (2005), die typische Erziehungs- und Verhaltensmuster der Kriegskindgeneration erfragen und die nun so umformuliert worden sind, dass sie die Einschätzung der zweiten Generation mit Blick auf ihre Herkunftsfamilien erheben, sind in Abbildung 9 dargestellt.

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Die dritte Generation und die Familien Wurde das Leben Ihrere Mutter/Ihres Vaters stark von diesen Ereignissen beeinflusst? Wirken sich die Erlebnisse nach Ihrer Einschätzung noch heute af Ihre Familie aus? Haben die Erlebnisse bei Ihrer Erzihung als Kind eine Rolle gespielt?

Wurde etwas von diesen Erlebnissen von Ihrer Mutter/ Ihrem Vater an Sie als Kind weitergegeben?

Haben die Erlebnisse sich auf Sie ausgewirkt?

Haben Sie mit Ihrer Mutter/Ihrem Vater darüber gesprochen?

Wird bei Zusammenkünften der Familie darüber gesprochen?

Gab es andere prägende Kriegsereignisse?

Waren die Kriegserlebnisse insgesamt prägend?

War Ihr eigenes Interesse an diesen Erlebnissen groß?

Waren die Ereignisse ein Tabu in Ihrer Familie?

War es Ihnen ein Anliegen, mit Ihrer Mutter/ Ihrem Vater darüber zu sprechen? Haben Sie mit Ihren eigenen Kindern bewusst über den »Hamburger Feuersturm« gesprochen?

War es Ihnen ein Anliegen, mit Ihren Kindern darüber zu sprechen?

Hat auch Ihr Vater/Ihre Mutter Schlimmes im Krieg erlebt?

Abbildung 8: Einschätzungen der Kinder der Zeitzeugen zum Umgang mit dem »Feuersturm« und zu Auswirkungen des »Feuersturms« in der Herkunftsfamilie mit Blick auf den Zeitzeugen (Mutter oder Vater, Angaben in Prozent)

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L. Morgenstern et al. · Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms«

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Meine Mutter/mein Vater wollte, dass wir Kinder wissen, wie schlimm Krieg ist.

Meine Mutter/mein Vater wollte uns Kinder nicht mit schlimmen Kriegserlebnissen belasten.

Meine Mutter/mein Vater glaubte, wir Kinder können sie/ihn nur verstehen, wenn wir wissen, was sie/er im »Feuersturm« erlebt hat.

Meine Mutter/mein Vater hat über den »Feuersturm« erzählt – »Was vergangen ist, ist vorbei.«

Meine Mutter/mein Vater konnte nicht darüber sprechen, weil es sie/ihn selbst zu sehr belastet hätte.

Meine Mutter/mein Vater hatte das Gefühl, dass wir Kinder nichts mehr über die Kriegserlebnisse hören wollten.

Ich habe den Eindruck, dass es meiner Mutter/ meinem Vater im Alter leichter fällt, über ihre/ seine damaligen Kriegserlebnisse zu sprechen.

Es war meiner Mutter/meinem Vater wichtig, uns Kindern von den Erlebnissen im »Hamburger Feuersturm« zu erzählen, damit so etwas nie wieder vorkommt.

Die Sorge, dass uns Kindern Ähnliches passieren könnte, hat das ganze Leben meiner Mutter/meines Vaters begleitet.

Die Erlebnisse meiner Mutter/meines Vaters im Krieg haben die Erziehung von uns Kindern beeinflusst.

Die Sorge meiner Mutter/meines Vaters, alles zu verlieren, hat die Erziehung von uns Kindern maßgeblich beeinflusst.

Aus der Erfahrung, dass plötzlich alles, was man hat, weg sein kann, wollte meine Mutter/mein Vater uns als Kinder zum sparsamen und sorgsamen Umgang mit Dingen anleiten.

Abbildung 9: Einschätzungen der Kinder der Zeitzeugen zur erlebten Erziehungspraxis in der Herkunftsfamilie mit Blick auf den Zeitzeugen (Mutter oder Vater, Angaben in Prozent)

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Die dritte Generation und die Familien

Aus den Einschätzungen der Kinder der Zeitzeugen über die erlebte Erziehungspraxis in ihren Herkunftsfamilien können folgende Ergebnisse herausgestellt werden: 70,3 Prozent der Kindergeneration bejahten die Aussage, dass es ihren Eltern wichtig war, dass ihre Kinder wissen, wie schlimm Krieg ist (stimmt genau, stimmt eher). Entsprechend gaben 70,5 Prozent der Befragten an, dass ihre Eltern (eher) keine Probleme damit hatten, über die Erlebnisse im Krieg zu sprechen, und es sie nicht zu sehr belastet hatte (stimmt eher nicht, stimmt überhaupt nicht). Dabei hatten, nach Einschätzung der Kinder der Zeitzeugen, 87 Prozent der Eltern nicht das Gefühl, dass ihre Kinder nichts mehr über die Kriegserlebnisse hören möchten (stimmt eher nicht, stimmt überhaupt nicht). Die Aussage, dass die Erlebnisse ihrer Eltern im Krieg, ihre Erziehung maßgeblich beeinflusst hat, bejahte dagegen etwa die Hälfte der befragten Kinder der Zeitzeugen (51,3 Prozent). Dies bildet sich auch in dem Ergebnis ab, dass 70,4 Prozent der Kinder der Zeitzeugen der Aussage (eher) zustimmten, dass aus der Erfahrung, dass plötzlich alles, was man hat, weg sein kann, ihre Eltern sie zum sparsamen und sorgsamen Umgang erzogen haben (stimmt genau, stimmt eher). Neben den Einschätzungen der Kinder der Zeitzeugen zur Herkunftsfamilie sind die entsprechenden Items nach Radebold (2005) auch zur eigenen Familie erfragt worden (Abbildung 10). Die Ergebnisse zur Einschätzung der Kinder der Zeitzeugen über die eigene Erziehungspraxis in ihrer Familie zeigen Übereinstimmungen zu der Einschätzung über die Herkunftsfamilie. Demnach ist es zum Beispiel 95,8 Prozent der Kindern der Zeitzeugen ebenfalls wichtig (stimmt genau, stimmt eher), dass auch ihre Kinder wissen, wie schlimm Krieg ist. Hierbei kommt es sogar zu einer Zunahme der Bedeutung im Vergleich zur Einschätzung in der Herkunftsfamilie (siehe Abbildung 5), bei der diese Aussage von 70,3 Prozent der Befragten als (eher) zutreffend für die Elterngeneration eingeschätzt wurde. Des Weiteren stimmten 76,8 Prozent der Kinder der Zeitzeugen der Aussage (eher) nicht zu, dass ihre Eltern das Gefühl haben, dass ihre Enkel nichts mehr über die Kriegserlebnisse hören möchten (stimmt eher nicht, stimmt überhaupt nicht). Bei der Einschätzung in der Herkunftsfamilie hatten nach Angaben der Kindergeneration 87 Prozent der Eltern (eher) nicht das Gefühl, dass ihre Kinder nichts mehr über die Kriegserlebnisse hören möchten. Doch kam es auch zu abweichenden Ergebnissen. Danach beeinflussen zum Beispiel nach Angaben der Kinder der Zeitzeugen die Kriegserlebnisse der Eltern deutlich weniger stark die Erziehung der Enkel als die Erziehung, die sie selbst in ihrer Herkunftsfamilie von der Zeitzeugengeneration erfahren haben. Lediglich 26,6 Prozent bejahten (stimmt genau, stimmt eher) diese Aussage. Bei der Einschätzung der eigenen Herkunftsfamilie fühlten sich 51,3 Prozent der Befragten in der von den Eltern ausgeübten Erziehung durch die Kriegserlebnisse beeinflusst. Bei der Aussage, dass »aus der Erfahrung, dass plötzlich alles, was man hat, weg sein kann, die Eltern ihre Enkel zum sparsamen und sorgsamen Umgang erziehen wollen«, stimmten 44,2 Prozent zu. Bei der Herkunftsfamilie wurde diese Aussage noch von 70,4 Prozent der Befragten

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L. Morgenstern et al. · Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms«

Meine Kinder sollten wissen, wie schlimm Krieg ist.

Meine Kinder sollten nicht mit schlimmen Kriegserlebnissen belastet werden. Meine Kinder können die Großmutter/den Großvater nur verstehen, wenn sie wissen, was diese/dieser im »Hamburger Feuersturm« erlebt hat. Meine Kinder haben nie davon erfahren – »Was vergangen ist, ist vorbei.« Meine Mutter/mein Vater hatte das Gefühl, dass meine Kinder nichts mehr über die Erlebnisse hören wollten. Meine Kinder sind offener und wollen mehr über die Erlebnisse wissen als wir. Es war meiner Mutter/meinem Vater wichtig, den Enkeln von den Erlebnissen im »Hamburger Feuersturm« zu erzählen, damit so etwas nie wieder vorkommt. Meine Mutter/mein Vater findet es leichter, mit den Enkeln über die Kriegserlebnisse zu sprechen, als mit ihren/seinen Kindern. Meine Mutter/mein Vater hat das Gefühl, die Enkel sind offener und wollen mehr über die Erlebnisse wissen als die Kinder. Die Sorge, dass meinen Kindern Ähnliches passieren könnte wie meiner Mutter/meinem Vater, hat mein ganzes Leben begleitet. Die Erlebnisse meiner Mutter/meines Vaters im Krieg haben die Erziehung meiner Kinder beeinflusst. Die Sorge meiner Mutter/meines Vaters, alles zu verlieren, hat die Erziehung meiner Kinder beeinflusst. Aus der Erfahrung, dass plötzlich alles, was man hat, weg sein kann, wollte meine Mutter/ mein Vater die Enkelkinder zum sparsamen und sorgsamen Umgang mit Dingen anleiten. Vater und Mutter sind mit den Erinnerungen an den »Feuersturm« unterschiedlich umgegangen. Meine Geschwister und ich sind mit den Erinnerungen sehr unterschiedlich umgegangen. Meine Kinder sind mit den Erinnerungen sehr unterschiedlich umgegangen.

Abbildung 10: Einschätzungen der Kinder der Zeitzeugen mit Blick auf die eigene Familie im »Kriegskind-Modul« (Angaben in Prozent)

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Die dritte Generation und die Familien

(eher) bejaht. In diesen Aussagen scheint es über die Generationen hinweg zu einer Abnahme der Wichtigkeit bei der Zeitzeugengeneration gekommen zu sein.

Fazit Die präsentierten Ergebnisse geben einen ausführlichen Überblick über Aspekte der Familiendynamik durch die Dimensionen des FB-A, über den wahrgenommenen elterlichen Erziehungsstil durch die Dimensionen »Fürsorge« und »Kontrolle« des PBI in den Generationen der Zeitzeugen und ihrer Kinder. Bei den letzteren werden zusätzlich ihr Faktenwissen und ihre subjektiven Einschätzungen zu den Auswirkungen in den Familien zusammenfassend dargestellt. Bei der Gegenüberstellung der Einschätzungen für die Zeit des Zusammenlebens der Zeitzeugengeneration mit der Kindergeneration im FB-A kann festgehalten werden: Die Zeitzeugengeneration, Frauen wie Männer, schätzt insgesamt die sieben familiären Dimensionen konfliktreicher ein als die Kindergeneration. Sowohl bei den Zeitzeugen als auch bei der Kindergeneration findet man signifikante Geschlechterunterschiede bei der Bewertung der verschiedenen Dimensionen im FB-A. Auffällig dabei ist, dass die Geschlechterunterschiede bei der Zeitzeugen- und der Kindergeneration in den gleichen Dimensionen aufzufinden sind (»Aufgabenerfüllung«, »Kommunikation«, »Emotionalität«, »Affektive Beziehungsaufnahme« und »Summenwert«) und jeweils die männlichen Befragten die Dimensionen konfliktreicher beurteilten. Die Ergebnisse der Einschätzung der Kindergeneration zu ihren eigenen gegenwärtigen Familien im FB-A gehen in eine etwas andere Richtung. Hier sind in keiner Dimension signifikante geschlechterspezifische Unterschiede zu finden. Interessanterweise liegen aber die Werte der weiblichen Befragten in fünf der sieben Dimensionen etwas höher als die der Männer, werden also konflikthafter eingeschätzt, während die Männer höhere Werte bei den Kontrollskalen aufweisen. Es zeigt sich also ein eher umgekehrtes Bild als in der Bewertung der Herkunftsfamilie. Allerdings sind diese Gruppenunterschiede nicht statistisch signifikant. Im PBI wird jeweils nicht eine bestimmte Familie, sondern es werden jeweils die Eltern eingeschätzt. Daher bewertete die Zeitzeugengeneration den wahrgenommenen elterlichen Erziehungsstil ihrer eigenen Eltern in den Dimensionen »Fürsorge« und »Kontrolle«, während die Kindergeneration den wahrgenommenen elterlichen Erziehungsstil ihrer Eltern, also der Generation der Zeitzeugen einschätzte. So kam es zu keiner Beurteilung einer Generation aus Sicht zweier Generationsperspektiven. Bei der Gegenüberstellung der Einschätzungen im PBI können folgende Punkte festgehalten werden: Die Generation der Zeitzeugen erlebte höhere väterliche Fürsorge bei gleichzeitig weniger väterlicher Kontrolle und weniger mütterliche Fürsorge bei gleichzeitig weniger mütterlicher Kontrolle. Die Eltern der Kindergeneration werden dagegen beide, Mütter wie Väter, als eher weniger fürsorglich und weniger kontrollierend von ihren Kindern eingeschätzt.

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L. Morgenstern et al. · Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms«

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Im Geschlechtervergleich zeigt sich ein etwas komplexeres Bild. Frauen aus der Generation der Zeitzeugen haben ihre Väter als weniger fürsorglich und vermehrt kontrollierend empfunden. Dagegen haben die Frauen der Kindergeneration ihre Väter als eher weniger fürsorglich und wenig kontrollierend erlebt. Männer aus der Generation der Zeitzeugen und aus der Kindergeneration beschreiben beide den väterlichen Erziehungsstil als eher fürsorglich und wenig kontrollierend. Auch der mütterliche Erziehungsstil wird von Frauen und Männern der Generation der Zeitzeugen sowie von Frauen der Kindergeneration als weniger fürsorglich und weniger kontrollierend beschrieben. Lediglich die Mütter der Männer aus der Kindergeneration werden als eher fürsorglich und kontrollierend wahrgenommen. Die Ergebnisse weisen auf eine unterschiedliche Wahrnehmung von Frauen und Männern bei der Beurteilung ihrer Beziehung zu ihren Müttern und Vätern hin. Männer scheinen über die Generationen hinweg eine »positivere Bindung« zu ihren Vätern zu haben. Dagegen bewerten Frauen in beiden Generationen ihre erlebte mütterliche Bindung als eher »schwach«. Bislang wurde bei der Auswertung der Daten des PBI, die sich ja nicht auf Familie insgesamt, sondern auf den Vater oder die Mutter beziehen, noch nicht unterschieden, ob der jeweilige Vater oder die jeweilige Mutter, der oder die eigentliche Zeitzeugin des »Hamburger Feuersturms« ist. So können noch keine Rückschlüsse gezogen werden, ob die Kriegserfahrungen im »Feuersturm« das jeweilige wahrgenommene Erziehungsverhalten des Vaters oder der Mutter beeinflussten. Vielmehr reflektieren die Befunde des PBI den Wandel des Erziehungsstils von der Generation der Eltern der Zeitzeugen in einem Zeitraum zwischen 1920 und 1960 zu dem wahrgenommenen Erziehungsstil der Zeitzeugen aus Sicht ihrer Kinder in den Jahren nach dem Krieg bis weit in die 1980er Jahre hinein. Allgemein zeigen die Ergebnisse der Kinder der Zeitzeugen im »Kriegskind-Modul«, dass sie die Erlebnisse ihrer Eltern in Verbindung mit dem »Hamburger Feuersturm« als markante Erfahrungen im Leben ihrer Eltern einschätzen. So geben über drei Viertel der Befragten an, dass die Ereignisse im »Hamburger Feuersturm« das Leben ihrer Mütter beziehungsweise Väter stark beeinflusst haben und insgesamt prägend gewesen sind. Der starke Wunsch der Zeitzeugengeneration, dass ihre Kinder wissen, wie schlimm Krieg ist, scheint sich auch bei der Kindergeneration in Bezug auf ihre eigenen Kindern fortzusetzen. Auch ist die überwiegende Mehrheit der Kinder der Zeitzeugen der Auffassung, dass die Ereignisse im »Hamburger Feuersturm« »kein Tabu« in ihrer Herkunftsfamilie waren. Größere Unterschiede zwischen den Generationen zeigen sich dagegen bei der Frage nach dem Einfluss der Kriegserlebnisse der Zeitzeugengeneration auf die Erziehung der Kinder und der Enkelkinder. Hier beeinflussten nach Angaben der Kinder der Zeitzeugen die Kriegserlebnisse der Eltern deutlich weniger stark die Erziehung der Enkelkinder als die Erziehung, die sie selbst erfahren hatten. Auch aus der Erfahrung, dass »plötzlich alles, was man hat, weg sein kann«, wollten die Zeitzeugen die

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Die dritte Generation und die Familien

eigenen Kinder aus deren Sicht deutlich stärker als die Enkelkinder zum sparsamen und sorgsamen Umgang mit Dingen des täglichen Gebrauchs erziehen. Die hier vorgestellten Ergebnisse lassen einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Generationen erkennen. Grundsätzlich schildern sowohl die Zeitzeugen als auch ihre Kinder ihre Familien wenig konflikthaft, mit wenig Schwächen, kaum gestört und insgesamt positiv. Dabei werden besonders im »Kriegskind-Modul« erhebliche Einflüsse der Kriegserfahrungen auf die von ihren Kindern wahrgenommene Erziehungspraxis der Zeitzeugen deutlich. Für die Erziehung der Enkelgeneration durch ihre Großeltern spielen diese Aspekte dagegen im Erleben der Kinder der Zeitzeugen eine geringere Rolle.

Literatur Cierpka, M. (1990). Zur Diagnostik von Familien mit einem schizophrenen Jugendlichen. Berlin u. a.: Springer. Cierpka, M., Frevert, G. (1994). Die Familienbögen. Ein Inventar zur Einschätzung von Familienfunktionen (Klinische Untersuchungsverfahren). Zeitschrift für Klinische Psychologie, 28 (3), 223–224. Epstein, N. B., Baldwin, L. M., Bishop, D. S. (1983). The McMaster Family Assessment Device. Journal of Marital and Family Therapy, 9 (2), 171–180. Epstein, N. B., Bishop, D., Levin, S. (1978). The McMaster model of family functioning. Journal of Marriage and Family Counseling, 4, 19–31. Epstein, N. B., Bishop, D., Ryan, C., Miller, Keitner, G., (1993). The McMaster model of healthy family functioning. In F. Walsh (Hrsg.), Normal Family Processes (S. 138–160). New York u. London: The Guilford Press. Lamparter, U., Apel, L., Thiessen, M., Wierling, D., Holstein, C., Wiegand-Grefe, S. (2008). Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« und ihre Familien. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur transgenerationalen Weitergabe traumatischer Kriegserfahrungen. In H. Radebold, W. Bohleber, J. Zinnecker (Hrsg.), Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen (S. 215–255). Weinheim: Juventa. Lamparter, U., Holstein, C., Apel, L., Thießen, M., Wierling, D., Möller, B., Wiegand-Grefe, S. (2010). Die familiäre Weitergabe von Kriegserfahrungen als Gegenstand interdisziplinärer Forschung. ZPPM, Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft und Psychologische Medizin. Themenschwerpunkt Generationale Traumatisierung, 8 (1), 9–24. Lutz, R., Heyn, C., Kommer, D. (1995). Fragebogen zur elterlichen Bindung – FEB In C. Lutz, N. Mark (Hrsg.), Wie gesund sind Kranke? Zur seelischen Gesundheit psychisch Kranker (S. 183–199). Göttingen: Verlag für Angewandte Psychologie. Morgenstern, L. (in Vorbereitung). Erziehungsstile im Generationenvergleich. Masterarbeit. Universität Hamburg, Fachbereich Medizin. Parker, G., Tupling, H., Brown, L. B. (1979). A parental bonding instrument. British Journal of Medical Psychology, 52, 1–10. Radebold, H. (2005). Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit. Ältere Menschen in Beratung, Psychotherapie, Seelsorge und Pflege. Stuttgart: Klett-Cotta. Raddatz, C. (in Vorbereitung). Betroffene und Kinder des Hamburger Feuersturms und ihre Familien. Doktorarbeit. Universität Hamburg. Steinhauer, P. D., Santa-Barbara, J, Skinner, H. A. (1984). The process model of family functioning. Canadian Journal of Psychiatry, 29, 27–88. Wiegand-Grefe, S. (2008). Einige Anmerkungen zur methodischen Erfassung transgenerationaler Tra-

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L. Morgenstern et al. · Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms«

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dierung von Kriegserfahrungen. In U. Lamparter, L. Apel, M. Thießen, D. Wierling, C. Holstein, S. Wiegand-Grefe, Zeitzeugen des Hamburger »Feuersturms« und ihre Familien. In H. Radebold, W. Bohleber, J. Zinnecker (Hrsg.), Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten (S. 215–255). Weinheim: Juventa. Wiegand-Grefe, S., Möller, B. (2012). Die transgenerationale Weitergabe von Kriegserfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg über drei Generationen – eine Betrachtung aus psychoanalytischer Perspektive. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. Ergebnisse aus Psychotherapie, Beratung und Psychiatrie, 61 (8), 610–622.

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Schlusswort

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Jürgen Reulecke

Ein Experiment besonderer Art: Das Projekt »Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms«

Wenn man, bezogen auf das geradezu uferlose Handlungsfeld »Wissenschaft«, von »Experiment« spricht, dann hat man zunächst wohl die Naturwissenschaften einschließlich der Medizin und die Technikwissenschaften im Blick. In diesen Forschungsfeldern beruht die Untersuchung von noch unbekannten Grundlagen und Zusammenhängen von Natur, Welt und Leben in erster Linie auf klar umrissenen, fachlich-methodisch nachvollziehbar strukturierten Experimenten – mit allerdings oft offenem Ausgang des jeweiligen Experiments, was dann neue Experimente zur Folge hat. Dass aber auch ein von Forschern der Psychowissenschaften und der Geisteswissenschaften angegangenes kollegiales Begreifenwollen von bisher allenfalls vermuteten Erfahrungswelten konkreter Menschen in ihrer historischen Zeit ein herausforderndes Experiment ganz besonderer Art sein kann, belegt – wie der nun vorliegende Projektbericht zeigt – eindringlich und eindrucksvoll das von zwei Teams des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte gemeinsam durchgeführte Projekt »Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms und ihre Familien«. Das hier vorgestellte Ergebnisspektrum – bezogen nicht nur auf die von den Akteuren der beteiligten Disziplinen gemeinsam erarbeiteten Einzelbefunde, sondern ganz besonders auch auf das konkret erlebte Experiment des wissenschaftlichen Miteinanderumgehens – vermittelt dem Leser einen höchst anregenden Eindruck davon, welche Fülle von Stolpersteinen auf dem Weg liegen, wenn sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zweier auf den ersten Blick recht unterschiedlicher Wissenschaftszweige mit Engagement und Neugier, mit Offenheit und zugleich auch Bereitschaft zu kritischer Selbstreflexion aufeinander zubewegen. Insofern lässt sich das umfangreiche und einleuchtend präsentierte Ergebnis des Projekts als ein doppeltes charakterisieren: Einerseits liefert der Abschlussbericht eine Fülle von neuen Detailerkenntnissen wie auch von daraus abgeleiteten verallgemeinerbaren Antworten auf die Frage nach der Weitergabe von Kriegserfahrungen des Zweiten Weltkriegs im generationellen Kontext. Andererseits lässt sich dieser Bericht aber auch als ein in solch intensiver Form bisher noch nicht geleistetes Abschreiten der Chancen wie auch Grenzen eines engagierten Versuchs verstehen, den durchaus bisher hier und da schon einmal unternommenen interdisziplinären Austausch zweier Fachwissenschaften gezielt zu einer »Transdisziplinarität« weiterzuentwickeln. Gemeint ist damit, wie Dorothee Wierling in ihrem

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Schlusswort

Beitrag betont hat, »dass beim transdisziplinären Forschen die andere Disziplin nicht nur anerkannt und angehört, sondern auch angewendet wird«. Mit anderen Worten: In einem transdisziplinär angegangenen Forschungsprojekt lässt jeder Beteiligte seine Disziplingebundenheit ein Stück weit hinter sich und bringt seine methodisch-theoretischen ebenso wie gegenstandsbezogenen Blickweisen kollegial und neugierig-nachfragend mit ein. Weil dies angesichts der üblichen wissenschaftlichen Alltagspraxis eine ganz erhebliche Herausforderung und auch Innovation darstellt und aus den beiden hier beteiligten Disziplinen, der Zeitgeschichte und der Psychoanalyse, keine vorzeigbaren Projektberichte dieser Art vorliegen, bei denen die Beteiligten nicht nur transdisziplinär vorgegangen sind, sondern auch anschließend ihre dabei gewonnenen persönlichen Erfahrungen selbstkritisch reflektiert haben, ist das hier vorgestellte Forschungsprojekt bisher wohl einzigartig: Sowohl die rückblickenden Selbstbefragungen der Hauptakteure, bezogen auf ihre Erkenntnisse angesichts der transdisziplinären Herausforderung, als auch die Anmerkungen der von außen zu Rate gezogenen Beobachter kreisen genau um dieses Kernproblem des Projekts. Zwei Ufer waren es, von denen aus die Beteiligten das Forschungsfeld der familiären Weitergabe von Kriegserfahrungen am Beispiel des »Hamburger Feuersturms« in den Blick nahmen und mit ihrem fachspezifischen Gepäck auf dem Rücken, das heißt beflügelt von den Forschungsprinzipien ihrer jeweiligen akademischen Kultur offen und neugierig auf die Kollegen und Kolleginnen der anderen »Zunft« zugegangen sind. Das psychoanalytische »Ufer« bestand in der zunächst weitgehend ahistorischen Frage nach den heute noch nachweisbaren psychischen Folgen bei Menschen, die Zeitzeugen des »Hamburger Feuersturms« gewesen sind – dies auch im Hinblick auf Auswirkungen dieser Prägung im familiären Generationengefüge. Das »Ufer« der nachfragenden Zeithistoriker lässt sich als das erfahrungsgeschichtliche Forschungsinteresse beschreiben, zu erfahren, wie das »Feuersturm«-Ereignis bisher verarbeitet, reflektiert und beurteilt worden ist und welche altersgruppenspezifischen Umgangsweisen von der unmittelbaren Nachkriegszeit an bis heute mit welchen kollektiven Folgen festzustellen sind. Dass das sich von diesen beiden Ufern dem Thema nähernde Team also weder nur eine breite Addition von psychoanalytisch deutbaren Einzelerzählungen anstreben noch das quasi objektive Umgehen mit dem Ereignis in der offiziellen Hamburger Stadtgeschichte abständig rekonstruieren wollte, lag von vornherein auf der Hand. Dennoch spielten die Besonderheiten des jeweiligen fachspezifischen Blicks auf das zu erforschende Problemfeld von vornherein eine zum Teil vielfältig Anstoß gebende, zum Teil aber auch durchaus provozierende Rolle. Was das bedeutete und welche Folgen sich daraus im weiteren Verlauf der Zusammenarbeit ergaben, ist im vorliegenden Bericht selbstkritisch mit vielen Hinweisen auf das Umgehen mit den konkret erlebten transdisziplinären Herausforderungen geschildert worden. Der von den Beteiligten gewählte und von den Beobachtern des Projekts gewissermaßen als Rahmensetzung für ihr transdisziplinär konzipiertes Gesamtprogramm fragend aufgegriffene Oberbegriff lautete »Psychohistorie«. Da dieser Begriff bisher

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J. Reulecke · Ein Experiment besonderer Art

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allerdings, was allen Beteiligten klar war, in unterschiedlicher Weise benutzt worden ist und in der deutschen im Gegensatz zum Beispiel zur amerikanischen Forschungslandschaft allenfalls erst eine Randstellung besitzt, war es nötig, ihn projektbezogen präziser zu fassen und entsprechend zu benutzen. Dass diese Herausforderung in vielfältiger Weise anstoßgebend und profilbildend gewirkt hat, belegt der Abschlussbericht an vielen Stellen. Der als Projektberater eingeladene amerikanische Zeithistoriker und Psychoanalytiker Thomas A. Kohut hat in seinem Kommentar die erbrachte Leistung des Hamburger Teams unter dem psychohistorischen Blickwinkel treffend als Bestreben charakterisiert, sich von den beiden Wissenschaftsufern her mit »Empathie« den Kernfragen des Projekts zu nähern. Da Kohut seit vielen Jahren in beiden Disziplinen »zu Hause ist«, ist sein Urteil über das Projektergebnis besonders bedeutsam. Kurze Zeit vorher hatte er zudem in einem umfangreichen Werk den Versuch unternommen, an einem exemplarischen Bereich der deutschen Geschichte, einer Art Kollektivbiographie der sogenannten »Jahrhundertgeneration«, das psychohistorische Ineinanderwirken von allgemeiner Geschichte und persönlicher Lebensgeschichte zu analysieren (siehe Kohut, 2012). Auch wenn die Gesamtheit der »Historikerzunft« allenfalls bisher nur ansatzweise eine Öffnung in Richtung Psychohistorie vollzogen hat, glaubt Kohut dennoch einer Reihe von Historikern und Historikerinnen, allen voran im Hamburger Projektteam, bestätigen zu können, dass sie inzwischen vielerlei psychoanalytische Anregungen in ihren Studien erfolgreich und einfühlsam aufgegriffen haben. Und auch in der psychoanalytischen Forschung sieht er einen immer deutlicher werdenden Trend in Richtung auf die Erkenntnis, dass die äußeren Bedingungen des jeweiligen Lebensvollzugs im historischen Kontext »direkt und indirekt eine wesentliche Rolle in der Prägung des Selbst« (Kohut, 2012) spielen. Sein nach vorn, das heißt auf ein vielversprechendes weiteres Zusammenwirken der beiden Disziplinen gerichtetes Fazit, gewonnen nicht zuletzt im Hinblick auf das Hamburger Projektgeschehen, lautet daher: »Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass die innere Welt durch die Erfahrungen der äußeren Welt geprägt wird, dass Menschen historisch sind und dass wir die Psyche erst in aller Tiefe verstehen können, wenn wir die gestaltende Macht der Geschichte berücksichtigen.«1 Dieses eigentlich ja recht einleuchtende, um nicht zu sagen simple Fazit sollte gewissermaßen eine Art »Botschaft« sein, die von dem keineswegs in jeder Hinsicht rundum gelungenen, aber doch höchst anregenden und im positiven Sinn des Wortes provozierenden, das heißt zur Nachahmung anregenden »Hamburger Feuersturm«Projekt mit seinen beiden Ufern ausgeht.

Literatur Kohut, T. A. (2012). A German generation: An experiential history of the twentieth century. New Haven: Yale University Press. 1

Vgl. den Beitrag von Kohut in diesem Band.

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Linde Apel, Leiterin der »Werkstatt der Erinnerung« in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte des Nationalsozialismus, Oral History, Erinnerungskultur sowie Kulturgeschichte der 1960er und 1970er Jahre. Dr. phil. Werner Bohleber, Psychoanalytiker in eigener Praxis in Frankfurt am Main und Herausgeber der Zeitschrift »Psyche«. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Theorie und Geschichte der Psychoanalyse, zu Adoleszenz und Identität, zur psychoanalytischen Erforschung der nationalsozialistischen Vergangenheit, zu Fremdenhass und Antisemitismus, zur Traumaforschung und zum Terrorismus. Dr. med. Valeska Buder, Assistenz- und Prüfärztin für Dermatologie und Venerologie, ist in den Bereichen klinische Forschung, Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie im Institut für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen am Universitätsklinikum-Eppendorf beschäftigt. Promotion im Hamburger »Feuersturm-Projekt«. Dipl.-Psych. Nicole Drost, Diplomarbeit am Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg zum Thema »Über die Gegenwärtigkeit des während der Zeit des Nationalsozialismus Erlebten in autobiografischen Erzählungen, untersucht anhand tiefenhermeneutischer Analyse von unstrukturierten Interviews mit NS-Zeitzeugen«. Aktuell in Weiterbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin und Arbeit in einer psychiatrischen Tagesklinik. Vor dem Studium Tätigkeit als Cutterin im Bereich Film. Prof. Dr. med. Jörg Frommer, M. A., Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DPG, IPV), Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie, Direktor der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Magdeburg. Hella Hofer ist Assistenzärztin in Facharztweiterbildung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Harburg. Sie promoviert im Rahmen des »Feuersturm-Projekts«.

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Die Autorinnen und Autoren

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Dr. med. Christa Holstein, bis 2004 Betriebsärztin im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, nach einer berufsbegleitenden Weiterbildung in Psychotherapie am Adolf-Ernst-Meyer-Institut in Hamburg, bis 2011 eigene Praxis für Psychotherapie. Breite Interviewtätigkeit im Rahmen des »Feuersturm-Projekts«. Dr. med. Dipl.-Volksw. Philipp von Issendorff ist Assistenzarzt am Asklepios-Westklinikum in Hamburg und in Weiterbildung zur tiefenpsychologischen Psychotherapie am Michael-Balint-Institut. Seine Dissertation zur Transgenerationalität von Kriegstraumata im »Feuersturm-Projekt« wurde mit dem ­Hedwig-Wallis-Promotionspreis der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg ausgezeichnet. Prof. Dr. Thomas A. Kohut, Professor für Geschichte am Williams College in Williamstown, USA. Sohn des Psychoanalytikers Heinz Kohut, absolvierte als Historiker eine volle psychoanalytische Ausbildung, Arbeiten zum Thema Wilhelm II. und die Deutschen und zur Generationsgeschichte von Kindern im Nationalsozialismus. Priv.-Doz. Dr. med. Dipl.-Psych. Ulrich Lamparter ist an der Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und in eigener psychoanalytischer Praxis tätig und leitet das Adolf-Ernst-Meyer-Institut für Psychotherapie in Hamburg (AEMI). Er ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker (DPV, DGPT). Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der klinischen Psychosomatik aus psychoanalytischer Sicht. Besondere Interessen gelten der Einbeziehung zeitgeschichtlicher Phänomene in die Theorie und die klinische Praxis der Psychosomatik und in die psychotherapeutische Aus- und Weiterbildung. Amelie Meyer-Madaus ist examinierte Doktorandin der Kinder und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Sie promoviert im Rahmen des Hamburger »Feuersturm-Projekts«. Prof. Dr. Erhard Mergenthaler, Diplom-Informatiker und Linguist, war bis zum Beginn seines Ruhestands im Jahr 2008 Leiter der Sektion Informatik in der Psychotherapie an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Ulm und ist Past-President der internationalen Society for Psychotherapy Research. Dr. phil. Birgit Möller ist Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und leitet dort verschiedene Forschungsgruppen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind psychische Traumatisierung, Geschlechtsidentitätsstörungen und Kinder körperlich kranker Eltern.

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Die Autorinnen und Autoren

Lydia Morgenstern, Psychologin (BSc) und cand. MSc. an der Medical School Hamburg. Sie arbeitet über »Erziehungsstile im Generationenvergleich von Zeitzeugen des Hamburger Feuersturm (1943) und ihren Kindern«. Dr. phil. Stefan Nickel, Soziologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Soziologie, Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Priv.-Doz. Dr. Alexander von Plato, Historiker, ist Gastprofessor an der Universität von Winnipeg/Kanada, Gründer und langjähriger Direktor des Instituts für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen »BIOS« und war Mitglied der Historiker-Kommission zur Bombardierung Dresdens. Christin Raddatz studiert Zahnmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und promoviert im »Feuersturm-Projekt«. Prof. Dr. med. Hartmut Radebold, Arzt für Nervenheilkunde und Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker sowie Lehr- und Kontrollanalytiker (DPV) bis 1997 hatte er den Lehrstuhl für Klinische Psychologie an der Universität Kassel inne. 1999 gründete er das Lehrinstitut für Alternspsychotherapie in Kassel. Zahlreiche Publikationen zur Psychodynamik, Psychotherapie/Psychoanalyse Älterer, Gerontopsychiatrie und Geriatrischen Rehabilitation und zu langfristigen psychischen Folgen der Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Prof. em. Dr. Jürgen Reulecke war bis 2008 Lehrstuhlinhaber für Zeitgeschichte und Sprecher des Sonderforschungsbereichs »Erinnerungskulturen« an der Universität Gießen; vorher seit 1984 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen. Véronique Sydow ist Ärztin in Weiterbildung für Innere Medizin in Berlin. Sie promoviert im Rahmen des »Feuersturm-Projekts« zum Vorkommen von Angst und Depression in der Erlebensgeneration. Dr. phil. Malte Thießen ist Juniorprofessor für Europäische Zeitgeschichte am Institut für Geschichte der Universität Oldenburg sowie Leiter der Arbeitsstelle Regionale Geschichtskulturen (gemeinsam mit Dietmar von Reeken). Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte des Nationalsozialismus, Erinnerungskultur und Oral History sowie die Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin.

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Die Autorinnen und Autoren

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Prof. Dr. rer. nat. Silke Wiegand-Grefe ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychodynamische Therapie an der Medical School Hamburg und Forschungsgruppenleiterin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik. Forschungsschwerpunkte: Kinder psychisch kranker oder belasteter Eltern, chronisch kranke Kinder und ihre Familien, transgenerationale Weitergabe traumaischer Erfahrungen in Familien, Psychotherapie- und Evaluationsforschung. Prof. Dr. Dorothee Wierling ist Stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Oral History, Zeitgeschichte der DDR, Geschlechter- und Generationengeschichte sowie Kultur- und Konsumgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

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Materialien

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Materialien

Anhang 1: Interviewleitfaden mit Kommentar1

Thema 0: Motivation, an der Untersuchung teilzunehmen (Wie kam es, dass Sie sich zu diesem Gespräch bereitgefunden haben? Fällt es Ihnen leicht, über Ihre Erinnerungen an den »Feuersturm« zu sprechen?)

Intention: Die Frage dient als Einführung in das Gespräch, es soll ermittelt werden, welche Motivation besteht, an der Untersuchung teilzunehmen, auch welche Absicht damals bestanden hat, sich auf den Artikel im »Hamburger Abendblatt« hin zu melden. Es ist vorstellbar, dass dies aus dem Motiv eines »Bedürfnisses nach Zeugenschaft« geschieht, aber auch in der Absicht, dem eigenen Erleben eine Konkretisierung in der äußeren Welt zu geben. Auch das Motiv des »Nicht-Vergessens« erscheint denkbar. Thema 1: Ausmaß der Erinnerung (Wie viel erinnern Sie vom »Hamburger Feuersturm«?)

Intention: Dieses Thema dient gleichsam als Türöffner zum Erleben. Zum zweiten soll eine Abschätzung möglich werden, wie viel von dem damaligen Erleben wirklich erinnert wird. Es wird ja auch vom damaligen Lebensalter abhängen. Die Intention dieser Frage ist auch, durch das dabei »geförderte Material« Hilfen für die zusammenfassende Bewertung des Interviews bei der Konstruktion der »Nacherzählend gedeuteten Verarbeitungsgeschichte« zu gewinnen. Thema 2: Qualität der Erinnerung (Was haben Sie damals genau erlebt?)

Intention: Rekonstruktion des unmittelbaren Erlebens, Abschätzung des Ausmaßes der Überwältigung damals und Ausmaß der Traumatisierung; Verortung des traumatischen Geschehens in der konkreten biographischen Situation. Es soll ein ganz konkretes Bild des damaligen Erlebens und auch des Ausmaßes der Überwältigung und der Traumatisierung entstehen (wer, was, wann, wo, mit wem in den Tagen des »Feuersturms« erlebt hat). Dazu ist die Rekonstruktion der damaligen biographischen Situation unerlässlich. Wichtig erscheint, in welchem Ausmaß schützende Objekte präsent waren beziehungsweise diese im »Feuersturm« vernichtet wurden. Nach Möglichkeit soll neben den äußeren Ablaufgeschehnissen auch das damalige emotionale Erleben rekonstruiert werden, zum Beispiel mit der Frage: »Hatten Sie eigentlich Angst?« Die Frage nach einem schützenden Objekt bietet auch Einstiegsmöglichkeiten in die Familiengeschichte und die biographischen Zusammenhänge, 1

Der Interviewleitfaden wurde von einer Arbeitsgruppe aus Christa Holstein, Ulrich Lamparter, Malte Thießen, Silke Wiegand-Grefe und Dorothee Wierling erarbeitet. Die formulierten Intentionen sollten den Interviewern helfen, im freien Gespräch mit den Interviewpartnern die Ziele der Untersuchung zu verfolgen.

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Anhang 1: Interviewleitfaden mit Kommentar

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auch die politischen Einstellungen, das heißt also den ganzen familiären Hintergrund, inklusive der damaligen »Interpretationswelt«, in der sich der »Feuersturm« ereignete. Darüber hinaus erfährt man etwas über unmittelbare Folgen des Ereignisses, insbesondere (menschliche und materielle) Verluste. Es geht vor allem um das Bild der Befragten von ihren Eltern zum damaligen Zeitpunkt, schützende Funktion äußerlich und innerlich, politische Einstellung (insbesondere den Engländern gegenüber, aber auch in Bezug auf das Festhalten an oder den Zerfall der Volksgemeinschaft). Es geht aber auch um das soziale und politische Milieu, um die grundsätzliche Haltung zum Nationalsozialismus und das damalige Wissen um Verfolgung und Verbrechen. Thema 3: Erfahrungen, Einstellungen und Bewältigungsstrategien vor und nach dem »Feuersturm« (Wie wurde in Ihrer Familie, Nachbarschaft, unter Freunden über Nationalsozialismus und Krieg gesprochen? Waren Sie gern in der HJ/im BDM? Wie sind Sie weiter durch den Krieg gekommen? Wie haben Sie das Kriegsende erlebt? Was waren die wichtigsten Herausforderungen für Sie und/oder Ihre Familie in der Nachkriegszeit?)

Intention: Es soll ein Bild entstehen, wie und unter welchen Umständen der/die Befragte die Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges insgesamt verbracht hat, und insbesondere, ob es schon vorher oder danach zu (weiteren) Traumata gekommen ist. Darüber hinaus soll ein Eindruck gewonnen werden, inwieweit und mit welchem Erfolg biographische und familiäre Strategien angewandt wurden, um die äußeren (und inneren) Folgen des »Feuersturms« beziehungsweise anderer traumatischer Erfahrungen oder persönlicher Verluste (inklusive der Verluste weltanschaulicher Gewissheiten) durch private, aber auch gesellschaftlich eingerahmte Aufbauanstrengungen zu »bearbeiten«. Thema 4, 5, 6

Die Themen 4, 5 und 6 gehören zusammen. Sie fragen zeitlich geschichtet nach der »Verarbeitung« des »Feuersturms«. Es soll dabei erarbeitet werden, wie sich die »Verarbeitung« des »Feuersturms« über die Jahre entwickelt hat, wie die Familie »als System« auf den »Feuersturm« »reagiert« hat und wie sich in der Familie die Kommunikation über den »Feuersturm« über die Jahre entwickelt hat (zum Beispiel generelle Sprachlosigkeit, über Gefühle nicht sprechen können, nur skurrile Anekdoten erzählen). In dem zu erarbeitenden Bild einer Verarbeitungsgeschichte sollen die Pole einer ständig präsenten Verarbeitung gegenüber einer sehr hintergründigen und abgewehrten Verarbeitung unterschieden werden. Auch verschiedene Modalitäten der Verarbeitung sollen dann unterscheidbar werden. In diesem Zusammenhang ist auch wichtig, ob sich über

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Materialien

die Jahre ein Opfererleben konfiguriert. Es sollen auch Aussagen möglich werden, wie viel Einfluss subjektiv die Erlebnisse des »Feuersturms« für das weitere Erleben des Betroffenen gehabt haben. Thema 4: Kurzfristige »Verarbeitung« unmittelbar nach den Bombenangriffen (Konnten Sie nach dem »Feuersturm« darüber sprechen? Mit wem? Wie?)

Intention: Es soll vor allem geklärt werden, inwieweit eine frühe »Symbolisierung« möglich war oder ob es keine Möglichkeit gab, das Erlebte in irgendeiner Weise in Worte zu fassen. Gegebenenfalls gilt es zu erkunden, in welcher Form eine solche »Symbolisierung« möglich war, also konkret: Wer mit wem in welchem Zusammenhang über den »Feuersturm« gesprochen hat. Wie rasch hat eine solche Symbolisierung eingesetzt? Gab es einen Ort, wo man hingehen konnte, wo Sicherheit war? Gab es schützende Objekte? Gab es jemand, der die Erfahrungen in »Sprache bergen« konnte? Thema 5: Mittelfristige »Verarbeitung«, insbesondere nach dem Ende des Krieges und in den sogenannten Aufbaujahren (Wurde nach dem Krieg manchmal [oft] über den »Feuersturm« gesprochen? Mit wem? Wie? Bei welchen Gelegenheiten?)

Intention: Es gilt zu klären, ob nach dem Ende des Krieges und in den sogenannten Aufbaujahren überhaupt Raum war für eine bewusste Erinnerung an die Kriegserlebnisse und den »Feuersturm«. Hat der »Blick nach vorne« den »Blick nach hinten« verhindert? Gab es ein frühes Bedürfnis nach einer Erinnerungskultur oder danach, wieder in die Stätte des Grauens zurückzukehren, gab es ein Bedürfnis davon wegzukommen, wie hat sich das Erleben des Krieges und die dabei eingetretenen Verluste und Erfahrungen auf die Lebensgestaltung ausgewirkt: Berufswahl, Partnerwahl, Art der Beziehungsgestaltung, Familiengründung, Kindererziehung etc. Gab es spezielle politische Einstellungen, die auf das Erleben des »Feuersturms« zurückgeführt wurden? Haben sich in der Familie Erinnerungs- und Erzählgemeinschafen oder auch andere Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften gebildet? War auch eine emotionale Erinnerung an den »Feuersturm« möglich? Gab es in der damaligen Zeit eine gesellschaftliche »Stimulation« für die Erinnerung (zum Beispiel Diskussion um die Wiederbewaffnung, die Hamburger Flut, Konflikte wie der Irak- oder Jugoslawien-Krieg). Thema 6: Jetzige »Verarbeitung« (Wird in Ihrer Familie heute noch über den »Feuersturm« gesprochen? Bei welcher Gelegenheit?)

Intention: Es geht um die Klärung der Frage, welches Ausmaß die Erinnerung an den »Feuersturm« im heutigen Erleben des Betroffenen und in seiner Familie einnimmt. Insbesondere der Zusammenhang, dass die »Feuersturm«-Erlebnisse bei bestimmten Anlässen wiederkehren, soll erkundet werden (Filme, bestimmte Geräusche, Ereignisse, Hamburger Flut, Tsunami, Erinnerung an Jahrestagen). Die Frage zielt auch darauf ab zu untersuchen, inwieweit im Alter die Erlebnisse des »Feuersturms« im Zuge der

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Anhang 1: Interviewleitfaden mit Kommentar

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Altersregression wieder näher rücken. Es erscheint auch denkbar, dass es in der Familie heute niemand mehr hören kann und deswegen der Betroffene im Wesentlichen mit seinem damaligen Erleben allein ist. Thema 7: Körperliche oder seelische Krankheiten als Folge des »Feuersturms« (Kommt der »Feuersturm« manchmal wieder [als Traum, bei Geräuschen, Bildern, Gerüchen]? Haben Sie schon mal das Gefühl gehabt, dass Sie davon ein Leiden/eine Krankheit zurückbehalten haben?)

Intention: Es soll zum einen geklärt werden, inwieweit die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung wirklich vorliegen, als Ergänzung zu den in dem Fragebogen erhobenen Daten. Dazu ist es möglicherweise wichtig, Beispiele für Symptome zu nennen (ständige Wiederkehr, Recallphänomene, Angstträume). Der zweite Teil des Fragekomplexes zielt darauf ab, Krankheiten in Erfahrung zu bringen, die der Proband auf das Erleben des »Feuersturms« zurückführt, zum Beispiel Depressionen, Ängste, aber auch Migräne oder Herzkrankheiten. Es wäre aber auch durchaus vorstellbar, dass ein Proband eher subjektiv den Eindruck hat, durch ein »Bad des Schreckens« hindurchgegangen zu sein, und dass ihm nun nichts mehr passieren könne. Also: Klärung subjektiver Krankheitstheorien im Zusammenhang mit dem »Feuersturm«. Diese geben auch Hinweise darauf, inwieweit sich die Erzähler selbst als Opfer wahrnehmen beziehungsweise inwieweit sie das Angebot eines familiären oder öffentlichen Opferdiskurses aufnehmen. Wenn eine posttraumatische Belastungsstörung aufgetreten ist, soll sie möglichst genau in ihrem zeitlichen Ausmaß, ihrer Intensität und in ihrer Erstreckung klinisch anamnestiziert werden, ebenso, wenn andere Störungen und Krankheiten mit dem damaligen »Feuersturm« in Zusammenhang gebracht werden. Thema 8: Rekonstruktion der Verarbeitungsgeschichte jenseits von Krankheit (Glauben Sie, dass das Erlebnis des »Feuersturms« Bedeutung hat für Ihre Einstellung zum Leben, für Ihre eigene Lebensplanung, für Ihre Einstellung zur Politik? Beispiele?)

Intention: Es soll ein Bild entstehen zu möglichen emotionalen Folgen des »Feuersturms« (zum Beispiel Sicherheitsbedürfnisse, Fatalismus, pazifistische Grundeinstellungen, Bitterkeit oder Verbitterung, Erleben des »Feuersturms« als notwendige Strafe, Schuldgefühle wegen des Überlebens, Dankbarkeit für den Frieden in den Jahren nach dem Krieg, Verpflichtung zu Engagement etc.), aber auch zu lebenspraktischen Konsequenzen, zum Beispiel für eine ganz explizite Berufswahl. Im Wesentlichen geht es hier um die Gewinnung von weiterem Material zur Formulierung der »Nacherzählend gedeuteten Verarbeitungsgeschichte«, die zeitgeschichtlich spezifische Folgen (zum Beispiel »nie wieder Krieg«, den Gedanken: »Sicherheit zuerst« etc. pp.) in die Darstellung einbezieht.

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Thema 9: Tradierung in der Familie und Vermittlung durch die Generationen (Was haben Sie Ihren Kindern [Enkeln] vom »Feuersturm« erzählt? Was ist für Sie das Wichtigste bei der Erziehung Ihrer Kinder [Enkel]? Glauben Sie, dass Ihre Kinder [Enkel] aus der Geschichte vom »Feuersturm« etwas lernen können? Was wäre das?)

Intention: Es soll ein Gespräch darüber stattfinden, in welcher Form die Erlebnisse des »Feuersturms« auf die nächste Generation »weitergegeben« wurden. Dabei sollen Kinder und Enkel möglichst getrennt behandelt werden, damit dort ein getrenntes Bild entsteht. Aus der Art, wie darüber gesprochen wird, sollen aber auch Rückschlüsse auf unbewusste Tradierungen innerhalb des Familiensystems tendenziell möglich werden. Es geht aber auch um die Erkundung ganz praktischer intentionaler Verhaltensweisen (zum Beispiel ob die Kinder Krieg spielen durften). Hatten die Kinder beziehungsweise Enkel ein Interesse, mögliche »Signale« der Betroffenen aufzunehmen? Gab es hier Unterschiede zwischen den Generationen? Thema 10: Vermeidungen, Verbergungen bei der Erinnerung und Weitergabe (Gab es etwas – in Erlebnissen oder Gedanken –, worüber sie im Zusammenhang mit dem »Feuersturm« noch nie gesprochen haben? Gibt es etwas im Zusammenhang mit dem Feuersturm, woran Sie sich besonders ungern erinnern? Was Ihnen erst jetzt wieder eingefallen ist? Was Sie nicht gerade auf einer Familienfeier erzählen würden?)

Intention: Mit dieser Frage soll es darum gehen, tiefer liegende Verarbeitungsstrategien zu erkunden, aber auch darum, welche Erzählungen in der jeweiligen Erzählgemeinschaft akzeptabel waren und welcher man sich dort eher schämen würde. Dabei soll ein Eindruck von den sozialen und kollektiven Deutungsrahmen entstehen, die eventuell das »Drehbuch« der routinierten Erzählung abgeben; wir erfahren aber vielleicht auch etwas über jene Anteile im Erlebnis und in der Erinnerung, die in diesem Drehbuch nicht untergebracht werden können. Thema 11: Explizite, bilanzierende Deutungen (Hat der »Feuersturm« Ihr Leben langfristig geprägt? Wie sehen Sie ihn heute?)

Intention: Hier geht es um die bewusste Einschätzung der biographischen Entwicklung. War das »Feuersturm«-Erleben (nach eigener Einschätzung) ein Zentralerlebnis, das die späteren biographischen Entscheidungen mitbestimmt hat? Es soll aber auch um Widersprüchlichkeiten, inkonsistente Bewertungen, kognitive Dissonanzen gehen, gibt es eine abschließende summarische Bewertung für den »Feuersturm«? Thema 12: Zusammenhang von »individueller« und »öffentlicher« Verarbeitung (Erinnern Sie sich an Reden oder Gedenkveranstaltungen über den »Feuersturm«? Haben Sie Bücher darüber gelesen, Filme gesehen, Ausstellungen besucht? Sind Sie einmal zu einem Gedenkort [Beispiele] gegangen?

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Anhang 1: Interviewleitfaden mit Kommentar

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Zu allen Aspekten: Finden Sie, dass der »Feuersturm« dort richtig dargestellt worden ist?)

Intention: In der Forschung zur transgenerationalen Tradierung von Vergangenheit in Familien wird darauf hingewiesen, dass ein starkes öffentliches Interesse an historischen Ereignissen und Jahrestagen häufig Anlässe für Familiengespräche oder für einen intensivierten Austausch zwischen den Zeitzeugen bietet. Interessant könnte also sein, ob und wie der öffentliche Umgang mit der »Operation Gomorrha« die persönliche Erinnerung und das Familiengespräch bestimmt hat: Veränderte sich die Perspektive auf die Ereignisse von 1943, wurden unter Umständen veröffentlichte Erzählungen in individuelle Erinnerungen des »Feuersturms« übernommen oder sogar »Gegenerzählungen« zur veröffentlichten Meinung konstruiert? Thema 13: Subjektive Resilienz (Was hat Ihnen geholfen, mit den Erlebnissen und Erinnerungen an den »Feuersturm« in Ihrem Leben fertig zu werden? Wie sehen Sie sich im Vergleich zu anderen, die den »Feuersturm« erlebt haben?)

Intention: Mit dieser Frage soll die subjektive Sicht der Ressourcen erschlossen werden, welche eine »Verarbeitung« des »Feuersturms« möglich machten. Hier kommen viele Faktoren infrage, zum Beispiel Glaube, andere Personen, eigene Persönlichkeitseigenschaften, äußerer Erfolg, es soll aber auch um die subjektive Bewertung gehen im Vergleich zu den anderen »Schicksalsgenossen«.

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Anhang 2: Karteikarte für die Kinder – Fallbeispiel Frau Miriam Ballhaus

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Anhang 3: Forschungsfragen für die Auswertung der Kinderinterviews

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Anhang 3: Forschungsfragen für die Auswertung der Kinderinterviews Leitfrage 1: Wie wurden die Schilderungen der Kriegs- und Bombardierungserlebnisse von den Kindern individuell verarbeitet? Leitfrage 2: Lassen sich bestimmte Muster dieser individuellen Verarbeitung aufzeigen, Typen individueller Verarbeitung klassifizieren? Leitfrage 3: Mit welchen sozialen Praktiken beziehungsweise lebensgeschichtlichen Strategien sind diese Typen verbunden? Leitfrage 4: Gibt es klinisch relevante Zusammenhänge zwischen dem Erleben des »Feuersturms« des Zeitzeugen und der psychischen Befindlichkeit der Kinder heute? Leitfrage 5: Wie lässt sich die familiäre Verarbeitungsweise, der familiäre Umgang mit diesen Kriegserlebnissen beschreiben? Leitfrage 6: Welche Rolle spielen soziale Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Generation bei den gefundenen Mustern? Leitfrage 7: Lassen sich Bezüge herstellen zwischen individuellen und familiären Verarbeitungen einerseits und öffentlichen Deutungsangeboten andererseits? Leitfrage 8: Welchen Blick haben die Kinder auf die historischen Möglichkeiten, die sich den Eltern im Nachkriegsdeutschland boten? Wie sehen sie ihre eigene Entwicklung im Kontext der langen »Friedenszeit«?

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Anhang 4: Kategoriale Einschätzungen zur Transgenerationalität Tabelle: Die kategoriale Einschätzung der paradigmatischen Eltern-Kind-Paare im »Hamburger Feuersturm«-Projekt W1 W2 E1 E2

F1 F2 F3 F4

B1 B2 B3 B4

B, E B, M B, H R, S B, G B, C B, J-R E, G S, E-S H, E H, C F, I K, R K, U L, E L, M L, H-J T, M R, H R, J S, H R, S S, G S, H S, B S, L H, R

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K1 K2 K3 K4

Anhang 5: Zur Selbtbeschreibung der zweiten Generation

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Legende zur Tabelle: Spalten: Die Eltern-Kind-Paare sind in der linken Spalte aufgeführt: Zeitzeuge (Initialen orange unterlegt) Kind (Initialen blau unterlegt) Zeilen: Wissen um den »Feuersturm« W1 = konkretes Wissen, W2 = wenig konkretes Wissen, E1 = emotionales Wissen, E2 = wenig emotionales Wissen Folgen F1 = keine Folgen, F2 = Folgen ohne negative Auswirkung, F3 = Folgen wie Angst vor Krieg, F4 = starke Folgen Beziehung zwischen Zeitzeuge und Kind B1 = gute Beziehung, B2 = ambivalent enge Beziehung, B 3 ambivalent-distanzierte Beziehung, B4 = gestörte Beziehung Kommunikation in der Familie K1 = offene und gute Kommunikation, K2 = eingeschränkte Kommunikation, K 3 = gestörte Kommunikation, K4 = stark gestörte Kommunikation

Anhang 5: Zur Selbtbeschreibung der zweiten Generation: Sammlung von Zitaten aus den Kinderinterviews, die in einem weiten Sinn »Folgen« thematisieren –– Die Geschichte wirkt innerhalb der Familie weiter. –– »Das war einfach durch meine ganze Kindheit durch eigentlich so’n tief verunsicherndes Thema: Können wir hier in unserer Höhle, unserem schönen Haus bleiben, äh, wird alles gut gehen?« –– »[In mir ist] so’n ganz kurzes, aber sehr intensives Stimmungsbild von Erzählungen der Mutter. Und das ist letztlich auch bei mir das, was hängen geblieben ist.« –– »Meine Mutter hat ganz grundlegende Verlustangst an mich weitergegeben [von Heimat, Haus, Wohnung].« –– »Ich hatte immer wieder Träume von Fliegerangriffen.« –– »Das gab Phasen meines Lebens, wo ich jede Nacht schreiend aufgewacht bin. Jahre, Jahrzehnte, glaube ich […] dass sich da ganz viel mischt aus den Geschichten beider Eltern.« –– »Ich habe Schlafstörungen, Horrorvorstellungen, Zukunftsängste [aber eher nicht auf den «Feuersturm» bezogen, sondern auf Krankheit des Ehemannes und finanzielle Sorgen]«. –– »Also für mich jetzt speziell wäre das [Krieg] mit eins der schlimmsten Sachen, was ich, also möchte ich nie erleben.« »Ich hätte so’ne Angst um meine Kinder, dass denen was passiert.« –– Auf Frage nach Folgen des »Feuersturms« für das eigene Erleben: »Nee, dazu war ich da emotional irgendwie zu unbeteiligt, also sowohl inhaltlich als auch emotional.«

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Materialien

–– »Auf der großen Kreuzung, ähm, Mundsburg ist so ein Denkmal […] das finde ich zum Beispiel sehr beeindruckend […] beeindruckend, aber nicht irgendwie beängstigend, das ist einfach so ein Fakt, worüber man nachdenken kann.« –– »Also das könnte ich mir wirklich vorstellen, dass man, wenn man in der Zeit sich in Hamburg aufgehalten hat, einfach auch noch, noch schrecklichere Dinge erlebt hat und dass das […] erst recht ein Grund war, über das Thema hinterher gar nicht mehr zu sprechen.« –– »Ob es [Nationalsozialismus] mich geprägt hat, das glaube ich eher nicht, aber das beschäftigt mich schon. Auch im Hinblick auf die heutige Zeit.« –– »Ich bin nicht raufgefahren, weil ich das Gefühl habe, das ist mir ein bisschen zu unheimlich da hochzufahren mit diesem gläsernen Fahrstuhl.« –– »Eigentlich müsste noch viel mehr Kraft verwandt werden, es von vornherein zu vermeiden solche Konflikte [Kriege].« –– »Aber dass man hier aktuell Angst haben muss, nein.« –– »Dass man der heutigen Generation so deutlich machen muss, wie lange wir hier schon in friedlichen Zeiten leben und wie vergleichsweise gut es uns geht […] und den jungen Leuten vermitteln, wie anders und wie schrecklich es auch sein könnte.« –– »Also ich bin froh, dass wir so was nicht erleben.« –– »Dann bin ich schon immer raus gegangen, weil mich das tierisch genervt hat, dass die da so über diese Zeit [Nationalsozialismus] gesprochen haben […]. Ja, dass einige das verherrlicht haben.« –– »Da lauf ich manchmal gegen die Wand, ne, wenn ich da mit meiner Mutter rede.« –– »Manchmal krieg ich auch die Wut, wenn ich höre, was die andern so sagen und denken.« –– »Ich hab ganz früh die Erwerbsunfähigkeitsrente gekriegt.« [Wegen körperlicher und seelischer Erkrankung] –– Auf Frage, ob »Feuersturm« eine Rolle in ihrem Leben gespielt habe: »Also so würd’ ich mal ganz grob sagen Nein.« –– »Oh Krieg bitte nicht. Und wenn ich das mal im Fernsehen sehe, oh, ich find’s furchtbar. Furchtbar.« […] »Wenn ich denn denke, ich hab ‚n Sohn, der vielleicht zur Bundeswehr will.« –– »Ja, das gehört mit zur Familiengeschichte.« –– »Na 75 m vorm Haus eine Bombe gefallen, die nicht explodiert war […] Die ist da immer noch soweit ich weiß […] dass die äh dort noch mal explodieren könnte […] n bisschen mulmiges Gefühl.« –– »Ich hab mit Waffen Tiere getötet und die dann auch gegessen.« –– »Ich bin […] schon nicht gegen Waffen […] also Krieg ist äh, was anderes für mich als, äh, nun Waffen zu haben.« –– »Ja und irgendwie dieser ganze Schrecken, der damit verbunden ist, also das geht mir eigentlich je älter ich werde umso näher.« –– »[…] prägende Erfahrung […] das waren ja auch immer Geschichten, die irgendwie so bereinigt waren … ich hab da viel zugehört […] ich fand das interessant.«

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Anhang 5: Zur Selbtbeschreibung der zweiten Generation

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–– »Wo’s um emotionale Beteiligung geht, dass, dass ich da das Gefühl hatte, das darf ich gar nicht anrühren, weil da brechen die da alle in Tränen aus.« –– Der Krieg war omnipräsent. Politisches Engagement in Friedensbewegung. –– »[Das Buch] Im Westen nichts Neues hat mich sehr mitgenommen. […] Fand ich ganz schrecklich, hab ich geweint.« –– »Die Frage hat, haben mich die Kriegserlebnisse meiner Eltern noch mal geprägt, dass ich die eigentlich wirklich nicht gut beantworten kann.« –– »Ich hatte Angst, bei der Geburt zu sterben.« –– »Ich hatte Angst, jung zu sterben, Angst vor Schmerzen, wie der Vater, vor Kontrollverlust dabei.« –– Auf die Frage, ob sie durch den Umgang mit dieser Zeit geprägt worden sei, antwortet sie, dass Nachfragen möglich gewesen sei, aber nur, weil »das war nicht irgendwie besetzt mit Emotionen«. –– »Ja also Gefühle gab’s ja schon in einer Richtung, sie [Mutter] war jähzornig.« –– Interviewte: »Die Leidtragenden […] sind auch die nachfolgenden Generationen.« Interviewer: »Dass Sie da doch auch was mittragen immer noch.« Interviewte: »Ja, ja, auf jeden Fall.« –– Grundgefühl von Lebensbedrohung und fehlender Geborgenheit, Angst, das Leben zu versäumen wie ihre Mutter. –– »Einmal ist das unsere eigene Geschichte.« –– »[Es ist] viel zu wenig aufgeklärt worden über diese Zeit […] um zu sagen, das darf nie wieder passieren.« –– »[…] dieses in Frieden leben zu können, ist schon ’ne Menge wert.« »Dass man in Frieden leben kann […] also das ist schon sehr bedeutend und ich glaube schon, dass das, äh, ja auch durch meinen Vater Einfluss auf mich gehabt hat.« –– »Dieses Verschwenderische oder so, dass man da drauf achtet und mit Sicherheit ist das ‚n Erziehungshintergrund.« –– [Zum eigenen Sohn]: »Überleg mal was wir haben und wie gut es uns geht.« –– »Krieg ist für mich in keinster Weise, ist Gewalt in jeglicher Form ist für mich begründet […] kann man mit nichts begründen.« –– »Dass man einfach eben das mehr schätzt, was man hat.« –– »Auf der einen Seite könnte man heulen, also einfach von dieser Vorstellung, und auf der anderen Seite fühle ich mich auch einfach erdrückt dadurch.« –– »Das ist einfach ‚ne Sache, wo ich auch ja heute immer sehr sehr Panik hätte.« –– »Es geht uns keiner verloren […]. Um Gottes Willen, also nicht, dass jetzt wir hier jemanden verlieren.« –– »Zwei Kinder reichen, weil ich kann auch alleine zwei Kinder festhalten.« –– »Also dieses Thema ›Früher‹ ist eigentlich immer eher bei uns zugegen als das Thema ›Was kommt morgen‹.« –– »Für mich ist das einfach reines Abschlachten […]. Ich kann Krieg […] nicht nachvollziehen.«

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382

Materialien

–– Das Thema KZ war erstickend: »Also ich, man hatte das Gefühl gehabt, man läuft über Leichen.« –– »Ich fand das erstickend.« »Ich fühlte mich wirklich gequält.« –– Interviewer: »Meinen Sie, dass Sie das geprägt hat?« Interviewte: »Ich glaube schon, dass das einen auf jeden Fall prägt.« –– Erhalten, weitergeben (von schönen Sachen). –– »Ich hatte gleich Verlustängste.« –– »Wenn diese Themen behandelt werden, dass ich dann immer sehr unruhig schlafe und mich das tagelang verfolgt […] da arbeitet noch ganz viel im Unterbewusstsein.« –– »Dieses Thema […] es verfolgt mich einfach.« –– »Da ist einfach‚ ne Panik in mir.« –– »Man hat auch Angst, dass so was noch mal wieder kommt.« –– »Aber man hat eigentlich nur Angst, dass so was noch mal wieder kommt […]. Mit diesen ganzen Atombomben […] bei der Wirtschaftskrise.« –– »Ja weil ich muss auch sagen, viele Sachen versucht man auch zu verdrängen […] auch jetzt mit der Wirtschaftskrise oder irgendwann mal wieder ’n Krieg.« –– Interviewte: »Kriegsfilme schau ich nicht gerne. Weil das eben dann immer wieder, ja –.« Interviewerin: »Sie bekommen dann Angst.« Interviewte: »Ja. Weil man spinnt da weiter oder könnte weiterspinnen und wenn ich mir vorstelle, so was kommt wirklich mal. Ich möcht’s eigentlich nicht erleben.« –– Fühlt sich emotional depriviert. –– »Ich habe Angst vor Sirenen, wie meine Eltern.« –– »Ich habe keine Idee, dass es [«Feuersturm»] irgendwie traumatisch –.« –– »Ich bin einerseits ganz froh, nach den Kriegen geboren zu sein und dann auch im westlichen Teil Deutschlands.« –– Interviewer: »Und meinen Sie, dass das Erleben Ihrer Mutter Auswirkungen auf Ihr eigenes Leben hat?« Interviewter: »Mit Sicherheit.« –– Bescheidenheit ist eine Erziehungsfrage. –– »Ich mag selbst keine Kriegsfilme sehen, und möchte meine Kinder vor Wissen um Krieg schützen.« –– »Also es hat mein Leben schon auch beeinflusst.« –– »Diese Angst vor Feuer. Ich habe überall Rauchmelder.« –– »In dem Moment, wo ich ’n brennerigen Geruch wahrnehm, ist sofort Alarmstufe Rot. Also das ist bei mir massiv so im Unterbewusstsein verankert.« Fluchtwege, Notausgänge. –– »Furchtbare Angst, also das offene Feuer.« –– »Diese Angst, die Mutter zu verlieren, das hat sie, die ist sie nie losgeworden, und das hat sie mir übertragen.« –– »Auf der einen Seite bin ich sehr behütet und sehr, sehr begrenzt aufgewachsen, und auf der anderen Seite eben belastet mit diesen Geschichten.« –– »Ich hab so ein, ein schmerzhaftes, ähm, ich nenn das immer das Klopfen, bekommen.«

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Anhang 6: Alias-Namen und Signaturen der »Feuersturm«-Interviews

Anhang 6: Alias-Namen und Signaturen der »Feuersturm«-Interviews Aus Gründen der Anonymisierung erhielten alle Interviewpartner Alias-Namen. Die Interviews sind in der Werkstatt der Erinnerung der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg archiviert und können dort unter den folgenden Signaturen eingesehen werden. Alias-Namen

Signatur

Alias-Namen

Signatur

Ahorn, Claas

FZH/WdE 1341

Deeken, Ewald

FZH/WdE 1426

Ahorn, Winfriede

FZH/WdE 1342

Deeken, Helga

FZH/WdE 1425

Angel, Esther

FZH/WdE 1344

Distel, Horst

FZH/WdE 1427

Bacherach, Barbara

FZH/WdE 1423

Echter, Greta

FZH/WdE 1645

Bad, Mathilde

FZH/WdE 1345

Echter-Strutz, Susi

FZH/WdE 1429

Ballhaus, Edelgard

FZH/WdE 1352

Eisenbart, Familie

FZH/WdE 1431

Ballhaus, Familie

FZH/WdE 1354

Eisenbart, Gertrud

FZH/WdE 1428

Ballhaus, Miriam

FZH/WdE 1353

Eisenbart, Sascha

FZH/WdE 1430

Ballon, Gerald

FZH/WdE 1346

Erdreich, Hanne

FZH/WdE 1433

Basel, Katja

FZH/WdE 1343

Farmer, Christina

FZH/WdE 1432

Bayern, Margarete

FZH/WdE 1355

Farmer, Heinrich

FZH/WdE 1434

Behrends, Gisela

FZH/WdE 1347

Feldmeier, Marion

FZH/WdE 1646

Behrends, Heidi

FZH/WdE 1350

Fiedler, Ida

FZH/WdE 1647

Behrends, Peter-Michael

FZH/WdE 1351

Frack, Burkhard

FZH/WdE 1436

Berlin, Christine

FZH/WdE 1417

Frack, Harald

FZH/WdE 1437

Berlin, Gerda

FZH/WdE 1418

Frischer, Heinz

FZH/WdE 1435

Berlin, Jochen Richard

FZH/WdE 1419

Frischer-Kleist, Familie

FZH/WdE 1479

Bieber, Clausi

FZH/WdE 1360

Gallowitz, Mareike

FZH/WdE 1438

Bieber, Marlene

FZH/WdE 1361

Geier, Andreas

FZH/WdE 1442

Bieber, Manfred

FZH/WdE 1362

Geländer, Erwine

FZH/WdE 1444

Bieber, Rolf

FZH/WdE 1363

Glück, Heinrich

FZH/WdE 1441

Bieber-Rausch, Familie

FZH/WdE 1413

Götter, Sabine

FZH/WdE 1443

Bieber-Rausch, Irene

FZH/WdE 1364

Goslar, Lisa

FZH/WdE 1439

Bochum, Manuela

FZH/WdE 1415

Goslar-Busch, Alexandra

FZH/WdE 1440

Bonn, Inga

FZH/WdE 1358

Haching, Andreas

FZH/WdE 1451

Bonn Verdun, Familie

FZH/WdE 1357

Hagenbusch, Lotte

FZH/WdE 1448

Buch, Annabell

FZH/WdE 1421

Hase, Hanne

FZH/WdE 1446

Butter, Anna

FZH/WdE 1414

Hölling, Carl

FZH/WdE 1449

Butter, Theodor

FZH/WdE 1416

Hölling, Eva

FZH/WdE 1450

Chile, Ulrich

FZH/WdE 1422

Hude, Roswitha

FZH/WdE 1447

China, Heinrich

FZH/WdE 1424

Kernert, Patrick

FZH/WdE 1458

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525453780 — ISBN E-Book: 9783647453781

384

Materialien

Alias-Namen

Signatur

Alias-Namen

Signatur

Kernert, Sascha

FZH/WdE 1459

Pleyer, Hildegard

FZH/WdE 1630

Kier, Ilse

FZH/WdE 1457

Rangel, Harald

FZH/WdE 1491

Kier, Thorben

FZH/WdE 1460

Rangel, Jochen

FZH/WdE 1492

Kleine, Andrea

FZH/WdE 1453

Rauhe, Sabine

FZH/WdE 1490

Kleist, Dieter

FZH/WdE 1455

Rausch, Lisa

FZH/WdE 1493

Kleist, Gisela

FZH/WdE 1456

Rausch, Norbert

FZH/WdE 1412

Köffer, Andrea

FZH/WdE 1461

Recker, Hans-Joachim

FZH/WdE 15

Köhler, Louisa

FZH/WdE 1638

Reisen, Sabine

FZH/WdE 1486

Korn, Ronald

FZH/WdE 1340

Sachse, Hanns

FZH/WdE 1496

Korn, Udo

FZH/WdE 1463

Schneiderch, Walter

FZH/WdE 1495

Kralle, Eva

FZH/WdE 1454

Scholze, Felix

FZH/WdE 1506

Kralle, Ulla

FZH/WdE 1452

Scholze, Nadja

FZH/WdE 1505

Kunden, Ilsa

FZH/WdE 1462

Schul, Bernd

FZH/WdE 1533

Lauf, Else

FZH/WdE 1465

Schul, Karen

FZH/WdE 1555

Lauf, Margot

FZH/WdE 1466

Schulle, Gabriele

FZH/WdE 1509

Lorre, Heinrich-Jens

FZH/WdE 1464

Schultze, Carola

FZH/WdE 1504

Lorre/Tiger, Familie

FZH/WdE 1467

Stich, Gudrun

FZH/WdE 1510

Maurer, Jens

FZH/WdE 1525

Stich, Heino

FZH/WdE 1494

Maurer, Michaela

FZH/WdE 1468

Stier, Boris

FZH/WdE 1508

Martens, Lukas

FZH/WdE 1470

Stier, Helmut

FZH/WdE 1507

Meierlein, Harald

FZH/WdE 1469

Struve, Liesbeth

FZH/WdE 1532

Mendel, Familie

FZH/WdE 1629

Tetzlaff, Peter

FZH/WdE 1557

Mendel, Hermann-Paul

FZH/WdE 1471

Tiger, Melanie

FZH/WdE 1572

Mendel, Jörg

FZH/WdE 1476

Verdun, Bernd

FZH/WdE 1573

Meise, Gregor

FZH/WdE 1474

Verdun, Kira

FZH/WdE 1534

Meise, Titus

FZH/WdE 1475

Vogt, Jens

FZH/WdE 1535

Nase, Hans

FZH/WdE 1473

Walters, Erika

FZH/WdE 1542

Nase, Sarah

FZH/WdE 1472

Walters, Kurt

FZH/WdE 1543

Oderlein, Lisa

FZH/WdE 1477

Wilke, Oswald

FZH/WdE 1541

Pfaff, Günther

FZH/WdE 1661

Wittmann, Fabian

FZH/WdE 1574

Pfeifer, Doro

FZH/WdE 1482

Wittmann, Herbert

FZH/WdE 1539

Pier, Carl

FZH/WdE 1484

Wittmann, Karl

FZH/WdE 1540

Pier, Marina

FZH/WdE 1485

Wolfrum, Karsten

FZH/WdE 1547

Pier, Sarah

FZH/WdE 1489

Wolfrum, Ullrich

FZH/WdE 1544

Pinola, Anne

FZH/WdE 1478

Wolters, Albert

FZH/WdE 1538

Plasberg, Carola

FZH/WdE 1487

Wolters, Karl

FZH/WdE 1536

Plasberg, Detlef

FZH/WdE 1480

Wolters, Kerstin

FZH/WdE 1537

Plasberg, Nino

FZH/WdE 1483

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525453780 — ISBN E-Book: 9783647453781